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Full text of "Die Einteilung der Psychosen"

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DAMAGE TO BOOKS 


Readers are reminded that 
under the provisions of the 
Canadian Criminal Code any 
wilful damage to property 
constitutes a criminal offence 
for which severe penalties can 
be inflicted. 

Minor damages render the 
offender liable to a fine of 
$20.00, and he is also bound to 
compensate the owner up to a 
limit of $20.00. Refusal to pay 
these sums is punished with 
imprisonment up to two months 
(Sections 539-540). 

More serious damage can be 
visited with a term of imprison- 
ment up to two years (Section 
510-E). 










HANDBUCH DER PSYCHTATRIE. 


UNTER MITWIRKUNG VON 

Professor A. Alzheimer (München), Professor E. Bleuler (Zürich), 
Professor K. Bonhoeffer (Breslau), Privatdozent G. Bonvicini (Wien), 
Professor 0. Bümke (Freiburg i. B.), Professor R. Gaupp (Tübingen), 
Direktor A. Gross (Rufach i. E.), Professor A. Hoche (Freiburg i. B.), Privat- 
dozent M. IssERLiN (München), Professor Th. Kirchhofe (Schleswig), Direktor 
A. Mercklin (Treptow a. R.), Professor E. Redlich (Wien), Professor 
M. Rosenfeld (Strassburg i.E.), Professor P. Schroeder (Breslau), Professor 
E. ScHULTZE (Greifswald), Privatdozent W. Spielmeyer (Freiburg i. B.), 
Privatdozent E. Stransky (Wien), Professor H. Vogt (Frankfurt a. M.), 
Privatdozent G. Voss (Greifswald), Professor J. Wagner Ritter von 
Jauregg (Wien), Professor W. Weygandt (Hamburg-Friedrichsberg) 

HERAUSGEGEBEN VON 

PKOFESSOE De. Gf.AsCHAFPENBUKG 

IN KÖLN A. RH. 

SPEZIELLER TEIL. 

1. ABTEILUNG. 


I 


DIE EINTEILUNG DER PSYCHOSEN. 

Von Professor Dr. 6 . ASCHAFFENBURG. 


EPILEPSIE. 

Von Professor Dr. H. VOGT. 


LEIPZIG UND WIEN. 

FRANZ DEUTIOKE. 







DIE EINTEILUNG DER PSYCHOSEN 

VON 

y* 

PROF. Dr. G"; ASCHAFFENBURG 

IN KÖLN A. RH. 


EPILEPSIE 


VON 


PROF. Dr H. VOGT 

IN WIESBADEN. 



LEIPZIG UND WIEN. 


FRANZ DEUTICKE. 




Copyright 1914 by Franz Deuticke, Leipzig 


und Wien. 


Verlags-Nr. 2243. 


Druck von Rudolf M. Rohrer in Brünn. 



Inhaltsverzeichnis. 


DIE EINTEILUNG DER PSYCHOSEN. 

VON 

PROF. Dr. G. ASCHAFFENBURG. 

Seite 

I. Die Aufgaben und Grenzen der Psychiatrie 3 

II. Krankheitsbilder und Krankheitstypen 

III. Kichtlinien der Einteilung der Psychosen . 21 

IV. Die Einteilung der Psychosen 28 

Literatur 4Y 


EPILEPSIE. 

VON 

PROF. Dr. H. VOGT. 

Ätiologie 53 

Symptomatologie <7^ 

A. Der allgemeine epileptische Symptomenkomplex. Beginn der Krankheit . . 71 

Beginn 72 

B. Spezielle Symptomatologie 7ß 

1. Die motorische Epilepsie 7ß 

Der große Anfall 75 

Jacksonscher Anfall ‘ 7g 

Abortive Anfälle. Petit mal-Äqui valente 81 

Aura 32 

Begleiterscheinungen und Nachstadium der Anfälle 86 

Die intervallären Symptome ' 87 

2. Die psychische Epilepsie 91 

Psychologisches 9I 

Der interparoxysmelle psychische Zustand der Epileptiker 92 

Die transitorischen psychischen Störungen der Epileptiker 98 

Die periodische Verstimmung der Epileptiker 104 

Psychische Aura 106 

Präparoxystische psychische Störungen 106 

Verwirrtheit 108 

Paranoide Zustände 109 



Vlll 


Seite 

Fugues 

Dipsomanie 

3. Der körperliche Zustand der Epileptiker 

Blut. Stoffwechsel 

Linkshändigkeit 

Anhang: Theorie des Anfalls. Theorie der Krankheit 124 

100 

Die epileptischen Krankheitszustände 

128 

Einteilungsprinzipien 

Genuine Epilepsie 

Anatomie 

Gehäufte kleine Anfälle 

Hysterie und Epilepsie 

Spasmophilie und Epilepsie 

Psychasthenische Krämpfe 

Die sogenannte Affektcpilepsie 

Epilepsie und zerebrale Lähmung. Sogenannte „organische“ Epilepsie 157 

Tuberöse Sklerose 

Hydrozephalische Epilepsie. Epilepsieartige Zustände bei verschiedenen 

Idiotien. Unklare Formen 

Syphilis und Epilepsie 

Migräne und Epilepsie 

Paralepsie , . . 183 

Myoklonie und Epilepsie 

Schwangerschaft und Epilepsie 

Alkohol und Epilepsie 

Senile Epilepsie. Arteriosklerose und Epilepsie 192 

Allgemeines über Diagnose, Verlauf und Prognose 195 

1. Diagnose 

2. Diagnose aus den psychischen Veränderungen 202 

3. Verlauf und Prognose 

Therapie : 

21 3 

Allgemeine Behandlung 

Therapie des Anfalles und des Status epilepticus 219 

Medikamentöse Therapie. Brom 

Die Wahl des Brommittels und seine Dosierung ' 225 

231 

Sonstige Medikamente 

^ • 932 

Die sogenannte Stoffwechseltherapie . . . . 

90K 

Chirurgische Therapie 

Anstaltspflege. Soziales 

Heirat 

245 

Forensische Behandlung 

T .X . 256 

Literatur 


DIE 

EINTEILUNG DER PSYCHOSEN. 

VON 

Prof. Dr. G, ASOHAFFENBURG. 


Handbuch der Psychiatrie: Aschaffenburg. 

51743 


1 








Die Aufgaben und Grenzen der Psychiatrie. 


Die Psychiatrie, die Seelenheilkunde, ist eine Erfahrungswissen- 
schaft; ihre Aufgabe besteht in der Behandlung und Heilung der psychi- 
schen Jlrkrankungen. Aber die aus der Erfahrung gewonnenen Behandlungs- 
prinzipien können doch nur dann Anspruch auf wissenschaftliche Anerkennung 
machen, wenn sich die Psychiatrie nicht darauf beschränkt, die als brauchbar 
erkannten und bewährten Methoden der Behandlung zu beschreiben, sondern 
das weitere Problem zu lösen versucht, Wesen imd Art der geistigen Erkran- 
kungen zu erforschen, wenn sie darnach strebt, ihre Ursachen zu erkennen, 
aus den Ursachen die Berechtigung und die Wirksamkeit des therapeutischen 
Vorgehens verständlich zu machen imd bis zu dem Punkte vorzudringen, 
wo ims der Verlauf des abnormen psychischen Geschehens in seinen 
Zusammenhängen und Beziehimgen klar zu werden beginnt. Dann erst wird 
die Psychiatrie, die Wissenschaft der Seelenheilkunde, zur Psychopathologie, 
zur Wissenschaft vom krankhaft veränderten Seelenleben. 

Jede naturwissenschaftliche Forschung wird ihre erste Aufgabe 
darin sehen, aus der scheinbar bunten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen 
die Regeln ihres Ablaufes und die Gesetze ihres Zustandekommens abzu- 
leiten. Insofern ist auch die Psychopathologie in erster Linie eine naturwissen- 
schaftliche Disziplin, als ihr die Aufgabe zufällt, Lebens Vorgänge zu beobachten 
und zu beschreiben. Daß wir uns dabei zum größten Teile anderer Beobach- 
tungsmethoden bedienen müssen, als sonst in der medizinischen Wissenschaf t 
üblich ist, macht die Aufgabe schwieriger, aber nicht unlösbar. 

Objekte imserer Forschungen sind Empfindungen und Gefühle, Be- 
wußtsein und Bestrebungen eines kranken Menschen. Die äußerlich vor 
unsern Augen sich abspielenden Erscheinungen sind unserer Beobachtung zu- 
gänglich. Wir sehen einen Menschen weinen, lachen, sich schweigend absondern 
oder gegen seine Umgebung gewalttätig werden. Aber indem wir auf eine traurige 
oder heitere Stimmung, auf wahnhafte Verkennung der Absichten der Um- 
gebung schließen, legen wir dem äußerlichen Geschehen, so wie es sich vor 
unsern Augen abspielt, die seelischen Vorgänge unter, die wir selbst empfinden. 
Das Recht dieser Deutung gibt uns die Erfahrung, daß Lachen in der Regel 
einer gehobenen, Weinen einer gedrückten Stimmung entspricht; auch die 
sprachlichen Äußerungen des Kranken, seine Reaktion auf Zureden und Ab- 
lenkung können uns als Richtschnur für imsere Auffassung dienen. Ob aber 


4 


Die Einteilung der Psychosen. 


tatsächlich der Kranke in der gleichen Weise empfindet, ob die Stärke seiner 
Stimmimgs Veränderung von uns richtig beurteilt wird, ob eine Handlung den 
Motiven entspringt, die wir voraussetzen, das alles läßt sich nur schließen, 
nicht zwingend beweisen. 

In dieser Richtung werden wir uns bescheiden und unumwunden zugeben 
müssen, daß wir hinter den Beobachtungsergebnissen der anderen beschreibenden 
Wissenschaften Zurückbleiben. Sie vermögen, wenn auch nicht immer, die Er- 
scheinungen exakt zu messen und auf Gesetze zurückzuführen. Die Psychologie 
muß sich darauf beschränken. Regeln abzuleiten, die der zwingenden Ge- 
setzmäßigkeit ermangeln. Immerhin kennen wir allmählich für einen TeU 
des psychischen Lebens annähernd die Regeln, nach denen es sich abspielt, 
so z. B. wie sich die Sprache entwickelt, wie die Wahrnehmung, die Vorstellungs- 
bildung vor sich zu gehen pflegt. 

Aber die Psychologie und mit ihr die Psychopathologie verläßt den Boden 
der naturwissenschaftlichen Erfahrung, sobald sie in die Tiefe zu gehen versucht. 

Die Frage, wie wir uns die Umsetzimg des materiellen Vorgangs im Gehirn, 
den wir auf Grund der anatomischen Untersuchimgen bei vielen Erkrankungen 
kennen und für alles psychische Geschehen voraussetzen müssen, in Fühlen, 
Denken und Handeln vorstellen sollen, liegt außerhalb unseres Erkenntnis- 
vermögens. Aber von den erkenntnistheoretischen Bestrebungen, deren 
letztes Ziel, ein restloses Erfassen des inner n Zusammenhangs der körper- 
lichen und seelischen Vorgänge und der Gesetze des psychischen 
Lebens, in unerreichbarer Ferne liegt, bleibt das naturwissenschaftliche Arbeits- 
feld zwar nicht unberührt, aber unabhängig. Wie sich die Denkvorgänge äußerlich 
abspielen, welche von ims erkennbaren und beeinflußbaren Vorgänge ihren Ver- 
lauf beeinflussen, welche Erscheinungen in zeitlicher Abhängigkeit voneinander 
stehen, das alles läßt sich exakt beobachten, und das ist die Aufgabe der 
Psychopathologie als einer naturwissenschaftlichen Disziplin. 

Mit allen andern naturwissenschaftlichen Fächern hat die Psychopathologie 
dieselbe Forschungsrichtung, dieselben Forschungsmethodengemeinsam. 
Wir gehen dabei von der für den Arzt unzweifelhaften Voraussetzung aus, daß 
unser Seelenleben, also auch das krankhaft veränderte Seelenleben, an die Funk- 
tionen des Gehirns gebunden ist, ohne damit der Frage, wie das Verhältnis 
des psychischen Lebens zu den materiellen Vorgängen in der Hirnsubstanz zu 
denken ist, näher treten zu müssen. 

Die psychische Eigenart jedes Individuums, die uns in seinem Fühlen, 
Denken und Handeln entgegen tritt, ist ein Produkt seiner geistigen Ver- 
anlagung und Entwicklung, steht also in unmittelbarer Abhängigkeit von 
der ursprünglichen Organisation seines Gehirns imd dem Einflüsse, den 
die Lebensereignisse auf diese Veranlagung ausgeübt haben. Diese Auffassung 
bedingt nicht, daß wir ims der Hoffnung hingeben könnten, für die Verschieden- 
heiten der Veranlagung und Entwicklung, die sich in ihren Erscheinungen oft 
so scharf voneinander abheben und den Individualcharakter bedingen, 
einen anatomisch greifbaren Unterschied bei der Hirnuntersuchung zu 
finden. 

Nur in den seltensten Fällen gestattet die Menge und Art der funktions- 
tüchtigen Einzelelemente eines Organes einen Rückschluß auf seine Leistungs- 




Die Aufgaben und Grenzen der Psychiatrie. 


5 


fähigkeit. Je verwickelter die Aufgabe eines Organes, je komplizierter sein 
Aufbau, um so weniger wird mittels Maßstabes, Abzählens und Abwiegens ein 
lliinblick in das Verhältnis seines Zustandes zu seiner Funktion zu gewinnen 
sein. Gilt das schon für alle unsere Körperorgane, so erst recht für das Gehirn. 
Sein architektonischer Aufbau deutet schon auf die außerordentliche Ver- 
schiedenheit der F unktionen hin, die seinen einzelnen Abschnitten zukommen. 
Mit dem Eindringen in die Geheimnisse der Struktur der Hirnrinde selbst, 
deren feinere Gestaltung besonders in dem letzten Jahrzehnt durch Nissl, 
Vogt, Brodmann und andere allmählich klarer geworden ist, ist auch 
die Gewißheit gewachsen, daß uns die Beurteilung der geistigen Leistungs- 
fähigkeit auf Grund einfacher Meß- und Zählmethoden wohl für immer ver- 
schlossen bleiben wird. 

Damit soll nicht ausgesprochen werden, daß die Hirnforschung für die 
Psychopathologie ergebnislos geblieben ist und bleiben wird. Die Funktionen 
des Gehirns, die Sinnesreize zu erfassen und zu verarbeiten, die Bewegungen 
zu leiten und das Zusammenarbeiten der Muskulatur zu ermöglichen, sind an 
bestimmte Örtlichkeiten gebunden, deren Erkrankung Störungen der Leistung 
hervorruft. Damit haben wir Anhaltspunkte gewonnen, diese Störungen mit 
engumgrenzten Hirnteilen in Verbindung zu bringen, imd dank dieser lokali- 
satorischen Feststellungen sind uns Eingriffe bei Hirntumoren, Abszessen, 
Blutungen möglich geworden, die niemand ohne diese Kenntnisse wagen dürfte. 

Sehr viel geringer ist die Bedeutung der Hirnanatomie für die Seelen- 
tätigkeit. Je weiter wir uns von den elementaren Funktionen der Auffassung 
von Sinneseindrücken und der Innervation von Bewegungen entfernen, um so 
mehr versagt unser Wissen. Aus der vergleichenden Anatomie ergibt sich, 
daß mit der Zunahme des Hirnmantels auch die uns erkennbare intellektuelle 
Leistung wächst, und die pathologische Anatomie belehrt uns, daß der Minderung 
der geistigen Leistungsfähigkeit im Greisenalter oder bei der Paralyse, der geringen 
intellektuellen Entwicklung bei der Idiotie ein Schwund oder eine unvollkommene 
Ausbildung der Hirnrinde entspricht. Aber wir haben damit — auch innerhalb 
des Rahmens des naturwissenschaftlichen Erkenntnisvermögens — noch keinen 
Einblick gewonnen, auf welchen Veränderungen oder welchem Mangel an Ele- 
mentarbestandteilen der Hirnrinde die geistige Anomalie beruht. Wir dürfen 
uns ruhig gestehen, daß unsere Hoffnungen, die wir vielleicht noch bezüglich 
dieser groben Ausfallserscheinungen hegen dürfen, völlig den verwic kelteren 
psychischen Vorgängen, dem schöpferischen Spiele unserer Gedanken, der 
Phantasie, den Affekten, der Angst, wohl auch den Halluzinationen gegenüber 
versagen. Ja, selbst wenn wir jemals soweit gelangen könnten, die Störungen des 
Gemütslebens mit bestimmten Gegenden oder bestimmten Zellgruppen des 
Gehirns in Zusammenhang zu bringen, so würden wir doch nie erwarten dürfen, 
die Art der affektiven Störungen anatomisch zu ergründen. 

Bei zahlreichen Formen der Geistesstörung sind uns die anatomischen 
Begleiterscheinungen bekannt. Wir kennen weder das Bild der lebendigen, 
fimktionierenden noch das Bild der nicht mehr oder in pathologischer Weise 
tätigen Zelle. Aber wir kennen das Äquivalentbild, wie Nissl den Zustand 
einer Zelle bezeichnet hat, die, in einer ganz bestimmten, stets gleichen Weise 
behandelt, der mikroskopischen Besichtigimg zugängig gemacht ist. Die Ver- 





6 


Die Einteilung der Psychosen. 


änderungen des Äquivalentbildes unter pathologischen Verhältnissen erlaubt 
uns, sobald der Befund sich als typisch erwiesen, den Kückschli^, daU wir bei 
ähnlichen Lebenserscheinungen die gleichen anatomischen eran erimgen 
erwarten dürfen, ebenso wie umgekehrt aus einer Gleichheit des ^ato^chen 
Bildes auf gleiche seelische Störungen geschlossen werden darf. Dami a en 
wir, wenn auch keinen Einblick in die tiefsten Zusammenhäge dieser parallelen 
Symptomenreihen, doch den Vorzug einer pathologisch-anatomisc en 
Kontrolle unserer klinischen Beobachtungen und damit eine feste Gr^d- 
lage zur klinischen Differenzierung der Krankheitsprozesse. enn uns lese 
Betrachtungsweise noch vielfach im Stich läßt, so liegt das wo aran, a wir 
erst über wenige brauchbare Methoden der Hirnforschung ver ügen, un a 
unsere jetzigen HUfsmittel für die Feststellung der allerfeinsten Storungen noch 
nicht ausreichen. Aber wer den Gang der Entwicklung der Himpa ho ogie 
der letzten Jahrzehnte verfolgt hat, weiß, wie mit der wachsenden Verfeinerung 
der Untersuchungsmethoden immer neue und ungeahnte Gebiete erschlossen 
worden sind, und wird deshalb mit berechtigtem Optimismus von dem weiteren 
Fortschreiten dieser Forschung große Entdeckungen erhoffen dürfen. 

Damit soll nicht etwa die Erwartung ausgesprochen werden, daß wir je 
dahin gelangen könnten, für jede geistige Tätigkeit, jede Gemütserregung die 
anatomische oder physiologische Parallelerscheinung zu finden. Die Uner- 
reichbarkeit dieses Zieles beweist nicht, daß unser Weg ein falscher ist,’ und 
widerlegt gewiß nicht die Annahme eines untrennbaren Zusammenhanges 
zwischen Seelenleben und Gehirntätigkeit. An dieser Auffassung dürfen 
wir festhalten, wenn uns auch noch vieles unbekannt ist, und der allerletzte 
Schritt, durch das anatomische Bild ein Verständnis dafür zu gewinnen, warm 
das psychische Erleben in bestimmter Weise verändert ist, als über den 
Rahmen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hinausgehend, ungeschehen 
•bleibt und bleiben wird. So kommen wir zu dem Schlüsse, daß die Psycho- 
pathologie nicht nur die Wissenschaft des krankhaften veränderten Seelenlebens 
ist, sondern die Wissenschaft der Erkrankungen des Gehirns, soweit sich 
die Veränderungen im Seelenleben abspielen. 

Allerdings, so weit zu gehen, wie Meynert, der an die Stelle des Ausdrucks 
Psychiatrie den der „Klinik der Erkrankungen des Vorderhims“ gesetzt hat, 
ist bedenklich, umso^bedenklicher, je mehr diese theoretisch gewiß richtige Auf- 
fassimg zur Grundlage der klinischen Forschung gemacht wird. Geniale Ideen, 
wie die Meynerts von dem Antagonismus zwischen Großhirn und 
Mittelhirn als Erkenntnisquelle für die psychischen Fimktionen, wie die der 
Übertragung deiLehre vonder Aphasie auf die geistigen Störungen durch Wer- 
nicke, sind überaus fruchtbar für die klinische Forschung gewesen. Aber über 
eine wenn auch vielleicht unendlich wertvolle Anregung haben diese Bestre- 
bungen nicht hinaus führen können. Der Weg, aus bestimmten, uns bekannten 

Gesetzen vorausgesetzt, daß wir überhaupt schon einen ausreichenden Einblick 

in die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Hirnteilen oder in das Wesen 
der Aphasie hätten — weitere Hypothesen abzuleiten, ist gefährlich. Denn unsere 
Kenntnisse von den Regeln des psychischen Lebens sind noch zu unsicher und 
wir bauen mit'unsicherem Material auf unsicherem Grunde. Ferner aber sind die 
Analogieschlüsse, zu denen dieser Weg nötigt, gerade bei den Erscheinungen 



Die Aufgaben und Grenzen der Psychiatrie. 


7 


des Seelenlebens sehr bedenklich und können leicht in die Irre führen. Die de- 
duktive Forschungsmethode hat in der Psychiatrie wie auch sonst in der 
Naturwissenschaft nur den Wert des den Weg erhellenden, vielleicht auch den 
Weg weisenden Blitzes. Aber einstweilen ist der bessere und richtigere Weg 
der sehr viel bescheidenere des fleißigen Beobachters. Wir können nur dadurch 
vorwärts kommen, wenn wir induktiv Vordringen. Allgemein gültige Gesetze 
können in der Psychiatrie als einer beschreibenden Wissenschaft nur dadurch 
gefunden werden, daß wir in unablässiger Kleinarbeit die Erscheinungen be- 
obachten, sammeln, vergleichen, abwägen, aus der Fülle der Einzelerschei- 
nungen die allgemeinen Gesichtspunkte, die stets wiederkehrenden 
Regeln ableiten und so schließlich zur Erkenntnis gewisser Gesetzmäßig- 
keiten des psychopathologischen Geschehens gelangen. 

Daraus ergibt sich als die erste Aufgabe der Psychiatrie die Sammlung 
eines möglichst umfangreichen imd sorgfältig beobachteten Materials. Aus 
diesen Bausteinen ein Gebäude zu errichten, das der steten Nachprüfung stand- 
hält, und das auch stärkeren Erschütterungen, die in der Psychopathologie 
nicht ausbleiben werden, gewachsen ist, läßt sich nur dann ermöglichen, wenn 
wir das Material nicht nach vorgefaßten Theorien sammeln, sichten und ordnen, 
sondern wie bei jeder klinischen Forschung — wenigstens bei dem jetzigen Stand- 
punkte der allgemeinen Psychopathologie ist das unvermeidlich — alle von der 
Norm abweichenden Erscheinungen als gleich wichtig betrachten, bis sich durch 
die Fortschritte unseres Wissens der klinische und vielleicht auch der theoretische 
Zusammenhang als unmittelbare Folge induktiv ergibt. 

Zu dem gleichen Ziele führt die zweite Aufgabe, die Vertiefung der 
Symptomatologie. Jede Wissenschaft muß sich ihre besonderen Unter- 
suchungsmethoden selbst schaffen oder die üblichen Methoden in der für 
sie geeigneten Weise ummodeln. Das stößt in der Psychiatrie auf sehr viel mehr 
Schwierigkeiten als in den andern klinischen Fächern. Uns fehlen die exakten 
Prüfimgsarten, die den andern Fächern zur Verfügung stehen, fast ganz, ins- 
besondere da, wo es sich nicht um die körperlichen Begleiterscheinungen der 
Psychosen handelt. x4ber auch der innere Mediziner konnte bereits eine be- 
ginnende Tuberkulose, einen Typhus, der Chirurg einen Schädelbruch diagno- 
stizieren, bevor dieThermometrie, die bakteriologische Prüfung imd das Röntgen- 
bild ihm bequemere und weniger trügerische Handhaben zur Diagnose gaben. 
Wir werden also nicht deshalb auf eine Verfeinenmg unserer Diagnsotik ver- 
zichten dürfen, weil unsere Methoden an Exaktheit noch so weit hinter der 
bequemen Messung, hinter der chemischen Reaktion, der Bakterienloiltur und 
der elektrischen Entartimgsreaktion Zurückbleiben. 

Eine besondere Erschwerung der Beobachtung liegt in der starken Be- 
wertung, die bei der psychiatrischen Diagnose den subjektiven Erscheinungen 
zukommt. Auch für den Chirurgen sind der Schmerz, seine Lokalisation, seine 
Ausdehnung und seine Art, auch für den innem Mediziner die Angstempfindungen 
des Herzkranken, das Ameisenkribbeln und das Gürtelgefühl bei der Tabes 
wertvolle diagnostische Anhaltspunkte. Aber diese subjektiven Klagen ver- 
wertet er doch nur an zweiter Stelle, während sie wie alle andern psychischen 
Symptome für den Psychiater die Hauptrolle spielen. 

Der innere Kliniker kann im allgemeinen bei der völligen Klarheit des 


8 


Die Einteilung der Psychosen. 


Bewußtseins und der vorauszusetzenden geistigen Gesundheit seiner Kranken 
auf eine leidlich objektive Darstellung der subjektiven Empfindungen 
rechnen. Wir aber stehen bei dem psychisch Kranken einer durchaus su b- 
jektiven Schilderung gegenüber, die uns den Verzicht au le e st 
beobachtung des Kranken als Quelle der psychologischen Deutung gebietet 
oder doch mindestens zur Vorsicht bei der Verwertung seiner Klagen imd 

Empfindungen mahnt. u -i 

Die Schwierigkeit, sein eigenes inneres Erleben zutreffend zu beurteilen, 
ist schon unter ganz normalen Verhältnissen sehr groß. Es fehlt den meisten 
Menschen der dazu erforderliche Abstand von den Ereignissen, die Fähigkeit, 
das eigene Empfinden und Denken zu analysieren und zu beschreiben. Bei 
weitem größer ist die Fehlerquelle bei Kr anken. Hier treten dazu die Benommen- 
heit oder Verworrenheit des Denkens, vorübergehende oder dauernde Intelligenz- 
Störungen, Gleichgültigkeit oder Einseitigkeit der affektiven Erregungen, kurz, 
eine Keihe psychopathologischer Störungen, die es dem Kranken so gut wie 
unmöglich machen, sich selbst richtig zu beobachten und das Beobachtete dem 
Arzte richtig wiederzugeben. 

Eine andere Schwierigkeit habe ich bereits gestreift, die aus der Art unserer 
Beobachtung sich ergebende Fehlerquelle der subjektiven Deutung. Wir 
sehen das äußere Verhalten der Kranken, nicht aber das, was in ihnen vorgeht. 
Ein Kranker, der regungslos im Bette liegt und auf kein Anreden, auf keine 
Schmerzerregung reagiert, kann so schwer benommen sein, daß er nicht reagieren 
kann ; oder er kann aus irgend einem wahnhaften Grunde mit Anspannung aller 
Willenskraft jede Bewegung unterdrücken wollen. Gewiß glückt es nicht selten, 
doch zu erkennen, daß der Kranke tatsächlich alles wahrnimmt, aber selbst 
wenn das möglich ist, so wissen wir immer noch nicht, was dann in ihm vorgeht. 
Ein anderer Kranker gibt andauernd ganz unzutreffende Antworten. Vielleicht 
läßt ein lauernder Seitenblick, ein 'plötzliches Aus-der-Kolle-fallen uns ver- 
muten, daß er absichtlich vorbeiredet. Aber wir wissen nicht, ob eine wahnhafte 
Idee ihn dazu zwingt, ob er infolge einer katatonischen Sperrung die richtige 
Antwort verfehlt, ob er völlig verwirrt ist, ob er sich mit uns einen manischen 
Scherz erlaubt, oder gar ob er simuliert. Daß es schließlich beharrUcher Be- 
obachtung gelingt, ein leidlich zutreffendes Bild von dem Seelenzustande des 
Untersuchten zu gewinnen, ist zweifellos ; aber immer bleibt auch dann noch die 
Fehlerquelle bestehen, die auch für dieNormalpsychologie gilt. Wir schließen 
andauernd von uns auf andere und legen andern die Empfindungen und Vor- 
stellungen unter, die wir bei der gleichen Gelegenheit selbst an uns wahrnehmen. 

Ein Ereignis wird bewußt erfaßt, wird zum Erlebnisse, indem es in 
tausendfältige Beziehung zu dem Bewußtseinsinhalte der Persönlichkeit 
des Beobachters tritt. Dieses Erlebnis ist das eigentliche Objekt, der wirk- 
liche Inhalt der Beobachtung, nicht die Summe der Einzelvorgänge, die 
sich vor unsern Sinnesorganen abgespielt haben. Das, was wir erfassen, ist 
immer nur das Bild, wie es sich unserer individuellen Persönlichkeit wider- 
spiegelt. Immerhin wird dieses Bild in recht weitem Umfange der objektiven 
Wirklichkeit entsprechen, je einfacher die Vorgänge sind, und je mehr durch 
die Gewohnheit, Gleiches oder Ähnliches zu beobachten, die Fähigkeit gesteigert 
ist, die objektiven Zusammenhänge zu erkennen. 




Die Aufgaben und Grenzen der Psychiatrie. 


9 


Soweit das Seelenleben eines Kranken sich in groben, äußerlichen Er- 
scheinungen kundgibt, wie in Lachen und Weinen, in der Mimik und den Gesten, 
können wir es beobachten; soweit wir daraus Schlußfolgerungen auf das innere 
Erleben des Kranken ziehen, uns nur in sein Denken einfühlen. Dieses Ein- 
fühlen hat mit dem Mitgefühle für die Leiden und Freuden des Kranken 
nichts zu schaffen. Im Gegenteile, jedes Mitempfinden beeinträchtigt unsern 
klaien ßlick, indem es uns zur Partei werden läßt. Die Aufgabe besteht viel- 
mehr darin, uns in die Gedanken- und Empfindungswelt des Kranken einzu- 
leben und zu versuchen, die Erlebnisse, die Angst, den Zorn, die wahnhaften 
\ orstellungen auf diese hypothetische Persönlichkeit wirken zu lassen, wie sie 
auf den Kranken wirken. Ganz uns in eine fremde Gedankenwelt einzufühlen, 
ist unmöglich. Die Befähigung zur Einfühlung läßt sich nicht lehren und nur 
in bescheidenem Umfang erwerben, aber doch entwickeln, wo eine Begabung 
dazu vorhanden ist, entwickeln durch Erfahrung, Übung und durch unablässige 
Kontrolle der Richtigkeit der subjektiven Deutung. Aber immer bleibt der 
Fehler der Subjektivität, und dessen müssen wir uns stets bewußt bleiben, 
wenn wir in der Psychiatrie beobachten. 

Es ist hier nicht der Ort, auf die Versuche einzugehen, durch Experi- 
mente auch innerhalb des psychischen Lebens zu objektiven Maßmethoden 
zu kommen. Wir besitzen derartige Methoden in ziemlich großer Zahl, nicht 
alle gleich brauchbar, die meisten erst im Versuchsstadium. Und auch selbst 
bei den gesichertsten Ergebnissen der Experimentalpsychologie ist das 
Resultat nicht ohne weiteres dem objektiven Befunde der Blutkörperchen- 
zählung und der Fiebermessung zu vergleichen. Immerhin ist der Weg aus- 
sichtsvoll. Denn er erlaubt uns, durch den Vergleich wiederholter Prüfungen 
an dem gleichen Individuum mit den Ergebnissen der Verbuche an andern 
Schlüsse zu ziehen, die den subjektiven Fehler der Einfühlung beseitigen oder 
wenigstens verringern. 

Auch von einer andern Seite her kann uns die Experimentalpsychologie 
das Verständnis der psychischen Erkrankungen vermitteln. Versuche über die 
Wirkung des Alkohols, der Erschöpfung, der Nahrungsentziehung, der körper- 
lichen und geistigen Ermüdung lassen uns erkennen, welche Störungen ein- 
fachere psychische Funktionen durch die ,, künstliche Geistesstörung“, 
wie Kraepelin diese Experimente genannt hat, erfahren. Die Möglichkeit, 
derartige Versuche unter sorgfältiger Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln 
zu wiederholen, gestattet es und, soweit sie noch nicht in hinreichendem Um- 
fange angestellt worden sind, wird es gestatten, einen tieferen Einblick in den 
Verlauf des psychischen Geschehens zu tun, den Zusammenhang bestimmter 
seelischer Vorgänge zu erfassen imd so vielleicht zu einem wirklichem Ver- 
ständnisse vieler psychischer Phänomene zu kommen. Damit eröffnet sich 
auch die Hoffnung, die Symptome der psychischen Kranken besser verstehen 
und objektiver würdigen zu können. 

Das Bedürfnis der Psychopathologie, sich brauchbare Untersuchungs- 
methoden zu schaffen, fand in der Experimentalpsychologie seine Vorbilder. 
Aber dadurch, daß die Psychopathologie ihre Methoden den besonderen An- 
forderungen des Faches anpaßte und so ihren eignen Weg zu gehen gezwungen 
war, gab sie auch der Normalpsychologie neue Anregung. Überall eröffneten 


10 


Die Einteilnng der Psychosen. 


sich interessante Ausblicke in das Getriebe der psychischen Erscheininigen 
des normalen Menschen. Viele befruchtende Anregungen zu neuen und ver- 
tieften Studien, so z. B. über das Gedächtnis, über die Vorstellung i ung, le 
Gemütsbewegungen, den Verlauf der Arbeitskurve sind von der Psyc opat o- 
logie ausgegangen und von der Normalpsychologie aufgegriffen wor en. 

Damit gelangen wir zu der dritten Aufgabe der Psychopathologie, 
der Erforschung der psychologischen Nachbargebiete und vor 
allem der großen Gebiete menschlicher Seelentätigkeit, die an der Grenze der 
geistigen Erkrankung liegen und ohne scharfen Einschnitt in die Geistestätigkeit 
des gesunden Menschen hinüberführen. Nicht aus dem Wunsche heraus, unser 
Wissensgebiet möglichst weit auszudehnen — der Wunsch wäre, solange noch 
so viele Fragen der Lösung harren, recht unzweckmäßig — überschreiten imsere 
Forschungen die Grenzen der Psychosen im engsten Sinne und beschäftigen 
sich in wachsendem Umfange vor allem mit den sogenannten Neurosen. Das, 
was uns dazu zwingt, ist die Erfahnmg, daß wir zum Verständnisse der Hysterie 
und Neurasthenie, der Zwangsvorstellungen und der Tiks, der traumatischen 
und Schreckneurose nur durch Vertiefung der Symptomatologie gelangen 
können, und daß die körperlichen Erscheinungen dieser Erkrankungen hinter 
den psychischen an Umfang und Bedeutung bei weitem zurücktreten. 
Ich will hier als Beispiel nur auf den Umschwung in der Auffassung der trau- 
matischen Neurose hinweisen, deren rein psychische Entstehung heute wohl 
kaum mehr bezweifelt werden kann; daß mit dieser Auffasssung auch die Vor- 
beugung wie die Behandlung in ein ganz anderes Licht gerückt ist, gibt ihr auch 
einen großen praktischen Wert. 

Zahlreiche nervöse Beschwerden — ich erinnere z. B. an das Stottern, 
die meisten, wenn nicht alle Beschäftigungsneurosen — sind ohne eine 
Vertiefung in das psychische Leben des Kranken überhaupt nicht zu verstehen; 
erst dadurch daß wir die Befangenheit und Ängstlichkeit als den Ausgangs- 
punkt der Symptome erkennen, gewinnt imsere Behandlungsmethode den festen 
Boden. 

Die. Beobachtung der krankhaften Abweichungen des Seelenlebens setzt 
die Kenntnis des normalen voraus. Die Schwierigkeiten der psychiatrischen 
Beobachtung schärfen unsem Blick mid zwingen ims, selbst den unscheinbarsten 
psychischen Regungen unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden; dadurch aber 
werden uns auch die Augen geöffnet für die Häufigkeit psychischer Anomalien 
im täglichen Leben. Unter psychischen Anomalien sind nicht etwa nur aus- 
geprägte Psychosen zu verstehen. Vielmehr gewinnen gerade die kleinen Ab- 
weichungen von der Duxchschnittspsyche an Interesse und verlocken zu For- 
schungen, welche Bedeutimg ihnen zukommt, und wie weit auf ihnen die 
Eigenart der verschiedenen Persönlichkeiten beruht. 

Am deutlichsten verrät die Kriminalpsychologie den Einfluß dieser 
Betrachtungsweise. Der Verbrecher trat in den Vordergrund, die Straftat wurde 
zum Symptom. Das Eindringen der naturwissenschaftlichen Untersuchungs- 
methode, physiologischer und psychopathologischer Gesichtspunkte hat die ganze 
Strafrechtspflege in ihren Grundfesten erschüttert, aber auch gleichzeitig 
die Bausteine zu dem Wiederaufbau herbeigeschafft. Wenn wir heute vor 
den großen Aufgaben einer Reform der Strafgesetzgebung und des Strafvoll- 




Die Aufgaben und Grenzen der Psychiatrie. 


11 


Zuges stehen, wenn sich das Ziel der Strafrechtspflege in der Richtung einer weit- 
gehenden Individualisierimg und einer großzügigen Prophylaxe verschoben hat, 
so dürfen wir einen erheblichen Anteil an dieser Umwälzung der Anregung 
zuschreiben, die von der Psychopathologie ausgegangen ist, und den Arbeiten, 
die nur auf der Grundlage psychiatrischer und psychologischer Denkweise 
entstehen konnten. 

Neben der Kriminalpsychologie können auch die großen Forschungs- 
gebiete der Individual-, der Kinder- und der Volkspsychologie, der 
Psychologie der Massen, der Psychologie des genialen Menschen und 
des künstlerischen Schaffens der Mitarbeit des Psychiaters nicht entbehren. 
Nicht in dem Sinne dilettantischer Leichtfertigkeit, die für jede auffällige Er- 
scheinung sofort eine Diagnose zu wissen glaubt und übersieht, daß die Wege 
großer Könner nicht mit dem Maßstabe kleiner Geister gemessen werden dürfen. 
Und auch nicht in dem Sinne, daß wir aus den Werken der Kunst in willkür- 
licher Deutung einzelner auffälliger Erscheinungen oder geblendet von kühnen 
und unbewiesenen Plypothesen überall psychopathologische Symptome heraus- 
finden. Derartige Mißgriffe können wohl unsere Bestrebungen in Verruf bringen, 
dürfen ims aber nicht abschrecken, den größten und wertvollsten psycho- 
logischen Problemen nachzugehen und unsere, in der mühsamen Arbeit der 
Klinik erprobten Untersuchungsmethoden und unser Wissen von Wegen und 
Irrwegen psychischen Lebens auch an diesen Aufgaben zu prüfen und so zur 
Erhellung dieser Grenzgebiete beizutragen,. 

Wenn wir in einzelnen Fällen, bei genialer Veranlagung, ausgeprägten 
Talenten und wertvollen Charakteren im Interesse der Höherentwicklung des 
Volkes diese abnormen Anlagen durch Züchtung erhalten und steigern möchten, 
in den meisten Fällen werden wir wünschen müssen, im Interesse der Volks- 
gesundheit ihre Vererbung verhindern, dem Umsichgreifen Einhalt tun zu 
können. Dieses Verlangen stellt uns vor die Frage, wie das Auftreten psychischer 
Anomalien imd Erkrankungen erklärt werden kann und damit vor die Frage 
nach den Ursachen der Psychosen, deren Lösung die vierte der großen 
Aufgaben unseres Faches ist. Auch auf diesem Forschungsgebiete stehen wir 
erst am Anfänge imseres Wissens. Jeder Versuch, den Ausgangspunkt psy- 
chischer Erkrankungen zu finden, führt ims vor ein Chaos von Ursachen, das 
sich erst langsam zu erhellen beginnt, aber unbedingt erhellt werden muß, wenn 
unser Kampf gegen die Erscheinungen des abnormen Seelenlebens erfolgreich 
sein soll. 

Daß auch geistige Erkrankungen nicht regel- und ursachlos entstehen, 
ist eine Selbstverständlichkeit, die zu erörtern nicht lohnte, wenn nicht immer 
wieder gerade bei den psychischen Erkrankimgen die Voraussetzung unseres 
ganzen Denkens imd allen Geschehens, die strenge Kausalität, geleugnet 
oder bezweifelt würde. Der Grimd dieser Verleugmmg aller naturwissenschaft- 
lichen Prinzipien liegt wohl darin, daß wir die verschiedenartigsten Krankheits- 
typen nach derselben äußeren Ursache entstehen sehen und nach den ver- 
schiedenartigsten Ursachen anscheinend wesensgleiche Krankheiten. Aber wir 
haften bei dieser Betrachtimgsweise doch zu sehr an der Oberfläche; das gerade 
zufällig am meisten in die Augen fallende Ereignis muß nicht notwendig die 
Ursache, es kann sogar in der Kette der wirklichen Ursachen nur ein ganz 


12 


Die Einteilung der Psychosen. 


nebensächliches Glied sein und nicht einmal die Bedeutung des letzten, die 
Krankheit auslösenden Anstoßes besitzen. Wir dürfen nicht vergessen, daß 
bei den meisten Ereignissen nicht eine, sondern zahlreiche Ursachen zusammen 
wirken. Die persönliche Veranlagung und Widerstandsfähigkeit, die zeitliche 
Disposition, .vorausgegangene und augenblicklich wirkende Schädigungen, 
toxische Einflüsse imd psychische Erregungen greifen mitbestimmend ineinander, 
ohne daß wir den Anteil dieser so ganz verschiedenartigen Ursachen an dem Zu- 
standekommen geistiger Anomalien im einzelnen zu erkennen vermöchten. 

In letzter Zeit hat die Anatomie nach mancher Richtung aufklärend 
gewirkt. Die Wirkung bestimmter Schädigungen läßt sich experimentell er- 
zeugen und nachweisen, z. B. die Zellveränderungen nach Alkohol, Strychnin, 
Tetanus, nach körperlicher Erschöpfung, Hungern, Schlaf entziehung, und gibt 
uns dadurch die Möglichkeit eines Einblicks in die Formen der Zellentartung; 
deren Vergleich mit dem pathologisch-anatomischen Bilde bei Geisteskrank- 
heiten gestattet uns den Rückschluß, ob diese oder ähnliche Schädigungen 
im Leben ursächlich mitgewirkt haben. Alters Veränderungen, deren Trennung 
von den arteriosklerotischen Prozessen, Entzündungen imd syphilitische 
Störungen werden uns mehr und mehr vertraute und umschriebene patho- 
logisch-anatomische Begriffe. 

Auch seitens der Che mie ist das ätiologische Problem in Angriff genommen 
worden. Die Untersuchungen der Körperdrüsen und ihres Einflusses auf den 
Stoffwechsel haben unser Wissen bisher, abgesehen vielleicht von dem Kre- 
tinismus mid Myxödem, zwar noch nicht nennenswert gefördert; aber vielleicht 
werden spätere Untersuchungen doch auf die Ursachen einiger Psychosen durch 
den Nachweis von Veränderimgen des Körperchemismus in charakteristischer, 
uns vorerst unbekannter Richtung Licht werfen. |Ob es sich dabei um zwei 
parallel verlaufende Erscheinungen handelt, ob in dem Abweichen vom normalen 
Stoffwechsel die Ursache oder die Folge der psychischen Erkrankung zu erbhcken 
ist, wird kaum zu entscheiden sein. Auch die genaueste Kenntnis des chemischen 
Auf- imd Abbaues des Gehirns wird uns ebensowenig wie die Ergebnisse der 
anatomischen Forschung das Zustandekommen der psychischen Vorgänge im 
gesunden und kranken Menschen ganz erklären können. 

Aber für unser ätiologisches Bedürfnis werden diese Untersuchungen 
wertvolle Grundlagen liefern. Denn wenn uns auch das Eindringen in die letzten 
Zusammenhänge versagt ist, so ist doch der Schluß berechtigt, wenn wir bei 
einer Erkrankung stets die gleichen anatomischen oder chemischen Befunde 
wiederkehren sehen, daß dann auch die klinische Erscheinungsform als 
wesensgleich oder verwandt zu betrachten ist. Allerdings, wenn wir den 
Stand imseres Wissens unvoreingenommen betrachten, so können wir uns 
nicht verhehlen, daß wur über tastende Versuche, die wahren Ursachen geistiger 
Erkrankungen zu finden, nicht hinausgekommen sind. Nicht einmal die Frage 
der erblichen Belastung, der angeborenen und erworbenen Entartung 
ist so weit geklärt, daß wir ihre Bedeutung für das Entstehen psychischer Ab- 
weichungen richtig bewerten könnten. Diese Klärung aber wird und muß 
uns die Zukunft bringen. 

Viele Wege der Forschung stehen der Psychiatrie offen und große Auf- 
gaben locken den Forscher. Die vergangenen Jahrhunderte haben unser Fach 


Die Aufgaben und Grenzen der Psychiatrie. 


13 


wenig gefördert, und nennenswert über das hinaus, was die Schriftsteller des 
Altertums gewußt haben, war unsere Wissenschaft nicht gewachsen. Erst mit 
dem letzten Jahrhundert setzten die Bestrebungen ein, die Krankheiten klinisch 
genauer zu beschreiben, die Krankheitsprozesse zu erkennen, die Ursachen zu 
ergründen und die Bedeutung der psychischen Anomalien im Leben des einzelnen 
wie der Gesellschaft zu erfassen. Das Interesse für die Psychopathologie 
wurde lebendig, und heute ist sie eine Wissenschaft geworden. Wohl bleibt 
sie in der Ausbildung der Untersuchungsmethoden und an gesichertem Wissens- ' 
bestand weit hinter den Nachbarfächern zurück, aber mit dem Erkennen der 
Aufgaben und der Wege der Forschung wird der Fortschritt nicht aus- 
bleiben können. 






II. 

Krankheitsbilder und Krankheitstypen. 


Seit etwa 40 — 50 Jahren wiederholt sich in jedem Lehrbuche, ja man 
kann ruhig behaupten, in jeder größeren Monographie dasselbe Bild einer Rat- 
losigkeit gegenüber den Prinzipien einer Einteilung der Psychosen, 
und stets endet der Bearbeiter damit, daß er eine neue Einteilung versucht, 
die von den übrigen abweicht. Es ist leicht darüber zu spotten, aber der Ver- 
suchung wird niemand entgehen können, auch seinerseits von den Einteilimgen 
der andern abzuweichen, wenn er seine eigene Auffassimg in Übereinstimmung 
mit den gangbaren Ansichten zu bringen sucht. Überall wird ihm der von andern 
gezogene Rahmen zu weit oder zu eng erscheinen und zu einer anderweitigen 
Abgrenzung verlocken. 

Nicht immer handelt es sich indessen bei den Unterschieden der Einteilung 
nur um Grenzverschiebungen, der Streit dreht sich vielmehr um die Grund- 
frage, nach welchen Prinzipieu überhaupt die Einteilung der Psychosen vor- 
genommen werden soll, welche Richtlinien ihre Abtrennung voneinander zu 
bestimmen geeignet sind. 

Diese Uneinigkeit in der Auffassung der Hauptfrage beruht auf demselben 
Fehler, den schon vor fast 40 Jahren Hecker mit den Worten kennzeichnete, 
daß man die Begriffe: Zustandsformen und Symptomenkomplex einer- 
seits und Krankheitsform anderseits nicht scharf genug auseinanderhalte. Er 
verlangte von dem, was er Krankheitsform nennt, und was ich lieber als 
Krankheitstypus bezeichnen möchte, ,,daß wir uns ein möglichst getreues 
Bild von dem Verlaufe einer Erkrankung im voraus zu machen imstande 
sind, so daß wir von Symptomen, die in der naturgemäßen Entwicklung der 
Krankheit begründet liegen, nicht wie von Zufälligkeiten überrascht werden.“ 
Diese programmatische Forderung muß überall da erfüllt sein, wo man von 
einer wirklichen Krankheitsform, einem in sich selbständigen Krankheitstypus 
spricht; das lehrt uns das Beispiel der ganzen übrigen Medizin. Wenn wir z. B. 
bei einer zerebralen Hemiplegie auf Entartungsreaktion stoßen würden, bei 
einer Poliomyelitis auf Sensibilitätsstörungen, so wären wir wohl kaum im 
Zweifel, daß diese spezifische Veränderung der Muskelzuckung in dem einem, die 
Sensibilitätsstörungen im andern Falle sich mit der gestellten Diagnose nicht 
vertragen. Die Geschlossenheit eines Krankheitstypus ist unvereinbar mit 
dem Auftreten von Erscheinungen, die der Erkrankung wesensfremd sind. 
Die Richtigkeit unserer Diagnose wird erhärtet durch die zutreffende Vor- 



Krankheitsbilder und Krankheitstypen. 


15 


hersage der weiteren Entwicklung und der kommenden Symptome, und 
umgekehrt gestattet die Diagnose einen Rückschluß auf den bisherigen Ver- 
lauf; bewährt sich bei der Erhebung der Anamnese die Auffassung, so ver- 
stärkt sich imsere Überzeugung von der Richtigkeit der gestellten Diagnose. 

Die individuelle Gestaltung jedes Krankheitsfalles wird von dieser 
Forderung eines in sich geschlossenen und gegen andere Erkrankung abgegrenzten 
und abgrenzbaren Krankheitstypus nicht berührt. Die Diagnose der Tabes, 
des Typhus, des Ösophaguskarzinoms, der Aorteninsuffizienz wird dadurch 
nicht unsicherer, daß der eine Fall allen Heilbestrebungen trotzt imd schnell 
zum Tode führt, der andere nur in leichter Ausprägung auftritt und lange Zeit 
kaum nennenswerte Beschwerden hervorruft. Nur daß neben der Aufgabe der 
richtigen Erkennung der bestehenden Krankheit noch die weitere hinzutritt, 
die Prognose des individuellen Verlaufes mit einiger Sicherheit vorher- 
zusagen. 

Auch in der Psychiatrie besitzen wir einige klare und unzweideutige, von 
keiner Seite bestrittene Krankheitstypen. Wenn wir von einem Delirium 
tremens sprechen, so weiß jeder sofort, daß es sich um einen Trinker handelt, 
der unter ganz charakteristischen Erscheinungen erkrankt ist. Es verschlägt 
dabei gar nichts, ob ein Abortivdelirium in wenigen Stunden abläuft, oder ob 
der Kranke ohne greifbare Todesursache zugrunde geht. Auch die etwaigen 
Komplikationen durch eine Pach)maeningitis haemorrhagica bieten [nichts 
Überraschendes. 

Die Diagnose des manisch-depressiven Irreseins besagt, daß wir 
eine Erkrankung vor uns haben, die in regelmäßigen oder zeitlich wechselnden 
Intervallen wiederkehrt und deren einzelne Anfälle den Charakter der manischen 
Erregung oder der depressiven Verstimmung oder auch eines Gemisches aus 
beiden Bildern auf weisen. Auch hier stört es unsere Auffassung nicht, daß der 
eine Kranke in ganz regelmäßigem Wechsel die reinen Formen der manischen 
oder depressiven Verstimmung aufweist, während ein anderer in großen, wech- 
selnden Zwischenräumen erkrankt oder in den einzelnen Anfällen wahnhafte 
oder delirante Züge zeigt. 

Das typische Beispiel aber für die Möglichkeit der Abgrenzung bestimmter 
Krankheiten gegenüber dem Symptomenbilde ist die Paralyse. Zwischen dem 
völlig verblödeten Paralytiker, der mit kaum verständlicher Stimme nur noch 
einzelne Zahlen als Rest seiner Größenideen vor sich hinlallen kann, und dem 
beginnendem Falle, bei dem nur eine ganz sorgfältige Berücksichtigung aller 
S}^mptome die schwere Krankheit erkennen läßt, besteht keinerlei äußere Ähn- 
lichkeit. Und doch wird jeder in beiden Fällen sofort die Ätiologie und traurige 
Prognose wissen und von keinem Symptome, das im Verlaufe der Erkrankung 
ein tritt, überrascht sein. 

An dem Beispiele der Paralyse aber läßt sich auch am besten beweisen, 
wie wenig Wert wir dem Zustandsbilde beizumessen, und wie sehr wir da, 
wo unsere Erfahrungen uns auf bestimmte Wege hin weisen, nach einer unan- 
fechtbaren Diagnose zu suchen gewohnt sind. Genügt doch schon das mittlere 
Lebensalter, um uns den reinen Symptomenkomplex einer leicht gehobenen 
Stimmung, eines Betätigungsdranges, der Redelust, kurz das Bild einer Hypo- 
manie der Paralyse verdächtig erscheinen zu lassen. Der Neurastheniker, der 



16 


Die Einteilung der Psychosen. 


uns bei sonst typischer Gestaltung des Zustandes keine rechte Ursache für 
sein Versagen anzugeben weiß und auch nicht von Jugend auf nervös gewesen 
ist wird von jedem Psychiater erst dann als Neurastheniker aufgefaßt werden, 
wenn mit absoluter Gewißheit das Fehlen aller körperlichen Symptome und 
der negative Ausfall der serologischen Untersuchung die Paralyse ausschließen 
läßt. In all diesen Fällen tritt die Bedeutung der psychischen Symptome um 
deswillen so in den Hintergrund gegenüber den organischen Veränderungen, 
weil diese uns ganz unabhängig von der individuellen Gestaltung des Krankheits- 
bildes die tatsächlich bestehende Erkrankung zu erkennen gestatten, und weil 
wir in der Paralyse einen so wohlbekannten Krankheitstypus mit bestimmtem 
Verlaufe, bestimmten Symptomen und bestimmten anatomischen Befunden 
vor ims haben. Daraus ergibt sich aber als notwendiger Schluß, daß unser 
Bestreben auch sonst dahin gehen muß, ims loszulösen von dem trügerischen 
Scheine des in die Augen fallenden Krankheitsbildes und zu versuchen, zu 
Krankheitstypen zu gelangen. 

Daß diese Aufgabe lösbar ist, beweisen die angeführten Beispiele. Venn 
es für diese möglich war, aus den Symptomen der Erkrankung die charakteri- 
stischen Merkmale herauszufinden, die zufälligen abzutrennen, so ist damit die 
Notwendigkeit erwiesen, auch andere Krankheitsbegriffe klar imd einwandfrei 
aus dem Chaos der Einzelerscheinungen herauszuarbeiten. Nicht alle Psychiater 
stehen auf dem Standpunkte, daß ein solches Bestreben überhaupt Aussicht 
auf Erfolg besitze. Psychische Erkrankungen sind in weit ausgeprägterem Grade 
Allgemeinerkrankungen als die meisten Krankheiten, mit denen es der 
innere Kliniker und der Chirurg zu tun hat. Sie verändern vorübergehend 
oder dauernd die ganze psychische Persönlichkeit. Während die Funktionen 
der sonstigen Körperorgane in normalem Zustande bei den gesunden Menschen 
nur quantitative Unterschiede erkennen lassen, zeigt das Seelenleben eine 
viel w'eiter gehende, auch in der Art verschiedene individuelle Gestaltung; 
wir sprechen von großer imd geringer Intelligenz, gutem und schlechtem Ge- 
dächtnis, ruhigem oder lebhaftem Temperament, geringer oder starker Erreg- 
barkeit des Gemütslebens, lebendiger oder fehlender Phantasie. Aber wir um- 
schreiben damit nur das Alleräußerlichste in rohen Umrissen, ohne uns darüber 
täuschen zu können, daß jeder dieser Begriffe in sich wieder eine große Zahl 
von Einzelvorgängen einschließt, die nicht als einfache Abstufungen der Leistungs- 
menge aufzufassen sind, und die ineinander greifen, ohne daß wir diesen ver- 
wickelten psychischen Mechanismus in seinen einzelnen Bestandteilen und 
Wirkungen zu erkennen vermöchten. 

Diese starke Ausprägung der persönlichen Eigenart macht zur Vor- 
bedingung der richtigen Beurteilimg psychopathologischer Abweichungen die 
Kenntnis der Persönlichkeit vor der Erkrankung. Nur bei Berück- 
sichtigung des Individualcharakters des Kranken gewinnen wir die Möglich- 
keit, das Typische in den Krankheitserscheinungen zu erkennen. Aber dank 
der Aufmerksamkeit, die damit der Persönlichkeit zugewendet wurde, kam ein 
neuer und in seinen Folgerungen sehr interessanter Gesichtspunkt in die Auf- 
gaben der psychiatrischen Diagnostik. Viele geistige Anomalien wurden als eine 
ins Krankhafte gesteigerte und verzerrte Weiterentwicklung einer kon- 
stitutionellen Veranlagung erkannt; der enge und in der Gedanken- 


Krankheitsbilder und Krankheitstypen. 


17 


^ angeborenen Denk- oder Reaktions- 

rrankh t " 'I T’ krankhaften Symptomen trennt diese 

K ankheRen von den Formen, in denen ein krankhafter Prozeß zu ganz 

So fruchtbar diese Betrachtungsweise ist, so kann ich aus ihr keinen 
Gegengrund gegen die Abgrenzung bestimmter Krankheitstypen finden wenn 
auch z. B der Bepiff der Hysterie und der Neurasthenie dadurch gefährdet 
worden ist und seine ursprüngliche Bedeutung zum Teil eingebüßt hat Ich’ 
verspreche mir im Gegenteil gerade von dieser Richtung unserer Forschun<.en 
eine schärfere Trennimg der Krankheiten, da sie uns auf die in der Veranlagung 
wurzelnden psychotischen Keime zu achten, der ersten Entstehung der 
psychischen Abweichungen nachzugehen zwingt. Das wird vielleicht vorerst 

fördern, weil wir einstweilen kaum weitere 
Schlußfolgerungen ziehen können als die, daß gewisse Syndrome nur Reaktions- 
formen des Individualcharakters sind; aber damit haben wir ja schon einen 
.Vnha tspunkt, der diese Formen von den Psychosen zu trennen erlaubt, die 
äußerlich wenigstens nicht mit der endogenen Veranlagung Zusammenhängen. 
Wir bekommen dadurch einen Einblick in die Ursachen einiger psvL- 

pathischer Symptomenkomplexe, die uns dem Ziele der Trennung in Krankheits- 
typen naher brmgt. 

• Erreichbarkeit des Zieles steht der Erreichung nicht 

™ anregend auf die psychiatrische Forschung gewirkt 

Es laßt sich wohl kaum in Abrede steUen, daß der lebendige Strom von Arbeit- 
samkeit, der zurzeit die Psychiatrie befruchtet, ausgegangen ist von dem Kampfe 
um Krankheitstypen, nicht um Krankheitsbilder. Aber dieser Kampf hat 
neue Nahrung gewonnen durch die Erkennung psychopathologischer Reaktions- 
ypen. Sie abzugrenzen, ist eine neue diagnostische Aufgabe; jeder Versuch 
dazu zwingt zu sorgsamer Scheidung der Symptome, zu klarerer Erfassung 
des Charakteristischen, des Wesentlichen, des Typischen gegenüber all den 
äußerlich oft gleich erscheinenden Einzelwahmehmungen. Diese Verfeinerung 
der allgemeinen Diagnostik aber bringt uns dem Ziele der Zusammenfassung 
des Zusammengehörigen, dem Erfassen des eigentlichen Wesens der versch e- 
denen Krankheitserscheinungen näher und damit dem Ziele, aus der Analyse 
der Symptome zur Synthese des Typischen zu gelangen. Jede natur- 
wissenschaftliche Disziplin muß aus dem Entwicklungsstadium der einfachen 
Beschreibung imd Materialsammlung heraus, und eine klinische Wissenschaft 
wird die Psychiatrie erst dann sein, wenn wir nicht mehr Sympto mengruppen 
sondern Typen, nicht mehr Zufallsbilder, sondern Gesetzmäßigkeiten 
zu erkennen imstande sind. 

Die Forderung nach der Aufstellung exakter Krankheitstypen ist nicht 
nur ein rem wissenschaftliches Problem. Wichtiger und bedeutsamer 
sind die praktischen Folgen einer exakten klinischen Diagnostik. Die Be- 
sonderheit der psychischen Erkrankimgen, die in der veränderten Auffassung 
der Außenwelt bedingt ist, bringt es mit sich, daß die Beziehungen des Kranken 
zum sozialen Leben erheblich beeinträchtigt imd gefährdet sind. Er nimmt 
straf- imd zivilgesetzlich eine Sonderstellung ein. Erziehungs- und Existenz- 

Handbuch der Psychiatrie: A sch a ff enbu rg. o 




18 


Die Einteilung der Psychosen. 



,higkeit sind in viel höherem Maße von der M 
dem Verlaufe der Erkrankung abhängig als bei 
n wir uns in unserem Urteile über die Zurechmmgs- 


und Schwere, vor allem von 


körperlichen Krankheiten. Wenn wir uns in unserem 
fähigkeit, über die Eechtsgültigkeit eines Testamei 


Zweckmäßigkeit einer Entmündigung nicht auf eii 
so bleibt ims nur unser Gefühl, unsere Routi 


ler Entmündigung nicht auf eine sichere Diagnose stützen, 
unser Gefühl, unsere Koutine; gewiß keine 'zuverlässige 
außerordentlich weittragende und in das Kechteleben des 


Testamentes oder einer Ehe, über die 


Grundlage für so außerordentlich weittragende 


Kranken und seiner Familie so tief einschneidende Maßnahmen . Der augen- 
blickliche Zustand kann uns zu sofortigem Einschreiten zwingen bevor wir ; 
uns über das Wesen der Krankheit ins klare gekommen sind. Aber alles \Veitere, 
was geschehen muß, wie wir die Handlungen des Kranken, bevor er in unsere 
Hände gelangt ist, aufzufassen haben, ist abhängig von der Beurteilung, welche 
Bedeutung dem Krankheitsbilde als Merkzeichen eines uns bekannten Krank- 
heitstypus beizumessen ist. Denn nur unsere Kenntnis der Verlaufsart einer 
Krankheit und der bei dieser Krankheit möglichen Symptome gibt uns die 
Sicherheit, deren der Kranke und auch die durch die Krankheit gefährdete Ge- 
sellschaft nicht entbehren kann. Auch das, so selbstverständlich es ist, möchte 
ich an einigen Beispielen dartun. 

Seit mehreren Jahren geht durch die psychiatrische Literatur das Krank- 
heitsbild der ,, psychopathischen Konstitution“. Ich will hier nicht darauf ^ 
eingehen, ob diese Krankheitsform überhaupt Anspruch auf dauerndes Bürger- | 
recht besitzt. Aber seither ist mir wiederholt begegnet, daß ausgeprägte Fälle 
von Dementia praecox verkannt worden sind, weil im Gefängnis entstandene 
Erkrankungen als Haftpsychosen, als akute Syndrome der psychopathischen j 
Konstitution aufgefaßt wurden. Die Folgen dieser Fehldiagnosen waren falsche | 
Schlüsse auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit und falsche Maßnahmen 
für die Zukunft. 

In einem Falle sind große, unseren Stand in der Öffentlichkeit diskre- 
ditierende Schwierigkeiten entstanden, weil die wechselnden Erregungen und | 
stillen Zeiten einer manisch-depressiven ELranken als konstitutionelle Eigen- ; 
tümlichkeiten bezeichnet wurden. Die Entmündigung der Eianken wurde 
als ein großer Fehler der Ärzte aufgefaßt, während es wohl möglich gewesen 
wäre, auch den Laien und Richtern, auf die richtige Diagnose gestützt, die Not- 
wendigkeit zu beweisen, während der zu erwartenden neuen Anfälle der Er- 
krankimg die Patientin unter den Schutz eines Vormundes zu stellen. 

Am besten läßt aber sich auch hier die Notwendigkeit exakter Diagnosen 
an der Paralyse erweisen. Wie mancher Paralytiker hat, weil die Krankheit 
nicht rechtzeitig erkannt wurde, noch Gelegenheit gefunden, sein Vermögen zu 
verschwenden, zu heiraten oder in amtlicher Stellung großes Unheil anzu- 
richten. Wie oft vergeuden die Angehörigen in der trügerischen Hoffnung auf 
Genesung alle verfügbaren Mittel, statt, über den unausbleiblichen traurigen 
Ausgang belehrt, für die Zukunft der Familie Sorge zu tragen. 

Ist es nicht von Bedeutung, ob eine sorgsame Untersuchung hinter Kopf- 
schmerzen, leichten Schwindelerscheinimgen, schneller Ermüdbarkeit, Schlaf- 
losigkeit, gesteigerter Erregbarkeit oder leichter Benommenheit einen Hirn- 
tiunor aufdeckt, der dem sich kurzerhand mit der Diagnose allgemeiner Neur- 





Er&nkh6itsbild6r und Krankheitstypen. 


19 


astheme beguügenden Untersucher entgeht? Es ist ja wohl im allgemeinen 
eme unabweisbare Pflicht des Arztes, jeden Kranken mit aller Sorgfalt zu unter- 
suchen. Aber jeder Arzt weiß auch, wie gerade die Schwierigkeiten der Diagnose 
den Blick zu scharfen zwingen, und wie jedes kleinste Symptom an Wert gewinnt 
sobald der Arzt sich nicht mit der Diagnose des Symptomenkomplexes begnügt.’ 
So ergibt sich auch hier als Folgerung aus der Aufgabe des Psychiaters die 
Stellung des Kranken im sozialen Leben richtig einzuschätzen, das unabweisbare 
Bedürfnis nach Krankheitstypen. 

Meines Erachtens kann die prinzipielle Frage, ob überhaupt der Versuch, 
Krankheitstypen aufzustellen, notwendig ist, gar nicht verneint werden. Es 
fehlt nicht an Stimmen, die ein solches Bestreben für eine ,, Jagd auf ein Phantom“ 
halten. Der Hauptvertreter dieser Richtung, Hoche, von dem dieser Ausdruck 
stammt, glaubt allerdmgs, daß gerade unsere Erfahrungen bei der Paralyse 
die Hoffnungen auf die klinische Sonderung von Krankheitstypen vernichten. 
Denn wenn wir auch post mortem die Diagnose der progressiven Paralyse bei 
einem uns sonst unbekannten Menschen stellen könnten, so sei es doch unmöglich, 
abgesehen von der Wahrscheinlichkeit einer fortschreitenden Demenz, irgend 
welche Einzelgestaltungen des klinischen Ablaufs aus dem anatomischen Bilde 
auszusagen. Ich bin nicht optimistisch genug, um die Hoffnung zu hegen, daß 
das in wirklich erheblichen Umfange vielleicht später doch einmal möglich sein 
wird; aber ich sehe nicht, mit welchem Rechte eine so extreme Forderung gestellt 
wird. Der anatomische Befund bei einer Phthise, bei einer Pankreaserkrankung, 
bei der Tabes läßt uns die Symptome, die intra vitam vorhanden gewesen sein 
können, rnit Bestimmtheit herzählen, nicht aber, ob sie alle und in welcher Aus- 
prägiing sie sich gezeigt haben. 

Aber Hoche macht noch zwei prinzipielle Bedenken gegen die Berechtigung, 
Krankheitstypen abzugrenzen, geltend. Das erste ist die Tatsache, daß ,,für alles’ 
das, was w Gefühl, Stimmung, Gemütsbewegung, Trieb, Wille, Urteil usw. 
nennen, eine ausgebreitete Inanspruchnahme der verschiedensten Gehirnteile 
die Voraussetzung ist“. Damit „eröffnen sich für jede beliebige Störung irgend 
welcher seelischer Vorgänge sehr zahlreiche Möglichkeiten des Angriffspunktes“. 
Das kann wohl im allgemeinen als zutreffend bezeichnet werden. Wir müssen 
deshalb mit der Möglichkeit rechnen, daß ein und dasselbe Sjanptom dmch 
ganz verschiedenartige Kombinationen der in ihrer Funktion beeinträchtigten 
Hirnteile zustande kommen kann. Aber ganz zuverlässig ist dieser Schluß nicht, 
denn es könnte doch auch möglich sein, daß wir, ebensogut wie wir eine zerebrale 
Lähmung von einer bulbären und spinalen trennen können, auch bei psychischen 
Symptomen aus der Art, wie sie auftreten und sich in ihre einzelnen Kompo- 
nenten zerlegen lassen, vielleicht einen Hinweis auf die Lokalisation finden. 

Selbst wenn wir gar nicht so weit gehen wollen, so widerspricht die 
Vorstellung, daß die psychischen Symptome auf eine allgemeine Erkrankung 
der Hirnrinde zurückzuführen sind, nicht der Möglichkeit einer Erkennung 
des Krankheitsprozesses durch die anatomische Untersuchung. 

Das zweite Bedenken hängt mit der erkenntnistheoretischen Schwie- 
rigkeit zusammen, daß wir den Zusammenhang der psychischen Vorgänge mit 
den materiellen Veränderungen nicht zu erfassen vermögen. Hoche hält es für 
,,sehr wohl möglich, daß in denselben Struktursystemen mit demselben Aufwands 


2 * 






20 


Die Einteilung der Psychosen. 


von chemischem Umsätze und eventuell anatomisch nachweisbaren feinsten 
Veränderungen je nach der Form des ablaufenden Erregungsvorganges sich 
sehr verschiedenartiges psychisches Geschehen abspielen kann, so daß auch eine 
unendlich weit vorgeschrittene Mikrochemie eine Zurückbeziehung greifbarer, 
sichtbarer Verändenmgen auf bestimmte psychische Erscheinungen nicht zu 
leisten vermöchte* ^ Auch hier kann ich die prinzipielle Berechtigung dieser An- 
schauimg nicht zugeben. Wenn wir an der strengen Kausalität alles Ge- 
schehens festhalten und das Gebiet des Psychischen nicht ausnehmen wollen, 
so muß jeder Erregungsvorgang im Gehirne in seiner psychischen Gestaltung 
dem zugrunde liegenden Vorgang entsprechen. Theoretisch muß man also jedes 
psychische Symptom, dessen Zustandekommen durch eine andersartige Form 
des Erregungsvorganges bedingt ist, seine eigenen Merkmale besitzen, wenn wir 
uns auch bewußt sind, daß wir bis zu dieser mikropsychologischen Diffe- 
renzierung niemals gelangen werden. Wir kennen die Gesetze nicht, nach 
denen sich das psychische Leben auf körperlichen Vorgängen aufbaut, imd 
werden diese Gesetze nie erkennen können, aber wir dürfen nicht an der strengen 
Gesetzmäßigkeit zweifeln. Und deshalb suchen wir auch nicht die anatomische 
Grundlage psychischer Erscheinungen, sondern die anatomischen Be- 
gleiterscheinungen. 

Wir bleiben dabei, der erkenntnistheoretischen Unmöglichkeit weiteren 
Eindringens in den Zusammenhang zwischen Materie und Seele bewußt, an der 
Oberfläche; aber wir dürfen deshalb doch das Korrelat des Psychischen in der 
anatomischen Strukturveränderung erblicken. Das aber genügt, um uns zu 
berechtigen, von der Anatomie die Förderung unseres klinischen Wissens zu 
erwarten, wenn wir uns nur bescheiden, nicht die anatomische Grundlage jedes 
psychischen Symptoms, sondern nur die der Krankheitsprozesse zu 
suchen. Daß der Weg der Abgrenzung von Krankheitstypen durch die Anatomie 
möglich ist, gibt auch Ho che für die Psychosen zu, die auf anatomisch nachweis- 
barer Grundlage beruhen, oder bei denen wir mit gutem Grunde eine solche 
annehmen, weil sie mit faßbaren Ausfallserscheinungen einhergehen oder en- 
digen“. In den Fällen, in denen die Korrektur irriger Zusammenschweißungen 
nichteinheitlicher Krankheitsbilder durch den Sektionsbefund ermöglicht wird, 
ist es ja allerdings leicht, bald zu einem klaren Krankheitstypus zu gelangen. 
Darum ist es in den andern Fällen doch noch kein aussichtsloses Beginnen. 
Die innere Medizin verzichtet doch auch nicht auf die Aufstellung besonderer 
Formen, weil ihnen für viele noch die pathologisch- anatomische Grundlage 
fehlt. Die Paralysis agitans ist noch immer in ihrer Pathogenese so gut wie un- 
bekannt, ebenso die Chorea und so manche Infektionskrankheit. Sollen wir 
deshalb aufhören, diese Diagnosen zu stellen? 

Wenn es aber in der medizinischen Wissenschaft möglich ist, Krankheits- 
typen mit charakteristischen Erscheinungen und mit charakteristischem Aus- 
gange mit imd ohne die Beihilfe und Kontrolle der pathologischen Anatomie auf- 
zustellen, so muß das auch in imserem Fache zu ermöglichen sein. 

Wir stehen gewiß nicht vor einer leichten Aufgabe, wenn wir versuchen, 
aus der Vielgestaltigkeit der Symptomenbilder das Wesentliche und Typische 
herauszuschälen und einheitlich zusammenfassen, aber doch auch wohl nicht vor 
einer unlösbaren Aufgabe. 





III. 

Richtlinien der Einteilung der Psychosen. 


Ist unsere Auffassung richtig, daß jeder Krankheitstypus eine in sich ge- 
schlossene und gegen andere Krankheiten abgrenzbare Einheit ist, so muß jedem 
Krankheitstypus auch ein einheitlicher, für ihn charakteristischer anato mische r 
Prozeß entsprechen. Das bedeutet aber nicht, daß wir in ^edem einzelnen Falle 
schwere Zerstörungen der Großhirnrinde finden zu können glauben. Solche 
schwere Veränderungen wie bei der Paralyse und der arteriosklerotischen Demenz, 
dürfen wir im allgemeinen nicht voraussetzen. Die plötzlichen Änderungen 
innerhalb des Krankheitszustandes, die weitgehenden Besserungen 'mancher 
Erkrankungen nach jahrelangem Bestehen, das Erhaltenbleiben der Intelligenz 
bei vielen chronischen Psychosen, die außerrodentliche Flüchtigkeit schwerer 
Eiregungen, alle diese alltäglichen Beobachtungen lassen sich mit der Annahme 
von Zerstörungen grobmaterieller Art nicht vereinigen. Es dürften vielmehr 
recht häufig dem klinischen Bilde nur Störungen funktioneller Natur 
zugrunde liegen, d. h. Störungen, die in einer mangelhaften Tätigkeit oder in 
einem veränderten Zusammenarbeiten der einzelnen Elemente bestehen. Ob 
sich das überhaupt in jedem Falle anatomisch greifbar feststellen lassen würde, 
wenn uns der Zufall ermöglichte, das Gehirn eines an einer sogenannten funk- 
tionellen Geistesstörung Erkrankten während des akuten Stadiums der Psychose 
zu imtersuchen, ist mehr als fraglich, zumal in einer Zeit, in der ein so erfahrener 
Forscher wie Nissl sich dahin ausspricht, daß wir erst „im Begriffe sind, den 
Anfang mit dem Anfänge in der pathologischen Anatomie der Geisteskrank- 
heiten zu machen“ (I, 171). 

Daß wir bei unseren Hirnforschungen die Grenze vielleicht nie über- 
schreiten können, jenseits derer die funktionellen Veränderungen liegen, jene 
flüchtigen Störungen, die, ohne greifbare Spuren zu hinterlassen, sich nur in vor- 
übergehenden Abweichungen von der normalen Betätigung ausprägen, hindert 
die theoretische Forderung nicht, daß jeder Krankheitsform auch eine besondere 
Art der Erkrankung der Hirnelemente — sei es in grob materiellem, sei es in 
funktionellem Sinn — entsprechen muß. 

Die Fruchtbarkeit dieses Gedankenganges für die klinische Forschung 
ist gerade in den letzten Jahren sehr deutlich zutage getreten. Wir sind bereits 
jetzt in der Lage, einzelne Formen der Idiotie, dieses früher klinisch ganz 
vernachlässigten und scheinbar wenig interessanten Gebietes, anatomisch und 


22 


Die Einteilung der Psychosen. 


symptomatologisch zu trennen. Noch beweisender sind die Rückbildungs- 
prozesse. Die Scheidung der arteriosklerotischen Prozesse von den senilen 
Vorgängen ist zuerst anatomisch geglückt, imd dann erst folgte die klinische 
Differenzierung nach und ließ uns im Verlauf und den Symptomen Unterschiede 
erkennen, die bis dahin der Beobachtung entgangen waren. 

Das bisher Erreichte, so bescheiden es im Vergleiche zu unsem letzten 
Zielen ist, ermutigt zur weitem Verfolgung des eingeschlagenen Weges. Eine 
starke Unterstützung findet dabei die pathologisch-anatomische Forschung 
durch die Ergebnisse des Tierexperimentes. Die Möglichkeit der Variierung 
der Versuchsbedingungen durch Wechsel der Art, Menge und Dauer der Schädi- 
gung hat bereits jetzt schon Unterschiede in der Form md in der Stärke der 
Wränderimgen aufgedeckt, die sogar^Einblicke in die Lokalisation vereinzelter 
psychischer Erscheinungen versprechen. Aber auch ohne gerade in dieser Richtung 
aUzu optimistisch zu sein, darf man doch auf Grund des bisher Erreichten bereits 
die Hoffnung aussprechen, für die verschiedenen Formen der Vergiftungen 
und sonstiger in ähnlicher Weise experimentell herbeizuführender Schädigungen 
die anatomischen Grimdlagen zu finden und damit sehr brauchbare und wert- 
volle Vergleichsobjekte für die Ergebnisse der Autopsie. 

Von dem Ziele, das Kahlbaum ,,den unerläßlichen Schluß und Probier- 
stein des pathologischen Erkennens“ nennt, die Richtigkeit unserer Formen- 
lehre durch pathologisch anatomische oder pathologisch funktionelle Befunde 
beweisen zu können, sind wir noch unendlich weit entfernt. Aber bei dem, was 
rms bisher erst bei wenigen Krankheiten geglückt ist, beobachten wir die gleiche 
charakteristische Entwicklung wie auch sonst in der medizinischen Wissenschaft, 
den Fortschritt vom Krankheitsbilde zum Krankheitstypus. 

Die klinische Zusammengehörigkeit wird zuerst durch die Auf- 
deckung anatomisch ganz verschiedenartiger Erkrankungen in Frage gesteht. 
Das dadurch aufmerksamer gewordene Auge des Beobachters entdeckt dann 
aber auch, daß die klinische Einheitlichkeit nicht den Tatsachen entspricht, 
und die so gefimdenen Abweichungen des Verlaufs und der Symptomengrup- 
pierung erlauben schließlich auch klinisch die Trennung, der die Anatomie vor- 
ausgeeilt ist. 

Jeder Krankheitstypus, der nicht auf Zufallsähnlichkeiten aufgebaut 
ist rmd der dauernd Bestand haben soll, muß eine pathologisch-anatomische 
Einheit darstellen. Diese prinzipielle Forderung ist von dem Stande unseres 
Wissens in der Pathologie der Psychosen unabhängig. So wertvoll das ist, was 
wir als sichere Ergebnisse der Hirnforschungen ansehen dürfen, es gibt uns 
vorerst nur Anhaltspunkte in imserem Suchen nach Krankheitstypen, aber 
keine so scharfmnschriebenen Linien, daß wir jetzt schon auf der Anatomie 
imsere Einteilung der Psychosen aufbauen könnten. Aber wenn wir auch darauf 
vorerst verzichten, die Überzeugung bleibt davon unberührt, daß die Grup- 
pierung kUnisch zusammengehöriger Erkrankungen, die- sich als wirklich ge- 
schlossene Krankheitstypen erweisen, letzten Endes mit der Gruppierung der 
Krankheiten nach ihrer pathologisch-anatomischen und pathologisch-funk- 
tionellen Eigenart zusammenfallen muß. 

Ein zweiter Gesichtspunkt, der theoretisch eine ideale Einteilung er- 
möglicht, ist der, die Psychosen einzuteilen auf Grund ihrer Ursachen. Gerade 


Kicbtlinien der Binteilung der Psychosen. 


23 


hier aber versagen unsere Kenntnisse fast vollständig. Nötigt uns doch schon 
die Beobachtung der ätiologisch scheinbar einfachsten und durchsichtigsten 
Fälle, der Intoxikationspsychosen, das Geständnis ab, daß wir in das Gewirr 
der Ursachen nur ganz oberflächlich hineinblicken. AVarum beispielsweise 
der eine Trinker ein Delirium tremens, der andere eine Alkoholhalluzinose, 
der dritte chronische Eifersuchtsideen, ein vierter epileptische Anfälle bekommt, 
und mancher überhaupt keine nennenswerte Schädigung einer psychischen 
Leistungsfähigkeit erfährt, davon wissen wir nichts. Ob die von Bonhoeffer 
als „ätiologische Zwischenglieder“ bezeichneten Vorgänge, deren An- 
nahme aus theoretischen und klinischen Gründen wohl keine allzu kühne Hy- 
pothese ist, oder obAie individuelle Eigenart dabei die Hauptrolle spielen, 
oder ob noch weitere uns gänzlich unbekannte Faktoren mitwirken, ist eine 
Frage, deren Beantwortung uns die Wissenschaft zurzeit noch schuldig bleibt. 

Ähnlich wie bei den Alkoholpsychosen liegt es fast überall, aber damit 
ist durchaus nicht ausgesprochen, daß sich die Psychosen nicht in ganz be- 
stimmter, und zwar in gesetzmäßiger Abhängigkeit von bestimmten Ur- 
sachen befinden. Nur daß unser Wissen heute noch nicht ausreicht, um die 
Trennung der Krankheitstypen auf Grund der Ätiologie versuchen zu können. 
Wenn wir das vorerst noch nicht können, so verzichten wir deshalb doch nicht 
auf die Verwertung der Ursachen als Einteilung. 

Das müßten wir dann, wenn unsere Unteruntersuchungen uns belehren 
würden, daß jede Ursache regellos jede Folge haben, jede Erkrankung regellos 
nach jeder Ursache eintreten kann. Das anzunehmen aber verbietet das Gnmd- 
prinzip unseres ganzen naturwissenschaftlichen Denkens, wie ich schon früher 
dargelegt habe (S. 11). Wenn wir die Gesetze der Entstehung psychischer 
Störungen nicht kennen, so spricht das doch nicht für Gesetzlosigkeit. 

Wir sollten auch in der Psychiatrie nicht einen Maßstab anlegen, der in 
der sonstigen medizinischen Wissenschaft nicht üblich ist. Wir zweifeln doch 
nicht an der bazillären Entstehung der Tuberkulose, des Typhus und der Cholera, 
weil nicht jeder der Infektionsgefahr Ausgesetzte erkrankt, nicht jeder der In- 
fektion Verfallene an der Erkrankimg zugrunde geht, imd weil sich das eine Mal 
die Erkrankimg ohne sonstige äußere Ursache, das andere Mal nach einer In- 
fluenza oder einer Brustquetschung entwickelt. 

Allerdings würden unsere Bestrebungen nach klinischer Gruppierung auf 
Grund ätiologischer Übereinstimmimg uns rettungslos in die Irre führen, wenn 
wir uns an unser jetziges Wissen von den Ursachen halten würden. Insofern hat 
Wer nicke recht, wenn er davor warnt, ,, bestimmte klinische Formen von aus- 
schließlich ätiologischer Bedingtheit künstlich zu konstruieren“ (I, 525). Diese 
AVarnung war gegenüber den Menstruationspsychosen, den Puerperalpsychosen 
berechtigt. Aber gerade an solchen Beispielen erweist sich durch die Unhalt- 
barkeit der Zusammenfassung nach dem Zufalle des äußern Anstoßes der AVert 
der klinischen Beobachtung. Und so hat auch AVer nicke daraus den Schluß 
gezogen, daß die ätiologische Betrachtungsweise für die Kenntnis und das Ver- 
ständnis der Psychosen von großem Nutzen sei. Ich möchte darin viel weiter 
gehen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil ich überzeugt bin, daß jede klinisch 
einheitliche Gruppe auch ätiologisch einheitlich ist. Könnten wir alle 
ursächlichen Faktoren in jedem Falle genau analysieren und in ihrer Bedeutung 



24 Die Einteilung der Psychosen. 

richtig bemessen, so müßte die klinische Gleichartigkeit mit der ätiologischen 
zusammenfallen. 

Sollen wir nun aber, angesichts der Unmöglichkeit, aus dem Gewirr der ' 
Ursachen die wirklich bedeutsamen gegenüber den belangslosen, die grund- 
legenden gegenüber den zufälligen herauszufinden, auf jeden Versuch verzichten, J 
bei der Scheidung der Krankheitstypen die Ätiologie mitzu verwerten? Ich glaube, 
nichts wäre verfehlter. Gerade die ätiologischen oder, wie man in dem Falle ^ 
wohl besser sagt, die pseudoätiologischen Gesichtspunkte haben unser , 
klinisches Wissen gewaltig gefördert. Die Auffassung z. B. der akuten hallu- 
zinatorischen Verwirrtheit, der Amentia, als einer Erschöpfungspsychose hat ^ 
nicht nur dazu geführt, den Begriff der Erschöpfung schärfer zu fassen und in 
seine Komponenten zu zerlegen. Der Streit um die Bedeutung der Erschöpfung 
als Ursache der Amentia hat vielmehr vor allem den Rahmen der Amentia, der, 
wie wir heute wissen, die verschiedenartigsten Krankheitsformen umspannte, 
gesprengt und alles nicht zu dieser Krankheit Gehörige auszuscheiden er- 
möglicht, so daß die Amentia als Kranldieitstypus nur in einer ganz Ideinen Zahl 
von Fällen eine nicht einmal sichere imd allgemein anerkannte Existenz- 
berechtigung findet. Noch bedeutsamer hat sich die Unzulänglichkeit der rein 
äußerlich genommenen Ursache bei dem Jugendirresein erwiesen. Es konnte 
nicht länger zweifelhaft sein, daß sich unter den Psychosen der Entwicklungszeit 
die verschiedenartigsten Erkrankungen befanden, und damit wurde der Begriff 
des Jugendirreseins eingeengt auf den Typus der Dementia praecox in ihren 
verschiedenen klinischen Ausprägungen. 

Neben diesem mehr negativen Nutzen aber bringt die ätiologische Auf- 
fassung noch den weiteren, daß wir den Begriff der Ursache viel genauer 
imd klarer herausbilden lernen. Wenn zwei ganz verschiedene Krankheitsbilder 
durch anscheinend die gleiche Ursache entstehen, so müssen wir nach weiteren 
Ursachen für diese Verschiedenartigkeit suchen, und damit eröffnen sich uns 
Ausblicke in das Wesen der Individualität, in das Getriebe persönlicher 
und familiärer Prädispositionen, deren Ergebnis nicht nur der klinischen 
Forschung, sondern vor allem der Vorbeugung zugute kommen muß. Und um- 
gekehrt, wenn zwei ganz gleiche^Krankheitsbilder, die wir als typische imd gleich- 
artige Krankheiten auffassen müssen, sich nach ganz verschiedenen Ursachen 
entwickeln, so wird unsere Aufgabe, die wesentliche Ursache von der unwesent- 
lichen, den zufälligen, nur scheinbar ursächlichen Begleiterscheinimgen zu 
treimen, wiederum eine Vertiefung unseres ätiologischen Wissens zur Folge 
haben. 

Bei dem Versuche, auf unseren augenblicklichen, wie nochmals zuge- 
standen werden muß, recht dürftigen Kenntnissen von den Ursachen eine Ein- 
teilung der Psychosen aufzubauen, fallen uns vor allem zwei Gruppen von Geistes- 
krankheiten ins Auge, diejenigen, bei denen wir wissen, daß schwere ana- 
tomische Veränderungen dem Krankheitsprozesse zugrunde liegen imd von 
seinen Erscheinungen untrennbar sind, und diejenigen, bei denen wir organische 
Veränderungen nicht kennen und der ganzen Art des Krankheitsverlaufes nach 
auch nicht erwarten dürfen. 

Die erste Gruppe umfaßt die organischen Erkrankungen. Es wäre 
ivohl von vornherein ein ganz falscher Gesichtspunkt, darunter nur diejenigen 


Richtlinien der Einteilung der Psychosen. 25 

Psychosen zu verstehen, bei denen wir zu jedem Krankheitstypus bereits das 
azugehonge anatomische Bild kennen oder wenigstens in seiner gröbsten Aus- 
1 düng beschreiben können. Würden wir so Vorgehen, so würden wir damit 
einen Rahmen schaffen, der von Jahr zu Jahr erweitert werden müßte, und 
essen Ausdehnmg von dem Zufalle abhängig wäre, nach welcher Richtun<r 
unser anatomisches Wissen am schnellsten fortschreitet. Das, was diese Psychosen 
von allen andern trennt, ist vielmehr die Tatsache, daß wir es mit Erkrankungen 
zu tun haben, die em m seiner Veranlagung normales Gehirn materiell 
dauernd so verändern, daß seine Funktionsbeeinträchtigung uns in der Form 
emer Psychose entgegentritt. Es handelt sich stets um eine mehr oder weniger 
starke Herabsetzung oder Aufhebung von Fähigkeiten, die dem gesunden Gelürn 
eigen sind, und diese Storungen tragen den Charakter der Unheilbarkeit- 
selbst wenn die anatomischen Prozesse zum Stillstände oder zur Ausheilung 
gebracht sind, müssen noch nachweisbare Defekte übrig bleiben, die den ver- 
nichteten oder veränderten Gehirnbestandteilen entsprechen. 

materielle Veränderung der Hirnsubstanz ist aber nicht die eigent- 
lic^e Ursache der Psychosen, sondern andersartige Vorgänge, die das Gehirn 
schien, wie Syphilis, Entzündungen, Blutungen, Arterienver- 
kalkung, Ruckbildungsprozesse. Die Verschiedenheit der Schädigungen 
bedmgt eine Verschiedenheit der Erscheinungen, und zwar sowohl der ana- 
tomischen wie der klinischen. Hier greifen diese beiden Forschimgsrichtungen 
in erfreulichster Weise ineinander. Bald stellt die klinische Einheitlichkeit eines 
Krankheitsprozesses der anatomischen Forschung die Aufgabe, die Veränderungen 
zu finden, bald verlangt die Feststellung verschiedenartiger pathologischer 
Zellvorgänge die Abgrenzung der psychischen Symptome gegeneinander. 

Dieser ersten Gruppe von Erkrankungen stehen die gegenüber, bei denen 
es nach der Art des Krankheitsverlaufes mehr als imwahrscheinlich ist daß 
grobe anatomische Veränderungen der Psychose zugrunde liegen. Die starken 
Schwankungen der Intensität der Erscheinimgen, das Erhaltenbleiben der 
wichtigsten psj^chischen Leistungen trotz jahrelanger Dauer der Krankheit 
das völlige Schwinden aller Symptome ohne jeden erkennbaren Defekt, alle 
diese Beobachtimgen erscheinen mit der Annahme ernster materieller Vorgänge 
in der Hirnrinde unvereinbar. Bei allen diesen Kranken steht die konstitu- 
tionelle Eigenart der psychischen Persönlichkeit im Vordergründe der kli- 
nischen Erscheinungen. 

Ich weiß sehr wohl, daß dieser Ausdruck nichts bestimmt Abgrenzbares, 
nichts Greifbares besagt, und doch gibt er eine Erfahrung wieder, die sich uns 
immer wieder aufdrängt. Wir stehen bei den Psychosen, die hierher gehören, 
unter dem Eindrücke, daß die geistigen Anomalien mit der Veranlagung des 
Erkrankten aufs engste verschmolzen, von ihr unzertrennbar sind, daß äußere 
Einflüsse die entstandenen Abweichungen in ihren Symptomen, nicht aber 
in ihrem Wesen beeinflussen, die Erkrankung wohl auslösen, aber nicht 
verursachen können, verursachen im Sinne der entscheidenden Kausa- 
lität. Der Kranke ist als Kranker geboren, wenn auch die Schwere der Symptome 
und ihie Entmcklung von allen möglichen Ereignissen abhängig ist, ja bei be- 
sonders günstigen Verhältnissen deutliche Manifestationen der Erkrankung 
völlig ausbleiben können. 


26 


Die Einteilung der Psychosen. 


Hellpach hat die Erkrankungen, deren Weg unabänderlich vorgezeicMet 
ist, in denen die Abnoimität die Eichtung ihrer Fortentwicklung ausschließlich 
in sich selber trägt, als produktive von den reaktiven Abnormitäten 
unterschieden, bei denen ,,nur Instabilität, Labilität, vermin ^ 

gegeben ist, imd die Reize entscheiden, welches Bild zur Auswic 
(I, 79). Er versucht damit zwei Richtungen der Erkrankung innerhalb des 
großen Gebietes endogener Prädisposition zu scheiden, deren emer }'pus 
rettungslos der psychischen Erkrankung verfallen ist, wahrend (kr an<iere nur 
imter dem Einflüsse bestimmter Schädigimgen mit pathologiscihen Erscheinungen 
reagiert. Dieser Versuch war entschieden ein Fortschritt, insofern als er die 
allzustarke Überzeugung von der angeborenen Prädestination zur Psychose 

einer kritischen Nachprüfung unterzog. o i. 

Die letzten Jahre haben uns nun gerade nach der Richtung große Fort- 
schritte gestattet. Wir sind dabei über Hellpachs Standpunkt erheblich heraus- 
gekommen. Das allen diesen Formen Gemeinsame ist die Veranlagung zur 
Erkrankung; je stärker diese Prädisposition, um so geringer der Anlaß, der 
die psychopathischen Symptome auslösen kann, je geringer die Veranlagimg, 
um so stärker der Widerstand gegen die Schädigungen des Lebens, den nur 
ganz ungewöhnliche Ereignisse zu erschüttern vermögen. Selbst bei solchen 
Erkrankimgen, die mit scheinbar fatalistischer Regelmäßigkeit immer wieder- 
kehren, wie etwa dem manisch-depressiven Irresein, haben wir die Abhängigkeit 
von äußeren Ereignissen zu beachten gelernt. 

Die Auffassung dieser Gruppe von Psychosen als reaktiver Erscheinungen 
bedingt auch eine große Übereinstimmung der Symptome mit dem allgemeinen 
Charakter der erkrankenden Persönlichkeit. Der psychotische Symptomen- 
komplex erscheint im allgemeinen als eine stärkere Ausprägung, eine ins Patho- 
logische vergrößerte und vergröberte Übertreibung der in der krankheits- 
freien Zeit hervortretenden Individualität. Nicht immer tritt dieser Zusammen- 
hang klar hervor. Aber in der Regel weist das Krankheitsbild nichts auf, 
was nicht bereits in Andeutungen auch außerhalb der Psychose vorhanden ge- 
wesen ist. 

Es erscheint \delleicht als ein Wagnis, diese Gruppe als ätiologisch ein- 
heitlich aufzufassen. Wir wissen, daß es sich meist um schwer belastete Individuen 
handelt, imd leiten daraus das Recht ab, auch bei den Fällen, die aus imbelasteter 
Familie stammen, eine ebenso geartete angeborene Disposition vorauszusetzen. 
In solchen Fällen müssen wir annehmen, daß die krankhafte Veranlagung auf 
einer Keimschädigung beruht, die nicht auch schon bei den Eltern oder 
Voreltern ihre schädigende Wirkung ausgeübt, sondern erst ein einzelnes oder 
auch mehrere Kinder gesunder Eltern zur psychopathischen Persönlichkeit 
gemacht hat. Das, was uns veranlaßt, auch diese Kranken, ohne den exakten 
Nachweis einer degenerativen Veranlagung, mit den erblich belasteten zu 
einer Gruppe zusammenzufassen, ist die klinische Übereinstimmung 
der Krankheitszustände. Auf der einen Seite das Ausbleiben einer Verblödung 
oder schweren Veränderung der Persönlichkeit,^ auf der andern der enge Zu- 
sammenhang der psychotischen Erscheinungen mit dem individuellen Charakter. 

Zwischen beiden Gruppen stehen diejenigen Erkrankungsformen, die nach 
der ganzen Art ihrer Entwicklung, der Gestaltung der Symptome und den Um- 


Richtlinien der Einteilung der Psychosen. 


27 


standen, unter denen sie entstehen, zeigen, daß sie nicht in der Veranlagiuig 
selbst bereits im Keim enthalten sind, sondern durch äußere Ursachen' 
hervorgerufen werden. Das setzt durchaus nicht voraus, daß wir es stets mit 
„rüstigen Gehirnen zu tun haben. Genau ebensogut wie bei den organischen 
Psychosen kann eine deutliche Prädisposition bestehen. Es ist sogar vielfach 
die Ansicht vertreten worden, daß auch in den hierhingehörigen Fällen die erb- 
liche Veranlagung den Boden bildet, ohne den die Krankheit, wenigstens in der 
Kegel, keine Wurzel schlagen kann. Aber der Grundzug der krankhaften Sym- 
ptome hat mit dem endogenen Charakter nichts unmittelbar zu tun, die psy- 
chotischen Erscheinungen sind in ihrer Art, Dauer imd Stärke von der äußeren 
Schädigung abhängig und würden ohne diese äußeren Einflüsse nicht zur Ent- 
Wicklung kommen. 

Daß die Schädigungen auch organische Veränderungen hervorrufen, die 
sogar bei langer Dauer der Erkrankung und insbesondere bei Fortdauer der 
schädigenden Einwirkung nicht mehr zum Schwinden kommen, [stellt diese Krank- 
heiten der organischen Gruppe näher. Aber sie scheiden sich von ihr dadurch, 
daß die Krankheit in den ersten, oft auch noch in der späteren^ Stadien zum 
Stillstände und zur Eückbildung kommt, sobald die von außen dem Körper 
zugeführte Schädigimg fortfällt, während beij den organischen" Prozessen die 
Erkrankung ^aufhaltsam fortschreitet und nie restlos ausheilen kann. Ferner 
aber durch die Art der Schädigung, die wir durchweg in einer Vergiftung 
zu suchen haben. 

Es fragt sich ja allerdings, ob dieser Gesichtspunkt einer chemischen 
Noxe zur Abtrennung ausreicht. Besonders da werden wir uns dieses Bedenkens 
nicht erwehren können, wo wir genötigt sind, die erwähnten ätiologischen 
Zwischenglieder zum Verständnisse heranzuziehen. Das, was uns berechtigt, 
auch diese Fälle mit den aus der chemischen Einwirkimg allein hinreichend 
erklärbaren in einer Gruppe zu vereinigen, ist die klinische Gestaltung der Psy- 
chosen, die in bestimmten eigenartigen und gerade für die toxische Entstehimg 
überaus charakteristischen Symptomen eine Wesensgleichheit verraten, die 
nicht bedeutungslos sein kann. 

So ergibt sich als leitendes Motiv der Einteilimg eine grobe Scheidung,, 
die teils von anatomischen, teils von ätiologischen Anschauungen ausgeht, 
die aber ihre klinische Umgrenzimg einstweilen nur dem klinischen Gesamt- 
bild entnehmen kann. 

Das ist gewiß kein erfreuliches Ergebnis und weit entfernt von dem Ideale 
einer wissenschaftlichen Gruppierung. Aber unsere heutigen Kenntnisse zwingen, 
uns mit dieser Einteilung zu bescheiden. Gelingt es ims aber, wirklich geschlossene 
Krankheitstypen aufzustellen, so muß diesen auch ein einheitlicher anato- 
mischer oder funktioneller Prozeß und eine einheitliche]^ Ursache, [wenn auch 
vielleicht aus zahlreichen Einzelursachen bestehend, zugrunde liegen. Jede 
wirklich brauchbare Einteilung in Krankheitstypen wird schließlich identisch 
sein mit der nach den anatomischen Veränderungen imd der Pathogenese. 



Die Einteilung der Psychosen. 


Innerhalb des Rahmens, den unsere augenblicklichen Kenntnisse von der 
Anatomie imd Ätiologie der Psychosen zu bilden erlauben, kann nur die 
klinische Einheitlichkeit einstweilen die Stellung der einzelnen Krank- 
heitstypen bestimmen. Das war der Schluß, zu dem uns die Erörterung der 
klassifikatorischen Gesichtspunkte führte. Aber die Aufgabe stellen, auf dieser 
Grundlage eine Systematik der Psychosen aufzubauen, heißt noch nicht 
sie lösen. Denn innerhalb der Gruppen, die wir aus zwingenden Gründen als 
zusammengehörig betrachten dürfen, treten uns die einzelnen Formen in einer 
verwirrenden Vielgestaltigkeit entgegen, und jeder einzelne Krankheitsfall 
zeigt ein individuelles Gepräge. Auch gemeinsame Züge, Züge von oft 
verblüffender Gleichartigkeit. Wieweit aber gerade diese für das Krankheits- 
bild bedeutsam sind, ob wir uns darauf bei unserer Systematik stützen dürfen, 
das gerade ist die wichtigste und entscheidende Frage. 

Aus den Einzelsymptomen heben sich gewisse stets wiederkehrende 
Sy mptomenverkuppelungen ab, die Hoche als Einheiten zweiter 
Ordnung bezeichnet hat. Als solche benennt er, und zwar absichtlich in ad- 
jektivischer Form: manisch, delirant, paranoisch, katatonisch, melancholisch. 
Scharf Umrissen sind auch diese Einheiten zweiter Ordnung nicht, aber sie sind 
zweifellos brauchbare Bezeichnungen, deren wir ims zur ersten Orientierung 
aus Gründen der Bequemlichkeiten bedienen dürfen, ohne aber mit Hoche 
die weitere Folgerung ziehen zu müssen, daß wir zu weiteren höheren Ein- 
heiten nicht gelangen könnten. Im Gegenteil, gerade an der Hand solcher 
Beziehungen läßt sich die Notwendigkeit am besten dartun, diese Symptomen- 
verkupplungen nur als die ersten Orientierungspunkte aufzufassen, über 
die hinweg wir zu charakteristischeren Merkmalen gelangen können. 

Dafür einige Beispiele: Der Paralytiker bietet nicht selten ein ma- 

nisches Bild. Aber seine Reden verraten daneben die geistige Schwäche, 
und dieses Symptom zwingt uns, noch nach weiteren Erscheinimgen zu suchen, 
die den Verdacht der Paralyse verstärken oder verschwinden lassen. 

Wir sehen einen Kranken delirieren. In dem Symptomenkomplex des 
einen Falles herrscht eine humoristische Stimmung vor; zahlreiche Gesichts- 
und Gehörstäuschungen, der Inhalt des Delirs, der sich an den Beruf des Kranken 
anschließt, die körperlichen Begleiterscheinungen leiten uns auf die Spur des 
Alkoholismus. In einem andern Falle ist der Kranke gleichzeitig benommen, 



Die Einteilung der Psychosen. 


29 - 


voll sinnloser Angst, die Sinnestäuschungen tragen einen visionären Charakter. 
Wir fassen diese Erscheinungen als Hinweis auf einen epileptischen Zustand 
auf. Als Hinweis, nicht als Beweis. Denn noch sind auch andere Erkrankungen 
in Betracht zu ziehen, typhöse, marantische, katatonische Delirien, die aUe 
durch die übrigen Symptome, durch die Vorgeschichte, durch den weiteren 
Verlauf erst ausgeschlossen werden müssen. 

Oder endlich, wir haben einen melancholischen Zustand vor ims. Der 
Kranke macht sich Selbstvorwürfe, sieht alles im traurigsten Lichte, hält sich 
für unheilbar, spricht wenig, langsam, mühsam. Aber daneben fäUt feine 
Neigung zum Grimassieren auf; der Affekt ist oberflächlich; absurde, hypo- 
chondrische Ideen werden ohne erhebliche Gemütserregimg vorgebracht. Diese 
Züge eröffnen uns einen Ausblick nach einer ganz bestimmten Richtung hin. 
Und wenn dann die weitere Entwicklung der Krankheit uns zeigt, daß der 
Depressionszustand schwindet, aber nicht um der Gesundheit, sondern um 
einem typischen Schwachsinn, einer völligen Gemütsstumpfheit Platz zu machen, 
so sehen wir daraus, wie notwendig es war, schon innerhalb des zuerst beobach- 
teten Krankheitsbildes die Züge zu beachten, die auf das drohende Verderben 
hinweisen. Und die Erfahrung zeigt, daß es möglich ist, diese wichtigen Zeichen 
bereits im Beginn der Erkrankung zu erkennen. 

Den Wert dieser Begleiterscheinungen der Melancholie für die Progno.se 
der Erkrankung hat jeder Praktiker längst gekannt, aber während .sie ur- 
sprünglich mehr gefühlsmäßig berücksichtigt wurden, hat Kraepelin sie 
zuerst zum Aufbau einer klinischen Systematik benutzt. Die Be- 
deutung Kahlbaums, Heckers und vieler anderer, die ihm dabei voran- 
gegangen sind, wird dadurch nicht verringert, daß man ihm das Verdienst zu- 
schreibt, den Weg der klinischen Forschung zielbewußt und unbeirrt durch die 
anfänglich und wohl auch heute noch unvermeidlichen Fehlgriffe ausgebaut 
und durchgeführt zu haben. Vielleicht sind gerade die Fehlgriffe am lehr- 
reichsten gewesen. Jede Diagnose mußte nach der Heckerschen Forderung 
den Hinweis auf die Entwicklung der Krankheit und auf den weiteren Ver- 
lauf, auf die einzelnen Symptome, die Vorkommen durften, und auf die, die 
dem Krankheitsbegriff fremd waren, enthalten. Ergaben sich Abweichimgen 
von dem Erwarteten, so war entweder die Diagnose falsch, oder die als cha- 
rakteristisch angenommenen Symptome waren diagnostisch belanglos, oder 
der aufgestellte Krankheitstypus mußte fallen gelassen werden. Erst durch 
diesen Zwang, eine präzise Diagnose zu stellen, in der alle Symptome mit der 
Prognose zugleich enthalten waren, wurde jede einzelne Beobachtung lehr- 
reich und für unser W’^issen förderlich. 

Dabei ergab sich nun auch bald die Wichtigkeit eines der früheren 
Diagnostik im ganzen fremden Gesichtspunktes, die Berücksichtigung des 
Ausganges der Krankheit in Heilung oder Demenz. Gerade der Ausgang 
der Krankheiten wurde vielfach als Beweis dafür angesehen, daß jedes Streben 
nach der Aufstellung charakteristischer Krankheitstypen aussichtslos sei. So 
schien es auch, wenn sich z. B. eine sekxmdäre Demenz bald atis manischen, 
bald aus melancholischen, bald aus deliranten Zuständen entwickeln konnte, 
ohne daß der Endzustand Verschiedenheiten erkennen ließ. Aber diese Einheit- 
lichkeit des Ausgangs mußte bedenklich machen, ob für die primäre Erkrankung 



30 


Die Einteilung der Psychosen. 


die affektive Richtung als das Wesentliche anzusehen war. Dadurch wurde 
die Aufmerksamkeit ganz anderen Symptomenverkuppelmigen zugewendet, 
eine Vertiefung in die einzelnen Erscheinungen wurde notwendig, und es gelang — 
trotz aller Zweifel — bestimm.te Krankheitstypen abzutrennen, die langsam 
und stetig Anerkennung fanden. 

Die klinische Beobachtung, die jvon den Anfängen der Entwicklung 
der Persönlichkeit bis zum endgültigen Ausgang der Krankheit kein Symptom 
unbeachtet lassen darf, wurde zur Lehrmeisterin, und nur sie konnte und kann 
den Ausschlag geben, welche Krankheitstypen selbständige Eigenart bean- 
spruchen. Damit fielen alle auf Grund theoretischer Spekulationen auf- 
gebauten Einteilungen der Psychosen in sich zusammen. Die Geisteskrankheiten 
sind nicht, wie Ziehen noch annimmt, „nur vielfach zusammenhängende und 
zusammengesetzte Erscheinungen, deren logische Ordnung von unserem In- 
teresse abhängt“. Unser persönliches Interesse für die eine oder die andere 
Erscheinung hat sich 'stets nur als Hindernis für die Systembildung erwiesen, 
weil es, mehr als'wünschenswert, die unbefangene Beobachtung und Bewertung 
der Symptome hindert ^und gehindert hat. 

Dafür nur ein Beispiel: [Jahrzehntelang hat die Trennung der Affekt- 
psychosen von den'Tsychosen des Verstandes die Lehrbücher beherrscht; 
als das typischste Beispiel einer Psychose der Verstand estätigkeit galt von jeher 
die Paranoia. Nim^hat Specht nachgewuesen, daß gerade die Entstehung 
wahnhafter Vorstellungen auf die primäre Stimmungsveränderung zurück- 
zuführen sei. Diese Beobachtung, deren Richtigkeit wohl nicht für alle, aber 
sicher für viele Fälle zutrifft — Spechts Auffassung der Paranoia als einer 
Erscheinungsform des manisch-depressiven Irreseins allerdings teile ich durchaus 
nicht — beweist, wie die einseitige Fesselung der Aufmerksamkeit durch eine 
bestimmte Symptomengruppierung, die im Vordergründe des Interesses stand, 
die klinische Beobachtung irrezuleiten imstande war; wie viel Arbeitskraft ist 
unnütz verschwendet worden — so dürfen wir heute wohl offen gestehen — um 
die klinische Vormachtstellung der Paranoia zu sichern und zu verteidigen. 

Als einer der letzten dieser Versuche ist der Ziehens zu betrachten, 
für den die Paranoia die ,, wichtigste intellektuelle Psychose“ ist. Die Durch- 
führung dieses Prinzips zwingt zu dem Ergebnis, daß auch das Delirium tremens 
zur Paranoia gehört und in der Systematik von dem alkoholischen Defektzustande 
völlig getrennt wird. Letzten Endes geht Ziehens Klassifikation wie schon 
früher viele Einteilungen auf das Schema zurück: Psychosen mit und ohne 
Intelligenzdefekt. Aber die klinische Erfahrung widerspricht dieser ein- 
seitigen Betonung der Verstandestätigkeit als ausreichender Grundlage 
für die Trennung der Psychosen. Schon allein deshalb, weil sich die scharfe 
Scheidung der Verstandes tätigkeit von den Affekten gar nicht durchführen 
läßt. Unser ganzes Geistesleben steht viel zu sehr unter dem beherrschenden 
Einfluß des Gemütslebens, als daß wir eine affektfreie Betätigung der In- 
telligenz annehmen dürften, und zu unterscheiden, wo die logischen Er- 
wägungen primär entstehen, wo sie durch die Affekte beeinflußt und wo durch 
sie bestimmt sind, ist im Einzelfall gar nicht möglich. Die Berechtigung dieser 
theoretischen Bedenken wird durch die klinische Erfahrung erwiesen. Aufmerk- 
.sames Studium der geschilderten Krankheitsbilder zeigt eine Ähnlichkeit ein- 


Die Einteilung der Psychosen. 


31 


zelner, durch die aprioris tische Trennung in Psychosen mit und ohne Intelligenz- 
defekt auseinandergerissener Symptomenkomplexe und Verlaufsarten, daß 
es ausgeschlossen ist, am Krankenbett die Unterschiede zu erkennen und fest- 
zuhalten. Vor allem fehlt es an der Möglichkeit, durch die nach dem Gesichts- 
punkte der Intelligenzstörung orientierte Diagnose sofort einen bestimmten 
Verlaufstypus vorauszusagen. 

Ich habe dieses Beispiel deshalb ausführlicher besprochen, weil es die 
Schwierigkeit kennzeichnet, die entstehen muß, sobald wir die Psychosen nach 
einem Symptom einteilen, dessen Bedeutung nicht durch die klinische Erfahrung, 
sondern durch theoretische Erwägungen bestimmt ist. Aus dem gleichen 
Grunde sind auch solche Einteilungen unhaltbar wie die von Savage, der von 
dem Alter ausgeht, in dem die Psychose zum Ausbruch kommt, oder wie die 
Remonds, der die Erkrankungen des ganzen Gehirns (Paralyse und 
Demenz) von den Erkrankungen der Rindenzellen und weiter von denen 
der Zellfortsätze (Paranoia) trennt. Jeder Fall von Paralyse im Kindesalter 
beweist, wie wenig das äußerlichste aller Kriterien, das Lebensalter, zur Ab- 
grenzung der Psychosen brauchbar ist. Remond aber zwängt die klinischen 
Gestaltungsformen in ein Schema hypothetischer Vorgänge innerhalb des 
Gehirns, deren Richtigkeit er nicht beweisen kann. Dieser Versuch darf gewiß 
nicht deshalb als imbrauchbar verworfen werden, weil er unserm Wissen voraus- 
eilt; kühne Hypothesen haben in der AVissenschaft oft ein Gebiet erhellt und 
geklärt, das die Alltagsarbeit fleißiger Materialsammler niemals oder erst in 
langer, mühseliger Quälerei erobert haben würde. Aber bei Remond fehlt in 
der Übertragung seiner Voraussetzung auf die Krankheitsbilder der zwingende 
Beweis durch die klinische Erfahrung. Auf diese aber weist uns mit Not- 
wendigkeit die Heck er sehe Forderung immer wieder hin. 

Wir verlangen nicht von einer Diagnose, daß sie wie eine chemische Formel 
ein Symbol für die unabänderlich gleiche Naturerscheinung und zugleich eine 
Verkörperung ihres Inhaltes ist. ,,Eine Begriffsbestimmung einer Krankheit 
im naturwissenschaftlichen Sinne deckt sich nicht mit einer mathematischen 
oder philosophischen Definition, sie kann naturgemäß nur den allgemeinen 
Rahmen für die in concreto eigenartig sich darstellenden Bilder abgeben, sie 
kann nur den Typus normieren, welcher in dem wechselvoll gestalteten Einzel- 
prozeß mehr oder weniger variiert sich ausspricht“ (Neißer). 

Der Persönlichkeit werden wir durchaus gerecht werden können, ohne 
imser Ziel, das Typische neben dem Individuellen herauszufinden, aus 
dem Auge verlieren zu müssen. Ja wir werden sogar gerade dem Individuellen 
bei der Ausstellung unserer Krankheitstypen das größte Gewicht beimessen. 
Denn, wenn wir ohne Voreingenommenheit, ohne ähnliches Anklammern an 
ein vielleicht sehr gut ersonnenes imd wohldurchdachtes Schema unsere Kranken 
beobachten, dann wird uns kein Symptom, kein Wesenszug, kein äußeres Er- 
eignis von vornherein als nebensächlich erscheinen, da wir ja erst die Aufgabe 
lösen wollen, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu trennen. Die 
Individualität des Kranken, seine Vorgeschichte und seine ganze geistige Ent- 
wicklung bis zum Ausbruch der Krankheit, die Veränderung durch die Krankheit 
und der Zustand nach dem Abklingen der stürmischeren oder schleichenden 
Svmptome bis zum Endausgang, dieser Überblick über ein Menschen- 








32 


Die Einteilung der Psychosen. 


Schicksal wird die Grundlage, die Art, wie sich die Einzelsymptome gezeigt, 
wie sie sich gruppiert haben, der weitere Inhalt der Beobac tung. . us 
diesem Gesamtbild erst ergibt sich die Diagnose. • i i 

Es mag nun der Versuch gemacht werden, von diesen Gesichtspunkten 
aus die großen Krankheitsgruppen in ihre Einzeltypen zu zerlegen. Die Ein- 
teilung, die ich bei dem heutigen Stande unseres Wissens für die 
zweckmäßigste halte, ist folgende: 

I. Endogene Psychosen. 

1. Psychasthenische Zustände: 

a) Neurasthenie und Hysterie. 

b) Pathologische Affektreaktionen (psychopathische Zustände nach 
Schreck, Affekten, Haft). 

c) Unfallneurose. 

2. Konstitutionelle psychopathische Zustände: 

a) Abnorme Charaktere (Defektmenschen, pathologische Schwindler, 

. sexuelle Perversionen, Pseudoquerulanten). 

b) Zwangsdenken. 

c) Konstitutionelle Verstimmungen. 

3. Konstitutionelle Psychosen: 

a) Manisch-depressives Irresein. 

b) Paranoia. 

II. Exogene Psychosen. 

1. Intoxikations- und Erschöpfungspsychosen (Infektions- 
psychosen, Psychosen bei Allgemeinerkrankungen, akute nervöse 
Erschöpfung, Amentia). 

2. Kretinismus und Myxödem. 

3. Alkoholpsychosen. (Delirium tremens, Alkoholhalluzinose, Kor- 
sakoffsche Psychose, alkoholische Schwächezustände.) 

4. Morphinismus, Kokainismus und sonstige Vergiftungen. 

III. Organische Erkrankungen. 

1. Dementia paralytica imd Lues cerebri. 

2. Psychosen bei Gehirnerkrankungen. 

a) Involutionsdepression. 

b) Arteriosklerotische Demenz. 

c) Senile Demenz. 

4. Dementia praecox. 

5. Epilepsie. 

6. Idiotie und Imbezillität. 





Die Einteilung der Psychosen. 


33 


I. 

Die erste große Gruppe umfaßt die endogenen Psychosen, d h 
diejenigen Formen geistiger Erkrankung, die sich aus der Persönlichkeit des 
Individuums heraus entwickeln. Nicht unabhängig von äußeren Lebensvor- 
gangen; aber diese bestimmen nur die Art, wie sich die Krankheit ausprägt, 
den Umfang und die Schwere der Erscheinungen, nicht aber den Charakter 
der Erkrankung. 

Innerhalb dieser Gruppe lassen sich drei Untergruppen unterscheiden. 
Aber es sei ein für allemal gesagt, daß eine haarscharfe Trennung der einzelnen 
Krankheitstypen dieser Gruppe nicht möglich ist und nicht möglich sein kann. 
Die konstitutionelle Veranlagung stellt den Boden dar, auf dem sich die 
krankhaften Erscheinungen entwickeln. Dieser Boden ist durchaus nicht stets 
in gleicher Stärke prädisponiert, auf jedes Erlebnis krankhaft zu reagieren 
Dieselben Lebensschicksale, die der Gesunde schnell und ohne Gefährdung ver- 
windet, die den nur in geringem Grade nervös Veranlagten nur vorübergehend 
aus dem psychischen Gleichgewichte bringen, rufen bei einem schwer Entarteten 
ernste und vielleicht nie wieder schwindende Störungen hervor. 

Vielleicht noch wichtiger für die Ausgestaltung und die Gruppierung der 
Symptome ist die persönliche Eigenart; Gleichgültigkeit und Empfind- 
samkeit, Lebhaftigkeit und Stumpfheit des Temperaments, Neigung zum 
Grübeln oder zum Handeln, Schärfe, Fahrigkeit und Unzulänglichkeit des 
Denkens, Hang zum Schwarzsehen und Lebensunlust sind Grundsymptome des 
Charakters. Wird dadurch schon die Vielgestaltigkeit der Individualität 
Gesunder fast unübersehbar, so erst recht bei den krankhaft Prädisponierten, 
bei denen alle diese Erscheinungen viel ausgeprägter die Eigenart der Persön- 
lichkeit bestiminen. Diese Eigenart zeichnet die Richtung vor, in der sich die 
Krankheit entwickeln muß. 

Werden nun zwei in ihrem ganzen Wiesen durchaus verschiedene Menschen 
durch schädigende Einflüsse in ihrem psychischen Gleichgewichte gestört, so 
werden auch die Krankheitserscheinungen nur wenig oder nichts miteinander 
gemeinsam haben. Je mehr sich aber die psychische Veranlagung einander 
nähert, um so gleichartiger wird die pathologische Reaktionsweise werden. 
Und wenn einzelne besonders wichtige Charakterzüge zwei im übrigen sehr 
verschiedenartigen Persönlichkeiten gemeinsam sind, so werden auch innerhalb 
sonst sehr wenig ähnlicher Krankheitsbilder wenigstens einige Züge diese ge- 
meinsame Grundlage andeuten. 

Ich habe soeben von schädigenden Einflüssen, die für die Entstehung 
der Erkrankung von Bedeutung sind, gesprochen. Widerspricht das nicht der 
Auffassung, daß die hier zur Erörterung stehende Gruppe von Erkrankungen 
endogen bedingt sind? Ich glaube nicht. Denn was wir darimter zu verstehen 
haben, ist oben (bei S. 26) bereits eingehend erörtert worden. Nicht so darf 
der Ausdruck endogen verstanden werden, als ob sich stets imd imter allen, 
selbst den günstigsten Umständen, die psychische Erkrankung entwickeln muß. 
Das gilt nur für einzelne Formen endogener Psychosen. Sondern es soll damit 
nur der Gegensatz gegenüber den grobmateriellen Erkrankungen einerseits, 
den Psychosen, die ohne die äußere und zwar stets recht ernste Schädigung 

Handbuch der Psychiatrie: Aschaf fenburgf. o 





34 


Die Einteilung der Psychosen. 




überhaupt nicht denkbar sind, anderseits gekennzeichnet werden. Bei den endo- 
genen Psychosen besteht die Erkrankung unter allen Umständen, auch dann, 
wenn sie' dank Fernhaltung aller äußeren Einflüsse nicht zu wirklicher Aus- 
bildung kommt, ich möchte sagen latent, nur in Andeutungen, in vereinzelten 
kleinen Merkmalen; kommt sie aber zur Entwicklimg, so bleibt sie im Rahmen 
der vorgezeichneten psychopathischen Richtung und stellt letzten Endes nichts 
weiter dar, als eine Weiterbildung, ein vergrößertes, vergröbertes, vielleicht 
sogar ein Zerrbild der Charakterveranlagung, aber immerhin ein ähnliches 

Bild. . ^ , 

Aus dieser Darstellung ergibt sich aber noch etwas weiteres: Zwischen 

den leichtesten und einfachsten Formen endogener Erkrankung und germg- 
fügigen Abweichungen oder starker, nicht alltäglicher Ausprägung von Cha- 
raktereigentünilichkeiten innerhalb der Gesundheitsbreite kann keine 
scharfe Grenze gezogen werden; auch deshalb nicht, weil manchen dieser 
ungewöhnlichen Individualitäten das Überschreiten der Grenze des Patho- 
logischen nur dadurch erspart wird, weil besonders günstige Lebensverhältnisse 
oder eine konsequent durchgeführte Erziehung und geschickte Behandlung 
die Weiterentwicklimg der Symptome verhindern. 

An dem einen Ende der endogenen Psychosen stehen die Grenz- 
zustände, an dem andern die schweren Psychosen. Die Grenzzustände, 
die sich besonders dadurch auszeichnen, daß sie in der Regel nur durch die 
Lebensschicksale stärker ausgeprägt, vorübergehend oder dauernd, in die &- 
scheinung treten; die eigentlichen konstitutionellen Psychosen, die viel- 
fach des äußeren .Anstoßes nicht bedürfen, oder die nur in geringem Grade durch 
die Lebensereignisse und geeignete Behandlung beeinflußt werden. Zwischen 
beiden stehen die konstitutionellen Zustände, deren Symptome stets 
vorhanden sind, die aber in ihrer Weiterbildung oder der Stärke, in der sie sich 
zeigen, stets die engste Abhängigkeit von äußeren Erlebnissen und von der Be- 
handlung erkennen, lassen. 

Die erste Untergruppe bezeichne ich als psychasthenische Zustände. 
Sie umfaßt das, was man früher gewöhnlich Neurosen genannt hat, vor allem 
die Hysterie und Neurasthenie. Der Ausdruck Neurosen war stets nur ein 
Zugeständnis an die iVngst des Kranken, für geistig abnorm zu gelten. Aber 
diese Rücksichtnahme auf die Empfindsamkeit der Kranken und vielleicht 
auch auf das allgemeine Vorurteil gegen das, was man geistige Erkrankungen 
nennt, kann uns nicht hindern, die Neurosen als das aufzufassen, was sie sind, 
als psychische Erkrankungen. Die Erscheinungen der Hysterie imd Neur- 
asthenie treten zwar auch gelegentlich in der äußerlichen Form peripherer Läh- 
mungen auf, aber alle S)miptome sind psychischer Natur. Hat doch Sommer 
statt der Bezeichnimg Hysterie geradezu die der Psychogenie vorgeschlagen. 
Nicht immer ist es möglich, den Weg zu verfolgen, auf dem aus Affekten, Vor- 
stellungen, Wünschen und Befürchtimgen die Symptome der Hysterie werden, 
aber auf Schritt imd Tritt können wir ihre Abhängigkeit von psychischen Vor- 
gängen verfolgen. 

Die Unterscheidung der Hysterie und Neurasthenie hat im 
wesentlichen nur einen didaktischen Wert, wenn auch die Symptomengruppierung 
bei der Hysterie in ihren typischsten Formen eine andere wie bei der Neurasthenie 




Die Einteilung der Psychosen. 35 

zu sein scheint. Die Hysterie setzt Vorstellungen in körperliche Er- 

Neurasthenie körperliche Erscheinungen in 

schwe^rden vergangene und gegenwärtige Be- 

schwerden, der J^eurastheniker lebt mehr in der Furcht, aus den bestehenden 

Symptomen imheilvolle schwere Erkrankungen entstehen zu sehen. Aber diese 

^e’^b trennenden Unterschiede gelten nur für 

d e Schulfalle, ,^d diese sind selten genug. Wenn irgendwo, so ist hier Hoches 
a fun^g richtig, daß wir mit den Benennungen hysterisch und neur- 
asthenisch Symptomenverkupplungen belegen, die nichts weiter bedeuten als 
bequeme Bezeichnungen für Syndrome; bestimmt gerichtete, aber nicht prin- 
zipiell verschiedene Ausdruckserscheinungen einer einheitlichen ErkrankLg 

KraeleL dif T V'' endogene Nervosität nennt, hat 

E aepelin die chronische nervöse Erschöpfung (Cramers Neur- 

bLipbr® J^alte ich nicht für gut gewählt. Es 

bezieht sich auf die meist, aber durchaus nicht immer langsam bis zum Zu- 

Zrtend^d?r^s-^^'^''1r“f^ bedingten 

Zustand, der sich gerade durch seine relativ kurze Dauer, seine gute Prognose 

au zeichnet. Ich habe deshalb vorgeschlagen, von akuter nervöser Er! 

tiltilfn!']'?^ eigentliche Neurasthenie, die konsti- 

tut onelle nervöse Erschöpfbarkeit gegenüber. Denn das Wesen der 

e^dte Versagen der geistigen Spannkraft, das L 

endogenen Neurasthenie die geringe Widerstandsfähigkeit, die schnelle Er- 

lÜf • endogenen Veranlagung wurzelt. Will man das 

nachdrücklich betonen, imd das erscheint mir nicht unzweckmäßig, so ist der 
Zusatz konstitutionell wohl am meisten geeignet, den Gegensatz zu den vor- 
uberg^enden Erschöpfungszuständen noch deutlicher zu kennzeichnen. 

Die Stellimg der akuten nervösen Erschöpfung in der Systematik 
unsicher Je mehr ein Individuum durch seine VeLnlagung 
erschopfbar ist um so schneller wird auch die akute Erschöpfung eintrften^ 

angeborenen Prädisposition bedingten Er- 
Erschöpfung vermischen. Indessen habe 
• I^^denken, die akute nervöse Erschöpfung mit der endogenen Psych- 
thenie zuBammenzubringen. Sie gehört weit eher zu den exogenen Psychosen 
S behaupten, daß jeder Gesunde, der längere Zeit sline Ar- 

beitskraft aufs äußerste überspannt, oder dessen Körperkräfte durch schwere 
Krankheiten verbraucht werden, oder der gehäuften schweren Affektstürmen 
ajgesetzt ist, schließlich zusammenbricht. Aber, wenn die Ursache beseitigt 
ist, auch ebenso schell sich erholt oder wenigstens nicht lange Zeit oder glv 
dauernd krank bleibt. Ich ziehe deshalb vor, die akute nervöse Erschöpfmi-r 
en exogenen Psychosen anzureihen, und rechne zu den psychasthenischen 
Zustanden nur die konstitutionelle Neurasthenie, die Hysterie und die trau- 
niatLSche Neurose. 

In der Einteilung der Psychosen und Psychopathien, die zwischen der 
Heidelberger Klinik und den Heil- und Pflegeanstalten Illenau und 
Wiesloch vereinbart worden ist (H. Roemer), findet sich eine Gruppe „Patho- 
logische Reaktionen“, die wieder in drei Untergruppen zerfällt: a) Psychotische 
Reaktion (Psychosen nach Schreck und Konflikt, Hysterische Psychosen), 


36 


Die Einteilung der Psychosen. 


Hatoychosen, c) tr.umstUoh. Neutose. Der Begriff der pathologischen 

b) Maitpsycnuöüii, j « änRpren Reizes, der die Reaktion 

Eeaktion Zustände zu den Ef 

.«löst; und doch MiTvSm Eeohte. Denn die Reaktion 

SlfnSduuM Sdie Schädigung erweist sich drfuroh als konstituriraell 

S*b“ ffetVettonw! M d“ “ ^'t Schwer, der 

baren psychopathischen Prädisposition. Gemeinsam ist ferner allen patho- 
SherCwonen, daH sie nicht die Folge körperUchet Sehadrgung«. „nd, 

Sendern durch Affekte ausgelöst werden. , . 

lÄte die Zusammenfassung dieser Zustände imter emer einheithchen 

Beziehung für recht glücklich; nur möchte ich gerade die Tateache in der Be- 
nennung Stärker hervorheben, daß es sich um Reaktionen auf Affekte handelt, 
Lnn aLh der sogenannte pathologische Rausch, der Zornausbruch emes Epi- 
tZe“ sind pathologische Reaktionen. Deshalb würde roh dre Benennung: 

Pathologische Affektreaktionen vorziehen. y c r • • i h 

Für alle drei Untergruppen trifft zu, was ich einleitend von der cchwiengke 
gesagt habe, innerhalb lex großen Gruppe der konstitutionellen Anomalien d e 
einzflnen Krankheitstypen voneinander zu trennen. Alle drei sind genau ge- 
rammen nur Spielarten der Hysterie und Neurasthenie, Exazerbationen oder 
lXd"; rt dÄldiU in bestimmter Weise gefärbte Formern Es wäre 
deshalb wohl kaum ein ernstes Bedenken dagegen geltend zu machen, weim 

man diese ganzen Symptomengruppierungen nicht 

über ist es doch yieUeicht zweckmäBig, sie aus dem Rahmen de 7 
^d Neurasthenie heranszuheben, weil die Bezeichnung auf die Ursache, dM 
akutere Einsetzen, die eigenartige Gestaltung hinweist. 

Im Prinzip bin ich mit der Einteilung einverstanden dagegen habe^ich 
mich nicht entschließen können, die Haftpsychosen als ein 
Untergruppe anzuführen. Der Ausdruck ist für eine systematische Einteil,^, 
die nicht^Krankheitsbilder, sondern Typen aufstellt, unbrauchbar. Den 
tCvchose ist jede in der Haft entstehende f “ung ; gem.^^ 
aber nur bestimmte psychogene psychotische Reaktionen dje ^ d 
Haft sich entwickelnden degenerativen Zustande. Meme Bedenken gegei 
die Sonderstellung werden noch dadurch bestärkt, daß i^h diese Erkrankun^n 
im Gegensatz zu Birnbaum, Wilmanns und anderen für balt^ ^ 

bequeme Bezeichnung führt aber allzuleicht zu emer klinisch unberechtigten 
Aukehnung des Begriffs der Haftpsychosen. Die Haftpsychose “ dem ä 
gemeinten engeren Sinne ist nur eine häufig, aber nicht immer in ihren ^ 
ntomen etwas eigenartig gefärbte psychotische Reaktion auf die Schädigung 
durch die Haft; ihre klinische Zusammengehörigkeit mit den sonstigen psycüon 
sehen Reaktionen auf affektiv sehr erregende Erlebnisse kann wohl kaum an- 
gezweifelt werden kann. , 

Dagegen ist die Sonderstellung der traumatischen hi eur ose duren- 

aus berechtigt. Es war wohl zuerst Moeli, der auf die psychischen 
Erscheinungen des von Erichson beschriebenen, im Anschluß an Verletzungen 




■x< 


Die Einteilung der Psychosen. 


37 


entstehenden Synaptomenkomplexes hingewiesen hat. Charco t erklärte das ganze 
Krankheitsbild als identisch mit der Hysterie, während Oppenheim, von dem 
auch der Name traumatische Neurose stammt, sie als selbständige Krankheit 
auffaßte. Den Endpunkt der Entwicklung kennzeichnet am besten der von 
Kraepelin gewählte Name der Schreckneurose; das Trauma wird als neben- 
sächlich, der bei dem Unfall erlittene Schreck als die Hauptursache aufgefaßt. 

Heute darf wohl als feststehend betrachtet werden, daß die traumatische 
Neurose eine psychische Erkrankung ist, die bald mehr dem Krankheits- 
bilde der Hysterie, bald dem der Neurasthenie sich nähert, daneben aber be- 
sondere Züge trägt, die auf den Zusammenhang mit dem Unfall hin weisen 
imd meist das Bild beherrschen. Diese Symptome aber zeigen auch an, daß 
nicht der im Augenblick des Unfalls entstehende Schreck allein die Krankheit 
hervorruft, auch nicht die unmittelbaren Folgen, die Sc merzen, die Angst, 
die nicht selten durch imgeschickte Bemerkungen der Ärzte über Gehirn- 
erschütterungen noch verstärkt wird. Sofort nach dem Vorfall beginnen die 
Sorgen um die Zukunft und der Kentenkampf. Ich will nicht behaupten, 
daß Begehrungsvorstellungen nicht auch mitwirken können, aber sie 
spielen meines Erachtens, abgesehen von ganz seltenen Fällen, nur eine unter- 
geordnete Rolle. Viel ernster ist der berechtigte Groll über das Mißtrauen und 
die schlechte Behandlung seitens vieler Unfallärzte und Behörden, die in jedem 
Rentenanspruch einen Betrugsversuch wittern. Daher dann oft der querula- 
torische Zug im Bilde der Unfallneurose. Die Besserung, die nach Erledigung 
der Unfallprozesse, besonders bei frühzeitiger Abfindimg und schneller Wieder- 
gewöhnung an regelmäßige Tätigkeit, bald einzutreten pflegt, bestätigt die 
Richtigkeit der Auffassimg dieser Erkrankung als eines psychogen entstehenden 
Zustandes, dessen Symptome durch die Unfallgesetzgebung mehr noch als 
durch den Unfall selbst bestimmt werden. Das scheint mir auch ein gewichtiger 
Grund zu sein, den Namen der traumatischen oder vielleicht noch besser der 
Unfallneurose beizubehalten. 

Unter den unzähligen Menschen, die tagein, tagaus Unfälle erleiden, 
werden aber durchaus nicht alle neurotisch; die endogene Veranlagung, auch 
wenn wir sie nicht immer in Form erheblicher Belastimg nach weisen können, 
muß den Boden vorbereiten. Dafür spricht auch die Art der allgemeinen Sym- 
ptome, die überall auf die enge Verwandtschaft mit den psychasthenischen 
Zuständen hinweisen. 

Die zweite Hauptgruppe der endogenen Psychosen sind die kon- 
stitutionell psychopathischen Zustände. Sie entsprechen einer durchweg 
einseitig gerichteten Anomalie des Denkens imd Fühlens, die das ganze Leben 
beherrscht, wenn auch Schwankungen in der Stärke der Störung nicht aus- 
geschlossen sind. Hierhin rechne ich zuerst die abnormen Charaktere. Sie 
im einzelnen zu schildern, wird Sache der speziellen klinischen Bearbeitung 
sein; an dieser Stelle mag eine Aufzählimg der wichtigsten Typen, aber ohne 
xAnspruch auf Vollständigkeit, genügen. Die unharmonische Entwicklung 
zeigt sich auf intellektuellem Gebiete meist weniger als auf dem der Affekte, 
in ihrer schroffsten Ausprägimg als moral insanity. Ich verstehe darunter 
nicht die geringe Entwicklung dessen, was wir moralisches Empfinden nennen, 
bei Schwachsinnigen, sondern die sehr seltenen Fälle, in denen jedes oder fast 


X 




38 


Die Einteilung der Psychosen. 


jedes ethische und soziale Gefühl fehlt, obgleich das intellektuelle Verständnis 
für die Bildung solcher Empfindungen durchaus ausreichend ist. Die von 
Scholz gewählte Bezeichnung der moralischen Anästhesie entspricht 
vielleicht am besten dieser Eigenart, weil dadurch das mißverständliche Wort 
Schwachsinn vermieden und die affektive Entstehung deutlicher ge- 
kennzeichnet wird. 

Leichtere Grade affektiver Stumpfheit, die dann natürlich das ganze 
Handeln nicht so zwingend in die antisoziale Kichtung drängen, finden wir 
unter den abnormen Charakteren sehr häufig. Bald als ausgeprägten Egoismus, 
bald als Indolenz, die leicht zu asozialem Verhalten führt, zumal wenn 
geringe Intelligenz die fehlende Gemütstiefe nicht einigermaßen zu korrigieren 
vermag. Derartige Charaktere sind zahlreich unter den passiven Verbrechern, 
insbesondere unter den Landstreichern, Bettlern und Dirnen. Ihnen schließen 
sich die Haltlosen an, die der Spielball jeder Zufälligkeit des Lebens sind. 
Unter diesen Haltlosen sind ihrer praktischen Wichtigkeit wegen die sogenannten 
„degeneres superieurs“ hervorzuheben, Menschen, die mit leidhcher 
Intelligenz, oft recht guten äußerüchen Manieren und nicht selten einer großen 
einseitigen Begabung eine völlige Unfähigkeit der Selbstbeherrschung 
verbinden. Sie sind außerstande, einer Versuchung, die von außen an sie heran- 
tritt, zu widerstehen, sind aber auch durch ihre Eitelkeit, Großmannssucht, 
durch Sensations- und Abenteuerlust aus sich selbst heraus gefährdet. Wenn 
ich auch die Bedeut img von Erziehungsfehlern für die Entstehung solcher 
Charaktere nicht gering schätze, so sind es doch nicht oft und auch dann nicht 
in vollem Umfange die Produkte mangelnder pädagogischer Einwirkung. Das 
beweist einerseits das xiuftreten der abnormen Züge im frühesten Kindesalter 
und die Ergebnislosigkeit auch der sorgsamsten und geschicktesten Erziehung, 
anderseits die recht häufige Beobachtung, daß die anderen Kinder der gleichen 
Familie sich in dem gleichen Milieu durchaus normal entwickeln können. Nicht 
so krank, um als unzurechnungsfähig angesehen und in Irrenanstalten ver- 
sorgt werden zu können, nicht gesund genug, um sich ohne andauernde ernsteste 
Konflikte im Leben zu behaupten, sind solche Entarteten die Verzweiflung 
ihrer Familie imd der Behörden. 

Gefährhch für die Gesellschaft sind auch die Erregbaren, in denen jeder 
äußere Anlaß heftige Affektstürme auslöst. Ihnen nahe stehen die Fanatiker, 
die von einer bestimmten Idee oder auch wohl von mehreren so beherrscht 
werden, daß sie alles nur unter dem engen Gesichtswinkel dieser Vorstellungen 
erleben imd empfinden. Eine besondere Abart sind die Pseudoquer ulanten, 
die in zwei Formen Vorkommen; die einen verbeißen sich in die Idee, daß ihnen 
ein bestimmtes Unrecht geschehen ist, und führen mit zähester imd rücksichts- 
losester Energie imter Mißachtung aller sonstiger Lebensinteressen, oft mit einer 
gewissen sportartigen Begeisterung den Kampf ums Eecht, die andern sind 
die ewig Unzufriedenen, die Krakehler, die den Gegenstand ihres gekränkten 
Rechtsgefühls andauernd wechseln, aber nie zur Ruhe kommen können. 

Eine ganz eigentümliche Form der Psychopathie stellen die pathologi- 
schen Lügner dar; der größte Teil zeigt dabei starke hysterische Beimengungen, 
aber das Symptom, durch das sich ihr ganzes Leben in einer bestimmten Bahn 
bewegen muß, ist die Neigung zum Schwindeln. Oft nur angedeutet, oft 



JJie Einteilung der Psychosen. 


39 


in der Form, daß der Kranke — denn in solchen Fällen handelt es sich um 
ausgeprägte krankhafte Zustände — sich in dem Gewebe seiner phantastischen 
Erfindungen selbst nicht mehr zurecht findet, die Wirldichkeit nicht mehr 
von dem Erdachten zu scheiden weiß. 

In dem Streit, ob die Homosexualität eine angeborene oder erworbene 
Eigenschaft ist, nehme ich persönlich die Stellung ein, die Homosexualität, 
wie die meisten andern sexuellen Anomalien, als meist sehr frühzeitis: 
erworbene Anomalien des Geschlechtsempfindens aufzufassen, das nur deshalb 
seine eigenartige Richtung behalten hat, weil die ersten zufälligen, stark affekt- 
betonten sexuellen Erlebnisse in den konstitutionell psychopathischen Individuen 
zu fest haften geblieben sind. 

Einen durchaus anderen Typus der konstitutionellen psychopathischen 
Zustände stellen die Kranken dar, die an Zwangsvorstellungen leiden. 
Ich verstehe unter Zwangsdenken das Auftreten von in der Regel einförmigen 
Vorstellungen meist unangenehmer Art, die — bei kritischer Betrachtung und 
in der Ruhe als unzutreffend erkannt — sich immer unter mehr oder weniger 
starken Unlustempfindungen dem Bewußtsein aufdrängen. In Andeutung 
finden sich Zwangsvorstellungen wohl bei den meisten Nervösen, wie umge- 
kehrt Zeichen allgemeiner Nervosität bei allen Zwangskranken, aber das Krank- 
heitsbild wird beim Zwangsdenken ganz von diesem Symptom beherrscht. 

Die konstitutionelle Verstimmung trägt fast stets den Charakter 
der Depression; nur ganz vereinzelte Fälle andauernd etwas gehobener 
Stimmung mit unerschütterlichem Optimismus und unermüdlichem Taten- 
drang sind mir begegnet. Eine scharfe Grenze zwischen dem, was wir konsti- 
tutionelle Verstimmungen nennen, einerseits und dem Gesunden anderseits, 
der an allen Lebens Vorgängen nur die ernste Seite sieht, oder der sich in ewiger 
Entschliißlosigkeit vor allem Handeln scheut, besteht nicht; ebensowenig 
nach der andern Seite hin, gegenüber dem manisch - depressiven Irresein. 
Zuweilen verrät die konstitutionelle Verstimmung durch vorübergehende Zeiten, 
in denen die gleiche Affektrichtung sich deutlicher ausprägt, oder auch durch 
vorübergehendes Umschlagen in die entgegengesetzte Stimmimg ihre nahe 
Verwandtschaft mit dem manisch-depressiven Irresein. Aber ich halte es nicht 
für richtig, wie die Römersche Einteilung, eine Zyklothymie von dem 
manisch-depressiven Irresein abzutrennen. Die Zyklothymie ist doch nichts 
weiter als eine ganz leichte Form des manisch-depressiven Irreseins und gehört 
deshalb zu diesem, um so mehr, als doch wohl jeder die Beobachtung zu machen 
Gelegenheit hat, daß sich in ein langes Leben andauernden Wechsels kaum 
nennenswerter Depressionen und angedeuteter Hypomanien ein einzelnes Mal 
oder auch mehrfach ein Anfall heftiger Tobsucht oder schwerster Depression 
einschiebt. 

Als manisch-depressives Irresein bezeichne ich alle die Fälle, in 
denen sich Perioden depressiver oder manischer Verstimmung mehrfach im Laufe 
des Lebens wiederholen. Die häufigste Form ist das zirkuläre Irresein, bei 
dem Phasen der Depression und der Manie in ununterbrochenen, regelmäßigen 
Intervallen oder auch durch Zeiten der Gesimdheit getrennt miteinander 
abwechseln. Zuweilen fehlen die manischen, seltener die depressiven Zustände, 
so daß man versucht sein könnte, von periodischer Depression oder 



40 


Die Einteilung der Psychosen. 


periodischer Manie zu sprechen. Aber eine genaue klinische Beobachtung 
deckt doch auch in diesen Fällen gelegentliche kurzdauernde Anfälle gehobener 
oder gedrückter Stimmung auf, die sich von der gesunden Zeit abheben und 
den Übergang zu den Formen mit deutlich ausgeprägtem Wechsel bilden. Es 
besteht deshalb wohl kein Bedürfnis nach Sonderstellung der periodischen 
Depression und Manie; die Bezeichnung des manisch-depressiven Irre- 
seins umfaßt alle diese Fälle mit. 

Zu den konstitutionellen Psychosen rechne ich auch die Paranoia. Die 
typischste und wohl allgemein noch als eine selbständige Psychose mit ganz 
charakteristischem Verlauf anerkannte Form bildet der Querulantenwahn; 
nur Specht glaubt in ihm eine Erscheinimgsform der Manie erblicken zu dürfen. 
Sicher zu Unrecht, wie der klinische Verlauf beweist. Gegenüber dem Pseudo- 
querulanten, der, wenn auch schwer belehrbar, doch überzeugt werden kann, 
zeichnet den an Querulantenwahn Leidenden seine völlige Unbelehrbarkeit 
aus und die fortschreitende Weiterbildung der wahnhaften Ideen, die sich um 
einen festen Kern kristallisieren. 

Das gleiche gilt für die Paranoia, nur daß den Mittelpunkt des Wahn- 
systems nicht ein Kechtsstreit, sondern eine andere Verfolgungsidee bildet. 
Die Zahl dieser Fälle ist mit dem tieferen Erfassen der klinischen Selbständigkeit 
der Dementia praecox immer seltener geworden, imd nicht wenige Psychiater 
stehen mit mir auf dem Standpunkte, daß es fraglich ist, ob überhaupt außerhalb 
der Fälle von Querulanten wahn noch an der Paranoia als einem selbständigen 
Krankheitstypus festgehalten werden kann. Die Entscheidung dieser Frage 
wird wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Wie sie aber auch ausfallen 
mag, der Querulantenwahn rechtfertigt die Aufstellung eines Typus des Ver- 
folgungswahns, der sich aus endogener Anlage entwickelt, der aber nicht den 
charakteristischen Ausgang der Dementia praecox und keines der für diese 
Erkrankung typischen Symptome zeigt, anderseits sich aber von den konstitu- 
tionellen Charakteranomalien durch die unaufhaltsame Tendenz zur Weiter- 
entwicklung scheidet. 

II. 

Die zweite große Gruppe bilden die exogenen Psychosen. Sie sind in 
ihren einzelnen Krankheitstypen untereinander weit unähnlicher als die endo- 
genen Geistesstörungen. Der gemeinsame Boden einer psychopathischen 
Prädisposition gibt den Krankheitsbildern der ersten Gruppe etwas Gemein- 
sames, untereinander sind sie verwandt, sie bleiben innerhalb des konstitutio- 
nellen Charakters der Persönlichkeiten, die Symptome sind dem Denken des 
Gesunden nicht so fremdartig. Die exogenen Psychosen aber vernichten 
zum weitaus größten Teil die Individualität des Kranken fast vollständig, 
wenigstens solange die exogene Ursache bestehen bleibt oder noch nachwirken 
kann. Ob der Kranke vorher ein stiller Mensch war oder ein robuster Taten- 
mensch, tritt z. B. während der Dauer eines Delirium tremens vollständig in den 
Hintergrund. Gewiß ist die persönliche Veranlagung nicht bedeutungslos. Ob 
Schroeder, Bonhoeffer und andere recht haben, :mit ihrer Behauptung, 
der Alkoholismus selbst sei nichts Exogenes, sondern sei nur eine Folge einer 
psychopathischen Prädisposition, mag hier unerörtert bleiben. In dem Krank- 





4t 





Die Einteilung der Psychosen. 41 

heitsbilde wenigstens werden wir im allgemeinen die Züge der psychopathischen 
und der individuellen Konstitution vergebens wieder zu erkennen suchen. Viel- 
leicht ist die Art der Veranlagung ausschlaggebend dafür, welche der ver- 
schiedenen Formen der Alkoholpsychosen den Kranken befällt; das 
würde sich auf Grund eines großen und sehr sorgfältig bearbeiteten Materials 
feststellen lassen. Aber wenn einmal die Richtung der Erkrankung gegeben 
ist, so überwuchern die psychotischen Symptome das Individuelle völlig. Für 
die Symptome des Delirium tremens ist der Beruf von Einfluß, insofern als 
er wenigstens das Material für das Beschäftigungsdelir gibt, nicht aber die 
Intelligenz und die Affektivität des Erkrankten. 

Ah erste Untergruppe habe ich die Erschöpf ungs- imd Intoxikations- 
psychosen zusammengefaßt. Die Selbständigkeit der Amentia hat im Laufe 
der Zeit einen gewaltigen Stoß erlitten. Häufig sind die Fälle zweifellos nicht. 
Aber soweit man an der Amentia noch festhält, wird man durch den engen 
Zusammenhang mit den Infektionskrankheiten, als deren Folge sie auftreten, 
mehr und mehr auf die toxische Genese hingewiesen. Wenn auch das Wesen 
der dabei in Betracht kommenden Toxine durchaus imbekannt ist, so darf diese 
Hypothese um so eher angenommen werden, weil es gerade die auf der Grundlage 
einer Infektion entstehenden Erkrankungen sind, wie Typhus, Erysipel, In- 
fluenza, schwere Pneumonien, akuter Gelenkrheumatismus, Malaria und ähn- 
liche, an die sich die Amcntiafälle anschließen. Dieselben Erkrankungen, die 
zuweilen schon im Vorstadium, bevor überhaupt noch Fieber oder sonstige 
Erscheinungen eine Diagnose zulassen, psychotische Symptome zeigen. 

Auch die Fieberdelirien gehören hierhin. Sie sind keine Folge des Fiebers, 
von dessen Höhe sie oft unabhängig sind; nicht immer, denn die Infektion be- 
ivirkt nach meiner Auffassung das Fieber und die psychischen Symptome zu- 
gleich, so daß es uns nicht auffällig erscheinen kann, wenn ein gewisser Paralle- 
lismus besteht. Aber gerade die Fälle, in denen die Delirien vor dem Ansteigen 
der Temperatur oder in der Deferveszenz oder erst nach dem Schwinden des 
Fiebers einsetzen, scheinen mir beweisend dafür, daß die psychische Erkrankung 
nicht als eine einfache \Virkung der erhöhten Temperatur aufgefaßt werden 
kann. 

Noch eine weitere Tatsache spricht dafür, daß wir berechtigt sind, diese 
Psychosen als toxisch bedingt zu erklären; diejenigen chronischen Erkran- 
kungen, bei denen wir außer den Infektionskrankheiten häufiger psychische 
Störimgen beobachten, sind sämtlich solche, bei denen wir die Bildung toxischer 
Stoffe voraussetzen, ^vie der Morbus Basedowii, der Tetanus, oder in denen, 
wie bei der Urämie und der Gicht, toxisch mrkende Stoffe nicht ausreichend 
aus dem Körper ausgeschieden werden. 

Auch die psychischen Veränderungen bei Myxödem und der Kreti- 
nismus gehören hierhin; die Beziehung zu den Funktionen der Schilddrüse 
sind unverkennbar, wenn auch über die Art, wie diese Erkrankungen zustande 
kommen, noch vieles zu den ungelösten Problemen der Psychiatrie und Psycho- 
pathologie zu rechnen ist. 

Am besten bekannt sind wohl die Alkoholpsychosen, deren toxische 
Genese, mit und ohne Annahme ätiologischer Zwischenglieder, nicht mehr 
bezweifelt wird. Nur bei dem pathologischen Rausch kann die Zugehörigkeit 




42 


Die Einteilung der Psychosen. 


zu den toxischen Psychosen bestritten werden. Die Bezeichnung pathologischer 
Rausch ist kein Gegensatz zu der Auffassung, die auch im gewöhnlichen Rausch 
eine, wenn auch nur ganz kurzdauernde Form geistiger Störung erblickt. Denken 
wir uns einen Zustand, wie ihn ein Betnmkener darbietet, mehrere Tage an- 
dauernd, so würden wir ihn als eine schwere Geisteskrankheit auf fassen, und 
wenn das Bild eines Rausches nicht durch den Alkohol, sondern ein anderes 
Gift, etwa durch Atropin, entstehen würde, so würden wir unbedenklich von einer 

Geistesstörung durch Vergiftung sprechen. 

Für mich ist auch der — sit venia verbo — normale Rausch eine aller- 
dings prognostisch sehr günstige akute Intoxikationspsychose. V enn ich gleich- 
wohl an der Bezeichnung des pathologischen Rausches festhalte, so bestimmt 
mich dazu vor allem, daß der Name sich eingebürgert und kaum mißverständlich 
ist, und ferner, daß bisher kein besserer gefunden worden ist. Wir verstehen 
unter pathologischem Rausch eine von den gewohnten Bildern der Betrunken- 
heit abweichende krankhafte Reaktion des Individuums auf den Alkohol. 
Die Ursache aber dieser Reaktion ist nicht die Menge oder die Konzentration 
des genossenen Alkohols, sondern die psychogene oder epileptische, zuweilen 
auch die paralytische oder katatonische Grundlage, auf die der Alkohol ein- 
gewirkt hat. Icii glaube deshalb, wenn auch ohne die Vergiftung durch Alkohol, 
die zuweilen übrigens sehr gering ist, der Zustand nicht denkbar ist, doch die 
pathologischen Rauschzustände nicht als eine eigene Form betrachten zu sollen, 
vielmehr sie in der Systematik den psychopathischen Erkrankungen anreihen 
zu müssen, die das Ausschlaggebende für die Entstehung sind. Der patho- 
logische Rausch ist also kein Krankheitstypus, wie das Delirium tremens, die 
Alkoholhalluzinose, sondern eine Syndrom auf dem Boden einer anderseitigen 
Grundkrankheit, der Hysterie, der Epilepise, der Paralyse usw. 

Alle andern Formen der Alkoholpsychosen stellen einwandfreie Typen 
von Krankheiten mit bestimmten Symptomen, bestimmtem Verlauf imd be- 
stimmtem Ausgang dar. Einzelne Fälle von Delirium tremens heilen nicht. 
Das widerspricht dieser Auffassung. Aber beweisen nicht gerade diese seltenen 
Vorkommnisse, wie wertvoll das Festhalten an Krankheitstypen ist? Erst dadurch, 
daß wir mit Bestimmtheit bei dem Delirium tremens auf eine kritische Lösung 
in wenigen Tagen zu rechnen gewohnt sind, wird unsere Aufmerksamkeit auf 
den atypischen Verlauf gelenkt imd die Frage, ob diese Fälle zum Delirium tremens 
gehören, erst aufgeworfen. Aufgabe der weiteren klinischen Forschung ist es 
dann, diese Frage zu beantworten und das Wesen der nicht heilenden Krank- 
heitsbilder zu ergründen. 

Die Stellung der andern Intoxikationspsychoseh ist klar. Sie beruhen 
alle auf einer mehr oder weniger chronischen Vergiftung und zeigen durchweg 
sehr typische Symptome. Die Seltenheit mancher dieser Formen ist wohl schuld 
daran, daß nicht alle Einzelheiten als endgültig feststehend zu betrachten sind, 
aber besondere Schwierigkeiten macht die Diagnose dieser Erkrankungen nicht. 

III. 

Die dritte große Gruppe, die „organischen Erkrankungen“, setzen 
sich aus allen den Erkrankungen zusammen, bei denen wir eine organische 



Die Einteilung der Psychosen. 


43 


Aeranderimg des Gehirns voraussetzen dürfen, eine Veränderung, die weder 
heilbar ist noch aufhört, wenn die Ursache der Veränderung beseitigt wird 

Uber die einzelnen Untergruppen ist an dieser SteUe nicht viel zu sagen 
ynigstens soweit es die Dementia paralytica, die Lues cerebri und die 
i sychosen bei Gehirnerkrankungen betrifft, obgleich die differential- 
diagnostischen Merkmale noch sehr der Verfeinerung bedürfen Aber diese 
Schwierigkeiten zu erörtern, ist Sache der speziellen Bearbeitung dieser Krank- 
lieitstypen. 

Bei den Rückbildungserkrankungen habe ich die Involutions- 
depression, die arteriosklerotische und die senile Demenz unterschieden. 
Ich bekenne mich offen zu denen, die an der Selbständigkeit der Involutions- 
melanchoUe festhalten. Daß es nicht leicht ist, die differentialdiagnostischen 
Kennzeichen zu fmden, pbe ich zu, auch daß wir manche Fälle, in denen wir 
eine typische Melancholie der Rückbildungszeit vor uns zu haben glaubten, 
spater rezidmeren sehen. Auch gebe ich zu, daß sich ein typisch manisch-depres- 
sives Irresein ausnahmsweise zuerst in der Involutionsperiode zeigt. Aber ich 
hoffe, daß es einer Vertiefung in die Symptome der Melancholie glücken wird 
diejenigen Erscheinungen festzustellen, die sie von den in der .-Vffektrichtimg 
gleichen, in manchen Symptomen ähnlichen Depressionen trennen. 

Einer der wichtigsten Gründe, die mich dazu veranlassen, an der Ver- 
schiedenheit der beiden Erkrankungen festzuhalten, ist die Beobachtung, daß 
die Melancholischen häufig aus Familien stammen, in denen Apoplexien und 
ähnliche Symptome auf eine Gefährdung des Blutgefäßsystems hin- 
weisen, während das manisch-depressive Irresein fast stets auf gleichartiger 
Prädisposition beruht. Das ist gewiß kein ausreichender Beweis, aber immerhin 
eine Erfahrung, die uns zu ernstester Prüfung dieser vielumstrittenen Frage 
zwingt. Meiner Ansicht nach besteht eine viel größere Verwandtschaft der 
Involutionsmelancholie zu den Formen des präsenilen Eifersuchtswahns, 
zu den vorübergehend oder länger wahnhaft gefärbten Zuständen leichter Ver- 
worrenheit und Angst, die wieder ohne scharfe Grenze zu den arteriosklerotischen 
und senilen Demenzzuständen überleiten. Die pathologische Anatomie hat 
gerade bei diesen Zuständen schon manches geklärt, ihr, aber nur Hand in Hand 
mit unermüdlicher Iclinischer Beobachtung, wird es auch gelingen, die Streit- 
frage, ob die Melancholie der Involutionszeit einen selbständigen Krankheits- 
typus darstellt, zu lösen und ihre Beziehung zu den verschiedenen Formen der 
senilen Rückbildungsvorgänge im Gehirne klarzustellen. 

Der heutige Stand der anatomischen Kenntnis erlaubt es wohl kaum, 
schon jetzt mit völliger Bestimmtheit zu behaupten, daß die Dementia praecox 
eine wohlbekannte organische Gehirnerkrankung ist. Selbst wenn sich die 
besonders von Alzheimer gefimdenen Hirnveränderungen als charakteristische 
Meikmale hebephrener Prozesse heransstellen sollten, bliebe es immer noch 
fiaglich, ob diese V^eränderungen als die Ursache der Erkrankung oder als ihre 
Folgen zu betrachten seien. Aber diese Schwierigkeit betrifft nur die Deutung 
des Zusammenhangs der Symptome mit den anatomischen Befunden. Die Tat- 
sache, daß sich regelmäßig charakteristische anatomische Veränderungen bei 
der Dementia praecox finden, beweist, daß diese Erkrankung zu den organischen 
Psychosen gehört. Ich meine sogar, das könnte auch dann kaum zweifelhaft 


44 


Die Einteilung der Psychosen. 


sein wenn die anatomische Forschung uns einstweilen noch im Stiche lassen 
wtoke Sie Erkrankung, die in ihren schwersten FäUen, und diese smd doch 
Sine Seltenheiten, zu so hochgradiger und gleichmäßiger Verblödung fuhrt, 
muß auf organischen Veränderungen beruhen. Dem widerspricht allerdings die 
Tatsache def sogenannten Spätheilungen; aber diese Spatheilungen smd doch 
S Wirklichkeit nur Besserungen. Der Kranke wird geordnet in seinem Be- 
nehmen, klarer in seinem Bewußtsein, korrigiert seine Wahnideen, zeigt weniger 
deutlich seine merkwürdigen Manieren, sein Negativismus schwindet. Aber geheilt 
sind die Kranken nicht. Ihre affektive Stumpfheit Ueibt, und dm Spumn der 
hebephrenen Verschrobenheit sind unverkennbar. Sollte man dabei erlich au- 
nehnLn, daß derartige Dauerdefekte, Defekte, die den Verlust des M ertvollsteii 
L Seelenleben, des Empfindungslebens, bedeuten, o^e ernste orgamsche 
Schädigung zustande kommen? Das erscheint mir immoghch, und ich halte mich 
aus dem Grunde für berechtigt, die Dementia praecox als eme organische Ei- 

krankung aufzufassen. j- di., i». 

Die Abarten des Krankheitstypus der Dementia praecox, die Bleuler 

als Schizophrenie bezeichnet, sind klinisch nicht scharf geschieden; wir sind we- 
nigstens zurzeit nicht imstande, die Fälle von hebephrener Verblödung von denen 
mit vorwiegend katatonischer Färbung und von den para,noiden Zustanden 
mit solcher Sicherheit zu trennen, daß wir sie als verschiedenartige Kran ■- 
heitstypen ansehen dürfen. Mir persönlich sind sie immer nur als klinische 
Varianten erschienen. Doch ist hier das letzte Wort noch nicht gesprochen, 
und vielleicht gelingt es doch, die Wesenart der verschiedenen Bilder zu er- 
fassen, insbesondere zu entscheiden, ob die FäUe mit vorwiegender Wahn- 

bildung nicht eine andere Deutung verlangen. 

Die Epilepsie hat lange Zeit als eine Erkrankimg gegolten, deren Sjtu- 
ptomatologie wohl etwas ergänzt und diagnostisch verfeinert werden koimte, 
und deren Ursachen noch besser erforscht werden mußten, deren Gesamtauf- 
fassung aber festzustehen schien. Neue und recht ernste Schwierigkeiten traten 
für den Kliniker erst dann auf, als man die Wichtigkeit der psychischen 
äquivalente erkannte, und damit vor die Frage gestellt wurde, ob der ep^ 
leptische Krampfanfall das für die Krankheit charakteristischste und für die 
Diagnose unentbehrhehe Symptom sei. Die Untersuchungen über die Ursaeüen 
der Epilepsie, nicht zum wenigsten bedingt durch die Bedürfnisse der Chirurgen, 
die für operative Eingriffe günstigen Fälle abzugrenzen, anatomische md s^- 
ptomatologische Forschungen ließen dann immer klarer hervortreten, dalJ die Epi- 
lepsie kein einheitlicher Krankheitstypus ist, sondern daß wir sie trennen missen 
in Fälle, in denen der epileptische Anfall, im weitesten Sinne, als Symptom 
auftritt, und in solche, in denen wir von der Krankheit Epilepsie sprec en 
dürfen. Daß diese letzteren FäUe immer seltener geworden sind, ist nicht 
leugnen. Ob wir aber mit Redlich den Begriff der idiopathischen oder ge- 
nuinen Epilepsie ganz aufgeben müssen, ist doch fraglich. Möglich, daß der 
epUeptische Anfall nichts weiter ist als eine eigenartige Veränderung des Gehirns 
auf bestimmte toxische, thermische, entzündliche, mechanische, wohl auch am 
psychische Reizungen in einer spezifischen Weise zu reagieren, möglich auc , 
daß diese verschieden verursachten und verschieden gestalteten Reaktionstypen 
eine einheitliche Grundlage besitzen. Bedauern kann man diese Unsicherhei- 


Die Einteilung der Psychosen. 


45 


wohl, aber was die Diagnostik der Epilepsie an Sicherheit und Bequemlichkeit 
verliert, das gewinnen wir an Anregung zu neuen Forschungen. Wenn wir an 
der genuinen Epilepsie als einer selbständigen Krankheit einstw^eilen festhalten, 
so betrachte ich das nicht als eine Verteidigung eines morschen Gebäudes, 
von dem jeden Tag neue und wichtige Stücke abbröckeln, sondern als den ein- 
zigen Weg zur Klärimg der Streitfragen. Jeder neue Befund — ob anatomischer, 
klinischer, chemischer Art ist dabei gleichgültig — muß unsere Kenntnis von 
dem AVesen der Epilepsie fördern, und jeder Stein, der abbröckelt, wird zum 
Baustein der neuen und gefestigteren klinischen Auffasssung. 

Die Auffassung, daß nur solche Erscheinungsformen der genuinen Epilepsie 
angehören, bei denen neben den epileptoiden Zuständen die geistige Verödung 
imd Verblödung fortschreitend zimehmen, sucht in dem progredienten 
Prozeß das wichtigste Merkmal. Ich weiß nicht, ob mit Recht. Mir erscheint 
vielmehr immer noch als das Wesentlichste die periodisch sich wieder- 
holenden Bewußtseinsstörungen, die von Krampfsymptomen be- 
gleitet sein können, aber nicht begleitet sein müssen. Wie dem aber auch sei, 
ich zweifle nicht daran, daß der Epilepsie anatomische Veränderungen 
zugrunde liegen, auch da, wo nicht irgend eine Lokalerkrankung das Symptom 
(nicht die Krankheit) epileptischer Zustände hervorruft. Ich halte es dabei 
für nicht ausgeschlossen, daß wir auch innerhalb der Epilepsie, ähnlich wie es 
innerhalb der arteriosklerotischen Prozesse geglückt ist, anatomisch und später 
auch klinisch verschiedene Verlaufsarten finden werden, die vielleicht mehr 
sind als klinische Varianten. Wenigstens deutet die Verschiedenartigkeit der 
epileptischen Symptome und ihrer Gruppierung auf solche prinzipielle Unter- 
schiede hin. 

Die letzte Gruppe ist die des Schwachsinns mit seinen Unterformen 
der Idiotie und Imbezillität. Vielfach werden von der Imbezülität noch 
die ganz leichten Schwachsinnszustände als Debilität abgegrenzt. Zwischen 
dem Idioten, dem nicht bildungsfähigen Schwachsinnigen und dem erziehbaren 
Imbezillen besteht ebensowenig eine scharfe Grenze wie zwischen diesem und 
dem beschränkten, geistig wenig regsamen, aber noch als normal zu bezeich- 
nenden Menschen. Ich empfinde deshalb auch kein Bedürfnis nach einer weiteren 
Zwischenform, der Debilität, die nur graduell von der Imbezillität ver- 
schieden ist. 

Aber spricht nicht der fließende Übergang zwischen normalentwickelter 
und geringer Intelligenz gegen die Auffassung des Schwachsinns als einer ana- 
tomisch greifbaren und organisch bedingten Erkrankung? Für die ausgeprägten 
Fälle der Idiotie und der Imbezillität kennen wir bereits die anatomischen Be- 
funde; ja, wir sind bereits imstande, verschiedene Krankheitsprozesse innerhalb 
der Idiotie zu unterscheiden. Je mehr wir uns der Norm nähern, um so weniger 
leicht wird es sein, die Veränderungen zu finden. Aber die Hirnforschung hat 
ims so viel Aufklärung gebracht, daß wir hoffen dürfen, auch für die leichten 
Fälle von Schwachsinn die sie bedingenden Prozesse destruktiver oder hypo- 
plastischer Art kennen zu lernen. 






46 


Die Einteilung der Psychosen. 


Ich habe versucht, die Stellung der einzelnen Krankheitstypen innerhalb 
eines mir brauchbar erscheinenden Systems zu bestimmen und, soweit das iji 
der gebotenen Kürze möglich war, zu begründen. Viele Fragen, so die nach dem 
Einflüsse der Autointoxikation des Körpers, der Funktion der Drüsen, 
mußten ganz beiseite gelassen, vieles konnte nur angedeutet werden. Aber ich 
hatte mir auch nicht die Aufgabe gestellt, zu allen Streitfragen Stellung zu 
nehmen oder gar zu versuchen, ein System der Psychosen aufzustellen, das allen 
Angriffen standzuhalten vermag imd vielleicht nur kleiner und unwesentlicher 
Änderungen bedarf. Das ist unmöglich und wird wohl noch auf lange Zeit im- 
möglich bleiben. Auch andere medizinische Fächer sind nicht in der Lage, über 
eine unabänderliche Systematik der Erkrankungen zu verfügen. In der 
Psychiatrie ist noch alles im Flusse, alles im Werden. Wir dürfen uns dessen 
freuen, denn wir stehen vor einer Überfülle von verlockenden Proldemen, 
großen, wie denen der Ätiologie, der Pathogenese, kleinen, wie dem Ausbaue 
der klinischen Sjmiptomatologie. 

Meine kurze Skizze sollte nichts weiter bezwecken, wie den Aufbau 
eines Einteilungssystems in fester, aber nicht endgültiger Fassung zu geben 
und innerhalb dieses Aufbaues den Krankheits typen eine bestimmte Stellung 
anzuweisen. Was daran Verfehltes ist, wdrd die weitere Forschung in hoffentlich 
nicht zu ferner Zeit als falsch erkennen lassen; was daran brauchbar ist, wird 
sich bewähren. Die resignierte Stimmimg des Klinikers, der in dem Chaos der 
Erscheinungen jeden festen Punkt vermißt, lähmt die Schaffensfreudigkeit; 
mir erscheint es besser, dem Ziele, das zurzeit noch in weiter Feme liegt, in 
unerschütterlichem Optimismus nachzustreben und sich nicht durch Fehlschläge 
entmutigen zu lassen. So wie ich die Systematik der Psychosen dargestellt habe, 
soll sie nicht eine Lösung der Fragen geben, sondern Aufgaben stellen, 
Aufgaben, die den Forscher locken, und an deren Lösung mitzuarbeiten, allein 
schon eine große Befriedigung geben muß. 


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— Grundriß der Psychiatrie, 1900. 

Weygandt W., Atlas und Grundriß der Psychiatrie, 1902. 

Zur Frage der materialistischen |Psychiatrie. Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psych., 

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Ziehen, Über einige Lücken und Schwierigkeiten der Gruppierung der Geisteskrank- 
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