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Full text of "Mitteilungen aus der historischen Literatur 6-7"

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Mittheilungen 


aus  der 

historischen  Litteratur 

herausgegeben  von  der 

historischen  Gesellschaft  in  Berlin 

und  in  doron  Auftrage  redigirt 

von 

Dr.  Ferdinand  Hirsch. 


VI.  Jahrgang. 


Berlin,  1878. 

Vorlag  von  Rudolph  Gaortuer. 

Mohrcnatnusse  18/14. 


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D-d 


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Inhalts  -Verzeichniss. 


Seite 
Baader,  Streiflichter   auf  die  Zeit  der  tie&ten  Erniedrigong  Deutsch- 

lands  (Zermelo) , 160 

Baltzer,  Zur  Geschichte  des  deutschen  Kriegswesons  in  der  Zeit  von 

den  letzten  Karolingern  bis  auf  Kaiser  Friedrich  II.  (E.  Fischer)  320 
Beer,  Zehn  Jahre  osterreichischer  Politik.  1800—1810.  (Koser)  .  .  249 
Beitrage    zur  Eunde  steiermarkischer  Geschichtsquellen  XIII.— XIV. 

Jahrgang  (Ilwof) 167 

v.  Bezold,    Konig  Sigmund  und  die  Reichskriege  gegen  die   Husiten. 

HL  Abtheihrog.  (Bdhm) 204 

Bohtlingk,  Napoleon  Bonaparte,  seine  Jugend  und  sein  Emporkommen 

bis  zum  13.  Vendemiaire  (Bailleu) 245 

v.  d.  Brftggen,  Polen's  Auflosung  (Isaaosohn) 338 

v.  B tinge,  Das  Herzogthum  Esthland  unter  denKdnigen  vonDanemark 

(W.  Fischer) 179 

Denkschrift   Kurfurst  Friedrichs   EL    von   Brandenburg   an  Xaiser 
Leopold  I.  fiber  die  Nothwendigkeit  der  Wiedererwerbung  Strass- 

burgs  1696  (Holtze) 45 

Detloff,  Der  erste  Eomerzng  Kaiser  Friedrichs  L  (Volkmar).    .    .    .    122 

Dohler,  Die  Antonine  69— 180  n.  Chr.  (W.  Fischer) 194 

Droysen,  Geschichte  des  Hellenismus.  I.  Theil  (Hirsch) 289 

Duncker,  Geschichte  des  Alterthums.  I.  Band.  5.  Aufl.  (Hirsch)  .  .  193 
Ebeling,  Zur  Characteristik  Adalberts  von  Bremen  (K6nig)  ....  319 
Ebrard,    Der    erste    Annahernngsversnch    K5nig    Wenzel's   an    den 

Schwabisch-Kheinischen  St&dtebund  1384—1385  (B5hm) ....    324 

Ferk,  Ueber  Druidismns  in  Noricum  (Edm.  Meyer) 98 

Freihold,  Die  Lebensgeschichte  der  Menschheit  L  Band  (Kirchner)   .      97 
Friedonsburg,  Lndwig  IV.  der  Baier  und  Friedrich  von  Oesterreich, 
von  dem  Vertrage  zu  Trausnitz  bis  zur  Zusammenknnft  in  Inns- 
bruck 1325-26  (Konig) 323 

347320 


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IV  Ihhalts-Vorzeichniss. 

Soltc 

Gaodcke,   Die  Politik  Oesterreichs   in   der   Spanischon   Erbfolgefragc 

(Rodenwaldt) 149 

Gfrbrer,  Byzantinische  Geschichten.  IL  u.  ILL  Band  (Hirsch)  ...  5 
Girgensohn,   Acten  zur  ^Geschichte   dor   Stadt  Riga  im  Jahre  1562. 

(W.  Fischer) 330 

Goecke,  Das  Grossherzogthum  Berg  unter  Joachim  Murat,  Napoleon  I. 

und  Louis  Napoleon  1806—13  (Zermelo) 88 

Hart  tang,   Norwegen  und   die   deutschen  SoestUdte  bis  zum  Schlusse 

des  13.  Jahrhunderts  (W.  Fischer) 122 

v.  Holfert,  Goschichto  Oesterreichs   v.  Ausg.  d.  Wiener  Oktober-Auf- 

standes  1848.    IV.  Band.   I.  Theil.    (W.  Fischer) 351 

Henckel-Donnersmarck,  Briefe  der  Briider  Friedriehs  des  Grossen 

an  meine  Grosseltern  (Holtze) 46 

Her  que  t,   Juan  Fernandez  de   Heredia,   Grossmeister  des  Johanniter- 

ordens  (Hirsch) 127 

Hertzberg,    Geschichte   Griechenlands    soit    dem  Absterben   antikon 

Lebens  bis  zur  Gegenwart  II.  u.  DX  Theil  (Brockerhof)  .  .  .  272 
Hillobrand,  Geschichte  Frankroichs  1830—71.  Band  I.  (Voigt)  .  .  347 
Hirsch,  Jahrbucher  des  deutschen  Reichs  unter  Heinrich  IL    Band  HI. 

(Bohm) 109 

v.  HSfler,   Zur  Kritik  und  Quellenkunde  der  ersten  Regierungsjahre 

Kaiser  Karls  V.  (Foerster) 34 

Hudomann,  Geschichte  des  romischen  Postwesens  wahrond  derKaiser- 

zeit  (Abraham) 301 

Ilwof  und  Peters,  Graz,  Geschichte  und  Topographie  der  Stadt  und 

ihrer  Umgebung  (Brecher) 166 

Isaacsohn,  Geschichte  des preuss.  Boamtenthums (Hirsch) I.  u. H.  Band    230 

Kastner,  Das  refundirte  Bisthum  Roval  (W.  Fischer) 185 

v.  Kalcjistein,  GoBchichte  des  franzbsischenKSnigthums  unter  den  ersten 

Capetingem.  L  Band  (Meyer) 314 

v.  Kraus,  Zur  Geschichte  Oesterreichs  unter  Ferdinand  L  (Brecher)  .  166 
Krause,   Ludwig,  Fiirat   zu  Anhalt - Cothon   und   sein  Land   Tor  und 

wahrend  des  SOjahrigen.Kriegos  (E.  Fischer) 220 

Lausch,  Die  Karnthenische  Belehnungsfrage  (Ilwof) 162 

L  o  h  m  a  n  n ,  Knesebeck  und  Schdn.  —  Stein ,  Scharnhorst  und  Schbn  (Bach)  254 
Lindonschmitt,   Schliemann's  Ausgrabungen  in  Troja  und  Mykenae 

(Hirsch) 289 

Mannheimer,   Die  Judonverfolgungen   in  Speyer,  Worms  und  Mainz 

im  Jahre  1096  (Krfiger) 107 

Marii  opiscopi  Aventicensis  chronicon  edidit  Wilh.  Arndt  (Hirsch)  .  .  201 
Matthaei,  Die  Klosterpolitik  Kaiser  Heinrichs  IL  (Volkmar) .  .  .  .  120 
Mittheilungen  a.dt  Gebiete  der  Geschichte  Liv-,  Est-  und  Kurlands 

XH.  Band.   2.  Heft  (W.  Fischer) 285 

Mittheilungen  des  historischen  Vereins  fur  Stoiormark.  24.  u.  25.  Heft 

(Ilwof) 167 

Monumonta  Germaniae  historica. 

Scriptorum  qui  vernacula  lingua  usi  sunt  torn.  H.  (Hirsch)     .    .      31 

Auctorum  antiquissimorum  torn.  I.  (Hirsch)  .    .  200 


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InhaltB-Verzeichniss.  V 

Seito 

Scriptores   rerum   langobardicarum   et  italicarnm   saec.   VI— IX. 

(Hirscb) 807 

Muhlbacher,  Die  streitige  Papstwahl  des  Jahres  HSlO  (Bobm)   ...      14 
Oefele,  Geschichte  der  Graf  en  Ton  Andechs  .(Edm.  Meyer)      ....      21 

Otto,  Geschichte  dor  Stadt  Wiesbaden  (Edm.  Meyor) 282 

Pauli,   Lubeckische  Zust&nde   im  Mittelalter.    III.  Theil.    Recht   und 

Kultur  (Kotelmann)      .    .    .    . 327 

Poschel,  Abhandlungen  zur  Erd-  und  V81kerkundo  (Sch&del)      .    .    .    287 

Programmonschau.    Alte  Gescbicbte  (Foss) 1 

Programmenschau.    Mittelalter  (Foss) 100 

Programmenschau.    Neuzeit  (Foss) 211 

Prokesch-Osten,    Mein    Verh&ltniss    zum    Horzog    von    Reichstadt 

(Bailleu)      .    . 270 

t.  Ranke,  Denkwurdigkeiten  des  Staatskanzlers  Fursten  von  Hardonberg 

bis  zum  Jahre  1806  (Duncker) 48 

v.  Ranke,  Die  Osmanen und  die  spaniscbo  Monarcbie  im  16.  und  17.  Jahr- 

hundert  (Hirsch) 216 

v.  Ranke,  Historiseh-biographische  Studien  (Hirsch) 331 

v.  Reumont,  Geschichte  Toskanas  (Hirscb) 180 

Reuter,  Geschichte  der  Teligi8sen  Aufklarung  im  Mittelalter.  II.  Band. 

(Ropke) 24 

Ritter,  Briefe  und  Acten  zur  Geschichte  des  80j&hrigen  Krioges  in  den 

Zeiten  des  vorwaltendon  Einflussos  der  Wittelsbacber.   HI.  Band. 

Der  Jlilicber  Erbfolgekrieg  (E.  !Fischor) 35 

Rochholz,    Die    Aargauer    Gessler   in   Urkunden   von    1250  — 1513 

(Foss) 20 

Rosen,  Die  Balkan-Haiduken  (Zekeli) 366 

Rottmanner,  Der  Cardinal  von  Baiern  (Koser) 245 

v.  Sadowski,  Die  Handelsstrassen  der  Griecben  und  Romer  durch  das 

Flussgebiet  der  Oder,  Weichsel,  des  Dniepr  und  Nieraon  an  die 

Gestade  des  Baltischen  Meeres  (Pierson) 4 

v.  Sal  pi  us,   Paul   v.  Fucbs,   ein  brandenburg-preuss.  Staatsmann  vor 

200  Jahren  (Holtze) 43 

Sanerland,   Die  ImmunitSt  von  Mctz   von   ihren  Anf&ngen   bis  zum 

Ende  des  elften  Jahrhunderts  (Scbirmer) 317 

Schmeidler,  Geschichte  des  K5nigreichs  Griechenland  (Zermolo)    .    .      91 
v.  Schulte,  Die  Geschichte  derQuellen  und  Litteratur  des  Kanonischen 

Rechts  (Holtze) 187 

Schum,  Vorstudien  znr  Diplomatik  Kaiser  Lothars  III.  (Bornhardi)  .    .    121 

Schwicker,  Geschichte  des  Temeser  Banats  (Zekeli) 170 

Sick  el,  Ueber  Kaiserurkunden  in  der  Schweiz  (Foss) 106 

Smets,    Geschichte  der  Osterreich.-ungarischen  Monarchic.  Lfrg.  1 — 12. 

(E.  Fischer) 92 

Soltau,   Der   Verfasser   der    Chronik    des    Matthias    von   Neuenburg 

(Konig) 202 

Stern,  Milton  nnd  seine  Zeit    I.  Theil  1608—1649.    1.  und  2.  Buch. 

(Braumann) 37 


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YI  Inhalts-Verzeichniss. 

Seite 
Urk unden  und  Acteiistiicke    zur  Geschichte   des  Kurfursten  Friedrich 

Wilhelm  von  Brandenburg.    Band  VII.  (Isaacsohn) 223 

Urkundenbuch  des Bekeser  Komitats.    Herausgegeben  von  Haan  und 

Zsilinazky  (Zekeli) 336 

Wen z el,  Kriegswesen  und  Hcerosorganisation  der  Romer  (Schambach)  300 
Wichert,  Aus  der  Cones pondenz  Herzog  Albrechts  von  Preussen  mit 

dem  Herzog  Christopb  von  Wirtemberg  (Holtze) 35 

v.  Zahn,  Zur  Geschichte  Herzog  Rudolfs  IV.  (Jlwof) 164 

Zeitschrift  der  Gesellschaft   for   Schleswig-Holstein-Lauenburgischo 

Geschichte.     VII.  Band  (Holtze) 94 


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Programmenschau  1877. 
Alte  Geschichte. 

1)  Die  alt  en  ThraciervonHermannEben.  Real- 
schule  IL  0.  von  Oberstein-Idar.  Ostern.     1877. 

Zunachst  giebt  der  Verfasser  den  Inhalt  einer  Anzahl  von 
Werken  an,  welche  iiber  die  Thracier  handeln,  dann  entwickelt 
er  selbst  einige  Ansichten  und  Studien.  Wir  gehen  auf  diese 
nicht  naher  ein,  da  dieselben  zu  keinem  rechten  Resultate  fuhren, 
sondern  verweisen  auf  eine  Abhandlung  in  Fleckeisens  und  Masius' 
Jahrbiichern  1877,  4.  Heft,  S.  225—240,  in  welcher  Alexander 
Riese  nachweist,  dass  weder  Homer  nooh  Hesiod  siidliche  Thra- 
cier kennt  und  dass  erst  seit  Euripides  von  Sudthraciern  die 
Rede  ist.  Urspriinglich  sind  Nord thracier  mit  ihrem  Dionysus- 
Cultus  von  den  Pieriern  mit  dem  Apollon-  und  Musen-Cult  voll- 
gtandig  getrennt.  Zur  Zeit  des  Pisistratus  siedeln  die  Pierier 
nach  Thracien  iiber  und  seit  der  Zeit  werden  erst  die  Culte  in 
Verbindung  gebracht;  seit  der  Zeit  wird  der  alte  Pierische 
Musendichter  Orpheus  ein  Dionysos-Dichter.  Da  auch  in  Theben 
ein  Dionysus-Cult  bestand,  so  wurden  die  beiden  Culte  identifi- 
cirt  und  ein  Stamm  der  Sudthracier  erdichtet.  Man  hielt  aber 
Orpheus  stats  fur  einen  Nordthracier. 

2)  Kritische  Geschichte  der  Emporung  des 
Amyrtaeus  und  Inarus  in  Aegypten  und  des 
Antheils,  welchen  die  Athener  an  diesem  Auf- 
stande  nahmen.  Gymnasium  zu  Inowrazlaw. 
Ostern  1877. 

Die  Abhandlung  beginnt  mit  einem  kurzen  Ueberblick  iiber 
die  aegyptische  Geschichte,  wie  sie  vor  der  Emporung  des  Amyr- 
taeus und  Inarus  verlaufen  ist.  Aus  der  Natur  des  persischen 
Staates,  der  die  unterworfenen  Stamme  nicht  harmonisch  in  sich 
einfugte,  sondern  nur  mechanisch  mit  sich  verband,  erklart  der 
Verfasser  es  fur  natiirlich,  dass  fortdauernd  in  einem  solchen 
Reiche  Aufstande  ausbrechen  mussten.  Das  trug  sich  auch  in 
Aegypten  zu  und  zwar  zuerst  zur  Zeit  des  Darius  vor  dem  Be- 
ginne  der  Perserkriege ,  dann  vier  Jahre  nach  der  Schlacht  bei 
Marathon.  Diese  letzte  Emporung  unterdriickte  Xerxes.  Bei 
der  Nachricht  von  dem  Tode  dieses  Herrschers  und  von  den 
Wirren,  welche  das  Reich  erfiillten,  erhoben  sich  die  Aegypter, 
da  sie  seit  der  Beschwichtigung  des  zweiten  Aufstandes  schwer 
bedriickt  war  en.  An  die  Spitze  stellte  sich  Inarus,  ein  Konig 
der  an  Aegypten  grenzenden  Libyer,  und  ein  Aegypter  Amyr- 
taeus. Die  Politik  der  Athener  nothigte  sie  diesen  Emporern 
zu   helfen.    Das  vereinigte  athenisch-persische  Heer  siegte  bei 

Mitttwaui^en  a,  d.  btotor.  Uttcratu*    VL  1 

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2  "      ProgrammskBchaa  1877.    Alte  Geschichte. 

Paprenris  tmd  belagerte  Memphis,  doch  wurde  diese  Stadt  von 
den  Verbundeten  nicht  erobert  und  Inarus  zum  Abzuge  ge- 
zwungen.  Die  Perser  schlossen  ihn  dann  auf  der  Nil-Insel 
Prosopitis  ein.  Inarus  musste  sich  ergeben  und  starb  am  Kreuze. 
Trotzdem  hielt  sich  in  den  Marschgegenden  des  Landes  Amyrtaeus, 
fiir  den  in  dieser  Zeit  A  then  Nichts  thun  konnte.  Endlich,  als 
Cimon  gegen  Persien  zog,  erhielt  auch  Amyrtaeu^Unterstiitzung, 
aber  nach  Cimons  Tode  mussten  die  athenischen  Schiffe  heim- 
kehren  und  die  aegyptische  Erhebung  wurde  nach  13jahrigem 
Kampfe  unterdriickt.  Noch  einmal  erhob  sich  413  ein  Saite 
Amyrtaeus  nach  38jahriger  Ruhe  und  befreite  fur  eine  Zeit  sein 
Vaterland. 

Die  Arbeit  schliesst  mit  einer  Kritik  der  Quellen. 

3)  Critias  von  Athen.  Historisch  -  kritische 
Studie  von  Dr.  Ernst  L.  Schleicher.  Realschule 
zu  Wurzen.     Ostern  1877. 

In  der  Einleitung  werden  kurz  die  Quellen  besprochen,  dann 
wird  iiber  die  Familie,  das  Geburtsjahr  und  die  Erziehung  des 
Critias  gehandelt.  Er  ist  zwischen  460  und  457  in  Athen  ge- 
boren.  Genauer  kann  man  das  Jahr  nicht  bestimmen,  doch  so 
viel  steht  fest,  dass  er  jiinger  als  Socrates  und  ein  Altersgenosse 
des  Alcibiades  gewesen  ist.  Er  war  ein  Schiiler  des  Socrates 
und  stand  demselben  naher  als  Alcibiades,  doch  ist  er  nur  von 
der  sophistischen  Seite  der  Sokratischen  Philosophie  ergriffen 
worden. 

Bis  zum  Jahre  411  hat  sich  Critias  vorwiegend  litterarisch 
beschaftigt.  Als  Dichter  wird  er  nicht  hochgeschatzt,  wohl  aber 
als  Prosaiker  seiner  rhetorischen  Schriften  wegen. 

Wahrscheinlich  war  er  ein  Freund  des  Alcibiades  und  des- 
wegen  im  Hermokopiden- Process  angeklagt,  er  wurde  jedoch 
freigesprochen.  Dass  er  an  der  Regierung  der  Vierhundert  theil- 
genommen  hat,  ist  nicht  wahrscheinlich.  Was  er  eigentlich  im 
Jahre  411  gethan  hat,  konnen  wir  nicht  bestimmen,  doch  steht 
so  viel  fest,  dass  er  seit  dieser  Zeit  bis  zum  Jahre  406  ver- 
bannt  war.  Nach  der  Schlacht  bei  Aegospotamoi  trat  er  riick- 
sichtslos  zu  der  Partei  der  Oligarchen  iiber  und  wurde  bald 
das  Haupt  der  Dreissig.  So  consequent  zeigte  er  sich,  dass  er 
um  des  Principes  wilien  Alcibiades,  Socrates  und  Theramenes 
verfolgte.  Critias  fiel  im  Jahre  403  an  der  Spitze  der  Dreissig, 
tapfer  bei  Munychia  gegen  Thrasybulos  kampfend. 

4)  Dion  der  Syrakusaner.  Ein  historisch-kri- 
tischerVersuchvonDr.  Moritz  Pfalz.  Programm 
des  Gymnasiums    zu  Chemnitz.     Ostern   1877. 

Zuerst  untersucht  der  Verfasser  die  Quellen  und  bespricht 
ausfiihrlich  und  eingehend  den  Diodor,  weniger  genau  den  Plu- 
tarch und  Nepos.  Diese  Auseinandersetzung  nimmt  beinahe  die 
Halfte  der  Arbeit  ein,  dann  folgt  ein  allgemeiner  Theil,  in  wel- 
chem  der  Verfasser  1)  das  damalige  Syrakus  recht  hiibsch  schil- 

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Programmenschau  1877.    Alto  Geschichte.  3 

dert  und  2)  den  Hof  Dionysius'  L  Die  letzten  9  Seiten  sind 
dem  Leben  Dions  gewidmet,  welches  natiirlich  nur  in  der 
knappsten  Form  behandelt  wird.  Die  Arbeit  beruht  auf  ein- 
gehenden  Studien  und  beweist,  dass  der  Verfasser  die  einschla- 
genden  Werke  tiichtig  benutzt  hat. 

5)  Ueber  die  Starke  der  romischen  Legion  und 
die  Ursache  ihres  allmahlichen  Wachsens  vom 
GymnasiallehrerTheodorSteinwender.  Marie n- 
burger  Gymnasium.     Ostern  1877. 

Die  sehr  sorgfaltig  gefuhrte  Untersuchung  weist  iiberzeugend 
nach,  dass  die  Starke  der  romischen  Legion  stets  abhangig 
war  von  der  Zahl  der  Tribus  und  die  Schwankungen  in  der 
Zahlenangabe  sich  immer  aus  den  Veranderungen  in  der  Anzahl 
der  Tribus  erklaren  lassen. 

Das  Resultat  der  Untersuchung  ist  folgendes: 

Von  der  Zeit  des  Servius  bis  zur  Griindung  der  tribus 
Crustumina  giebt  es  20  Tribus,  160  Centurien,  die  Gesammt- 
Armee  hat  16,000  Mann,  das  Feldheer  8000,  die  Legion 
4000  Mann,  jede  Tribus  stellt  200  Mann. 

Von  der  Griindung  der  Crustumina  bis  zur  Mitte  des 
4.  Saculum  v.  Chr.  sind  21  Trib.  168  Cent.,  16,800  G.-Armee, 
8400  Feldh.,  4200  Legion,  200  Tribus-Contingent. 

Von    der   Mitte    des   4.    Saculum   bis    303:    25    Tribus, 

200   Cent.,  40,000  G.-Armee,   20,000  Feldheer,   5000  Legion, 

200  Tr.-Cont. 

Bis  dahin  ist  AUes  klar ;  die  folgenden  Zahlen  sind  schwerer 

zu  erklaren   und   kann   hier   die  Rechtfertigung  natiirlich  nicht 

mit  angefuhrt  werden. 

Tribus  Feldheer        Legion     J^^ 


25 


-»} 


16,800        4,200        200        von  303—217  v.  Chr. 
20,800        5,200        200        von  217  bis  Marius. 
31  (35)  24,800        6,200        200        zur  Zeit  des  Marius. 

Dieser  letzte  Theil  der  Untersuchung  wird  wohl  noch  nicht 
als  abgeschlossen  zu  betrachten  sein. 

6)  Tiberius  und  Tacitus,   kritische  Beleuch- 

tung   des    Taciteischen  Berichtes   iiber    die  Re- 

gierung    Tibers    bis    zum   Tode    des   Drusus   von 

Emil  Wiesner,    Gymnasial-Leh^er.    Krotoschin. 

Osterprogramm  1877. 

Die  Arbeit   verspricht   auf  dem  Titel   mehr,    als   sie    halt, 

denn   sie   giebt   nur  eine  Betra«htung   der   ersten  4  Jahre   der 

Tiberianischen  Regierungszeit.    Der  Verfasser    giebt  nach   einer 

kurzen,  etwas  fragmentarischen  Einleitung  die  Erzahlung  dessen, 

was   in   dem  Jahre   geschehen  ist,   und   fiigt   dann   seine  Kritik 

hinzu.     Aus  dieser  Kritik  geht  hervor,   dass  Tiberius  besser  ge- 

wesen,  als  Tacitus  ihn  schildert. 

Berlin.  Foss. 


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4        Sadowski,  J.  N.  von,  Dio  Handelsstrassen  der  Griechen  tind  Romer. 

Sadowski,  J.  N.  von,  Die  Handelsstrassen  der  Griechen  und  Romer 
durch  das  Flussgebiet  der  Oder,  Weichsel,  des  Dniepr  und 
Kiemen  an  die  Gestade  des  Baltischen  Meeres.  Eine  yon 
der  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Krakau  preisgekronte 
archaologische  Studie.  Aus  dem  Polnischen  iibersetzt  von 
A.  Kohn.  Mit  zwei  Karten  und  drei  lithographirten  Tafeln. 
gr.  8°.  (VI,  LHI,  210  S.)  Jena,  1877.  H.  Costenoble. 
7,20  Mark, 

Von  der  Annahme  ausgehend,  dass  schon  im  Alterthum 
zwischen  der  Bernsteinkuste  und  den  Volkern  Siidosteuropas 
direkte  Handelsbeziehungen  bestanden,  kommt  der  Verfasser  zur 
Erorterung  der  Frage  nach  den  Wegen  dieses  Handels.  Er  zeigt, 
dass  die  Anzahl  der  Moglichkeiten  hier  sehr  beschrankt  werde, 
wenn  man  folgende  Bedingungen  stelle: 

1)  Die  physiographische  Beschaffenheit  des  Bodens  muss  das 
Betreten  des  Weges  moglich  machen; 

2)  es  miissen  auf  dem  Handelswege  Gegenstande  des  Alter- 
thums  und  zwar  soiche  entdeckt  worden  sein,  welche  das  Volk, 
von  dem  sie  herriihren,  unzweifelbaft  kennzeicbnen  und  sowohl 
die  Epoche  ihrer  Entstehung,  als  auch  die  Zeit  der  Expedition, 
durch  welche  sie  an  die  Stelle  gebracht  worden  sind,  anzeigen; 

3)  es  muss  die  Richtung  dieses  Weges  mit  den  Angaben 
der  klassischen  Schriftsteller  iibereinstimmen  und 

4)  miissen  auch  die  okonomischen  und  Handelsbedingungen 
des  untersuchten  Weges  diesen  als  einen  alterthiimlichen  kenn- 
zeichnen. 

Demnach  untersucht  Sadowski  die  physiographischen  Ver- 
haltnisse  des  Landes  zwischen  Ostsee  und  Donau  und  wendet 
sich  dann  zu  einer  kritischen  Betrachtung  der  Angaben  des 
Plinius  und  Ptolemaus,  sowie  der  archaologischen  Funde  auf  dem 
genannten  Gebiete.  Er  gelangt  zu  dem  Resultat,  dass  ein  Haupt- 
weg  vom  Jablunkapass  iiber  Kalisch,  Znin,  Osielsk,  Czersk  nach 
der  Weichselmundung  ging,  und  er  findet  durch  eine  gewisse 
Reduction  der  Ptolemaischen  Grade,  dass  jene  vier  Ortschaften 
mit  den  von  Ptolemaus  genannten  Kaliata,  Setidava,  LioKavKallg 
und  2novQyov  identisch  sind. 

Dieses  Ergebniss  konnen  wir  annehmen ,  aber  nur  als  Hypo- 
these.  Denn  Sadowski's  Beweisfuhrung  ist  keineswegs  zwingend. 
Wie  er  argumentirt,  ist  aus  folgendem  Beispiel  zu  ersehen.  Im 
Jahre  1832  hat  ein  Landmann  auf  dem  Felde  in  der  Nahe  von 
Schubin  mit  dem  Pfluge  39  Stuck  kleiner  Silbermiinzen  aus  der 
Erde  gefordert.  Diese  Miinzen  sind  griechische,  einige  davon  aus 
Olbium,  die  andern  aus  Athen,  Aegina,  Cyzikus,  welche  Stadte 
mit  Olbium  in  Handelsverbindung  standen.  Ein  Theil  der  Miinzen 
ist  vor  dem  Jahre  460,  keine  ist  spater  als  im  Jahre  431  v.Chr, 
gepragt  worden;  eine  stammt  aus  der  Zeit  von  460  bis  440. 
Also,  schliesst  Sadowski,  ist  ungefahr  um  das  Jahr  450  v.  Chr. 


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Gfrorer,  Aug.  Fr.,  Byzaiitinische  Geschichten.  5 

eine  Handelsexpedition  von  Olbium  in  die  Gegend  von  Schubin 
gekommen!  Als  ob  diese  Miinzen  nicht  auch  als  Kriegsbeute 
oder  im  Wege  des  Tauschhandels  von  Stamm  zu  Stamm  hatten 
dorthin  gelangen  konnen!  Ganz  abgesehen  von  der  Moglichkeit, 
class  dieser  kleine  Schatz,  ehe  er  bei  Schubin  vergraben  wurde, 
yielleicht  manch  Jahrhundert  lang  ganz  wo  anders  lag.  So  ein 
vereinzelter  Miinzfund  beweist  gar  wenig.  Uebrigens  ist  es  in 
diesem  Falle  nicht  einmal  wahrscheinlich,  dass  Sadowski  richtig 
vermuthet.  Denn  wenn  die  Olbipoliten  nach  der  Bernsteinkiiste, 
d.  L  —  auch  nach  des  Verfassers  Ansicht  —  nach  Preussen, 
wandern  wollten,  so  sieht  man  nicht  ein,  warom  sie  den  ungq- 
heuern  Umweg  iiber  Schubin  machten. 

Immerhin  ist  die  Schrift  lesenswerth,  namentlich  weil  darin 
die  Nachrichten  iiber  archaologische  Funde  in  Schlesien,  Posen 
und  Preussen  ziemlich  vollstandig  gesammelt  sind.  Der  Ueber- 
setzer,  Herr  Albin  Kohn,  verspricht  noch  andere  Publikationen 
der  betreffenden  polnischen  und  russischen  Literatur  der  deutschen 
Forschung  zuganglich  zu  machen.  Das  ist  gewiss  ein  verdienst- 
Uches  Unternehmen. 

Berlin.  P. 

m. 

Gfrorer,  Aug.  Fr.,  Byzantinische  Geschichten.  Aus  seinem  Nach- 
lasse  herausgegeben,  erganzt  und  fortgesetzt  von  Dr.  J.  B. 
Weiss.  Bd.  II,  u.  HI.  8°.  (669  u.  872  S.)  Graz  1873  u.  1877. 
Verlag  der  Vereins-Buchdruckerei. 

Das  vorliegende  Werk  beruht  urspriinglich  auf  Vorlesungen, 
welche  Gfrorer  im  letzten  Jahre  seiner  akademischen  Wirksam- 
keit  in  Freiburg  gehalten  hat,  welche  aber,  wie  es  scheint,  von 
ihm  selbst  schon  ffir  den  Zweck  der  Veroffentlichung  umgearbeitet 
Bind.  Es  zeigt  in  Form  und  Inhalt  die  engste  Verwandtschaft 
mit  den  friiheren  Arbeiten  desselben  Verfassers,  namentlich  mit 
seinem  colossalen  Werke  iiber  Gregor  VII. ;  auch  hier  bewundern 
wir  die  ausgebreitete  Gelehrsamkeit  des  Verfassers,  die  Tiefe  und 
Scharfe  seiner  Auffassung,  seine  kiihne  Combinationsgabe ,  seine 
gewandte  Dialektik,  daneben  aber  finden  wir  denselben  Mangel 
einer  griindlichen  Quellenkritik ,  dieselbe  Parteilichkeit  des  Ur- 
theils,  denselben  Hang  vermittelst  willkiirlicher  Interpretation 
die  Quellen  und  keeker,  oft  ganz  grundloser  Hypothesen  das 
Bild  der  Ereignisse  so  zu  gestalten,  wie  es  den  eigenen  vor- 
gefassten  Ideen  des  Verfassers  entspricht.  Werthvoll  ist  diese 
Arbeit  hauptsachlich  dadurch,  dass  der  Vert  im  Gegensatz  gegen 
die  bisherigen,  meistsehr  oberfachlichenBehandlungen  derbyzan- 
tinischen  Geschiehte  zuerst  den  Versuch  einer  wirklich  prag- 
matischen  Darstellung  derselben  gemacht,  dass  er  sich  bemiiht 
hat,  das  wirkliche  Leben  und  die  treibenden  Krafte  in  diesem 
Staate  zu  ergriinden,  dass  er  uns  die  Organisation  und  Verfassung 
desselben,   Finanzen,   Militar-   und    Seewesen,   das  Verhaltniss 

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6  Gfrorer,  Aug.  Fr.,  Byzantinische  Geschichten. 

zwischen  Staat  und  Kirche,  die  Parteibewegungen  im  Inneren  und 
die  auswartige  Politik  in  grosserem  und  tieferem  Zusammenhange 
vorzuftihren  sucht.  Auch  im  Einzelnen  finden  wir  manche  griind- 
liche  Untersuchungen,  manche  wirklich  werthvollen  Resultate,  da- 
neben  aber  eine  solche  Fiille  von  ungegriindeten  Behauptungen, 
von  einseitigen  und  ungerechten  Urtheilen,  von  geradezu  ver- 
kehrten,  die  Wahrheit  auf  den  Kopf  stellenden  Darstellungen, 
dass  fortgesetzt  unser  Zweifel  oder  unser  Widerspruch  heraus- 
gefordert  wird.  Entsprechend  der  Aufgabe,  welche  dieser  Zeit- 
schrift  gestellt  ist,  verzichten  wir  hier  auf  eine  weiter  ins  Ein- 
zelne  gehende  Kritik  des  Werkes  und  beschranken  uns  darauf, 
den  allgemeinen  Gang  der  Darstellung  und  die  wichtigsten  Punkte 
derselben  vorzufiihren. 

Von  der  zuletzt  von  ihm  behandelten  Geschichte  Gregor  VII., 
also  von  Italien  aus,  ist  der  Verf.  zu  der  byzantinischen  Ge- 
schichte iibergegangen,  er  hat  unterwegs  gleichsam  Stationen 
gemacht,  der  ganze  erste  Band  behandelt  die  Geschichte  Venedigs 
von  seinem  Entstehen  an  bis  zum  Jahre  1084,  bis  zu  dem  Zeit- 
punkte,  wo  dieser  inzwischen  schon  zu  bedeutender  See-  und 
Handelsmacht  emporgekommene  Staat  durch  seine  Hiilfeleistung 
in  dem  Kriege  gegen  Robert  Guiscard  das  byzantinische  Reich 
vor  dem  drohenden  Verderben  rettet  und  in  Folge  dessen  zu 
demselben  die  Stellung  erhalt,  welche  die  Grundlage  seines 
spateren  Einflusses  und  auch  der  dann  eintretenden  Conflicte  ge- 
worden  ist.  Auch  in  dem  zweiten  Bande  bofindet  sich  der  Verf. 
noch,  so  zu  sagen,  unterwegs,  der  erste  Theil  desselben  behan- 
delt das  Grenzgebiet  zwischen  Italien  und  Griechenland,  das  alte 
Illyrien  und  Dalmatien,  und  enthalt  eine  Geschichte  dieser  Land- 
schaften  vom  7.  Jahrhundert  an  bis  zum  Beginn  der  Kreuzzugs- 
perioda  Nach  einer  kurzen  Uebersicht  uber  die  Beschaffenheit 
dieser  Landschaften  und  iiber  ihre  Eintheilung  erzahlt  der  Verf. 
die  Besetzung  derselben  zuerst  im  Anfange  des  6.  Jahrhunderts 
durch  die  Avaren,  dann  in  der  Mitte  des  7.  durch  die  Kroaten 
und  durch  die  siidlich  von  diesen  sieh  ausbreitenden  Serben. 
Die  ersteren,  in  14  Gaue  getheilt,  erscheinen  von  vorne  herein 
unter  einem  gemeinschaftlichen  Oberhaupt,  Ban,  wahrend  die 
letzteren  langere  Zeit  in  drei  getrennte  Stamme  zerfallen.  Er 
erortert  dann  die  Politik,  welche  Carl  der  Grosse  und  seine  Nach- 
folger  diesen  beiden  Volkerschaften ,  sowie  den  benachbarten 
Avaren  und  Bulgaren  gegeniiber  verfolgt  haben,  er  erkennt  in 
der  Vernichtung  der  Avaren  und  in  der  Begriindung  einer  Ober- 
hoheit  iiber  die  Kroaten  einen  Versuch  dieser  frankischen  Kaiser, 
ihre  Herrschaft  auch  iiber  das  Ostreich  auszubreiten.  Mit  dem 
Verfalle  der  Carolingischen  Macht  hort  die  Abhangigkeit  der 
Kroatischen  Fiirsten  von  derselben  auf,  dagegen  beginnen  bald 
darauf  (c.  860 — 880)  von  der  entgegengesetzten  Seite,  von  Con- 
stantinopel  her,  Versuche,  jene  slavischen  Volker  in  den  Macht- 
kreis  des  byzantinischen  Reiches  zu  Ziehen.  Gfrorer  erkennt  in 
der  gleichzeitigen  Bekehrung  der  Bulgaren,    der  Siidserben  und 


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GfrSrer,  Aug.  Fr.,  Byzantinische  Geschichten.  7 

der  Mahren  von  Constantinopel  aus,  in  der  von  dort  her  be- 
fbrderten  Vereinigung  ganz  Dahnatiens,  der  Kroaten,  Serben  und 
der  romaoi8cb  gebliebenen  Kiistenstadte ,  unter  der  Herrsobaft 
des  kroatischen  Herzogs  Domagol,  in  der  kirchlichen  Trennung 
des  Landes  von  Rom,  eine  grosse  byzantinische  Staatsintrigue, 
welche,  von  dem  Patriarchen  Photius  geleitet,  den  Zweck  gehabt 
haben  soil,  einen  Keil  in  die  latinisch-germanische  Welt,  in  das 
Machtgebiet  des  Papstes  zu  treiben.  Zu  Anfang  des  10.  Jahrh. 
soil  nach  Gfrorers,  wie  uns  scheint  ganz  willkiirlicher,  Annahme 
unter  Kaiser  Romanus  I.  eine  romisch  gesinnte  Partei  in  Con- 
stantinopel zur  Regierung  gekommen  sein,  der  Einwirkung  der- 
selben  schreibt  er  den  Umschwung  zu,  welcher  damals  in  Dal- 
matien  eintritt,  wo  es  allerdings  Papst  Johann  X.  gelingt,  den 
damaligen  kroatischen  Konig  Tanpslav  zu  bewegen,  wieder  zu 
der  romischen  Kirche  zuruckzukehren  und  die  slavische  Liturgie 
abzuschaffen.  In  der  zweiten  Halfte  des  10.  und  der  ersten  des 
11.  Jahrhunderts  zeigt  sich  ein  Yerfall  des  kroatischen  Reiches, 
die  Siidserben  und  auch  die  romanischen  Stadte  haben  sich  von 
demselben  wieder  losgerissen,  der  ostliche  Theil  des  Reiches, 
das  heutige  Serbien,  wird  vom  Kaiser  Basilius  II.  nach  der  Ver- 
nichtung  des  bulgarischen  Reiches  1024  erobert,  zugleich  be- 
ginnt  auch  die  Bedrangniss  von  Norden  her  durch  die  Ungarn. 
Um  die  Mitte  des  11.  Jahrh.  dagegen  beginnt  ein  neuer  Auf- 
schwung  der  kroatischen  Macht,  Konig  Gresimir  III.  (c.  1052  bis 
1073)  erscheint  als  Herr  auch  des  romanischen  Dahnatiens, 
unterstiitzt  sowohl  von  dem  byzantinischen  Kaiserhofe  als  auch 
von  den  Papsten  Nicolaus  II.  und  Alexander  II.  (Gfrorer  will 
hierin  eine  Nachwirkung  der  friiher  zwischen  Kaiser  Constantin 
Monomachus  und  Papst  Leo  IX.  angekniipften  Verbindung  er- 
kennen);  unter  ihm  zeigt  sich  das  Bestreben,  Hof  und  Verfassung 
zu  latinisiren.  Sein  Nachfolger  Slawizo,  welcher  dem  entgegen 
das  Slaventhum  herzustellen  versucht,  wird  bald  gestiirzt,  und 
die  ausgebrochenen  Wirren  benutzt  dann  Papst  GregorVIL,  um 
auch  dort  seinen  Einfluss  zu  begriinden.  Er  erhebt  1076  einen 
neuen  Konig  Zwonimir  (Demetrius),  lasst  ihn  durch  seinen  Legaten 
kronen,  laest  sich  aber  dafiir  von  ihm  Lehnseid  und  Tribut  ver- 
sprechen,  er  stutzt  und  fordert  hinfort  den  neuen  Konig,  seine 
Idee  soil  nach  Gfrorer  gewesen  sein,  ein  machtiges  Kroatenreich 
als  einstigen  Erben  des  verfallenen  Byzantinerreichs  und  als 
Hort  gegen  den  Islam  zu  grunden.  Allein  dieses  kroatische 
Reich  verlallt  sofort  nach  Zwonimirs  Tode  (1087),  der  nordliche 
Theil  desselben  wird  von  den  Ungarn,  der  siidliche  (Dalmatian) 
von  den  Venetianern  occupirt,  es  erhalt  sich  zu  Ende  des 
11.  Jahrh.  nur  das  siidserbische  Reich,  aber  geschwacht  durch 
die  Macht  des  Adels  und  durch  Erbtheilung  unter  verschiedene 
Zweige  der  Konigs&milie. 

JDer  Ver£.  wendet  sich  jetzt  der  eigentlicheu  byzantinischen 
Geschichte  zu;  nach  einer  kurzen  Schilderung  der  durch  Diocle- 
tian und  Constantin  den   Grossen  begriindeten  Verfassung  des 

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8  Gfrorer,  Aug.  Fr.,  Byzantinische  Geschichten. 

spateren  romischen  Kaiserreibhs,  nach  einigen  Betrachtungen  iiber 
die  welthistorischen  Folgen  der  Verlegung  der  Hauptstadt  nach  Con- 
stantinopel  und  iiber  den  schon  von  Constantin  begriindeten 
Casaropapismus,  welcher  ihm,  dem  leidenschaftlichen  Vertheidiger 
des  romischen  Kirchensystems ,  als  der  argste  aller  Greuel  er- 
scheint,  behandelt  er  in  sehr  eingehender  und  ausfiihrlicher 
Weise  Kaiser  Justinian  und  die  durch  ihn  geschaffene  Organisation 
des  byzantinischen  Reiches,  namentlich  die  Steuerverhaltnisse. 
Hauptquelle  hierfur  ist  ihm  die  Geheimgeschichte  Procops,  eine 
Schrift,  der  er,  obwohl  sie  eine  offenbare  Schmahschrift  ist,  auch 
in  alien  Einzelheiten  unbedingt  Vertrauen  schenkt  und  deren 
gehassiges,  nur  zum  Theil  gerechtfertigtes  Urtheil  iiber  diesen 
Kaiser  und  seine  Regierungsweise  er  ohne  Weiteres  wiederholt, 
natiirlich  ist  das  Bild,  welches  er  uns  hier  vorfiihrt,  ein  ganz 
verzerrtes.  Als  besonderen  Fehler  rechnet  er  Justinian  auch  an, 
dass  er  das  Seewesen  vernachlassigt  habe,  er  sucht,  freilich  mit 
sehr  unzureichenden  Griinden,  nachzuweisen ,  dass  auch  die 
folgenden  Kaiser  bis  in  die  zweite  Halfte  des  9.  Jahrhunderts 
hinein  keine  eigentliche  Staatsflotte  gehabt  hatten,  dass  eine 
solche  erst  durch  Basilius  L  und  seine  Nachfolger  eingerichtet 
und  ausgebildet  sei.  Schliesslich  macht  er  dann  Justinian  noch 
verantwortlich  fiir  die  spateren  Fortschritte  des  Islam,  er  erklart 
diesen  fiir  den  Riickschlag  gegen  den  Missbrauch,  welchen  Justinian 
mit  der  Menschheit  und  der  christlichen  Religion  getrieben  habe. 
Gemassigter  ist  das  Urtheil  des  Verf.  in  dem  folgenden  Abschnitto 
iiber  den  Bilderstreit ,  er  erkennt  an,  dass  Leos  des  Isauriers 
Einschreiten  gegen  den  abgottisch  getriebenen  Bilderdienst  ur- 
spriinglioh  gerecht  war,  aber  er  beschuldigt  ihn  und  seine  Nach- 
folger, im  Verlaufe  des  Streites  unter  dem  Aushangeschild  der 
Aufklarung  die  Kirche  geknechtet  zu  haben,  er  erkennt  in  dem 
Kampfe  zwischen  Kaiserthum  und  Orthodoxie  einen  Kampf  von 
GibeUinen  und  Welfen,  die  welfische  Partei  wird  gebildet  von 
einem  Theile  des  Clerus,  namentlich  Monchen,  welche  fur  die 
Freiheit  der  Kirche  und  ihre  Unterordnung  unter  den  Papst 
streiten,  und  welche  nach  Gfrorers  Meinung  zugleich  auch  das 
Volk  gegen  die  Tyrannei  der  Regierung  zu  sichern  suchen.  Von 
dieser  Partei  behauptet  er  dann,  dass  sie  spater  zeitweise 
ans  Ruder  gekommen  sei  und  dass  sie  den  Versuch  auch  wich- 
tiger  staatlicher  Reformen  gemacht  habe,  er  lasst,  freilich  ohne 
irgend  welchen  AnhaJt  in  den  Quellen,  Basilius  L  und  dann 
Romanus  I.  durch  sie  auf  den  Thron  erhoben  werden,  er  erkennt 
in  dem  Monche  Polyeuct,  dem  Freunde  des  Romanus,  das  Haupt 
dieser  Partei;  unter  Constantin  VII.  zum  Patriarchen  erhoben, 
soil  derselbe  schon  unter  diesem,  dann  unter  Romanus  II.  Einspruch 
gegen  das  unwiirdige  Regiment  der  Hofleute  erhoben ,  nach 
Romanus  II.  Tode  aber,  immer  als  das  Haupt  dieser  Partei,  den 
Versuch  einer  Verfassungsveranderung,  der  Uebertragung  der 
eigentlichen  Regierungsgewalt  an  den  Senat,  gemacht  haben.  Aber 
dieser  Plan  wird  durch  das  Heer  durchkreuzt,  mit  dessen  Hiilfe 

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Gfrorer,  Aug.  Fr.,  Byzantiniflche  Geschichten.  9 

macht  fiich  das  Haupt  der  militarischen  Aristokratie,  Nicephorus 
Phocas,  zum  Kaiser.  Die  Regierung  desselben  wird  trotz  seiner 
glanzenden  Kriegsthaten  von  Gfrorer  hochst  ungiinstig  beurtheilt, 
einmal  wegen  desdurch  ihnverstarkten  Steuerdruckes,  andererseits 
wegen  seiner  Massregeln  gegen  die  Kirche.  Dagegen  riihmt  er  sehr 
den  Morder  und  Nachfolger  des  Nicephorus,  Johannes  Tzimisces, 
wegen  seiner  gliicklichen  kriegerischen  Erfolge  und  besonders  wegen 
seiner  kirchlichen  Politik.  Allerdings  hat  derselbe  zu  Anfang 
seiner  Regierung  die  kirchlichen  Gesetze  seines  Vorgangers  wider- 
rufen  und  dem  Patriarchen  einen  wesentlichen  Antheil  bei  der 
Besetzung  der  Bisthiimer  eingeraumt,  allein  nachher  hat  er  den 
Nachfolger  des  Polyeuct,  den  Patriarchen  Basilius,  abgesetzt,  und 
urn  diesen  anscheinenden  Eingriff  in  die  Freiheit  der  Kirche  zu 
rechtfertigen ,  muss  Gfrorer  zu  ganz  absonderlichen  Hypothesen 
seine  Zuflucht  nehmen.  Er  bringt  Basilius'  Sturz  in  Verbindung 
mit  den  damaligen  Ereignissen  in  Rom,  dem  Sturze  des  der 
deutschen  Partei  feindlichen  Papstes  Bonifaz,  der  Einsetzung 
Benedict  VIL  (974),  Tzimisces  soil  diesen  letzteren  nicht  haben 
anerkennen,  der  Patriarch  aber  an  der  Verbindung  und  Unter- 
ordnung  unter  den  romischen  Stuhl  haben  festhalten  wollen,  und 
so  soil  der  Bruch  zwischen  beiden  erfolgt  sein.  In  den  folgenden 
heftigen  Biirgerkriegen  wahrend  der  friiheren  Jahre  Kaiser 
Basilius  II.,  den  Emporungen  des  Bardas  Phocas  und  Bardas 
Scleras,  will  Gfrorer  eine  Erhebung  einmal  der  militarischen 
Aristokratie,  andererseits  jener  ultramontanen  Partei  (als  ihr 
Haupt  stellt  er  Scleras  dar)  gegen  das  unumschrankte  Kaiser- 
thum  erkennen ;  der  Kaiser  siegt  gegen  Phocas  und  versohnt 
sich  mit  Scleras,  in  der  willkurlichsten  Weise  deutet  Gfrorer  den 
Umstand,  dass  er  denselben  darauf  in  den  Kamjtf  gegen  die 
Bulgaren  mitnimmt  so,  dass  er  ihn  als  Mentor  angenommen, 
ihm  die  Vollmachten  eingeraumt  habe,  welche  die  kirchliche 
Partei  fur  ihn  in  Anspruch  genommen  habe.  In  dem  letzten 
Capitel  des  Bandes  behandelt  der  Verf.  in  ausfiihrlicher  und 
lichtvoller  Weise  (namentlich  den  geographischen  Verhaltnissen 
werden  eingehende  Erorterungen  gewidmet)  die  Kampfe  des 
Basilius  gegen  die  Bulgaren,  welche  schliesslich  1018  zur  voll- 
standigen  Vernichtung  des  Reiches  derselben  imd  zur  Wieder- 
unterwerftmg  der  ganzen  Balkanhalbinsel  unter  die  byzantinische 
Herrschaft  fuhren. 

Die  ersten  Capitel  des  dritten  Bandes  behandeln  die  Mass- 
regeln Basilius  IL ,  welche  die  Vernichtung  oder  wenigstens  Be- 
schrankung  der  Macht  der  hohen  Aristokratie  zum  Ziele  hatten. 
Wir  finden  hier  (auch  spater  Capitel  17  behandelt  noch  den- 
selben Gegenstand)  sehr  lehrreiche  Untersuchungen  iiber  den 
Ur8prang  und  iiber  die  Entwickelung  der  Macht  dieser  Aristo- 
kratie, ferner  iiber  die  Politik,  welche  die  verschiedenen  Kaiser, 
zuletzt  Basilius  II.,  derselben  gegeniiber  verfolgt  haben.  Jener 
hohe  Adel  ist  entstanden  in  Folge  der  militarischen  Organisation, 
welche  im   9.  Jahrhundert  in  Kleinasien  eingefuhrt  worden  ist. 

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10  Gfrorer,  Aug.  Fr.,  Byzantiniache  Geschichten. 

Gegeniiber  den  bestandigen  Angriffen,  welche  von  den  benach- 
barten  arabischen  Emiren  von  Tarsus  und  Malatia  drohten,  ist 
dort  in  jenem  Jahrhundert  (ob  unter  Basilius  L,  wie  Gfrorer 
behauptet,  muss  zweifelhaft  bleiben)  eine  Art  Landwehr  einge- 
richtet  worden,  die  Grenzprovinzen  wurden  militaiisch  organi- 
sirt,  die  Bevolkerung  derselben  zum  Kriegsdienst  herangezogen 
und  dafiir  mit  Landbesitz,  bauerlichen  Lehngiitern,  ausgestattet 
(in  ahnlicher  Weise  gab  es  auch  Ankerlehen  fur  die  Mannschaft 
der  Flotte).  Das  Commando  iiber  diese  Miliz  erhielten  Land- 
edelleute  der  Gegend  selbst ;  aus  diesen  Officieren  ist  die  spatere 
militarische  Aristokratie  des  byzantinischen  Reiches,  die  Familien 
der  Phocas,  Ducas,  Curcuas,  Scleroi,  Argyroi,  auch  die  Komnenen 
hervorgegangen,  und  zwar  in  der  Weise,  dass  einzelne  jener 
Landedelleute  zu  hoheren  militarischen  Stellungen  emporstiegen, 
diese  dann  dazu  benutzten,  urn  die  urspriinglich  freien  Lehn- 
bauern  zu  ihren  eigenen  Erbunterthanen  zu  machen,  auch  sonst 
sich  auf  Kosten  der  iibrigen  landlichen  Bevolkerung  auszubreiten 
und  so  bedeutende  Giitercomplexe  sich  anzueignen.  Gegen  diese 
Aristokratie,  durch  deren  Usurpationen  nicht  nur  die  militarische 
Organisation  jener  Grenzlande  zerriittet  wurde,  sondern  deren 
Macht  selbst  der  Krone  gegeniiber  gefahrlich  zu  werden  anfing, 
sind  zuerst  die  Kaiser  Romanus  I.  und  Constantin  VII.  ein- 
geschritten  und  haben  durch  strenge  Edicte  die  bisherigen  Usur- 
pationen riickgangig  zu  machen  und  weiteren  vorzubeugen  gesucht 
(dass  wieder  jene  clericale  Partei  dabei  die  Hand  im  Spiele  ge- 
habt,  dass  ihr  das  Verdienst  dieser  Massregeln  gebiihre ,  ist  eine 
ganz  willkiirliche  Annahme  des  Yerfassers),  doch  sind  sie  damit 
nicht  durchgedrungen  und  Kaiser  Nicephorus  Phocas ,  der  selbst 
aus  jener  militarischen  Aristokratie  stammte  und  die  Interessen 
derselben  forderte,  hat,  wie  Gfrorer  sehr  richtig  zeigt,  durch 
seine  Gesetze  den  eigentlichen  Kern  jener  fruheren  Edicte  zer- 
stort  und  dieselben  in  der  Hauptsache  fur  den  Adel  unschadlich 
gemacht.  Allein  Basilius  II.  hat  den  Kampf  gegen  denselben 
aufs  Neue  aufgenommen,  er  hat  durch  das  Erlassen  neuer  Edicte 
und  durch  energische  Ausfiihrung  derselben  einen  Theil  jener 
grossen  Familien  geradezu  vernichtet,  freilich  aber  dabei,  wie 
Gfrorer  bemerkt,  weit  mehr  das  Interessb  der  Staatskasse  als  daa 
der  unterdriickten  Bauern  verfolgt.  Auf  wenig  sicherem  Grrunde 
beruht  die  folgende  Darstellung  der  kirchlichen  Politik  des 
Basilius ,  der  Yerfasser  sucht  nachzuweisen ,  dass  dieser 
Kaiser  mit  der  Geistlichkeit  ein  Uebereinkommen  geschlossen 
habe,  durch  welches  er  derselben  gewisse  Vortheile  (Besetzung 
der  Metropolitenstuhle  durch  den  Patriarchen,  freie  Verfiigung 
der  Bischofe  iiber  die«Einkiinfte  ihrer  Stifter).  eingeraumt  habe, 
wofur  jene  aber  auf  den  friiher  von  ihr  erstrebten  und  zum 
Theil  auch  behaupteten  Einfluss  auf  die  Staatsregierung  ver- 
zichtet,  dem  Kaiser  die  Ernennung  der  Patriarchen  iiberlassen 
und  auch  in  ihrem  Yerhaltniss  zu  der  romischen  Kirche  sich 
ganz    als  Werkzeug   der   kaiserlichen  Politik   habe  gebrauchen 


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Gfr&rer,  Aug.  Fr„  Byzantinische  Geschichten.  11 

lassen  miissen.  Es  folgt  nun  bis  zum  Schluss  des  Bandes  eine 
metr  zusammenhangende  Geschichte  der  Zeit  vom  Tode  Basi- 
Iras  IL  (1025)  bis  zum  Untergange  des  Romanus  Diogenes  (1072). 
Besonders  eingehend  behandelt  Gfrorer  die  Regierung  des  Kaisers 
Constantin  Monomachus  (1042—1054).  Dieselbe  ist  von  Wichtig- 
keit  einmal  daher,  weil  unter  ihr  der  Kampf  gegen  die  auf- 
strebende  Macht  der  Seldschucken  beginnt,  welcher  schliesslich 
fiir  das  byzantinische  Reich  eine  so  unheilvolle  Wendung  ge- 
nommen  hat.  Schauplatz  der  ersten  Kampfe  zwischen  beiden 
Machten  ist  Armenien ,  und  davon  nimmt  der  Verf.  Veranlassung, 
sich  in  einer  ausgedehnten  Digression  iiber  die  Verhaltnisse 
dieses  Landes  zu  verbreiten.  Er  schildert,  gestiitzt  auf  St.  Martin, 
znnachst  die  Beschaffenheit  und  Eintheilung  desselben,  er  giebt 
dann  eine  Uebersicht  iiber  die  friihere  Geschichte  desselben  und 
er  behandelt  dann  ausfiihrlich  die  Politik,  welche  die  byzantinische 
Regierung  demselben  gegeniiber  verfolgt  hat.  Armenien  steht 
seit  der  Mitte  des  7.  Jahrhunderts  unter  arabischer  Hoheit,  dort 
herrschen  zu  Anfang  arabische  Statthalter,  doch  seit  der  Mitte 
des  8.  Jahrhunderts  iiberlassen  die  Khalifen  die  Herrschaft  dort 
einheimischen  Fiirsten  aus  dem  Geschlechte  der  Pagratiden.  Der 
Pagratide  Aschod  erhalt  885  von  dem  Khalifen  Mutamid  die 
Konigswiirde ,  doch  sucht  er  und  ebenso  auch  sein  Nachfolger 
Sempad  gleichzeitig  auch  eine  Annaherung  an  das  byzantinische 
Reich.  Die  Politik,  welche  Kaiser  Leo  VI.  und  dessen  Nach- 
folger verfolgen,  urn  den  Arabern  in  Armenien  entgegenzuarbeiten, 
besteht  darin,  dass  sie  einzelne  Grosse  des  Landes  bewegen, 
flmen  ihre  Gebiete  abzutreten,  wogegen  sie  sie  mit  hohen  Wtirden 
im  byzantinischen  Staatsdienste  und  mit  anderwarts  gelegenen 
Landereien  ausstatten.  So  wird  einer^eits  die  byzantinische 
Herrschaft  fiber  armenische  Gebiete  ausgebrettet  und  anderer- 
seits  treten  im  byzantinischen  Reiche  hohe  Adelsfamilien  arme- 
nischer  Herkunft  (so  die  Taroniten  und  die  Tornikier)  hervor. 
Im  10.  Jahrhundert  beginnt  in  Folge  des  Verfalles  der  arabischen 
Macht  und  der  unglucldichen  Kampfe  derselben  gegen  die  Byzan- 
tiner  fur  Armenien  eine  gluckliche  Zeit,  doch  theilt  sich  dasselbe 
in  mehrere  Herrschaften  (ausser  den  verschiedenen  Zweigen  der 
Pagratidischen  Familie  in  Ani,  Kars  und  Lori,  giebt  es  noch 
besondere  Furstenhauser  in  Tovin  und  Waspuragan)  und  diese 
Zersplitterung  und  die  in  Folge  derselben  ausbrechenden  Zwistig- 
keiten  werden  von  der  byzantinischen  Politik  ausgebeutet. 
BaBiHus  IL  bemachtigt  sich  Iberiens  und  veranlasst  den  von  den 
Arabern  bedrangten  Fiirsten  von  Waspuragan,  ihm  sein  Land 
abzutreten  und  sich  mit  dem  grossten  Theile  seines  Volkes  in 
Cappadocien,  tun  Sebaste,  anzusiedeln.  Dieselbe  Politik  verfolgen 
auch  Baflilius'  Nachfolger,  Constantin  Monomachus  nothigt 
•chliesslich  den  Oberkonig  Kagig  von  Ani,  ihm  ebenfalls  sein 
Reich  zu  iiberlassen,  und  sich  auch  in  Cappadocien,  das  dann 
wegen  der  zahlreichen  dort  befindlichen  armenischen  Colonien 
den  Namen  Klein  -  Armenien   erhalt,   niederzulassen.     So  steht 

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12  Gfrfaer,  Aug.  Fr.,  Byzantinische  Geschichten. 

Armenien  unter  griechischer  Herrschaft,  als  dort  seit  1048  die 
Einfalle  der  Seldschucken  beginnen,  Constantin  Monomachus 
kampft  dort  gegen  Togrul-Beg,  ihm  gelingt  es  noch,  das  Land 
zu  behaupten.  Ein  zweiter  wichtiger  Punkt  der  Geschichte 
dieses  Kaisers  sind  die  kirchlichen  Verhaltnisse.  Er  erhebt  im 
Jahre  1043  Michael  Cerularius  zum  Kaiser,  doch  muss  derselbe 
auf  die  von  Basilius  EL  zugestandene  Selbstverwaltung  des  Kirchen- 
vermogens  verzichten.  Constantiii  kniipft  dann  Verbindungen 
mit  dem  Papstthum  an,  theils  aus  Griinden  ausserer  Politik, 
urn  namlich  im  Bunde  mit  demselben  in  Italien  die  Normannen, 
welche  den  Rest  der  dortigen  byzantinischen  Besitzungen  be- 
drohen,  zu  bekampfen,  theils  aber  auch,  wie  Gfrorer  behauptet, 
um  gestiitzt  auf  dasselbe  und  auf  die  clericale  Partei  in  seinem 
eigenen  Reiche  die  durch  Auflehnung  der  Generale,  des  hohen 
Clerus  und  der  Beamtenhierarchie  zerriittete  Monarchie  aufrecht 
zu  erhalten,  er  befiirdert  daher  den  Versuch  Papst  Leo  IX.,  die 
byzantinische  Kirche  wieder  der  romischen  zu  unterwerfen.  Aber 
dieser  Versuch  scheitert  an  dem  Widerstande  des  Patriarchen 
und  des  hohen  Clerus,  welcher  die  Unterordnung  unter  Rom 
nicht  will,  und  in  der  hohen  Aristokratie  sowie  in  der  Mit^ 
regentin  des  Kaisers,  der  Schwagerin  desselben  Theodora,  seine 
Stiitze  findet.  Eine  papstliche  Gesandtschaft  erscheint  zwar 
1054  in  Constantinopel ,  der  widerspanstige  Patriarch  wird 
von  ihr  gebannt,  aber  derselbe  entziindet  einen  Volksauf- 
stand,  durch  diesen  wird  der  Kaiser  zum  Nachgeben  be- 
wogen  und  es  erfolgt  so  die  vollstandige  Trennung  der  grie- 
chischen  von  der  romischen  Kirche.  Der  Nachfolger  Constantins 
und  der  Theodora,  Michael  Stratioticus ,  welcher  ebenfalls 
das  Kaiserthum  von  dem  Einfluss  der  hohen  Aristokratie 
zu  emancipiren  sucht,  wird  bald  durch  eine  Emporung 
der  hochadligen  Generale  gestiirzt  und  von  diesen  wird  Isaac 
Comnenus  auf  den  Thrdn  erhoben,  auch  dieser  aber  dankt  schon 
1059  ab,  wie  Gfrorer  zu  zeigen  sucht,  nicht  freiwillig,  sondern  ge- 
zwungen  durch  eben  dieselbe  aristokratische  Partei,  deren  Inter- 
essen  er  sich  auch  nicht  hat  hingeben  wollen.  Darauf  soil 
nach  Gfrorer  eine  formliche  Veranderung  der  Verfassung  des 
Reich  es  erfolgt,  dasselbe  soil  in  eine  Wathlmonarchie  verwandelt, 
die  Theilung  der  Herrschaft  unter  Mehrere  festgesetzt,  dem 
Patriarchen  eine  schiedsrichterliche  Stellung  zwischen  dem 
Kaiserthum  und  dem  Senate,  den  Uauptern  der  allmahlich  neben 
jener  militarischen  ausgebildeten  Beamtenaristokratie,  eingeraumt 
worden  sein.  Der  neue  Kaiser  Constantin  Ducas  ( — 1067)  sieht 
sich  genothigt,  das  Mark  des  Landes  dieser  Aristokratie  zu  iiber- 
lassen,  daher  gesteigerter  Steuerdruck  und  doch  Verfall  des 
Heerwesens,  der  schon  friiher  wiederaufgenommene  Krieg  gegen 
die  Seldschucken  nimmt  jetzt  die  ungiinstigste  Wendung,  1064 
erobert  Alp-Arslan  Ani,  doch  folgt  auch  jetzt  noch  der  armenische 
Fiirst  von  Kars  dem  friiher  von  seinen  Landsleuten  gegebenen 
Beispiele,  er  tritt  sein  Gebiet  an  das  byzantinische  Reich  ab  und 

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Gfrorer,  Aug.  Fr.,  Byzantinischo  Geschichten.  13 

erhalt  ebenfalls  Wohnsitze  in  Cappadocien.  Constantin  Ducas 
hiiiferlasst  bei  seinem  Tode  die  Krone  seinem  unmiindigen  Sohne 
Michael  and  ubertragt  die  Regentschaft  fur  denselben  seiner 
Gemahlin  Eudocia,  welche  schworen  muss,  sich  nicht  wieder  zu 
vermahlen.  Doch  erkennt  Eudocia  bald  bei  der  trostlosen  Lage 
des  Reiches,  der  Zerriittung  des  Heerwesens,  den  Fortschritten 
der  Feinde  (Alp-Arslan  hat  schon  fast  ganz  Armenien  und  den 
grossten  Theil  der  byzantinischen  Besitzungen  in  Mesopotamien 
und  Syrien  erobert)  die  Nothwendigkeit,  sich  eine  festere  Stutze 
zu  suchen,  sie  vermahlt  sich  daher  mit  dem  tapferen  Krieger  Romanus 
Diogenes  und  erhebt  denselben  zum  Mitkaiser.  Der  Regierung 
dieses  Romanus  Diogenes  widmet  Gfrorer  eine  sehr  ausfuhrliche 
Darstellung,  unter  genauer  Untersuchung  auch  der  geographischen 
Verhaltnisse  schildert  er  die  drei  Feldzuge,  welche  derselbe 
1068,  1069  und  1071  gegen  Alp-Arslan  unternommen  hat.  Die 
Schuld  an  dem  ungliicklichen  Ausgange  des  letzteren,  an  der 
Niederlage  und  Gefangennehmung  des  Kaisers,  schreibt  er  dem 
Verrathe  einmal  der  von  jeher  demselben  feindlichen  Hofpartei, 
andererseits  der  im  Heere  befindlichen  Kleinarmenier  zu.  Ro- 
manus Diogenes  muss  mit  dem  Sultan  einen  Vertrag  unter  schweren 
Bedingungen  abschliessen,  er  muss  sich  zur  Zahlung  eines  hohen 
Losegeldes  und  eines  jahrlichen  Tributes  verpflichten  und  als 
Unterpfand  demselben  Armenien  und  einen  Theil  von  Kleinasien 
uberlassen.  Er  erhalt  darauf  die  Freiheit,  inzwischen  aber  ist 
in  Constantinopel  die  Hofpartei  ans  Ruder  gekommen,  hat  auch 
Eudocia  ins  Kloster  entfernt,  durch  sie  findet  Romanus  Diogenes 
1072  seinen  Untergang;  die  Nichterfiillung  des  von  ihm  abge- 
8chlo8senen  Yertrages  fiihrt  dann  dazu,  dass  Alp-Arslan  den 
grossten  Theil  von  Kleinasien  erobert,  wahrend  gleichzeitig  die 
kleinarmenischen  Fiirsten  die  Gelegenheit  benutzen,  urn  sich  von 
der  byzantinischen  Herrschaft  loszureissen  und  auf  Kosten  der- 
selben  weiter  auszudehnen.  Den  Umfang  des  den  Griechen 
gebliebenen  Gebietes  in  den  siidlichen  und  westlichen  Kiistenland- 
8chaften  sucht  Gfrorer  mit  Hiilfe  des  venetianischen  Berichts 
bei  Dandolo  und  der  Urkunde  Kaiser  Alexius  I.  fur  Venedig 
Tom  Jahre  1084  festzustellen ,  er  zeigt,  dass  damals  in  Klein- 
asien eine  Veranderung  der  Militarverfassung  vorgenommen,  dass 
ein  langs  der  gesammten  Grenze  sich  hinziehender  Militarbezirk 
(Choma)  eingerichtet  worden  ist,  dass  dieser  Name  aber  spater 
nach  den  gliicklicheren  Kampfen  unter  Alexius  auf  eine  kleine 
Landschaft  um  den  Gebirgsstock  des  Kadmus  beschrankt  worden 
ist  Gleichzeitig  mit  diesen  grossen  Verlusten  im  Osten  gingen 
dem  byzantinischen  Reiche  auch  seine  letzten  Besitzungen  in 
Ualien  verloren,  1071  fiel  dort  Bari,  bisher  die  Hauptstadt  des 
piechischen  Apuliens,  in  die  Hande  des  Normannenherzogs  Robert 
6m8card. 

So  weit  reicht  die  Arbeit  Gfrorers,   der  Herausgeber  stellt 
eine  Fortsetzung   in   Aussicht,  welche  in   einem  vierten  Bande 

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14        Miihlbacher,  Dr.  E.,  Die  streitige  Papstwahl  des  Jahres  1130. 

die  Geschichte  des  byzantinischen  Reiches  in  der  Zeit  der  Kreuz- 
ziige  behandeln  soil. 

Berlin.  F.  Hirsch. 


IV. 

Muhlbacher,  Dr.  L,  Die  streitige  Papstwahl  des  Jahres  1130. 

gr.8°.  (VII,  211 S.)  Innsbruck,  1876.  Wagner'sche  Universitats- 
Buchhandlung.     5,60  Mark. 

Der  Verfesser,  ein  Schiller  Ficker's,  dem  auoh  das  Buch 
gewidmet  ist,  hat  sich  der  Aufgabe  unterzogen,  die  Doppelwahl 
des  Jahres  1130  noch  einmal  genau  zu  untersuchen.  Der  letzten 
auf  den  Gegenstand  beziiglichen  Arbeit  —  von  Zopffel  —  wirft 
er,  iibrigens  unter  Anerkennung  manches  Verdienstlichen ,  in 
erster  Linie  mangelhafte  Kritik  der  Quellen  vor:  dann  aber  habe 
Z.  auch  das  Ereigniss  allzu  wenig  im  Zusammenhange  mit  dazu 
gehorigen  Vorgangen  betrachtet  und  seine  Darstellung  von  Ein- 
seitigkeit  nicht  frei  zu  halten  vennocht.  Gleichwohl  hat  M.  die 
aus  dem  Stoff  sich  ergebende  Gliederung  Zopffefs  beibehalten, 
die  Untersuchung  aber  weiter,  als  dieser  erstreckt,  namlich  auch 
noch  bis  auf  die  Anerkennung  Innocenz'  IL  Ausserdem  sind 
drei  Beilagen  gegeben,  deren  erste  „Ueber  das  Stimmenverhalt- 
niss  bei  den  Papstwahlen  von  1059 — 1179"  handelt,  wahrend 
die  zweite  sich  iiber  „Die  Synode  von  Etampes"  verbreitet.  Zum 
Schlusse  folgt  ein  ausfuhrlicher  Aufisatz:  „Zur  Kritik  der  Vita 
Norberti  C.  21".  Obwohl  vor  dem  Erscheinen  des  Miihlbacher'- 
schen  Buches  Rosenmund's  Arbeit  „Die  altesten  Biographieen 
des  h.  Norbert"  theilweise  dieselben  Argumente  fiir  die  Glaub- 
wiirdigkeit  des  Cap.  21  gebracht  hatte,  konnte  sich  der  Verf. 
nicht  uberzeugen,  dass  seine  Untersuchung  uberfliissig  geworden 
und  hat  sie  demnach  unverandert  gegeben,  nur  dass  in  einigen 
Anmerkungen  nachtraglich  auf  Rosenmund  verwiesen  wurde. 

M.  geht  nach  den  Grundsatzen  der  diplomatischen  Kritik 
zu  Werke  und  behandelt  daher  zunachst  (S.  1 — 20)  die  unmittel- 
baren  Quellen,  dann  (S.  31 — 40)  die  mittelbaren;  die  Quellen- 
litteratur  selbst  ist  eine  sehr  reiche. 

Unter  den  Quellen  der  ersten  Art  kommen  zuerst  die 
Manifeste  der  Papste  und  ihrer  Wahler  in  Betracht.  Die  Berichte 
beider  Papste  entstellen  aus  personlichen  Interessen  die  Wahr- 
heit,  „bieten  fur  die  Gesohichte  der  Wahl  ausserst  sparliche 
Ausbeute  und  sind  mehr  geeignet,  die  beiden  Nebenbuhler,  ihre 
Parteien  und  Kampfweise  zu  charakterisiren".  Die  Schreiben 
der  Wahler  mussten  auf  die  Thatsachen  naher  eingehen,  aber 
auch  hier  bestimmt  der  Zweck  den  Inhalt;  sie  entstellen  beide 
die  Wahrheit ,  bringen  aber  immerhin  einige  neue  Details.  Auch 
eine  Kundgebung  der  Vornehmen  und  Magistrate  von  Rom  vom 
18.  Mai  liefert,  wie  die  iibrigen  Manifeste,  fiir  die  Geschichte  der 
Wahl  nur  getingen  Gewinn. 

„Von  desto  grosserer  Bedeutung   ist  ...  .    der   Brief  des 

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Mfihlbacher,  Dr.  E.,  Die  etreitige  Papstwahl  des  Jahres  1130.        15 

romischen  Clems  und  des  Volkes  an  den  Erzbischof  Didacus 
von  Compostella.  Zwar  wurde  das  Schreiben  im  Auftrage 
Anaclet's  IL  von  einem  seiner  Anhanger  verfasst,  ist  auch  nicht 
ohne  Parteifarbung  nnd  verschweigt  die  entgegenstehenden  That- 
sachen,  ist  aber  ruhig  nnd  leidenschaftslos  gehalten  nnd  sucht 
uberzeugungstreu ,  bestimmt  nnd  klar  referirend,  die  kanonische 
Wahl  Anaclet's  zu  erweisen.  Der  Verfasser,  Augenzeuge  und 
Theilnehmer  der  Wahl,  ist,  wie  umstandlich  gezeigt,  der  Cardinal- 
priester  Peter  von  Pisa.  M. ,  welcher  annimmt,  Peter  sei  nicht 
aus  eigenniitzigen  Griinden  Anaclet's  Anhanger  gewesen,  kommt 
zu  dem  Resultat:  „Handelte  Peter  damals  nach  seiner  ehrlichen 
Ueberzeugung,  dann  ist  anch  sein  Bericht  yon  derselben  dictirt, 
dann  gewinnt  auch  dieser  urn  so  grossere,  er  gewinnt  unbedingt 
die  grosste  Glaubwiirdigkeit  unter  alien  Parteikundgebnngen ;  er 
ist  somit  die  erste  Quelle  iiber  die  Papstwahl  von  1130."  Von 
Bedeutung  ist  auch  der  —  gleichfalls  dem  Papste  Anaclet 
gunstige  —  offene  Brief  Peter's  von  Porto.  Derselbe  polemisirt 
gegen  ein  Manifest  der  Gegner,  allein  nicht  gegen  das  nns 
erhaltene,  sondern  gegen  ein  Schriftstiick ,  das  nicht  auf  una 
gekommen.  Spuren  eines  solchen,  an  sich  ja  sehr  wahrschein- 
Hchen  Documentes  werden  nachgewiesen.  G-anz  unparteiisch  ist 
der  Brief  selbstverstandlich  nicht. 

Dasselbe  gilt  von  der  hervorragendsten  abgeleiteten  Quelle, 
dem  Briefe  des  Bischofs  Hubert  von  Lucca  an  Norbert.  Er  war 
gut  informirt,  bezweckt  nicht,  fur  seine  Partei  —  er  ist  Anhanger 
Innocenz'  IL  —  zu  werben,  will  nur  seinen  Standpunkt  dar- 
thun.  Er  gesteht  selbst  Ordnungswidrigkeiten  auf  Seiten  seiner 
Partei  zu,  bringt  iibrigens  einige  neue  Nachrichten.  Aber  so 
gross  ist  Hubert's  Wahrheitsliebe  denn  doch  nicht,  dass  er  nicht 
Unbequemes  zu  bemanteln  und  zu  verschweigen  bemiiht  ware. 
„Nicht  geringes  Interesse  beansprucht  auch  ein  Brief  Walter's 
von  Ravenna  an  den  Erzbischof  Konrad  von  Salzburg."  Die 
Nachrichten  Walter's  sind  erst  aus  zweiter  Hand,  seine  Daten 
durftig,  aber  beach tenswerth.  Gleichwohl  ist  seine  Wahrheits- 
liebe nicht  hoch  anzuschlagen ,  wie  sich  in  einem  zweiten  Brief 
an  Norbert  zeigt;  er  wunscht  durch  Norbert's  Einfluss  auf 
Lothar  die  deutschen  Waffen  fur  Innocenz  in  Bewegung  zu 
setzen.  Somit  ist  sein  Schreiben  fiir  die  Geschichte  der  Wahl 
werthlos,  werthvoll  nur  als  Beitrag  zur  Taktik  seiner  Partei. 

Was  die  Berichte  der  Geschichtschreiber  betriflft,  so  lasst 
nns  die  amtliche  Darstellung  der  Papstgeschichte  im  Stich.  Bei 
den  ubrigen  Chronisten  vermissen  wir  fast  durchwegs  genauere 
und  selbstandige  Nachrichten;  nur  die  Historiker  Frankreichs 
machen  eine  Ausnahme.  Da  beide  Papste  sich  besonders  urn 
Frankreichs  Anerkennung  bemiihten,  so  wurde  den  franzosischen 
Chronisten  die  Gelegenheit  geboten,  die  Kundgebungen  beider 
Parteien  zu  benutzen.  Unter  den  beziiglichen  Relationen  behauptet 
die  von  Suger  den  ersten  Platz.  Er  ist  genau  unterrichtet,  be- 
weist  Wahrheitsliebe,  strebt  nach  Unparteilichkeit.  „Einen  inter- 
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16        Muhlbacher,  Dr.  E.,  Die  streitige  Papfltwahl  des  Jahres  1130. 


!+Y 


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essanten  Bericht  bietet  auch  das  zweite  Buch  der  Chronik  von 
Morigny."  Da  der  Verfasser  nur  fur  sein  Kloster  schrieb,  konnte 
seine  Darstellung  unbefangen  sein  und  darf  Glauben  beanspruchen. 
Er  schopfte  aus  unmittelbaren  Quellen.  Die  Darstellung  bekundet 
selbstandige  Prufung  der  Parteikundgebungen ,  bringt  iiber  die 
Wahl  nichts  wesentlich  Neues,  aber  werthvolle  Nachrichten  iiber 
die  Familie  der  Pierleoni  und  die  Jugend  Anaclet's.  In  das 
Gebiet  der  geschichtlichen  Entstellung  fuhrt  uns  schon  der 
Bericht  Ernald's,  des  zweiten  Biographen  des  h.  Bernhard,  der 
um  1160  schrieb.  1st  sein  Bericht  aber  auch  fur  die  Sache 
selbst  werthlos,  so  ist  er  um  so  werthvoller  zur  Charakterisirung 
der  Chronisten,  wenn  Parteinahme  ihre  Feder  fuhrte.  Aus  dem 
Schoosse  der  Reformpartei  in  Frankreich  ging  ein  anderer 
Wahlbericht  hervor,  der  1133  geschrieben  ist.  Nicht  ganz  ohne 
Interesse  sind  die  Nachrichten  der  Chronik  des  Andreasklosters 
zu  Chateau-Cambresis ;  sie  beruhen  wesentlich  auf  Darstellungen 
der  anacletischen  ParteL  Der  Carthauserprior  Guigo  tritt  fUr 
Innocenz  ein,  ebenso  wenden  sich  die  Gesta  Pontificum  Ceno- 
manensium  gegen  Anaclet;  Honorius  von  Autun  und  spatere 
Chronisten  geben  einfoch  das  Factische. 

Was  die  englischen  Quellen  angeht,  so  ist  der  Bericht  Wil- 
helm's  von  Malmesbury  „nicht  viel  mehr  als  ein  Auszug  des 
Briefes  Peter's  von  Porto".  Ordericus  Vitalis  schopfte  nur  aus 
mundlicher  Ueberlieferung,  daher  verschiedene  Irrthiimer:  andere 
englische  Quellen  sind  ausser  den  fiir  einige  chronologische 
Daten  wichtigen  Annalen  von  Margan  unbedeutend.  Diirftig 
sind  die  italienischen ,  am  diirftigsten  die  deutschen  Quellen. 
Letzteren  Umstand  erklart  der  Verfasser  daraus,  dass  im  Gegen- 
satz  zu  Frankreich  die  Doppelwahl  von  1130  die  Aufmerksam- 
keit  Deutschlands  wenig  fesselte.  Parteischriften  endlich  der 
gehassigsten  Art  sind  der  Brief  des  Manfred  von  Mantua  an 
Lothar  und  die  Invective  Arnulf  s  von  Seez  gegen  Gerard  von 
Angouleme.  Namentlich  Potthast  gegeniiber  hebt  der  Verfasser 
hervor,  dass  die  letztgenannte  Schrift  nur  geringen  Inhalt  an 
historischer  Wahrheit  habe. 

Von  S.  59  an  beginnt  die  Darstellung  der  WahL  Cap.  I 
schildert  die  Parteien  und  Parteiungen  in  Rom.  Hier  streiten 
seit  1116  die  Frangipani  und  die  Pierleoni  um  die  Oberhand. 
Heinrich  V.  gewann  erstere,  wahrend  Papst  Paschalis  den  letz- 
teren hold  war.  Gegeniiber  Gelasius  II.  blieben  die  Frangipani 
Sieger,  unter  Calixt  II.  werden  die  Frangipani  gedemuthigt. 
Nach  Calixt's  Tode  1124  erfolgte  eigentlich  schon  eine  Doppel- 
wahl: doch  wurde  die  Irrung  beseitigt,  indem  der  Candidat  odor 
Erwahlte  der  Pierleoni  zuriicktrat.  Eine  besondere  Rolle  spielt 
bei  dieser  Wahl  die  Rivalitat  der  Cardinalpriester  gegen  die 
durch  das  Wahldecret  Nicolaus'  II.  bevorzugten  Cardinalbischofe : 
jene  mochten  die  Wahl  unter  sich  monopolisiren  imd  verbiin- 
den  sich  1124  mit  den  Pierleoni,  die  ein  Familienglied  in  ihren 
Reihen  zahlten.    Die  Stellung  der  Partei  ist  1130  im  allgemeinen 


MUhlbacher,  Dr.  E.,  Die  streitige  Papstwahl  des  Jahres  1130.        17 

dieselbe,  nur  dass  noch  eine  dritte,  die  Vermittlungspartei,  auf- 
tritt,  gefiihrt  von  Peter  von  Pisa  und  dem  Bischof  von  Porto. 

An  der  Spitze  der  Cardinalbischofe  steht  diesmal  kein  Fran- 
gipane,  sondern  der  Kanzler  Haimerich.  Auch  fuaf  Cardinal- 
priester  halten  zu  ihm.  Riicksichten  auf  den  Kaiser  bestimmen 
Haimerich's  Stellung  nicht,  hochstens  Sorge  urn  das  eigene 
Interesse,  da  er  unter  einem  Papst  aus  dem  Hause  der  Pierleoni 
das  wichtige  Kanzleramt  kauin  behalten  konnte.  Von  den  Car- 
dinalpriestern  bewirbt  sich  ein  Pierleone,  der  Cardinal  von 
S.  Calisto,  um  die  Tiara.  Sein  offentliches  Verhalten  war  bisber 
kirchlich  correct  gewesen,  personliche  Eigenschaften  enipfahlen 
ihn,  sein  Privatleben  erscheint  nicht  unantastbar,  auch  war  er 
Bestechungen  nicht  unzuganglich  gewesen.  Der  Cardinal  von 
S.  Calisto  konnte  iibrigens  nicht  auf  die  Stimmen  sammtlicher 
Cardinalpriester  zahlen;  sein  Anhang  bildet  die  Minderheit.-  Das 
zweite  Capitel  fiihrt  uns  zu  den  „Vorberathungen".  Wahl- 
besprechungen,  die  Haimerich  unter  dem  Vorwande  einer  Noth- 
lage  bereits  wahrend  der  letzten  Lebenstage  Honorius'  angekniipft 
wissen  wollte,  wurden  von  der  Mittelpartei  unter  Hinweis  auf 
die  kanonischen  Vorschriften  abgeschnitten.  Dagegen  wurde  im 
Schoosse  der  Mittelpartei  hochst  wahrscheinlich  erwogen,  wie 
man  den  kirchlichen  Frieden  aufrecht  erhalten  konnte.  Eine 
lebhafte  Bewegung,  die  in  Folge  der  irrthiimlichen  Nachricht 
vom  Tode  des  Papstes  entstand,  veraulasste  die  Cardinale  wie- 
derum  zusammen  zu  treten,  und  dem  friiheren  Beschluss  zuwider 
erwahlten  sie  acht  Vertrauensmanner ,  die  sich  iiber  die  Person 
des  eventuellen  Nachfolgers  einigen  sollten.  Mit  Recht  hebt  der 
Verfasser  hervor,  keinen  Glauben  verdiene  die  Nachricht  Hu- 
bert's von  Lucca,  es  sei  beschlossen  worden,  den  anzuerkennen, 
den  «pars  sanior"  —  nicht  einmal  die  Majoritat!  —  der  Ver- 
trauensmanner  erwahlt  habe.  Dass  man  sich  zu  den  anfangs 
verworfenen  Vorberathungen  bequemte,  war  eine  miihsam  er- 
strittene  Concession  an  Haimerich's  ParteL  Der  Ausschuss  wurde 
nicht  durch  das  Plenum  gewahlt,  sondern  durch  die  3  Gruppen 
der  Cardinal-Bischofe, -Priester  und-Diakone;  nur  auf  eine  Stimine 
konnte  Pierleone  sicher  rechnen,  die  Mehrzahl  staud  dem  Kanzler 
zur  Verfiigung.  ^Damit  ist  die  Niederlage  des  Cardinals  von 
S.  Calisto  entschieden,  wenn  auch  seinen  Gegnern  der  Siog  noch 
nicht  gesichert." 

Jetzt  tritt  auch  der  Candidat  des  Kanzlers  in  den  Vorder- 
grund,  Gregor  aus  dem  romischen  Hause  der  Papareschi,  durch 
seinen  unantastbaren  Ruf  empfohlen,  aber  nicht  froi  von  Wankel- 
muth.  —  Seine  Wahl  war  trotz  aller  Vortheile,  welche  der 
Kanzler  noch  vor  Honorius'  Tode  errang ,  nicht  gesichert :  die 
Entscheidung  schien  vielmehr  in  der  Hand  einer  uninteressirten 
Mittelpartei  zu  liegen,  und  wenn  man  dieser  nicht  durch  eine 
vollendete  Thatsache  zuvorkam,  war  es  immerhin  moglich,  dass 
man  keinen  der  Partei-Candidaten,  sondern  eine  dritte  Person- 
lichkeit  wahlte.    Honorius  starb,   wie   der  Verfasser    nachweist, 

MlUbeUaogcu  a.  d.  histor.  Litteratar.    VI.  2 

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18        Muhlbacher,  Dr.  E„  Die  streitige  Papstwahl  des  Jahres  1130. 

in  der  Nacht  vom  13.  zum  14.  Februar:  urn  seine  Plane  durch- 
zusetzen,  war  es  nothwendig,  dass  der  Kanzler  den  Tod  noch 
verheimlichte ;  keiner  der  Cardinale  durfte  das  Zimmer  des 
Papstes  betreten. 

Nun  waren  aber  die  Cardinale  der  Mittelpartei,  die  in  ge- 
ringer  Anzahl  sich  neben  den  Anhangern  des  Kanzlers  noch  be- 
fanden,  hochst  misstrauisch  geworden  und  setzten  duroh,  dass 
bei  Strafe  des  Bannes,  wie  schon  in  den  Vorberathungen  be- 
stimmt,  an  die  Wahlhandlung  erst  gegangen  werde,  nachdem  der 
Papst  gebuhrend  begraben  und  der  Wahlausschuss ,  sowie  das 
Cardinalcollegium  uberhaupt  berufen  sei.  Da  liess  man  plotz- 
lich  den  Todten  von  Laien  nach  dem  Kloster  schaffen,  senkte 
ihn  dort  in  ein  gewohnliches  Grab  und  schritt  nun  zur  Wahl, 
nachdem  der  Buchstabe  des  Eidschwures  beobachtet  war.  El£ 
hochstens  fiinfzehn  Wahlberechtigte  (kaum  ein  Drittel  des  Car- 
dinalcollegiums)  wahlen,  gegen  die  allgemein  giiltigen  Vorschriften 
und  gegen  die  fur  diesen  Fall  eidlich  bekraftigten  Verabredungen, 
einstimmig  den  Cardinaldiakon  Gregor  von  S.  Angelo  und  rufen 
ihn  als  Papst  Innocenz  II.  aus.  Mit  derselben  Hast  geht  alles 
weitere  vor  sich.  „Die  Wahl  Innocenz'  II.  ist  eine  ganz  unkano- 
nische." 

Die  Mittelpartei  war  vollstandig  bei  Seite  geschoben;  da  sie 
das  Unrecht  unmoglich  gutheissen  konnte,  blieb  ihr  nichts  iibrig, 
als  in  das  Lager  der  Pierleoni  iiberzugehen.  Diesen  ward  der 
Sieg  duroh  die  iibelangebrachte  Voreiligkeit  der  Gegner  erleich- 
tert.  Sie  beriefen  die  Wahler  nach  S.  Marco :  die  Mehrzahl  der 
Cardinale  fand  sich  ein,  auch  viele  vom  Klerus  und  AdeL  Alle 
gesetzlichen  Vorschriften  wurden  piinktlich  beobachtet,  die  Wahl 
Innocenz'  als  unkanonisch  verdammt.  Pierleone  schlug  als  Can- 
didaten  den  Bischof  Peter  von  Porto  vor,  dieser  bezeichnete 
jenen  als  den  wiirdigeren:  einstimmig  ward  er  gewahlt,  unter 
Zu8timmung  von  Volk  und  Klerus  als  Anaclet  II.  ausgerufen, 
die  Wahl  auch  durch  Peter  von  Porto  formell  bestatigt.  Damit 
war  indess  auch  diese  Wahl  keineswegs  unantastbar.  Eine  zweite 
Wahl  konnte  rechtmassig  erst  erfolgen ,  wenn  die  erste  auf  le- 
galem  Wege  annullirt  war;  zudem  war  Innocenz  nicht  nur 
friiher  gewahlt,  sondern  auch  friiher  immantirt  und  inthronisirt. 

Als  Leo  Frangipani  die  Wahl  Anaclet's  erfuhr,  rief  er  seine 
Anhanger  auf:  schon  nothgedrungen  musste  Leo  Pierleoni  ebenso 
verfahren.  Am  15.  Februar  begannen  die  offenen  Feindselig- 
keiten.  Die  Pierleoni  eroberten  Lateran  und  Peterskirche;  in 
dieser  ward  Anaclet  mit  allem  Pomp  am  23.  Februar  consecrirt, 
wahrend  Innocenz  IL  an  demselben  Tage  in  Maria  Nuova  die 
Weihe  empfing. 

Nun  bemiihen  sich  beide  Papste  um  die  Anerkennung  von 
Seiten  des  Kaisers:  Innocenz  macht  damit  den  Anfang,  indem 
er  sich  als  Vertreter  der  kaiserlichen  Interessen  darstellt  In 
Rom  gelangt  Anaclet  durch  sein  Geld  und  durch  Verschwen- 
dung  des  Kirchenschatzes  zu  unbedingter   Gewalt;   er  erkauft 


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selbst  die  Frangipani,  und  Innocenz  muss  nach  Pisa  fluchten. 
Allein  gorade  durch  seine  Gewaltthatigkeiten  schadet  -Anaclet 
seiner  Sache.  Beide  Papste  buhlen  um  Lothar's  Gunst:  dieser 
litest  Erkundigungen  einziehen,  vermeidet  aber  zunachst  jede 
offene  Parteinahme.  Anaclet,  an  der  Anerkennung  durch  Lothar 
zweifelnd,  wirft  sich  dem  antikaiserlichen  Koger  von  Sicilien  in 
die  Anne,  erhebt  dessen  Lande  zu  einem  Konigreich.  Somit 
wird  er  hier  als  apostolischer  Papst  anerkannt,  hat  aber  auf 
Deutschland  verzichtet. 

Innocenz  war  von  Pisa  nach  Genua,  von  dort  nach  Frank- 
reich  gegangen.  „Hier  lag  die  kirchliche  Entscheidung  zwischen 
beiden  Papsten."  Zwar  hatte  die  franzosische  Kirche,  die  Inno- 
cenz schon  vor  seiner  Flucht  aus  Rom  zu  einer  Erklarung  gegen 
Anaclet  hatte  vermogen  wollen,  sich  zuerst  reservirt  verhalten, 
jetzt  aber  fiind  Innocenz  in  Aries,  dann  in  Cluny  die  ehren- 
vollste  Aufaahme.  Die  Synode  von  Etampes,  die  Ludwig  VI.  be- 
rufen,  erklarte  nach  peinlichster  Abwagung  aller  einschlagiger 
Bestimmungen  ihn  fur  den  rechtmassigen  Papst.  Zu  Orleans 
leistete  der  Konig  die  Huldigung,  eine  zweite  Synode  erneuerte 
das  Gehorsamsgelubde ,  eine  dritte  sprach  iiber  '  Anaclet  den 
Bann  aus. 

Nicht  ohne  Miihe  ward  Heinrich  von  England  fur  Innocenz 
gewonnen,  weniger  Umstande  machte  Spanien.  Zu  heftigen  Par- 
teikampfen  kam  es  in  Aquitanien,  dessen  Herzog  Wilhelm  hart- 
nackig  an  Anaclet  festhielt.  Endlich  stimmte  auch  ihn  der  Abt 
von  Clairvaux  um:  nur  Schottland  beharrte  bis  zum  Tode  des 
Gegenpapstes  in  seinem  Widerstande  gegen  Innocenz.  „Die  kleine, 
streng-reformatorische  Partei  konnte  sich  indess  mit  der  Wahl 
Innocenz'  II.  nie  ganz  aussohnen." 

In  Deutschland  hatte  Norbert  eifrig  fur  Innocenz  gewirkt, 
und  so  erklarte  im  October  1130  eine  Synode  zu  Wurzburg 
diesen  fur  den  rechtmassigen  Papst.  Als  sich  derselbe  von 
Frankreich  nach  Liittich  begab,  um  mit  Lothar  eine  Zusammen- 
kunft  zu  haben,  empfing  ihn  der  Konig  auf  das  ehrenvollste. 
Auf  das  Ansuchen  aber,  zur  Vertheidigung  der  Kirche  einen 
Romerzug  zu  machen,  antwortete  er  mit  der  Riickforderung  des 
Investiturrechtes.  Davon  wollte  der  Papst  nichts  wissen,  was 
den  Konig  sehr  aufbrachte:  der  Abt  von  Clairvaux  stiftete  auch 
hier  Frieden. 

Von  Liittich  kehrte  Innocenz  nach  Frankreich  zuriick  und 
ging  dann  nach  Ober-Italien ,  wo  ihm  die  meisten  Stadte  ausser 
Mailand  sich  anschlossen.  Im  Spatherbst  langte  Lothar  in  Ita- 
lien  an :  nach  einer  Zusammenkunft  mit  Innocenz  riickten  beide 
gegen  Rom.  Die  Lage  Anaclet's  hatte  sich  inzwischen  so  ver- 
8chlimmert,  dass  er  sich  zu  Unterhandlungen  bereit  erklarte. 
Obgleich  Lothar  nicht  abgeneigt  war,  ein  friedliches  Abkommen 
zu  treflfen,  drangten  ihn  die  Bischofe  und  Cardinale,  die  um 
Innocenz  waren,  zu  entschiedeneren  Schritten.  Noch  einmal  wurden 
die  Unterhandlungen   erneut  und  die   Partei   Innocenz'  II.   gab 

2* 

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20  Bochholz,  E.  L.,  Die  Aargauer  Gossler  in  Urkunden  von  1250  bis  1518. 

nach,  dass  Anaclet  sich  einem  koniglichen  Gerichte  stelle.  Dieser 
schob  die  Ausfuhrung  auf  und  ward  in  die  Acht  gethan,  —  die 
Mittel  zur  Vollstreckung  derselben  aber  fehlten.  Am  30.  April 
zog  Lothar  in  Kom  ein,  wurde  von  seinem  Papste  gekront,  — 
nicht  einmal  in  der  Peterskirche ,  die  von  den  Pierleoni  besetzt 
war,  und  trat  Mitte  Juni  den  Ruckzug  an. 

Sofort  erhoben  sich  die  Anhanger  Anaclet's,  wiederum  floh 
Innocenz  nach  Pisa.  Bernhard  von  Glairvaux  gewann  dagegen 
Mailand  far  letzteren.  Da  Innocenz  ausser  in  Rom  und  Unter- 
Italien  allgemein  anerkannt  wurde,  bekiimmerte  sich  Lothar, 
der  1136  nach  Italien  aufbrach,  nicht  weiter  am  den  Zwist. 
Bernhard  von  Clairvaux  versuchte  seine  Ueberredungsgabe  auch 
an  Roger  von  Sicilien,  der  aber  einer  offenen  Erklarung  durch 
einen  schlauen  Kniff  auswich.  Als  Anaclet  bald  darauf  starb 
und  die  Pierleoni  im  Einverstandniss  mit  Roger  einen  Gegen- 
papst  —  Victor  IV.  —  aufetellten,  gewann  Innocenz  seine  Wider- 
sacher  durch  Geldzahlungen.  Ein  Nachspiel  fand  die  Doppel- 
wahl  von  1130  auf  dem  Lateranconcil  von  1139. 

Ob  es  nothig  war,  —  der  Verfasser  ist  dieser  Meinung  — 
in  den  Anmerkungen  eine  Ueberfiillo  von  detaillirten  Daten  und 
Citaten  abzulagern  (so  wird  z.  B.  der  Satz:  „Die  Romer,  die 
Curie  so  gut  als  die  Menge,  waren  ein  feiles  Volk",  durch  etwa 
20  Stellen  belegt),  lassen.wir  dahin  gestellt:  jedenfalls  zeugt 
die  Untersuchung  von  trefflicher  Schule  und  ergiebt  ein  an- 
nehmbares  Resultat. 
Berlin.  Wy.  Bm. 

V. 

Rochholz,  E.  L,  Die  Aargauer  Gessler  in  Urkunden  von  1250 
bis  1513.  8.  (XIV,  211  S.)  Heilbronn  1877.  Gebr.  Henninger. 
6  Mark. 

Dieses  Werk  ist  gewissermassen  ein  Supplement  zu  der 
grosseren  Arbeit  des  Verfassers:  Tell  in  Geschichte  und  Sage, 
die  Referent  im  3.  Hefte  des  5.  Jahrganges  der  Mittheilungen 
besprochen  hat.  Die  vorliegende  Schrift  zerfallt  in  2  Theile: 
in  ein  Vorwort  und  in  eine  Sammlung  von  Urkunden.  In  dem 
ersteren  giebt  der  Verfasser  die  Resultate,  welche  or  aus  dem 
sorgsamen  Studium  der  2.  Halfte  gewonnen  hat.  Die  Ergebnisse 
seiner  Forschungen  waren  schon  in  grossen  Ziigen  in  der  vorhin 
erwahnten  Arbeit  ausgesprochen.  Es  stellt  sich  demnach  als 
klar  erwiesen  heraus,  dass  niemals  ein  Gessler  Landvogt  in  Uri 
oder  Schwyz  gewesen  sei  und  dass  Tell  und  Gessler  durchaus 
nicht  zusammengehoren.  —  Auch  hat  die  Volkssage  diese  beiden 
Namen  nicht  arglos  mit  einander  verwoben,  sondern  absicht- 
licher  Betrug  hat  dieselben  zusammengebracht  und  zwar  gilt 
dabei  das  Wort  Lucians:  Gauze  Republiken  liigen  von  Staats- 
wegen  und  aus  patriotischer  Schuldigkeit.  Nicht  die  Gessler 
haben  der  Eidgenosseuschafl  Unrecht  gethan,  sondern  ihnen  ist 

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Oefele,  Frhr.  Edna.,  Geschichto  dor  Grafen  von  Andechs.  21 

umgekehrt  auf  abscheuliche  Weise  von  den  biderben  Schweizcrn 
mitgespielt  worden.  Das  Alles  iuhrt  das  Vorwort  in  kurzen 
und  markigen  Ziigen  aus.  Die  meisten  der  mitgetheilten  Ur- 
kunden  handeln  von  Kauf,  Verkauf  und  Verpfandung  von  Giitern 
und  Rechten  und  zeigen,  wie  die  Gessler  im  Aargau  und  spater 
auch  in  Tirol  angesessen  und  begiitert  waren.  Diese  Schrift- 
stiicke  interessiren  den,  welcher  mittelalterliches  Leben  kennen 
lernen  will,  denn  sie  gewahren  ihm  eine  Fiille  culturhistorischer 
Details.  Er  wird  da  belehrt  iiber  die  angesessenen  Familien, 
iiber  den  Preis  der  liegenden  Giiter  und  iiber  ihre  Ertragsfahig- 
keit,  iiber  Rechtszustande  und  auch  iiber  politische  Verhaltnisso. 

Besonders  interessant  ist  eine  Urkunde  vom  18.  Juni  1410, 
durch  welche  Ritter  Hermann  Gessler  eine  seiner  Leibeigenen 
und  deren  in  ungenosssamer  Ehe  erzeugten  vier  Kinder  dem 
Kloster  Reinau  um  20  rheinische  Gulden  verkauft. 

Bekanntlich  durften  eigentlich  Leibeigene,  selbst  wenn  sie 
ritterlichen  Standes  waren,  nicht  ohne  Erlaubniss  ihres  Grund- 
herrn  horige  Frauen  aus  andern  Bezirken  ehelichen.  Geschah 
das,  so  folgten  die  Kinder  der  schlechteren  Hand,  d.  h.  sie  ge- 
horten  dem  Herrn  der  Mutter.  Eine  solche  Ehe  heisst  eine 
ungenosssame.     So  heisst  es  in  der  Urkunde: 

Von  der  ungenossamy  wegen,  Als  hainr.  Stark  von  benken, 
der  dem  gotzhus  ze  Rinow  mit  dem  lib  zugehort,  sich  elichen 
veraint  hett  zu  Elsbethen  Moslinen  von  Slatt,  die  min  recht 
aigen  gewesen  ist:  da  etc. 

Um  nun  alle  Weiterungen  zu  vormeiden,  verkauft  Gessler 
die  Elsbeth  mit  ihren  Kindern,  die  sie  geboren  hat  und  noch 
gebaren  wird,  an  das  Gotteshaus  zu  Reinau. 

Um  den  Werth  des  Goldes  zu  bestimmen ,  vergleiche  man 
unter  Anderem  damit  S.  127  die  Urkunde  vom  20.  Juni  1418, 
durch  welche  die  ganzo  grosse  Herrschaft  Griiningen  von  den 
Gesslern  um  8000  Gulden  an  Zurich  verkauft  wird. 

Dass  diese  Stadter  viel  weniger  gut  mit  den  Bauern  um- 
gingen,  als  die  Ritter,  beweisen  die  Klagen  der  Griininger  gegen 
Zurich,  welche  S.  164  sq.  zu  lesen  sind. 

Referent  kann  hier  nur  einige  Andeutungen  von  dem  reichon 
Inhalte  geben,  der  einer  zusammenhangenden  Bearbeitung  wohl 
werth   ware   und   vielen  Stoff  zu  farbigen  Culturbildern  bieten 
wiirde. 
Berlin.  Foss. 

VI. 

Oefele,  Frhr.  Edm.,  Geschichte  der  Grafen  von  Andechs.   gr.  8. 

(VII,    249   S.)     Innsbruck   1877.      Wagner'sche    Universitats- 

buchhandlung.     7,60  Mk. 
Als  Referent  das  vorliegende  Buch  in  die  Hand  nahm,  hoffte 
er,  da  ja  die  Grafen  von  Andechs  am  Ende  des  XII.  und  Anfang 
des  XHL  Jahrhunderts  es  auf  Grund   ausgedehnter  Besitzungen 

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22  Oefele,  Frhr.  Edm.,  Geschichte  der  Grafen  von  Andecha. 

zu  hohem  Glanz  und  Ansehen  brachten,  die  allgemeine  Ge- 
schichte jener  wichtigen  Zeit  hier  in  einem  einzelnen  Puncte 
wiedergespiegelt  zu  sehen.  Allein  diese  Hoffnung  war  eine  triige- 
rische.  Denn  Herr  von  Oefele  hat  sich  nicht  die  Aufgabe  ge- 
stellt,  die  Geschichte  der  Grafen  von  Andechs  mit  der  all- 
gemeinen  in  Verbindung  zu  setzen  und  von  ihr  aus  zu  be- 
leuchten;  er  hat  sich  vielmehr  begniigt,  die  Nachrichten,  die 
irgendwie  iiber  das  Geschlecht  vorhanden  sind,  kritisch  zu  sichten 
und  zu  registriren.  Ja  er  wird  so  wenig  durch  hohere  Gesichts- 
puncte  geleitet,  dass  er  die  Mitglieder  der  Familie,  die  in  den 
geistlichen  Stand  traten,  und  die  verheiratheten  Tochter  nicht 
beriicksichtigt :  denn  diese  sowohl  wie  jene,  fxihrt  der  Verfasser 
in  der  Vorrede  aus,  seien  aus  dem  Geschlecht  herausgetreten. 
Und  doch  scheint  die  Arbeit  urspriinglich  in  einem  anderen 
Sinne  unternommen.  Denn  sie  ist  die  ganzliche  Umarbeitung 
einer  Abhandlung,  mit  welcher  der  Verfasser  im  Jahre  1867  den 
von  der  Miinchener  Academie  ausgeschriebenen  Preis  davontrug 
iiber  das  Thema:  „Geschichte  der  Grafen  von  Andechs.  Urkund- 
liche  Feststellung  der  Genealogie  und  ihrer  Besitzungen  sowie 
Aufhellung  ihrer  Thatigkeit  im  Deutschen  Reich." 
Letzterer  Punct  aber  ist  in  der  jetzigen  Arbeit  so  gut  wie  ganz 
ubergangen,  wie  denn  iiberhaupt  von  den  249  Seiten,  welche 
das  Buch  enthalt,  nur  28  auf  die  eigentliche  Geschichte  des 
Geschlechts  kommen,  und  von  diesen  geht  noch  ein  nicht  un- 
bedeutender  Theil  fur  sehr  umfangreiche  Anmerkungen  verloren. 
Sehr  characteristisch  ist  denn  auch  der  Anfang  dieses  Abschnitts: 
„Immer  der  al teste  des  Geschlechts  scheint  die  Grafschaft,  zu 
deren  Hauptdingstatte  er  seine  Hauptbesitzung  —  Diessen  — 
bestimmte,  verwaltet  zu  haben;  die  andern  u.  s.  w." 

Man  kann  eine  solche  Auflassung  nur  bedauern;  aber  es 
ist  ja  leider  nicht  selten  der  Fall,  dass  auch  die  berufensten 
Autoren  ihre  Arbeiten  nicht  von  dem  Gesichtspuncte  aus  an- 
greifen,  welcher  fur  die  Wissenschaft  am  erspriesslichsten  ware. 

Das  Werk  zerf allt  in  sechs  Abschnitte :  der  erste  behandelt 
einige  Quellen  (die  Aufzeichnungen  des  Stiftes  Diessen  und  des 
Klosters  Tegernsee);  der  zweite  giebt  die  Stammtafel  und  lasst 
dieser  die  nothigen  Nachweisungen  folgen;  der  dritte  enthalt 
die  sehr  iibersichtliche  Aufeahlung  der  Besitzungen  und,  in  einem 
(kurzen)  Anhange,  Nachrichten  iiber  die  Verwaltung  derselben 
und  den  Hofstaat  des  Hauses;  der  vierte  die  Geschichte  des 
Geschlechts  selbst;  der  fiinfte  in  703  Nummern  Regesten,  und 
der  sechste  endlich  24  noch  ungedruckte  Urkunden. 

Aus  dem  vierten  Abschnitte  wollen  wir  Folgendes  aus- 
heben: 

Das  Geschlecht  besass  bald  nach  der  Zeit,  wo  es  uns  zuerst  ent- 
gegentritt,  (um  1000),  zwei  Grafschaften,  die  eine  um  den  Ammer- 
see  mit  dem  Hauptorte  Diessen,  die  andere  an  der  Isar  und 
Loisach  mit  der  Hauptdingstatte  Wolfratshausen ;  jedoch  scheint 
die  Hauptgraf8chaft  Diessen  stets  von  dem  Geschlechtsaltesten 

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Oefele,  Frhr.  Edm.,  Geschichte  der  Grafen  von  Andechs.  23 

verwaltet  zu  sein.  Friih  (urn  1045)  erweiterte  das  Haus  seine 
Besitzungen  nach  SO,  zuerst  beim  Aussterben  der  Grafen  von 
Ebersberg  und  dann  einige  Zeit  darauf  wiederum  in  derselben 
Richtung,  als  ein  anderes  benachbartes ,  sonst  nicht  weiter  be- 
kanntes  Grafengeschlecht  erlosch.  Auf  kurze  Zeit  erwarb  dann 
die  Wolfratshauser  Linie  die  Grafschaft  im  Unterinn-  nnd  Pustor- 
thale;  ging  sie  auch  bald  wieder  verloren  (wie,  ist  nicht  be- 
kannt),  so  behielten  sie  hier  doch  nicht  unbedeutenden  Eigen- 
besitz.  Dnrch  Heirath  wurde  eben  diese  Linie  auch  in  Nieder- 
Oestreich  begiitert,  aber  sie  starb  schon  1157  ans.  Die  Diessener 
Linie,  die  sich  seit  ungefahr  1132  Grafen  von  Andechs  nannte 
und  inzwischen  nach  Franken  gekommen  war,  wo  sie  von 
Bamberg  die  Grafschaft  im  Rednitzgau  mit  der  Dingstatte  Plassen- 
burg  zu  Lehen  empfangen  hatte,  erhielt  dadurch  selbstverstand- 
lich  einen  ansehnlichen  Machtzuwachs ;  aber  der  Zufall  wollte 
es,  dass  ihr  gerade  urn  dieselbe  Zeit  auch  noch  andere  Erb- 
schaften  zufielen:  einmal  die  Grafschaften  Scharding,  Neuburg 
nnd  Wimberg  (urn  Inn  und  Donau),  sodann  Guter  in  Krain  und 
der  karntnischen  Mark.  Ferner  gelangte  urn  die  gleiche  Zeit 
ein  Glied  der  Familie  auf  den  bischoflichen  Stuhl  von  Brixen 
und  wendete  nun  seinem  Geschlecht  wieder  die  Grafechaft  im 
Unter-Innthal  zu  und  ausserdem  die  Vogtei  iiber  Brixen  selbst. 
So  besitzt  das  Haus  Andechs  sieben  Grafschaften,  und  auf  Grund 
dieser  Macht  steht  Graf  Berthold  IV.  zu  drei  Kaisern,  Lothar, 
KonracHind  FriedrichL,  in  naher  Beziehung:  schliesslich  erhalt 
er  auch  als  unmittelbares  Reichslehen  die  Markgrafschaft  Istrien, 
die  einst  seine  Vorfahren  miitterlicherseits  inne   gehabt  hatten. 

Zu  dieser  Machtfiille  erlangte  Bertholds  gleichnamiger  Sohn 
den  glanzenden,  wenn  auch  leeren  Titel  eines  Herzogs  von  Dal- 
matien  und  Kroatien  oder  Meran:  denn  unter  Meran  ist  hier 
nicht  das  tyroler  zu  verstehen,  wo  die  Andechser  allerdings  auch 
begiitert  waren,  sondern  eine  Kiistenlandschaft  Dalmatiens,  die 
im  Mittelalter  auch  Maronia  heisst  und  deren  Namen,  das  slav. 
more  =  mare  enthaltend,  nichts  anders  bedeutet  als  regio  mari- 
tima  und  noch  heut  in  den  Mori  ak en  fortlebt:  Herr  v.  Oefele 
meint,  Friedrich  I.  habe  durch  die  Verleihung  des  Titels  die 
Rechte  in  Erinnerung  bringen  wollen,  die  das  deutsche  Reich 
auf  jene  Districte  von  Alters  her  hatte. 

Dass  die  „Herzogeu  von  Meran  nun  auch  dem  Reichsfursten- 
stande  beigez^hlt  werden  wollten,  ist  erklarlich,  und  es  gelang 
ihnen  auch,  ihr  Lehensverhaltniss  zu  den  bairischen  Herzogen 
zu  losen,  welches  jenem  Streben  entgegenstand.  Noch  hoher 
stiegen  sie  jedoch,  als  1208  Konig  Philipp  fur  die  erprobte 
Treue  des  Geschlechts  Otto  dem  VII.  seine  Nichte  Beatrix  gab  und 
mit  dieser  die  Grafschaft  Burgund  und  die  Pfalzgrafenwiirde. 

Aber  damit  hat  das  Haus  Andechs  seinen  Hohepunct  er- 
reicht:  gleich  darauf  gerathen  Ottos  VIL  Briider  Heinrich  und 
Ekbert  —  letzterer  Bischof  von  Bamberg  und  Wirth  des  K6- 
nigs  —  in  den  Verdacht,  mit  Otto  von  Wittelsbach  zur  Ermor- 


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24  Renter,  Hermann,  Geschichte  der  religidsen  Aufklarung  im  Mittelalter. 

dung  Philipps  im  Bunde  gestanden  zu  haben,  —  wie  der 
Verfasser  mit  Winkelmann  annimmt,  ohne  Grand.  Dennoch 
wurde  Heinrich  1209  geachtet  und  aller  Wiirden,  Lehen  und 
Eigengiiter  verlustig  erklart.  Spater  erfolgte  freilich  seine  Reha- 
bilitirung,  aber  von  den  ihm  genommenen  Reichslehen,  die  an 
den  Herzog  von  Baiern  gegeben  waren,  gab  letzterer  nur  die 
Grafschaft  Wolfratshaiisen  zuriick  und  auch  diese  nur  als 
Lehen. 

Seinem  6ruder  Otto  aber  brachte  die  Grafschaft  Burgund 
kein  Gliick:  er  kommt  hier  nicht  zu  Ansehen  und  zerriittet 
durch  Kriege,  die  er  deshalb  fuhxt,  seine  Finanzen.  Nun  ver- 
sucht  sein  Sohn  Otto  (VIII.)  die  Macht  des  Hauses  dadurch 
wieder  zu  heben,  dass  er  dem  Herzog  von  Baiern  die  Graf- 
schaften  Neuburg  und  Scharding  mit  Gewalt  entreissen  will, 
aber  er  kampft  so  ungliickiich,  dass  er  auch  die  Stammgraf- 
schaft  Diessen  an  den  Herzog  verliort,  so  dass  ihm  nur  die  fran- 
kischen  Besitzungen  des  Hauses  bleiben:  auf  diesen  stirbt  er 
1248.  Ueber  seinen  Tod  —  er  soil  vergiftet  oder  nach  einer 
Volksiiberlieferung  von  einem  seiner  Leute  erschlagen  sein,  dessen 
Gattin  er  entehrt  hatte  —  ist  friiher  vielfach  gehandelt  worden ; 
nach  dem  Verfasser  ist  an  jenen  Geruchten  nichts  Wahres. 

Dass  im  Uebrigen  die  Arbeit  mit  der  Accuratesse  ausgefuhrt 
ist,   die  man  fordern   darf,   braucht  kaum  bemerkt   zu  werden: 
dafur  biirgt  der  Name  des  Verfassers. 
Berlin.  Edm.  Meyer. 


VII. 

Reuter,  Hermann,  Geschichte  der  religiosen  Aufklarung  im  Mittel- 
alter. 2.  Band.  8  (XI,  391  S.).  Berlin  1877.  Wilh.  Hertz.  8  Mk. 

Der  erste  Band  dieses  Werkes  erschien  im  Februar  1875 
und  ist  im  dritten  Heft  des  4.  Jahrganges  dieser  Zeitschrift 
naher  besprochen.  Der  zweite  behandelt  auch  in  4  Buchera 
die  Zeit  vom  Ende  des  12.  Jahrhunderts   bis  zum  Ende  des  13. 

Dass  Abalard ,  was  am  Schlusse  des  ersten  Teiles  gesagt 
war,  den  Eindruck  eines  Aufklarers  hinterlassen  habe,  bestatigt 
der  Verfasser  zu  Anfang  des  zweiten  durch  mehrfeche  Daten 
aus  der  Zeit  nach  Abalards  Tode.  Hier  war  man  gewohnt, 
alle  Neuerungen  der  nachsten  Decennien  auf  ihn  zuriickzufiihren, 
sogar  mehr,  als  es  zu  billigen  ist,  und  in  ihm  den  Urvater  der 
dialektischen ,  gegen  die  Autoritat  des  Kirchenglaubens  gleich- 
giiltigen  Wissenschaft  zu  sehen.  Ebenso  selbstandig  wie  Bern- 
hard  Sylvester  mit  seiner  Schule  zu  Chartres  neben  Abalard 
auftritt,  ebenso  frei  halt  er  sich  von  den  Satzungen  und  Dogmen 
der  Kirche,  so  dass  sein  Megakosmos  und  Mikrokosmos,  ein  um 
1150  viel  gelesenes  Buch,  ebenso  gut  einen  Heiden  zum  Ver- 
fasser haben  konnte,  wie  diesen  Gelehrten  aus  der  Mitte  eines 
christlichon  Volkes.  Naher  zur  kirchlichen  Lehre  hielt  sich  der 
Normanne  Wilhelm  von  Conches,  der  vor  ailem  ein  Christ,  kein 


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Beater,  Hermann,  Goschichto  der  religiosen  Aufkl&rong  im  Mittelalter.  25 

Akademiker  sein  wollte.  Zwar  brachte  ihn  seino  „Philosophie 
der  Welt"  bei  den  argwohnischen  Kirchenmannern  in  den  Ver- 
dacht  der  Haresie,  aber  er  hatte  als  alter  Mann  nicht  den  Mut, 
seine  Wissenschaft  zu  vertreten  und  zu  verteidigen,  sondern  nahm 
alle  Lehren,  welche  sich  in  jenen  Biichern  als  antikatholisch 
gezeigt  hatten,  zurtick.  Gilbert  de  la  Porree  dagegen  wollte 
alles  Wissen  durch  den  Glauben  bedingt  sein  lassen,  ging  jedoch 
in  seiner  Trinitatslehre  mit  so  viel  dialektischer  Methode  vor, 
dass  er  als  ein  neuer  Meister  dieser  Ricbtung  nacb  Abalard  be- 
griisst  wurde.  Der  Adoptianismus  und  Nihilianismus  (?),  durch 
die  genannten  Manner  hervorgerufen,  wurde  wohl  von  einzelnen, 
wie  Gerhoh  von  Reichensberg ,  als  bedenklich  erkannt  und,  be- 
kampft,  von  Walter  von  St.  Victor  in  der  gehassigsten  Weise 
verdammt,  aber  es  kam  am  Schluss  des  12.  Jahrhunderts  den 
meisten  zum  Bewusstsein,  dass  sich  mit  der  Dialektik  der  Auf- 
klfirer  eben  alles  beweisen  lasso  —  fiir  und  wider  die  Kirche. 

Das  13.  Jahrhundert,  sagt  der  Verfasser  in  seinen  einlei- 
tenden  Worten  auf  Seite  20,  war  von  den  Spannungen  und  Con- 
flikten  der  Wissenschaft  und  des  Glaubens  bewegt.  Zu  dieser 
theoretischen  Krisis  kam  cine  socialo^  die  sich  in  einer  grossen 
Ideehrevolution  geltend  machto.  Die  Kirche  selbst  trug  durch 
folgerechte  Durchbildung  des  Katholischen  zur  Verbildung  des 
Christlichen  bei.  Die  weitere  Behandlung  dieses  Jahrhunderts 
bringt  Beuter  unter  die  drei  Gesichtspunkte : 

A.  Neue    Motive    der    Steigerung    der    Aufklarung.     Seite 

21—56. 

B.  Ansatze  und  Neigungen  der  Aufklarung.    Seite  56 — 123. 

C.  Phasen   der    Geschichte    der    tendenziosen    Aufklarung. 

Seite  123—304. 
Bei  den  Motiven  wird  in  geschicktcr  Weise  betont,  dass 
die  katholische  Kirche  durch  die  Zaubermacht  ihrer  Wunder- 
thaten  die  Naturgesetze  und  die  Weltordnung  ausser  Kraft  setzte, 
und  durch  den  Absolutismus  der  Papste,  mit  welchem  sie  Rechte 
und  Pflichten  schufen  und  beseitigten,  selbst  von  Eiden  ent- 
banden ,  das  Sittengesetz  aufhob.  Das  sittliche  und  politische 
Bewusstsein  wurde  verstimmt,  ja  selbst  Zweifel  an  der  Realitat 
des  Sittlichen  wachgerufen.  Dazu  kamen  die  Wirkungen,  welche 
die  8chlimmen  Ausgange  der  Kreuzziige  bereiteten.  Die  Anfangs- 
begeisterung  war  erkaltet,  die  Misserfolge  erschienen  wie  ein 
Gottesgericht ,  durch  welches  der  katholische  Glaube  selbst  in 
Frage  gestellt  wurde,  das  ganze  Unternehmen  gait  nicht  mchr 
als  religiose  Leistung,  sondern  als  Jagd  nach  Abenteuern  in 
eitler  Weltlust.  Eine  derartige  Erniichterung  spiegelt  sich  auch 
in  der  verschiedenen  Art  der  Geschichtsschreibung  hieriiber  ab 
und  macht  sich  bis  zur  Gleichgultigkeit  gegen  das  Christliche 
geltend  bei  den  nach  dem  Orient  eingewanderten  Christen  und 
deren  Nachkommen.  Personlicher  Verkehr  der  Kreuzfahrer  mit 
den  Saracenen  liess  diese  mitsammt  ihrer  Religion  meist  in 
besserem  Lichte  erscheinen,   als  man  vorausgesetzt  hatte,   ein 

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26  Reuter,  Hermann,  Geschichte  der  religiosen  Auf  kl&rung  im  Mittelalter. 

Beweis,  dass  Sittlichkeit  auch  ausser  und  neben  dem  Christen- 
tum  moglich  sei.  Das  gab  Anlass  zu  einer  verachtlichen  Be- 
urteilung  des  rein  Christlichen  und  zur  Verlaugnung  Christi, 
welche  selbst  bei  den  Templern  Eingang  fend  und  von  ihnen 
in  die  Christenheit  des  Abendlandes  ubergeleitet  wurde.  Hier 
wirkten  nun  die  mancherlei  haretischen  Bestrebungen  ibrerseits 
aucb  zersetzend,  wie  die  Bewegungen  der  Katharer  und  Wal- 
denser,  denen  sich  die  grossen  Barone  des  sudlichen  Frankreichs 
nicht  minder  anschlossen  als  das  niedere  Volk.  Die  Reinheit 
der  neuen  Secten  in  Lebre  und  Leben  zog  an,  die  Unlauterkeit 
des  Clerus  erregte  den  tiefsten  Abscheu,  Urteile,  welche  durcb 
die  Verblendung  der  katholischen  Apologeten  nicht  umgestossen, 
eher  befestigt  wurden.  Waffengewalt  und  Inquisition  unter- 
driickten  wohl  diesen  vermeintlichen  Unglauben  teilweis,  trugen 
aber  auch  dazu  bei,  die  Gedanken  der  Aufklarung  durch  Zer- 
sprengen  weiter  zu  verbreiten.  Die  negative  Philosophie,  welche 
aus  dem  arabischen  Spanien  hervordrang,  setzte  an  Stelle  der 
Autoritat  die  freie  Forschung,  an  Stelle  der  Offenbarung  die 
Vernunft.  So  schon  vom  8.  Jahrhundert  her  die  Mutaziliten, 
deren  Doctrinen  zu  Rationalismus  und  frivoler  Religionsspotterei 
fiihrten.  Wissenschaftlich  bedeutender  war  die  philosophische 
Spekulation,  die  im  11.  Jahrhundert  in  Spanien  hervortrat  und 
ihre  Meister  in  Ibn  Tofail  und  Averroes  hatte.  Die  Aufklarung 
dieser  Manner  wirkte  erst  nach  ihrem  Tode  durch  3  Jahrhun- 
derte  im  iibrigen  Europa,  und  das  urn  so  mehr,  als  sie  wie  eine 
Art  Geheimlehre  auftrat;  —  Averroes  will  das  Wissen  dem 
Philosophen,  die  Religion  dem  Volke  vorbehaJten.  —  Wahrend 
dieser  als  Patriarch  des  Unglaubens  verworfen  wurde,  fand 
Aristoteles  als  heidnischer  Johannes  der  Taufer  Gnade  in  den 
Augen  der  Katholiken.  Zu  diesen  Veranderungen  auf  geistigem 
Gebiete  kamen  die  socialen  Umgestaltungen.  Der  Grosshandel 
bliihte,  der  Seeverkehr  nahm  zu,  weite  Reisen  in  den  Orient 
mehrten  sich,  die  Hansa  entstand,  das  Geld  an  Stelle  der  Na- 
turalvertauschung  wirkte  erleichternd ,  es  entsteht  ein  Welt- 
handel,  der  das  Weltlich-Sittliche  und  das  Religios  -  Kirchliche 
zur  bewussten  Unterscheidung  bringt. 

Wo  so  viele  Motive  zur  Aufklarung  zusammenwirken,  miissen 
die  Ansatze  und  Neigungen  dazu  bald  zu  Tage  treten.  Hiervon 
spricht  der  zweite  Teil  unseres  Werkes. 

Die  Troubadours,  Schiitzlinge  der  Vornehmen,  sehen  diese 
in  den  Albigenserkriegen  und  bei  der  Inquisition  den  Verfol- 
gungen  der  Kirche  preisgegeben  und  unterfiegen.  Dadurch  war 
ihre  eigene  Existenz  in  Frage  gestellt,  und  sie  warfen  sich  des- 
halb  zu  scharfen  Polemikern  gegen  die  Kirche  auf,  bei  der  sie 
nur  Ungerechtigkeit  und  Herrschsucht  statt  Liebe  und  Milde 
erblickten.  Auch  in  der  deutschen  Poesie  dieser  Zeit  bemerkt 
man  skeptische  und  aufklarerische  Ziige,  weniger  gegen  die  ka- 
tholisohe  Lehre  selbst  als  gegen  die  Missstande  in  der  Kirche 
und  unter  ihren  Leitern.    Bei  den  travestirenden  Gedichten  der 

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Beater,  Hermann,  Gesohichte  der  religiosen  Anfkl&rnng  im  Mittelalter.  27 

Dentechen,  in  welchen  nicht  blos8  die  Carrikatur  des  Heiligen, 
sondern  das  Heilige  selbst  verhohnt  wird,  bleibt  es  zweifelhaft, 
ob  dies  von  der  damaligen  Generation  als  Profanation  empfunden 
wnrde.  Immerhin  liegt  darin  ein  Indifferentismus  und  eine  Herab- 
stimmung  des  schwarmerisch  Religiosen.  Neben  dieser  gelegent- 
lichen  Kritik  legt  Roger  Bacon  mit  bewusster  Reflexion  den 
Grand  zu  einer  positiven  kritischen  Leistung.  Er  verwirft  alle 
Autoritat;  zu  den  Quellen,  zur  Sache  selbst  sollen  wir  durch- 
dringen,  unser  Wissen  empirisch  begriinden  und  methodisch  aus- 
bauen,  das  fiihrt  zum  eohten  Realismus,  daher  ist  die  mit  der 
Mathematik  verbundene  Naturwissenschaft  die  hochste  Wissen- 
scbaft.  Bacon  ist  aufs  klarste  iiberzeugt,  dass  die  Welt  ein 
selbstandiges  Ganzes  ist,  durch  immanente  Gesetze  bestimmt, 
nicht  in  jedem  Augenblick  durch  unberechenbare  Gewalten  be- 
stimmbar.  Weiter  sagt  unser  Philosoph:  Das  Wissen  muss  mit 
Yorurteilen  kampfen  und  so  fortschreiten.  Freilich  fur  die  Theo- 
logie  fordert  er  ausdriicklich  die  Autoritat,  in  ihr  ist  der  Glaube 
das  erste,  sie  soil  sogar  das  bestimmende  Element  der  Philo- 
sophie  sein.  Die  weiteren  Ausfuhrungen  in  dieser  Richtung  er- 
innGrn  an  Abalard,  sind  aber,  wie  Reuter  meint,  nicht  als  Plagiate 
von  diesem  zu  betrachten,  sondern  im  Grande  genommen  auch 
verschiedener  Natur.  In  der  Praxis  blieb  Bacon  weit  hinter 
der  Erwartung  zuriick,  er  war  zu  sehr  Idealist,  deshalb  konnte 
seine  Kritik  die  Scholastik  nicht  zersetzen,  wie  er  beabsichtigte. 
•  Den  Glauben  der  Kirche  an  die  Offenbarung  zu  erhalten, 
war  der  Beruf  dieser  Theologie.  Aber  da  sie  1>ei  dem  Versuch, 
alle  moglichen  Argumente  zu  ermitteln,  selbst  von  aufklarerischen 
Neigungen  bewegt  wurde,  kam  sie  gerade  zum  Gegenteil,  und 
sie  gab  bei  den  Fragen  iiber  Wissen  und  Glauben,  Vernunft 
und  Offenbarung  Antworten  bedenklichen  Inhalts.  Dies  wird 
bei  Thomas  von  Aquino,  Duns  Scotus,  Raymundus  Lullus  und 
Wilhelm  von  Auvergne  nachgewiesen.  Von  diesen  glaubte  Lullus 
ein  System  christlicher  Weltanschauung  gefunden  zu  haben,  das 
auf  der  Welt  universal  werden  miisste.  Er  versuchte  seine  neue 
apologetische  Kunst  in  vielen  Controverspredigten  mit  Moslems 
und  Christen,  denen  er  die  Wahrheit  der  absoluten  Religion 
sowie  ihre  Geschichtlichkeit  und  ihren  ubernatiirlichen  Ursprung 
zu  beweisen  sucht.  Er  ging  dabei  nicht  mit  der  Androhung 
von  Gericht  und  Inquisition  vor,  wie  Wilhelm  von  Auvergne, 
sondern  neben  seiner  gelehrten  Methode  stellte  er  auch  eine 
praktisch-populare  auf,  die  jeder  erlernen  konnte.  Diesen  Zweck 
erreichte  er  mit  seiner  ganzen  scholastischen  Kritik  nicht,  son- 
dern machte  eher  an  alter  Religion  irre. 

So  kommt  der  Verfasser  zur  Gesohichte  der  tendenziosen 
Aufklarang  selbst,  vornehmlich  in  Frankreich  und  Italien. 

Schon  lange  liebten  es  gebildete  Franzosen,  die  bestehenden 
Religionen  mit  einander  zu  vergleichen,  namentlich  auch  nach 
einem  astrologischen  Gesichtspunkt.  Diese  Partei  der  Natura- 
listen  setzte  wohl  das  sittliche  Gesetz  zu  einem  Naturgesetze 

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28  Renter,  Hermann,  Geschichto  der  religiosen  Anfkl&rung  im  Mttelalter. 

herab,  liess  aber  dadurch  ihr  Handeln  im  allgemeinen  be- 
stimmen,  wahrend  die  Indifferonten  sich  auch  dieser  Macht  zu 
entwinden  suchten.  Sie  meinten,  jeder  Glaube  sei  wahr  und 
jeder  Gott  der  rechte ,  wenn  man  ihn  nur  dafiir  halte.  Um 
„Seinetwillen"  soil  man  handeln,  das  ist  die  wahre  Moral,  das 
kann  aber  jeder,  welcher  Volksreligion  er  immer  angehort.  Der 
Verfasser  erinnert  hier  an  Lessings  Parabel  von  den  drei  Ringen, 
die  auch  am  Schluss  des  ganzen  Werkes  mit  Riicksicht  auf  ihre 
Entstehung  naher  besprochen  wird. 

Genaueres  erfahren  wir  weiterhin  yon  den  Averroisten  und 
ihrem  Hervortreten  in  Paris  seit  1239,  d.  h.  von  dem  Averrois- 
mus  einer  freigeisterischen  Partei  innerhalb  der  katbolischen 
Kirche  Frankreichs.  Diese  Regnngen  philosophischer  Freidenker 
konnten  durch  keine  Gewaltmassregeln  und  keine  Edicte  zum 
Schweigen  gebracht  werden.  Vergebens  war  das  gewaltsame 
Vorgehen  gegen  die  Pariser  Scholaron  im  Jahre  1230,  hervor- 
gerufen  durch  den  Pariser  Bischof  Wilhelm  von  Auvergne,  ver- 
gebens das  Verbot  averroistischer  Satze  vom  Jahre  1240,  ver- 
gebens die  Massregelung  an  Johann  Brescain,  vergebens  endlich, 
weil  vielfach  nur  scheinbar  und  widerspruchsvoll,  die  genfein- 
schaftliche  Abmachung  aller  Docenten  der  Pariser  Universitat, 
weicho  am  30.  Marz  1271  in  der  Genovevakirche  foierlich  be- 
schworen,  dass  sie  speciell  theologische  Fragen  nicht  behandeln 
und  keine  gegen  den  Glauben  entscheiden  wollten.  Unter  Lei- 
tung  des  Bischofe  Stephan  setzte  man  1277  alle  verwerflichen 
Lehrsatze,  219  an  der  Zahl,  fest  und  verband  damit  das  Verbot 
einiger  Biicher,  aber  dies  war  ohne  sonderlichen  Erfolg.  Der 
Averroismus  stand  und  blieb  in  voller  Blute,  er  betonte  gegen 
die  Scholastik,  der  die  Theologie  iiber  alles  ging,  die  Philosophic 
als  die  einzige  Wissenschaft  mit  Ausschluss  der  Theologie.  Die 
Averroisten  behaupteten,  dass  es  fur  den  Philosophen  eine  be- 
sondere  Wahrheit  gabe  und  iiberliessen  „den  Glaubigen"  auch 
die  ihrige.  Damit  ist  der  Glaube  gestiirzt,  das  Wissen  geblieben. 
Leicht  setzten  sie  sich  dann  mit  diesem  Wissen  iiber  vermeint- 
lich  falsche  Erklarungen  und  Ansichten  der  Theologen  hinweg 
und  wussten  selbst,  um  alle  irdischen  Freuden  besser  geniessen 
zu  konnen,  eine  bequeme  Moral  zu  schaffen.  Begiinstigt  wurden 
die  Averroisten  entschieden  auch  durch  die  Verhaltnisse  Frank- 
reichs unter  der  Regierung  Philipps  IV.  von  1285 — 1314,  durch 
die  selbstandige  Stellung  Frankreichs  gegeniiber  der  Curie. 

Weil  die  averroistischen  Freidenker  die  katholische  Reli- 
gion zur  Fabel  herabgedruckt  hatten,  wollten  die  mystischen 
Neologen  sie  durch  ein  „ewiges  Evangelium"  ersetzen. 

Franciscus  von  Assisi  grundete  den  Orden  der  Franciscaner 
und  erhob  zur  Regel  desselben  die  Bettelarmut.  Diese  Regel 
erhielt  die  Weihe  der  Kirche  und  wurde  von  alien  Ordensmit- 
gliedern  mit  der  hochsten  Ehrerbietung  betrachtet.  Sie  gait 
bei  ihnen  als  ein  neues  Evangelium  neben  dem  Evangelium 
ChristL    Das  musste  zu   einem  Conflikt  fuhren  und  nach  zwei 

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Beuter,  Hermann,  Geschichte  der  religiosen  Auf  klarung  im  Mittelalter.  29 

Richtungen  hin  zu  Parteibildung  auseinandergehen.  Wenn 
strenge  Franciscaner  sahen,  dass  die  Idee  ihrer  Regel  von  der 
absoluten  Armut  mit  den  realen  Verhaltnissen  der  Welt  unver- 
einbar  war ,  dann  musste  sich  ihr  Blick  notgedrungen  auf  die 
Zuknnft  richten,  von  der  sie  durch'  den  Wandel  der  Dinge 
bessere  Bedingungen  erwarteten.  Das  fiihrte  zu  einem  apoka- 
lyptischen  Grubeln,  welches  durch  den  Abt  Joachim  von  Fiore 
in  Calabrien  eine  befriedigende  Fassung  erhielt.  Trotz  der  dtirf- 
tigen  Ueberlieferungen  zeichnet  uns  der  Verfasser  ein  treffliches 
BOd  dieses  Mannes  und  seiner  Ideen,  fur  die  er  auf  der  Appe- 
ninenhalbinsel  sehr  empfangliche  Gemiiter  fand.  Eigen  war 
diesem  Ausleger  eine  iiberaus  starke  Geringschatzung  des  Buch- 
stabens,  die  Biicher  des  N.  Testamentes  sind  ihm  nur  die  Kunde 
von  dem  geschichtlichen  Jesus,  dies  buchstabliche  Evangelium 
muss  einem  geistlichen  „ewigen"  Evangelium  weichen,  welches 
der  Geist  als  vollkommene  Wahrheit  kundmachen  wird.  Die 
dermalige  christliche  Periode  kann  nur  als  Vorstufe  gelten,  von 
welcher  mit  Notwendigkeit  ein  Fortschritt  erfolgen  muss,  und 
dieser  wird  in  prophetischer  Rede  stets  verkiindet.  Die  ueue 
Gemeinde  der  Joachimiten  fand  vielen  Anhang  unter  den  Fran- 
ciscanern,  die  bei  ihren  Zweifeln  iiber  die  Regel  endliche  Auf- 
klarung  in  dem  ewigen  Evangelium  erwarteten.  Die  bestehende 
Kirche  sollte  mit  dem  Jahre  1260  ihr  Ende  erreichen  und  dann 
die  neue  Religion  beginnen,  welche  keine  ausseren  Brauche  an- 
wendet,  sondern  alle  Wahrheit  klar  schauen  lasst. 

Joachimiten  und  Averroisten  kehrten  sich  also  beide  nicht 
bloss  gegen  das  katholische,  sondern  auch  gegen  das  biblische 
Evangelium,  sie  verbreiteten  sich  in  Paris  zu  derselben  Zeit. 
Das  neue  Evangelium  und  die  Regel,  zur  Franciscanerreligion 
erhoben,  beschworen  1255  eine  papstliche  Verordnung  herauf, 
nach  welcher  alle  verdachtigen  Papiere  verbrannt  werden  sollten. 
Doch  diese  Gewaltmassregel  unterdnickte  die  Neuerer  nicht, 
ebensowenig  beirrte  dieselben  das  Ausbleiben  der  erwarteten  Ka- 
tastrophe  1260.  Johann  von  Parma  und  Johann  von  Olivi  waren 
neue  Lehrer  diese*  Idee.  Weit  fiber  diese  hinaus  ging  am  Ende 
des  12.  Jahrhunderts  Amalrich  von  Bena  und  seine  Anhanger, 
die  Amalricaner.  Nach  ihrer  Lehre  ist  jeder  Christ  verpflichtet 
zu  glauben,  dass  er  ein  Glied  Christi  sei.  Dann  aber  trieben 
sie  mit  Glauben,  Wissen  und  Seligkeit  ein  sehr  bedenkliches 
Spiel  und  bildeten  eine  weit  verzweigte  Secte,  von  der,  ein 
Tell  vom  „Geiste"  zu  Propheten  erkoren  zu  sein  glaubte.  Die 
Inquisition  informirte  sich  durch  den  Magister  Radulf  von  Ne- 
mours iiber  die  Lehren  und  Anhanger  dieser  Secte  und  bestrafte 
1209  viele  von  ihnen. 

Nahe  verwandt  mit  dieser  Richtung  war  die  Lehre  Ortliebs 
von  Strassburg  und  der  Ortlibarier  um  1212.  Nach  ihnen  soil 
man  lediglich  auf  die  Stimme  des  Geistes  lauschen  und  ihr 
folgen,  d.  h.  doch  eine  Vernunftreligion  an  Stolle  des  geschicht- 
lichen Christen  turns  der  katholischen  Kirche  setzen.   Den  Schluss 

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30  Renter,  Hermann,  Geschichte  der  religidsen  Anfklarung  im  Mittelalter. 

nach  dieser  Richtung  hin  machen  endlich  ah  die  Sturmgeister 
der  Aufklarung  die  Begharden  und  Beguinen.  Sie  waren  vaga- 
bondirende  Bettler,  die,  uberall  und  nirgend  zu  Hause,  jene  ge- 
priesene  Armut  der  Franciscaner  so  sehr  auf  die  Spitze  trieben, 
dass  sie  mit  lautem  Geschrei  und  unter  Drohungen  milde  Gaben 
erpressten.  Sie  briisteten  sich  mit  der  weitgebendsten  Auf- 
kiarung und  verwarfen  jeden  Buchstaben,  jeden  Gott.  Der  wahre 
Geistesfreie  wird  durch  sich  selbst  selig,  obne  eine  bestimmte 
Religion  zu  baben. 

Zur  vollstandigen  Losung  seiner  Aufgabe  giebt  Reuter  im 
letzten  Bucbe  eine  Gbarakteristik  der  Ghibelliniscben  Epocbe. 
Wir  erfabren  interessante  Aufschliisse  Tiber  die  Charakterbildung 
Friedrichs  II.  und  seine  ganzlich  freie  und  bis  zur  Unchristlich- 
keit  sich  steigernde  Richtung.  Die  Wandelbarkeit ,  welche  die 
Curie  in  ihrem  Handeln  zeigte,  diente  dem  Kaiser  zum  Vorbilde 
fiir  das  eigene  Handeln.  Gemiit  fehlte  seinem  Seelenleben,  der 
ausserordentliche  Trieb  des  Wissens  und  des  Ehrgeizes  stimmte 
allein  dasselbe.  Ein  unbefangener  Herzensglaube  blieb  dem 
Jiingling  fremd,  auf  dem  Gebiete  der  Culturgeschichte  war  er 
als  Mann  dieses  hohen  Standes  in  seiner  Zeit  ohne  Gleichen. 
Sein  kritisch  forschender  Geist  konnte  keine  Autoritat,  am  we- 
nigsten  die  der  katholischen  Kirche,  ertragen.  So  trat  er  in 
den  Kampf  mit  Gregor  IX.  und  Innocenz  IV.,  in  dieser  Stimmung 
zweifelte  er  an  der  Rechtmassigkeit  des  Pont  ficats,  ja  der  bibli- 
schen  Ueberiieferung  iiberhaupt.  Er  kam  zu  einer  Selbstyer- 
gotterung,  der  zu  Liebe  er  die  Einrichtung  seines  ganzen  Hofes 
traf.  Dabei  setzte  er  sein  Griibeln  uber  schwierige  Probleme 
niemals  aus  und  verschaffte  sich  Antwort  in  seinem  wissen- 
schaftlichen  Briefwechsel  mit  aller  Welt  1237  beginnt  der  viel- 
fach  erorterte  Kirchenstreit ,  worin  ihm  schliesslich  vorgeworfen 
wurde,  er  verachte  alle  Religion.  Das  damals  laut  gewordene 
Urteil:  „Wir  aber  sehen,  dass  er  in  seinen  Berichten  in  demti- 
tiger  und  katholischer  Weise  sich  aussert.  Weder  sagt  er  oflfent- 
lich  etwas  Haretisches,  noch  ist  er  frech  genug  dergleichen  zu 
ertragen"  halt  Reuter  noch  jetzt  als  richtig*  aufrecht  und  be- 
spricht  einige  Anecdoten  uber  den  Kaiser,  die  seinen  Unglauben 
beweisen  konnten,  in  abwehrendem  Sinne,  selbst  mit  Heran- 
ziehung  der  arabischen  Geschichtsschreibung  uber  seinen  Aufent- 
halt  in  Palastina  und  seine  dort  gethanen  Aeusserungen. 

Die  vielbesprochenen  Worte  Friedrichs  von  Jesus,  Moses 
und  Muhamed  als  den  drei  Betriigern  der  Welt  kann  Reuter 
zwar  durch  kritische  Mittel  nicht  als  echt  erweisen,  glaubt  aber, 
dass  der  Kaiser  sie  gesprochen,  dagegen  das  Buch  de  tribus 
impo8toribus  nicht  verfasst  habe. 

Friedrich  II.  gait  den  Glaubigen  in  Italien  als  der  Anti- 
christ, dessen  Wiederkommen  sie  nach  seinem  Tode  bestimmt 
erwarteten.  Der  Verfasser  findet  diese  Wiederkehr  in  dem  wei- 
teren  Verlauf  der  italienischen  Culturgeschichte. 

Damit  schliesst  das  inhaltsvolle,  an  schar&innigen  Beobach- 

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Moimmenta  Germaniae  historica.  31 

tungen  und  Schliissen  reiche  Werk.    Von   S.    305 — 391   bilden 
Queflen  und  Bewoise  einen  schatzenswerten  Anhang. 
Berlin.  '  H.  Ropke. 


VIII. 
Monumenta  Germaniae  historica  inde  ab  anno  Christi  quingen- 
tesimo  usque  ad  annum  millesimum   et  quingentesimum  edidit 
societas  aperiendis  fontibus  rerum   germanicarum  medii  aevi. 
Scriptorum  qui  vernacula  lingua  uai  sunt  tomus  II.  (a.  u.  d.  T. 
Deutsche  Chroniken  und  andere  Geschichtsbucher  des  Mittel- 
alters,  herausgegeben  von  der  Gesellschaft  fur  altere  deutsche 
Geschichtskunde.   Zweiter  Band.).    Hannover.    Hahn'sche  Buch- 
handlung.     1877.    (VI  u.  709  S.  in  gr.  4°). 
Der   vorliegende  Band   eroffnet   eine  neue   Serie  innerhalb 
der  Abtheilung  Scriptores  der  Monumenta  Germaniae  historica, 
welche  die  in  heimischer  Sprache  geschriebenen  deutschen  Chro- 
niken vom  13.  Jahrhundert  an  umfassen  soil.    Derselbe  unter- 
scheidet  sich  schon  ausserlich  von  den  friiheren  Theilen  dadurch, 
dass  an  Stelle  des  unbehiilflichen  Folio-  das  handlichere  Quart- 
format  getreten  ist,   und   dass   auch  die  Einleitungen  und  An- 
xnerkungen  deutsch   abgefasst  sind;   zu  unserer  Freude   ersehen 
wir  aus  dem  Vorwort,  dass  die  neue  Direction   der  Monumenta 
sich  entschlossen  hat,  dieses  Quartformat  auch  bei  den  weiteren 
neuen  Publicationen  anzuwenden.    Dass  von  dieser  neuen  Serie 
der  zweite  Band  zuerst   herausgegeben   ist,   hat   darin   seinen 
Grand,  dass  die  Direction  erst  nachtraglich  auch  die  Aufnahme 
der  Kaiserchronik   beschlossen   hat  und  dass  dieser   der   erste 
Band  vorbehalten  worden  ist,   dessen  Erscheinen   auch   bald  in 
Aussicht  steht.    Der  vorliegende  zweite  Band  ist  ganz  von  Herrn 
L.  Weiland  bearbeitet  worden  und  enthalt  folgende  Stiicke: 

1)  Die  sachsische  Weltchronik,  friiher  gewohnlich 
als  Sachsen-  oder  Repgow'sche  Chronik  bezeichnet,  wichtig  als 
der  erste,  schon  grossartige  Versuch  einer  Darstellung  der  ge- 
sammten^vaterlandischen  Geschichte  in  heimischer  Sprache.  Die 
Chronik,  friiher  schon  von  Eckard  und  dann  von  Massmann  und 
Schone  herausgegeben,  erscheint  hier  in  Folge  einer  sorgfaltigen 
kritischen  Verwerthung  des  gesammten  handschriftlichen  Mate- 
rial (24  Handschriften)  in  ganz  neuer  Gestalt.  In  der  aus- 
gedehnten  Einleitung,  welche  der  Herausgeber  voranschickt,  er- 
ortert  derselbe  zunachst  in  eingehendster  Weise  das  Verhaltniss 
dieser  Handschriften  zu  einander,  er  sondert  dieselben  in  drei 
Gruppen,  eine  kiirzere  Recension  A,  eine  mittlere  B  und  die 
weiteste  Recension  C,  er  zeigt,  dass  diese  Recensionen  sammt- 
lich  von  dem  Verfesser  selbst  herstammen,  dass  die  kiirzeste 
A  die  friiheste,  die  reichhaltigste  C  die  spateste  ist,  dass  alle 
diese  Texte  wahrend  der  Jahre  1230 — 1251  abgefasst  sind,  dass 
auch  die  Anhange,  welche  sich  in  alien  Handschriften  der  Gruppe 
C  finden,  von  eben  diesem  Verfasser  herriihren.    Er  untersucht 


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32  Monumenta  Germaniae  historica. 

ferner  die  Quellen  des  Werkes  und  zeigt,  dass  die  Hauptmasse 
desselben  aus  der  Weltchronik  Ekkehards  von  Aura,  den  Pohlder 
Annalen,  der  im  Original  verlorenen,  aber  auch  aus  anderen  ab- 
geleiteten  Quellen  bekannten  Chronik  Alberts  von  Stade  und 
den  ebenfalls  verlorenen,  aber  auch  von  anderen  Chroniken  be- 
nutzten  Gesta  der  Erzbischofe  Wichmann,  Ludolf  und  Albrecht 
von  Magdeburg  compilirt  ist,  in  der  Recension  C  sind  dazu  noch 
die  Kaiserchronik  und  eine  Chronik  des  St.  Michaelsklosters  in 
Liineburg  benutzt.  Der  Verfasser  hat  diese  Quellen  in  sehr 
verschiedenartiger  Weise  verwerthet,  er  hat  sie  bald  ausfuhr- 
licher,  bald  kiirzer  wiedergegeben,  bis  c.  1230  hangt  seine  Dar- 
stellung  ganzlich  von  denselben  ab,  nur  der  allerletzte  Theil 
enthalt  eine  selbstandige  Geschichtserzahlung.  Was  den  Ver- 
fasser selbst  anbetrifft,  so  wird  gezeigt,  dass  er  Geistlicher  ge- 
we8en  ist,  dass  er  in  Sachsen,  wahrscheinlich  in  der  Magde- 
burger  Gegend,  gelebt  und  dass  er  dem  dort  ansassigen  Ge- 
schlechte  der  Repgow  angehort  hat;  der  Herausgeber  halt  es 
fur  durchaus  un  wahrscheinlich ,  dass  er  mit  Eike  von  Repgow, 
dem  Bearbeiter  des  Sachsenspiegels,  identisch  sei,  in  der  Chronik 
erscheint  dieser  Sachsenspiegel  schon  benutzt.  Der  Ausgabe  ist 
die  Gothaische  Handschrift  24,  der  wahrscheinlich  originale  Text 
der  Recension  C  zu  Grunde  gelegt,  in  der  Variantenbehandlung 
hat  der  Herausgeber  sein  Augenmerk  darauf  gerichtet,  die  sach- 
lichen  Abweichungen  der  verschiedenen  Recensionen  zur  An- 
schauung  zu  bringen,  bei  grosseren  Verschiedenheiten  sind  die 
einzelnen  Texte  neben  einander  gestellt. 

Die  Sachsische  Weltchronik  ist  schnell  weit  verbreitet,  noch 
im  13.  Jahrhundert  auch  in  das  Oberdeutsche  iibersetzt  und 
dann  an  verschiedenen  Orten  fortgesetzt  worden,  solcher  Fort- 
setzungen  werden  hier  sieben  abgedruckt:  1)  eine  sachsische, 
die  Zeit  von  1252—1273  behandelnd,  1273—1275  abgefasst, 
eine  originale  Arbeit  mit  genauen  und  wichtigen  Nachrichten, 
friiher  schon  von  Waitz  veroffentlicht ,  2)  eine  thiiringische, 
1227 — 1353,  in  der  Hauptsache  eine  verkurzte  Uebersetzung  des 
Chronicon  Sanpetrinum  von  Erfurt,  doch  mit  eigenarjigen  Zu- 
satzen,  3)  die  erste  bairische  Fortsetzung,  1216 — 1314,  c.  1314 
geschrieben,  eine  Kaisergeschichte ,  wie  sie  sich  im  Munde  des 
Volkes  erhalten  hat,  ein  Gemisch  von  Geschichte,  Sage  und 
Anecdote,  nur  der  letzte  Theil  enthalt  genaue  und  werth  voile 
Nachrichten  iiber  die  Doppelwahl  von  1314,  4)  eine  zweite  bai- 
rische Fortsetzung,  1315 — 1348,  5)  eine  dritte  bairische,  1316 
bis  1342,  6)  eine  kurze  Fortsetzung  des  deutschen  Martin  von 
Troppau,  1310—1347,  7)  eine  vierte  bairische  Fortsetzung, 
1314—1454. 

Das  zweite  in  diesem  Bande  herausgegebene  Werk  ist  des 
Pfaffen  Eberhard  Reimchronik  von  Gandersheim, 
welche  schon  friiher  von  Leukfeld,  Leibniz  und  Haronberg  ab- 
gedruckt worden  ist,  hier  aber  in  wesentlich  verbesserter  Ge- 
stalt  nach  der  WolfFenbiitteler  Handschrift  erscheint.    Der  Heraus- 

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Montunenta  Germaniae  historica.  33 

geber  weist  in  der  Einleitung  nach,  dass  dieses  historisch  wie 
poetisch  hochst  unbedeutende  Werk  im  Jahre  1216  gesohrieben 
and  dass  dasselbe  in  der  Hauptsache  nur  eine  Uebersetzung 
einer  aus  dem  Ende  des  11.  Jahrhunderts  stammenden  lateini- 
schen  Schrift  de  fundatione  Gandersheimensis  ecclesiae  ist,  einer 
panegyristischen  Geschichte  der  Griinder  des  Klosters,  dann  der 
Kaiser  Heinrich  I.  and  Otto  L,  sowie  weiterer  das  Kloster  be- 
treffender  Ereignisse  bis  zum  Jahre  1006,  in  der  Hauptsache 
aof  Widukind,  einem  Katalog  der  Aebtissinnen  und  einigen  Urkunden 
des  Klosters  beruhend,  der  Dichter  hat  daran  den  Katalog  der 
Aebtissinnen  und  zum  Schluss  kurze  Nachrichten  iiber  seine 
eigene  Zeit  hinzugefiigt. 

Einen  wichtigen  Theil  des  Bandes  bildet  dann  3)  die 
Braunschweigische  Reimchr onik,  welche  schon  friiher 
von  Gobler,  Leibniz  und  Scheller,  aber  ganz  ungeniigend  heraus- 
gegeben  war,  hier  aber  auf  Grund  einer  von  Lappenberg  ent- 
deckten  Hamburger  Handschrift  zum  ersten  Male  in  ihrer  ur- 
sprunglichen  Gestalt  vorgefiihrt  wird.  Auch  hier  enthalt  die 
Emleitung  genaue  Untersuchungen  iiber  die  Person  des  Ver- 
fassers,  iiber  die  Ab&ssungszeit  und  iiber  die  dem  Werke  zu 
Grande  liegenden  Quellen.  Der  Verfasser  ist  ein  wahrscheinlich 
zum  herzoglichen  Hofhalt  gehorender  Geistlicher  in  Braun- 
schweig gewesen,  er  hat  seine  Arbeit  zwischen  den  Jahren  1279 
und  1292  geschrieben,  sein  Zweck  ist  Verherrlichung  des  kurz 
vorher  verstorbenen  welfischen  Herzogs  Albrechts  des  Grossen; 
er  zeigt  eine  nicht  unbedeutende  dichterische  Begabung,  der 
historische  Werth  seiner  Arbeit  besteht  darin,  dass  uns  in  der- 
selben  der  Inhalt  einiger  verlorener  Quellen  erhalten  ist.  Ausser 
bekannten  Quellen  najnlich,  der  Sachsischen  Weltchronik,  Martin 
von  Troppan,  Eberhard  von  Gandersheim  u.  a.,  ferner  kirch- 
lichen  Einzeichnungen  aus  S.  Aegidien  und  S.  Blasien  zu  Braun- 
schweig und  einigen  Urkunden  hat  der  Verfasser  benutzt: 
1)  eine  bis  c.  1250  reichende  braunschweigische  Fiirstenchronik, 
von  der  ein  Auszug  auch  in  der  hier  als  Anhang  abgedruckten 
Chronica  ducum  de  Brunswick  und  von  Heinrich  von  Herford 
benutzt  ist,  2)  eine  sehr  ausfuhrliche,  gut  unterrichtete  und  un- 
parteiische,  gleichzeitig  wahrscheinlich  in  Hildesheim  abgefasste 
Reichsgeschichte  von  1195—1209,  3)  braunschweigische  Auf- 
zeichnungen  iiber  die  Geschichte  Herzog  Albrechts  von  1250 — 1279. 

Es  folgen  noch  einige  weniger  bedeutende  Stiicke:  4)  die 
Chronik  desStiftes  S.Simon  und  Judas  zuGoslar, 
eine  bis  1294  reichende  diirftige  Bearbeitung  einer  verloren  ge- 
gangenen  reichhaltigeren  lateinischen  Chronik  dieses  Klosters, 
einer  1286 — 1288  verfassten  Kaisergeschichte,  beruhend  auf  Ur- 
kunden desselben,  auf  der  Sachsischen  Weltchronik,  der  Kaiser- 
chronik  und  Sagen  allgemeiner  und  localer  Art.  Als  Anhang 
ist  noch  eine  kiirzere  lateinische  Bearbeitung  derselben  Vorlage, 
welche  ebenso  wie  die  deutsche  Chronik  auch  schon  friiher  von 
Leibniz  herausgegeben  war,    abgedruckt.     5)   die   Holstein- 

MUtheUongwi  a.  d.  bUtor.  Llttentor.    VI.  8 

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34  Hftfler,  Dr.  Const,  von,  Zwr  Kritik  und  Quellenkunde  etc. 

scheReimchronik,  in  Wirklichkeit  Bruchstiicke  einer  sol- 
chen,  die  schon  Lappenberg  veroffentlicht  hatte,  namlich  der 
Anfeng  1199—1231,  der  Schluss,  betreffend  den  Grafen  Adolf 
von  Holstein  nnd  dessen  Tod  (1261),  ferner  ein  kurzer  Auazug 
des  Ganzen.  Der  Verfasser  des  Werkes,  ein  Hamburger  Minorit, 
hat  dasselbe  c.  1400  nach  bekannten  Quellen,  den  Annales 
Ryenses,  Albert  yon  Stade  und  der  Sachsischen  Weltchronik  ge- 
arbeitet. 

Der  Band  enthait  am  Schluss  ausser  dem  gewohulichen 
Namenindex  ein  reichhaltiges ,  von  Herrn  Dr.  Strauch  bearbei- 
tetes  Glossar,  in  welchem  der  eigenthiimliohe  Wortschatz  der 
hier  herausgegebenen  niederdeutschen  Chroniken  ausgebeutet 
ist  und  welches  so  auch  fur  Sprachforscher  eine  wichtige  Fund- 
grube  darbietet. 

Berlin.  F.  Hirsch. 


IX. 
Hofler,  Dr.  Const  von,  Zur  Kritik  und  Quellenkunde  der  ersten 
Regierungsjahre    K.    Karls   V.     (Separatabdruck    aus    dem 
XXV.  Bande  der  Denkschriften  d.  kaiserl.  Akad.  d.  Wissensch.) 
Imp.  4     (84  S.).    Wien  1876.     C.  Gerold's  Sohn.    3  Mark. 
Der  Zweck  der  Schrift  ist,  jene  gefahrliche  Periode,  wo  die 
Weltmacht  Karls  V.  gleich   im  Beginne   seiner  Regierung  durch 
Aufruhr   in   fast   alien  Teilen    derselben  bedroht  war,    kritisch 
zu  beleuchten   und   durch  Wiirdigung   der  Quellen   einen  festen 
historischen  Boden  zu  gewinnen.     Sie  beschaftigt  sich  fast  allein 
mit  den  Ereignissen  in  Gastilien  und  giebt  so  eine  kritische  Er- 
ganzung  zu  des  Ver&ssers  Werk  iiber  den  Aufetand  der  Comu- 
nidades,   das  ich  in  dieser  Zeitschrift  (Band  V,  S.  233  flE.)   aus- 
fuhrlicher  angezeigt  habe. 

Der  erste  Teil  der  klar  und  eindringlich  geschriebenen 
Abhandlung  behandelt  die  Constitutions-  und  Unionsversuche  in 
der  Zeit  des  Aufstandes  der  Comuneros;  im  Allgemeinen  ein 
kurzer  Inhalt  des  ausfuhrlicheren  Werkes  dariiber,  genauer  aber 
in  der  Mitteilung  des  Wortlautes  von  Verfassungsentwiirfen, 
wie  des  von  Avila  und  Torddsillas,  und  einiger  Vermittlungs- 
versuche  (p.  1 — 14). 

Darauf  folgt  eine  Kritik  der  Schriftsteller  iiber  jenen  Auf- 
stand,  von  denen  manche  noch  gar  nicht  veroffentlicht  sind. 
Einige  wie  Ulloa's  vita  dell  invittissimo  Imp.  Carlo  V.,  Antonio 
Ferrer's  del  Rio  Decadencia  de  Espana,  Parte  I,  Bauer's  Ha- 
drian VL,  Llorentes  krit.  Gesch.  d.  Inquisition  erfahren  eine  be- 
sonders  scharfe  Be-  und  Verurteilung  (p.  14 — 44). 

Ein  dritter  Teil  handelt  iiber  die  Briefe.  und  Urkunden- 
sammlungen.  Hier  wird  besonders  Guevara  in's  rechte  Licht 
gestellt,  den  man  wegen  chronologischer  Irrtiimer  nur  mit  grosser 
Reserve  zu  benutzen  hat ;  ahnlich  verhalt  es  sidn  mit  den  Briefon 
des  Petrus  Martyr  (p.  44—66). 


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Wicbert,  Th.  F.  A.,  Aus  der  Corresponded  etc.  —  Bitter,  Moriz,  Brief©  etc.    35 

En  vierter   Teil  behandelt  das  Conclave  Adrians  VI.,   des 
letzten  deutschen  Papstes,  besonders  nach  der  wichtigsten  Quelle 
dariiber,  nach  Marin  Sanuto,  de  successu  rerum  Italiae  (p.  67 — 84). 
Berlin.  Paul  Foerster. 

X. 
Wichert,  Th.  F.  A.,  Aus  der  Correspondenz  Herzog  Albrechts 
von  Preussen  mit  dem  Herzog  Christoph   von  Wirtemberg. 

Eine  Festgabe  zur  vierhundertjahrigen  Jubelfeier  der  Uni- 
versitat  Tubingen,  gr.  8.  (20  S.)  Konigsberg  i.  Pr.  1877. 
Der  hier  zum  ersten  Male  bekannt  gemachte  Briefwechsel 
(2  Briefe  Albrechts,  3  Briefe  Christophs)  beschaftigt  sich  haupt- 
sachlich  mit  den  vergeblichen  Versuchen  Albrechts,  den  Tiibinger 
Brenz  fur  seine  Konigsberger  Universitat  und  fur  die  Stelle  eines 
Bischofs  von  Samland,  spater  von  Pomesanien  zu  gewinnen,  dem- 
nachst  mit  der  gleichfalls  erfolglos  versuchten  Berufung  des  Tii- 
binger Theologen  Jacob  Andrea  auf  einen  Lehrstuhl  zu  Konigs- 
berg ,  "daneben  mit  den  durch  Osiander  in  Konigsberg  hervor- 
gerufenen  theologischen  Handeln. 

F.  Holtze. 

XL 
Ritter,  Moriz,  Briefe  und  Acten  zur  Geschichte  dee  dreissig- 

j&hrigen  Krieges  in  den  Zeiten  des  vorwaltenden  Einflusses 

der  Wittelsbacher.    III.   Band.    Der   Jiilicher   Erbfolgekrieg. 

gr.  8.     (562  S.)    Munchen  1877.    M.  Krieger'sche  Buchhand- 

lung.  10  Mark. 
Von  der  umfassenden  Urkundensammlung  fur  die  Geschichte 
des  Hauses  Wittelsbach  zur  Zeit  des  dreissigjahrigen  Krieges, 
deren  erste  Bande  eine  ausfiihrliche  Besprechung  in  diesen 
Blattern  gefiinden  haben  (Jahrgang  III,  92),  ist  nach  einer  Pause 
▼on  drei  Jahren  ein  dritter  Band  erschienen,  welcher  die  auf 
den  Julichschen  Erbfolgekrieg  des  Jahres  1610  beziiglichen 
Actenstucke  giebt  und  durchaus  in  der  umsichtigen  und  kriti- 
schen  Art  seiner  Vorganger  gearbeitet  ist.  Wir  finden  vor  alien 
Drngen  in  annahernder  Vollstandigkeit  die  Gesandteninstruc- 
tionen,  Protocolle  und  Abschiede  der  Unionstage  zu  Schwabisch- 
Hall  (Dec.  1609),  Heidelberg  (Marz  1610),  Heilbronn  (Jul.  1610), 
sowie  der  zweiten  Heidelberger  Versammlung  (Sep.  1610),  in 
sfcreng  chronologischer  Anordnung  zum  ersten  Male  vereinigt 
und  durch  erlauternde  Anmerkungen  in  Verbindung  gesetzt.  Von 
hohem  Interesse  sind  ferner  die  Berichte  einer  Reihe  von  Ab- 
geordneten  deutscher  Fiirsten  und  Stadte  an  ihre  heimischen 
Behorden  und  die  militarischen  Relationen  uber  die  kriegerisohen 
Ereignisse,  Werbungen,  Truppendurchziige  und  Belagerungen, 
welche  nicht  nur  fur  die  politische  Geschichte  jener  Epoche  von 
Bedeotung  sind,  sondern  auch  ein  reiches  Material  fur  volks- 
wirtschaffiiche  und  kulturhistorische  Studien  des   17.  Jahrhun- 

3* 

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36  Bitter,  Moriz,  Briefe  und  Acten  znr Geachichte  dos  dreissigj&hrigen  Kriegea. 

derts  iiberhaupt  bieten.  Die  hochste  Beachtung  verdienen  die 
Briefe  der  franzosischen,  spanischen  und  hollandischen  Gesandten: 
die  Schreiben  Aerssen's  an  Oldenbarnevelt,  Boissise's  und  Ville- 
roy's  an  Heinrich  IV.  von  Frankreich  und  die  Berichte  des  Car- 
denas an  Philipp  III.,  welche  bier  zum  ersten  Male  unter  Ueber- 
windung  grosser,  durch  schlechte  Schrift  und  verwickelte  Satz- 
bildung  bereiteter  Scbwierigkeiten  nach  der  Sammlung  des 
Dr.  Stieve  wiedergegeben  wurden.  Die  letzten  40  Seiten  des 
vorliegenden  Bandes  liefern  Documente  zum  Jahre  1610,  welche 
sich  auf  die  Verhandlungen  Heinrich  IV.  mit  den  italienischen 
Machten,  zumal  mit  Savoyen,  beziehen.  Ausser  den  deutschen 
Archiven  zu  Miinchen,  Berlin,  Stuttgart,  Nurnberg,  Bernburg  und 
Schlobitten  gaben  Paris  (Bibl.  nat.  und  Archives  nat.)  und  der 
Haag  reiche  Beitrage.  Ein  sorgfaltig  gearbeitetes  Actenverzeich- 
niss  und  Namen-  und  Sachregister  erleichtert  wesentlich  die 
Benutzung. 

Wunschenswert  ware  bei  der  weiteren  Fortfuhrung  des  Unter- 
nehmens  eine  grossere  Beriicksichtigung  der  seit  1610  von  Jahr 
zu  Jahr  wachsenden  Flugschriftenlitteratur,  da  der  grosste  Teil 
der  Verhandlungen  im  Reiche,  wie  der  gewechselten  Staats- 
schriften,  Deductionen  und  Apologien  schon  den  Zeitgenossen 
selbst  durch  den  Druck  bekannt  gemacht  wurde,  sodass  der 
forschende  Historiker  oft  mit  Staunen  Actenstucke  eines  Archives 
in  weit  verbreiteten  Flugschriften  wieder  findet,  deren  Text  dami 
freilich  nicht  seiten  arg  verstiimmelt,  ja  absichtlich  verfiLlscht 
erscheint.  So  hatte  z.  B.  S.  391  wol  kaum  in  der  Anmerkung 
die  Notiz  fehlen  diirfen,  dass  Ernst  von  Mansfeld  seinen  Ueber- 
tritt  zur  Union  in  einem  als  Broschiire  veroffentlichten  Recht- 
fertigungsschreiben  selbst  erzahlt  hat.  Die  Acta  publica  Lon- 
dorpens  noch  als  Urkundensammlung  zu  citiren,  diirfte  nach 
der  Untersuchung,  welche  der  Verfasser  dieser  Zeilen  dariiber 
angestellt  hat,  kaum  ratlich  erscheinen.  Die  erste  Ausgabe  ist 
nichts  als  eine  Sammlung  von  Flugblattern ,  welche  der  Autor, 
ein  weggejagter  Schulmeister ,  auf  der  Frankfurter  Messe  zu- 
8ammenbrachte  und  ohne  Kritik,  ja  oft  rein  sinnlos,  in  einer 
Reihe  von  Quartanten  vereinigte.  Die  am  meisten  verbreitete, 
vierte  Folioausgabe ,  welche  50  Jahre  nach  Londorpens  Tode 
von  andern  Handen  besorgt  wurde,  enthalt  nach  den  Vorreden 
auch  Actenstucke,  welche  aus  Archiven  iibernommen  sein  sollen, 
doch  sind  dieselben  nirgends  besonders  kenntlich  gemacht.  Es 
diirfte  nicht  das  geringste  Verdienst  der  Miinchener  historischen 
Commission  sein,  wenn  sie  durch  die  Publication  der  „Briefe  und 
Acten"  grade  den  Londorp  iiberfliissig  machte,  indem  sie  die 
dort  gegebenen  Documente  nach  den  Originalien  selbst  genau 
publicierte.  Vielleicht  wurden  sich  bei  dieser  Gelegenheit  auch 
interessante  Seitenblicke  fur  die  Kritik  dieses,  wie  der  iibrigen 
weitBchichtigen  Sammelwerke  jener  Epoche,  des  Theatrum  Euro- 
paeum,  Khevenhullers  u.  s.  w. ,  ohne  bedeutende  Schwierigkeit 
ankniipfen  lassen. 

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Stem,  Alfred,  Milton  und  seine  Zeit.  37 

Mit  diesen  Bemerkungen  soil  iibrigens  der  Wert  jener ,  fur 
das  Studium  des  dreissigjahrigen  Krieges  warhaft  epochemachenden 
Publication  keineswegs  beeintrachtigt  werden,  im  Gegenteil  — 
auch  der  Verfasser  dieser  Zeilen  ist  von  dem  lebhaften  Wunsche 
erfullt,  dass  die  folgenden  Bande  nicht  wiederum  so  lange  Zeit 
anf  sich  warten  lassen  als  der  dritte ,  damit  die  jetzige  Gene- 
ration nicht  aJlein  noch  den  Abschluss  des  Unternehmens  erlebt, 
sondern  auch  in  den  Stand  gesetzt  wird,  die  reichen  Schatze, 
welche  in  demselben  niedergelegt  sind,  in  historischen  Dar- 
stellnngen  verwerten  zu  konnen. 
Berlin.  Ernst  Fischer. 

xn. 

Stern,  Alfred,  Milton  und  seine  Zeit.    I.  Theil.    1608—1649. 

1.  u.  2.  Buch.    gr.  8.    (XIV,  348  und  X,  499  S.  mit  1  Stahlst.) 

Leipzig  1877,  Duncker  und  Humblot.     16  Mark. 

Der  vorliegende  Theil  des  Werks  umfasst  die   Zeit  von  der 

Geburt  des  Dichters  (1608)   bis   zur  Hinrichtung  Karl's  I.  (Anf. 

1649);  der  erste  Band,  der  bis  1639  reicht,  schildert  die  Jugend- 

bildung  des  Dichters  und    seine  friiheren  poetischen  Leistungen, 

der  zweite  behandelt  Milton's  litterarische  Parteinahme  in    dem 

grossen   Kampfe  um  Kirchen-   und  Staatsrecht.     Der  Verfasser 

hat   die   gauze   geistige    Entwicklung   Englands    in    der    erste  n 

Halfte   des    17.  Jahrhunderts   in    den  Kreis    seiner    Darstellung 

hineingezogen    und  vor   allem    den   kirchlichen   Streit    zwischen 

Pralatenthum   und  Presbyterianismus   und  weiter   zwischen   den 

verschiedenen  Parteien  genau  verfolgt. 

Die  Familie  des  Dichters  wird  bis  auf  den  Urgrossvater 
zaruckgefiihrt ,  der  in  Oxfordshire  ansassig  war  und  sich  zuin 
katholischen  Bekenntniss  hielt.  Der  Vater  des  Dichters,  John 
Milton,  nach  welchem  der  Sohn  den  Vornamen  erhielt,  trat  friih 
zur  reformirten  Kirche  liber  und  bildete  sich  in  London  zum 
Notar  aus ;  es  war  ein  Mann,  der  an  den  geistigen  Bestrebungen 
seines  Volkes  lebhaften  Antheil  nahm  und  der  Musik  ein  beson- 
deres  Interesse  widmete ;  das  Haus,  das  er  bewohnte,  lag  in  der 
City  von  London.  Der  Wissensdurst  des  jungen  Milton  erhielt 
von  dem  liebevollen  Vater  alle  Hiilfsmittel  an  Biichern  und 
Unterricht;  ein  junger  schottischer  Theologe,  der  auch  spator 
noch  mit  seinem  Zoglinge  in  brieflichem  Verkehr  blieb,  leitete 
die  wissenschaftliche  Vorbildung  des  Knaben,  bis  dersolbe  im 
Alter  von  etwa  12  Jahren  in  die  St.  Paulsschule  aufgenommen 
wnrde.  Dieselbe  hatte ,  wie  auch  sonst  die  Lateinschulen  jener 
Zeit,  die  klassischen  Sprachen  und  die  alte  Litteratur  als  Haupt- 
gegenstande  des  Unterrichts,  doch  wurden  auch  die  Mathematik 
tmd  die  Naturwissenschaften  nicht  ganz  vernachlassigt ,  selbst 
das  Studium  der  Muttersprache  fand  schon  eine  gewisse  Beriick- 
sichtigung.  Hier  legte  dor  hochbegabte  Knabe,  der  mit  uner- 
miidlichem  Fleiss  alles  Wissenswerthe  in  sich  aufiiahm,  den  Grund 

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38  Stern,  Alfred,  Milton  und  seine  Zeit. 

zu  den  ausgedehnten  ij>prach-  und  Litteraturkenntnissen,  die  das 
Staunen  seiner  Zeitgenossen  erweckten.  Aus  dieser  Zeit  sind 
auch  die  ersten  poetischen  Versuche  Milton's  erhalten,  die  Ueber- 
setzung  einiger  Psalmen  in's  Englische  und  eine  lateinische  Elegie 
an  seinen  friiheren  Lehrer. 

Die  Aufnahme  Milton's  auf  der  Universitat  Cambridge  (Febr. 
1625),  wo  er  dem  Christ-College  als  Pensioner  zugetheilt  wurde, 
giebt  dem  Verfasser  Veranlassung  zu  einer  Characteristik  der 
damaligen  akademischen  Einrichtungen  in  England.  Das  her- 
kpmmliche  7jahrige  Studium  zerfiel  in  das  Quadriennium ,  das 
mit  der  Erlangung  des  Baccalaureats  seinen  AbschluBS  erhielt, 
und  in  das  Trienuium,  nach  dessen  Absolvirung  der  Magister- 
grad  ertheilt  wurde.  Den  Unterricht  erhielten  die  Studirenden 
theilweise  von  den  Tutors  der  einzelnen  Colleges,  theilweise  in 
Vorlesungen,  die  der  ganzen  Universitat  gemeinschaftlich  waren. 
Der  Ge8ammtcharacter  der  hier  betriebenen  Studien  bestand 
wesentlich  in  einer  Verbindung  von  Philologie  und  Scholastik. 
Nach  dem  urspriinglichen  Lehrplan  sollten  in  den  ersten  4  Jahren 
Rhetorik,  Dialectik  und  Philosophic,  in  den  folgenden  3  Jahren 
Philosophic,  Astronomie,  Zeichnen  und  Griechisch  getrieben 
werden,  die  Betheiligung  an  lateinischen  Disputationen  wurde 
besonders  eingescharft.  Erst  nach  diesem  Septennium,  das  der 
allgemem - humanistischen  Bildung  gewidmet  war,  folgten  medi- 
cinische,  juristische,  theologische  Fachstudien. 

Milton  fiihlte  sich  weder  von  der  scholastischen  Weise  des 
Unterrichts  noch  von  dem  studentischen  Treiben  seiner  Kame- 
raden  recht  befriedigt  und  hielt  mit  sarcastischen  Ausfallen 
nicht  zuriick,  was  ihn  nicht  nur  im  allgemeinen  missliebig  machte, 
sondern  vielleicht  auch  die  Veranlassung  zu  einer  zeitweiligen 
Verweisung  von  der  Universitat  wurde;  erst  in  der  spateren 
Zeit  seiner  akademischen  Studien  gelang  es  ihm,  die  Achtung 
und  Anerkennung  seiner  Mitstudirenden  zu  gewinnen.  Die  Dichter 
des  Alterthums  hatten  ihn  schon  in  seiner  Kindheit  vorzugsweise 
gefesselt,  an  ihnen  sich  selber  zum  Dichter  zu  bilden,  scheint 
auch  auf  der  Universitat  sein  Hauptinteresse  gewesen  zu  sein. 
Wie  er  sich  das  Schone  nur  als  das  Gute  vorstellen  konnte, 
sollte  auch  der  Dichter  der  Lehrer  der  hochsten  Wahrheiten 
sein;  das  religiose  Epos  lehrhaften  Characters  erschien  ihm  als 
die  Krone  der  Poesie,  die  er  selbst  einmal  zu  erringen  traumte. 
Doch  um  dieser  Aufgabe  wiirdig  zu  sein,  hielt  er  es  nicht  fur 
ausreichend,  seine  dichterische  Kraft  an  den  Mustern  des  klassi- 
schen  Alterthums  zu  bilden  und  sich  mit  dem  religiosen  Geist 
der  hebraischen  Poesie  zu  erfullen,  der  Dichter  sollte  das  ganze 
Wissen  der  Welt  umfassen  und  von  der  Erforschung  der  ein- 
zelnen Erscheinungen  zu  einer  Erkenntniss  der  Gesetze  durch- 
gedrungen  sein,  durch  welche  jene  qrklart  werden.  Wahrend 
sich  der  Idealismus  Milton's  von  der  platonischen  Philosophic 
besonders  angezogen  fiihlte,  wurde  er  in  seiner  Hinneigung  zum 
Studium  der  ReaLien  durch  seine  Bekanntschaft  mit  dem  Empi- 

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Stem,  Alfred,  Milton  and  seine  Zeit.  39 

nanus  Bacon's  bestarkt.  So  zog  er  auch  die  Geographic  der 
fremden  Lander,  die  Geschichte  der  Volker  nnd  Staaten,  ihrer 
Verfassung  and  Cultur,  vor  allem  aber  die  Erkenntniss  der 
Natur  nnd  ihrer  Krafte  in  den  Kreis  seiner  Studien.  In  den 
lateinischen  Elegieen  nnd  in  den  rhetorischen  Versnchen  in  la- 
teinischer  Sprache,  die  dieser  Universitatszeit  angehoren,  tritt 
besonders  die  philologische  Gelehrsamkeit  des  jungen  Autors 
hervor,  die  wenigen  englischen  Gedichte  dieser  Periode  sind  re- 
ligiosen  Inhalts  und  zeigen  das  hohe  Pathos,  das  ein  Hauptzug 
in  dem  Character  Milton's  blieb. 

Als  Milton  mit  der  Erlangung  des  Magistergrades  seine  hu- 
manistischen  Studien  abgeschlossen  hatte,  trat  die  Frage  des 
kiinftigen  Berufs  dringender  an  ihn  heran.  Seine  Neigung  fiir 
den  geistlichen  Stand  hatte  sich  friih  entschieden,  aber  die 
schwersten  Bedenken  traten  dieser  Wahl  jetzt  entgegen.  Die 
puritanische  Richtung,  der  er  mit  ganzer  Seele  angehorte,  war 
der  Gegenstand  einer  immer  wachsenden  Verfolgung,  und  die 
39  Artikel  der  englischen  Staatskirche  zu  beschworen,  wie  er  es 
vor  Erlangung  seiner  akademischen  Wiirden  hatte  thun  mussen, 
dazu  konnte  er  sich  jetzt  im  Gefiihl  voller  personlicher  Verant- 
wortlichkeit  nicht  mehr  entschliessen ;  ein  andres  Fachstudium 
lockte  ihn  nicht.  Der  Grossherzigkeit  seines  Vaters,  der  ein 
nicht  unbedeutendes  Vermogen  erworben,  hatte  er  es  zu  danken, 
dass  er  sich  unbekiimmert  urn  materiellen  Erwerb  ganz  seinen 
Studien  widmen  durfte.  Auf  der  landlichen  Besitzung  in  Horton, 
einige  Stunden  westlich  von  London,  auf  die  sich  sein  Vater  zu- 
ruckgezogen  hatte,  fand  er  eine  Zufluchtsstatte ,  die  ihm  alio 
Gemisse  des  Landlebens  gewahrte,  wahrend  die  geringe  Ent- 
femung  der  Hauptstadt  ihm  gestattete,  den  geistigen  Austausch 
mit  Freunden  fortzusetzen  und  die  Entwicklung  der  offentlichen 
Verhaltnisse  aus  der  Nahe  zu  verfolgen. 

Die  Zeit  in  Horton  von  1632  bis  1638  nennt  Stern  die 
Lehrjahre  des  Dichters.  Wahrend  er  seine  alten  philologischen 
Studien  vertiefte  und  in  Plato  und  der  Bibel  die  Erkenntniss 
der  gottlichen  Gesetze  suchte,  wandte  er  der  neueren  Geschichte 
immer  grosseres  Interesse  zu  und  beschaftigte  sich  mit  neueren 
Sprachen;  die  italienische  Litteratur  scheint  ihn  besonders  an- 
gezogen  zu  haben,  und  Dante  war  der  Dichter,  in  dem  er  sein 
Ideal  verwirklicht  fand.  Von  den  englischen  Dichtern  nennt 
Milton  selbst  Edmund  Spenser  sein  UrbUd,  und  Stern  bezeichnet 
Milton  fiir  diese  Epoche  seiner  poetischen  Thatigkeit  als  den 
letzten  Dichter  der  Renaissance.  Denn  die  grosseren  Dichtungen 
Milton's  aus  diesen  Jahren  gehoren  jener  allegorisch-romantischen 
Richtung  an,  welche  noch  immer  die  englische  Literatur  be- 
herrschte.  'Ea  sind  1' Allegro  und  il  Penseroso,  die  Arcadier, 
der  Comus. 

L'Allegro  und  il  Penseroso  sind  Lebensbetrachtungen  in 
leichten  Rhythmen,  die  in  regelrechtem  Aufbau  wio  Strophe  und 
Antistrophe   einander   gegeniibertreten.     Die  Arcadier    sind   das 


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40  Stern,  Alfred,  Milton  and  seine  Zeit. 

Textbuch  zu  einem  musikalischen  Festspiel,  das  zu  Ehren  der 
Grafin  von  Derby  von  ihren  jungen  Enkelkindern  aufjgefuhrt 
wurde.  Ein  ahnliches  Werk  von  hoherer  poetischer  Bedeutung 
und  derselben  Familie  zu  Ehren  gedichtet  ist  der  Comus,  dessen 
Name  dem  lateinischen  Werke  eines  leydener  Professors  ent- 
nommen  ist,  wahrend  die  Hauptmotive  auf  ein  Schaferspiel  John 
Fletcher's  zuriickgefuhrt  werden.  Comus,  Sohn  des  Bacchus 
und  der  Circe,  der  Gott  der  wiisten  Sinneslust,  stosst  auf  einem 
naohtlichen  Umzuge  auf  ein  Madchen,  das  im  Walde  seine  Briider 
verloren  hat.  In  Verkleidung  naht  er  sich  ihr,  urn  sie  zu  ver- 
fiihren  und  lockt  sie  nach  seinem  Palaste.  Der  Kern  des  ganzen 
Maskenspiels  ist  der  Dialog  zwischen  Comus  und  der  Jungfrau, 
gleichsam  ein  Rechtsstreit  zwischen  Sinnenlust  und  Sittengosetz. 
Als  der  Gott  von  neuem  auf  die  Jungfrau  eindringt,  verjagen 
ihn  die  Briider,  vom  Schafer  Thyrsis  auf  die  Spur  der  verlornen 
Schwoster  geleitet,  und  vereinigt  gelangen  die  Geschwister  zum 
Schloss  ihrer  Eltern. 

Die  Sehnsucht  nach  den  Heimstatten  des  klassischen  Alter- 
thums  und  der  modernen  Renaissance  trieb  ihn  im  Jahre  1638 
nach  Italien ,  wo  er  etwa  15  Monate  verweilte.  Mehr  noch  als 
die  Kunstdenkmaler  fesselte  ihn  der  Verkehr  mit  den  Poeten 
und  Litteraten,  die  in  Akademieen  vereinigt  eine  rege  Thatigkeit 
cntfalteten  und  dem  enthusiastischen  Milton,  dessen  umfassende 
Gelehrsamkeit  sie  anstaunten,  mit  Freuden  den  Zutritt  zu  ihren 
Bestrebungen  gewahrten.  Die  Beziehungen  zu  ihnen  hat  Milton 
auch  spater  noch  mit  Liebe  gepflegt,  der  Eindruck,  den  die  per- 
sonliche  Begegnung  mit  Grotius  und  Galilei  auf  ihn  gemacht, 
ist  in  seinen  spateren  Schriften  vielfach  zu  erkennen.  Es  war 
Milton  nicht  vergonnt,  aucji  Griechenland  zu  besuchen,  die  Nach- 
richten  aus  der  Heimath,  wo  die  Parteien  sich  immer  schroffer 
gegeniiber  traten,  riefen  ihn  zuriick.  Er  nahm  seine  Wohnung 
jetzt  in  London  und  widmete  einen  Theil  seiner  Zeit  dem  Unter- 
richt  zweier  Neffen,  zu  denen  bald  noch  andere  Zoglinge  kamen. 

Die  zehn  Jahre  von  1639  bis  1649,  welche  das  Thema  des 
2.  Bandes  bilden,  sind  fur  die  poetische  Thatigkeit  Milton's  wenig 
fruchtbar  gewesen.  Von  den  epischen  und  dramatischen  Planen, 
die  ihn  zunachst  beschaftigten,  riss  ihn  der  Kampf  der  Parteien, 
der  mit  der  Berufung  des  langen  Parlaments  entbrannt  war, 
gewaltsam  los.  Neben  der  •Sicherung  der  Volksfreiheiten  vor 
der  Willkiir  der  Krone  war  es  die  Frage  der  kiinftigen  Kirchen- 
verfassung  Englands,  die  alle  Gemiither  beschaftigte.  Pralatisten 
wie  Puritaner  hielten  an  der  Alleinberechtigung  ihrer  kirchlichen 
Organisation  fest  und  verlangten  die  Aufrechterhaltung ,  be- 
ziehungsweise  Durchfuhrung  derselben  fur  das  ganze  Konigreich; 
die  radikaleren  reformirten  Secten  hatten  bis  dahin  kaum  be- 
gonnen  mit  eigenen  Anspriichen  hervorzutreten.  Milton  wurde 
durch  seine  Ueberzeugung  getrieben,  entschieden  fur  den  Puri- 
tanismus  Partei  zu  nehmen.  1641  erschien  von  ihm  eine  Schrift 
in  englischer  Sprache,  betitelt:    „Ueber   die  Reformation  in  Be- 

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Stern,  Alfred,  Milton  und  seine  Zeit.  41 

treff  der  Kirchenverfassung  in  England  und  die  Ursachen,  die 
rie  bis  jetzt  gehindert  haben,  in  zwei  Biichorn,  geschrieben  an 
einen  Freund".  Aus  der  Bibel  und  den  iibrigen  altesten  Ur- 
kunden  des  Christenthums  weist  er  nach,  dass  das  Bisthum  ur- 
sprunglich  ein  Gemeindeamt  gewesen,  die  Griinde  derjenigen, 
welche  aus  politischen  Gesichtspunkten  an  der  bischoflichen  Ver- 
fassnng  festhielten,  widerlegt  er  durch  den  Hinweis  auf  die 
Opposition,  die  das  Konigthum  vielfach  an  den  Bischofen  ge- 
Wden,  und  die  auch  in  England  zu  fiirchten  sei.  Dagegen 
stimme  die  freie  Wahl  der  Geistlichen  durch  das  Volk  zu  der 
parlamentarischen  Verfassung  Englands.  Im  Fortgang  der  Po- 
lemik  veroffentlichte  Milton  im  Sommer  1641  eine  zweite  Schrift: 
„Ueber  pralatisches  Bisthum,  und  ob  dasselbe  aus  den  aposto- 
lischen  Zeiten  hergeleitet  werden  kann"  und  gegen  einen  der 
eifrigsten  Vorkampfer  des  Bisthums  richtete  er  „Bemerkungen 
zu  der  Vertheidigung  des  Remonstranten  gegen  Smectymnuus". 
1642  erschien  von  ihm  eine  4.  Flugschrift  mit  dem  Titel:  „Das 
Wesen  der  Kirchenverfassung  klargestellt  gegen  das  Pralaten- 
thumu  und  eine  Schutzschrift  gegen  ein  Pamphlet,  betitelt  „Eine 
bescheidene  Widerlegung  der  Bemerkungen  zu  der  Vertheidigung 
des  Remonstranten  gegen  Smectymnuus". 

Eine  neue  Wendung  nahm  die  litterarische  Thatigkeit  Mil- 
tons  in  Folge  seiner  hauslichen  Schicksale.  Er  hatte  sich  1643 
mit  der  Tochter  eines  ihm  befreundeten  Gutsbesitzers  verhei- 
rathet.  Aber  zwischen  den  Ehegatten  kniipfte  sich  kein  engeres 
Band  der  Zuneigung.  Die  junge,  kaum  dem  Kindesalter  ent- 
wachsene  Frau  sehnte  sich  von  der  Seite  des  erasten  mit  wissen- 
schaftlichen  Arbeiten  beschaftigten  Mannes  bald  nach  den  Ver- 
gniigungen  des  elterlichen  Hauses  und  kehrte  schon  einen  Monat 
nach  der  Hochzeit  dorthin  zuriick.  Erst  nach  zwei  Ja&ren  kam 
es  zu  einer  Wiedervereinigung  der  Gatten,  ohne  dass  diese  Ehe, 
die  1652  durch  den  Tod  der  Fran  getrennt  wurde,  das  Herz 
des  Mannes  befriedigt  hatte.  Die  Frucht  dieser  haudichen  Zer- 
wurfiiisse  war  eine  Reihe  von  Schriften,  in  denen  Milton  die 
Frage  von  der  Ehescheidung  behandelt.  Das  sehnliche  Ver- 
langen,  von  einem  Zwange  gelost  zu  worden,  der  ihm  alles  haus- 
liche  Gliick  fiir  die  Zukunft  zu  verschliessen  schien,  legte  ihm 
die  Frage  nach  der  Berechtigung  der  englischen  Ehegesetzgebung 
nahe,  welche  die  Scheidubg  nur  aus  biblischen  Griinden  ge- 
stattete.  Indem  er  seinen  Fall  zum  Ausgaugspunkt  einer  all- 
gemeinen  Betrachtung  macht,  begriindet  er  die  Forderung 
einer  Reform  der  Ehegesetzgebung  mit  der  Auffassung  der  Ehe 
ak  einer  geistigen  Geraeinschaft.  Wenn  Unvertraglichkeit  der 
Gemiither  das  Wesen  der  Ehe  aufhebe,  sei  die  Trennung  der- 
selben  ein  Gebot  der  natiirlichen  Freiheit  und  der  Sittlichkeit. 
Characteristisch  fiir  die  Anschauung  der  Zeit  und  Milton's  selbst 
ist  es,  dass  er  seine  eigentliche  Beweisfiihrung  auf  die  Bibel 
stutzt  und  dass  er  das  Wort  Christi:  „Wer  sich  von  seinem 
Weibe  scheidet  (es  sei  denn  um  Ehebruch),  der  macht,  dass  sie 

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42  Stern,  Alfred,  Milton  und  seine  Zeit. 

die  Ehe  bricht"  (vergl.  Matth.  19,  9),  mit  der  durch  das  mo- 
saische  Gesetz  gewahrten  Freiheit,  die  Frau  zu  verstossen,  zu 
vermitteln  sucht. 

Dieser  Angriff  auf  eine  Satzung  der  presbyterianischen 
Kirche  zog  Milton  Anfeindungen  von  Seiten  der  Partei  zu,  unter 
deren  Vorkampfer  er  bis  dahin  gerechnet  worden  war. 

Die  Wendung,  welche  der  innere  Kampf  in  England  ge- 
nommen  hatte,  trug  noch  mehr  dazu  bei ,  Milton  auf  die  Seite 
der  kirchlichen  Opposition  zu  treiben.  Der  Puritanismus  war  in 
wenigen  Jahren  zu  einer  Macht  geworden,  welche  dieselben  An- 
spriiche  auf  Alleinherrschaft  erhob  wie  vorher  die  bischofliche 
Kirche.  Nachdem  man  die  militarische  Hiilfe  der  Schotten  gegen 
den  Konig  durch  ein  Bundniss  gewonnen  hatte,  das  England  zu 
einer  Reformation  der  Religion  „gemass  dem  Worte  Gottes  und 
dem  Muster  der  besten  reformirten  Kirchen"  verpflichtete ,  ging 
die  vom  Parlament  ernannte  Synode  ernstlich  daran,  die  neue 
kirchliche  Organisation  von  England  und  Irland  festzustellen. 
Dem  Begriff  einer  Landeskirche  mit  ausgedehnter  Strafgewalt 
traten  die  Independenten  mit  der  Forderung  der  kirchlichen 
Gemeindeautonomie  gegeniiber.  Sie  erklarten  es  fur  eine  Pflicht 
der  Obrigkeit,  die  Gewissensfreiheit  zu  schonen,  und  verlangten 
wenigstens  Toleranz  fur  diejenigen,  die  sich  der  Nationalkirche 
nicht  anschliessen  wollten.  Diese  Richtung  auf  die  Befreiung 
des  Individuums  von  beschrankenden  Satzungen  hatte  Milton 
schon  in  seinen  Schriften  iiber  Ehescheidung  eingeschlagen ,  in 
gleichem  Sinne  wandte  er  sich  1644  gegen  den  Versuch  der 
herrschenden  Partei,  durch  Wiedereinfiihrung  der  Censur  die 
Aeusserung  abweichender  Meinungen  zu  unterdriicken ,  mit  der 
Veroffentlichung  einer  Schrift  fur  die  Pressfreiheit ,  der  er  den 
Titel  Areopagitica  gab. 

An  der  weiteren  Durchfuhrung  des  Kampfes  zwischen  Pres- 
byterianismus  und  der  Sache  der  Independenten  hat  Milton 
keinen  hervorragenden  Antheil  genommen.  Erst  als  der  Sturz 
des  Konigs  schon  entschieden  war,  vertheidigte  er  in  einer 
Schrift  iiber  das  Recht  der  KCnige  und  Obrigkeiten  den  Grund- 
satz,  „da8s  es  fur  irgend  Jemanden,  der  die  Macht  dazu  hat,  ge- 
setzlich  ist  und  zu  alien  Zeiten  dafur  gegolten  hat,  einen  Ty- 
rannen  oder  schlechten  Konig  zur  Rechenschaft  zu  Ziehen,  und 
wenn  er  seiner  Schuld  uberfiihrt  worden  ist,  ihn  abzusetzen  und 
mit  dem  Tode  zu  strafen,  sobald  die  ordentlichen  Behorden  dies 
versaumt  oder  verweigert  haben."  Eine  Belohnung  fiir  diese 
Vertheidigung  des  Verfahrens  gegen  den  Konig,  welche  kurz 
nach  der  Hinrichtung  desselben  herauskam,  erhielt  Milton  mit 
der  Ernennung  zum  Secretar  des  Staatsraths  fiir  die  fremden 
Sprachen. 

Wahrend  Stern  an  diesen  kirchen-  und  socialpolitischen 
Schriften  Milton's  die  Begeisterung  fiir  Freiheit  und  Sittlich- 
keit,  den  Reichthum  an  Gedanken  und  Kenntnissen  hervorhebt, 
weist  er  darauf  hin,  wie  diese  Werke  von  den  Fe*hlern  der  Flug- 

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Salpins,  F.  v.,  Paul  von  Fuchs,  em  brandenburg.-preussischer  Staatsmann.  43 

schriftenlitteratur  jener  Zeit  nicht  frei  sind;  unser  Bild  von  dem 
sittenstrengen  Kampfer  und  Dulder  fur  Reinheit  des  Herzens 
und  Freiheit  des  Gewissens  wird  getriibt  durch  die  Leichtfertig- 
keit,  mit  der  historische  Facta  zusammengestellt  werden,  durch 
Willkiirlichkeit  in  der  Interpretation  der  Autoritaten  und  vor 
allem  durch  die  personliche  Verdachtigung  seiner  Gegner.  Selbst 
der  Ruhm  der  Ueberzeugungstreue  kann  bei  einem  Manne  nicht 
unbestritten  bleiben,  der  wenige  Jahre,  nachdem  er  die  presby- 
terianische  Kirchenverfassung  als  die  von  den  Aposteln  angeordnete 
nachgewiesen  und  eine  strenge  Kirchendisciplin  fiir  nothwendig  er- 
klart hatte,  die  Vertreter derselbenKirchenordnung mit denheftigsten 
Schmahungen  iiberhaufte,  der  die  Freiheit  des  Gewissens  vertheidigte 
und  doch  den  Eatholiken  Toleranz  versagte,  der  1642  noch  denKonig 
als  Statthalter  Christi  bezeichnete  und  1649  sich  zu  der  Behauptung 
versteigt,  das  Yolk  diirfe,  so  oft.es  ihm  gut  diinke,  den  Konig 
wahlen  oder  verwerfen,  behalten  oder  absetzen,  selbst  wenn  er 
kein  Tyrann  ist.  Auch  an  der  Discussion  iiber  Unterrichts- 
reform,  die  damals  von  Comenius  angeregt  wurde,  hat  sich 
Milton  1644  mit  einer  kleinen  Schrift  betheiligt,  die  statt  der 
formaleii  Bildung  durch  Grammatik  und  Logik  einen  durch  An- 
schauung  unterstiitzten  Unterricht  in  den  Bealien  verlangt.  Die 
Lecture  der  Elassiker  soil,  sobald  die  Elemente  des  Lateinischen 
und  Griechischen  erlernt  sind,  vorzugsweise  der  Mittheilung  von 
Kenntnissen  dienen.  Characteristisch  ist  die  Anordnung  dieser 
Lecture,  nach  der  mit  den  Autoren  iiber  Ackerbau  und  Natur- 
kunde  begonnen  werden  soil,  dann  sollen  Moral  und  Politik 
folgen,  und  die  formalen  Disciplinen  sollen  den  Abschluss  bilden. 
Berlin.  Braumann. 


xni. 

Salpius,  F.  v./  Paul  von  Fuchs,  ein  brandenburgisch-preussischer 
Staatsmann  vor  zweihundert  Jahren.  Biographischer  Essay, 
gr.  8.  (X,  196  8.)  Leipzig  1877.  Duncker  &  Humblot.  4  M. 
Paul  Fuchs  (vom  Kaiser  geadelt  1683,  Reichsfreiherr  seit 
1702)  wnrde  1640  zu  Stettin  geboren;  er  war  der  Sohn  eines 
evangelischen  Predigers  und  entstammte  einer  ansehnhdien  Pa- 
milie,  deren  Mitglieder  im  stadtischen,  wie  im  Staats-Dienst  ein- 
flussreiche  Stellungen  theils  eingenommen  hatten,  theils  noch 
bekleideten.  Auf  deutschen  und  niederlandischen  Universitaten 
griindlich  unterrichtet ,  durch  grossere  Reisen  gebildet,  machte 
Fuchs  schon  1661  sich  als  juristischer  Schriftsteller  bemerklich 
und  folgte  im  Jahre  1667,  nachdem  er  einige  Zeit  als  Advokat 
beim  Hof-  und  Kammergericht  zu  Berlin  thatig  gewesen  war, 
einem  Rufe  als  Professor  der  Jurisprudenz  an  der  Universitat 
Duisburg.  1670  kehrte  er  nach  Berlin  zuruck,  urn  zun^chst  als 
Geheimsekretar  bei  der  Person  des  Kurfiirsten,  dann,  allmahlich 
aufsteigend  im  Staatsdienste,  bis  an  sein  Lebensende  (1704)  einer 
der  verdienstvollsten  Mitarbeiter  an  der  Aufrichtung  des  preussi- 
schen  Konigthums  zu  bleiben.    Seine  Hauptwirkungsfelder  waren 

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44   Salpius,  F.  v.,  Paul  von  Fuchs,  ein  brandenburg.-preussischer  Staatemann. 

die  Kirchensachen ,  das  standische,  das  Lehns-  und  das  Post- 
wGsen ;  aber  auch  als  Kriegssekretar,  in  der  Domanenverwaltung, 
der  Steuergesetzgebung  und  namentlich  im  diplomatischen  Dienste 
durch  Gesandtschaftsreisen  war  er  von  ungemeiner  und  meist 
erfolgreicher  Thatigkeit. 

Dass  nicht  iiberall  klar  erhellt,  wie  weit  diese  Thatigkeit 
die  selbstandige ,  mit  eigener  Verantwortliohkeit  geubte  eines 
leitenden  Staatsmannes  ist,  hat  verschiedene  Griinde.  Schon  die 
biographische  Behandlung  bringt  es  mit  sich,  dass  der  Gegen- 
stand  derselben  stets  in  den  Mittelpunkt  des  weiten  Kreises 
der  Begebenheiten  und  der  Geschafte  geriickt  wird,  und  somit 
leicht  sich  der  Schein  erzeugt,  als  ob  an  eben  dieser  Stelle  stets 
auch  der  Schwerpunkt  zu  suchen  sei.  Je  liebevoller  der  Ver- 
fasser  beim  Sammeln  den  Spuren  seines  Helden  nachgegangen 
ist,  je  flei8siger  und  umsichtiger  er  sich  fur  ihn  der  besten 
Hiilfsmittel  und  der  reichsten,  bisher  zum  Theil  unbenutzten 
Quellen  bedient  hat,  desto  mehr  verblasst  der  An  theil  der 
Manner,  welche  als  Vorgesetzte  und  als  Gleichgestellte  mit  Fuchs 
an  demsclben  grossen  Werke,  das  ihre,  wie  seine  Lebensaufgabe 
war,  gearbeitet  haben.  Diese  Ausstellung  trifft  den  Verfasser 
keineswegs;  er  geniigt  seiner  Pflicht,  wenn  er  (wie  namentlich 
S.  67  und  S.  99—104  geschieht)  das  Verhaltniss  des  Paul  Fuchs 
zu  den  iibrigen  einflussreichen  Rathen  des  grossen  Kurfursten 
und  des  ersten  Konigs  andeutet;  aber  der  Leser  diirfte  doch 
daran  zu  erinnern  sein,  dass  er  die  Mitwirkung  der  anderen 
nicht  aus  den  Augen  verliere,  weil  er  vor  sich  stets  nur  den 
einen  bei  der  Arbeit  sieht.  —  Dazu  kommt,  dass  in  Folge  der 
eigenthumlichen,  nach  unseren  heutigen  Begriffen  unentwickelten 
Gestaltung  des  damaligen  Staatsdienstes ,  den  der  Verfasser 
(S.  32,  41,  109)  treffend  charakterisirt,  fest  umgrenzte  Geschafts- 
kreise,  innerhalb  deren  je  ein  Minister  waltet,  nicht  vorhanden 
waren,  Bearbeitung  und  Ausfiihrung  der  Sachen  vielmehr  je  nach 
dem  Befehle  des  Landesherrn  oder  nach  anderen  Umstanden 
vertheilt  wurde ;  und  mit  Recht  macht  der  Verfasser  darauf  auf- 
merksam,  dass  gerade  Fuchs,  als  Geheimsekretar  seines  Monar- 
ches gewiss  nicht  selten  nur  seine  scharfe  und  feine  Feder  ge- 
liehen  hat,  wo  er  in  den  Akten  als  Autor  erscheint. 

Trotzdem  ergiebt  sich  genug  fur  die  richtige  Wiirdigung 
der  staatsmannischen  Leistungen  unseres  kurfurstlichen  und  ko- 
niglichen  Rathes.  Er  hat  mit  grossem  Greschick  und  seltcner 
Arbeitskraft  im  Sinne  des  grossen  Kurfursten  gewirkt,  auf  wel- 
chem  Gebiete  auch  immer  er  sich  zu  bewegen  hatte.  Dass  er, 
in  erster  Linie  auf  das  Wachsthum  Brandenburg-Preussens  be- 
dacht,  dennoch  den  Faden  des  deutsch-nationalen  Gedankens  in 
den  Schlangenwindungen  der  Politik  seines  Zeitalters  nie  ver- 
loren ,  hat  er  nicht  in  seinem  amtlichen  Berufe  allein ,  sondern 
auch  durch  seine  Druckschriften  („Sendschreibenu  und  „Zei- 
tungen")  bewiesen,  in  denen  er  Deutschland  zur  Wachsamkeit 
und  zum  Handeln  gegeniiber  der  von  den  Franzosen  drohenden 

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Denischrift  Karl  Friodrichs  III.  v.  Brandeub.  an  Kaiser  Leopold  L  etc.    45 

Gefohr  aufruft.  Strassburg  insbesondere  lag  ihm  am  Herzen; 
und  als  Ludwig  XIV.  in  den  Vorverhandlungen,  die  zu  dem 
Bjswiker  Frieden  fuhrten,  ein  „raisonnables  Aequivalent"  fur 
diese  Reichsstadt  anbot,  drang  er  eifrig  darauf,  solche  Vor- 
Bchlage  von  der  Hand  zu  weisen;  denn  es  konne  kein  Aequiva- 
lent in  der  Welt  erfunden  werden,  welches  dasjenige,  was  Strass- 
burg fur  das  Reich  bedeute,  zu  egaliren  vermochte.  In  den 
inneren  Angelegenheiten  ging  sein  unermiidliches  Streben  dahin, 
die  landesherrliche  Gewalt  von  standischen  und  anderen  Fesseln 
zu  befreien,  die  Landesrechtspflege  von  auswartigen  Instanzen 
unabhangig  zu  machen,  den  Frieden  zwischen  evangelischen  und 
katholischen  Einwohnern  zu  wahren,  die  Union  der  Lutheraner 
und  der  Reformirten  anzubahnen;  besonders  lebhaft  nahm  er 
sich  der  franzosischen  Refugies  an.  Er  half  die  Universitat 
Halle  griinden.  Sein  klarer  Blick  sah  in  Bezug  auf  das  Zunft- 
und  Innungswesen  weit  uber  den  Gesichtskreis  seiner  Zeit.  Sein 
Name  begegnet  uns,  vorziiglich  in  der  Mark  Brandenburg,  auf 
alien  Feldern  der  Gesetzgebung;  denn  diese  war  meistentheils 
eine  Gelegenheitsgesetzgebung ,  die  jedesmal  an  den  einzelnen, 
dag  Bediirfhiss  fiihlbar  machenden  Fall  anknupfte.  Nach  alien 
diesen  Richtungen  hin,  so  wie  in  Bezug  auf  die  Verwaltungsgrund- 
satze  und  auf  das  Geschaftsver&hren  bei  Staats-,  standischen 
und  Kommunal  -  Behorden  enthalt  das  vorliegende  Buch  viel 
Lehrreiches. 

Bei  der  grossen  Sorgfalt,  mit  welcher  dasselbe  gearbeitet 
iat,  sind  nur  wenige  Yerse'ien,  auch  diese  nur  Schreib-  oder 
Druckfehler,  zu  verzeichnen ;  z.  B.  S.  3  1657  fur  1637,  S.  12 
unterweislich  fur  unverweislich;  S.  59  stimmen  die  Zahlen 
40,000  und  30,000  nicht  mit  einander;  S.  113  steht  Kurfiirst 
fur  Eonig. 

Wenn,  wie  es  den  Anschein  hat,  wPaul  Fuchs"  die  erste 
historische  Arbeit  ist,  welche  der  Verfasser  veroffentlicht ,  so 
werden  die  gewonnenen  Erfolge  ihm  hoffentlich  eine  Aufforde- 
rung  sein,   den  eingeschlagenen  Weg  auch  weiter  zu  verfolgen. 

Berlin.  F.  Holtze, 

XIV. 

Denkschrift  Kurfiirst  Friedrichs  III.  von  Brandenburg  an  Kaiser 

Leopold  I.  uber  die  Nothwendlgkeit  der  Wiedererwerbung 

Strassburgs.    1696.    8°.   (22  S.)   Strassburg  1877.   R.  Schultz 

&  O      50  Pf. 

Als   in  den  Vorverhandlungen,    die    1697    zum  Byswiker 

Frieden  fiihrten,  Ludwig  XTV.  sich  bereit  erklarte,  Freiburg  und 

Breisach   an   Oesterreich    zuriickzugeben ,    falls    dieses   auf  die 

Herausgabe  Strassburgs   an   das  Reich  verzichte,   lag  die   Be- 

furchtung  nahe,    dass  Kaiser  Leopold  auf  einen  fur  seine  Haus- 

macht  so  vortheilhaften  Vorschlag  eingehen  und  die  damals  nur 

auf  zwanzig  Jahre   an  Frankreich   iiberlassene  Reichsstadt  auf 

immer  von  Deutschland  abkommen  lassen  werde.    Diese  Besorg- 

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46  Henckel-Donnersmarck,  Leo  Amadeus  Graf,  Briefe  etc. 

niss  veranlasste  den  Kurfiirsten  Friedrich  EI.,  am  28.  Juli 
(7.  August)  1696  von  Cleve  aus,  wo  er  sich  gerade  aufhielt, 
ein  Schreiben  an  den  Kaiser  zu  rich  ten,  in  welchem  er  mit 
schlagenden  Griinden  und  ergreifenden  Worten  die  Nothwendig- 
keit,  Strassburg  dem  Reiche  zu  erhalten,  entwickelt.  Von  diesem 
bisher  nicht  veroffentlichten  Schriftstiicke  ist  jiingst  in  Strass- 
burg  eine  Abschrift  gefunden  worden,  und  die  Gemeindeverwal- 
tung  der  Stadt  hat  dasselbe,  auf  Pergament  gedruckt  mit  Typen, 
die  den  stattlichsten  Druckformen  des  17.  Jahrhunderts  geschickt 
nachgebildet  sind,  dem  Kaiser  Wilhelm  bei  seiner  ersten  Kaiser- 
reise  durch  den  Elsass  (Mai  1877)  als  eine  sinnige  Pestgabe 
dargebracht.  In  den  Buchhandel  sind  zwei  Ausgaben  der  Denk- 
schrift  gekommen,  —  beide  mit  einem  kurzen,  von  P.  Ebrard 
verfassten  Nachweise  des  geschichtlichen  Zusammenhangs ,  — 
die  eine  I1/,  Bogen  in  Quart  (50  Pf.),  die  andre,  nur  in  250 
Exemplaren  auf  hollandisches  Papier  abgezogen,  4  Bogen  in 
Folio  mit  bunter  Einrahmung  der  Seiten  und  stilgemasser  Schluss- 
vignette  (2  M.) 

Berlin.  P.  Holt?e. 


XV. 
Henckel-Donnersmarck,  Leo  Amadeus  Graf,  Briefe  der  Briider 
Friedrlchs  des  Grossen  an  melne  Grosseltern.  Mit  Portrait 
und  Facsimile  eines  Briefes  des  Prinzen  Heinrich  von  Preussen. 
gr.  8.  (120  S.)  Berlin  1877.  F.  Schneider  &  Comp.  3,60  M. 
In  der  Vorrede  (36  Seiten)  des  glanzend  ausgestatteten 
Buches  giebt  der  Verfasser  Nachrichten  uber  seine  Vorfahren. 
Die  schlesische  Familie  der  Henckel  war  seit  der  Reformation 
evangelisch  und  schied  sich  in  eine  Beuthensche  und  eine  Tarno- 
witz  -  Neudecker  Linie;  jene  wurde  im  Anfang  des  17.  Jahr- 
hunderts katholisch  gemacht  und  zu  ihren  Ghinsten  die  andre 
von  der  osterreichischen  Regierung  ihrer  standesherrlichen  Rechte 
beraubt;  eine  Gewaltthat,  deren  Folgen  erst  Friedrich  II.  nach 
dem  zweiten  schlesischen  Kriege  durch  Wiedereinsetzung  der 
Tarnowitz  -  Neudecker  Linie  in  die  ihr  entzogenen  politischen 
Rechte  aufhob.  Diesem  Zweige  der  Familie  gehort  der  Gross- 
vater  des  Herausgebers  an,  Victor  Amadeus,  Adjutant  des 
Prinzen  Heinruah  im  siebenjiihrigen  Kriege,  als  General-Lieute- 
nant 1793  verstorben.  An  ihn  und  an  seine  Gemahlin  Ottilie, 
geborne  Grafin  von  Lepel,  die  bis  zu  ihrem  Tode  (1843)  als 
kraftgeniale  Erscheinung  eine  Rolle  am  Hofe  zu  Weimar  gespielt 
hat,  wohin  sie  nach  dem  Ableb^i  ihres  Gatten  als  Oberhof- 
meisterin  der  Grossfiirstin  Maria  Paulowna  gekommen  war,  sind 
die  vorliegenden  Briefe  gerichtet  Als  freundschaftliche  Zu- 
schriften  bringen  dieselben  nichts  Neues  zur  Staatsgeschichte ; 
selbst  an  unserer  Kenntniss  von  den  Charakteren  der  drei 
Bruder  Fri^drichs  II.  andern  sie  nichts;  aber  sie  verscharfen 
die  Ztige  der  Bilder,  welche  wir  besitzen,  und  die  Veroffent- 

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Henckel-Donnersmarck,  Leo  Amadous  Graf,  Briefe  etc.  47 

lichung  ist  daher   auch    yon   der  Wissenschaft  willkommen   zu 


Die  Zahl  der  Briefe  betragt  im  Ganzen  42.  Unter  ctiesen 
rind  5  von  dem  Prinzen  von  Preussen  (August  Wilhelm)  in  den 
Jahren  1756 — 1758  an  den  General  geschrieben.  Sie  helfen  die 
romanhafte  Ueberlieferung  zerstoren,  der  Prinz  sei  an  gebroche- 
nem  Herzen  gestorben,  trostlos  liber  die  harte  Behandlung,  die 
ihm  Seitens  seines  koniglichen"  Bruders  widerfahren ;  er  schreibt 
im  Gegentheil,  fttnf  Wochen  vor  seinem  Toc|e,  ingrimmig,  aber 
mit  kalter  Ruhe:  me  void  en  retraite,  dont  je  maccomode  fort 
bien;  quelque  foi  je  pense  encore  k  la  honte  d'etre  ainsi  exile 
et  inutU,  mais  etant  convincu,  quil  ny  a  pas  de  ma  faute,  je 
m'en  f.. . . 

25  Briefe  riihren  vom  Prinzen  Heinrich  her,  5  aus  den 
Jahren  1783 — 1792  an  den  General,  20  aus  der  Zeit  von  1793 
bis  1802  an  dessen  Wittwe.  Jene  attune*  das  Missvergniigen 
fiber  die  vermeintliche  Ungerechtigkeit  des  alternden  Friedrich 
und  liber  die  des  fridericianischen  Geistes  entbehrende  Fiihrung 
der  Staatsgeschafte  dureh  den  neuen  Konig  Priedrich  Wil- 
helm II.  Mit  Behagen  erzahlt  er  1791 ,  wie  er  den  monumen- 
talen  Ausdruck  seiner  Opposition,  das  zu  Ehren  Priedrichs  und 
seines  Heeres  in  Rheinsberg  errichtete  Denkmal,  eingeweihfc  habe ; 
j'ai  rappell&  k  Pesprit  et  au  coeur   tous  les  noms  que  j'ai  pu 

parler  et  dont  le  grand  Frederic  dans  ses memoires 

ne  dit  pas  le  mot,  und  Jedermann  weiss,  was  die  Punkte  des 
Originals  zu  bedeuten  haben.  —  Heureusement ,  schreibt  er  in 
demselben  Jahre  aus  Rheinsberg,  que  j'ignore  ici  1' existence  de 
Berlin,  Potsdam,  de  Frederic  Guillaume,  du  Roi  Bischoffswerder, 
du  Roi  Wollner  et  des  soeures  benyse  en  ThSologie,  qu'on  a 
plantes  k  Berlin,  qui  doivent  introduire  la  nouvelle  doctrine,  -  mais 
auxquels  a  tout  moment  on  donne  le  pied  au  . .  .  —  Im  De- 
zember  1792  kritisirt  er  mit  gewohnter  Scharfe  die  Campagne 
in  Prankreich  und  sagt  die  Polgen  derselben  fur  den  weiteren 
Verlauf  des  Krieges  voraus.  In  Bezug  auf  die  personliche  An- 
wesenheit  des  Konigs  bei  der  Armee  am  Rheine  spottet  er: 
Placez  un  sac  de  lame  derriere  un  bataillon,  mettez  y  une  c&str 
ronne,  et  que  ce  soit  sous  le  feu  du  canon  ennemi,  vous  con- 
viendrez  que  ce  bataillon  et  moins  encore  Tarm6e ,  auront  de 
l'avantage  pour  avoir  ce  sac  avec  eux,  faites  en  Implication. 

Die  iibrigen,  an  die  Wittwe  des  Generals  geschriebenen 
20  Briefe  des  Prinzen  Heinrich  zeigen,  mit  wie  zarter  und  un- 
ermudlich  thatkraftiger  Fiirsorge  er  bis  an  sein  Bode  bemiilrt 
ist,  das  Loos  der  Hinterbliebenen  seines  alten  Adjutanten  zu 
verbessern,  namentlich  den  jungen  Sohn  desselben  durch  eine 
vorzugliche  Erziehung  fur  eine  angemessene  Berufsstellung  vor- 
zubereiten.  Wie  das  sonst  wenig  hervortretende  Gemttthsleben 
des  Prinzen  hier  in  der  liebenswurdigsten  Weise  sich  aussert, 
so  bildet  in  den  12  Briefen  des  Prinzen  Ferdinand  (1  von  1777 
au  den  General,  11  aus  den  Jahren  1793—1803  an  die  Wittwe) 

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48  Denkw&rdigkeiten  Hardenbergs. 

den  sehonsten  Theil  des  sonst  wenig  bedeutenden  Inhalts  die 
wiederholte  riihrende  Klage  des  jiingsten  Bruders  urn  den  im 
Jahre  1802  ihm  durch  den  Tod  entrissenen  letzten  Bruder,  den 
Prinzen  Heinrich. 

Berlin.  F.  Holtze. 


XVI. 
Ranke,  Leop.  v.,  Denkwiirdigkeiten  des  Staatskanzlers  Fursten 
von   Hardenberg    bis   zum  Jahre   1806.    4  Bande.    gr.   8. 
(XVI,  633;   IX,  619;   VH,  453   u.  Anhang   108  S.)    Leip- 
zig 1877,  Duncker  &  Humblot.     60  Mark. 

Die  lange  erwarteten  Denkwiirdigkeiten  des  Staatskanzlers 
Fursten  Hardenberg,  von  dem  ersten  Historiker  Deutschlands 
publicirt,  sind  endlich  in  unsern  Handen.  Eine  fast  iiberwai- 
tigende  Ftille  bedeutsamen  Materials  stand  dem  Herausgeber  zu 
Gebote:  in  den  Papieren  der  Familie,  in  Efordenberg's  Auf- 
zeichnungen  aus  friiherer  Zeit,  in  seinen  Tagebuchnotizen ,  in 
einem  umfangreichen  Fragmente  eigenhandiger  Memoiren  und 
dessen  urkundlichen  Beilagen,  in  einer  breiten,  im  Auftrage  des 
Staatskanzlers  vom  Legationsrath  Scholl  in  franzosischer  Sprache 
ausgearbeiteten  Darlegung  der  politischen  Thatigkeit  Harden- 
berg's  vom  Jahre  1794  bis  zum  Jahre  1813,  endlich  in  den 
Akten  der  Staatsarchive  von  Hannover  und  Berlin.  Form  und 
G-estalt,  welche  der  Herausgeber  diesem  Material  gegeben,  sind 
einigen  Bedenken  begegnet.  Die  Einen  erwarteten  eine  auf 
Grund  aller  jener  Quellen  von  Ranke's  Meisterhand  gezeichnete 
Biographie  Hardenberg's,  die  Anderen  eine  wohlgeordnete  Reihe- 
folge  der  unmittelbaren  Zeugnisse  der  politischen  Thatigkeit 
Hardenberg's,  d.  h.  seiner  eingreifenden  und  charakteristischen 
Berichte,  Gutachten,  Denkschnften  und  Aufzeichnungen ,  durch 
den  Herausgeber  verbunden  und  erlautert.  Kanke  hat  weder 
diese  noch  jene  Behandlungsart  gewahlt.  Er  giebt  uns  eine 
Biographie  Hardenberg's,  jedoch  nur  bis  zu  dessen  Eintritt  in 
den  Dienst  Preussens.  Das  Interesse  an  dem  reichen  Gewinn, 
der  der  preussischen ,  der  europaischen  Geschichte  aus  den  ihm 
vorliegenden  Dokumenten  zuwachsen  musste,  war  so  iiberwiegend, 
dass  Banke  vorzog,  deren  Ergebniase  sofort  mittelst  einer  zusammen- 
fassenden  Darstellung  der  gesammten  Epoche  von  1794  bis  zu 
den  Jahren  1813  und  1814  zu  lebendiger  Anschauung  zu  bringen. 
Der  Hintergrund,  auf  welchem  Hardenberg's  Thatigkeit  im 
preussischen  Staatsdienste  sich  zu  bewegen  und  zu  bewahren 
hatte,  kommt  damit  zu  voller  Beleuchtung;  dieser  Thatigkeit 
selbst  wird  die  gebotene  besondere  Beriicksichtigung  zu  Theil, 
freilich  aber  kann  dabei  Hardenberg's  Personlichkeit  nicht  immer 
zu  ihrem  Recht  gelangen.  „Was  man  gewohnlich  Denkwiirdig- 
keiten nennt,  tritt  hier  vor  dem  grossen  Interesse  des  Staats 
und  der  Welt  zuriick  und  geht  gleichsam  in  ihnen  auf."  Diese 
Darstellung  fullt  den  ersten  und  den  letzten  Band  des  Werkes 


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Denkwurdigkeiten  Hardenborgs.  49 

(Bd.  L  und  Bd.  IV.),  wahrend  die  beiden  mittleren  Bande  (Bd.  U. 
und  Bi  IE.)  die  „eigenhandigen  Memoiren"  Hardenberg's  ent- 
Iialten,  die  Aufeeichnung ,  in  welcher  Hardenberg  seine  Erinne- 
rungen  aus  den  Jahren  1803—1807,  die  Rechtfertigung  seiner 
Massnahmen  und  seines  Verhaltens  wahrend  seiner  ersten  Ver- 
waltung  des  auswartigen  Amts  niedergelegt  hat. 

Es  ist  ein  hochst  anziehendes  Bild  der  Jugendgeschichte 
Hardenberg's  und  der  damaligen  Zustande  Deutschlands,  welches 
uns  der  Eingang  der  „Denkwiirdigkeiten"  entrollt.  Der  nachmalige 
Staatskanzler  gehort  einem  Ministerialengeschlecht  an,  welchemErz- 
bischof  Gebhard  von  Mainz  im  Jahre  1287  das  Schloss  auf  dem 
Hardenberge  als  Pfandbesitz  iiberlassen  hatte.  Glieder  dieses  Ge- 
schlechtes  stehen  noch  im  sechszehnten  Jahrhundert  im  Dienst 
des  Erzbisthums,  bis  im  Jahre  1571  der  Uebertritt  zur  Augs- 
burgischen  Konfession  erfolgt  Der  Versuch,  den  Mainz  im  dreissig- 
jahrigen  Kriege  macht,  den  Hardenberg  wieder  zu  gewinnen, 
scbeitert  an  Gustav  Adolph's  Sieg  bei  Breitenfeld.  Danach  dienen 
die  Hardenberge  dem  Hause  der  Welfen.  Karl  August,  des 
Staatskanzlers  Vater,  focht  mit  den  hannoverischen  Truppen 
miter  Ferdinand  von  Braunschweig  und  stieg  nach  dem  sieben- 
jahrigen  Kriege  bis  zum  hannoverischen  Feldmarschall  auf.  Dem 
Sohne  (geb.  1750),  der  schon  im  zwanzigsten  Jahre  seine  Stu- 
dien  zu  Gottingen  und  Leipzig  im  Recht,  insbesondere  im  Reichs- 
recht  und  der  Volkswirthschaft,  beendet  hatte,  gewahrten  Stellung 
und  Ansehen  der  Familie  die  besten  Aussichten  zu  raschem  Auf- 
steigen  im  Staatsdienst ;  er  wurde  Auditor  bei  der  Justizkanzlei 
and  bald  bei  der  Kammer  zu  Hannover.  Zu  grossem  Befremden 
gereichte  es  der  Familie,  dass  KSnig  Georg  HI.  die  zwei  Jahre 
nach  Hardenberg's  Eintritt  fur  ihn  in  Aussicht  genommene  Raths- 
stelle  verweigerte:  der  junge  Auditor  moge  zunachst  auf  Reisen 
weitere  Ausbildung  suchen.  Diese  fuhrten  Hardenberg  durch 
Deutschland,  Holland,  England  und  Frankreich.  Mit  eigenen 
Augen  sab  er  die  Ohnmacht  des  Reichskammergerichts ;  er  fand 
Zutritt  an  den  deutschen  Hofen,  lernte  die  leitenden  Staats- 
manner  kennen  und  wurde  mit  Land  und  Leuten  vertraut.  Er 
beobachtete  lebhaft  und  gut,  ohne,  wie  die  „Denkwurdigkeiten"  be- 
merken,  besonders  tief  zu  sehen.  Die  frischen  Stromungen,  die 
damals  im  deutschen  Geistesleben  zu  fluthen  begannen,  die 
ersten  Niederschlage  unserer  jungen  Litteratur  liessen  den  Schiiler 
Gellert's  und  Putter's  nicht  unberiihrt.  Den  erwachenden  Ideen 
der  Reform  trug  er  einen  offenen  und  hochst  empfanglichen 
Sinn  entgegen.  Sein  klarer  Verstand,  sein  wohlwollendes  Herz 
haben  ihn  dann  durch  alle  Phasen  seines  Lebens  in  dieser  Rich- 
tung  festgehalten.  Seine  Sitten  waren  und  blieben  trotz  oft 
wiederholter  guter  Vorsatze  die  eines  Cavaliers  jener  Tage.  Wie 
leicht  erregbar  sein  Naturell  war,  er  wurde  dennoch  zu  festerer 
Haltung  und  zu  einer  gesunderen  Grundlage  seines  Lebens  ge- 
kommen  sein ,  ware  er  stark  genug  gewesen ,  die  Neigung ,  die 
ihn  zu  der  alteren  Schwester  Stein's  ergriff,   dem  Willen  seiner 

HlUheUuntfeo  a.  d.  histor.  Litteratur.    VI.  4 

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50  Denkwfirdigkeiten  Hardenbeigs. 

Eltern  gegeniiber  zu  behaupten.  Unzweifelhaft  hatte  diese  Ver- 
bindung  seiner  Haltung  eine  Anlehnirog  unschatzbaren  Werthes, 
seinem  Leben  einen  sittlich  strafferen  Gang  gegeben. 

Von  seiner  Reise  zuriickgekehrt,  wurde  der  Auditor  Harden- 
berg  Kammerrath  und  geheimer  Kammerrath  in  Hannover.  Die 
Eltern  gaben  ihm  eine  Grafin  Reventlow  zur  Fran.  Sein  Ehr- 
geiz  richtete  sieh  darauf,  residirender  Minister  Hannovers  in 
England  zu  werden.  Konig  Georg  personlich  bekannt  zu  werden, 
ging  Hardenberg  1781  mit  seiner  Gattin  nach  England;  das 
Liebesverhaltniss ,  welches  der  Prinz  von  Wales  mit  ihr  an- 
kniipfte,  zwang  Hardenberg,  Windsor  und  England  schleunigst 
zu  verlassen.  „Zur  Rettung  seiner  Ehre"  nahm  er  die  Ver- 
tretung  Hannovers  am  Reichstage  zu  Regensburg  in  Anspruch. 
Die  Ablehnung  des  Konigs  entschied  ihn ,  den  hannoverischen 
Dienst  zu  verlassen,  die  Stellung  ernes  Mitglieds  des  Geheimen 
Raths  und  Prasidenten  der  Klosterkammer,  die  ihm  Herzog  Karl 
von  Braunschweig  bot,  anzunehmen.  Am  1.  Mai  1782  in  diese 
Funktionen  eingetreten,  konnte  er  hier  zuerst  den  Tendenzen  der 
Reform,  die  in  ihm  lebten,  Raum  schaffen.  Er  iibernahm  die 
Umgestaltung  des  Schulwesens  nach  den  Grundsatzen  J.  H.  Campe's, 
der  um  dioselbe  Zeit  nach  Braunschweig  berufen  wurde.  Eine 
Schulbehorde  des  Staats  sollte  fortan-  das  Unterrichtswesen  tiber- 
wachen  und  leiten ;  die  Universitat  wollte  er  von  Helmstadt  nach 
Wolfenbuttel  verlegen  und  besser  ausstatten.  Die  Reform  schei- 
terte  an  dem  -  hartnackigen  Widerstande  der  Geistlichkeit  und 
der  Landstande.  Eine  zweite  Verheirathung  Hardenbergs  (1788) 
—  das  Verhaiten  seiner  ersten  Frau  in  Braunschweig  hatte  zur 
Scheidung  gefuhrt  —  verbesserte  den  Fehler  der  ersten  Ehe 
nicht;  seine  Beziehungen  zum  Hofe  des  Herzogs  wurden  getriibt; 
auch  weiterhin  blieb  ihm  das  Gliick  des  Hauses,  der  Segen  treuer 
Lebensgemeinschaft  entzogen. 

Noch  Kammerrath  in  Hannover,  hatte*  sich  Hardenberg 
als  der  bairische  Erbfolgekrieg  zum  Ausbruch  kam,  bemiiht, 
dahin  einzuwirken,  dass  sich  Hannover  zu  reichsgesetzlichem 
Eintreten  fur  Preussen  gegen  Joseph's  Uebergriffe  entschliesse. 
In  Braunschweig  war  er  in  der  Lage,  nicht  nur  fur  den  Ein- 
tritt  des  Herzogthums  sondern  auch  fur  den  Eintritt  Hannovers 
in  den  Fiirstenbund  nachdriicklich  wirken  zu  konnen.  Der  Freund 
seiner  Jugend  Heinitz  war  in  Preussen  Minister.  Hardenberg 
kannte  Hertzberg  und  verehrte  ihn.  Es  traf  sich,  dass  Karl 
Alexander  yon  Bayreuth  —  seit  1769  auch  Markgraf  von  Ans- 
bach  —  einen  preussischen  Beamten  zur  Leitung  seiner  Ver- 
waltung  verlangte  Hertzberg  legte  Gewicht  darauf,  den  Schein 
zu  vermeiden,  als  ob  Preussen  die  Markgrafschaften  schon  vor  dem 
Ableben  Karl  Alexander's  einziehe.  Er  schlug  Hardenberg  vor. 
Wahrend  der  Verhandlungen  zu  Reichenbach,  im  Hauptquartier 
zu  SchOnwalde  genehmigte  der  Herzog  von  Braunschweig  Har- 
denberg's  Austritt  aus  seinem  Dienst,  verfugte  Friedrich  Wil- 
helm  IL:  Hardenberg  bei  eintretender  Veranderung  in  den  Mark- 
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Denkwiirdigkeiten  Hardenbergs.  51 

grafechaften  in  seinen  Dienst  zu  ubernehmen.  Karl  Alexander 
ernannte  Hardenberg  zum  dirigirenden  Minister  beider  Fiirsten- 
th&ner.  Dieser  indirekte  preussische  Dienst  Hardenberg's  ver- 
wandelte  sich  schon  im  nachsten  Jahre  in  den  direkten;  seit 
dem  Herbst  des  Jahres  1791  leitete  er  offen  als  Kabinetsminister 
Friedrich  Wilhelm's  II.  die  Verwaltung  der  Fiirstenthiimer.  Mit 
seltener  Geschicklichkeit  verstand  er  es,  die  Hemmungen  des 
Kreis-  und  Reichsverbandes,  in  denen  sich  diese  Lande  befanden, 
zu  losen,  die  preussischen  Einrichtungen  mit  den  hier  herge- 
brachten  Formen  in  Uebereinstimmung  zu  setzen,  die  Hulfs- 
quellen  dieser  Gebiete  zu  entwickeln,  deren  wirthschaftliches 
Leben  zu  kraftigen.  Er  gewann  Erfolge,  die  noch  heute  in  der 
daakbaren  Erinnerung  jener  Lande  leben. 

Die  Denkwiirdigkeiten  verlassen,  zu  diesem  Punkte  gelangt, 
den  Rahmen  der  Biographie,  urn  weitere  Gesichtspunkte  zu 
nehmen.  Es  biesse  Eulen  nach  Athen  tragei*,  die  virtuose  Gruppi- 
rang  der  historischen  Gemalde,  die  hier  boginnen,  die  Charak- 
teristik  der  handelnden  Personen,  die  Schilderung  der  einander 
bekSmpfenden  Tendenzen  jener  Epoche  anerkennend  hervorheben 
zn  wollen.  Ich  beschranke  mich  darauf ,  die  ursachliche  Ver- 
kettung  der  Ereignisse,  wie  ich  deren  Zusammenhang  und  Be- 
grondung  zu  erkennen  glaube,  in  kurzen  Ziigen  andeutend  fest- 
zugteUen.  Mit  bestem  Recht  heben  die  Denkwiirdigkeiten  hervor, 
welche  Bedeutung  der  bevorstehende  Anfall  von  Ansbach  und 
Bayreuth,  die  im  Januar  1791  zuerst  im  Geheimen  erfolgte  Cession 
der  Markgrafechaften  fur  den  gesammten  Gang  der  damaligen  Po- 
litik Preussens  gehabt  hat.  Der  ersten  Sendung  Bischofewerder's 
nach  Wien  im  Februar  1791  ist  diese  Frage  nicht  fremd  ge- 
wesen,  wenn  sie  die  Sendung  auch  keineswegs  hervorgerufen  hat. 
Die  Wendung  der  preussischen  Politik,  die  meist  aus  dieser  An- 
knupfung  hergeleitet  wird,  bleibt  in  ihren  Motiven  vollig 
mi8sverstanden ,  wenn  man  sie  in  hergebrachter  Weise  auf  die 
reaktionaren  Tendenzen  Friedrich  Wilhelm's  II.  zuriickfiihrt. 
Friedrich  Wilhelm's  Tendenzen  dieser  Art  lagen  auf  dem  Ge- 
biete der  Religion.  Der  Voltairianismus  war  seinem  weichen 
und  glaubensbediirftigen  Gemiith  zuwider,  er  war  von  der  Ver- 
derbhchkeit  dieser  Richtung  iiberzeugt;  um  ihr  zu  begegnen, 
traf  er  die  verkehrtesten  Massregeln.  Auf  politischem  Gebiet 
hat  er  in  den  ersten  Jahren  seiner  Regierung  keinerlei  Bedenken 
gehabt,  mit  alien  Elementen  der  Opposition  und  Revolution,  in 
Frankreich,  in  Belgien,  in  Ungarn,  in  Galizien,  in  Liittich,  die 
den  Zwecken  seiner  Politik  forderlich  sein  konnten,  in  Verbin- 
iung  zu  treten;  in  den  spateren  Jahren  derselben,  gerade  als 
die  Schreckensherrschaft  in  Frankreich  auf  dem  Gipfel  stand, 
hat  er  seinem  Staate  das,  freilich  von  seinem  Vorfahr  langst  vor 
ihm  begounene ,  doch  auch  von  ihm  lebhaft  geforderte  Gesetz- 
buch  gegeben,  das  in  seinen  Grundgedanken  den  Stempel  des 
Liberalismus  tragi-  Jene  Annaherung  an  Oesterreich  hatte  in 
3»rem  Ursprunge  weit  andere  Zwecke  als  den  des  gemeinsamen 

4* 

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52  Donkvtfirdigkeiten  Hardenbergs. 

Kampfe8  gegen  die  Revolution,  der  ihr  untergelegt  wird.  Fried- 
rich  Wilhelm  hatte  Oesterreich  zu  Reichenbach  gezwungen,  auf 
alle  Eroberungen,  die  es  im  Bunde  mit  Russland  gegen  die  Pforte 
gemacht  hatte,  zu  verzichten.  Indem  er  sich  anschickte,  im 
Bundniss  mit  England,  Russland  mit  gewaffneter  Hand  dieselbe 
Entsagung  aufzuerlegen ,  wurde  man  in  Berlin  inne,  dass  die 
Konvention  von  Reichenbach  nicht  ausreiche,  Oesterreich  abzu- 
halten,  Russland  zu  Hiilfe  zu  kommen,  wenn  Russland  von  Preussen 
angegriffen  wurde.  Nachdem  man  Oesterreich,  freilich  auf  dessen 
schwere  Eosten,  selbst  vom  Kriege  gegen  die  Pforte  frei  ge- 
macht, sah  man  sich  zu  dem  Versuche  genothigt,  Oesterreich 
von  Russland  zu  trennen,  sich  wenigstens  der  Neutralitat  Oester- 
reichs  zu  versichern,  um  sich  die  Flanke  fur  den  Krieg  gegen 
Russland  zu  decken.  Das  war  der  Grund  jener  ersten  Sendung. 
Sie  scheiterte  an  Leopold's  festem  Entschlusse,  die  Allianz  mit 
Russland  fcstzuhalten.  Friedrich  Wilhelm  ging  dennoch  gegen 
Russland  vor.  Aber  im  entscheidenden  Moment,  gerade  als  der 
Konig  im  Begriff  war,  zu  seiner  zum  Angriff  auf  Riga  ver- 
eammelten  Armee  abzugehen,  versagte  England  in  plotzlicher 
Umkehr  die  Unterstiitzung  durch  seine  Flotten.  Als  dann  dem 
Konige  sogar  Demonstrationen  derselben  nicht  zu  Hiilfe  kommen 
sollten,  erklarte  Friedrich  Wilhelm:  „es  miide  zu  sein,  sich  die 
Schelle  von  England  anhangen  zu  lassen"  (7.  Juni  1791).  „Neben 
solchem  Benehmen  Englands",  wie  der  Konig  sich  ausdriickt, 
war  es  Leopold,  der  die  Annaherung  zwischen  Oesterreich  und 
Preussen  nun  seiner  Seits  zu  Stande  brachte.  Wie  zuriickhal- 
tend  er  bisher  der  Revolution  in  Frankreich,  den  Anliegen  seiner 
Schwester  gegeniiber,  geblieben  —  als  er  um  die  Mitte  des  Mai 
Kunde  von  der  Absicht  Ludwig's  erhielt,  Paris  zu  verlassen  und 
seine  Residenz  an  der  belgischen  Grenze  zu  nehmen,  erkannte 
er,  dass  es  unmoglich  sein  werde,  dem  Gange  der  Ereignisse  in 
Frankreich  noch  langer  unthatig  zuzusehen.  Hatte  sich  Preussen 
ihm  genahert,  um  nicht  im  Kriege  gegen  Russland  von  ihm  in 
die  Flanke  genommen  zu  werden,  so  musste  er  nunmehr  sich 
Sicherheit  verschaffen,  bei  einer  Intervention  in  Frankreich  von 
Preussen  nicht  gestdrt  zu  werden.  Er  war  es  nun,  der  Bereit- 
willigkeit  zur  Verstandigung  mit  Preussen  zeigte,  die  Absendung 
eines  Bevollmachtigten  zu  diesem  Zwecke  erbat,  wenn  er  auch 
noch  zugleich  Katharina  versicherte,  er  halte  an  Russland  feat 
und  verzogere  den  Abschluss  des  Friedens  mit  der  Pforte  noch 
immer  in  ihrem  Interesso.  Bischofswerder's  Instruktionen  (vom 
29.  Mai)  fur  die  neue  Sendung  an  Leopold  waren  bestimmt 
dahin  gefasst,  dass  diese  Annaherung  an  Oesterreich  Russland 
so  weit  imponiren  solle,  dass  es  auf  den  ihm  nunmehr  zu  pro- 
ponirenden  modificirten  status  quo  ante  bellum  mit  der  Pforte 
Frieden  schliesse,  eventuell  aber,  dass  Preussen  der  Neutralitat 
OesteiTeichs  in  dem  andernfalls  unausweichlichen  Kriege  gegen 
Russland  sicher  sei.  Leopold  war  noch  bei  Bischofswerder's  Au- 
kunft  (14.  Juni)  bedacht,  sich  beide  Wege  offen  zu  halten,  d.  h. 

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*i*r 


Denkwiirdigkeiten  Hardenbergs.  53 

entweder  im  Bundnjss  mit  Russland  beharren  oder  aber  zum 
EinTerstandniss  mit  Preussen  gelangen  zu  konnen.  Die  Kunde, 
dass  Ludwig  am  20.  Juni  Paris  unbedingt  verlassen  werde,  be- 
stimmte  endlich  seinen  Entschluss.  Er  musste  nun  im  Osten  zu 
Ende  kommen,  um  gich  freie  Hand  fur  den  Westen  zu  verschaffen, 
and  mit  Preussen  abzuschliessen  suchen.  Nacb  Sistowa  erging 
sein  Befehl,  den  Frieden  mit  der  Pforte  zu  zeichnen  (27.  Juni), 
raid  Bischofswerder  konnte  in  diesen  letzten  Junitagen  nach 
Berlin  melden:  Leopold  wiinscbe  mit  dem  Konige  bei  dem  Kur- 
fur8ten  von  Sacbsen  zusammenzutreffen ;  seine  Gedanken  fur  die 
franzosischen  Angelegenheiten  seien  gemassigt  und  weise. 

Die  „Denkwiirdigkeiten"  sehen  in  den  Kriegen,  die  mit  dem 
Friihjahr  1792  anbeben,  den  Kampf  der  einander  entgegen-- 
stehenden  Ideen :  „Die  Principien  regieren  die  Welt  und  die  Ge- 
schicke  miissen  sich  erfullen".  Gewiss,  aber  docb  nicht  obne 
die  Menschen,  welche  von  ihnen  beherrscbt  werden,  oder  sie, 
sei  es  benutzend,  sei  es  fiibrend,  beberrschen.  Wie  geneigt  man 
sero  mag,  den  idealen  Antrieben  den  breitesten  Platz  in  mensch- 
lichen  Dingen  zu  gewahren,  die  realen  Interessen  sind  auch  in 
jener  Epocbe  niemals  vollstandig  in  die  idealen  aufgegangen. 
Wohl  gab  es  keinen  scharferen  Gegensatz  als  zwischen  den  Ge- 
danken, die  eben  in  Frankreich  zur  Herrschaft  gelangten,  und 
den  Ordnungen  des  alten  Europa.  Die  Empfindung  desselben 
war  naturgemass  bei  den  Fiihrern  der  vorwaltenden  Parteien 
in  Frankreich  lebbaft  und  leidenschaftlich.  Nicht  bios  gegen 
das  alte  Frankreich,  auch  gegen  das  alte  Europa  richteten  sich 
vornehmlich  die  Brissotiner,  welche  dann  die  Jakobiner  in  diese 
Bichtung  mit  sich  fortrissen.  Auf  der  Gegenseite  war  dies  doch 
bei  weitem  nicht  in  dem  Masse  der  Fall.  Am  wenigsten  in 
Kaunitz'  Absichten  lag  es,  der  Revolution  den  Krieg  zu  machen. 
Friedrich  Wilhelm  war  der  Ausbruch  der  Revolution  genehm 
gewesen,  weQ  sie  das  Biindniss  zwischen  Frankreich  und  Oester- 
reich,  das  so  lange  und  so  schwer  auf  Preussen  gedriickt  hatte, 
zerris8.  Erst  die  Scenen  von  Varennes,  die  Suspension  und  Ge- 
fengenhaltung  des  Konigs  bewirkten  bei  ihm  eine  Umstimmung. 
Und  doch  bemerkt  er,  als  er  im  Januar  1792  das  Schreiben 
Lndwig  XVI.  vom  3.  December  1791  erhielt,  welches  Preussens 
Mitwirkung  zur  Versammlung  eines  Kongresses  erbittet,  der  auf 
eine  bewaffhete  Macht  gestiitzt,  den  Faktionen  in  Frankreich 
Einhalt  gebiote :  „der  Kongress  werde  Schwierigkeiten  haben  und 
wenn  es  sich  um  Riistungen  handele,  wo  werde  er  seine  Ent- 
schadigung  dafiir  finden?44 

Auf  die  Erklarung  von  Pillnitz  legen  die  nDenkwiirdigkeiten44 
soviel  Gewicht,  dass  sich  der  Eindruck  ergiebt,  als  ob  diese,  die 
wiederholt  als  „Provokation44  bezeichnet  wird,  den  Krieg  mit 
Frankreich  entziindet  und  Europa  bis  zum  Jab  re  1815  mit  Blut 
mia*  Mord  erfullt  habe.  Man  kann  davon  absehen,  dass  die 
herrschenden  Parteien  in  Frankreich  im  Provociren  weit  voraus 
waren,  als  jene  Erklarung,   die  weder  officiell  mitgetheilt  noch 


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54  Denkwttrdigkeiten  Hardenborgs. 

welcher  irgend  wie  Folge  gegeben  wurde,  beschlossen  ward,  dass 
die  elsassischen  Lehen  Frankreich  einverleibt  waren  und  eine 
uberaus  thatige  Propaganda  in  Belgien  und  am  Rhein  betrieben 
wurde,  fur  welche  der  Herzog  von  Orleans  nach  den  Beriohten 
des  preussisohen  Gesandten  Oberst  Goltz  6  Millionen  Livres  her- 
gegeben  hatte.  Immerhin  stellte  jene  Erklarung,  wenn  auch 
nicht  die  Herstellung  des  absoluten  Thrones,  so  doch  Mass- 
nahmen  gegen  Frankreich  in  wenigstens  feme  Aussicht.  Gewiss 
war  es  richtig,  dass  man  sich  in  Frankreich  auf  Gegenwehr  vor- 
bereitete,  aber  man  konnte  wohl  vorbereitet  una  so  ruhiger  ab- 
warten,  ob  jene  Massnahmen  sich  verwirklichten.  Die  Thatsache 
bleibt  stehen,  dass  Frankreich  den  Krieg  erklart  hat,  dass  diese 
Erklarung  die  Gegenseite  ohne  die  geringste  militarisohe  Vor- 
bereitung  getroffen  hat,  dass  noch  vor  der  Kriegserklarung 
der  Einbruch  der  franzosischen  Truppen  in  Belgien  erfolgt  ist. 

Nicht  die  Erklarung  von  Pillnitz  hat  den  Krieg  entzundet. 
Die  Kaiserin  Katharina,  die  Emigrirten  und  die  Brissotiner  haben 
dessen  Ausbruch  herbeigefuhrt.  Der  Kaiserin  von  Russland  war 
das  neue  Bundniss  Oesterreichs  und  Preussens  hochst  unbequem 
und  bedrohlich.  Sobald  es  angebahnt  war,  eilte  sie,  auch  lhren 
Frieden  mit  der  Pforte  auf  massige  Bedingungen  zu  schliessen; 
was  ihr  hier  entging,  dafur  dachte  sie  sich  in  Polen  zu  ent- 
schadigen,  welches  ihr  durch  die  Gegenstellung  Preussens  in  den 
drei  letzten  Jahren  vollstandig  entrissen  worden  war.  Um  freie 
Hand  gegen  Polen  zu  erlangen,  mussten  Oesterreieh  und  Preussen 
im  Westen  beschaftigt  werden.  So  trieb  sie  seit  dem  September 
1791  Leopold  wie  Friedrich  Wilhelm  zum  Kampfe  gegen  die 
Revolution;  bei  dem  Grafen  Artois  beglaubigte  sie  einen  Ver- 
treter  Russlands;  es  waren  vomehmlich  die  von  ihr  gewahrten 
Geldmittel,  welche  die  Emigranten  in  den  Stand  setzten,  ihre 
ebenso  gerauschvollen  als  ohnmachtigen  Riistungen  in  Trier  und 
Koblenz  in  Scene  zu  setzen.  Diese  sammt  den  Protesten  der 
Prinzen  gegen  die  September verfassung,  mit  welcher  die  konsti- 
tutionelle  Partei  die  Revolution  geschlossen  hatte,  gaben  den 
Brissotinern,  die  den  Thron  zu  stiirzen  gedachten,  die  erwiinsch- 
testen  Vorwande,  die  Errungenschaften  der  Revolution  bedroht 
zu  zeigen,  die  beruhigten  Leidenschaften  wieder  zu  entziinden 
und  zum  Kriege  zu  drangen,  um  den  Konig  als  den  Mitver- 
schworenen  der  Prinzen,  des  Auslandes  anklagen  und  entwurzeln 
zu  konnen.  Um  seine  Treue  gegen  die  Konstitution,  seinen  Gegen- 
satz  gegen  die  Emigration  zu  beweisen,  greift  nun  Ludwig  XVL 
in  der  Wahl  der  Minister  successiv  weiter  nach  links  bis  zu  den 
Brissotinern  selbst,  die  dann  alsbald  den  Krieg  mit  dem  Ueber- 
fall  Belgiens  eroffnen. 

Nach  diesem  Ueber&ll^als  nun  mit  der  Erhitzung  der  Leiden- 
schaften durch  den  Krieg,  wie  die  Brissotiner  gehofft  und  ge- 
wollt  hatten,  die  Lage  Konig  Ludwigs  taglich  bedrangter  wurde, 
war  es  Friedrich  Wilhelm's  lebhafter  Wunsch,  den  Konig  und 
die  Konigin  befreien  zu  konnen ;  aber  seine  Minister  hielten  dar- 

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Denkwurdigkeitoa  Hardenberge.  55 

auf,  dass  Preusson  keinen  Mann  mehr  als  Oesterreich  ins  Feld 
stelle,  da  Oesterreich  der  angegriffene  Theil  sei  und  diesem 
imbedingt  die  Vorhand  bleiben  musse.  Als  Preussen  seine 
Trappen  im  Mai  1792  nach  dem  Rhein  in  Bewegung  setzte, 
liess  Katharina  ihre  an  der  Donau  entbehrlich  gewordenen  Ar- 
meen  in  Polen  einrucken.  Der  Vorschlag,  den  Preussen  in  Wien 
machte,  nunmehr  ebenfalls  Truppen,  und  zwar  Oesterreicher  und 
Preussen  in  gleicher  Zahl,  in  Polen  einrucken  zu  lassen,  wurde 
dort  zuriickgewiesen ,  worauf  dann  Friedrich  Wilhelm  erklarte, 
dass  er  hiernach  seinerseits  Verstandigung  mit  Bussland  iiber 
die  polnische  Frage  suchen  werde. 

Wie  sehr  der  Gedanke  der  ,,Entschadigung"  fur  den  Krieg, 
den  Frankreich  begonnen  hatte,  Friedrich  Wilhelm  beschaftigte, 
ist  bereits  angedeutet  Die  Entschliisse  des  osterreichischen 
Kabinets  waren  vollkommen  Yon  Entschadigungsabsichten  be- 
herrscht.  Als  Gegengewahr  fiir  die  noch  nicht  eingetretene  Ver- 
standigung Preussens  mit  Russland  iiber  die  polnische  Frage  ver- 
Iwigte  Oesterreich  Preussens  Zustimmung  zur  Ausfuhrung  des 
Plans,  den  Konig  Friedrich  dem  Kaiser  Joseph  vereitelt  hatte, 
zum  Austausch  Belgiens  gegen  Baiern.  Die  Zustimmung  erfolgte 
unter  Vorbehalt  des  von  Oesterreich  zu  erwirkenden  Einverstand- 
nisses  des  Hauses  Zweibriicken.  Baierns  Gewinn  gegen  Belgien 
schien  jedoch  in  Wien  noch  nicht  ausreichend.  Vorlangst  schon 
h&tten  Ausbach  und  Bayreuth  dem  Fiirsten  Kaunitz  schwere 
Sorgen  bereitet :  „nach  ihrem  Anfall  werde  Oesterreich  Preussen 
nicht  mehr  gewachsen  sein".  Zu  Hubertusburg  hatte  er  sich 
Yergebhch  bemuht,  der  Vereinigung  durch  die  Form  der  Sekundo- 
genitur,  die  er  als  FriedensbecQngung  beantragte,  die  Spitze  ab- 
zabrechen ;  er  hatte  Joseph  instruirt ,  zu  Neisse  hierauf  zuriick- 
zukommen;  dieser  Starkung  Preussens  ein  ausreichendes  Gegen- 
gewicht  im  voraus  zu  geben,  war  fur  Joseph  ein  wesentliches 
Motiy  gewesen,  nach  Kurfurst  Maximilian  Joseph's  Tode  die 
Hand  nach  Baiern  auszustrecken  und  dann  dessen  Eintausch 
gegen  Belgien  zu  versuchen.  Nachdem  Preussen  jetzt  diesem 
Tausche  zugestimmt,  forderte  Oesterreich  in  den  letzten  Juli- 
tagen  des  Jahres  1792  am  Vorabend  des  Einmarsches  in  Frank- 
reich von  Preussen  neben  Baiern  noch  die  Abtretung  beider 
Markgrafechaften. 

Unter  solchen  Verhandlungen  begann  der  „Principienkriegu 
gegen  Frankreich.  Der  Zwist  der  Verbiindeten  musste  sich  stei- 
gem,  als  England  auf  Grund  des  Barrieretraktats  dem  Aus- 
tausche  Belgiens  gegen  Baiern  widersprach  und  seine  Unter- 
stutzung  von  der  Behauptung  Belgiens  durch  Oesterreich  ab- 
hangig  machte,  wahrend  der  Vertrag,  den  Preussen  und  Russland 
am  27.  Januar  1793  iiber  die  gegenseitigen  Erwerbungen  in 
Polen  geschlossen,  Wiens  Eifersucht  weckte,  als  Thugut  der  ge- 
8chworenste  Feind  Preussens  und  der  „monstr6sen  Allianz  mit 
diesem  Staate"  die  Leitung  der  Politik  Oesterreichs  ubernahm, 
uad  der  Gang   defc  Krieges  gegen  Frankreich  Thugut's  Erwar- 

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56  Denkwiirdigkeiten  Hardenbergs. 

tungen  tauschte.  Jener  Jakobiner  hatte  Recht  als  er  sagte: 
„sio  sind  einander  feindseliger  als  uns".  Das  Misslingon  des 
er8ton  Feldzuges  hat  der  Herzog  von  Braunschweig  zu  verant- 
worten.  Der  Vertreter  Russlands  bei  der  preussischen  Armee, 
Alopeus,  berichtet  (5.  September  1792) ,  der  Herzog  von  Braun- 
schweig habe  ihm  beim  Einzuge  in  Verdun  gesagt:  „Wenn  es 
auch  ausser  Zweifel  ist,  dass  wir  in  Paris  einziehen,  so  leuchtet 
es  mir  doch  nicht  ein,  dass  dieser  Einzug  die  Missgeschicke 
Frankreichs  beendigen  konne.  Es  ist  nicht  moglich,  dort  ein 
starkes  preussisches  Heer  zu  lassen,  und  ohne  bedeutende  Streit- 
krafte  kann  man  die  Bevolkerung  dieses  machtigen  Staats  nicht 
im  Zaum  halten."  Und  nach  dem  Riickzuge  aus  der  Cham- 
pagne: „die  Yorsicht  des  Herzogs  ist  etwas  zu  weit  gegangen, 
um  nicht  mehr  zu  sagen"  (2.  Oktober).  Das  Misslingen  des 
zweiten  Feldzuges  fallt  Thugut  und  Pitt  zur  Last.  Pitt  wollte 
Diinkirchen  erobert  wissen,  Thugut  die  Picardie,  dazu  Elsass  und 
Lothringen,  um  das  pfalzische  Haus  hierher  setzen  zu  konnen. 
Deshalb  unterblieb,  auch  nach  der  Einnahme  von  Mainz,  die 
Vereinigung  der  preussischen  Armee  mit  der  osterreichischen, 
die  Cond6  und  Valenciennes  genommen  hatte;  von  beiden  Ober- 
Befehlshabern  verlangt,  wiirde  diese  Vereinigung  zu  entschei- 
denden  Schlagen  gefuhrt  haben. 

Die  Entwickelung  der  Absichten,  die  Thugut  1794  Preussen 
gegeniiber  verfolgte,  seiner  Beharrlichkeit ,  dem  preussisch-russi- 
schen  Vertrage  die  Zustimmung  zu  versagen,  da  Preussen  die 
Markgrafschaften  weigere,  des  Eifers,  mit  dem  er  die  Plane 
Joseph's  auf  das  gesammte  Gebiet  Venetiens  wieder  aufoahm, 
gehort  zu  den  lichtvollsten  Partien  der  „Denkwiirdigkeiten". 
Zu  vollstandigem  Ueberblick  waren  Thugut's  Einwirkungen 
auf  den  Reichstag  zu  Grodno  zur  Ermuthigung  des  Widerstandes 
gegen  Preussens  Forderungen,  sein  Bemiihen,  in  Petersburg  den 
Antheil  Preussens  zu  beschneiden,  Oesterreich  an  der  Theilung 
Antbeil  zu  gewahren,  hinzuzufiigen.  Statt  die  Armee  gegen  die 
vordringenden  Jakobiner  in  Belgien  zu  vermehren,  sammelte 
Thugut  in  Bohmen  Truppen  gegen  Preussen.  In  vollem  Biind- 
niss  mit  Oesterreich  sieht  sich  Preussen  von  diesem  Bundes- 
genossen  bedroht,  Russlands  ist  Preussen  keineswegs  sicher; 
dazu  erheben  sich  unter  Madalinski  und  Kosciuzko  die  Polen; 
und  der  Schatz  Friedrich's  II.  war  nahezu  aufgebraucht.  Man 
fand,  dass  das  Reich,  welches  von  Preussen  vertheidigt  wurde  und 
doch  nicht  Preussen  selbst  war,  wenigstens  Geld  zu  seiner  Vertheidi- 
gung  beitragen  miisse.  Man  miihte  sich  auch  bei  den  zunachst 
bedrohten  Reichskreisen  vergebens.  Da  bot  England,  um  Preussens 
Streitkrafte  fiir  die  Vertheidigung  Belgiens  heranzuziehen ,  Sub- 
sidien.  Friedrich  Wilhelm  ging  darauf  ein,  Haugwitz  gestand 
die  Gegengewahr,  die  Mitwirkung  zur  Vertheidigung  Belgiens  zu, 
ohne  diese  Bedingung  in  Berlin  bestimmt  genug  geltend  zu 
machen.  Mollendorf  erklarte,  die  Pfalz  den  Franzosen  nicht 
uberlassen  zu  konnen  und  setzte  sich  dann,   selbst  um  Trier  zu 


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Denkwurdigkeiten  Hardenbergs.  57 

retten,  zn  spat  in  Bewegung.  England  stellte  nioht  nur  die 
Subsidienzahlung  ein,  sogar  die  Zahlung  der  bereits  falligen 
Rudratande  (3  Millionen  Thaler)  wurde  verweigert.  Mollendorf 
hatte  die  Vertheidigung  Belgiens  auch  von  der  Pfalz  aus  hochst 
wirksam  unterstiitzen  koimen,  wenn  er  sich  nicht  begniigt  hatte, 
hier  Defcnsivschlachten  zu  schlagen,  wenn  er  deni  geworfenen 
Feinde  gefolgt  ware,  wenn  er  ihn  festgehalten  hatte.  Gewiss  hatte 
Preussen  grossere  Anstrengungen  machen  konnen  und  gemacht, 
wenn  der  Eifer  Friedrich  Wilhelm's  gegen  die  Revolution  so  gross 
gewesen  ware,  wie  man  gemeinhin  annimmt,  oder  sein  deutsches 
Gefiihl  so  lebhaft,  wie  die  „Denkwiirdigkeitenu  wollen.  Nach  dem 
Verlust  der  Anlehnung  an  England  stand  Preussen  isolirt  Frank- 
reich, Oesterreich  und  Russland  gegeniiber.  Die  Letzteren  schlossen 
im  Januar  95  iiber  die  dritte  Theilung  Polens  ab ;  bei  etwaigem 
Widerstande  sollte  Preussen  mit  aller  Macht  angegriffen  werden. 
Um  diesen  Preis  verpfliohtete  sich  Thugut,  den  Krieg  gegen 
Frankreich  fortzusetzen ;  nicht  aus  Abscheu  gegen  die  Revolution 
oder  um  das  deutsche  Reich  zu  vertheidigen.  Er  setzte,  seine 
neue  Erwerbung  in  Polen  zu  verdienen,  im  Dienste  Russlands, 
das  Oesterreich  beschaftigt  wissen  wollte,  um  freie  Hand  in 
Polen  zu  behalten,  den  Kampf  gegen  Frankreich  fort ,  falls  dann 
von  Frankreich  genugsame  Entschadigung  nicht  zu  erlangen 
ware,  musste  Katharina  nach  jenem  Vertrage  ihm  auch  Yenetien 
zu  nehmen  gestatten;  er  kampfte  weiter  gegen  Frankreich  im 
Dienste  Englands,  welches  Belgien  wieder  erobert  haben  und 
Frankreichs  Krafte  im  Landkriege  beschaftigt  wissen  wollte,  um 
semen  Seekrieg  erfolgreich  durchfiihren  zu  konnen.  Fur  Preussen 
gab  es  seitdem  keine  Wahl  mehr  als  eine  hochst  energische 
Politik  gegen  Ost  und  West  unter  Wiederaufnahme  der  Ver- 
bindung  mit  England  oder  —  Frieden  mit  Frankreich. 

Nicht  an  der  Starke  der  Vertheidigung  Frankreichs,  an 
der  Schwache  ihres  Angriffs  ist  die  erste  Koalition  gescheitert. 
Die  Zwiespaltigkeit,  die  Elendigkeit  ihrer  Kriegfuhrung  haben 
die  neue  Armee  Frankreichs  erzogen  und  dessen  Uebergewicht 
herbeigefiihrt.  Dies  musste  sich  fuhlbar  machen,  sobaid  ein 
fihiger  Kopf  die  nationalen  Krafte  Frankreichs,  die  riicksichtslos 
in  den  Kampf  getrieben  wurden,  zu  organisiren  verstand;  es 
musste  iiberwaltigend  werden,  sobaid  ein  tahiger  Feldherr  aus 
der  Reihe  der  jungen  Generale  hervortrat.  Die  „Denkwiirdig- 
keiten"  werden  mit  der  Angabe  kaum  im  Recht  sein,  dass  der 
Konvent  gerade  im  Friihjahr  1794  die  „aussersten  Anstrengungen 
zur  Vertheidigung  gemacht  habe".  Die  Entfernung  aller  vor- 
maligen  Edelleute  aus  der  Armee  war  bereits  nach  Dumouriez' 
Niederlagen  bei  Aldenhoven  und  Neerwinden  dekretirt  (seine 
Auflehnung  gegen  den  Konvent  versuchte  er  nicht  bevor,  son- 
dern  nachdem  er  Belgien  verloren  hatte);  die  Verschmelzung 
der  Bataillone  der  Freiwilligen  mit  den  Linientruppen  hatte  der 
Konvent  bereits  Ende  Februar  1793  beschlossen  zugleich  mit 
der  Aushebung  von  300,000  Mann,    und  das  Augustdekret   der 

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58  Denkwfirdigkeiten  Hardenbergs. 

sogenannten  levee  en  masse  bestimmte  von  vorn  herein,  class 
die  Altersklassen  vom  18.  bis  zum  25.  Jahre,  „nicht  Verheira- 
thete  oder  Vittwer",  zuerst  „requirirtu  werden  sollten.  Die 
Fortschritte  des  Jahres  1794  bestehen  darin,  dass  jene  Ver- 
schmelzung  erst  jetzt  allmahlich  zur  Durchfuhrung  gelangte, 
dass  Carnot  die  aus  der  Wahl  der  Truppen  hervorgegangenen 
unfahigen  Offiziere  zu  Tausenden  beseitigte.  Richtig  ist,  dass 
die  alte  Armee  die  Grundlage  der  neuen  geblieben  ist;  das  neue 
Offizierkorps  bestand  seit  1794  aus  den  jungen  Offizieren  der 
alten  Armee,  denen  Emigration  und  Flucht  der  alteren  die  Bahn 
geoffnet  hatte,  neben  ihnen  aus  befahigten  Unteroffizieren  der 
alten  Armee  und  den  militarised  beanlagten  Yolontairs,  welche 
nunmehr  einverleibt  waren.  Nicht  das  Uebergewicht  der  fran- 
zosischen  Waffen  bat  die  Schlacbt  von  Fleurus  festgestellt  — 
der  Feldzug  von  1795  beweist  das  Gegentheil  —  wohl  aber  ist 
durch  die  Okkupation  Belgiens  und  den  Gewinn  Hollands,  die 
dieser  Schlacbt  folgten,  das  politische  Uebergewicht  Frankreicbs 
entschieden  worden. 

Hardenberg  war  schon  im  Friihjahr  1794  der  Meinung,  dass 
Frieden  mit  Frankreich  zu  schliessen  sein  werde.  Da  Entscha- 
digung  durch  Abtretungen  von  Seiten  Frankreichs  nicht  in's 
Auge  gefasst  werden  konne,  werde  man  solche  durch  Sakulari- 
sation  geistlicher  Furstenthiimer  zu  suchen  haben.  Doch  stimmte 
er  nicht  fur  Frieden  urn  jeden  Preis.  Es  war  seine  gewiss  wohl- 
begrundete  Meinung,  dass  man  die  Allianz  mit  England  nicht 
aufgeben  diirfe,  dass  man  versuchen  miisse,  zu  allgemeinem  Frieden 
zu  kommen.  Unter  dem  Eindruck  von  Nachrichten,  welche  die 
friedliche  Stimmung  hervorhoben,  die  unter  der  Herrschaft  des 
Thermidori8mus  Frankreich  ergriffen  habe  (nicht  die  alten  Mit- 
glieder  der  Gironde  waren  es,  die  im  December  94  wieder  in 
dem  Konvent  ihre  Platze  einnahmen,  sondern  jene  73,  die  gegen 
den  2.  Juni  1793  protestirt  hatten),  gelangte  man  endlich  in 
Berlin  zu  dem  Entschhisse,  dem  Konvent  Frieden  fur  Preussen 
und  Preussens  Mediation  fur  den  Reichsfrieden  zu  bieten.  Als 
bei  ErofFnung  der  Verhandlungen  klar  wurde,  dass  der  Konvent 
nach  dem  linken  Bbeinufer  trachte,  musste  man  auf  der  Stelle 
abbrechen.  „Hatte  der  Staat  in  seiner  alten  Energie  bestanden, 
so  wiirdo  man  dies  nimmermehr  haben  genehmigen  diirfen",  so 
sagen  mit  vollem  Recht  die  „Denkwiirdigkeitenu.  Jetzt  machte 
vielmehr  Alvensleben  Eindruck,  wenn  er  klaglichst  ausfiihrte,  dass 
Preussen  der  ungeheuern  Uebermacht  Frankreichs  nach  Ver- 
nichtung  der  englisch-hannoverischen  Armee  allein  gegeniiber- 
stehe,  dass  es  von  den  beiden  Kaiserhofen  mit  Knechtschaft  be- 
droht  Werde,  dass  man  kein  Geld  habe  und  kein  Anlehen  zu  er- 
langen  vermoge ;  nur  bis  zum  Marz  (1795)  hin  konne  die  Armee 
erhalten  werden.  Die  preussische  Armee  hatte  keine  Niederlago 
erlitten.  Der  Rucktritt  Preussens  von  der  Koalition  war  ein 
so  immenser  Vortheil  fiir  den  Konvent,  dass  er  sich  mit  dem 
einfachen  Frieden   auf  dem   Stande   vor  dem  Kriege  begniigen 

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Denkwurdigkeiten  HardenbergB,  59 

muaste  und  begniigt  hatte;  nur  musste  sich  Preussen  bereit 
zeigen,  andernfaUs  deu  Krieg  fortzusetzen.  Dass  man  sich  ohne 
diesen  Entschluss  von  vorn  herein  den  Bedingungen  des  Eon- 
vents  unterwarf ,  scbeint  die  Weisheit  der  Alvensleben  nicbt  ge- 
ahnt  zu  haben,  und  Hardenberg,  dem  die  Fiibrung  der  wei- 
teren  Unterhandlung  zufiel,  war  bei  entschieden  besserem  Willen, 
bei  fester  Absicht,  nur  einen  einfachen  Frieden  zu  schliessen, 
doch  ohne  die  gewandte  Sicherheit,  die  den  fehlenden  Entschluss 
durch  andeutende  Fiktion  desselben  zu  ersetzen  verstand,  was 
dem  General  Goltz  schwerlich  misslungen  ware.  So  endete  Har~ 
denbergs  Unterhandlung  mit  dem  Zugestandniss  eventueller  Ab- 
ketung  der  links  -  rheinischen  Lande  Preussens,  fur  den  Fall, 
dass  bei  der  kiinftigen  Pacifikation  mit  dem  Reiche  das  linke 
Rheinufer  iiberhaupt  abgetreten  werden  sollte ;  bis  dahin  konnten 
jene  Gebiete  yon  den  Truppen  der  Republik  besetzt  bleiben. 
Hardenberg's  Hoffnungen,  dass  Frankreich  selbst  auf  das  linke 
Rhemufer  verzichten,  dass  os  zum  Reichsfrieden  die  Hand  bieten 
werde,  waren  Hlusionen,  die  seinem  damaligen  Scharfblick  nicht 
zu  besonderer  Ehre  gereichen. 

Wenn  die  „Denkwiirdigkeitenu  auf  die  umfassonde  Stellung 
hinweisen,  welche  Preussen  durch  diesen  Frieden,  durch  den  von 
Hardenberg  abgeschlossenen  Domarkationsvertrag,  durch  Ueber- 
nahme  des  Schutzes  Hannovers,  des  nordlichen  Deutschlands  ge- 
wonnen  habe;  wenn  sie  hervorheben,  dass  die  deutsche  Litteratur 
im  Schirm  des  Baseler  Friedens  und  der  norddeutschen  Neutra- 
list zur  Reife  und  voller  Entfaltung  gediehen  sei,  so  darf  man 
hier  dem,  was  Preussen  betrifft,  dooh  wohl  nicht  unbedingt  bei- 
pflichten.  Gewiss  war  es  geboten,  Preussen  nicht  vollig  zu  iso^ 
liren  und  das  Machtgebiet  Preussens  zu  wahren.  Nur  hatte 
diese  Stellung  durch  Wiederaufhahme  des  Fiirstenbundes ,  durch 
eine  militarische  und  finanzielle  Organisation  in  ganz  anderer 
Weise  als  es  geschah,  gefestigt  werden  mtissen.  Durch  eino 
Politik  dieser  Art  waren  noch  andere  Fruchte  als  die  des  Geistes- 
lebens  unserer  Nation  gezeitigt  worden ;  es  ware  damit  Kraft  und 
Zusammenhang  gewonnen  worden,  Norddeutschland  nachdruck- 
lich  nach  alien  Seiten  hin  zu  vertheidigen.  Wie  eindringlich 
die  steigende  Macht  Frankreichs  dazu  mahnte ,  von  cten  Staats- 
mannern  jener  Tage  hat  nicht  einer  auch  nur  den  Gedanken 
dazu  erfasst ,  bevor  es  zu  spat  war.  Nicht  der  Baseler  Friede 
und  die  Neutralitat  Norddeutschlands,  wohl  aber  die  unterlassene 
Ausbildung  wie  die  schwachliche  Vertretung  dieses  Systems  haben 
den  Grund  zur  Katastrophe  des  Jahres  1806  gelegt.  Wie  an- 
ders  ware  Preussens  Stellung  bei  thatkraftiger  Entwickelung 
dieses  Systems  nach  den  Frieden  von  Campoformio  und  Liine- 
rille  gewesen! 

Auf  die  Beschliisse,  die  der  Konvent  kurz  vor  seinem  Scheiden 
«n  1.  Oktober  1795  iiber  die  Annexion  der  osterreichisohen 
Niederlande  und  eines  Theils  des  linken  Rheinufers  (nicht  des 
gesammten   linken   Rheinufers)   gefasst   hat,   legen   die   „Denk- 

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gO  Denkwiirdigkeitcii  Hardenberga. 

wiirdigkeiten" ,  wie  mir  scheint,  zu  viel,  auf  den  Staatsstreich, 
durch  den  der  Konvent  dem  Lande  die  Fortsetzung  seiner  Re- 
gierung  auferlegte,  zu  geringes  Gewicht.  Wenn  bei  jener  De- 
batte  erwahnt  wird,  dass  die  Belgier  friiherhin  (zu  Anfang  des 
Jahres  1793)  mittelst  Abstimmung  die  Vereinigung  mit  Frank- 
reich  gefordert  hatten,  so  hatte,  da  die  Rede  des  Girondisten 
Lesage  (dieser  ist  nicht  nach  Robespierre's  Sturz  sondern  erst 
am  8.  Marz  1795  wieder  eingetreten)  hervorgehoben  wird,  doch 
auch  bemerkt  werden  miissen,  was  dieser  mit  nur  zu  gutem 
Grunde  zur  Charakteristik  jener  durchweg  mit  offener  Gewalt 
erzwungenen  Abstimmung  angefuhrt  hat.  Praktische  Bedeu- 
tung  hatten  diese  Beschliisse  iiber  Belgien  hinaus  um  so  weniger, 
als  die  franzosischen  Armeen  am  Mittelrhein  gleich  darauf  iiber 
den  Rhein  und  aus  der  Pfalz  zuriickgetrieben  wurden.  Dagegen 
hatte  ohne  die  Wahldekrete  des  Konvents  vom  August  1795, 
ohne  deren  Durchsetzung  mittelst  des  13.  Vendemiaire  die  mon- 
archisch  -  konstitutionelle  Riickstromung ,  die  Frankreich  seit 
Robespierre's  Sturz  in  immer  steigendem  Masse  ergriffen  hatte, 
trotz  des  Todes  des  Dauphin,  trotz  der  Thorheiten  von  Quiberon 
das  Ziel  erreicht.  Nicht  aus  Anhanglichkeit  und  Leidenschaft 
fur  die  republikanische  Staatsform,  sondern  um  die  Regierung 
zu  behaupten  und  dadurch  ihre  Handlungen  aus  der  Schreckens- 
zeit  vor  der  Rechenschaft  decken  zu  konnen,  die  jede  anderc 
als  ihre  eigene  Regierung  gefordert  hatte,  erliess  die  Mehrheit 
des  Konvents  jene  Dekrete;  und  indem  sie,  um  dieselben  durch- 
zufuhren,  die  niedergeworfenen  Terroristen  zu  ihrer  Unterstiitzung 
aufrief,  kam  der  Mann  zur  Aktion,  der  mit  Robespierre  gefallen 
war,  gelang  es  dem  General  Bonaparte  die  royalistische  Be- 
wegung  der  Pariser  Biirgerschaft  niederzuschlagen  und  damit 
den  Thron  fur  sich  selbst  offen  zu  halten.  Der  Korse,  dessen 
militarischer  Blick  und  Entschluss  den  Tag  entschieden,  hatte 
doch  nicht  von  jeher  (I,  389)  der  franzosischen  Partei  seiner 
Insel  angehort.  Wohl  hatte  sein  Vater  schliesslich  Paoli  ver- 
lassen  und  damit  des  Sohnes  Aufaahme  in  Brienne  und  der 
Tochter  in  St.  Cyr  erkauft.  Aber  dieser  Sohn  gliihte  noch  in 
den  ersten#Jahren  der  Revolution  fur  Korstka's  Losreissung  von 
Frankreich,  er  schrieb  fiir  seine  Insel  und  schloss  sich  Paoli  an, 
bis  ihm  im  Fruhjahr  1792  der  Ausbruch  des  Krieges,  verbunden 
mit  der  Emigration  der  alten  Offiziere,  in  Frankreich  glanzen- 
dere  Aussichten  zu  eroflEhen  schien.  Seitdem  hatte  er  sich  dann 
nicht  nur  zum  Konvent  gehalten,  er  hatte  sich  gegen  die  Giron- 
disten zu  den  Jakobinern,  insbesondere  zu  Robespierre  und  dessen 
Bruder  gehalten.  Auch  die  Elemente  und  Gegensatze,  die  sich 
am  18.  Fructidor  und  am  18.  Brumaire  bekampften,  lassen  dio 
„Denkwiirdigkeitenu ,  wie  mir  scheint,  nicht  deutlich  genug  er- 
kennen.  Seit  dem  Fruhjahr  1795,  d.  h.  seit  der  definitivcn 
Niederwerfung  der  Terroristen  reinen  Bluts,  handelto  es  sich 
um  die  Frage,  ob  die  alten  Konventualen ,  die  von  der  rothen 
zur  blauen  Republik   iibergegangen  waren,    ihre  Diktatur    iiber 

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Denkwiirdigkeiten  Haidenbergs.  61 

Frankreich  gegen  die  grosse  Mehrheit  des  Landes  zu  behaupten 
vermochten  oder  nicht.  Darin  lag  zugleich  die  Frage  iiber  Krieg 
und  Frieden  beschlossen.  Die  Kompromittirten  der  Kevolution 
branchten  den  Krieg,  urn  die  Gewalt  durch  Ausnahmemassregeln 
festhalten,  die  Staatskassen  durch  Kontributionen  fiillen  und  die 
Armee  auf  Kosten  der  Nachbarn  erhalten  zu  konnen.  Hierin 
vielmehr  als  in  dem  Yerlangen  naoh  der  Rheingrenze  (I,  422) 
lag  der  .wesentlichste  Grand  zur  Feindseligkeit  gegen  Deutsch- 
land,  zur  Fortsetzung  des  Krieges.  Trotz  aller  Gewaitschritte, 
welche  die  Zweidrittel  -  Mehrheit  der  Exkonventualen  und  das 
Direktorium  der  Regiciden  dem  13.  Vendemiaire  folgen  liessen, 
trotz  der  Hinausschiebung  und  Beeinflussung  der  Wahlen  ge- 
nngte,  in  Verbindung  mit  dem  Dritttheil  vom  Oktober  95,  der 
Eintritt  des  neuen  Dritttheils  der  Rathe  im  Friihjahr  97,  sowohl 
dem  Rath  der  Alten  als  dem  der  Fiinfhundert  eine  monarchisch- 
konstitutionelle  Mehrheit  zu  geben.  Die  Aufrichtung  des  Thrones, 
bevor  er  ihn  besteigen  konnte,  zu  hindern,  gewahrte  Napoleon 
den  drei  Direktoren,  die  der  Mehrheit  nicht  zu  weichen  ge- 
dachten,  Geldmittel  und  einen  General,  der  seine  Stelle  vertrat, 
d.  h.  die  Mittel  zur  Wiederholung  des  13.  Vendemiaire  am 
18.  Fractidor,  der  die  Prasidenten  der  beiden  Rathe  sammt 
alien  Fiihrern  der  monarchischen  Mehrheit  nach  Cayenne  brachte. 
Mehr  als  ein  Mai  und  mit  bestem  Rechte  hat  es  Bonaparte 
selbst  im  Hinbliok  auf  den  13.  Vendemiaire  und  den  18.  Fruc- 
tidor  offen  ausgesprochen :  ohne  ihn  hatten  die  royalistischen 
Tendenzen  der  Bourgeoisie  die  Oberhand  gewonnen.  Als  dann 
die  Unfalle  des  Feldizuges  von  1799,  welche  die  Armee  ihrer 
Yernachlassigung  durch  das  Direktorium  zuschrieb,  die  Armee 
gegen  das  Direktorium  stellten,  als  die  Royalisten  einerseits, 
andererseits  die  alten  Terroristen  das  Haupt  im  Lande  erhoben, 
ersetzte  Bonaparte  am  18.  Brumaire  die  Diktatur  der  Konven- 
tualen  vom  Civil  durch  die  Diktatur  der  KonventuaJen  vom  Mi- 
litair,  durch  seine  eigene  Diktatur.  Sie  wurde  acceptirt,  weil 
me  alien  Konventualen ,  terroristischer  und  thermidoristischer 
Farbe,  nicht  nur  Sicherheit  fiir  die  Vergangenheit  garantirte, 
sondern  auch  diesen  wie  jenen,  wenn  sie  sich  der  neuen  Re- 
gierong  fiigten,  die  Stellung  der  herrschenden  Klasse  gewahrte, 
weil  sie  die  machtigen  Interessen,  welche  die  Revolution  ge- 
schaffen  hatte,  vor  Allem  das  Interesse  der  Armee,  die  die  Revo- 
lution gebildet,  unter  ihren  Schutz  stellte.  Und  nicht  nur  von 
den  Interessirten,  auch  von*  den  Nichtinteressirten  der  Revolution 
wurde  der  18.  Brumaire  anerkannt,  weil  er  eine  fahige  Regie- 
rung  an  die  Stelle  einer  unfahigen  setzte.  Es  war  das  logische 
Rewltat  des  Systems,  welches  der  Konvent  von  seinem  Zusammen- 
tritt  an  befolgt  hatte.  Von  vornherein  hatte  er  gegen  die  Mehr- 
heit des  Landes  regiert,  indem  er  sich  auf  das  Proletariat  stiitzte. 
Indem  er  mit  dem  Sturze  Robespierre's  zur  blauen  Republik 
uberging,  basirte  er  sich  auf  das  Biirgerthum,  welches  nur  so 
lange  zu  ihm  hielt,  als  es  gait,  die  Terroristen  zu  ziigeln.    Als 

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62  Denfewfirdigkeiten  Hardenbergs. 

der  Konvent  nach  deren  Niederwerfiing  den  royalistischen  Ten- 
denzen  des  Burgerthums  im  Interesse  seiner  Selbsterhaltung  ent- 
gegentrat,  blieb  ihm  keine  Stiitze  als  die  Armee,  und  eine  Re- 
gierung,  die  keine  andere  Stiitze  als  diese  hatte,  musste  schliesslich 
an  die  Armee  selbst,  d.  h.  an  deren  fahigsten  General  iibergehen. 
Damit  war  dann  zugleich  nicht  nur  die  Fortsetzung  der  Kriegs- 
politik  gegeben,  sondern  deren  Steigerung.  Nicht  eine  Monarchic 
hat  Napoleon  gegriindet,  sondern  eine  Diktatur,  welche  die  alten 
Revolutionars  und  das  neue  Frankreich  vertrat,  die  Revolution 
nur  in8ofern,  als  seine  Herrschaft  die  sociale  Umformung  anf- 
recht  hielt,  die  die  Revolution  hervorgebracht,  nicht  aber  deren 
auf  Rechtsschutz ,  auf  Kontrolle  und  Fiihrung  der  Regierung 
durch  das  Volk  gerichtete  Tendenzen. 

Die  Worte  Bonaparte's,  die  er  zur  Deckung  des  18.  Bru- 
maire  gesprochen  hat:  Wo  sind  die  Millionen  Italiens  geblieben? 
sind  doch  nicht  fur  baare  Miinze  zu  nehmen.  Die  Millionen,  die 
er  den  Italienern  abgenommen,  waren  bereits  im  Dezember  97 
vollstandig  verbraucht.  Um  die  Geldmittel  zur  agyptischen  Ex- 
pedition zu  beschaffen  (die  nicht  den  Franzosen,  sondern  ihm, 
dem  Manne  des  Mittelmeeres ,  dessen  Blick  der  Umsturz  Vene- 
digs  und  die  Besitznahme  der  jonischen  Inseln  scharfer  auf  den 
Orient  gelenkt,  allein  angehort)  musste  der  Kirchenstaat  in  die 
romische  Republik  verwandelt  und  die  Schweiz  iiberzogen  werden; 
die  Schatze  Roma  und  der  Berner  Kriegsschatz  haben  seine 
Feldkasse  fur  Aegypten  gefiillt. 

Das  Uebergewicht  der  Waffen  des  neuen  Frankreich  iiber 
die  des  alten  Europa  war  durch  den  jungen  General,  der  die 
Armee  in  Italien  in  den  Jahren  1796  und  1797  fiihrte,  ent- 
schieden  worden.  Seine  Erfolge  von  1796  im  Siiden  der  Alpen 
hatten  jedoch  in  denen  des  Erzherzogs  Karl  im  Norden  der 
Alpen  immer  noch  ein  ansehnliches  Gegengewicht  gefunden.  Die 
friihzeitige  Eroflnung  des  nachsten  Feldzuges,  den  Aufbruch  schon 
im  Marz  des  nachsten  Jahres  zum  Zuge  iiber  die  Alpen,  um 
Oesterreich  zum  Frieden  zu  schrecken  und  zugleich  durch 
das  Angebot  der  reichsten  Entschadigung  zum  Frieden  zu 
locken,  unternahm  Napoleon  doch  nicht,  weil  er  besorgt 
hatte,  andern  Falls  vom  Erzherzog  Karl  angegriflfen  zu  wer- 
den, sondern  um  besserer  Riistung  Oesterreichs  zuvorzukommen. 
Auch  in  der  Charakterisirung  des  Verhaltnisses  der  Pralimi- 
narien  von  Leoben  zum  Frieden  von  Campoformio  (I,  431)t 
vermag  ich  den  „Denkwiirdigkeitenlk  nicht  durchweg  beizu- 
stimmen.  Dagegen  trifft  deren  Bemerkung  vollkommen  zu,  dass 
Frankreichs  Ueberlegenheit  nach  diesem  Abschluss  wesentlich 
darauf  beruhte,  dass  es  Oesterreich  und  Preussen  jedes  durch 
einen  geheimen  Vertrag  gefesselt  hielt  und  zwar  durch  Ver- 
trage,  die  sie  zugleich.  in  Widerspruch  gegen  einander  brachten. 
Preussen  wollte  die  Erschiitterung  des  Reiches  benutzen,  um 
ohne  Krieg  zu  gewinnen,  Oesterreich,  um  aus  Misserfolgen  im 
Kriege  grosse  Vortheile  zu  Ziehen.    Die  Strafe  dafiir  konnte  hier 

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DenkwiircUgkeiten  Hardenbergs.  63 

wie  dort  urn  so  weniger  ausbleiben,  als  Oesterreich  und  Preussen 
statt  sioh  nun  wenigstens  uiiter  einander  fiber  ihre  Vortheile 
za  rergtandigen  und  dadurch  Frankreichs  Einfluss  auf  dem  dies- 
seitigen  Rheinufer  auszuschliessen ,  in  blinder  und  eifersiichtiger 
Ferihaltung  ihres  Gegensatzes  durch  Frankreich  und  Russland 
za  erlangen  suchten,  was  sie  einander  selbst  bei  weitem  sicherer 
verschaffen  konnten. 

Die  „Denkwurdigkeiten"  lassen  das  Urtheil  daruber  offen, 
ob  Preussen  wohl  gethan  haben  wfirde,  der  Koalition  von  1799 
beixutreten.  Die  Interessen,  die  die  drei  grossen  Machte  ver- 
fochten,  seien  doch  ihre  eigenen  gewesen,  fUr  England  die  See- 
herrschaft,  fur  Oesterreich  die  Entfernung  der  Franzosen  aus 
Italien,  fur  Russland  die  Erhaltung  der  bestehenden  Zustande 
im  Orient.  Die  entgegengesetzte  Meinung  hat  Haugwitz  zU 
Petershagen  nachdrucklich  vertreten.  Kaum  wird  eine  Koalition 
gedacht  werden  konnen,  in  der  nicht  jede  Macht  ihr  besonderes 
Interesse  im  Auge  hatte,  es  wird  sich  doch  stets  nur  darum 
handeln,  ob  die  Erreichung  dieses  Sonderinteresses  nioht  zu- 
nachst  yon  der  Erringung  eines  gewissen  gemeinsamen  Ziel- 
punktes  abhangt,  eben  dessen,  der  die  Koalition  iiberhaupt  zu- 
sammenfuhrt  Fiir  Preussen  war  es  noch  besonders  geboten, 
seine  westlichen  Lande  gegen  die  Stellung  Frankreichs  in  Holland 
zu  sichern,  eine  Sicherung,  die  ohne  Minderung  der  Uebermacht, 
die  Frankreich  durch  den  Frieden  von  Campofonnio  erlangt  und 
durch  die  kecken  Grille  fiber  dessen  Bestimmungen  hinaus  nach 
der  Schweiz ,  nach  Rom ,  nach  Piemont  in  bedrohlichster  Weise 
gegteigert  hatte,  unmoglich  war.  Wie  Thugut  die  erste  Koa- 
lition durch  seine  Feindseligkeit  gegen  Preussen  aus  den  Fugen 
getrieben,  hat  er  die  zweite  gesprengt.  Seine  blinde  Landergier, 
die  unverkennbare  Absicht,  zu  Mailand  auoh  Piemont  und  vom 
Kirchenstaat  wenigstens  die  Legationen  fiir  Oesterreich  zu  er- 
werben,  die  russische  Armee  aus  Italien  zu  entfernen  und  hier 
freie  Hand  zu  gewinnen;  die  Thorheit  dsr  Englander,  den  Ab- 
marsch  der  osterreichischen  Armee  aus  der  Schweiz  nach  dem 
Mittelrhein  zur  Unterstutzung  ihres  Angriffs  auf  Holland  und 
Belgien  zu  verlangen,  ffihrte  zu  Unfallen  der  russischen  Armeen, 
die  8chwerlieh  eingetreten  waren,  wenn  die  preussische  Armee 
am  Niederrhein  im  Felde  stand ,  und  diese  Unfalle  fuhrten  wie- 
denim  zum  Riicktritt  Pauls  von  der  Koalition. 

Gut  orientirend  und  aufklarend  handeln  die  „Denkwurdig- 
keiten"  von  den  Entschfidigungen ,  d.  h.  von  der  neuen  Terri- 
torial vertheilung ,  welche  nach  dem  Frieden  von  Luneville  in 
Deatschland  vorgenommen  wurde.  Treffend  bezeichnen  sie  den 
Gnmdfehler  der  damaligen  preussischen  Politik  mit  den  Worten : 
*Man  hoffte  Alles  auf  diplomatischem  Wege  zu  erreichenl"  Sie 
findeu  dann  auch  hier  zuerst  wieder  Anlass,  auf  Hardenberg, 
den  sie  seit  Basel  aus  dem  Auge  verloren  haben,  zuruckzu- 
kommen.  Dem  Chef  der  Verwaltung  von  Ansbach  und  Baireuth 
lag  naturgemass  die  Ausrundung.  dieser  Territorien,   die  Her- 

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64  Denkwtirdigkeiten  Hardeuberge. 

stellung  der  Verbindung  unter  beiden  am  nachsten  am  Herzen, 
am  lebhaftesten  Tertrat  Hardenberg  die  Forderuug  der  fran- 
kischen  Bisthumer  Bamberg,  Wiirzbtirg,  Eichstadt  fur  Preussen. 
Ich  hebe  nur  hervor,  dass  Bonaparte  bereits  am  24.  April  1801 
Preussen  die  Besitznahme  Hannovers  angoboten  hat.  Haugwitz 
war  zur  Anoahme  bereit,  falls  England  im  bevorstehenden  Frieden 
seine  Zustimmung  gebe. 

Wie  Bonaparte  schon  wenige  Monate  nach  dem  Frieden, 
den  er  1802  zu  Amiens  mit  England  geschlossen,  durchblicken 
lasst,  in  welchem  Sinn  er  einen  neuen  Kampf  gegen  England  zu 
fuhren  gedenke:  es  werde  nicht  nur  ein  Erieg  Frankreichs,  es 
werde  ein  Krieg  West-  und  Mitteleuropa's  gegen  England  sein, 
heben  die  „Denkwiirdigkeitenu  bezeichnend  hervor.  Dass  Napo- 
leon dann  selbst  es  war,  der  den  Erieg  wieder  entziindete,  dessen 
Ausbruch  ihm  freilich  friiher  kamH  als  er  es  wiinschte,  hatte  da- 
neben  wohl  bemerkt  werden  mtissen.  Ausser  Stande,  England 
auf  dem  Meere  zu  treffen,  auf  dem  er  vielmehr  wiederum  und 
zwar  sehr  empfindlich  zunachst  in  St.  Domingo  getroffen  wurde, 
griff  es  der  erste  Konsul  in  Deutschland  an.  Sass  der  zweite 
Friedrich  auf  Preussens  Thron,  er  hatte  diesem  Angriff  im  Bunde 
mit  England  den  aussersten  Widerstand  geleistet.  Und  nicht 
nur  das  Bundniss  Englands,  sondern  auch  das  Bundniss  Buss- 
lands  ware  fur  Preussen  damals  zu  haben  gewesen.  Indem 
Friedrich  Wilhelm  III.  die  Besetzung  Hannovers  mitten  im 
Frieden  des  Reiches  mit  Frankreich  geschehen  liess,  musste  das 
Ansehen  seines  Staats  noch  eine  gute  Strecke  von  dem  System 
der  Demarkation  weiter  abwarts  gleiten.  Die  Motive,  welche 
den  Eaiser  Alexander  bestimmten,  Friediich  Wilhelm  von  vor- 
gangiger  Besetzung  Hannovers  abzurathen,  sowohl  durch  seinen 
Vertreter  in  Berlin  als  durch  ein  Schreiben  an  den  Eonig  selbst, 
klaren  auch  die  nDenkwurdigkeiten"  nicht  genugend  auf.  Nach 
ihnen  hatte  Alexander  noch  zu  fest  an  dem  Einverstandniss  mit 
Frankreich  gehalten.  Aber  Alexander  lehnte  den  ihm  angetra- 
genen  Schiedsspruch  zwischen  Frankreich  und  England  doch  von 
vornherein  ab  und  erklarte  sich  erst  am  29.  Juni  1803  dem 
ersten  Konsul  zur  Mediation  bereit.  Das  Motiv  konnte  auch 
das  entgegengesetzte,  von  England  in  Petersburg  an  die  Hand 
gegebene  gewesen  sein.  Lord  Warrens  hatte  Befehl,  in  Peters- 
burg gegen  die  preussische  Okkupation  Hannovers  Protest  einzu- 
legen.  Preussen  an  einer  mogllchen  Erwerbung  Hannovers  zu 
hindern  und  es  durch  Zulassung  der  Festsetzung  Frankreichs 
zwischen  seinen  Provinzen  in  unlosbaren  Gegensatz  mit  Frank- 
reich zu  bringen,  waren  Gedanken,  die  Lord  Hawkesbury  und 
dem  Grafen  Miinster  wohl  nicht  zu  fern  lagen.  Hochst  auf- 
fallend  bleibt  die  plotzliche  Wendung,  mit  welcher  Alexander 
sehr  bald  nach  jenem  Rath  noch  vor  Kunde  der  erfolgten  Okku- 
pation schon  unter  dem  18.  Mai  1803  Preussen  zu  Gegenmass- 
regeln  auffordert.  Es  war  zu  spat.  Haugwitz  hatte  noch  Ende 
April  auf  der  Nothwendigkeit  der  vorgangigen  Besetzung  bestanden. 

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Ranke,  Leop.  v.,  Denkwurdigkeiten  Hardenbergs.  66 

Diese  Haltung,  die  Vorstellungen ,  die  er  am  2.  und  3.  Juni  an 
den  Konig  richtete:  „dass  die  rechtzeitige  Riistung,  die  er  be- 
antragt,  die  theuersten  Interessen  der  Monarchie  gerettet  haben 
wiirde,  dass  die  Riistung  aber  auch  gegenwartig  nicht  zu  spat 
sei,  urn  Preussen  gegen  die  Folgen  der  Besitznahme  Hannovers 
2a  decken";  den  Eifer,  mit  dem  Haugwitz  auf  das  Biindniss, 
welches  Alexander  unter  dem  14.  Juni  1803  anbieten  liess  zum 
Zweck  gemeinsamer  Riistung,  gemeinsamer  Forderung  der  Rau- 
mung  Hannovers  und  gemeinsamer  Besetzung  dieses  Landes,  ein- 
ging;  den  Ernst,  mit  dem  er,  nachdem  Lombard  mit  leeren 
Handen,  nur  an  thorichten  Einbildungen  reicher,  von  Briissel 
zuriickgekommen  war,  auf  dem  Abschluss  dieser  Konvention  be- 
stand,  hatten  die  „Denkwiirdigkeitenu  doch  wohl  nicht  iiber- 
gehen  sollen.  Ueber  die  Grtinde,  die  den  Konig  Haugwitz'  An- 
trage  ablehnen  liessen,  giebt  die  Korrespondenz  Friedrich  Wilhelm's 
mit  dem  Kaiser  Alexander ,  aus  welcher  die  ,,Denkwiirdigkeiten" 
einige  Stellen  mittheilen,  die  ich  erganze,  Aufscbluss.  Friedrich 
Wilhelm  scheute  sich  zu  riisten,  weil  seine  Riistung  die  Gegen- 
riistang  Frankreichs,  die  Verstarkung  der  Okkupationstruppen 
herbeifiihren  werde,  er  scheute  den  Bruch  mit  Frankreich,  — 
war  aber  andererseits  entschlossen ,  die  Anlehnung  an  Russland 
onbedingt  festzuhalten.  Am  16.  August  1803  sagte  er  dem  Kaiser 
Alexander,  dass  er  nach  den  beruhigenden  Erklarungen,  welche 
der  erate  Konsul  gegeben  (er  hatte  dem  Konig  unter  dem  29.  Juli 
geschrieben:  er  werde  niemals  etwas  unternehmen,  was  nicht  in 
seinem  Rechte  liege),  eine  Riistung  nicht  fur  erforderlich  halte, 
und  wies  auf  die  Verschiedenheit  seiner  Stellung  im  Vergleich 
mit  der  Stellung  eines  unangreifbaren  Staates  hin.  Alexander 
erwiderte:  er  wiinsche,  dass  sich  Napoleon's  Versprechungen  nicht 
triigerisch  erwiesen,  dass  der  Konig  auf  dem  von  ihm  erwahlten 
Wege  Sicherheit  finden  moge  (6.  Oktober).  Der  Konig  meinte: 
anf  Russlands  Thron  wiirde  er  ebenso  sprechen ;  der  Unterschied 
der  Ansichten  beruhe  auf  dem  Unterschiede  der  Situation;  er 
babe  in  Paris  die  Raumung  Hannovers  und  die  Anerkennung 
der  Neutralitat  Deutschlands  fordern  lassen  gegen  die  Garantie 
von  Seiten  Preussens,  dass  Frankreich  wahrend  der  Dauer  des 
Krieges  gegen  England  weder  vom  deutschen  Reiche  noch  durch 
deutsches  Territorium  hindurch  angegriffen  werde  (16.  November 
1803).  Diese  Vorschlage  wies  Bonaparte  zuriick,  er  bestand 
auf  dem  Abschluss  einer  Allianz,  die  er  bereits  am  30.  Mai  1803 
angeboten  hatte.  Hierauf  richtete  Friedrich  Wilhelm  am  21. 
Februar  1804  die  Frage  an  Alexander:  ob  er  in  dem  Fall, 
dass  Bonaparte,  in  der  Hoffnung  getauscht,  Preussen  an  seine 
Politik  fesseln  zu  konnen,  sich  gegen  Preussen  wenden  sollte, 
auf  Russlands  und  seiner  Verbiindeten  Hiilfe  werde  zahlen  konnen. 
Alexander  antwortete  am  15.  Marz:  der  Konig  wiirde  besser 
gethan  haben,  sich  den  Vorschlagen  anzusohliessen,  die  er  im 
vorigen  Sommer  seinem  Ministerium  habe  zugehen  lassen.  Er 
denke  noch    ebenso  wie  damals.     Durch  Weichen   sei  bei  Bona- 

MmfaeUanKen  a.  d.  hlstor.  Llttcretur.   VI.  5 

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66  Ranke,  Leop.  v.,  Denkwtirdigkeiten  Hardenbergs.   - 

parte  nichts  zu  erreichen.  Es  gabe  Falle,  in  denen  die  Rube 
nur  mit  der  Schwertspitze  zu  erkaufen  sei  Dass  der  erste 
Konsul  die  ihm  viel  zu  gunstigen  Vorschlage  des  Konigs  nicht 
angenommen  habe,  halte  er  fur  ein  gliickliches  Ereigniss.  „Wenn 
ich  Eure  Majestat  fur  die  Vettheidigung  und  das  Wohl  ganz 
Europa's  engagirt  sehe,  so  versichere  ich  gern,  dass  Sie  mich 
augenblicklich  an  Ihrer  Seite  wieder  finden  werden,  und  dass 
Preussen  nicht  zu  fiirchten  haben  wird,  dass  Russland  es  in 
ehiem  so  edlen  Kampfe  allein  lasst  (g.  St.-A.)." 

Dies  ist  der  Ursprung  des  geheimen  Vertrages  vom  24.  Mai 
1804  zwischen  Preussen  und  Russland,  der  den  Kriegsfall  gegen 
Frankreich  auf  den  Angriff  Frankreichs  gegen  Preussen  wie  auf 
Uebergriffe  Napoleon's  iiber  die  gegenwartige  Besetzung  Hanno- 
vers  hinaus  stellte.  Sechs  Wochen  zuvor  war  Haugwitz,  weil 
ihm  die  Haltung  des  Konigs  Frankreich  gegeniiber  nicht  ent- 
schieden  genug  war,  weil  ihm  Lombard  die  Rustung  vereitelt 
hatte  und  ihn  beim  Konige  bestandig  kreuzte,  zuriickgetreten,  und 
hatte  die  Leitung  der  auswartigen  Angelegenheiten  seinem  Freunde 
Hardenberg  iiberlassen.  Hardenberg's  „Memoiren",  die  hier  ein- 
treten,  fordern  nun  neben  den  „Denkwiirdigkeitenu  Beachtung. 
Mit  welchem  Unrecht  diese  „Memoirenu  ihrem  Verfasser  das 
Verdienst  jenes  Vertrages  zuschreiben,  bedarf  nach  dem,  was 
eben  aus  der  Korrespondenz  Alexander's  und  Friedrich  Wilhelm's 
augefuhrt  ist,  keiner  Ausfiihrung.  Hardenberg  sah  damals  viel 
weniger  klar,  auf  welche  Seite  er  den  Staat,  dessen  Leitung  ihm 
anvertraut  war,  zu  stellen  habe,  als  Haugwitz.  Er  begnugte 
sich  durch  Zusicherungen  in  Paris,  dass  Preussen  jede  Oefahr- 
dung  Frankreichs  von  Norddeutschland  aus  verhindern  werde, 
weitere  Uebergriffe  Napoleon's  in  diesen  Gebieten  und  damit  den 
Kriegsfall  der  Konvention  vom  24.  Mai  fernzuhalten.  Wie  stark 
ihn  Alexander,  bei  jedem  thatsachlichen  oder  scheinbaren  Ueber- 
griff  Napoleon's  von  Hannover  aus,  gegen  Frankreich  drangte,  er 
war  unermiidlich,  Vorfalle  dieser  Art  durch  Vorstellungen  in 
Paris  zu  mindern  und  den  Zaren  in  Petersburg  zu  begutigen. 
Einen  Akt  der  Kraft  glaubte  er  gegen  Konig  Gustav  IV.  von 
Schweden  vollziehen  zu  konnen.  Als  dieser,  angeblich  um  sich 
gegen  die  franzosischen  Streitkrafte  in  Hannover  zu  decken,  bei 
Stralsund  Truppen  sammelte,  drohte  Hardenberg  im  December 
1804  mit  Besetzung  Schwedisch-Pommerns.  Da  trat  ihm  Russ- 
land sehr  entschieden  in  den  Weg.  Alexander  hatte  schon  im 
Sommer  1803  die  Raumung  Hannovers  und  Neapels  zu  Paris 
fordern  lassen.  Die  beispiellose  Verletzung  des  Volkerrechts 
mitten  im  Frieden  durch  Entfiihrung  des  Herzogs  von  Enghien, 
welcher  dessen  Ermordung  auf  dem  Fusse  folgte  (Marz  1804), 
steigerte  den  Gegensatz  Russlands  und  Frankreichs  zu  tiefer  Er- 
bitterung.  Die  Weigerung,  mit  welcher  Napoleon  im  Juli  Alexan- 
der's Anfrage,  ob  er  die  Bestimmungen  des  Vertrages  vom  11.  Ok- 
tober  1801,  der  Grundlage  der  Beziehungen  zwischen  Frankreich 
und  Russland,  zu  erfullen  bereit  sei,  erwiderte,  fiihrte  zum  Ab- 

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„  Ranke,  Leop.  v.,  Denkwtirdigkeiten  Hardenbergg.  67 

bruch  der  diplomatischen  Verbindung  zwischen  Paris  und  Peters- 
burg. Wenn  Hardenberg  aucb  nicht  wusste,  dass  Alexander 
bereits  im  November  1804  mit  Oesterreich  abgeschlossen ,  wenn 
er  nicht  wusste,  dass  Alexander  im  Monate  darauf  mit  England 
fiber  ein  Biindniss  in  Yerbandlung  trat  —  die  gesammte  Lage 
der  Dinge  sprach  deutlich  genug  fur  einen  naben  Ausbrucb  des 
Konflikts  zwischen  Russland  und  Frankreich.  Trotzdem  wies 
Hardenberg  die  Antrage,  welche  Russland  und  Oesterreich  im 
Februar  1805  machten,  urn  zum  Einverstandniss  mit  Preussen 
zu  gelangen,  ab.  Haugwitz  meinte  ebenfalls,  dass  die  Vorschlage, 
wie  sie  Alopeus  (Alexander's  Vertreter  in  Berlin)  formulirt  habe, 
nicht  einfach  anzunehmen  seien,  da  man  die  Yerbindungen  Russ- 
lands  und  Oesterreichs  mit  England  und  Schweden  nicht  kenne. 
Aber  man  diirfe  die  Anlehnung  an  Russland  und  Oesterreich 
nieht  aufgeben  und  miisse  zu  diesem  Zwecke  die  Verpflichtung 
ubernehmen,  ohne  ihr  Wissen  und  Willen  in  kein  Verhaltniss 
irgend  einer  Art  zu  treten.  Damit  werde  die  erste  Grundlage 
zu  werthtollen  Beziehungen  gelegt  werden,  auf  welchen  eines  Tages 
ein  System  zur  Erhaltung  des  Friedens  des  Kontinents  errichtet 
werden  konne,  ja  dieselben  wiirden  die  drei  Hofe  schon  heute  in 
die  Lage  bringen,  ihre  Mittel  zu  iibersehen  und  sich  vor  dem 
Einfluss  Frankreichs  zu  sichern  (27.  Februar ;  g.  St.- A.).  Harden- 
berg wollte  nicht  einmal  so  weit  gehen.  Die  hochst  unverdient 
gebotene  Gunst  der  Lage,  Preussen  gegen  die  gewaltige  Macht 
des  neuen  Kaisers,  demnachst  auch  Konigs  von  Italien,  zu  sichern 
und  damit  zugleich  die  Moglichkeit,  innerhalb  der  schiitzenden 
ADianz  der  drei  Ostmachte  den  iibereilten  Kriegseifer  Alexan- 
der's zu  massigen,  liess  er  unbenutzt.  Er  meinte,  die  Differenzen 
zwischen  Frankreich  und  Russland  durch  seine  Vermittelung 
ausgleichen  zu  konnen.  Aber  jene  Bedrohung  Schwedens,  die 
Abweisung  jener  Antrage,  seine  vielgeschaftige  Vermittelungs- 
thatigkeit  trugen  ihm,  obwohl  er  sich  sofort  bereit  erklart  hatte, 
NoYosQtzoVs  Sendung,  der  die  Bedingungen  Alexander's  Napo- 
leon iiberbringen  sollte,  zu  unterstiitzen,  ja  diesen  durch  General 
Zastrow  begleiten  zu  lassen,  in  Petersburg  nur  den  Verdacht 
ein,  dass  Preussen  in  geheimem  Einverstandniss  mit  Frankreich 
flei,  und  zwar  in  dem  Masse,  dass  selbst  Alexander  dem  Plan 
seines  damaligen  Ministers  Gzartoryski  Raum  gab,  den  Krieg 
gegen  Frankreich  mit  dem  Kriege  gegen  Preussen  zu  eroffnen. 

Als  diese  Plane  in  Petersburg  erwogen  wurden,  war  Harden- 
berg in  der  That  gewillt,  eine  Allianz  mit  Frankreich  abzu- 
schliessen.  Die  Frage  von  Schwedisch  -  Pommern  machte  ihm 
achwere  Sorgen.  Neben  schwedischen  konnten  auch  russische 
Truppen  hier  gesammelt  werden,  von  hier  aus  gegen  die  franzosischen 
Truppen  in  Hannover  vorbrechen,  jedenfalls  wurden  letztere  bei 
dem  ersten  Anzeichen  einer  Aufstellung  in  Schwedisch-Pommern 
verstarkt  werden.  Damit  komme  Russland  dann  in  den  Fall, 
den  casus  foederis  des  Vertrages  vom  S4.  Mai  1804  geltend  zu 
machen  und  Preussen   zu   nothigen,   auch   wider   seinen  Willen 

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gg  Ranke,  Leop.  v.,  Denkwtlrdigkeiten  Hardenbergs. 

dem  Biindniss  Oesterreichs  und  Russlands  beizutreten.   Und  wenn 
nun  eine  russisch  -  englische  Landung   an  den  Kusten  Hannovers 
erfolgte  ?    In  dem  einen  wie  in  dem  andern  Falle  war  es  vorbei 
mit  der  Neutralitat  Norddeutschlands,  hatte  Preussen  den  Krieg 
mitten   zwischen  seinen   Provinzen.    Der  Vertreter  Frankreichs 
in  Berlin,  Laforest,  verlangte  Mitte  Juli  zu  wissen,  ob  Preussen 
die   franzosischen   Truppen   in   Hannover   und    Hannover   selbst 
auch   gegen   eine  Landung   schiitzen  werde.    Hardenberg  erwi- 
derte,   die   Garantie   Preussens   beziehe   sich  nur   darauf,   class 
Frankreich    aus   dem   gesammten  Landumfange,    der  Hannover 
umgebe,    nicht   angegrififen   werden   diirfe;  Frankreich   habe   ja 
Hannover  eben  deshalb  besetzt,  urn  dasselbe  gegen  Angriffe  von 
der  See   her  zu  vertheidigen;  wenn  Preussen  Hannover   auch 
gegen   diese   schiitzen  solle,   dann  miissten  Preussens  Truppen 
Hannover  besetzen.    Das  Thema  wurde  in  mebreren  Gesprachen 
erortert  (Laforest  an  Hardenberg ;  7.  August).    Hardenberg  warf 
hin,  was  bereits  bei  den  friiheren  Verhandlungen  verlangt,  aber 
abgelehnt   worden   war:   Napoleon  moge  Hannover  Preussen   in 
Yerwahrung   geben   oder   auch  aJs  Besitz   iiberlassen;   da  Russ- 
land  sich  vergrossert  habe,  Oesterreich  durch  das  Gebiet  Vene- 
digs,    durch  Salzburg  und  Eichstadt   vergrossert  sei,   erscheine 
eine    verhaltnissmassige    Yergrosserung    Preussens    angemessen 
(Lucchesini  an  Hardenberg,  29.  Juli).    Nach  Lefebvre's  Behaup- 
tung  (H,  99)   hatte  Hardenberg  sogar  angegeben,  in  welcher 
Weise  der  Konig  fur  diesen  Plan  gewonnen  werden  konne. 

Nichts  konnte  Napoleon  erwiinschter  sein,  als  diese  Andeu- 
tungen  in  dem  Augenblicke,  in  dem  er  sich  anschickte,  das 
Abenteuer  des  Uebergangs  nach  England  mit  dem  Kriege  gegen 
Oesterreich  und  Russland  zu  vertauschen.  Nicht  als  Depot,  als 
Eigenthum  bot  er  Hannover  auf  der  Stelle  an.  Was  Preussen 
sonst  noch  wiinsche  an  Yergrosserung  und  Ausrundung,  an  Ein- 
fluss  und  Stellung  im  deutschen  Eeiche,  sei  er  weiter  bereit,  zu 
gewahren:  Braunschweig  und  Oldenburg,  Hamburg  und  Bremen 
sehe  man  als  abhangig  von  Preussen  an.  Die  Union  zwischen 
Frankreich  und  Preussen  werde  den  Frieden  des  Kontinents  er- 
halten ,  die  Herbeifiihrung  des  Friedens  mit  England  beschleu- 
nigen.  „Selbst  Opfer,  so  sagte  Talleyrand,  werde  Napoleon  nicht 
scheuen,  um  Preussen  dieser  Union  zu  gewinnen,  er  werde  seine 
Plane  auf  Holland,  die  Schweiz,  den  Rest  Italiens  aufgeben. 
Das  sicherste,  wenn  nicht  das  einzige  Mittel,  den  Ehrgeiz  des 
Kaisers  aufeuhalten,  bestehe  darin,  demselben  durch  Verpflich- 
tungen  zwischen  Frankreich  und  Preussen  Schranken  zu  ziehen. 
Ein  KontinentaJkrieg  ohne  festlandische  Verbindungen  werde 
Napoleon  Veranderungen  treflFen  lassen,  welche  nicht  verhindert 
zu  haben,  Preussen  zu  spat  bereuen  wiirde.  Welche  Stellung 
Preussens!  Indem  es  Europa  den  Frieden  gebietet,  erhalt  es 
sowohl  eine  reale  als  eine  relative  Yergrosserung  seiner  Macht, 
erlangt  es  zugleich  den  Verzicht  Napoleon's  auf  weitere  Er- 
werbungen.     Der  Norden  Deutschlands  steht  unter  seinem  Schutz 

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Ranke,  Leop.  v.,  Denkwiirdigkeiten  Hardenbergs.  69 

und  der  Norden  Europas  ist  dem  Uebergewicht  Russlands  nicht 
mehr  ausschliesslich  iiberliefert  (Lucchesini  12.  Aug.)u.     Harden- 
berg  nahm  Talleyrand's  Phrasen  fur  baare  Miinze ;  er  schwelgte  in 
dem  Gedanken  der  Gewinnung  Hannovers,  weiterer  Erwerbungen. 
Hannoyers  Besitz  gewahre  Sicherheit,  dass  Preussen  nicht  wider 
Wfllen  in  den  Krieg  gezogen  werden   konne.    Erreiche  man  im 
Abschluss  mit  Frankreich,  dass  Napoleon  die  Unabhangigkeit  der 
noch  nicht  annektirten  Staaten  Italiens   anerkenne,  ferner   die 
Unabhangigkeit  der  batavischen  und  cisalpiiiischen  Republik,  so 
werde  Oesterreich,   hierdurch   beruhigt,   gewiss  Frieden  halten, 
Alexander  ohne  Oesterreich  auf  den  Krieg  verzichten   und  Eng- 
land ohne  festlandische  Allianz  Napoleon  die  Hand  zum  Frieden 
bieten.    Demnach   miisse   die   Mediation  zwischen  Russland  und 
Frankreich  fortgesetzt,   die  Mediation  zwischen  Oesterreich  und 
Frankreich    sofort   angeboten   werden.      Alexander    miisse   vor- 
gehalten  werden,    dass   der   grosste   Theil   der  Zwecke,   die  er 
durch  den  Krieg  erreichen  wolle,  durch  Unterhandlung  erreicht 
werden  konnte,   Napoleon   aber   durch   alle   schicklichen   Mittel 
abgehalten  werden,  Oesterreich  anzugreifen.   Kommo  es  trotzdem 
nngliieklicher  Weise  zum  Kriege,  so  sei  derselbe  an  Frankreichs 
Seite  am  wenigsten   gefahrlich   und  werde  Preussens  Lage   be- 
tiachtlich  verbessern.     Er  hatte  Sachsen   und  Bohmen  im  Sinn 
(Hardenberg  an  Haugwitz,  17.  August,  Protokoll  vom  22.  August; 
Bemerkungen  vom  1.  September).    Haugwitz  sah  etwas  scharfer. 
Er  fand   es   doch   sehr   selbstverstandlich ,   dass  Frankreich   im 
Moment  des  Ausbruchs   des  Kontinentalkriegs  Preussens  Allianz 
suche,  Preussen  solle  den  gegenwartigen  Stand  in  Italien  garan- 
tiren  (die  Vereinigung  der  Kronen  Italiens  und  Frankreichs,  die 
Annexion  Genua's   und  Parma's);   gerade  gegen   diesen  erhoben 
rich  Oesterreich   und   Russland,   Preussen   wiirde   demnach   mit 
Unterzeichnung  dieses  Vertrages  im  Kriege  gegen  Russland  und 
Oesterreich   sein,  fur  welchen   keinerlei  Vorbereitung   getroffen 
seL    Hardenberg  beharrte  trotz  der  verletzenden  Art,   in   wel- 
cher  Napoleon  seine  Verwendung  fur  den  Kurfursten  von  Hessen 
(in  der  Angelegenheit  Taylor's)  zuruckwies,   trotzdem,   dass  die 
Vorschlage  fiir  die  Allianz,  die  Duroc  nach  Berlin  brachte,  ganz 
andew  lauteten  als  jene  Redensarten  Talleyrand's,  dass  sie  Hannover 
nur  gegen  Wesel  und   das   rechtsrheinische  Klove   zugestanden, 
auf  seinem  Gange,  bis  dor  Konig  ihn  hemmte. 

Wahrend  man  eben  zur  Abwehr  des  russischen  Durch- 
niarsches  durch  Preussen,  den  Kaiser  Alexander  seit  Anfang  Sep- 
tember 1805  immer  drohendor  verlangte,  riistete,  warf  Napo- 
leon's kecke  Verletzung  des  preussischen  Gebiets  durch  den 
Mar8ch  durch  Ansbach  Preussen  auf  die  Seite  Russlands  und 
Oesterreichs.  Indem  Friedrich  Wilhelm  dem  Kaiser  Alexander 
hiervon  Mittheilung  machte,  fugt  er  hinzu:  „Ich  weiss  nicht,  ob 
in  Folge  der  ersten  Massregeln,  die  ich  ergriffen  habe,  der  for- 
melle  Bruch  (mit  Frankreich)  auf  der  Stelle  erfolgen  wird,  odor 
ob  ich  Zeit  haben  werde,  dessen  Zeitpunkt  mit  Eurer  Majestat 

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70  Ranke,  Leop.  v.,  Denkwiirdigkoiten  Hardenbergs. 


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zu  vereinbaren  (9.  Oktober)."    Auch  Hardenberg   war  nunmehr 
ernstlich  gemeint,  gegen  Frankreich  vorzugehen;   doch   liess   er 
es  leider  an  Kraft  und  Entschiedenheit  nur  zu  sehr  fehlen.   Statt 
Preusseii  entschlossen  in  den  Krieg   eintreten  zu  lassen,   leitete 
er   dessen  Aktion   auf  den  Weg  der  bewaffneten  Vermittelung, 
d.  h.  der  Verschiebung,  der  Unsicherheit ,  der  Abhangigkeit  von 
dem  Verhalten    der    kriegfuhrenden   Theile,    der   Zwischenfalle. 
Obwohl  fast   die  Halfte   der  Armee  bereits   auf  dem  Kriegsfuss 
stand,  verlangte  der  Herzog  von  Braunschweig  nach  Unterzeich- 
nung   des  Vertrages   zwischen  Preussen,   Russland  und   Oester- 
reich  am  3.  November  noch  6  Wochen  zur  Bewerkstelligung  des 
Aufmarsches  der  preussiscben  Armee.    Hierauf  gestiitzt,   fiihrte 
Graf  Haugwitz,  der  die  vereinbarten  Bedingungen  Napoleon  vor- 
legen  sollte,  aus,  dass  er  nicht  vor  dem  24.  November  im  fran- 
zosischen  Hauptquartier  eintreffen  diirfe,  wenn  seine  Unterhand- 
lung   die  unerlassliche  Frist   bis   zum    13.    Dezember   ausfullen 
solle.    Wahrend  nun  Haugwitz  moglichst  spat  abreiste  und  mog- 
lichst  langsam  reiste,  anderte  sich  die  Kriegslage  zu  Ungunsten 
Oesterreichs,  was  einerseits   des  Grafen  natiirliche  Vorsicht  ver- 
doppelte,  andererseits  Oesterreich  zu  dem  schweren  Fehler  ver- 
anlasste,  eine  Sonderverhandlung  mit  Napoleon  iiber  den  Frieden 
zu   beginnen.     Endlicb   in   Briinn    angelangt    und    in   Kenntniss 
dieser  Ankniipfiing  hielt  es  Haugwitz  fiir  angezeigt,  weder  seine 
Bedingungen    vorzulegen    noch    von   bewaffneter    Mediation    zu 
sprechen,  sondern  nur  hochst  schiichtern  die  Annahme  der  Me- 
diation Preussens   zwischen  den  Kriegfuhrenden  in  Vorschlag  zu 
bringen  (28.  November),   und   sich   sodann  wegen  angeblich  be- 
vorstehender  Schlacht  nach  Wien   an  Talleyrand  adressiren   zu 
lassen.    Dennoch   war   die  Besorgniss  Napoleon's,   der  sich   mit 
unzureichenden  Kraften  weit  vorgewagt  hatte,  vor  dem  Eintritt 
Preussens  in  den  Krieg  so  gross,  dass  er,  nachdem  ihm  am  Tage 
nach  seiner  Unterredung  mit  Haugwitz  der  zweite  Versuch,  eine 
Sonderverhandlung  mit  Russland  anzukniipfen,  fehlgeschlagen  war, 
Talleyrand  am  30.  November  Befehl  ertheilte :  von  der  Forderung 
der  Abtretung  Venetiens  und  Tirols   (die  Napoleon   bereits   ge- 
stellt  hatte)   abzustehen,  nur   die  Abtretung  Verona's  und   der 
Klause  zu  verlangen  und  hierauf  hin  schleunigst  mit  Stadion  in 
Wien  abzuschliessen. 

So  gross  die  Fehler  waren,  die  die  Verbiindeten  bis  dahin 
gemacht  hatten,  sie  wurden  vom  Kaiser  Alexander  in  Verbin- 
dung  mit  der  osterreichischen  Heeresleitung  uberboten.  Obwohl 
die  Erzherzoge  Karl  und  Johann  mit  60 — 70,000  Mann  in  den 
nachsten  Tagen  bei  Raab  eintreffen  mussten,  obwohl  die  Division 
Essen  (12,000  Mann)  nur  noch  drei  Marsche  entfernt  war,  der 
General  Beningsen  mit  45,000  Mann  Breslau  erreicht  hatte  uiid 
die  preussische  Armee  am  13.  Dezember  in  Aktion  treten  musste, 
wenn  die  Verhandlung  bis  dahin  nicht  zur  Annahme  jener  Be- 
dingungen .fiihrte ,  brach  Alexander  von  Olmiitz  auf,  um  Napo- 
leon die  Schlacht  zu  bieten,  d.  h.  den  Dienst  zu  leisten,  der  ihm 

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Banke,  Leop.  v.,  Denfcwfirdigkeiten  Hardenbergs.  71 

am  erwiinschtesten  war.    Dazu  griff  er   am  2.  December  Na- 
poleons StelluDg  bei  Briinn  in  einer  Richtung  an,  die  den  Riick- 
zng  nach  Schlesien,  zu  dem  ihn  Friedrich  Wilhelm  fiir  den  Fail 
einer  Niederlage  aufgefordert   hatte,    wo   40,000  Preussen   vor 
Neisse  zur  Aufhahme   bereit  standen,   unmoglich   machte.    Die 
Schlacht  ging  verloren.     Nun   iiberbot  Kaiser  Franz  seinerseits 
den  Fehler  Alexander's,  indem  er  personlich  von  Napoleon  Waffen- 
stillgtand  erbat,   der  ihm  selbstverstandlich   nur  unter  Verzicht 
auf  das  Biindniss  mit  Russland ,  unter  der  Bedingung  des  Riick- 
zoges  der  russischen  Armee  durch  Ungarn,  und  der  Festsetzung, 
dan  wahrend   des  Stillstandes   keine   fremde  Armee  den  Boden 
Oesterreichs   betreten  dtirfe,   am   6.  Dezember   gewahrt   wurde. 
Nach  solcher  Wendung  der  Dinge  konnte  Haugwitz  auch  seiner- 
seits nicht    zuriickbleiben.     Preussen  vor    der    Gefahr    zu    be- 
wahren,    dass  Napoleon   seinerseits   mit   Oesterreicb   nicht   nur 
Fried  en  sondern  auch  Biindniss  schliesse,   urn  sich  auf  Schlesien 
zu  sturzen,  welches  Haugwitz  nicht  hinlanglich  geschiitzt  glaubte, 
liess  er  sich  am  15.  December   in  Wien  einen  Vertrag  cftktiren, 
der  Preussen  mit  fliegenden  Fahnen  aus  dem  russisch-osterreichi- 
schen  Biindniss  in   das   franzosische   Lager  hinuberfuhrte.    Die 
nDenkwiirdigkeiten"  sagen  (I,  593) :  die  Allianz  Oesterreichs  und 
Frankreichs  gegen  Preussen  sei  in  Aussicht  getreten;   thatsach- 
lich  hat   diese  Aussicht   nur  in  den  Vorspiegelungen  bestanden, 
die  Talleyrand  Haugwitz  zu  machen  fiir  gut  fand,  und  in  Pban- 
tasiegebilden  des  Letzteren. 

Es  war  Hardenberg's  Meinung  auch  nach  Austerlitz,  dass 
Preussen  Norddeutschland  behaupten,  die  Wiederbesetzung  Hanno- 
rers  mit  den  Waffen  verhindern  miisse.  Der  Aufmarsch  der 
Annee  an  der  Siidgrenze  Preussens  war  vollendet;  in  ihren 
Reihen  standen  30,000  Sachsen  und  Hessen,  im  zweiten  Treffen 
60,000  Russen,  24,000  Engliinder,  12,000  Schweden.  Konnte 
Preussen  jemals  den  Angriff  Napoleon's  in  besserer  Lage,  ruhiger 
nnd  des  Erfolgs  gewisser  erwarten?  Aber  Hardenberg  fasste 
aach  jetzt  die  Frage  nicht  fest  und  oflFen  an,  wiederum  hatte  er 
eine  freundschaftliche  Auseinandersetzung  mit  Napoleon  in  den 
Yordergrund  gestellt.  Und  als  nun  Haugwitz  mit  seinem  Ver- 
trage  kam,  hielt  auch  Hardenberg  fiir  sicherer,  Hannover  gegen 
Abtretung  alter  preussischer  Lande  zu  kaufen,  als  den  Krieg  zu 
wagen.  Nur  bessere  Bedingungen,  grossere  Erwerbungen  miisse 
man  zu  erlangen  trachten,  am  besten  durch  eine  offene  Neutra- 
litatskonvention  und  eine  geheime  Allianz  mit  Frankreich ;  konno 
man  jedoch  den  Vertrag  von  Wien  dadurch  verbessern,  dass 
man  der  Ratifikation  ein  erlauterndes  Memoire,  das  die  nothigen 
Vorbehalte  pracis  feststelle,  beigebe,  so  widersetze  er  sich  auch 
diesem  Wege  nicht.  Er  kebrte  zu  seinen  Gedanken  vom  Juli 
und  August  zuriick,  eine  machtige  Stellung  fur  Preussen  in  Nord- 
deutschland durch  Allianz  mit  Frankreich  zu  erwerben.  So  wenig 
kannte  er  den  Mann,  mit  dem  er  verhandelte,  und  dessen  Ten- 
denzen,  dass  er  nach  den  Vorbehalten  eingreifendster  Art,  unter 

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72  Ranke,  Leop.  v.,  Denkwiirdigkeiten  Hardenbergs. 

denen  die  Ratifikation  des  Vertrags  von  Wien  ertheilt  war,  die 
ihn  ungefahr  in  sein  Gegentheil  verkehrten,  und  in  demselben 
Augenblick,  in  welchem  Napoleon  seine  Armee  von  der  Donau 
nach  dem  Main,  an  die  Grenzen  Preussens  heranschob,  die  Ab- 
rustung  der  Armee  geschehen  liess.  Den  Versuch,  den  seine 
Memoiren  machen,  seine  Betheiligung  an  diesem  ebenso  unbe- 
greiflichen  als  letalen  Fehler  in  Abrede  zu  stellen,  habe  ich  an 
anderem  Orte  als  vollig  misslungen  nachgewiesen. 

Wenn  der  Konig,  nachdem  er  die  Waifen  aus  der  Hand 
gelegt,  den  Vertrag  von  Paris  annahm,  so  geschah  dies,  weil 
alle  seine  Rathgeber  den  Krieg  unter  den  vorhandenen  Um- 
standen  fur  unmoglich  erklarten  (auch  Hardenberg  hat  dessen 
Gefahren  nur  zu  stark  betont),  weil  dieser  Vertrag,  freilich  gegen 
die  schwersten  Opfer,  wenigstens  die  franzosischo  Okkupation 
Hannovers  beseitigte,  dadurch  die  Verbindung  zwischen  den  Pro- 
vinzen  herstellto  und  mit  dieser  die  Moglichkeit  der  Vorberei- 
tung  zum  Kriege  gegen  Frankreich  gewahrte.  Nur  in  diesem 
Sinne  unterwarf  er  sich  einem  Vertrage,  der  in  seinen  Augen 
durch  Tauschung  crzwungen  war,  dem  er  die  Spitze  abzubrechen 
in  demselben  Augenblick  entschlossen  war,  in  welchem  er  ihn 
ratificirte.  Der  Vertrag  von  Paris  sollte  Preussen  gegen  Eng- 
land und  Russland  an  Frankreich  binden.  Der  Konig  hielt  trotz 
des  Vertrages  die  Verbindung  *mit  Alexander  fest.  Haugwitz, 
der  sich  seit  dem  Vertrage  von  Wien  zum  Vortreter  des  fran- 
zosischen  Systems  gemacht  hatte,  ubergab  er  das  Ministerhim 
des  Auswartigen.  Er  sollte  die  Politik  Preussens  ostensibel  im 
Sinne  dieses  Systems  fiihren;  neben  ihm  hatte  Hardenberg  in 
tiefster  Stille,  und  ohne  dass  Haugwitz  darum  wusste,  die  Ver- 
bindung mit  Russland  zu  unterhalten  und  die  Verhandlung  iiber 
einen  geheimen  Vertrag  mit  Russland  zum  Abschluss  zu  bringen, 
der  den  Vertrag  von  Paris  paralysiren  und  Russland  verpflichten 
sollte,  alle  seine  Streitkrafte  fur  die  Aufrechterhaltung  dor  Un- 
abhangigkeit  Preussens  zu  verwenden.  Ob  Alexander  diesen  Ver- 
trag vollzogen  oder  schliesslich  zuriickgewiesen,  wusste  der  Konig 
nicht,  wohl  aber,  dass  Alexander's  Vertreter  am  20.  Juli  zu 
Paris  den  Frieden  zwischen  Frankreich  und  Russland  gezeichnot 
habe,  als  er  am  8.  August  1806  beschloss,  sein  Land  in  Ver- 
theidigungszustand  zu  setzen. 

Die  Tendenzen,  welche  Napoleon  im  Februar  1806  vona 
Kriege  gegen  Preussen  abstehen,  ihn  den  Vertrag  vom  15.  Fe- 
bruar an  dessen  Stelle  setzen  liessen,  um  einer  Friedenshand- 
lung  mit  England  und  Russland  Raum  und  Boden  zu  geben, 
hatten  wohl  eine  scharfere  Beleuchtung  finden  sollen,  als  die 
„Denkwurdigkeiten"  ihnen  zu  Theil  werden  lassen.  Die  Unter- 
handlung,  die  Napoleon  im  Marz  1806  mit  England  und  dadurch 
auch  mit  dem  diesem  verbundeten  Russland  ankniipfte,  hatte 
nicht  nur  den  Zweck,  einen  Waffenstillstand  fur  den  Seekrieg 
herbeizufuhren,  sondern  auch  Oesterreich  die  Hiilfe  Englands 
und  Russlands  zu  entziehen,  falls  Oesterreich  sich,  wie  Napoleon 


Banke,  Leop.  v.,  Denkwiirdigkeiten  Hardenbergs.  73 

voraussetzte   und  voraussetzen  musste,   der  Bildung   des  Rhein- 

bundes,  die  er  eben  betrieb ,  entgegenstelle.     Er  wusste,  dass  er 

mit  England  nur  urn  den  Preis  Hannovers  Frieden  haben  konne. 

Wenn  er  dies  Land   trotzdem   Preussen,   in   demselben  Augen- 

bMe,  da  er   die  Unterhandlung  mit   England  begann,    noch 

einmal  aufgedrungen  hatte,   so  war   dies  in   der  doppelten  Ab- 

acht  geschehen,    zunachst   durch   Hiniiberziehung  Preussens  zu 

Frankreich  England   dem  Frieden  geneigter  zu  machen,  sodann 

um  Preussen ,   wenn  es  danach  gegen  Hannovers  Zuriickstellung 

die  Waffen  erhobe,  isolirt  und  ohne  Allianzen  treffen  zu  konnen. 

Erhob  Preussen   die   Waffen   zur  Festhaltung  Hannovers  gegen 

Frankreich,  so  hatte  es  am  wenigsten  von  England  Hiilfe  zu  er- 

warten  und  nicht  viel  mebr  von  Russland,  nachdem  es  zum  firan- 

zorischen  System  iibergegangen  und  Frankreich   dann  selbst  mit 

Russland  zum  Frieden  gelangt  war. 

Die  Rustung,  welche  Friedrich  Wilhelm  an  jenem  Tage  be- 
schloss,  war  nicht,  wie  Hopfner  in  seiner  Geschichte  des  Krieges  von 
1806  und  1807  will,  ein  Akt  der  Verzweiflung,  auch  nicht  eine 
bewaflhetc  Demonstration  zur  Wahrung  seiner  Rechte,  die  Na- 
poleon zu  Unterhandlungen  bestimmen  sollte  (Denkwiirdigkeiten 
IV,  8),  endlich  auch  keine  Aufwallung  von  Haugwitz,  der  einen 
Krieg  provocirte,  den  er  eigentlich  nicht  wollte  (IV,  100);  diese 
Rustung  hatte  ihren  sehr  zureichenden  und  wohlerwogenen  Grund, 
der  aus  dem  Schreiben  erhellt,  welches  der  Konig,  ehe  die 
Ordres  an  die  Armee  ergingen,  an  Kaiser  Alexander  gerichtet 
hat.  In  diesem  heisst  es,  er  habe  die  fast  gewisse  Anzeige,  dass 
Napoleon  Hannover  an  England  zuriickgeben  wolle,  er  suche  die 
norddeutschen  Fiirsten  von  Preussen  loszureissen  und  verstarke 
seine  Armee  an  Preussens  Grenzen.  „Wenn  er  mit  London  iiber 
Hannover  unterhandelt,  dann  will  er  mich  verderben,  dann  will 
er  mir  den  Krieg  machen,  um  mich  nicht  spater  an  der  Spitze 
einer  starken  Koalition  zu  sehen,  und  halt  den  Moment  fur 
giinstig,  nachdem  Sie  Ihren  Frieden  geschlossen  und  dadurch 
Tielleicht  die  Mittcl  aus  der  Hand  gegeben  haben,  mich  zu  unter- 
stutzen."  Um  nicht  iiberfallen  zu  werden,  so  fahrt  der  Konig 
fort,  treffe  er  Vorsichtsmassregeln ,  Alexander  m6ge  die  russi- 
schen  Corps  von  den  Grenzen  nicht  in  das  Innere  zuriickziehen; 
er  schliesst  mit  der  Frage:  ob  er  auf  Alexanders  Hiilfe  zahlen 
konne  (8.  August).  Im  Sinne  dieses  Schreibens  sind  die  Befehle 
an  die  Truppen  gedacht,  die  am  9.  August  ergingen  und  bei 
Hopfner  unvollstandig  und  vollig  missverstanden  mitgetheilt  sind. 
Es  sind  Massregeln  gegen  einen  Ueberfall,  den  zu  besorgen,  ausser 
allem  anderen,  in  der  Bereitstellung  und  Heranschiebung  ansehn- 
licher  franzosischer  Truppenkorper  gegen  die  WestgrenzenPreussens 
nur  zu  guter  Grund  vorhanden  war.  Die  preussische  Armee 
soil  rasch  an  der  Elbe  bei  Magdeburg  koncentrirt,  wenigstens 
Wer  eine  widerstandsfahige  Macht  gesammelt  werden.  Zu  diesem 
Ende  sollen  die  Truppen  aus  Westfalen  und  Hannover  auf  Magde- 
burg zuriickgehen,  um  hier  mit  den  Magdeburgischen  Truppen, 

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74  Ranke,  Leop.  v.,  Denkwiirdigkeiten  Hardenbergs. 

dem  Corps  des  General  Kalkreuth,  dag  den  Schweden  in  Lauen- 
burg  gegeniiberstand ,  den  Garnisonen  von  Berlin  und  Potsdam 
vereinigt  zu  werden.  Zur  Reserve  dieser  Elbarmee  sind  die  west- 
preussischen  Truppen  schleunigst  mobil  zu  machen,  die  sodann 
an  die  Oder  vorzugehen  und  bei  Kiistrin  Stellun^  zu  nehmen 
haben.  Ebenso  sollen  die  schlesischen  Truppen  mobil  gemacht 
werden,  urn  danach  gegen  die  rechte  Flanke  der  zur  Elbe  vor- 
gehenden  franzosischen  Armee  zu  operiren.  Zugleich  erging 
Weisung,  die  koniglichen  Kassen  und  Effekten  aus  dem  West- 
falischen,  dem  Hannoverschen,  Hildesheimischen,  dem  Erfurtschen, 
aus  dem  Eichsfeld  und  Bayreuth  in  moglichster  Stille  nach  Magde- 
burg zu  schaffen. 

Haugwitz'  Vertrauen  zu  Napoleon's  Freundschaft  wankte 
bereits  seit  dem  Juni.  Am  10.  Juli  hatte  er  dem  Konige  aus- 
gefuhrt,  dass  eine  festere  Sprache  gegen  Frankreich  angenommen 
werden,  40,000  Mann  bereit  gehalten  werden  miissten,  urn  Sachsen 
und  Hessen,  die  Napoleon  von  Preussen  loszureissen  sucbe,  zu 
okkupiren.  Am  18.  Juli  meint  er  dann  wieder,  Napoleon  werde 
Oesterreich.  zum  Kriege  gegen  Russland  zwingen  (er  hatte  den 
Streit  um  Cattaro  im  Auge),  er  werde  auch  Preussen  dazu  auf- 
fordern.  Der  Krieg  in  dieser  Gemeinschaft  konne  nicht  gefahr- 
lich  sein,  und  Frankreich  sei  doch  allein  im  Stand  e,  die  Abtretung 
Hannovers  von  Seiten  Englands  herbeizufiihren.  Vor  alien  Dingen 
aber  miisse  Preussen  endlich  Ernst  gegen  Schweden  machen  und  Her 
einen  Beweis  seiner  Starke  geben.  Der  Konig  dachte  nicht  daran, 
auf  Thorheiten  einzugehen,  die  ihn  unlosbar  an  Napoleon  gebun- 
den  hatten.  Der  Biistung  stimmte  Haugwitz  dann  in  dem  Sinne 
zu,  dass  damit  eine  festere  Position  gegen  Frankreich  gewonnen 
werde.  In  seinem  Immediatbericht  vom  8.  August  fiihrt  er  aus, 
dass  eine  vertrauliche  Eroffnung  an  den  Eurfursten  von  Sachsen 
zu  richten  sein  werde,  seine  Truppen  mit  dem  aus  Schlesien 
heranziehenden  Corps  des  Fiirsten  Hohenlohe  zu  vereinigen;  die- 
selbe  Auflforderung  ware  an  Kurhessen  zu  richten ,  wenn  der 
dortige  Vertreter  Preussens  glaube,  dass  es  moglich  sei,  Kur- 
hessen an  der  Seite  Preussens  zu  halten.  Mittheilung  der  Rustung 
werde  erst  dann  an  Frankreich  zu  machen  sein,  wenn  die  Gar- 
nison  von  Berlin  marschire.  Eine  offene  Darlegung  der  Griinde, 
welche  Preussens  Rustung  veranlassten ,  miisse  Napoleon  iiber- 
zeugen,  dass  er  an  Preussen  einen  aufirichtigen,  aber  auch  kraf- 
tigen  Alliirten  habe. 

Nach  Ansicht  der  ^Denkwiirdigkeiten"  (IV,  12.  13)  ware 
der  Wunsch  des  Konigs  auch  nach  der  Rustung  auf  Erhaltung 
des  Friedens  gerichtet  gewesen.  Ich  vermag  nicht,  dem  beizu- 
pflichten.  Friedrich  Wilhelm's  Schreiben  an  Alexander  vom 
6.  September  sagt:  „Ich  kann  den  Frieden  nur  noch  unter  zwoi 
Bedingungen  halten:  dass  die  franzosischen  Truppen  uber  den 
Rhein  zuriickgehen  und  dem  norddeutschen  Bunde  kein  Hinder- 
niss  in  den  Weg  gelegt  wird.  Napoleon  kenne  ich  zu  sehr,  um 
zu  glauben,  dass  er  sich  Gesetze  vorschreiben  lassen  wird.   Somit 

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Banke,  Leop.  v.,  Denkwurdigkeiten  Hardenbergs.  75 

Mefl)t  mir  keine  Wahl  als  der  Krieg.  Inzwischen  hat  mir 
Bonaparte  den  Gefallen  gethan,  in  keine  Explikation  iiber  meine 
Biistung  einzutreten.  So  werde  ich,  wie  es  scheint,  die  Initiative 
nchmen  miissen,  die  entscheidenden  Eroflfnungen  zu  thuu.  Meine 
Truppen  marschiren  von  alien  Seiten,  den  Augenblick  derselben 
zu  beschleunigen." 

Die  Memoiren  Hardenberg's  geben  ihr  Urtheil  iiber  Haug- 
witz' Leitung  dahin  ab ,  dass  dieser,  einmal  in  der  franzosischen 
Allianz,  noch  viel  entschiedener  mit  Napoleon  hatte  gehen  miissen, 
als  er  gethan;  nur  dadurch  hatte  er  verhindern  konnen,  in 
Frankreichs  Abhangigkeit  zu  fallen  (III,  34  82).  Weder  dies 
noch  ein  anderes  Verfahren  hatte  die  Lage  gewendet,  in  welche 
Hardenberg  und  Haugwitz  in  Fehlern  wetteifernd  den  Staat  ge- 
bracht  hatten.  Sie  war  aJlein  durch  die  Waffen  zu  wenden; 
nur  darum  handelte  es  sich,  diesem  Kriege  die  zweckmassigste 
Einleitung  zu  geben.  Hier  triffib  der  harte  Tadel,  den  die  „Me- 
moiren"  aussprechen,  vollig  zu;  aber  Hardenberg  irrt  dann 
wieder  weit  ab,  wenn  er  noch  1808  schreibt:  Haugwitz  hatte 
zwar  rusten,  aber  sodann  eine  Uebereinkunft  mit  Napoleon  treffen 
sollen  (II,  168).  In  Napoleon's  Sinn  hatte  allein  er  das  Privi- 
legium,  geriistet  zu  sein;  jeder  andere  Staat,  der  kiihn  genug 
war,  zu  riisten,  hatte  seinen  Angriflf  unzweifelhaft  zu  erwarten. 
Und  dazu  konnte  ihm  der  Erieg  gegen  Preussen  nicht  gelegener 
kommen.  Er  hatte  die  grosse  Armee  gegen  Oesterreich  dispo- 
nirt,  er  war  daneben  zugleich  auf  den  Krieg  gegen  Preussen  vor- 
bereitet.  Oesterreich  verzichtete  in  demselben  Augenblick  auf 
jeden  Widerstand  gegen  die  Vernichtung  des  deutschen  Reichs, 
gegen  den  Rheinbund,  in  welchem  Preussen  die  Waffen  erhob. 
Napoleon  hatte  seine  Armee  nur  gegen  Preussen  zu  wenden  und 
mit  den  Corps,  die  er  im  Herzogthum  Berg  gegen  Preussen  be- 
reit  gestellt  hatte,  zu  vereinigen.  Das  Schreiben  Napoleon  s  an 
Bertluer  vom  17.  August,  das  die  „Denkwurdigkeitenu  citiren,  be- 
fiehlt  diesem  nur,  die  Kriegsvorbereitungen  gegen  Oesterreich  zu 
sistiren  (eben  weil  es  am  9.  August  den  Rheinbund  anerkannt 
hatte)  und  die  Nachricht  zu  verbreiten,  dass  die  Armee  in 
den  ersten  Tagen  des  September  nach  Frankreich  zuruckkehren 
werde ;  die  Ratifikation  des  OubriTschen  Friedens  sollte  dadurch 
in  Petersburg  gefordert  werden.  Wer  wollte  glauben,  dass  erst 
das  Ultimatum  Preussens  Napoleon  zum  Krieg  bestimmt  habe? 
Wie  hatte  dieser  Mann  iiberhaupt  auf  einen  Krieg  verzichten 
sollen,  dazu  auf  einen  Krieg,  den  er  langst  diplomatisch  vorbe- 
reitet  hatte,  auf  den  er  auch  militarisch  vorbereitet  war;  und 
wenn  er  nicht  noch  friiher  als  vier  Wochen  vor  Uebergabe  des 
preussischen  Ultimatums,  in  den  ersten  Septembertagen  der 
grossen  Armee  in  Suddeutschland  Marschbefehl  gab,  so  geschah 
dies,  weil  er  in  seiner  Kriegsbereitschaft  weit  voraus  war  und 
den  dringendsten  Grund  hatte,  mit  Ertheilung  dieser  Befehle 
nicht  eher  vorzugehen,  als  bis  er  wusste,  ob  Alexander  den 
Frieden  Oubril's  ratificirt  oder  nicht  ratificirt  habe. 

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76  Ranke,  Leop.  v.,  Denkwurdigkeitcn  Hardenbergs. 

Haugwitz  hatte  sich  bald  tiborzeugt,  dass  der  Krieg  nicht 
zu  vermeidon  sei,  er  hat.  dies  am  8.  September  in  der  Konferenz 
der  Generale  laut  Protokoll  derselben  orklart.  Wenn  nunmehr 
er,  der  Urheber  des  Systomwechsels  von  1805,  der  Vertreter  der 
Allianz  mit  Frankreich,  rich  gegen  Napoleon  wendete,  so  war  Er 
allerdings  genothigt,  um  der  Armee  und  dem  Lande,  den  Hofen 
von  London,  Wien  und  Petersburg  Glauben  an  den  Ernst  dieser 
Politik  zu  geben,  baldmoglichst  zum  Angriff  gegen  Frankreich 
vorzugehen.  Er  musste  Preussen  in  den  Angriffskrieg  treiben, 
so  dringend  die  gesammte  Lage  gebot,  den  Angriff  Napoleon 
zuzuschieben  und  jene  SteUung  an  der  Elbe  festzuhalten.  Sah 
er  klar  und  war  aufrich tiger  Patriotisms  in  seinem  Herzen,  so 
mochte  er  wohl,  um  Zeit  fur  Vollendung  der  Riistung  zu  ge- 
winnen,  um  seinen  Versicherungen  in  Paris,  dass  der  Konig  nur 
der  Besorgniss  wegen,  die  das  Land  ergriffen,  riiste  und  abzu- 
riisten  bereit  sei,  wenn  er  beruhigende  Zuricherungen  erhalte, 
dort  Glauben  zu  geben,  im  Amte  bleiben  bis  die  Riistung  voll- 
zogen  war.  Als  das  am  18.  September  erreicht  war,  musste  er 
seinen  Platz  einem  Anderen  uberlassen,  der  der  Armee,  dem 
Lande  und  dem  Auslande  das  Vertrauen  einflosste,  das  zur  gluck- 
lichen  Durchfuhrung  eines  so  schweren  Kampfes  unentbehrlich' 
war.  Wenn  der  Konig  den  Eingaben  der  Prinzen,  Steins,  der 
Generale  Riichel  und  Phull  die  Entlassung  von  Haugwitz  weigerte, 
so  geschah  es  nicht  nur,  weil  er  in  diesem  Verlangen  einen  Ein- 
griff  in  seine  Autoritat  sah.  Hatte  der  Konig  doch  selbst  den 
Vertragen,  die  Haugwitz  in  Wien  und  Paris  geschlossen,  seine 
Unterschrift  gegeben,  und  damit  dessen  Politik  zu  dor  seinigen 
gemacht.  Als  Kaiser  Alexander  ihn  im  Juni  1806  darauf  auf- 
merksam  gemacht  hatte,  dass  Haugwitz'  blinde  Vorliebe  fiir 
Napoleon  die  iibelsten  Lagen  herbeifiihren  werde,  erwiderte 
Friedrich  Wilhelm:  „Sie  thun  Haugwitz  Unrecht,  er  hat  keine 
Vorliebe  fur  Napoleon;  er  beurtheilt  ihn,  wie  man  ihn  beur- 
theilen  muss.  Er  hat  seiner  Pflicht  gemass  und  als  guter  Pa- 
triot zu  handeln  gemeint;  er  hat  die  Umstande  nicht  andern 
konnen  und  den  Entschluss  wahlen  zu  miissen  geglaubt,  der  ihm 
der  weniger  verderbliche  zu  sein  schien  (23.  Juni  1806)."  Jenen 
Vorstellungen  gegeniiber  orinnerte  sich  der  Konig,  wie  Haugwitz 
im  Juni  1799  auf  den  Beitritt  zur  Koalition  gegen  Frankreich 
gedrungen,  wie  er  1803  Napoleon  in  Hannover  vorauszukommen 
gerathen,  wie  eifrig  er  damals  die  Riistung  verlangt,  wie  be- 
stimmt  er  dann  am  22.  August  1805  dem  Biindniss  mit  Frank- 
reich widersprochen  hatte.  Dazu  kam  endlich,  dass  sich  der 
Konig  im  Gange  seiner  Politik  keineswegs  von  Haugwitz  abhangig 
fuhlte.  Die  Ankniipfung  mit  Russland  war  des  Konigs  Werk, 
der  Entschluss  der  Riistung  sein  Entschluss.  Diesem  hatte  Haug- 
witz in  keiner  Weise  widersprochen,  und  ging  jetzt  geraden  Weges 
zum  Kriege  vor. 

Im  Januar  1806  konnte  Preussen  mindestens  250,000  Mann 
dem  Angriff  Napoleon's   entgegenstellen;  im  Oktober  1806   ver- 

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Ilanke,  Leop.  v.,  Denkwurdigjjeiten  Hardenbergs*  77 

mochte   es   dem  iibermachtigen  Heere  Napoleon's  nur  mit   der 
Halfte  jener  Streiterzahl  zu  begegnen.   Nur  eine  vorsichtige  und 
zahe  Defensive  gewahrte  Aussicht,   soldier   Uebermacht   wider- 
stehen  zu  konnen;  man   musste  Zeit  gewinnen,   urn   die  Russen 
herankommen  zu   lassen.     Aber  Haugwitz   hatte  Alles   auf  den 
Angriffakrieg  gestellt.    Als  sich  nun  wirklich  noch  eine  giinstige 
Aussicht  fur  die  Offensive  dadurch  eroffnete,  dass  der  Aufmarsch 
der  preussischen  Armee  vierzehn  Tage  friiher  vollendet  war  als 
der  der  franzosischen,  vereitelte  Haugwitz  diese,  indem  er  nun- 
mehr  darauf  bestand,  dass  vor  dem  8.  Oktober  nicht  angegriffen 
werde,  da  sein  Ultimatum,  erst  am  1.  Oktober  iibergeben,   vor 
dem  8.  Oktober   nicht  beantwortet  sein  konne.     So   wurde  die 
Armee   in  vorgeschobener  Stellung  vielmehr  vom  Feinde  ange- 
griffen.    Nicht   ein  vom  Herzog  von  Braunschweig  angeordneter 
Linksabmarsch  sondern  der  Ruckmarsch  an  die  Elbe,   den  viel- 
mehr der  linke  Fliigel,  bis  die  Unstrut  uberschritten  sei,  decken 
sollte,   fiihrte  zu  der  Doppel-Schlacht  von  Jena  und  Auerstadt, 
Nachdem  Fiirst  Hohenlohe,  dem  die  „Memoiren"  ein  hochst  unver- 
dientes  Lob   spenden,  in  hartnackigster  Verblendung  iiber   die 
Absichten  Napoleon's,  die  Saalbriicken   und  den  Hohenrand  des 
linken  Ufers  aufgegeben,  war  es  unmoglich,  sich  auf  der  Hoch^ 
flache  selbst  gegen  die  dreifache  Uebermacht  zu  behaupten,  aber 
man  konnte  sehr  wohl  einen  geordneten  Riickzug  haben,   wenn 
General  Riichel   sich   begnugt   hatte,    diesen    zu   decken.     Bei 
Auerstadt  war  es  moglich,  sich   die  Strasse  zu  offhen.    Trotz 
des  Vortheils  ihrer  Stellung  hatte  der  Kampf  mit  gleichen  Kraften 
Davoust's  Truppen  bis  auf  die  letzte  Reserve  erschopft;  der  vierte 
Mann  lag  ihm  todt   oder  verwundet,   als   die  beideu  Divisionen 
des  zweiten  preussischen  Treffens  herankamen.   Sie  wurden  nicht 
mehr  verwendet.     Die  grobe  Unachtsamkeit   des  Reserve-Corps 
bei  Halle,  die  verkehrte  Richtung  seines  Riickzuges,  die  beispiel- 
loseste  Pflichtvergessenheit  der  Kommandanten  von  Magdeburg, 
Kfistrin  und  Stettin,  welche  dies  Festungs-Dreieck,  das  den  letzten 
Kern  und  Halt  des  Staates  im   siebenjahrigen  Kriege  gebildet, 
dem  Feinde  iiberlieferten,  entschied  die  Vernichtung  der  Ueber- 
reete  der  Hauptarmee.     Die  Entschuldigungen ,   welche  Harden- 
berg  (H,  2)  diesen  Uebergaben,   Schandfiecken  der  preussischen 
Geschichte,  zu  Theil  werden  lasst,  waren  im  Interesse  Harden- 
berg,s  besser  ungeschrieben  geblieben.     Die  betreffenden  Zeilen, 
welche  der  Herausgeber  unterdriickt  hat,  haben  wohl  „die  Friedens- 
liebe  des  Konigs"   auch  fur  diese  Kapitulationen  verantwortlich 
gemacht.     Wohl  hatte   der  Konig   unter   dem  ersten  Eindrucke 
der  schweren  Niederlagen  Frieden  gesucht.   Aber  als  der  Gegner 
seine  Bedingungen  steigerte,  als  er  den  Yerzicht  auf  das  russi- 
sche  Biindniss    zur   Bedingung    des   Waffcnstillstandes    machte, 
wahrend    dessen    iiber   den  Frieden   verhandelt   werden   sollte, 
folgte  Friedrich  Wilhelm,  obwohl  weit  barter  getroffen  als  Kaiser 
Franz  bei  Ulm  und  Austerlitz,    dessen  Beispiel  nicht     Mit  der 
Mehrzahl   der   Generate,  die   der  Konig   am  20.  November   zu 

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78  Ranke,  Leop.  v.,  Denkwiirdigkeiten  Hardenbergs. 

Osterode  versammelte,  stimmte  Haugwitz  fiir  Annahme  dee 
Waffenstillstandes  unter  jener  Bedingung.  Der  Konig  lehnte 
diesen  Stillstand,  den  Lucchesini  und  Zastrow  bereits  gezeichnet 
hatten,  ab.  Haugwitz  erhielt  am  23.  November  seme  Ent- 
la8sung ;  wenige  Tage  spater  Lombard.  So  begann  jener  Feld- 
zug  in  Ostpreussen,  in  dem  zum  ersten  Mai  Napoleon's  stiirmischen 
Erfolgen  Einhalt  geschah,  in  welchem  er  seine  erste  unent- 
schiedene  Schlacht  schlagen  mnsste. 

Die  Bahnen  der  beiden  Staatsmanner ,  die  lange  freundlich 
neben  einander  gegangen  waren,  hatten  sich  definitiv  getreflnt 
Haugwitz  war  von  besseren  Anfangen  und  besseren  Leistnngen 
seit  Ausgang  des  Jahres  1805  tiefer  und  tiefer  in  die  Yer- 
strickungen  Napoleons  gefallen ;  er  versucbte  zu  spat,  diese  Bande 
zu  zerreissen.  Seine  Umsicht,  seine  Mittel  standen  zu  tief  unter 
dieser  gewaltigen  Aufgabe,  am  wenigsten  besass  er  Muth  und 
Kraft  zum  Ausharren.  Hardenberg  ist  sehr  allmalig  von  un- 
sicheren  Anfangen  aus,  nacb  vielfachen  Schwankungen ,  durch 
schwere  Erfahrungen  und  erschiitternde  Katastrophen  gereift,  zu 
der  Starke  gelangt,  die  ihm  dann  einen  der  ersten  Platze  unter 
den  Rettern  und  Herstellern  Preussens  gegeben  hat.  Wahrend 
des  Sammers  1807  hatte  er  fest  zur  Verbindung  mit  Russland 
gestanden.  Die  Illusion,  die  ihn  seit  1794  bis  zum  Februar  1806 
verfolgt  und  ihm  trotz  Allem  immer  wieder  den  Blick  getrubt 
hat,  Preussen  durch  Frankreich  heben  zu  konnen,  war  nun 
endlich  abgeworfen;  dem  Waffenstillstand  hat  er  bestimmt  und 
nachdriicklich  widersprochen.  Es  war  ein  grober  Fehler,  den 
er  oflFen  eingesteht,  dass  er  Zastrow  zur  interimistischen  Leitung 
des  Auswartigen  vorschlug,  den  er  dann  selbst  dem  Kaiser 
Alexander  aJs  schlimmer  als  Haugwitz  bezeichnen  musste.  Er 
hatte  diesen  Fehler  gut  gemacht,  indem  er  die  Ablehnung  des 
Sonderfiriedens,  zu  dem  Napoleon  nach  Eylau  den  Konig  sowohl 
durch  Lockung.  als  durch  Drohung  zu  bewegen  suchte,  nach- 
driicklich unterstiitzte  und  danach,  seit  dem  14.  April  1807, 
selbst  zur  Leitung  berufen,  fiir  die  Fortfuhrung  des  Krieges, 
fiir  die  Bereitstellung  der  dazu  nothigen  Geldmittel,  fur  die 
Versorgung  des  russischen  Heeres  mit  unermiidlichster  Thatigkeit 
wirkte.  Zugleich  fasste  er  die  Regeneration  des  Staats  in 
grossem  Sinn  ins  Auge  und  legte  im  Vertrage  zu  Bartenstein 
(26.  April  1807)  den  Grund  zur  Herstellung  Preussens  und 
Deutschlands ,  zur  Herstellung  des  europaischen  Staatensystems, 
zu  der  Koalition,  die  sechs  Jahre  danach  den  Sturz  Napoleon's 
herbeigefiihrt  hat. 

Die  Schlacht  von  Friedland  wurde  duroh  die  strategische 
Umgehung  herbeigefiihrt,  zu  der  Napoleon  griff,  dis  er  Bennigsen 
trotz  seiner  Uebermacht  durch  den  Angriff  in  der  Fronte  nicht 
aus  der  Stellung  bei  Heilsberg  zu  drangen  vermocht  hatte. 
Bennigsen  war  nicht  angegriffen ,  sondern  griff  an ,  als  er  den 
Parallelmarsch,  den  er  neben  der  franzosischen  Armee  am  andern 
Ufer  der  Alle  ausfiihrte,  unterbrach,  um  iiber  die  Alio  zu  gehen 

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Ranke,  Leop.  v.,  Denkwiirdigkeiten  Hardenborgs.  79 

und  tier  die  Marschlinie  der  franzosischen  Armee  zu  durchbrechen, 
ein  Versuch,  der  gelingen  konnte,  wenn  er  rascher  gefiihrt  wurde, 
schadlos  enden  konnte,  wenn  er  zogerad  betrieben,  rechtzeitig 
abgebrochen  wurde.  Wenn  Napoleon  nach  Friedland  auf  die 
Forteetzung  des  Kriegs  yerzichtete,  so  geschah  dies  deshalb, 
weil  er  sich  zum  Angriff  auf  Russland  selbst  nicht  stark  genug 
Shite.  Aber  indem  er  Alexander  nicht  nur  Frieden  sondern 
auch  Bundniss  bot  und  beide  schloss,  bereitete  er  zngleich 
semen  Krieg  gegen  Russland  dadurcb  vor,  dass  er  Danzig  in 
Besitz  behielt  und  durch  das  Herzogthum  Warschaxi  den  Grund 
zur  Wiederaufrichtung  Polens  legte.  Wenn  Alexander's  Wider- 
sprucb  die  Vereinigung  dieses  neuen  Staates  mit  Schlesien  und 
Sachsen  zu  einem  Ganzen  hinderte,  so  war  die  Absicht  Napoleon's 
in  diesem  Vorschlage  nur  um  so  unverkennbarer  hervorgetreten. 
Dass  er  gewillt  war,  auf  diese  Kombination  zuriickzukommen, 
beweist  das  Verbleiben  nach  dem  Frieden  nicht  von  drei  Armee- 
corps,  wie  die  Denkwiirdigkeiten  sagen,  in  Preussen,  sondern  von 
160,000  Mann  der  grossen  Armee,  abgesehen  von  den  Corps 
Bernadotte  in  Schwedisch-Pommern  und  Davoust  in  Warschau, 
wie  die  Verhandlung  des  Winters  1807  zu  1808,  in  der  sich 
zeigte,  dass  Napoleon  trotz  aller  Verheissungen  zu  Tilsit  die 
Moldau  und  Wallachei  nur  gegen  Zustimmung  Alexander's  zur 
Abreissung  Schlesiens  von  Preussen  zuzugestehen  bereit  war,  • 
endlich  der  sogenannte  Raumungsvertrag  Preussens  vom  8.  Sep- 
tember 1808,  der  Napoleon  zur  Weichsellinie  und  Elblinie  mit 
den  Oderfestungen  auch  die  Linie  der  Oder  in  die  Hand  gab. 
Alle  diese  Vorkehrungen  und  Massnahmen  waren  eben  so  sehr 
gegen  Russland  als  gegen  Preussen  gerichtet.  Alexander  liess 
jenen  Vertrag  zu,  er  bestimmte  den  Konig,  ihn  zu  ratificiren,  er 
gab  sich  in  Erfurt  dazu  her,  Oesterreich  und  Preussen  zu  hindern, 
den  Abmarsch  der  grossen  Armee  nach  Spanien,  die  nationale 
Erhebung  Spaniens  zu  benutzen,  sich  auch  ihrerseits  mit  ver- 
einter  Kraft  gegen  Napoleon  zu  wenden.  Er  beharrte  darauf, 
den  Preis  des  einmal  geschlossenen  Biindnisses  mit.  Napoleon: 
Finnland  sammt  der  Moldau  und  Wallachei  einzuernten,  was 
auch  inzwischen  geschehen  moge.  So  stellte  Art.  10  des  Erfurter 
Vertrages  Russlands  Unterstiitzung  gegen  Oesterreich  fest,  wenn 
es  zwischen  Frankreich  und  Oesterreich  zum  Kriege  komme. 
Me  Einladung,  welche  Alexander  auf  der  Ruckreise  von  Erfurt 
an  Friedrich  Wilhebn  richtete,  nach  Petersburg  zu  kommen, 
sollte  dazu  helfen,  den  Konig  in  dem  gegenwartigen  System 
Russlands  und  von  einer  Erhebung  gegen  Frankreich  zuriickzu- 
halten.  Stein  war  gegen  diese  Reise  gewesen,  nicht  bios  der 
Koeten  wegen,  sondern  des  Eindrucks  wegen,  den  Alexander's 
Bathschlage  auf  den  Konig  ausiiben  konnten.  Der  Konig  nahm 
die  Einladung  an,  um  seinerseits  Alexander  zum  Einverstandniss 
mit  Oesterreich  und  Preussen  hinuberzuziehen ;  er  kannte  den 
Vertrag  von  Erfurt  nicht.  Alexander  blieb  dem  Konige  gegen- 
uber  dabei,   dass,  wenn  Oesterreich  nicht  durch  Abmahnungen 

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80  fianke,  Leop.  v.,  Denkwftrdiglceiten  Hardenbergs. 

vom  Kriege  gegen  Frankreich  zuriickzuhalten  sei,  er  aach  seinor- 
seits  die  Waffen  gegen  dasselbe  ergreifen  werde.  Auf  das 
dringendste  rieth  er  dem  Konige,  sich  den  Umstanden  zu  fugen, 
sich  Frankreich  ohne  Riickhalt  anzuschliessen ;  dagegen  werde 
er  sich  angelegen  sein  lassen,  Erleichterungen  fur  Preussen  bei 
Napoleon  zu  erwirken.  Auf  diese  Intervention  fur  Preussen  er- 
widerte  ihm  Napoleon  am  14.  Februar  1809,  dass  er  sich 
Preussen  giinstig  zeigen  werde,  nwenn  es  sich  den  guten  Lehren 
gemass  verhalte,  die  Alexander  dem  Konige  und  der  Konigin  er- 
theilt  habe".  Als  Prinz  Wilhelm  am  8.  September  1808  jenen 
Raumungsvertrag  gezeichnet,  hatte  ihm  Napoleon  gesagt,  dass  er 
nunmehr  die  baldigste  Riickkehr  des  Konigs  nach  Berlin  erwarte, 
dass  er  diese  als  einen  ersten  Beweis  des  Vertrauens  des  Konigs 
zu  ihm  ansehen  werde.  Noch  in  einer  der  letzten  Unterredungen, 
die  zwischen  dem  Konige  und  Alexander  in  Petersburg  statt- 
fanden,  setzte  der  Erstere  auseinander,  in  welche  Lage  iha  die 
Residenz  in  Berlin,  yon  alien  Seiten  von  fremden  Truppen  um- 
geben  (zwischen  den  franzosischen  Besatzungen  von  Magdeburg 
und  Kiistrin,  in  der  Nahe  der  westfalischen  und  sachsischen 
Truppen),  unausbleiblich  bringen  werde,  dass  er  dort  in  voll- 
standige  Abhangigkeit  von  Frankreich  gerathen  miisse  (Friedrich 
Wilhelm  an  Alexander;  g.  St. -A.).  Trotz  Alexander  und 
Napoleon,  welche  hierin  von  dem  sehr  erklarlichen  Drangen  der 
Berliner  unterstiitzt  wurden,  blieb  der  Konig  mit  bestem  Grunde 
in  Konigsberg. 

Als  nun  der  Krieg  zwischen  Frankreich  und  Oesterreich  im 
April  1809  zum  Ausbruch  kam,  war  Friedrich  Wilhelm  bereit, 
Oesterreich  zur  Seite  zu  treten.  Die  Unfalle,  die  Erzherzog 
Karl  an  der  Donau  in  den  letzten  Apriltagen  erlitt,  hatten  ihn 
nicht  zuriickgehalten ,  wenn  Alexander  das  wiederholt  erbetene 
Versprechen  gab,  dass,  falls  Preussen  die  Waffen  erhebe,  es 
wenigstens  keinen  Angriff  von  Russland  zu  besorgen  haben  werde. 
Alexander  Hess  seine  Truppen  gegen  Oesterreich  an  die  Weichsel 
vorgehen,  vornehmlich  urn  die  Armee  des  Erzherzogs  Ferdinand 
aus  der  Nahe  Ostpreussens  zu  entfernen,  und  schrieb  dem 
Konige:  „Ich  habe  bei  der  Lesung  Ihres  Schreibens  gezittert, 
ich  sehe  die  verderblichen  Folgen  des  Beschlusses  voraus,  den 
Eure  Majestat  fassen  zu  miissen  glauben.  Sie  werden  Oesterreich 
nicht  retten,  aber  Ihren  Untergang  entscheiden  und  mir  jedes 
Mittel  rauben,  ihn  zu  hindernu  (19.  Mai  1809).  Und  dennoch 
ware  der  Konig  auch  wohl  noch  nach  dem  Waffenstillstande  von 
Znaym  eingetreten,  wenn  Knesebeck  im  Lager  zu  Dotis  die 
Ueberzeugung  gewonnen  hatte,  dass  es  Oesterreich  mit  der 
Fortsetzung  des  Krieges  Ernst  sei.  Der  Entschluss  dazu  war 
jedoch  nicht  mehr  vorhanden.  Erzherzogs  Karl's  Kleinmuth 
hatte  selbst  Stadion's  Festigkeit  iiberwunden. 

Das  Biindni8s  mit  Russland  hatte  Napoleon  seinen  Dienst 
gethan;  es  hatte  Oesterreich  gehemmt  und  ihm  den  Krieg  er- 
schwert,    es    hatte    Preussen    auch    nach    dem    Abmarsch    der 

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B&nke,  Leop.  v.,  Denkwfirdigkciten  fiardenbergs.  81 

grossen  Armee  in  Schach  gehalten,  es  hatte  verhindert,  dass 
rich  Oesterreich  und  Preussen ,  die  nationalen  Krafte  Deutsch- 
lands  im  Herbst  des  Jahres  1808,  im  Friihjahr  1809  geschlossen 
gegen  Bonaparte's  Dominat  erhoben.  Als  Napoleon  den  Frieden 
Ton  Wien  am  14.  Oktober  1809  zeichnete,  war  der  Krieg  gegen 
fiossland  bei  ihm  beschlossen.  Hatte  ihm  doch  Alexander  selbst 
geholfen,  die  deutschen  Krafte  nieder  zu  halten  und  zu  zer- 
triimmern,  hatte  er  ihm  doch  durch  diese  Schwachung  der 
intermediaren  Machte  selbst  den  Weg  nach  Russland  gebahnt 
Schon  in  dem  Friedenavertrage  mit  Oesterreich  begann  Napoleon 
den  Krieg  gegen  Russland,  indem  er  dem  Herzogthum  Warschau 
die  polnischen  Gebiete  hinzufugte,  die  Oesterreich  aus  den  beiden 
letzten  Theilungen  davongetragen.  Damit  sagte  er  den  Polen 
wie  dem  Kaiser  Alexander,  dass  zur  Resurrektion  Polens  nur 
noch  die  Gebiete  fehlten,  welche  Russland  in  Besitz  hatte.  Die 
Erfahrung  von  1807  hatte  Napoleon  belehrt,  dass  der  Krieg 
gegen  Russland  sorgfaltig  vorbereitet  sein  miisse,  dass  er  nur 
mit  grossen  Mitteln  unternommen  werden  konne.  Es  handelte 
sich  darum,  Frist  fur  diese  Vorbereitung  zu  gewinnen,  ohne 
dass  Alexander  ihm  zuvorkame,  das  Herzogthum  Warschau 
okkupire,  die  Weichselubergange  in  seine  Hand  bringe  und 
durch  solches  Vorgehen  Preussen  auf  seine  Seite  ziehe.  Indem 
Napoleon,  sobald  der  Friede  zu  Wien  gezeichnet  war,  seine 
Armee  theilte,  den  grosseren  Theii  derselben,  100,000  Mann 
nach  Spanien  schickte,  urn  dort  den  Krieg  im  nachsten  Feldzuge 
zu  Ende  zu  bringen,  den  Ueberrest  von  60,000  Mann  unter 
Davoust  an  die  Niederelbe  marschiren  liess,  Preussen  zu  be- 
drohen,  im  Zaume  zu  halten  und  sich  an  der  Niederelbe  festzu- 
setzen,  liess  er  zugleich  den  Kaiser  Alexander  versichern,  dass 
er  nicht  an  die  Herstellung  Polens  denke,  dass  er  vielmehr 
Sorge  tragen  werde,  den  Namen  Polens  aus  alien  offentlichen 
Akten  verschwinden  zu  lassen.  Was  Alexander  danach  concedirt 
wiasen  wollte  (Denkw.  IV,  256) ,  war  nichts ,  als  was  Napoleon 
geboten  hatte.  Ebenfalls,  urn  Alexander  nicht  zu  friih  aufmerksam 
zu  machen ,  unterliess  es  Napoleon ,  mit  offener  Gewalt  Genug- 
thuung  von  Friedrich  Wilhelm  fur  dessen  Verhalten  wahrend  des 
Krieges  g^en  Oesterreich  zu  fordern;  er  liess  es  bei  dem  Ver- 
snche  bewenden,  ob  ihm  Schlesien  durch  Drohungen  zu  ent- 
reissen  sein  mochte,  Zugleich  warb  er  zum  Schein  urn  die 
Schwester  Alexander's.  Diese  Werbung  sollte  dem  eben  nieder- 
geworfenen  Oesterreich  die  intimste  Allianz  zwischen  Frankreich 
und  Russland,  die  es  erdriicken  musste,  in  schreckende  Aussicht 
stellen.  Napoleon  erreichte,  was  er  beabsichtigte ;  zur  Abwendung 
»olcher  Gefahr  wurde  ihm  die  Erzherzogin  zur  Gemahlin  geboten. 
Mit  dieser  Vermahlung  schob  er  sich,  indem  er  den  alten 
Kaiserstaat  an  sein  System  band,  auch  durch  Oesterreich  hin- 
durch  bis  an  die  Grenze  Russlands  vor.  Nun  liess  er  die 
Weichselplatze  im  Herzogthum  Warschau  befestigen,  betrieb  die 
Verstarkung   der  polnischen  Armee,  traf  Vorsorge  fiir  Erregung 

MlttheUongen  a.  d.  bUtor.  Littentar.    VL  6 

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82  Ranke.  Leop.  v.,  Denkwiirdigkeiten  Hardenbergg. 

der  Polen  gegen  Russland  und  fur  eine  Volksbewaffhung  aller 
polnischen  Gebiete,  liess  Sachsen  und  Westphalen  ihre  Kon- 
tingente  verst&rken  und  unbemerkt  die  Besatzungen  in  Danzig, 
in  den  Oderfestungen  zu  ansehnlichen  Truppenkorpern  an- 
wachsen.  Des  Konigs  Jerome  Krafte  verstarkte  er  durch  Ueber- 
weisung  Hannovers,  den  Thron  seines  Bruders  in  Holland  be- 
seitigte  er,  um  Holland  sammt  Ostfriesland  zu  franzosischen 
Departements  zu  machen. 

Wie  hatten  ihm  gegen  Russland  Erfolge  fehlen  konnen? 
Preussen  geknebelt  und  durch  die  Festungen  der  Weichsel, 
Oder  und  Elbe  in  seiner  Hand,  Oesterreich  erschopft,  abhangig 
und  bekehrt.  Dazu  drangten  nun  weiter  die  Angriffe,  die 
Alexander,  auf  Grund  seines  Bundnisses  mit  Frankreich,  gegen 
Schweden  und  die  Pforte  gerichtet,  diese  beiden  Nachbarn  Buss- 
lands  in  Nord  und  Slid  auf  Napoleon's  Seite.  Schweden  erklarte 
mit  der  Wahl  Bernadotte's  zum  Thronfolger  seinen  Uebertritt 
zum  franzosischen  System  und  suchte  Anlehnung  an  Napoleon. 
Die  Erfolge,  welche  der  russischen  Armee  im  Sommer  1810  am 
Balkan  zuzufallen  schienen,  liessen  die  Pforte  Napoleon's  Hiilfe 
suchen.  Und  der  Feldzug  dieses  Jahres  in  Spanien  entsprach 
Napoleon's  Erwartungen  vollstandig.  Lord  Wellington  war  in 
die  Linien  von  Torres  Vedras,  die  spanischen  Armeen  waren 
nach  Cadix  zuriickgedrangt;  nur  diese  Punkte  und  einige  feste 
Platze  der  Ostkuste  waren  nocli  in  den  Handen  der  Spanier. 
Der  geeignete  Moment  fur  den  Losbruch  schien  Napoleon  ge- 
kommen;  er  vollzog  im  December  1810  die  Vereinigung  der 
gesammten  Nordkuste  Deutschlands  von  der  Ems  bis  zur  Trave 
mit  Frankreich,  um  seine  unmittelbare  Herrschaft  naher  an 
Bussland,  bis  zur  Ostsee  hin  yorzuschieben.  Diese  Annexion 
begriff  auch  das  Besitzthum  der  jiingeren  Linie  des  russischen 
Kaiserhauses  in  sich.  Napoleon  musste  darauf  gefasst  sein, 
dass  Alexander  die  oflfene  Ermuthigung,  die  er  der  Pforte  gegen 
Russland  zu  Theil  werden  liess,  den  beispiellosen  Akt  jener 
Annexion  mit  der  Kriegserklarung ,  mit  dem  Vorrucken  seiner 
Armee  in  das  Herzogthum  Warschau  beantworten  werde.  Er 
war  darauf  vorbereitet.  Davoust  war  ansehnlich  verstarkt,  ear 
hatte  Mecklenburg  behufs  besserer  Durchfiihrung  des  Kontinental- 
sjstems  besetzt,  um  von  hier  aus  durch  Schwedisch-Pommern 
der  Besatzung  Stettins  die  Hand  zu  reichen,  von  der  Oder  nach 
der  "Weichsel  zu  „fliegen",  deren  Uebergange  und  das  Herzogthum 
Warschau,  durch  die  Sachsen  und  Westfalen,  durch  die  polnischen 
Truppen  auf  150,000  Mann  verstarkt,  so  lange  zu  vertheidigen, 
bis  Napoleon  mit  der  in  Holland  und  am  Rhein  bereit  stehenden 
zweiten  Armee  von  ebenfalls  150,000  Mann  herankomme. 

Kaiser  Alexander  erwartete  auch  seinerseits  den  Ausbruch 
des  Krieges  im  Frtihling  des  Jahres  1811.  Viel  ernstlicher  als 
die  Denkwiirdigkeiten  (IV,  305)  erkennen  lassen,  hatte  er  dar- 
nach  getrachtet,  die  polnischen  Magnaten  fur  sich  zu  gewinnen. 
Ware  dies   gelungen,   so   hatte  er  die  Offensive  genommen,   so 

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Banke,  Leop.  v.,  Denkwiirdigkeiten  Hardenbergs.  83 

ware  er  an  die  Weichsel  vorgegangen,  so  hatte  er  versucht,  die 
Streitkrafte  Preussens  fiir  sich  zu  verwerthen.  Da  der  Versuch 
fohlsehlug,  beschloss  er  Ausgangs  Mai  1811  den  Angriff  Napo- 
leons in  seinen  Grenzen  zu  erwarten.  Die  Kunde,  die  Napoleon 
hieriiber  erlangte,  schien  diesem  sicher  genug,  den  Krieg  bis 
um  nachsten  Friihjahr  zu  vertagen,  um  sich  des  Erfolges  durch 
Heranziehung  noch  grosserer  Streitkrafte,  insbesondere  seiner 
Annee  aus  Italien,  vollkommen  zu  versichern.  Aber  Alexander 
konnte  seinen  Entschluss  andern,  Preussen  konnte  zu  den  Waffen 
greifen,  die  Pforte  in  solche  Bedrangniss  gerathen,  dass  der 
Eintritt  in  die  Aktion  unmittelbar  nothwendig  wurde.  Solchen 
Ereignissen  auf  der  Stelle  zu  begegnen,  wurde  Davoust  unab- 
lassig  verstarkt  und  angewiesen,  jeden  Augenblick  bereit  zu 
sein,  iiber  Preussen  herzufallen,  um  es  niederzuwerfen ;  aber 
audi,  wenn  Preussen  sich  ruhig  halte,  an  die  Weichsel  vorzu- 
gehen,  sobald  ein  russisches  Bataillon  die  Grenze  des  Herzog- 
thums  Warschau  uberschreite. 

So  die  Absichten  und  der  Gang,  den  Napoleon  unbeirrt 
verfolgte,  seinen  Krieg  gegen  Russland  einzuleiten.  Alexander 
ist  uber  Napoleon's  Absicht  seit  dem  Friihjahr  1810  nicht  einen 
Augenblick  in  Zweifel  gewesen,  am  wenigsten  hat  er  noch  im 
Marz  1812  (Denkw.  IV,  293)  Friedenshoffhungen  gehegt.  Wohl 
aber  haben  fast  sammtliche  Darsteller  dieses  Zusammenstosses, 
franzosische  und  nicht  franzosische ,  theils  in-e  geleitet  durch 
Napoleon's  bis  zum  letzten  Augenblick  fortgesetzte  Versicherungen 
von  dem  Werthe,  den  er  auf  die  Allianz  mit  Russland  lege, 
Ton  der  Moglichkeit,  ja  der  Leichtigkeit ,  sich  zu  yerstandigen, 
durch  welche  er  seine  Vorbereitungen  deckte  und  seine 
Drohungen  unterbrach,  theils  beherrscht  von  der  Tendenz, 
Napoleon  von  der  Schuld  des  Unternehmens,  das  den  G-rund 
zu  seinem  Sturze  legte,  frei  zu  sprechen,  sich  in  Unter- 
suchungen  dariiber  ergangen,  ob  die  polnische  Frage  (Denkw.  IV, 
256)  oder  die  Frage  des  Kontinentalsystems ,  der  Zulassung 
der  neutralen  Flagge  in  den  russischen  Hafen,  ob  die 
osterreichische  Heirath  oder  Oldenburg  den  Bruch  herbei- 
gefuhrt  hatte,  und  den  Zeitpunkt  zu  ermitteln  versucht,  in  dem 
Napoleon  den  Krieg  ernstlich  beschlossen  habe  (Denkw.  II,  275. 
294.  305.  309.  313).  Napoleon's  Korrespondenz  gestattet  dariiber 
keinen  Zweifel. 

Es  war  jener  Versuch  Napoleon's,  Schlesien  von  Preussen 
2Q  ei-pres8en,  der  Friedrich  Wilhelm  den  Entschluss  fassen  liess, 
Hardenberg  im  Friihjahre  1810  zur  Leitung  der  Geschafte  zu 
berufen.  Mit  Gewalt  war  —  wir  sahen ,  aus  welchem  Grande 
—  damals  gegen  Preussen  nicht  vorzugehen ;  so  wollte  Napoleon 
sich  mm  wenigstens  dessen  Zahlungen  sichern  und  da  sein  Ver- 
treter  in  BerUn  berichtete,  dass  Hardenberg's  Talent  Aussicht 
dafiir  gewahre,  willigte  er  in  dessen  Berufung,  schwerlich  in  der 
Abacht,  Preussen  „einen  geschickten  und  kraftigen  Piloten  zu 
geben".    Innerlich   gereift,   vereinigte  Hardenberg  nun  mit  der 

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84  Ranke,  Loop,  v.,  Denkwttrdigkeiten  Hardenbergs. 


Leitung  der  ausw&rtigen  auch  die  der  inneren  Politik.  Mit  ge- 
schickter,  wenn  auch  nicht  mit  so  fester  Hand  wie  Stein,  nahm 
er  die  seit  dessen  Riicktritt  stockenden  Reformen  wieder  au£ 
Die  Verausserung  der  Klosterguter ,  sein  neues  Steuersystem 
setzten  ihn  in  den  Stand,  die  Kontributionszahlungen  regelmassig 
zu  leisten  (aus  den  Berathungen  der  provisorischen  National- 
reprasentation ,  die  er  belief,  gingen  dann  wesentKche  Ver- 
besserungen  jenes  Systems  hervor) ;  auf  alien  Gebieten  der  Ge- 
setzgebung,  im  gesammten  Leben  des  Staats  machte  sich  die 
Wirkung  einer  einheitlichen  und  folgerichtigen  Leitung,  die 
Konsolidation  der  bis  dahin  unglaublich  schwankenden  Zustande 
bemerkbar.  Freilich  mussten  alle  diese  Fortschritte  durch  un- 
bedingte  Folgsamkeit  gegen  die  Befehle  von  Paris  erkauft  werden 
und  die  stetige  Steigerung  des  Krieges,  den  Napoleon  gegen  den 
Handel  Englands,  gegen  den  Handel  der  Neutralen,  gegen  die 
Kolonialwaaren  und  die  Manufakte  Englands  fiihrte,  legte  der 
wirthschaftlichen  Erholung  des  Landes  jeden  Augenblick  neue 
Hindernisse  in  den  Weg. 

Noch  kein  voiles  Jahr  stand  Hardenberg  an  der  Spitze  der 
Gesch&fte,  als  im  Friihjahr  1811  der  Krieg  zwischen  Frankreich 
und  Russland  in  drohende  Aussicht  trat.  Hardenberg's  Meinung 
ging  zunachst  darauf,  Vorbereitungen  zu  treffen,  welche  wenigstens 
die  Zusammenziehung  der  preussischen  Truppen  trotz  der  Oder- 
und  Weicliselfestungen ,  trotz  der  Nahe  der  Elbfestungen  er- 
moglichen  sollten.  Die  Ungewissheit,  ob  es  uberhaupt  zum  Kriege 
kommen  werde,  die  Erwagung,  dass  Preussen,  wenn  die  Diffe- 
renzen  der  beiden  Bivale  friedlich  ausgeglichen  wiirden,  durch 
den  Anschluss  an  Russland  in  hochst  yerderblicher  Weise  kom- 
promittirt  sein  wiirde,  der  Hinblick  auf  Alexander's  polnische 
Plane,  auf  seine  hartnackige  Fortsetzung  des  B^rieges  gegen  die 
Pforte,  der  ihn  mit  Oesterreich  tiefer  und  tiefer  verfeinde  und 
gegen  Frankreich  in  schweren  Nachtheil  setze,  die  Erinnerung 
an  die  schwankende,  bald  iibermassig  selbstvertrauende ,  bald 
verzagte  Haltung,  die  Alexander  1805  und  1807  gezeigt,  fiihrten 
Hardenberg  dann  zu  dem  Rathe,  es  vorerst  mit  der  Anlehnung 
an  Frankreich  zu  versuchen.  Jedenfalls  konne  man  Napoleon's 
Absichten  gegen  Preussen  nicht  besser  erkunden,  als  durch  das 
Anerbieten  einer  Allianz ;  lehne  er  diese  ab,  so  sei  erwiesen,  dass 
er  auf  Preussens  Vernichtung  sinne.  Als  nun  Napoleon,  wie 
dies  seine  Einleitung  des  Krieges  gegen  Russland  verlangte,  den 
Mitte  Mai  gemachten  Antragen  auswich,  nicht  darum,  weil 
sie  ihm  nicht  ausreichende  Verfligung  iiber  Preussen  gaben  (dem 
hatte  er  nachzuhelfen  verstanden),  sondern  um  seinen  Plan  in 
Petersburg  nicht  vorzeitig  erkennen  zu  lassen,  war  fur  Harden- 
berg der  Beweis  feindseligster  Absichten  erbracht.  Seit  den 
ersten  Tagen  des  Juli  erklarte  er  Riistung  und  Abschluss  mit 
Russland  fiir  unerlasslich  und  hielt  an  dieser  Ansicht  auch  dann 
unerschtttterlich  fest,  als  Scharnhorst,  endlich  in  Petersburg  zu- 
gelassen,  von  hier  Anfang  November  nur  die  Wiederholung  des 

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Ranke,  Leop.  v.,  Denkwtirdigkeiten  Hardenbergs.  85 

Widerspruchs  zuriickbrachte ,  den  Alexander  dem  Konige  be- 
reits  Ende  Mai  zugerufen  hatte:  Preussen  moge  sich  Frank- 
reich in  keinem  Falle  anschliessen ;  Russland  jedoch  werde  sich 
in  seinen  Grenzen  angreifen  lassen.  Hardenberg  beharrte  bei 
seiner  Ansicht,  selbst  dann,  als  Scharnhorst  Anfang  Januar  1812 
anch  aus  Wien  mit  noch  leereren  Handen  zuriickkam,  und  Gneisenau 
in  London  nicht  mehr  als  die  Zusage  und  Absendung  von  120  Ge- 
sohiitzen  und  50,000  Gewehren  nach  Colberg  zu  erlangen  ver- 
mocht  hatte.  Der  Konig  war  anderer  Meinung.  Er  beschloss, 
unter  diesen  Umstanden  auf  Widerstand  zu  verzichten.  Am 
1.  Februar  1812  sendete  er  den  Oberst  Knesebeck  nach  Peters- 
burg, die  Motive  dieses  Entschlusses  Alexander  zu  entwickeln. 
Da  Knesebeck  mit  Ancillon  hartnackig  an  der  Einbildung  fest- 
hielt,  dass  Napoleon  den  Krieg  im  Grande  nicht  wolle,  dass 
Alexander  ihn  durch  einige  Nachgiebigkeit  vermeiden  konne, 
gestattete  der  Konig  Knesebeck  zugleich  den  Versuch,  Alexander 
znr  Vertagung  eines  Krieges  zu  bestimmen,  den  er  jetzt  nur 
nnter  sehr  ungunstigen  Umstanden  fuhren  konne.  Wenn  Knese- 
beck in  seinen  im  hohen  Alter  niedergeschriebenen  Erinnerungen 
in  Petersburg  das  Gegentheil  von  dem  gethan  zu  haben  versichert, 
was  ihm  oblag  und  was  er  dort  um  so  loyaler  und  nachdruck- 
licher  ausgefuhrt  hat,  als  sein  Auftrag  seiner  Ueberzeugung  ent- 
sprach,  so  kann  fur  diese  Alterstauschung  billigerweise  doch  nur 
der  Aufeeichner  verantwortlich  gemacht  werden,  nicht  die,  denen 
Pietat  jeden  Zweifel  untersagte  (Denkw.  IV,  307). 

Nicht  „unter  einer  Art  von  Zwang"  (Denkw.  IV,  338),  unter 
dem  denkbar  starksten  Zwang  ist  der  Vertrag  vom  24.  Februar 
1812  zwischen  Preussen  und  Frankreich  abgeschlossen  worden. 
Es  ist  Hardenberg's  Verdienst,  auch  nach  dem  Abschluss  dieses 
Vertrages,  als  sich  die  franzosischen  Heeresmassen  durch  Preussen 
walzten,  als  Napoleon  den  Niemen  uberschritt,  als  er  bei  Boro- 
dino siegte  und  in  Moskau  einzog,  die  Hoffnung  festgehalten  zu 
baben,  dass  dennoch  eine  Wendung  eintreten  konne,  wenn 
Alexander  nur  fest  bleibe  und  sich  nicht  zum  Frieden  bestimmen 
lawe.  Er  knupfte  Ende  September  eine  Unterhandlung  mit 
Metternich  an,  um  fur  eine  Eventualitat  dieser  Art  Einverstand- 
fliss  zwischen  Preussen  und  Oesterreich  herzustellen.  Ende  Ok- 
tober  sicher  unterrichtet,  dass  Alexander  fest  bleiben  werde,  liess 
Friedrich  Wilhelm  in  Wien  erklaren  (28.  Oktober  1812):  „Falls 
O^terreich  ihn  unterstiitze,  werde  er  nicht  zogern,  das  System 
zn  wechsein  und  alle  Krafte  zu  dem  Versuche  zusammenzunehmen, 
das  fremde  Joch  abzuschiitteln."  Nicht  einen  Augenblick  hat 
Friedrich  Wilhelm,  wie  die  Denkwiirdigkeiten  (IV,  344.  345.  346) 
wollen,  in  den  letzten  Decembertagen  des  Jahres  1812  gedacht 
und  gehofft:  die  Unabhangigkeit  auf  friedlichem  Wege  durch 
Vereinbarung  mit  Oesterreich  zu  erlangen.  Ancillon's  Denkschrift 
vom  24.  December  geht  auf  den  Krieg :  Oesterreich  miisse  die 
Mediation  nicht  anbieten  sondern  deklariren,  seine  Truppen  kon- 
centriren  und  als  Bedingung  vorschreiben,  dass  Frankreich  uber 

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gg  Ranke,  Leop.  v.,  Denkwurdigkeiten  HardenbeTgs. 

den  Rhein  zurtickweiche.  Noch  deutlicher  sprechen  die  Beschliisse 
der  Konferenz  vom  25.  December  und  die  eigene  Aufeeichnung 
des  Konigs  vom  28.  December.  Sie  bezeichnet  Knesebeck's  Hoff- 
nung,  den  Krieg  am  Rhein  eroffnen  zu  konnen,  als  eine  chima- 
rische;  um  dahin  zu  gelangen,  mii88ten  noch  einmal  300,000 
Franzosen  vernichtet  sein ;  aber  sie  hat  nichts  als  den  Krieg  im 
Auge,  wenn  sie  ganz  richtig  ausfuhrt,  dass  Preussen,  Oesterreich 
und  Russland  in  Norddeutschland  gegen  Frankreich  am  kraftig- 
sten  zusammenzuwirken  vermocbten ;  und  wenn  sie  es  schliesslich 
fur  das  vortheilhafteste  erklart,  falls  Napoleon  im  nachsten  Feld- 
zug  wiederum  offensiv  verfahre,  ihm  in  den  Riicken  zu  fallen  — 
nicht  Hardenberg  (Denkw.  IV,  364),  sondern  dem  Konige  ge- 
hort  dieser  Gedanke  —  so  ist  dies  nicht  weniger  der  Krieg. 
Dazu  stimmen  dann  auch  die  Anordnungen,  die  in  jenen  Tagen 
getroffen  wurden,  die  Armee  baldmoglichst  auf  die  Starke  von 
90,000  Mann  zu  bringen,  die  Berufung  Scharnhorst's  nach  Berlin 
(3.  Januar)  wie  die  gesammte  Knesebeck  fur  Wien  ertheilte 
Instruktion  mit  dem  Zusatze,  welchen  diese  am  3.  Januar  1813 
erhielt:  der  Konig  werde  sich  flir  Russland  erklaren  mussen, 
wenn  dieses  die  Weichsel  iiberschritte ;  es  wilrde  ein  Vortheil 
ersten  Ranges  sein,  wenn  Russland  und  Preussen  die  franzosischen 
Waffen  bis  zur  Elbe  zuriickdrSngten.  Man  wollte  in  Berlin 
Oesterreich  vorwarts  treiben,  um  durch  dessen  Vorgehen  gegen 
Frankreich  zugleich  eine  zu  grosse  Abhangigkeit  von  Russland 
zu  vermeiden.  Eine  starke  SteDung  zwischen  Russland  und 
Frankreich  einzunehmen,  wie  die  „Denkwiirdigkeiten  (IT,  364)" 
meinen,  daran  konnte  in  jenen  Tagen  auch  nicht  entfernt  gedacht 
werden.  Nicht  von  der  Konvention  von  Tauroggen  konnte  Graf 
Henkel  am  2.  Januar  1813  Nachmittags  Nachricht  bringen  (sie 
wurde  am  30.  December  geschlossen,  die  erste  Kunde  war  erst 
zwei  Tage  spater  in  Berlin ,  die  Konvention  selbst  erst  am 
5.  Januar),  sondern  nur  von  der  Absicht  York's,  solche  zu 
schliessen.  Sowohl  der  Konig  als  Hardenberg  haben  diesen 
Wink  auf  der  Stelle  benutzt,  um  Murat  wie  St.  Marsan  anzu- 
kiindigen,  dass  Macdonald  das  preussische  Korps  zwei  Marsche 
zuriickgelassen  habe,  um  seinen  Ruckzug  zu  bewerkstelligen ; 
York  werde  unter  solchen  Umstanden  die  russischen  Truppen 
nicht  mehr  zu  durchbrechen  vermogen.  Dass  York  diesen  Ge- 
sichtspunkt  nicht  festgehalten,  dass  er  in  dem  Schreiben,  in  dem 
er  Macdonald  den  Abschluss  der  Konvention  anzeigte,  gesagt 
hatte:  wdass  die  Dnterhandlungen  zwischen  den  kriegfiihrenden 
Machten  tiber  die  endhche  Bestimmung  seiner  Truppen  ent- 
scheiden  wiirdenu,  stimmte  nicht  zu  dem  System  des  Konigs: 
„unter  dem  Schein,  fur  Frankreich  zu  riisten,  gegen  Frank- 
reich zu  riisten,  mittelst  der  Bestimmungen  der  mit  Frankreich 
geschlossenen  Vertrage  selbst  (Raumung  des  Landes  nach  er- 
folgter  Erfiillung  der  Verpflichtungen,  die  Preussen  in  denselben 
Ubernommen)  von  der  franzosichen  AUianz  frei  zu  werden." 
Napoleon  musste  auf  jene  Worte  hin  Verhandlungen  zwischen 

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Ranie,  Leop.  v.,  Denkwiirdigkeiten  Hardenberga.  87 

dem  Konige  und  Alexander  voraussetzen ;  er  konnte  mit  des 
Konigs  Gefangennahme  antworten  und  damit  die  Aktion  der 
Staatsregierung,  die  Aktion  des  Staates  selbst  lahmen.  Der 
Konig  beschloss,  die  Konvention  York's  Russland  gegeniiber  an- 
zunehmen,  Frankreich  gegeniiber  zu  verleugnen,  und  die  vorgeb- 
liche  Absetzung  York's  durch  Major  Natzmer's  Sendung  vielmehr 
m  eber  Sendung  an  Kaiser  Alexander  zu  benutzen ,  am  iiber 
dessen  Absichten  grossere  Klarheit  und  Sicherheit  zu  gewinnen 
ab  aus  Paulucci's  Schreiben  an  York  vom  22.  December  und 
dessen  Anlage  zu  entnehmen  waren. 

Nach  den  „Denkwurdigkeitena  (IV,  350)  hat  York's  That 
einen  unversohnlichen  Zwiespalt  zwischen  der  Politik  Preussens 
und  Napoleon's  hervorgerufen.  Dies  ist  doch  durch  die  That- 
sache  zu  beschranken,  dass  Napoleon  auch  nach  York's  That 
noch  bis  iiber  die  Mitte  des  Februar  1813  hinaus  Preussen  in 
seinen  Banden  halten  zu  konnen  glaubte.  Freilich  hat  er  nichts 
gethan,  diese  Bande  weniger  driickend  zu  machen.  Dazu  ist 
ihm  auch  nicht  eine  Anwandlung  gekommen,  wenn  man  nicht 
jenes  wundersame  Anerbieten  der  Verschwagerung  Murat's  oder 
Beauharnais'  mit  dem  Hause  Hohenzollern  dafiir  nehmen  will. 
Er  verstand  auch  in  dieser  grossen  Krisis  nur,  schwereren  Dienst 
zu  verlangen:  Verstarkung  der  preussischen  Truppen,  keinerlei 
Verhandlung  mit  Russland  wegen  Respektirung  der  Neutralitat 
Schlesiens,  Abbruch  der  diplomatischen  Verbindung  mit  Schwe- 
den.  Die  Ruckzahlung  der  preussischen  Vorschusse  auch  nur 
zur  HaJfte  weigerte  er,  wie  er  die  Raumung  der  Oderfestungen 
geweigert  hatte.  Die  Lieferungsvertrage  fiir  die  Versorgung 
dieser  Festungen  kassirte  er.  „Das  Holz  muss  gefallt  werden, 
wo  man  es  findet,  man  muss  starke  Requisitionen  ausschreiben, 
den  taglichen  Bedarf  mUssen  die  Preussen  liefern,  und  wenn  die 
Preussen  nicht  liefern,  setzen  sie  uns  in  die  Lage,  von  ihrem 
Lande  Besitz  zu  nehmen  (Korr.  11.,  27.  Februar)."  Das  war 
der  unversohnliche  Gegensatz. 

Die  „Denkwiirdigkeiten"  schliessen  mit  einem  Blick  auf  den 
Peldzug  des  FriihjalJs  1813  und  den  Kongress  zu  Prag,  mit 
eiuigen  Bemerkungen  iiber  die  Umgrenzung  Frankreichs  durch 
die  Vertrage  des  Jahres  1814.  Ich  kann  mir  nicht  versagen, 
die  vergleichende  Charakteristik  Hardenberg's  imd  Stein's,  welche 
die  „Denkwiirdigkeitenu  geben,  in  den  Hauptziigen  zu  wiederholen. 
nWie  Hardenberg  war  auch  Stein  urspriinglich  dazu  bestimmt, 
in  den  Reichsbehorden  zu  arbeiten.  Wenn  der  Ruhm  Friedrich's 
in  Hardenberg  friihzeitig  eine  Hinneigung  zu  Preussen  hervorrief, 
bo  war  das  bei  Stein  in  noch  hoherem  Masse  der  Fall.  Per- 
Bimlich  waren  sie  doch  sehr  verschieden;  Hardenberg  war  keines- 
weg8  korrekt  in  seinem  Privatleben,  Stein  lebte  in  den  von 
seinen  Altvorderen  iiberkommenen  sitUichen  imd  rehgiosen  Be- 
griffen.  Er  mochte  nicht  Alles  besitzen,  was  zur  Bildung  des 
Jahrhunderts  gehorte;  er  war  aber  ein  eigenthiimlicher  Geist, 
ws  tiefen  Wurzeln  emporgewachsen.    Durch  und  durch  prak- 

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88  Goecke,  Dr.  Rudolf,  Das  Grossherzogthum  Berg  unter  Joachim  Murat  etc. 

tisch  zeigte  er  sich  zugleich  immer  von  IdeaJen  erfullt.  Auch 
Hardenberg  verlor  nie  die  germanische  Gesammtheit  aus  den 
Augen,  in  Stein's  Seele  schlug  noch  mehr  ein  deutsches  Herz. 
die  sittliche  Macht  des  deutschen  Gedankens  wohnte  in  seiner 
Seele.  Wenn  in  den  Augen  der  Nachwelt  Stein  als  der  grossere 
erscheint,  so  riihrt  das  daher,  dass  er  sich  weniger  auf  den  ge- 
wohnten  Bahnen  bewegte  and  einen  moralischen  Schwung  besass, 
der  Ehrfurcht  erweckte.  Von  Hardenberg  lasst  sich  das  nicht 
•agen?  aber  er  hatte  den  Schwung  des  politischen  Gedankens 
und  alle  die  unbeugsame  Zahigkeit  und  Unverdrossenheit ,  die 
dazu  gehort,  einen  solchen  zu  realisiren.  In  Stein  lebte  der 
Impuls  urspriinglicher  Gedanken  und  Gefiihle,  in  Hardenberg 
mehr  Empfanglichkeit  fur  die  allgemeinen  Tendenzen,  welche 
die  Welt  beherrschen,  die  er  insofern  theilte,  als  sie  seiner  an- 
geborenen  Sinnesweise,  seinen  Studien  und  seiner  Lebenserfahrung 
entsprachen.  Sie  begegneten  einander  in  der  Opposition  gegen 
die  nicht  mehr  ausreichenden  Pormen  der  Staatsverwaltung.  Stein 
hatte  mehr  aristokratische,  Hardenberg  mehr  demokratische  Sym- 
pathien.  Die  kraftigsten  Anregungen  zu  einer  popularen  Erhebung 
gegen  Napoleon  riihren  von  Stein  her.  Aber  ohne  Hardenberg 
waren  sie  nicht  zum  Ziele  gelangt.  Die  ganze  G-eschicklichkeit 
eines  geiibten  Diplomaten  gehorte  dazu,  dem  preussischen  Staate 
fur  seine  Wiedererhebung  Raum  zu  schaffen  und  dabei  doch  die 
Peindseligkeit  des  ubermiithigen  Gegners  nicht  vorzeitig  zu  er- 
wecken  (IV,  131.  450—453)."  Max  Duncker. 


xvn. 

Goecke,  Dr.  Rudolf,  Das  Grossherzogthum  Berg  unter  Joachim 
Murat ,  Napoleon  I.  und  Louis  Napoleon  1806  — 13.    gr.  8. 

(100  S.)     Koln   1877.     Du  Mont  -  Schauberg'sche  Buchhandl. 
2,80  Mark. 

Der  Verfasser  bietet  uns  einen  dankensworthen  Beitrag  zur 
Geschichte  der  franzosischen  Fremdherrschaft  auf  dem  rochten 
Rheinufer,  der  sich  auf  die  Acten  des  Dusseldorfer  Staatsarchivs 
8tiitzt,  aber  auch  von  einsichtiger  und  geschickter  Verwerthung 
des  gedruckten  Quellenmaterials  zeugt,  unter  dem  die  Memoiren 
des  Grafen  Beugnot,  des  kaiserlichen  Regierungscommissars  im 
Grossherzogthum,  besonders  hervortreten.  Neben  den  ausseren 
Geschickon  des  Grossherzogthums  behandelt  er  in 
eingehender  Weise  die  Regierung  und  Verwaltung 
der  Fremden,  die  Landesvertretung  und  die 
Stimmung   der  Bevolkerung. 

Die  Schopfung  des  neuen  Staates  und  die  Uebertragung  der 
Souverainetat  iiber  denselben  auf  den  Prinzen  Joachka  Murat 
am  23.  Marz  1806  geschahen  auf  Grundlage  jenes  famosen 
Schonbrunner  Tractats,  durch  den  Preussen  Gleve  und  Wesel 
und  Baiern  das  Herzogthum  Berg  an  Napoleon  abtraten.  Dazu 
kam  noch  Deutz  und  Konigswinter,  Siegen  und  eine  Reihe  klei- 

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Goecke,  Dr.  Badolf,  Das  Grossberzogthum  Berg  unter  Joachim  Murat  etc.    89 

neier  Gebietstheile,  die  der  Herzog  von  Nassau  abtreten  musste. 
Der  Versuch  des  neuen  Grossherzogs,  der  Wesel  an  Frankreich 
hatte  abgeben  miissen,  noch  die  alten  Reichsabteien  Werden, 
Essen,  Elten,  die  erst  1805  aus  Verwaltungsriicksichten  mit  Cleve 
Yerbunden  worden,  dazu  zu  gewinnen,  scheiterte  zunaehst  an  dem 
Widerstande  der  Truppen  Bliicbers  und  brachte  dem  unvor- 
sichtigen  Sch wager  die  Lection  aus  Malmaison  ein:  „wenn  er 
die  ihm  durch  den  preussischen  Commissar  nicht  ubergebenen 
Gebiete  occupiren  wollte,  hatte  er  mit  solcher  Macht  dort  er- 
seheinen  miissen,  dass  zwei  Bataillone  sie  ihm  nicht  abnehmen 
konnten."  Eine  Essen -Werden- El  tensche  Interimsverwaitungs- 
Commission,  die  am  23.  August  eingesetzt  worden,  loste  sich 
nach  Ausbruch  des  Krieges  und  Besetzung  Essens  durch  hollan- 
dische  Truppen  auf,  bis  am  31.  October  die  formliche  Vereinigung 
der  Stifter  mit  dem  Grossherzogthum  erfolgte.  Im  Marz  1808 
wurde,  „um  der  Prinzessin  Caroline  einen  angenehmen  Dienst  zu 
erweisen"  und  die  Verdienste  ihrcs  Gemahls  anzuerkennen,  noch 
ausserdem  aus  der  Kriegsbeute  die  Grafschafb  Mark,  der  preussi- 
sche  Antheil  von  Miinster,  Tecklenburg,  Lingen  und  Dortmund 
dem  Grossherzogthum  einverleibt.  Aber  noch  vor  der  Besitz- 
ergreifung  dieser  Gebiete  war  Murat  von  Bayonne  aus  die  Wahl 
zwischen  den  Kronen  von  Neapel  und  Portugal  angeboten  worden; 
am  7.  August  entband  der  Eonig  beider  Sicilien  seine  geliebten 
nod  getreuen  Unterthanen  ihres  Eides,  nachdem  er  schon  am 
19.  Juli  seinem  bergischen  Finanzminister  von  Bareges  aus  ein- 
gescliarft  hatte,  ihm  die  Reveniien  des  Grossherzogthums  bis  zum 
1.  August  zu  reserviren.  Der  Kaiser,  der  sich  zunaehst  durch 
Beagnot  selbst  in  Diisseldorf  hatte  huldigen  lassen,  iibertrug  am 
3.  Marz  1809  die  Souverainetat  uber  Berg  an  den  alteren  Sohn 
des  KoDigB  von  Holland,  den  vierjahrigen  Prinzen  Napoleon 
Lndwig,  der  niemals  sein  Land  betreten  hat.  Damals  hatte  das 
Grossherzogthum  seine  grosste  Ausdehnuug  von  306  Quadrat- 
meflen;  1810  und  11  verlor  es  iiber  60  Quadratmeilen  auf  Kosten 
nengegchaffener  franzosischer  Departements,  erhielt  aber  1811 
noch  einen  kleinen  Zuwachs  durch  Recklinghausen  und  einen 
Thetl  von  Diilmen. 

Fiir  den  Grossherzog  Joachim,  der  nur  ein  paar  Monate  des 
Jahres  1806  in  seinem  Lande  zugebracht  hat ,  leiteten  die  Ver- 
waltung  als  Finanzminister  Agar,  der  zum  Grafen  von  Mosburg 
erhobene  Vetter  desselben,  (der  zugleich  als  Staatssecretair  die  aus- 
wartigen  Angelegenheiten  besorgte)  und  als  Minister  des  Innern 
zuerst  der  bureaukratische  Fuchsius  und  dann  der  reprasentations- 
fabigere  Graf  Nesselrode-Reichenstein.  Seitdem  im  August  1808 
Napoleon  selbst  die  Regierung  iibernommen,  liefen,  so  lange  das 
Grossherzogthum  bestand,  alle  Faden  der  Verwaltung  desselben 
in  Paris  zusammen.  In  Diisseldorf  verfuhr  der  kaiserl.  Commissar 
Beugnot  nach  dem  Princip,  „moglichst  langsam  zu  reformiren 
rad  das  zu  conserviren,  was  den  Einwohnern  schmeichelte,  ohne 
der  Ordnung  und  den  Geschaften  zu  schaden":   aber  seine  Ab- 

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90  Goecke,  Dr.  Rudolf,  Das  Grossherzogthum  Berg  unter  Joachim  Marat  etc. 

sichten  wurden  oft  durchkreuzt  durch  den  Minister-Staatssecretair 
des  Grossherzogthums  in  Paris  —  an&ngs  Gaudin,  dann  Maret, 
seit  1810  Roderer  —  und  durch  den  AUgewaltigen  selbst,  von 
dem  es  in  den  Momoiren  des  Diisseldorfer  Commissars  heisst: 
„Ich  glaubte  ihn  vor  mir  zu  sehcn,  wenn  ich  arbeitete,  einge- 
schlossen  in  meinem  Cabinet."  Fur  die  Finanzverwaltung  blieb 
auch  nach  der  Zeit  Joachims,  der  mit  Domainenverkaufen  ganz 
riicksichtslos  vorgegangen,  die  Ausbeutung  der  Steuerzahler  der 
leitende  Gesichtspunkt;  der  Kaiser  wies  iiber  800,000  Frcs. 
Rente  jahrlich  seinen  Giinstlingen  zu.  Polizei  und  Postweaen 
scheinen  vorzugsweise  dem  Zweck  gedient  zu  haben,  die  Gegner 
Napoleons  in  Deutschland  auszuspiiren  und  zu  iiberwachen,  so 
dass  der  Yerf.  das  Grossherzogthum  Berg  als  ein  „Luginsland, 
einen  Stimmungsmesser  des  noch  freien  Tbeils  Germaniens"  be- 
zeichnen  konnte.  Die  Landesvertretung,  fiir  deren  zeit- 
gemasse  Umgestaltung  Joachim  schon  am  1.  September  1806  den 
ritterschaftlichen  und  stadtischen  Deputirten  der  iibernommeBen 
Gebiete  einen  Entwurf  hatte  vorlegen  lassen,  wies  sich  bald  als 
hohler  Schein  aus :  als  die  Abgeordneten  1807  vom  Etat  100,000 
Thaler  absetzen  wollten,  wurde  ihnen  dieser  Uebergriff  ver- 
wiesen  und  der  Landtag  nie  wieder  berufen.  Ein  Collegium  von 
Hochstbesteuerten,  das  nach  einem  Erlass  Napoleons  vom  Marz 
1812  ihn  ersetzen  sollte  und  dessen  Wahlmodus  ein  sehr  ver- 
wickelter  war,  ist  nie  in  Wirksamkeit  getreten,  Doch  wurde 
das  Land  ungefragt  mit  Neuerungen  nach  franzosischem  Muster 
—  heilsamen,  uberfliissigen  und  schadlichen  —  genugsam  be- 
dacht.  1808  wurde  die  Leibeigenschaft ,  1809  das  Lehnsrecbt 
aufgehoben,  1810  und  11  das  franzosische  Gesetzbuch  eingefuhrt 
Das  franzosische  Concordat  wurde  auch  auf  das  Grossherzogthum 
ausgedehnt;  die  Neuorganisirung  des  Schulwesens  durch  fiinf 
Secundarschulen  mit  Franzosisoh  als  Hauptdisciplin  und  einer 
Universitat  in  Diisseldorf  kam  nicht  zu  Stande.  Schwer  lastete 
auf  dem  Lande  die  Conscription,  die  nach  der  Rheinbundsakte 
5000,  schon  1811  8180  Mann  verlangte,  und  die  Continental- 
sperre. 

Was  die  Stimmung  der  Bevolkerung  betrifft,  so  ist  zu  unter- 
scheiden  zwischen  der  wKriecherei  des  officiellen  Volkes  und  dem 
beredten  Schweigen  der  Masse",  speciell  in  den  fruher  preussi- 
schen  Gebieten  zwischen  den  Bewohnern  der  Grafschaft  Mark, 
die  nach  Beugnot  Prussiens  enrages  blieben,  und  denen  des 
Bischofslandes  Miinster,  die  froh  waren,  das  streng-bureaukratische 
„Ketzerregiment"  los  zu  werden.  In  den  Adressen  und  An- 
sprachen  der  Prafecten,  Maires,  Geistlichen  etc.  an  Napoleon, 
die  Goecke  mittheilt,  halt  allerdings  die  Servilitat  des  Inhalts 
durchgangig  gleichen  Schritt  mit  der  Absurditat  des  Ausdrucks. 
Doch  wagte  der  Unterprafect  von  Lingen  1808  es  auszusprechen, 
dass  die  Gegenwart  eine  triibe  sei,  dass  in  der  Marker  Brust 
ein  deutsches  Herz  schlage  und  sie  den  Tag  nicht  vergessen 
kSnnten,  wo  sie  „von  Friedrich  Wilhelm  geschieden,  wie  Kinder 

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Schmeidler,  Br.  W.  F.,  Geschichte  des  Konigreichs  GriechenlancL     91 

von  ihrem  Vater".  Anfang  1813  forderte  der  Maire  von  Dtissel- 
dorf  den  Gemeinderath  noch  zu  patriotischen  Opfern  in  einem 
Berichte  auf,  in  dem  es  heisst:  „das  Interesse  der  Menschheit 
gebent,  dass  mit  gefliigelter  Eile  und  verdoppelter  Kraft  der  er- 
lanchte  Monarch  auf  den  Granzen  des  civilisirten  Europens  furcht- 
barer  als  jemals  wieder  erscheine !"  Aber  gleich  nach  der  Schlacht 
bei  Leipzig  sturzten  rasch  alle  napoleonischen  Staatenschopfungen. 
Beugnot  half  noch  dem  Exkonig  Hieronymus  bei  seiner  Flucht 
durchs  Bergische,  dann  verliess  er  selbst,  nachdem  er  alle  Boote, 
den  Inhalt  des  Arsenals  und  was  ihm  „Eigenthum  des  Prinzen" 
schien,  auf  das  linke  Rheinufer  gebracht,  mit  den  Papieren  des 
Grossherzogthums  das  Land.  Am  15.  November  war  dasselbe 
yollstandig  in  den  Handen  der  AUiirten.  Die  vormals  preussi- 
schen  Gebiete  traten  sofort  wieder  unter  preussische  Verwaltung, 
wahrend  die  iibrigen  von  Stein  vorlaufig  als  General-Grouverne- 
ment  des  Niederrheins  unter  Justus  Gruners  Leitung  gestellt 
warden.  Die  Aufforderung  des  Letzteren  „an  die  bergischen 
Jiinglinge  und  Manner  zum  Kampf  fiir  Deutschlands  Freiheit" 
vom  29.  November  fand  iiberall  begeisterten  Widerhall,  und 
auch  an  freiwilligen  patriotischen  Geldopfern  blieb  man  im  bis- 
herigen  Grossherzogthum  nicht  zuriick,  trotzdem  die  Leere  der 
offentlichen  Kassen,  „aus  denen  die  franzosische  Regierung  friiher 
alles  Geld  mitgenommen  hatte",  eine  ausserordentliche  Kriegs- 
steuer  von  drei  Millionen  Francs  nothig  machte. 

Berlin.  Th.  Zermelo. 


xvm. 

Schmeidler,  Dr.  W.  F.,  Geschichte  des  Kfinigreichs  Griechenland. 

Nebst  einem  Ruckblick  auf  die  Vorgeschichte.  gr.  8.  (IV,  324  S.) 

Heidelberg  1877.  Carl  Winter.  8  Mk. 
Die  Erwartung,  ein  auf  Beherrschung  des  vollstandigen  ein- 
heimischen  und  fremden  Quellenmaterials  und  zugleich  auf  eigener 
Beobachtung  und  Erfahrung  beruhendes  Werk  in  diesem  Buche 
zu  finden,  wird  schon  durch  die  Einleitung  enttauscht.  Der 
Verfesser,  der  nie  in  Griechenland  gewesen  zu  sein  scheint,  fiihrt 
erne  Reihe  wichtiger  und  unbedeutender  Schriften  iiber  die  grie- 
diische  Geschichte  des  19.  Jahrhunderts  an,  und  darunter  manche, 
derwi  Titel  er  nur  bei  Gervinus  oder  anderswo  gefiinden  und  die 
ihm  „nicht  weiter  bekannt  geworden".  Von  hellenisch  geschrie- 
benen  nennt  er  nur  einige,  die  Brandis  in  seinen  wMittheilungen 
fiber  Griechenland"  vom  Jahre  1842  benutzt  hat,  und  sagt  von 
den  spateren  nur,  dass  sie  alle  iiberholt  sind  durch  die  „ Ge- 
schichte der  griechischen  Erhebung"  von  Trikupis.  London  1853. 
Die  „Ruckblicke  auf  die  Vorgeschichte44  und  die  folgenden 
Ahschnitte,  in  denen  die  Entstehung  des  neuen  Konigreiches, 
Konig  Otto  und  seine  Regierung  bis  zur  Einfiihrung  der  Ver- 
fessung,  die  Verfassungskampfe ,  das  constitutionelle  Konigreich 
und  die  Regierung   des  Konigs  Georgios  bis  October  1876  be- 

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92  Smeta,  Moritz,  Geschichte  der  osterreichisch-ungarischen  Monarchic  etc. 

handelt  wird,  bringen  nun  mit  mehr  oder  minder  Sorgfalt  ver- 
arbeitete  Auszuge  aus  jenen  Gewahrsmannern ,  bei  denen  auch 
die  detaillirteste  Schilderung  im  Einzelnen  nicht  fur  den  Mangel 
fester  Grundanschauungen  entschadigen  kann.  Selbstandig  ist 
der  Verfasser  nur,  wo  er  einmal  seinen  Fiihrern  Zweifel  und 
Widerspruch  entgegensetzt ;  aber  fast  immer  erscheinen  seine 
Einwendungen  nur  als  Raisonnements  eines  verstandigen  Zeitungs- 
lesers,  sie  iiberzeugen  nicht  unmittelbar  wie  die  Widerlegungen 
des  griindlichen  Sachkenners.  Eine  klar  zusammenfassende  Dar- 
stellung  der  Geschicke  Griechenlands  seit  der  Wahl  Konig 
Georgs  ware  gewiss  dankenswerth ,  aber  Fragen  gerade  von 
historischem  Interesse,  wie  etwa  nach  den  Zusammenhangen 
der  heutigen  politischen  Parteien  mit  denen  der  Periode  des  Auf- 
standes  und  der  Regentschaft,  nach  den  tiefer  liegenden  Griinden 
der  wechselnden  Politik  der  Grossmachte  gegeniiber  der  Regierung 
des  Konigreichs u.  dgl.  m.  werden  in  unsrer  Geschichte  ebenso- 
wenig  aufgeworfen  oder  ebenso  ungeniigend  beantwortet  wie  in 
den  gewohnlichen  Zeitungscorrespondenzen. 

Das  Kapitel  iiber  die  neugriechische  Litteratur  grundet  sich 
auf  Brandis'  Mittheilungen  und  einen  Aufsatz  im  Jahrgang  1853 
des  wAuslandesu7  enthalt  also  iiber  die  letzten  24  Jahre  gar 
mchts.  —  Eigenthiimlich  klingt  die  Angabe,  der  Verfasser  habe 
„nicht  in  Erfahrung  gebracht",  ob  das  1870  von  Konig  G-eorg 
angekundigte  Erinnerungsdenkmal  an  den  Unabhangigkeitakrieg 
bereits  errichtet  sei. 

Der  Stil  ist  nicht  frei  von  Harten  und  Nachlassigkeiten. 

Berlin.  Th.  Zermelo. 


XIX. 

Smet8,  Moritz,  Geschichte  der  osterreichisch-ungarischen  Mon- 
archic, das  ist  Entwicklung  des  osterr.  Staatsgebildes  von 
seinen  ersten  AnfSngen  bis  zu  seinem  gegenwSrtigen  Bestande. 

gn  ca.  16  Lfgn.  k  60  Pf.)   1.— 12.  Lfrg.    gr/8.     (S.  1—528.) 

Wien,  1877.  A.  Hartleben. 
Zu  gleicher  Zeit  mit  dem  Handbuche  der  osterreichischen 
Geschichte  von  Krones,  dessen  erste  Lieferungen  in  diesen  Blattern 
besprochen  wurden,  erscheint  ebenfalls  lieferungsweise  eine  Ge- 
schichte der  osterreichisch-ungarischen  Monarchic  von  Smets. 
Der  Verfasser  wendet  sich  mit  seiner  Arbeit  nicht  an  die  G-e- 
lehrten  und  verschmahet  daher  jeden  wissenschaftlichen  Apparat, 
wie  Quellennachweise,  Anmerkungen  kritischer  Art  oder  litterari- 
sche  Einleitungen ,  wodurch  Krones  die  Lecture  seines  Buches 
dem  sogenannten  gebildeten  Leser,  fur  welchen  dasselbe  in  erster 
Linie  bestimmt  sein  sollte,  in  nicht  unbedeutender  Weise  be- 
schwerlich  und  lastig  macht.  Das  neue  Unternehmen  nennt  sich 
sdbst  ein  „Volksbuch",  bestimmt  einen  spezifisch  osterreichischen 
Patriotismus  anzufachen  und  den  Burgern  des  Kaiserstaates  an 
der  Donau  durch  eine  getreue  Schilderung  des  Werdeprocesses 

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Smets,  Moritz,  Geschichte  der  osterreichisch-ungarischen  Monarchie  etc.  93 

ihres  Heimatsreiches  zu  zeigen,  dass  „die  Zukunft  desselben,  die 
vielfech  angezweifelte ,  eine  gesicherte  sei,  und  zu  der  Hoffnung 
berechtige,  dass  jenes  Staatswesen  als  eine  Heimstatte  der  Bildung 
imd  Cultur,  der  Freiheit  und  des  Rechtes  erhalten  bleibe  und 
den  innem  Prieden,  den  seit  seiner  Umwandlung  in  einen  mo- 
dernen  Rechts-  und  Verfassungsstaat  verloren  gegangenen,  zuriick- 
erhalte,  urn  als  europaischer  Mittelstaat  nach  seiner  geographischen 
Lage  befahigt  zu  sein,  wohlthatig  entscheidend  in  die  Weltange- 
legenheiten  einzugreifen."  In  einer  anziehenden  Darstellung  der 
Eesultate  aller  neuesten  Forschungen  iiber  die  osterreichische 
Geschichte  will  der  Verfasser,  „durch  fliessenden  Erzahlerton 
fesselnd",  den  Leser  bis  zur  Gegenwart,  bis  zur  Erneuerung  des 
Ausgleiches  zwischen  Oesterreich  und  Ungarn  geleiten.  Ob  ihm 
die  Erreichung  seines  Zieles  auf  diesem  "Wege  moglich  sein,  ob 
seine  Schilderungen  in  der  That  verhindern  werden,  dass  der 
Deutsch-Oesterreicher  nach  dem  jungen  Reiche  der  Hohenzollern 
hiniiberschaut,  dass  der  Slave  nach  Osten  schielt,  das  wollen 
wir  der  Zukunft  iiberlassen,  die  ersten  Lieferungen  werden  aber 
nicht  gerade  allzuviel  dazu  beitragen,  da  sie  yon  Zeiten  berichten, 
welche  noch  kein  Oesterreich  kannten. 

Das  L  Buch  enthalt  die  „Vorgeschichte  unserer  heutigen 
Monarchie"  und  berichtet  I.  „Von  der  vorromischen  Zeit  bis 
zum  Untergange  der  Romerherrschaft  im  Jahre  476".  II.  „Von 
der  Niederlassung  verschiedener  Volkerschaften  bis  zum  Entstehen 
nationaler  und  christlicher  Reiche  (476  bis  Ende  des  10.  Jahr- 
hunderts)."  Wenn  hier  Smets  auch  nicht  wie  Krones,  mit  den 
prahistorischen  Zeiten  Europas  beginnend,  Abschnitte  voraus- 
schickt,  welche  schliesslich  die  Geschichte  eines  jeden  europaischen 
Staates  einleiten  konnten,  so  erscheint  doch  hier  die  Sclulderung 
der  Romerkampfe  und  die  iibrigens  recht  eingehende  und  hiibsch 
geschriebene  Darstellung  der  Volkerwanderung  wenig  am  Platze 
zu  sein,  wenn  dieselbe  nicht  etwa  durch  die  Rucksicht  auf  den 
Leserkreis,  welchen  der  Verfasser  bei  Abfassung  seines  Werkes 
im  Auge  hatte,  zu  entschuldigen  ist.  Das  II.  Buch  giebt  die 
„Geschichte  Deutsch-Oesterreichs,  Bohmens  und  Ungarns"  (1001 
bis  1526),  also  wesentlich  deutsche  Geschichte  des  Mittelalters ; 
bis  zur  Darstellung  der  wirklich  osterreichischen  Gteschichte,  deren 
Beginn  doch  kaum  vor  1526  gesetzt  werden  dtirfte,  gelangen  die 
ereten  Lieferungen  nicht. 

Selbstandige  Resultate  eigener  Forschung  will  der  Verfasser 
nicht  geben,  mit  yollem  Rechte  hat  er  alles  Gewicht  bei  einem 
•  „Volksbucheu  auf  die  formelle  Seite,  auf  eine  gute  Darstellung, 
verwandt,  welche  ja  selbst  oft  von  bedeutenden  Historikern  als 
nebensachlich  leider  nur  zu  sehr  vernachlassigt  wird.  Es  ist  hier 
ein  recht  lobliches  Streben  anzuerkennen ,  einen  markigen  Stil 
xu  schreiben  und  die  Muttersprache  auch  moghchst  von  fremden 
Elementen  frei  zu  halten,  doch  mischt  der  Verfasser  in  seinem 
Eifer  nicht  selten  Dialectisches  ein,  wodurch  seine  Schreibweise, 
zumal  bei  dem  Norddeutschen,  Anstoss  erregen  diirfte.  Wendungen 

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94     Zeitschrift  der  Gesellachaft  ftir  Schleawig-Holstein-Lauenb.  Geschichte. 

wie  S.  4:  „nach  Erhalt  einer  Besatzung  . .  wurde  Segeste",  S.  5 
„die  Steuerbeamten  . .  p  f  1  o  g  e  n  vorzugehen",  S. 12  „Legion,  b  e  i  - 
benamst  die  blitzende",  S.  30  „der  Hinschied  (fur  das  Hin- 
scheiden)  des  Augustus "  und  ahnliche  diirften  kaum  Nachahmung 
finden.  TJnd  weshalb  schreibt  derselbe  Autor  wMonarchismusu, 
der  fur  „romanisiren"  gut  deutsch  „verromernu  bildet? 

Zum  Schmuck  des  Werkes  hat  die  Verlagsbuchhandlung  „12 
kiinstlerisch  ausgefuhrte  Geschichtsbilder"  in  Holzschnitt  beige- 
fiigt,  welche  die  wichtigsten  Momente  „der  osterreichischen  Ge- 
schichte" vergegenwartigen  sollen.  Fur  ein  wissenschaftliches 
Werk  sind  Abbildungen  dieser  Art,  bei  denen  der  Phantasie 
des  Kiinstlers  ein  ungebiirlicher  Spielraum  gelassen  werden 
muss,  grundsatzlich  zu  verwerfen.  Es  diirften  einzig  gute  Holz- 
stiche  nach  beglaubigten  Originalportraits ,  Darstellungen  noch 
vorhandener  Baureste,  Waffen,  Miinzen  oder  ahnlicher  Alter- 
tiimer,  welche  dem  Leser  auch  wirklich  eine  Belehrung  zu  Theil 
werden  laasen,  zu  empfehlen  sein. 

Aber  trotz  dieser  Ausstellungen  halten  wir  die  Smotsche 
Arbeit  in  ihrer  Weise  fiir  recht  verdienstlich  und  mochten  die- 
selbe,  zumal  fiir  Schiiler-  und  Volksbibliotheken,  ab  ein  volks- 
tiimlich  geschriebenes,  zusammenfassendes  Werk  mit  gutem  Ge- 
wissen  zur  Anschaffiing  empfehlen. 

Berlin.  Ernst  Fischer. 

XX. 
Zeitschrift   der   Gesellschaft   fiir  Schleswig  -  Holstein  -  Laueiv- 

burgische  Geschichte.  7.  Band.  gr.  8.  (IV,  359  u.  80  S.)  Kiel 

1877.  Uniyersitate-Buchhandlung.  8  M. 
S.  1— 19.  P.  Hasse,  Die  Schlacht  bei  Bornhoved.  —  Von 
dieser  Schlacht,  welche  endgxiltig  die  Grenze  zwischen  Danemark 
und  Deutschland  von  Elbe  und  Elde  an  die  Eider  zurucksehob, 
die  Selbstandigkeit  der  Grafschaft  sicher  stellte  und  die  Unab- 
hangigkeit  der  Reichsstadt  Liibeck  begriindete,  wissen  wir  aus 
glaubwiirdigen  Quellen  wenig  mehr  als  die  Namen  der  handelnden 
Personen  und  die  nackte  Thatsache,  dass  die  Danen  geschlagen 
wurden.  Fast  alle  Einzelnheiten,  mit  denen  sie  spater  dargestellt 
worden  ist,  sind  theils  unverbiirgt,  theils  nachweislich  erfundene 
Ausschmiickungen. 

S.  21 — 62.  P.  Hasse,  Ueber  die  Chronistik  des  Liibecker 
Bisthums.  —  Dieselbe  ist  alle  Zeit,  im  Gegensatze  gegen  die 
umfassenden  im  Auftrage  des  Liibecker  Bathes  niedergeschriebenen ' 
Aufzeichnungen ,  eine  ungemein  diirftige  und  beschrankte,  nur 
dem  praktischen  Bediirfhiss  dienende  geblieben.  Im  Einzelnen 
werden  auf  ihre  Entstehungszeiten  und  auf  ihr  Verhaltniss  zu 
einander  gepriift:  die  alteren,  mit  dem  Jahre  1259  beginneuden 
Aufzeichnungen ,  —  die  Bischofschronik  und  das  Chronicon 
Slavicum,  vor  1473,  —  die  Fortsetzung  Detmars,  —  die  im 
Anfang  des  16.  Jahrhunderts  verfasste  Fortsetzung  der  Bischofs- 

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Zeitschrift  der  Gesellachaft  flir  Schleswig-Holstein-Lauenb.  Gesehichte.    95 

chronik.  Den  Schluss  bildet  der  Abdruck  des  Eutiner  Fragmentes 
einer  im  Uebrigen  verlorenen  Redaktion  des  Chronicon  Slavicum. 

S.  63 — 87.  G.  v.  Buchwald,  Zwei  Fragmente  yon  Rends- 
lrarger  Stadtbuchern.  —  Nr.  1  neun  kurze  Notizen,  1286 — 1421, 
aus  Langebeks  Annales  Slesv.  Hols.  —  Nr.  2  vierzig  bisher  un- 
bekannte  Urkunden,  1426—1486. 

S.  89 — 116.  P.  Hasse,  Zu  Christian  I.  Reise  im  Jahre 
1474.  —  Die  Politik  und  die  Personlichkeit  Konig  Christians  I. 
hat  einen  grossartigen  Zug.  Indem  er  danach  trachtete,  Schweden, 
die  freien  Bauernstaaten  von  der  Eider  bis  zur  Ems  und  die 
fast  selbstandigen  deutschen  Seestadte  seiner  Herrschaft  zu  unter- 
werfen,  fielen  seine  Ziele  mit  denen  der  zeitgenossischen  Fttrsten- 
politik  zusammen,  die  nicht  sowohl  auf  Kosten  anderer  Fiirsten, 
ak  durch  Bezwingung  „ungehorsamer  Unterthanen"  und  „herren- 
loser"  Gebiete  die  landesherrliche  Gewalt  zu  vergrossern  trachtete. 
In  dieser  Richtung  traf  Christian  namentlich  auch  mit  dem 
Neffen  seiner  Gemahlin,  dem  Kurfiirsten  Albrecht  Achilles  von 
Brandenburg,  zusammen.  Dieser  hatte  ihm  schon  vorgearbeitet, 
ak  Christian  1474  in  Deutschland  erschien;  er  war  zugegen, 
als  der  Kaiser  im  Februar  zu  Rotenburg  a.  T.  mit  dem  Danen- 
konig  zusammenkam,  ihn  zum  Herzog  von  Holstein  und  Stormarn 
erhob  und  Ditmarschen  diesem  Herzogthum  inkorporirte ;  er 
fiihrte  Christians  Sache  im  kaiserlichen  Rathe  und  bereitete  das 
im  Sommer  abgeschlossene  Biindniss  des  Kaisers  mit  dem  Danen 
vor,  wahrend  dieser  personlich  in  Rom  erfolgreiche  Schritte  that, 
am  die  Geistlichkeit  seiner  Lande  streng  auf  die  Nationalitat  zu 
basiren  und  die  Secularisation  in  Gang  zu  setzen.  Dass  ein 
markischer  Ritter  alsbald  die  Insinuation  der  zu  Gunsten  der 
Krone  Danemark  erlassenen  kaiserlichen  Briefe  in  Holstein  u.  s.  w. 
iibernahm,  geschah  auf  Christians  Wunsch,  aber  gegen  Albrechts 
R^i,  der  sich  als  richtig  erwies,  da  das  vorzeitige  Verlauten 
der  danischen  Absichten  die  Ditmarschen  in  den  Stand  setzte, 
sich  zur  Abwehr  der  ihnen  drohenden  Vergewaltigung  geniigend 
vorzubereiten. 

S.  117— 150.  A.  L.  J.  Micheken,  Nachricht  von  den 
Holsteinischen  Aemtern  (Rendsburg,  Kiel,  Plon,  Segeberg, 
Stmburg,  Trittau,  Oldenburg)  und  Amtmannern  im  15.  und  16. 
Jahrhundert  u.  s.  w. 

S.  151—160.  P.  Pfotenhauer,  Wilkur  der  Bauerschaft 
von  Mildstedt  bei  Husum.    1571. 

S.  161—168.  P.  Pfotenhauer,  Jacob  Mors  (ein  ham- 
Imrgischer,  urn  1582  in  Schleswig-Holstein  beschaftigter  Gold- 
schmied  und  Kupferstecher).  Ein  Beitrag  zur  Kunstgeschichte 
von  Schleswig-Holstein. 

S.  169 — 194.  H.  Ratjen,  (Biographische  Notizen  ilber) 
Johann  Christian  Fabricius,  Professor  (der  Naturwissenschaften 
und  der  Cameralia)  in  Kiel  von  1775—1808,  und  Cacilie,  geb. 
Ambrosius,  die  Freundin  Klopstocks,  verheirathete  Fabricius 
1771,  verwittwet  von  1808—1820- 

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96     Zeitechrift  der  Gesollschaft  ftir  Schleswig-Holstein-Lauenb.  Geschichte. 

S.  195  —  212.  H.  Jellinghaus,  Drei  mittelniederdeutsche 
geistliche  Gedichte. 

S.  213— 234  R.  Hansen,  Dithmarsische  Marchen  (8),  in 
dithmarsischer  Mundart  aufgezeichnet. 

S.  235—279.  G.  Hille,  Actenstiicke  aus  dem  Grossfiirst- 
lichen  Archiv  zur  Geschichte  von  Holstein-Gottorp.  1.  Entwnrf 
des  Herren  von  Westphalen  hetreflfend  die  (durch  den  Regierungs- 
antritt  des  in  Russland  lehenden  Grossfursten  Peter  erforderte) 
Einrichtung  der  Regierung  und  Administration  der  Holsteinischen 
Erbfurstenthiimer  1745.  —  2.  Gedanken  des  Ober-Kammerherrn 
von  Broctorff,  wie  dem  Herzogthum  Holstein  Gross  -  Fiirstlichen 
Antheils  anfzuhelfen  stehe.  1755.  —  2a.  Commissional  -  Schluss 
der  Stadt  Kiel  1711  (die  Besserung  des  stadtischen  Finanzweaens 
hetreflfend).  —  2b.  Promemoria  des  Ober-Kammerherrn  von 
Broctorff  1755.  (Empfiehlt,  wie  auch  in  Nr.  2  geschieht,  durch 
Bevorzugung  Kiels  in  den  russischen  Hafen  einen  Theil  dee 
norddeutschen  Seehandels  nach  Russland  von  Liibeck  und  Ham- 
burg abzuziehen). 

S.  281—288.  C.  Schirren,  Kleine  Nachtrage  zur  Kritik 
alterer  Holsteinischer  Geschichtsquellen. 

S.  289—305.  G.  v.  Buchwald,  Notizen  zu  den  Regesta 
Diplomatica  Historiae  Danicae. 

S.  307—318.  C.  E.  Carstens,  Wolfgang  Ratichius  (der  be- 
kannte  Padagoge),   geb.  in  Wilster  1571,  gest.  1635  in  Erfurt 

S.  321 — 325.  H.  Handelmann,  Zur  Hochackerfrage.  — 
Verf.  warnt  vor  einer  Verwechselung  der  Spuren  vorgeschicht- 
lichen  Ackerbaus  mit  den  Resten  im  Mittelalter  wiist  gewordener 
Ortschaften  und  Hufen. 

S.  325—331.  A.  Wetzel,  Nachrichten  von  der  Stadt  Crempe 
aus  den  Jahren  1720  und  1793. 

S.  331  f.  Der  Holsteinischen  Bauern  (gegen  die  „Moscowitera 
parodirtes)  Vater-Unser  1713. 

S.  333—336.  C.  E.  Carstens,  Bende  Bendsen.  Friesischer 
Grammatiker  und  Dichter.  —  Geb.  zu  Risum  1787,  lebte  als 
Lehrer  und  Magnetiseur  vorzugsweise  in  Arreskjobing  auf  Arroe, 
wo  er  1875  starb. 

S.  336—346.  E.  Alberti,  Uebersicht  der  die  Herzog- 
thiimer  Schleswig,  Holstein  und  Lauenburg  betreffenden  Litterat^ir 
aus  dem  Jahr  1876. 

S.  346 — 359.  Litterarische  Anzeigen  und  Nachrichten  iil>er 
die  Gesellschaft. 

Als  Anhang  ist  beigegeben: 

Repertorien  zu  Schleswig -Holsteinischen  Urkunden  -  Samm- 
lungen.  Zweite  Reihe.  1.  (S.  1—16)  Archiv  des  Klosters  Preetz. 
Verzeichnet  von  G.  v.  Buchwald.  —  2.  (S.  17—80)  Archiv  der 
Stadt  Crempe.    Verzeichnet  von  A.  Wetzel. 


Druck  ron  Oskar  Boode  In  Alteuburg. 

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XXI. 

Freibold,  Friedr.,  Die  Lebensgeschichte  der  Menschheit.  Kultur- 

geechichtliche  Forschungen  und  Betrachtungen.    Erster  Band. 

Das  erste  Leben  der  Menschheit  oder  die   sinnliche  Richtung. 

gr.  8.    (VII,  266  S.)    Jena  1876,  Herm.  Costenoble.    4,50  M. 

Burdach'8  Wort,  dass  das  menschliche  Geschlecht  ein  leben- 
diges  Ganzes  sei  und  gleich  dem  Individuum  seinen  Lebenslauf 
habe,  der  in  der  Idee  begriindet  sei,  sucht  Freihold  in  dem  vor- 
Hegenden  gedankenreichen  Werke  durchzufiihren.  Im  Anschluss 
an  Herder  und  Bunsen  giebt  er  eine  philosophische  Geschichte 
dfifilndividuums  „Menschheit",  nachdem  er  von  vornherein  gegen 
die  landlaufige  Bezeichnung :  Alterthum,  Mittelalter  und  Neuzeit 
heftig  polemisirt  hat.  Zwar  haben  Pascal  und  Baco  von  Ye- 
rnlam  die  Idee  der  Entwickelung  der  Menschheit  erfasst,  aber 
nicht  durchgefuhrt ;  dies  habe  zwar  Herder  in  seinen  beruhmten 
nldeen"  gethan,  aber  da  er  sich  nur  im  Morgenlande  und  im 
hellenischen  Kunstideale  heimisch  fuhlte,  habe  er  im  Chaosgewirr 
der  Volkerwanderung  den  leitenden  Ariadnefaden  verloren.  Auch 
Leasing,  Goethe,  Rotteck,  Ehrenfeuchter  und  Rohmer  batten  den 
Gedanken  gefasst,  den  Goethe  so  formulirt:  „Die  verniinftige 
Welt  ist  als  ein  grosses  unsterbliches  Individuum  zu  betrachten, 
das  unaufhorlich  das  Nothwendige  bewirkt  und  dadurch  sich 
sogar  iiber  das  Zufallige  zum  Herrn  macht."  t 

Als  Eintheilungsprinzip  fur  die  Geschichte  der  „Personu 
Menschheit  nimmt  der  Verfasser  das  Doppelleben  derselben,  wel- 
ches sich  namlich  als  sinnliche  und  geistige  Gestaltung 
dantelle.  XJnser  Band  hat  es  mit  der  ersten  zu  thun.  Jene 
ttmfasst  das  „Alterthum",  diese,  die  noch  nicht  abgeschlossen  ist, 
beginnt  „mit  Jesus  Ghristus,  dem  geistigen  Erneuerer  der  Mensch- 
heit, oder  genauer  bestimmt  mit  dem  Eintreten  der  Germanen 
in  die  Weltgeschichte  und  deren  Yerbindung  mit  dem,  einen 
neuen  Lebenskeim  in  sich  tragenden  Chris  tenth  urn".  Mit 
dieser  Eintheilung  erklaren  wir  uns  fur  ganz  einverstanden.  So- 
dann  hebt  Hr.  Yerfasser  hervor,  dass  nur  die  arischen  und  se- 
mitischei)  Volker  als  bildende  Elemente  der  Weltgeschichte  ge- 
wirkt  haben,  in  ihnen  also  spiele  sich  die  Geschichte ,  d.  h.  der 
Fort8chritt  der  Menschheit  ab.  Als  die  geistbegabtesten  und 
eines  ununterbrochenen  Fortschritts  allein  fahigen  haben  die 
Ersteren  sich  bewiesen  und  in  Folge  dessen  die  Weltherrschaft 
errungen.  Doch  sollen  sie  die  andern  Volker  nicht  knechten, 
sondern  zu  sich  heranbilden,  durch  Menschlichkeit  und  Gesittung 
veredeln. 

Demgemass  fixirt  Freihold  zunachst,  den  alten  Sagen  ge- 
ma88,  als  Urheimath  des  ganzen,  vielleicht  aus  mehreren  Stamm- 
paaren  hervorgegangenen  Menschengeschlechts  Asien  und  be- 
trachtet  dann  als  Theil  I.  das  erste  Leben  der  Menschheit,  oder 
die  sinnliche  Richtung.    Hier  unterscheidet  er:  l)Sauglings- 

MiUheUungcn  a.  d.  histor.  Litteratnr.    VI.  7 

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98  Ferk,  Franz,  Ueber  Druidismus  etc. 

undKindesalter:  Urbewusstsein  und  Sprachbildung ;  kultur- 
geschichtlicher  Ueberblick  des  Zei trauma;  Bildung,  Gesittung  and 
Religion.  2)  Knabenalter:  Volkerstromung  von  Osten  nach 
Westen;  Aegypten;  die  Phoniken  (sic).  3)  Jugend:  Die  Grie- 
chen.  4)  Mannesalter:  Die  Romer.  5)  Auf  der  Hohe 
des  Lebens:  Das  Weltreich  und  sein  Verhangniss.  6)  Aus 
den  Tiefen  der  Innenwelt:  Die  Religion  nach  ihrem 
Ursprung  und  ihrer  Entwickelung.  7)  Das  Volk  Israel. 
8)  Greisenalter:  Die  Weltlage  zur  Zeit  Jesu  Christi;  Jesus 
Christus  als  Yolksmessias  und  Weltbeiland;  Grundwesen  und 
Eigenart  der  Lehre  und  Offenbarung  Jesu;  seine  weltgeschicht- 
liche  Bedeutung.  9)  Tod  und  Uebergang  zu  neuem 
Leben:  Der  Keim  des  neuen  Lebens  im  absterbenden  alten; 
Todeskampf  und  Untergang. 

Niemand  wird  das  Ansprechende  der  Grundidee  dieses  Werkes 
verkennen.  Una  Modernen  liegt  ja  die  Idee  eines  Fortschrittes 
viel  naher  als  den  „Alten"  (Hr.  Freihold  gestatte  diesmal  den 
Ausdruck!).  Aber  wir  tragen  doch  Bedenken,  jene  Idee,  die 
man  wohl  als  geistreiche  Bemerkung  gelten  lassen  darf ,  auf  die 
grosse  ganze  Menschheit  zu  iibertragen.  Die  Gefahr,  manches 
Volk,  manche  Lebenserscheinung  in  das  Prokrustesbett  des 
Schemas  zu  zwangen,  liegt  allzunahe,  namentlich  bei  den  un- 
bekannteren  Yolkern,  wie  Phoniciern,  Aegyptern  u.  a.  Im  Ein- 
zelnen  aber  ist  Freihold's  Buch  gedankenvoll  und  anregend. 
Ueberall  zeigt  er  Nachdenken  und  Studium,  wenn  er  auch  viel- 
leicht  lieber  nicht  fortwahrend  Herder  und  Bunsen,  deren  Genia- 
litat  auch  wir  sehr  anerkennen,  hatte  citiren  sollen.  Auch  kehren 
gewisse  Lieblingswendungen:  „tiefwahr  und  schon",  „tiefstu  wieder. 
Vom  Sachlichen  lassen  wir  Einzelnes,  was  etwa  anzufechten  ware, 
hier  beiseite. 

Berlin.  Friedr.  Kirchner. 


XXII. 
Ferk,  Franz,  Ueber  Druidismus  in  Noricum,  mit  ROcksicht  auf 

die  Stellung  der  Geschichtsforschung  zur  Keltenfrage.  Lex.  8. 

(50  S.    mit  2  Tafeln.)    Graz  1877,  Leuschner  und  Lubensky  in 

Commission.    2  M. 

Herr  F.  giebt  in  dieser  Abhandlung,  wie  er  S.  39  selbst  er- 
klart,  im  Grunde  nur  einen  vorlaufigen  Ueberblick  iiber  die 
Resultate  seiner  keltischen  Forschungen  in  Noricum,  die  er  in 
andern  Publicationen  ausfiihrlicher  begriinden  will.  Er  ist 
zu  diesen  Forschungen  gefiihrt  durcb  den  rathselhaften  Bronce- 
wagen,  der  1851  von  einem  Bauer  in  dem  Dorfe  Stretweg  bei 
Judenburg  in  Steiermark  gefunden  wurde  und  de^sen  Figuren, 
von  den  ersten  Erklarern  Pratobevera  J)  und  Math.  Koch  *)   als 


')  MittheiL  d.  hut.  Vereins  fiir  Steiermark.   III. 

')  Ueber  die  ilteste  Bevdlkerung  Oesterreichs  u.Bayerns.  Leipz.  1856.  S.  123. 


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Perk,  Franz,  Ueber  Druidiflmus  *tc.  99 

Droiden  und  Bardeu  gedeutet,  den  Beweis  dafur  liefern  sollten, 
dass  auch  die  Kelten  Noricums   Druiden   gehabt  hatten.     Denn 
diesen  Stand  von  vornherein  und  als  selbstverstandlich  bei  alien 
kel&chen  Volkern  anzunehmen,  geht  deshalb  nicht  an,  weil  die 
Kdten  in  Spanien  vor  der  Zeit  der  Romerherrschaft  von  Druiden 
nichts  wussten.  —  Allein  der  Umstand,  dass  die  Deutungen  der 
angefuhrten  Gelehrten  keinen  Ausgangspunct  boten,  urn  die  an- 
deren  sjrmbolischen  Zeichen  des  Judenburger  Wagens  zu  erklaren, 
hat  Herrn  F.    einen  neuen  Weg  einschlagen  lassen.     Das   eigen- 
thumliche  Muster  in  der  durchbrochenen  Arbeit  der  Wagenplatte 
erinnerte  ihn   namlich    sofort    an   den  Grundriss   des    viel    be- 
sprochenen  Sonnentempels  von  Stonehenge l)   und  liess   ihn   an 
dem  Fandorte  des  Wagens  nach  einem  ahnlichen  megjjdithischen 
Denkmal  forschen.     So  will   er  in   der  That   auf  dem  Falken- 
beige  bei    Judenburg   einen   Druidencirkel   aufgefunden   haben, 
dessen  Steinsetzung   dem  Muster   der  Platte    genau   entspreche. 
Dass  nun   dieses  Monument  ein  keltischer  Tempel   sei,   will  er 
baldigst  in  einer  besonderen  Abhandlung  iiber  den  Judenburger 
Wagen  zeigen,   und  dass   in   diesem  Tempel   einst  Druiden   ge- 
waltet   haben,    glaubt   er    aus  den    Volksiiberlieferungen   jenes 
Districts  erweisen    zu   konnen,    in   deren    Sagen   und   Marchen 
eine  nur  mit  Scheu   genannte  religiose  Genossenschaft ,  Truinen 
oder  Truit'n  und  ahnlich  genannt,  eine  bedeutende  Kolle   spielt: 
ifl  diesem  Namen ,  meint  der  Vf. ,  lebe   der  Name  der  Druiden 
fort;  daher  der  Falkenberg,   auf  dem  jener  yon  dem  Vf.  ent- 
deckte  Tempel  liegt,   noch  Trunenberg   neisse,   sowie   auch  die 
Erinnerung ,  dass  auf  ihm  ehemals  ein  Trunentempel  gestanden 
babe,   noch   nicht   erloschen  sei.     Der  reiche  Sagenschatz,    den 
der  Vf.  bei  Judenburg  aufgespiirt,  soil  Gegenstand  einer  zweiten 
Veroffentlichung  des  Vfs.  werden.  —  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass 
sich  ein  Drtheil  iiber  die  Resultate  des  Vfs.  nicht  eher  wird  ab- 
geben  lassen ,   als  jene  beiden  Arbeiten   erschienen  sein  werden : 
akdann   werden  Sprachforscher  und  Mythologen  die   eine  Seite 
der  Frage  zu  untersuchen  haben ;  der  andere  Punct,  ob  der  ent- 
itle Druidencirkel  in  der  That  das  Muster  der  Platte  triedetgiebt, 
kann  nur  von  der  weiteren  LocaJforschuug  festgestellt  werden. 
finstweilen  konnen  wir  nur  sagen,  dass  sich  der  Vf,  in  den  ein- 
leitenden  Bemerkungen  iiber  den  ganzen  Stand   der  Keltenfrage 
keineswegs  frei  von  Keltomanie  halt,  obwohl  er  mit  den  exacten 
keltischen  Forschungen  wohl  bekannt  ist  und  selbst  hervorhebt, 
dasB  Zeuss  fiir  sie  erst  eine  sichere  Grundlage   geschaffen  habe. 
Ebengo  erkennt  er  S.  15  an,  dass  die  comparative  prahistorische 
Archaologie  noch  auf  unsicherer  Grundlage  ruhe ;  aber  was  soil 
nan  sagen,    wenn  er  als  eins  seiner  Resultate  ankiindigt,   dass 
die  Kelten   einst  in  naher  Beziehung  zu   den  Semiten   und  den 


*)  Kinkel,  Mosaik  zur  Kirastgeschicbte,  erklart  dies  far  ein  Denkmal  sas 
jhns^cher  Zeit>  das  zwischen  412—72  entstaaden  sei  —  Herr  F.  erklfet, 
Wi  seiaen  Bewaisfuhrungen  ganz  von  Stonehenge  abstrahiren  zu  konnen. 

7* 

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100  Programmenflchau.    Mittolalter. 

Aegyptern  gestanden  und  in  ihrer  Nachbarschaft  gesessen  haben? 
Oder  wenn  er  die  Ansicht  ausspricht  (S.  26),  die  Kelten  batten 
sich  sfchon  in  ihrem  Ursitze  am  Kaukasus  getrennt,  def  eine 
Tbeil  des  Volkes  sei  nach  Westen  gezogen,  der  andere  dagegen 
dem  Laufe  des  Euphrat  gefolgt  und  lange  zwischen  dem  todten 
Meere  and  dem  NMelta  geblieben,  urn  dann  durch  Afrika  nach 
Westeuropa  zugelangen?  So  glaubt  er  denn  mit  Beziebung  auf 
die  von  Plutarch  (Marius  19)  erzahlte  Begebenheit,  jene  beiden 
Stamme  der  Kelten  seien  in  den  Ambronen  und  Ligurern  bei 
Aquae  Sextiae  zusammengetroffen  und  hatten  nach  vielhundert- 
jahriger  Trennung  noch  treu  ihre  Sprache  und  ihren  urspriing- 
lichen  Namen  bewahrt!  (S.  27.  Anm.)  Da  ist  strengste  Kritik 
doch  sehr  von  Nothen! 

Berlin.  Edm.  Meyer. 


XXIII. 

Programmenschau.    Mittelalter. 

1)  Gymnasium  zu  Warburg.  Ostern  1877.  Die 
Wanderungen  der  Westfalen  im  Mittelalter  vom  Director 
Dr.  Adolf  Hechelmann. 

Die  Arbeit  enthalt  eine  niitzliche  Zusammenstellung  dee 
Stoffes,  ohne  dass  jedoch  darin  etwas  Neues  geboten  wird. 

2)  Hohere  Biirgerschule  zu  Eilenburg.  Ostern 
1877.  Ueber  den  historischen  Werth  der  Gedichte  des  Er- 
moldus  Nigellus  (Fortsetzung).    Yom  ord.  Lehrer  Otto  HenkeL 

Die  Untersuchung  kann  nicht  aJs  eine  abschliessende  be- 

trachtet  werden,  sondern  mehr  als   eine  erste  Orientirung  iiber 

diese  Frage.     Vielleicht  wiirde   eine  Schlussarbeit   die  Rwultate 

zusammenstellen^  welche  der  Autor  glaubt  gewonnen  zu  haben. 

3)Friedrich-Wilhelmsschulezu  Stettin.  Ostern 

1877.    Die  Theilungen   im  Keiche   der  Karolinger.     1.  Theil 

Von   768—843.     Von   Dr.  Carl  Friedrich  Meyer. 

Dies  Programm  enthalt  eine  lesbare  und  ubersichtliche  Zu- 
sammenstellung des  Bekannten  und  Feststehenden. 

4)  Gymnasium  zu  Dresden  -  Neustadt.  Ostern 
1877.  Die  Anfange  deutschen  Lebens  in  Nieder -  Oesterreich 
wahrend  des  9.  Jahrhunderts.  Vom  Professor  Dr.  Otto 
Kaemmel. 

Eine  sehr  tiichtige  und  ernste  Arbeit,  welche  ein  noch  un- 
bebautes  Feld  durchackert.  Was  die  Deutschen  nach  Osten  hin 
auf  slavidchem  Boden  als  Colonisten  geleistet  haben ,  ist  zwar 
schon  friiher  in  grossen  Umrissen  dargestellt,  aber  bis  jetzt  im 
Einzelnen  noch  nicht  geniigend  durchforscht  worden.  — 

Zuerst  wird  kurz  die  Eroberung  des  Landes  besprochen, 
dann  werden  die  Namen  und  die  Grenzen  angegeben.  Es  wird 
nachgewiesen,  dass  zur  Zeit  der  karolingischen  Besitznahme  noch 
Ueberreste  einer  romanischen  Bevolkerung  vorhanden  waren  und 


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Programmenschau.    Mittelalter. 101 

dass  flchon  eine  slavische  Einwanderung  stattgefunden  katte. 
Dieee  Einwanderer  gehorten  wahrscheinlich  zum  Stammo  der 
1,  vielleicht  im  Norden  der  Donau  auch  zu  dem  der 
Die  Annahmen  werden  durch  die  Namen  der  Oert- 
bewiesen.  Wir  finden  da  alte  Bekannte  wieder,  so 
deD  Flussiiamen  Zaucha,  der  an  die  markische  Zauche ,  so  den 
KoBmitzberg ,  der  an  die  vielen  Golme  und  Gollenberge  in 
Pommern  und  in  der  Mark  erinnert.  Das  Resultat  der  Unter- 
sachmig  ist  folgendes: 

Als  die  Franken   die  Ostmark  eroberten,   stellte  sie  sich 

als  ein  dunnbevolkertes  Land  dar,  bewohnt  vielleicht  noch  von 

romanischen  Resten  urn  die  sinkenden  Triimmer   antiker  Ca- 

stelle  and  von   neu  eingewanderten  Slaven ,   die   in  der  Kegel 

entfemt  von   der  grossen  Romerstrasse ,   in   den  Thalern   der 

Nebenfliisse    ihre   Dorfer  bauten    und    ein    kargliches   Dasein 

fnrteten   bei  Fischfang,   Viehzucht   und   diirftigem   Ackerbau, 

vielleicht   auch   hier  und   da  das  Erz  der  steierischen  Berge 

zu  bearbeiten  verstanden,  als  ein  Wild-  und  Waldland,   aus 

dem  wie  Inseln  die  Lichtungen  der  Menschen  hervorschimmerten, 

durchrauscht  von  dem  machtigen  Strome,  der,  lange  fast  nur 

ein  Wallgraben,  jetzt  zuerst  eine  grosse  Culturstrasse  werden 

sollte. 

Nach  dieser   Darstellung   wird  die  politische  Organisation, 

also  die  Eintheilung  der  Ostmark  angegeben.     Sie  war  mit  dem 

Tranngau   verbunden    und   der    umfassenden    Amtsgewalt    eines 

Markgrafen    unterstellt.    Kirchlich  gehorte   sie  zu   Passau  und 

Salzburg. 

Zuletzt  wird  die  Besiedelung  durch  Deutsche  besprochen 
tmd  gezeigt,  wie  die  Verhaltnisse  das  Vorwiegen  des  Grossgrund- 
bedtze8  bedingten.  Der  Vrf.  giebt  an  der  Hand  der  Urkunden 
tod  Westen  nach  Osten  gehend  die  deutschen  Niederlassungen  an. 

Die  Deutschen  hielten  sich  im  Gegensatze  zu  den  Slaven, 
vdehe  die  Nahe  der  grossen  Volkerstrasse  scheuten,  besonders 
nate  an  der  Donau ;  sie  nahmen  siidwarts  derselben  mit  Vor- 
licbe  die  Mundungsgebiete  der  kleinen  Nebenfliisse  fur  sich ,  be- 
ffl'edelten  namentUch  das  Tullner  Feld,  drangen  nur  an  der 
Traisen,  an  der  Perschling  und  Tulln  tiefer  in  das  Land  und 
bauten  gem  ihr  germanisches  Bauernhaus  im  Schatten  altromi- 
scher  Castelle.  Jenseits  des  Wiener  Waldes  wagten  sie  so  wenig 
wie  ihre  slavischen  Vorganger  sich  in  die  schutzlose  Ebene  hin- 
AQ8,  hielten  sich  vielmehr  am  Rande  des  Gebirges  und  am  Ufer 
der  breitstromenden  Donau  und  folgten  auch  hier  mit  Vorliebe 
den  Spuren  des  alten  Herrenvolkes.  Noch  weniger  sind  sie 
nordlich  des  Stromes  in's  Binnenland  gedrungen,  welches  noch 
das  Baummeer  des  Nordwaldes  in  unermesslicher  Ausdehnung 
erffillte.  Die  hier  gegriindeten  Orte  stehen  offenbar  an  ZaU 
und  Bedeutung  weit  hinter  denen  siidlich  der  Donau  zuriick. 

Dies  Land  verloron   die  Deutschen  durch  die  vernichtende 

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102  .„«■.,    Pro^rammenschan.    Mittelalter. 

Niederlage  des  Jahres  907  an   die  Magyaren   und   erwarben  es 
erst  wieder  nach  der  glorreichen  Schlacht  auf  dem  Lechfelde. 

5)  Biirgerschulo  zu  Eisleben.  Osternl877.  Die 
gauorbschaftliche  Voigtei  Dorla,  Dorla  und  Langula  vor  dem 
Hainich,  vom  ordentlichen  Lehrer  Dr.  Herwig. 

Diese  Dorfer  liegen  bei  Miihlhausen.  Zunachst  berichtet 
der  Vrf.  iiber  die  Urkunden  dieses  kleinen  Gebietes,  dann  er- 
klart  er  den  Namon  Dorla,  bespricht  Ueberreste  heidniscber  Ge- 
brauche  und  behandelt  zuletzt  das  Geschichtliche. 

6)  Neustadt-Dresden.  Realschule  I.  0.  Ostern 
1877.  Die  Sachsenkriege  Heinrichs  IV.  Nach  den  Quellen 
dargestellt  von  Oberlebrer  Dr.  Fr.  W.  Gotthelf  Winkler. 

Die  Arbeit  soil  fortgesetzt  werden:  Sie  giebt  in  gewandter 
Darstellung  Bekanntes,  nimmt  jedoch  entschieden  Partei  fiir  Hein-. 
rich  IV.  und  stellt  Heinrich  III  weniger  hoch,  als  es  gewohnlich 
geschieht. 

7)  St  adtgymnasium  zu  Halle  a.  S.  Ostern  1877. 
Ausbreitung  der  Hirschauer  Regel  durch  die  Kloster  Deutsch- 
lands.    Von  Dr.  Paul  Giseke. 

Unter  Heinrich  III.  waren  die  Bischofe  die  vorziiglichsten 
Stiitzen  der  kaiserlichen  Macht.  Als  nun  Gregor  VIL  mit  Hein- 
rich IV.  in  Kampf  gerieth,  da  musste  er  nach  einem  Gegen- 
gewicht  gegen  die  Bischofe  suchen  und  er  fand  dies  in  den 
Monchen.  Besonders  von  dem  Kloster  Clugny  aus  waren  jene 
Ideen  verbreitet  worden,  auf  welche  Gregor  VH.  sich  stiitzte. 
Die  Cluniacenser  machten  nun  Schwaben  zum  Mittelpuncte  der 
Bestrebungen ,  welche  sie  auf  Deutschland  richteten.  Kloster 
Hirschau  und  St.  Blasien  im  Schwarzwalde  wurden  nach  der 
strengen  Regel  Clunys  eingerichtet.  In  dem  erstgenannten  Kloster 
stellte  Abt  Wilhelm  die  Regel  fest,  welche  fortan  in  den  refor- 
mirten  deutschen  Stiftern  gelten  sollte.  Von  da  aus  verbreitete 
sie  sich  iiber  Ober-  und  Mitteldeutschland.  Die  reformirten 
Kloster  traten  zu  dem  Mutterkloster  in  oin  dreifaches  Ver- 
haltniss.  Am  engsten  schlossen  sich  an  dasselbe  die  Priorate 
an,  welche  sich  in  vollstandigster  Abhangigkeit  befanden.  Es 
darf  kein  Prior  ausser  vom  Mutterkloster  eingesetzt  werden, 
kein  Converse  darf  eintreten  ausser  mit  dem  WiUen  des  Abtes 
und  empfangt,  wenn  er  Monch  wird,  Consecration  und  Benedic- 
tion meist  nur  vom  Abte,  zu  dem  er  sich  in  das  Mutterkloster 
begeben  muss;  alle  grosseren  Geschafte  des  Priorates,  wie  Ver- 
tausch  von  Giitern,  Ausgabe  von  Lehen  liegen  in  seiner  Hand. 
Die  Monche  dieser  Priorate  werden  als  ganz  der  Congregation 
des  Mutterklosters  zugehorig  bctrachtet.  Eine  zweite  Klasse 
bilden  diejenigen  Kloster,  welche  ausser  dem  Abto  des  Mutter- 
klosters noth  einen  eigenen  Abt  haben.  Auch  die  Monche  dieser 
Stifter  werden  in  Allem,  sowohl  im  Leben  als  im  Tode,  be- 
trachtet,  als  waren  sie  im  Mutterkloster  eingetreten.  Jedoch  ist 
die  Stellung  dieser  Kloster  eine  viel  unabhangigere  als   die  der 

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Programmenschatu    Mittelalter.  103 

Priorate,  indem   ihr   Abt   in   der  Verwaltung   der   Giiter   und 

der  inneren  Verhaltnisse  selbstandig  ist.    Dem  Abt  des  Mutter- 

klojtere  ist    er    aber    zum    Gehorsam    verpflichtet.     In  diesen 

Klostern  hatte   der  Abt  von  Hirschau  noch  einen   sehr  grossen 

Enfhras   auf  die  Abtwahl    oder    sogar    das    Recht,    ihn    ein- 

ond  abzusetzen,   wenn   die  Briider   auch  einen  Wunsch  geltend 

machen  konnten,  z.  8.   in  St   Georgen,    Petershausen ,    Usen- 

hofen,    Zwifalten.      In    letzterem    Kloster    wahlten    nach    dem 

Tode  Noggers    die    3    Aebte    von    Blaubeuern,    Hirschau    und 

Weingarten.     Dass   diese  Kloster   sich  von   der  Bevormundung 

frei  zn  machen   suchten ,  zeigt   das  Streben  der  moisten ,   sich 

Sdratzbriefe  vom  Stuhl  Petri  zu  erwirken,   in   denen  ihnen  eine 

frrie  Abtwahl    verbrieft  wird.    Die   dritte  Art   der  Hirschauer 

Kloster  sind  diejenigen ,  welche  nur  die  reformirte  Kegel  haben, 

aber  ausserlich  in  keinem  Yerhaltniss  zu  Hirschau  stehen.    Der 

Pnterschied  zwischen   diesen   und   den  vorhergehenden  Klostern 

trat  ausserlich  dadurch  hervor,  dass  ihre  Monche  keinen  Zutritt 

zum  Capitel  hatten,   wenn  sie   nach   dem  Mutterkloster  kamen, 

wahrend  es  den  Briidern  jener  gestattet  war.  — 

Ausserdem  sihd  einzelne  Kloster  noch  durch  das  Verhaltniss 
der  Fraternitat  vereinigt,  welche  alle  Theilnehmer  an  dem  Ver- 
dieiut  der  guten*Thaten,  Gebete  und  Almosen,  die  in  einem  der 
zugehorigen  Kloster  geschehen,  Theil  haben  lasst.  Stirbt  ein 
Monch,  so  wird  fur  das  Heil  seiner  Seele  in  alien  zu  der  Fra- 
ternitat gehorigen  Klostern  eine  Messo  gelesen.  Diese  Monche 
zeichneten  sich  durch  ihre  Tracht,  ihr  abgeharmtes  Aus- 
sehen  und  dadurch  aus,  dass  sie  die  heidnischen  Studien  ver- 
achteten  und  nur  christliche  Schriftsteller  lasen. 

Gregor  VH.  unterstiitzte  die  Monche  in  ihrem  Ungehorsam 
gegen  die  Bischofe  und  Fiirsten,  welche  nicht  seiner  Partei  an- 
gehorten. 

Der  Ftihrer   dieser  Congregation  Wilhelm   starb   im  Jahre 

1091.    Diese   selbst  behielt  ihre   Bedeutung  bis  zum  Wormser 

Cwioordat  im  Jahre  1122,  dann  verlor  sie  an  Kraft  und  wurde 

dnrci  andere  Orden,  z.  B.  den  der  Pramonstratenser,  ersetzt. 

8)  Williram,  Abt  zu  Ebersberg  in  Oberbaiern. 

Von  Dr.  Heinrich   Reichau  in   Magdeburg.     Es   fehlt   dieser 

wi8senschaftlichen  Beilage  die  Programmnummer,  die  Bezeich- 

nung  der  Anstalt  und  das  Datum. 

Die  Arbeit  ist  eine  wesentlich  litterarhistorische ,   denn   sie 

bandelt  meist  von  den  Schriften  Willirams.    Trotzdem  aber  wird 

ae  der  Historiker  mit  Interesse   lesen,   da  sie   eine  wenig  be- 

kannte,  aus  sparlichen  Ueberreston  schwer  wiederherzustellende 

Epoche  der  deutschen  Geistesentwickelung  beleuchtet.    Williram 

ist  namlich  einer  von  den  Geistlichen,   der   in  milder  und  ver- 

sohnlicher  Weise,   ohne  ascetisch  zu  sein,  deutsche  Bildung  im 

Anflehlus8  an  die  classische  und  ebenso  eine  Reform  des  Lebens 

der  Geistlichkeit   im   deutbch  -  nationalen  Sinne   befordern   wilL 

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104  Programmenschau.    Mittelalter. 

Diese  geistige  Stromung  wurde  leider  durch  die  Hirschauer  Con- 
gregation  beseitigt,  von  der  soeben  gesprochen  ist. 

9)  Hohere  Biirgerschule  zu  Freiburg  i.  Schle- 
sien.  Ostern  1877.  Friedrich  Barbarossa  in  seiner  Be- 
ziehung  zu  Polen.    Thl.  I.    Von  Dr.  Gerhard  Kriiger. 

Die  Nachrichten  iiber  die  Beziehungen  Friedrich  Barba- 
rossas  zu  Polen  sind  sehr  durftig,  weil  die  meisten  Geschichts- 
schreiber  dieser  Zeit  dem  westhchen  Deutschland  angehorten 
und  weder  Interesse  noch  Verstandniss  fur  die  slavischen  Ver- 
haltnisse  batten.  Und  doch  hat  Friedrich  B.  zum  letzten  Mai 
die  polnischen  Herzoge  zu  einer  scheinbaren  Anerkennung  der 
deutschen  Oberlehnshoheit  gezwungen  und  den  Anlass  zur  Ger- 
manisirung  des  damals  noch  ganz  slavischen  Schlesiens  gegeben. 

Friedrich  benutzte  einen  Zwist  der  polnischen  Fursten  und 
fiihrte  im  Sommer  1157  seinen  Schiitzling,  den  vertriebenen 
Polenfursten  Wladislaw  II.,  mit  Heeresmacht  nach  Polen  zuriick. 
Diesen  Zug  bespricht  der  Vr£  und  zeigt,  class  er  eigentlich  resul- 
tatlos  verlief. 

10)  Hohere  Biirgerschule  zu  Lauenburg  a.d.  Elbe.  J 
Ostern  1877.  Dr.  Carl  Giinther :  Die  Chronik  der  Magde-  J 
burger  Erzbischofe.     2.  Thl.     1142—1371.  i 

Die  Einleitung  stellt  in  kurzen  Ziigen  die  wichtige  Stellung  j 
dar,  welche  Magdeburg  einnahm,  doch  fallt  die  Geschichte  der 
Stadt  nicht  ganz  mit  der  des  Erzbisthums  zusammcu.  Daraus 
erklart  es  sich,  dass  zwei  Chroniken  entstanden  sind :  eine  Mag- 
deburger  Schoppenchronik,  welche  niederdeutsch  geschrieben  ist, 
und  eine  in  lateinischer  Sprache  abgefiasste  Chronik  der  Magde- 
burger  Erzbischofe.  Diese  ist  von  verschiedenen  Autoren  zu- 
sammengestellt.  Die  vorliegende  Abhandlung  behandelt  den  Ab- 
schnitt,  welcher  die  Jahre  1142 — 1371  enthalt. 

11)  Gymnasium  zu  Brieg.  Ostern  1877.  Die  Zu- 
sammenkunft  Kaiser  Carls  IV.  und  Carls  V.  von  Frankreich 
im  Jahre  1378.    Von  Dr.  Paul  Scholz. 

Bekanntlich  standen  die  Luxemburger  in  gutem  Einver- 
nehmen  mit  den  Valois.  Der  alte  Kaiser  Carl  IV.  machte  sich 
deswegen  personlich  nach  Paris  auf,  um  mit  Carl  V.  in  Sacheo 
der  Verheirathung  Sigismunds  zu  verhandeln.  Die  Reise  des 
Kaisers,  die  Aufnahme  desselben  in  Frankreich  und  die  Ver- 
handlungen  werden  nach  den  Angaben  der  Zeitgenossen  hochst 
interessant  geschildert. 

12)  Progymnasium  zu  Schlawe.  Ostern  1877. 
Einiges  zur  Geschichte  der  Stadt  Schlawe  bis  zur  Zerstorung 
des  Schlosses  Alt-Schlawe  im  Jahre  1402,  mit  19  Urkunden 
aus  den  Jahren  1358—1411.  Thl.  III.  Vom  Rector  Dr.  Jo- 
hannes Becker. 

Ein  friiherer  Theil  dieser  Arbeit  ist  von  uns  schon  angezeigt 
worden.  —  Schlawe  wurde  1317  eine  deutsche  Stadt  und  erwarb 
in  den  ersten  40  Jahren  ihres  Bestehens  als  solche  etwas  iiber 
1  Quadratmeile  Grundbesitz,  auch  bfachte  sie  mehrere  landes- 

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Programmenschau.    Mittelalter.  J05 

herrliche  Rechte  an  sich,   doch  gerieth  sie  in  mancherlei  Geld- 
verlegenheiten. 

Afle  diese  kleinen  und  engen  Beziehungen  haben  nur  Werth 
far  die  SpeciaJgeschichte ,  doch  wollen  wir  aus  der  Abhandlung 
mid  den  Urkunden  Einiges  herausheben ,  was  allgemein  interes- 
ant  ist 

Es  ist  bekannt,  dass  das  altmarkische  Geschlecht  der  Wedeli 
als  Pioniere  der  Civilisation  in  die  Neumark  und  die  Waldwusten 
der  Pommer8chen  Seenplatte  vordrang  und  dort  grosse  Be- 
sitzungen  erwarb.  Diese  Familie  war  im  Jahre  1388  so 
machtig,  dass  sie  dem  deutschen  Orden  genau  so  viel  Truppen 
stellen  konnte,  als  die  Stettiner  Herzoge,  namlich  100  voll- 
gerustete  Ritter  und  Knechte,  ebenso  viel  Schutzen  mit  Panzern, 
Esenhauben  und  Armbrusten  versehen  und  400  Pferde. 

An  die  Thaten  der  Quitzows  erinnert  folgendor  Vorgang. 
Im  Jahre  1388  nahm  Eckard  v.  d.  Walde  den  Herzog  von  Gel- 
dern  gefongen,  obgleich  dieser  einen  Kreuzzug  nach  Preussen 
untemahm  und  liess  ihn  erst  nach  ernster  Strafe  frei. 

Aus  den  Urkunden  ersehen  wir,  dass  Adel  und  Burger  schon 
Familiennamen  fiihren,  die  Bauern  noch  nicht ;  so  uberlassen  die 
consoles  civitatis  Slaw  honesto  viro  Johanni,  nostro  sculteto 
in  Beverdorp  etc. 

Von  bekannten  Familien  treffen  wir  die:  greven  van  Eversten, 
heren  tu  Nowgarde,  die  van  der  Osten,  die  Glasenap,  Rexin, 
Below  und  die  Natzemer.  Ob  die  Familiennamen  der  Burger 
schon  ganz  fest  geblieben  sind,  scheint  doch  etwas  zweifelhaft, 
denn  S.  15  Urk.  38  entsagt  ein  gewisser  Vorguske  (mid  mynen 
rechten  erfhamen)  aller  Rache  fur  seihen  getodteten  Vaterbruder : 
Symon  Vensken. 

Einige  Namen  von  untergegangenen  Adelsfemilien  erinnern 
lebhaft  an  slavische  Orte  in  andern  Gegenden,  so  kommt  ein 
CosBebode  (Cossebauda  bei  Dresden)  vor,  so  ein  von  Nemetzc 
(Pesutscher),  welches  Wort  im  Familiennamen  Niemetz,  im  Stadte- 
namen  Nimptsch  immer  den  Deutschen  bezeichnet,  den  der  Slave 
nicht  versteht. 

13)  Gymnasium  zu  Diiren.  Ostorn  1877.  Konig 
Wenzel  und  die  romische  Curie.  1.  Theil  von  Dr.  Franz  Voiss. 
Dass  die  Absetzung  Wenzels  durch  sein  Verhalten  zur  Curie 
mit  herbeigefuhrt  ist,  das  ist  bekannt  und  oft  ausgesprochen ; 
weniger  bekannt  ist  es,  dass  das  Streben  der  Wittelsbacher  in 
der  Pfalz,  die  Krone  zu  erwerben,  schon  langere  Zeit  rege  her- 
vortrat,  ehe  es  1400  zu  dem  Resultate  fiihrte,  dass  Ruprecht 
gewahlt  wurde.  Der  Verf.  weist  nun  recht  eingehend  Jahr  fur  Jahr 
nach,  wie  sich  die  Pfalzer  zu  den  Papsten  und  wie  sich  Wenzel 
zu  beiden  stellte.  Ferner  zeigt  er ,  wie  die  Frage  der  Stadte- 
bSndnis8e  und  des  Landfriedens  in  jedem  Jahre  fast  eine  andere 
Physiognomie  zeigte:  Bald  neigt  sich  Wenzel  zu  den  Stadten, 
bald  zu  den  Fiirsten  in  une<Uer,  erbarmlicher  Schwache.    Diese 


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106       Sickel,  Prof.  Dr.  Th.,  Ueber  Ksisenirknnden  in  der  Schweiz. 

Velleitaten  des  Kaisers  weist  er  in  belehrender  Ausfuhrlichkeit 
bis  zum  Jahre  1390  nach. 

14)  Gymnasium  zu  Salzwedel.  Ostern  1877. 
Die  Politik  der  Hohenzollern  bei  den  deutschen  Kaiserwahlen 
von  Dr.  Emil  Walter. 

Eine  ganz  niitzliche  Arbeit,  die  auf  fleissiger  Benutzung  der 
besten  secundaren  Quellen  beruht. 
Berlin.  Fobs. 


XXIV. 

Sickel ,  Prof.  Dr.  Th. ,  Ueber  Kaieerurkunden  In  der  Schweiz* 

Ein  Reisebericht.     8.    (VII  u.  103  S.)    Zurich  1877,  S.  Hohr. 
2,25  M. 

Der  rfihmlichst  bekannte  Verf.  besuchte  im  Herbste  des 
Jahres  1876  von  Wien  aus  eine  Anzahl  schweizerischer  Archive 
und  Bibliotheken  in  der  Absicht,  das  in  ihnen  befindliche  Material 
fur  die  Herausgabe  der  Kaiserurkunden  von  911 — 1002  kennen 
zu  lernen  und  zu  sammeln.  Es  gescbah  das  im  Interesse  der 
Monumenta  Germaniae.  Der  Bericht  fiber  seine  Reise  liegt  una 
in  diesem  Werkchen  vor.  Er  hat  denselben  wesentlich  zu  dem 
Zwecke  veroffentlicht,  damit  die  Geschichtsforscher  in  der  Schweiz 
angeregt  wiirden,  auch  ihrerseits  das  Untemehmen  zu  fdrdern. 
Zunachst  erstattet  der  Verf.  Bericht  iiber  das  St.  Galler  Stifls- 
archiv.  Natfirlich  konnen  wir  hier  nicht  alle  Details  der  Unter- 
suchung  wiedergeben,  sondern  wollen  nur  einige  wesentliche  Re- 
sultate  hervorheben. 

Um  das  Jahr  817  war^das  Kloster  des  hi.  Martin  zu  Tours 
die  Pflanzstatte  fur  die  Kanzlei  des  Kaisers.  Als  man  spater 
die  Kanzleien  der  Sohne  Ludwigs  d.  F.  bildete,  lieferte  dasselbe 
Stift  das  untergeordnete  Personal.  Spater  traten  in  der  Kanzlei 
Ludwigs  des  Deutschen  Monche  aus  dem  Kloster  Weissenburg 
an  ihre  Stelle.  Mit  Salomon  folgte  im  Jahre  885  auf  diese  ein 
Schiiler  von  St.  Gallen.  Das  oberdeutsche  Element  blieb  in  der 
Koniglichen  Kanzlei  bis  auf  Otto  I.  vorherrschend.  Erst  als  910 
Ottos  L  Bruder,  der  beriihmte  Coiner  Bischof  Bruno ,  Kanzler 
wurde,  da  traten  Lothringer  in  die  Stellen  der  Dictatoren  und 
Scriptoren  ein. 

Darauf  mustert  der  Verf.  die  Grundsatze,  nach  denen  man 
bisher  die  Echtheit  der  Diplome  beurtheilt  hat.  Er  kommt  zu 
dem  Resultate,  dass  man  falsche  Annahmen  gemacht  und  viel  zu 
viel  Diplome  fur  unecht  erklart  hat.     S.  7  u.  8.  sq. 

Darauf  handelt  der  Verf.  von  dem  St  Galler  Cantonai- 
archiv,  in  dem  er  nur  das  1838  einverleibte  Pfavers'sche  Kloster- 
arohiv  zu  benutzen  hatte.  Das  3.  Archiv  ist  das  bisohofliohe 
in  Chur,  dessen  Schioksale  sehr  wechselvolle  waren ;  das  4.  Archiv, 
fiber  welches  berichtet  wird,  ist  das  von  Kloster  Disentis,  das 
5.  das  Staatsarchiv  in  Luzern,  das  6.  das  in  Bern,  das  7.  das 
Cantonalarohiv  in  Lausanne.     In  diesem  Berichte  bemerken  wir 


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Mannhcimer,  Moses,  Die  Judenverfolgungen  in  Speyer,  Wonns  etc.    107 

als  bewilders  wichtig  die  Polemik  gegen  Stumpf  (S.  65),  welche 
das  Kanzleiwesen  betrifft  und  mit  jener  oben  erwahnten  Aus- 
einandersetzung  (S.  7  u.  8  sq.)  zusammengebort.  Nr.  8  behandelt 
dann  das  Cantonalarohiv  in  Schaffhausen,  Nr.  9  das  Archiv  von 
Hoeier  Einsiedeln. 

Der  Verf.  hat  mehr   als    80  Diplome  angesehen  and  aus 
dieser  Umschau,    wie    er   behauptet,   Vieles   gelernt,    wodurch 
frfihere  Anschauungen  berichtigt  und  verbessert  worden  sind. 
Berlin.  Fosb. 


XXV. 
iwwheimer,  Moses,  Die  Judenverfolgungen  in  Speyer,  Worms 
und  Mainz  im  Jahre  1096  wShrend  des  ersten  Kreuzzuges.  — 

Aus  einem  in  der  Grossherzogl.  Hofbibliothek  zu  Darmstadt 

befindlichen  alten  hebraischeu  Manuscripte  iibertragen  und  mit 

kistorisch-kritischen  Anmerkungen   begleitet.    gr.  8.    (32   S.) 

Darmstadt  1877,  Literarisch-artistische  Anstalt.    0,50  M. 

Die  vorliegende  Schrift  lenkt  unsere  Aufinerksamkeit  zuriick 

aof  eine   Erscheinung  ebenso   schrecklicher  als   tiefbetrtibender 

Art  in   der    Vergangenheit ,   auf  die  Verfolgungen   und  Leiden, 

welche  die  Juden  einst  von  Seiten  der  Christen  zu  erdulden  ge- 

faabt  haben.    Dr.  Graetz  in   seiner  „Geschichte  der  Israeliten", 

William  Edward  Hartpolo  Lecky  in  seinem  Werke:  „Geschichte 

des   Ursprunges   und  Einflusses  der  Aufklarung  in  Europa"  und 

andere  in   der  Brochure  genannte  Historiker  haben  die  Unge- 

rechtigkeiten  und  Qualen,  denen  diess  Yolk  fast  in  alien  Landern, 

seit  Antiochus  Epiphanes,   von   Heiden  und  Christen  bis  an  das 

Zeitalter  der  Reformation,  die  auch  in  dieser  Beziehung  eine 

segensreiche  Wandlung  in  den  Anschauungen  der  Christen  hervor- 

brachte,  ausgesetzt  gewesen  ist,  im  Einzelnen  und  im  Allgemeinen 

geschildert     Es  ist  ja  bekannt  genug ,   welche   Verfolgungen  sie 

im  byzantinischen  Reiche  wahrend  des  8.  saec,  insbesondere  zur 

Z«it  des   Faustrechts  und  des  durch  die  Kreuzziige  in  Europa 

aogefechten  Fanatismus  zu  erdulden  hatten,  wie  man  Liigen  von 

ennordeten    christlichen    Knaben,    Brunnenvergiftungen   u.    dgl. 

wider  sie   ersann,  um   Raub  und  Mord  an  ihnen  scheinbar  zu 

rechtfertigen.    Die  vorliegende  Brochure  erzahlt  nun  ausfuhrlich 

die  Grauel,  welche  in  dem  genannten  Jahre  insbesondere  in  den 

3  rhemischen  Stadten  gegen  sie  ausgeiibt  wurden,  und  von  denen 

bisher  nfihere  Details  weniger  bekannt  waren,  mit  Ausnahme 

einer  einzigen  Quelle,  „Kouteros  tatnu,  Bench t  uber  die  Leiden 

des  Jahres  1096"  von  Elieser  b.  Nathan  Halevi  aus  Coin.   Dieser 

Berioht  findet  Bestatigung  und  Erweiterung  durch  das  im  Besitz 

der  Grossherzoglichen  Hofbibliothek    zu  Darmstadt    befindliche 

hebraische  Manuscript,    welches   Mannheimer,    soweit   es   diese 

Dinge  behandelt,   ubersetzt  und  mit  erlauternden  Anmerkungen 

versehen  hat 

Es  ist   selbstverstandlich ,   class  das  Schriftohen ,   zuerst  im 

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108    Mannheimer,  Moses,  Die  Judenverfolgungen  in  Speyer,  Worms  etc, 

Mai  1876  in  der  Allg.  Zeitung  des  Judentliums ,  herausgegeben 
von  Rabbinor  Dr.  L.  Philippson  in  Bonn,  erschienen,  bei  den 
Geschichtsforschern  iiberhaupt,  namentlich  aber  in  jiidisohen 
Kreisen  ein  grosses  Interesse  erregte.  In  drastischen  Zugen 
wird  uns  berichtet,  wie  die  „Irrenden"  (so  iibersetzt  Mannheimer 
das  Wort  D*tfnrtt  „die  herumirrenden ,  vagabondirenden ,  fanati- 
sirten ,  in  irrigen  Ansiohten  befangenen"  Kreuzfahrer)  iiberall  in 
den  Stadten  am  Rhein,  die  sie  durchzogen,  die  0*?^?  (Stadt- 
bewohner ,  Stadter)  gegen  die  Juden ,  und  zwar  namentlich  in 
den  Stadten  Speyer,  Worms  und  Mainz  aufreizten  und  entsetz- 
licbe  Grauelscenen  herbeifuhrten,  in  denen  Tausende  von  Juden, 
Manner,  Weiber  und  Kinder,  mit  Spiessen  erstochen,  oder,  in 
Hausern  zusammengetrieben ,  zur  Taufe  gezwungen,  im  Weige- 
rungsfalle  verbrannt  wurden,  wie  Andere,  um  sich  selbst  und 
ihre  Kinder  vor  der  Zwangstaufe  zu  schutzen,  lieber  den  Tod 
wahlten. 

Man  kann  diese  Martergeschichten  nicht  lesen  ohne  tieien 
Schmerz  und  hohe  Entriistung.  Wie  konnte  es  doch  gescheheD, 
dass  die  Religion  des  Erlosers,  der  in  seinem  Evangelium  der 
Welt  den  Frieden  bringen  wollte,  der  in  jedem  Worte  die  Liebe, 
die  Versohnung  predigte,  solche  Grauel  hervorbrachte  ?  —  Und 
es  ist  auch  sehr  erklirlich,  dass  das  Wachrufen  dieser  einst  vod 
Christen  an  Juden  veriibten  Schandthaten  gerade  in  der  gegen- 
wartigen  Zeit ,  deren  Bestreben  dahingeht ,  das  Judenthum  mit 
seinem  Monotheismus  hoch  zu  heben  fiber  das  vielfaoh  angefein- 
dete  Christenthum ,  nicht  nur  in  der  jiidisohen  Presse,  sondern 
auch  vom  christlichen,  dem  Judenthum  holden  und  ihm  sohmei- 
chelnden  Liberalismus  fur  seine  Zwecke  ausgebeutet  werden  wird. 
Geht  doch  auch  durch  die  ganze  Darstellung  so  des  alten  Ver- 
fassers  jenes  Manuscriptee  wie  seines  neuen  Uebersetzers  unver- 
kennbar  das  Streben  hindurch,  die  Juden  als  Martyrer  fur  ihren 
Glauben  hinzustellen.  Zwar  wir  verkennen  die  Glaubensstarke 
und  den  todverachtenden  Muth  in  solchem  Martyrium  nicht,  and 
sind  entfernt  davont  ihm,  soweit  sichs  gebiihrt,  eine  gewisse 
Anerkennung  zu  zollen,  abier  wir  konnen  doch  auch  andere  Gc- 
danken,  die  sich  uns  dabei  aufdrangen,  nicht  zuruckhalten. 

Sind  es  denn  allein  die  Juden  gewesen,  gegen  die  der  Fana- 
tismus  in  jenen  rohen,  barbarischen  Zeiten  sich  wandte  ?  Haben 
nicht  auch  Christen  gegen  Christen,  Katholiken  gegen  evaoge- 
lische  Briider  gleichen  Glaubenshass  und  gleiche  Grausamkeiten 
in  noch  weit  grosserem  Umfang  geiibt?  Ist  denn  nicht  die  Ge- 
schichte  der  Christenverfolgungen  durch  die  heidnischen  Kaiser 
in  den  ersten  christlichen  Jahrhunderten,  in  den  Zeiten  vor  und 
nach  der  Reformation  noch  unendlioh  reicher  an  Beeeugungen 
eines  begeisterungsvollen  Heldenmuthes ,  einer  Todesverachtung. 
einer  Standhaftigkeit  unter  den  gratisamsten  Foltern,  einer  Be- 
kenntnissfreudigkeit ,  wo  es  sich  um  das  Zeugniss  fiir  Christum 
und  das  Festhalten  an  seinem  Evangelium  handelte,  die  ebenso- 
sehr  zur  hochsten  Bewunderung,  wie  zum  tiefsten  Schmerze  uns 

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ffiwch,  Siegfr.,  Jahrbucher  des  Deutschen  Reiches  unter  Heinrich  II.       109 

anffordert?  Und  was  speciell  die  in  unserer  Brochure  berich- 
teteo  Grauelscenen  in  den  3  rheinischen  St&dten  im  Jahre  1096 
betrifft ,  so  tergesse  man  doch  nicht,  dass  es  wiiste  and  rohe 
Pobelhaufen  waren ,  von  denen  sie  veriibt  wiirden ,  wahrend  die 
Martyrer  der  evangelischen  Kirche  ihre  Foltern,  ihre  Hinrich- 
tangen,  ihje  Vertreibungen  von  Haus  tmd  Vaterland  von  den 
hochstgestellten  Personen,  von  Kaisern  und  Konigen,  Papsten  und 
fiischofen  haben  erdulden  miissen,  und  dass  sie  dieselben  in  acht- 
christlicher  Demuth  erduldeten,  nicht  Martyrium  suchend,  oder 
gar  sich  selber  entleibend,  oder  ihre  Kinder  erwiirgend,  wie  von 
Rabbi  Meschullam  (p.  18)  oder  von  „zartlichen"  Muttern  (p.  25) 
enahlt  wird,  oder  den  eigenen  Tod  durch  tuckisch  iiberraschen- 
den  Mord  ihrer  Feinde  provocirend  (p.  19),  oder  sich  selbst  unter 
einander  dahinschlachtend  (p.  20).  Man  vergesse  ferner  nicht, 
im  der  Verfasser  des  Manuscripts  von  den  christlichen  Geist- 
lichen  in  Speyer  (p.  14,  15)  und  Mainz  (p.  20)  berichtet,  dass 
diese  den  Juden  Beistand  geleistet  haben  gegen  die  rohen 
Pobelhaufen ,  Vielen  wirkliche  Rettung  bringend ,  bei  Andern 
wenigstens  es  versuchend. 
Berlin.  Dr.  Krttger. 

XXVI. 
Hirtch ,  Siegfr.,  Jahrbucher  des  Deutschen  Reiches  unter 
Heinrich  II.  Dritter  Band.  Herausgegeben  und  voll- 
endet  von  Harry  Bresslau.  gr.  8.  (X,  417  S.)  Leipzig 
1875,  Dnncker  und  Humblot.  9  M. 
Schon  der  Titel  zeigt,  dass  wir  es  hier  nicht  mit  dem  Werk 
eines  Einzelnen  zu  thun  haben:  der  Herausgeber  und  Vollender 
der  Hirsch'schen  Jahrbucher  berichtet  ausserdem  in  der  Vorrede, 
daa8  vor  ihm  noch  R  Usinger  und  H.  Pabst  an  dem  Buche  ge- 
arbeitet.  Diese  Vorarbeiten  gehorig  zu  benutzen  war  keine 
leiehte  Aufgabe  —  der  Pietat.  Von  dem  Herausgeber  stammt 
let  Text  von  S.  141—306,  die  Excurse  bis  auf  Nr.  2  und  ein 
sorgfiltiges  Register  fur  sammtliche  drei  Bande.  Br.  sagt,  er 
tabe  das  Werk  so  zu  gestalten  gestrebt ,  wie  es  S.  Hirsch  ver- 
mothlich  selbst  gestaltet  haben  wiirde,  und  hat  demgemass  an 
der  Form  der  Jahrbucher  im  ganzen  festgehalten.  Gewiss  nicht 
ohne  Entsagung :  denn  wie  niitzlich  es  auch  sein  mag,  die  Ereig- 
nisse  eines  Jahres  in  streng  chronologischer  Folge  bis  in  die 
Ueinsten  Details  hinein  kennen  zu  lernen,  —  wenn  die  Historio- 
graphie  wirklich  eine  Kunst  ist,  wie  L.  v.  Ranke*  der  Urheber 
der  nJahrbucher"  will,  so  besteht  die  Kunst  hier  nur  darin,  fiir 
die  auseinanderliegenden  und  verschiedenartigen  Materien  eine 
Verknlipfiing  zu  finden.  Von  Ost  nach  West,  von  Slid  nach 
Nord,  wieder  zuriick  und  hin  und  her  den  Blick  richten  zu 
imisgen,  bald  mit  einer  wichtigen  Reichsangelegenheit  nur  sehr 
'ntf2  —  wegen  spSrUchen  Materials  —  bekannt  gemacht  zu 
verden,  bald  iiber   eine  ziemlich  gleichgiiltige  Klostersache  des 

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110      Hirsch,  Siegfr.,  Jahrbucher  des  Deutschen  Reiches  inter  Heinrich  II. 

ausfiihrlichen  belehrt  zu  warden,  das  ist  nioht  nach  jedermsnns 
Geschmack  und  wird  nur  dem  Freude  machen,  der  allein  in 
Genauigkeit  und  diplomatische  Treue  das  Ideal  der  Geschichts- 
schreibung  setzt  Das  aber  muss  zugestanden  warden  >  class  Br. 
als  ein  durchaus  ebenbiirtiger  neben  S.  Hirsch  tritt,  den  er  oft 
genug,  wenn  auch  mit  sichtlicber  Pietat,  corrigirt.  Dieselbe 
Akribie  zeigt  sich  —  ja  fast  noch  eine  erhohtere  —  in  dem 
von  Br.  selbstandig  gearbeiteten  Theile  des  Buches,  und  wenn 
an  dem  oder  jenem  Punkte  noch  speciellere  Detailforscher  sicker- 
licb  etwas  auszusetzen  finden  werden,  der  in  den  Anmerkungen 
und  Excursen  bewiesene  Fleiss  ist  geradezu  riihmlich. 

Nur  ungern  unterzieht  sich  Ref.  der  miihseligen  und  weaig 
dankbaren  Aufgabe,  grade  den  Gang  eines  solchen  Jahrbuches 
kurz  anzudeuten:  es  soil  dabei  liber  einige  Excurse  etwas  am- 
fiihrlicher  gesprochen  werden  und  iiber  den  Theil  der  Arbeit, 
welcher  nach  der  Erinnerung  des  Ref.  am  moisten,  und  nach 
seiner  Ansicht,  grade  mit  Unrecht  angegriffen  worden  ist. 

Die  Eigenart  des  Buches  mehrerer  Yerfasser  zeigt  sich  too 
ihrer  iiblen  Seite  schon  auf  pag.  1.  Hirsch  sagt:  „Das  einzige 
deutsche  Geschaft,  davou  wir  aus  den  Monaten  des  Romerzuges 
Kunde  haben,  ruft  uns  gleich  in  den  bekannten  Gedankenkreis 
zuriick.  Es  ist  die  Unterwerfung  von  Kloster  Schwarzach  in  der 
Ortenau  unter   das   Bisthum  Strassburg.     Nicht  der  Erfolg  der 

Massregel    macht    dicemal    ibfre   Bedeutung was  dieser 

Schenkung  Heinrichs  Bedeutung  giebt,  ist  vielmehr  das  Wort, 
mit  dem  sie  eingfeleitet  wird."  Dazu  bemerkt  Br.  zunachst  dass 
dies  Geschaft  nicht  das  einzige  aus  diesem  Zeitraume  bekaante 
ist,  und  erklart  in  einer  zweiten  Note  die  Schenkungsurkunde, 
Stumpf  Nr.  1590,  aus  der  Hirsch  folgert,  fiir  eine  Falschung 
Wir  werden  solche  Inconvenienzen,  wo  sie  von  Belang  sind,  nod 
mehrfach  hervorheben  miissen.  Dann  handelt  H.  zunachst  von 
Yerleihungen  an  Quedlinburg  und  der  Beraubung  Memlebena.  In 
dem  Verfahren  gegen  diesen  den  Ottonen  so  theuren  Ort,  welchem 
auch  Heinrich  H.  in  seinem  ersten  Regierungsjahr  aile  seine 
Rechte  und  Besitzungen  bestatigt  hatte,  findet  H.  die  Gewahr, 
„dass  das  sachsische  Haus  freilich  noch  da,  aber  seine  wesent- 
liche  Epoche  (?)  voriiber"  gewesen.  Ebenso  willkiirlich,  wie  mit 
Memleben,  verfuhr  Heinrich  mit  Corvey ;  auch  gegen  diese  Abtei 
„fuhrt  er  einen  jener  Schlage,  wie  sie  grade  den  reichsten  und 
ehedem  jneistverehrten  klosterlichen  Sitzen  des  Reiches  zugedacht 
waren".  Ohne  Zweifel  war  bei  dem  Vorgang  bischofliche  Eifer- 
sucht  —  Meinwerk's  im  Spiel. 

Der  Vert  wendet  sich  nun  vermittelflt  eines  seiner  kunst- 
vollen  oder  kiinstlichen  Uebergange  zu  den  polnischen  Dingen. 
Der  Bearbeiter  befand  sich  hier  wiederum  in  der  Lage,  mit  dem 
Texte  semes  Autors  nicht  ganz  einverstanden  zu  sein,  zumal  seit 
Abfassung  desselben  iiber  einige  der  beriihrten  Ereignisse 
wiederholt  gehandelt  worden.  Er  erortert  daher  im  ersten 
Excurs   die   Ghronologie   des   Polenkrieges   genauer.      Die   Aus- 

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ffiracb,  Siegfir.,  Jahrbflcher  des  Deutschen  Reichea  nnter  Heiurich  II.       HI 

lieferung  Miecyslav's  setzt  H.  —  wie  auch  Pabst  und  Cohn  — 

in  den  April  oder  Mai  des  Jahres  1015;  Br.  entscheidet  sich  fur 

1014,  die  Angabe   der  Quedlinburger  Annaien,  weil  diese  den 

Vorgang  in  die  Mitte  zwischen  zwei  Ereignisse  setzen,  die  ohne 

Frage  in  das  Jahr  1014  gehoren.    Dem  gegeniiber  ist  es  denn 

iikel,  wenn  wir   S.  14   vom  Jahr  1014  lesen:   „Miecyslav  ward 

nicht  freigegeben."     Eine  ahnliche  Unzutraglichkeit  ergiebt  sich 

S.  25.    Wahrend   H.   es  aus  Heinrichs  Regierungsprincipien   er- 

klaren  will,    dass  Wiirzburg  das  Herzogthum  Ostfranken  erhalt, 

weist  Br.  unterhalb  des  pietatvoll  geschonten  Textes  darauf  hin, 

dass  die  altesten  auf  den  Gegenstand  beziiglichen  Urkunden  als 

imecht  betrachtet  werden   miissen.    Von   S.  28  an  handelt  der 

Vert  aosfiihrlicher  iiber  Poppo's  von  Trier  Einsetznng  und  urtheilt 

mit  Berug  auf  die  Bedingungen  von  Adalbero's  Verzicht :   „Fiir 

den  ganzen   Gang   dieser  Regierung  und  fiir   die   Ansicht  vom 

dentechen  Konigthum,   wie  sie  sich  seit  Otto  dem  Grossen  fest- 

gestellt,  kann  nichts  charakteristischer  sein,  als  dass  der  Kaiser 

auf  die  hohe  Gunst,  sein  angestammtes  Herzogthum  unmittelbar 

bei  seiner  Krone  zu  behaupten,  verzichtete,  wenn  er  nur  ein  Erz- 

bisthum  seines  Reiches   mit  dem  Mann  seines  Sinnes  und  seines 

Vertranens  besetzen  konnte." 

Im  Jahre  1016  treten  die  burgundischen  Dinge  in  den 
Vordergrund,  wahrend  die  umstandliche  Behandlung  von  Graf 
Wichmann8  Ermordung  von  untergeordneterer  Wichtigkeit  ist: 
an  dieser  Untersuchung  interessirt  mehr  der  kritische  Process, 
als  das  Kesultat.  Das  Jahr  1017  zeigt  uns  den  Konig  im  Kampfe 
gegen  Boleslav.  Friedensverhandlungen  werden  angekniipft, 
kommen  aber  nicht  zum  Abschluss.  Eingefugt  ist  in  den  Anfang 
dieses  Capitols  eine  hiibsche  Specialstudie  iiber  das  rasche  Auf- 
bluhen  Gfoslars.  Ein  Spiegelbild  von  der  mannigfeltigen  Regie- 
rnngsthatigkeit  eines  deutschen  Reichsoberhauptes  gewahrt  das 
nkhste  Capitel.  Zuerst  macht  sich  der  Kaiser  in  Nimwegen  die 
Haimter  der  lothringischen  Opposition  geneigt,  —  nicht  ohne 
meriliche  Opfer :  die  Unholde  zweiten  Ranges,  wie  Berthold  von 
Walbeck ,  miissen  sich  nun  beugen.  Dann  zeigt  sich  der  Kaiser 
ebendaselbst  in  seiner  geistlichen  Wiirde,  indem  er  den  Grafen 
Otto  von  Hammerstein  wegen  seiner  unerlaubten  Ehe  excom- 
nroniciren  lasst  und  ihn  fur  das  erste  zur  Unterwerfung  zwingt. 
Die  Griindung  von  Kloster  Kaufungen  wird  ausfiihrlich  dargestellt 
Wid  giebt  Br.  Yeranlassung ,  eine  kleine  Specialarbeit  iiber  die 
Kaufanger  Urkunden  als  Excurs  3  anzuhangen.  Angehende 
Kplomatiker  wird  namentlich  das  iiber  Stumpf,  Urk.  1649,  Ge- 
^gte  interessiren :  wir  haben  hier  nicht  ein  ganzlich  erfundenes, 
sondem  nur  interpolates  Dokument.  —  Von  Biirgel,  wo  sich 
Graf  Hammerstein  demiithigt,  geht  es  nach  Burgund :  eine  Kirch- 
weih  zu  Worms  eroffnet,  eine  solche  zu  Basel  schliesst  den 
ruhmlosen  Feldzug.  Die  Baseler  hielten  den  Heinrichstag  nach- 
°^ls  in  grossen  Ehren,  und  dass  die  Stadt  im  Jahre  1501  sich 
^  den  feierlichen  Schwur,  mit  dem  es  sich  der  Eidgenossenschaft 

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112      Hirsch,  Siegfr.,  Jahrbiicher  des  Deutschen  Reiches  unter  Heinricb  II. 

einverleibte ,  grade  diesen  Tag  erkor ,  giebt  H.  Veranlassung  zu 
der  Apostrophe:  „Wie  seltsam  erscheint  auf  den  ersten  Blick 
diese  Wahl,  die  grade  das  Andenken  des  Herrschers,  durch  den 
man  einst  dem  deutschen  Reiche  angeschlossen  worden,  fur  den 
Akt  der  Losung  yon  Kaiser  und  Reich  anruft."  Der  folgende 
Gegensatz  ist  leider  nicht  ganz  verstandlich  fur  jemand,  der 
deutsch  spricht.  Bei  einer  nochmaligen  Betrachtung  der  bur- 
gundischen  Angelegenheiten  urtheilt  H.  mit  Recht,  dass  dieselben 
zu  Heinrichs  II.  Zeit  allmahlich  in  den  Hintergrund  treten,  indem 
die  eigentliohe  Entscheidung  seinem  Nachfolger  iiberlassen  bleibt. 
Darauf  folgt  —  die  Anordnung  des  Stoffes  ist  eben  in  der  An- 
lage  der  Jahrbiicher  begrfindet,  gleichwohl  aber  nicht  sehr  zweck- 
massig  —  die  Fortsetzung  des  Berichtes  fiber  Boleslav,  mit  dem 
schon  am  30.  Jan.  1018  zu  Bautzen  Friede  geschlossen  worden. 
Mit  Scharfe  wird  hervorgehoben ,  wie  ungiinstig  der  Friede  fur 
Heinrich  war,  wie  berechtigt  Thietmar's  Ausspruch,  „der  Friede 
sei  geschlossen  worden,  nicht  wie  es  sich  geziemt  hatte,  sondern 
wie  es  damals  angingu.  Nach  einer  Besprechung  von  Boleslavs 
Zug  gegen  Kiew  und  einem  Bericht  yon  dem  Liutizenaufetand 
des  Jahres  1018  folgt  die  Erz£hlung  des  Kampfes  gegen  Dietrich 
yon  Holland,  der  trotz  Scepter  und  Erummstab  die  Grundlagen 
zu  einem  machtigen  Staate  legt.  Der  Herzog  Gottfried  von 
Niederlothringen  wird  „an  dem  Tage  des  Merwede-Waldes"  be- 
siegt  und  gefangen,  Graf  Dietrich  bleibt  im  Besitz  des  grotferen 
Theiles  der  occupirten  Besitzthiimer  und  Gerechtsame.  Den  er- 
wahnten  Schlachttag,  29.  Juli  1018,  bezeichnet  H.  geradezu  als 
den  Geburtstag  der  Gra&chaft  Holland.  Das  Capitel  schliesst 
mit  einer  Uebersicht  fiber  die  heryorragenden  Todten  des  Jahres: 
unter  dieselben  rechnet  Br.  auch,  anscheinend  im  Einverstandniss 
mit  H ,  aber  im  Gegensatz  zu  Wilmans,  Giesebrecht,  Wattenbach 
und  Usinger,  den  Geschichtschreiber  Thietmar.  Das  wichtigste 
Ereigniss  des  Jahres  1019  ist  die  Emporung  des  Hauses  Werla 
und  des  jfingeren  Billungers,  des  Grafen  Thietmar,  sonst  ist  dies 
Jahr  „an  Ereignissen  so  leer ,  wie  kaum  eine  andere  Epoche  in 
Heinrichs  ganzer  Regierung".  Mit  der  Notiz  von  der  —  schon 
in  das  Jahr  1020  fallenden  —  Beruhigung  der  sachsischen  Em- 
porung schliesst  das  Hirsch 'sche  Manuscript  auf  S.  118,  und  Br. 
nimmt  die  von  seinem  Vorganger  abgebrochene  Darstellung  der 
italienischen  Angelegenheiten  seit  dem  Jahre  1014  auf.  Seit 
Schluss  des  II.  Bandes  ist  das  Quellenmaterial  um  ein  wichtiges 
Stfick  erweitert  worden,  den  Brief  des  Bischofs  Leo  von  Vercelli 
geschrieben  gegen  Ende  des  Jahres  1016  oder  in  den  ersten 
Tagen  des  folgenden  Jahres.  (Herausgeg.  v.  Studemund  und 
Dummler,  Forschungen  z.  d.  Gesch.  VHI,  387  ff.)  Auf  Grund 
desselben  kommt  Br.  zunachst  zu  dem  Resultat:  „dass  seit  dem 
Jahre  1015  die  oberitalienischen  Verhaltnisse  sich  durchaus  un- 
giinstig fur  die  deutsche  Sache  gestaltet  hatten,  und  dass  die 
Auffassung  Giesebrechts,  als  ob  seit  Heinrichs  Romerzuge  zu  seinen 
Lebzeiten  die  deutsche  Herrschaft  in  Italien  nicht  mehr  angefochten 

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Hirscb,  Siegfr.,  Jabrbficher  dea  Deutscben  Keichea  unter  Heinrich  IL       H3 

sei,  wenigstens  was  den  nordlichen  Theil  der  Halbinsel  betrifft, 
nacb  dem  jetzigen   Stande  unserer  Quellen  nioht  mehr  haltbar 
ist"     Kaum   besser  standen   zu   Anfang   des   Jahres   1017   die 
Dinge  in  Mittelitalien ,   auch   in  Rom  selbst:   Hauptquellen  sind 
bier  zwei  Schriften  des  Abtes  Hugo  von  Farfa,  „dessen  Wechsel- 
fille  uns  ein  untruglicher  Gradmesser  sind  fiir  die  sinkende  oder 
steigende  Macbt  Heinricbs  und  des  seit  1014  eng  mit  ihm  ver- 
bundenen  Papstes".    Im  Anfang  des  Jahres  1016  war  Benedict 
nach  einem  vollstandigen  Siege  iiber  die  Crescentier  unbestrittener 
Herr  in  Rom,  er  konnte  nach  aussen  als  Schirmherr  Italiens  auftreten, 
indem  er  die  Pisaner  im  Kampfe  gegen  die  Saracenen  auf  Sardinien 
erfolgreich  unterstiitzte.    Da  tritt  ein  plotzlicher  Umschlag  ein: 
die  Crescentier  kehren,  wahrscheinlich  in  der  zweiten  Halfte  des 
Jahres  1016,  zuriick  und  zwingen  den  Papst  zu  einem  Vergleich, 
dessen  Spitze  gegen  Heinrich ,    seine  Schutzbefohlenen  und  seine 
Anhanger  gerichtet   ist.     Heinrich,   durch  die  polnischen  Ange- 
legenheiten  in  Ansprach  genommen,   konnte  dem  Hiilferuf  Leo's 
nicht  Folge  leisten,  er  musste  sich  darauf  beschranken,  Pilgrim, 
den  neu  ernannten  Kanzler  von  Italien ,   mit  ausgedehnten  Voli- 
machten  dahin  zu  senden.    Ueber  seine  Thatigkeit  schweigen  die 
Quellen  fast  ganz ;  schwerlich  konnte  er  mit  Erfolg  durchgreifen. 
Fiir  die  nachsten  Jahre  haben  wir  wiederum  nur  sporadische  Notizen 
iiber  die  italienische  Geschichte.  Von  Bedeutung  ist  im  Jahre  1018 
der  Tod  des  greisen  Arnulf  von  Mailand ,  als  dessen  Nachfolger 
Aribert  den   hervorragendsten   Erzstuhl   Lombardiens  einnahm; 
ton  noch   grosserer  Wichtigkeit   ist  das  wahrscheinlich  im  No- 
vember des  nachsten  Jahres  erfolgte  Hinscheiden  des  zuverlassigen 
Arnold  von  Ravenna ;  von  seinem  Nachfolger  Heribert  wissen  wir 
aber  wenig   mehr,   als  den  Namen.     In  dem  Herbst  des  Jahres 
1019  finden  sich  in  Strassburg  die  Fiihrer  der  deutschen  Partei 
in  Italien  ein;    gewiss  sind  dort  iiber  die  gegen  die  Feinde  des 
Kaisers  und  der  Kirche  zu  ergreifenden  Massregeln  Berathungen 
gepflogen   worden,   doch   haben  wir  iiber  dieselben  keine  Nach- 
ncbten;   die   uns   iiberlieferten   Beschliisse  der  Strassburger 
Ver8ammlung  „sind  nur  civil-  und  criminalrechtlicher  Natur,  als 
Capitula  Heinricbs  II.  in  die  langobardische  Gesetzsammlung  des 
Papienser   Rechtsbuches   aufgenommen".     Wahrscheinlich   ward 
auf  dem    Strassburger   Tago    auch   iiber  die  Neubesetzung  des 
Erzstuhles  von   Aquileja  berathen:   des   Kaisers   Wahl   fiel  auf 
einen  Deutschen,  Poppo,  aus  bairischem  Geschlechte  und  bewahrte 
sich  nachmals  auf  s  treflflichste. 

Die  Geschicke  Unteritaliens  hatten  sich  seit  Otto's  II.  Nieder- 
lage  unabhangig  von  denen  der  ubrigen  Halbinsel  gestaltet.  Der 
Hanptsitz  der  griechischen  Provinz  Italien  (Apulien  und  Cala- 
brien)  ist  Bari,  in  Sicilien  herrschte  seit  998  der  Emir  Gi&far, 
der  personlich  zwar  ftiedfertig,  doch  in  hergebrachter  Weise  die 
Kusten  der  Halbinsel  befehden  liess.  Im  Jahre  1002  schlossen 
die  Saracenen  sogar  Bari  ein,  das  nur  durch  den  Dogen  Peter  von 
Venedig  entsetzt  vnirde.     Da   die   Griechen   das  Land,   welches 

MilUwlluugen  ».  d.  hlstor.  Litterotur.    VI.  8 

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hE 
AK. 


114       Hirsch,  Siegfr.,  Jahrbtichor  des  Deutschen  Reiches  unter  Heinrieh 

sie  nicht  geniigend  zu  schiitzen  vermochten,  mit  schweren  Ab- 
gaben  belasteten,  machte  sich  der  Wunsch  nach  Unabhangigkeit 
geltend.  Ismael  oder  Melus,  ein  Burger  aus  Bari,  nebst  seinem 
Schwager  Dattus  begannen  1009  den  Aufstand,  vielleicht  im 
Bunde  mit  den  Saracenen.  Im  Jahre  1011  nahmen  die  Grie- 
chen  Bari  wieder  ein,  die  Anfiihrer  der  Bewegung  entkamen, 
aber  Melus'  Frau  und  Sohn  geriethen  in  Gefangenscbaft.  Der 
Papst,  von  seinem  universalen  Standpunkte  aus  das  Interesse  des 
romischen  Reiches  vertretend,  unterstutzte  die  antigriechische 
Bewegung,  raumte  den  Fiihrern  ein  sicheres  Asyl,  dann  einen 
Stiitzpunkt  fur  weitere  Unternebmungen  ein  und  verhutete  so 
das  vollige  Erloschen  der  Insurrection.  Dann  verschaffte  er  dem 
Melus  neue  Hiilfe  in  den  Normannen,  welche  eine  gliickliche  Ver- 
kettung  von  Umstanden  nach  Unteritalien  gefuhrt,  und  Melus 
brach  im  Mai  1017  in  das  Gebiet  der  Griechen  ein.  Zuerst, 
wenn  auch  nicht  ganz  ohne  Scbwanken,  war  das  Gliick  den  Auf- 
standischen  giinstig,  bis  im  Jahre  1018  der  einsichtsvolle  Bojoannes 
ankam.  Zunachst  bezwang  er  Trani,  dann  den  mit  den  Nor- 
mannen verbiindeten  Melus  —  am  Ofanto  bei  Canna  — ,  Melus 
entschloss  sich,  Heinrichs  Hiilfe  anzurufen,  Bojoannos  sicherte 
sich  durch  geschickte  Befestigungen  die  Errungenschaften  seines 
Sieges,  die  langobardischen  Fiirsten,  ausser  Landulf  von  Benevent, 
saumten  nicht,  sich  dem  Sieger  unterzuordnen.  So  war  diePo- 
litik  des  Papstes  in  Unteritalien  gescheitert ;  er  durfte  nicht  ab- 
warten,  bis  die  Griechen  noch  drohendere  Fortschritte  machten, 
er  musste  die  Hiilfe  des  Kaisers  nachsuchen.  Wie  einst  Papst 
Stephan  in  das  Frankenreich ,  anscheinend  in  Folge  einer  Eia- 
ladung,  gekommen  war,  als  er  Unterstutzung  gegen  die  Lango- 
barden  erbitten  wollte,  erinnerte  sich  jetzt  Benedict  wiederholter 
Einladungen  des  Kaisers;  angeblich  um  der  Bamberger  Stiftung 
die  apostolische  Weihe  zu  gewahren,  entschloss  er  sich  zum  Zuge 
iiber  die  Alpen. 

Ausser  vielen  hochst  genauen  Noten  dienen  noch  zwei  Ex- 
curse  (4  und  5)  der  Klarlegung  und  Begriindung  des  Textes. 
Der  erste  der  beiden  Excurse  giebt  zuvorderst  Details  „Zur 
Chronologie  des  ersten  apulischen  Aufstandes  und  der  Ankunft 
der  Normannen".  Soweit  es  sich  dabei  um  eine  Widerlegung 
von  R.  Wilmans  handelt  (gegen  den  sich  schon  Giesebrecht  und 
Ferd.  Hirsch  gewendet  hatten),  darf  man  dem  Verf.  wohl  unbe- 
dingt  zustimmen,  da  auch  Schulze  (Progi%amm  des  Gymnasiums 
zu  Oldenburg  1872)  auf  anderem  Wege  zu  den  gleichen  Ergeb- 
nissen  gelangt  ist.  Da  Br.  von  dieser  Schrift,  die  das  Schicksal 
violer  Programme  theilte,  ganzlich  unabhangig  ist,  haben  wir 
wohl  eine  sichere  Gewahr  fur  die  Richtigkeit  der  Resultate.  Der 
zweite  Abschnitt  desselbon  Excurses:  „Die  Glaubwiirdigkeit  der 
Berichte  iiber  die  erste  Ankunft  der  Normannen  in  Italien"  ist 
namentlich  gegen  Ferd.  Hirsch  gerichtet,  der  den  Bericht 
des  Amatus  iiber  die  Ankunft  der  Normannen  verwart  Br. 
widerlegt   Hirschs   chronologische  Bedenken  und  seine  Einwande 

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Hirsch,  Siegfr.,  Jakrbficher  des  Deutschen  Reichea  unter  Hoinrich  II.       H5 

gegen  die  innere  Glaubwiirdigkeit   des  Amatus,   stiitzt  vielmehr 
deasen  Bericht  durch  andere  Quellen,  insbesondere  durch  Arnulf 
yon  Mailand  I,   17   und  Leo's   Chronik.     Der   dritte  Abschnitt 
bebandelt  „Die  griechischen  Feldherreu  des  Jahres  1017" ,   der 
vierte  die  Schlachten   des   genannten  Jahres.     „Wenn  alle  An- 
gaben,"  sagt  Br.,  „iiber  die  unteritalischen  Vorgange  der  Jahre 
1017  bis  1020  an  Unklarheit  und  Verworrenheit  leiden,  so  geht 
es  ans  doch  am  schlimmsten  mit  den  Nachrichten  uber  die  zwi- 
schen  Melus  and  den  Normannen  einer-  und  den  Griechen  an- 
derereeits  gelieferten  Schlachten."    Auch  bier  ist  manches  treffend 
gegen  Hirsch  und  Schulze  bemerkt ;  in  das  Detail  einzugehen  ist 
bier  unmoglich,  Ref.  nicht  mit  allem  ganz  einverstanden.    Wenn 
ach  z.  B.  Br.  bei  dem  Satze ;   „fecit  proelium  cum  MeL  et  vicit 
Mel."  dafur  entscheidet,  das  zweite  MeL  sei  als  Object  zu  fassen, 
„weil  dies  die  naturlichere  Wortstellung"  sei,  so  kann  Ref.  diesen 
Grand  nicht   acceptiren:  jeder  Schriftsteller  jener  Tage  konnte 
sehr  wohl  „vicit  Mel."  schreiben,  auch  wenn  letzteres  Wort  Sub- 
ject war.  —  Der  Excurs  5  gilt  der  „Kritik  der  altfranzosischen 
Uebersetzung    der  Normannengeschichte  des  Amatus  von  Monte 
Caasino".    Nachdem  F.  Hirsch  schon  in  einer  seiner  Dissertation 
beigegebenen   These  1864  Amatus'  Glaubwiirdigkeit  angezweifelt 
batte,  kam  er  im  Verlauf  dieser  Studien  zu  dem  Resultat :  „Amatus 
ist  kein .  zuverlassiger  Geschichtschreiber.     Fiir    friihere    Zeitea 
ist  seine  Kenntniss  der  Ereignisse  ungleich;   gate  und  schlechte 
Nachrichten  finden  sich  bunt  durcheinander.    Spater  ist  er  zwar 
Ton  den  Thatsachen  im  AUgemeinen  gut,   theilweise  sogar  sehr 
augfiihrlich   unterrichtet;   allein  Fliichtigkeit  und  Ungenauigkeit 
auf  der  einen,   Parteilichkeit   und   Verleumdungssucht   auf  der 
andem  Seite   haben   auch  hier  nachtheilig  auf  seine  Erzahlung 
eingewirkt."     Br.  im  Besitz  einer  Collation  wenigstens  des  ersten 
Bnches  der  Ystoire  de  li  Normant,   geht   diesen   Dingen   weiter 
nach  und   macht   sich   zunachst    an    die    Kritik    der    Ausgabe 
Champollion-Figeacs,   dem   er   seine   Unfahigkeit  zu   der  iiber- 
w>mmenen  Arbeit  schlagend  nachweist.    Wie  weit  kann  nun  die 
altfranzosische  Uebersetzung  des  Amatus  als  gut  und  getreu  be- 
tachtet  werden?    Ausser  der  Ystoire  de  li  Normant  hat  Ch.-F. 
noch  zwei  andere  von  demselben  Uebersetzer  herriihrende  Stiicke 
berauggegeben ,  fiir  welche   der   lateinische  Urtext  erhalten  ist 
Br.  zeigt  nun,  dass  der  Uebersetzer  bier  nicht  allein  mit  grosser 
Sorgloaigkeit  und  Willkiir  verfahrt,   sondern   auch   nicht  einmal 
im  Stande  war,   den   ihm  vorliegenden  lateinischen  Text  richtig 
zu  verstehen  und  demgemass  zu  iibersetzen.     Daraus  lasst  sich 
schliessen,   wie    das    Werk    des   Amatus   verarbeitet   sein   mag. 
Ansserdem  fubrt  eine  genaue  Vergleichung  der  von  Amatus  her- 
ruhrenden  Capiteluberschriften  mit  dem  in  den  Capiteln  wirklich 
Enthalteneu  zu  der  Erkenntniss,   dass  „willkurliche  und,  wie  es 
wbeint,  principlose  Verkiirzungen,  oft  von  bedeutendem  Umfange, 
dann  wieder  einmal   Zusatze  aus   eigener  Kenntniss  oder   Un- 
kenntniss  das  Werk  des  Monches  von  Monte  Cassino  entstellen". 

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116       Hirsch,  Siegfr.,  Jahrbficher  des  Deutschen  Reichcs  miter  Heinricb.IL 

Kehren  wir  indess  wieder  zum  Texte  der  „Jahrbiicher"  zu- 
riick.  Am  14.  April  1020  traf  Benedict  in  der  Nahe  von  Bam* 
berg  ein,  in  den  ersten  Tagen  nach  Ostern  (17.  April)  fanden 
Besprechungen  statt,  ohne  Frage  vornehmlich  iiber  die  unter- 
italischen  Dinge;  Heinrich  billigte  offenbar  Benedicts  Vorgehen, 
indem  er  Melus  zum  Herzog  von  Apulien  bestellte:  doch  schon 
am  23.  April  raffte  ihn  der  Tod  dahin.  Nachdem  von  den 
Privilegien  £ur  Fulda  und  der  Griindung  des  Klosters  Goss  durch 
Aribo  die  Rede  gewesen,  bespricht  Br.  die  vielberufene  Urkunde, 
durch  welche  Heinrich  die  Besitzungen  und  Rechte  der  romischen 
Kirche  bestatigte.  Br.  halt  das  Document,  mit  Ausnahme  einer 
Stelle,  fur  dem  Inhalte  nach  echt,  „wenngleich  das  Original,  von 
dem  die  uns  erhaltenen  Copien  stammen,  sicherlich  eine  Fal- 
schung  war".  In  der  Beweisfuhrung  folgt  Br.  Ficker,  veranschlagt 
aber  den  Werth  der  Bestatigungsurkunde  selbst  sehr  gering; 
er  taxirt  sie  nicht  viel  hoher  als  eine  wesenlose  Formalitat, 
die  hochstens  das  gute  Einverstandniss  zwischen  dem  weltlichen 
und  dem  geistlichen  Haupte  der  Christenheit  constatirt.  Nach 
dem  Abschiede  vom  Papst  wandte  sich  Heinrich  gegen  Balduin 
von  Flandern  —  weder  von  der  Ursache,  noch  von  den  Ereig- 
nissen  des  Feldzuges  haben  wir  genauere  Kenntniss  —  und  ge- 
gen den  Grafen  von  Hammerstein,  der  sich  bald  nach  seiner 
Entsagung  mit  seiner  vielgeliebten  Irmgard  wieder  vereinigt 
haben  muss.  Als  gutliche  Vorstellungen  nichts  fruchteten,  be- 
schloss  Heinrich,  den  trotzigen  Grafen  mit  Gewalt  zu  beugen :  am 
26.  December  1020  fiel  das  feste  Hammerstein;  Otto  nebst  Gemahlin 
erhielten  zwar  freien  Abzug,  wurden  aber  von  Acht  und  Bann 
nicht  gelost.  Von  Hammerstein  begiebt  sich  der  Kaiser  nach 
Coin,  um  mit  Heribert  abzurechnen :  indess  versohnt  er  sich  mit 
dem  Greis,  der  schon  im  Marz  des  Jahres  1021  stirbt.  An  seine 
Stelle  tritt  Pilgrim,  der  Vorsteher  der  italienischen  Kanzlei,  von 
dem  im  sechsten  Excurs  wahrscheinlich  gemacht  wird,  da88  er 
Aribo's  Neffe  gewesen.  Auch  der  Lutticher  Stubl  wird  neu  be- 
setzt:  Durand,  ein  Mann  aus  horigem  Geschlecht,  aber  von 
aussergewohnlichen  Gaben,  ist  der  Erwahlte  des  Kaisers.  Aribo, 
der  Stifter  des  Klosters  Goss,  tritt  am  1.  October  1021  an  die 
Stelle  des  am  17.  August  gestorbenen  Erkanbald  von  Mainz. 
Nachdem  Heinrich  im  Juli  d.  J.  noch  einen  Hoftag  zu  Nimwegen 
abgehalten  und  die  lothringischen  Grossen  zu  dem  bevorstehenden 
Feldzuge  gegen  die  Griechen  in  Unteritalien  entboten,  wandte  er 
sich  nach  Sachsen,  um  von  Werben  aus  die  slavischen  Angelegen- 
heiten  zu  ordnen,  gemass  einem  Versprechen,  das  er  vor  drei 
Jahren  dem  Bischof  von  Oldenburg  gegeben.  Auf  dem  Tage  zu 
Werben  geben  denn  die  slavischen  Hauptlinge  auch  dem  Kaiser 
die  weitgehendsten  Versprechungen  riicksichtlich  der  occupirten 
Territorien  und  des  dem  Oldenburger  verweigerten  Jahreszinses, 
brechen  aber  ihr  Wort,  sobald  der  Kaiser  den  Riicken  ge- 
wendet.  Im  Hinblick  auf  diesen  Misserfolg  kann  sich  Br.  nieht 
versagen,  der  oft  erorterten  Frage  naher  zu  treten,  ob  es  nicht 

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ffirsch,  Siegfr,  Jahrbueher  des  Doutschen  Boichos  unter  Heinrich  II.       H7 

heilsamer  gewesen   ware,   wenn   sich  das  Kaiserthum  statt  der 
italienischen   Dinge  die  grosse  Mission  im  Osten  und  Nordosten 
hatte  angelegen  sein   lassen.     Selbstverstandlich  wird  diese  Er- 
wigung  von  Br.   mit   aller   Reserve   angestellt:   seinem  Urtheil 
wird  jeder,    der  nicht   vorher   fur   die  eine  oder  die  entgegen- 
gesetzte  Ansicht  eingenommen  ist,   ohne  Zweifel  beistinunen.  — 
Von  Werben   begab .  sich    Heinrich    nach    Sachsen :    auf  einem 
Landtage  der   Sacbsenfiirsten  zu  Pfalz  Allstedt  durften  Yerab- 
redungen  iiber   die  jenen  obliegende  Grenzwacht  getroffen  sein, 
wahrend  ein  Aufgebot  des  sachsischen  Heerbannes  fiLr  den  italie- 
nischen Feldzug  nicht  beabsichtigt  wurde.  In  Augsburg  sammelte 
sich  das  starke  Heer,  in  Verona  stiess  das  italienische  Aufgebot 
ram  Kaiser,    der  dann  in  Ravenna  das  Weihnachtsfest  verlebte. 
h  Unteritalien   hatten  inzwischen  die  Griechen  das  letzte  Boll- 
weii  des  apulischen  Aufetandes  zertrummert ;  Melus,  der  auf  die 
Inverletzlichkeit  des  papstlichen   Gebietes   gebaut,   musste  sich 
dem  Katepan  Bojoannes   ergeben   und   erlitt  am  15.  Juni  1021 
in  Bari  die  Strafe  der  Hochverrather.    „So  war  von  griechischer 
Seite  die  Offensive  ergriffen  und  das  papstliche  Gebiet  verletzt." 
Der  Feldzug  des  Kaisers  war  nicht  ohne  Erfolge,  doch  blieb  der 
eigentliche  Zweck  des  Kampfes,  der  Sturz  der  griechischen  Herr- 
sehaft  in   Unteritalien,   unerfiillt:   Heinrich   begniigte  sich,   die 
Autoritat   des    Eaiserthums    in    den   ihm   zustehenden   Gebieten 
wiederhergestellt  zu  haben,  und  wollte  sein  Heer  nicht  dem  ver- 
derblichen  Klima  aussetzen.    Die  langobardischen  Fiirstenthiimer 
waren  wieder  erobert  und  in  Handen  von  Personlichkeiten,    auf 
deren  Treue    der  Kaiser   zahlen   konnte;   Rom   war   gegen    die 
drohenden  Angriffe  der  Griechen  gesichert,    und   alien  weiteren 
Eroberungsplanen  des  Bojoannes  ein  fiir  allemal  ein  Riegel  vor- 
geschoben.     Eine   kurze  Rast  in   Rom  benutzte   Heinrich,    urn 
Benedicts   Ansehen   wieder  herzustellen ;  auch   scheint  hier  ein 
Umschwung   zu   Gunsten   des   Kaisers .  eingetreten  zu  sein.     Yon 
groester  Bedeutung  ist  dann  das  auf  dem  Ruckzuge  abgehaltene 
Concil  zu  Pavia,   welches  uns  die  kirchenreformatorischen  Plane 
der  Oberhaupter   der   Christenheit  enthiillt.     Wahrend  1019  zu 
Godar  bei   synodaler  Berathung  der  Frage,  „welchem  Stande 
Gattin  und  Kinder  eines  Horigen,  der  Geistlicher  geworden  und 
eine  Freie   geheirathet,    anzugehoren  batten,"    die  Priesterehe 
uberhaupt  nicht  als  anstossig  betrachtet  worden  war,  wurde  zu 
Pavia  Allen,   die   geistliche  Weihen  empfangen  haben,    bis  zum 
Sabdiaconu8  herab  jede  Gemeinschaft  mit  dem  weiblichen  Ge- 
achlecht  untersagt.     Dass  den  Kaiser  dabei  in  erster  Linie  der 
Wonsch   leitete,    der  Verarmung   namentlich   der  bischoflichen 
Kirchen  vorzubeugen,  ist  keine  Frage:  Benedict  fasste  die  Sache 
wohl  noch  otwas   tiefer  und  innerlicher  auf     Ob  Benedict  und 
Heinrich  den  Plan  einer  vollstandigen  Kirchenreform  gefasst,  ob 
«vor  aUem  die  Durchfiihrung  der  vollen  Herrschaft  des  Papstes 
iiber  die  Kirche  im  Sinne  der  pseudoisidorischen  Decretalen  das 
Endziel  der  kiihnen  Bestrebungen  des  Papstes  gewesen",  will  Br. 

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11 8      Hirsch,  Siegfr.,  Jahrbticher  des  Deutechen  Reiches  unter  Heinrich  H. 

nicht  entscheiden.     Damit  faasgt  aber  eigeutlich  wiser  Endurtheil 
iiber  Heinrichs  II.  Regierungsthatigkeit  zusammen.    Denn,  ist  der 
Kaiser  wirklich   im  Fahrwasser  der  papstlichen  Politik  geweeen 
oder   hat   er   freiwillig  zu  Gunsten  der  Reinheit  der  Kirche  auf 
die    Ausubung    seiner    weltlichen    Oberherrschaft  bei  Bischofe- 
wahlen  u.  s.  w.  zu  verzichten  auch  nur  im  Sinne  gehabt,  so  warn 
das  Urtheil  iiber  ihn  weit  ungtinstiger  ausfallen,   als  wenn  man 
ihn   so   im   allgemeinen   mit  kirchenreformatoriscben  Planen  be- 
sehaftigt  sein  lasst     Kann  man  dieee  Frage  wirklich  nicht  end* 
gultig  entscheiden,  so  lohnt  es  sich  denn  dooh,  mit  annahernder 
Gewissheit  das   eine   oder   das  andere  zu  erweisen.    Ueber  die 
chronologische   Bestimmung   der   Synode  von  Pavia  wird  in  Ex- 
curs  7  gehandelt.     Gegen  Giesebrecht,    der  dieselbe  vom  Jahre 
1022  in  das  Jahr  1018  verlegt,  ftihrt  Br.  aus,  dass  die  friihere 
Annahme   die  richtige  sei.    Durchschlagend  erscheint  dem  Ret 
von  Br.'s  Griinden  besonders  der  letzte:  Ginge   die  Synode  von 
Pavia  der  von  Goslar  (1019)  vorauf,  so  wiirde  man  zweifellos  in 
einigen   Punkten   auf  dort  gefasste  Beschliisse  verwiesen  haben; 
dagegen  war  die  Yersammlung  zu  Pavia  an  eine  BeriicksichtigUBg 
der  Goslarer  Provinzial-Synode  nicht  gebunden,  und  ist  mithia 
nicht  aujBTallig,   wenn  in  Pavia  von  den  Goslarer  Verhandlungen 
nicht   die   Rede   ist.    Nach  einer  dankenswerthen  Skizze  Aribos 
und  Pilgrims  wendet  sich  Br.  zu  der  Reform  in  Lothringen,  wo 
durch    den   heiligen   Richard   von   St.   Vannes   zu   Verdun  und 
den  hochgeboraen  Monch   Friedrich  olugniacensische  Ideen  den 
weitesten  Spielraum  erhalten.    In  das  Jahr  1022  fallt  auch  nocfc 
der  Gandersheimer  Streit,  in  dem  Aribo  von  Mainz  nachzugeben 
genothigt  wird.     Finden  wir   dann  den  Mainzer  KirchenffiirBteii 
mit  dem  Kaiser  auch  im  Einverstandniss,  wo  es  sich  von  neuem 
um  die  Sache  des  Grafen  Otto  von  Hammerstoin  handelt,  so  sehen 
wir  ihn  doch  in  einem  tiefinnerlichen  Zwiespalt  mit  den  kirchen- 
politischen  Ansichten  und  Absichten  seines  Herrn.    Aribo,  um  es 
kurz   zu   sagen,   ist  gegeniiber  den  universalistischen  Tendenzen 
des  Kaisers  der  Vertroter  einer  national-deutschen  Richtung:  er 
stellt  sich   dem  allgemeinen   Oberhaupt  der  Kirche  als  K&mpe 
der  Metropolitan-Autoritat  gegeniiber  und,  was  das  bedeutendste 
ist,   er  hat  dabei  die  deutschen  Bischofe  auf  seiner  Seito.    Die 
Darlegung  dieses  Verhaltnisses  ist  ein  hauptsachliches  Verdienst 
der  Arbeit  Br.'s  und   daran  wird   durch  unverstandige   Kritik 
nichts  geschmalert.    Es  liegt  ja  freilich  nahe,  in  unserer  kirchen- 
politisch  so  erregton  Zeit,   bei   einem   Historiker,   der  in  jenen 
Tagen  schon  Ansatze  zu  einer  Nationalkircho  zu  erkennen  glaubt, 
den  Einfluss   moderner  Anschauungen  und  Bestrebungen  zu  ver- 
muth en:   wenn  aber  Ref.   schon  im  Jahre  1865,  zu  einer  Zeit, 
da  der  Kampf  gegen  den  Ultramontanismus  ganz  fern  lag  und 
er   selbst,  den   Vorschrifton  der  diplomatischen  Schule  gemass, 
die    wesentliche  Yorstellung    histonscher  Thatsachen  aus   den 
Quellen  allein  zu  gewinnen  bemiiht  war,   iiber  Aribo  mid  die 
Bedeutung  des  Schgonstadter  Concils  genau  zu  ders elben  Ansicbt 

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Hirach,  Siegfir.,  Jahrbucher  dee  Deutschen  Reich es  unter  Heinrich  II.       119 

gelangte,  wie  jetzt  Br.,  so  wird  letzterem  ohne  Zweifel  mit  Un- 
recht  Schuld  gegeben,  er  habo  sich  durch  die  Gegonwart  den 
Blick  triiben  lassen.  Ueber  die  Synode  zu  Seligenstadt  handelt 
der  Excurs  9.  Hinsichtlich  der  Acta  liegen  zwei  Texto  von 
terschiedener  Ausdohnung  vor:  Br.  entscheidet  rich  fur  die  kiirzere 
Fassung  der  20  Canones,  auch  die  Vatik.  Handschrift  onthalt  nur 
diese.  Gegen  Hartzheim  und  Giesebrecht  —  denen  auch  Ref. 
Miner  Zeit  folgte  —  im  Eiuklange  mit  Gfrorer  und  Cohn,  setzt 
Br.  die  Synode  in  das  Jahr  1023  (statt  1022),  weil  von  den 
chronologischen  Angaben  auf  dasselbe  zwei,  die  Anzahl  der  Konigs- 
jahre  und  die  anni  incarnationis  treffen.  Abgesehen  davon  er- 
halten  die  Canones  16  und  18  ibre  eigenthiimlicho  Bedeutung 
nur,  wenn  man  sie  als  durch  die  kurz  vorher  erfolgte  Appellation 
Irmgards  vcranlasst  denkt.  Die  Verdammung  erfolgte  aber  un- 
bestreitbar  zu  Pfingsten  1023:  demgemass  ist  die  Synode  auf 
den  13.  August  1023  zu  setzen  —  was  Ref.  nunmehr  auch  ac- 
ceptirt.  „Das8  grade  im  August  1023  der  Kaiser  mit  den  lothrin- 
gischen  Bischofen  jene  Zusammenkunft  mit  Robert  von  Frank- 
reich  zu  Ivois  hatte,  wird  man  nicht  gegen  diese  Annahme 
geltend  machen  konnen;  eher  bestatigt  der  Umstand  dieselbe, 
dass  keiner  der  zu  Seligenstadt  anwesenden  Bischofe  zu  Ivois 
odor  in  don  nachsten  Tagen  nachher  in  des  Kaisers  Umgebung 
naehweisbar  ist."  Der  Papst  erkannte  Aribo  das  Pallium  ab 
—  eine  Strafe,  iiber  deren  Bedeutung  die  Meinungen  getheilt 
Bind  —  der  Mainzer  dagegen  berief  ein  Nationalconcil  auf  den 
13.  Mai  1024  nach  Hochst,  um  den'Schlag  abzuwehren:  aus 
einem  vertrauton  Brief  an  die  Kaiserin  Kunigunde  ersehen  wir, 
dass  Aribo  die  Sympathie  derselben  fiir  sich  und  seine  Sache 
zu  beritzen  gewiss  war.  Nun  ward  freilich  die  Versammlung 
kein  Concil  des  gesammten  deutschen  Episcopats,  aber  der 
Mainzer  Sprengel  war  fast  vollzahlig  vertreten  und  mit  einer 
bewnndernswerthen  Einmiithigkeit  senden  die  Versammelten  einen 
machtvollen  Brief  nach  Rom,  „einen  energischen  Protest  gegen 
die  beanspruchte  AUgewalt  des  Papstes".  Dem  letzteren  blieb 
es  erspart,  zu  diesen  Dingen  Stellung  zu  nehmen,  da  er  in  der 
letzten  Halfte  des  Mai  oder  der  ersten  des  Juni  verstarb.  (Den 
fiberlieferten  Todestag  (7.  April),  an  dem  schon  Giesebrecht  An- 
8to8s  genommen,  verwirft  Br.  mit  Recht.)  Heinrich  folgte  ihm 
bald.  Schon  im  Anfange  des  Jahres  hatte  er  Monate  lang  ge- 
krankelt ;  aus  dem  Marz  1024  stammt  ein  Edict  iiber  die  Streitig- 
keiten  der  Dienstmannen  von  Fulda  und  Hersfeld,  dem  Br.  wohl 
etwa8  zu  viel  Bedeutung  beilegt,  wenn  er  darin  „einen  Ansatz" 
zu  Landfriedensgesetzen  findet ;  die  letzte  italienische  Regierungs- 
handlung  des  Kaisers  ist  eine  Urkunde  fiir  Monte  Cassino  vom 
19.  April.  Vielleicht  beabsichtigte  er,  von  Goslar  in  Regierungs- 
geschaften  nach  dem  Westen  des  Reiches  zu  gehen,  als  ihn  ein 

neuer  Anfall  zu  Grona  auf  das  Krankenlager  warf.     „Hier 

«t  am  13.  Juli  1024  der  letzte  Sprosse  des  sachsischen  Kaiser- 
bauses  verschieden."    Der   Vcrf.   schliesst  seine  Darstellung  mit 


120  Matthai,  Georg,  Die  Klosterpolitik  Kaiser  Heinrichs  II. 

einem  Resume  tiber  Heinrichs  Charakter  und  Regierungsthatig- 
keit;  er  schliesst  sich  im  ganzen  Giesebrecht  an,  welcher  mit 
Recht  gegen  die  vorurtheilsvolle  einseitige  und  doctrinare  Auf- 
fassung  Heinrichs,  als  einer  willenlosen  monchischen  Natur, 
Widerspruch  erhoben  und  an  Stelle  der  Carricatur  das  getreue 
Bild  des  Herrschers  gesetzt  habe. 

Mit  Rucksicht  auf  die  kirchliche  Parteibildung ,  welche  sich 
gegen  Endo  der  Regierung  Heinrichs  H.  vollzog,  wird  dann  noch 
die  Frage,  ob  Conrad  H.  von  Heinrich  zum  Nachfolger  designirt 
worden,  in  Excurs  10  in  verneinendem  Sinne  entschieden.  Die 
Anhanger  des  Systems  von  Clugny  sind  die  Gegner  Conrads,  und 
obwohl  vier  Schriftsteller  spaterer  Zeit  die  designatio  berichten, 
kann  die  Nachricht  nicht  als  haJtbar  betrachtet  werden.  Wer 
freilich  Bresslau's  Auseinandersetzung  liber  diese  bereits  zu 
Heinrichs  n.  Zeit  vollzogene  Parteibildung  nicht  acceptirt,  wird 
sich  vielleicht  nicht  bewogen  fiihlen,  auch  in  diesem  Urtheil  ihm 
zu  folgen.  Endlich  werden  in  Excurs  11  einige  Bemerkungen 
iiber  die  Sagen  von  Heinrich  H.  gemacht  und  die  Tradition  in 
ihrer  genetischen  Entwioklung  gezeigt.  AUe  diese  Details  werden 
mit  grosser  Griindlichkeit  erortert  und  es  ist  nur  zu  wiinschen, 
dass  die  grade  auf  diesem  Gebiete  ziemlich  zahen  popularen 
Bearbeiter  deutscher  Geschichte  sich  einmal  die  Miihe  nehmen, 
zwischen  Historie  und  Sage  die  richtige  Grenze  zu  ziehen.  — 

Vieles,  was  sich  in  ein  pracises  Referat  nicht  einfugen  liess, 
musste  hier  iibergangen  werden ;  ist  auch  eine  eigentliche  Kritik 
von  diesen  Blattern  principiell  ausgeschlossen,  so  diirfen  wir  doch 
mit  unbedingtem  Lobe  unsern  Bericht  endigen. 
Berlin.  Willy  Boehm* 

XXVH. 
MatthSi,  Georg,  Die  Klosterpolitik  Kaiser  Heinrichs  II.    Ein 

Beitrag   zur  Geschichte  der  Reichsabteien.    Inaugural  -  Disser- 
tation.    Grunberg  i.  Schl.  1877. 

Die  Reichsabteien  standen  im  IX.  Jahrhundert  in  unbe- 
dingter  Abhangigkeit  von  der  Krongewalt;  im  X.  treten  die 
Eigenthumsrechte  der  Konige  mehr  und  mehr  zuriick,  so  dass 
nur  des  Konigs  Schutz  und  die  Immunitat  ihre  Eigenthiimlich- 
keiten  sind;  in  der  Mitte  des  XI.  Jahrhunderts  sind  sie  wieder 
in  die  alte  Abhangigkeit  zuriickgekehrt.  Auf  dem  Bundniss  mit 
den  geistlichen  Reichsfiirsten  beruhte  die  Macht  des  Konigthums. 
Gegen  das  Ende  der  Regierung  Kaiser  Ottos  HI.  begann  dieser 
Bund  sich  zu  lockern ;  diesen  drohenden  Bruch  hat  Kaiser  Hein- 
rich H.  durch  festes  Eingreifen  auf  Kosten  der  Reichskirchen, 
vor  Allem  der  Reichsabteien,  verhindert.  Die  vorliegende  Arbeit 
will  den  Nachweis  versuchen,  dass  Kaiser  Heinrich  H.  durch  ein 
systematisches  Vorgehen  die  Reichsabteien  in  ihrem  Streben 
nach  Selbstandigkeit  gehemmt  und  ihre  Entwicklung  in  wesent- 
lich  neue  Bahnen  geleitet  habe.    Um  die  Leistungsfahigkeit  des 

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Sebum,  Wilhelm,  Voratudion  fcur  Diplomatik  Kaiser  Lothars  in.     121 

Bostcrgutes  fur  den  Dienst  dcs  Reichs  zu  steigern,  traf  Heinrich 
erstens  Massregeln  gcgen  die  Wahlfreiheit  der  Congregationen  und 
gegen  die  immune  SteUung  des  monchischen  Pfriindongutes.  Hierbei 
gieng  er  jedoch  nicht  mit  einer  allgemeinen  reformatorischen 
Massregel  vor,  sondern  wartete  bei  jeder  einzelnen  Rcichsabtei 
auf  einen  geeigneten  Zeitpunkt ;  nach  einander  wurden  Hersfeld, 
Reichenau,  Fulda,  Corvei,  Stablo,  S.  Maximin  von  der  Reform 
botroffen.  Zweitens  vereinigte  Heinrich  mehrere  Abteien  unter 
eine  Hand ,  urn  auch  hierdurch  dem  Reiche ,  wenn  auch  nur  in- 
direkt,  einen  Vortheil  zu  verschafFen.  Auf  diese  Weise  horten 
17  Abteien,  meist  kleinere  Kirchen,  „verrottete  Flecken,"  auf  zu 
existieren.  Letzteren  Gedanken  hat  namentlich  Konrad  IL  weiter 
entwickelt.  —  Excurs  I.  behandelt  die  Klostermatrikel  von  817; 
IL  den  Aufgebotsbrief  Ottos  II. ;  III.  das  Verzeichnis  der  konigl. 
Ptoervitien  bei  Bohmer  f.  III.  p.  397  f. 
Magdeburg.  Chr.  Volkmar. 

XXVIII. 

Schom,  Wilhelm,  Vorstudfen  zur  Diplomatik  Kaiser  Lothars  III. 

gr.   8.    (36    S.)     Halle    1874.     Buchhandlung    des    Waiscn- 

hanses.  1,50  M. 
Der  Verfasser,  welcher  die  Urkunden  Lothars  in  einem 
groeseren  Werke  zu  behandeln  beabsichtigt ,  bietet  in  der  vor- 
liegenden  Schrift  ein  Beispiel  der  Art  und  Weise,  in  welcher  er 
die  Untersuchung  zu  fuhren  gedenkt.  Aus  den  Diplomen  Lothars 
hat  er  ungefahr  25  ausgewahlt,  deren  Fassung  in  irgend  welcher 
Beaehung  Bedenken  erregt,  urn  sich  entweder  fur  ihre  Echtheit 
oder  Unechtheit  zu  entscheiden,  oder  endlich  auch  das  Urtheil 
fiber  sie  furs  Erste  in  der  Schwebe  zu  lassen.  Die  Priifung  der 
einzelnen  Stiicke  ist  mit  grosser  Sorgfalt  und  Sachkenntniss  ge- 
ffihrt,  so  dass  man  den  Ergebnissen  in  den  meisten  Punkten 
seine  Zustimmung  nicht  versagen  kann.  Er  beginnt  die  Reiho 
ait  St  3361,  die  auffallender  Weise  von  Stumpf  nicht  beanstandet 
^  obwohl  bereits  Lupus  Cod.  Dipl.  Berg.  I,  721  f.  sie  Lothar  I. 
zuschrieb.  Schum  verstarkt  noch  die  Griinde  fur  diese  Annahme. 
Aoaser  dieser  erklart  er  noch  eine  Anzahl  anderor  Urkunden,  die 
Stumpf  unangetastet  lasst,  fur  unecht.  So  die  beiden  Fuldaer 
Kplome  St.  3250  und  3301  (S.  18—24)  und  eine  Priifeninger 
St.  3247  (S.  25) ,  wahrend  er  wieder  andere ,  die  von  Stumpf 
verdachtigt  sind,  wie  St.  3258  und  3358,  glaubt  in  Schutz  nehmen 
zu  mii88en.  In  Betreff  des  Ersteren  sind  indess  die  Deductionen 
des  Ver&ssers  nicht  zwingend.  Eine  Anzahl  Schweizer  Urkunden 
St  3230,  3308,  3309,  3359  bemuht  sich  der  Verfasser  gegen 
Hidber's  Zweifel  zu  rechtfertigen.  Den  Schluss  bilden  Be- 
merkungen  iiber  zwei  italienische  Diplome,   St.  3270  und  3349. 

Berlin.  Wilhelm  Bernhardi. 


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122    Detloff,  Dr.  Rob.,  Der  erste  Eomerzug  etc.  Harttung,  Jul.,  Norwegen  etc 

XXIX. 
Detlof,  Dr.  Robert,  Der  erste  RSmerzug  Kaiser  Frfedrichs  I. 

1154,   1155.    Ein  Beitrag   zur  Reichsgeschichte.    8.   Gottingen 

1877,  R.  Peppmiiller.     1,60  M. 
Diese  Abhandlung,   die   sich  durchweg  auf  die  fur  die  Ge-    ! 
schichte  Friedrichs  L  wichtigen  Quellen  stiitzt,   weicht  von  den    j 
bereits  bekannten  Darstellungen  im  Wesentlichen  nicht  ab.  Diese    J 
und  jene   kleine  Frage   ist  vielleicht  vollstandiger  mid  genauer    j 
beantwortet.     So   folgert  z.  B.   der  Verfasser  (S.  5)  aus  dem 
Schweigen  Ottos  von  Freisingen  und  aus  einer  kurzen  Nachricht    j 
der  Annales  Laubienses,  dass  der  Zug  Friedrichs  in  das  burgun-    1 
dische    Reich    1153    missgliickt   sei.    Auf  S.  10   lasst  dor  Verf.    \ 
Friedrich  vom  Lechfelde  aus  iiber  Peiting,   Ammergau,  Parten-    | 
kirchen,  Mittenwald  und  den  Scharnitzpass  das  Innthal  erreichen. 
Auf  S.  18  wird  Casale   (Stumpf ,   Die  Reichskanzler  3703)  nicht 
fur  Casale  am  Po,  sondern  fur  tien  Flecken  Casale  zwischen    I 
Cigliano  und  Caluso,  in  der  Nahe  der  Dora  BaJtea  erklart.  Nach    : 
S.  24  ist   Tortona  „wahrscheinlich"  am  46.  April  eingenommen    ) 
S.  26  f.  wird  eine  wiederholte  Gesandtschaft  Anselms  von  Havel-    j 
berg  nach  Griechenland ,  nemlich  1153  und  1154,  angenommen. 
Nach   S.  38  ist  fur  die  Hinrichtung  Arnolds  von  Brescia  gleich 
nach  seiner  Ergreifung  wenig  Wahrscheinlichkeit  vorhanden.  Als 
Griinde  fur   die   Unterlassung   des   Zuges  nach  Apulien  werden 
(S.  43)   ausser  dem  Widerstreben   der  Fiirsten  und  der  Krauk- 
heits-  und  Sterbefalle  im  Heere  noch  angegcben  „die  sich  immer 
machtiger  erhebende   Feindschaft   in   der  Lombardei"  und  „die 
Vorgange    in   Deutschland"    —  Der  Abhandlung   sind  drei  Ex- 
kurse  beigefugt.    In   dem  ersten  derselben  wird  gohandolt  iiber 
Stumpf,  Die  Reichskanzler  3649,   3665  und  3666,  3705,  3715, 
3713,  3709.  —  Exkurs  II.  setzt  die  Abfassungszeit  der  Griindungs- 
geschichte  von  Ebrach  in  Franken  zwischen  1161  und  1167.  — 
Exkurs  III.  giebt  einige  Bemerkungen  iiber  die  aus  dem  Kloster 
Ottenbeuren  stammenden  Geschichtsquellen.     Sickel  hat  nemlich 
die   altesten  Urkunden   in   der  Klostergeschichte  fur  spuria  er- 
klart,   und  der  Verf.  dehnt  dies  Urtheil  auch  auf  die  folgenden 
Diplome   bis   zum  Endo   des   12.  Jahrhunderts   aus;    die   uber- 
lieferte  Form   der  Diplome  sei  als  triigerisch  und  gefalscht  zu 
verwerfen. 

Magdeburg.  Chr.  Volkmar. 

XXX. 
Harttuna ,  Julius ,  Norwegen  und  die  deutschen  Seestftdte  bis 
zum  Schiusse  des  dreizebnten  Jahrhunderts.  8.  Berlin.  1877. 
Wilhelm  Hertz.    3  M. 

Harttung'8  Schrift  ist  eine  Frucht  des  hansischon  Urkunden- 
buches.  Ihr  Werth  ist  besonders  darin  zu  suchen,  dass  Harttomg 
zum  ersten  Male  zeigt,  wie  die  Geschichte  des  kleinen  lose 
gefugten  Bundcs  der  wendischen  Seestadte  zu  der  des  Nordeus 


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HarttoDg,  Julius,  Norwegen  und  die  deutechen  Seestadte  etc.       123 

aotcbwillt  and  wie  sioh  die  Rechte  des  deutechen  Kaufinannes  in 
Norwegen  entwickelt  haben.  Si©  fusst  hauptsachlioh  auf  der  Ge- 
•chichte  Norwegens  und  legt  die  innern  Beziehungen  dieses  und 
der  andern  nordiachen  Reiche  zu  jener  Organisation  der  deutr 
scken  Seestadte  dar,  sie  ist  deshalb  fur  den  hansischon  wie  fur  den 
nardischen  Forscher  gleich  worthvoll.  Es  ist  nieht  unsre  Sache, 
bier  auf  Einzelnes  einzugehen ,  iiber  das  man  mit  dem  Verf. 
rechten  konnte;  ioh  beschranke  mich  darauf,  kurz  den  Inhalt 
der  Sehrift  wiederzugeben. 

In  knappen  Ziigen  schildert  der  Verf.  zuerst  Land  und  Volk 
von  Norwegen ,  seine  Producte  und  die  Yikingerziige  mit  ihren 
Folgen.  Unter  diese  gehort  die  Ankniipfang  yon  Handels- 
baaehiingen  besonders  mit  England  und  Danemark.  Im  9.  Jahr- 
hmdert  scheint  Skiringssai  am  Skager  Rak  der  erste  nennens- 
werfche  Handelsplatz  gowesen  zu  sein,  seit  dem  10.  kam  Tuns* 
berg  aaf.  England  brachte  Norwegen  das  Christontbum ,  Kauf- 
mann  und  Priester  gingen  auch  hier  zusammen.  Dem  Namen 
flack  gehorte  Norwegen  zum  Erzbisthum  Hamburg-Bremen,  den 
Hanpteinfluss  iibte  aber  England  aus,  wie  dies  unter  anderem  auch 
der  englisch-normannische  Stil  der  norwegisehen  Kirchen  zeigt, 
von  denen  nur  die  an  deutsche  spatromanische  Bauart  erinnernde 
zu  Drontheim  eine  Ausnahme  macht.  Mit  der  Grundung  der 
Stadte  Skiringssai,  Tunsberg,  Nidaros  (Drontheim),  der  Fesiuiig 
Borg,  Oslo  (an  der  Stelle  des  heutigen  Christiania),  Kongahella, 
Bergen  (aus  dem  friiheren  Konigshofe  AaJreksstadt)  andert  sioh 
jedoch  dies  Verhaltniss.  Bergen  im  eigentlichen  Mittelpunkte 
des  Reiche  gelegen  ward  Hauptstadt,  Kronungsort,  Bischofssitz, 
Hsupthandelsplatz  und  geradezu  Welthafen,  welcher  Fisohe,  Pelze, 
Felle,  Daunen,  Holz-  und  Fettwaaren  aus-  und  Getreide,  Ge- 
Wake,  namentlich  Bier  und  Wein,  und  Industrieproduote  ein- 
fohrto.  Den  Umsatz  vollfuhrten  meist  Inlander.  1217  schloss 
Baton  mit  Heinrich  III.  von  England  den  ersten  Handelstractat, 
der  den  beiderseitigen  Unterthanen  freien  Handel  in  beiden 
Uodern  gestattete.  Deutsche  Kaufleuto  treten  zuerst  unter 
Koaig  Sverrir  in  grosserer  Anzahl  auf.  Da  ihre  Waaren  fur 
^LandnothwendigesBediirfhiss  wurden,  verstanden  es  dieselben, 
bald  ein  Recht  nach  dem  andern  zu  erwerben.  Bremen  und 
Hamburg  waren  die  ersten  deutschen  Stadte,  welche  mit  Nor- 
ton in  Verbindung  traton,  ersteres  besonders  wegen  des 
Heringsfanges.  Auch  Hollands  Handel  mit  Norwegen  ist  alt. 
flmen  folgten  bald  die  Ostseestadte  nach,  alien  voran  Wisby, 
die  Zwischenstation  fur  die  Waaren  nach  Curland,  Livland,  Est- 
•and  und  Nowgorod,  dann  Liibeck,  Wisbys  liberlegener  Rival, 
Beitdem  es  reichstwmittelbar  geworden  und  das  danische  Joch  abge- 
schuttelt  batte,  Rostock,  Groifswald.  Urn  die  Mitte  des  13.  Jahr- 
taroderts  stand  der  Handel  mit  Norwegen  in  voller  Blttthe,  doch  fallt 
gerade  auch  in  diese  Zeit  die  erste  Verwicklung  zwischen  demselben 
und  den  Deutschen,  1247,  die  1250  damit  endigte,  dass  Liibeck 
von  Hakon  grosso  Fr&hfeiten   erhielt.     Trotzdem  war  aber  der 

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124       Harttung,  Julius,  Norwegen  und  die  deatachon  Scest&dto  etc 

deutsche  Kaufmann  in  Norwegen  mehr  beeintrachtigt  als  sonstwo; 
denn  er  durfte  dort  weder  nach  eigenem  Rechte  leben,  nodi 
nordlich  von  Bergen  fahren,  noch  des  Winters  Handel  treiben. 
Letzteres  Yerbot  war  demselben  besonders  hinderlich  und  musste 
selbstverstandlich  zu  Uebertretungen  reizen.  Bisher  hatte  Nor- 
wegen nicht  mit  dem  deutschen  Reiche  pactirt,  sondem  immer 
nur  einzelnen  Stadten  Privilegien  verliehen.  Dies  lag  an  den 
damaligen  ungiinstigen  Verhaltnissen  des  Reichs,  es  war  die  Zeit 
des  unseligen  Zwischenreichs.  Liibeck,  die  stolze  Stadt  an  der 
Trave,  benutzte  diesen  giinstigen  Umstand;  seine  vorzugliche  Lage 
hatte  es  bald  in  raschen  Aufsohwung  gebracht,  vielen  Nachbar- 
stadten  hatte  es  sein  Recht  aufgedrangt,  es  ward  die  Fiihrerin 
einer  Confederation,  zu  welcher  Wismar,  Rostock,  Wolgast,  Stral- 
sund,  Greifewald  und  die  iibrigen  wendischen  Stadte  gehorten. 
Liibecks  handelspolitischer  Energie  verdankte  dieselbe  1278  em 
Privileg  von  Erich  von  Danemark  und  eins  von  Magfius  von  Nor- 
wegen, beide  gemeingiiltig  fur  den  deutschen  Kaufmann  und  von 
besonderer  Wichtigkeit,  weil  durch  dieselben  den  Deutschen  eme 
Sonderstellung  gewahrt  ward  und  andrerseits  daraus  erhellt, 
wie  machtig  schon  der  Bund  im  Auslande  war.  Was  dem  Bunde 
verbrieft  war,  liess  sich  Bremen  1279  allein  ertheilen ;  dies  deutet 
schon  auf  eine  eigenartige  Stellung  Bremens  hin  und  ist  das 
Vorspiel  zu  seinem  demnachst  eintretenden  Yerhalten. 

Unter  Magnus  Erlmgsson  war  Norwegen  geradezu  Lehens- 
staat  der  Kirche  geworden  (of.  das  interessante  Werk  von  Zorn: 
Staat  und  Kirche  von  Norwegen).  Nach  einer  Zeit  der  Reaction 
dawider  gab  ihr  Magnus  Lagabatter  durch  zwei  Concordate  die 
Souveranetat  in  alien  sie  betreffenden  Dingen,  wahrend  er  ant 
der  andern  Seite  die  weltlichen  Grossen  in  Abhangigkeit  zn 
bringen  suchte.  Erich  der  Priesterfeind  dagegen  warf  der  hohen 
Geistlichkeit ,  dem  danischen  Reiche  und  den  deutschen  Eanf- 
leuten  den  Fehdehandschuh  hin;  unter  ihm  siegte  der  Staat, 
1287  unterwarf  sich  die  Kirche,  ohne  class  sich  der  Pabst  an 
diesen  Streitigkeiten  betheiligt  hatte  (weil  er  den  Verlust  dee 
Saladinszehntens  und  des  Peterspfennigs  befiirchtete).  Diese  Ver- 
haltnisse  batten  den  Staat  gewaltig  erschuttert,  und  die  alten 
Leidenschaften  der  Normannen,  kaum  gebandigt,  brachen  wieder 
hervor.  Norwegen  erdflhete  durch  das  Edict  vom  16.  September 
1282  einen  Sturm  gegen  die  deutschen  Kaufleute.  Liibeck  und 
Wisby  hatten  in  Voraussicht  dessen  ein  Bundniss  zu  gegen- 
seitigem  Schutze  auf  der  Ostsee  fur  jeden  deutschen  Kaufinton 
geschlossen  und  zu  Danemark,  das  damals  der  Feind  Norwegens 
war,  die  besten  Beziehungen  unterhalten.  Allein  auf  die  Dauer 
konnte  dies  Yerhaltniss  Danemarks  zu  seinem  natiirlichen  Bundes- 
genossen  Norwegen  nicht  fortbestehen.  Die  Liibecker  dehnten 
deshalb  den  Befnedungsbund  auch  auf  Riga  aus  und  gaben  ihrer 
Politik  eine  neue  Wendung.  Es  ward  die  bekannte  pommerisch- 
brandenburgische  Fehde,  welche  die  Ostseestadte  in  Mitleiden- 
schaft  gezogen  und  bedroht  hatte,  durch  den  lOjahrigen  Rostocker 

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Harttung,  Julius,  Norwegen  und  dio  deutschen  Seestadte  etc.       125 

Landfrieden  1283   zwischen   dem  Herzoge  von  Sachsen  und  den 

ihm  verwandten  Fiirsten  der  wendischen  Ostseegebiete  einerseits, 

andrerseits  Liibeck,   Wismar,   Rostock,    Stralsund,    Greifswald, 

Stettin,  Demmin,   Anklam,  denen  sich  bald  noch  mehr  Fiirsten 

anschlossen,   zu   Gunsten   der   Stadte    beendet.     Ein   Sieg   der 

Stadte  iiber  die  Fiirsten !     So  war  Liibeck  das  Bindeglied  zweier 

Vereinigungen   geworden,    des   Rostocker'  und   des  Seefriedens- 

biindnisses,  seine  Stellung  wurde  immer  macbtiger,  seine  Bedeutung 

wucbs  je   mehr    und    mehr.      (Die    Ansicht    Nitzsch's,    Preuss. 

Jahrb.  XXXV,  116,  dass  Liibeck  mit  einem  Schlage  das  deutsche 

Fiintenthum  hatte  matt  setzen  wollen  und  andrerseits  den  Fiirsten 

die  einzige,  abcr  auch  vollkommen  zuverlassige  Hilfe  hatte  bieten 

kotmen,  bestreitet  Harttung ;  ihm  liegt  die  Grosse  Liibecks  nicht 

in  seinem  Auftreten  als  freie  Reichsstadt,  sondern  in  seinem  Auf- 

gelen  in  dem  Stadtebunde.)   Dem  gegeniiber  gewann  Brandenburg 

die  alte  Verbiindete  Liibecks,  Hamburg ,  fur  sich ,  ein  deutliches 

Zeichen,  wie  locker  damals  noch  die  Stadteeinungen  waren.   Kurz 

darauf  schloss  Liibeck  mit  Erich  Glipping  von  Danemark  einen 

Sektzvertrag  auf  3  Jahre,  dessen  Spitze  sich  gegen  Brandenburg 

kehrte.    Liibecks   Bemiihungen  gelang  es  endlich,   zwischen  den 

Verbiindeten  und  den  Brandenburgern  den  Frieden  von  Vierraden 

1284  zu  Stande  zu  bringen ,   aus   welchem  wiederum  die  Stadte 

den  einzigen  Vortheil  zogen. 

Wahrend  also  auf  diesem  Gebiete  die  deutschen  Kaufleute 
gliicklich  operirt  hatten,  gestalteten  sich  dagegen  die  Verhalt- 
nisse  in  Norwegen  drohender  fiir  sie.  Sie  hatten  namlich  viel- 
feche  Bedriickungen  und  Benachtheiligungen  zu  erdulden.  Ob- 
gleioh  sie  sich  dagegen  gewehrt  hatten  und  Erich  Priesterfeind 
deshalb  in  seinem  Verfahren  eingelenkt  hatte,  brachen  doch  die 
Norweger  von  Neuem  wider  die  Deutschen  los,  alien  voran  Alf 
Eriingason,  der  Urtypus  eines  norwegischen  Freiherrn.  Die  von 
iim  auch  an  den  danischen  Kiisten  ausgefiihrten  Pliinderungen 
tetrachtet  Harttung  wegen  Alfs  Stellung  zur  Konigin  Mutter  als 
emen  officiosen  Krieg  Norwegens  gegen  Danemark ,  urn  dasselbe 
den  norwegischen  Forderungen  in  Bezug  auf  die  Ingeborgsche 
Brbgchaftsfrage  geneigt  zu  machen.  Wollte  sich  Danemark  nicht 
%en,  so  musste  es  sich  an  den  lubischen  Bund  anlehnen.  Dies 
geschah  November  1284.  Und  nun  verhing  die  erste  Versamm- 
long  degselben  zu  Wismar  die  Handelssperre  gegen  Norwegen, 
iun-68  auszuhungern,  die  zweite  schloss  Bremen,  weil  es  sich  von 
den  Verbiindeten  losgesagt,  vom  Handelsverkehr  mit  ihnen  aus, 
das  alteste  Denkmal  der  lubisch-bremischen  Eifersucht.  Edward 
Ton  England,  von  beiden  Seiten  umbuhlt,  blieb  vor  der  Hand 
neutral.  Nachdem  die  Verbiindeten  vergeblicb  versucht  hatten, 
Schweden  auf  ihre  Seite  zu  ziehen,  beschlossen  sie  1285,  kriegs- 
geriistete  Schiffe  gegen  Norwegen,  dessen  einziger  Bundesgenosso 
Bremen  war,  auszusenden.  Jedoch  erwies  sich  der  Bund  im 
Augenblicke  der  Entscheidung  ohne  alle  Wirkungskraft,  weil  dio 
Sonderinteressen  der  einzelnen  Glieder  das  allgemeine  iiberwogen. 

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126       Harttwig,  Julias,  Norwegen  and  die  deutschen  Seest&dte  etc. 

Hamburg  und  Danemark  betheiligten  sioh  nicht  am  Kampfe,  in 
Mecklenburg  entzweite  eine  Fehde  die  Fiirsten,  mit  einem  Worte, 
der  Landfriedensbund   war  zersprengi    Trotzdem  begannen  die 
Stadte  den  Karopfi  der  wesentlich  defenaiver  Natur  sich  auf  Ab- 
schneidung  der  Zufahr  beschrankte;  ja  es  ist  nicht  einmal  klar, 
ob  man  in  Norwegen  officiell  einen  Krieg  anerkannt  hat.    Wegen 
der  Luge  der  Dinge  in  Danemark  griff  man  jetzt  in  Norwegen  zu  einer 
ganz  neuen  Politik,  man  suchte  sich  mit  den  2  andern  nordischen 
Maehten  gegen  die  Stadte  zu  verbinden.   Diesen  PlaSi  vernichtete 
jedoch  der  Bund,  indem  er  Magnus  Yon  Schweden  urn  Vermitt- 
lung  des  Friedens  bat;  dasselbe  that  auch  Danemark,  wahr- 
scheinlich   auf  Veranlassung  des  Bundes.     Zu  Gullberg  fanden 
daraufhin  die  Praliminarverhandlungen  statt,  der  Definitivfriede 
ward  in  Kalmar  abgegchlossen,  jedoch  nicht  mit  dem  Bunde  ab 
goichem,   sondern  mit   den  einzelnen   Stadten.     Um  mit  in  den 
Friedensschluss  aufgenommen  zu  werden,  traten  die  westfalischen 
Hud   hollandischen   Stadte   mit  dem  Bunde  in  Verbindung.    Die 
Freiheiten   des  deutschen   Kaufmannes   wurderi  durch  denselben 
wesentlich  auf  den  status  quo  ante  zuruokgefiihrt;  der  Auffassung 
der  Deutschen  aber,  dass  sie  auch  iiber  Bergen  hinaus  nordwarts 
und  auoh  im  Winter  Handel  treiben  diirften,   sollte  bald  von 
Norwegen  aus  begegnet  werden.    Erich  Glipping ,  der  weder  an 
den  Praliminarien  noch  an  dem  Vertrage  theilgenommen  hatte, 
stand  noch  immer  in  feindlichem  Verhaltnisse  zu  Norwegen,  seine 
Ennordung,  welche  unter  heimlicher  Mitwissenschaft  Erichs  von 
Norwegen  geschehen  zu  sein  scheint,   fuhrte  eine  vollige  Umge- 
staltung   der  Dinge  herbei.     AUes  hing  yon  der  Haltung  der 
Stadte  ab,  sie  begannen  eiligst  Unterhandlungen  mit  Erich  Men- 
ved  iiber  die  schwebenden  Streitfragen,  und  so  ward  Danemark 
trotz  der  Machinationen  der   Grossen  und  der  Norweger  nicht 
aus  den  Fugen  gesprengt.    Die  Streitfrage  iiber  die  Entschadigung 
einiger  Stadte  yon  Seiten  Norwegens  ward  auf  2  Tagen  zu  Tans- 
berg  giitlich  im  Interesse  ersterer  beigelegt.    Doch  gestalteten 
sich  die  Beziehungen  zwischen  Norwegen  und  den  deutschen  See* 
st&dten  nicht  inniger,  die  norwegische  Seerauberei  flammte  aber* 
mals  empor;  nur*  Bremen   erhielt   1292   neue  Vergiinstigungen, 
einerseits  zum  Dank  fur  sein  Yerhalten  im  Seekriege,  andrerseits 
um  es  in  den  Irrungen,  welche  zwischen  Norwegen  und  Kampen, 
Stavern   und  den   wendischen   Seestadten  von  neuem  schwebten, 
auf  seiner  Seite  zu  haben.    Diese  wurden  aber  1294  zu  Tuns- 
berg  beigelegt    Das   $esultat  dieser  Yerhandlungen  bildete  die 
Grundlage    des   zukiinftigen   Verkehrs  sowol  zwischen  Norwegen 
und  Deutschland  als  zwischen  Bremen  und  den  Seestadten;  den 
letzteren  wurden  so  weitgreifende  Privilegien  verliehen,  dass  sie  den 
norwegischen  Handler  im  Laufe  der  Zeit  erdriicken  mussten.    Von 
jetzt  ab  sind  in  Bergen  Fremde  und  Einheimische  gleich  behan- 
delt,  beide  leben  friedlich  nebeneinander.     1296  bewilligte  Erich 
Hamburg  dieselben  und  noch  grossere  Vortheile.    Das  Verbalt- 
niss  Hamburgs  zu  Bremen  blieb  aber  trotzdem  freundlich,   hin- 

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Herquet,  Karl,  Juan  Fernandez  de  Horedia  etc.  127 

gegen  zu  den  iibrigen  Seestadten  ward  es  sehr  kiihl.  1298  end- 
Uch  trog  Erich  den  Stadten  seine  Schuld  ab.  Nach  dessen  Tode 
1299  lebte  sein  Nachfolger  Hakon  zwar  Anfangs  mit  den  See- 
stadten in  Freundschaft ,  ihren  Handel  jedoch  und  ihren  Ueber- 
muth  suchte  er  moglichst  niederzudriicken ,  je  mehr  beide  zu- 
nahmen.  1315  namlich  setzte  er  einen  specialisirten  Zolltarif 
far  Ausfuhrwaaren  fest  und  stellte  zugleioh  die  Deutschen  mit 
alien  iibrigen  Fremden  auf  eine  Linie.  Das  hiess  den  deutschen 
Handel  vernichten.  Wahrend  die  Deutschen  friiher  energisch  zu 
den  Waffen  gegriffen ,  thaten  sie  jetzt  nichts  dagegen,  sie  ver- 
liessen  sich  auf  die  Zeit  und  auf  ihre  Unentbehrlichkeit.  Und 
in  der  That,  1317  hob  Hakon  seine  Verordnung  wieder  auf*  Im 
2.  Jahrzehnt  des  14.  Jahrhunderts  rerschwindet  die  gemeinsame 
stadtische  Politik,  eine  Periode  der  Abspannung  folgt  sowol  in 
Beutschland,  wie  im  skandinavischen  Norden.  Um  die  Mitte  des 
14  Jahrhunderts  jedoch  arbeitet  sich  der  Bund  der  Seestadte 
wieder  hervor  und  zwar  als  „deutsche  Hanse",  und  um  dieselbe 
Zeit  entstand  in  Bergen  das  sogenannte  Contor,  welches  nach 
and  nach  das  ganze  commercielle  Lebon  Norwegens  in  seine 
Kreiae  zog. 

In  einem  Anhange  theilt  Harttung  2  Urkunden  mit,  die  von 
dem  Herausgeber  des  hansischen  Urkundenbuches  ubersehen  sind, 
und  Nachtrage  fur  Band  I.  desselben. 
Plauen  i.  VogtL  Dr.  William  Fischer. 


XXXI. 
Herquet,  Karl,  Juan  Fernandez  de  Heredia,  Grossmeister  des 

Johanniterordens.    (1377—1396.)     gr.  8.     (VIII,    118  S.) 

Miihlhausen  i.  Th.  1878.  Adolf  Foerster.  3  M. 
Juan  Fernandez  de  Heredia,  der  spate  re  Grossmeister  des 
Johanniterordens,  dessen  Geschichte  in  der  vorliegenden  Schrift 
zwa  ersten  Mai  im  Zusammenhange  auf  Grund  ausgedehnter 
Qudlenstudien  dargestellt  wird,  war  der  jiingere  Sohn  einer  vor- 
nehoen  aragonischen  Familie  und  ist  um  das  Jahr  1310  geboren 
wrden.  1332  ging  er  nach  Rhodus  Und  wurde  Johanniterritter, 
er  kehrte  aber  bald  nach  seinem  Heimatlande  zurttck,  in  welchem 
der  Orden  reich  begiitert  war,  wurde  dort  zunachst  Inhaber 
zweier  Comraenden,  erhielt  danu  c.  1344  die  Castellanei  von  Am- 
posta  und  damit  das  Ordenspriorat  in  Catalonien.  Er  hat  hier 
in  der  Heimat  bald  eine  bedeutende  Rolle  gespielt ,  er  kam  an 
den  Hof  Konig  Peter  IV.  von  Aragonien ,  erscheint  schon  1339 
ftls  dessen  rertrauter  Rathgeber  und  wurde  1347  Kanzler  von 
Aragon.  Er  hat  dann  als  treuer  Anhanger  des  Konigs  Theil 
genommen  an  den  Handeln  und  Kampfen,  in  welche  derselbe 
nut  seinen  jiingeren  Briidern  und  mit  einem  Theile  des  Adels  und 
tier  Stadte  seines  Landes,  welche  sich  gegen  ihn  zu  einer  Union 
weinigten,  gerieth,  welche  schliesslich  aber  1348  mit  der  Unter- 
driickung  des  Aufstandes  endigten.     Zugleich  ist  er  auch  in  ein 

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128  Herquet,.Karl,  Juan  Fernandez  de  Heredia  etc. 

naheres  Verhaltniss  zu  der  papstlichen  Curie  getreten,  1345  ging 
er  nach  Avignon,  nahm  dann  an  dem  zwischen  Frankreich 
und  England  ausgebrochenen  Kriego,  und  zwar  auf  franzosischer 
Seite  Theil,  auch  bei  Crecy  scheint  er  zugegen  gewesen  zu  sein. 
1353  finden  wir  Heredia,  wahrscheinlich  in  Angelegenheiten  des 
Ordens,  in  Patras,  dann  wieder  in  Avignon,  und  zwar  hier  schon 
in  hoher  Gunst  bei  Papst  Innocenz  VI.,  derselbe  iibertrug  ihm 
ganz  widerrechtlich  und  trotz  der  Gegenbemuhungen  des  Gross- 
meisters  aucb  das  reiche  Ordenspriorat  von  St.  Gillers;  Heredia 
ferner  ist  wahrscheinlich  der  eigentliche  Urheber  des  Planes 
gewesen,  welchen  der  Papst  damals  verfolgt  hat,  dem  Orden  zur 
Erwerbung  des  so  gut  wie  herrenlosen  und  tief  zerriitteten 
Furstenthums  Achaja  zu  verhelfen.  1356  nahm  Heredia  an  der 
Gesandtschaft  Theil,  welche  der  Papst  unter  dem  Cardinal 
Talleyrand  zur  Vermittlung  des  Friedens  zwischen  Frankreich 
und  England  aussandte,  dieselbe  hatte  keinen  Erfolg,  Heredia 
aber  blieb  in  dem  franzosischen  Lager  und  kampfte  ganz  wider- 
rechtlich auch  in  der  Sohlacht  bei  Mauportuis  mit.  Er  wurde 
dort  gefengen,  der  erziirnte  Schwarze  Prinz  wollte  ihn  anfanglich 
hinrichten  lassen,  verschonte  ihn  aber  doch  in  Folge  einfluss- 
reicher  Verwendung  und  Heredia  wurde  dann  ausgelost.  Er 
blieb  in  Avignon  und  die  Gunst  des  Papstes  schiitzte  ihn  auch 
gegen  die  Ordensregierung,  welche  ihn  wegen  veruntreuter  Gelder 
zur  Rechenschaft  zu  ziehen  suchte.  Von  1357—1373  ist  Heredia 
meist  in  Spanien  gewesen  und  hat  dort  wieder  in  hervorragender 
Weise  Theil  genommen  zunachst  an  den  Kampfen  zwischen  Peter 
von  Aragonien  und  Peter  dem  Grausamen  von  Castilien,  dann 
an  dem  in  Castilien  selbst  zwischen  diesem  Konige  und  dessen 
Halbbruder  Heinrich  von  Trastamara  ausbreohenden  Kriege, 
welcher  nach  mannichfaltigen  Wechselfallen  und  nachdem  von  der 
einen  Seite  Bertrand  du  Gnesclin  mit  seinen  franzosischen 
Soldnercompagnien ,  von  der  anderen  Seite  der  Schwarze  Prinz 
daran  Theil  genommen  hatten,  endlich  mit  dem  Untergange 
Peters  (1369)  und  dem  Abschluss  des  Friedens  zwischen  Heinrich 
und  dem  Konige  Peter  von  Aragonien  (1375)  endigte.  Zwischen- 
ein  war  1360  Heredia  von  dem  Papste  nach  Avignon  gerufen 
worden,  um  diese  Stadt  gegen  die  sie  bedrohenden  Soldner- 
compagnien zu  schiitzen,  auch  1373  kehrte  er  dorthin  zuriick, 
prasidirte  dort  1373  und  1375  als  Stellvertreter  des  Gross- 
meisters  den  Ordensversammlungen ,  welche  Streitigkeiten  inner- 
halb  des  Ordens  selbst  schlichten  und  Htilfssendungen  nach  dem 
Orient  vorbereiten  sollten,  1376  befehligte  er  dann  die  Flotte, 
auf  welcher  Papst  Gregor  XL  nach  Italien  zuriickkehrte ,  bei 
dem  Einzuge  in  Rom  trug  er  das  Banner  der  Kirche.  Er  betrieb 
dann  dort  1377  die  Riistungen  zu  einer  Hiilfssendung  nach  Rhodus 
und  wurde  in  diesem  Jahre,  'nachdem  der  Grossmeister  Robert 
de  Julhiac  gestorben  war,  von  dem  Convente  ohne  Zweifel  haupt- 
sachlich  wegen  seines  intimen  Verhaltnisses  zu  der  papstlichen 
Curie  zu  dessen  Nachfolger  gewahlt.    Als  solcher  nahm  er  sofort 

.      Digitized  by  VnOOQ IC 


Herquet,  Karl,  Juan  Fernandez  de  Heredia  etc.  129 

die  schon  friiher  begonnenen  Verhandlungen  wegen  der  Erwerbung 
des  Fiirstenthums  Achaja  fur  den  Orden  wieder  auf,  er  begab  sich 
zunachst  nach  Neapel  und  schloss  dort  mit  der  Konigin  Johanna 
and  deren  Gemal  Otto  von  Braunschweig,   welche   dem  Namen 
nach  Herren  des  Fiirstenthums  waren,  einen  Vertrag  ab ,  durch 
welchen  dasselbe  gegen   eine  jahrliche   Rente  auf  5  Jahre  dem 
Johamritecprden   iiberlassen  wurde.    Er  ging   dann  selbst  nach 
Griechenland  und  zog  dort  gegen  den  mit  den  Tiirken    verbiin- 
deten  albanesischen  Hauptling  Spata  zu  Felde,  entries  demselben 
Lepanto,  liess  sich  dann  aber  in  einen  Hinterhalt  locken,  wurde 
gefangen,  von   Spata  an  die  Tiirken  ausgeliefert  und  erst  1381 
aaagelost.    Er   ging  jetzt  nach   Rhodus,  dem  Sitz  der  Ordens- 
regjarung.    Inzwischen   hatte   sich  in   Achaja  die  Navarresische 
Compagnie   festgesetzt,   die  Verhandlungen  mit  derselben  wegen 
Abtetung  des  Landes   waren   erfolglos,   und  so  trat  der  Orden 
seine  Kechtsanspriiche  auf  dasselbe  wieder  an  Johanna  von  Neapel 
ab.    Wahrend  Heredias  Gefangenschaft  war  aber  auch  die  grosse 
Kirchenspaltung   ausgebrochen ,    und   diese   zog   auch   bald   den 
Orden  in  Mitleidenschaft.     Heredia,  der  Convent  in  Rhodus  und 
der  grosste  Theil  der  Ordensritter  im  Abendlande  erkannten  den 
arignonschen   Papst  Clemens   VII.,    die   meisten   Italiener   aber 
und  das  bohmische  Priorat  Urban  VI.  an,  dieser  hat  dann  Heredia 
abgesetzt  und  den  Prior  von  Capua,  Caraccioli,  zum  Grossmeister 
erhoben,  doch  blieb  der  grosste  Theil  der  Ordensritter  auf  He- 
redias Seite.     Durch   diese   Spaltung   wurde  die  bedrohte  Lage 
des  Ordens  im  Orient  noch  verschlimmert ,   auf  Beschluss   einer 
Generalversammlung  ging  daher  Heredia,  begleitet  von  4  Ordens- 
procuratoren,  nach  dem  Abendlande  zuriick,  um  von  dort  Hiilfe 
zu  ferschaffen.     Er  begab  sich  nach  Avignon,  hat  aber  in  jener 
Hauptangelegenheit  wenig  ausgerichtet,  er  hat  von  dort  aus  auch 
noch  eimnal,   aber   wieder   ohne  Erfoig,    Verhandlungen  wegen 
Achajas  mit   der   Prateudentin   Maria    von    Bourbon    und    den 
Navarresen   angekniipft  und  ist  schliesslich  ganz  in  Avignon  ge- 
Mieben.    Trotz  der  Bedrangniss  des  Ordens  lebte  er  selbst  dort 
ia  gfinzenden  Verhaltnissen  und  hat  auch  fur  seine  Familie  (er 
*ar,  bevor  er  in  deu  Orden  getreten  war,  zwei  Mai  verheiratet 
gewesen  und  hatte  4  Kinder)  auf  das  reichlichste  gesorgt.   Dort  in 
Arignon  ist  er  1396  hochbetagt  gestorben.   Er  hat  sich  gerade  in 
jenen  letzten   Jahren   auch  mit  schriftstellerischen  Arbeiten  be- 
schaftigt  und  eine  Grant  cronica  de  Espanya,  von  der  der  erste 
Theil  (—711)  und  der  dritte  (1312—1344)  erhaJten  sind,  ferner 
eine  Cronica  de  los  Conquistadores  und  Flor  de  las  ystorias  de 
0rientege8chrieben,  alle  diese  Werke  sindCompilationen,  das  letztere 
ist  dadurch  besonders  merkwiirdig,  dass  ihm  eine,  die  erste  spa- 
niache,  Uebersetzung  des  Reiseberichtes  Marco  Polos  angehangt  ist. 
Von   den   5  Beilagen,   welche   der   Schrift  beigegeben  sind, 
hehandelt  die  erste  jene  schriftstellerischen  Werke  Heredias,  von 
denen  sich  die  Originalhandschriften  in  der  Bibliothek  des  Her- 
zop  von  Ossuna  und   im  Escorial  vorgefiinden  haben  und  iiber 

MittheUnngen  a.  d.  histor.  Ltttcrntur.    VI.  9 

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130  Beumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toscana's. 

welche  der  spanische  Gelehrte  Amador  de  los  Rios  genauere 
Kunde  gegeben  hat.  Die  anderen  stehen  mit  der  Geschichle 
Heredias  in  keinem  unmittelbaren  Zusammenhange.  Die  zweite 
giebt  nahere  Nachrichten,  meist  aus  archivalisohen  Quellen  ge- 
schopft,  iiber  den  deutschen  Johanniterritter  Hesso  Schlegelholte, 
welcher  unter  Heredia  und  unter  dessen  Nachfolger  Philibert  de 
Nailhac  eine  hervorragende  Stellung  in  dem  Orden  eingenommen 
hat,  in  der  dritten  wird  die  Lage  und  die  Zeit  der  Grundung 
des  St.  Peterscastells  festgestellt ,  einer  festen  Burg,  welche  der 
Orden  noch  vor  dem  Verlust  von  Smyrna  1400  auf  dem  Fest- 
lande,  auf  den  Triimmern  des  alten  Halicarnass,  errichtet  und 
welche  er  bis  zum  Falle  von  Rhodus  behauptet  hat.  Die  Visi- 
tation dieses  Castells  stand  dem  immer  aus  der  deutschen  Zunge 
genommenen  Grossbailli  zu,  und  der  Verf.  lasst  hier  ein  Verzeich- 
niss  der  beglaubigten  Trager  dieser  Wiirde  und  ihrer  Stellrer- 
treter  folgen,  der  erste  ist  Johannes  Schlegelholtz ,  ein  Ver- 
wandter  jenes  Hesso.  Die  vierte  Beilage  enthalt  eine  langere 
Untersuchung  iiber  die  Zerstorung  des  Mausoleums  von  Hali- 
carnass, welche  neuere  Archaologen  (Sainte-Croix  und  Kinkel) 
dem  Johanniterorden  Schuld  gegeben  haben.  Der  Verf.  weist 
nach,  dass  der  obere  Theil  dieses  beriihmten  Kunstwerks  durch 
ein  Erdbeben  herabgestiirzt  sein  muss  und  dass  schon  im  4.  Jahr- 
hundert  dasselbe  theilweise  zerstort  gewesen  ist.  Die  fiinfte 
Beilage  endlich  giebt  eine  Liste  der  urkundlich  beglaubigten 
Prioren  des  Johanniterordens  in  Deutschland  und  ihrer  SteH- 
yertreter  (1207—1546). 

Berlin.  F.  Hirsch. 


XXXH. 
Reumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toscana's.     Theil  1  und  2. 
[Geschichte   der   europaischen    Staaten.     Herausgegeben   Ton 
H.  A.  L.  Heeren,   F.  A.  Ukert  und  W.  v.  Giesebrecht.     Lief. 
XXXVH,  2.  Abth.    XXXVffl,  1.  Abth.]     gr.  8.    (XVHI,  654 
und  XIX,  681  S.)     Gotha  1876/77,  Fr.  Andr.  Perthes.     27  M. 
Die  neuere   Geschichte  Italiens   hat  in  dem  letzten  Bande 
des   Leo'schen   Werkes   nur   eine  ganz  summarische  Behandlung 
erfahren,    die  neue  Redaction  der  ^Geschichte  der  europaischen 
Staaten"   hat   daher  die  Veraniassung  zu  einer  neuen  eingehen- 
deren  Bearbeitung  derselben   gegeben  und   zwar  in  der  Weise, 
dass   die   Geschichte   der  einzelnen  grosseren  Staaten  der  Halb- 
insel  vom  Beginn  der  Neuzeit  an  bis  zum  Aufgehen  dieser  Staaten 
in   den  heutigen   italienischen  Einheitsstaat  in  gesonderter  Dar- 
stellung  erscheinen   soil.    In  dem  vorliegenden  Werke,  der  Ge- 
schichte Toscana's  von  A.  v.  Reumont,  begrussen  wir  den  ersten 
Theil   dieser   italienischen   Staatengeschiohten.     Es   ist   als   ein 
besonderer  Gliicksfall  zu  bezeichnen,  dass  gerade  dieser  Verfasser 
fiir  die  Bearbeitung  desselben  gewonnen  worden  ist.   Denn  wenn 
Herr  v.  Reumont  anerkannter  Massen  unter  unseren  Landsleuten 


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Eeumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toscan&'e,  131 

der  griindlichste  Kenner   der  Geschichte  Italians  uberhaupt  ist, 

so  ist  dieses  ganz  besonders  in  Betreff  der  Geschichte  Toscana's 

der  Fall,   des  Landes,   in  dem   er   lange  Jahre  gelebt  und  ge- 

arbeitet,  and  wo  er  in  Wahrheit  sich  eingebiirgert  hat.     Seine 

Arbeit  zeugt  von  dem  griindlichsten  Studium  und  der  ausgebreitet- 

sten  Gelehrsamkeit ,   sie   fiihrt  uns  in  ausfuhrlicher  Darstellung 

nicht  nur  die  ausseren  Schicksale  und   die   innere  Verwaltung 

des  toscanischen  Staates,  sondern  ebenso  auch  die  okonomischen 

und  geseUschafUichen,  litterarischen  und  kiinstlerischen  Verhait- 

nifl»e  desselben  wahrend  dreier  Jahrhunderte  vor,  man  kann  dreist 

behaapten,  dass  ebenso  wenig  m$  irgend  ein  wichtigeres  politi- 

sches  Ereigniss,  so  auch  kem  irgend  wie  bedeutendes  Kunstwerk 

oder  tttterarisches  Erzeugniss,  in  so  fern  ein  solches  auf  toacani- 

scbem  Bod  en  entstanden  ist,  hier  unberiicksichtigt  geblieben  ist. 

Dabei  ist  diese  Fiille  des  Details  keineswegs  ermiidend  oder  er* 

droekend,  denn  immer  fiihrt  der  Verfasser  dasselbe  in  grosserem 

und  weiterem   Zusammenhange   an.     Die   Darstellung  ist   zwar 

schmucklos,  aber  doch  anziehend  und  lebendig,  der  Verfasser  hat 

sichtlich  mit  vieler  Liebe  sich  dieser  Arbeit  hingegeben,  iiberall 

weht  uns  aus  derselben  ein  soleher  ertmrmender  Hauch  an.    Ob 

sein  Urtheil  iiberall  ganz  zutreffend  ist,   ob   er   nicht   in   Folge 

nur  zu  natiirlicher   Sympathien  und   Antipathien  einzelne  Per- 

8onlichkeiten  und  Zustande  etwas  zu  giinstig,  andere  (ich  denke 

namentlich    an   die   Darstellung   der    revolutionaren    Ereignisse 

1848  und  1849)  mit  zu  dunklen  Farben  geschildert  hat,  daruber 

warden  die  Meinungen  getheilt  sein,  jedenfalls  aber  tritt  iiberall 

8ein  redliches  Bestreben   nach   gerechter,  objectiver   Abwagung 

hervor. 

Der  erste  Band  behandelt  die  Geschichte  Toscana's  unter 
den  Medici  (1530 — 1737),  innerhalb  desselben  zunachst  ein  erstes 
Buch:  „Die  Griindung  und  Ausbildung  der  Mediceischeii  Allgewalt" 
(1530 — 1574).  In  dem  ersten  einleitenden  CapiteL  schildert  der 
Verfasser  mit  kurzen,  aber  scharfen  Strichen  die  Hauptzuge  der 
alteren  florentinisohen  Geschichte  von  der  Ausbildung  der  Demo- 
kratie  zu  Ende  des  13,  Jahrhunderts  bis  zur  Eroberung  der 
Stadt,  in  welcher  1527  noch  einmal  nach  der  Vertreibung  der 
Medici  die  republikanische  Verfassung  wiederhergestellt  war, 
durch  das  kaiserlich-papstliche  Heer  1530.  Das  zweite  Capitel 
steBt  das  Ende  der  Republik  dar.  Durch  die  Capitulation  vom 
i  August  1530  war  den  Florentinern  die  Erhaltung  einer  Art 
von  freiheitlicher  Verfassung  zugesagt  worden,  die  Ordnung  der 
Beperungsform,  aber  unter  Erhaltung  der  Freiheit,  war  der 
Entscheidung  Kaiser  Carl  V.  vorbehalten,  vorlaufig  nur  die  Riick- 
kehr  der  Verbannten  und  ailgemeine  Amnestie  festgesetzt  worden. 
Allein  sofort  nach  der  Uebergabe  riss  die  mediceische  Partei 
d&s  Regiment  an  sich,  eine  am  20.  August  eingesetzte  Commis- 
sion nahm  eine  Neuwahl  der  Magistrate  vor,  decretirte  die  Rtick- 
berufung  der  Medici,  begann  die  Verfolgung  der  Gegner,  ernannte 
am  17.  Februar  1531  Alessandro  de*  Medici,  den  unechten  Sohn 

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132  fteumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toscana'i. 

Lorenzo's,  des  Herzogs  von  Urbino,  des  Enkels  Lorenzo's  dee 
Prachtigen,  zu  ihrem  Mitgliede  und  zum  Vorsitzenden  aller  Magi- 
strate. Im  Juli  1531  zog  dann  Alessandro  in  Florenz  ein,  be- 
gleitet  von  einem  kaiserlichen  Commissar,  welcher  die  Entschei- 
dung  Carl  V.  iiberbrachte,  danach  sollte  die  Verfassung,  wie  sie 
vor  der  Vertreibung  der  Medici  bestanden,  wiederhergestellt  werdes, 
Alessandro  de'  Medici  und  seinen  Nachkommen  erblich  der  Vor- 
sitz  in  alien  Behorden  zustehen.  AUein  Papst  Clemens  VII.  war 
auch  damit  nicht  zufrieden,  er  wiinscbte  die  Herrschafb  seiner 
Familie  nocb  mehr  befestigt,  auch  den  Namen  und  Schein  einer 
republikanischen  Verfassung  ih  Florenz  beseitigt  zu  sehen,  er 
brachte  es  dahin,  dass  eine  neue  Commission  eingesetzt,  und  dan 
durcb  diese  eine  neue  Verfassung  festgestellt  wurde,  kraft  deren 
die  alten  republikanischen  Aemter  der  Signoria  und  des  Gonfa- 
loniere  abgeschafft  und  Alessandro  zum  erblichen  Herzoge  von 
Florenz  ernannt  wurde.  Am  1.  Mai  1532  legte  die  Signoria  ihr 
Amt  nieder  und  Alessandro  wurde  zum  Herzog  von  Florenz 
proclamirt.  Das  dritte  Capitel  bebandelt  die  kurze  Regierung 
dieses  ersten  mediceisohen  Herzogs  (1532  — 1537).  Derselbe 
zeigte  sich  zu  Anfang  wohlwollend  und  thatig,  ergab  sich  aber 
bald  mehr  und  mehr  einem  ausschweifenden ,  ziigellosen  Leben, 
entfremdete  sich  auch  die  vornehmsten  Vertrauten  seines  Oheims, 
des  Papstes,  namentlich  den  machtigen  Filippo  Strozzi  und  dessen 
Sohne,  die  er  anfangs  an  sich  gezogen  hatte.  Die  Strozzi  ver- 
liessen  Florenz  und  wurden  bald  die  Haupter  der  zahlreichen 
Verbannten  und  Unzufriedenen,  welche  von  der  Fremde  aus  den 
Sturz  der  mediceischen  Herrschaft  betrieben.  Durch  den  Tod 
Clemens  VII.  und  die  Erhebung  Paul  III.  auf  den  papstlichen 
Thron  (1534)  verlor  Alessandro  seine  machtigste  Stiitze,  jetzt 
wurde  Rom  selbst  der  Sammelpunkt  der  florentinischen  Ver- 
bannten. Als  Carl  V.  1535  auf  der  Riickkehr  von  dem  Zuge 
nach  Tunis  in  Neapel  verweilte,  erschienen  bei  ihm  die  floren- 
tinischen Verbannten  und  fuhrten  Klage  iiber  Alessandro ,  aber 
auch  dieser,  von  Carl  eingeladen,  fend  sich  dort  ein,  fiir  ihn 
fiihrte  Franc  Guicciardini  das  Wort,  und  es  gelang  ihm,  sich 
die  Gunst  Carls  zu  er h alten ^  er  kehrte  als  Herrscher  nach 
Florenz  zuriick  und  heirathete  jetzt  die  ihm  schon  fruher  ver- 
lobte  natiirliche  Tochter  des  Kaisers,  Margarethe.  AUein  er 
setzte  seinen  wiisten  Lebenswandel  fort  und  wurde  schliesslich 
1537  von  dem  Genossen  seiner  Liiste,  seinem  Vetter  Lorenzino, 
ermordet. 

Die  folgenden  7  Capitel  haben  die  Darstellung  der  Regie- 
rung  Cosimo  I.  (1537—1574)  zum  Gegenstande,  der  allerdings, 
als  der  eigentliche  Griinder  des  toscanischen  Staates,  einer  so 
eingehenden  Berucksichtigung  durchaus  wiirdig  ist.  Nach  Ales- 
sandro's  plotzlichem  Tode  tauchte  in  Florenz  der  Gedanke  auf, 
die  Republik  wiederherzustellen ,  allein  derselbe  kam  nicht  zur 
Ausfiihrung,  auf  den  Vorschlag  Guicciardini's  erwahlte  der  Senat 
den  nachsten  Verwandten  des  gestorbenen  Herzogs,  Cosimo,  unter 


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Reumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toscana's.  133 

dem  Titel  ernes  Signore  und  mit  beschrankten  Befugnissen  zum 
Herrccher.    Cosimo,    der   Sohn   Giovanni's   de'  Medici  (mit  dem 
Beinamen  delle  bande  nere),   des   einzigen  Medici,  welcher  sich 
kriegerischen  Ruhm  erworben  hatte,  kam  so  (Januar  1537)  erst 
18j£hrig  zur  Regierung.    Er  erwirkte  die  Bestatigung  des  Kai- 
sers, musste  sich  aber  eine  spanische  Besetzung  in  der  Citadelle 
Ton  Florenz  gefallen  lassen ,   ein    Onternebmen   der  Verbannten 
gegen  die  Stadt   im   August    1537   missgliickte,   zu  Montemurlo 
wnrden  die  Haupter  dorselben  gefangen,  darauf  die  meisten  hin- 
gerichtet,    Filippo    Strozzi    blieb   in   spanischer   Gefangenschaft, 
starb  aber  auch  schon  im  nachsten  Jahre.     Cosimo  hat  darauf 
teraeht,  in  engem  Anschluss- an  die  kaiserlich-spaniscbe  Politik 
mramwhrankte   Gewalt  im  Inneren  und  woitere  Ausdehnung  des 
Gebietes  seines  Staates  zu  erretchen.    Das  erste  gelanjj  ihm  bald, 
er  beseitigte  die  einflussreichen  Manner,  denen  er  seine  Erhebung 
rerdankte,  namentlich  Guicciardini,  und  er  nahm  dann  eine  Neu- 
ordnung   der    Verfassung   des  Staates  vor.     Der  Zugang  zu  den 
Aemtern  wurde  jetzt  alien  Biirgern   erst  'der   Stadt,   dann   des 
ganzen  Staatsgebietes   geoffnet,   aber  diese  Behorden  (die  wich- 
tigste  die  Pratica  segreta)   wurden  nur  Werkzeuge  in  der  Hand 
des  Fureten,    durch  strenge  Specialgesetze  (die  Legge  Polverina 
gegen  die  Rebellen),  durch  ein  scharfes  Polizei-  und  Spionirsystem 
wusste  derselbe  Furcht  zu  erzeugen.     Cosimo  hat  dann  fiir  wohl- 
geordnete,  bald  reiche  Finanzen  gesorgt,  er  suchte  den  tief  ge- 
8nnkenen  Wohlstand  des  Landes  zu  heben,   er  forderte  Handel, 
Industrie  und  Ackerbau,  schuf  sich  aber  auch  eine  Achtung  ge- 
bietende  Kriegsmacht.     Auch  auf  dem  kirchlichen  Gebiete  wusste 
er  Ruhe  zu  erhalten,  er  iibte  strenge  Kirchen-  und  Sittenpolizei, 
begann  eine  Reform  der  Kloster,  aber  er  zog  auch  die  Jesuiten 
nach  Florenz,  duldete  die  Inquisition,  suchte  dieselbe  jedoch  von 
der  Staatsgewalt  abhangig   zu  machen;   diese  Massregeln,   dazu 
die  Anhanglichkeit   des  Volkes   an   die  alte  Kirche,    bewirkten, 
dass  die  reformatorischen  Ideen,   welche   in   einzelnen   Mannern 
Wurzeln  schlugen,    keine  weitere  Verbreitung  fanden,  dass  jene 
Manner   (Ochino,    Vermiglia,    die  Sozzini)   auswandern  mussten. 
Weniger  gliicklich  war  Cosimo  zu  Anfang  mtt  seinem  Bestreben, 
das  Gebiet  seines  Staates  zu  vergrossern,  trotz  seines  engen  An- 
Bchlusses   an   die   spanische   Politik    gonnte    ihm    der   Argwohn 
Spaniens  keine  Erwerbungen,  als  Lohn  fiir  seine  Bundesgenossen- 
schaft   im   4.  Kriege  Karl  V.  gegen  Frankreich  erlangte  er  nur, 
dass   1543   Florenz  selbst  und  die  anderen  noch  von  spanischen 
Truppen  besetzten  Festungen  des  Landes  von  denselben  geraumt 
wurden.     Auch   Cosimo    sah    sich   durch   die  spanische   Politik 
Carl  V.  gefahrdet,  trat  daher  zeitweise  mit  Frankreich  in  Unter- 
handlungen,   doch   fiihrten   dieselben  zu  keinem  Abschluss.     An 
dem   1552    durch   Papst  Paul  IV.  in  Italien  entziindeten  Kriege 
betheiligte  er  sich  zu  Anfang  nicht,  benutzte  dann  aber  die  Ge- 
legenheit,  um  das  benachbarte  Siena,  welches  eine  franzosische 
Besatzung  aufgenommen  hatte  und  wo  der  jiingere  Strozzi,   das 

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134  Reumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toscana's. 

Haupt  der  noch  immer  den  Sturz  der  medioeischen  Herrschaft 
betreibenden  florentinischen  Verbannten,  commandirte,  anzu- 
greifen.  Nach  gebeimer  Verstandigung  mit  dem  Kaiser  begann 
er  im  Januar  1554  den  Krieg,  nach  langwieriger  Belagerimg  und 
hartnackigen  Kampfen  musste  Siena  im  April  1555  capituliren 
und  sich  in  den  Schutz  des  Kaisers  begeben.  Cosimo  trachtete 
nun  danaoh,  Siena  fur  sich  zu  behalten,  verlangte  vom  Kaiser 
Erstattung  der  Kriegskosten ,  anfangs  vergebens,  aber  in  Folge 
des  Ausbruches  des  neuen  Krieges  in  ItaJien  1556  erlangte  er, 
dass  der  neue  Konig  von  Spanien,  Philipp  II.,  ihn  mit  Siena 
und  dem  Gebiete  dieser  Stadt,  ausgenommen  die  Kiistenstadte, 
belehnte,  der  Friede  von  Chateau  Cambresis  1559  sicherte  ihm 
die  neue  Erwerbung,  welchc  hinfort  als  ein  besonderes  Gebiet 
eine  cigene  Verwaltung  erhielfc  Durch  die  Vereinigung  des 
sienesischen  Landes  mit  Florenz  ist  der  Staat  Toscana  begriindet 
worden.  Die  nachsten  Jahre  waren  fur  Cosimo  eine  glucklicbe 
Zeit,  in  Italien  herrschte  Frieden,  auch  im  Inneren  konnte  er, 
jetzt  in  gesicherter  Stfellung,  ein  milderes  Regiment  fiihren,  1562 
griindete  er  zum  Schutz  gegen  Tiirken  und  Barbaresken  den 
St.  Stephansorden.  Allein  bald  wurde  durch  traurige  Familien- 
ereignisse  dieses  Gliick  getrubt,  Ende  1562  starben  kurze  Zeit 
nach  einander  zwei  Sohne  des  Herzogs  und  seine  Gemahlin, 
Cosimo,  triibe  gestimmt,  iiberliess  schon  1564  die  Verwaltung  an 
den  Erbprinzen  Francesco,  behielt  sich  selbst  aber  die  oberrte 
Leitung  vor.  Seine  letzten  Jahre  verflossen  unruhig,  auf  ihm 
lastete  das  spanische  Uebergewicht  und  er  suchte  gegen  dasselbe 
an  den  Papsten  und  an  Frankreich  eine  Stiitze,  dazu  kamen 
Familienzerwiirfnisse,  veranlasst  namentlich  dadurch,  dass  Cosimo, 
der  sich  nach  dem  Tode  seiner  Gemahlin  in  Liebesverhaltnisae 
eingelassen  hatte,  sich  schliesslich  mit  einer  seiner  Maitressen 
noch  eiumal  verheirathete.  Cosimo  starb  21.  April  1574.  Der 
Verfasser  zeichnet  seine  Personlichkeit  als  Mensch  und  Herrscher 
und  schildert  dann  ausfiihrlich  seine  Stellung  innerhalb  des 
geistigen  Lebens  seiner  Zeit.  Cosimo  hat  aus  personlicher  Nei- 
gung,  aus  Familientradition  und  aus  Politfk  Wissenschaft  und 
Kunst  eifrig  begiinstigt,  er  hat  litterarische  Vereino  gefordert, 
die  Akademie  von  Florenz  zur  Staatsanstalt  erhoben  und  sie 
auch  zu  einer  Lehranstalt  gemacht,  die  Universitiit  von  Pisa  neu 
gegriindet.  Unter  ihm  erbliihte  eine  reiche  historische  Litteratur, 
theils  von  unabhangigen  Autoren,  theils  von  solchen,  die  in  seinem 
Auftrage  und  fiir  seine  Zwecke  geschrieben  haben,  unter  ihm 
lebten  gleich  bedeutend  als  Kunstler  wie  als  Kunstschriftsteller 
G.  Vasari  und  B.  Cellini.  Ein  besonderes  Intoressfc  hegte  er 
auch  fur  naturwissenschaftliche  Studien,  fernor  fiir  Chemie,  Mi- 
neralogie  und  Medizin,  unter  ihm  wurden  die  botanischen  Garten 
in  Pisa  und  Florenz  angelegt,  die  Marmorbriiche  des  Landes 
ausgebeutet.  Er  ferner  Hess  die  Laurentianische  Bibliothek  in 
Florenz  vollenden,  die  dortige  kostbare  Handschriftensammluug 
ordnen.     Nicht  minder  eifrig  forderte  er  die  schonen  Kiinste,  die 

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Reumonl,  Alfred  v.,  Geachichte  Toacana'a.  135 

Jamais  unter  dem  lei  tend  en  Einfluss  Michel  Angelo's  noch  eine 

Nachblzithe   feierten,    1562   wurde   die  von  Cosimo   gegriindete 

EoBstakademie   erofihet,   Cosimo  selbst  lebte  in  regem  Verkehr 

mit  den  florentinischen ,  in  Briefwechsel  mit  auswartigen  Ktinst- 

lern,  so  auch  mit  Michel  Angelo,  in  seinem  Residenzpalaste  liess 

er  ein  Kunstkabinet   einrichten   und   sorgte   eifrig   fiir  die  Be- 

reicherung  desselben.     Auch  in  okonomiseher  Beziehung  hat  seine 

lange  Regierung  sehr  segensreiche  Friichte  gebracht ,   die  Stadt 

Florenz  hat  sich  unter  ihm  von  dem  Ruin,   in  welohen  sie  die 

Bdagenmg  von  1530  gestiirzt,   wieder   erholt,   1562   zahlte  sie 

wieder  64,000  Einwohner,   einzelne  Industriezweige  hoben  sich 

wieder,  namentlich  bluhte  das  Eunsthandwerk.    Noch  giinstiger 

gestalteten   sich   die   Verhaltnisse   in   dem  Landgebiete,    dessen 

Bewohner,    lriiher  zur  Zeit  der  Republik  von  der  herrschenden 

Stadt  in  druckender  Abhangigkeit  gehalten,  jetzt  Rechtsgleichheit 

emrben,   denen   es   dann  zu   gute  kam,    dass  die  Florentiner, 

aoch  die   hoheren   Stande,  jetzt  mehr  als  friiher  sich  mit  der 

Landwirthschaft  beschaftigten,  auch  das  neu  gewonnene  Sieneser- 

land  hat  sich   sofort  der  eifrigen   Fiirsorge   des  Herrschers  zu 

crfreuen  gehabt.    So  ersohoint  Cosimo  in  der  That  als  eine  be- 

deutende  Personlichkeit.     „  Cosimo   hat   ein  Chaos  vorgefunden: 

er  hat  seinem  Nachfolger  einen  gut  geordneten  Staat  ubergeben. 

Er  hat  Gewalt  und  List  nicht  gescheut,  so  um  sich  zu  behaupten, 

wie  um  sich  zu  vergrossern;  aber  er  hat  diesen  Staat  auf  festes 

Fundament,  auf  strenge  Justiz,  Gleichberechtigung,  gute  Finanzen, 

aosreichende  Kriegsmacht  zu  Land  und  See  begrundet.    Er  hat 

Gehorsam  und  Ordnung  im  Innern  geschafft,   die  Anlasse   alten 

Uaders  und   somit  alter  Schwache  ausgerottet,  dem  Auslande 

gegeniiber  eine  geachtete,  moglichst  unabhangige  Stellung  erworben 

und  bewahrt.     Das  neuere  Toscana  ist  sein  Werku  (S.  293),  er 

nhat  Macchiavelli's  Vorschriften  fur  die  Griindung  einer  Monarchic 

zur  Ausfuhrung  gebracht" 

Das  zweite  Buch  behandelt  die  Zeit  der  spateren  Medici 
(1574—1737).  Das  erste  Capitel  enthalt  die  Geschichte  des 
Nachfolgers  Cosimo's,  seines  altesten  Sohnes  Francesco  (1574  bis 
1587).  Derselbe  war  seinem  Vater  sehr  unahnlich,  von  seiner 
Mutter,  der  Tochter  des  Vicekonigs  von  Neapel,  Pedro  de  Toledo, 
tatte  er  das  steife  spanische  Wesen  geerbt;  er  erlangte  die 
Anerkennung  des  seinem  Vater  schon  von  dem  Papste  verUehenen 
Titels  eines  Grossherzogs  auch  durch  Kaiser  Maximilian  II.  und 
Spanien,  nlachte  sich  aber  dafiir  zum  gefiigigen  Werkzeuge  der 
habsburgischen  Politik  und  gerieth  in  Folge  dessen  in  gespannte 
Verhaltnisse  sowohl  zu  Frankroich  als  auch  zu  den  meisten 
italienischen  Staaten.  Mit  seinem  Vater  theilte  er  nur  das  In- 
teresge  fiir  die  Kunst,  sonst  wurde  er  je  langer  desto  unzugang* 
Ucher,  sparsamer,  unpopularer,  desto  abhangiger  von  Frauen 
und  Giin8tlingen.  Seine  Gemahlin  Johanna  von  Oestreich  ver- 
^acUassigte  er,  nach  ihrem  Tode  heirathete  er  seine  Maitresse, 
Bianca  Capello,  und  diese  iibte  in  seinen  letzten  Jahren  auf  ihn 

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136  Renmont,  Alfred  v.,  Geschichte  Tosc&na's. 

den  grossten  Einfluss  aus.  Seiner  ubrigen  Familie  entfremdete 
er  aich  mehr  und  mehr,  seine  Briider  lebten  im  Auslande,  der 
altere,  Cardinal  Ferdinand,  meist  in  Rom,  der  jungere,  Pietro, 
in  Spanien.  Im  September  1587  rief  er  Ferdinand  zu  sich  tmd 
sohnte  sich  mit  demselben  aus,  aber  bald  darauf  erkrankte  er 
und  ebenso  seine  Gemahlin,  am  19.  October  starb  er  selbst,  am 
folgenden  Tage  Bianca,  ein  Sohn,  den  ihm  Johanna  von  Oestreich 
geboren,  war  schon  friiher  gestorben,  so  war  sein  nachster  Erbe 
der  Cardinal  Ferdinand,  derselbe  eilte  sofort  nach  Florenz,  wurde 
als  Herrscher  anerkannt  und  regierte  hinfort  als  Grossherzog 
(1587 — 1609).  Ferdinand,  der  schon  als  Cardinal  in  Rom  eine 
glanzendc  und  einflussreiche  Rolle  gespielt  hatte,  zeigte  sich 
seinem  Vorganger  wiederum  sehr  unahnlich.  Er  war  vornehm, 
aber  leutselig  und  freigebig,  prachtliebend  und  doch  selbst  massig, 
er  war  der  erste  mediceische  Herrscher,  der  popular  wurde.  In 
seiner  auswartigen  Politik  suchte  er  sich  der  Abhangigkeit  yon 
Spanien  zu  entziehen,  daher  mischte  er  sich  in  die  franztfsischen 
Wirren  ein  und  zwar  in  einer  der  spanischen  Politik  entgegen- 
gesctzten  Richtung,  er  heirathete  die  lothringische  Prinzessin 
Christine,  sicherte  Marseille  gegen  die  Anschlage  des  mit  Spanien 
eng  verbiindeten  Herzogs  von  Savoyen  durch  Besetzung  des 
Castells  If  (die  toscanische  Besatzung  ist  dort  8  Jahre,  1590  bis 
1598,  geblieben),  er  bestarkte  trotz  des  heftigsten  Grolls 
Philipp  EL  den  Papst  Sixtus  IV.  in  seiner  franzosischen  Pohtik, 
beforderte  Heinrich  IV.  Uebertritt  zur  katholischen  Kirche  und 
seine  Aussobnung  mit  Papst  Clemens  VIII.  Nach  Phlilipp  tt 
Tode  trat  er  zu  dessen  Sohne  Philipp  III.  in  ein  besseres  Ver- 
haltniss,  um  so  mehr,  da  er  von  Frankreich  schlechten  Dank 
erndtete.  Zwar  vermahlte  sich  Heinrich  IV.  mit  Ferdinands  Nichte, 
Maria  Medici,  der  Tochter  Francesco's,  aber  er  iiberliess  Saluzzo, 
das  Ferdinand  bei  seiner  Vermahlung  zugesagt  war,  an  den 
Herzog  von  Savoyen.  Ferdinand  hat  dann  seinen  altesten  Sohn, 
den  Erbprinzen  Cosimo,  mit  einer  ostreichischen  Prinzessin  ver- 
mahlt  und  hinfort  eine  Stellung  zwischen  beiden  Grossmachten 
einzunehmen  versucht,  im  ongen  Anschluss  an  die  Papste.  In 
seinen  letzten  Jahren  hat  die  toscanische  Marine,  die  Graleeren  des 
Grossherzogs  im  Verein  mit  denen  des  Stephansordens  sich  eifirig 
und  riihmlich  an  den  Kampfen  gegen  die  Tiirken  und  die  Bar- 
baresken  betheiligt,  doch  ging  daruber  der  levantische  Handel 
Toscana's  zu  Grunde.  Das  3.  Capitel  schildert  die  inneren  Zn- 
stande  des  Landes  wahrend  der  Regierungen  Francesco's  und 
Ferdinand's.  Die  innore  Politik  beider  Fursten  ist  eine  ahnliche 
gewesen,  beide  haben  das  Regierungssystem  ihres  Vaters  in  der 
Hauptsache  fortgefuhrt.  In  jenen  Zoiten  haben  die  Handels- 
beziehungen  von  Florenz  eine  grosse  Veranderung  erfahren,  die 
Unsicherheit  in  den  Niederlanden,  in  Frankreich  und  Deutschland 
hat  zur  Folge  gehabt,  dass  die  alto  Verbindung  mit  Brugge, 
Lyon  und  den  oberdeutschen  Stadten  aufhorte,  dafiir  hat  anfangs 
ein  lebhafterer  Verkehr  mit  Spanien   und  Portugal,   nameutlich 


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Reumont,  Alfred  v,  Geschiehte  Toscana's.  137 

mit  Lissabon ,   Ersatz  geboten ,    doch   auch  dieser  ist  nicht  von 
Daner  gewesen,  unter  Ferdinand  warden  dann  Verbindungen  mit 
den  Ostseehafen,  namentlich  mit  Liibeck  und  Danzig,  angekniipft 
und  bedeutende  Getreideladungen  von  dort  nach  Livomo  gefuhrt 
Ferdinand  hat  den  Anfang  gemacht  mit  bedentenden  Meliorationen, 
welche  dann  anch  seine  Nachfolger  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein 
beschaftigt  baben,  unter  ihm  begannen  die  grossartigen  Versucbe 
m  Austrocknung   und  Urbarmachung  des  Chianathals  nnd  der 
Sieneser  Maremmen,   von   denen  indessen  vorlaufig  die  ersteren 
mv  Ton  theilweisem  Erfolge,  die  letzteren,  namentlich  in  Folge 
einer  verkehrten  Zollpolitik,  ganz  vergeblich  gewesen  sind.    Sein 
Hauptwerk  war  die  Forderung  von  Livorno,   welche   Stadt   als 
Hafen-  nnd  Handelsplatz  ihm  eigentlich  ihre  Griindnng  verdankt; 
er  bante  die  innere  Stadt,   zog  durch  Gewahrung  grosser  Frei- 
heiten  eine   zahlreiche   Bevolkerung,    namentlich    auch   Fremde 
dorthin.    Das   unter  Francesco  sehr  verwilderte  Leben  am  Hofe 
wnrde  unter   Ferdinand   feiner  und  gesitteter.    Derselbe  Gross- 
herzog  wirkte   auch   fur  eine  bessere  und  gemassigtere  Rechts- 
pflege;  in   seiner   kirchlichen  Politik  war  or  sehr  rucksichtsvoll 
and  fiig8am  gegen  den  Papst  und  die  Geistlichkeit,  doch  erregte 
schon  bei  ihm  das  grosse  Anwachsen  der  Besitzungen  der  Kirche,* 
namentlich   der  Jesuiten,   Besorgnisse.  —  Die  folgenden  Capitel, 
4—7,   behandeln   die   Regierung   der   letzten   vier  mediceischen 
Fureten.     C!osimo  II.   (1609  —  1621)   kam   noch   sehr  jung   zur 
HeiTschaft  und  stand  anfangs  unter  dem  Einflusse  seiner  Mutter. 
Wahrend   seiner   Regierung   wurde    auch    Toscana    mit   in    die 
Wirren  hineingezogen ,   welche  die  Ruhe  Italiens  storten,  zuerst 
drohte  der   Ausbruch   eines  neuen  Krieges  zwischen  Frankreich 
nnd  Spanien,   doch  wurde  derselbe  durch  die  Ermordung  Hein- 
rich  IV.   verhindert,   und  Cosimo   wirkte   dann   eifrig  zur  Aus- 
whnung  beider   Machte   mit.     Dann  folgten   die   Streitigkeiten, 
welche  nach  dem  Tode  des  Herzogs  Francesco  von  Mantua  zwi- 
schen dessen  Nachfolger  Ferdinand  und  dem  Herzoge  von  Savoyeii, 
der  Montferrat  besetzt  hatte,  ausbrachen,  an  denen  auch  Spanien 
sich  betheiligte  und  Toscana  zur  Zahlung  von  Subsidien  nothigte. 
Auch  Kaiser  Ferdinand  II.  von  Deutschland  wurde  von  Cosimo 
mit  Geld  und  Truppen  unterstiitzt,  zu  den  tosoanischen  Haupt- 
lenten,    welche    1619    nach    Deutschland    zogen,    gehorte   audi 
Ottavio  Piccolomini.      Zugleich   setzte   der   Stephansorden   seine 
nilimvolle  aber  wenig  erspriessliche  Thatigkeit  in  dem  Seekriege 
gegen   die   Tiirken  fort.     Cosimo  suchte  in  Frankreich  zwischen 
Lndwig  XIII.   und   dessen  Mutter   Maria   Medici  zu  vermitteln, 
doch  ohne  Erfolg,   auch   von  Spanien   erndtete  er  wenig  Dank, 
die  Ert>8chaft  der  Appiani,  Piombino  und  Elba,  wurde  ihm  von 
den  Spaniern  vorweggenommen.   Cosimo's  Nachfolger,  sein  altester 
Sohn  Ferdinand  II.,  war  bei  seinem  Regierungsantritt  (1621)  erst 
11  Jahre  alt,  fur  ihn  fiihrten  bis  zum  Jahre  1628  seine  Mutter, 
eine  ostreichische  Prinzessin,  seine  Grossmutter  und  ein  Regent- 
fichaftsrath  von  vier  Mitgliedern  die  Geschafto.    Die  erste  Hilfte 

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138  Reumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toscana's. 

seiner  langen  Regierung  (1621  — 1670)  war  auch  erfullt  von 
kriegerischen  Unruhen.  Zuerst  brach  in  Folge  der  Veltliner 
Streitigkeiten  der  Krieg  in  Oberitalien  ana.  Die  Hoffnung  Fer- 
dinands, welcber  sich  mit  der  Erbin  des  Hauses  Rovere  vermahlt 
hatte,  naoh  dem  Aussterben  desselben  wenigstens  einen  Theil  des 
Erbes  zu  erwerben,  erfiillte  sich  nicht,  Papst  Urban  VUL  zog 
das  ganze  Herzogthum  Urbino  und  die  andoren  Besitzungen  ein. 
Dann  folgte  der  Mantuanische  Krieg  (1628 — 1631),  der  Toscana 
wieder  zu  Snbsidien  und  Anleihen  an  Spanien  nothigte,  dann 
1641  — 1644  der  Krieg  zwischen  Papst  Urban  VIII-  und  dem 
Herzoge  Odoardo  Farnese  von  Parma,  in  welchem  Ferdinand  den 
letzteren  unterstutzte ,  dann  nach  Urban  VIIL  Tode  und  der 
Erhebung  Papst  Innooenz  IV.  (1644)  die  barberinischen  Handel, 
in  welche  wieder  Frankreich  wie  Spanien  sich  einmischten.  Die 
spateren  Zeiten  Ferdinands,  von  1649  an,  waren  friedlich,  er 
wusste  nach  aussen  hin  eine  geachtete  Stellung  einzunehmen,  er 
gewann  1650  Pontremoli,  vermittelte  1664  den  Streit  zwischen 
Papst  Alexander  VIII.  und  Ludwig  XIV.,  auch  in  seinem  Lande 
war  er  popular,  aber  seine  Familienverhaltnisse  waren  tief  zer- 
riittet.  Ferdinand,  heiter  und  lebenslustig ,  war  seiner  bigotten 
Gemahlin  entfremdet,  iiberliess  derselben  aber  die  Erziehung  des 
Erbprinzen  Cosimo.  Dieser  wurde  1661  mit  der  franzosischen 
Prinzessin  Margarethe  Luise  von  Orleans  vermahlt,  aber  audi 
diese  Ehe  gestaltete  sich  zu  einer  hochst  unglucklichen.  Cosimo  IE 
ist  dann  seinem  Vater  gefolgt  und  hat  auch  eine  sehr  lange  j 
Regierung  gefiihrt  (1670 — 1723).  Er  war  von  seinem  Vater  sehr 
verschieden,  stei£  miirrisch,  dabei  prachtliebend,  thatig,  aber  in- 
consequent und  willkiirlioh.  Es  gelang  ihm  nicht,  nach  aussen  hin 
eine  einflussreiche  Stellung  einzunehmen,  und  im  Inneren  nahmen 
die  schon  unter  seinem  Vorganger  eingetretenen  Missstande  zu, 
der  Wohlstand  des  Landes  war  schon  tief  zerriittet  Toscana 
sah  sich  anfangs  auch  durch  die  Uebermacht  Frankreichs  be-  . 
droht,  dann,  seitdem  (seit  1688)  die  Opposition  gegen  Lud- 
wig XIV.  sich  gekraftigt  hatte,  suchte  Cosimo  zwischen  beiden 
Parteien  zu  laviren,  auch  im  spanischen  Erbfolgekriege  suchte 
cr  sich  neutral  zu  halten,  wurde  aber  seit  1706  von  Oestreich 
zur  Zahlung  von  Kriegssteuern  genothigt.  Schon  unter  ihm  er- 
offnete  sich  dann  die  Aussioht  auf  ein  baldiges  Aussterben  seines 
Hauses.  Von  seinen  Sohnen  hatte  der  Erbprinz  Ferdinand,  mit 
einer  bairischen  Prinzessin  vermahlt,  keine  Nachkommenschaft 
und  starb  schon  vor  dem  Vater  1713,  der  jiingere  Sohn  Johann 
Grasto  verheirathete  sich  1697  mit  der  Prinzessin  Anna  Maria 
von  Saohsen-Lauenburg,  er  lebte  anfangs  mit  derselben  auf  ihren 
bohmischen  Giitern,  aber  auch  diese  Ehe  wurde  eine  hochst  un- 
gliickliche,  auch  aus  ihr  erwuohs  keine  Nachkommenschaft, 
schliesslich  verliess  Johann  Gasto  seine  Gemahlin  und  kehrte 
nach  Florenz  zuriick.  Auch  Cosimo's  Bruder,  der  friihere  Car- 
dinal Francesco  Maria,  starb  1711,  ohne  Kinder  zu  hinterlassen, 
so   blieb  von   der  ganzen  medioeischen   Familie  ausser  Johann 

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Renmont,  Alfred  v.,  Geschichfe  Tosctna's.  139 

Gasto  nur  dessen  Schwester,   die  auch  kinderlose,  verwittwete 

Kurfiirstin  von  der  Pfalz,  ubrig.    In  Folge  dessen  begannen  sohon 

bei  Cosimo's   Lebzeiten   Projecte  und  Verhandlungen  unter  den 

Qrossmachten  wegen  der  Nachfolgo  in  Toscana,   Cosimo   suchte 

dieselbe  seiner  Tochter  und  dem  Lande  selbstandiges  Fortbestehen 

zq  sichern,  aber   dagegen  waren  sowobl   Frankreich  als   auoh 

Spanien  und  Oestreich,  welches  letztere  damals  den  Anspruch  auf 

Lehiisabhangigkeit   Toscana's   vom   Reiche   erhob   und    dadorch 

aaeh  den  Anlass  zu  einer  grossen  litterarischen,  staatsrechtlichen 

Fehde  gab.     Zwiscben  diesen  Machten  kam  die  toscanische  Erb- 

folgefrage  schon  bei  den  Verhandlungen  im  Haag  1710,  dann  zu 

Utreeht  1713  zur  Sprache,   1718  einigte  man  sich  dahin,   dass 

Toacana  an  den  Bourbonen  Don  Carlos,  den  altesten  Sohn  Eonig 

Philipp  V.    von  Spanien  und  der  Elisabeth  Farnese  fallen  sollte. 

Cosimo  protestirte  dagegen,  inmitten  der  Verhandlungen  starb 

er.  Dun  folgte  als  der  letzte  Medici  Johann  Gasto  (1723—1737), 

nrspriinglich  yob  guten  Anlagen,  aber  durch  die  Tyrannei  seines 

Vaters,  durch  seine  ungliickliche  Ehe  und  Ausschweifungen  ver- 

darben,  bei  seinem  Begierungsantritt  schon  52  Jahre  alt;  er  war 

wenig  thatig,  doch  ging  die  Regiemngsmaschine  unverandert  fort. 

Er  selbst  und   das  Land  bleiben  ohne  Einfluss  und  Antheil  an 

der  Ent8cheidung   der  Successionsfrage ,  welche   in  Folge  ihrer 

Verflechtung   mit  den   allgemeinen   europ&ischen  Handeln   noch 

lange  unerledigt  bleibt.     Durch  den  Wiener  Vertrag  1731  wurde 

von  den  Grossmaohten  aufs  Neue  Don  Carlos  die  Succession  in 

Toscana  und   Parma  zuerkannt  und  schon  jetzt  die  Besetzung 

der  festen  Platze  durch  spanische  Truppen   bestimmt;   in  Folge 

dessen  landete  der  Infant  selbst  im  December  1731  in  Toscana 

und  wurden  dort  die  spanischen  Garnisonen  aufgenommen.    Doch 

wurde  dann  eine  Wandhing  durch  den  polnischen  Erbfolgekrieg 

und  durch    den  im   Zusammenhange  damit  in  Italien  gefuhrten 

Krieg  der  Franzosen  und  Spanier  gegen  die  Oestreicher  herbei- 

gefiihri     Durch  den  Wiener  Frieden  1735,  welcher  Don  Carlos 

das  Konigreich  Neapel  verschaffte,  wurde  die  Nachfolge  in  Toscana 

dem  Schwiegersohne  des   Kaisers,   Herzog   Franz   Stephan  von 

Lothringen,   bestimmt.    Januar   1737   iibertrug   ein  kaiserliches 

Decret  demselben  Toscana  als  Reichslehen,  ostreichische  Truppen 

losten  die  Bpanischen  Garnisonen  ab,   im  Juni   traf  der  Bevoil- 

machtigte  Herzog  Franz's,  der  Fiirst  von  Craon,  in  Florenz  ein, 

aa  9.  Juli  desselben  Jahres  starb  Johann  Gasto. 

Die  letzten  drei  Capitel  schildern  die  inneren  Zustande  des 
Landes  unter  diesen  letzten  mediceischen  Fursten  (1610 — 1737). 
Die  okonomische  Lage  Toscana's  gostaltete  sich  damals  theils  in 
Folge  der  ausseren  Verhaltnisse ,  theils  in  Folge  der  verkehrten 
Zoll-  und  Handelspolitik  fortdauernd  ungiinstiger,  die  Banken  im 
Axwlande  gingen  ein,  die  Gewerbthatigkeit  im  Innern,  namentlich 
die  einst  so  bliihende  Seiden-  und  Wollentuchfabrikation ,  lag 
daaieder,  auch  der  Ackerbau,  namentlich  in  den  Maremmen,  war 
vemachlissigt ,  vergeblich  forderte  schon   1737  ein  einsichtiger 

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140  Reumont,  Alfred  tm  Geschichte  Toscana's. 

Nationalokonom  als  Heilmittel  Abschaffung  der  Agrargesetzgebung, 
Vereinfacbung  der  Abgaben  und  Freigebung  des  Handels.  Nur 
Livorno  erfreute  rich  fortgesetzter  Handelsbliithe.  In  den  larch- 
lichen  Verbaltnissen  zeigte  sich  die  mediceische  Regierung  fort- 
gesetzt sehr  gefugig  gegen  die  clericalen  Anspruche,  doch  kam 
es  iiber  Fragen  der  geistlichen  Jurisdiction,  der  kirchlichen  Im- 
munitaten  und  in  Folge  des  Uebergreifens  der  Inquisition  in 
Sittenpolizei  und  Censur  zu  wiederholten  Conflicten.  Die  Kloster, 
namentlich  die  Nonnenkloster ,  waren  sehr  zahlreich.  Wissen- 
schaft,  Litteratur  und  Kunst  haben  auch  von  Seiten  der  spateren 
Medici  sich  lebhafter  Begiinstigung  und  Forderung  zu  erfreuen 
gehabt.  Namentlich  wurden  die  mathematischen  und  die  Natur- 
wissenschaften  gepflegt  (duroh  Ferdinand  I.  wurde  1598  Galilei 
nach  Pisa  berufen,  1657 — 1667  wirkte  die  Aocademia  del  Gimento 
fiir  physicalische  Untersuchungen),  zugleich  begann  die  Accademia 
della  Crusca  ihre  Arbeiten  zum  Zwecke  der  Feststellung  und 
Reinigung  des  Sprachschatzes ,  1612  erschien  die  erste  Ausgabe 
des  Vocabulars.  Florenz  und  Pisa  blieben  Sammelplatze  tiich- 
tiger  Gelehrten,  doch  sank  zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  audi 
in  Toscana  die  Litteratur  in  Folge  von  Pedanterie  und  Schwulst 
In  der  Architectur  sind  zu  Ende  des  16.  und  in  der  ersten 
Halfte  des  17.  Jahrhunderts  noch  treffliche  Werko,  namentlich 
durch  Buontalenti,  entstanden:  Portiken,  Palaste,  Villen,  die 
Galerie  der  Uffizien,  wahrend  die  Kirchenbauten  (die  medi- 
ceische Grabcapelle)  zuriickstehen ,  grossere  Ausartung  zeigt  die 
Sculptur  (Bologna  und  seine  Schule),  in  der  Malerei  entstehen 
zu  Anfang  durch  Cigoli  und  seine  Schule  noch  bedeutende,  effect- 
voile  Arbeiten,  erst  Ende  des  17.  und  Anfang  des  18.  Jahr- 
hunderts sinkt  auch  diese  ganz  danieder,  doch  bliihen  fortgesetzt 
Kupferstich  kunst  und  Stoinmosaik ,  mit  Hiilfe  der  letzteren  Kunst 
erfolgt  die  verschwenderische  Ausstattung  der  mediceischen  Grab- 
capelle. Fiir  Kunstsammlungen  herrscht  grosser  Eifer,  neben  den 
ofifentlichen  Museen  der  UHfizien  und  der  Galerie  des  Palastee 
Pitti,  welche  fortgesetzt  bereichert  wurden,  entstanden  zahlreiche 
Privatsammlungen.  Den  Schluss  der  Darstellung  bildet  eine 
Schilderung  des  Lebens  des  Hofes  und  der  vornehmen  Gesell- 
schaft  in  Florenz,  namentlich  zu  Ende  des  16.  Jahrhunderts,  auf 
Grund  der  Berichte  von  Montaigne,  Wnuccini  und  des  Fiirsten 
Ludwig  von  Anhalt.  Noch  unter  Cosimo  III.,  wenigstens  in  seinen 
friiheren  Jahren,  bewahrte  der  Florentiner  Hof  seinen  glanzenden 
Charakter,  in  seinen  spateren  Jahren  wurde  der  Grossherzog 
verstimmt  und  bigott,  unter  Johann  Gasto  begann  zu  Anfang  ein 
lustiges  Lebon,  spater  wurde  derselbe  mehr  und  mehr  unzugang- 
lich,  der  Hof  still  und  einsam. 

Der  erste  Band  enthalt  drei  werthvollc  Beilagen:  eine  Zeit- 
tafel,  eine  litterarische  Notiz,  worin  zunachst  das  hauptsachliehste 
altere,  die  Geschichte  der  Medici  behandelnde  Werk,  die  auf  An- 
regung  des  Grossherzogs  Leopold  I.  1781  erschienene  Istoria 
del  granducato   di   Toscana  sotto   il  governo  della  casa  Medici 

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Beumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toscana' a.  141 

von  Galuzzo  genauer  charakterisirt  und  dann  die  zahlreichen 
Einzelnarbeiten,  welche  der  Verfasser  benutzt  hat,  aufgezahlt 
und  kurz  besprochen  werden,  endlich  eine  genealogiscbe  Tafel 
des  medioeischen  Hauses. 

Der  zweite  Band  behandelt  die  Geschichte  Toscana's  unter 
dem  Hause  Lothringen-Habsburg  (1737—1859),  auch  er  zerfallt 
in  zwei  Biicher,   von  denen   das  erste   iiberschrieben :    „Regent- 
schaft  und  Reformen"    die   Zeit   bis  zur  Entthronung  der  neuen 
Dynastie   in    Folge   der  Revolutionsstiirme    1799   umfasst.     Die 
beiden  ersten   Gapitel   haben   die  Regierung  des   ersten  Gross- 
herzogs  Franz  U.   znm   Gegenstande.     Derselbe  hat  nor  eininal, 
im  Jahre  1739,   mit  seiner  Geinahlin   Maria   Theresia  Toscana 
Idesaeht,  sonst  hat  er  dem  Lande  fern  gelebt  und  die  Verwaltung 
desselben  einer  Regentschaft  iiberlassen,  an  deren  Spitze  zu  An- 
ting zwei  Lothringer,  der  Fiirst  von  Craon  und  der  Graf  Riche- 
court,  in  der  letzten  Zeit,  von  1757  an,  der  Sstreichische  Feld- 
marachall  Botta  stand.    Nur   die  Leitung  der  auswartigen  An- 
gelegenheiten   hat  Franz   sich   allein   vorbehalten,   so   wird  seit 
1740,   nachdem    Franz    deutscher   Kaiser   und   Maria   Theresia 
<  Herrin  von  Oestreich  geworden  ist,   Toscana  ganz  an  Oestreich 
gebunden;   in   dem  ostreichischen  Erbfolgekriege  ist  es  neutral 
geblieben,   im  siebenjahrigen  Kriege   dagegen  hat  es  ein  Htilfe- 
corpa  nach  Deutschland  schicken  miissen,  welches  dort  fast  ganz 
wtergegangen  ist,   von  c.  4000  Mann  sind  schliesslich  nur  300 
in  die  Heimat  zuriickgekehrt.     Toscana  hat  so  unter  Franz  IL 
nur  eine  innere  Geschichte  gehabt.    Die  Regentschaft,  meist  aus 
Auslandern  bestehend,  ist  im  Lande  sehr  unbeliebt  gewesen,  doch 
hat  aie  eine  nicht  unbedeutende  Thatigkeit  ent&Jtet,  sie  hat  schon 
den  Grand   zu  der  spateren  Umgestadtung  des  Staatswesens  ge- 
legt.    Sie  fand  dasselbe  in  tiefem  Verfall  und  bemuhte  sich,  nach 
Yerschiedenen  Seiten  hin  Besserung  zu  schaffen ;  zunachst  auf  dem 
Gebiet  der  Finanzen.    Dieselben  befanden  sich  in  sehr  ungiinstigem 
Zustande,  der  Staat  war  mit  einer  Schuld  von  14  Millionen  Scudi 
bekwtet,  auch  das  mediceische  AUodialvermogen,  welches  durch  einen 
Vertrag  mit  der  Erbin,  der  Kurfiirstin  von  der  Pfalz,  welche  erst 
1743  starb,  gegen  Uebernahme  dieser  Schuld  an  Franz  iiberging,  war 
sehr  zusammengeschmolzen.  Die  Massregeln  freilich,  welche  dieneue 
Regierung  versuchte :  Einfiihrung  einer  Einkommensteuer,  Verpach- 
tong  der  Staatseinkiinf ter  Gestattung  und  Verpachtung  des  Lotto, 
Herabsetzung  der  Zinsen  der  Staatsschuld  waren  gewaltsam  und 
doch  wenig  erfolgreich.     Auch  die  Versuche,  den  Ackerbau,  der 
ebenso  wie  Handel  und  Industrie  daniederlag,  zu  heben,  halfen 
wenig,   da  hartnackig   an  der  alten  verkehrten  Zollpolitik  fest- 
gehalten  wurde.   Erspriesslicher  waren  die  Neuerungen  in  Bezug 
auf  die    Besitzverhaltnisse     (Beschrankung    der    Fideicommisse, 
Reform  des  Lehnwesens)  und  insbesondere  die  Massregeln  gegen 
die  Kirche,  1751  erging  ein  Verbot  aller  weiteren  Schenkungen 
ail  die  todte  Hand  ohne  besondere  landesherrliche  Genehmigung, 
den  Uebergriffen  der  Inquisition  wurde  ein  Ziel  gesetzt,  schliesslich 

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142  Reumont,  Alfred  v.,  Geschichte  ToBcona'g. 

durch  einen  Vertrag  mit  dem  Papste  das  toscanische  Inquisitioiw- 
gericht  ganz  umgestaltet.  Die  Nachfolgefrage  wurde  1763,  zwei 
Jahre  vor  Franz  U.  Tode  entsohieden,  Franz  bestimmte  damals, 
bei  Gelegenheit  der  Verabredung  der  Vennahhmg  des  ErzherzogB 
Leopold  mit  der  spanischen  Prinzessin  Marie  Luise  diesem  seinem 
zweiten  Sohne  Toscana  als  ostreichische  Secundogenitur,  Leopold 
sollte  gerade  1765  naob  Abschluss  der  Vermahlung  als  General- 
gouverneur  dorthiq  abgehen,  als  sein  Vater  starb.  Die  nachsten 
vier  Capitel  beschaftigen  sich  mit  der  Regierung  Leopold  L 
(1765  — 1791),  welche  hier,  ahnlich  wie  im  ersten  Bande  die 
Cosimo  I.,  den  Mitielpunkt  der  Darstellung  bildet.  Leopold  war, 
wie  Cosimo,  erst  18  Jahre  alt,  als  er  die  Regierung  antra  t,  er 
stand  zu  Anfang  noch  unter  einer  gewissen  Bevormundung  von 
Seiten  seiner  Mutter  Maria  Thereaia,  erst  seit  1770  leitete  er  die 
Regierung  ganz  selbstandig.  Er  fand  zu  Anfang  traurige  Zo- 
stande  vor:  Theuerung,  Seuchen,  allgemeine  Geldnoth,  dazu 
musste  er  seinem  alteren  Bruder  Joseph  den  Inhalt  der  offent- 
liehen  Cassen,  welchen  dieser  als  zum  Nachlass  des  Vaters  gehorig 
beanspruchte,  abliefern  und  zunachst  mit  Hiilfe  einer  Anleihe  die 
dringendsten  Bediirfiiisse  des  Staates  bestreiten.  Bald  aber  be* 
gann  er  seine  grosse  reformatorische  Thatigkeit,  welche  sich  auf 
die  verschiedensten  Gebiete  der  Staatsverwaltung  erstreckte. 
Zunachst  wurde  das  Finanzwesen  umgestaltet.  Schon  1767  wurde 
die  Verpachtung  der  Staatseinkiinfte  wieder  abgeschafft ,  (km 
erne  Verminderung  der  Staatslasten  durch  theilweise  Amorti- 
sation der  Staatsschuld.  durchgefiihrt ;  die  Steuerverwaltung  wurde 
dadurch  vereinfacht,  dass  alle  die  verschiedenen  friiher  auf  dem 
Grundbesitz  lastenden  Abgaben  durch  eine  einheitliche  Grand* 
steuer  ersetzt  wurden.  Hand  in  Hand  damit  ging  eine  allmahlich 
durchgefiihrte  Umgestaltung  der  friiher  sehr  manniohfaltigen 
Gemeindeverfassung.  Die  verschiedenen  alten  Behorden  wurden 
sammtlieh  abgeschafft ,  die  Oberleitung  einer  Gemeindekammer 
Ubertragen,  innerhalb  dek*  einzelnen  Gemeinden  einem  selbst- 
gewahlten  Magistrat  und  Generalrath,  denen  allerdings  ein  von 
der  Regierung  bestellter  Gemeindekanzler  zur  Seite  trat,  die 
Verwaltung  iiberlassen.  Ebenso  durchgreifend  war  die  Reform 
des  Justizwesens.  Das  ganze  Land  wurde  in  neue  Geriohtsbezirke 
eingetheilt,  in  Florenz  ein  Obertribunal  gegriindet,  die  Criminal- 
gesetzgebung  reformirt,  den  humanen  Grundsatzen  der  Zeit  ent- 
sprechend  die  Todesstrafe,  Tortnr  und  Giiterconfiscation  abge- 
schafft, das  GefiUignisswesen  gebessert.  Die  Polizei  wurde  von 
der  Justiz  getrennt,  an  ihre  Spitze  ein  President  mit  sehr  aue- 
gedehnten  Befugnisseh  gestellt.  Leopold,  selbst  von  argwohni- 
schem  Geiste,  hat  far  die  Polizei  eine  besondere  Vorliebe  gehegt, 
er  hat  ein  ausgedehntes  Spionirsystem  eingef&hrt,  dagegen  ver- 
nachlassigte  er  ganzlich  das  Militarwesen ,  entliesfi  ausser  den 
Besatzungen  von  Livorno  und  Portoferrajo  sowie  der  Palastwacbe 
alle  Truppen,  liess  auch  die  Kriegsmarine  eingehon  und  machte 
so  das  Land  wehrlos.     Um  so  erspriesslicher  war  die  refbnn&to- 

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Beumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toacana's.  143 

riscbe  Thatigkeit  des  Grossherzogs  auf  dem  okonomischen  Ge- 
biete.   Hier  brach  er  mit  alien  fruhereu  Traditionen ;  ents£rechend 
den  Grundsatzen,   welche  8ein  vertrauter  Minister  Pompeo  Neri 
aussprach,  dass  nnr  Freigebung  des  Verkehrs  und  andererseits 
Steigerung  and  Vervollkommnung  des  Landbaues  das  Land  zum 
WoMstande    fiihren    konnten,    hob    er    die    meisten   Verkehrs- 
be9chrankangen  auf,   ebenso   auch   die   meisten   das  Eigenthum 
beschrankenden  Reohte  (Fideioommisse,  Ruralservituten  n.  s.  w.), 
ferner  die  Zunftgerichtsbarkeit ,  Zunftbeschrankungen ,  Monopole 
und  HandelsprivSegien,  begiinstigte  er  ferner  bei  dem  Besitz  der 
todten  Hand  das  Erbpachtsystem ,  wahrend  im  iibrigen  das  alte 
Aparrecht ,   die  den  Verhaltnissen  des  Landes  passende  Meier- 
wiiAschaft  bestehen  blieb.    Mit  besonderem  Eifer  nahm  Leopold 
die  yon    seinen    mediceischen    Vorgangern    schon    begonnenen 
Laadesmeliorationen  wieder   auf,    mit   dem  gunstigsten  Erfolge 
warden  dieselben  mit  Hiilfe  des  Golmatensystems  im  Chianathale 
dnrchgefiihrt ,    die    dortigen   Sumpflandschaften  zu  fruchtbaren, 
bald  sorgfaltig  angebauten  Acker-  nnd  Weidegefilden  umgeschaffen, 
wahrend  die  ahnlichen  Arbeiten  in  den  Maremmen  in  Folge  der 
dort  zu  tief  eingewurzelten  Schaden  und  verkehrter  Massregeln 
m  der  Hauptsaohe  vergeblich   blieben.    Ein  weiteres  Feld  fur 
seine  Reform  thatigkeit  boten  Leopold  die  kirchlichen  Verhaltnisse 
dar.    Die  geistliche   Jurisdiction   wurde  auf  das   engste   einge- 
schrankt,   strengere  Vorschriften   in  Betreff  der  Vorbildung  der 
Geistlichen,  der  Besetzung  der  Pfarren,  der  kirchlichen  Disciplin 
eriassen,   ein  grosser  Theil  der  iibermassig  zahlreichen  Kloster, 
auch  die  Jesuit encollegien,  aufgehoben,  ihreGKiter  eingezogen  nnd  zur 
Aufbe8serung  der  Pfarreien  verwendet,  auch  die  weitverbreiteten 
Laienbruderschaften  aufgehoben.    So  wohlgemeint  und  verstandig 
alle  diese  kirchlichen  Reformen  an  sich  auch  waren,  so  gewalt- 
sam,  willkiirlich  und  zugleich  kleinlich  ging  man  doch  bei  ihrer 
Atwfuhrung  vor,  und  sie  erregten  daher  unter  dem  strong  kirch- 
lichen Volke   grosse  Missstimmung.    Leopold   forderte  und  be- 
giinstigte den  Episcopat,  in  der  Absicht,  ihn  soviel  wie  moglich 
von  Rom  abzulosen,   und   er  fand   auch  bei  einigen  Bischofen, 
namentlich  bei  dem  Bischof  Ricci   yon  Pistoja,   eifrige   Gehiilfen 
und   Werkzeuge    seiner   kirchlichen   Politik.      Leopold   forderte 
1785    die   Bischofe   zur   Abhaltung   von   Provinzialsynoden    auf, 
namentlich  um  Air  sie,   die  Bischofe  selbst,   die  von  dem  romi- 
schen  Stuhle  usurpirten  Rechte  wiederzugewinnen ,   und   die  Be- 
8chliis8e  der  von  Ricci  geleiteten  Synode  von  Pistoja  waren  auch 
weitgehend  genug,  wurden  freilich  auch  nachher  vom  Papste  als 
haretisch   und   schismatisch   verdammt.      Leopold    beabsichtigte 
auch  die  Berufung  eines  Nationalconcils,  doch  kam  es  1787  nur 
zu  einer  vorbereitenden  Versammlung,  und  hier  fand  er  bei  der 
Majoritat  der  Bischofe  eine  seinen  Wiinschen  so  wenig  geneigte 
Stimmung,  dass  er  dieselbe  bald  wieder  auf loste. 

So  selbstandig   Leopold   auch   im    Inneren    seines    Staates 
wirkte,  90  willig  uberliess   er   sich  doch  in  seiner  allgemeinen 

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144  Reumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toacana's. 

PoliUk  dem  ostreichischen  Einflusse.  Die  anfitngliche  Verstim- 
mung  gegeu  seinen  Bruder  Joseph  ist  spater  geschwunden  und 
Leopold  hat  sich  alien  Wiinschen  desselben,  namentlich  in  Bezug 
auf  seine  Familie,  gefiigt.  Joseph  bestimmte  fur  Leopolds  alte- 
sten  Sohn  Franz\  den  einstigen  Erben  der  ostreichischen  Moil- 
archie,  den  Erzieher,  einen  ostreichischen  Officier,  den  Marchese 
Manfredini ,  rief  dann  den  Prinzen  nach  Wien ,  Leopold  giag 
sogar  auf  die  seinen  eigenen  Wiinschen  durchaus  entgegenlaufende 
Forderung  Josephs  ein  und  willigte  in  die  unmittelbare  Yer- 
einigung  Toscana's  mit  Oestreich,  fiir  den  Fall,  class  der  Kaiser 
oder  er  selbst  stiirbe.  Doch  mischte  er  sich  absichtlich  nicht  in 
die  ostreichischen  Verhaltnisse  bei  Josephs  Lebzeiten  ein,  folgte 
nicht  dem  Rufe  desselben  in  seiner  letzten  Krankheit  nach  Wien 
Am  20.  Februar  1790  starb  Joseph,  am  3.  Marz  yerliess  Leopold 
Florenz,  urn  die  Regierung  der  ostreichischen  Staaten  anzu- 
treten.  Die  Verwaltung  in  Toscana  iiberliess  er  zunachst  einer 
Regentschaft.  Sofort  nach  seiner  Abreise  fiihrte  der  allgemeine 
Unwille  liber  die  kirchlichen  Zustande  zu  Tumulten,  welche  sich 
namentlich  gegen  den  Bischof  Ricci  richteten,  Leopold  empfehl 
anfangs  Nachgiebigkeit ,  schritt  dann  aber  auf  das  strengste  ein 
und  Hess  deutsche  Truppen  in  Toscana  einriicken,  Am  23.  Juli 
1790  iiberliess  er,  entgegen  der  friiher  mit  Joseph  getroffenen 
Abmachung,  Toscana  seinem  zweiten  Sohne  Ferdinand,  und  fiihrte 
diesen  selbst  im  nachsten  Jahre  nach  Florenz,  am  24.  Juni  1791 
trat  der  neue  Grossherzog  dort  die  Regierung  an. 

Leopold  hat  im  Jahre  1790,  nachdem  er  Toscana  verlassen, 
einen  Rechenschaftsbericht  iiber  seine  Reformen  und  seine  finan- 
zielle  Verwaltung  veroffentlicht,  er  hat  sich  auch  schon  mit  der 
Idee  einer  Neugestaltung  des  Staates  auf  verfassungsmassiger 
Grundlage  getragen,  nach  dem  Berichte  seines  Vertrauten  Giauni 
soil  er  eine  dreifache  Representation  des  Volkes,  durch  commu- 
nale,  provinziale  und  durch  eine  allgemeine  Landesversammlung 
im  Auge  gehabt  haben,  und  hiemit  stimmen  manche  Aeusserungeo 
Leopolds  selbst,  namentlich  in  seinem  „Glaubensbekenntnissa, 
einer  ausfuhrlichen ,  an  seine  Schwester  Marie  Christine  gerich- 
teten  Auseinandersetzung  seiner  politischen  Grundsatze,  dort 
erklart  er:  „Ich  glaube,  dass  der  Souveran,  wenn  auch  ein  erb- 
licher,  nur  ein  Delegirter  und  Beauftragter  des  Volkes  ist,  fiir 
welches  er  da  ist;  dass  er  ihm  alle  seine  Sorge  und  Arbeit 
widmen  muss;  dass  jedes  Land  eines  Grundgesetzes  oder  Ver- 
trages  zwischen  Volk  und  Souveran  bedarf,  wodurch  Autoritat 
und  Macht  des  Letzteren  begrenzt  werden;  dass,  wenn  der 
Souveran  diesen  Vertrag  verletzt,  er  thatsachlich  auf  seine  Stel- 
lung  verzichtet,  die  ihm  nur  unter  dieser  Bedingung  zuerkannt 
worden  ist,  und  dass  man  ihm  nicht  mehr  zu  gehorchen  ver- 
pflichtet  ist;  dass  die  ausiibende  Gewalt  dem  Souveran,  die 
gesetzgebende  dem  Volke  und  dessen  Vertretern  zusteht;  dass 
das  Volk  bei  jedem  Wechsel  der  Person  des  Souverans  seiner 
Autoritat  neue  Bedingungen  vorschreiben  kann." 

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Beumont,  Alfre4  v.,  Geschichte  Toecanaa.  145 

Der  neue  Grossherzog  Ferdinand  III.,  dessen  erste  Zeiten 
(1791  —  1799)  das  achte  Gapitel  behandelt,  stand  unter  dem 
leitenden  Einflusse  seines  Giinstlinges,  jenes  einst  von  Joseph  nach 
Florenz  empfohlenen  Manfredini,  der  in  der  Stellung  eines  Major- 
domos  des  grossherzoglichen  Hofhaltes  auch  die  StaatsgeschSfte 
gefuhrt  hat.  Im  Inneren  wurden  manche  der  leopoldinischen 
Massregein  verandert,  namentlich  kara  es  zu  einem  Compromiss 
mit  der  Kirche,  in  welchem  dieser  Goncessionen  in  Jurisdictions- 
und  Ehesachen  gemacht  warden ,  in  seiner  auswartigen  Politik 
emancipirte  sich  Ferdinand  yon  Oestreich ;  1792,  nach  dem  Ausbruch 
des  Krieges  gegen  Frankreich,  suchte  er  zuerst  eine  bewaffhete  Neu- 
tralist ganz  Italiens  zu  Stande  zu  bringen,  dann  wenigstens  sich  selbst 
waknl  zu  halten,  dnrch  die  Drohungen  Englands  wurde  er  1793 
genothigt,  sich  der  grossen  Coalition  gegen  Frankreich  anzu- 
schJiessen,  er  trat  aber  schon  1795  von  derselben  zuriick  und 
schlois  mit  der  franzosischen  Bepublik  einen  Neutralitatsvertrag. 
Doch  war  diese  Politik  sehr  unpopular  im  Lande,  and  sie  schiitzte 
daaelbe  nicht  vor  franzosischen  Gewaltthaten,  1796  liess  Bona- 
parte Livorno  occupiren ,  darauf  warde  die  Stadt  von  den  Eng- 
Bndern  blockirt,  auch  auf  Elba  und  in  den  Maremmen*  landeten 
englische  Truppen.  1797  erlangte  Ferdinand  glticklich  die  Rau- 
nrong  Livorno's  sowie  audi  Elba's,  aber  die  Lage  des  Gross- 
herzogthums  bKeb  doch  hochst  unsicher,  der  Ausbruch  des  neuen 
Krieges  mit  Oestreich  1799  entschied  dann  liber  sein  Sohicksal, 
der  Grossherzog  und  seine  Familie  musste  das  Land  verlassen, 
nnd  dasselbe  kam  unter  franzosische  Verwaltung. 

Das  neunte  Gapitel  behandelt  Litteratur  und  Kunst  wahrend 
der  Epoche  von  1737  —  1799,  Auf  beiden  Gebieten  zeigt  sich 
ein  grosser  Niedergang,  die  schonen  Kiinste  sind  tief  verMlen, 
mter  den  Wissenschaften  begiinstigt  Leopold  nur  das  rechts- 
wissenschaftliche,  historische  und  nationalokonomische  Oebiet  und 
auf  diesen  entsteht  allerdings  eine  Reihe  von  tiichtigen  Arbeiten, 
die  Aecademia  della  Crusca  lost  er  auf,  doch  sorgt  er  fur  Ver* 
mehrung  der  Bibliotheken  und  fur  Bereicherung  und  Neuordnung 
der  Kunstsammlungen.  Das  Leben  und  die  Gesellschaft  der 
vornehmen  Kreise,  welche  das  10.  Capitel  schildert,  sind  zu  An- 
ting noch  glanzend ,  obwohl  der  Reichthum  der  florentinischen 
Aristokratie  zum  Theil  schon  zerriittet  ist;  Leopolds  Hof  war 
einfach,  er  selbst  wenig  popular,  seine  Umgebung  bildeten  meist 
Deutsche.  Die  vornehme  Gesellschaft  war  unter  ihm  schon  sehr 
herabgekommen,  doch  wurde  schon  damals  Florenz  Sammelpunkt 
neler  Fremder,  namentlich  Englander,  dazu  kamen  dann  zuletzt 
zahlreiche  Fllicbtlinge,  welche  die  revolutionaren  Ereignisse  aus 
Frankreich  und  Oberitalien  vertrieben  hatten. 

Das  zweite  Buch,  betitelt:  ^Revolution  und  Restauration", 
behandelt  die  letzten  60  Jahre  der  toscanischen  Geschichte 
(1799—1859).  Die  ersten  drei  Capitel  erzahlen  die  Schicksale 
des  Landes  unter  der  franzosischen  Herrschaft  (1799 — 1814). 
Toscana  fugte   sich   ohne   Widerstand  der  Besetzung  durch  die 

Mittheilanfcn  t   d.  hiitor.  Litteratar.    VI.  10 

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*>*! 


146  Reumont,  Alfred  v.,  Geschichto  Toscana's. 

Franzosen,  aber  die  Zahl  der  wirklichen  Freunde  der  neuen 
Ordnung  war  nur  gering,  die  grosse  Mehrheit  der  Bevdlkerung 
hasste  dieselbe  als  eine  Fremdherrschaft,  wegen  der  Raubereien 
der  Franzosen  und  des  Uebermuthes  ihrer  durch  aie  jetzt  ana  Ruder 
gekoinmenen  republikanischen  Freunde,  so  kam  es  nach  den  ersien 
Siegen  der  Oestreicher  und  Russen  in  Italien  schon  im  Mai  1799  zu 
einer  Erhebung,  welche  von  Arezzo  ausging,  im  Juni  raumtsn 
die  Franzosen  das  Land  und  dieses  verfiel  nun  ganz  anarchischen 
Zustanden,  aber  1800  nach  der  Scblacht  bei  Marengo  zogen  die 
Franzosen  wieder  ein,.  Arezzo  wurde  ersturmt  und  musste  schwer 
fur  seinen  Widerstand  biissen.  In  Folge  des  Vertrages  von 
S.  Udefonso  kam  dann  Toscana  als  Konigreich  Etrurien  an  den 
Bourbonen  Ludwig  von  Parma,  den  Schwiegersohn  Konig  Carl  IV. 
yon  Spanien.  Derselbe  iibernahm  dort  im  August  1801  die  Re- 
gierung,  stand  aber  ganz  unter  franzosischer  Bevormundung, 
nach  seinem  Tode  1803  folgte  ihm  seine  Gemahlin  Marie  Luise, 
doch  musste  dieselbe  1807  in  Folge  des  von  Napoleon  mit 
Spanien  zu  Fontainebleau  abgeschlossenen  Vertrages  das  Land 
an  Frankreich  abtreten  und  dasselbe  wurde  jetzt  Provinz  des 
grossen  napoleonischen  Reiches.  Es  erfolgte  eine  vollstandige 
Umgestaltang  der  Verwaltung  nach  franzosischem  Muster,  Ein- 
fiihrung  der  Conscription,  des  Code  Napoleon,  vollstandige  Anf- 
hebung  alter  geistliehen  Orden,  auch  des  Stephansordens,  im 
Zusammenhange  damit  auch  die  Auf  hebung  der  Staatssehuld,  die 
Inscriptionen  zu  Gunsten  von  Gemeinden  und  offentlichen  An- 
stalten  wurden  in  franzosische  Rente  umgewandelt,  die  im  Besitx 
Ton  Privaten  befindlichen  Schuldtitel  durch  Zuweisung  yon  Lan- 
dereien  (Klostergiitern  und  Domanen)  abgelost.  Toscana  wurde 
1809  als  Grossherzogthum  zu  einer  der  Grosswiirden  des  Kaiser- 
reiches  erhoben  und  Napoleons  Schwester,  Elisa  Baciochi,  wurde 
an  die  Spitze  der  Verwaltung  gestellt  Zwar  blieb  ihr  nur  der 
aussere  Schein,  die  wirkliche  Regierung  fiihrten  die  franzdoschen 
Beamten ,  doch  wusste  sie  durch  kluge  Vermittlung  die  Harteu 
der  neuen  Zustande  wenigstens  theilweise  zu  mildern,  Trotzdem 
und  trotz  mancher  wohlthatigen  Einrichtungen  blieb  die  franzo- 
sische  Herrschaft  verhasst,  mit  Freuden  begriisste  daher  das  Land 
den  1814  eintretenden  Umschwung.  Es  wurde  zuerst  von  eng- 
lischen  und  neapolitanischen  Truppen  besetzt,  schon  im  April 
wurde  dann  die  Riickkehr  des  alten  Herrschers  verkiindet,  am 
1.  Mai  iibernahm  der  Commissar  desselben,  Fiirst  RospigHosi, 
die  Regierung ,  im  September  zog  Ferdinand  selbst  wieder  in 
Florenz  ein. 

Das  vierte  Capitel  schildert  die  spatere  Regierung  Ferdi- 
nand III.  (1814—1824).  Durch  die  Wiener  Schlussacte  wurde 
demselben  die  Herrschaft  liber  Toscana  bestatigt,  auch  die  ehe- 
mals  neapolitanischen  Prasidien,  ferner  Elba  und  Piombino  wurden 
mit  dem  Grossherzogthum  vereinigt  und  der  Heimfall  von  Lucca, 
welches  die  ehemalige  Konigin  von  Etrurien,  Marie  Luise,  erhieft, 
in  Aussicht  gestellt.  Ferdinand  berief  am  die  Spitze  seines  Mini- 
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Beumont,  Alfred  v.,  Geschichte  Toscana'fl.  147 

steriums  zwei  tuchtige,  schon  unter  seinem  Vater  erprobte 
Manner:  Fossombroni  und  Neri  Corsini,  unter  ibrer  Leitung 
wurde  die  Bestauration  in  gemassigter  Weise  vorgenommen.  Die 
franzosische  Verwaltung  und  Gerichtsverfassung  wurden  wieder 
abgeschafft,  docb  einzelne  Theile  des  franzosischen  Recbtes  bei- 
behalten,  die  alte  Gericbts-  und  Gemeindeverfassung  wurde  mit 
einigen  nicbt  sehr  gliicklicben  Veranderungen  wieder  hergestellt. 
And  das  kircbliche  Jurisdictionswesen  wurde  nach  den  leopol- 
dinischen  Grundsatzen  neu  geordnet,  durcb  einen  Vertrag  mit 
dem  Papste  1815  wurde  ein  Tbeil  der  Kloster  bergestellt  und 
nen  dotirt,  daiiir  aber  die  Anerkennung  der  friiheren  Verausse- 
mngen  der  geistbcben  Guter  erlangt.  Die  anfanglioh  traurigen 
Qkonomischen  Zustande  besserten  sich  bald  in  Folge  einer  ver- 
standigen  Finanzpolitik ,  Bliithe  und  Woblstand  kehrten  allmah- 
licb  zuriick ,  grossartige  Strassenbauten  wurden  unternommen, 
die  Bonificirang  des  Chianathais  fortgesetzt.  Toscana  wusste 
sch  eine  gewisse  Selbstandigkeit  auch  Oestreioh  gegeniiber  zu 
wahren,  es  blieb  yon  den  revolutionaren  Ereignissen  1820  und 
1821  verschont  und  bot  zablreichen  Fluchtlingen  aus  anderen 
italienischen  Staaten  ein  Asyl.  Die  Gapitel  5—8  bebandeln  die 
Regienmg  des  letzten  Grosfcherzogs  Leopold  II.  (1824—1859). 
Die  ersten  20  Jabre  desselben  waxen  fur  Toscana  gliickliche 
Zeiten,  der  Grossherzog  selbst  war  wohlwollend  und  eifrig  thatig, 
aber  kleinlicb  und  unentschlossen ,  bis  1845  fuhrten  die  alten 
Minister  seines  Vaters,  Fossombroni  und  Corsini,  die  Regienmg 
fort  Der  Organismus  der  Verwaltung  blieb  in  der  Hauptsache 
der  alte,  auch  die  okonomiscben  Grundsatze  Leopold  I.  wurden 
feetgehalten,  Industrie  und  Handel  wurden  gefordert,  die  offent- 
licben  Arbeiten  in  grossartiger  Weise  fortgefiihrt,  die  Strassen- 
bauten wurden  erweritert,  1841  auob  die  erste  Eisenbahn  zwiscben 
Livorno  und  Florenz  begonnen,  Livorno  wurde  erweitert,  die 
Zollfreiheit  auch  auf  die  Vorstadte  ausgedehnt,  die  alten  Be- 
festigungen  abgetragen,  eine  neue  Ringmauer,  neue  Hafenbassins 
angelegt,  die  Arbeiten  im  Cbianathal  vollendet,  seit  1828  auob 
die  bisher  vergeblich  versucbte  Bonification  der  Maremmen  wieder 
aofgenommen  und  schliesslicb  eben&lls  unter  Anwendung  des 
Colmatensystems  zu  dem  glanzendsten  Resultate  gefubrt.  1847 
erfolgte  nach  freiwilliger  Abtretung  von  Seiten  des  Fiirsten  Carl 
Ludwig  die  Vereinigung  Lucca's  mit  dem  Grossherzogthum, 
Leopold  war  popular,  trotzdem  bereitete  sich  seit  1845  ein  Um- 
schwung  vor,  bauptsachlicb  veranlasst  durch  die  revolutionaren 
Bewegungen  im  iibrigen  Italien;  in  Folge  der  Ereignisse  von 
1846  entstand  auch  in  Toscana,  namentlioh  in  Livorno,  grosse 
Aufregung,  der  Grossherzog  bewilligte  einzelne  Reformen,  unter- 
bees  ea  aber,  rechtzeitig  die  Forderung  nach  einer  Reprasen- 
tativveriassung  zu  erfiillen.  Seine  beiden  alten  Minister  waren 
1845  gestorben,  ihre  Nachfolger,  Ridolfi  und  Serristori,  ge- 
laasaigte  Liberals,  waren  ohne  politische  Erfahrung  und  ohne 
Consequenz.   Em  erster  Aufstand,  Januar  1848,  in  Livorno  wurde 

10* 

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148  Reumont,  Alfred  v.,  Gesckickte  Toscana's. 

unterdriickt,  aber  (torch  die  auswartigen  Ereignisse  wurde  die 
Erregung  im  Lande  gesteigert,  die  Regierung  liess  sich  von  der 
Bewegung  mit  fortziehen,  schon  im  Februar  1848  erliess  Leopold 
eine  Verfassung,  der  allgemeinen  Volksstimme  gehorchend  be- 
theiligte  er  sich  dann  am  Kriege  gegen  Oestreich.  Als  dann 
im  Juli  und  August  Pobelaufstande  in  Florenz  und  Livorno  aus- 
brachen,  die  letztere  Stadt  in  die  Q-ewalt  der  Banden  gerieth, 
suchte  Leopold  den  Sturm  dadurch  zu  beschwichtigen ,  class  er 
die  beiden  Hauptfuhrer  der  Bewegung,  Guerazzi  und  Montanelli, 
an  die  Spitze  des  Ministeriums  berief.  Aber  die  Folge  da?on 
war  die  Neubesetzung  der  Verwaltung  mit  Revolutionsmannern 
und  bald  ein  vollstandiger  Pobelterrorismus.  Grossherzog  Leo- 
pold entfernte  sich  daher  Januar  1849  erst  nach  Siena ,  dann 
nach  Porto  S.  Stefano,  endlich  ausser  Landes  nach  Gaeta,  iiber- 
liess  aber  dem  Ministerium  die  Leitung  der  Geschafte.  Allein 
im  Lande  selbst  erhob  sich  bald  Opposition  gegen  das  herr- 
schende  Pobelregiment,  Guerazzi,  im  Marz  zum  Dictator  erhoben, 
wurde  im  April  durch  eine  Erhebung  der  Biirgerschaft  in  Florenz 
gestiirzt,  allgemein  war  der  Ruf  nach  Herstellung  der  Ordnung, 
nur  Livorno  blieb  in  der  Gewalt  der  Revolutionsmanner.  Leo- 
pold wurde  zur  Ruckkehr  aufgefordert ,  trotzdem  erfolgte  dann 
der  Einmarsch  der  Oestreicher,  diese  nahmen  Livorno  und  haben 
die  Stadt  bis  1854  besetzt  gehalten.  Im  Mai  1849  ernannte 
Leopold  ein  neues  Ministerium^  unter  Baldasseroni,  kehrte  selbst 
im  Juli  nach  Florenz  zuriick.  Er  selbst  wie  seine  Minister  haben 
dann  in  den  spateren  Jahren  durch  eifrige  Thatigkeit  der  Ver- 
wirrung,  welche  die  demokratische  Regierung  zuruckgelassen,  ein 
Ende  zu  machen  gesucht;  die  Ordnung  in  der  Verwaltung  und 
in  den  tief  zerriitteten  Finanzen  wurde  wiederhergestellt ,  die 
offentlichen  Arbeiten  wieder  aufgenommen,  eine  Milit&rmacht  und 
die  Anfange  einer  Kriegsmarine  wurden  gegriindet.  Trotzdem 
blieb  die  Aufregung  im  Lande,  genahrt  durch  die  politiscbe 
Haltung  der  Regierung,  die  Aufhebung  der  Verfassung,  den 
engen  Anschluss  an  Oestreich,  diese  Missstimmung  wurde  ge- 
schickt  von  den  Leitern  der  italienischen  Bewegung  in  Piemont 
benutzt,  und  so  kam  es  1859  beim  Ausbruch  des  Krieges  zwi- 
schen  Oestreich  und  Sardinien  zu  der  Erhebung  in  Florenz, 
welche  den  Sturz  Leopolds  und  dann  1860  den  Anschluss  an 
Sardinien  zur  Folge  hatte.  Der  Verfasser  hegt  fur  diese  Ent- 
wickelung  der  Dinge  wenig  Sympathie,  er  erkennt  in  jenem  Ver- 
zicht  auf  die  Selbstandigkeit  nur  ein  Opfer,  welches  sich  das 
Land  auferlegt  habe.  „Mit  bewusstem  und  ausgesprochenem 
Willen  seiner  damaligen  Machthaber  hat  dies  Land,  zum  Zweck 
der  Griindung  eines  grossen  italischen  Staates,  Institutionen 
in  Frage  gestellt  und  bald  geopfert,  denen  es  zu  grossem  Theil 
seine  Bliite  verdankte,  und  die  wol  selbst  liber  ihren  wahren 
Werth  hinaus  als  Palladien  gepriesen  worden  waren,  ohne  Com- 
pensation wie  ohne  Garantien,  mit  einer  Generositat,  die  etwas 
Schones  hat,  aber  nicht  in  gleichem  Maasse  von  staatsmannischem 

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Gaedeke,  Arnold,  Die  Politik  Oesterreichs  in  der  span.  Erbfolgefrage.      149 

Greiste  zeugt."  —  Leopold  hat  bis  1869  auf  seinen  Besitzungen 
in  Bohmen  gelebt,  dann  ist  er  nach  Rom  gegangen  and  ist  dort 
im  Januar  1870  gestorben. 

Das  neunte  Capitel  enthalt  eine  sehr  eingehende  Darstellung 
der  Zustande  von  Wissenschaft,  Litteratur  und  Kunst  iimerhalb 
dieser  letzten  Periode,  das  letzte,  10.,  schildert  „Land  und 
Leute",  namentlich  die  geselligen  und  wirthschaftlichen  Zustande 
unter  der  franzosischen  Herrschaft,  dann  wahrend  der  Um- 
walzungen  von  1846  — 1849  und  endlich  wahrend  der  zweiten 
Bestaurationsperiode. 

Auch  dieser  Band  enthalt  als  Beilagen  eine  Zeittafel  und 
eine  Ktterarische  Notiz ,  in  welcher  letzteren  der  Verfasser  ahn- 
M  wie  in  dem  ersten  Theile  genauer  die  beiden  Hauptwerke, 
welcle  die  Grundlage  fiir  seine  Darstellung  geliefert  haben: 
Mi's  Storia  civile  della  Toscana  dal  1737  al  1848,  und  Baldas- 
serom's  Leopoldo  II. ,  granduca  di  Toscana  e  i  suoi  tempi ,  be- 
spricht  und  daran  eine  Aufzahlung  und  kiirzere  Charakterisirung 
der  Specialschriften  kniipft.  Eine  hochst  werthvolle  Beigabe 
bildet  das  74  Seiten  fullende,  beide  Bande  zusammen  umfassende 

er. 

Berlin.  F.  Hirsch. 


XXXIIL 

Gaedeke ,  Arnold ,  Die  Politik  Oesterreichs  in  der  spanischen 

Erbfolgefrage.    Mit  Benutzung  des  K.  E.  Haus-,  Hof-  und 
Staatsarchivs  und   des   Grafl.  Harrach'schen  Familienarchivs. 
Nebst  Acten  und  Urkunden.     2  Bande  gr.  8.     (XXIV,  265, 
160  und  XV,  133,  204  S.)    Leipzig  1877,  Duncker  &  Hum- 
blot    16  M. 
Der  Verf.   beabsichtigt ,  wie   er  dies  in  der  Vorrede  aus- 
,spricht,  mit  diesem  Werke  eine  sehr  fuhlbare  Liicke  in  der  diplo- 
matischen  Gteschichte  der  zweiten  Halfte  des  17.  Jahrhunderts 
aoszufullen.     Den    sehr    verwickelten  politischen  Verhaltnissen 
der  letzten   Jahrzehnte   des   genannten   Jahrhunderts   sind   die 
Historiker  der  Gegenwart  von  verschiedenen  Seiten  und  Gesichts- 
punkten  her  nahegetreten.    Dass  Ranke  in  seiner  englischen  und 
franzosischen  Geschichte  auf  die  Politik  der  betreffenden  Lander 
den  Hauptaccent  legt,   ist  in  der  Natur  der  Sache  begrtindet; 
aber  auch   C.  v.  Noorden  in  seiner  universeller  angelegten  Ge- 
achichte  des  spanischen  Erbfolgekrieges  beschaftigt  sich  in  wirk- 
lich  erschdpfender  Weise  nur  mit  der  Politik  der  Seemachte  und 
ihrem  durch  handelspolitische  Biicksichten  bestimmten  Eingreifen 
in  die  Geschicke   der   dem  Zerfall  entgegengehenden  spanischen 
Gesammtmonarchie,  wahrend  er  von  der  kaiserlichen  Politik  und 
der  Entwickelung  der  Dinge  in  Madrid  bis  zum  Tode  Carls  IL 
nur  eine  gedrangte  Uebersicht  giebt. 

Eg  war  daher  ein  sehr  gliicklicher  Gedanke  des  Verf.,  durch 
wnfa8Bende  Studien  in  den  Archiven  zu  Wien  und  Madrid  und 

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150       Gaedeke,  Arnold,  Die  Politik  Osterreichs  in  deT  span.  Erbfolgefrage. 

durch  Ausbeutung  der  damals  noch  nicht  publicirten  Correspo* 
denz  zwischen  Harcourt  and  Ludwig  XIV.  sich  in  den  Stand 
zu  setzen,  die  Politik  des  kaiserlichen  Erzhauses  einer  eingehen- 
den  Erorterung  zn  unterziehen  und  iiber  das  verworrene  Partei- 
getriebe  am  Hofe  zu  Madrid,  das  schliesslich  zu  dem  alle  Welt 
iiberraschenden  Testamente  Carls  II.  fiihrt,  einiges  Licht  zu 
verbreiten. 

Dem  ersten  Theil  der  Aufgabe  konnte  der  Verf.  in  er« 
schopfender  Weise  gerecht  werden;  von  einer  umfassenden  Be* 
nutzung  des  ihm  mit  grosser  Liberalitat  eroffneten  Haus-,  Hof- 
und  Staatsarchivs  zu  Wien  sowie  des  graft  Harrach'schen 
Familienarchivs  zeugen  ausser  dem  Werke  selbst  die  mit  ge- 
schickter  Hand  ausgewahlten  Acten  und  Urkunden.  (In  Bd.  I. 
Hispanica  1695  — 1699 ;  Berichte  aus  Briissel  und  dem  Haag 
1696  und  1697 ;  Briefe  von  Kaunitz  an  F.  B.  Harrach ;  Anglica 
und  Hollandica  1698  — 1699;  Briefwechsel  zwischen  Wiser  und 
Kinsky ;  Handbillets  Leopolds  I.  an  Kinsky.  In  Bd.  II.  Anglica 
und  Hollandica  1699  und  1700;  Hispanica  1699  und  1700; 
Gallica  1699  und  1700;  Oonferenzprotocolle  1699  und  1700.) 

An  der  Ausbeutung  der  Archive  von  Paris  und  Maclrid 
wurde  der  Verf.  gehindert  durch  den  Ausbruch  des  deutsch- 
franzosischen  Krieges  von  1870/71.  Die  wichtige  Corresponded 
zwischen  Harcourt  und  Ludwig  XIV.  wurde  ihm  zwar  zugang- 
lich  durch  die  inzwischen  erfolgte  Publication  von  Hippeau,  im 
Uebrigen  aber  war  der  Verf.  in  Bezug  auf  die  Vorg&nge  in 
Madrid,  abgesehen  von  dem  Material,  was  ihm  die  Berichte  der 
osterreicbischen  und  franzosischen  Gesandten  darboten,  auf  die 
Benutzung  vorhandener  Werke,  wie  Lafaente,  historia  de  Espana, 
Havemann,  Darstellungen  aus  der  inneren  Geschichte  Spaniens 
wahrend  des  15.,  16.  und  17.  Jahrhunderts ,  Weiss,  L'Espagne 
depuis  le  rSgne  de  Philipp  II.  und  Kiinzel,  Leben  des  Land- 
grafen  Georg  von  Hessen  -  Darmstadt  angewiesen,  sodass  dem 
kiinftigen  Erforscher  der  spanischen  Staatsarchive  fur  diese 
Periode,  insbesondere  hinsichtlich  der  Amtsfuhrung  der  bedeu- 
tenderen  Minister  Carls  IL,  noch  eine  nicht  unerhebliche  Nach- 
lese  iibrig  bleibt.  Mag  aber  auch  Einzelnes  in  Zukunft  durch 
Publikationen  aus  genanntem  Archiv  in  ein  anderes  Licht  geriickt 
werden,  so  darf  dem  Verf.  doch  das  Verdienst  nicht  geschmalert 
werden,  mit  dem  ihm  zu  Gebote  stehenden  Material  das  Mog- 
lidie  geleistet  und  uns  von  der  zerfahrenen  Politik  des  kaiser- 
lichen Erzhauses  und  der  inneren  Zerriittung  und  Zersetzung  der 
spanischen  Monarchic,  welche  schliesslich  die  Auslieferung  dieses 
Landes  an  das  Haus  Bourbon  zu  einem  Acte  politischer  Notb- 
wendigkeit  macht,  ein  so  Wares  Bild  entworfen  zu  haben,  dass 
sein  Werk  in  dieser  Beziehung,  wenigstens  bis  zu  abschliessenden 
archivalischen  Forschungen,  massgebend  bleiben  diirfte. 

Aeusserlich  zeigt  das  Werk  eine  gewisse  Ungleichheit  der 
Behandlung.  Dem  I.  Bande  ist  ein  sehr  detaillirtes  Inhalts- 
verzeichniss  beigefiigt,   dem  II.  nicht;   der  L  Band  enthfilfr  ein 

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Owdeke,  Arnold,  Die  Politlk  Oesterreichs  in  der  span.  Erbfolgefrage.      151 

Dnickfehlerverzeichniss ,  dem  II.  fehlt  ein  solches,  obwohl  recht 
sinnentstellende  Dnickfehler  vorkommen.  So  ist  zu  lesen  p.  22, 
Anm.  2,  Z.  10:  „Entschuldigung"  statt  EntschSdigung ;  p.  45, 
Z.  21:  „CarlIL"  statt  Carl  I. ;  p.  57,  Z.  9  etwa:  „dem  Kaiser" 
statt  den  Franzosen;  p.  75,  Z.  15:  „allena  statt  allein.  —  Auf 
einzelneBerichtigungen  der  bisherigen  Anschauung  durcb  Gaedeke 
ist  bereits  im  Litterarischen  Centralblatt  von  1877  Nr.  29 
(p.  945)  aufmerksam  gemachi  Kef.  halt  das  vorliegende  Werk 
fur  wichtig  genug,  urn  von  den  darin  enthaltenen  Untersuchungen 
den  Zusammenhang   und   die   Resultate   kurz  zusammenfassend 


Im  1.  Capitel  des  I.  Buches  des  I.  Bandes  wird  behandelt 
die  Entstehung  and  Vorgeschichte  der  spanischen  Erbfolgefrage 
bis  nun  Abschluss  der  zweiten  Coalition  gegen  Ludwig  XIV. 
1689.  Eine  gesetzliohe  Begelung  der  erblichen  Thronfolge  in 
Spanien  hat  bereits  1260  stattgefunden  in  Alfons'  X.  Gesetz- 
bache  „las  siete  partidas" ,  in  welchem  bestimmt  wird ,  dass  die 
Sohne  den  Tochtern  und  diese  wiederum  sammtlichen  anderu  mann- 
Kchen  Verwandten  vorgehen  sollen;  eine  Abweichung  von  diesem  Ge- 
8etze  soil  nur  mit  Genehmigung  der  Cortes  erfolgen  dtirfen.  Die  erste 
Verzichtleistung  einer  spanischen  Infantin  (Anna  von  Oesterreich) 
wird  daher  auch  von  den  Cortes  bestatigt;  bei  der  Vermalung 
der  Maria  Theresia  mit  Ludwig  XIV,  wird  dagegen  die  erfolgte 
Verzichtleistung  den  Cortes  garnicht  zur  Genehmigung  vorgelegt, 
Als  nun  Philipp  IV.  auch  die  Bedingungen  des  Heiratscontractes 
in  Bezug  auf  die  Mitgift  nicht  innehalt,  halt  sich  Ludwig  XIV., 
nicht  ohne  einen  Anschein  von  Recht ,  an  jenen  Verzicht  nicht 
gebunden.  Durch  den  zwischen  Leopold  I.  und  Ludwig  XTV. 
am  19.  Jan.  1668  zu  Wien  geschlossenen  Theilungsvertrag ,  in 
welchem  der  Kaiser  sich  mit  Spanien,  Indien,  Mailand  und  Sar- 
dinien  begniigt,  werden  die  Rechte  des  Hauses  Bourbon  seitens 
des  Kaisers  wenigstens  indirect  anerkannt.  Dieser  auf  einen 
friihen  Tod  Carls  II*  berechnete  Vertrag  wird,  als  das  Eintreten 
des  „grand  cas"  sich  verzogert,  zerrissen  durch  die  Allianz  des 
Kaisers  mit  den  Generalstaaten  und  Spanien  gegen  Ludwig  1673. 

1675  Trird  Carl  II.  grossjahrig.  Seine  von  der  Konigin- 
Mntter  geplante  Verheiratung  mit  Maria  Antonia,  einziger  Tochter 
des  Kaisers  und  der  Margaretha  Theresia,  wird  vereitelt  durch 
eine  von  Juan  d' Austria,  natiirlichem  Sohne  Philipps  IV.,  ange- 
zettelte  Palastrevolution ;  Juan  vermittelt  die  Vermalung  Carls 
mit  Marie  Luise  von  Orleans  und  halt  die  Konigin  -  Mutter  in 
Toledo  gefangen.  Nach  Juans  Tode  1679  kehrt  diese  nach 
Madrid  zuruck;  ihr  und  der  osterreichischen  Partei  gegenttber 
hat  die  junge  Konigin  einen  schweren  Stand;  in  Folge  eines 
schmahlichen,  an  die  Unfruchtbarkeit  der  Konigin  anknttpfenden 
Processes  werden  die  Pranzosen  aus  Spanien  verwiesen,  die 
Konigin  bleibt  ohne  politischen  Einfluss. 

1685  muss  Maria  Antonia  bei  ihrer  Verheiratung  mit  dem 
Kurfftrsten  Max  Emanuel  von  Baiern  dem  Kaiser  gegeniiber  auf 

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152      Gaedeke,  Arnold,  Die  Politik  Oesterreichs  in  der  span.  Erbfolgefrage. 

die  Erbfolge  in  Spanien  verzichten ;  der  Kurfiirst  soil  event  nur 
die  spanisehen  Niederlande  erhalten.  Die  zum  Zwecke  der  Be- 
statigung  des  Heiratscontractes  mit  Carl  II.  in  Madrid  gefiihrten 
(bisher  unbekannten)  Verhandlungen  scheitern  an  dem  Misstrauen 
des  Konigs  und  des  damaligen  Yalido  Medina  Celi;  nur  die 
Heirat  wird  genehmigt,  nicht  auch  die  Verzichtleistung  sanctionirt 
In  Spanien  bildet  sich  eine  einflussreiche  bairische  Partei,  an 
deren  Spitze  die  Konigin  -  Mutter  und  der  Minister  Oropesa 
stehen ;  der  kaiserliche  Gesandte,  Graf  Mannsfeldt,  sucht  vergeb- 
lich  durch  heimliches  Intriguiren  die  Ernennung  des  Kurfursten 
Max  Emanuel  zum  Statthalter  in  den  Niederlanden  zu  hinter- 
treiben ;  Carl  II.  beruft  denselben  zu  dieser  Stellung  auf  An- 
dringen  seiner  Mutter  gegen  den  Rat  seines  gesammten  Cabinets 
(Onno  Klopp,  „Fall  des  Hauses  Stuart"  IV,  p.  185,  behauptet 
irrthiimlich,  dass  die  Konigin  -  Mutter  das  kaiserliche  Interesse 
hierbei  vertreten  habe). 

Dagegen  verpflichten  sich  in  dem  Vertrage  zwischen  dem 
Kaiser  und  den  Seemachten  von  1689  die  letzteren  durch  einen 
geheimen  Artikel,  einen  jiingeren  Sohn  des  Kaisers  bei  der 
Succession  in  Spanien  zu  unterstiitzen.  Auch  der  Tod  der  Marie 
Luise  und  die  Vermalung  Carls  II.  mit  Maria  Anna  von  Pfalz- 
Neuburg  (Schwester  der  Kaiserin)  flihrt  eine  Starkung  der  kaiser- 
lichen  Partei  in  Madrid  herbei. 

Im  2.  Capitel  schildert  der  Verf.  die  dem  Byswijker  Prieden 
vorausgehenden  verwickelten  diplomatischen  Verhandlungen  Lud- 
wigs  mit  den  einzelnen  Machten  der  gegen  ihn  kampfenden 
Coalition  im  Jahre  1696.  Um  den  drohenden  Separatfrieden 
Spaniens  mit  Frankreich  zu  hintertreiben ,  entschliesst  sich  der 
Kaiser  endlich  zur  Abberufung  seines  kranklichen  und  mit  der 
Konigin  verfeindeten  Gesandten  in  Madrid,  des  Grafen  Wenzel 
Lobkowitz,  und  zur  Absendung  eines  ausserordentlichen  Bot- 
schafters  in  der  Person  des  Grafen  Ferd.  Bonaventura  von  Harrach. 
Man  hat  demselben  (cf.  Noorden)  mit  Unrecht  vorgeworfen, 
durch  abstossende  Manieren  und  schmutzigen  Geiz  der  kaiser- 
lichen  Sache  empfindlich  geschadet  zu  haben ;  wenn  er  auch  den 
Glauben  Leopolds  an  Mirakel  im  Interesse  des  Erzhauses  mehr 
als  gut  war  theilte,  so  wiirde  auch  eine  grossere  Energie  und 
Gewandtheit,  als  er  sie  besass,  bei  seiner  Abhangigkeit  von  den 
Instructionen  seines  Hofes  kaum  zum  Ziele  gefiihrt  haben.  Vor 
seiner  Abreise  von  Wien  stirbt  im  Mai  1696  zu  Madrid  die 
Konigin-Mutter ,  das  Haupt  der  bairischen  Partei.  Der  Kaiser 
versaumt  noch  wahrend  des  Krieges  rechtzeitig  ein  Hiilfscorps 
nach  Spanien  zu  senden  und  begniigt  sich  damit,  zur  Condolenz 
und  zur  Sondirung  der  Gesinnung  der  Konigin  den  jungen 
27jahrigen  Grafen  Louis  Harrach  seinem  Vater  nach  Madrid 
vorauszu8chicken. 

Der  Darstellung  des  weiteren  Verlaufes  der  Dinge  am  spa- 
nisehen Hofe  schickt  der  Verfasser  im  3.  Capitel  eine  eingehende 

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Gaedeke,  Arnold,  Die  Politik  Oesterreichs  in  der  span.  Erbfolgefrage.      153 

Schilderung   des   Zustandes   Spaniens   unter   Carl  II.   and   des 
Parteigetriebes  am  Madrider  Hofe  voraus. 

Carl  £L  ist  bisher,  meist  nach  franzosischen  Memoiren,  mit 

Unrecht  als  fast  geistesschwach  gesChildert  worden;   auch   seine 

wechselnde  Gesundheit   ist   weniger   in    der  Naturanlage  als  in 

unregelmassiger  Lebensweise   und  nnverniinftiger   arztlicher  Be- 

kndlung  begriindet.     Seine   geistigen  Anlagen   sind  yon  seiner 

herrschsuchtigen   Mutter   absichtlich   nicht   durch    die    gehorige 

&ziehung  entwickelt  worden.    Nach  dem  Tode  derselben  gewinnt 

seine  zweite  Gemalin  einen  allmachtigen  Einfluss  auf  ihn.    Maria 

Anna  ist  leidenschaftlich   und   schwankend,   hochfahrend  gegen 

die  Spanier   und   zu   Giinstlingswirthschaft   geneigt;   sie   macht 

durch  ihr  Auftreten  indirect  die  osterreichische  Sache  im  Lande 

misdiebig.     Sie   wird   vollstandig   beherrscht   von   dem   Grafen 

Jfelgar  und  der  mitgebrachten  deutschen  Umgebung  (Grafin  Ber- 

iepsch,  Beichtvater  Gabriel  Chiusa  und  Secretar  Baron  Heinrich 

Wiser);  durch   Wiser  wird  ein  vollendetes  System  von  Stellen- 

kanf  und  Bestechlichteit   eingefuhrt,    welches   der  Konigin   den 

Bass  des  gesammten  Volkes  zuzieht.     Das  Land  gerath  allmah- 

lich  in  einen  Zustand  volliger  Zerriittung ;    der  verarmte   Adel, 

unbekiimmert  urn  die  Interessen   des   Staats,    strebt  nur  nach 

Stellen,  Gnadenbezeugungen  und  Pensionen.     Das  Land  ist  ent- 

volkert   durch   die   Vertreibung   der   Dissidenten   und   Massen- 

auswanderung  nach  den  Colonien;  unter  Carl  II,  sinkt  die  Be- 

▼olkerung   (zur  Zeit  des  Maurenreiches  gegen  30  Millionen)  auf 

5,700000  herab,    wovon   ein   Drittel    Geistliche   sind.     Ebenso 

sinken  die  Staatseinnahmen  von  500  auf  30  Mill.  Realen;  trotz 

der  amerikanischen  Silberflotten  sind  die  koniglichen  Kassen  stets 

leer,  die   Not   dringt  bis   in   den  koniglichen  Palast,  trotzdem 

man  sich  durch  unsinnige  Mittel,  wie  Miinzverschlechterung  und 

willkiirliche  Steuererhohungen,  zu  helfen  sucht.    Der  kiiegerische 

6ei8t  der  Nation  scheint  erloschen  zu  sein ;  die  spanische  Armee 

im  Norden   des  Beiches  besteht  vor  dem  Frieden  von  Ryswijk 

nur  aus  8000  Mann,   die  Seemacht  geniigt  kaum  noch  zur  Es- 

cortirung  der  Silberflotten.     Erst  ganz  alLmahlich  bildet  sich  im 

Lande  eine  Reformpartei ,   die  aber  dem  Kaiser  abgeneigt  ist, 

weil  sie  von  dem  Hause  Habsburg  keine  Aenderung  des  Regie- 

rungssystems  erwartet.      Der   dieser   Partei   angehorige   Valido 

Oropesa  wird   durch  den   Einfluss  der  Konigin  vom  Hofe  ver- 

oannt. 

Das  4.  Capitel  schildert  die  Verhandiungen  in  Madrid  bis 
zum  Abschlusse  des  Waffenstillstandes  mit  Frankreich.  Im 
Sept.  1696  bringt  Porto  Carrero,  der  Kardinal-Primas  von  To- 
ledo, den  schwer  erkrankten  Konig  wahrend  einer  gleichzeitigen 
Erkrankung  der  Konigin  durch  Gewissensangste  zur  TJnterzeich- 
nung  eines  Testaments  zu  Gunsten  des  Kurprinzen  von  Baiern. 
Die  Majoritat  des  Staatsraths  ist  der  Konigin  feindlich  gesinnt ; 
trotzdem  iibt  letztere  auf  den  Konig  einen  entscheidenden  Ein- 
aus.     Ihr   Vertrauter   ist   Graf  Melgar,    Almirante    von 

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154      Gaedeke,  Arnold,  Dio  Politik  Oesterreichs  in  der  span.  Erbfolgef»g«. 

Castilien,  ein  Talent,  aber  kein  Charakter,  vom  Volke  gehasst 
und  verachtet.  Mit  ihm  ist  eng  liirt  des  Konigs  Beichtvater 
Matilla,  vom  Volke  el  antichristo  de  Espafia  genanni  Der  on- 
eigenniitzigste  Vorkampfer  "der  Interessen  des  Kaiserhauses  ist 
der  Graf  d'Aguilar;  sein  Hass  gegen  die  Missregierung  verhin- 
dert  aber  eine  enge  Verbindung  mit  der  Konigin.  Eine  ge- 
schlo8sene  osterreichische  Partei  existirt  nicht ;  fast  alle  Granden 
treiben  personliche  Interessenpolitik.  Die  oppositionelle  Granden- 
partei  (Montalto,  Porto  Carrero)  vertritt  aus  Hass  gegen  die 
Konigin  und  gegen  Melgar  die  Rechte  des  bairischen  Kurprinzen, 
sie  will  keine  Reformen,  wohl  aber  Erhaltung  der  spanischen 
Gesammtmonarchie.  Bei  den  spateren  Unterhandlungen  zwischen 
Porto  Carrero  und  Ludwig  XXV.  spielt  eine  bedeutsame  Bolfe 
des  ersteren  Geheimsecretar  Urraca.  Ende  1696  existirt  in 
Spanien  noch  keine  franzosische  Partei*  Bei  der  Gesinnung  der 
Granden  findet  der  im  October  in  Madrid  anlangende  Graf  Louis 
Harrach  geringe  Aussicbten  fur  den  Erzherzog  Carl  Tor. 

Der  Separatfrieden  Ludwigs  mit  dem  Herzog  von  Savojen 
erhoht  die  Kriegsgefahr  fiir  Spanien ;  das  schroffe  Auftreten  des 
hollandischen  Gesandten  Schonenberg  und  dessen  Ausweisung 
aus  Madrid  hatte  scbon  frliher  den  Seemachten  jeden  diplomatic 
8chen  Einfluss  auf  den  spaniscben  Hof  abgeschnitten  und  eine 
tiefe  Veretimmung  zwischen  den  AUiirten  herbeigefiihrt.  Der 
Kaiser  verabsaumt  die  notwendige  Verstarkung  des  kleinen 
kaiserlichen  Hiilfscorps  (3  Regimenter  unter  dem  Landgrafen 
Georg  von  Hessen-Darmstadt)  in  Catalonien.  So  iiberwiegt  in 
Madrid  die  Friedenspartei ;  offenes  Entgegenkommen  findet 
Harrach  nur  bei  der  Konigin  und  bei  Aguilar,  Ludwig  lasst 
unter  der  Hand  in  Madrid  sebr  gunstige  Friedensbedingungen 
proponiren,  wenn  seinem  Enkel  die  Erbfolge  zugesichert  werde. 
In  dieser  Gefahr  sendet  der  Kaiser  endlich  den  alteren  Harrach 
(Mai  1697),  ohne  jedoch  durcb  Geld  und  Truppen  seine  Wiinscke 
genugend  zu  unterstiitzen ;  ware  dies  gescheben,  so  ware  jeden- 
fells  die  spanische  Monarcbie  den  deutscben  Habsburgern  erhalteJ 
worden.  Kurz  zuvor  bat  Carl  II.  auf  Andringen  der  Konigin 
oben  erwahntes  Testament  zerrissen.  Harrach  kniipft  mit  HtLlfe 
der  Konigin  geheime  Unterhandlungen  mit  dem  Konig  an,  der 
schliesslich  in  die  Hiniiberkunft  des  Erzherzogs  Carl  mit  einem 
Hiilfscorps  von  10000  Mann  nach  Spanien  wUligt;  das  beztig- 
liche  Schreiben  des  Konigs  bringt  der  jiingere  Harrach  Ende 
Juli  nach  Wien.  Wahrend  der  lang  hingezogenen  Verhandlungen 
iiber  die  Transport-  und  Erhaltungskosten  des  Hiilfscorps  erobern 
die  Pranzosen  Barcelona  am  11.  August;  Spanien  sieht  sich  zar 
Abschliessung  eines  Waflfenstillstandes  auf  3  Monate  genotigt 

Das  5.  Capitel  enthalt  die  diplomatischen  Verhandlungen, 
die  zum  Frieden  von  Byswijk  fuhren.  Die  unentschlossene  und 
doppelziingige  Politik  des  Wiener  Hofes  macht  die  Sendung  des 
Grafen  Kaunitz  nach  Brussel  zur  giitlichen  Auseinandersetzung 
mit  Max  Emanuel   erfolglos;   auch   die  Seemachte  lehnen  eine 

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Gaedeke,  Arnold,  Die  Politik  Oesterreichs^in  der  span.  Erbfolgefrage.      155 

Entecheidung  der  spaiischen  Erbfolgefrage  zu  Gunsten  des  Kaisers 
anlaselich  der  anzukniipfenden  Friedensverhandlungen  ab.  Auf 
dem  im  Mai  1697  eroffneten  Friedenscongress  zu  Schloss  Niew- 
burg-Hausen  bei  Ryswijk  halt  der  Kaiser  mit  libel  angebrachter 
ZaMgkeit  an  den  alten  Forderungen  fest.  Nach  erfolgter  Eini- 
gmtg  Ludwigs  mit  den  Seemachten  zeigt  sick  auch  Spanien  nach 
dem  Fall  von  Barcelona  zum  Frieden  geneigt  und  der  Kaiser 
wird  vollig  isolirt.  Derselbe  sucht  absichtlich  auf  Harrachs  Rat 
im  Interesse  der  Yerhandlungen  in  Madrid  den  Congress  in  die 
Lange  zu  ziehen.  In  Folge  des  Falls  von  Barcelona  steigert 
Lodwig  seine  Forderungen  dem  Kaiser  gegeniiber,  bietet  dagegen 
Spanien  die  Riickgabe  sammtlicher  Eroberungen.  Die  Seemachte 
Wmea  nunmehr  den  Transport  kaiserlicher  Tmppen  nach  Spanien 
8b  and  schliessen  zusammen  mit  Spanien  im  September  Frieden ; 
dasZogern  des  Kaisers,  welches  denselben  schhesslich  zu  einem 
Separatfrieden  notigt,  fiihrt  den  Verluat  von  Strassburg  herbei.  — 

Das  1.  Capitel  des  II.  Buches  schildert  die  Verhandlungen 
des  Kaiser6  mit  den  Seemachten  nach  dem  Ryswijker  Frieden. 
Der  Kaiser  verabsaumt  es,  dem  Wunsche  Wilhelms  UL  zu  ent- 
sprechen  und  durch  Vertrag  dem  Kurfiirsten  von  Baiern  die 
Niederlande  zu  uberlassen ;  in  Folge  dessen  zeigen  die  Seemachte 
keine  Lust,  den  geheimen  Tractat  von  1689  zu  erneuern.  Die 
Sendung  des  Erzherzogs  mit  einem  Hulfecorps  nach  Spanien 
scheitert  an  der  Unlust  der  Seem&chte,  den  Transport  zu  iiber- 
nehmen  und  an  der  Weigerung  des  Kaisers,  fur  den  Unterhalt 
der  Truppen  zu  sorgen. 

Das  2.  Capitel  enthalt  eine  Darstellung  der  Thatigkeit  des 
alteren  Harrach  in  Madrid.  Dieser  soil  bei  Carl  II.  durchsetzen: 
1)  ein  Testament  zu  Gunsten  des  Erzherzogs ,  2)  Uebernahme 
der  Unterhaltungskosten  fur  das  Hiilfscorps,  3)  eine  Armee- 
Beorganisation.  Es  gelingt  ihm  zwar,  die  Ernennung  desLand- 
grafen  Georg  von  Hessen-Darmstadt  zum  Vicekonig  von  Catalonien 
durchzusetzen ,  abef  er  ist  nicht  im  Stande,  die  Reduction  der 
kleinen  spanischen  Armee  auf  die  Halfte  zu  verhindern.  Der 
Kaiser,  zu  zuversichtlich  auf  den  Einfluss  der  Konigin  bauend 
und  durch  vaterliche  Sorge  beeinflusst,  beschliesst  gegen  das 
Votum  der  Ministerconfereuz,  auf  die  Entsendung  des  Erzherzogs 
nach  Spanien  zu  verzichten,  verweigert  auch  dennitiv  die  Unter- 
haltunjpkosten  fur  das  Hiilfscorps.  Die  Forderung  des  Kaisers, 
dem  Erzherzog  die  Statthalterschaft  von  Mailand  zu  ubertragen, 
*ird  auf  Melgars  Betrieb  abgelehnt.  Bei  der  Konigin  discre- 
ditirt  sich  Harrach  durch  den  Plan,  eine  Reformjunta  einzusetzen 
and  Oropesa  zuriickzurufen.  Ende  1697  wird  Harrach  krank; 
er  verhert  an  Einfluss,  verfeindet  sich  mit  der  Grafin  Berlepsch 
durch  Drohungen.  Die  Konigin  will  eine  Heirat  des  romischen 
Konigs  Joseph  mit  ihrer  Nichte,  einer  hessen  -  darmstadtischen 
Prinzessin,  zu  Stande  bringen ;  durch  Ablehnung  dieses  Heirats- 
projectes  vom  kaiserUchen  Hofe  wird  sic  schwer  gekrtokt. 

Das  3.  Capitel  schildert  den  weiteren  Verlauf  der  Dinge  in 

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156      Gaedeke,  Arnold,  Die  Politik  Oesterreichs  in  der  span.  ErbfolgBfrige. 

Madrid.  Im  Februar  1698  erkrankt  der  Konig  plotzlich.  Porto 
Carrero  ersetzt  den  Beichtvater  Matilla  durck  den  ihm  ergebenen 
Dominikaner  Froylan  Diaz ;  die  Konigin  entschliesst  sich  in  ihrer 
Bestiirzung  zur  Zuriickberufung  Oropesas  als  Prasidenten  einer 
Regierungsjunta.  Porto  Carrero  benutzt  des  Konigs  Krankheit, 
urn  die  Konigin  bei  ihm  zu  discreditiren ;  nach  erfolgter  Ge- 
nesting  findet  zwar  eine  Aussohnung  start,  aber  Oropesas  Sta- 
lling befestigt  sich.  Harrach  versaumt  es,  seinen  Hof  auf  die 
Verschiebung  der  Machtverhaltnisse  in  Madrid  aufmerksam  zu 
machen.  Die  Konigin  wird  durch  die  Berlepsch  der  kaiserlichen 
Sache  vollig  entfremdet.  So  findet  der  Marquis  d'Harcourt,  der 
den  24.  Februar  in  Madrid  anlangt,  einen  giinstigen  Boden  ffir 
seine  Th&tigkeit.  Er  ist  mehr  Soldat  als  Diplomat,  yon  ge- 
winnenden  Manieren,  verdankt  seine  Ernennung  der  Maintenon. 
Er  ist  ein  Gegner  der  Theilungspolitik,  in  seiner  Correspondent 
mit  Ludwig  XI V.  zeigt  er  sich  einseitig,  angstlich  und  zugleich 
oft  zu  sanguinisch.  Es  ist  ein  Irrthum,  dass  Harcourt  grosse 
Summen  auf  Bestechung  verwandt  habe,  er  hat  nur  300000  PVancs 
zu  diesem  Zwecke  erhalten.  Auch  auf  das  letzte  Testament 
hat  er  keinen  entscheidenden  Einfluss  ausgeiibt,  da  er  bei  Ab- 
fassung  desselben,  worauf  schon  Ranke  in  seiner  Franzosischen 
Geschichte  aufmerksam  macht ,  gar  nicht  mehr  in  Spanien  ist 
Wichtig  ist  die  Instruction,  die  Harcourt  von  Ludwig  erhalt 
Er  soil  mit  Krieg  drohen,  falls  der  Erzherzog  Aussicht  habe, 
Mailand  zu  erhalten,  soil  femer  ein  frtthzeitiges  Testament  ver- 
hindern  und  falls  der  Konig  dem  Krankheitsajofall  erliegt  (Ranke 
F.  Or.  IV,  p.  90  iibersieht  hier  die  beschrankende  Bestimmung). 
die  sofortige  Einberufung  der  Cortes  beantragen.  Harcourt  wW 
in  Madrid  sehr  kiihl  empfangen,  muss  zwei  Monate  auf  die  An- 
trittsaudienz  warten ;  es  gelingt  ihm  (ohne  Bestechung)  allmahlicb^ 
unzufriedene  Grosse  an  sich  zu  Ziehen.  Besonderes  Entgegen- 
kommen  findet  er  bei  der  Geistlichkeit  und  einigen  einflussreichen 
Damen  des  Hofes ,  spater  auch  bei  Porto  Carrero.  Ein  Theil 
der  Oppositionspartei  giebt  die  Sache  des  Kurprinzen  auf  und 
wird  fiir  das  firanzosische  Interesse  gewonnen.  Als  Ludwig  mit 
den  Seemachten  nnd  dem  Kaiser  wegen  eines  Theilungsvertrages 
verhandeln  will,  agitirt  Harcourt  dagegen.  Nach  der  Riickkebr 
des  Hofes  von  Toledo  kntipft  Harcourt  Beziehungen  mit  den 
Yertrauten  der  Konigin  an,  halt  sich  aber  in  vorsichtiger  Re- 
serve; die  Gerfichte  iiber  eine  geplante  Wiederverheiratung  der 
Konigin  mit  dem  Dauphin  nach  Carls  Tode  sind  unbegriindet 
Seine  Bemiihungen  werden  durchkreuzt  durch  den  im  Sept.  1698 
zwischen  Ludwig  und  den  Seemachten  abgeschlossenen  ersten 
Theilungstractat.  Zu  spat  erbietet  sich  jetzt  der  Kaiser,  die 
Kosten  fiir  das  Hiilfscorps  zu  iibernehmen.  Am  9.  October  ver- 
lasst  Harrach,  durch  seinen  Sohn  ersetzt,  Spanien ;  seine  Mission 
ist  in  Folge  der  angstlichen  Politik  und  der  unzeitigen  Sparsam- 
keit  des  Kaisers  vollig  gescheitert;  er  iibernimmt  in  Wien  an 
Kinskys  Stelle  die  Leitung  der  auswartigen  Politik. 

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Gttdeke,  Arnold,  Die  Politik  Oesterreichs  in  der  span.  Erbfolgefrage.      157 

Das  4.  Capital  schildert  zuriickblickend  die  Stellung  Oester- 
reichs zu  dem  ersten  Theilungsvertrage.  Eine  Vereinbarung 
zwischen  den  Seemachten  und  dem  Kaiser  im  Marz  1698  war 
verhindert  worden  dnrch  die  Abneigung  des  Kaisers,  Baiern 
angemessen  zu  entsch&digen.  Als  Ludwig  in  London  durch 
TiBard  Theilungsvorschl&ge  macht,  unterzeichnen  die  Seemachte 
nach  langen  Verhandlungen ,  wahrend  welcher  der  kaiserliche 
Gesandte  Graf  Auersperg  mit  Ausfliichten  hingehalten  wird,  am 
24  Sept  1698  den  ersten  Theilungsvertrag.  Um  vor  dem  Kaiser 
den  Vertrag  geheim  zu  halten ,  werden  zum  Schein  resultatlose 
Verhandlungen  in  Wien  weitergefuhrt.  Der  Graf  Kinsky  zeigt 
den  Warnungen  von  Auersperg  und  Goess  gegeniiber  eine  unbe- 
gmffiche  Vertrauensseligkeit. 

Das  5.  Capital  behandelt  die  in  Spanien  zu  Gunsten  des 
Xnrprinzen  fallende  Entscheidung.  Harcourt  ist  mit  dem  Thei- 
lungsvertrage sehr  unzufrieden ;  bei  der  Nachricht  von  dem  Ab-  . 
8chlu88  desselben  fallen  viele  Granden  von  der  franzosischen 
Partei  ab  und  beschliessen,  die  Candidatur  des  Kurprinzen  zu 
unterstiitzen ;  so  schliesslich  auch  Porto  Carrero.  Der  Kurfiirst 
gewinnt  die  Umgebung  der  Kdnigin  durch  Bestechung;  so  wird 
mittelbar  auch  die  Konigin  gewonnen.  Carl  II.,  iiber  den  Thei- 
lungsvertrag emport  und  durch  Oropesa  gedrangt,  macht  am 
14.  November  1698  ein  Testament  zu  Gunsten  des  Kurprinzen, 
was  ohne  die  Einwirkung  des  Theilungsvertrages  kaum  geschehen 
sein  wtirde  (Anders  Ranke  F.  G.  IV,  p.  96).  Jetzt  erhalt  Louis 
Harrach  vom  Kaiser  die  Erlaubniss,  offen  gegen  die  Konigin  zu 
agitiren.  Die  Seemachte  verhandeln  vergebHch  mit  dem  Kaiser, 
urn  denselben  zur  Annahme  des  Vertrages  zu  gewinnen.  Ludwig 
lasst  am  18.  Jan.  1699  durch  Harcourt  feierlich  gegen  das 
Testament  protestiren  und  halt  den  Seemachten  gegeniiber  an 
dem  Theilungsprojecte  fest.  Die  Absicht  des  Kaisers,  mit 
Ludwig  direct  zu  verhandeln,  wird  durchkreuzt  durch  den  Tod 
dea  Kurprinzen. 

Das  1.  Capitel  des  II.  Bandes  enthalt  die  Verhandlungen 
iiber  den  zweiten  Theilungsvertrag.  In  Madrid  wenden  sich  die 
Konigin  und  die  Grafin  Berlepsch  fiirs  erste  wieder  reumiithig 
der  kaiserhchen  Paxtei  zu.  Bei  neuen  Verhandlungen  zwischen 
Ludwig  und  Wilhehn  lehnt  ersterer  es  ab,  den  Kurfiirsten  in 
die  Rechte  seines  Sohnes  einzusetzen,  will  aber  dem  Erzherzoge 
die  Haupterbschaft  iiberlassen. 

Das  2.  Capitel  schildert  die  inzwischen  erfolgten  Verande- 
rnngen  am  spanischen  Hofe.  In  Folge  des  nunmehr  vollstandig 
bekannt  gewordenen  ersten  Theilungsvertrages  herrscht  in  Spa- 
tien  grosse  Erbitterung,  besonders  gegen  die  Seemachte.  Har- 
court ist  wieder  sehr  riihrig  filr  die  Erwerbung  der  ganzen  Erb- 
sehaft;  Ludwig  warnt  ihn  vor  bindenden  Engagements,  er  soil 
but  den  Konig  von  Abfassung  eines  neuen  Testamentes  zuriick- 
taften.  Die  bairische  Partei  theilt  sich.  Oropesa  arbeitet  im 
portugiesischen   Interesse  und   sucht  auch  die  Konigin  dafiir  zu 

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158      Gaedeke,  Arnold,  Die  Politik  Oesterreiehs  in  dor  apan.  Erbfolg^fiige. 

gewinnen,  Melgar  nahert  sich  dem  franzosischen  Gesandten.  Das 
Dr&ngen  Harrachs  auf  Reformen  und  auf  Entfernung  der  dent- 
schen  Camarilla  entfremdet  die  Konigin  wieder  der  kaiaerKchen 
Sache.  Sein  Versuch,  mit  Leganez'  Hiilfe  eine  nationale  Partei 
zu  Gunsten  des  Erzherzogs  zu  bilden,  seheitert,  weil  der  Kaiser 
sein  Heer  reducirt  und  keine  geniigenden  (ieldmittel  nach  Spa- 
nien  schickt.  Porto  Carrero  geht,  wobei  Harcolirts  Verdienst 
gering  ist,  ins  franzosische  Lager  iiber ;  dieser  Uebertritt  iflt  fur 
die  Znkunft  entscheidend.  In  Polge  eines  durch  Theurung  ?er- 
anlassten  Volksaufstandes  zu  Madrid  am  25.  April  1699  wird 
Oropesa  verbannt ;  die  Geschafte  gehen  iiber  auf  Porto  Carrero, 
der  auch   die  Verbannung  von  Melgar  und  Aguilar  durchsetzt 

Eine  Krankheit  des  Konigs  im  Juni  1699  wird  von  den 
Aerzten  als  (torch  Zauberei  hervorgerufen  bezeichnet,  die  Grafin 
Berlepsch  wird  der  Theilnahme  daran  beschuldigt.  Nach  Ge- 
nesung  des  Konigs  und  Entfernung  des  Beicbtvaters  Froylan 
Diaz  gewinnt  die  Konigin  ihren  alien  Einftuss  wieder;  mit  der 
kaiserlichen  Partei  ist  sie  jetzt  vollstandig  zerfallen.  Harrach 
betheiligt  sich  an  nachtlichen  Conferenzen  der  patriotischen  Partei 
welche  gegen  die  Konigin  und  'die  Berlepsch  agitirt  und  die 
Successfcmsfrage  im  osterreichischen  Interesse  erledigen  will ;  die 
Tragweite  der  Verhandlungen  ist  von  Ranke  I\  GK  IV,  p.  102. 
der  Harcourts  Berichten  folgt ,  wohl  ilbersch&tzt.  Haroourt  ist 
von  dem  Abschlusse  des  zweiten  Theilungsvertrages  empfindlkh 
beriihrt,  flirchtet  vollige  Aufloeung  der  franzosischen  Partei  *ad 
reicht  seine  Demission  ein,  die  aber  vorllufig  nicht  angenommeo 
wird;  dann  sucht  er  vergeMkh  die  Publikation  des  VertrageB 
zu  verhindern.  Die  Entrusting ,  die  detselbe  in  Madrid  erregt, 
riohtet  sich  weniger  gegen  Frankreich  als  gegen  England  und  fUhrt 
zu  dem  Abbruch  der  diplomatischen  Beziehungen  zu  diesem 
Reiche. 

Das  3.  Capitel  schildert  Oesterreichs  Stelhmg  zum  zweitea 
Theilungsvertrage.  Zu  Anfang  1699  wird  die  osterreicMscbe 
Politik  weaentlich  gekr&ftigt  durch  den  Frieden  von  Carlowitz. 
Eine  Folge  davon  ist  tine  selbstbewusstere  Haltung  des  Wiener 
Hofes,  leider  auch  eine  erhebliohe  Reduction  des  Heeres.  Der 
Eraser  versaumt  es  auch  jetzt,  den  Kurf&rsten  durch  Ueberiassung 
der  l^iederlande  fiir  sich  zu  gewinnen.  Durch  den  Tod  des 
Kurprinzen  ist  der  habsburgische  Glaube  an  Mirakel  neu  ge- 
starkt.  Der  kaiserliche  Hof  glaubt  nicht  an  den  Abschluss  eines 
zweiten  Theilungsvertrages  seitens  der  Seem&chte  und  fordert 
Erneuerung  des  geheimen  Tractates  von  1689.  Mitte  Juni  werden 
zu  Wien  die  ersten  Erfiffnungen  iiber  die  Theilungsverhandlungen 
gemacht;  der  Kaiser  weist  die  Sache  nicht  vollig  zuriick,  sucbt 
sie  aber  hinzuziehen.  Dass  die  Verhandlungen  fruchtlos  bletben, 
liegt  in  der  Verschiedenheit  der  Interessen  und  in  dem  Mangel 
an  staatsm&nnischer  Begabung  bei  dem  bisher  meist  zu  giinstig 
beurtheilten  Kaiser.  Der  Mirakelglaube ,  den  der  Kaiser  mil 
seinen  Ministern   theilt,    wird  fiir  die   spanische   Erbfolgefrag* 

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Gtedeke,  Arnold,  Die  Politik  Oesterreichs  in  der  span.  Erbfolgefrage.      159 

verh&agnissvoll ;  vergeblich  dringt  Kaunitz  auf  Vermehrung  deB 
Heeres  und    Unterstiitzung    Spaniens    durch    Geld.      Derselbe 
Sfaatsmann ,   der  einzige,    der  die  Situation  mit  klarem  Blicke 
uberschaut,   will  fiir  das   Erzhaus   nur   Italien  erwerben  sowie 
Baiern  durch  Vertauschung  gegen  die  Niederlande.  Mit  Frankreick 
wcrden  im  August  1699  die  diplomatischen  Beziehungen  durch 
die  Sendung   des  jungen  und  unfahigen  Grafen  Philipp  Sinzen- 
dorf  nach  Paris  wieder  angekniipft.    Der  Protest  Carls  II.  gegen 
die  Theilung  sowie   das  Drangen  des  in  Wien  thatigen  hollan- 
discben  Gesandten  Hop  auf  Entscheidung  veranlassen  im  October 
den  Abbruch    der    Verhandlungen    mit    den    Seemachten    auf 
mehrere  Wochea.     Am  18.  Mai  1700  wird  der  Tractat  zwischen 
Lading  und  den  Seemachten  unterzeichnet  und  dem  Kaiser  zum 
Beitritt  erne   Bedenkzeit  von  3  Monaten  gelassen;   der  Vertrag 
wird  publicirt   und   in    Spanien    amtlich    mitgetheilt.     Ludwigs 
gleichztitigs  In8tructionen  an  Harcourt  zeigen,  dass  er  von  vorne 
herein  nicht  gesonnen  ist  den  Vertrag  zu  halten.   Bei  der  grossen 
Aufregung   in  Madrid  erhalt  Hardcourt  von  Ludwig  die  Erlaub- 
ws&7  Spanien  ,  zu  verlassea.     Harrach  drangt  die   Konigk  mit 
Erfolg  zur  Entlassung  der   BerlepseU,   yerniag   aber  nicht  die 
Ernennung  Leganez'   zum  Mitgliede  des  Staatsrathes  durchzu- 
setzen.     Auf  Porto   Carreros   Betrieb   ersucht  der   Konig  den 
Pabst,  auf  Ludwig  einzuwirken,  damit  er  von  dem  Theilungsplan 
Abstand  n&hme.     Carl  II.  scheint  es  zwar  auf  einen  Krieg  mit 
Frankreich  ankommen  lassen  zu  wollen,   aber  im  Staatsrath  ist 
die  Majoritat  fiir  Frankreich,     Auf  Porto  Carreros  Betrieb  holt 
der  Konig  verschiedene  Rechtsgutachten  ein,   die  den  Bourbons 
giinstig  tauten;   schliesslich  bestimmt  der  Cardinal  -  Primas  den 
Konig,    die    Entscheidung    dem    Pabste    anheimzugeben.      Der 
Kaiser  zogert  immer  noch  mit  den   notigen  R&stungen,   obwohl 
er  den  Beitritt  zu  dem  Theilungsvertrage  definitiv  ablehnt.     In 
England  herrscht  im  Yolke  grosse  Missstimmung  tiber  den  Tractat. 
Durch  Truppenansammlungen   an  der   Grenze  schreckt  Ludwig 
den  spanischen   Hof   von   der   Dui'chfiihrung  der  bereits  einge- 
leiteten  Vertheidigungsmassregeln  zuriick;  der  Wiener  Hof  lasst 
rich  von  ihm  bestimmen,  nichts  vor  Carls  Tode  zu  unternehmen, 
und  raubt  dadufch  der  kaiserlichen  Partei  in  Madrid  alles  Ver- 
trauen  auf  Erfolg.    Die  Antwort  des  Pabstes  lautet  zu  Gunsten 
des  Herzogs  von    Anjou.     Als  Carl  Ende  September  erkrankt, 
fordert  Ludwig  den  Kaiser   noch  einmal  vergeblich  zum. Beitritt 
zu  dem  Theilungstractate  auf.     Am  3.   October   unterzeichnet 
Carl  das   dem  Herzog  Philipp  von  Anjou  gunstige  Testament 
unter  dem  Drangen  Porto  Carreros  und  der  Beichtvater;   ver- 
geblich sucht  die  Konigin  ihn  zur  Vernichtung  desselben  zu  be- 
wegen.    Nachdem  Porto  Carrero  die  alleinige  Leitung  der  Ge- 
schafte  iibertragen  ist,  stirbt  Carl  am  1.  November  1700. 

Das  5.  Capitel  enthalt  die  Verhandlungen  bis  zum  Ausbruch 
des  Krieges.  Der  Vert  weist  nach,  dass  Ludwig  von  vorne 
herein  die  feste  Absicht  hat,   den  Theilungsvertrag  zu  brechen. 

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160    Baader,  Jos.,  Streiflichter  auf  d.  Zeit  d.  tiefsten  Eroiedr.  Deutachl.  etc. 

Ludwig  nimmt  am  12.  November  die  Krone  fiir  seinen  Enkel 
an,  derselbe  wird  am  24.  November  zu  Madrid  feierlich  zum 
Konige  proclamirt.  Erst  jetzt  werden  in  Wien  die  notigen  Kriegs- 
rlistungen  eingeleitet;  Graf  Wratislav  wird  im  December  nach 
London  geschickt,  urn  die  Allianz  von  1689  zu  erneuern.  In 
England  ist  des  Konigs  Stimmung  verzweifelt,  das  Volk  bleibt 
gleichgtiltig,  das  Parlament  ist  dem  Kriege  abgeneigt  Erst 
iibereilte  Massregeln  Ludwigs,  wie  die  Besetzung  der  nieder- 
landischen  Festungen  sowie  von  Mailand  und  Mantua  durch 
franzbsische  Truppen,  ferner  die  Begilnstigung  des  franzosischen 
Handels  in  Spanien  erzeugen  in  Holland  und  England  eine 
kriegerische  Stimmung.  Nach  den  erfolglosen  Haager  Conferenzen 
zwischen  Frankreich  und  Holland  wird  am  7.  September  die  grease 
Allianz  zwischen  dem  Kaiser  und  den  Seemachten  untarzeichnet, 
in  welcher  dem  Kaiser  Neapel  und  Sicilien  zugesichert  wird. 
Berlin.  R.  Rodenwaldt. 

XXXIV. 
Baader,  Jos.,  Streiflichter  auf  die  Zelt  der  tiefsten  Ernie- 
drigung  Deutschlands  oder  die  Reichsstadt  Nflrnberg  in  doa 
Jahren  1801—6.  gr.  8.  (IH,  153  S.)  Niirnberg  1878.  A.  Daiber. 
3  M. 

Aus  Aktenstiicken  des  k.  Kreisarchivs  zu  Niirnberg  geschopft 
und  von  dem  Herausgeber  mit  einer  orientirenden  Einleitung  umd 
einigen  Anmerkungen  versehen,  behandelt  die  kleine  Schrift  in 
ihrem  ersten  Theile  Niirnbergs  erste  Deputation 
nach  Paris  im  Jahrel801,  deren  Zweck,  die  Selbstandig- 
keit  der  alten  Reichsstadt  durch  die  franzosischen  Machthaber 
garantiren  zu  lassen,  wirklich  erreicht  wurde.  Sie  bringt  in  ihrem 
zweiten  die  Berichte  des  Legationsrathes  Wolt- 
mann  an  Niirnberger  Rathsmitglieder  aus  den 
Jahren  1803  —  6,  die  ihren  Ausgangspunkt  in  dessen  ver- 
geblichen  Bemiihungen  hatten,  am  Berliner  Hofe  einen  Ausgleich 
mit  Preussen  und  Bayern  anzubahnen,  durch  den  die  Stadt 
wieder  in  den  Besitz  der  ihr  entrissenen  Aemter  kame.  Neue 
Thatsachen  von  Bedeutung  diirften  weder  aus  den  Pariser  noch 
den  Berliner  Depeschen  zu  entnehmen  sein,  doch  werfen  sie 
wirklich  manches  helle  und  grelle  Streif  licht  auf  den  Spiegel,  in 
dem  das  deutsche  Yolk  noch  heute  zu  seiner  Beschamung  und 
Warming  die  Ziige  schauen  mag,  die  es  am  Anfange  des  Jahr- 
hunderts  trug.  Die  Niirnberger  Deputirten,  der  Senator  Tuchw 
und  der  Marktadjunkt  Kissling,  waren  sicher  nicht  die  wiirde- 
losesten  unter  den  Agenten  der  kleineren  und  grosseren  deutschen 
Stande,  die  damals  in  den  Vorzimmern  des  ersten  Consuls  und 
seiner  Creaturen  um  die  jammerliche  Existenz  ihrer  Auftraggeber 
oder  um  die  Erlaubnis  zur  Beraubung  ihrer  schwfi^heren  Nach- 
barn  bettelten.  ErgotzUch  ist  die  Schilderung  der  mehr  als 
sparsamen  Lebensweise,  zu  der  die  finanzielle  Bedrangnis  der 
Vaterstadt  die  Herren  Gesandten  in  Paris   zwang;   merkwiirdig 

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Baader,  Jo«.,  Streiflichtor  auf  d.  Zeit  d.  tiefsten  Erniedr.  Doutachl.  etc.     161 

da9  „Memoire  an  den  Kaiser  von  Russland" ,  an  den  sich  zu 
wenden,  der  osterreichische  Gesandte  Graf  Cobenzel  den  Ntirn- 
bergern  selbst  gerathen  hatte.  In  diesem  Schriftstiicke,  das  aus 
den  Handelsbeziehungen  zwischen  Russland  und  Niirnberg  das 
dringende  Interesse  darzulegen  unternimmt ,  welches  der  Qross- 
staat  an  der  reichsunmittelbaren  Selbstandigkeit  der  Stadt  nehmen 
mflsse,  wird4dieselbe,  „wie  weltkundig  seit  mehreren  Jahrhunderten, 
so  noch  gegen  wartig",  mit  Augsburg  und  Frankfurt  in 
Sfiddeutschland  und  im  frankischen  Kreise  allein,  eine  „vor- 
zSgliche  Handelsstadt"  genannt.  Die  commerzielle  Beilage 
der  Petition  stellt  aber  doch  die  Russen  als  die  kliigeren  Handels- 
lente  hin,  wenn  sie  ausftihrt,  dass  den  Niirnberger  Kaufleuten 
nicht  selten  ihre  nach  Russland  gesandten  Waaren  verloren 
gingen,  wogegen  bei  Bestellungen  auf  russische  Producte  sogleich 
die  Bezahlung  auf  einem  auswartigen  Wechselplatz  angewiesen 
werden  miisse. 

Der  Berliner  Correspondent,  der  als  Historiker  bekannte 
K.  P.  TVoltmann,  der  mit  Niirnberg  zugleich  die  Hansestadte 
Hamburg  und  Bremen  bei  der  preussischen  Regierung  vertrat, 
richtete  bios  sein  erstes  Schreiben  an  „den  hochweisen  Rath  der 
Reichsstadt" ,  alle  folgenden  an  einzelne  Mitglieder  desselben, 
weil  jeder  Brief  mit  der  ersteren  Adresse  „auf  den  Posten  zu 
grosses  Aufsehen  errege".  Seine  Berichte  sind  aus  zwei  ge- 
trennten  Perioden  erhalten ,  von  denen  die  erste  die  Zeit  vom 
Pebruar  1803  bis  April  1804,  die  zweite  die  vom  27.  April  1805 
bis  20.  Juni  1806  umfasst.  Weil  er  bald  erkennt ,  dass  das 
Interesse  der  Berliner  Regierung  an  den  besonderen  Angelegen- 
heiteu  seiner  Committenten  ein  ausserst  geringes  ist,  zieht  er  in 
seine  Depeschen  Alles  hinein,  was  ihm  von  preussischer  und 
allgemeiner  europaischer  Politik  zuganglich  wird,  von  den  vagen 
Geriichten  an,  die  durch  die  Strassen  schwirren,  bis  zu  diplo- 
matischen  Enthiillungen,  die  er  einem  vertrauten  Freunde,  wahr- 
schemlich  dem  preussischen  Legationsrathe  Kiister,  dankt,  den 
er  aber  in  seinen  spateren  Briefen  namentlich  zu  bezeichnen  ver- 
meidet.  Wahrend  des  intercssanteren  zweiten  Zeitraumes  der 
Corresponded  geleitet  uns  Woltmann  als  kiihler  Tageschronist 
dnrch  alle  Phasen  der  Einwirkungen,  die  das  preussische  Cabinet 
durch  den  osterreichisch-russischen  Krieg  gegen  Prankreich  er- 
litt  In  Hardenberg  sieht  er  den  eminenten  Geist  und  grossen 
Charakter,  wogegen  er  von  Haugwitz  sagt,  er  flosse  „durch  die 
ersten  Eindrucke  grosses  Vertrauen  auf  sein  besonderes  Wohl- 
wollen  und  seine  Principien  ein,  das  sich  nicht  ganz  bewahrt". 
Er  berichtet  nicht  ohne  Oenugthuung,  dass  dem  letzteren  die 
Penster  seines  Palais  mit  kleinen  Granaten  eingeworfen  worden, 
wahrend  ganze  Regimenter  in  offentlichen  Aufziigen  Hardenberg 
and  General  Rtichel  bejauchzten  „mit,  der  ausdriicklichen  Er- 
klarung,  weil  sie  den  Krieg  gewollt  batten".  Dazwischen  be- 
schSftigen  ihn  auch  zwei  Uebergriffe  Preussens  gegen  speciell 
von  ihin    vertretene    Reichsstadte ,    die    milit&rische    Besetzung 

MitthcUangen  «.  d.  hidtor.  Litteratur.    VI.  11 

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162  Lausch,  J.  E.,  Die  k&rnthonischo  Bolohuungafrage. 


^'   J 


Bremen8  im  Februar  und  die  dreier  niirnbergischer  Pflegeamier 
im  April  1806 :  am  7.  Juni  kann  er  wenigstens  die  REumung 
Bremens  von  den  Preussen  melden.  Fiir  die  Reichsstadte  weiss 
er  schon  am  22.  Marz  keinen  besseren  Bath,  als  dass  sie  aich 
schleunig  „zu  der  Idee  hergaben,  dass  sie  unter  einer  unmittel- 
baren  Protection  des  franzosischen  Kaiserthums  stiinden".  So 
lange  dieselbe  nichts  ah  eine  Garantie  der  gegenwartigen  Unab- 
hangigkeit  sei  —  und  schwerlich  werde  sie  etwas  anderes  frtiher, 
als  bis  der  Zeitpunkt  eintrate,  wo  alle  Unabhiingdgkeit  der  deut- 
schen  Staaten  aufhore  —  bleibe  sie  gewiss  eine  Wohlthat  fur 
die  Reichsstadte.  Nationale  Bedenken  gegen  eine  solche  Com- 
bination &ussert  er  nicht:  er  schreibt  am  7.  Juni,  die  Reichs- 
stadte konnten  bei  jeder  Aenderung  des  Reichsnexus  nicht  umhin, 
sich  immer  mehr  zu  freien  kosmopolitischen  Punkten  zu 
bilden.  An  einen  Krieg  zwischen  Preussen  und  Frankreich 
denkt  er  damals  nicht :  dagegen  berichtet  er  von  Posttag  zu 
Posttag  iiber  die  steigende  und  abnehmende  WahrscheinUchkeit 
eines  preussischen  Krieges  mit  England,  der  am  11.  Juni  wirk- 
lich  in  London  erklart  wurde,  und  eines  Krieges  mit  Schweden, 
den  trotz  der  Blokade  Swinemiindes  durch  den  tollen  Konig 
Gustav  die  Langmuth  der  preussischen  Regierung  noch  immer  in 
der  Schwebe  hielt.  Woltmann  schliesst  seine  letzte  Depesche 
vom  20.  Juni  mit  der  Bemerkung:  „Ueber  Niirnberg  hat  Graf 
Haugwitz  heute  Vortrag  beim  Konig"  —  offenbar  ohne  Ahnung 
da  von,  dass  nach  drei  Wochen  schon  die  Rheinbundsakte  Niirn- 
bergs  Selbstandigkeit  vernichten  mid  wenige  Monate  spater  der 
Staat,  mit  dem  er  unterhandelte,  den  schwersten  Kampf  urns 
Dasein  wurde  zu  bestehen  haben. 

Berlin.  Th.  Zermelo. 


XXXV. 
Lausch,  J.  E.,  Die  karnthenische  Belehnungsfrage.    Inaugural- 
Dissertation  zur  Erlangung  der  philosophischen  Doctorwiirde 
an  der  Georg  -  August  -  Universitat  zu  Gottingen.     8.     (60  S.) 
Gottingen  1877. 

Nachdem  Rudolph  von  Habsburg  in  zwei  Kriegen  seinea 
Gegner  Ottokar  von  Bohmen  niedergeworfen  und  die  osterreichisch- 
deutschen  Lander  dem  Reiche  wieder  zugebracht  hatte,  belehnte 
er  am  27.  December  1282  auf  einem  feierlichen  Hoftag  zu 
Augsburg  seine  Sohne  Albrecht  und  Rudolph  mit  den  erledigteu 
Reichslandern ;  mit  Recht  nennt  Lausch  diesen  Act  die  Geburta- 
stands  des  osterreichisch-habsburgischen  Staatswesens.  An  diese 
Belehnung  kniipft  sich  die  Streitfrage:  War  unter  den  Landern, 
mit  welchen  Rudolph  seine  Sohne  zu  Augsburg  belehnte,  auch 
Karnthen  oder  nicht?  Denn  die  beiden  diesen  Punct  betreffen- 
den  Urkunden  widersprechen  sich;  in  der  grossen  Belehnungs- 
urkunde  fiir  Rudolphs  Sohne  vom  27.  December  1282  wird 
Karnthen  nicht  genannt,    wahrend   in  dem  Belehnungsbriefe  fiir 

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Lausch,  J.  E,,  Die  karnthenischo  Belehmmgs  frage.  163 

(xraf  Meinhard  von  Tyrol  iiber  Karnthen  vom  1.  Februar  1286 
sich  die  Angabe  Konig  Rudolphs  findet,  dass  er  1282  zu  Augs- 
burg seinen  Sohnen  nebst  den  andern  Landern  auch  Karnthen 
iibertragen  habe  und  dass  dieselben  jetzt  auf  letzteres  verzichtet 
batten.  —  Mit  der  Untersuchung  dieser  Streitfrage  beschaftigt 
sich  die  vorliegende  Schrift.  Ihr  Verfasser  bespricht  zuerst  die 
sammtlichen  einschlagigen  Quellenstellen  in  den  Belehnungsbriefen 
der  Bischofe,  in  den  kurfurstlichen  Willebriefen  und  in  den 
Cbronisten,  lasst  sodann  die  hieruber  ausgesprochenen  Ansichten 
der  neueren  Historiker,  Lichnowsky,  Stogmann,  Chmel,  Lorenz  u.  a. 
Revue  passiren,  beurtheilt  und  bekampft  sie  theilweise,  und 
kommt  schliesslich  zu  folgenden  Ergebnissen:  Rudolph  belehnte 
seine  Sohne  zu  Augsburg  am  27.  December  1282  mit  Karnthen 
nicht,  obwol  er  durch  die  kurfurstlichen  Willebriefe  hiezu  be- 
rechtigt  gewesen  ware ;  er  behielt  sich  die  Verfugung  iiber  dieses 
Reichsland  offen;  und  als  1286  Meinhard  wirklich  Karnthen 
erhielt,  polite  bei  dieser  Gelegenheit  das  Recht,  welches  Konig 
Rudolph  in  Folge  der  kurfilrstlichen  Willebriefe  zustand,  auch 
dieses  Land  zu  einem  Besitzthum  seines  eigenen  Hauses  zu 
machen,  nachdrucklich  betont  werden :  diess  geschah  in  erhohtem 
Grade  durch  die  Behauptung,  es  habe  der  Konig  von  diesem 
seinem  Rechte  friiher  bereits  wirklich  Gebrauch  gemacht.  Dieser 
Gresichtspunct  enthielt  gleichsam  eine  Vermittlung  zwischen  den 

beiden  Motiven,   durch  welche das  Verhalten  Rudolphs 

in  der  karnthenischen  Frage  iiberhaupt  bedingt  wurde,  dem 
Wunsche  namlich  nach  weiterer  Ausdehnung  der  eigenen  Haus- 
macht,  andererseits  der  nothwendigen  Riicksichtsnahme  auf  Mein- 
hard. Die  Verleihung  Karnthens  an  Letzteren  erschien  dann 
nicht  als  eine  durch  zwingende  politische  und  personliche  Griinde 
veranlasste  Concession  an  einen  wichtigen  Verbundeten,  sondern 
als  ein  freies  Geschenk  der  koniglichen  Gnade.  —  Fur  die  Auf- 
fassung  ferner,  als  ob  es  eines  Verzichtes  auf  Karnthen  bedurft 
hatte,  konnte  man  habsburgischer  Seits  geltend  machen,  einmal 
dass  die  Sohne  Rudolphs  durch  die  auch  auf  Karnthen  lautenden 
Willebriefe  der  Kurfiirsten  in  der  That  eine  Anwartschaft  auf 
dieses  Land  erhalten  hatten,  sodann  aber  waren  die  Herzoge 
doch  auch  realiter  bei  Entscheidxing  der  Frage:  Wer  wird  der 
kiinftige  Landesherr  von  Karnthen  werden?  als  Inhaber  der 
karnthenischen  Kirchenlehen  ein  hochst  bedeutendes  Gewicht  in 
die  Wagschale  zu  werfen  im  Stande,  indem  ein  Aufgeben  dieser 
Besitzungen  von  ihnen  natiirlich  nui%  zu  Gunsten  eines  Mannes 
erwartet  werden  konnte,  der  zu  dem  habsburgischen  Hause  in  so 
nahen  und  freundschaftlichen  Beziehungen  stand,  wie  dies  eben 
bei  Meinhard  der  Fall  war.u 

„Die  in  dem  Belehnungsbrief  erwahnte  Bitte  der  Herzoge 
an  Konig  Rudolph,  dass  er  Karnthen  an  Meinhard  verleihen 
moge,  kann  doch  nur  so  aufgefasst  werden,  dass  auf  diese  Weise 
deutlich  hervorgehoben  werden  soUte,  Meinhard  verdanke  den 
Beaitz  des  Landes  nicht  allein  der  Gnade  des  Konigs,    sondern 

11* 

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164  Zahn,  Josef  v.,  Zur  Qeschichte  Herzog  Rudolfs  IV. 

auch  dem  guten  Willen  der  Sohne,  welche  zu  GunBten  des 
Grafen  ihren  Anspriichen  auf  das  Herzogthum  entsagt  hatten. 
Indem  der  ganze  Gnadenact  der  Verleihung  auf  eine  Bitte  der 
Sohne  zuriickgefiihrt  wurde,  war  besonders  der  Umstand  ins 
Licht  gerUckt,  wie  jener  Verzicht  eben  lediglich  im  Interesse 
Meinhards  erfolgt,  dass  also  dieser  daflir  den  Sohnen  anch  zu 
besonderem  Danke  verpflichtet  sei ;  dadnrch  wurde  nun  der  Graf 
nicht  nur  so  lange ,  als  Rudolph  lebte ,  sondern  auch  fur  die 
Zukunft  an  das  habsburgische  Haus  gekettet,  insoferne  unter 
diesen  Umstanden  Rudolphs  Sohne,  oder  vielmehr  Herzog  Al- 
brecht,  sicher  waren,  in  Meinhard  einen  zuverlassigen ,  das 
Interesse  des  habsburgischen  Hauses  fordemden  Nachbar  und 
Bundesgenossen  zu  besitzen."  — 

Irren  wir  nicht,  so  kann  man  diese  Streitfrage  durch  Lauseh 
ftir  gelost  betrachten ,  um  so  mehr ,  da  er  sich  nicht  auf  die 
Vergleichung ,  Richtigstellung  und  Erkliirung  der  Quellen  be- 
schrankt,  sondern,  wie  die  eben  aus  seiner  Schrift  citirten  Stellen 
beweisen,  den  Verlauf  der  ganzen  Angelegenheit  bis  in  ihre  letzten 
psychologischen  Motive  klarlegt. 
Graz  in  Steiermark.  Franz  Ilwof. 


XXXVI. 
Zahn ,  Josef  v. ,  Zur  Geschichte  Herzog  Rudolfs  IV.    Aus  dem 

Archiv  fur  osteh-eich.  Geschichte  (LVL  Bd.,  I.  Halfte,  S.  229  bis 
256)  besonders  abgedruckt  Wien  1877,  C.  GerofcPs  Sohn. 
Der  Inhalt  dieser  interessanten  Abhandlung  betrifft  die 
Gefangennahme  zweier  venetianischen  Gesandten  auf  osterreichi- 
schem  Boden,  die  Reise  Herzog  Rudolfs  nach  Venedig  und  die 
glSnzendeAufnahme,  welche  derselbe  daselbst  fend. — Im  Jahrel359 
befand  sich  eine  venetianische  Gesandtschaft  bei  Kaiser  Karl  IV. 
in  Bohmen,  einerseits  um  die  Belehnung  Venedigs  mit  dem 
nach  dem  Prieden  mit  Ungarn  (1358)  behaupteten  Treviso  und 
seiner  Mark  zu  erwirken,  und  anderseits,  um  die  Ranke  des  Herrn 
von  Padua,  Pranz  von  Carrara,  zu  hintertreiben.  Sie  erreichte 
ihren  Zweck  nicht,  wurde  abberufen,  nur  Celsi  blieb  zurttck, 
Corner  und  Gradenigo  traten  die  Rlickreise  an.  Als  diese  Mitte 
Januar  1360  bei  St.  Veit  in  Karnthen  voriiberzogen ,  wurden 
sie  von  den  Briidern  Hermann  und  Nikolaus,  den  Schenken  von 
Osterwitz,  angefallen,  gefangen  genommen  und  auf  die  Burg 
Osterwitz  abgefiihrt,  obwol  sie  mit  Schutzbriefen  von  Seite  des 
Herzogs  und  des  Kaisers  ausgenistet  gewesen.  Was  die  Ursache 
dieser  Gewaltthat  war,  ergibt  sich  aus  den  Quellen  nicht;  sie 
gleicht  einem  Raubritterstiick ,  einer  Stegreifreiterei ,  einer  Fest- 
nahme  auf  Losegeld,  denn  die  Herren  von  Osterwitz  stacken  bei 
den  Juden  tief  in  Schulden  und  man  wfirc  versucht,  anzunehmen, 
dass  sie  die  Gelegenheit  beniitzten,  reiche  venetianer  Nobili  ab- 
zufangen,  um  hohes  Losegeld  von  ihnen  zu  erpressen.  „Dem 
stehen  aber  manche  Bedenken  entgegen.     Das  sonst  hie  und  da 

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£ahn,  Josef  v.,  Zur  Geschichte  Herzog  Rudolfs  IV.  165 

bluhende  Raubritterwesen  hat  in  Oesterreich  nie  sehr  und  nie 
lange  sicli  geltend  machen  konnen.  Wir  miissten  sonst  aus  Ur- 
kunden  oder  Annalen  unbedingt  mehrfach  Nachrichten  iiber- 
kommen  baben.  Jene  aber,  welche  wir  besitzen,  sind  so  ver- 
einzelt,  dass,  wenn  man  sie  cum  grano  salis  culturgeschichtlich 
verwerten  wollte,  unsere  Lande  nach  der  Seite  hin  zu  den 
fciedlichsten  gehort  haben  mussen.  —  Audi  darf  man  die  Stel- 
lung  der  von  Osterwitz  als  Landeswiirdentrager ,  als  Schenken 
von  Karnthen,  nicht  ubersehen.  Es  ist  doch  bedenklich,  M&nner, 
welche  in  einer  Reihe  mit  den  Landeshauptleuten  und  den 
TrSgern  alles  Rechtes  im  Lande,  den  Marschallen  sich  ordnen, 
als  Stegreifherren  annehmen  zu  wollen."  —  Der  Grand  der  That 
der  Herren  von  Osterwitz  scheint  Privatfeindschaft  gewesen  zu 
sein,  welche  1358  entstand,  als  die  Venetianer  in  Istrien  gegen 
die  Ungarn  kampften,  in  deren  Dienste  die  Schenken  von  Oster- 
witz getreten  waren.  —  Die  Signoria  von  Venedig  erfuhr  bald 
von  diesem  Vorfalle  und  schickte  einen  Boten  an  Herzog  Rudolf 
mit  Beschwerden  ttber  diese  Verletzung  der  Strassenfreiheit  und 
seines  Geleitscheines.  Herzog  Rudolf  versprach  seine  Hilfe  zur 
Befreiung,  entgegnete  aber,  „es  bediirfe  zur  Befreiung  besonderer 
Verhandltmg,  denn  die  Schenke  von  Osterwitz  seien  freie 
Leute  und  dem  Herzogthume  in  Oesterreich  nicht 
unterworfen.  Das  letztere  war  allerdings  der  Fall,  und 
datirt  von  dieser  Begebenheit,  in  Verbindung  mit  tiefer  Ver- 
6chuldung,  die  lehensmassige  Stellung  der  bislang  freien  Leute 
von  Osterwitz."  —  Die  Gesandten  blieben  daher  auch  vorlaufig, 
und  zwar  zwei  und  zwanzig  Monate,  in  Haft  auf  Osterwitz.  — 
Diese  loste  sich  erst,  als  Rudolf  durch  die  Angelegenheiten  in 
Friaul  veranlasst  wurde,  Venedig  zu  besuchen;  da  erzwang  er 
von  den  Schenken  die  Freilassung  der  Venetianer  und  brachte 
sie  mit  sich  in  die  Inselstadt,  als  er  dort,  wo  er  wie  ein  Konig 
mit  dem  grossten  Pompe  empfangen  wurde,  zum  Besuche 
(29.  September  1361)  erschien.  Nach  seiner  Heimkehr  wurde 
die  Angelegenheit  mit  den  Osterwitzern  ausgetragen.  Rudolf 
iibernahm  die  Judenschulden  der  Osterwitz  im  Betrage  von 
6000  Gidden,  weil  sie  ihm  die  Gesandten  bedingungslos  ausge- 
liefert  hatten,  zugleich  verzichteten  die  Schenken  aber  auch  auf 
ihre  Stellung  als  Freie,  gaben  dem  Herzog  ihre  Veste  Osterwitz 
und  alle  ihre  Giiter  auf,  nahmen  sie  von  ihm  zu  Lehen  und 
schwuren  ihm,  getreu  damit  zu  dienen,  und  Rudolf  versprach, 
ihre  Krainer  Giiter  frei  zu  geben,  und  wenn  nicht,  sie  dafur 
schadlos  zu  h>lten.  Sonach  hatte  der  Streich  an  den  Venetianern 
die  von  Osterwitz  urn  ihre  bevorrechtete  Stellung  gebracht. 

Das  meiste,  was  der  Verf.  in  dieser  Schrift  bringt,  ist  neu, 
so  die  Erzahlung  von  der  Gefangennahme  der  Venetianer,  der 
Nachweis  der  exemten  Stellung  der  Schenke  von  Osterwitz  und  des 
Verlustes  derselben ;  in  diesen  Nachweisen,  welche  durch  den  Ab- 
druck  der  betreflfenden  'Quellen  im  Anhange  erhartet  sind,  liegt 
der  bedeutende  Werth  dieser  kleinen  Abhandlung,   welche  so 

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166  Kraus,  Victor  v.,  ZwGesch.Oesterr.  etc.  Ilwof,  Fr.,  u.  K.  F.  Peters,  Graz  etc. 

wie  alles,  was  die  Ssterreichische  Geschichte  dem  Forschergeiste 
Zahns  verdankt,  als  eine  wesentliche  Bereichening  unserer  vater- 
landischen  Geschichtslitteratur  zu  bezeichnen  ist 
Graz.  Franz  Ilwof. 


xxxvn. 

Kraus ,  Victor  v. ,  Zur  Geschichte  Oesterreichs  unter  Ferdi- 
nand I.  )5l9—22.  gr.  8.  (V,  114  u.  Anhang  XXXIII  S.) 
Wien  1873,  Alfred  Holder.     2,40  M. 

Der  Herr  Verf.  hat  es  sick  zur  Aufgabe  gemacht,  uns  „ein 
Bild  st&ndischer  Parteikampfe"  aus  den  ersten  Jahren  der  Re- 
gierung  Ferdinands  I.  zu  geben.  Er  lehrt  uns  in  dem  ersten 
Abschnitte  „dic  Keime  und  die  Entwickelung  einer  allgemeinen 
Bewegung  in  den  niederosterreichischen  Erblandern"  (S.  10 — 47) 
kennen  und  zeigt,  wie  nach  fortgesetztem  Kampfe  der  Stande 
Oesterreichs  unter  der  Enns  (&.  47 — 59)  endlich  die  Landes- 
herrlichkeit  einen  vollstandigen  Sieg  iiber  das  standische  Princip 
davon  trug  (S.  59 — 84).  Der  Herr  Verf.  hat  sich  seine  Aufgabe 
keineswegs  leicht  gemacht,  sondern  an  der  Hand  aller  zug&ng- 
lichen  archivalischen  Quellen,  besonders  auch  unter  Benutzung 
der  Handschriften-Abtheilung  der  kaiserl.  Hof bibliothek  in  Wien, 
eine  sehr  sorgfaltige  Darstellung  dieser  interessanten  und  filr  die 
Beurtheilung  der  Regierungsweise  Ferdinands  I.  wichtigen  Kampfe 
gegeben,  Besonders  werthvoll  wird  dieselbe  durch  die  ange- 
sctdossenen  4  Excurse,  die  1)  eine  sehr  gewissenhafte  Kritik  der 
Quellen  und  Hilfsschriften  der  Periode  1519 — 1522,  2)  ein  Bruch- 
stiick  aus  M.  Siebenbiirgers  Leben  und  seiner  offentlichen  Wirk- 
samkeit,  3)  die  Verhandlungen  auf  dem  Generallandtag  zu  Brack, 
4)  standische  und  landesfiirstliche  Betrachtungen  iiber  die  Vor- 
falle  nach  dem  Tode  Matthias'  beim  Beginn  des  30jahrigen 
Krieges  enthalten.  Der  Anhang  enthalt  Briefe  und  Actenstiicke 
zur  Periode  1519—22. 
Berlin.  Brecher. 

xxxvm. 

Ilwof,  Fr.,  und  Karl  F.  Peters,  Graz,  Geschichte  und  Topo- 
graphic der  Stadt  und  ihrer  Umgebung.    Mit  einem  Anhange 
iiber  Eisenerze,  Braunkohlen,  Braunkohlenflora,  Mineralquellen 
und  Curorte  in  der  Steiermark.    (433  S.)    Graz  1875. 
Die   vorliegende  Festschrift   verdankt  ihre  Entstehung  der 
Aufforderung   der   Geschaftsfuhrer   dfcr   48.    Versammlung    der 
deutschen  Naturforscher  und  Aerzte  an   die  Verfasser,   fur  die 
Mitglieder  der  Versammlung  eine  Darstellung  der  historischen 
und  topographischen  Verhaltnisse  von  Graz  zu  entwerfen.   Indem 
sich  dieselben  dieser  Aufgabe  unterzogen,  haben  sie  nicht  allein 
die   Theilnehmer  der  Naturforscherversammlung ,   sondern  auch 
alle  diejenigen,  welche  sich  fur  Stadtgeschichte  interessiren ,  zu 

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Beitrage  zur  Kunde  steierm&rkischer  GescMchtsquellen.  167 

Dank  verpflichtet.  Denn  trotz  der  eng  gesteckten  Grenzen  ist 
es  ihnen  gelungen ,  ein  iibersichtliches ,  flares  und  zuni  Theil 
sehr  genaues  Bild  der  historischen  Entwicklung  der  Stadt  Graz 
ond  ibrer  gegenwartigen  Lage  mit  Berucksichtigung  alles  wissens- 
weifhen  statistischen  Materials  zu  entwerfen.  Das  dadurch  ge- 
gebene  Beispiel  verdient  Nachahmung.  Das  grossere  Publikum 
wurde  gewiss  sehr  dankbar  sein,  wenn  es  von  den  grosseren 
Sfcadten  Deutschlands  ahnliche  kurze  und  doch  umfassende 
Schilderungen  erhielte.  —  S.  5 — 62  enth&lt  eine  von  K.  P.  Peters 
verfasste  Abhandlung  iiber  den  Boden  von  Graz,  an  welche  sich 
S.  63  —  246  die  Geschichte  der  Stadt  von  ihren  Anfangen  bis 
in  die  neueste  Zeit  anschliesst.  Dieselbe  ist  von  Franz  Ilwof 
gesclirieben  und  enthalt  in  knapper,  gedrungener  Form  nicht 
Moss  die  Ergebnisse  aller  der  zahlreichen  Untersuchungen ,  die 
iiber  die  Geschichte  der  steierschen  Hauptstadt  angestellt  sind, 
sondern  auch  die  der  archivalischen  Forschungen  des  auf  diesem 
Felde  schon  bewahrten  Verfassers.  Besonders  werthvoll  er- 
scheinen  die  Abschnitte,  welche  „Rechtshistorisches  und  Volks- 
wirthschaftliches" ,  S.  142  — 152,  „Schulwesen  ira  Mittelalter," 
S.152 — 155,  ^Reformation  und  Gegenreformation,"  S.  179 — 194, 
behandeln.  —  Die  Topographie  der  Stadt,  ebenfalls  von  Fr.  Ilwof 
bearbeitet,  bespricht  die  Lehranstalten,  die  Bibliothek  der  Uni- 
versitat,  die  wissenschaftlichen  Sammlungen,  die  Landes-Bilder- 
gaDerie  und  Kupferstichsammlung ,  das  Landes  -  Archiv ,  das 
Landes-Zeughaus  und  die  zahlreichen  Spitaler,  Vereine,  Behor- 
den  etc.  der  Stadt  und  der  Landschaft.  Der  Anhang  handelt, 
S.  339 — 430,  von  den  Eisenerzen,  der  Braunkohle  etc.  und  den 
Mineralquellen  und  Curorten  von  Steiermark.  —  Der  beigegebene 
,jPlan  von  Grazu  zeugt  von  Sorgfalt  und  Geschmack.  — 
Berlin.  "  Brecher. 


XXXIX. 
Beitrioe  zur  Kunde  steiermarkischer  Geschichtsquellen.  Heraus- 

gegeoen  vom  historischen  Vereine  fur  Steiermark.    13.  und  14. 

Jahrgang.     Graz  1876  und  1877.     Leuschner  und  Lubensky. 
Mittheilungen  des  historischen  Vereins  fur  Steiermark.   Heraus- 

gegeben  von  dessen  Ausschusse.    24.  und  25.  Heft.   Graz  1876 

und  1877.  Leuschner  und  Lubensky. 
Gretreu  seinen  Satzungen  veroffentlicht  der  historische  Verein 
fiir  Steiermark  alljahrhch  zwei  Publikationen ,  die  eine  der  Er- 
forschung,  die  andere  der  Bearbeitung  der  Geschichte  dieses 
Landes  gewidmet.  Seit  meiner  letzten  Anzeige  dieser  „Beitrage" 
mid  „Mittheilungenu  in  dieser  Zeitschrift  (V,  182—186)  liegen 
wieder  je  zwei  Hefte  derselben  vor ,  iiber  welche  nunmehr  hier 
kurz  Bericht  erstattet  werden  soil.  — 

Der  13.  Jahrgang  der  ersteren  enthalt  „Materialien  und 
kritische  Bemerkungen  zur  Geschichte  der  ersten  Bauemunruhen 
in  Steiermark  und   den  angrenzenden  Landern"  von  Dr.  Franz 


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168  Boitrage  zur  Kunde  stoiermarkischer  Geschichtsquellen, 

Mayer ;  sie  betreffen  vorwaltend  den  grossen  Aufstand  von  1515 
und  sind  um  so  wertvoller,  da  die  Quellen  iiber  dieses  Ereigniss 
nicbt  sehr  reichlich  fliessen  und  durch  die  neu  beigebrachten 
Briefe  mancbe  Einzelheit  dieser  Vorgiinge  erst  richtig  gestellt 
werden  kann,  wodurch  sich  aucb  das,  was  Zimmermann  in  seiner 
Geschichte  des  grossen  Bauernkrieges  und  nacb  ibm  Liliencron 
im  3.  Bande  (S.  188)  der  bistorischen  Volkslieder  als  Einleitung 
zu  dem  dort  abgedruckten  Bauernlied  iiber  den  Aufstand  in 
Innerosterreich  im  Jahre  1515  erzahlen,  rectificirt  —  Wichner 
berichtet  „iiber  einige  Urbare  aus  dem  14.  und  15.  Jahrhundert 
iga  Admonter  Archiv"  und  bringt  Ausziige  aus  denselben,  welche 
reiche  Beitrage  zur  Kulturgeschichte  der  Steiermark  in  den 
letzten  Jahrbunderten  des  Mittelalters  darbieten;  die  alten  Ad- 
monter Urbare  des  12.  und  13.  Jahrbunderts  sind  bei  dem 
grossen  Brande  des  Stiftes  vor  zebn  Jahren  zu  Grunde  ge- 
gangen.  —  Der  dritte  grossere  Aufsatz  dieses  Heftes  bringt 
„Urkunden-Regesten"  von  Dr.  Ferdinand  Biscboff;  es  sind  diess 
223  Regesten  von  aus  den  Jahren  1345  bis  1533  stammenden 
Urkunden,  welche  sich  grosstentheils  in  einem  im  Schlossarchir 
zu  Hollenburg  in  Karnthen  verwahrten  Copialbuche  befinden, 
das  1528  von  Sigmund  von  Dietrichstein  angelegt  wurde;  sie 
beziehen  sich  auch  directe  oder  indirecte  auf  diesen  Mann,  den 
treuen  und  klugen  Bath  Kaiser  Maximilians  L,  und  dessen  Be- 
sitzthum,  also  auf  einen  Mann,  der  durch  geraume  Zeit  eine 
hervorragende  und  einflussreiche  Stellung  in  Steiermark  einnahm; 
es  ist  daher  gerechtfertigt ,  dass  diese  Regesten,  wenn  viele  von 
ihnen  auch  nur  Gtiter  in  Karnthen  betreffen,  gesammelt  an  diesem 
Orte  verofiFentlicht  werden.  —  An  kleineren  Notizen  finden  wir 
in  diesem  Hefte  „Bannbestimmungenu  ,aus  dem  15.  Jahrhundert 
aus  Unter8teiermark  stammend,  wie  sie  von  Zeit  zu  Zeit  von  der 
Kanzel  herab  vorgelesen  wurden,  um  sie  den  Pfarrkindern  wieder 
ins  Gedachtniss  zu  rufen ;  sie  stimmen  mit  den  allgemein  giltigen 
der  Kirche  nur  wenig  zusammen  und  enthalten  manches  kultur- 
historisch  Interessante ;  Prof.  Schonbach  fand  sie  in  einer  Hand- 
8chrift  der  Grazer  Universitatsbibliothek.  —  Und  endlich  weist 
Kernstock  nach,  dass,  was  bisher  nicht  feststand,  Almerich  Bi- 
schof  von  Lavant  im  Sommer  1267  starb,  und  sein  Naohfolgte 
Herbord  im  Herbst  desselben  Jahres  gewahlt  wurde.  — 

Mindestens  ebenso  wertvoll  wie  die  Arbeiten  des  13.  Jahr- 
ganges  sind  die  des  14.  —  Ottokar  Kernstock  berichtet  iiber 
„Chronikalisches  aus  dem  Stifte  Vorau"  dem  13.  und  14.  Jahr- 
hunderte  entstg,mmend.  —  Bischoff  durchforschte  im  Auftrage 
der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften  nach  Weisthiimern 
suchend  eine  grosse  Zahl  von  Archiven  in  Stadten,  Markten, 
Schlossern  und  Klostern  der  Steiermark  und  liefert  in  diesem 
Hefte  „Nachrichten  iiber  steiermarkische  Archive",  welche  an  sich 
interessant,  fur  den  spatei-en  Forscher  aber  ungemein  wertvoll  und 
belehrend  sind.  —  Auf  eine  neue ,  bisher  fast  nicht  beniitzte 
Quelle  der  heimischen  Geschichte  macht  E.  Kummel  aufinerksam: 

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Mittheilungen  des  historischen  Vereins  fur  Steiermark.  169 

„Die  landschaftlichen  Ausgabenbiicher  als  Geschichtsquellen" ; 
er  eriautert  ihre  Anlage,  bespricht  ihren  Inhalt  und  weist  nach, 
welche  grosse  Bedeutung  diese  Amtsbiicher,  namentlich  fur  das 
16.  bis  18.  Jabrhundert,  als  die  iibrigen  erganzende  Geschichts- 
quellen  besitzen.  Sie  bieten  autbentisches  Material  fiir  die  Ge- 
schichte  der  Landeshaushaltung  und  der  gesammten  Finanz- 
verhaltnisse  der  Steiermark,  entbalteu  wertvolle  Angaben  iiber 
Preise  und  Lohne,  sowie  fur  die  Geschichte  des  Miinzwesens,  ja, 
haufig  findet  man  in  ihnen  Angaben,  die  trotz  ibrer  fragmen- 
tarischen  Form  fur  die  allgemeine  Landesgescblcbte  tbeils  ganz 
neae  Aufschliisse,  tbeils  erwiinschte  fielege  fiir  nur  mangelhaft 
bekannte  Thatsachen  gewahren.  —  Die  letzte  grossere  Arbeit 
dieses  Heftes  ist  von  J.  v.  Zahn :  „Ueber  Materialien  zur  inneren 
Geschichte  der  Zunfte  in  Steiermark" ,  ein  Forscbungsgebiet, 
welches  trotz  seiner  eminenten  Wicbtigkeit  fur  die  Kultur- 
geschichte  meines  Erinnems  Steiermark  betreflfend  bisher  noch 
nicht  behandelt  wurde,  daher  jetzt  erst  durch  Zahn  aufgesehlossen 
wird,  Der  vorliegende  erste  Aufsatz  dieser  „Materialienu  ent- 
hiQt  ein  Verzeichniss  der  durch  urkundliche  Erwahnung  oder 
formbche  Statuten  bisher  bekannt  gewordenen  Zunfte  in  Steier- 
mark vom  Jahre  1381,  wo  zum  ersten  Male  eine  Zunft,  die 
Bruderschaft  der  Zimmerleute  in  Judenburg,  erscheint,  bis  zum 
Jahre  1599 ;  eingefuhrt  wird  dieses  Verzeichniss  durch  eine 
kurze,  aber  vortrefflich  geschiiebene  Einleitung  iiber  Zunftwesen 
und  Zunftordnungen.  — 

Das  24,  Heft  der  „ Mittheilungen"  enthalt  nur  einen,  aber 
dafiir  umfangreichen  und  ausgezeichneten  Aufsatz:  wGeorg  Mat- 
thaeus  Visclier  und  seine  Wirksamkeit  in  Steiermark"  von 
J.  von  Zahn.  Die  innerosterreichischen  Lande  hatten  im  17. 
Jahrhunderte  das  Gliick,  von  aufopfernden  und  tuchtigen  Greo- 
und  Topographen  durchforscht  zu  werden,  und  die  Arbeiten  dieser 
hochverdienstlichen  Manner,  Valvasor  fiir  Karnthen  und  Krain, 
und  Tiscber  fur  Steiermark  (auch  fiir  Nieder-  und  Oberoster- 
mch)  miissen  als  Glanzpunkte  der  litterarischen  und  kiinst- 
leriscben  Thatigkeit  der  Alpenlander  in  jener  Periode  und  als 
wertvolle  Hilfsmittel  fiir  die  Erforschung  und  Darstellung  wich- 
tigerPartien  des  Geschichtslebens  ihrer  Zeit  betrachtet  werden.  — 
Vischer  verdankt  die  Steiermark  eine  grosse  Landkarte,  das  so- 
genannte  „Schl6sserbuch" ,  das  ist  die  Abbildung  von  499 
Schlossern,  Stadten,  Markten,  Klostern  etc.,  eine  grosse  Abbil- 
dung von  Grraz,  eine  solche  von  Admont,  zahlreicbe  kleinere 
Arbeiten,  von  denen  besonders  ein  Gnmdriss  und  eine  Ansicht 
der  steiermarki8ch  -  salzburgischen  Grenzen  am  Pass  Mandling 
an  der  Enns  und  ein  in  Vogelperspective  ausgefuhrter  Abriss 
der  steiermarkisch-osterreichischen  Grenzen  am  Semmering  her- 
Torzuheben  sind.  Die  zwei  letzteren  Arbeiten  Vischers  wurden 
erst  von  Zahn  aufgefunden  und  hier  zum  ersten  Male  veroffent- 
Hcht  Die  Bedeutung  Vischers  ruht  nicht  in  seinen  Werken 
aUein,  in  der  Ausdehnung,   Zahl  und  im  Umfange  derselbeu, 

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170  Sch wicker,  Job.  Heinr.,  Geschichte  des  Temeser  Banats. 

sondern  nocli  in  dem  Umstande,  dass  er  in  seiner  Art  und  speziell 
fiir  Steiermark  der  erste  gewesen  and  qb  auch  fur  lange  Jahre 
geblieben  ist.  Zabns  Arbeit  fiber  ihn  ist  erschopfend  nnd  er  hat 
sich  ein  besonderes  Verdienst  und  den  Dank  aller  Besitzer  yon 
Vischers  Schlosserbuch  dorch  das  vollstandige  und  alle  ein- 
schlagenden  Punkte  behandelnde  Verzeichniss  der  Ortsbilder 
dieses  Werkes  erworben,  wodurch  dasselbe  nunmehr  geordnet, 
vervollstandigt  und  iiberhaupt  erst  recht  nutzbringend  gemacht 
werden  kann.  — 

Das  25.  Heft  der  „Mittheilungenu  beginnt  mit  einem 
grosseren  Aufsatze  von  Emil  Kummel :  „Zur  Geschichte  Herzog 
Ernst  des  Eisernen  (1406 — 1424),tt  in  welchem  quellenmassig  die 
trube  Zeit  der  Landertheilungen  und  Bruderzwiste  unter  den 
habsburgischen  Herzogen  und  die  Thatigkeit  Ernsts  als  Landes- 
fiirst  in  Steiermark  geschildert  werden.  Mehr  nur  lokalgeschicht- 
licher  Natur  sind  die  Arbeiten  von  Kernstock :  „Beitrage  zur 
Zeit-  nnd  Kulturgeschichte  der  Steiermark  aus  den  Papieren 
eines  steirischen  PraJaten",  des  Johann  Benedict  Perfall,  Propst 
des  Chorherrnstiftes  Vorau  (1593  — 1615)  und  die  des  unter- 
zeichneten  Referenten:  „Die  Grundung  des  katholischen  Vicariates 
St  Buprecht  am  Kulm  in  der  evangelischen  Ramsau  (1748)u, 
ein  kleiner  Beitrag  zur  Geschichte  jener  Versuche,  welche  wahrend 
der  theresianischen  Regierung  gemacht  wurden,  die  seit  der  Re- 
formation noch  protestantischen  Bewohner  abgelegener  Alpen- 
thaler  zu  katholisiren.  —  Einen  Beitrag  zur  Geschichte  des 
innerosterreichischen  Kriegswesens  im  16.  Jahrhundert  liefert 
Dr.  H.  von  Zwiedineck  in  dem  Aufsatze:  „Das  steirische  Auf- 
gebot  von  1565";  den  Schluss  des  Heftes  bildet  die  historisclie 
Studie  von  R.  Peinlich:  „Der  Brotpreis  zu  Graz  und  in  Steier- 
mark im  17.  Jahrhunderte",  eine  umfangreiche,  auf  vollstandiger 
Ausbeutung  der  einschlagigen  Quellen  beruhende  Arbeit,  welcbe 
die  hochwichtige  Frage,  die  sie  behandelt,  auch  vollkommen 
erschopft. 

Diesem  Hefte  liegt  auch  wieder  eine  Abtheilung  des  „Ge- 
denkbuch  des  historischen  Vereines  fiir  Steiermark"  bei,  welche 
die  Biographie  des  urn  die  Steiermark  verdienten  Arztes  und 
Topographen  Dr.  Mathias  Macher,  verfasst  von  dem  unterzeich- 
neton  Berichterstatter,  enthalt.  — 

Graz.  Franz  Ilwot 


xxxx. 

Schwicker,    Joh.    Heinr.,    Geschichte   des  Temeser   Banats, 

U.   Ausg.     gr.   8.     (XVIH,   470   S.)    Pest   1872,   Ludwig 

Aigner.    4  M. 

Der  Verfasser  obiger  Schrift  beabsichtigt ,  „den  Bewohnem 

des   Banats  in  mSglichst  klaren  Ziigen  die  Vergangenheit  ihrer 

Heimat  zu  zeichnen".    Er  sucht  die  Nothwendigkeit  dieses  seines 

Unternehmens   dadurch  zu  begriinden,    dass    „eine    zusammen- 

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Schwicker,  Joh.  Heinr.,  Goschichte  des  Temoser  Banats.  171 

hangende  and  *gemeinverstandliche  Schilderung  der  historischen 
Merkwiirdigkeiten  des  Temeser  Banats  bisher  alien  Freunden 
desselben  gefehlt  habe,  dass  Franz  Griselinis  einziges  derartiges 
Werk  bereits  voDig  veraltet  und  aus  dem  Buchhandel  ver- 
schwunden  sei".  Er  versaumt  zwar  auch  nicht  darauf  hinzu- 
weiaen,  dass  die  Neuzeit  im  Gebiete  der  ungarischen,  wol  auch 
der  oebenbiirgisohen  Geschichte  vortreffliche  Arbeiten  geliefert 
babe,  meint  aber,  dass  deshalb  doch  nicht  jedem  Banater  zugc- 
mntket  werden  konne,  aus  der  Menge  derselben  sich  ein  deut- 
liches  BUd  der  Vergangenheit  seiner  Heimat  zu  gestalten.  Des- 
halb hat  der  Verfasser  zunachst  die  Angaben  Griselinis  nach  Mog- 
lichkeit  gepriift,  dann  vornehmlich  B&r&ny's :  Torontal-V&rmqgye 
hajdona  nnd  Temesv&r  EmlGke  sowie  Baron  von  Czornigs  Ethno- 
graphic der  osterreichischen  Monarchie  bei  „seiner  eigenen44  Arbeit 
benutzt,  ohne  dass  es,  wie  er  selber  sagt,  in  seinemSinne  gelegen  habe, 
«mit  seinem  Werke  die  Geschichtswissenschaft  an  sich  bereichern, 
durch  neue  Aufechliisse  and  Beleuchtungen  ihr  Gebiet  erweitern 
zu  woflen".  Von  diesem  Gesictyspunkte  aus  ist  denn  auch  das 
ge8ammte  Werk  zu  beurtheilen,  indem  wir  dem  Verfasser  gerne 
glauben,  dass  er,  von  offentlichen  Bibliotheken  entfernt,  von 
Btterarischen  Hilfsmitteln  im  Banate  abgeschnitten,  ganz  auf  sich 
angewiesen,  fur  manche  historische  Thatsache  den  Nachweis 
nicht  zu  erbringen  vennocht;  wenn  er  gleichwol  hin  und  wieder 
in  Horvaths,  Majlaths  und  Szalays  Werken  seine  wichtigsten 
Quellen  angibt,  so  ist  andererseits  nur  zu  bedauern,  dass  er  so 
manche  andere  Arbeit,  vidleicht  grundsatzlich ,  zu  benutzen 
unterlassen  hat. 

Nach  der  besonderen  Versicherung  des  Verfassers  war  sein 
Streben  allein  darauf  gerichtet,  „fern  von  jeder  Tendenz  die 
Wahrheit  nach  bestem  Wissen  und  Gewissen  zu  erreichen44  und 
den  Hergang  zu  entwickeln ,  wie  nach  den  wiederholten  miss- 
glfickten  Versuchen  der  verschiedenen  Beherrscher  der  mittleren 
Donaugegenden,  daselbst  einen  grossen  Staatenverein  zu  bilden, 
ndie  Magyaren  zuletzt  ein  machtiges  Reich  begrttndet  und  Trager 
der  europaischen  Civilisation ,  die  Schutzmauer  gegen  das  An- 
drogen des  asiatischen  Barbarismus,  der  Hort  des  Christenthums 
geworden41,  und  wie  rGross-Oesterreicha  oder  „der  osterreichische 
Kaiserstaat,  der  geschichtlich  gewordene  Organismus  mit  der 
ihm  eigenthiimlichen  Lebensfahigkeit  im  Laufe  der  Zeiten  so 
manche  Erschiitterungen  siegreich  und  neu  gekraftigt  durch- 
genmgen  im  Interesse  Europas  und  jedes  einzelnen  der  verbun- 
denen  Lander,  eine  Gesammtheit  der  Belbstberechtigten,  historisch- 
poKtisch  -  individuellen  Konigreiche  und  Lander44  ( —  selbstver* 
standlich  in  christlich-kathoUschem  Geiste  — )  ^darstelle44. 

In  der  kurzen  Einleitung  (von  S.  1 — 6)  begrenzt  er  den 
Landstrich,  dessen  Vergangenheit  er  in  einer  Reihe  von  Bildern 
zu  zeichnen  untemommen:  Im  Westen  durch  das  im  leisen 
Wmdhauch  hin  und  her  schwankende  Schilfineer  der  im  breiten 
otxome  langsam  dahin  fliessenden,  fischreichen   Theiss;   —  im 


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172  Sch  wicker,  Joh.  Heinr.,  Gsschichte  des  Temeser  Ban&U. 

Sttden  durch  die  majestatische  Donau,  welche  bald  einem  Meert 
gleicht ,   von  zahlreichen  Schiffen  befahren ,   bald  aber  auch  too 
Riesenfelsen  eingeengt  wird  in  wildschaumenden  Wellen  und  lant 
auf  brodelnden  Wirbeln ;   —  im  Osten  durch  die  wildromantische 
ungarische  Schweiz  mit  dem  Felsenthale  der  Oserna  und  den  writ- 
gestreckten  Auen   des  Almaschthales ,   wo  in  dunklen  Eicbcn- 
waldern  betriebsame  Feuerschlote  raucken  und  des  Ambos  dumpfa 
Drohnen   gleich   Donnerschlagen   in   den  Bergen  widerhallt  and   j 
der  Gebirge  reicto  Schatze   zu  Gute   gemacht   werden;  —  im 
Norden  endlich  durch  die  aus  Siebenbttrgen  wild  herausstrSmende, 
allmahlich  aber  besanftigte  Marosch,  von  frischen  Weingelandea  " 
umsaumt    und    unendlich   reich    an    historischen    Erinnerungec, 
deren  noch  sichtbare  Zeugen  zum  Theil  in  alten  Schlossern  und 
Burgen  in  den  Wellen  sich  abspiegeln.     Dazwischen  erstreckt 
sich,  das  ganze  innere  Land  bedeckend,  ins  Unendliche  ausgedehnt, 
470  Quadratmeilen  umfassend,    die  Kornkammer   Oesterreichs,  ; 
die  fruchtbare  Ebene ,   auf  der  der  sch  were  banater  Weizen  im  ] 
heissen  Sonnenstrahle   sich  wiegt  und  hoch  aufgerichtet  der  tor-  \ 
kische   Weizen   seine   nahrenden   Kolben   reift;    seit  jeher  der  j 
Tummelplatz  zahlreicher  Volkerschaften,  jetzt  von  l*/i  Millioncn  , 
Menschen  bewohnt:  an  der  Theiss  vom  melancholischen  Serben. 
im  Gebirge   von  dem  zur  Romantik  hinneigenden  Rumanen  and  : 
auf  der  fruchtbaren  Ebene  vom  kulturtreibenden  Deutschen:  -  ■, 
zwischen  denen  alien  in.  buntem  Gemisch  noch  Magyaren  und  Bui*  j 
garen,  Zigeuner  und  Juden  hausen. 

Der  Verfasser  gliedert   die  Geschichte   seiner   Heimat  in 
3  Abschnitte: 

Der   1.   Abschnitt  umfasst  die  Geschichte  des  Banats  « 
von    der   Urzeit    bis   zur   tiirkischen    Unterjochung  im 
Jahre  1552.     (S.  7—172.) 

Er  schildert  in  kurzen,  sehr  allgemeinen  Ziigen  das  Wogen 
und  Drangen  der  verschiedenen  Volker  des  Alterthums,  der 
Dlyrier ,  Agathyrsen  und  Geten ,  stellt  dann  bei  Begum  der  , 
eigentlichen  VdLkerg&chichte  die  Dazier  als  ein  klihnes,  kampf* 
bereites  Volk  dar,  dessen  Schwerte  im  weiten  Umkreise  tapfere 
Volker  unterliegen,  das  sich  aber  „lm  Aufreiben  der  eigenen 
Kraft  gegen  einen  zwar  alternden,  aber  noch  machtigen  Feind  > 
selbst  verzehrt".  Etwas  linger  weilt  er  bei  der  Schilderung  der 
Romerherrschaft  in  diesen  Donaugebieten ,  wie  sie  begrundend 
und  aufbauend  in  Kultur  und  Wissenschaft ,  aber  auch  mi 
Unterdriickung  und  Vernichtung  des  nationalen  Wesens  voile 
170  Jahre  lang  dauert.  Leider  sind  des  Verfassers  archao- 
logische  Erorterungen  ziemlich  mangelhaft  und  ungenau,  den 
heutigen  Standpunkte  der  Wissenschaft  wenigstens  durchaus  nicht 
entsprechend.  Ausfuhrlicher  und  etwas  besser  orientirt  handelt 
er  von  der  Zeit  der  Volkerwanderung ,  den  Gothen  und  Van- 
dalen,  den  Hunnen  und  Gepiden,  den  Avaren  und  BulgareB, 
obwol  auch  hierbei  noch  manche  Irrthiimer  unterlaufen.  —  En 
lebhaftes  Interesse  zeigt  er  an  der  Ausbreitung  des  Christenthums 

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Schwfcker,  Joh.  Heinr.,  Geschichte  deB  Temeser  Bauats.  173 

im  alten  Dazien  und  Pannonien  und  gedenkt  der  Bisthiimer 
Siscia  (jetzt  Sissek),  Sirmium  (jetzt  Mitrovitza)  und  Mursa 
(jetet  Essek)  und  der  Verdienste  des  Methodius.  Urn  so  ent- 
riisteter  wendet  er  sich  gegen  die  bei  ihrem  Anstiirmen  dem 
Chrwtenthum  und  aller  Kultur  feindseligen  Magyaren  und  er- 
klart  —  auoh  fiir  die  Gegen  wart  sehr  wahr  und  bedeutungs- 
toUI  —  die  schnellen  Fortschritte  derselben  bei  der  Eroberung 
und  Yergewaltigung  des  Landes  aus  dem  thorichten  Nationalhass 
zwkben  den  Deutschen  und  den  Slaven,  welche  vor  Ankunft 
der  Magyaren  diese  Strecken  bewohnten.  Die  Geschichte  Arp&ds 
und  dessen  Unterwerfung  des  Bulgarenherzogs  Glad  erz&hlt  er 
nach  der  traditionellen  Darstellung  des  Anonymus  regis  Belae 
notarws,  rtihmt  aber  auch  mit  Meynert  (Gesch.  des  osterr. 
Kaiserstaates)  „den  streng  und  konsequent  logisch  gegliederten 
Sprachbau  der  Magyaren4*  und  versteigt  sich  sogar  zu  der  ziem- 
&h  paradoxen  Annahme,  dass  „die  Stammv&ter  der  gegenwartigen 
Magyaren,  die  allgemein  als  wilde,  rohe  Krieger  verschrienen 
Hnnnen,  in  ihrem  Vaterlande  in  Asien  schon  frtihzeitig  Wissen- 
schaften  kannten  und  pflegten,  dass  die  daheim  gebliebenen  fried- 
lichen  Gelehrten  aber  wahrscheinlich  im  blutigen  Schlachten- 
strome  untergegangen ,  und  dass  eine  gewiss  urspriinglich  vor- 
handen  gewesene  „Runenschrift"  der  braven  Szekler  durch  den 
frommen  Eifer  christlicher  Missionare  im  10.  Jahrhunderte  ver- 
schwonden  sei".    (vergl.  S.  35.)  — 

Aus  dem  Zeitraume  der  Arp&den  (von  894 — 1301)  weiss 
der  Verfasser  ftir  seinen  Landstrich  wenig  Erfreuliches  zu  be- 
richten :  es  war  die  Zeit  der  Einbiirgerung  und  Entwickelung, 
in  der  das  friiher  abenteuernde  Volk  die  rohe  Schale  der  Wild- 
heit  allm&hlich  von  sich  abstreifte.  Die  Geschichte  des  Landes 
wahrend  dieser  Periode  bezieht  sich  meist  nur  auf  innere  Zu- 
stande:  einzelne  Grosse  breiteten  ihre  Unabhangigkeit  sehr  oft 
so  weit  aus ,  dass  sie  in  Emporung  und  Anarchie  ausartete,  bei 
welcher  Gelegenheit  die  Temeser  Gegend  als  der  ausserste  Winkel 
des  Reiches  gewohnlich  die  Zufluchtsstatte  aller  Aufrilhrerischen 
jewesen  zu  sein  scheint.  Erst  nach  den  Kreuzziigen  und  den 
Mongoleneinfallen  trat  mit  der  Regierung  des  Hauses  Anjou  ein 
rolliger  Umschwung  ein,  Ungarn  gelangte  zu  hoher  politischer 
Bedeutong  im  Kreise  der  europ&ischen  Herrscher.  Aber  als 
*>Ute  die  Strafe  fur  die  ehemaligen  Siinden  des  Volkes  seinen 
iVachkommen  in  zehnfachem  Masse  zu  Theil  werden,  drohte  schon 
Qnter  der  Regierung  seines  bedeutendsten  Konigs,  Ludwig  L, 
die  grosste  Gefahr,  welche  je  auf  das  Magyarenreich  eingestUrmt: 
das  schwertgefibte,  kampf-  und  beutelustige  Barbarenvolk  der 
Osmanen  wagte  nach  dem  Sturze  von  Byzanz  an  den  Ufern  der 
Donau  und  der  Theiss  die  „Vormauer  der  Christenheit"  zu 
brechen.  Ein  schweres  Ringen  begann,  in  welchem  die  Helden- 
gestalten  eines  Johann  Hunyadi,  Johannes  Kapristanus,  des 
Konigs  Mathias  Corvinus,  eines  Paul  Kinischy,  Stefan 
Loschontzy  u.   A.    im    Strahle   ewigen   Ruhnjes   ergl&nzen   und 

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174  Schwicker,  Job.  Heiur.,  Goschichte  des  Temosor  Banats. 


Temesvar  und  Belgrad  und  mit  ihnen  meist  das  ganze  Banat 
yornehmlich  den  Schauplatz  der  blutigsteu  Kriegsgrauel  bildeten. 
Bevor  indess  auf  Moh&cs'  Gefilden  des  Landes  und  Volkes  Ver- 
hangniss  sich  erfullte,  eilte  nach  des  grossen  Corvinus  Tode  die 
Zeit  der  hochsten  Noth  mit  Riesenschritten  an  Ungarn  heran, 
wo  zur  ausseren  Gefahr  sich  auch  die  innere  Auf  losung  gesellte, 
an  die  Stelle  des  kampf bereiten  Patriotisms  Parteiwirren  und 
egoistische  Bestrebungen  traten,  der  Adel  verweichlichte,  den 
elenden  Zustand  des  Bauernstandes  ganz  unertraglich  machte  und 
damit  die  Schuld  des  blutigsten  aller  Bauernaufstande  unter 
Fuhrung  des  Szeklers  Georg  Dozsa,  ja  noch  mehr  der  grausamea 
und  ungerechten  Vergeltung  dafiir  durch  reichstagliche  Dekre- 
tirung  der  Leibeigenschaft  und  ewigen  Knechtschaft  auf  sich  H 
Bemerkenswerth  erscheint  uns  hierbei  die  von  B&rany  in  TemesTar 
Emlekel.  26gebrachteNachricht,  dass  Martin  Andr&ssy,  der  Abe 
der  heutigen  Grafenfamilie  gl.  N.  sich  bei  der  Bekampfung  und 
Bewaltigung  des  Kurutzenheeres  vor  Temesvar  1514  durch  Urn- 
sicht  und  Tapferkeit  grossen  Ruhm  erworben  habe, 

Der  2.  Abschnitt  behandelt  die  Geschichte  des  Banats 
aJstiirkischenSandschaksvon  1552—1718.  (S.  173—298.) 

„In  den  Leichenhugeln  von  Mohacs  hatte  sich  die  Preihfiit 
der  Nation  zur  Ruhe  gelegt  und  erst  nach  hundertjahrigem 
Schlafe  wachte  sie  wieder  auf,  dem  Volke  das  schwere  Jochvon 
dem  gebeugten  Nacken  zu  entwinden."  An  die  Stelle  der  all- 
gemeinen  Geschichte  des  Landes  tritt  nunmehr  die  territoriale 1 
Historiographie ;  nur  mit  dem  benachbarten  Siebenbiirgen  theilt 
das  Banat  flir  geraume  Zeit  das  gleiche  traurige  Geschick. 
Wahrend  dort  Fursten  aus  einheimischen  Adelsgeschlechtern,  i 
Z&polyas,  Bathoris,  Bocskays  und  Rak6tzys,  durch  Parteiumtriebe 
auf  sturmischen  Landtagen  auf  den  Fiirstenstuhl  erhoben,  um  " 
Gunst  und  den  Schutz  der  Pforte  buhlten  —  (wWir  sind",  sagte  j 
Bocskay ,  1605  des  Grossveziers  Hand  kussend ,  „wir  sind  des 
Padischahs  Diener  und  dienen  ihm  nicht  wie  mit  Geld  gekaufte 
und  Ubel  behandelte  Sklaven  aus  Furcht,  sondern  durch  seine 
Gnade  ihm  verbunden,  von  ganzem  Herzen,  mit  Freude  und 
Liebe.")  —  oder  insgeheim  mit  Habsburgs  Ferdinand  und  seineu  | 
Nachfolgern  Vertrage  schlossen,  die  sie  von  vorn  herein  zu  halten 
nicht  gesonnen  waren ,  und  auf  der  nicht  hinter  festen  Burgee 
deutscher  Tapferkeit  des  Feindes  sich  erwehrenden  Bevolkerung 
mit  unsaglichem  Drucke  lasteten,  iibte  im  Banate  der  unuiii- 
schrankte  Despotismus  und  die  barbarische  Tollheit  der  tiirki- 
schen  Gewaltherrschaft  grausame  Strafen,  Erpressungen  und 
Betriigereien  ohne  Scheu  und  machte  das  geangstete  Volk  feig- 
herzig  und  charakterlos  im  vernichtenden  GefUhle.  seiner  Skla- 
verei.  Rauberhorden  streiften  durch  das  Land  und  verscheuchten 
im  Vereine  mit  der  Schreckensherrschaft  des  Halbmonds  die* 
jenigen  Bewohner,  welche  ihr  bewegliches  Gut  ins  Nachbargebiet 
zu  retten  vermochten.  Die  Grauel  dieser  Zeit  erreichten  in  dem 
von  Emericb   Tokolyi  geleiteten  Aufstande    ihren  Hohepunkt: 

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Schwicker,  Joli.  Heinr.,  Goschichto  des  Temeser  Banats.  175 

vom  Grossvezier  Kara  Mustafa  in  Essek  zum  Konige  von  der 

Tiirken  Gnade  gekront,  begleitete  er  diese  1683  zum  Sturjne  auf 

Wien.    Nach  der  glucklichen  Abwehr  desselben  und  dem  sieg- 

reichen   Vordringen    der    Kaiserlichen    in    Ungarn    stellte    der 

12.  August  1687   bei  Mohdcs  dem  vielgepruften  Lande  endlich 

Erlosung  in  Aussicht.     Der  Tiirken  Glucksstern  sank  und  kaiser- 

liche  Feldherren,   wie   der  Markgraf  von   Baden,    der  tapfere 

Yefcerani,  der  Kurfiirst  Friedrich  August  von  Sachsen,  kampften 

unermiidet,   obgleich   noch  immer  mit  wenig  giinstigem  Erfolg, 

his  endlich  Prinz  Eugen  von  Savoyen  das  Oberkommando  erhielt 

and  am  11.    Sept   1697   bei  Zenta  den  herrlichsten  Sieg  des 

17.  Jahrhunderts   erkampfte  (vergl.   Arneth:   Prinz  Eugen  von 

Saroyen,  I.  Bd.,   S.  94,  98—112).     Die  Frucht  dieses  Sieges, 

der  Friede  von  Karlowitz,  setzte  zwar  den  Kaiser  in  den  Besitz 

ron  Siebenbiirgen  und  verschiedener  fester  Platze  an  der  Marosch 

and  Theiss,  aber  das  heutige  Temeser  Banat  und  Temesv&r  selbst, 

die  Hauptstadt   desselben,   blieb   in   der   Tiirken  Gewalt.    Es 

kostete  noch  manchen  blutigen  Kampf  und  erst  nach  langwieriger 

Belagerung  gelang  es  unter  schweren  Opfern  die  Feste  Temesvdr 

zu  erstiirmen   und  am   12.  Oktober  1716  zu  erobern.    Als  der 

Besatzung  und  den  in  der  Stadt  wohnhaften  Tiirken  freier  Abzug 

nach  Belgrad   zugestanden  wurde  und  Mustafa  Pascha  auch  fiir 

die  ehemaligen  ungarisehen  Rebellen  in  turkischen  Kriegsdiensten 

die  gleiche  Vergiinstigung  verlangte,  setzte  Eugen  dem  8.  Artikel 

der  Convention  eigenhandig  die   charakteristischen  Worte  bei: 

„la  Canaglia  pud  andare  dove  vuoleu. 

So  war  denn  Temesvar  nach  164jahriger  Grewaltherrschaft 
der  Tiirken  und  mit  ihm  das  ganze  Banat  wieder  dem  Scepter 
des  Hauses  Oesterreich  zugefallen.  Um  diesen  Erfolg  fiir  den 
Kaiser  so  nutzbringend  als  moglich  zu  machen,  ersah  sich  der 
Prinz  unter  seinen  Generalen  den  Grafen  Claudius  Florimund 
Mercy  aus,  der  mit  dem  Oberkommando  in  dem  neu  gewonnenen 
Lande  auch  die  Eegierung  desselben  zu  ubernehmen  hatte,  um 
tor  allem  einen  geordneten  Kechtszustand  im  Lande  herzustellen 
und  durch  Beobachtung  der  strengsten  Disciplin  die  Einwohner 
fur  sich  zu  gewinnen.  —  Die  Tiirken  waren  aber  noch  im  Besitz 
von  Belgrad  und  beunruhigten  inFolge  dessen  noch  fortwahrend 
das  Donau  -  und  Savegebiet :  es  gait  daher ,  von  Pancsova  aus 
mit  ausreichender  Heeresmacht  den  Feind  in  Belgrad  zu  be- 
lagem  und  nach  Eroberung  auch  dieses  \vichtigsten  Postens  iiber 
dea  Eisernen-Thorpass  zuriickzudrangen.  Beides  gelang  denn 
auch  der  geistvollen  Fiihrung  des  Prinzen  Eugen,  der  starken 
Besatzung  Belgrads  und  der  Annaherung  eines  gewaltigen  Ent- 
satzheeres  ungeachtet,  am  16.  August  und  den  darauf  folgenden 
Tagen  des  Jahres  1717,  so  dass  der  Friede  zu  Passarowitz  vom 
21.  Juli  1718  endlich  Belgrad  mit  dem  nordlichen  Theile  von 
Serbien,  dann  Temesv&r  mit  dem  Banate  und  alles  Land  dies- 
seit8  der  Save  dem  Kaiser  sicherte;  worauf  eine  Kommission 
von  Grenzkommandanten  zur  Reguliiomg  der  Grenze  zusammen- 

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176  Schwicker,  Job.  Hoinr.,  Geschichte  dea  Temeser  Banats. 

trat,  Graf  Mercy  aber  noch  weiterhin  die  Regierung  desLandes 
behielt. 

Der  3.  Abschnitt  handelt  von  der  Geschichte  des  Banats 
tmter  dem  Hause  Oesterreich:  von  1718  —  1780. 
(S.  299—425.) 

Von  der  Zeit  der  Wiedereroberung  datirt  die  geistige  und 
materielle  Wiedergeburt  des  Banats  und  von  da  an  hat  es  auch 
eine  fortlaufende  ^pragmatische  Geschichte".  Da  es  erst  seither 
den  Namen  „Temeser  Banat"  fiihrt,  sieht  sich  der  Verfasser 
veranlasst,  die  verschiedenen  Bezeichnungen  der  Verwaltung  und 
Regierung  dieses  Landstrichs  historisch  zu  entwickeln  und  mit 
Schaffarik  zu  erlautern,  dass  der  Titel  Ban  (Bajan)  avarischen 
Ursprungs  sei  und  so  viel  als  Herr,  Fiirst,  Herzog  bedeute. 
Nach  Griselinis  Vorgang  schildert  er  nunmehr  den  wahrhaft 
erbarmlichen  Zustand  des  Landes  unmittelbar  nach  der  Yer- 
treibung  der  Tiirken  als  entvolkert,  versumpft  und  verpestet 
durchschwarmt  von  qualenden,  selbst  todbringenden  Insekten 
(den  Golubacser  Miicken),  von  Raubthieren  (Wolfen  und  B&ren) 
und  Raubvogeln.  Von  dem  wusten  Rauberleben  der  Rumanen 
in  den  sudostlichen  Gebirgsgegenden  entwirft  er  ein  wahrhaft  haar- 
straubendes  Bild  (S.  307)  wie  nicht  minder  von  der  Rohheit  und 
Unwissenheit  ihrer  Popen.     (S.  308.) 

Unter  diesen  Umstfinden  bedurfte  es  allerdings  eiiies  schopfe- 
rischen  Geistes,  um  das  von  der  Natur  reich  gesegnete,  aber 
durch  der  Menschen  Wahn  verwahrlosete  Land  der  Kultur  und 
Civilisation  wieder  zu  gewinnen.  Graf  Claudius  Mercy,  der  neu 
ernannte  Gouverneur  der  Provinz,  war  gliicklicher  Weise  der 
Mann  dazu.  Unter  der  andauemden  wohlwollenden  Leitung  des 
Prinzen  Eugen  und  von  der  kaiserlichen  Regierung  in  Wienr 
wie  es  scheint,  nicht  behindert,  ordnete  er  zuerst  die  raihtari- 
schen  Angelegenheiten  des  Landes,  die  Quartier-  und  Posten- 
eintheilung,  forderte  (allerdings  mit  besonderer  Begtlnstigung  der 
.Tesuiten)  das  gcsammte  katholische  Kirchenwesen  durch  die 
Errichtung  zahlreicher  Kirchen  und  Parochien;  ordnete  sodann 
die  innere  politische  Verwaltung  durch  Eintheilung  des  Landes 
in  11  Distrikte  und  durch  Bestellung  des  von  jeder  Gemeinde 
frei  gewahlten  Ortsrichters  (Knes,  Schultheiss) ;  berief  Kolonisten 
aus  den  katholischen  Theilen  Deutschlands ,  sowie  aus  Italien 
und  Spanien,  suchte  den  Ackerbau,  Wein-,  Obst-,  Seiden-  und 
Bergbau  und  durch  Errichtung  einzelner  Fabriken  die  Industrie 
zu  fordern.  Zu  diesem  Zwecke  dachte  er  alien  Ernstes  auch 
an  die  Entwasserung  des  Landes  durch  ausgedehnte  Kanak. 
sowie  an  die  Wiederherstellung  der  schon  unter  den  Romero 
beriihmten  Thermen,  der  Herkulesbader  von  Mehadia. 

Ein  besonderes  Augenmerk  richtete  Mercy  auf  die  Be- 
festigung  und  Verschonerung  der  Landeshauptstadt  TemesvAr, 
auf  Erbauung  von  Kirchen  und  Errichtung  von  Schulen  (ein 
dreiklassiges  Jesuitengymnasium  und  eine  besonderB  erwahnte 
Trivialschule) ,  an  denen  es,  wie  Uberhaupt  an  mehr  Licht  und 

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Schwicker,  Job.  Heinr.,  Geechichto  dea  Temeser  Baiiats.  177 

Aufklarung,  wahrlich  sehr  noth  that,  denn  die  Flagellanten 
trieben  zu  der  Zeit  ringsum  ihr  „frommesu  Unwesen,  und  Zau- 
berei  und  Hexenglauben  stand  noch  1728,  sogar  noch  1739,  in 
voller  Bliite  (S.  328).  Aber  zum  grossten  Ungluck  fur  das 
Land  und  seine  Bevolkerung  ward  Mercy  nur  zu  friih  aus  all 
semen  Entwiirfen  und  Verbesserungen  herausgerissen  und  in  dem 
Kriege  zwischen  Oesterreich,  Frankreich  und  Spanien  als  Feld- 
marschall  mit  dem  Oberkommando  des  italienischen  Heeres  be- 
traut,  in  welcher  Stellung  er  am  29.  Juni  1734  in  der  blutigen 
Schlacht  von  Parma  fiel.  Ziemlich  2  Jahre  spater,  am  27.  April 
1736,  starb  auch  der  grosse  Feldherr  und  einzige  Tiirkenbezwinger 
Prinz  Eugen,  dessen  Tod  sich  nur  zu  bald  als  ein  schmerzlicher, 
ja  unersetzlicher  Verlust  erwies,  denn  schon  im  Friihling  1737 
hatte  Karl  VI.  mit  Russland  ein  Schutz-  und  Trutzbiindniss 
gegen  die  Tiirken  geschlossen,  und  es  waren  die  Kaiserlichen 
nnter  dem  Oberbefehle  des  Herzogs  Franz  von  Lothringen  und 
dem  Kommando  der  Generate  Seckendorf,  Khevenhuller,  Hild- 
burghausen  und  Schmettau  anfangs,  die  Tiirken  iiberraschend, 
bi$  Nisch  vorgedrungen,  hatten  sich  aber  von  da  aus  nach  Bos- 
nien  und  Bulgarien  zu  sehr  zerstreut ,  um  den  mit  Uebermacht 
vorriickenden  Tiirken  erfolgreichen  Widerstand  zu  leisten.  Eine 
ganze  Kette  von  Unglucksfallen  brach  iiber  die  kaiserliche  Armee 
herein,  die  Generale  zogen  sich  auf  Orsova  und  Mehadia  zuriick 
und  bald  standen  die  Tiirken  wieder  an  den  Grenzen  des  Banats, 
dessen  Bewohner  panische  Furcht  ergriif ,  dass  sie  floheu  und 
fast  8ammtliche,  durch  Mercy  geschaffene  industrielle  Unter- 
nehmungen  im  Stiche  liessen.  Denn  zu  der  Kriegsnoth  gesellte 
sich  nodi  die  Pest,  welche  ganze  3  Jahre  lang  (von  1738 — 40) 
schreckliche  Leiden  iiber  das  arme  Land  verhangte  und  den 
sechsten  Theil  der  Bevolkerung  dahinraffte  (S.  348—356).  Or- 
sova, Mehadia  etc.  fielen  in  die  Hande  der  Tiirken;  um  sie  zu- 
riickzutreiben ,  mussten  grosse  Anstrengungen  gemacht  werden, 
aber  es  fehlte  an  der  richtigen  Fiihrung,  die  blutige  Schlacht 
bei  Krozka  ging  verloren,  welche  den  Kaiserlichen  allein  10,000 
Todte  und  Verwundete  kostete,  und  in  Folge  derselben  auch 
Belgrad,  vornehmlich  durch  die  Feigheit  seines  Kommandanten, 
Baron  von  Succow,  und  durch  die  Kopflosigkeit,  in  der  Graf 
von  Neipperg  den  fiir  Oesterreich  schmahlichen  Frieden  von 
Belgrad  in  unglaublicher  Eigenmachtigkeit  und  thorichter  Ueber- 
stiirzung  schloss. 

Im  Oktober  1740  folgte  Maria  Theresia  ihrem  Vater  Karl  VL 
Unter  dem  Generalkommando  des  von  Belgrad  her  bekannten 
Baron  Succow  begannen  die  neuen  %Grenzregulirungen  gegen 
die  Turkei ;  unter  Baron  Engelshofen  wurde  der  Anfang  gemacht, 
durch  Kanale  die  stehenden  Gewasser  verschiedener  Morast* 
gegenden  abzuziehen,  und  wurden  Serben  (Raitzen)  und  macedo- 
nische  Griechen  aus  tiirkischen  Provinzen,  sowie  katholische 
Paulichianer  und  Bulgaren  aus  der  Walachei  angesiedelt,  be- 
sonders  aber  der   Bergbau  durch  Regelung  der  privatgewerk- 

MiuheUttngen  a.  d.  hiitor.  Litteratur.    VI.  12  ^ 

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178  Schwicker,  Joh.  Heinr.,  Geschiolite  des  Temesor  Banats. 

schafUichen  Verh&ltnisse  gefdrdert.  An  die  Stelle  der  bisher 
rein  militairischen  Verwaltung  tritt  mit  dem  Jahre  1750  die 
„5konomische  und  politische"  Verfassung  des  Landes  als  „kame- 
ralische  (civile  oder  provinciate)  k.  k.  Landesadministration41. 
Derselben  war  die  k.  k.  Hofkammer  in  Wien  vorgesetzt,  wabrend 
fttr  die  Angelegenheiten  der  Serben  die  „Hof deputation  in  Ba- 
naticis  et  Illyricis"  errichtet  wurde.  (In  den  Jahren  1764—68 
wurde  die  „banater  Militairgrenzea  von  diesem  „Provincialeu 
wieder  ausgeschieden  und  im  Jahre  1773  in  das  walachische, 
illyrische  und  deutsche  Ansiedlungsregiment  eingetheilt,  das 
Csaikisten-Bataillon  speziell  an  dem  Einflusse  der  Theiss  in  die 
Donau  angesiedelt.)  Durch  ein  im  Jahre  1763  erlassenes  „Ko- 
lonisirungspatent"  und  die  im  Jahre  1772  verfugte  „Impopu- 
lations-Hofinstruktion"  bethatigte  Maria  Theresia  ihre  Sorgfalt, 
nur  Katholiken  und  nicht  unirte  Griechen  im  Lande  anzusiedeln 
und  vor  allem  „die  deutsche  Impopulirungu  aus  Bohmen,  Baiern 
und  den  Rheinlanden  betreiben  zu  lassen.  Zu  diesem  Zwecke 
erfloss  schon  im  Jahre  1764  eine  kaiserliche  ^Resolution" :  „in 
jedem  Dorfe  einen  Schulmeister  von  der  deutschen  Nation  ... 
mit  monatlich  15  fl.  zu  besolden,  um  fur  die  Besserung  des  noch 
roben  Graniz  -  Volkes  und  fiir  die  Erziehung  eigener  Unter- 
offizierstt  Sorge  zu  tragen. 

Damit  in  Verbindung  gibt  der  Verfasser  recht  interessante 
Nachrichten  iiber  die  Grundsatze,  welche  die  Regierung  bei  der 
Errichtung  der  Schulen  im  Banat  und  in  der  k.  k.  Militairgrenze 
geleitet  haben.  In  deutschen  Orten  bestanden  fast  uberaU  An- 
stalten  ffir  die  erste  Jugendbildung  von  den  Gemeinden  aus* 
aber  die  deutsche  Bevolkerung  befand  sich  noch  immer  in  der 
Minderzahl,  den  weitaus  grosseren  Theil  der  Provinz  bewohnten 
Walachen  und  Serben,  bei  denen  die  Entwickelung  geregelter 
Schulzustande  sehr  langsam  vor  sich  ging.  Im  militairisch  organi- 
drten  Tlieile  des  Landes  solKe  nun  auf  allerhochsten  Befehl 
wenigstens  bei  jeder  Kompagnie  eine  deutsche  katholische  Trivial- 
schule  unterhalten  werden:  an  Lehrbuchem  sollte  man  nur  den 
Katechismus  und  die  Evangelien  gebrauchen;  dabei  drangte  der 
Hofkriegsrath  in  einem  Erlasse  von  1773,  „die  Granizer  dahin 
anzuleiten,  dass  sie  ihre  Kinder,  welche  sie  dereinst  zu  Unter- 
oder  Oberoffizieren  befordert  zu  sehen  wiinschen,  gleich  anfangs 
in  die  deutschen  Schulen  schicken,  ohne  ihnen  vorgangig  mit 
dem  weniger  nothigen  Unterrichte  des  illyrischen  (serbischw  und 
walachischen)  Lesens  und  Schreibens  die  Zeit  verlieren  zu 
machen".  Die  Volksschule  sollte  um  jeden  Preis  der  deutschen 
Sprache  Eingang  und  Verbreitung  verschaffen,  und  dadurch 
hoffte  man  die  anderen  Sprachen  allmahlich  zu  verdrangen,  wol 
gar  schon  in  den  nachsten  Generationen  absterben  zu  las9en. 
Bezeichnete  doch  der  Staatsrath  FreiheiT  von  Gebler  in  einem 
Gutachten  die  Satze  als  Richtschnur:  „Der  Staat  muss  darauf 
arbeiten,  nach  und  nach  ein  Volk  zu  werden;  ich  weiss,  dass 
gan^e  und  halbe  Sacula  dazu  gehoren  und  dass  am  allerwenigsten 

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Bange,  Dr.  Friedr.  Georg  v.,  Das  Herzogthum  Estland  etc.        179 

ein  Zwang  stattfindet;  allein  der  Staat  lebt  ewig,  das  ist,  liber 
alle  Menschenalter  hinaus,  und  nach  dieser  Aussicbt,  nicht  fiir 
seine  eigene  kurze  Lebenszeit  muss  der  FiirBt  und  der  Staats- 
diener  denken  und  handeln."  (Vergl.  J.  A.  Frh.  v.  Helfert,  die 
Oesterreich.  Volksscbule  I.  169,  472,  483  u.  s.  w.)  —  Mit  Recht 
weist  der  Verfasser  darauf  hin,  dass  diese  rein  mechanische  Be- 
handlung  des  nationalen  Wesens  durch  die  verwerflichen  Experi- 
mente  absolutistischer  Staatskiinstler  ihre  Gefahrlichkeit  fiir  den 
ruhigen  Bestand  des  Staates  bis  in  die  neueste  Zeit  erwiesen 
babe,  und  dass  unter  Aktenstossen  und  Dekreten  der  Staats- 
amnipotenz  sich  der  Boden  stets  gehohlt,  das  Volksbewusstsein 
zwar  eingeschiichtert,  aber  nicht  vernichtet  worden  sei,  vor  allem 
aber,  dass  dem  Deutschthum  an  der  mittleren  und  unteren  Donau 
durch  ein  so  gewaltsanies  Germanisiren  der  sohlechteste  Dienst 
erwiesen  worden. 

So  gesundenund  freimiithigen  Ansichten  gegeniiber  ist  der 
Vert  in  konfessionellen  Vorurtheilen  leider  urn  so  engberzigor 
befangen,  indem  er  sein  ganzes  Buch  hindurch  die  katholiscfao 
Kirche  „als  das  einzig  Unwandelbare  auf  Erden  iiber  alien 
Wechsel  der  Jahrhunderte  erhaben"  glorifizirt,  dagegen  die 
„schreckliche  Glaubensspaltung" ,  „Luthers  und  Zwinglis  After- 
hrchen,"  „Galvins  Irrlehre"  bitter  tadelt  und  natiirlich  umsomehr 
das  „glorreiche  Wirken  des  ungarischen  Primas,  Kardinals  und 
Antireformators  Peter  P&zm&n"  in  den  Himmel  zu  erheben  sich 
bemiiht,  „wodurch  die  machtigsten  Familien  Ungarns  in  den 
Schoss  ddr  katholischen  Kirche  zuriUdcgefiihrt  wurdon". 

Die  Geschichte  des  Banats  schliesst  der  Verf.  mit  dem 
Jahre  1779,  d.  i.  „der  Wiedereinverleibusg  des  Landes  mit  Un- 
garn"  und  fiigt  als  Anhang  noch  einige  ethnographisch-historisch- 
staiistische  Nachrichten  von  zum  Theil  mehr  als  lokalem  Interesse 
fiber  die  Volker  bei,  w«lche  seit  Oesterreichs  Wiederbesitze  das 
Land  bewohnen:  Magyaren,  Walachen,  Serben,  Bulgaren,  Deutsche, 
Zigeuner,  Italiener,  Franzosen,  Spanier  und  Juden. 
Berlin.  Zekeli. 


XXXXI. 
Bimge,  Dr.  Friedrich  Georg  v.,  Das  Herzogthum  Eetland  unter 

den  KMigen  von  DSnemark.    gr.  8.    (XV,   391  S.)    Gotha 

1877,  Friedr.  Andr.  Perthes.  8  M. 
Die  alteste  Geschichte  der  Colonisation  Estlands  bis  zur 
definitiven  Begriindung  der  danischen  Herrschaft  haben  bisher 
G.v.Brevern,  RUsinger,  H.  Hildebrand  und  R.Haus- 
mann,  iiber  die  Anfange  der  danischen  Herrschaft  hinaus  auch 
C.  Schirren  behandelt.  Auf  diesen  Grundlagen  weiterbauend 
entwirft  der  um  die  baltische  Geschichtsforschung  vielfach  ver- 
diente  Dr.  von  Bunge  d*e  Geschichte  Estlands  unter  den  K6- 
nigen  von  Danemark  bis  zur  Verausserung  des  Landos  an  den 
deutschen  Ritterorden   und   giebt   ein   Bild   der  politischen  und 

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180        Bunge,  Dr.  Friedr.  Georg  v.,  Das  Herzogtlinm  Estiand  etc. 

gesellschaftlichen  Zustande  desselben  am  Schlusse  dieses  Zeit- 
raumes.  Die  Einleitung  beschaftigt  sich  mit  den  Quellen  der 
Geschichte  Estlands,  Abschnitt  I  cnthalt  die  Uobersicht  der  po- 
litischen  Geschichte ;  der  Kern  des  Buches  aber  ist  in  Ab- 
schnitt  II  die  Darstellung  der  Verfassung  Estlands  unter  den 
Konigen  von  Danemark;  ihr  folgen  in  Abschnitt  III,  IV,  V,  VI 
die  der  Laudesverwaltung,  eine  Uebersicht  des  Privatrechts,  dea 
CriminaJrechts  und  des  gerichtlichen  Verfahrens.  Bei  letzterer 
hat  sich  der  Verf.  nur  auf  die  Benutzung  heimischer  Quellen 
beschrankt,  woil  er  darin  die  eigentlichste  Anfgabe  des  Particular- 
historikers  sieht.  Mit  grosser  Bescheidenheit  bezeichnet  sich 
Verf.  deshalb  nur  als  einen  Karrner,  der  dem  die  ganze  deutsche 
Geschichte  bearbeitenden  Forscher  Material  zufuhrt.  Man  kann 
aber  nur  wiinschen,  dass  es  fur  alle  deutsche  Provinzen  solche 
Karrner  gebon  mochte.  Wohlthuende  Klarheit  der  Darstel- 
lung, besonnene  Kritik,  grosser  Fleiss  in  Sammlung  und  Sichtung 
des  Materials  machen  das  Werk  zu  einer  unsrer  besten  Partikular- 
geschichten. 

Ich  beschranke  mich  darauf,  die  Ergebnisse  der  Darstellung 
der  politischen  Geschichte,  der  Landesverfassung  und  Landes- 
yerwaltung  kurz  vorzufiihren,  da  die  andern  Gebiete,  die  Vert 
behandelt ,  den  Lesern  dieser  Mittheilungen  doch  -mehr  oder 
woniger  fern  liegen. 

Nachdem  der  grosse  Danenkonig  Waldemat  II,  der  das  Ziel 
verfolgte,  die  Ostsee  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  zu  einem  dani- 
schen  Binnenmeere  zu  machen,  1227  die  Niederlage  bei  Born- 
hoved  erlitten,  ergriff  der  deutsche  Ritterorden  Besitz  von 
Estland,  welches  jener,  einem  Hilferufe  Bischofis  Albert  von 
Riga  folgend,  von  1219—1222  und  zwar  die  nordlichen  Theile, 
Harrien ,  Wirland  und  Jerwen  erobert  hatte.  Der  Vertrag  von 
Stenby  1238  entschied  iiber  das  Schicksal  Estlands  bis  1347, 
Harrien  und  Wirland  kamen  unter  die  danische  Herrschaft  zn- 
riick,  Jerwen  blieb  dom  deutschen  Orden,  mit  welchem  sich  1237 
die  Schwertbriider  vereinigt  hatten.  Waldemar  II.  setzte  einen 
Prafecten  iiber  Estland  und  restituirte  das  Bisthum  Reval 
(cf.  Kastner,  das  restituirto  Bisthum  Reval).  Nach  seinem  Tode  1240 
ward  Estland  von  den  Russen  unter  Alexander  Newsky  bedroht 
Erich  Plogpennig  hatte  mehrmals  die  Absicht,  einen  Rreuftzug 
nach  Estland  zu  unternehmen,  er  kam  aber  erst  1249 
dazu  (cf.  Kastner,  der  dies  bestreitet).  Atif  Abel  1250  — 1252 
folgte  Christof  I.,  Waldemars  jiingster  Sohn;  unter  seiner  Re- 
gierung  beginnen  die  bis  1270  dauernden  Kampfe  der  Esten  und 
Russen  um  das  Gebiet  an  der  Narowa.  Estlands  politische  Stel- 
lung  gegeniiber  Danemark  entwickelt  sich  seit  Erich  VI.  Glipping 
1259,  zuerst  unter  der  Vormundschaft  der  Mutter  desselben,  Mar- 
garetha.  1266  erhielt  letztere  Estland  zur  freien  Disposition  auf 
Lebenszeit,  sie  nannte  sich  seitdem  domina  Estoniae  und  gab 
bis  zu  ihrem  Tode  1282  der  Stadt  Reval,  der  Geistlichkeit,  den 
Klostern  \ielfache  Vergunstigungen ,  welche  Erich  grosstentheils 

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Bunge,  Dr.  Friedr.  Georg  vM  Das  Herzogthum  Estland  etc.        181 

bestatigte.  Unter  ihr  erstarkte  der  Stand  der  Vasallen,  indem 
flich  dieselben,  gestutzt  durch  einen  aus  ihrer  Mitto  eingesetzten 
koniglichen  Bath,  zu  einer  Corporation  zusammenschlossen. 
1271  nahm  Erich  den  Titel  dux  Estoniao  an  (cf.  Kastner), 
dadurch  ward  die  Provinz  zu  einem  Herzogthum  erhoben  und 
Yollig  unabhangig  yon  Danemark.  Nach  einem  Kampfe  mit  den 
Nowgorodern  musste  Estland  1270  seine  Anspriiche  auf  das  Ge- 
biet  jenseitg  der  Narowa  aufgeben.  1303  belehnte  Erich  VIL 
MenYed  (seit  1289)  seinen  Bruder  Christof  auf  6  Jahre  mit 
Estland  gegen  das  Versprechen,  das  Land  vor  feindlichen  Ein- 
fillen  zu  schiitzen.  Dieser  Schritt  erregte  die  Unzufriedenheit 
der  eme  Beschrankung  ihrer  Freiheit  befurchtenden  Vasallen,  und 
diese  schlossen  deshalb  1304  zu  Dorpat  mit  dem  livlandischen 
Orden  und  den  Bischofen  und  Vasallen  der  Stifte  Dorpat  und 
Oesel  ein  Schutzbiindniss ,  direct  gegen  den  Konig  gerichtet,  des 
Inhalts,  dass  letztere  ihnen  beistehen  sollten,  wenn  jemand  es 
wagen  wurde,  die  Vasallen  Estlands  der  Krone  Danemark  zu 
entfremden.  Sie  besetzten  sogar  die  koniglichen  Schlosser,  und 
in  Folge  dessen  scheint  die  Belehnung  Christofs  vem  Konige 
widerrufen  worden  zu  sein.  Die  Macht  und  das  Ansehn  des 
Konigs  waren  damit  wesentlich  erschuttert,  die  der  Vasallen 
gewachsen.  Erich  verdankt  Estland  die  Aufzeichnung  seines 
altesten  Lehnrechts,  die  Giiindung  der  Stadt  Wesenberg,  die 
fiegelung  des  Schulwesens.  Unter  Christof  II.  1320  —  26  und 
1330—32  (1326—30  Waldemar  III.)  fiihrte  Estland  einen  giin- 
stigen  Krieg  gegen  die  Litthauer,  die  Vasallenschaft  erlangte  eine 
immer  grossere  Selbstandigkeit.  Christofs  xmd  seines  Sohnes 
Otto  Versuche,  Estland  von  der  Krone  Danemark  zu  trennen  und 
zu  veraussern,  stiessen  bei  derselben  auf  Widerstand.  Da  brach 
in  Folge  zu  grossen  Drucks  1343  der  grosse  Estenaufctand  wider 
die  Deutschen  aus;  aber  vor  RevaU  das  man  belagerte,  wurde 
er  vom  deutschen  Orden,  wie  in  zwei  andern  Schlachten, 
niedergeschlagen ,  30  000  Esten  waren  gefallen  und  Estland 
gelangte  in  den  factischen  Besitz  des  Ordens,  der  Ordens- 
meister  wurde  von  den  Eathen  und  Vasallen  zum  Schutzherrn 
auserkoren,  wiewohl  mit  Vorbehalt  der  Rechte  des  Konigs  von 
Danemark.  1346  iiberliess  Waldemar  IV.  das  zerriittete  Land  dem 
Orden  als  Eigenthum  fiir  die  Summe  von  19000  Mark  reinen 
Silbers  Kolnischen  Gewichts,  im  Ganzen  kostete  die  Erwerbung 
dem  Orden  25  645  Mark  =  1 057  856  Mark  25  Pfennig.  Estland 
ward  eine  Provinz  des  deutschen  Ordensgebietes  und  vom  Hoch- 
meister  Heinrich  Dusmer  1347  dem  livlSndischen  Ordensmeister 
zur  Verwaltung  ubergeben. 

Unter  Estland  1st  im  weitern  Sinne  der  ganze  vom  Esten- 
volke  bewohnte  Landstrich  zu  verstehn,  der  vom  finnischen  Meer- 
busen  ab  siidwarts  bis  iiber  den  58.  °  nordl.  Br.  hinausreicht  und 
im  Oaten  von  der  Narowa  und  dem  Peipussee  begrenzt  wird, 
nebst  den  Inseln  Oesel,  Dago  etc.;  seit  dem  Frieden  von  Stenby 
in*  engern  Sinne  der  nordostliche  unter  der  Danenherrschaft  ver- 

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182        Bunge,  Dr.  Friedr.  Georg  v.,  Das  Herzogthum  EsUand  «tc 

bliebene  Theil,  die  Laiidschaften  Wirland  und  Harrien.  Die 
Esten  trieben  meist  Ackerbau  und  Viehzucht,  Fischerei  und  See- 
raub.  Nach  der  Eroberung  durch  Waldemar  II.  wanderten  sehr 
wenig  Danen,  dagegen  viel  Deutsche  ein,  vornehmlich  aus  Holstein 
und  Westfalen,  und  auch  Schweden  im  nordwestlichen  Harrien. 
Estland  war  kein  integrirender  Theil  des  Danenreiches,  sondern 
ein  selbstandiges  Territorium,  dessen  Landesherr  zwar  der  Konig 
von  Danemark  war,  der  aber  eben  wegen  jenes  Verhaltnisses 
seincm  Titel  zuerst  den  eines  dominus,  dann  eines  dux  Estoniae 
hinzufugte.  Es  nimmt  durchaus  eine  Sonderstellung  ein,  es  stand 
nadi  heutigem  Begriff  in  Personalunion  mit  Danemark.  Der 
konigliche  Statthalter  oder  Hauptmann  residirte  in  Reval  und 
war  fast  stets  Nationaldane ;  er  vertrat  den  Landesherrn  voll- 
standig,  war  aber  seit  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts  in  seiner 
Amtsgewalt  vielfach  durch  die  Mitwirkung  der  Stande  besohrankt. 
Die  Unterschiede  in  der  Nationalist  der  Einwohner  sind  zu- 
gleich  eine  wesentliche  Grundlage  des  politischen  und  rechtlichen 
Unterschieds  unter  denselben.  Die  Eingebornen  verloren  ihre 
persBnliche  Freiheit.  Die  Einwandrer  theilen  sich  in  Gremein- 
freie  und  Hitter.  Neben  diesen  drei  Standen  stehen  die  Berufis- 
stande,  die  sich  aus  den  beiden  letztern  recrutiren.  Die  Standee 
verhaltniase  stehen  in  sehr  engem  Zusammenhange  mit  dem 
Besitze  von  Grund  und  Boden.  Die  Einwandrer  ergriffen  all- 
mahlich  Besitz  vom  Lande.  Der  Konig  als  Obereigenthiimer  des 
ganzen  eroberten  Landes  vertheilte  den  Grundbesitz  in  der  Form 
von  Lehen;  der  Gegenstand  des  Lehens  beschrankte  sich  aiif 
Leistungen  der  in  dem  Bereiche  des  verliehenen  Grundstiicks 
angesessenen  Eingeborenen  (urspriinglich  der  Zehnte  der  geern- 
teten  Fruchte),  die  dadurch  zugleich  Unterthanen  des  Beliehenen 
wurden.  Nach  1238  regelt  Danemark  diose  Zustande  definiti?. 
Das  Kataster  der  revalschen  Diocese  lehrt  uns,  wie  es  sich  dieser 
Pflicht  entledigte;  es  verzeichnet  in  Harrien  und  Wirland  530 
Grundstucke  mit  5495  Haken,  die  unter  127  Besitzer  vertheilt 
sind,  und  zwar  gehoren  111  Grundstucke  mit  1061  Haken  dem 
Konige,  393  mit  4219  Haken  Privatpersoncn ,  26  mit  215  Cor- 
porationen  und  Stiftungen.  Der  bei  weitom  grosste  Theil  des 
Privatgrundbesitzes  war  also  in  der  ersten  Halfte  des  13.  Jahr- 
hunderts meistens  Lehnbesitz.  Allmahlich  legten  sich  die  Va- 
sallen  im  Bereiche  ihrer  Besitzun  en  Edelhofe  an,  alodia  (Vor- 
werke)  (cf.  w.  unt.).  Fiir  die  homines  regis  (belehnte  Beamte), 
gait  das  danische  Lehnrecht,  fiir  die  ubrigon  das  deutsche  erb- 
liche,  wie  es  sich  spater  im  Waldemar-Erichschen  Lehnrecht 
aufgezeichnet  findet.  Da  die  Verschiedenheit  des  Rechts  zu 
Reibungen  fiihrte,  iiberliess  ihnen  Christof  L  1252  alle  ihre  Giiter  zu 
freiem  Besitze.  Seit  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts  verschwinden 
sie  ganz  aus  den  estlandischen  Geschichtsquellen ;  wahrscheinlich 
gingen  sie  in  den  Vasallenstand  iibor,  wie  dies  in  Deutschland 
mit  den  Ministerialon  geschah,  deren  Verhaltniss  dem  der  danischeu 
Konungsmaen  analog  ist.    Alod  in  dem  Sinne  von  freiem  Eigenthum 

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Bonge,  Dr.  Frfedr.  Georg  v.,  Daa  Herzogthum  Estland  etc.         183 

an  Grund  und  Boden  gab  68  also  in  Estland  nicht.  Die  Unfreien 
8md  ionnlich  Leibeigene,  bis  zum  grossen  Aufstande  1343  ihren 
Herren  den  Zehnton  von  alien  Naturerzeugnissen  zu  entrichten 
und  zu  Frohndiensteu  verpflichtet ,  von  da  ab  vollig  rechtlos. 
Die  Gemeinfreien  setzten  sich  zusammen  aus  dem  rreien  Dienst- 
gesinde  der  Ritterbiirtigen,  aus  deiyenigen  koniglichen  Beamten, 
Gebtlichen  und  Biirgern,  die  nicht  ritterbiirtig  waren,  und  aus 
den  freien  schwedischen  Bauern,  die  sich  am  Ende  des  13.  Jahr- 
hunderts  in  Estland  niederliessen.  Besondre  Rechte  hatten  sie 
nicht,  besonderer  politischer  Rechte  konnten  sie  durch  den  Ein- 
tritt  in  einen  Berufsstand  theilhaftig  werden.  Der  Ritterstand 
worde  in  der  Gestalt,  wie  er  sich  im  13.  Jahrhundert  im  Abend- 
lande  ausgebildet  hatte,  als  erblicher  Stand  nach  Estland  ver- 
pflanzt  Hier  fallt  er  mit  dem  Vasallenstande  zusammen,  da  nur 
dieser  Reiterdienste  zu  leisten  hatte.  Zu  seinen  besondern  Reohten 
gehorte  die  Fahigkeit,  Lehnguter  zu  erwerben,  Richter,  Beisitzer 
und  Urtheilsmann  ,in  Manngerichten  zu  sein,  wahrscheinlich  auch 
die  Befreiung  von  aller  Besteuerung.  Forderungen  von  Leistungen 
fur  die  Kirche  von  Seiten  des  Bischofs  von  Reval  gaben  den 
Vaeallen  die  erste  Veranlassung  zu  gemeinsamem  Handeln  1259, 
seitdem  traten  sie  als  geschlossene  Corporation  auf.  Mit  ihnen 
vereinigen  sich  der  Bischof  von  Reval  und  die  koniglichen  Rathe 
(die  seit  1282  erscheinen,  aus  den  Yasallen  vom  Konig  auf 
Lebenszeit  ernannt,  Verwaltungsbehorde  und  hochste  Grerichts- 
instanz),  1284  zu  einer  Verbindung  auf  3  Jahre,  ihr  Recht  gegen 
jedeu  zu  vertheidigen.  1306  nahmen  sie  sogar  als  „allgemeiner 
Landtag44  die  Regierung  des  Landes  in  ihre  Hande,  sie  errangen 
also  in  gewisser  Beziehung  landstandische  Rechte.  Am  Ende  des 
14.  Jahrhunderts  traten  Reval  und  die  Geistlichkeit  hinziu  Wenn 
auch  damit  noch  nicht  eine  formlich  organisirte  landstandische 
Verfassung  geschaffen  war,  so  lagen  doch  hierin  die  Keime  der 
landstandisdben  Ver&ssung,  aus  denen  sich  spater  im  alten 
Livenlande  die  drei  Landstande  entwickelten,  Geistlichkeit,  Ritter- 
schaft,  Stadte. 

Die  drei  Stadte  Reval,  Wesenberg  und  Narva  verdanken 
ihren  Ursprung  ausschliesslich  der  Ansied&ung  von  Grewerbtreiben- 
den  und  Handelsleuten  unter  dem  Schutze  der  Burgmauern, 
wahrend  bekanntlich  in  Deutschland  noch  andre  Faotoren  bei 
Stadtegrundungen  massgebend  waren.  Die  Verfassung  Revals, 
welches  1248  das  Liibischo  Recht  erhielt,  ward  auch  die  der 
beiden  andern  Stadte.  Rath,  Stadtbeamte,  Stadtgemeinde,  Ver- 
waltung  des  Gemeindevormogens  bildeten  sich  wesentlich  nach 
dem  Muster  der  Verfassung  Liibecks. 

In  kirchlicher  Beziehung  gehorte  Estland  zur  Diocese  Reval 
nnd  zu  der  erzbischoflichen  Provinz  Lund.  Von  den  Grundsatzen 
des  kanonischen  Rechts  jener  Zeit  wich  die  kirchliche  Verfassung 
in  mancher  Hinsicht  ab.  Der  Konig  hatte  das  Wahl-  und  Prasen- 
tationsrecht  trotz  wiederholten  Widerspruchs  des  Pabstes.  Der 
Bischof  war    weder   Landesherr    noch    mit    der    Furstenwurde 


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184        Bunge,  Dr.  Friedr.  Georg  v.,  Das  Hcrzogthum  Estiand  etc. 

bekleidet,  aber  cr  hatte  Sitz  und  Stimmo  auf  den  Reichstagen. 
Seit  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts  schloss  or  sich  den  Vasallen 
an  gegen  die  Eingriffe  der  Regierung.  Hier  werden  Bungea 
Forschungen  erganzt  durcn  das  nachher  zu  bosprechende 
Schriftchen  von  Dr.  Kastner  iiber  das  refundirte  Bisthiun  Re?al. 

Die  Landesverwaltung  war  uberaus  einfach.  Sie  lag  in  den 
Handen  der  homines  regis,  an  deren  Spitze  der  konigliche  Haupt- 
mann  stand.  Unter  ihnen  standen  die  Vogte,  advocati,  deren 
Untergebene  die  officiales  waren.  Der  Hauptmann,  die  Vogte 
und  auf  den  Lehngutern  die  Vasallen  iibten  die  Gerichtsbarkeit 
aus.  Seit  dem  14.  Jahrtnmdert  erscheinen  auch  judices,  aber 
nur  fur  Lehnsachen,  und  der  judex  vasallorum,  Mannrichter. 
Die  Finanzverwaltung  hatten  der  Hauptmann  und  die  Vogte  mit 
in  den  Handen,  die  der  Polizei  die  Vasallen  in  ihren  Gebieteu, 
die  Vogte  auf  den  Domanen,  der  Rath  in  der  Stadt,  und  iiber 
alien  stand  der  Hauptmann. 

Der  4.  Abschnitt  beschaftigt  sich  mit  dem  Privatrechte,  das 
ganz  auf  den  Grundsatzen  des  deutschen  Rechts  jener  Zeit  be- 
ruhte,  der  5.  endlich  mit  dem  Criminalrechte,  das  sich  aus  dem 
Liibischen,  dem  Rigisch-Revalschen ,  dem  Livischen  Bauerrecbte 
und  dem  altesten  Livischen  Ritterrechte  zusammensetzte. 

Ein  Anhang  enthalt:  „Das  Alod  in  den  Livl.  Urk.  des 
13.  und  14.  Jahrhunderts"  und  eine  „Liste  der  Gewalthaber  in 
dem  Herzogthum  Estiand".  Im  ersten  Aufsatz  weist  Bunge  nach, 
dass  das  Wort  alodium  in  Estiand  eine  ganz  specifische  Bedeu- 
tung  hatte.  Alode  sind  danach  solche  landwirthschaftliche  An- 
lagen,  deren  nachster  Zweck  war,  den  Mittelpunkt  des  wirth- 
schaftlichen  Betriebs  eines  Landgutes  zu  bilden.  Sie  sind  ge- 
wissermassen  entgegengesetzt  den  unci  =  Haken,  zehntpflichtigen 
Grundstiicken  der  Bauern,  und  bilden  den  Hof,  curia,  auf  dem 
der  Gutsherr  seinen  Sitz  hatte.  Ihre  Benennung  haben  sie  wahr- 
scheinlich  wegen  ihrer  Befreiung  von  der  Zehntenlast,  es  waren 
aber  keineswegs  zu  freiem  Eigenthum  besessne  Giiter,  son- 
dern  sie  sind  dem  Lehnsnexus  unterworfen  und  in  Beziehung 
auf  Rechte  und  Pflichten  den  Lehngutern  vollkommen  gleich- 
gestellt.  Damit  fallt  also  auch  die  Ansicht  dahin,  als  ob  die  in 
Estiand  eingewanderten  Deutschen  und  Danen  von  Alters  her 
freies  Grundeigenthum  besessen  hatten. 

Plauen  i.  Vogtlando. 

Dr.  William  Fischer. 


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Kastner.  Dr.  Gcorg,  Das  refundirte  Bisthum  Keval.  185 

XXXXII. 

Kastner,  Dr.  Georg,  Das  refundirte  Bisthum  Reval.    Unter- 

suchungen  zur Geschichte  vonHarrien  und  Wir- 

land  im   13.   Jahrhundert.     gr.    8.    (80   S.)    Gottingen 

1876,  Robert  Peppmiiller.     1,80  M. 

Nach   v.  Breverns  und  Schirrens  bedeutenden  Unter- 

suchungen  unternimmt  es  Kastner,  die  Urkunden  and  den  liber  census 

Daniae,  aus  denen  hauptsachlich  die  Geschichte  der  beiden  Land- 

schaften  Harrien  und  Wirland  geschopft  werden  muss,  von  neuem 

der  Kritik  zu  unterziehen,  und  kommt  dabei  zu  dem  Besultate, 

dass  sich   einige  von   Schirrens  Ansichten  in  wichtigen  Punkten 

nicht  aufrecht  erhalten  lassen.    Die  Geschichte  der  Bischofe  ist 

ihm  wenig  mehr  als  der  Faden,  an  den  sich  die  einzelnen  Unter- 

suchungen  anreihen ,  und  nur  auf  diese ,  die  in  5  Excursen  bei- 

gegeben  sind,  legt  er  Gewicht. 

Nachdem  durch  den  Vertrag  von  Stenby  1238  Waldemar  dem  II. 
von  Danemark  die  1227  ihm  entrissenen  Landschaften  Harrien 
und  Wirland  von  dem  Christusbriiderorden  (Schwertbriidor) 
wieder  zuriickgegeben  worden  waren,  gingen  die  Danen  auch 
daran,  die  kirchlichen  Verhaltnisse  zu  regeln,  man  begann  die 
beiden  unter  dem  Erzbisthum  Lund  stehenden  Bisthiimer  Reval 
und  Wirland  Hand  in  Hand  mit  dem  Erzbischofe  Uffo  zu  re- 
stituiren.  Zuerst  ward  Reval  refundirt,  der  Bischofestuhl  von 
dem  Konige  mit  dem  Danen  Thorkil  besetzt  unter  Zustimmung 
und  Genebmigung  *Uffos.  Der  Konig  behielt  sich  und  seinen 
Nachfolgern  ausdriicklich  die  Wahl  und  Presentation  der  Bischofe 
vor,  und  zwar  auch  fur  den  Fall,  dass  ein  Capitel  an  der  Kathe- 
drale  entstiinde ;  das  Bisthum  ward  reichlich  mit  Land  und  Ein- 
kiinften  aus  Zehnten  dotirt.  Erich  verwandelte  1242  diese  Quoten- 
zahlung  in  ein  Pactum  und  1260  ertheilte  Christof  einer  Ab- 
andoning desselben  seine  Genehmigung.  Dies  ist  besonders  des- 
halb  wichtig,  weil  hier  die  estl&ndischen  Yasallen  zum  ersten 
Male  dem  Konige  als  geschlossene  Masse  gegeniibertreten ,  hier 
ist  also  der  Keim  eines  corporativen  Zusammenschlusses  zu  suchen 
(etobenSeite  183).  1253  loste  der  deutsche  Ritterorden  den  in 
Jerwen  falligen  Zehnten  gegen  einige  Dorfer  ab,  ein  Beispiel,  das 
auch  auf  den  ubrigen  Theil  des  Bisthums  in  der  Folge  wirkte. 
Sodann  erfahren  wir  Naheres  uber  die  Rechte  des  Bisthums  auf 
dem  flachen  Lande  und  in  Reval,  uber  den  Zustand  der  Kirchen 
auf  dem  Lande ,  uber  das  Patronatsrecht  und  das  Klosterwesen. 
Der  Neubegriinder  des  Bisthums,  Thorkil,  dessen  schopferische 
Thatigkeit  urn  so  mehr  anzuerkennen  ist,  als  sie  Bleibendes  ge- 
achaffen,  worauf  die  weitere  Entwicklung  fusste,  und  zwar  auf 
sehr  schwierigem  Boden  —  die  Bevolkerung  war  ja  erst  seit 
kurzem  dem  Christenthume  gewonnen  —  starb  1260.  Das  Bis- 
thum Wirland  ist  seit  1238  nie  wieder  besetzt  worden,  die  Sorge 
fiir  dasselbe  ward  Thorkil  mit  iibertragen.  Ob  es  definitiv  durch 
einen  formlichen  Beschluss  der  Diocese  Reval  zugetheilt  wurde? 


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186  K&stner,  Dr.  Goorg,  Das  refumlirto  Bistham  RevaL 

Die  zeitweilige  Vereinigung  scheint  vielmehr  durch  usus  eino 
dauernde  geworden  zu  sein.  Nach  dem  Tode  Thorkils  entspann 
sich  ein  Streit  iiber  die  Wahl  des  Nachfolgors,  da  die  Pralaten 
das  konigliche  Wahlrecht  Bicht  anerkannten.  Der  Pabst  Alexan- 
der IV.  stellte  sich  natiirlich  auf  die  Seite  der  letzteren  —  denn 
das  Recht  der  Krone,  iiber  ein  Bisthum  zu  vorfugen,  war  wol 
damak  schon  ein  Unicum  —  und  kassirte  die  Wahl  als  gegen 
das  kanonische  Recht  verstossend,  ernannte  aber  gleichwol  den- 
selben  Trugot  zum  Bischofe,  den  vorher  Margaretha  dazu  er- 
koren.  Trugot  errichtete  ein  Domcapitel,  welchem  Margaretha 
1277  da8  Wahlrecht  verlieh.  Die  Bestatigung  desselben  erfolgtc 
1283  durch  ihren  Sohn  Erich  Glipping,  1289  nochmals  durch 
Erich  Menved.  Durch  den  Vergleich  des  Bischofe  Johann  mit 
den  koniglichen  Vasallen  1280  wurden  die  Einnahmequellen  des 
Bisthums  fur  lange  Zeit  geregelt,  der  Bischof  wurde  von  der  Will- 
fahrigkcit  der  Grundherrn  befreit,  diese  wurden  die  lastige  Steuer 
los.  1284  verlieh  derselbe  Bischof  den  Biirgern  von  Reval  das 
Synodalrecht  von  Liibeck  und  schloss  mit  den  Vasallen  des 
Konigs  ein  Schutz-  und  Trutzbiindniss  zur  Sicherung  ihrer  alten 
Rechte.  Das  dem  Capitol  verliehne  Wahlrecht  respectirte  Erich 
Menved  selbst  nicht.  Als  um  1298  eine  Vacanz  eintrat,  nahm 
er  dasselbe  wieder  fur  sich  in  Anspruch,  nachdem  auch  das 
Capitel  erklart  hatte  —  vielleioht  gezwungen?  — ,  dass  es  nie 
das  Recht  gehabt  hatte,  den  Bischof  zu  wahlen.  Das  Capitel 
wahlte  einen  Domherrn,  welcher  das  Wahlrecht  des  Konigs  achten 
zu  wollen  erklarte,  der  Konig  auch ;  aber  Bonifacius  VIII.  ^rklarte 
die  Handlung  des  Konigs  fur  ungiiltig  und  der  Konig  fiigte  sich. 

In  5  Excursen  erortert  sodann  der  Herr  Verfasser  kritischc 
Fragen.  Der  erste  behandelt  die  beiden  Urkunden  Nr.  205  und 
207  im  LivL  Urk.-B.,  welche  beide  nicht  mehr  im  Originale 
vorhanden  sind.  Urkunde  207  wird  statt  1249  datirt  vom 
11.  Oct.  1241;  ihr  Schwerpunkt  ist  darin  zu  suchen,  dass  sie 
mehr  fiir  den  Bischof  als  fiir  den  Prafecten  bestimmt  war.  Fal- 
schungen  sind  beide  nicht. 

Im  2.  Excurs  wird  dem  Bericht  Huitfelds  iiber  den  Zug 
Konig  Erichs  nach  Estland  1249  alle  Glaubwiirdigkeit  abge- 
sprochen  und  der  Zug  selbst  in  das  Gebiet  der  Sage  verwiesen. 

Excurs  3  weist  nach,  dass  Dietrich  von  Minden,  Bischof  von 
Wirland,  nie  in  Wirland  residirt  habe,  sondern  nur  Weih-  und 
Titularbischof,  vom  Pabste  selbst,  nicht  von  dem  Erzbischofe 
Albert  von  Preussen  ernannt,  gewesen  sei,  mid  beleuchtet  die 
Machinationen  Alberts  in  Betreff  des  Bisthums  Wirland. 

Der  Titel  „dux  Estoniae"  heisst  der  4.  Excurs.  Margaretha 
fiihrte  den  Titel  domina  Estoniae  seit  1266,  als  sie  Estland  zum 
Wittwensitz  erhalten  hatte,  Erich  den  Titel  dominus.  Aus 
dominus  wird  1271  dux  und  fortan  bleibt  dieser  Zusatz  stehend 
in  den  Urkunden  und  Erlassen  fur  estlandische  Adressaten,  als 
ducatus  wird  Estland  zum  ersten  Mai©  1289  bezeichnet.  Die 
Verbindung  Estlands   mit  dem  d&nischen  Konigshause  blieb  be- 

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Schulte,  Joh.  Friedrich  yon,  Die  Geachichte  der  Quellen  etc.        187 

stehen,  der  danische  Konig  war  auch  Herrscher  in  Estlancf,  aber 
er  fiihrt  dcshalb  einen  eignen  Titel ;  die  eigenthiimliche  Stollung 
Estlands  innerhalb  der  danischen  Monarchie  fand  also  aucb  im 
Zusatztitel  ihren  Ausdruck  (cf.  obon  S.  182).  Die  Erlasse  Mar- 
garethas  scheinen  auch  nach  1266  erst  durch  die  naehfolgende 
Bestatigung  des  Konigs  rechtskraftig  geworden  zu  sein. 

Der  5.  Excurs  endlich  bringt  neues  Material  „zur  Interpre- 
Utbii  der  Urkunden  Nr.  165  mid  172  im  Livl.  Urk.-B." 
Plauen  i.  Vogtlande. 

Dr.  William  Fischer. 


XXXXIH 
Scholte,  Joh.  Friedrich  von,   Die  Geschichte  der  Quellen  und 
Utteratur  des  Kanonischen  Rechts  von  Gratian  bis  auf  die 
Gegenwart.    [In  3  Banden.]    I  Band:  Einleitung.  —  Die  Ge- 
schichte der  Quellen  und  Litteratur  yon  Gratian  bis  auf  Papst 
Gregor  IX.    II.  Band:  Geschichte  der  Quellen  und  Litteratur 
von  Papst   Gregor  IX.   bis   zum   Concil   von   Trient.    gr.   8. 
(Vm,    264   u.   XVIII,    582    S.)     Stuttgart    1875    u.    1877, 
F.  Enke.     28  M. 
Nach  einer  ausfuhrlichen  Einleitung  fiber  die  Quellen,  die 
Schriftsteller,  die  Grundsatze  der  Behandlung  und  die  kanonische 
Jurisprudenz  vor  Gratian  folgt  im  ersten  Buch  die  Zeit  bis  1234. 
Die  erste  Abtheilung  dieses  Buchs  handelt  von  den  Rechtsquellen 
und  zwar   zunachst  yon  den  kirchlichen.  —  Nach  kurzer  Be- 
trachtung  derjenigen  Sammlungen  vor  Gratian,   die  wohl  alien 
Glossatoren   bekannt   waren,    namlich    der   collectio    Dionysio- 
Hadriana,  der  Hispana,  des  Pseudo-Isidor,  der  breviatio  canonum 
des  Fulgentius,  Ferrandus,  Cresconius,  des  Dekrets  des  Bernhard, 
des  Dekrets  und  der  Panormie  des  Ivo,  ferner  solcher  Samm- 
lnngen,   die  diesem  oder  jenem  Glossator  bekannt  gewesen  sein 
miissen,  wendet  sich  der  Verfasser  zum  Dekret,  weist  die  An- 
sicht,  Gratian   sei  Bischof  gewesen,   als  irrig  zuriidc  und  stelit 
fur  die  Zeit  der  Abfassung  den  Zeitraum  von  1139 — 1142  hin, 
wahrend  man  sie  sonst  zwischen  1141  — 1150  liegend  annimmt. 
—  Der  Inhalt  »des  Dekrets,  fur  welches  der  Verfasser  den  Namen 
„concordia  discordantium  canonum"   als  urspriinglich  gegebenen 
bogriindet,  zerfallt  in  drei  Theile;  der  erste  enthalt  die  Dekre- 
talen  mit  einer  Einleitung  iiber   die  Rechtsquellen,   der  zweite 
behandelt   36   causae   genannte   Rechtsfragen    iiber    kanonische 
Themata  und  der  dritte  umfasst  den  sogenannten  tractatus  de 
consecratione.    Die  Rubriken  in  der  Sammlung  sind  ganz  sicher 
von  Gratian  selbst,  nicht  von  %einem  Schiiler  Paucapalea,  wahrend 
dessen  und  anderer  Schiiler  Mitwirkung  filr  die  Paragraphirung 
nicht  ausgeschlossen  ist.    Es  folgt  eine  Untersuchung  iiber  die 
Sammlungen,   die  Gratian  bei  seiner  Arbeit  benutzt  hat,  dann 
uber  die  Methode,  die  er  dabei  befolgte;  er  geht  namlich  nach 
Art  aller  Scholastiker  von  einem  positiven  Satze  aus  und  zieht 

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188        Schulte,  Joh.  Friedrich  von,  Die  Geschichte  der  Qaellen  etc. 

dessen  logische  Folgerangen;  nach  dem  Grande  der  Entstehung 
und  dem  Zweck  der  Satze  fragt  er  nicht,  sondorn  zerlegt  jeden 
einzelnen  in  seine  Theile,  betont  den  Unterschied  mit  andeni 
Stellen  und  bringt  reiohes  Quellenmaterial  bei.  Im  zweiten  Theile 
werden  RechtsfSlle  (causae)  untersucht  und  Rechtsfragen  (quae- 
stiones)  zu  ihrer  Entscheidung  erortert.  Das  Eintheilungsprincip 
ist  dem  der  Institutionen  des  corpus  iuris  verwandt,  wie  iiber- 
haupt  Gratian  im  hohen  Masse  Kenntnis  des  romischen  Rechts 
besessen  hat.  Nach  einer  Betrachtung  iiber  das  Ansehen,  die 
Bearbeitung  und  die  Ausgaben  der  Gratianschen  Sammlung  geht 
der  Verfasser  zur  Besprechung  der  Compilationen  iiber.  —  Das 
weltliche  Recht  ist  zu  jener  Zeit  dem  geistlichen  untergeordnet 
und  es  wird  in  geistlichen  Dingen  nur  in  soweit  von  der  Kirchc 
als  verbindlich  angesehen,  als  weltliche  Rechtsatze  in  den  kirch- 
lichen  Rechtsammlungen  recipirt  sind,  ja  die  Kirche  dehnt  ihre 
Selbstandigkeit  sogar  dahin  aus,  dass  sie  ihren  Interessen  ent- 
gegenlaufende  weltliche  Rechtsatze  willkurlich  verandert.  Im 
Dekret  wird  nun  eine  Einheit  im  Kirchenreoht  angebahnt,  des 
Papstes  gesetzgebende  Macht  iiber  die  Kirche  im  Principe  an- 
erkannt,  und  so  entwickelt  sich  jene  seit  Gratian  als  eine  cen- 
tralisirende  iiber  den  Partikularrechten,  und  zahlreiche  Vorfechter 
kampfen  fSr  diese  Idee.  Nach  und  nach  streift  diese  Gesetz- 
gebung  der  Curie  alle  Bande,  die  sie  bis  dahin  mit  der  welt- 
lichen  verbunden,  ab  und  tritt  in  einen  fast  feindlichen  Gegen- 
satz  zu  dieser,  bekampft  die  Staatsidee  und  schweisst  die  Einzel- 
kirchen  der  verschiedenen  Nationen  zu  einer  Universalkirche  unter 
dem  Papste  zusammen.  Zuerst  braucht  man  fur  diese  Entwicklung 
das  romische  Recht,  urn  seine  Anwendung  nach  Erstarkung  des 
kanonischen  dem  Clerus  als  iiberflussig  zu  verbieten.  — 

In  der  zweiten  Abtheilung  „Die  Litteratur"  werden  zunachst 
die  Dekretisten:  Paucapalea,  Bandinellus,  Omnibonus,  Rufinug, 
Albertus,  Gandulphus,  Stephan  von  Tournay,  Faventinus,  Bisiniano, 
Sicardus,  Cardinalis,  Laborans,  Hispanus,  Huguccio  und  andere 
behandelt,  es  folgen  die  Dekretalisten :  Papiensis,  Anglikus  u.  s.  w.; 
darauf  wird  die  Methode  in  der  Schule  und  in  den  Schriften 
erortert  und  endlich  eine  Uebersicht  der  Schriften  gegeben; 
voran  der  zum  Dekrete:  Glosse,  Summon,  Excerpto  u.  s.  w.,  dann 
zu  den  Dekretalen:  Glosse,  Notabilien,  Summen;  zum  Schluss  der 
Monographien :  Einleitungen ,  systematische  Schriften,  Traktate, 
Quaestionen,  Casus,  casuistische  Schriften  u.  s.  w.  — 

Als  Anhang  sind  einige  Vorreden  zu  bedeutenden  kanoni- 
schen Schriften  abgedruckt,  ein  dem  Bande  beigegebenes  aas- 
fuhrliches  Wortregister  erleichtert  im  hohen  Masse  den  Gebraucb 
des  Buches.  — 

Der  Verfasser  weicht  im  zweiten  Bande  in  der  ausseron 
Ordnung  des  Stoffes  darin  von  der  im  ersten  befolgten  ab, 
dass  er  die  Klassen  der  Quellen  nicht  gruppirt,  da  dies  die 
Mannigfaltigkeit  der  Schriften  nicht  gestattet,  dagegen  sind  die 
Schriftsteller  fiir   das  forum  internum  und   die  reinen  Juristen 

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Schulte,  Joh.  Friedrich  von,  Die  Geschlchto  der  Quellen  etc.       189 

gesondert,  diese  sind,  da  sie  ein  treues  Bild  der  Gultur  ihrer 
Zeit  geben,  ja  welche  sie  zum  Theil  selbst  beeinflusst  haben, 
fur  den  Historiker  besonders  wichtig,  ebenso  der  im  dritten 
Capitel  der  zweiten  Abtheilung  gegebene  Ueberblick  iiber  die 
Litteratur  in  der  Epoche  von  Gregor  IX.  bis  zum  Tridentiner  Concil 
and  iiber  die  gesammte  kanonische  Litteratur  des  Mittelalters.  — 
In  der  ersten,  die  Rechtsqnellen  behandelnden ,  Abtheilung 
ist  das  erste  Capitel  den  Dekretalen  Gregor  IX.  gewidmet  und 
darin  nachgewiesen ,  wieweit  der  Compilator  dieser  Sammlung 
Raymnnd  von  Pennaforte  das  ihm  vorliegende  Material  benutzt 
nnd  wieweit  er  selbstandig  gearbeitet  hat;  den  Sohluss  dieses 
Gapitele  bildet  eine  Uebersicht  iiber  die  Handschriften  und  Aus- 
gaben  dieser  Dekretalensammlung.  Das  zweite  Capitel,  die  Ge- 
setzgebung  und  die  Sammlungen  von  1234 — 1311  behandelnd, 
zeigt  den  Papst  auf  der  Hohestufe  seiner  legislativen  Gewalt,  der 
Satz,  dass  er  alle  Rechte  im  Schreine  seiner  Brust  habe,  wird 
praktisch  durchgefuhrt ;  1245  wird  die  constitute  Bomanae 
ecdeeiae  von  Innocenz  IV.  publicirt  und  der  Sammlung  Gregors 
eingefiigt,  spater  erlassen  Alexander  IV.,  Urban  IV.,  Clemens  IV., 
Gregor  X.  und  Nicolaus  III.  ebenfalls  Bechtsatze,  die  jedesmal 
in  einer  Sammlung  vereinigt,  unter  dem  Titel:  novae  constitutions 
oder  novellae  dem  Dekrete  Gregors  angereiht  werden ;  daneben 
entstehen  zahlreiche  Privatsammlungen.  Den  ganzen  grossen,  seit 
1234  aufgespeicherten  Stoff  liess  dann  Papst  Bonifez  VIII*  im 
sogenannten  liber  sextus  fur  den  Gebrauch  verarbeiten,  und  der 
Verfasser  weist  an  dieser  Stelle  nach,  wie  das  Drangen  der 
Papste  nach  Centralisation  und  der  mangelnde  officielle  Cha- 
rakter  der  Privatsammlungen  seit  1234  diese  Arbeit  hervorriefi 
betont  die  Aehnliohkeit  dieser  Sammlung  mit  der  Gregorian'schen 
in  der  ausseren  Anordnung,  beleuchtet  die  Quellen  und  die  freie 
legislative  Thatigkeit  bei  ihrer  Verarbeitung  und  den  vorwiegend 
dem  romischen  Rechte  entlehnten,  de  „regulis  iuris"  benannten, 
Schluss  der  Sammlung.  Im  Anschlusse  behandelt  der  Verfasser 
die  von  Johann  XXII.  1317  nochmals  publicirte  Constitutionen- 
Sammlung  seines  Vorgangers  Clemens  V.,  er  zeigt,  welch  schwindel- 
haftes  Spiel  beide  Papste  mit  diesen  Constitutionen  treiben,  da 
sie  deren  politische  Gefahrlichkeit  im  Kampf  der  Kirohe  mit 
Frankreich  wohl  erkennen.  Das  dritte  Capitel  behandelt  die 
Extravaganten-Sammlungen,  d.  h.  Sammlungen  derjenigen  Dekre- 
talen, die  seit  Abfassung  des  liber  sextus  erlassen  und  von 
Clemens  V.  weder  in  seine  Sammlung  aufgenommen,  noch  audi 
anfgehoben  sind ;  so  gibt  es  von  Privatcompilatoren  veranstaltete 
Znsammenstellungen  der  Extravaganten  von  Bonifaz  YIIL,  Bene- 
dikt  XL  und  Clemens  V.,  deren  Bestandtheilo  vom  Verfasser  an- 
gegeben  werden.  Die  Extravaganten  von  Johann  XXIL  sind 
ebenfajls,  soweit  sie  nicht  den  Clementinen  angefiigt  sind,  ge- 
sammelt  und  von  Universitatslehrern  oommentirt  worden.  Doch 
ist  dieeO  Sammlung  der  20  Extravaganten  von  Johann  XXII.  die 
letzte,  welche   allgemeine  Verbreitung,  wenn   auch  nicht  mehr 

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190         Schulte,  Joh.  Friedrick  von,  Die  Geschichte  der  Quellon  etc. 

allgemeine  Anerkenntong  gefunden  hat.  Der  Grund  hierzu  liegt, 
wie  der  Verfasser  ausfuhrt,  dariu,  dass  das  kirchliche  Dogma 
die  Wissenschaft,  welche  seit  1350  keinen  vorherrschenden  Ein- 
heitspunkt,  wie  ehedem  Bologna  oder  Paris,  hat,  ertodtet ;  ferner 
hinderi  es  die  Uneinigkeit  der  Kircho  in  sich  selbst  und  mit  den 
weltlichen  Machten,  dass  eine  Constitution  zum  allgemeinen 
dauernden  Ansehn  gelangt  Mit  den  schneidigsten  Waffen  der 
Scholastik  kampfen  Wilhelm  von  Occam  und  Marsilius  von  Padua 
gegen  das  Geriist  papstlioher  Macht  an,  das  von  gleich  gelehrten 
K&mpfern  vertheictigt  wird ;  bis  auf  dem  Costnitzer  Roformconcile 
der  Gedanke,  dass  die  Extravaganten  nicht  zum  ius  scriptua 
gehoren,  zum  Siege  durchdringt.  Im  Concordate  mit  der 
deutschen  Nation  wird  nur  die  constitute  execrabilis  und  die 
ad  regimen  modificatae,  jene  von  Johann  XXII.,  diese  von  Bene- 
dikt  XII.,  in  Kraft  gelassen  oder  gesetzt;  doch  behelfen  sich  die 
Papste  damit,  fur  ihre  neuen  Gesetze,  wenigstens  als  Canzlei- 
regeln,  Geltung  zu  verlangen,  „soweit  sie  nicht  durch  Concile, 
Concordate  und  Papstgesetze  derogirt  seien".  Gegen  dieee  Auf- 
fa83ung,  die  nur  der  papstlichen  Omnipotenz  eine  Hinterthure 
offnen  sollte,  wendet  sich  der  23.  Artikel  des  Baseler  Concik, 
und  das  Zuriickgehen  auf  die  Bestimmungen  der  Costnitzer 
Kirchenversammlung,  das  im  Concordate  zwischen  Kaiser 
Friedrioh  III.  und  Papst  Nicolaus  Y.  stattfindet,  andert  die 
Bechtsanschauung  in  nichts.  Seitdem  wacht  die  allenthalben 
erstarkende  welUiche  Macht  eifrig  dariiber,  dass  weder  dem 
vorhandenen  kirchlichen  Bechte  eine  zu  weite  Auslegung  gegeben, 
noch  wohl  gar  Neues  in  dasselbe  eingefugt  wird.  Dieser  hieto- 
risch  hochbedeutenden  Entwicklung  folgt  eine  Betraohtung  der 
Extravaganten-Samraiungen,  besonders  der  Ausgabe  von  Chap  puis 
von  1500.  Das  vierte  Capitel  behandelt  die  Sammlungen  der 
Curialpraxis,  d  h.  der  decisiones  rotae  Romanae  und  der  regulae 
cancelJariae  Apostolicae ;  endlich  das  flinfte  Capitel  das  weltliche 
Becht,  also  das  Hiniibergreifen  der  kirchlichen  Legislative  in 
weltliche  Rechtsgebiete.  — 

Die  zweite  Abtheilung  ist  der  Litteratur  gewidmet,  das  erste 
Capitel :  „Die  Sohriftsteller  und  ihre  Werke"  behandelt  zunachst 
die  reinen  Juristen  (Glossatoren ,  Commentatoren ,  Mono- 
graphisten  u.  s.  w.)>  von  Vincentius  Hispanus  bis  Roderigo  de 
Borgia,  dann  die  Schrifteteller  fur  das  forum  internum  von 
Guilehnus  Arvernus  Parisiensis  bis  Silvester  de  Prierio,  zahlt  ihre 
Schriften  auf  und  kritisirt  dieselben.  —  Im  zweiten  Capitel  folgt 
eine  Schilderung  des  allgemeinen  Charakters  der  wissenschaft- 
lichen  Behandhwg  auf  den  Universitaten ;  sind  auf  einer  der- 
selben  mehrere  Professoren  des  kanonischen  Rechts,  so  liest  em 
Professor  uber  das  Dekret  und  die  Dekretalen  Gregors  DL,  beide 
Rechtsquellen  werden  libri  ordinarii  genannt  und  Yormittags 
vorgetragen;  der  liber  sextus  und  die  Clementinen  gehoren  eben- 
faUs  zur  Zahl  der  planmassigen  Yorlesungen,  werden  jedoch  als 
libri  extraordinarii  am  Nachmittago  gelesen;  nach  der  Berechtigung 

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Schulte,  Job.  Friedrich  von,  Die  Geschichte  der  Quellen  etc.  191 

iron,  entweder  beide  Arten  von  Rechtsquellen ,  oder  nur  die 
ausserordentliohen  vortragen  zu  diirfen,  scheidet  man  ordentliche 
und  ausserordentliche  Professoren.  Die  erheblichen  Vortheile, 
die  das  Universitatsstudium  mit  der  Moglichkeit  mannigfachen 
Gelderwerbs  durch  Biicherkopiren  darbietet,  Ziehen  viele  an, 
ganz  besonders  vortheilhaft  aber  wird  das  Studium  des  kanoni- 
schen Rechts ,  da  die  Curio  es  auf  jede  Weise  begiinstigt ,  so 
werden  z.  B.  Pfriindeninhaber  behufs  dieses  Studiams  auf  mehrere 
Jahre  von  der  Residenzpflicht  befreit,  auch  diirfen  personae 
Htteratae  mehrere  Dignitaten  und  Curialbenefizien  besitzen.  Des- 
halb  drangen  sich  Geistliche  in  Amt  und  Wiirden  zu  den  Uni- 
versitaten,  den  jiingeren  Sohnen  adliger  Geschlechter  bietet  der 
theologische  Doctorgrad  oin  treffliches  Mittel,  zu  hohen  und  ein- 
traglichen  geistlichen  Wiirden  emporzusteigen.  Die  an  die  Curie 
gelangenden  Processe  nehmen  zu,  responsa  und  consilia  werden 
rcich  bezahlt;  die  Gunst  des  Papstes  verleiht  bewahrten  Cano- 
nisten  oft  genug  den  Cardinalshut  oder  doch  den  Bischo&stab. 
Bald  linden  sich  bei  der  allgemeinen  Giiltigkeit  und  Bedeutung 
des  kanonischen  Rechts  auch  Laien  neben  den  Clerikern  auf  den 
Lehrstiihlen  dieses  Rechts,  besonders  seit  1250,  ebenso  nehmen 
an  der  schriftstellerischen  Thatigkeit  auf  diesem  Gebiete  nicht 
bloss  Universitatslehrer,  sondern  bald  auch  weitere  Kreise  Theil. 
la  den  Monchsorden,  Domstiftern  sorgen  studirte  Mitglieder  fur 
die  Kenntnis  des  kanonischen  Rechts,  auch  gehen  viele  Canonisten 
au8  den  Orden  hervor,  wenn  sich  auch  die  vollste  Bliite  der 
kanonischen  Rechtswissenschaft  auf  den  Universitaten  entfaltet, 
auf  denen  alien  sich  eine  grosse  Gleiohformigkeit  in  der  Be- 
handlung  des  Stoffes  herausbUdet.  Dies  liegt  sowohl  daran,  dass 
die  Universitatslehrer  haufig  ihren  Lehrstuhl  von  einer  Universitat 
an  die  andere  versetzen,  als  auch  in  der  gleichmassigen  Vor- 
bildung  und  der  durch  den  Stoff  bedingten  allgemeinen  Gleich- 
heit  des  Lehrgegenstandes ,  der  Sprache  und  der  kirchlichen 
Ideen.  Die  geschilderten  Sammlungen  sind  der  fertige,  allgemein 
anerkannte,  fast  nie  kritisch  beleuchtete  Lehrstoflf ;  von^ihmwird 
das  kirchliche  Leben  der  Volker  beeinflusst,  die  nationalen  Eigen- 
thumlichkeiten  verwischen  sich  auf  diesem  Gebiete  mehr  und 
mehr,  die  Besonderheiten  der  Diocesen  gelten  nur  noch  als  die  durch 
papstliches  Privileg  gestatteten  Ausnahmen  von  der  allgemeinen 
Kegel.  So  schwindet  der  historische  Sinn,  das  Bewusstsein  eigen- 
thiimlicher  Entwicklung  dahin;  die  ausschliesslich  lateinische 
Sprache,  die  einerseits  den  Vorzug  hat,  dass  sie  ein  Werk  schnell 
von  Nation  zu  Nation  gelangen  lasst,  nivellirt  andrerseits  durch 
Ausbildung  einer  ganz  bestimmten  Form  des  Denkens  und  Dedu- 
cirens  das  ganze  Studium,  von  dem  sie  ausserdem  die  nicht 
Bchnlmassig  gelehrten  strcng  ausschliesst.  So  liegt  die  kanonische 
Rechtswissenschaft  bis  zum  Authoren  des  Gebrauches  der  latei- 
nischen  Sprache  im  Unterricht  und  bis  zum  Durchbruch  der 
Ideen  der  neueren  Philosophic  brach.  Nach  dieser  Einleitung 
betrachtet  der  Verfasser   den   Charakter  der  wissenschaftlichen 

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192       Schulte,  Joh.  Friedrich  von,  Die  Geschichte  der  Quellen  etc. 


;?^fl 


Behandlung  in  den  Schriften  und  fuhrt  dabei  aus,  wie  auch  hier 
die  Auffassung  der  Rechtsbiicher  als  Gesetze,  nicht  als  Quellen, 
jede  freie  wissenschaftliche  Auslegung  hemmte;  so  verschwindet 
die  alte  freie  Glosse,  umfangreiche  Apparatus,  Lecturae  und  Com- 
mentare  treten  an  ihre  Stelle,  ferner  Summen,  jedoch  nur  fiir 
die  Dekretalen  Gregors,  endlich  seit  Ende  des  XV.  Jahrhunderts 
Gompendien ,  dazu  die  ganze  iibrige  Litteratur  an  Repertories 
Rechtslexiken  u.  s.  w.  Das  dritte  Capitel  gibt  eine  Uebersicht 
der  Schriften,  zunachst  der  rein  juristischen ,  der  allgemeinen 
und  der  zu  den  Quellen,  dann  der  kirchenpolitischen ,  d.  h.  der 
durcb  die  Stroitigkeiten  zwischen  dem  Papste  und  den  Staateii 
zur  Vertheidigung  des  klerikalen  und  des  staatlichen  Standpunktes 
bervorgerufenen,  endlich  der  Litteratur  fur  das  forum  internum. 
Ein  viertes  Capitel  beschaftigt  sich  mit  der  Frage,  in 
welchem  Verhaltnisse  die  einzelnen  Nationen  an  der  kanonisti- 
schen  Litteratur  des  Mittelalters ,  theils  in  Bezug  auf  die  Lehr- 
thatigkeit  an  den  Universitaten ,  theils  in  Bezug  auf  schrift- 
stellerische  Arbeit,  Antheil  genommen  haben.  In  einera  Anhange 
sind  das  Prooemium  der  novella  in  decretales  und  einige  andere 
fur  die  Kenntnis  der  kanonischen  Rechtsquellen  besonders  wich- 
tige  Stellen  abgedruckt,  ferner  der  Katalog  der  Bucherverleiher  fiir 
kanonistisehe  Werke  in  Bologna.  Den  Schluss  des  Bandes  bilden 
Nachtrage  zum  ersten  und  zweiten  Bande,  den  dritten  und 
Schlussband  des  Werkes  stellt  der  Verfasser  fur  Ende  1879  oder 
Anfang  1880  in  Aussicht.  — 
Berlin.  F.  W.  E 


Drwck  von  0*kar  Bondr  in  Allcnburg. 


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'^rZ-. 


XXXXIV. 
Ouncker,  Max,  Geschichte  ties  Alterthums.   Erster  Band.  FUufte 

verbesserte    Auflage.     gr.  8°.     (XVI,  493  S.)     Leipzig    1878, 

Duncker  und  Humblot.  9,60  M. 
Die  1874  erschienene  vierte  Auflage  des  1.  und  2.  Bandes 
von  Duncker's  Geschichte  des  Alterthums  ist  in  dieser  Zeitschrift 
(IH  Jahrgang,  S.  193  ff.)  eingehend  besprochen,  es  ist  dort  vor 
AUem  darauf  hingewiesen  worden,  in  wie  ausgedehnter  und  er- 
giebiger  Weise  der  Verfasser  die  Ergebnisse  der  neueren  For- 
schungen  verwerthet  hat.  Jetzt  nach  3  Jahren  liegt  der  erste  Band 
schon  wieder  in  neuer,  funfter  Auflage  vor.  In  der  kurzen  Vor- 
rede,  welche  demselben  vorangeschickt  ist,  vertheidigt  sich 
der  Verf.  gegen  den  Vorwurf ,  welcher  (durch  A.  v.  Gutschmid) 
seiner  Darstellung  in  der  4.  Auflage  gemacht  worden  ist,  er 
habe  der  assyrischen  Forschung  zu  weit  gehende  Concessionen 
gemacht.  Er  weist  darauf  hin,  dass  er  keineswegs  die  kiihnen 
und  oft  vagen  Hypothesen  gewisser  Assyriologen ,  sondern  nur 
die  Ergebnisse  von  Urkunden,  deren  Eutzifferung  unbostritten 
sei,  aufgenommen  habe,  und  er  rechtfertigt  dann  noch  speciell, 
warum  er  die  Dynastien  des  Berosos,  den  Bericht  des  Herodot 
iiber  die  Befreiung  der  Meder  und  iiber  die  Dauer  des  medischen 
Beiches,  endlich  die  Zeitreihen  der  Konige  von  Juda  und  Israel 
aufgegeben  und  sich  an  Stelle  derselben  an  die  chronologischen 
Daten  und  die  Nachrichten  der  assyrischen  Urkunden  gehalten 
habe.  Der  Band  ist  in  dieser  Auflage  schon  ausserlich  etwas 
starker  als  in  der  vorhergehenden  (er  zahlt  68  Seiten  mehr) 
und  sein  innerer  Gehalt  zeigt,  dass  auch  diese  Auflage  die  Be- 
zeichnung  „verbesserte"  durchaus  verdient.  Der  Verf.  hat  ein- 
mal  auch  hier  wieder  auf  das  sorgfaltigste  die  neuen  Forschungen  • 
beriicksichtigt,  auf  Grund  derselben  seine  Darstellung  mehrfach 
theils  verandert,  theils  erweitert,  andererseits  aber  erkonnt  man 
uberall  die  nachfeilende  Hand,  welche  durch  veranderte  An- 
ordnung  und  Gruppirung  die  Darstellung  noch  iibersichtlicher 
und  lichtvoller  zu  machen  sich  bemiiht  hat.  Mehrfach  sind  urn- 
fangreichere  Abschnitte  der  friiheren  Auflage  in  mehrere  kleinere 
zerlegt,  bei  den  meisten  Voikern  ist  die  Schilderung  der  Cultur- 
verhaltnisse  von  der  politischen  Geschichte  gesondert  worden. 
Nur  solche  Aenderungen  formeller  Art  zeigen  die  spateren  Ab- 
schnitte, die  Geschichte  der  Araber,  der  Hebraer  und  der  Volker 
Kleinasiens,  dagegen  hat  die  erste  Halfte  des  Bandes,  die  Ge- 
schichte der  Aegypter  und  der  Volker  des  Euphratgebietes  auch 
mehrfache  sachliche  Veranderungen ,  Erganzungen  und  Erweite- 
ruugen,  erfahren.  Veranlassung  zu  solchen  haben  dem  Verf.  fur 
die  agyptische  Geschichte  Maspero's  Histoire  ancienne  und 
Brugsch's  Geschichte  Aegyptens  unter  den  Pharaonen  gegeben,  ins- 
besondere  ist  durch  das  letztere  Werk  die  Kunde  von  den 
agyptischen  Denkmalen  noch  wesentlich  bereichert  worden.  Auf 
Grund  desselben   finden   wir   hier  neue  oder  genauere  Angaben 

MlttheUnngen  a.  d.  histor.  Literatur.    VI.  13 

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194        Dohler,  Dr.  Eduard,  Die  Autonino.    69—180  nach  ChristL 

iiber  die  Denkmale  der  letzten  Konige  von  Memphis  und  des  in 
Abydos  residirenden  Konigs  Pepi  (S.  76  f.),  ferner  der  Konige 
der  11.  Dynastie  (S.  34  f.),  der  7  Konige  Sebekhotep  (S.  104  f.), 
der  Hyksoskonige  (S.  Ill),  ferner  eine  ausgefiihrtere  Schilderung 
der  Culturzustande  Aegyptens,  welche  die  altesten  Denkmale 
darstellen  (S.  78  ff.),  genauere  Angaben  iiber  die  agyptischen 
Statthalter  in  Theben  unter  den  Hyksoskonigen  nnd  iiber  die 
Nachwirkungen  jener  ersten  Fremdherrschaft  (S.  113  ff.),  iiber 
die  Feldziige  und  Bauten  Thutmoses'  III.  und  seiner  Nachfolger 
(S.  119  ff.),  nachber  (S.  142  ff.)  iiber  die  Kampfe  Ramses'  E 
und  (S.  150  f.)  Meneptah's.  Brugsch  folgt  der  Verf.  auch  in  der 
Namenschreibung ,  statt  Amenemha  und  Sesurtesen  finden  wir 
hier  Amenemhat  und  Usurtasen.  Ausfiihrlicher  als  friiher  wetst 
er  die  Hypothese,  welche  die  agyptische  Cultur  von  Aethiopien 
und  mittelbar  von  Indien  hat  ableiten  "wollen,  zuriick  (S.  7  ff.), 
andererseits  ist  die  noch  in  der  4.  Auflage  angefiihrte  Vermuthung, 
dass  urspriinglich  zwei  Reiche  in  Ober-  und  Unteragypten  neben- 
einander  bestanden  haben  und  dass  erst  spater  die  Konige  von 
Theben  auch  Unteragypten  an  sich  gebracht  haben,  hier  ganz 
fortgelassen.  Fiir  die  Geschichte  der  Volker  und  Reiche  im 
Euphratgebiete  haben  dem  Verf.  hauptsachlich  die  Werke  von 
Menant  Babylone  und  Smith  Assyrian  discoveries  neue  Ausbeute 
gewahrt,  ihnen  entnommen  sind  namentlich  die  genaueren  An- 
gaben iiber  die  alten  Reiche  von  Erech,  Ur  und  Nipur  (S.  242  ff.), 
iiber  die  alten  babylonischen  Konige  und  ihre  Kampfe  mit  den 
Assyrern  (S.  251  ff.).  Zu  den  verschiedenen  Berichten  iiber  die 
babylonische  Fluth  ist  hier  (S.  234)  auch  eine  Notiz  aus  Lucian 
hinzugefiigt,  die  assyrische  Inschrift  uber  diese  Fluth  ist  jetzt 
nach  Smith  Discoveries  mit  Emendationen  Schrader's  mitgetheili 
Aus  assyrischen  Inschriften  sind  auch  spater  (S.  466  ff.)  in  den 
Untersuchungen  iiber  die  Kimmerier  in  Kleinasien  Nachrichten 
fiber  die  Kampfe  assyrischer  Konige  mit  jenem  Volke  hinzugefiigt 
Berlin.  F.  Hirsch. 


xxxxv. 

Dohler,  Dr.  Eduard ,    Die  Antonine.    69—180  nach  ChristL  (!) 

Nach  dem  von  der  franzosischen  Akademie  gekronten  Werke 
des  Grafen  de  Champagny  deutsch  bearbeitet.  2  Bande.  gr.  8. 
I.  Bd.:  Nervaund  Trajanus.  (XII,  255  S.);  II.  Bd.:  Hadrianns 
und  Antoninus  Pius.  (XIV,  414  S.).  Halle,  1876  und  1877. 
Buchhandlung  des  Waisenhauses.     8  M. 

Bei  der  Anzeige  eines  Buches  geht  man  gewohnlich  zuerst 
auf  den  Inhalt  ein,  wenn  man  iiberhaupt  in  der  Lage  ist,  an  der 
Form  zu  makeln.  Ich  sehe  mich  fiir  diesmal  genothigt,  von 
dieser  Art  und  Weise  der  Besprechung  bei  dem  vorliegenden 
Werke  abzuweichen,  und  werde  zuerst  von  der  Form  des  Werkes 
sprechen,  weil  diese  vor  alien  die  Kritik  herausfordert.  Dasselbe 
wird   als   eine  Bearbeitung  des  Champagnyschen  Werkes,   nicht 

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Dohler,  Dr.  Eduard,  Die  Antonino.    69—180  nach  ChristL        195 

als  eine  Uebersetzung  angekiindigt.  Wie  es  aber  den  Anschein 
hat  —  Herr  Dohler  hat  es  namlich  nicht  fur  nothwendig  er- 
achtet,  rich  iiber  die  Art  und  Weise  seiner  Bearbeitung  auszu- 
sprechen,  und  andrerseits  liegt  mir  das  Original  nicht  zur  Ver- 
gleichung  vor  — ,  so  besteht  dieselbe  nur  darin,  dass  einige 
selbstandige  Anmerkungen  von  keinem  Belang,  welche  mit  dem 
TSamen  „D6hler"  bezeichnet  sind,  unter  dem  Texte  hinzugefiigt 
werden.  Ob  dies,  zugegeben  dass  ich  mich  nicht  ganz  im  Irrthume 
befinde,  ein  Recht  auf  den  Namen  „Bearbeitung"  giebt,  ist  billig 
dem  Urtheile  des  Lesers  anheimzustellen.  In  jedem  Falle  kann 
ich  aber,  auch  ohne  Einsicht  in  das  Originalwerk  genommen  zu 
haben,  mit  gutem  Gewissen  behaupten,  dass  der  Graf  Champagny 
ob  der  Uebersetzungskunst  eines  deutschen  Gelehrten,  urn  trivial 
zu  reden,  die  Hande  iiber  dem  Kopfe  zusammenschlagen  muss. 
Herr  Dohler  hat  seit  einigen  Jahren  den  Dolmetscher  mehrerer  fran- 
zosischen  historischen  Werke  iiber  das  Alterthum  gemaoht ;  wenn 
alle  bisher  gelieferten  Uebersetzungen  im  Geiste  der  vorliegenden 
gefertigt  sind,  dann  sind  sie  alle  sammt  und  sonders  nichts  werth ; 
denn  diese  ist,  mag  das  Urtheil  auch  hart  klingen,  es  muss  zur 
Schande  deutscher  Wissenschaft  gesagt  werden,  geradezu  stiimper- 
haft.  Dass  ein  „Oberlehrer  und  Subrektor"  eine  solche  Sudelei 
dem  deutschen  gelehrten  Publikum  zu  bieten  wagt,  ist  geradezu 
8chimpflich  und  verdient  die  scharfste  Zurechtweisung  im  In- 
teresse  deutscher  Wissenschaft,  die  dadurch  im  In-  wie  im  Aus- 
lande  nur  herabgesetzt  werden  kann.  Wer  einen  Genuss  von 
dem  Champagnyschen  Werke  haben  will,  wenn  anders  dasselbe 
iiberhaupt  im  Stande  ist,  unsere  deutschen  Geschichtsschreiber 
des  Zeitalters  der  Antonine  auszustechen ,  was  ich  mehr  oder 
weniger  verneine,  der  mag  das  franzosische  Original  lesen ;  denn 
so  lange  die  Dohlersche  Bearbeitung  nicht  von  Grund  aus  um- 
gearbeitet  ist,  ist  sie  vollig  ungeniessbar ;  mit  der  Oedipusarbeit, 
die  Rathsel  der  Dohlerschen  Sphinx  zu  losen  und  den  Unsinn  zu 
rectificirea,  den  Champagny  nicht  geschrieben  haben  kann, 
seine  Zeit  zu  vergeuden,  kann  man  niemandem  im  Ernst  zu- 
muthen.  Ich  greife  aufs  Gerathewohl  einige  Seiten  heraus,  um 
mein  Urtheil  mit  Beispielen  zu  bekraftigen;  einige  Seiten,  denn 
alle  Uebersetzungsfehler ,  die  man  auch  ohne  Beihilfe  des  Ori- 
ginals erkennen  kann,  zu  controliren,  dazu  fehlt  uns  theils  der 
Raom,  theils  Zeit  und  Lust,  es  ist  fast  keine  Seite  in  dem  ganzen 
Buche,  die  nicht  welche  enthielte. 

I,  229 :  Lassen  wir  den  Neopaganismus  des  Einen,  den  Stoicis- 
DML8 des Andern,  dieRhetorik  des  Dritten  bei Seite;  ....  was  bleibt 
dann?  Die  gemeinsame  Idee  von  dem  einen,  hochsten,  handelnden, 
per8onlichen  Gotte;  die  gemeinsame,  mehr  oder  weniger  auf- 
gegebene  Ueberzeugung  von  der  Nichtigkeit  der 
Fabeln  und  der  Nichtigkeit  der  Idole.  1,238:  War 
ias  ChristenthtuQi  den  Gelehrten  jener  Zeit  bekannt  ?  Sehr  wahr- 
scheinlich  kannten  es  alle,  wenigstens  einige.  I,  240: 
Unter  Vespasianus   sehen   wir,    wahrend    das    Christenthum 

13* 

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196         Dohler,  Dr.  Eduard,  Die  Antonine.  69—180  nach  ChristL 

ungestor  t  e  r  predigt  ....,  sehenwir  den  Neo-Cynismus  her- 
vortreten,  ....  den  kiihnen  Prediger,  der  ....  die  Strenge 
ausiibt,  vor  der  Todesstrafe  nicht  zuruckschreckend. 
240:  Diese  Arbeit,  die  Plutarchos  das  Heidenthum  unter- 
nehmen  Hess  .  .  .  .,  glich  sie  nicht  unter  bestimmten  Ver- 
haltnissen  der  Arbeit,  die  die  Christen  auf  das  Juden- 
thum  ausiibten?  240:  Beriihrte  die  Philosophie  nicht  auch 
das  Christen thum  in  dem  Punkte,  dass,  indem  sie,  von  nun 
an  die  rein  speculativen  Discussionen  vermeidend,  s  i  c  h  ganz  und 
gar  mit  der  Moral  beschaftigte  ?  240:  Die  Philosophie  wagte 
sich  auf  den  offentlichen  Platz  heraus.  241:  Schien  nicht,  als 
ob  die  ganze  Welt  von  einem  schlecht  oder  wol  verstan- 
denen  Apostelamte  beseelt,  von  einem  Missionseifer  ergriffen 
zu  sein?  241:  Sie  (die  Philosophie)  wandte  sich  an  die 
Klugen  und  nicht  an  die  Menschen,  an  eine  Schule  und  nicht 
an  die  Welt.  243:  Ohne  Zweifei  fiihrte  der  Christ  durch 
seinen gesunden Sinn  .  ..  .leicht  zu  einemNichtszuriick, 
was  in  den  Orakeln  das  Werk  menschlicher  Betriigerei  war. 
244:  Plutarchos  seibst  (sogar),  der  in  seinem  Heidenthum  so 
ganz  versunken  ist,  hat  geschienen  es  zu  verdienen, 
dass  man  etc.  245:  .  .  .  Worte,  die  Dante  in  den  Mund 
des  zum  Vergilius  redenden  Statius  legt.  II,  264 
.  .  .  iibertreffen  alles,  was  man  Greuel  kennt.  II,  157:  Der 
Fortschritt  ist  nur,  wenn  ich  ohne  Hindernis  frei  sein 
kann.  BE,  160:  ....  so  schrieen  die  Steuerpflichtigen ,  die 
vielleicht  das  Doppelte  von  dem,  was  der  Kaiser 
empfing,  flirchterlich.  II,  163:  .  .  .  in  funfzehn  Jahrhunderten 
von  jetzt  etc.  II,  257:  ein  Fischer  bezeichnete  die  Taufe 
(statt  Fisch). 

Der  Inhalt  des  Werkes  ist  folgender.  Der  1.  Band  behan- 
delt  die  Regierungen  des  Nerva  und  des  Trajanus.  Die  Ein- 
leitung  enthalt  Betrachtungen  iiber  die  Zeit  der  Flavier  und 
sucht  nachzuweisen ,  in  welcher  Weise  Rom  unter  diesem  Herr- 
schergeschlechte  in  geistiger  und  sittlicher  Beziehung  Fortschritte 
gegeniiber  der  Period e  eines  Tiberius  und  eines  Claudius  gemacht 
habe,  und  findet  als  Grund  fur  dieselben  das  Christenthum.    Im 

1.  Buche  werden  sodann  besprochen  Capitel  1  die  Regierung  des 
Nerva,  2  des  Trajanus  in  Rom,  3  und  4  die  Regierung  desselben 
in  Italien  und  in  den  Provinzen,  5  der  dacische  Krieg,  6  die 
Kunste  und  Wissenschaften,  7  die  Verfolgung  der  Christen,  8  der 
letzte  Krieg  des  Trajanus.  Das  9.  Capitel,  iiberschrieben  Schluss 
der  Epoche  des  Trajanus,  beschaftigt  sich  in  §  1  mit  der  pytha- 
goraischen  Schule  und  ihrem  Hauptvertreter  Plutarchos,  in  §  2 
mit  der  stoischen  und  Epiktetos,  in  §  3  mit  der  Erneuerung  der 
Ideen  und^Dio  Chrysostomos ,  in  §  4  endlich  mit  dem  Einflusse 
des   Christenthums.     Im  2.  Bande   enthalten   das  1.  Capitel  des 

2.  Buches  die  ersten  Jahre  der  Regierung  des  Hadrianus  (117 — 120), 
das  2.  die  Reisen  des  Hadrianus  (120—130),  das  3.  den  Aufent- 
halt  desselben  in  Aegypten  und  Syrien,  das  4.  die  letzten  Jahre 

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Dohler,  Dr.  Eduard,  Dio  Antonino.  69—180  nach  Christi.         197 

seiner  Regierung  (135 — 138),  das  5.  das  Ende  dieser  Herrschaft 
und  die  Milderung  der  Sklaverei  und  zwar  in  §  1  die  Sklaverei 
des  Alterthums  iiberhaupt  (wobei  Champagny  ganz  dem  „ge- 
lehrten  Christen"  Wallon  folgt),  in  §  2  die  Sklaverei  zur  Zeit 
der  Antonine,  in  §  3  der  Einfluss  des  Christenthums  auf  die 
Sklaverei.  Antoninus  Pius  ist  die  Ueberschrift  des  3.  Buches, 
dag  in  4  Capiteln  den  Hohepunkt  des  romischen  Reiches  und 
seine  Macht,  die  Freiheiten  desselben,  die  Ideen  und  die  Gesetze 
und  Sitten  bespricht.  Im  4.  Buche  endlicb,  betitelt  die  Kirche, 
werden  in  9  Capiteln  abgehandelt  die  Einheit  der  Kirche ,  die 
Wiedergeburt ,  die  Kampfe,  die  Freiheit,  die  Hoflhungen,  die 
judische  Haresie,  die  gnostischen  Haresien,  dio  Kirche  und  die 
Philosophic,  die  Kirche  und  ihre  Macht. 

Wenn  ich  mich  darauf  beschranke,  das  Inhaltsverzeichniss  des 
Werkes  zu  geben,  so  geschieht  dies  nicht  grundlos.  Ich  sehe  nam- 
lich  nicht,  dass  die  Auffassung  Champagnys  von  dieser  nicht  unwich- 
tigen  Epoche  der  romischen  Kaisergeschichte  eine  wesentlich 
neue  ist,  auch  nicht,  dass  wir  ihm  eine  hervorragende  Darstellung 
derselben  zu  verdanken  haben,  am  allerwenigsten  aber,  dass  er  unsre 
dentschen  Werke,  welche  denselben  Gegenstand  behandeln,  iiber- 
troffen  oder  antiquirt  hat.  Die  betreffenden  Specialgeschichten 
von  Franko,  Gregorovius  und  die  aus  der  Biidingerschen 
Schule  hervorgegangenen  Untersuchungen ,  die  bekanntlich  auf 
tiichtigen  kritischen  Studien  basiren,  werden  stets  einen  unbe- 
strittenen  Werth  behalten,  urn  von  andern  Arbeiten  ganz  zu 
schweigen;  eine  mehr  populare  sehr  gute  Gesammtdarstellung  be- 
sitzen  wir  in  dem  dreibandigen  Werke  des  kiirzlich  verstorbenen 
trefilicheu  Forbiger,  und  schliesslich  ist  Champagnys  Buch,  so- 
weit  es  die  kirchliche  Geschichte  behandelt,  kaum  zu  vergleichen 
mit  unsern  grossern  protestantischen  und  katholischen  Kirchen- 
geschichten  (in  Bezug  auf  letztere  denke  ich  besonders  an 
Mohler  und  Dollinger),  Frankreich  selbst  hat  tiber  dieselbe  Ma- 
terie  ein  viel  tiichtigeres  Werk  in  der  Geschichte  der  ersten 
Jahrhunderte  der  christlichen  Kirche  von  Pressense,  iibersetzt 
von  Fabarius.  Man  sucht  deshalb  vergeblich  nach  einem  Grunde, 
der  erklaren  mochte,  warum  die  Antonine  in  unsre  Sprache  iiber- 
tragen  wurden.  Etwa  weil  die  franzosische  Akademie  das  Buch  mit 
einem  Preise  gekront  hat  ?  Wenn  Frankreich  bisher  noch  keine 
guten  Werke  iiber  die  Antonine  besessen  hat  —  ich  gestelje  hier 
gern  meino  Unkenntniss  der  betreflfenden  franzosischen  Literatur 
ein  — ,  so  mag  man  ihrem  Urtheile  gegeniiber  nicht  allzu  rigoros 
sein,  in  jedem  Falle  aber  konnen  wir  aus  diesem  Buche  eines 
Franzosen  nichts  Neues  lernen,  so  bereitwillig  wir  Deutschen  ja 
sonst  sind,  fremdes  Verdienst  neidlos  anzuerkennen,  und  ich  bin 
nicht  im  mindesten  im  Zweifel,  dass,  wenn  wir  in  Deutschland 
ein  der  Akademie  ahnliches  Institut  hatten,  dasselbe  dem  Grafen 
Champagny  nicht  den  Lorbeer  ertheilt  haben  wiirde. 

Die  franzosische  Historiographie  hat  zu  manchen  Zeiten 
mehr  oder  weniger  der  Phantasie  freien  Spielraum  gelassen  und 

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198         Dohler,  Dr.  Eduard,  Die  Antonine.  69-480  nack  Christ! 

dami  Gebaude  construirt,  die  in  Wirklichkeit  nie  vorhanden 
gewesen  sind,  oder  sie  hat  andrerseits  —  und  einer  der  geist- 
reichsten  Manner  des  »neueren  Frankreichs  Prosper  Merimee 
spricht  geradezu  seine  Vorliebe  dafiir  aus:  je  naime  de  Thistoire 
que  les  anecdotes  —  dem  Anekdotenkram  gehuldigt,  einer 
Schwache  des  Nationalcharakters  nachgebend.  Wenn  nun  auch  eine 
neuere  Schule,  die  besonders  durch  den  treff lichen  Monnier  ver- 
treten  wird,  mit  dieser  Art  und  Weise  der  Geschichtsschreibung 
griindlich  aufraumt  und  sich  mehr  und  mehr  den  gesunden 
Principien  besonders  der  neuern  deutschen  Geschichtsforschuiig 
zuwendet,  so  gehort  Champagny  nicht  unter  diese  Manner  (man 
beachte  z.  B.  bei  der  geringen  Kenntniss  der  wenigen  Quellen, 
die  wir  iiber  Hadrianus  besitzen,  die  phantasievolle  Schilderung 
desselben  bei  Champagny),  am  allerwenigsten  in  dem  Sinne,  dass 
das  oberste  Ziel  der  Geschichtsschreibung  strenge  Kritik  der 
Quellen  und  Objektivitat  der  Darstellung  sein  musse,  dass  der 
Historiker  nicht  von  der  Zinne  der  Partei  herab  sprechen  diirfe. 
Champagny  ist  durch  und  durch  Parteischriftsteller,  in  ihm  tritt 
uns  der  Ultramontanismus  in  seiner  ganzen  Nacktheit  entgegen. 
Alle  Fortschritte,  welche  Rom  im  Zeitalter  der  Antonine  erlebte, 
sind  nach  ihm  unter  dem  Einflusse  des  Christenthums  entstanden, 
die  milde  Regierung  des  Trajanus  ist  geradezu  ein  Ausfluss  der 
christlichen  Ideen,  das  Christenthum  hat  den  antlken  Staat 
wieder  au%efrischt.  Das  klingt  freilich  alles  recht  hubsch  und 
fur  einen  „ Christen"  im  Sinne  Champagnys  recht  erfreulich, 
wenn  nur  nicht  das  Antoninische  Zeitalter  seine  Humanitat  den 
Lehren  der  heidnischen  Philosophenschulen ,  besonders  denen 
der  Stoa ,  zu  verdanken  hatte ,  die  neuerdings  Bruno  Bauer  in 
seinem  jiingsten  Werke:  Christus  und  die  Casaren,  Berlin  1877, 
(mag  man  auch  seiner  Beweisfuhrung  nicht  beistimmen  konnen, 
glanzend  und  packend  sind  seine  Ausfiihrungen  immerhin  ge- 
schrieben)  geradezu  als  Quelle  des  Christenthums  ansieht.  Wahrend 
Bauer  die  Ausbreitung  des  Glaubens  an  einen  Gott  mit  dem 
Zuge  der  ganzen  Zeit  in  Zusammenhang  bringt,  der  auf  Con- 
centration des  Staates  wie  des  Glaubens  in  einem  Haupte  hin- 
drangte,  steht  selbstverstandlich  Champagny  auf  dem  Standpunkte 
des  verknochertsten  Autoritatsglaubens.  Champagny  glaubt  ferner, 
dass  PetniB  in  der  That  der  erste  Bischof  von  Rom  und  Rom 
von  ^lfang  an  die  Hauptkirche  des  gesamten  Christenthums  ge- 
wesen sei,  I,  219  u.  II,  218,  cf.  dagegen:  Euseb.  hist  eccL  3, 
2.  4.  und  Rufini  praef.  ad  recognit.  Clem. ;  er  stellt  die  Tradition 
im  Sinne  des  Tertullianus  und  des  Irenaus  der  h.  Schrift  gleich 
II,  210 — 212 ;  der  Katholicismus  ist  ihm  die  alleinseligmachende 
Kirche  II,  209 ;  das  ganze  Gebaude  der  Hierarchie  soil  sich  gleich- 
zeitig  mit  der  Entstehung  des  Christenthums  gebildet  haben  und 
PauluB  soil  ihr  Stifter  sein  („der  Bischof  stellt  Jesus  Christus 
darM)  II,  204;  die  Dogmen  sind  durch  directe  Inspiration  des 
h.  Geistes  entstanden  U,  219 ;  „den  ersten  christlichen  Nationen  (?) 
waren    ganz    besonders   ubernatiirliche   Gaben    verliehen,   ihre 

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Dohler,  Dr,  Eduard,  Die  Antonine.  69—180  nach  Cliristi.         199 

Existenz  nicht  weniger  als  die  des  Christenthums  war  eiu 
Wonder"  II,  334;  der  Unterschied  zwischen  paulinischem  und 
petrinischem  Christenthum  hat  nie  existirt  II,  222 ;  Sibyll.  VII,  357: 
stztgl  yaQ  aicovwv  (Aezavolag  ijpav  edwnev 
avd(>doi  7tka£ofievoig  diet  %uqu)v  itaq&svov  ayvrjg. 
soil  das  erste  Zeugniss  fiir  den  Glauben  an  die  Intercession  der 
Maria  sein,  II,  357;  die  Verringerung  der  Suprematie  des  Fa- 
milienvaters,  des  Herrn  iiber  den  Sklaven,  der  freien  Classe  iiber 
die  dienende,  der  gotzendienerischen  Culte  (Hadrian  schaffte  die 
Menschenopfer  ab),  die  grossartigen  Wohlthatigkeitsspenden  des 
Trajanus,  alle  diese  Fortschritte  verdankt  Rom  dem  Christen- 
thum, II,  40—45.  I,  67 — 75.  Dies  eine  kleine  Aehrenlese  aus 
ultramontaner  Wissenschaft!  Man  miisste  ein  Buch  schreiben, 
wenn  man  das  schon  so  oft  von  unsern  Historikern  Widerlegte 
von  neuem  widerlegen  wollte;  niitzen  wiirde  es  freilich  nichts. 
Es  sind  die  alten  Pratentionen  und  Fictionen  des  starrsten  Ka- 
tholicismu8,  die  Champagny  von  neuem  aufwarmt,  und  pikant 
werden  sie  noch  gemacht  durch  Seitenhiebe,  die  der  ultramon- 
tane Graf  dem  modernen  Staate  versetzt,  z.  B.  durch  die  Lob- 
preisung  der  Nichtintervention  des  Staats  bei  der  Kindererziehung, 
der  Freiheit  des  Worts  und,  wenn  man  so  sagen  darf,  der  Presse 
in  Rom  etc.  Was  soil  man  schliesslich  von  einem  Gelehrten 
halten,  der  noch  nach  Jahren  von  Erschaffung  der  Welt  an 
rechnet,  I,  9;  der  aus  religiosen  Griinden  allein  „im  Jahre 
1520  (!)  den  Protestautismus  zu  Schmalkalden  unter  .WaflFen 
stehenu  lasst  II,  332;  der  die  Synagoge  eine  Nation  nennt,  II,  76; 
der  nach  Zahns  Werke  die  Briefe  des  Ignatius  im  Ernste  noch 
fur  acht  halt  I,  147 ;  der  Hadrian  als  den  Erfinder  der  Diplo- 
matic ansieht  (die  Griinde  dafiir  sind  wahrhaft  klassisch)  H, 
12.  13;  der  die  Regierung  Hadrians  fiir  die  Verwirklichung  der 
Phantasie  von  Tausend  und  eine  Nacht  halt  H,  6  etc.?  Aus 
letzterem  Ausdrucke  ersieht  man  ausserdem  auch  schon  zur 
Geniige,  dass  Champagny  seiner  Phantasie  mitunter  sehr  die 
Ziigel  schiessen  lasst.  Wer  davon  noch  mehr  haben  will,  der 
lese  z.  B.  die  Schilderung  der  Agapen  und  des  christlichen  Hand- 
werks  II,  136 — 138  oder  die  der  Riickkehr  des  Johannes  aus 
Pathmos  nach  Ephesus  I,  129.  Fiir  eine  Anzahl  von  Druck- 
fehlern  machen  wir  den  Verfasser  nicht  verantwortlich. 
Plauen  im  Vogtlande. 

Dr.  William  Fischer. 


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200  Monumenta  Germaniae  historica. 

XXXXVI. 
Monumenta  Germaniae  historica  inde  ab  anno  Ghristi  quingen- 
tesimo  usque  ad  annum  millesimum  et  quingentesimum.  Edidit 
societas  aperiendis  Fontibus  rorum  germanicarum  medii  aevi. 
Auctorum  antiquissimorum  Tomi  I  pars  prior: 
Salviani  Presbyteri  Massilicnsis  libri  qui  super- 
sunt.  Recensuit  Carol  us  Halm.  gr.  4.  (VII,  176  S.) 
Berlin  1877,  Weidmann'sche  Buchh.  5  M. 
Dasselbe.  TomilparsposterionEugippiiVitaSancti 
Severini.  Recensuit  et  adnotavit  Hermannus  Sauppe. 
gr.  4.  (XX,  36  S.)  Berlin  1877,  Weidmann'sche  Buchh.  1,60  M. 
Der  vorliegende  Band,  dessen  zwei  Abtheilungen  gesondert 
aber  gleichzeitig  erschienen  sind,  bildet  den  Anfang  der  neuen 
Abtheilung:  Auctores  antiquissimi,  deren  Herausgabe  jetzt  unter 
Leitung  Th.  Mommsen's  von  einer  grosseren  Zahl  von  Gelehrten 
in  Angriff  genommen  ist.  Auch  fur  diese  Abtheilung  wie  fur  die 
deutschen  Chroniken  ist  das  bequeme  Quartformat  gewahlt 
worden,  als  eine  weitere  Neuerung  begriissen  wir,  dass  hier  die 
einzelnen  Werke  in  gesonderten  Heften  ausgegeben  werden.  Dass 
die  Vorreden  wieder  in  lateinischer  Sprache  abgefasst  sind, 
kann  bei  der  Natur  dieser  Quellen  nicht  befremden,  von  der 
Beigabe  von  Anmerkungen  scheint  hier  ganzlich  Abstand  ge- 
nommen zu  sein,  wenigstens  enthalten  die  beiden  vorliegeuden 
Theile  solche  nicht,  dagegen  sind  dieselben  hinten  sowohl  mit 
einem  Nameu-  und  Sachregister  als  auch  mit  einem  Glossar 
ausgestattet.  Die  Herausgabe  dieser  beiden  Theile  haben  zwei 
der  namhaftesten  Philologen,  C.  Halm  und  H.  Sauppe,  iiber- 
nommen.  Der  erstere  bietet  uns  in  dem  ersten  Theile  die 
Schriften  des  Salvianus :  8  Biicher  de  gubernatione  dei,  9  Briefe 
und  die  unter  dem  Pseudonym  Timotheus  herausgegebene  Schrift 
ad  ecclesiam,  gewohnlich  ad  versus  avaritiam  genannt.  Der  Ver- 
fasser,  aus  dem  nordlichen  Gallien  gebxirtig,  urspriinglich  dem 
weltlichen  Stande  angehorig,  lebte  spater  als  Presbyter  zu 
Massilia  und  stand  im  Verkehr  mit  den  angesehensten  Hauptern 
der  Kirche,  er  ist  Ende  des  5.  Jahrhunderts  gestorben.  Seine 
theologischen,  moralisirenden  Schriften  sind  auch  als  Geschichts- 
quellen  desshalb  von  Wichtigkeit,  weil  er  in  ihnen  Schilderungen 
der  Sitten  seiner  Zeit  und  zwar  sowohl  der  entarteten  romischen 
Bevolkerung  Galliens  und  der  benachbarten  Provinzen,  als  auch 
der  in  dieselben  eingedrungenen  deutschen  Stamme,  namentlich 
der  Gothen  und  der  Vandalen,  giebt.  Die  Handschriften,  welche 
fiir  diese  Ausgabe  benutzt  worden,  sind  dieselben,  welche  einzeln 
auch  schon  den  friiheren  Herausgebern  vorgelegen  haben,  dem 
Text  der  Schrift  de  gubernatione  dei  liegt  ein  Pariser  Codex 
aus  dem  10.,  de  ecclesia  auch  ein  Pariser  Codex  aus  dem 
11.  Jahrhundert  zu  Grunde.  Leider  ist  der  Herausgeber  von 
der  altbewahrten  Sitte  der  Monumenta  abgewichen,  in  den  Vor- 
reden don  Leser  iiber  die  Lebensverhaltnisse  des  Verfassers  des 
herauszugebenden  Werkes,    sowie   iiber   Character   und   Werth 


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Marii  episcopi  Aventicensis  chronicon.  201 

dieses  selbst  zu  unterrichten ,  seine  Praefatio  erinnert  an  die 
traurigen  Vorreden  der  bonner  Ausgabe  der  Byzantiner,  wolche 
aoch  nur  iiber  Codices  einige  Worte  zu  finden  wissen. 

Zum  Gliick  scheint  diese  Methode  nicht  allgemein  und  grund- 
gatzlich  fiir  diese  Abtheilung  der  Monumenta  aufgestellt  zu  sein, 
wenigstens  eroflhet  HL  Sauppe  in  dem  zweitea  Hefte  seine  Aus- 
gabe der  Lebensbeschreibung  des  heiligen  Severinus  von  Eu- 
gippius  mit  einer  langeren  Vorrede,  welche  nach  verschiedenen 
Seiten  hin  erwiinschte  Auskunft  ertheilt.  Er  schildert  zunachst 
kurz  die  Zustande  der  ebemaligen  romischen  Provinz  Noricum 
in  der  zweiten  Halfte  des  5.  Jahrhunderts ,  in  der  Zeit,  wo 
Severinus  dort  wirkte,  und  die  Thatigkeit  dieses  Heiligen,  er 
stellt  dann  die  Nachrichten  zusammen,  welche  wir  iiber  den 
VerfaBser  der  Lebensbeschreibung,  Eugippius,  einen  Sch tiler  des 
Severinus  und  Abt  des  Klosters  bei  Neapel,  nach  welchem  die 
Gebeine  des  Heiligen  gebracht  worden  waren,  besitzen,  er  zahlt 
dann  einige  spateren  Autoren  auf,  welche  diese  Vita  benutzt 
haben,  und  er  lasst  endlich  eine  langero  Besprechung  der  zahl- 
reichen  Handschriften  derselben  folgen.  Nach  dem  Vorgange 
Bethmann's,  welcher  urspriinglich  die  Herausgabe  der  Vita  iiber- 
nommen  und  umfangreiche  handschriftliche  Studien  fur  dieselbo 
gemacht  hatte,  erkliirt  auch  er  die  italienischen  Handschriften, 
iiisbesondere  die  alteste  derselben ,  eine  lateranensische  aus  dem 
10.  Jahrhundert,  fiir  weit  besser  als  die  in  den  siiddeutschen 
Klostern  erhaltenen,  er  weist  ferner  eingehend  nach,  dass  die 
miinchener  Handschriftten,  welche  Friedrich  fur  dio  besten,  den 
urspriinglichen  Text  reprasentirenden ,  erklart  hatte,  durchaus 
nicht  dieses  Lob  verdienen  und  ebenfalls  weit  hinter  den  ita- 
lienischen Handschriften  zuruckstehen.  Er  selbst  hat  alle  jene 
schlechten  Handschriften  unberiicksichtigt  gelassen,  da,  wie  er 
8ehr  richtig  bemerkt,  durch  Hinzufugung  aller  ihrer  Varianten 
iror  die  Uebersichtlichkeit  erschwert  worden  ware,  und  ausser 
jener  lateranensischen  nur  noch  eine  vaticanische,  eine  mailander, 
und  ein  Fragment  einer  alten  miinchener  Handschrift  herange- 
zogen.  Der  von  ihm  hergestellte  Text  weicht  gerade  von  dem 
der  letzten  friiheren  Ausgaben,  sowohl  der  Friedrich's ,  welcher 
jeae  miinchener  Handschriften  wiedergiebt,  als  auch  der  von 
Kerschbaumer,  welcher  allerdings  auch  den  Lateranensis ,  aber 
sehr  uncorrect,  benutzt  hat,  wesentlich  ab.  Der  Vita  voran- 
gestellt  ist  ein  schon  fruher  von  Ozanam  herausgegebener  Hym- 
nu8  auf  den  Heiligen,  welcher  fast  ganz  auf  dieser  Vita  beruht. 
Berlin.  F.  Hirsch. 


XXXXVH. 

Marii   episcopi    Aventicensis  chronicon    edidit  Wilhelmus 

Arndt.    8°.   (16  S.)  Lipsiae  1878,  apud  Veit  et  socium.   1  M. 

Die  Chronik  des  Bischofs  Marius  von  Avenchos  (t  601),  diirf- 

tige,  aber  bei  der  Sparlichkeit    der  Quellen   fur  jene  Zeit  doch 

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202  Soltau,  W.,  Der  Verfasser  der  Chronik  des  Matthias  von  Neaenburg. 

interessante,  an  die  Consularfasten  angeknupfte  Notizen  iiber  die 
Zeit  yon  455  bis  581,  ist  von  Herrn  W.  Arndt  schon  einmal  vor 
einigen  Jahren  in  seiner  leipziger  Habilitationsschrift  neu  heraus- 
gegeben  worden.  Er  hatte  fur  diese  Ausgabe  eine  ihm  von 
Pertz  mitgetheilte  Collation  der  einzig  erhaltenen,  jetzt  ini  britti- 
schen  Museum  befindlichen  Handschrift  benutzen  konnen.  Fur 
den  Gebrauch  in  dem  leipziger  historischen  Seminar  hat  er  jetzt 
diese  Ausgabe  noch  einmal  wiederholt,  dieser  neue  Abdruck  ent- 
halt  einige  Yerbesserungen  und  es  sind  demselben  auch  Testi- 
monia  iiber  die  Lebensverhaltnisse  des  Verfossers  beigefiigt 
worden.  Die  wichtigsten  stammen  aus  dem  Cartularium  Lauso- 
nense.  Was  die  in  Nummer  1  abgedruckten  Notizen  der  Annaieg 
Flaviniacenses  iiber  einige  frankische  Konige  und  einige  ahnliche 
in  Nummer  2  aus  den  Ann.  Latisonenses  in  diesem  Zusammen- 
hange  bedeuten  sollen,  vermogen  wir  nicht  zu  erkennen. 
Berlin.  F.  Hirsch. 


XXXXVIII. 

Soltau,  Wilhelm,  Der  Verfasser    der  Chronik  des  Matthias 
von    Neuenburg.      Programm    des    Gymnasiums    zu    Zabern. 

1877. 
Nach  den  Untersuchungen  von  Studer  und  Huber  in  den 
Ausgaben  der  Chronik  des  Matthias  von  Neuenburg,  eines  bi- 
schoflichen  Beamten  des  Strassburger  Bischofs  Berthold  von 
Bucheck,  sowie  nach  den  Forschungen  Hegels  gait  bislang 
Matthias  als  der  eigentliche  Verfasser,  nachdem  man  die  Autor- 
schaft  des  Albert  von  Strassburg,  unter  welchem  Namen  bereits 
Cuspinian  die  Chronik  Basel  1553  herausgegeben  hatte ,  ver- 
worfen  und  jenen  als  Abschreiber  einer  Handschrift  bezeichnet 
hatte.  Damit  waren  aber  innere  Widerspriiche ,  ein  volliger 
Gegensatz  in  den  politischen  Anschauungen,  welche  der  Chronist 
Matthias  als  warmer  Verehrer  Kaiser  Ludwigs  zeigte,  die  aber 
dem  Beamten  des  Bischofs  von  Strassburg,  eines  Anhangers 
Karl  IV.,  unmoglich  angehoren  konnten,  nicht  aus  der  Welt 
geschafft.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  hatte  bereits  im  Jabre 
1866  R.  Hanncke  in  einer  Konigsberger  Dissertation  den  Matthias 
von  Neuenburg  als  Verfasser  der  Chronik  verworfen;  in  Ueber- 
einstimmung  mit  diesem  negativen  Resultat  unternimmt  es  jetzt 
Wilhelm  Soltau,  die  Frage  nach  dem  wahren  Verfasser  der 
Chronik  durch  eine  eingehende  Kritik  derselben  zu  beantworten. 
In  das  Detail  der  Untersuchung  einzugehen,  ist  hier  nicht  der 
Ort:  wir  heben  aus  der  scharfsinnigen  und  fleissigen  Arbeit 
Soltaus  nur  diejenigen  Punkte  hervor,  welche  nach  unserer  An- 
sicht  als  sichore  Ergebnisse  seiner  Forschung  mitgetheilt  werden 
konnen : 

1)  Matthias   von    Neuenburg   ist   nicht    der    Verfasser  der 
Hauptchronik,  sondern  nur  der  Compilator. 

2)  Matthias  ist  nur  der  Ueberarbeiter  einer  bis  1350  reichenden 


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Soltao,  W.,  Der  Verfasser  dor  Chronik  des  Matthias  von  Neuenburg.  203 

alteren  Chronik,  welche  er  durch  Abschnitte  der  von  ihm  ver- 
fassten  Biographic  seines  Bischofs  Bertholds  von  Bucheck  und 
andere  kleinere  Zusatze  erweitert. 

3)  Dieser  Compilation  fiigte  Matthias  werthvolle  Nachrichten 
bis  mm  Jahre  1355  an. 

4)  Die  altere  von  Matthias  benutzte  Chronik  ist  urn  1350 
ton  einem  Manne  abgeschlossen,  der  wiederholt  als  kaiserlicher 
Gesandter  in  Avignon  wahrend  der  Jahre  1334  und  1344 
thatig  war. 

5)  Die  Analyse  der  Quellen  dieser  alteren  Chronik  ergab 
die  Benntzung  von  Heinrich  von  Klingenbergs  Chronik  de  prin- 
cipibu8  habsburgensibus  nnd  alter  Baseler  Aufzeichnungen. 

Unerwahnt  haben  wir  gelassen,  was  der  Verfasser  nur  ver- 
muthungsweise  geaussert  hat  oder  nicht  begriindet  zu  sein  schien. 
Daniber  mogen  einige  Bemerkungen  gestattet  sein.  Soltau  ver- 
nrathet  als  Verfasser  der  alteren  Chronik,  die  bis  1350  reichte, 
einen  Secretar  des  Bamberger  Propstes  Marquard  von  Randeck, 
als  Verf.  der  Baseler  Aufzeichnungen  den  Bitter  Heinrich 
Schorlin;  die  erste  Hypothese  hat  einige  Wahrscheinlichkeit  fur 
rich,  die  zweite  Vermuthung  scheint  mir  weniger  annehmbar  zu 
sein,  wenn  man  das  Benehmen  Schorlins  in  seinem  Quartier  zu 
Niirnberg  —  Studer  S.  20  —  erwagt,  da  ihm  nicht  sonderlich  daran 
gelegen  sein  musste,  zu  erzahlen,  wie  er  zu  seiner  Frau  kam. 
Sehr  gut  weist  der  Verf.  auf  die  Verschiedenheit  der  Quellen  je 
nach  dem  Standpunkte  der  Berichterstatter  hin;  der  Unterschied 
in  der  Darstellung  bei  Cap.  33  und  34  ist  nicht  zu  laugnen, 
doch  ware  es  immerhin  moglich,  dass  der  Schreiber  des  letzten 
Capitels  auch  das  erstere  schrieb  unter  Zugrundelegung  eines 
Berichtes  iiber  die  Schlacht  bei  Gollheim;  bei  Cap.  34  weisen 
einige  Anzeichen  auf  die  Benntzung  einer  Martinschen  Chronik 
oder  des  Bernardus  Guidonis  hin.  Unentschieden  liess  der  Verf. 
S.  14,  ob  auch  Cap.  33  der  Baseler  Chronik  zuzuschreiben  sei; 
es  wiirde  das  von  Wichtigkeit  gewesen  sein  fur  das  Alter  und 
die  Herkunft  der  durch  die  Chronik  des  Matthias  iiberlieferten 
Memorialver8e  iiber  den  Tod  Adolfs  von  Nassau,  welche  in  dieser 
Fassiing  zuerst  bei  jenem  auftreten.  (Vergl.  Oesterley  in  den 
Forschungen  z.  deutschen  Gesch.  B.  XVIII.  S.  27  Nr.  66.) 

Auf  die  sogenannten  Continuationen  der  Chronik  hat  der 
Verf.  sich  nicht  weiter  eingelassen ;  es  ware  ihm  sonst  wohl  nicht 
entgangen,  dass  Matthias  fur  die  Erzahlung  der  Kampfe,  welche 
in  den  Jahren  1350  bis  1356  zwischen  den  verbiindeten  Schwei- 
zem  und  Herzog  Albrecht  von  Oesterreich  stattfanden,  dieselben 
Schlachtberichte  wie  der  Constanzer  Domherr  Heinrich  von 
Diessenhoven  benutzte.  Wir  wollen  diese  Zeilen  nicht  schliessen, 
ohne  Soltau  gegen  einen  von  R.  Hanncke  gelegentlich  einer  Be- 
sprechung  seiner  Arbeit  in  der  Hist.  Zeitschrift  Neue  Folge 
B.  HI.  S.  323  dariiber  erhobenen  Vorwurf  zu  rechtfertigen,  dass 
ihni  die  Kenntniss  der  Chronik  des  Jacob  von  Mainz  entgangen 
sei    Wenn   es  auch   erwiesen  ist,   dass  der  Compilator  dieser 


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204  Bezold,  Frz.  v.,  Konig  Sigmund  und  die  Reichskriege  gegen  die  Hraiten. 

unter  dem  Namen  des  Jacob  von  Mainz  bekannt  gewordenon 
Chronik  den  Cod.  A.  des  Matthias  eifrig  excerpirte,  was  in  aller 
Welt  hatte  diese  Thatsache  fur  die  Ziele  der  Soltauschon  Unter- 
suchungen  zu  bedouten  ?  Was  die  zuletzt  hingeworfene  Bemerkung 
Hannckes  betrifft,  dass  „alle  drei  Namen  Alb.  Argentinensis,  M. 
von  Neuenburg  und  Jacob  von  Mainz  nur  die  Namen  von  Com- 
pilatoren  sind"  und  der  eigentliche  Chronist  uns  unbekannt  ge- 
blieben*  sein  sollte,  so  ist  nach  Soltaus  Forschungon  bei  dem 
ersten  der  drei  diese  Annahme  nicht  unmoglich,  bei  Matthias 
von  Neuenburg  nur  in  gewissem  Sinne  richtig  und  bei  Jacob 
von  Mainz  eine  offene  Frage.  So  glaube  ich  denn,  dass  die 
Ueberschrift  der  Berner  Handschrift:  Incipit  Cronica  composita 
sive  facta  per  Magistrum  Matthiam  de  Niiwenburg  .  .  .  (Soltau 
S.  22)  nicht  etwa  tautologisch  zu  fassen  ist,  sondern  dass  der 
Schreiber  vielmehr  ein  Gestandniss  ablegt,  nicht  zu  wissen,  ob 
Matthias  von  Neuenburg  nur  der  Compilator  oder  auch  selbst- 
standiger  Vcrfasser  der  Chronik  gewesen  sei. 
Bremen.  Dietrich  Konig. 


XXXXIX. 

Bezold,  Frz.  v.,  Konig  Sigmund  und  die  Reichskriege  gegen 
die  Huslten.  Dritte  Abtheilung.  Die  Jahre  1428— 1431.  gr.8. 
(176  S.)     Munchen  1877,  Th.  Ackermann.     3  M. 

Der  Verfasser  nimmt  seine  sorgfaltige,  auf  genauer  Durch- 
forschung  und  moglichster  Erweiterung  des  Quellenmaterials 
beruhende  Arbeit  in  dieser  Abtheilung  bei  dem  Februar  d.  J. 
1428  wieder  auf.  Nach  mehreren  Raubzugen,  vornehmlich  nach 
Schlesien,  dachte  selbst  Procop  auf  friedlichen  Ausgleich  und 
begab  sich  im  April  1429  nach  Pressburg  zu  einer  Zusammen- 
kunft  mit  K.  Sigmund.  Dieselbe  hatte  zur  Folge,  dass  der,  Prager 
Landtag  am  23.  Mai  iiber  ein  Abkommen  zu  verhandeln  begann, 
ein  Abschluss  wurde  nicht  erzielt,  vom  Konige  aber  weitere  Be- 
denkzeit  bewilligt.  Die  Feindseligkeiten  ruhten  nicht  ganz,  aucb 
rusteto  Sigmund ,  der  wegen  seines  Ausgleichsversuchs  in  iible 
Nachrede  kam,  zu  neuem  Krieg.  Zunachst  ohne  Aussicht.  Das 
Reich,  aufgelost  in  eine  Reihe  von  kleineren  und  grosseren  Han- 
deln,  unter  denen  die  Weinsberger  Fehde  eine  Hauptrolle  spielt, 
interessirte  sich  ausserst  wenig  fur  die  bohmische  Frage ;  was  die 
inneren  Angelegenheiten  anbetrifft,  namentlich  den  LandfricdeD, 
fehlt  es  dem  Konig  an  Consequent  aus  Mangel,  wie  man  sagen 
konnte,  einer  Regierungspartei :  mit  den  Stadten,  die  doch  allein 
nichts  thun  konnen  und  selten  etwas  thun  wollen,  liebaugelt 
Sigmund,  mit  den  Kurfursten  hat  er  eigentlich  gar  keine  Ver- 
bindung,  mit  dem  HohenzoUern  steht  er  noch  auf  gespanntem 
Fu8se ,  die  Fiirstentage ,  auf  denen  iiber  Hiilfe  und  Hussengeld 
verhandolt  werden  soil,  sind  schwach  bosucht;  einzelne  Fiirsten 
treffen  gegen  die  Husiten  die  Vorkehrungen,  die  sie  zum  Schutze 
ihrer  Territorien  fiir  nothwendig  halten.     Dabei  verbreitete  siob 


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Bexold,  Frz.  v.,  Konig  Sigmund  und  die  Reichskriege  gegen  die  Husiten.    205 

immer  mehr  das  Geriicht,  der  Konig  habe  zum  Nachtheil  des 
Reiches  mit  den  Ketzern  einen  Separatfrieden  abgeschlossen. 
Endlich  erlasst  Sigmund  am  18.  December  ein  Ausschreiben, 
durch  welches  ein  Reichstag  zum  19.  Marz  nach  Nurnberg  ein- 
berufen  wird :  es  sollte  ein  Zug  gegen  die  Ketzer  verabredet  und 
fiir  die  innere  Organisation  Deutschlands  gesorgt  werden. 

Inzwischen  war  von  husitischer  Seite  ein  entscheidender  Stoss 
gegen  Deutschland  vorbereitet  worden:  es  gait,  durch  gemein- 
same  Erfolge  nach  aussen  der  immer  zunehmenden  Zersetzung 
des  Husitismus  vorzubeugen.  Ein  Zug  der  beiden  Procope  in 
die  Lausitz,  zu  Ende  September  1429,  war  die  Einleitung  zu 
grosseren  Unternehmungen.  Der  Hauptstoss  richtete  sich  gegen 
Meissen,  und  die  Husiten  gelangten  nach  grasslichen  Verheerungen 
bis  in  die  Nahe  yon  Magdeburg  und  Leipzig,  obwohl  ein  ihnen 
iiberlegenes  deutsches  Heer,  von  den  Nachbarfiirsteu  rechtzeitig 
gesammelt,  kampfbereit  hinter  der  Mulde  stand.  Thiiringen  war 
bedroht,  die  Erfurter  besonders  glaubten  sich  in  grosser  Gefahr. 
Die  Bohmen  theilten  sich  in  fiinf  Heere,  wandten  sich  aber  siid- 
warts  und  warfen  sich,  Thiiringen  verschonend,  nach  der  Ein- 
nahme  von  Plauen  auf  die  frankischen  Lande  des  Brand  en- 
burgers.  Auf  eine  Invasion  war  man  hier  nioht  vorbereitet,  man 
hatte  sich  nur  angeschickt  den  Sachsen  zu  helfen.  Die  Gegen- 
massregeln  Niirnbergs  und  des  Brandenburgers  kamen  zu  spat: 
dem  andringenden  Feind  war  namentlich  die  Funftheilung  seiner 
Streitmachte  von  Nutzen :  „Die  Ausdehnung  ihrer  Marschkolonnen 
machte  jede  Ansammlung  von  Vertheidigungsmannschaften  un- 
moglich."  Das  Elend,  welches  dieser  Einfall  mitten  im  Winter 
herbeifiihrte ,  war  ausserordentlich :  dazu  die  Greuelthaten  der 
Husiten  —  Schreckensscenen  wie  im  dreissigjahrigen  Krieg.  Hof, 
Baireuth,  Kulmbach  fielen  in  die  Gewalt  des  Feindes:  Bamberg 
wurde  durch  den  Abschluss  des  Waffenstillstandes  vor  einem 
gleichen  Geschick  bewahrt:  —  die  entgegenstehende  Nachricht 
beruht  auf  einer  Verwechselung  husitischer  mit  einheimischen 
Excessen.  Der  Waffenstillstand  von  Zwernitz  (am  6.  Febr.),  den 
der  Markgraf  nach  vorgangiger  Besprechung  mit  seinen  Nachbarn 
einging,  sicherte  aber  nur  das  Land  und  Stift  Bamberg,  gegen 
Zahlung  von  12000  Gulden;  Wurzburg  war  nicht  sicher,  das 
ebeu  noch  sehr  zuversichtliche  Nurnberg  wurde  recht  klein- 
miithig  und  auch  wirklich  gefahrdet.  So  verstanden  sich  auch 
die  Niirnberger  zu  Beheimstein  zur  Zahlung  von  12000  Gulden 
—  eine  verhaltnissmassig  geringe  Summe,  selbst  wenn  man  einige 
Bestechungsgelder  hinzurechnet :  —  iibrigens  musste  auch  der 
Markgraf  9000  Gulden  zahlen,  obwohl  sein  Oberland  ganzlich 
ruinirt  war,  und  Pfalzgraf  Johann  8000.  Der  Verf.  weist  nun 
aber  mit  besonderem  Nachdruck  darauf  hin,  dass  es  den  Hu- 
siten keineswegs  allein  um  Brandschatzungsgelder  zu  thun  ge- 
wesen,  vielmehr  trotz  der  gegentheiligen  Versicherungen  des 
Markgrafen  und  der  Nuraberger  „die  Christenheit  verdingt" 
worden  sei.    Der  zweite  Theil  des  Vertrages  —  den  gleichzeitigen 

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206   Bezold,  Frz.  v.,Konig  Sigmund  und  die  Beichskriege  gegen  die  Hariten. 

Historikern  grossentheils  nicht  bekannt,  von  Aschbach  und  Wiir- 
dinger  ignorirt  —  besagte,  dass  man  den  Husiten  am  23.  April 
zu  Niirnberg  einen  giitlichen  Tag  zu  verstatten  hatte :  der  Mark- 
graf  sollte  sich  beim  Papst,  dem  romischen  Konig,  den  Kur- 
fiirsten  und  Fiirsten  fur  das  Zustandekommen  des  Friedenswerkes 
bemiihen.  Den  Entwurf  des  beziiglichen  Schreibens  giebt  B.  aaf 
S.  169  in  Anhang  II;  Anh.  Ill  und  IV  erganzen  unsere  Kennt- 
ni8S  des  Beheimsteiner  Vertrages,  dessen  Wortlaut,  gleieh  dem 
von  Zwernitz,  uns  nicht  erhalten  ist.  Der  Geleitsbrief  fur  den 
Niimberger  Tag  ist  von  grosster  Bedeutung,  nicht  allein  weil  er 
die  Grundlage  fiir  den  von  1432  wurde,  den  gleichfalls  der 
Markgraf  vereinbart  hat.  „Der  Beheimsteiner  Vertrag  geht  zum 
ersten  Mai  auf  die  Forderung  eines  ordentlichen  Gehors  im 
Sinne  der  Husiten  ein;  wahrend  die  friiheren  Verhandlungen 
und  Disputationen  von  katholischer  Seite  immer  nur  als  Ge- 
legenheiten  zur  Unterwerfnng  dargeboten  wurden,  bleibt  hier 
die  Mogiichkeit  einer  anderweitigen  Auseinandersetzung ,  einer 
Versohnungspolitik  auch  ohne  vollige  dogmatische  Ueberein- 
stimmung  offen."  Obwohl  der  Verf.  betont,  dass  der  Branden- 
burger  diesen  Schritt  nur  unter  dem  furchtbarsten  ausseren 
Druck  gethan,  stimmt  er  doch  mit  Recht  Droysen  bei,  „von  all 
den  kiihnen  Schritten  im  politischen  Leben  des  Markgrafen  sei 
dieser  Vertrag  vielleicht  der  merkwiirdigste".  Den  angefugten 
Tadel  v.  B's,  „der  Markgraf  sei  nachher  fur  das  als  richtig  Er- 
kannte  nicht  offen  und  grossartig  eingetreten",  unterschreiben 
wir  nicht:  in  welchem  Moment  hktte  Friedrich  wohl  eine  Be- 
riicksichtigung  seiner  subjectiven  Meinung  durchsetzen  konnec 
oder  sollen? 

Nach  dem  Beheimsteiner  Vertrag  treten  die  Husiten  beute- 
beladen  den  Heimweg  an;  schnell  erkaufte  auch  noch  Eger  den 
Frieden,  doch  nicht  schnell  genug,  um  die  Einascherung  von 
dreissig  Dorfern  der  Umgebung  zu  verhiiten.  So  kehrten  die 
husitischen  Krieger  heim  im  vollen  Bewusstsein  ihrer  Ueber- 
legenheit;  cechische  Annalisten,  welche  von  der  wichtigsten 
Friedensbedingung  nichts  wussten,  machten  wohl  den  Landsleuten 
den  Vorwurf,  dass  sie  sich  mit  feilem  Golde  begniigt  und  den 
Krieg  nicht  bis  an  den  Rhein  getragen  hatten.  Der  Vert  meint, 
hochstens  konne  man  Procop  und  die  anderen  Fiihrer  darum 
tadeln,  „dass  sie  sich  an  dem  Beheimsteiner  Vertrag  genugen 
liessen,  dessen  Schicksal  sie  mit  dem'Aufgeben  ihrer  dominirenden 
Stellung  selbst  besiegelten" 

Die  nicht  von  der  husitischen  Invasion  betroffenen  Terri- 
torien  hatten  sich  1430  mehr  oder  minder  kriegsfertig  gemacht, 
und  der  Markgraf  erntete  geringen  Dank,  als  er  in  ausserst 
vorsichtigen  Schreiben  von  seinem  Abkommen,  dessen  Einzel- 
heiten  verhiillt  wurden,  Kenntniss  gab.  Er  wurde  verdachtigt 
und  angefeindet:  ganz  perfide  ist  die  Notiz  von  Endres  Tucher 
iiber  Friedrichs  Abzug  aus  Baireuth:  „er  hatte  sie  vertrostet, 
er  woUe  bei  ihnen  sterben  und  verderben;  unterdessen  floh  der 

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Bteold,  Frz.  v.,  Konig  Sigmund  und  di^Reichskriege  gegon  die  Husiten.  207 

Mann  ans  der  Stadt  und   liess  Ehre  und  Gut   und  Weib   und 

Kinder."    Friedrichs  Versuche,  den  zweiten  Theil  des  Vertrages 

zur  Ausfuhrung  zu  bringen,  hatten  nirgends  Erfolg.     Der  Papst 

wollte  yon  einer  Disputation  mit  den  Ketzern  nichts  wissen,  die 

Kirchenfiirsten  Deutschlands  fanden  Vorwande  zu  ausweichenden 

Antworten,   ihre  Opposition   konnte   nur   durch  ein  allgemeines 

Concil  gebrochen  werden:  gerade  darum  suchte  die  Curie  einen 

friedKchen  Yergleich  zu  hintertreiben.     „Um   so   fester   mussten 

ffl'ch  die  Friedenshoffnungen  in  Deutschland  an  das  Concil  kniipfen, 

denn  es  wurde  von  Jahr  zu  Jahr  deutlicher,   wie   schlecht  man 

mit  dem   papstlichen   System   der   Ausrottung,    der    Kreuzziige, 

fuhr."  Sigmund  war  natiirlich  mit  dem  Brandenburger  hochlichst 

anzufrieden,  kniipfte  Separatverhandlungen   mit  den  Bohmen  an 

und  versagte  dem  Niirnberger  Gehor  seine  Theilnahme.    So  fand 

der  Ausgleich  auf  katholischer  Seite  uniiberwindliche  Hindemisse, 

nnd  die  BShmen  hatten  mithin   alle  Veranlassung   gehabt,   ihre 

Angriffspolitik  wieder  aufeunehmen.     Ergaben    sich   die  Husiten 

nun  zwar  auch   nicht  trager  Ruhe,   so  fehlte   ihren    Unterneh- 

mungen  doch  die  nothige  Concentration,  zumal  nach  dem  gltick- 

lichen  Ausgang  des  sachsisch-frankischen  Zuges  sich  die  Streitig- 

keiten  der  husitischen  Secten  erneuten:  vergeblich  suchte  Procop 

ihre  zerstreuten   Krafte   wieder  zu   einem   gemeinsamen  Unter- 

nehmen  zu  sammeln. 

Der  Niirnberger  Tag  kam  im  Marz  nicht  zu  Stande,  — 
Sigmund  war  durch  einen  Einfall  der  Husiten  in  Ungarn  auf- 
gehalten  worden,  —  auch  die  zweite,  auf  den  17.  Mai  ebendahin 
berufene  Versammlung  war  hochst  unvollstandig ,  ihre  Mass- 
nahmen  matt,  da  Fiirsten  und  St&dten  andere  Dinge  weit  mehr 
am  Herzen  lagen.  Die  Stadte  insbesondere  suchten  Fiihlung  mit 
den  ritterschaftlichen  Verbanden,  welche  gleich  ihnen  gegen  die 
steigende  Fiirstengewalt  sich  zu  sichern  hatten.  Sehr  verspatet 
traf  Sigmund  im  Reich  ein;  erst  am  25.  August  war  er  in 
Straubing,  wo  er  keineswegs  eine  stattliche  Versammlung  vor- 
fand.  Gleichwohl  nahm  man  hier  in  Folge  der  Nachricht  von 
husitischen  Truppenzusammenziehungen  einen  kriegerischen  Aji- 
lauf,  an  dem  sich  die  Stadte  aber  nur  ungern  betheiligten.  Auf 
den  Einzug  des  KSnigs  in  Niirnberg  (am  13.  September)  folgte 
wieder  ein  recht  bedeutungsloser  Reichstag,  dessen  Beschliisse 
in  der  Husitenfrage  je  nach  den  aus  Bohmen  eintreffenden  Nach- 
nchten  fortwahrend  schwankten;  zuletzt  blieb  es  bei  dem  „tag- 
Uchen  Krieg",  zu  dessen  Fiihrung  Herr  Heinrich  Nothaft  mit 
den  unbedeutenden  Resten  des  Husitengeldes  versehn  wurde. 
Daneben  setzte  Sigmund  seine  Intriguen  mit  den  Stadten  fort, 
entschied  aber  dennoch  in  der  Weinsberger  Sache  zu  ihrem 
NachtheiL  Darauf  zog  der  Konig  anscheinend  planlos  ein  Viertel- 
jahr  lang  in  den  schwabischen  Stadten  umher  und  liess  die 
Niimberger  Versammlung  bis  zum  Februar  1431  warten.  Man 
^nn  dies,  meint  der  Verf.,  nur  damit  erklaren,  dass  Sigmund 
seine  Verhandlungen  mit  den  Stadten  und  der  Ritterschaft  hier 


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208   Bozold,  Frz.  v.,  Konig  Sigmund  und  die  Beichskriege  gegen  die  HuBiten. 

fortsetzen  wollte:  doch  fiihrte  das  Markten  der  ersteren  eine 
ernste  Verstimmung  des  Konigs  herbei,  dessen  Reichspolitik  nach 
jener  Reise  ganzlich  verandert  erscheini  Die  wechselnden  Be- 
ziehungen  Roms,  Sigmunds,  der  Reichsfursten  und  der  Bohmen 
zu  den  Jagellonen  machten,  wie  v.  B.  treffend  bemerkt,  die 
husitische  Frage  zu  einer  Art  von  europaischer  Verwicklung; 
Sigmund  enthielt  sich  hier  jeder  Einmischung  im  Gegensatz  zum 
Papst,  der  „die  ganze  husitische  Frage  in  die  Hande  Wladyslaws 
zu  spielen  suchte,  urn  damit  dem  romischen  Konig  und  dem 
Reich  eine  selbst&ndige  Auseinandersetzung  mit  den  Bohmen 
unmoglich  zu  machen".  Martin  V.  furchtete  eben  ein  ConciL 
Daher  ist  neben  dem  beriihmten  Manifest  der  Jungfrau  yob 
Orleans  und  dem  wirkungsvollen  Rundschreiben  Procops  die 
bedeutungsvollste  Kundgebung  des  Jahres  das  am  8.  November 
in  Rom  geheimnissvoll  angeschlagene  Manifest,  durch  welches  fur 
den  Marz  des  nachsten  Jahres  ein  Concil  verlangt  wird.  Die 
Frage  nach  der  Urheberschaft,  —  man  vermuthete,  dass  dem 
Brandenburger  der  grosste  Antheil  zufalle  —  entscheidet  der 
Vert  nicht.  Martin  gab  nach,  stellte  aber  den  Ereuzzug  gegen 
die  Husiten  in  den  Vordergrund,  indem  er  den  Cardinal  Julian 
Cesarini  fur  diesen  Zweck  zum  Legaten  des  apostolischen  Stuhls 
mit  den  ausgedehntesten  Vollmachten  ernannte :  erst  drei  Wochen 
spater  wurde  derselbe  Kirchenfurst  zum  Vorsitzenden  des  Con- 
cils  ernannt,  mit  der  Befiigniss,  dasselbe  eventuell  zu  vertagen, 
zu  verlegen  oder  aufzulosen.  Martin  V.  hatte  durch  die  yor- 
gangige  Besiegung  der  Husiten  dem  Concil  gern  den  Haupttheil 
seiner  Lebenskraft  entzogen:  sein  am  20.  Februar  1431  erfolgter 
Tod  ersparte  ihm  die  Erkenntniss,  dass  der  „weltliche  Arm"  den 
Bohmen  gegenuber  machtlos  sei. 

Im  Februar  1431  wurde  der  Niirnberger  Tag  erofihet,  lang- 
sam  hatten  sich  die  Stande  und  Gesandtschaften  gesammelt, 
aber  dafur  war  die  Betheiligung  auch  eine  lebhafte.  Der  Reichstag 
ist  fur  die  Geschichte  der  Reichsverfassung  von  hochster  Be- 
deutung :  einen  Theil  der  fur  die  Zukunft  nothwendigen  Arbeiten 
hat  Droysen  und  nach  ihm  Weizsacker  bereits  geliefert  in  den 
Forschungen  XV,  397 — 354  „Der  Strassburger  Fascikel  von  1431". 
Hervorgehoben  sei  hier,  dass  zu  dieser  Zeit  von  einer  Eintheilung 
in  drei  Collegien  noch  nicht  im  entferntesten  die  Rede  sein 
kann:  die  Fiirsten  treten  in  den  Hintergrund  neben  den  Knr- 
fursten  und  Stadten,  „welche  nach  der  koniglichen  Proposition 
zu  gemeinsamer  Berathung  zusammen  kommen ;  erst  bei  hervor- 
tretender  Meinungsverschiedenheit  trennt  sich  die  Reichsver- 
sammlung  in  zwei  selbstandig  berathende  Versammlungen.  Die 
Stellung  Sigmunds  zu  den  S^dten  ist  nunmehr  geandert,  sein 
Verhalten  gegen  sie  ist  entschieden  unfreundlich :  lediglich  die 
hieraus  entspringenden,  nicht  ungerechtfertigten  Besorgnisse  der 
Stadte  konnen  die  Saumseligkeit  xind  Unlust  derselben  ent- 
schuldigen.  Nachdem  ein  Zwolfer  -  Ausschuss  aus  Fiirsten  and 
Stadten  erwahlt,  ist   man  iiber  die  Nothwendigkeit  eines  Zuges 


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Bfesold,  Frz.  v.,  Konig  Sigmund  and  dio  Reichskriege  gegen  die  Husiten.   209 

and  eines  Landfriedens  bald  einig ,  Streitigkeiten  erheben  sich 
aber  sofort  uber  die  Hohe  und  den  Modus  der  Hiilfeleistung. 
Die  Stadte  wollen  nicht  den  25.,  sondern  nur  den  50.  Mann 
bewilligen:  der  Vorschlag  der  Fiirsten  richtet  sich  mit  Recht 
auf  taglichen  Krieg  und  einen  grossen  Kreuzzug,  die  Stadte  er- 
klaren,  nur  eins  von  beiden  tragen  zu  konnen,  und  wollen  von 
den  Strafen,  welche  im  fiirstlichen  Entwurf  den  Saumigen  ange- 
droht  werden  und  allerdings  wesentlicb  den  Stadten  gelten, 
nichts  wissen.  Naclidem  die  Ankunft  des  papstlichen  Legaten 
Julian  Cesarini  (4.  Marz)  die  Verbandlungen  iiber  die  Hohe  der 
yon  Fiirsten  und  Stadten  zu  stellenden  Contingente  auf  einen 
Angenblick  unterbrochen ,  zeigt  der  Eonig  bei  Wiederaufhahme 
der  Berathungen  plotzlich  Vorliebe  fur  den  Plan  des  taglichen 
Krieges.  Die  Fiirsten,  auf  Pflicht  und  Gewissen  befragt,  treten 
ebenso  eifrig  fur  den  Plan  eines  grossen  Zuges  ein :  nach  kurzem 
Schwanken  zu  Gunsten  der  koniglichen  Ansicht  beharren  sie  auf 
ihrer  Meinung.  Der  Zug  wird  von  den  Fiirsten  beschlossen, 
und  in  einem  koniglichen  Ausschreiben  vom  18.  Marz  die  Sache 
so  hingestellt ,  als  ob  die  Stadte  bereits  mitgeschlossen  hatten 
und  vom  Reichstag  den  Nachstgesessenen  die  Stellung  des  25. 
Mannes,  den  Entfernteren  der  50.  Mann  auferlegt  ware.  In 
Wirklichkeit  war  ein  Abschluss  nicht  erzielt,  da  die  Stadte  die 
Sache  „hintersichbringena  wollten.  Eine  authentische  Ausgabe 
der  Aktenstiicke ,  die  man  als  Reichstagsabschied  bezeichnen 
konnte,  steht  noch  bevor:  „von  der  Publikation  eines  Reichs- 
tag8abschiedes  von  acht  Hauptstiick^n  im  April  1431  (Asch- 
bach  HI,  358)  kann  nicht  die  Rede  sein." 

Die  Ansicht,  „dass  zu  Niirnberg  einfach  die  Beschliisse  von 
1422  und  1427  zur  Grundlage  genommen  seien",  ist  nach  v.  B's. 
Auseinandersetzung  unhaltbar.  AUe  Beschliisse  bedeuten  aber 
keineswegs  einen  Fortschritt  gegen  friiher.  Das  Friedensgebot 
Tom  14.  Marz  ist  ganz  ungeniigend,  da  es  den  Landfrieden  nur 
auf  20  Monate  erstreckt;  der  Glefenanschlag  ergiebt  nur  eine 
au&erst  massige  Hiilfe  und  reflectirt  auf  auslandische  Herren 
ttud  Landschaften  „  die  doch  nichts  leisten.  Hinsichtlich  der 
Biichsen  und  des  Zeugs  ist  der  Ansatz  niedriger,  als  der  von 
H27.  In  der  Heeresordnung,  welche  freilich  auch  auf  die  tactische 
Organisation  eingeht,  bleibt  die  Frage  nach  einer  einheitlichen 
Fuhrung  offen :  die  Kriegsartikel  zeigen  keinen  Fortschritt  gegen- 
uber  den  Bestimmungen  von  1427.  Die  schlimmste  Unordnung 
aber  musste  der  Kriegsplan  zum  Einmarsch  in  Bohmen  hervor- 
bringen,  indem  verschiedene  Sammelorte  und  verschiedene 
Stellangstermine  angesetzt  werden;  iiber  den  Vereinigungspunkt 
verlautet  nichts. 

Mit  einem  schrillen  Missklang  schloss  der  Reichstag,  da 
nund  durch  die  goldene  Bulle  vom  25.  Marz  alle  Einungen 
Md  Biindnis8e  der  Stadte ,  Bauern  und  armen  Leute  auf  ewig 
uatersagte,  die  Stadte  aber  auf  ihre  Einungs-  und  Vertheidigungs- 
plane  von   1429    zuriickgriffen.     W^hrend    die   Beschliisse    des 

VlttbeUvDgen  •  d.  hiitot  Littcratar.    VI.  14 

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210  Bezold,  Frz.  v.,  Konig  Sigmund  und  die  Reichakriege  gegen  die  Husiten, 

Reichstages  und  die  Kreuzbullen  des  neugewahlten  Papstes 
Eugen  IV.  durch  Deutschland  liefen,  „brachte  einerseits  der  auf- 
richtige  Friedenswunsch  der  Bohmen,  andrerseits  die  Stellung 
Polens  und  namentlich  des  Concils  zur  husitischen  Frage  noch 
einmal  einen  denkwiirdigen  Versuch  des  friedlichen  Ausgleichs 
zuwege". 

v.  B.  weist  nach,  dass  Sigmunds  Verhandlungen  mit  den 
Bohmen,  deren  weitsichtigste  Fiihrer  den  Ausgleich  wiinschea 
mussten,  keineswegs  den  Zweck  hatten,  Zeit  fur  die  Veranstaltung 
des  Zuges  zu  gewinnen,  sondern  redlich  gemeint  waren :  er  hatte 
sich  die  bohmische  Frage  gern  vom  Halse  geschafft,  urn  ander- 
weitige  Politik,  vor  alien  in  Italien,  zu  treiben;  die  Zusammen- 
kunft  von  Eger  verlief  resultatlos,  weil  die  Husiten  sich  der 
Bestimmung  des  Concils,  was  schriftgemass  sei,  nicht  unterwerfen 
mochten,  und  auch  die  Baseler  die  Verstandigung ,  soviel  an 
ihnen  lag,  hintertrieben.  So  versichert  denn  auch  Sigmund  nach- 
mals  in  einem  Manifest  an  alle  Bohmen,  er  habe,  der  Noth- 
wendigkeit  gehorchend,  gegen  seine  Neigung  in  den  Kreuzzug 
willigen  miissen.  Auch  die  personliche  Theilnahme  Julian  Cesa- 
rini's  am  BLreuzzuge  erfolgte  gegen  den  ausdriicklichen  Wunsch 
des  Eonigs. 

Es  fehlte  viel,  dass  das  Reich  sich  fur  die  bevorstehende 
Unternehmung  begeistert  hatte:  die  Fiirsten,  welche  dem  Legaten 
die  besten  Versprechungen  gemacht,  liessen  es  an  der  Ausfuhrung 
gebrechen,  das  Friedeqsgebot  vom  15.  Marz  wurde  allenthalben 
missachtet.  Die  Stadte  verhielten  sich  vorsichtig,  wie  immer: 
zwar  beschafbigte  sich  der  Speirer  Stadtetag  allein  mit  dem 
Husitenkriege ,  aber  hinsichtlich  der  Hohe  ihrer  Hiilfsleistung 
kummerten  sie  sich  urn  den  Reichstagsbeschluss  so  gut  wie  gar 
nicht.  Der  auf  dem  Reichstag  festgesetzte  Termin  wurde  nicht 
eingehalten,  die  Fiirsten  zweifelten,  ob  man  in  Bohmen  einriicken 
solle;  nur  Cesarini  blieb  voll  Eifer.  „Vielleicht  ware  ohne  die 
vorwartsdrangende  anfeuernde  Gegenwart  dieses  Italieners,  ohne 
seinen  unermiidlichen  Enthusiasmus  fur  den  Glaubenskampf  der 
deutschen  Geschichte  eine  ihrer  schmerzlic^ten  Erinnerungen 
erspart  worden". 

Das  Heer,  grosser  als  man  nach  den  Abmachungen  yon 
Niirnberg  erwarten  durfte,  —  es  zahlte  mit  dem  Tross  wohl  aa 
100000  Mann,  —  wagte  den  Bohmerwald  erst  am  1.  August  zu 
iiberschreiten ,  nachdem  sich  die  Husiten  aus  Proviantmangel 
zuriickgezogen  hatten ;  die  ostreichischen  Streitkrafte  blieben  dem 
eigentlichen  Kriegsschauplatze  fern,  Schlesier  und  Lausitzer  waren 
gleichfiEdls  anderweitig  beschaftigt.  „Der  vortreflfliche  und  nahe- 
liegende  Gedanke  eines  gleichzeitigqp  Vorstosses  von  Westen, 
Norden  und  Siidosten,  der  die  Grundlage  jedes  gemeinsamen 
Feldzugsplanes  bilden  musste,  kam  also  auch  diesmal  nicht  zur 
Ausfuhrung."  Die  Berichte  iiber  den  Feldzug  des  Hauptheeres 
sind  liickenhaft  und  weichen  theilweise  von  einander  ab,  dooh 
vermag  man  die  Hauptfehler  zu  iibersehen.    Zuerst  hielt  man 

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Programmenachau.    Nenzeii  211 

aich  eine  Woche  nutzlos  vor  Tachau  auf,  dann  verbrachte  man, 
die  Richtung  auf  Pilsen  verlassend  und  in  drei  Heereskorpern 
nach  Taus  gewendet,  mit  furchtbaren  Mordbrennereien  die  Zeit, 
wahrend  der  sich  die  Husiten  sammebi  und  zur  Offensive  iiber- 
gehen  konnten.  Die  Disciplin  im  Kreuzheere  hatte  sich  in- 
zwischen  schon  bedenklich  gelockert.  Die  unsichere,  angstliche 
Baltnng  des  obersten  Hauptmannes,  als  am  Entscheidungstage, 
dem  14.  August ,  das  ausserst  starke  husitische  Heer  heranzog, 
oahm  dem  Reichsheere  den  letzten  Rest  von  Festigkeit;  die 
Gotteskrieger  hatten  eigentlich  nur  noch  die  Aufgabe,  die  auf- 
gelosten  Schaaren  vor  sich  herzujagen  —  „die  Geretteten,  welche 
ach  bei  Cham  sammelten,  boten  das  elendeste  und  verachtlichste 
Schauspiel  dar, -schlimmer  als  die  grosse  Panik  selbst". 

In  einem  eigenthiimlichen  Contrast  zu  dem  niederschmettern- 
den  Ereigniss  stehen  die  farblosen  officiellen  Berichte  iiber  das- 
selbe.  Die  offentliche  Meinung  freilich  war  sehr  erregt:  Verrath 
wurde  namentlich  dem  Markgrafen  Friedrich  zur  Last  gelegt, 
der  allerdings  auch  in  Bohmen  als  kein  erklarter  Feind  des 
Husitenthums  gait.  In  Wahrheit  war  die  Niederlage  dadurch 
herbeigefiihrt ,  dass  der  Unfahigkeit  der  Feldherrn  die  Zucht- 
losigkeit  der  Massen  entsprach,  welche  zudem  nicht  wussten, 
wofur  gie  sterben  sollten. 

Mit  der  Niederlage  von  Taus  endigt  der  zwolfjahrige  Kampf 
des  Reiches  gegen  die  bohmische  Revolution.  Sigmund  bestellte 
einen  dreimonatlichen  taglichen  Krieg  gegen  die  Husiten  und  zog 
iiber  die  Alpen,  um  seine  italienischen  Plane  auszufuhren.  Mit 
einer  Uebersicht  der  deutsohen  Verhaltnisse  beim  Ausgange  des 
Kampfes  und  einem  Riickblick  auf  die  triiben  Erfahrungen,  welche 
Deutechland  in  dieser  Periode  zu  machen  Gelegenheit  hatte, 
sdihe8st  der  Verf.  diese  Abtheilung  und  damit  auch  sein  Werk : 
eine  miihsame  und  verdienstvolle  Arbeit,  bei  der  nur,  soweit  wir 
dies  iibersehen  konnen,  allgemein  bedauert  worden  ist,  dass  sie 
aus  irgend  welchen  ausseren  Griinden  in  mehrere  Theile  zerlegt 
werden  musste,  statt  von  vornherein  eine  Gesammtiibersicht  der 
behandelten  Epoche  zu  ermoglichen. 
Berlin.  Willy  Boehm. 


L. 

Frogrammenschan. 
Neuzeit. 

1)  Gymnasium  zu  Coslin.    Ostern  1877.     Coslin 

und  die  letzten  Camminer  Bischofe  aus  herzog- 

lichem  Stamme  von  Dr.  Rudolf  Hanncke. 

In  den  Pommerschen   hoheren   Lehranstalten    werden   mit 

groasem  Eifer  die   mitteldeutschen  Studien   gepflegt  und   dieses 

Stadium  der    deutschen   Vorzeit  scheint   belebend   auf  die  Er- 

forschung   der    heimatlichen    Geschichte    eingewirkt   zu    haben. 

Eine  Menge  Lehrer  liefern  Proben  von  ernster  Beschaftigung  mit 

14* 

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212  Programmenschan.    Neuaeit. 

der  intere88anten  Vorzeit  ihrer  Provinz.  Zu  diesen  Beweisstiicken 
gehort  auch  die  vorliegende  Arbeit.  — 

Das  Camminer  Bisthum  war  ein  stattliches  Fiirstenthum.  Zn 
ihm  gehorte  der  sechste  Theil  der  Pommerschen  Kuste,  an  der  es 
sich  von  Cammin  bis  zum  Gollenberge  hin  erstreckte.  Zu  ihm  ge- 
horten  die  Stadte  Colberg,  Cammin,  Coslin,  Bublitz  nnd  Corlin. 
Gegen  Ende  des  15.  scl.  brachte  es  40,000  Gulden  Ein- 
kiinfte.  Was  war  natiirlicher,  als  dass  in  der  Reformationszeit 
sich  die  pommerschen  Herzoge  bemiihten,  das  luthensch  gewordene 
Bisthum  jiingeren  Sohnen  zuzuwenden!  Es  gelang  rhnen  das 
endlioh.  Erasmus  v.  Manteuffel  hatte  die  Reformation  einfiihren 
miis8en.  Als  er  im  J.  1544  starb,  wurde  Bartholomaeus  Sua?e 
erster  evangelischer  Bischof,  dem  der  „gele  Bischof"  Martin 
v.  Weyher  folgte.  Unter  beiden  Regierungen  zeigten  sich  fur 
die  Herzoge  grosse  Gefahren,  einmal  nach  der  Schlacht  bei 
Miihlberg  die,  dass  ein  katholischer  Pralat  das  Bisthum  erhalten 
und  dann  die,  dass  unter  einem  evangelischen  Bischof  das  Stift 
reichsunmittelbar  und  eine  unbequeme  Enclave  werden  wurde. 
Beiden  Gefahren  entging  mqji  durch  die  Einsetzung  eines 
pommerschen  Herzogs  Johann  Friedrich.  Diesem  folgten  im 
Bisthum  die  Herzoge  Casimir,  Franz,  Ulrich,  Boguslav  XTV.  und 
dessen  Schwestersohn  *,  Ernst  Boguslav,  Herzog  von  Croy.  Die 
Zeit,  in  der  diese  Herrn  regierten,  namlich  das  Ende  des  16. 
und  der  Anfang  des  17.  scl.  waren  fur  Pommern  die  gluck- 
lichsten  40  Jahre.  — 

1556  erhielt  also  nach  dem  Tode  Martins  v.  Weyher  der 
14jahrige  Sohn  Herzog  Philipps,  Johann  Friedrich,  das  Bisthum.  Er 
machte  Coslin  zu  seiner  Residenz.  Im  J.  1574  ererbte  er  das 
Herzogthum  Stettin  und  iiberliess  Cammin  seinem  Bruder  Ca- 
simir, der  bis  zum  J.  1602  regierte.  Das  war  ein  wunderlicher 
Herr,  von  dem  der  Verf.  Mancherlei  berichtet  Da  er  im  J.  1602 
das  Fiirstenthum  Riigenwalde  erhielt,  schied  er  1602  aus  Cammin, 
wo  ihm  sein  Neffe  Franz  folgte.  Dieser  2.  Sohn  des  trefflicheE 
Herzogs  von  Barth,  Boguslavs  XIII.,  hat  am  langsten  dauemd 
in  Coslin  geweilt.  Er  wurde  1618  Herzog  von  Stettin.  Dim 
succedirte  im  Bisthum  sein  jiingster  Bruder  Ulrich,  der  1622  als 
Bischof  starb.  Von  all  den  zahlreichen  Sprossen  des  Greifen- 
stammes  waren  nur  noch  2  iibrig,  namlich  Boguslav  XIV.  in 
Stettin  und  in  Wolgast  Philipp  Julius,  beide  kiuderlos.  So 
wurde  Boguslav  Bischof  in  Cammin  und  Philipp  Julius  sein  Coad- 
jutor mit  8000  Gulden  jahrlicher  Reveniien.  Als  1637  mit  Bo- 
guslav XIV.  der  Stamm  der  alten  Pommernherzoge  erlosch, 
folgte  noch  der  Herzog  von  Croy. 

2)  Stadtische  Real  -  Lehranstalt  zu  Stettin. 
Ostern  1877.  Die  ersten  7Briefe  des  Augsburger 
PatriciersPhiLHainhoferanden  Herzog  Philipp 
von  Pommern  aus  dem  J.  1610.  Herausgegeben 
von  Dr.  Schlegel. 
Der  reiche  und  gebildete  Augsburger  Patricier  Hainhofer 

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Programmenschau.    Neuzeit.  213 

war  bestallter  Correspondent  fur  Heinrich  IV.  von  Frankreich; 
ebenso  nach  damaliger  Sitte  Berichterstatter  fur  eine  Anzahl 
dentscher  Fxirstenhofe.  Dies  wurde  er  im  J.  1610  auch  fur 
Herzog  Philipp.  Die  hier  mitgetheilten  Briefe  gewahren  in- 
teressante  Blicke  in  das  Treiben  im  Reiche,  wo  der  Jiilichische 
Erbfolgestreit  beinahe  ja  schon  zum  Kriege  fiihrte. 

3)  Progymnasium  zu  Norden.  Ostern  1877.  Der 
Feldzug  gegen  Thomas  Miinzer.  Vom  ord.  Lehrer 
A.  Hoc  he. 

Zunachst  "giebt  der  Verf.  eine  kurze  Uebersicht  von  Mun- 
zere  Leben  bis  zum  J.  1524,  dann  beleuchtef  er  seine  Verbindung 
mit  Pfeiffer,  welcher  die  Sache  ubersturzte  und  zu  frtih  zum 
Losschlagen  drangte.  Der  Verf.  schildert  Philipps  von  Hessen 
kriegerische  Thatigkeit  im  Einzelnen  und  die  Verzogerung,  welche 
durch  die  Krankheit  Friedrichs  d.  W.  von  Sachsen  und  seine 
allzugrosse  Milde  veranlasst  wurde.  Sobald  dieser  gestorben  und 
Bein  Neffe  znr  Regierung  gekommen  war,  schritt  man  ernsthafter 
gegen  die  Bauern  ein.  Neu  war  dem  Ret  die  Ansicht  des  Verf. 
(S.  12),  dass  die  Bauern  ein  Recht  gehabt  hatten,  den  Junker 
Maternus  von  Gehofen,  welchen  die  Fiirsten  vor  der  Franken- 
hausener  Schlacht  als  Unterhandler  geschickt  hatten,  wegen  zu 
fruhzeitiger  Erneuerung  der  Feindseligkeiten  niederzumachen. 
Dann  folgt  die  Darstellung  der  Schlacht  bei  Frankenhausen  und 
der  Folgen  derselben. 

4)  Realschule  I.  0.  in  Magdeburg.  Ostern  1877. 
Die  Gefangennehmung  des  Landgrafen  Philipp 
des  Gros8miithigen.  Vom  Oberlehrer  Johannes 
Maenss. 

Die  einschlagende  Litteratur  ist  mit  Sorgfalt  durohforscht 
und  aus  der  Forschung  die  friiher  gewohnliche  Ansicht  etwas 
modificirt.  Ein  absichtlioher  Betrug  ist  von  Carl  V.  nicht  be- 
gangen;  allerdings  bewegt  er  sich  wie  das  so  seine  Art  war, 
zweideutigund  unbestimmt;  aber  eine  weit  grossere  Schuld,  als  man 
das  gewohnlich  thut,  muss  man  den  Eurfursteti  Moritz  von  Sachsen 
und  Joachim  IL  von  Brandenburg  zuschreiben.  Fiir  sie  war  die 
Person  Philipp's  die  Nebensache,  ihnen  lag  vor  AUem  ^aran, 
den  BWeg  zu  beenden.  Daher  benahmen  sie  sich  sehr  zwei- 
deutig.    Besonders  gilt  das  von  dem  Judas  von  Meissen. 

5)  Gymnasium  zu  Bonn.  Ostern  1877.  Zum 
Briefwechsel  des  alteren  Hieronymus  Baum- 
gartner.    Vom  Oberlehrer  Dr.  van  Hout. 

Der  Verf  weist  in  der  Einleitung  mit  Recht  darauf  hin, 
dass  viele  bedeutende  Manner  der  Reformationszeit  eingehender 
Biographieen  entbehren.  Zu  diesen  gehoren  Joachim  Camerarius 
nud  Hieronymus  Baumgartner,  beide  aus  Niirnberg.  Von  ersterem 
taben  wir  einen  grossen  litterarischen  Nachlass,  von  letzterem 
nur  sehr  wenig  und  dies  Wenige  zerstreut.  Der  Verf.  giebt 
zuerst  eine  kurze  Uebersicht  von  Baumgartners  Leben  und  dann 
den  Inhalt  von  307  Briefen. 


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214  Programmenschau.    Neuzeit. 

6)  Friedrichsschule  zu  Marienwerder.  Mich. 
1876.  Streit  zwischen  Venedig  und  Papst  PaulV. 
vonFr.  Diehl. 

Die  Arbeit  lehnt  sich  wesentlich  an  Rankes  Darstellung  im 
2.  Bde..der  Fiirsten  und  Volker  und  bringt  dann  aus  anderen 
Werken  eine  Reihe  von  Details,  so  dass  sie  als  eine  Erganzung 
zu  des  Meisters  wundervoller  Schilderung  angesehen  werden 
kann.  Interessant  ist  besonders  die  Sendung  des  Buiggrafen 
Christoph  v.  Dohna  nach  Venedig,  die  in  das  J.  1608  faUt  nnd 
den  Zweck  hatte,  Verbindungen  anzukniipfen,  die  fur  den  Prote- 
stantismus  von  Nutzen  waren.  Manches  bat  der  Vert  dm 
Schlobittener  Archiv  entnommen. 

7)  Kloster  in  Magdeburg.  Ostern  1877.  Histo- 
rische  Tradition  der  Katastrophe  der  Stadt 
Magdeburg  imJ.  1631.  VomOberlehrer  Fried  rich 
Hiilsse. 

Der.  Verf.  scheint  S.  3  den  neueren  Forschungen  zuzu- 
stimmen,  wenn  dies  auch  mit  etwas  schwerem  Herzon  gescbieht 
Er  sagt  an  jener  Stelle:  „Wenn  nun  auch  das  Unrichtige  und 
Tendentiose  dieses  Handgriffes  (namlich  die  Zerstorung  der  Stadt 
dem  Schwedenkonige  zuzuschreiben)  offen  auf  der  Hand  liegt  und 
man  vielmehr  zu  der  Ansicht  gelangt  ist,  die  Herbeifuhrung  der 
schrecklichen  Katastrophe  dem  Zusammentreffen  mannichfacher 
und  plotzlicher  Zufalle  zuzuschreiben,  so  ist  es  doch  eine  merk- 
wiirdige  Fiigung,  dass  durch  die  Forschungen  des  neuesten  Bear- 
beiters  dieser  Fragen  (Wittich)  grade  diejenigen  schon  fast  schuldig 
der  absichtlichen  Zerstorung  erwiesen  werden,  die  so  lange  als 
arme  Opfer  des  katholischen  Fanatismus  gegolten  haben."  Aus 
der  Arbeit  geht  hervor,  dass  man  in  Magdeburg  die  alte  prote- 
stantische  Tradition  von  der  Grausamkeit  Tillys  trotz  aller 
Forschungen  nicht  aufgegeben  habe  und  nicht  aufgeben  wolle. 
Der  Verf.  sucht  —  und  das  ist  fur  eine  Programmarbeit  ein 
richtig  gewahlter  Stoff  —  die  Ansichten  seiner  speciellen  Lands- 
leute  zu  lantern,  indem  er  sie  mit  dem  Stande  der  Forschung 
bekannt  macht.  Das  wird  ihm  freilich  nicht  so  leicht  geliDgen, 
doch  mag  er  sich  dabei  trosten,  indem  er  sich  an  die  Moral 
erinnert,  welche  Lichtwer  in  seiner  hiibschen  Erzahlung  vom 
kleinen  Toffel  uns  darbietet.  Er  moge  sich  erinnern,  dass  sdion 
vor  20  Jahren  Riedel  die  Fabel  vom  Verkauf  der  Mark  wider- 
legt  hat  und  dass  weit  verbreitete  Lehrbucher  sie  dennoch  fort 
und  fort  iiberliefern.  — 

Die  Arbeit  enthatf  eine  Musterung  der  Berichte  und  Dar- 
stellungen  von  jener  Katastrophe  und  weist  eingehend  nach,  wie 
sich  allmahlich  die  protestantischo  und  katholische  Tradition 
nach  verschiedenen  Richtungen  hin  ausgebildet  hat. 

8)  Gymnasium  zu  Bautzen.  Ostern  1877.  Si  Cy- 
rans  Bedeutung  fur  Port-royal  vom  Oberlehrer 
Johannes  Schonherr. 

Diese  Arbeit  und  die  des  verstorbenen  David  Miiller,  welche 

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Programmensehau.    Neuzeit.  215 

im  Programm  der  Berliner  Friedrich  Werderschen  Gewerbeschule 
Tom  Jahre  1867  iiber  die  petites  ecoles  von  Port-Royal  erschienen 
ist,  erganzen  einander. 

In  dem  vorliegenden  Programm  ist  zunachst  die  Schwester 
Angelica  characterisirt  und  dann  St.  Cyran,  dessen  eigenthiim- 
liche  religiose  Richtung  und  practische  Befahigung  geschickt  auf- 
gefasst  ist. 

9)  Gymnasium  und   Realschule  I.  0.  zu  Plauen. 
/   Ostern   1877.     Oberlehrer   A.   Fritsche:    Zur  Ge- 

8chichte  der  Kampfe   der  Deutschen  mit  Frank- 

reich   in   den   Jahren   1673  u.  1674,   insbesondere 

die   Theilnahme    der    kursachsischen    Truppen 

an  denselben. 

Diese  Arbeit  ist  aus  zwei  Griinden  sehr  interessant ;   einmal 

deswegen,   weil  in  ihr  archivalische  Quellen   benutzt   sind,  und 

dann  weil  sie  Details  aus  jenem  unglucklichen  Kriege  liefert,  die 

man  anderswo  nicht  so  leicht  findet. 

Nach  einer  kurzen  Einleitung,  in  welcher  die  Ereignisse  bis 
zum  Frieden  zu  Vossem  besprochen  sind,  sehen  wir  im  J.  1673 
den  sachsischen  Kurfiirsten  Jqhann  Georg  II.  in  Eger  mit  Leopold  I. 
zusammenkommen  und  ein  Bundniss  abschliessen.  Dann  werden 
Montecuculis  Ziige  von  Eger  aus  besprochen,  durch  welche  er 
Turenne  in  schwere  Bedrangniss  bracbte.  Montecuculi  tauschte 
durch  geschickte  Manover  den  Franzosen  und  ging  iiber  den 
Main.  Warum  er  ihn  bei  Ochsenfiirt  nicht  ernstlicher  ange- 
griffen  hat,  als  es  geschehen  ist,  bleibt  unerklart,  doch  gelang 
es  dem  kaiserlichen  Feldherrn,  die  Verbindung  mit  Holland  zu 
gewinnen  und  Turenne  zu  zwingen,  nach  Siiden  auszuweichen. 
Darauf  nahm  Montecuculi  Bonn.  Erst  nach  diesen  Affairen  im 
November  kamen  die  4000  Sachsen  zum  kaiserlichen  Heere; 
aber  der  Kurprinz,  der  sie  anfangs  gefiihrt  hatte,  war  schon 
im  Dezember  zuriickgekehrt.  Man  erfahrt  nicht  recht,  warum 
das  geschehen  ist.  Sollten  die  Strapazen  die  verwdhnten  Herrn 
abgeschreckt  haben  oder  waren  politische  Grunde  massgebend  ?  — 
Elend  war  die  Verpflegung,  soweit  sie  vom  Reich  abhing,  aber 
ebenso  elend  die  Soldzahlung  und  nun  die  Anfiihrung!  Sehr 
eingehend  zeigt  der  Verf.,  wie  schlecht  Alles  geleitet  wurde. 
Wir  lesen  mit  Interesse  die  Kampfe  in  der  Pfalz  im  J.  1674, 
dieSchlacht  bei  Sinzheim,  dann  den  RuckzugBeurnonvilles  iiber  den 
Neckar  und  Main,  zuletzt  die  Schilderung  des  Kampfes  bei  Seneffe. 
Die  Sachsen  haben  namentlich  bei  Sinzheim  tapfer  gefochten, 
doch  wurden  sie  Ende  des  J.  1674  von  ihrem  Herrn  abberufen ; 
weshalb  —  wird  nicht  so  recht  klar,  wenn  auch  der  Verf.  einige 
Muthmassungen  iiber  die  Griindo  am  Schlusse  seiner  Arbeit  ausspricht. 

10)  Kaiser-Wilhelms-Gymnasium  zuHannover. 
Ostern  1877.  Die  Selbstbiographie  desMinisters 
Andreas  Gottlieb  vonBernstorff,  herausgegeben 
von  Dr.  Adolf  Kocher. 

Dieser    Bernstorff   lebte    Ende    des  17.  und    Anfang    des 

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216  Ranke,  Leopold  v.,  Die  Osmanen  nnd  die  spanische  Monarchic  etc. 

18.  Jahrhunderts  und  stand  allerdings  inmitten  von  Begebenheiten, 
welche  schr  interessant  sind.  Er  kannte  als  hochgestellter  Be- 
amter  genau  die  Streitigkeiten  der  Mitglieder  des  Weifenhauses, 
er  erlebte  die  Erhebung  seines  Herzogs  zum  Kurfursten,  er  er- 
lebte  ferner  die  Thronbesteigung  Georgs  I. ;  aber  von  all  diesen 
interessanten  Vorgangen  bringt  er  diirftige  Notizen.  Man  ver- 
liert  Nichts,  wenn  man  dieselben  ungelesen  lasst. 

11)  Gymnasium  zn  Schleiz.  Ostern  1877.  Peter 
der  Grosse,  seine  Zeit  und  sein  Streben,  Dr. 
Ernst  Kuhne. 

Diese  Arbeit  ist  einem  selbstandigen  funfbandigen  Werke 
entnommen,  das  demnachst  erscheinen  wird.  Die  Probe  ist  ge- 
wandt  gesclirieben  und  giebt  geschickt  die  Gesichtspunkte  an, 
yelche  fur  die  Beurtheilung  Peters  wichtig  sind. 

12)  Realschule  zu  Spremberg.  Ostern  1877.  Zur 
Schlacht  bei  Hochstadt  von  Dr.  Emil  RohL 

Die  Arbeit  beschrankt  sich  darauf,  den  einen  Punct  in's 
Klare  zu  bringen,  ob  Eugen  ausser  durch  den  Vorstoss  seines 
ganzen  Fliigels  den  Herzog  von  Marlborough,  als  derselbe  bei 
Oberglauheim  hart  bedrangt  wurde,  durch  Detachirung  von 
Truppen  direct  unterstiitzt  habe.  Dies  nimmt  v.  Noorden  an, 
Andere  leugnen  es.  Der  Vert  stimmt  nach  angestellter  Unter- 
suchung  den  Letzteren  bei. 
Berlin.  Foss. 


LI. 

Ranke,  Leopold  v.,  Die  Osmanen  und  die  spanische  Monarchie 

im  16.  und  17.  Jahrhundert.     Vierte  erweiterte  Auflage  des 

Werkes:    „Fiirsten    und   Volker    von    Sud-Europa".     gr.  8. 

(XVIII,  579  S.)    Leipzig  1877,  Duncker    &   Humblot     12  M. 

Die  vorliegende  „erweiterte"  Auflage  des  Rankeschen  Werkes 
„Fiirsten  und  Volker  von  Siid-Europa"  unterscheidet  rich  von 
den  friiheren  Auflagen  nicht  etwa.  dadurch ,  dass  die  gesammte 
Darstellung  neu  umgearbeitet ,  auf  Grand  neuerer  Publicationen 
und  Forschungen  erganzt  und  verandert  ware,  im  Gegentheil  der 
Verfasser  hat  ahnlich  wie  in  den  spateren  Auflagen  seiner  meisten 
anderen  Schriften  auch  hier  es  fur  gut  befunden,  seine  fruhere 
Arbeit:  die  Vorrede,  den  ganzen  Abschnitt  iiber  die  Osmanen 
und  die  Darstellung  der  inneren  Zustande  der  spanischen  Mon- 
archie unter  Carl  V.,  Philipp  II.  und  Philipp  HI.  fast  unver- 
andert  zu  wiederholen:  „sie  sollen  als  eine  Arbeit  des  Jahres 
1827,  in  welchem  sie  zuerst  erschienen,  angesehen  werden".  Die 
Erweiterung  besteht  darin,  dass  er  in  einer  Reihe  von  neuen 
Abschnitten  auch  die  auswartige  Politik  der  spanischen  Monarchie 
unter  Philipp  II.  und  Philipp  HI.,  sowie  die  Geschichte  der  Re- 
gierung  der  beiden  letzten  habsburgischen  Fiirsten,  Philipp  IV. 
und  Carl  1L,  behandelt  und  ausserdem  in  einigen  Beilagen  Ausziige 

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Bmlre,  Leopold  v.,  Die  Osmanen  und  die  spanische  Monarchic  etc.  217 

aus  Quellen  und  kritische  Bemerkungen  iiber  solche  mitgetheilt 

hat    Diese  neu  hinzugefiigten  Abschnitte  enthalten   keinoswegs 

lauter  Neues,  der  Verf.  wiederholt  hier  Vieles,  was  er  in  anderem 

Zusammenhange  schon  in  anderen  Werken  mitgetheilt  hat,  auch 

bieten  sie  keineswegs  eine  ausgefuhrte,  erschopfende  Darstellung, 

aber  sie  enthalten   trefflich   gezeichnete   Uebersichten   iiber  die 

spanische  Politik  des  16.nnd  17.  Jahrhunderts,  hier  vom  Standpunkte 

der  gpanischen  Geschichte  aus,  und  sie  sind  im  Einzelnen  reich 

an  interessanten  Nachrichten  und   feinen  Bemerkungen.     Auch 

hier  stiitzt  sich  der  Verf.  hauptsachlich  auf  die  venetianischen 

Belationen,  daneben  aber  hat  er  auch  andere  ahnliche  italienische 

Quellen,  florentinische  und   lucchesische  Gesandtschaftsberiohte, 

sowie  natiirlich    auch   spanische   und    niederlandische    Quellen, 

archivalische  Publicationen  und  Geschichtsdarstellungen,  benutzt. 

Die  5  ersten     Abschnitte    behandeln    die     auswartige    Politik 

Philipp's  II.   nach    ihren   verschiedenen  Richtungen    hin.     Der 

eTste:  „Die  amerikanischen  Colonien"  schildert  die  weitere  Aus- 

breitung  der  spanischen  Macht  in  dem  neu  entdeckten  Erdtheile, 

es  wird  hier  besonders  darauf  hingewiesen,  dass  die  Eroberung, 

Christianisirung  und  Cultivirung   in   den  schon  friiher  staatlich 

organisirten  Landschaften,  in  Peru  und  Mexico,  verhaltnissmassig 

schnell  und  leicht  von  Statten  gegangen  ist,  wahrend  die  freien, 

wilden    Indianerstamme    der    spanischen   Herrschaft    und    dem 

Christenthum    den    hartnackigsten    Widerstand    entgegengesetzt 

baben  und  jene  daher  nur   sehr   allmahlich   und  an  einzelnen 

Punkten  vorgeschritten   sind.     Der  zweite  Abschnitt  behandelt 

die  Kriege  Fhilipp's  II.  gegen  die  Osmanen  und  die  Moriskos  und 

macht  besonders   auf   den    engen  Zusammenhang    aufmerksam, 

in  welchem    dieselben    zu    einan<Jer    stehen.     D^s    3.    Capitel: 

«Alba  in  den  Niederlanden"   schildert  in  kurzen  Umrissen   die 

Veranlassung  des  Conflictes  zwischen   Philipp  und  den  Nieder- 

landen,   das  Schreckensregiment   Alba's  und   die  Ursachen   der 

schlieiselichen  Misserfolge  desselben.    Das  4.  Capitel:  „Erwerbung 

von  Portugal"  enthalt  eine  mehr  detaillirte  Schilderung  der  Zu- 

stande   dieses  Landes  unter  den  beiden  letzten  heimischen  Ko- 

nigen,  Sebastian   und    Heinrich,   und  der  Eroberung   desselben 

dnrch  Philipp,  der  Verf.  zeigt,  dass  trotz  des  nationalen  Gegen- 

satzes  zwischen   Portugiesen  und   Spaniern  dieselbe  Philipp  er- 

leichtert  worden  ist  durch  die  Uneinigkeit  unter  den  ersteren  selbst, 

durch  die  Feindschaft  des  Adels  gegen  den  vom  Volke  zum  Konig 

erhobenen  Pratendenten  Don  Antonio.   Das  5.  Capitel:  „ Alexander 

Farnese  und  die  westeuropaischen  Kriege  Philipp's  II."  zeichnet 

dann  wieder   in   grossen   Strichen  die  auf  die  Befestigung  und 

Aiwdehnung  der  spanisch-katholischen  Macht  gerichteten  Unter- 

nehmungen    Philipp's    in    seinen    letzten   20   Regierungsjahren, 

deren  Resultat  aber  schliesslich   doch   nur   die  Behauptung  der 

belgischen   Provinzen   ist.     Auch   das   6.    Capitel:    „Politik   der 

Zeiten  Philipp's  III."  fiihrt   uns   die  Ereignisse   jener  Zeiten   in 

ahnlichen  jdlgemoinen  Umrissen  vor.    Ranke  zeigt,  wie  Spanien 


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218  Ranks,  Leopold  v.,  Die  Osmanen  und  die  spanische  Monarchie  etc 

nach  der  Beendigung  des  Krieges  mit  England  und  Holland,  und 
nachdem  es  nach  dem  Tode  Heinrich's  IV.  auch  mit  Frankreich 
in  freundschaftliche  Verbindung  getreten  war,  noch  einmal  nach 
aussen  hin  eine  bedeutende  Machtstellung  eingenommen  hat,  wie 
aber  die  namentlich  durch  die  machtigen  Governatoren  der  aus- 
wartigen  Provinzen  im  Gegensatz  gegen  die  eigentlichen  Leiter 
der  Regierung  (Lerma,  dann  Uzeda  und  den  Beichtvater  Aliaga) 
durchgesetzte  Erneuerung  der  ehrgeizigen  Plane  Philipp's  II.,  das 
Eingreifen  in  die  deutschen  Handel,  die  Verbindung  mit  Kaiser 
Ferdinand  II.  und  der  Liga,  dazu  die  Erneuerung  des  Krieges 
mit  den  Hollandern,  neue  verhangnissvolle  Verwickelungen  ver- 
anlasst  haben. 

In  seiner  fruheren  Arbeit  hatte  Ranke  seine  Darstellung 
der  inneren  Verhaltnisse  der  spanischen  Monarchie  nur  bis  znm 
Ende  der  Regierung  Philipp's  III.  gefuhrt,  in  der  neuen  Auflage 
giebt  er  in  den  5  letzten  Capiteln  auch  eine  Uebersicht  iiber 
die  Geschichte  des  Reiches  unter  den  beiden  letzten  habsbur- 
gischen  Konigen,  und  zwar  werden  hier  in  unmittelbarer  Ver- 
bindung die  inneren  und  die  ausseren  Verhaltnisse  behandelt 
Philipp  IV.  schildert  der  Vert  als  eine  lebendigere  Personlichkeit, 
als  sein  Vater  gewesen  war,  doch  hat  auch  er  nur  formell  die 
Regierungsgeschafte  besorgt,  die  eigentliche  Leitung  derselben 
erhalt  bald  der  Graf  Olivarez.  Derselbe  ist  eitel  und  ehrgeizig, 
er  will  der  erste  Staatsmann  Europas  sein,  er  ist  ganz  erfiillt 
von  den  Ideen  der  spanisch-katholischen  Weltherrschaft  und 
sucht  dieselben  zur  Durchfuhrung  zu  bringen,  aber  mit  wenig 
Gliick.  Nach  alien  Seiten  hin,  mit  Holland,  Frankreich  und 
Schweden  in  Krieg  verwickelt,  verliert  Spanien  seine  Macht- 
stellung in  ItaJien  und  in  Deutschland,  zugleich  erleidet  es  in 
den  Niederlanden  neue  Verluste.  Allerdings  eroffhet  Spanien 
nach  dem  im  Verein  mit  den  Kaiserlichen  erfochtenen  Siege  bei 
Nordlingen  und  der  durch  denselben  wiedereroffneten  Verbindung 
mit  den  Niederlanden  fioch  einmal  die  Offensive  gegen  Frank- 
reich, und  mehrere  Jahre  lang  ringen  beide  Machte  gegen  ein- 
ander  in  unentschiedenem  Kampfe,  aber  endlich  unterliegt  doch 
Spanien.  In  Folge  der  Besetzung  Breisachs  durch  die  Franzosen 
wird  die  Verbindung  zu  Lande  mit  den  Niederlanden  durch- 
brochen,  durch  die  Seemacht  der  Franzosen  und  der  Hollander 
auch  die  Communication  zur  See  mit  Italien  und  den  Colonien 
gefahrdet.  Dazu  kommen,  veranlasst  durch  die  Reaction  der 
particularen  Interessen  gegen  die  centralisirenden  Massregeln  des 
Ministers  Olivarez,  die  Unruhen  auf  der  pyrenaischen  Halbinsel 
selbst,  die  Erhebung  von  Catalonien,  der  Abfall  von  Portugal, 
auch  in  Andalusien  droht  eine  ahnliche  Bewegung,  der  Herzog 
von  Medina  Sidonia,  von  Portugal  aus  zur  Emporung  aufgereizt, 
verlangt  von  dem  Konige  die  Entlassung  Olivarez'  und  Her- 
stellung  der  verfassungsmassigen  Rechte  des  Adels,  aber  er  wird 
von  den  anderen  Granden  im  Stich  gelassen  und  muss  sich  der 
Gnade  des  Konigs  unterwerfen.  AUe  diese  ungliicklichen  Ereignissc 

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Btnke,  Leopold  v.,  Die  Osmanoa  und  die  Bpaniache  Monarchic  etc  219 

fiihren  schliesslich  1643  den  Sturz  des  Ministers  Olivarez  und 
einen  Systemwechsel  herbei.  Der  Nachfolger  Olivarez',  Don  Luis 
de  Haro,  giebt  die  aggressive  Politik  seines  Vorgangers  auf ;  von 
dem  Kaiser  im  Stich  gelassen,  welcher  ohne  Riicksicht  auf 
Spanien  den  Westfalischen  Frieden  abgeschlossen  hat,  macht 
aach  er  mit  Holland  Frieden.  Der  Kampf  gegen  Frankreich 
dagegen  wird  fortgesetzt,  und  zeitweise  kommen  den  Spaniern 
die  in  Frankreich  selbst  ausbrechenden  Unruhen  zu  Statten, 
Catalonien  und  die  verlorenen  Gebiete  in  Italien  werden  wieder- 
gewonnen,  in  den  Niederlanden  lange  mit  wechselndem  Erfolge 
gegen  die  Franzosen  gefochten,  aber  endlich  entscheidet  die 
Verbindung  Englands  unter  Cromwell  mit  Frankreich  doch  den 
Kampf  zu  Ungunsten  Spaniens,  dieses  muss  froh  sein,  1659  unter 
massigen  Bedingungen  den  Pyrenaischen  Frieden  abzuschliessen, 
auch  der  Versuch,  nun  das  isolirte  Portugal  wieder  zu  unter- 
werfen,  gelingt  nicht.  Philipp  IV.  hinterlasst  so  bei  seinem  Tode 
1665  das  Reich  in  tief  zerriittetem  und  geschwachtem  Zustande. 
Sein  Sohn  Carl  II.  ist  damals  ein  vierjahriger  Knabe,  und  fur 
ihn  erhalt  seine  Mutter  Maria  Anna  von  Oesterreich  die  Re- 
gentschaft.  Der  Einfluss  aber,  welchen  sie  ihrem  Beichtvater, 
dem  deutschen  Jesuiten  Nithard  einraumt,  erweckt  die  Oppo- 
sition der  Granden,  durch  diese,  an  ihrer  Spitze  der  natiirliche 
Sohn  Philipp's  IV.,  Don  Johann,  wird  Nithard  gestiirzt,  als  die 
Konigin  dann  auf  s  neue  einem  Giinstling  Valenzuela  die  Re- 
gierung  iiberlasst,  rufen  die  Granden  wieder  Don  Johann  nach 
Madrid,  und  dieser  entfernt  jetzt  nicht  nur  den  Giinstling,  son- 
dern  auch  die  Konigin  selbst.  Wahrend  dessen  erleidet  Spanien 
aach  nach  aussen  hin,  in  vergeblichem  Widerstande  gegen  den 
Ehrgeiz  Ludwig's  XTV.  neue  Verluste.  In  den  spateren  Zeiten 
Carls  IL  ist  bei  der  Schwache  des  Konigs  die  eigentliche  Ge- 
walt  in  den  Handen  der  Granden,  einzelne  Haupter  derselben, 
zuewt  Don  Johann,  dann  der  Herzog  von  Medina  Celi,  dann  der 
Graf  Oropesa,  erhalten  nach  einander  die  Leitung  der  Geschafte, 
aber  sie  alle  sind  in  ihrer  auswartigen  Politik  gleich  ungliicklich 
nnd  werden  daher  gesttirzt.  Zuletzt  ist  es  dann  die  Successions- 
frage,  welcho  die  ganze  aussere  und  innere  Politik  Spaniens 
bestinunt,  der  Verf.  hat  hiefiir  schon  die  Arbeit  Gaedeke's 
benutzt,  doch  ist  seine  Darstellung  dieser  Verhaltnisse  iiberaus 
kurz  und  summarisch. 

Von  den  5  Beilagen  enthalt  die  erste  ausfuhrliche  Ausziige 
aus  der  bisher  nicht  publicirten,  sehr  interessanten  Relation  des 
venetianischen  Gesandten  Matteo  Zane  iiber  die  Zustande  in 
Portugal  unmittelbar  vor  der  Occupation  des  Landes  durch 
Philipp  n.  (1579),  die  zweite  Ausziige  aus  den  Berichten  floren- 
tinischer  und  lucchesisoher  Gesandten  iiber  die  Verhaltnisse 
Spaniens  unter  Philipp  II.  und  Philipp  IH  In  der  dritten  wird 
aas  einer  c.  1640  verfassten,  halb  gedruckt,  halb  handschriftlich 
orhaltenen  Schrilt  iiber  die  Colonialbesitzungen  in  America  die 
Besclirabung  der  Ueberreste  alter  Bauwerke  mitgetheilt.    Bei- 

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220  Krause,  Hofrath  G.,  Ludwig,  Ftirst  zu  Anhalt-Cothen  etc. 

lage  4  enthalt  italienische  Berichte  iiber  den  Sturz  des  Ministers 
Ottvarez,  endlich  Beilage  5  zunachst  Ausziige  aus  der  in  ita- 
lienischer  Sprache  erhaltenen  Relation  des  franzosischen  Ge- 
sandten,  des  Erzbischofs  von  Embrun,  (1667)  iiber  die  Regent- 
8chaft  der  Konigin  Maria  Anna,  ferner  kritische  Bemerkungen 
iiber  die  Memoiren  der  Madame  d'Aulnoy,  einer  Franzosin, 
welche  die  zweite  Gemahlin  Carl's  II.,  Marie  Luise  von  Orleans, 
nach  Spanien  begleitete  und  die  Zustande  des  dortigen  Hofes 
schildert,  ihre  Angaben  erweisen  sich  wenigstens  theilweise  als 
wenig  zuverlassig. 
Berlin.  F.  HirscL 


LH. 
Krause,  Hofrath  G.,  Ludwig,  Furst  zu  Anhalt-CSthen,  und  sein 
Land  vor  und  w&hrend  des  dreissigjahrigen  Krieges.    Mit 

Portrait  und  Facsimile  des  Fiirsten,  einer  Abbildung  von  Schloss 

und  Garten,  nebst  Plan  der  damaligen  Stadt  Cothen.   I.  Theil, 

1579—1624.    Nach  den  Quellen  herausgegeben.   gr.  8.    (XIV, 

329  S.)    Neusalz  1877,  P.  Krause.     6  M. 

Der  Verfasser,  ehemals  Leiter  des  herz.  Cothenschen  Haas- 

archives,  fiigt  den  Publikationen  zur  Geschichte  des  Hauses  An- 

halt  im  17.  Jahrhundert   mit  seiner  neuen  Arbeit  iiber  Ludwig, 

den  Fiirsten  von  Anhalt-Cothen,   eine  hochst  wiinschenswerte 

Erganzung  bei.    Wie  bei  den  friiheren  Veroffentlichungen    sieht 

er  von  einer  kunstgerechten  Verarbeitung   des  Stoflfes  ^Lnzhch 

ab  und  reihet   die  Fragmente   der  Akten   und   iibrigen  Schrift- 

tiimer  jener  Epoche  mit  Beibehaltung   der  Rechtschreibung  und 

Interpunktation    mosaikartig   aneinander,   „sodass   kein   fremdes 

Element  sich  einmischt   oder  der  Gebrauch  unrichtiger  Farben 

storet".     Es  ist  dieselbe  Art  erprobter  historischer  Darstellung> 

der  sich  unter  anderen   auch  Hofmann  in  seinem  Leben  Otto's 

von  Gerike  bediente,  und  die  dem  Forscher  wol  die  angenehmste 

ist,  da  sie  ihn  von  dem  Wuste   der   weitschweifigen   Curialien 

befreit  und  dennoch  den  Wortlaut  der  Urkunden  an  den  wich- 

tigen  Stellen  iiberliefert. 

Der  1.  und  2.  Abschnitt  schildert  den  Familienkreis  und  die 
Jugendjahre  des  Fiirsten  Ludwig.  Derselbe  war  der  jiingste 
Sohn  aus  der  zweiten  Ehe  Joachim  Ernst's  von  Anhalt  (t  1586) 
mit  Eleonora,  der  Tochter  des  Herzogs  Christof  von  Wiirtemberg. 
Nach  dem  Tode  ihres  Gemahls  widmete  sich  diese  Fiirstin  ganz 
der  Erziehung  ihrer  Kinder,  bis  sie  dem  Drangen  ihrer  Ver- 
wandten  nachgebend  sich  zum  zweiten  Male  mit  dem  Landgrafen 
Georg  von  Hessen  -  Darmstadt  verheiratete.  1589  reiste  die 
brautliche  Wittwe  mit  5  Sohnen  und  3  Tochtern  zur  Hochzeits- 
feier  in  ihre  neue  Residenz.  Unter  den  Kindern  befand  sich 
auch  der  am  17.  'Juni  1579  zu  Dessau  geborene  Ludwig.  Die 
angstliche  Fursorge,  dass  er  in  der  neuen  Heimat  nicht  etwa 
dem  reformirten  Bekenntnisse  entfremdet  werde,  veranlasste  jedoch 

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Xrause,  Hofrath  G.,  Ludwig,  F&rst  zu  Anhalt-C8then  etc*        221 

seinen  Vormund,  den  altesten  Bruder  Johann  Georg  von  Anhalt, 
ihn  bald  nach  Dessau  zuriickzurufen  und  dem  strenglutherischen 
hessischen  Hofe  zu  entziehen.  Dort  leiteten  Ernst  v.  Kotschau 
und  M.  Johann  Starke  seine  Studien.  Zum  Abschluss  derselben 
unternahm  er  1596,  17  Jahre  alt,  mit  seinem,  nur  urn  ein  Jahr 
alteren  Bruder  Johann  Ernst  eine  Reise  durch  Niedersachsen 
nach  England,  von  welcher  der  Riickweg  iiber  Frankreich  ein- 
geschlagen  wurde.  Fast  50  Jahre  spater  hat  der  Fiirst  auf 
Grand  seines  Tagebuches  die  Abenteuer  jenes  ersten  Ausfluges 
in  steifen  Alexandrinern  besungen,  welche  Becmann  zuerst  in 
seinen  Accessiones  veroffentlichte,  und  der  Verfasser  in  der  vor- 
liegenden  Publikation  einer  genauen  Durchsicht  unterzieht. 

1598  schloss  sich  eine  Reise  nach  Italien  an  diese  Fahrt  in 
den  Nordwesten  Europas.  Christof  von  Lehndorf,  der  jenes 
Land  schon  friiher  gesehen,  iibemahm  die  Pflichten  eines  Hof- 
meisters ;  ein  des  Zeichnens  und  anderer  Eiinste  kundiger  Junker 
von  der  Griin  schloss  sich  der  Gesellschaft  an.  Beide  waren 
reformirt  und  sprachen  welsch  und  franzosisoh.  Der  Weg  fiihrte 
die  jungen  Herren  iiber  Strassburg  zuerst  in  die  Schweiz ,  von 
dort  nach  Augsburg,  Insbruck,  iiber  den  Brenner  in  das  „Trentou 
und  nach  Venedig.  In  Ferrara  wurde  der  Einzug  des  Pabstes 
bewundert,  zu  Florenz  trotz  der  „Wandlause"  ein  langerer  Auf- 
enthalt  genommen.  In  der  Residenz  der  Medicis  bestand  eine 
kleine  Colonie  deutscher  Junker,  welche  zu  ihrer  wissenschaft- 
lichen  oder  musikalischen  Ausbildung  iiber  die  Alpen  gekommen 
waren.  Ihnen  schloss  man  sich  an  und  unterhielt  zu  gleicher 
Zeit  freundschaftliche  Beziehungen  zum  Grossherzoge  und  seinem 
Hofe.  Ebenso  wurde  ein  langerer  Ausflug  nach  Rom,  Neapel, 
Sieflien  und  Malta  unternommen.  Am  10.  August  1600  wurde 
Ludwig  Mitglied  der  Accademia  della  Grusca.  Im  folgenden 
Jahre  verliess  er  Italien,  reiste  nach  Ungarn,  um  seinen  tapferen 
Bruder  Johann  Ernst  im  Lager  von  Kanischa  zu  besuchen,  und 
kehrte  iiber  Pressburg,  Wien  und  Prag  in  die  Heimat  zuriick. 
In  der  bohmischen  Hauptstadt  hatte  er  bei  Kaiser  Rudolf  U. 
eine  Audienz. 

Der  dritte  Abschnitt  handelt  von  den  Erbteilungen  der 
anhaltinischen  Fiirsten  und  den  ersten  Regierungsjahren  Ludwigs 
bis  zum  Ausbruch  des  dreissigjahrigen  Krieges.  Derselbe  erhielt 
1603  als  seinen  Auteil  Cothen.  Die  Hauptstadt  war  in  dem 
traurigsten  Zustande:  die  Stadtmauer  an  vielen  Stellen  einge- 
fiJlen,  mehrere  Hauser  armer  Leute  lagen  in  RuinenI  Da  auch 
das  Schloss  unfertig,  die  ausgeAehnten  Gartenanlagen  erst  pro- 
jectirt  waren  und  die  wichtigsten  Regierungsgeschafte  noch  in 
den  Handen  des  altesten  Bruders  ruhten,  so  begab  sich  der 
First  abennals  auf  Reisen  nach  Holland,  England  und  Frank- 
reich und  kehrte  erst  1604  nach  Dessau  zuriick.  1606  ver- 
mahlte  er  sich  mit  Amona  Amalia,  des  Grafen  Arnold  von 
Bentheim-Tecklenburg  Tochter,  der  jiingeren  Schwester  der  Ge- 
ttalin  Fiirst  Christians,   einer   ebenso   frommen   wie  gelehrten 


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222         Kranse,  Hofrath  G.,  Ludwig,  Fiirst  su  Ankalt-CSthen  etc. 

Dame.  Schloss  und  Stadt  wurden  auf  Grand  der  in  Italien  ge-  ' 
sammelten  Kunstanschauungen  ausgebaut  und  mit  schonen  Park- 
anlagen  umgeben.  Der  Calvinismus  wurde  streng  durchgefuhrt, 
allerorten  wurden  Gemalde  und  Bildhauerarbeit  aus  den  Kirchen 
entfernt  und  lutherische  Ceremonien  beseitigt,  wo  solche  noch 
unter  dem  Schutze  der  Edelleute  sich  erhalten  hatten.  Zur 
Verteidigung  des  Fiirstentums  vereinigten  sich  sammtliche  Fiirsten 
des  Hauses  Askanien  zu  einem  „Landrettungswerk",  einer  Art 
Landwehr.  Als  Muster  diente  hier  in  jeder  Beziehung  die  Wehr- 
verfassung  der  Ober-Pfalz.  Als  Grund  dieser  mit  vielen  Harten 
verbundenen  Massregel  ist  der  Beitritt  der  anhaltinischen  Fiirsten 
zur  Union  zu  nennen,  deren  eifrigster  Sachwalter  ja  Christian 
selbst  war,  der  Rathgeber  Friedrich  V.  von  der  Pfalz. 

Der  vierte  Abschnitt  gibt  den  Abdruck  einer  Reihe  von 
Verordnungen ,  Erlassen  und  Taxen,  welche  fur  die  Cultur- 
geschichte  des  beginnenden  siebzehnten  Jahrhunderts  von  Wichtig- 
keit  sind.  So  bringt  die  Gasthofordnung  strenge  Zucht  in  das 
Verkehrswesen  nach  dem  Grundsatze :  „Der  Wirt  soil  des  Gastes 
Vater  sein";  so  gewahrt  die  „Cabinetsordnung  von  1613"  einen 
Blick  in  das  Getriebe  des  Geschaftsganges ,  und  die  „Taxa  oder 
Anschlag  . .  der  Feylungen"  berichtet  iiber  die  Preise  der  Brauer, 
wie  der  „vierzehn  gefasten  Innungen". 

Ein  wesentlich  padagogisches  Interesse  bietet  der  fiinfte 
Abschnitt :  „Fiirst  Ludwig  als  Reformator  des  Schulwesens  in 
Cothen".  Nach  den  vom  Verfasser  entdeckten,  auf  Ratichins 
beziiglichen  Aktenstiicken  soil  das  Hauptverdienst  der  neuen 
Lehrinstitute  und  Lehrmethoden  in  Cothen  nicht  dem  berufenen 
Didaktikus,  sondern  dem  Fiirsten  Ludwig  selbst  zuzuschreiben  sein. 
Wenn  sich  der  Verfasser  dabei  jedoch  auf  Massmanns  Urtheil 
beruft,  welcher  nach  Durchsicht  der  Akten  es  aufgegeben  habe, 
dem  niedersachsischen  Padagogen  ein  Ehrendenkmal  zu  setzen 
und  sich  dafiir  dem  Ulfilas  zuwandte,  so  ist  doch  sehr  zweifel- 
haft,  ob  man  deshalb  diesen  oder  jenen  mehr  bemitleiden  miisse 
Fiir  die  politische  Geschichte  bietet  dieser  Abschnitt  nichts  be- 
merkenswerthes. 

Der  sechste  Abschnitt  schildert  unter  Einfiigung  einer  Reihe 
von  Aktenstiicken  die  Aussohnungsversuche  der  anhaltinischen 
Fiirsten  beim  Kaiser  Ferdinand  II.  fiir  den  nach  der  Prager 
Schlacht  geachteten  Fiirsten  Christian  I.  und  seinen  gefangenen 
Sohn  Christian  II.  Ersterer  lebte  in  Bremen,  Schweden,  zuletzt 
in  Flensburg  und  wurde  in  der  Heimat  als  Senior  des  gesammten 
Hauses  sehr  vermisst ;  dem  jiingeren  war  sein  Aufenthalt  in  Neu- 
stadt  und  Wien  angewiesen.  Der  Kaiser  erscheint  in  den  Schil- 
derungen  desselben  als  ein  personlich  liebenswlirdiger,  fast  kind- 
licher  Character,  welcher  sich  als  willenloses  Werkzeug  von  der 
Curie  und  dem  spanischen  Gesandten  zu  allem  gebrauchen  liess. 
Es  sagte  Christian  selbst,  „dass  Ihre  Mt.  nicht  so  wild 
waren,  wie  man  Sie  draussen  machte."  Am  9.  Januar 
1623  erhielt  der  junge  Askanier  die  Freiheit  und  die  Huld  des 

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UA.  u.  Aktenst.  z.  Gesch.  d.  Kurffirst.  Friedr.  Wilh.  v.  Brandenb.    223 

Kaisers  wieder,  wahrend  die  Aussohnung  seines  Vaters  erst  im 
folgenden  Jahre  erfolgte ,  so  dass  derselbe  naoh  vier  sorgenvollen 
Wintern  der  Verbannung  erst  am  5.  Juli  1624  in  seine  Residenz 
Bernburg  einziehen  konnte. 

Am  15.  Februar  1623  unterzeichneten  die  Fiirsten  Augustus 
und  Ludwig  zugleich  im  Namen  der  ubrigen  Regenten  einen 
Becess,  das  „Defensions- Werk"  betreffend,  welcher  die 
Wehrkraft  Anhalts  organisiren  sollte.  Man  stellte  2  Compagnien 
Fnssyolk,  jede  zu  250  Mann,  und  eine  Compagnie  von  115  Reitern 
aa£  Die  Kosten  jener  beiden  auf  3  Monate  wurden  auf  19157  fl. 
berechnet,  die  fiir  die  Reiter  auf  9619  fl.  Ausser  diesem  gewor- 
benen  Volk  wurden  auch  die  Lehenmannen  mit  ibren  zu  stefienden 
56  Ritterpferden  aufgeboten.  Als  Kriegs^Commissarius  fungirte 
Heinrich  yon  Borstell.  Zu  gegenseitigem  Schutze  setzte  man  sich 
ausserdem  mit  dem  Administrator  von  Magdeburg  in  Verbindung. 
Selbstrerstandlich  entsprachen  aber  die  geworbenen  Mannscbaften 
den  gehegten  Erwartungen  so  wenig  und  wurden  bald  den 
eigenen  Schutzlingen  so  lastig,  dass  man  sie  nach  Ablauf  der 
dm  Monate  wieder  „reducirte" ;  der  Rest  der  Mannscbaften 
wurde  noch  im  September  1623  entlassen. 
Berlin.  Ernst  Fischer. 


LHI. 
Urkunden   und   Aktenstflcke  zur   Geschichte   des   Kurfursten 
Friedrich  Wilhelm  von  Brandenburg.     Band  VII.    Lex.  8. 
Berlin  1877,   Georg  Reimer.     15  M. 

Inhalt :  Politische  Verhandlungen  Bd.  IV.  Herausgegeben 
von  Pro£  Dr.  B.  Erdmannsdorffer.  (VII,  834  S.) 
Der  gleich  den  drei  ersten  Banden  politischer  Verhand- 
von  B.  Erdmannsdorffer  in  Heidelberg  herausge- 
gebene  vierte  Band  eroffnet  einen  neuen  Abscbnitt  in  der  poli- 
tischen  Geschichte  Brandenburgs,  die  Zeit  des  nordischen  Kriegs. 
Ein  fur  nicht  feme  Zeit  in  Aussicht  gestellter  funfter  soil  diese 
Zeit  zum  Abschluss  bringen.  Unmittelbar  daran  werden  sich 
die  U.  A.  aus  der  Zeit  von  1660 — 72  in  drei  Banden  reihen 
und  damit  die  politischen  Verhandlungen  der  zwei  ersten  Drittel 
der  Regierung  des  Grossen  Kurfursten  in  grosster  Vollstandigkeit 
dem  gelehrten  Publikum  vorliegen. 

Die  Behandlungsweise  ist  in  diesem  Bande  dieselbe  geblieben 
wie  bisher:  regestenartige  Zusammenfassung  aller  minder  bedeut- 
samen  Stiicke,  wortliche  Mitteilung  nur  bei  solchen,  die,  sei  es 
dem  Inhalt  nach,  sei  es  des  Autors  halber,  das  allgemeinste  In- 
teresse  in  Anspruch  nehmen ,  Verkniipfung  der  einzelnen  Stiicke 
durch  zusammenfassende  Notizen  des  Herausgebers ,  der  in  den 
jedem  Abschnitt  vorausgeschickten  Einleitungen  in  klarer  und 
gedr&ngter  Form  ein  Resume  der  in  ihnen  sich  kennzeichnenden 
Politik  giebt. 

Der  Band  gliedert  sich  in  sechs  Abschnitte :  I.  Brandenburg 

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224    Urk.  *•  Aktensl  z.  Gesch.  d.  Zarfurst.  Friedr.  Wilh.  v.  Braadent). 

und  die  Niederlande  wahrend  des  nordischen  Krieg9  1655 — 1660; 
II.  Der  nordische  Krieg  bis  zum  Vertrag  von  Konigsberg  (17.  Jan. 
1656);  IIL  Das  Marienburger  Biindniss  25.  Juni  1656;  IV.  Sen- 
dung  Dobrczenski's  nach  Prag ,  Juli  bis  Sept.  1656 ;  V.  Der 
Reichsdeputationstag  zu  Frankfort  1654 — 1657 ;  VI.  Brandenburg 
nnd  England  1655 — 60;  zum  Schluss  ein  sorgfaltig  gearbeitetes 
Personenverzeichniss.  Man  sieht,  dass  die  Akten  in  den  Be- 
ziehungen  zu  den  beiden  Seemaohten  denen  betreflfs  der  Krieg- 
fiihrenden  zeitlich  vorausgreifend  gleich  bis  zum  Ende  des  nor- 
dischen Eriegs  reichen.  Es  ist  dies  urn  so  erwiinschter,  als  das 
Jahr  1660  wenn  nicht  einen  Umschwung,  so  doch  eine  neue 
Wendung  in  der  Stellung  des  Kurfursten  zu  jenen  Landern  be- 
zeichnet.  Betreflfs  Polens  und  Schwedens  war  dasselbe  Ver- 
fahren  bei  der  Fiille  des  vorhandeneg  Materials  nicht  durch- 
fuhrbar;  der  folgende  Band  wird  uns  hier  erst  die  Verhandlungen 
wahrend  der  aktiven  Teilname  Brandenburgs  am  Kriege  (Juli 
1656  bis  Herbst  1659)  und  an  der  Friedensvermittlung  bringen. 
Lassen  wir  zunachst  Abschn.  I  (Br.  und  die  Niederlande)  unbe- 
rucksichtigt,  und  wenden  wir  uns  den  Verhandlungen  mit  Schwe- 
den,  Polen,  dem  Kaiser  Anfang  1655  bis  Mitte  1656  zu.  Die 
hier  mitgeteilten  Urkunden  werden  die  Darstellung  dieser  Zeit 
in  Zukunft  nicht  wesentlich  andern,  da  schon  das  was  wir 
besitzen,  Droysen's  Geschichte  der  Preuss.  P.  Ill,  2.  und  des* 
Herausgebers  Erdmannsdorffer  Graf  Waldeck,  ebenaaf 
dem  Gros  des  hier  Veroffentlichten  beruhen.  Das  Verdienst  der- 
selben  besteht  vielmehr  in  erster  Reihe  daiin,  uns  mitten  in  das 
Getriebe  der  in  den  bedenklichen  Zeitlauften  hin  und  herschwan- 
kenden  Politik  Br/s  so  einzufuhren ,  dass  wir  dieselbe  bis  in  die 
innersten  Beziehungen  hinein  durchschauen  und  so  erst  zu  einer 
vollig  gerechten  Wurdigung  der  auf  den  ersten  Blick  zweiden- 
tigen  Politik  des  Kurfiirsten  gelangen.  Als  spiritus  actor  der 
Politik  dieser  Jahre  stellt  sich  mehr  und  mehr  Graf  Waldeck 
heraus,  der  mit  seiner  Tendenz,  Brandenburg  auf  Kosten  des 
von  ihm  schon  damals  als  yerloren  betrachteten  Polen  und  im 
Bunde  mit  Karl  Gustav  von  Schweden  zu  vergrossern,  zwar  auf 
die  mehr  oder  minder  entschiedene  Opposition  aller  iibrigen 
Geheimen  Bathe  stiess,  dafiir  aber  einen  Biickhalt  am  Kurfursten 
selbst  fand.  Letzterer  war,  wie  sich  hier  zur  Evidenz  ergiebt, 
instinktiv  geneigt,  iiber  die  Defensiv  -  Linie  hinaus  die  Conjunc- 
turen  der  Zeit  zur  Machterweiterung  seines  HauBes  sei  es  im 
Westen  (Julich-Berg)  oder  im  Osten  (Gross-Polen)  zu  benutz^L 
Die  Erkenntniss  von  der  Bedeutung  Waldecks  hat  den  Heraus- 
geber  zu  erneuter  Durchsuchung  des  furstlich  Waldeckschffli 
Archivs  zu  Arolsen  gefuhrt,  dem  wir  schon  so  zalreiche  wert- 
volle  Nachrichten  verdanken ;  und  hauptsachlich  aus  Mitteilungen 
aus  dieser  unerschopflichen  Fundgrube  wie  aus  denen  des  Geh. 
Staats-Archivs  zu  Berlin  setzen  sich  die  beiden  umfangreichsten 
und  wichtigsten  Abschnitte  des-Bandes,  II  und  III,  zusammen. 
Die   bisherige   Darstellung    kam    zu    einem    durchaus    richtigen 

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Urfc  n.  Aktenst.  z.  Gesch.  d.  KurfiirBt.  Friedr.  Wiih.  v.  Brandenb.   225 

Besnltat,  wenn  sie  den  Konigsberger  Vertrag  vom  17.  Jan.  1656 
mit  seinen  demiitigenden  Bedingungen  als  eine  politische  und 
handelspolitische  Niederlage  des  Kurfursten  bezeichnete.  (Droysen 
IE,  2,  S.  177 — 181.)  Auch  der  Herausgeber  nennt  diesen  Ver- 
trag eine  solche  und  „um  so  mehr,  als  die  brandenburgische 
Politik,  trotz  aller  augenfalligen  Schwierigkeiten  der  Lage,  mit 
bewunderungswiirdigem  Muthe  gleich  im  Anfang  der  Ver- 
wickelungen  sich  ziemlich  woit  gehende  Ziele  gesteckt  hatte, 
deiien  es  (Brandenburg)  in  dieser  Krisis  nachzustreben  gedachte". 
Doch  erst  an  der  Hand  dieser  Akten  werden  wir  auch  die 
Schwierigkeiten  gewahr,  die  dem  Fiirsten  aus  der  Isolirung 
seiner  politischen  Stellung,  dem  Zwiespalt  seiner  Rathe,  vor 
AUem  dem  Mangel  eines  erprobten  mUitarischen  Leiters  ent- 
sprangen  —  Derfflinger,  der  bedeutendste,  wurde  als  Organisator 
in  den  Stammlanden  zuriickgehalten  —  und  die  dann  dazu 
fuhrten,  dass  der  Kurfurst  selbst  die  Leitung  seines  Heeres  wie 
seiner  Politik  in  die  Hand  zu  nehmen  beschloss.  Wenn  man 
ganz  Modemes  mit  dem  der  Geschichte  Angehorigen  vergleichen 
darf,  befand  sich  Fr.  Wilhelm  damals  in  einer  Stellung  zu 
Schweden,  wie  etwa  jetzt  ein  andrer  Hohenzoller  auf  dem  Thron 
der  Rumanen  Russland  gegeniiber;  auch  dem  Verbundeten  gegen- 
uber  gilt  es  da  eigne  Interessen  zu  behaupten,  die  mit  einem 
Zuge  das  Biindniss  zur  entschiedenen  Gegnerschaft  umwerfen 
konnen. 

Besonders  erwahnen  wir  aus  diesem  Abschnitt  die  auf  den 
ernsten  Konflikt  zwischen  Waldeck  und  Schwerin  (Febr.  1655) 
beziiglichen  Stiicko  (S.  330—336);  die  Sendung  Bonins  nach 
Wien,  Nov.  1655,  zur  Herstellung  eines  Schutz-  und  Trutzbiind- 
nisses  mit  dem  Kaiser,  die  ohne  jeden  positiven  Erfolg  bleibt 
und  Brandenburg  in  Schwedens  Anne  treibt  (S.  424  ff.),  wie 
Bonins  eingehende  Schlussrelation,  die  ein  vortreffliches  Bild  vom 
Hof-,  Civil-  und  Militarstaat  des  Kaiserhauses  giebt  (442 — 452) ; 
sodann  Waldecks  Bericht  d.  Angerburg  12.  Nov.  1655  (481  bis 
484),  der  uns  die  Lage  eines  damaligen  Heerluhrers  zeigt,  der 
das  Land  schutzen  soil,  ohne  den  nahenden  Feind  wirklich  anzu- 
greifen ;  endlich  die  schwedische  Darstellung  der  Politik  Branden- 
burgs  im  J.  1655,  (S.  507/8,  510/11),  die  darthut,  wie  das  was 
von  dem  einen  Part  als  notwendige  Sicherung  betrachtet  wird 
von* dem  andern  als  offen  feindselige  Haltung  charakterisirt  wird, 
so  dass  die  Ruptur  unvermeidlich  erschien,  wenn  Br.  nicht  auf 
die  wesentlichsten  Bedingungen  Karl  Gustavs  Jan.  1656  einging. 

Auch  die  Darstellung  der  Politik  in  der  ersten  Halfte  1656 
bis  zum  Marienburger  Biindniss  vom  25.  Juni  d.  J.,  wie  sie  sich 
in  Droysen  HI,  2,  181-— 197  und  Erdmannsdorffer ,  Waldeck 
363—384  findet,  erhalt  hier  in  Abschn.  HL  ihre  vollste  Be- 
Btatigung.  Nur  auf  einen  Punkt  iallt  ein  noch  helleres  Licht: 
Brandenburgs  Aggressiv-Politik  auch  nach  Westen  hin,  sein  ernst- 
licher  Plan,  das  bereits  aufgebrachte  zalreiche  Heer  von  uber 
20,000  Mann  in  den  ersten  Monaten  d.  J.,  wo  Schwedens  Kraft 

MlUfaeiluogen  a.  d.  hiitor.  Litteratur.    VI.  15 


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226  Urk.  «•  Aktenst.  z.  Gesch.  d.  Kurfiirst.  Friedr.  Wilh.  v.  Brandenb. 

allein  zur  Niederhaltung  des  polnischen  Gegners  zu  genugen 
schien,  im  Bunde  mit  Frankreich  zur  Rectificirung  des  rheinischen 
Besitzstands,  zur  Vertreibung  des  alten  Gegners  zu  Diisseldorf 
aus  Jiilich-Berg  zu  benutzen.  Dem  kiihlen  Beobachter  in  der 
Gegenwart  mag  es  wol  als  ein  Gliick  erscheinen,  dass  die  bran- 
denburgisclie  Politik,  durch  Schwedens  Bedrangnisse  nach  dem 
Osten  zuriickgelenkt ,  aus  den  Umschlingungen  des  iiberlegenen 
M a z a r i n  gerettet  wurde,  der  mit  deutschen  Truppen  Frank- 
reichs  Ueberlegenheit  iiber  den  Westen  Deutschlands  zu  erwei- 
tem  beflisseii  war.  Wie  machtig  Karl  Gustav  damals  erscheinen 
mochte,  immerhin  war  er  ein  Bundesgenosse ,  mit  dem  man  als 
mit  einem  Gleichen  verhandeln,  unter  Umstanden  ein  Gegner, 
mit  dem  man  es  wol  aufhehmen  konnte.  Gegen  Frankreich  und 
seine  Verbiindeten  konnte  man  damals  nur  Niederlagen  erleiden, 
mochte  man  ihm  als  Gegner  oder  als  Verbiindeter  entgegen- 
treten.  Die  Akten  ergeben  iibrigens,  dass  des  Kurfursten  Politik 
doch  nicht  so  einseitig  aggressiv  war,  wie  sie  erscheint.  Das 
untilgbare  Misstrauen  zwischen  den  beiden  Partnern  der  Jiilich- 
schen  Erbschaft,  die  starken  Werbungen  des  Neuburgers  gaben 
auch  dem  Kurfursten  Anlass,  auf  seiner  Hut  zu  sein.  —  Die 
Verhandlungen  iiber  eine  wirkliche  Waffengemeinschaft  zwischen 
Schweden  und  Br.  erfullen  die  Monate  Mai  und  Juni  1656 ;  auch 
hier  steht  Waldeck  der  Mehrzal  der  Geh.  Rathe  gegeniiber; 
auch  hier  deckt  ihn  der  Kurfiirst,  bis  die  entgegengesetzte 
Stromung  wahrend  seiner  Verhandlung  mit  dem  schwedischen 
Kanzler  die  Oberhand  gewinnt.  Auch  jetzt  kommt  es  fast  un- 
mittelbar  vor  dem  Abschluss  wieder  zum  Bruch,  bis  die  Einsicht 
in  die  Notwendigkeit  der  gegenseitigen  Dnterstiitzung  der  Wage 
zu  Gunsten  der  Aktionspartei  den  Ausschlag  giebt.  „Die  In- 
8tructionen  fur  die  wahrend  der  Monate  Mai  und  Juni  zu  Frauen- 
burg  und  Marienburg  gefuhrten  Unterhandlungen  stellen  die 
Hauptpunkte  der  wirklichen  Forderungen  des  Kurfursten  fest: 
die  Souveranitat  von  Preussen  und  als  Landerwerb  Grosspolen 
in  seinen  wichtigsten  Theilen  als  Correspondenzlinie  zwischen 
den  markischen  und  preussischen  Landen;  dass  aber  zugleich 
auch  der  Plan  eines  Kampfes  um  Jiilich  und  Berg  noch  nicht 
aufgegeben  wurde,  zeigt  die  Forderung,  die  noch  hinzutrat:  der 
Verzicht  Carl  Gustav's,  als  pfalzisch-zweibriickenschen  FamUien- 
hauptes,  auf  die  Erbanspriiche  seines  Hauses  in  den  julich- 
cleveschen  Landen,  und  Unterstiitzung  des  Kurfursten  zum  bal- 
digen  Erwerb  der  gesammten  Erbschaftslande.  Der  Gang  der 
Verhandlungen  brachte  es  mit  sich,  dass  der  Kurfiirst  auf  diesen 
letzten  Punkt  vorlaufig  zu  yerzichten  sich  veranlasst  sah,  ohne 
darum  das  Unternehmen  selbst  aufzugeben;  auch  die  Souveranitats- 
frage  trat  zuerst  noch  zuruck;  iiber  die  Theilungsfrage  aber 
einigte  man  sich.  Auf  Grund  dieser  Einigung  traten  Schweden 
und  Br,  als  Kampfgenossen  neben  einander,  und  mit  dem  Marien- 
burger  Biindniss  beginnt  eine  neue  Wendung  in  dem  verschlun- 
genen  Gefiige  dieser  nordischen  Kampfe." 

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C5rL  u.  Aktenst.  z.  GeBch.  d.  Kurfiirst.  Friedr.  Wilh.  v.  Brandenb.   227 

Die  bemerkenswertesten  der  in  diesem  Abschn.  III.  mitge- 
teilten  Stiicke  sind  die  Instruktion  und  Neben  -  Instruktion 
fur  Waldeck  und  Platen  vom  1.  resp.  2.  Mai  1656  (S.  574—86), 
die  Berichte  Waldecks  aus  Marienburg  vom  19.— 22.  Mai 
(594 — 600),  die  zur  Herabminderung  der  Brandenburg'schen 
Forderungen  btr.  Julich-Bergs  fiihrten  (601/2  und  606);  endlich 
der  vom  28.  Mai  (607 — 608) ,  worm  W.,  an  dem  Erfolg  seiner 
Sendung  bei  den  Machinationen  seiner  Gegner  vorzweifelnd ,  um 
seine  Abberufang  bittet.  Diesem  Wunsch  wird  seitens  des  Kurf. 
nicht  entsprochen.  Grade  die  Wiederaufiiahme  Polens  ist  fur 
ihn  ein  Beweggrund  zum  Abschluss  mit  Schweden  zu  drangen, 
der  drei  Wochen  spater  erfolgt. 

Abschn.  I.  erlautert  die  Politik  Hollands  1655—60  an  der 
Hand  der  trefflichen  Berichte  des  brandenburgischen  Gesandten 
im  Haag,  des  G.  Baths  Daniel  Weiman,  dem  Copes  und 
M.  Dog  en  als  Residenten  im  Haag  resp.  in  Amsterdam  zur 
Seite  stehen.  Zweck  der  Sendung  W.'s  ist  der  Abschluss  der 
Allianz  mit  den  Staaten,  die  27.  Juli  1655  zu  Stande  kommt, 
und,  was  noch  schwieriger  war,  die  Staaten  zur  Ausfiihrung  der 
bzgL  Bestimmungen ,  der  Unterstiitzung  Br.'s  gegen  Schweden, 
zu  vermogen.  Bekanntlich  hatte  die  Sendung  diesen  Erfolg  nur 
in  geringem  Masse.  Alles,  wozu  sich  die  Staaten  entschlossen, 
lief  darauf  hinaus,  eine  Flotte  in  den  Sund  zu  schicken,  die  in 
den  entscheidenden  Augenblicken  in  ihrer  neutralen  Stellung 
verharrte,  nicht  einmal  dem  Kurfursten  die  Mittel  gewahrte,  den 
1658  gegen  Karl  Gustav  und  zur  Hilfe  Danemarks  begonnenen 
Krieg  durch  Ueberfiihrung  seiner  Truppen  auf  die  danischen 
Inseln  zu  einem  schnellen,  siegreichen  Abschluss  zu  bringen. 
Leiter  der  damaligen  staatischen  Politik  war  der  Raths-Pensio- 
narius  Johann  de  Witt,  das  Haupt  der  „Patrioten",  der  ein 
Jahr  vorher  in  der  Acte  van  Seclusie  gegen  das  Haus  Oranien 
das  Meisterstuck  seiner  Politik  abgelegt  zu  haben  glaubte.  Seine 
politischen  Maximen  sind:  Neutralitat  um  jeden  Preis;  die 
Staaten  die  erhaltende  Kraft  der  ^Balance"  Europa's;  Will- 
fahrigkeit  gegen  den  Protector  Cromwell,  der  sich  zur  See  iiber- 
legen  gezeigt,  bis  zur  Grenze  des  Moglichen,  und  daher  Be- 
niitzung  der  AUianzen  mit  dem  Brandenburger,  dem  Danen,  dem 
Bischof  von  Miinster  zur  Lahmung  jeder  Offensivthatigkeit  der- 
Belben.  Trotz  mannichfachen  Widerspruchs  konnte  sich  de  Witt 
zwei  Jahrzehnte  an  der  Spitze  der  Staaten  behaupten,  weil  er 
in  der  Tat  Wiinsche  und  nachste  Interessen  der  Mehrzal  des 
Volkes  vertrat.  „Dieses  Volk",  schildert  sie  Weimann  in  seinem 
Bericht  aus  dem  Haag  vom  6.  Marz  1656,  „siehet  nur  auf  die, 
welche  ihnen  Schaden  thun  konnen.  Wer  sie  haben  will,  muss 
fiir  ihnen  zuweilen  fliehen.  Wer  ihnen  Ehre  thut  mit  der  Rechten, 
muss  zeigen,  dass  er  mit  der  Linken  ein  anders  thun  kann. 
Dire  Begierde  ist  so  schwerlich  zu  ersattigen,  als  ihrer  viel  ist, 
die  alle  ohne  Ende  und  ohne  Schranken,  ohne  Vernunft  und 
ohne  Erfahrung  regieren.     Sie  sind  beschwerliche  Richter,  wenn 

15* 

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228   Urk.  u-  Aktenat.  z.  Gescb.  d.  Kurfiirst.  Friedr.  Wilh.  v.  Brandenb. 

man  sie  Meister  machet,  und  vergessen  gar  zu  leicht  ihr 
Thun  an  andern,  wenn  sie  urtheilen  sollen  in  Sachen,  so  an 
ilinen  geschelien."  Und  de  Witt's  in  der  Angst  vor  Cromwell 
gipfelnde  Politik  geisselt  er  drei  Jahre  spater  (Bericht  vom 
19.  Mai  1659)  mit  wenigen  treffenden  Worten :  „Die  Seele  seiner 
(de  Witt's)  ganzen  Intention  bestund  darinnen ,  dass  er  mir  im 
Vertrauen  meldete,  sie  mussten  der  Zeit  weichen  und  wiird 
solches  dem  geraeinen  Wesen  nit  viel  schaden;  es  ware  die 
Hauptmaxime  dieses  Staats,  solang  es  die  ausserste  Noth  nicht 
erforderte,  miissten  sie  mit  England  niclit  brechen ;  die  Zeit  wird 
Rosen  bringen,  die  Tractaten  wiirden  langsam  dahergehen,  Dane- 
mark  bliebe  inmittelst  in  seinem  itzigen  Zustande,  Schweden 
zehrte  sich  heimlich  auf,  Polen  konnte  ja  inmittelst  in  Preussen 
kraftig  agiren  und  England  zu  solchen  Revolutionen  verfallen, 
dass  es  dem  Estat  ohne  Miihe  sein  wurde,  die  alte  Concilia  gegen 
Schweden  wiederum  zur  Hand  zu  nelimen  und  ohne  Gefahr  aus- 
zufuhren ;  ja,  wenn  auch  Danemark  particulatim  tractiren  miisste, 
so  ware  solches  fiir  die  gemeine  Sache  so  nachdenklich  nicht, 
als  dass  dieser  Staat  mit  England  in  die  Haare  gerathen  und 
durch  ungliickliche  Bataillen  zu  Grunde  gerichtet  werden  mochtett. 
Dass  einem  solchen  Manne  Brandenburgs  aggressive  Politik, 
deren  Verstandniss  ihm  unmoglich  war,  ein  Dorn  im  Auge  sein 
musste,  ist  leicht  zu  ermessen.  Daher  machte  er  alle  moglichen 
Anstrengungen,  es  in  die  Linie  zuriickzuweisen,  die  er  ihm  be- 
stimmt  hatte,  im  Gefolge  der  staatischen, -und  als  Schildknappe 
jener  Politik,  die  zum  Haager  Concert  fuhrte.  Und  als  der  Kur- 
fiirst derselben-,  da  sie  ihn  zu  isoliren  drohte,  eifrig  entgegen- 
arbeitete,  den  KOnig  von  Danemark  Sommer  1659  zum  Aus- 
harren  ermunterte,  scheute  sich  de  Witt  nicht,  auf  den  Kur- 
fiirsten  personlich  die  Verantwortlichkeit  Air  das  Scheitern  der 
schwebenden  diinisch-schwedischen  Verhandlungen  zuriickzuwerfen. 
Friedrich  Wilhelm  wusste  indess,  wie  man  einer  so  zweideutigen 
Politik  zu  begegnen  habe.  „Es  ist  diese  Beschuldigung",  schreibt 
er  an  Weimann  aus  seinem  Feldlager  bei  Colding  unterm  8.  Juli 
1659  in  einem  Brief,  den  dieser  de  Witt  zeigen  soil,  „es  ist  diese 
Beschuldigung  so  ausverschamt  und  unbegrundet ,  so  verwegen  es 
ist,  dass  ein  solcher  Mensch  sich  von  Unseren  Actionibus  der- 
gestalt  zu  urtheilen  unternehmen  darf.  Wir  haben  Uns  nie 
unterstanden,  den  Konig  in  Danemark  zu  bevormunden  oder  vor- 
zuschreiben,  wie  er  seine  Sachen  anstellen  solle".  Dass  er  ihm 
treuen  Beistand  versprochen,  entspreche  auch  der  Staaten  In- 
teresse  und  Absicht,  „dass  Wir  Uns  aber  mit  dem  de  Witte, 
nachdem  sich  derselbige  von  franzosischen ,  englischen  und 
schwedischen  Ministris  gegen  des  Staats  wahrhaftes  Intereese 
umstellen  lassen,  conformiren,  und  seiner  unbestandigen,  hochst 
schadlichen  Consilien  theilhaftig  machen  sollten,  dazu  lieben  Wir 
Unsere  Ehre  und  Gewissen  zu  viel.  Und  wird  er  gewisslich  der 
erste  nicht  sein,  der  mit  seinem  Exempel  beweisen  wird,  dass 
man  zwar  in  dem  Staat  nach  der  Natur   solcher  Republicq   ein 

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Urt  u.  Aktenst.  z.  Gesch.  d.  Kurfiirst.  Friedr.  Wilh.  v.  Brandenb.  229 

Zeitlang  solche  schadliche  Consilia  fuhren,  auch  etzlicher  Maassen 
durchtreiben  kann,  bald  aber  in  die  Grube  fallen  muss,  die  man 
Andern  zu  graben  gedacht  hat;  wie  Wir  dann  nimmermehr 
glauben  konnen,  dass  die  gottliche  Rache  lange  iiber  solche  scliad- 
liche Leute  ausbleiben  werde". 

Abschn.  VI.  (Br.  und  England  1655 — 60)  bringt  uns  in  der 
Einleitung  S.  705 — 712  einen  eingehenden  Bericht  iiber  die  Be- 
zieimngen  des  Kuriursten  zu  Carl  Stuart,  der  von  Fr.  Wil- 
helm  gleich  den  meisten  Fiirsten  Europa's  fortdauernd  als  einzig 
legitimer  Konig  von  England  betrachtet  und  behandelt  wurde, 
ans  den  Jahren  1649 — 54.  Das  interessanteste  daraus  ist  ein 
Revers  des  von  Carl  als  bevollmachtigter  Minister  nach  Berlin 
gesandten  Grafen  Rochester  d.  Coin  a./Spr.,  20.  Oktober  1654, 
welcher  nach  der  Wiederherstellung  des  Konigs  einen  Bundes- 
und  Handelsvertrag  in  Aussicht  stellt,  der  der  brandenburgischon 
Marine  besonders  auch  den  Handel  nach  Indien  eroffnen  soil; 
ein  Vertrag,  wie  er  in  etwas  beschrankter  Art  am  26.  Juli  1661 
zu  Stande  kam. 

Doch  neben  diesen  geheimen  Beziehungen  zu  Carl,  notigten 
die  politischen  Verhaltnisse  den  Kuriursten  bald  darauf ,  Herbst 
1655,  auch  zu  oiner  officiellen  Ankniipfung  mit  dem  Protector, 
der  als  Hort  der  evangelischen  Interessen  aufgerufen  wurde,  den 
Kurfiirsten  in  seinem  Kampf  mit  einer  Flotte  oder  entsprechenden 
Subsidien  zu  unterstiitzen.  Leider  war  das  Organ,  dem  diese 
Botschaft  anvertraut  wurde,  der  bisherige  brand.  Resident  in 
Hamburg  Joh.  Fdr.  Schletzer,  ein  ausserst  zweifelhafter 
Charakter,  durchaus  nicht  geeignet,  die  Interessen  Br.'s  an  dem 
Hofe  des  sittenstrengen  und  scharfblickenden  Protectors  zu  ver- 
treten.  Schletzer's  hervorstechende  Fehler,  Eitelkeit,  Genusssucht 
und  Tragheit,  verwickelten  ihn  in  bose  Handel,  die  einen  Augen- 
bUck  drohten,  auch  den  Ruf  seines  Herrn  zu  triiben.  In  der 
Sache  selbst  erreichte  er  nichts  weiter  als  Versprechungen  und 
hofliche  Worte.  Wenn  die  Gesandtschaft  so  auch  zu  keinem 
handgreiflichen  Resultat  fuhrt,  so  sind  die  hier  mitgeteilten 
Akten  doch  auch  abgesehen  von  ihrem  kulturhistorischen  Intoresse 
iur  die  Erkenntniss  von  Natur  und  Politik  des  Protectors  von 
nicht  zu  unterschatzendem  Wert.  Seine  Audienzen,  seine  Schrei- 
ben,  seine  Instruktionen  offenbaren  alle  einen  Genius,  der  eine 
klare  Politik  mit  ausserstem  Freimut  und  ebenso  grosser  Vor- 
sicht  vertritt.  Entschieden,  fast  als  selbstverstandlich,  nimmt  er 
die  Stellung  des  Schutzers  aller  evangelischen  Interessen  Europa's 
ein  und  behauptet  dieselbe  bei  materiell  doch  ausserst  bc- 
schrankten  Mitteln.  Ein  besonderes  Licht  fallt  hier  auf  Crom- 
well's Plan,  1657  die  Krone  vom  Parlament  anzunehmen,  die 
er  indess  im  letzten  Augenblick  doch  wieder  zuriickweist 
(S.  758—773).  Die  ganze  Personlichkeit  erscheint  hier  in  einem 
durchaus  vorteilhaften  Licht,  einzig  um  das  Wohl  des  von  ihr 
regierten  Staates  bemiiht. 

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230      Isaacsohn,  Dr.  S.,  Gesebichte  des  Prenssischon  Beamtenthums. 

Wir  schliessen  dieso  Anzeige  mit  dem  Wunsch,  dass  der  in 
Aussicht  gestellte  baldige  Abschluss  der  Akten  aus  der  Zeit  dee 
nordischen  Kriegs  nicht  zu  lange  auf  sich  warten  lasse. 
Berlin,  Eude  Februar  1878.  S.  Isaacsohn. 


LIV, 

Isaacsohn,  Dr.  S.,  Geschichte  des  Preussischen  Beamtenthums 

vom  Anfiang  des  15.  Jahrhunderts  bis  auf  die  Gegenwart 
I.  Band.  Das  Beamtenthuin  in  der  Mark  Brandenburg  1415 
bis  1604.  IL  Band.  Das  Preussische  Beamtenthum  des  sieb- 
zehnten  Jahrhunderts.  gr.  8°.  (X  und  291,  XIV  und  384  S.) 
Berlin  1874.  1878.  Puttkammer  &  Muhlbrecht  15.  M. 
Wahrend  die  eigentliche  politischo  Geschichte  des  branden- 
burgisch-preussischen  Staates  in  den  bedeutondon  Werken,  welche 
gerade  in  neuester  Zeit  erschienen  sind,  namentlich  in  Droysens 
Geschichte  der  Preussischen  Politik  und  in  der  neuen  Bear- 
beitung  von  Ranke's  Preussischer  Geschichte  ebenso  griindliche 
wie  geist-  und  lichtvolle  Darstellungen  erhalten  hat,  ist  die  Ge- 
schichte der  inneren  Landesverwaltung ,  auf  welcher,  wie  der 
Verfasser  des  vorliegenden  Werkes  mit  Recht  hervorhebt,  „nicht 
in  letzter  Reihe  der  Machtaufechwung  unseres  Staates  beruht", 
bisher  nur  wenig  beriicksichtigt  wordcn.  Es  fehlt  ebensowohl 
fur  die  meisten  Zweige  derselben  an  geniigenden  Specialstudien, 
wie  an  einer  allgemeinen ,  das  gesammte  Gebiet  umfassenden 
Bearbeitung.  Urn  so  mehr  Dank  sind  wir  Herrn  Isaacsohn  dafiir 
schuldig,  dass  er  sich  der  miihevollen  und  wenigstens  an- 
scheinend  weniger  dankbaren  Aufgabe  unterzogen  hat,  diege 
empfindliche  Liicke  in  der  Darstellung  unsrer  vaterlandischeu 
Geschichte  auszufiillen.  Allerdings  hat  er  bei  dem  Mangel  an 
geeigneten  Yorarbeiten  es  nicht  gewagt,  eine  zusammenfassende 
Bearbeitung  der  brandenburgisch  -  preussischen  Verwaltungs- 
geschichte  zu  liefern,  sondern  er  hat  sich  eigentlich  nur  vor- 
gesetzt,  eine  Seite  derselben,  das  preussische  Beamtenthum,  den 
Trager  dieser  Verwaltung,  in  seiner  allmahlichen  Entwickelung 
vorzufuhren,  indessen  hat  er  seine  Studien  viel  weiter,  iiber  das 
gesammte  Gebiet  hin  ausgedehnt,  und  auch  die  Darstellung  tritt 
je  weiter,  desto  mehr  aus  dem  urspriinglichen  enggezogenen 
Rahmen  heraus.  Die  Arbeit  beruht  auf  einem  sorgsamen  und 
griindlichen  Studium.  Obgleich  fur  die  altere  Zeit  in  den  Ur- 
kundenpublicationen,  namentlich  in  denen  von  Riedel  und 
v.  Raumer,  ein  grosser  Theil  des  Quellenmaterials  gedruckt  vor- 
lag,  hat  er  dennoch  auch  fur  diesen  Zeitraum  das  berliner 
Archiv  durchforscht  und  in  demselben  zahlreiche  wichtige,  bisher 
noch  nicht  verwerthete  Materialien  gefunden,  fur  die  spatere 
Zeit,  wo  solche  Quellenpublicationen  weit  mehr  fehlten,  beruht 
fast  die  gesammte  Darstellung  auf  archivalischen  Studien,  und 
zwar  sind  hier  neben  dem  berliner  Archiv  auch  die  Provinzial- 
archive   der   einzelnen   allinahlich    mit   dem   brandenburgischen 

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■53T*   v 


Isaacaohn,  Dr.-  S.,  Goschichte  des  Preussischeu  Boamtenthuma.      231 

Staate  vereinigten  Landschaften  ausgebeutet  word  en.  Zahlreiche 
Auszige  aus  diesen  Archivalien  sind  in  den  fortlaufend  den  Text 
begleitenden  Anmerkungen  mitgetheiit,  in  den  Beilagen  des 
zweiten  Bandes  sind  auch  einige  interessante  Documente  und 
Briefe  vollstandig  publicirt  worden.  Nicht  woniger  sorgsam  hat 
der  Ver£  auch  die  litterarischen  Hiilfsmittel,  welche  ihm  fiir  seine 
Zwecke  Ausbeute  gewahren  konnten,  benutzt,  und  er  hat  es 
nicht  unterlassen  da,  wo  er  Anderen  Belehrung  und  Forderung 
rerdankt,  insbesondere  fiir  die  altere  Zeit  Kiihns'  Geschichte  der 
markischen  Geriohtsverfassung ,  spater  fiir  die  Geschichte  des 
Grossen  Kurfursten  den  trefflichen  Untersuchungen,  welche  sich 
in  den  bisher  erschienenen  Theilen  der  Urkunden  und  Akten- 
stucke  zur  Geschichte  des  Kurfiirsten  Friedrich  Wilhelm  finden, 
ferner  den  auch  auf  die  Zeiten  Friedrichs  I.  zuriickgehenden 
Arbeiten  von  Schinoller  iiber  das  preussische  Stadtewesen  unter 
Friedrich  Wilhelm  I.  gebuhrende  Anerkennung  zu  zollen.  Der 
reiche  Stoff  ist  iibersichtlich  und  zweckmassig  geordnet,  in  der 
Darstellung  hat  der  Verf.,  der  Natur  seines  Gegenstandes  ent- 
sprechend,  auf  besonderen  Schmuck  verzichtet,  dieselbe  ist  ein- 
fach,  klar  und  ansprechend.  Das  ganze  Werk  soil  nach  dom 
in  der  Vorrede  des  ersten  Bandes  aufgestellten  Plane  4  Bande 
umfassen,  der  erste  beginnt  mit  dem  Anfange  des  15.  Jahrhun- 
derts,  dem  Eintritt  der  Hohenzollern  in  den  Marken,  und  reicht 
bis  zum  Jahre  1604,  bis  zur  Begriindung  des  Geheimen  Bathes. 
Der  zweite  sollte  nach  jenem  urspriinglichen  Plane  bis  zum 
Jahre  1723,  der  Bildung  des  General-Directoriums  fuhren,  doch 
hat  der  Verf.  vorgezogen,  ihn  schon  mit  dem  Todo  Konig  Frie- 
drichs L  1713  zu  schliessen,  ein  dritter  soil  die  Regierungen 
Friedrich  Wilhelms  I.,  Friedrichs  II.  und  Friedrich  Wilhelms  II., 
ein  vierter  die  Zeiten  des  19.  Jahrhunderts  seit  den  fundamen- 
talen  Umgestaitungen  der  Jahre  1808 — 1813  umfassen.  Wir 
versuchen  im  Folgenden,  entsprechend  der  dieser  Zeitschrift  ge- 
stellten  Aufgabe,  eine  Uebersicht  iiber  den  Gang  der  Darstellung 
und  iiber  die  hauptsachlichen  Resultate  derselben  zu  geben. 

Der  erste  Band  ist  in  der  That,  wie  sein  Titel  besagt,  eine 
Geschichte  des  brandenburgischen  Beamtenthums  vom  Anfange 
des  15.  Jahrhunderts  bis  zum  Jahre  1604.  Er  zerfallt  in  6 
grossere  Abschnitte,  in  denen  nach  einander  die  verschiedenen 
Klassen  yon  Beamten  in  ihrer  Entwickelung  vorgefuhrt  werden. 
Der  erste  Abschnitt  haudelt  von  dem  Hofe  des  Markgrafen.  Das 
zu  demselbeu  gehorige  Personal  zerfallt  in  2  Klassen,  in  die 
eigentlichen  Hofbeamten  und  in  die  grossere  Zahl  der  Diener 
im  AUgemeinen.  Von  den  Mitgliedern  beider  Klassen  wird  zu- 
nachst  im  Allgemeinen  bemerkt,  dass  ihre  Thatigkeit  nicht  nur 
auf  einen  ^bestimmten  Amtszweig  beschrankt  gewesen  ist,  sondorn 
dass  sie  "zur  Berathung  und  Ausfiihrung  der  verschiedensten 
Regierungsgeschafte  herangezogen  wurden.  Bis  zum  Anfange  des 
16.  Jahrhunderts  wurden  sie  nur  aus  den  Pralaten  und  Bittern 
genommen,  seit   Joachim  I.  wurden    auch    burgerliche   Rechts- 

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232      Iaaacsohn,  Dr.  S.f  Geschicht©  des  Preussischen  Beamtenthmns. 

gelehrto  herangezogen.  Sie  haben  privilegirte  Gerichtsbarkeit 
vor  dom  Markgrafen  selbst  oder  dessen  Stellvertreter ,  werden 
durch  formlichen  Contract,  meist  auf  iinbestimmte  Zeit,  mit 
Kiindigungsfrist  in  Dienst  genommon ,  sie  beziehen  meist  kein 
testes  Geldgehalt,  sondern  sie  erhalten  einmal  Unterhalt,  Kleidung 
iind  Wohnung  von  dem  Landesherren  und  werden  andererseits 
meist  von  demselben  mit  Grundbesitz  oder  Gefallen  belehnt. 
Der  Verf.  besprieht  dann  zunachst  die  eigentlichen  hoben  Hof- 
beamten.  Es  sind  dieses:  der  Hofmeister,  der  Wahrer  von  Her- 
kommen  und  Anstand  am  Hofe  (seit  dem  15.  Jahrhundert  giebt 
es  neben  einander  einen  Oberhof-  und  einen  Hofmeister,  von 
denen  nur  der  letztere  seinen  standigen  Aufenthalt  am  Hofe 
bat),  der  Kammermeister ,  der  Verwalter  der  Einkiinfte  des 
Landesherren  (seit  Joachim  I.  wird  eine  besondere  Kasse  fur 
die  Landesverwaltung ,  die  Hofrenthei,  abgezweigt,  und  der 
Kammermeister  behalt  nur  die  Verwaltung  der  Domanenein- 
kiinfte  und  einzelner  Regalien),  der  Hofmarschall  (seit  Mitte  des 
15.  Jahrhunderts  findet  sich  auch  dieses  Amt  verdoppelt,  ein 
Oberhof-  und  ein  Hofmarschall,  von  denen  wieder  nur  der  letztere 
cin  standig  am  Hofe  befindlicher  Beamter  ist),  ferner  der  Kanzler, 
seit  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  das  hervorragendste  Mitglied 
des  Hofhaltes,  der  vertraute  Rathgeber  des  Fiirsten,  sein  be- 
standiger  Begleiter,  sein  Stellvertreter  im  Hofgericht,  spater  der 
Vorsitzende  des  Kammergerichts,  endlich  der  Kiichenmeister  und 
der  Schenk(Oberkuchenmeister  und  Oberschenken  finden  sich 
schon  seit  dem  14.  Jahrhundert  als  Erblehen  bestimmter  Adels- 
geschlechter).  Der  Verf.  behandelt  dann  die  kurfiirstlichen 
Rathe  und  Hofgesinde,  d.  h.  die  unter  den  ersten  Hohenzollern 
ziemlich  zahlreichen  Personen,  welche  ohno  bestimmte  Amts- 
functionen  von  den  Kurfiirsten  in  Dienst  genommen  werden,  uni 
als  allezeit  dienstfertige  Rathgeber  und  reisiges  Gesinde  den- 
selben  zu  dienen.  Sie  zerfallen  in  zwei  Klassen,  in  „wesentliohett 
Rathe  und  Hofgesinde,  welche  sich  bestandig  am  Hofo  aufeu- 
halten  haben,  und  in  solche  „von  Haus  ausu,  die  nur  einem  bo- 
stimmten  Rufe  zu  folgen  haben.  Seit  Joachim  I.  wird  die  Zahl 
derselben  kleiner,  und  werden  einmal  Juristen,  andererseits  er- 
probte  Kriegsleute  in  dieser  Stellung  in  den  Dienst  des  Kur- 
fiirsten gezogen. 

Der  zweite  Abschnitt  behandelt  die  Landesbeamten,  zunachst 
diejenigen,  welche  im  14.  Jahrhundert  die  wichtigste  Rolle  ge- 
spielt  hatten,  die  Vogte.  In  jenem  Jahrhundert  war  die  ganze 
Mark  in  c.  30  Vogteien  eingetheilt,  in  jeder  derselben  waltete 
ein  Vogt,  welcher  als  Stellvertreter  des  Markgrafen  alle  Zweige 
der  Verwaltung  unter  seiner  Oberleitung  veroinigte.  Schon  zu 
Anfang  des  15.  Jahrhunderts  aber  war  diese  Vogteiverfassung 
sehr  verandert  durch  die  zahlreichen  Exemtionen ;  ein  Theil  der 
Vogteien  war  ganz  eingegangen,  die  anderen  (c.  25)  waren  zu 
Domanialbezirken  zusammengeschrumpft ,  in  denen  die  Vogte 
hinfort  als  landesherrliche  Anats-  und  Hauptleute  walteten.    Die 


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Isaaeeohn,  Dr.  S.,  Gesohichte  des  Preussischen  Beam  ten  thnms.      233 

Functionen  derselben  sind  theils  polizeiUoh-jurisdictionelle  (Auf- 
rechthaltung  von  Friede  und  Ordnung,  Schiedsgericht) ,  theils 
militarische  (Ausrfistung  und  Anfuhrung  des  Vogteiaufgebotes), 
theils  wirthschaftlich-finanzielle  (Verwaltung  der  Domanen,  Er- 
hebimg  der  sonstigen  landesherrlichen  Einnahmen  und  Gefalle). 
Der  Vogt  als  der  eigentliche  Vermittler  zwischen  dem  Landes- 
herren und  dessen  unmittelbaren  Unterthanen  nahm  eino  an- 
sehnliche  Stellung  ein,  sein  Einkommen  setzte  sich  aus  Natural- 
hcfenmgen  und  baarem  Gehalte  zusammen,  er  wurde  entweder 
auf  unbestimmte  oder  auf  kurze  Zoit,  mit  Kfindigungsfrist,  ange- 
stellt,  doch  waren  manche  Vogte  Pfandinhaber  ihrer  Vogtei  und 
hatten  so  das  Amt  auf  Lebenszeit  oder  gar  erblich  inne.  Unter 
Joachim  I.  hort  die  Vogteiverfassung  ganz  auf,  an  die  Stelle  der 
Vogte  treten  fur  die  Verwaltung  der  Domanen  Amtshauptleutc, 
ihre  jurisdictionellen  Befugnisse  gehen  an  den  Hof-  und  Land- 
richter  fiber,  nachdem  fur  die  Reste  mehrerer  Vogteien  zusammen 
das  Provinzialhof-  und  landgericht  eingesetzt  ist,  die  polizei- 
lichen,  militarischen  und  wirthschaftliohen  Befugnisse  werden  hin- 
fort  von  den  Vorstehern  der  grosseren  Landesbezirke,  den  Landes- 
haoptleuten,  versehen,  die  finanzielle  Thatigkeit  ist  schon  friiher 
an  einen  Unterbeamten ,  den  Kastner,  iibergegangen.  Der 
Verf  bespricht  darauf  die  Unterbeamten  des  Vogts:  Kastner, 
Schosser,  Zollner,  Landreiter  (das  eigentliche  Executivorgan)  und 
die  Dorfechulzen  der  landesherrlichen  Dorfer  und  Aemter,  und 
geht  dann  zu  den  hoheren  Gewalten  fiber,  welche  ursprfinglich 
fiber  den  Vogten  entstanden  sind  und  auf  welche  dann  der 
grossere  Theil  der  Befugnisse  derselben  iibergegangen  ist,  zuerst 
zu  der  Landeshauptmannschaft.  Dieselbe  war  in  den  unruhigen 
Zeiten  des  14.  Jahrhunderts ,  und  zwar  zunachst  in  den  am 
meisten  bedrohten  Grenzprovinzen,  entstanden,  war  spater  aber 
auch  in  den  anderen  Landestheilen  eingeffihrt  worden  und  zwar 
so,  dass  der  Inhaber  der  bedeutendsten  Vogtei  der  Provinz  die 
Oberleitung  dieser  in  ihrer  Gesammtheit  erhielt,  im  15.  Jahr- 
hundert  gab  es  so  besondere  Landeshauptleute  in  der  Altmark, 
Priegnitz,  Mittelmark,  Neumark  und  Uckermark.  Der  Geschafts- 
bereich  des  Landeshauptmannes  ist  sehr  ausgedehnt,  er  hand- 
habt  die  Polizei,  ferner  hat  er  jurisdictionelle  Befugnisse,  er  ist 
der  Vorsitzende  in  dem  Quartalgericht  seiner  Provinz  und  fibt 
zugleich  als  Vertreter  des  Landesherren  die  Gerichtsbarkeit  fiber 
die  schlossgesessenen  Geschlechter  sowie  eine  ausgedehnte  schiods- 
richterliche  Thatigkeit  aus ,  endlich  hat  er  die  Controlle  fiber  die 
gesammte  Justizverwaltung  in  seiner  Provinz.  Er  ist  das  mili- 
tarische Oberhaupt  derselben  und  hat  endlich  auch  die  Oberaufsicht 
fiber  die  gesammte  Finanzverwaltung.  Das  Amt  ist  also  ein 
einflussreicher  Vertrauensposten ,  doch  wird  dasselbe  in  seiner 
Selbstandigkeit  beschrankt,  einmal  durch  den  Landesherren, 
deggen  Zustimmung  bei  wichtigeren  Dingen  der  Landeshauptmann 
oinzuholen  hat,  andererseits  durch  die  Stiinde,  welche  auf  ihren 
Landtagen  fiber  Dinge   aus  der  gesammten  Amtsthatigkeit  des-. 

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234      Isaacsohn,  Dr.  S.,  Geschichte  dos  Preussiscken  Beamtenthums. 

selbon  berathen,  ausserordentliche  Geldmittel  bewilligen,  rich 
iiber  Missbrauche  beschweren  und  auch  Einfluss  auf  die  Be- 
sotzung  des  Amtes  gewinnen.  Um  die  Mitte  des  16.  Jahrhun- 
derts  aber  geht  auch  dieses  Amt  in  den  moisten  Provinzen  ein, 
es  erhalt  sioh  spater,  aber  auch  nicht  mehr  regelmassig  besetzt, 
nur  noch  in  der  Alt-  und  Uckermark.  Es  folgt  dann  eine  Be- 
sprechung  der  der  Controlle  des  Landeshauptmanns  untergebenen 
Provinzialbeamten,  der  Forst-  und  Jagd-,  der  Deich-,  der  Miinz- 
beamten  und  der  Geleitsleute.  Feraer  werden  noch  die  ausser- 
brdentlichen  Beamten  behandelt,  welche  in  der  Abwesenheit  oder 
wahrend  der  Minderjahrigkeit  des  Landesherren  die  Stellver- 
tretung  fiir  denselben  gefuhrt  haben  (theils  einzelne  obente 
Hauptleute  oder  Statthalter,  theils  ein  Regentschaftsrath  mit 
einem  Statthalter  an  der  Spitze),  zum  Schluss  dann  noch  die 
Behorden  der  Neumark,  welche  Landschaft,  auch  nach  ihrer 
Wiedervereinigung  mit  der  Kurmark  1535,  eine  besondere  Re- 
gierung,  bestehend  aus  einem  Regierungscollegium ,  mit  einem 
Kanzler  an  der  Spitze,  und  einer  Amtskammer,  behalten  hai 

Der  dritte  Abschnitt  handelt  yon  den  standischen  Beamten, 
zunachst  von  denen  in  den  geistlichen  Stiftern,  auf  den  Besitz- 
ungen  des  Adels  und  in  den  Stadten  selbst.  In  den  letzteren 
wird,  seitdem  ihre  Autonomic  durch  die  ersten  Hohenzollern 
gebrochen  ist,  der  Stadtrath  nur  aus  den  Goschlechtern  besetit 
und  von  dem  Landesherren  bestatigt,  an  seiner  Spitze  stehen 
ein  oder  mehrere  Biirgermeister ,  ihm  untergestellt  sind  Unter- 
beamte  (der  Stadtschreiber  und  die  Stadtdiener).  Dann  aber 
werden  diejenigen  standischen  Collegien  durchgenommen,  welche 
seit  Joachim  H  die  Verwaltung  der  von  den  Standen  fiir 
die  Schuldentilgung  bewilligten  directen  und  indirecten  Steuern 
leiten,  die  Verordneten  fiir  den  Stadtschoss,  den  Hufenschoss  und 
das  Neue  Biergeld. 

Der  vierte  Abschnitt :  „Die  Justizbeamten"  enthalt  in  seinem 
ersten  Theile  eine  Darstellung  der  markischen  Gerichtsverfassung 
des  15.  Jahrhunderts.  Damals  wird  die  Gerichtsbarkeit  in  erster 
Instanz  ausgeiibt  in  den  Dorf-,  Stadt-  und  den  Provinzialhof- 
gerichten,  die  letzteren  sind  fiir  alle  Klagen  gegen  Ritterbiirtige, 
gegen  Pralaten  und  ganze  Stadtgemeinden  das  zustandige  Forum, 
alle  bestehen  aus  einem  Vorsitzenden  (dem  Dorfsohulzen ,  dem 
Stadtrichter  und  dem  Hofrichter)  und  einer  Anzahl  den  Parteien 
ebenbiirtigen  Beisitzern.  Die  zweite  Instanz  bilden  fiir  Bauem 
die  Landgerichte  in  den  einzelnen  Provinzen,  bestehend  aus  einem 
auf  Lebenszeit  gewahlten  Landrichter  und  einer  Anzahl  von 
Landschoffen  (Dorfechulzen) ;  allmahlich  seit  dem  15.  Jahrhun- 
dert  (zuerst  in  der  Uckermark)  verschmilzt  dieses  Provinzialland- 
mit  dem  Provinzialhofgericht  entweder  vollstandig,  oder  doch  so, 
dass  beide  Geriohte  dieselben  Beisitzer  haben,  aber  noch  in  Com- 
petenz  und  Zeit  getrennt  bleiben.  Die  zweite  Instanz  fiir  Rechts- 
sachen  von  Biirgerlichen  und  Ritterbiirtigen  ist  das  Gericht  in 
des   Markgrafen   Kammer.      Dieses   verschmilzt    daun    seit   der 

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Iaaacsohn,  Dr.  S.,  Geschkhte  des  Preussischen  Beamtenthums.     235 

Verlegung  der  kurfurstlichen  Residenz  nach  Coin  a.  Sp.  (seit 
c  1450)  mit  dem  ebendaselbst  tagenden  mittelmarkischen  Pro- 
rinaalhofgeiicht.  Unter  Joachim  I.  erhalt  dieses  Gericht  daun 
1516  eine  neue  Organisation  durch  den  Entwurf  einer  Kammer- 
gerichtsordnung ,  welche  1540  auch  durch  die  Stande  formlich 
anerkannt  wird;  allmahlich  im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts 
werden  dann  auch  in  den  anderen  Provinzen  ahnliche  hohere 
Gerichtshofe  eingerichtet :  das  altmarkische  und  das  ucker- 
miirldfche  Quartalgericht  und  das  nQumarkische  Hof-  und  Kammev- 
gericht. 

Das  Hof-  und  Kammergericht  zu  Coin  a.  Sp.  ist  hinfort  das 
Fonun  fiir  die  Eximirten,  ferner  zweite  Instanz  fur  Appellationeu 
aus  der  Mittelmark,  endlich  dritte  Instanz  fur  die  Dorfgeriohte 
dieser  Proyinz  und  fur  Appellationen   aus  den  anderen  Marken. 
Vomtzender  ist  als  Stellvertreter   des  Markgrafen  der  Kanzler, 
das  Gericht  hat  12  Beisitzer  (4  kurfiirstliche  Rathe   und  8  von 
den  Standen  prasentirte  und  von  dem  Kurfiirsten  bestatigte  Per- 
sonen),  mindestens  2  derselben  miissen  Doctores  juris  sein.  Ferner 
sind  diesem  Gericht   ein   Generalfiskal   und  einige  Procuratoren 
und  Anwalte  beigegeben.  Das  alt-  und  das  uckermarkisohe  Quartal- 
gericht  bestehen   aus  dem  Landeshauptmann   als  Vorsitzenden, 
einem  Hof-   und   Kammergerichtsrath    und    einigen   Provinzial- 
beamten  und  Vertretern  der  Stande  als  Beisitzenden,  es  ist  erste 
Instanz  fur  Adliche,  sowie  fiir  ganze  Stadt-  und  Dorfgemeinden, 
und  iibt   zugleich   eine  mit   dem  Provinzialhof-  und  landgericht 
concurrirende  Gerichtsbarkeit  in   alien   burgerlichen  und  pein- 
lichen  Sachen  aus,  die  ohne  formlichen  Process  zu  entscheiden  sind. 
Der    fiinfte   Abschnitt   handelt   von   den   Beamten   in   der 
Kirchen-  und  Schulverwaltung.    Durch  die  Reformation  ist  der 
Knrfurst  das  Haupt  der  Landeskirche  geworden.    Diese  erhalt 
ihre   Organisation    durch    die   Kirchenordnung    von   1540,   die 
Durchfiihrung  derselben  geschieht  vermittelst  der  seit  1573  stan- 
digen  Visitationen.    An  der  Spitze  der  Kirchenverwaltung  steht 
der  Generalsuperintendent,  er  hat  den  Vorsitz  in  dem  aus  geisk- 
lichen  und  weltlichen   Beamten  zusammengesetzten  Visitations- 
collegium    und   zu  Anfang  (bis  1566)   auch  in   dem   geistlichen 
Con8istorium,  welchem  die  Entscheidung  in  Glaubens-  und  Ehe- 
sachen,    die  Ausfuhrung  der  auf  den  Visitationen  beschlossenen 
Massregeln,  und   die  Bestrafung  kirchlicher   Vergehen  zusteht. 
Innerhalb  der  einzelnen  Gemeinden  sind  die  Organe  der  Kirchen- 
verwaltung: der  Pfarrer,  Kaplan  (Hiilfsprediger),  Kiister,  ferner 
die  Kastenherren  und  Hospitalvorsteher  (Gemeindebeamte  fur  die 
Verwaltung  des  Kirchenvermogens).     Die  Oberaufsicht  iiber  alio 
Kirchenbeamten  eines  grosseren  Kreises   fiihrt   einer   der  Geist- 
lichen desselben  als   Inspector.     Angeschlossen   ist    eine   kurze 
Schilderung  des  Schulwesens  und  der  Verhaltnisse   der  Landes- 
universitat  Frankfurt  a.  0. 

In  dem   letzten   sechsten  Abschnitt   werden   die  Verfassung 
und   die  Beamten    der  Landesvertheidigung   besproehen.     Das 

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236     Isaacsohn,  Dr.  S.,  GeBchichte  des  Preussiachen  Beamtenthums. 

Kriegsheor  besteht  auch  in  Brandenburg  aus  der  reisigen  Lehns- 
mannschaft  und  der  Stadtmiliz,  auch  fur  Artillerie  und  Train 
haben  die  Stadte  zu  sorgen.  Doch  ist  in  Folge  der  langen 
Friedenszeit  im  16.  Jahrhundert  die  ganze  Kriegsverfassung  ver- 
faHen,  1588  zahlt  das  ganze  Aufgebot  nur  c.  1700  Reiter  und 
2500  Fusssold&ten.  Die  Controlle  iiber  die  reisige  Mannschaft 
iiben  Musterherren,  iiber  die  stadtischen  Milizen  Musterer  (stan- 
dige  Beamte).  Im  16.  Jahrhundert  werden  in  den  Marken  auch 
die  ersten  Festungen  nach  dem  neuen,  dem  Geschiitzwesen  ent- 
sprechenden  System  angelegt,  zuerst  durch  Markgraf  Hans  in 
der  Noumark  Ciistrin  und  Peiz,  dann  (1560)  durch  Joachim  IL 
Spandau,  dazu  kommt  noch  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts 
Driesen.  Das  Commando  in  diesen  Festungen  fiihrt  ein  Ober- 
hauptmann  und  unter  ihm  ein  Festungscommandant ,  sonstige 
militarische  Befehlshaber  werden  nur  ausserordentlich  bestellt. 
Der  zweite  Band  behandelt  die  Zeit  von  der  Begrundung  des 
Geheimen  Rathes  bis  zum  Regierungsantritt  Konig  Friedrich  Wil- 
helms  I.  (1604—1713).  Er  ist  in  Anlage  und  Ausfiihrung  von 
dem  ersten  sehr  verschieden.  Der  Verf.  hat  einmal,  wie  schon 
bemerkt,  hier  seine  Aufgabe  weiter  gefasst,  er  stellt  nicht  nur 
das  Beamtenthum,  sondern  auch  mehr  oder  minder  ausfiihrlich 
die  Verwaltung  und  die  innere  Politik  des  brandenburgisch- 
preussischen  Staates  wahrend  jenes  Zeitraumes  in  ihrer  Ent- 
wickelung  dar,  er  hat  andererseits  auf  jene  schematische  Be- 
handlung,  die  er  in  dem  ersten  Bande  durchgefiihrt  hat,  ver- 
zichtet,  die  unwichtigeren  Kategorien  des  Beamtenthums ,  die 
Hof-  und  ebenso  die  niederen  Verwaltungsbeamten ,  werden  nur 
ganz  beilaufig  beriicksichtigt,  vielmehr  alles  Gewicht  auf  die 
Darstellung  der  Entwickelung  der  leitenden  Staatsbehorden  und 
der  Thatigkeit  derselben  gelegt,  das  allmahlich  immer  reichlicher 
fliessende  Material  hat  es  dem  Verf.  auch  ermoglicht,  mehr  das 
personliche  Element  zur  Geltung  kommen  zu  lassen  und  durch 
Eingehen  auf  die  Lebensverhaltnisse  und  die  Wirksamkeit  der 
bedeutenderen  Manner  zugleich  der  Darstellung  mehr  Leben  und 
Farbe  zu  verleihen.  Der  ganze  Band  ist  in  drei  grossere  Abschnitte 
eingetheilt,  der  erste  derselben  umfasst  die  Zeit  von  1604  bis 
1640,  bis  zum  Regierungsantritt e  des  Grossen  Kurfursten.  Inner- 
halb  desselben  schildert  ein  einleitendes  Gapitel  zunachst  die 
Verfassung  und  Verwaltung  der  Marken  zu  Anfeng  der  Regierung 
des  Kurfiirsten  Joachim  Friedrich,  vor  allem  die  Machtstellung, 
welche  dort  die  Landstande  sowohl  gegeniiber  der  Landes- 
regierung,  der  sie  als  mitbeschliessender  und  mitregierender 
Factor  zur  Seite  stehen,  als  auch  ihren  Unterthanen,  den  Bauern, 
gegeniiber  erlangt  haben,  welche  ihnen  so  gut  wie  schutzlos  zur 
Ausbeutung  iiberlassen  sind.  Zugleich  wird  in  dieser  Einleitung 
auch  kurz  die  Verfassung  und  Verwaltung  der  beiden  Lander, 
deren  Anfall  an  Brandenburg  schon  unter  Joachim  Friedrich  in 
Aussicht  steht,  desHerzogthumsPreussenund  der  Jiilich-Cleveschen 
Lande  vorgefuhrt.   Die  Zustande  in  beiden  sind  denen  der  Mark 

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Isaacsolin,  Dr.  S.,  Geschickte  des  Preussischon  Beamtenthums.     237 

sehr  ahnlich.  In  Preussen  ist  die  Regierung  ebenso  beschrankt 
(lurch  ihr  Lehnsverhaltniss  zu  Polen  wie  durch  die  Macht  der 
Stande,  doch  ist  die  vorher  ganz  zerriittete  Verwaltung  schon 
durcb  den  Curator  Georg  Friedrich  von  Anspach  (1578 — 1603) 
reformirt  worden,  durch  ihn  sind  die  verschiedenen  Verwaltungs- 
gebiete:  Regierung,  Rechtsprechung  und  Kammerverwaltung  ge- 
sondert,  die  Macht  der  Regimentsrathe  beschrankt,  die  sehr  com- 
plicirte  Verwaltung  vereinfacht,  die  Kammerverwaltung  geordnet, 
die  Einkiinfte  vermehrt  worden.  Auch  in  den  cleveschen 
Landen  war  zuletzt  die  Landesregierung  in  grosse  Abhangigkeit 
von  den  Standen  gerathen ,  an  der  Spitze  derselben  stand  ein 
Geheimer  Rath,  das  Land  war  eingetheilt  in  Landdrosteien  und 
Aemter,  Justiz  und  Verwaltung  waren  schon  getrennt. 

Das  erste  Capitel  hat  dann  dieBegriindung  des  GeheimenRathes 
zom  Gegenstande.  Gerade  im  Hinblick  auf  die  neuen  Aufgaben, 
welche  durch  jene  Anwartschaften  dem  Staate  gestellt  werden, 
beruft  Kurfurst  Joachim  Friedrich  eine  Anzahl  seiner  vertrauten 
Rathe  und  zwei  ^pgesehene  Vertreter  der  neu  zu  erwerbenden 
Lande  zu  einem  geschlossenen  Regierungscollegium  und  erlasst 
fur  dasselbe  am  13.  December  1604  die  Geheimeraths-Ordnung, 
welche  die  Grundlage  auch  fur  die  spatere  Organisation  desselben 
geblieben  ist.  Der  Verf.  theilt  dieselbe  hier  (S.  24—29)  in 
ihrem  vollstandigen  Wortlaute  mit  und  kniipft  daran  Bemer- 
kungen  theils  iiber  die  Personlichkeiten ,  aus  welchen  jene  Be- 
horde  zusammengesetzt  wird,  theils  iiber  den  sehr  umfassenden 
Wirkungskreis  und  auch  iiber  die  Mangel  in  der  Organisation  der- 
selben, namentlich  weist  er  darauf  hin,  wie  leicht  durch  einzelne 
hervortretende  Personlichkeiten  die  schlecht  befestigte  Collegialitat 
erdriickt  werden  konnte. 

Die  nachsten  vier  Capitel  schildern  die  Entwickelung,  welche 
die  einzelnen  Zweige  der  Verwaltung  in  dieser  Periode  erfalu'en 
baben,  zuniichst  die  Wehrverfassung.  Nachdem  die  Noth  des 
dreissigjahrigen  Krieges  auch  Brandenburg  (zuerst  1626)  zur 
Anfetellung  einer  allerdings  sehr  geringfiigigen  geworbenen  Kriegs- 
macht  veranlasst  hat,  setzt  Kurfurst  Georg  Wilhelm  fur  die 
Witung  derselben  einen  Kriegsrath  ein,  welcher  an&ngs  nur  aus 
Civilisten  besteht,  zu  dem  dann  aber  auch  Kriegsobersten  hinzu- 
gezogen  werden.  Spater  wird  diese  Behorde  beseitigt  durch 
Schwarzenberg,  welcher  in  der  letzten  Zeit  Georg  Wilhelms  eine 
Art  von  Dictatur  ausiibt  und  auch  das  Kriegswesen  seibstiindig 
mit  einigen  ihm  ganz  ergebenen  Unterbeamten  leitet.  Die 
Kammerverwaltung,  mit  welcher  sich  das  dritte  Capitel  be- 
schaftigt,  erfahrt  dadurch  eine  erhebliche  Veranderung,  dass  von 
den  beiden  Behorden,  welche  dieselbe  in  den  Marken  leiten,  der 
Amt8kammer  und  der  Hofrenthei,  die  erstere  1615  zu  einem 
Collegium  umgewandelt  wird,  dessen  President  auch  die  Aufsicht 
fiber  den  Hofstaat  erhiilt.  Doch  veranlassen  die  Kriegsnoth  und 
&  trotzdem  gesteigerten  Ausgaben  des  Hofhaltes  grosse 
ET8chi^fnng  der  Finanzen,   dasselbe  traurige  Resultat  hat  auch 


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238     Isaacsolin,  Dr.  S.t  Geschichte  dos  Prcuasischen  Beamtenthmbs, 

die  Kammerverwaltung  in  Preussen  und  auch  in  Geve-Mark, 
wo  zu  jenen  allgemeinon  verderblichen  Ursachen  auch  noch  das 
eigenniitzige  Walten  der  Beamten  (insbesondere  in  Preussen  der 
Regimentsrathe ,  in  Cleve  Schwarzenbergs)  hinzukommt.  Das 
vierte  Capitel  besch&fiigt  sich  mit  dem  Gerichtswesen.  Dasselbe 
bleibt  in  den  Marken  in  der  Hauptsache  unverandert,  Versuche 
zur  Feststellung  eines  Landrechts  scheitern  an  dem  eigenniitzigen 
Widerstreben  sowohl  der  Stande  aJs  auch  der  Verwaltungs- 
behorden.  Die  oberste  Leitung  der  Justiz  hat  zu  Anfang  noch 
der  Kanzler,  spater  seit  c.  1600  der  diesem  zur  Seite  stehende 
Vicekanzler,  welcher  namentlich  auch  den  Vorsitz  im  Kammer- 
gericht  und  die  Entscheidung  der  an  den  Kurfursten  gehenden 
Beschwerden  crhalt  In  Preussen  erfolgt  1620  auf  Grundlage 
der  Vorarbeiten  Markgraf  Georg  Friedrichs  die  Publicirung  eines 
Landrechts.  Das  funfte  Capitel  handelt  von  .den  kirchlichen  Ver- 
haltnissen.  Schon  unter  Kurfurst  Joachim  Friedrich  und  noch 
mehr  seit  dem  Bekenntnisswechsel  Johann  Sigismunds  machte  sich 
am  Hofe  und  im  Bathe  der  Kurfursten  eine  gemassigte  Richtung 
geltend,  welche  die  Gleichberechtigung  der  beiden  protestan- 
ti8chen  Confessionen  durchzufuhren  suchte ,  welche  aber ,  von 
dem  in  der  Kirche  und  im  Lande  herrschenden  strengen  Luther- 
thum  auf  das  heftigste  angefeindet  wurde.  Der  anfangliche 
Versuch  Johann  Sigismunds,  eine  paritatisch  besetzte  oberste 
Kirchenbehorde  zu  begriinden,  scheiterte  an  dem  Widerstande 
der  lutherischen  Geistlichkeit,  der  dann  1614  nur  aus  reformirten 
Rathen  zusammengesetzte  Kirchenrath  gerieth  in  heftige  Con- 
flicte  mit  dem  Consistorium  und  guig  bald  ein,  endlich,  1634, 
gclang  es  dann  doch  das  Consistorium  zu  einem  paritatisch  be- 
setzten  Collegium  umzuwandeln.  In  dem  letzten  sechsten  Capitel 
schildert  der  Verf.  zunachst  im  Allgemeinen  den  Character  des 
Beamtenthums  dieser  Periode  (die  Schranken  des  Indigenats  und 
der  Orthodoxie  sind  durchbrochen,  auch  fremde  tiichtige  Krafte 
sind  herangezogen ,  bei  der-  oftmaligen  Abwesenheit  der  Kur- 
fursten und  der  Schwache  Georg  Wilhelms  hat  das  Beamten- 
thum  grossere  Selbstandigkeit  erlangt,  aber  zugleich  machen 
sich  ehrgeiziges  Hervortreten  Einzelner,  Parteiungen,  Intriguen 
und  Cliquenwesen  in  demselben  geltend),.  und  er  geht  dann 
genauer  auf  die  Lebensverhaltnisse  der  hervorragendsten  Mit- 
glieder  desselben,  namentlich  Schwarzenbergs  und  der  verschie- 
denen  Mitglieder  der  Familie  v.  Knesebeck  ein. 

Der  zweite  Abschnitt,  der  Haupttheil  dieses  Bandes,  handelt 
von  dem  Beamtenthum  in  dem  Staate  des  Grossen  Kurfursten. 
Ein  einleitendes  Capitel  enthalt  wieder  eine  Darstellung  der 
friiheren  Verfassung  und  zugleich  auch  der  neuen  Einrichtung 
der  zu  Anfang  der  Regierung  Friedrich  Wilhelms  mit  dem  Kur- 
staate  vereinigten  neuen  Proyinzen,  zunachst  des  Herzogthums 
Pommern,  wo  1654  mit  den  Standen  eine  Regierungsform  ver- 
einbart  wird,  kraft  deren  dem  standischen  Element  auch  an  den 
Regierungsbehorden ,   namentlich    dem   geistlichen    Consistorium 

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Iaaacsohn,  Dr.  S.,  Geschichte  des  Preussischen  Beamtenthums.      239 

mid  dem  Hofgericht,  der  Appellinstanz ,   eia  erheblicher  Antheil 
gelassen  wird,  dann  der  Grafschaft  Ravensberg,  wo  der  zu  Anfang 
1647  eingesetzte  eigene  Regierungsrath  1653  wiedor  aufjgehoben, 
zugleich  aber  als   hochste   Gerichtsinstanz   ein   oigenes  ravens- 
bergisches  Appellationsgericht   in   Coin  a.  Sp.  begrundet  wird, 
dann  der  Fiirstenthiimer  Minden,   Halberstadt  und  Magdeburg, 
wdche  alle   eine   eigene  Regierungsbehorde   unter  einem  Statt- 
halter  erhalten,  wo  aber  ebenfalls  den  Standen  ihre  privilegirte 
und  einflussreiche  Stellung  gewahrt  bleibt.     Die  drei1  ersten  Ca- 
pitel  behandeln   dann   die  Reform  der  Staatsverwaltung   durch 
den  Grossen  Kurfiirsten  wahrend   der  Jahre  1640 — 1660.    Der 
Kurfurst  beginnt  damit,  dass  er  die  bisherigen  leitenden  Person- 
lichkeiten,   Schwarzenberg  und  seine  Creaturen,   entfernt,  und 
dass  er  die  ganz   unvollstandig   besetzten   Regierungsbehordon, 
namentlich  den  Geheimen  Rath,   erganzt  oder  neu  besetzt,   vor 
Allem  wendet  er  seine  Sorge  den  Finanzen  zu,    durch   eine  all- 
gemeine   Revision   der  Kammerverwaltung   werden   die   Schaden 
derselben  aufgedeckt  und   es   wird  mit   einzelnen  Reformen  be- 
gonnen.    Der  Kurfurst  bildet  sich   dann   allmahlich  einen  neuen 
Kreis  von  Rathen,  denen  er  seine  eigenen  reformatorischen  Ideen 
einpflanzt,  wahrend  die  alteren  Rathe,  die  zu  Anfang  sein  Ver- 
trauen  geniessen,  aber  dem  alten  Systeme  anhangen  (namentlich 
der  Kanzler  v.  Gotze   und   der  die  verschiedensten  Aemter  und 
Warden  in  seiner  Person  vereinigende  C.  v.  Burgsdorff),  zuriick- 
treten.    In^den  Jahren  1651  und  1652  (Capitel  2.)  unternimmt 
Friedrich  Wilhelm  hauptsachlich   unter   dem  Einfluss    des  1651 
in   den   Geheimen    Rath    getretenen    Grafen    Waldeck    durch- 
greifendere  Reformen.     Er   erlasst  (4.  December  1651)  die  neue 
Geheimerathsordnung ,   durch  welche  zuerst   eine  Departements- 
bildung  innerhalb   der   hochsten  Behorde  eingefiihrt  wird,   alle 
Geschafte  werden  in  19  Departements  eingetheilt  und  jedes  der- 
selben einem  vortragenden  Rathe  iibertragen,  zugleich  aber  ver- 
sncht  der  Kurfurst   durch  Einsetzung  Blumenthals  zum  verant- 
wortlichen  Director  des  Geheimen   Rathes   dieser  Behorde   eine 
einheitliche   Leitung  zu  geben.     Doch   wird  Blumenthal   schon 
1653  als  Gesandter  nach  Regensburg  geschickt  und  er  erhalt  in 
den  nachsten  Jahren  keinen  Nachfolger.   Gieichzeitig  erfolgt  eine 
systematische  Reform  der  Kammerverwaltung  dadurch,  dass  die 
biaherige  Natural-  in  Geldwirthschaft   verwandelt,   zugleich   die 
Kassenverwaltung  geordnet  und  durch  Verringerung  des  Hofhalts 
und  der  Beamten  bedeutende  Ersparnisse  gemacht  werden.    Noch 
weitergehende  Reformvorschlage  v.  Pfiiels  (gerechtere  Feststellung 
der  Steuerquoten  auf  Grund  statistischer  Aufiiahmen,  Heranziehen 
auch  der  Ritterschaft,  Uebergang  der  Steuerverwaltung  von  den 
landstandischen    an    landesherrliche   Behorden)    und    Waldecks 
(Einfuhrung  einer  allgemeinen  Verbrauchssteuer  und  Verpachtung 
der  Zolle)  scheitern  damals  an    dem   gemeinsamen  Widerstande 
der  Stande  und   der  Mehrzahl  der  Rathe.    Der  Kurfiirst  tiber- 
^ragt  1656  die  einheitliche  Leitung  der  Finanzen  an  R.  v.  Canstein, 

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240     Isaacsolm,  Dr.  S.,  Geschichte  des  Preussischen  Beamtonthtuns. 

ebenderselbe  erhalt  bald  darauf  auch  das  Commerz-  und  In- 
du8triedepartement  und  wirkt  auf  beiden  Gebieten  far  weitere 
Reformen.  Seit  1651  wird  dann  auch  die  Hebung  von  Wohl- 
stand  und  Cultur  in  systematischer  Weise  in  Angriff  genommen: 
durch  Heranziehen  von  Colonisten,  Begiinstigung  der  Industrie, 
Auf  hebung  der  meisten  Staatsinonopolien;  ein  wichtiges  For- 
derungsmittel  ist  auch  die  Einrichtung  der  Post  (seit  1654), 
welche  unter  der  Leitung  von  M.  Mathias  bald  eine  fiir  jene 
Zeit  mustergiiltige  Organisation  erhalt  und  dem  Staate  auch 
erhebliche  Ueberschiisse  einbringt.  Der  abschliessende  Schritt 
in  dieser  Reformthatigkeit  ist  die  Ernennung  Ottos  von  Schwerin 
zum  Oberprasidenten  aller  Behorden  (1658).  Das  vierte  Capitel 
ist  iiberschrieben :  Beamtenthum  und  Stande.  Der  Verf.  schildert 
in  demselben  den  Antheil,  welchen  das  von  dem  Kurfursten 
horangebildete  Beamtenthum  an  den  Kampfen  desselben  mit  dec 
Standen  genommen  hat,  er  zeigt  aber  auch,  wie  doch  ein  grosser 
Theil  auch  der  hochsten  und  dem  Fursten  vertrautesten  Beamten 
sich  noch  nicht  von  den  Vorurtheilen  ihres  Standes  frei  gemacht 
hat,  wie,  wenigstens  zum  Theil  dadurch  veranlasst,  unter  den 
Rathen,  namentlich  zur  Zeit  Waideoks,  Parteiung  und  Verbitterung 
geherrscht  und  wie  spater  auch  Schwerin,  eifersiichtig  auf  seine 
oberste  Stellung,  sich  gegen  andere  Rathe  ungerecht  gezeigt  hat 
In  den  nachsten  vier  Capiteln  wird  dann  die  Entwickeiung  der 
einzelnen  Verwaltungszweige ,  zunachst  (Capifei  5.)  die  Organi- 
sation des  Heerwesens  und  die  damit  im  Zusammenha#g  stehende 
Veranderung  der  Steuerverfassung,  dargestellt,  insbesondere  die 
Entstehung  und  Entwickeiung  derjenigen  Behorde,  welche  das 
eigentliche  Organ  sowohl  fiir  die  Heeres-  als  auch  fur  die 
Steuerverwaltung  wird,  des  ,  Kommissariats.  In  Brandenburg 
finden  sich  seit  den  ersten  Zeiten  des  dreissigjahrigen  Krieges 
zwei  Arten  von  Kommissaren:  Kriegskommissare,  Intendantor- 
beamto  bei  den  Armeen,  und  Land-  oder  Kreiskommissare,  stan- 
dische  Beamte,  welche  das  Interesse  des  Landes  bei  Auf  bringung 
des  Heeresunterhalts  zu  wahren  haben.  In  der  letzten  Zeit 
Georg  Wilhelms  und  der  ersten  seines  Nachfolgers  bleiben  nur 
die  letzteren  bestehen,  sie  sorgen  in  den  einzelnen  Kreisen  fur 
die  Verpflegung  der  fremden  und  eigenen  Truppen  und  suchen  die 
Unterthanen  gegen  Excesse  derselben  zu  schiitzen.  Bei  der  Neu- 
bildung  des  brandenburgischen  Heeres  (seit  1645)  wird  dann 
fur  die  Heeresverwaltung  das  Kriegskommissariat  wiederber- 
gestellt,  in  jedem  der  drei  Militarbezirke ,  in  welche  der  Staat 
eingetheilt  wird,  wird  dem.  Gouverneur  ein  Oberkommissar  bei- 
gegeben.  Nach  Beendigung  des  nordischen  Krieges  und  Ein- 
fiihrung  des  stehenden  Heeres  (1660)  wird  dann  an  die  Spit# 
der  gesammten  Heeresverwaltung  ein  General-Kriegskommissariat 
als  standige  Behorde  gestellt  und  diesem  ebenfalls  standige  Ober- 
kommissare  in  den  einzelnen  Landen  (Kur-,  Neumark,  Pommem, 
Cleve-Mark  und  Preussen)  untergeordnet.  An  diese  Kriegs- 
kommissare geht  dann  abej  auch  nach  langwierigen  Verhandlung^J1 

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Isaacsohn,  Dr.  S.,  Geschichto  des  Prcussischen  Beamtentkums.      241 

mitdenStanden  die  Verwaltung  der  Steuern,  welche  fiir  dieErhaltung 
desHeeres  bestimmt  sind,  in  den  meisten  Provinzen  der  Accise,  iiber. 
Erne  Polge  davon  ist,  dass  das  Beamtenpersonal  vermehrt,  dass  in 
einigen  Provinzen  (Cleve-Mark  und  Preussen)  die  Kriegskommissa- 
riate  schon  collegialisch  eingerichtet  werden,  andererseits  aber,  dass 
dieSteuerverwaltungiiberhauptallmalilichmehrund  mehrunter  die 
Leitung  landesherrlicher  Beamten  kommt.  Die  urspriinglich  nur 
fir  die  Verwaltung  der  Accise  in  den  einzelnen  Stadten  ein- 
gesetzten  Steuerkommissare  erhalten  die  Controlle  iiber  die  ge- 
slmmte  stadtische  Finanzverwaltung  und  die  Sorge  fiir  die 
Hebung  des  Wohlstandes  der  Stadte.  Ebenso  wie  in  den  Marken 
wird  diese  Acciseverfassung  wahrend  der  spateren  Zeiten  des 
Grossen  Kurfiirsten  auch  in  den  meisten  anderen  Provinzen, 
zuletzt  1684  auch  in  Preussen  eingefiihrt,  nur  in  Cleve-Mark  ist 
dieselbe  erst  spater  (1715)  zur  Durchfuhrung  gekommen.  Das 
sechste  Capitel  enthalt  sehr  interessante  Mittheilungen  iiber  den 
aoswartigen  Dienst  unter  dem  Grossen  Kurfiirsten,  iiber  die 
verschiedenen  Arten  von  diplomatischen  Vertretern  desselben  im 
Auslande,  iiber  Stellung  und  Auftreten  derselben,  iiber  die  Expe- 
dition der  diplomatischen  Corresponded,  iiber  die  Kosten  dieser 
diplomatischen  Vertretung  iiberhaupt  und  iiber  die  Besoldung 
der  verschiedenen  Klassen  von  Gesandten.  Das  siebente  Capitel 
beschaftigt  sich  mit  der  Justizverfassung.  Die  Bemiihungen  des 
Kurfiirsten,  den  Hauptiibelstanden ,  welche  sich  in  derselben 
geltend  machen,  der  TJnsicherheit  der  Competenz  der  verschie- 
denen Gerichte  und  des  Rechtes  selbst,  abzuhelfen,  sind  in  den 
Marken  selbst  in  Polge  des  eigenniitzigen  Widerstandes  der 
Stande  in  der  Hauptsache  erfolglos,  nicht  einmai  die  Sanctionirung 
einer  neuen  Kimmergerichtsordnung  kann  er  erreichen.  Fiir 
die  Oberleitung  der  Justiz  wird  1658  dem  Geheimen  Rathe 
eine  besondere  Justizcommission,  „der  Geheime  Rath  zu  den  Ver- 
horen",  zugleich  als  Revisions-  und  Oberverwaltungsgericht  zur 
Seite  gesetzt.  In  Preussen  wird  1661  eine  neue  Gerichtsver- 
^88ung  (Hofgericht,  Hofhalsgericht  und  Oberappellationsgericht) 
mit  den  Standen  vereinbart.  In  Cleve-Mark  wird  die  Competenz 
der  Regierung  und  des  Hofgerichts  abgegrenzt  und  als  dritte 
Iiistanz  eine  Commission  aus  zwei  Mitgliedern  der  Regierung  und 
ebensovielen  Richtern  des  Hofgerichts  eingesetzt,  die  in  Angriff 
genommene  Reform  der  Gesetzgebung  dagegen  wird  auch  hier 
durch  die  Stande  verschleppt.  Das  achte  Capitel  endlich  han- 
delt  von  der  Kirchenverwaltung.  Dem  Kurfiirsten  gelingt  es, 
das  Ziel,  welches  er  und  seine  gleichgesinnten  Berather  ver- 
folgen:  Herstellung  der  Paritat  fur  die  drei  reichsrechtlich  aner- 
kamiten  Confessionen  und  Toleranz  fiir  die  anderen  Secten  in 
der  Hauptsache  zu  erreichen,  er  wahrt  mit  grosser  Entschieden- 
heit  seine  Rechte  als  summus  episcopus,  Einsetzung  des  Kirchen- 
regiments  und  Controlle  iiber  die  einzelnen  Gemeinden.  Das 
Consistorium  wird  mit  gemassigten  Mannern  besetzt,  und  so 
^irken  in  demselben  die  lutherischen  und  reformirten  Mitglieder 

MttthoOttafca  ft.  d.  htator.  Litterator.    VL  16 

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242     Isaacsobn,  Dr.  S.,  Geschichto  dea  Preassiscben  Beamtenthuma. 

meist  friedlich  zusammen.  Die  Befiignisse  des  Consistorial- 
prasidenten  werden  erheblich  gesteigert,  er  wird  auch  Mitglied 
des  Geheimen  Baths,  erhalt  die  Ausfiihrung  der  in  diesem  tiber 
kirchliche  Angelegenheiten  gefassten  Beschliisse  und  wird  so  der 
Leiter  des  gesammten  Kirchenregiments. 

Der  dritte  Hauptabschnitt  behandelt  das  preussische  Be- 
amtenthum  unter  Friedrich  HI./L  (1688—1713).  In  einer 
Einleitung  wird  zunachst  die  grosse  Veranderung  geschildert, 
welche  der  Thronwechsel  fiir  die  gesammte  Staatsverwaltung 
herbeifuhrt.  Der  neue  Furst  kiimmert  sich  wenig  urn  dieselft, 
uberlasst  sie  seinen  Rathen  und  Dienein,  urn  so  mehr  machen 
sich  jetzt  unter  diesen  die  bisher  durch  die  Personlichkeit  des 
Grossen  Kurfiirsten  in  Zaum  gebaltenen  Parteiungen  und  Intri- 
guen  geltend.  Zum  Gliick  wird  in  der  ersten  Haifte  der  Be- 
gierung  Friedrichs  in  Eberhard  Dankelmann  ein  tuchtiger  und 
erfabrener  Mann  an  die  Spitze  der  Verwaltung  gestellt ,  der  im 
Verein  mit  gleichgesinnten  und  ebenfalls  tuchtigen  Mannern 
(Grumbkow,  Ludolf  Dankelmann,  Knyphausen)  die  Bestrebunga 
des  Grossen  Kurfiirsten  fortzusetzen  sucht.  Die  Capital  1.—  4 
schildern  dann  die  Verwaltung  in  der  Dankelmannschen  Periode, 
zunachst  Capitel  1.  die  neue  Organisation  des  Geheimen  Baths. 
Dankelmann,  gleich  bei  dem  Thronwechsel  zum  Mitgliede,  1695 
als  Oberprasident  aller  Collegien  zum  Director  desselben  ernannt, 
befordert,  schon  um  seine  eigene  verantwortliche  Stellung  zu  er- 
leichtern,  die  regulare  Geschaftsbehandlung  in  demselben,  er 
hilft  zugleich  der  mangelhaften  Geschaftsvertheilung  dadurch  ab, 
dass  er  ihn  aus  den  einzelnen  Departementschefs,  und  zwar  nur 
aus  diesen ,  zusammensetzt ,  yon  denen  ein  jeder  fiir  sein  Fach 
das  B^ferat  erhalt.  Capitel  2.  schildert  dann  die  weitere  Ent- 
wickelung  der  Kammerverwaltung.  Die  Leitung  derselben  ist 
von  1683 — 1698  in  den  Handen  Dodos  v.  Knyphausen,  durch 
ihn  wird  zuerst  die  Aufstellung  eines  allgemeinen  Etats  durch- 
gefiihrt,  auf  sein  Betreiben  wird  ferner  die  Verwaltung  verandert 
durch  Griindung  des  Hof  kammercollegiums  (1689),  dessen  Leitung 
er  selbst  mit  Dankelmann  zusammen  erh&lt.  Die  schon  durch 
den  Grossen  Kurfiirsten  begonnene  Verpachtung  der  Domanen 
wird  weiter  fortgefiihrt,  mannichfache  andere  Reformen  ins 
Werk  gesetzt.  Capitel  3.  schildert  die  Heeresverwaltung ,  an 
deren  Spitze  als  Generalkommissar  zuerst  J.  E.  v.  Grumbkow 
(1679—1690)  und  dann  der  schon  fruher  demselben  beigegebene 
D.  L.  v.  Dankelmann  (1691 — 1709)  stehen,  auch  sie  wirken  im 
Sinne  des  Grossen  Kurfiirsten  weiter,  namentlich  wird  durch 
sie  die  Kommissariatseinrichtung  auch  in  den  mittleren  Provinzen 
eingefiihrt  und  das  Generalkommissariat  collegialisch  organisirt. 
Capitel  4.  behandelt  den  Antheil,  welchen  das  Beamtenthum, 
namentlich  Dankelmann  selbst,  und  neben  ihm  Spanheim  und 
Fuchs,  an  den  Culturbestrebungen  dieser  Zeit  (Aufnahme  der 
Refugi6s,  Gestaltung  ihrer  eigenthiimlichen  Earchenverfessunft 
Toleranz,  Duldung  auch  freigeistiger  Richtungen,  Griindung  der 

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V 

Isaacsohn,  Dr.  S.,  Geschichte  des  Preussischen  Beamtenthums.     243 

Umyersitat  Halle)  genommen  hat.  Im  fiinften  Capitel  wird  dann 
der  Sturz  Dankelmanns  und  seiner  Genossen  besprochen.  Die 
Hauptursache  desselben  erkennt  der  Verf.  in  der  in  Folge  des 
franzosischen  Krieges  eingetretenen  Finanzcalamitat ,  welche  es 
unmdglich  macht,  die  immer  holier  gesteigerten  Anspriiche  des 
Hofes  zu  befriedigen.  Er  beleuchtet  dann  naher  das  gegen 
Dankelmann  angewandte  Verfahren  und  weist  auf  Grund  einmal 
der  Vertheidigung  Dankelmanns  selbst ,  andererseits  der  Zeug- 
nisse  des  Amtskammerraths  Weise  und  des  hannoverschen 
Agenten  Ducros  nach,  dass  die  gegen  ihn  erhobene  Beschuldigung 
ungetreuer  und  eigenniitziger  Amtsfiihrung  unbegriindet  gewesen 
ist  Die  nachsten  drei  Capitel  enthalten  die  Geschichte  der 
Verwaltung  in  der  spateren  Zeit  Friedrichs  HL/L  Der  Sturz 
Dankehnanns  und  seiner  Genossen  ist  hauptsa  chlich  durch  den 
Einfluss  der  hohen  Hofbeamten  (Kolbe- Wartenberg  und  Wylich- 
Lottum)  unter  Mitwirkung  einiger  ehrgeiziger  Geheimen  Rathe 
(Puchs  und.Chwalkowski)  erfolgt,  und  eben  diese  erhalten  nun 
die  Leitung  der  Geschafte,  namentlich  der  Finanzverwaltung.  Die 
friihere  Hof  kammer  wird  durch  ein  General-Domanen-Pirectorium 
ersetzt,  dessen  Geschafte  factisch  durch  Chwalkowski  versehen 
werden  und  welches  dann  vor  Allem  den  Bediirfnissen  des  Hofes  zu 
geniigen  sucht.  Dasselbe  schenkt  geneigtes  Gehor  den  Vor- 
schlagen  des  friiheren  Kammerraths  Luben,  weicher  durch  Ein- 
fiihrung  der  Erbpacht  bei  den  Domanen  sowohl  augenblicklichen 
bedeutenden  Gewinn,  als  auch  dauernde  Vermehrung  der  Ein- 
kunfte  verhebst.  Sein  System  wird  zunachst  versuchsweise  in 
der  Altmark,  dann  trotz  heftiger  Opposition  von  Seiten  eines 
gro8sen  Theiles  der  Beamten  auch  in  anderen  Landestheilen 
zur  Ausfuhrung  gebracht,  jene  Opposition  wird  durch  einen  von 
Lubens  Gonnern,  Wartenberg  und  Wittgenstein,  veranlassten 
umfas8enden  Personenwechsel  gebrochen,  und  Luben  halt  sich 
bis  1711.  Er  veranlasst  manche  wirklich  vortheilhaften  Re- 
formen,  aber  sein  System  zeigt  auch  viele  Mangel,  und  schliesslich 
erfolgt  1711  sein  Sturz  zusammen  mit  dem  seiner  Gonner 
Wartenberg  und  Wittgenstein,  deren  ungerechte  und  unredliche 
Staatsverwaltung  aufgedeckt  wird.  Darauf  wird  das  Knyphau- 
sensche  System  wiederhergestellt,  das  Domanen-Directorium  wird 
abgeschafflb,  die  Leitung  der  Finanzen  dem  Haupturheber  des 
Sturze8  Wartenbergs,  v.  Kameke,  als  Hofkammerprasident  iiber- 
tragen,  an  Stelle  der  Erb-  tritt  wieder  Zeitpacht,  die  erhohten 
Steuern  werden  wieder  herabgesetzt ,  die  Kosten  des  Hof  halts 
vennindert.  An  der  Spitze  der  Heeresverwaltung  (Capitel  9.) 
hat  bis  zu  seinem  Tode  (1709)  D.  L.  v.  Dankeimann  gestanden, 
8ein  Nachfolger  wird  W.  Blaspeil,  doch  wird  dann  auf  Grund 
eines  Entwurfes  des  dem  Kronprinzen  nahestehenden  Generals 
P.  W.  v.  Grumbkow  1712  das  Generalkommissariat  collegialisch 
organisirt,  Grumbkow  erhalt  zunachst  als  Director  desselben 
erne  Blaspeil  coordinirte  Stellung,  wird  dann  1713  bei  dem 
Thronwechsel  dessen  alleiniger  Leiter.    Gleich  nach  der  Konigs- 

16* 

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244     Isaacsohn,  Dr.  S.,  Goacliichte  des  Preussischen  Beamtenthums. 

kronung  Friedrichs  I.  war  auf  Bitte  der  bisherigen  Kreis- 
kommissare  denselben  der  Titel  von  Landrathen  gegeben  worden, 
dieselben  erhalten  neben  der  Sorge  fur  die  gleichmassige  Be- 
lastung  der  Unterthanen  bei  der  Steuererhebung  auch  die  land- 
liche  Polizei,  die  Verwaltung  der  Kreiskasse  und  die  Sorge  fur 
Hebung  der  Cultur  in  ihrem  Bezirke  und  werden  so  die  Mittel- 
instanz  zwischen  den  Anspriichen  des  Militarstaates  und  den 
landlichen  Interessen.  Auch  auf  dem  Gebiete  der  Justizver- 
waltung  (Capitel  8.)  erfolgt  eine  bedeutende  Neuerung.  Nach- 
dem  der  neue  Konig  das  Privileg  de  non  appellando  fiir  alle 
seine  Reichslande  erhalten  hat,  griindet  er  1703  ein  Ober- 
appellation8gericht  zu  Coin  a.  Sp.  fiir  alle  Theile  der  Monarchic, 
demselben  wird  ein  Generalfiscal  beigegeben,  welcher  zugleich 
die  Controlle  iiber  alle  Fiscalprocesse  und  iiber  alle  Fiscal- 
beamten  erhalt.  Neben  dem  Oberappellationsgericht  bleibt  auch 
der  Geheime  Justizrath,  aber  aus  denselben  Mitgliedern  wie 
jener  zusammengesetzt,  bestehen  als  Gericht  fiir  die  Eximirten, 
ah  Kronsyndicat  und  Vorbereitungsinstanz  fiir  die  Gesetzgebung. 
Versuche,  welche  auch  in  dieser  Zeit  von  Seiten  der  Regierung 
unternommen  werden,  um  eine  neue  Gerichtsorganisation  und 
eine  Codification  des  Rechtes  zu  Stande  zu  bringen,  sind  auch 
von  geringem  Erfolg.  Das  letzte  neunte  Capitel  enthalt  sehr 
interessante  Mittheilungen  iiber  die  materielle  und  sociale  Stelltuig 
des  Beamtenthums  unter  dem  Grossen  Kurfiirsten  und  dessen 
Nachfolger.  Der  Verf.  weist  zum  Schluss  darauf  hin,  dass  unter 
Friedrich  I.  allerdings  ein  Verfall  des  Beamtenthums,  veranlasst 
theils  durch  das  Ueberwiegen  hofischer  Factionen  iiber  die 
geordneten  Organe  der  Staatsverwaltung ,  theils  durch  Mangel 
in  der  Organisation  selbst,  zu  Tage  trete,  dass  aber  doch  die 
Masse  der  Beamten  sich  frei  von  der  Ansteckung  durch  den 
Hof,  tiichtig  und  pflichtgetreu  erhalten  habe. 

Wie  schon  zu  Anfang  bemerkt  worden  ist,  sind  diesem 
zweiten  Bande  einige  Urkundenbeilagen  beigegeben  worden,  sie 
enthalten:  1)  die  neue  Geheimeraths-Ordnung  vom  4.  December 
1651 ,  2)  Ottos  von  Schwerin  Bestallung  zum  Oberprasidenten 
aller  Collegien  (30.  August  1658),  3)  das  Patent  Christophs 
v.  Sparr  als  Feldmarschall  (26.  Juni  1657),  4)  die  Correspon- 
ded F.  v.  Jenas  und  C.  v.  Blumenthals  mit  dem  Grossen  Kur- 
fiirsten und  dessen  Rathen,  betrefFend  den  Rangstreit  mit  dem 
Geheimen  Rath  B.  v.  Gladebeck  (1675—1678).  Beiden  Banden 
ist  ein  Register  der  in  denselben  vorkommenden  Personennamen 
beigegeben. 

F.  Hirsch. 


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Kottmannor,  Max,  Der  Cardinal  von  Baiern.  245 

LV. 
Rottmanner,  Max,  Der  Cardinal  von  Baiern.    Hit  Documenten 

aus  den   Jahren   1736—1740.     gr.    8°.     (108   S.)     Mtinchen 

1877.  Ernst  Stahl.  2  M. 
Herzog  Theodor  in  Baiern,  der  jiingste  Bruder  des  Kur- 
ffirsten  und  nachmaligen  Kaisers  Karl  Albert,  erwarb  nachein- 
ander  1719,  1727  und  1744  die  Bisthiimer  Regensburg,  Freising 
und  Liittich,  wurde  1746  zum  Cardinal  promovirt  und  starb 
1763.  Der  Cardinal  von  Baiern  wiirde  kaum  Anspruch  darauf 
haben,  ausserhalb  der  Territorialgeschichte  genannt  zu  werden, 
wenn  nicht  seine  von  keinem  Erfolg  begleiteten  Bemiihungen 
um  die  Wahl  zum  Bischofe  von  Augsburg  1737  einen  Zu- 
sammenhang  mit  einer  brennenden  Frage  der  hohen  Politik 
jener  Zeit  hatten,  der  in  der  vorliegenden  Schrift  dargelegt  wird. 
Herzog  Theodor  bedurfte,  da  er  bereits  andere  Bisthiimer  inne 
hatte,  um  in  Augsburg  gew&hlt  zu  werden,  eines  papstlichen 
Indultes;  einen  solchen  zu  Grunsten  eines  dem  wiener  Hofe 
ergebenen  Candidaten  zu  hintertreiben ,  gelang  den  gewandten 
Bemiihungen  des  Vertreters  Kaiser  Karls  VI.  in  Rom,  des 
Grrafen  Johann  Ernst  Harrach.  Aus  den  diplomatischen  Acten 
des  Gresandten,  welche  auf  Umwegen  in  die  munchener  Bibliothek 
gelangt  sind  und  dort  von  Herrn  Rottmanner  benutzt  sind, 
erfahren  wir,  dass  die  Curie  ihre  Entscheidung  in  dieser  Ange- 
legenheit  von  der  Haltung  des  wiener  Hofes  in  der  jiilich-berg- 
schen  Erbfolgefrage  abhangig  machte.  Kaiser  Karl  hatte  1728 
dem  Konige  von  Preussen  fUr  dessen  Garantie  der  pragmatischen 
Sanction  den  Besitz  von  Berg  nach  dem  Tode  des  letzten  Pfalz- 
neuburgers  gegen  die  Anspriiche  des  Hauses  Pfalzsulzbach 
gewahrleistet:  Cardinal  Corsini  forderte  nun  1737  eine  Erklarung 
von  dem  Grafen  Harrach,  ob  der  Kaiser  Pfalzsulzbach  oder  ob 
er  das  haretische  Preussen  bei  Erledigung  der  niederrheinischen 
Herzogthiimer  zu  begunstigen  gedenke ;  im  letzteren  Falle  werde 
der  Papst  die  Wittelsbacher  durch  Begunstigung  der  Bewerbung 
Herzogs  Theodor  um  Augsburg  entschadigen.  Was  man  in 
Wien  darauf  that,  ist  bekannt.  Am  13.  Januar  1739  (nicht 
wie  Rottmanner  S.  30  sagt  (Tctober  1738)  schlossen  der  wiener 
Hof  und  Frankreich  jene  Convention  von  Versailles  behufs  Re- 
gelung  der  jiilich-bergschen  Frage,  die  dem  Berliner  Vertrage 
von  1728  direct  widersprach  und  die  in  der  Vorgeschichte  des 
ersten  schlesischen  Eiieges  eine  so  bedeutsame  Rolle  spielt. 

Berlin.  Reinhold  Koser. 


LVI. 

Bohtlingk,  Dr.  Arthur,  Napoleon  Bonaparte,  seine  Jugend  und 

sein  Emporkommen  bis  zum  13.  Vendemiaire.   gr.  8.   (XX, 

338  S.)    Jena   1877.     Ed.  Frommann.     5  M. 

Wie  hat  sich  Napoleon  I.  entwickelt  ?  Wie  bildete  sich  jene 

Alles  umfassende  Intelligenz,  die  aus  ihm  den  grossen  Feldherrn, 

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246  Bohtlingk,  Dr.  Arthur,  Napoleon  Bonaparte. 

Staatsmann ,  Administrator  und  Gresetzgeber  machte?  Woher 
kam  jene  eiserne  Energie  des  Willens,  vor  der  sich  erst 
Frankreich,  dann  Europa  beugen  musste?  Wie  entstand  jene 
einzige  Verbindung  von  Erhabenem  und  Niedrigem,  von  Harte 
nnd  Grausamkeit,  unter  der  ein  Welttheil  zu  leiden  hatte,  und 
von  Weichheit  und  Liebenswiirdigkeit ,  von  der  uns  unverwerf  liche 
Zeugen  berichten?  —  Es  ist  vielleicht  das  grosste  Problem  der 
neueren  Greschichte,  welches  diese  Fragen  beriihren,  ein  Problem, 
um  so  schwieriger  zu  losen,  als  wir  uns  einem  in  seltener  "Weise 
mangelhaften  Quellenmateriale  gegeniibersehen.  Napoleon  L 
selbst  hat  es  verstanden,  seine  Jugend  mit  einem  fast  mystischen 
Nebel  zu  umhiillen;  was  er  selbst  mittheilt,  verdunkelt  mehr, 
als  dass  es  aufklart;  sein  Neffe,  der  durch  die  Anregung  zui 
Herausgabe  der  Correspondance  de  Napoleon  Ier  fur  die  Gre- 
schichte seines  grossen  Vorgangers  das  meiste  gethan  hat,  fand 
es  nicht  in  seinem  Interess*,  jenes  Dunkel  aufzuhellen;  die 
Correspondance  beginnt  erst  mit  der  Belagerung  von  Toulon. 
Neben  den  bekannten  Denkwiirdigkeiten  von  Marmont  und 
Bourrienne  sieht  sich  deshalb  der  Forscher  noch  heute  fast 
allein  auf  drei  alte  Quellen  angewiesen:  das  Werk  des  Baron 
C  o  s  t  o  n ,  der  hauptsachlich  die  Anfange  der  militarischen  Lauf- 
bahn  Napoleons  erforscht  und  dargestellt  hat;  das  Werk 
Nasi c as,  der  auf  Corsika  Urkunden  und  Erinnerungen  zur 
Jugendgeschichte  Napoleons  gesammelt  hat ;  endlich  ein  Aufsatz 
Libris,  dem  eine  Anzahl  Papiere  aus  der  Zeit  von  1786  bis 
1793  zur  Verfugung  standen,  aus  denen  er  interessante  aber 
recht  fluchtige  Ausziige  mittheilt. *) 

Bei  der  Diirftigkeit  dieses  Materials,  dessen  Werth  durch 
mangelnde  Kritik  und  durch  Parteinahme  noch  verringert-wird,  hat 
Arthur  Bohtlingk  sich  eine  uberaus  schwierige  Aufgabe 
erwahlt,  indem  er  es  unternahm,  zum  ersten  Male  die  Ent* 
wicklungsgeschichte  des  jungen  Napoleon  zusammenhangend  und 
eingehend  darzustellen.  Ohne  selbst  unbekanntes  Material  bei- 
bringen  zu  konnen,  hat  er  mit  sorgsamem  Fleisse  das  vorhandene 
gesammelt,  mit  glttcklicher  Kombinationsgabe  das  oft  weit  aus- 
einander  Liegende  verkniipft,  und  so  eine  Darstellung  der  An- 
fange Napoleons  gegeben,  die  zwar,  wie  natiirlich,  nicht  aller 
Liicken,  selbst  nicht  innerer  Widerspriiche  entbehrt,  aber  jeden- 
falls  bei  weitem  die  beste  ist,  welche  wir  jetzt  iiber  diesen  an- 
ziehenden  Gegenstand  besitzen.  So  viel  ich  sehe,  ist  ihm  nur 
eine  autobiographische  Aufzeichnung  Pozzo  di  Borgos  entgangen, 
aus  der  sich  u.  A.  das  Datum  'der  Flucht  Napoleons  von  Corsika 
entnehmen  lasst.  (Vergl.  Archiv  der  russischen  hist.  Gesellsch. 
Bd.  H,  158  flg.) 

x)  Libri  behauptet,  das  „brevet  de  capitaino  de  Napoleon  signe*  par 
Louis  XVI,  ot  qui  porte  la  date  du  30  aout  17924*  gesehen  zu  haben,  und 
Bohtlingk  kniipft  hieran  mannichfache  Vermuthungen.  Die  Angabe  Libris  muss 
aber  auf  einem  Versehen  beruhen,  da  Ludwig  XVI.  bekanntlich  mit  dem 
10.  August  von  seinen  Functionen  suspendirt  war. 

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Bohtlingk,  Dr.  Arthur,  Napoleon  Bonaparte.  247 

Die  Grandlage,  auf  der  sich  Darstellung  und  Auffassung 
Bohtlingks  erheben,  ist  die  zuerst  von  Libri  freilich  etwas  zag- 
haft  ausgesprochene  Ansicht,  dass  Napoleon  in  seinen  Jugend- 
jahren  ein  leidenschaftlicher  corsischer  Patriot  gewesen,  der  die 
Franzosen  als  die  Unterdriicker  seines  Vaterlandes  verabscheute 
und  der  nichts  sehnlicher  wUnschte,  als  ein  zweiter  Paoli  nnd 
der  Befreier  seiner  Heimath  von  der  Fremdherrschaft  zu  werden. 
Bohtlingk  erblickt  in  dem  jungen  Napoleon  gleichsam  eine 
„Personifikation  des  Corsenthums,  wie  es  von  Prankreich  in 
Fesseln  geschlagen  war".  Gewiss  ist,  dass  die  patriotisclien 
Antriebe,  mit  denen  das  ungltickliche  Schicksal  seiner  vater- 
landischen  Insel  ihn  erfiillte,  dem  Wesen  des  jungen  Napoleon 
Schwung  und  Inhalt  gegeben  haben.  Dieser  Anschauung  ent- 
sprechend,  widmet  B.  seine  drei  ersten  Kapitel  der  Geschichte 
Coreikas,  dann  erst  erzahlt  er  das  Wenige,  was  wir  von  der 
Kindheit  und  Schulzeit  Napoleons  wissen.  Er  halt  sich  fern 
von  der  Wiederhohing  schlecht  beglaubigter  Anekdoten,  und  be- 
schrankt  sich  darauf,  so  weit  es  unsre  fragmentarische  Ueber- 
lieferung  gestattet,  mit  grossem  Scharfsinn  die  innere  Bildung 
und  Entwicklung  des  Jiinglings  zu  schildern.  Vortrefflich  ge- 
lungen  ist  in  dieser  Hinsicht  der  „Studienzeitu  bezeichnete  Ab- 
schnitt,  in  welchem  der  Einfluss,  den  Rousseau  auf  das  Gemiith, 
Kaynal  auf  die  Gesinnungen  Napoleons  gehabt  haben,  nachge- 
wiesen  wird.  Mit  dem  Eintreten  der  franzosischen  Revolution 
verwandelt  sich  wie  mit  einem  Schlage  die  Lauf  bahn  Napoleons, 
die  sich  bisher  in  nichts  von  der  eines  untergeordneten  Offiziers 
unterscheidet.  Mit  den  patriotischen  Impulsen  in  ihm,  die  auch 
ferner  auf  Corsika  gerichtet  bleiben,  verbinden  sich  demokratische 
Leidenschaften.  Sein  Leben,  bisher  mehr  innerlich,  wird  nun 
anch  ausserlich  ein  sehr  bewegtes.  Gestachelt  von  seinem  langst 
erwachten  Ehrgeiz,  verzehrt  von  unruhigem  Thatendrange ,  ist 
er  unaufhorlich  unterwegs  zwischen  Prankreich  und  Corsika,  wo 
es  ihm  gelingt,  bei  der  neuen  Ordnung  der  Dinge  sich  eine 
Stellung  zu  eningen,  die  doch  seinen  Ehrgeiz  mehr  reizt,  als 
befriedigt.  1st  er  damals  wirklich  und  ernsiiich  damit  umge- 
gangen,  Corsika  von  Frankreich  loszureissen  und  sich  zum  Herrn 
der  Insel  zu  "machen  ?  Ich  gestehe ,  dass  ich  trotz  der  scharf- 
sinnigen  Erorterungen  von  Bohtlingk  nicht  ganz  davon  uberzeugt 
bin.  Wie  schon  von  kompetentester  Seite  her  bemerkt  ist,  ver- 
fahrt  Bohtlingk  bei  seinen  Beweisen  kriminalistischer  als  es  fur 
den  Historiker  gut  ist.  (Vergl.  die  Anzeige  unseres  Buches  von 
Sybel  in  der  hist.  Zeitschrift  39,344).  Ich  mochte  hinzu- 
fugen,  dass  er  die  bei  den  neueren  Historikern,  namentlich  bei 
Sybel  und  Lanfrey,  vorherrschende  Auffassung  Napoleons  zu 
sehr  auf  die  Spitze  getrieben  hat.  Bei  Bohtlingk  noch  mehr 
als  bei  seinen  Vorgangern,  ist  Napoleon  bei  seinem  ersten  Auf- 
treten  fertig  und  vollendet,  so  wie  einst  Minerva  dem  Haupte 
Jupiters  entsprang ;  von  einer  eigentlichen  Entwicklung  ist  keine 
Hede.    Bohtlingk  sieht  in  Napoleon  von  vornherein  den  Mann 


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248  Bohtlingk,  Dr.  Arthur,  Napoleon  Bonaparte. 

des  Calculs;  er  lasst  den  jungen  Lieutenant  mit  derselben  Ver- 
schlagenheit  handeln,  wie  etwa  der  Kaiser  1808  in  Bayonne  ge- 
handelt  hat;  er  sagt  gradezu,  man  miisse  voranssetzen ,  dass 
auch  seinen  anscheinend  geringfiigigsten  Handlungen  die  ver- 
wegensten  Entwiirfe  zu.  Grunde  liegen  (S.  194).  Dass  er  sich 
in  Polge  dieser  Voreingenommenheit  in  Widerspriiche  verwickelt, 
war  kaum  zu  vermeiden.  Wenn  z.  B.  Libri  ein  Bittschreiben 
Napoleons  zu  Gunsten  des  geachteten  Paoli  mittheilt  und  seinen 
edlen  und  kiihnen  Sinn  ruhmt,  da  er  sich  hierdurch  einer  unver- 
kennbaren  Gefahr  ausgesetzt  habe,  so  halt  dagegen  Bohtlingk 
jenes  Schreiben  nur  fur  ein  Partei-Manover ;  in  den  pathetischen 
Satzen  desselben,  die  uns  freilich  deklamatorisch  erscheinen,  der 
Beredtsamkeit  des  Sudlanders  aber  eigen  sind,  erbhckt  er  nichts 
als  eitel  Heuchelei  (S.  259).  Wenige  Seiten  aber  nachdem  er 
die  Kuhnheit  und  Gefahrlichkeit  jenes  Schreibens  geleugnet, 
erzahlt  er  selbst,  dass  in  Folge  desselben  ein  Verhaftsbefehl 
gegen  Napoleon  erlassen  sei  (S.  265).  Auch  darin  liegt  viel- 
leicht  ein  Widerspruch,  dass  Napoleon,  wie  Bohtlingk  sehr  schon 
nachweist,  bis  zum  13.  Vendemiaire,  also  selbst  nach  der  Er- 
oberung  von  Toulon,  sein  Augenmerk  fast  ausschliesslich  auf 
Corsika  gerichtet  hielt,  dass  er  aber  schon  damals  sich  nur  von 
kiihler  Berechnung  habe  leiten  lassen;  ware  dem  so,  so  konnte 
es  ihm  nicht  verborgen  bleiben,  dass  das  durch  die  Revolution 
umgestalteto  Prankreich  seinen  Talenten  einen  ganz  anderen 
Spielraum  darbieten  musste,  als  das  kleine  Corsika.  Genug, 
unsere  so  diirftigen  Quellen  gestatten  uns  kaum  mehr  mit 
Sicherheit  zu  sagen,  als  dass  Napoleon  damals  in  unruhiger  und 
deshalb  oft  widerspruchsvoller  und  fehlgreifender  Thatigkeit  be- 
strebt  gewesen  ist,  sich  zur  Geltung  zu  bringen  und  irgendwie 
und  irgendwo  eine  hervorragende  Stellung  zu  erringen.  Auch  dar- 
iiber  sind  wir  nicht  vollkommen  aufgeklart,  woher  jene  Entzweiung 
mit  Paoli  entstand,  durch  welche  die  Pamilie  Bonaparte  aus 
Corsika  vertrieben  wurde.  War  es  personlicher  Hader,  der  den 
politischen  Gegensatz  hervorrief,  oder  brach  der  Zwist  aus, 
weil  die  Bonapartes  sich  auf  die  Seite  der  Pranzosen  schlugen? 
Sehr  schon  sind  die  Bemerkungen  Bohtlingks  iiber  die  Polgen, 
welche  sich  fiir  Napoleon  daraus  ergaben,  dass'er  allmaMich 
aufhorte  Corse  zu  sein,  ohne  doch  vollig  Franzose  zu  werden. 
Mit  dem  Vaterlande  verlor  er  den  letzten  sittlichen  Halt,  der 
seinem  grenzenlosen  Ehrgeiz  vielleicht  noch  Mass  und  Ziel  zu 
setzen  vermocht  hatte.  Immer  ausschliesshcher  gab  er  sich  dem 
Waffenhandwerk  als  solchem  hin.  Er  sank  dadurch  vom  Stand- 
punkte  eines  Nationalhelden ,  der  er  einst  hatte  werden  wollen, 
immermehr  zn  demjenigen  eines  Truppenfiihrers ,  eines  mittel- 
alterlichen  Condottiere  herab  (S.  268). 

Wir  begleiten  dann  Napoleon  zur  Belagerung  von  Toulon; 
wir  lernen  in  einem  sehr  interessanten  Kapitel  seine  Beziehungen 
zu  den  Mannern  des  Schreckens  kennen,  Beziehungen,  die  Urn 
einen  Augenblick   mit   in   ihre  Katastrophe   verwickelten.     Wir 

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Beer,  A.,  Zehn  Jahre  5storreichischer  Politik  1800—1810.         249 

sehen  ihn  dann  wieder  unruhig  und  rastlos  bemiiht,  sich  geltend 
zu  machen:  er  arbeitet  eine  militarische  Denkschrift  liber  die 
andere  aus  und  drangt  sich  damit  an  Alle  heran,  die  einigen 
Einfluss  besitzen.  Endlich,  am  13.  Vendemiaire ,  ist  sein  Tag 
gekommen:  mit  der  Niederwerfung  der  Royalisten  eroffnet  er 
sich  jene  Lauf  bahn ,  die  ihn  auf  den  Kaiserthron  Frankreichs 
fuhren  sollte.  Bohtlingk  glaubt,  dass  er  von  jenem  Tage  an 
das  Ziel  fest  im  Auge  behalten  habe,  dereinst  tiber  Frankreich 
zu  herrschen. 

Nur  auf  dem  Wege,  den  Bohtlingk,  wenn  auch  nicht  ohne 
bisweilen  abzuirren,  betreten  hat,  wird  es  jedem  folgenden  For- 
scher  moglich  sein,  zum  Verstandniss  der  Jugend-  und  Ent- 
wicklungsgeschichte  Napoleons  zu  gelangen. 

Paul  Bailleu. 


LVII. 

Beer,  A.,  Zehn  Jahre  6sterreichischer  Politik  1800—1810. 
gr.  8.    (VII,  542  S.)    Leipzig  1877.    F.  A.  Brockhaus.    9  M. 

Seitdem  die  Wiener  Archive  der  historischen  Forschung  in 
gastiichster  "Weise  ihre  Pforten  erschlossen  haben,  sind  uns  wohl 
von  keinem  Gelehrten  zahlreichere  Spenden  aus  der  Fiille  ihrer 
Schatze  dargeboten  worden,  als  von  dem  um  die  Geschichte 
seines  Vaterlandes  hochverdienten  Verfasser  des  vorKegenden 
Baches,  in  welchera  derselbe  eine  im  Archiv  fur  osterr.  Gesch. 
Bd.  52  niedergelegte  Studie  erganzt  und  weiterfiihrt.  Es  ist 
nicht  eine  Actenpublication  mit  einleitendem  Commentar ,  wie 
Beer's  Werk  iiber  Friedrich  den  Grossen  und  van  Swieten,  was 
wis  gebracht  wird ,  sondern  es  wird  uns  dieses  Mai ,  vielleicht 
nicht  ganz  im  Sinne  aller  Leser  des  Buchs,  nur  eine  Auswahl 
aus  dem  reichen  und  vollstandig  neuen  Quellenmateriale  des 
Verfassers  mitgetheilt,  als  Anhang  zu  einer  umfassend  angelegten 
Daretellung.  Dieselbe  zerfallt  in  zwei  Biicher,  deren  erstes  den 
Titel  „Die  Coalition  von  1805 "  fiihrt  und  die  Zeit  zwischen  den 
Friedensschliissen  von  Luneville  und  Pressburg  oder  die  oster- 
reichische  Politik  unter  Graf  Ludwig  Cobenzl  behandelt;  das 
zweite  Buch  „Die  osterr.  Politik  unter  Stadion"  schliesst  mit 
dem  Frieden  von  Wien  ab. 

Beiden  Phasen  der  osterreichischen  Politik  ist  gemeinsam 
die  anfanglich  ausgesprochen  friedliche  Richtung ;  sehr  verschie- 
dener  Natur  aber  waren  die  Grande,  welche  1804  und  1805, 
und  die,  welche  1808  und  1809  den  Kaiserhof  diese  Eichtung 
aafgeben  liessen. 

Trotz  aller  bittern  Erfahrungen,  wie  man  sie  noch  bei  den 
erst  am  26.  Dez.  1802  zum  Abschluss  kommenden  Verhand- 
lungen  wegen  der  territorialen  Entschadigungen  zu  sammeln  Ge- 
legenheit  hatte,  war  nach  dem  Frieden  von  Luneville  Napoleon 
ah  Bandiger  der  Revolution  den  osterreichischen  Staatsmannern 
fast  eine  sympathische  Personlichkeit.  Von  seinem  Streben,  sich 

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.9^-3 


250        Beer,  A.,  Zehn  Jahre  oatorreichischer  Politik  1800—1810. 

dem  Ersten  Consul  gefallig  zu  erweisen,  komite  Kaiser  Franz 
keinen  vollstandigeren  Beweis  ablegen,  als  durch  sein  Verhalten 
in  der  bekannten  Ettenheimer  Angelegenheit ;  die  besondere 
Riicksicht,  welche  dieses  Verhalten  des  Kaisers  bestimmte,  war 
sein  Wunsch,  von  Frankreich  den  osterreichischen  Kaisertitel 
anerkannt  zu  sehen,  dessen  Annahme  er  auf  die  ersten  Nach- 
richten  von  Napoleons  Planen  zur  Herstellung  der  Monarchie  in 
Aussicht  nahm.  (Buch  I,  Cap.  1  und  2.)  Man  trug  sich  in 
Wien  mit  dem  Gedanken  einer  Verbindung  sowohl  mit  Frank- 
reich als  mit  Russland,  als  man,  zuerst  im  October  1803,  be- 
stimmter  im  Januar  1804  (S.  68,  70)  durch  Antrage  Russlands, 
das  seinerseits  durch  England  geschoben  wurde,  vor  die  Wahl 
zwischen  der  russischen  und  franzosischen  Freundschaft  gestellt 
wurde.  Zogernd,  Schritt  fur  Schrittging  man  den  Russen  ent- 
gegen,  auch  als  am  4.  November  1804  ein  vorlaufiger  Vertrag 
zu  Stande  gekommen  (S.  81),  war  man  keineswegs  entschieden. 
Ein  planvolles  Handeln  lag  Cobenzl  fern.  Zu  Anfang  Februar 
1805,  so  hat  Gentz  spater  von  ihm  gesagt,  mag  er  entdeckt 
haben ,  dass  er  sich  hineinnegotiirt  hatte ,  dass  es  ihm  schwer 
sein  wurde,  wieder  zuriickzugehen  (S.  131).  Der  Beitritt  Oester- 
reichs  zu  dem  englisch-russischen  Vertrage  vom  11.  April  1805 
wurde  erst  im  Juli  1805  durch  eine  kategorische  Note  Russ- 
lands (29.  Juni,  S.  99)  erzielt.  Obgleich  sich  damit  Cobenzl 
gegen  seine  Alliirten  gebunden  hatte,  so  ist  dennoch  nicht  zu 
zweifeln,  dass  er  Mittel  gefunden  haben  wiirde,  sich  seinen  Ver- 
pflichtungen  zu  entziehen,  wenn  Napoleon  sich  auch  nur  einiger- 
massen  gefugig  gezeigt  hatte. 

In  der  Zeit  nach  1806  dagegen  war  die  friedliche  Tendenz 
der  osterreichischen  PoUtik  von  vornherein  nur  dictirt  durdi  die 
Erkenntniss  der  absoluten  Ohnmacht,  in  der  man  sich  befand. 
HStte  der  Staat  Mittel  zum  Widerstande,  schrieb  Stadion  an 
Franz  (26.  April  1806,  S.  218),  so  wiirde  er  es  fur  seine  Pflicht 
halten,  die  Abweisung  der  franzosischen  Zudringlichkeit  anzu- 
rathen.  Festes  Auftreten  sei  aber  bei  der  gegenwartigen  Sach- 
lage  unmoglich.  Und  wenn  Oesterreich  in  der  orientalischen 
Frage  eine  Verstandigung  mit  Frankreich  und  Russland  behufs 
Theilung  der  Tiirkei  anzubahnen  suchte ,  so  geschah  es  nur,  um 
die  Beute  nicht  den  Verbundeten  von  Tilsit  allein  zufallen  zu 
lassen  (S.  303—307). 

Die  Nachricht  von  Napoleons  unerwartetem  Vorgehen  gegen 
die  spanischen  Bourbonen  war  es  dann,  die  im  April  1808  dem 
Grafen  Stadion  auf  das  Klarste  die  nunmehr  einzuschlagende 
Richtung  wies.  Der  Kaiser  habe  in  den  spanischen  Vorgangen 
das  Schicksal  zu  erkennen,  welches  jedem  Hofe  und  jedem 
gegenwartig  regierenden  Hause  bevorstehe.  Mit  dem  Gedanken 
eines  AngrifTskrieges  sich  vertraut  machend,  befiirwortete  Stadion 
eine  Riistung  im  grossartigen  Massstabe,  fur  deren  Abschluss 
er  den  Friihling  des  Jahres  1809  in  Aussicht  nahm  (S.  308? 
316,  338).     Ueber  seine  Thatigkeit  fiir  die   Organisation   des 


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Beer,  A.,  Zehn  Jahre  faterreichischer  Politik  1800—1810.        251 

Wideretandes  und  uber  die  Schwierigkeiten,  auf  welche  dieselbe 
stiees,  erhalten  wir  sehr  anziehende  Mittheilungen.  Die  meisten 
osterreichischen  Diplomaten  haben  immer  nur  die  auswartigen 
Beziehungen  ins  Auge  gefasst,  ohne  den  innern  Verhaltnissen 
eine  genugende  Aufmerksamkeit  zu  schenken.  Stadion  macht 
hierin  eine  Ausnahme.  Mit  Nachdruck  verlangte  er  wieder  und 
TOder  einschneidende  Reformen  im  Innern.  Aber  „bei  dem 
grossen  Misstrauen  in  sich  und  sein  eignes  Urtheil  war  der 
Kaiser  ein  Spielball  der  verschiedenen  Ansichten,  die  ihm  ent- 
gegengebracht  wurden"  (S.  313).  „Trotz  aller  militarischen 
Vorbereitungen  verkundete  der  sonstige  Gang  der  Regierung 
nicht,  dass  ein  neuer  Geist  sie  durchdringe"  (S.  314).  — 
„Stadion  dachte  ernstlich  an  einen  Volkskrieg  im  wahren  Sinne 
dw  Wortes  ....  Was  spater  in  Preussen  zur  Verwirklichung 
iam,  schwebte  lebhaft  dem  Geiste  des  osterreichischen  Ministers 
schon  einige  Jahre  friiher  vor"  (S.  342,  vergl.  auch  S.  366). 
Aber  welch  ein  Abstand  zwischen  der  Erfolglosigkeit  der  oster- 
reichischen Reformbe8trebungen ,  von  denen  Beer  uns  berichtet, 
nnd  dem  grossen  Verjiingungsprozesse  in  Preussen,  der  die  Er- 
folge  von  1813  vorbereitete.  Mit  unumvnindener  Offenheit  hebt 
der  Verf.  selber  in  seiner  Gesammtcharacteristik  des  Stadionschen 
Systems  (S.  212)  diesen  Gegensatz  in  der  damaligen  inneren 
Entwickelung  der  beiden  Staaten  hervor.  Selbst  von  Stadion, 
dem  Hauptvertreter  des  Reformgedankens,  „liegt  uns  kein  Acten- 
stiick  vor,  aus  dem  sich  annehmen  liesse,  dass  er  sich  iiber  die 
unerlasslichen  Reformen  auf  den  verschiedenen  Gebieten  der 
staatlichen  Thatigkeit  vollauf  klar  gewesen  wareu. 

Einen  Bundesgenossen  hatte  Stadion  fur  seine  Actionspolitik 
an  dem  Botschafter  in  Paris.  Graf  Metternich  beantwortete  die 
Ftage,  ob  Napoleon  mit  feindlichen  Planen  gegen  Oesterreich 
fiich  trage,  mit  einem  unbedingten  Ja.  Bei  den  entscheidenden 
Berathungen  der  ersten  Decembertage  1808  gab  Metternich, 
vie  es  scheint,  den  Ausschlag  fiir  den  Krieg  (S.  319,  339). 
Eine  ganz  eigenthiimliche  Rolle  spielt  in  der  Vorgeschichte  des 
Krieges  von  1809  der  franzosische  Minister  Talleyrand.  In 
Erfurt  war  er  es,  der  Napoleons  Absichten,  Russland  gegen 
Oesterreich  zu  hetzen,  zum  Scheitern  brachte  (S.  329—332,  525), 
and  in  der  Folge  treibt  er  die  osterreichischen  Staatsmanner 
gradezu,  sich  von  Napoleon  nicht  zuvorkommen  zu  lassen  (S.  365). 

Das  Haupt  der  Friedenspartei  in  Wien  war  sowohl  1804 
and  1805  als  1808  und  1809  der  Erzherzog  Karl.  1804  war 
er  fur  die  runde  Ablehnung  der  russischen  Vorschlage.  „Es 
wt  nicht  richtig,u  meint  Beer,  „wie  man  bisher  angenommen 
hat,  dass  eine  gewisse  Scheu ,  sich  mit  dem  gewaltigen  Kriegs- 
manne  des  Jahrhunderts  zu  messen,  hierbei  bestimmend  war, 
sondern  die  staatsmannische  Ueberzeugung ,  dass  Oesterreich 
znnachst  auf  die  Umformung  seiner  inneren  Verhaltnisse  seine 
Thatigkeit  concentriren  solle."  Die  voriibergehende  Richtung 
ier  Politik  Stadions  auf  die  Losung  der  orientalischen  Frage 

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252         Beer,  A.,  Zehn  Jahre  osterreichischer  Politik  1800—1810. 

hatte  seine  entschiedene  Billigung.  „Der  Prinz  bewegte  sich 
in  den  Gedankenkreisen  osterreichisch-orientalischer  Politik  mit 
besonderer  Vorliebe,  aus  manchen  Aufzeichnungen  geht  unzwei- 
deutig  hervor,  dass  er  in  Bezug  auf  den  Orient  fur  Oesterreich 
eine  Fuhrerrolle  in  Anspruch  nahm,  uberhaupt  nur  nach.  dieser 
Bichtung  eine  thatige  Politik  fiir  entschieden  geboten  imd 
gerechtfertigt  hielt."  —  Gegen  Stadions  Drangen  zum  Kampfe 
gegen  Frankreich  erhob  er  dann  abermals  seine  Stimme  und  be- 
stand  darauf,  nicht  eher  loszuschlagen,  bis  man  vollstandig  geriistet 
sei.  „Ich  habe  nicht  fur  den  Krieg  gestimmt,"  sagte  er  nach  der  ent- 
scheidungsvollen  Sitzung  am  8.  Februar  1809,  „mogen  jene  die 
Verantwortung  iibernehmen,  welche  den  Entschluss  gefasst 
haben."  In  der  That  war  man  im  entscheidenden  Augenblicke 
weder  finanziell  noch  militarisch  vorbereitet.  Nach  der  Schlacht 
bei  Wagram  sprach  sich  der  Erzherzog  unbedingt  fiir  den  Frie- 
den  aus,  zu  dem  er  schon  nach  den  ersten  unglucklichen  Ge- 
fechten  an  der  oberen  Donau  gerathen  hatte.  Die  kriegerischen 
Stimmen  erlangten  noch  fiir  eine  kurze  Zeit  das  Uebergewicht, 
nnd  Karl  zog  sich  vom  Kriegsschauplatz  zuriick.  „So  vieles 
auch  iiber  die  einzelnen  Vorgange  noch  in  Dunkel  gehiillt  ist, 
mit  Bestimmtheit  kann  ausgesprochen  werden,  dass  der  Riicktritt 
kein  freiwilliger  war"  (S.  72,  93,  305,  366,  423). 

Aus  den  Capiteln,  welche  Oesterreichs  Beziehungen  zn 
Preussen  schildern,  sei  folgendes  hervorgehoben.  So  wenig  sich 
nach  dem  Frieden  von  Liineville  die  osterreichischen  Staats- 
manner  in  den  meisten  Fragen  von  der  traditionellen  Auffassuog 
entfernten  beziiglich  des  Verhaltnisses  zu  Preussen,  so  brach  sich 
zeitweilig  doch  eine  neue  Bichtung  Bahn  (S.  107).  Graf  Metternich, 
damals  Gesandter  in  Berlin,  befiirwortete  den  Anschluss  an 
Preussen.  „  Schon  das  Zugestandniss ,  dass  die  geographischen 
Grenzen  Preussens  vieles  zu  wunschen  iibrig  liessen,  und  dass 
deshalb  das  Streben  nach  einer  entsprechenderen  Abrundung 
des  Gebiets  ein  gerechtfertigtes  sei,  verrath  ein  richtigeres  Ver- 
8tandniss  der  politischen  Sachlage,  als  es  bisher  in  der  Wiener 
Staatskanzlei  zu  finden  war"  (S.  109,  vergl.  S.  169  unten).  Die 
Versuche  Russlands  und  Oesterreichs  in  Berlin  Anfang  1805t 
Preussen  zum  Beitritt  zu  der  Coalition  zu  gewinnen,  scheiterten 
schon  deshalb,  weil  man  dem  berechtigten  Verlangen  des  letzteren, 
in  die  Abmachungen  Russlands  mit  Oesterreich  und  England 
eingeweiht  zu  werden,  nicht  nachkommen  konnte  oder  wollte 
(S.  123).  Urn  Preussen  zu  gewinnen,  sagte  Friedrich  Wilhelm  HL 
am  14.  September  zu  dem  Grafen  Merveldt,  hatte  man  sich  von 
vornherein  iiber  die  Principien  verstandigen  miissen,  bisher  aber 
hatten  sich  die  Kaiserlichen  Hofe  bloss  in  Allgemeinheiten  er- 
gangen  (S.  169).  —  Nach  dem  Frieden  von  Pressburg  wiinschte 
Graf  Stadion  „innigst  die  Anbahnung  inniger  Beziehungen  zu 
dem  Nachbarstaate".  Als  er  die  Nachricht  erhielt,  dass  Preussen 
damit  umgehe,  die  Fursten  Norddeutschlands  unter  seiner  Fiihrung 
zu  vereinigen,  „sprach  er  unverhohlen  seine  Befiiedigung  dariiber 

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Beer,  A.,  Zehn  Jahre  osterreichischer  Politik  1800—1810.         253 

aus,  tmd  bei  einem  Manne  seines  Schlags  war  dies  keine.  Phrase". 
Verstimmend  wirkte  in  Wien  Hardenbergs  Ersetzung  durch 
Haugwitz,  „den  bosen  Genius  des  preussischen  Staatswesens", 
wie  ihn  Stadion  nannte  (S.  234  ff.).  Wahrend  des  preussisch- 
franzosischen  Krieges  hielt  man  sich  in  Wien,  bei  fortwahrenden 
Verhandlungen  mit  beiden  Theilen,  an  stride  Neutralitat,  die 
Angaben  franzosischer  Schriftsteller  von  Allianzantragen ,  die 
Oesterreich  im  Januar  1807  bei  Napoleon  gestellt  habe,  sind 
onrichtig;  die  Antrage  gingen  vielmehr  von  Frankreich  aus 
(S.  268).  Erst  Anfang  Mai  kam  man  von  dem  Wabne  zuriick, 
eine  glanzende  Rolle  als  Vermittler  spielen  zu  konnen,  ohne 
Partei  ergreifen  zu  miissen  (S.  285),  und  als  man  sich  endlich 
entschloss,  bedingungsweise  auf  die  Seite  der  Verbiindeten 
zu  treten,  langte  die  Kunde  von  dem  Tilsiter  Waffenstillstande 
in  Wien  an ;  die  Bemiihungen  des  Wiener  Cabinets,  den  Friedens- 
Terhandlungen  einen  allgemeinen  Character  aufzudrucken,  waren 
vergeblich  (S.  287 ,  290).  —  Ausfiihrlich  werden  S.  351  ff.  die 
zu  keinem  Resultate  fiihrenden  Verhandlungen  der  Jahre  1808 
und  1809  wegen  eines  Bundes  mit  Preussen  behandelt.  „Wenn 
man  auch  die  Hiilfe  desselben  gering  anschlug,  so  musste  doch 
die  Antheilnahme  hoch  angeschlagen  werden ,  weil  dadurch  fiir 
die  kampflustigen  Elemente  Nord-  und  Mitteldeutschlands  ein 
Mittelpunkt  geschaffen  wurde4*  (S.  343).  Bezeichnend  ist,  dass 
man  es  in  Wien  erst  im  April  1808,  d.  h.  nach  jener  scharfen 
Wendung  der  osterreichischen  Politik  in  Folge  der  Nachrichten 
aus  Spanien,  fur  erforderlich  hielt,  wenigstens  einen  Geschafts- 
trager  in  Konigsberg  zu  accreditiren ,  urn  die  seit  Tilsit  ver- 
nachlassigten  Beziehungen  wieder  anzukniipfen.  —  Die  Unthatig- 
keit  des  Erzherzogs  Karl  nach  dem  Erfolge  von  Aspern,  die  oft 
tart  verurtheilt  worden  ist,  hatte  nach  Beer  S.  388  ihren  guten 
Grand,  da  man  "die  nach  der  Schlacht  durch  den  Prinzen  von 
Oranien  in  bestimmte  Aussicht  gestellte  Mitwirkung  Preussens 
abwarten  wollte.  Die  Mittheilungen  S.  394  iiber  die  in  jene 
Zeit  fallende  Sendung  des  Obersten  Steigentesch  nach  Konigs- 
berg weichen  von  der  Darstellung  bei  Duncker,  Preussen 
^abrend  der  franz.  Occup.  (Abhandlungen  zur  preuss.  Gesch. 
306)  erheblich  ab,  und  in  der  Sendung  Knesebecks  in  das  oster- 
reichische  Hauptquartier  (August  1809)  will  Beer  S.  437  vor- 
nehmlich  den  Zweck  erkennen,  dahin  zu  wirken,  dass  in  dem 
Friedenstractat  zwischen  Oesterreich  und  Frankreich  eine  der 
Wiederbesetzung  preussischer  Gebiete  durch  die  Franzosen  vor- 
beugende  Bestimmung  Aufhahme  fande,  wahrend  nach  Duncker 
a.  a.  O.  und  Ranke,  Hardenberg  IV,  194  es  doch  in  der  That  die 
Absicht  des  preussischen  Hofes  war,  auf  Seiten  Oesterreichs  zu 
teten,  hatte  nur  Knesebeck  die  Ueberzeugung  gewonnen,  dass 
Oesterreich  den  JLampf  ernstlich  fortsetzen  wolle.  — 

Schwererwiegend  vielleicht  als  die  Zuriickdrangung  Oester- 
reiclis  unter  die  Staaten  zweiten  Ranges,  sagt  Beer  zum  Schlusse 
seines  Werkes    bef  Wiirdigung    der  Folgen   des  Friedens  von 

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254  Lehmann,  Max,  Kneacbeck  and  Schoen. 

1809,  war  der  Wechsel,  der  sich  in  den  Regierungskreisen  vollzog, 
der  Riicktritt  der  beiden  Manner,  an  deren  Namen  sich  die 
osterreichische  Erhebung  von  1809  kntipft.  „Wenn  uberhaupt, 
konnte  Oesterreich  nur  durch  Manner  wie  Erzherzog  Karl  und 
Stadion  vor  jener  Richtung  bewahrt  werden,  die  es  nach  Her- 
stellung  des  allgemeinen  Friedens  einschlug."  Seinen  Standpunkt 
dieser  Richtung  gegeniiber  lasst  der  Verf.  u.  A.  auch  in  seinen 
allgemeinen  Bemerkungen  iiber  Character  und  Regierungsweise 
des  Kaiser  Franz  S.  213,  214  erkennen. 

Nicht  ganz  frei  von  Anstossen  ist  die  Form  des  Werkes,  aus 
dessen  Inhalt  wir  einiges  mitgetheilt  haben.  Das  Streben,  im  Aus- 
drucke  abzuwechseln,  darf  nicht  storend  bemerkbar  werden,  wie 
gleich  auf  den  ersten  Seiten,  wo  kurz  nacheinander  von  den  M  a  c  h  t- 
habern  an  der  Seine,  den  Staatsmannern  an  der  Spree 
und  den  Staatslenkern  an  der  Newa  die  Rede  ist.  S.  446 
lesen  wir:  „Ein  eigenthiimlicher  Vorfall  bewirkte,  was  Bitten 
und  Ueberredungskunst  nicht  bewerkstelligt  hatten".  Bis- 
weilen  ist  die  Wahl  des  Ausdrucks  geschmacklos  oder  unedeL 
vergl.  S.  123:  Russland  liess  nichts  von  den  Unterhandlungen 
durchsickern ;  S.  71  der  ausgeheckte  Gedanke;  S.  183  die  aus- 
geheckten  Plane;  S.  30  die  aufgewarmte  Freundschaft ;  8.  31 
einsacken;  S.  78  kirre  machen.  Aus  dem  Bilde  fallen  die 
schonen  Traume,  die  S.  222  bersten ,  und  der  beschmutzte  Lor- 
beer,  der  S.  224  aufgefrischt  wird.  S.  14  steht  die  Jagd  um 
die  (statt:  nach  der)  Gunst,  und  S.  201:  Kaiser  Franz  be- 
8timmte  den  Fiirsten  Liechtenstein  mit  der  Fortfuhrung  der 
Verhandlungen.  Missverstandlich  ist,  wenn  S.  32  gesagt  wird, 
Metternich  versuchte  Talleyrand  zur  Sprache  zu  bringen; 
gemeint  ist:  zum  Sprechen.  Als  Beispiel  falschen  Satzbaues 
notiren  wir  S.  211:  Verstandig  und  fliichtig,  fehlte  es  Franz 
nicht  an  tuchtigen  Eigenschaften.  8.  10  wird  abgeneigt  mit 
zu  construirt.  S.  198  findet  sich  der  Plural  die  Ungliicke,  u.  A.  m. 
Berlin.  Reinhold  Koser. 


Lvm. 

Lehmann,  Max.  Knesebeck  und  Schoen.  Beitrfige  zur  Geschichte 
der  Freiheitekriege.  gr.  8.  (XIII,  347  S.)  Leipzig  1875. 
S.  Hirzel.     7  M. 

Lehmann,  Max,  Stein,  Scharnhorst  und  Schoen.  Eine  Schutz- 
SChrift.     gr.  8.   (V,  100  S.)    Leipzig  1877.    S.  Hirzel.    2M. 

Als  ich  vor  15  Jahren  eine  Biographic  Th.  G.  v.  Hippels 
herausgab,  konnte  ich  mit  Fug  und  Recht  aus  J.  Schmidts 
Litteraturgeschichte  das  Wort  citiren :  „ Jetzt  erst  fangt  man  an? 
die  lebendigen  Zeugnisse  jener  Tage  zu  sammeln  und  zu  sichten. 
Wenn  es  vollstandig  geschehen  sein  wird,  so  dass  jeder  einzelce 
Oharakter  deutlich  hervortritt,  so  werden  wir  eine  Nationallitte- 

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Lohmann,  Max,  Kncsebeck  und  Schoen.  255 

ratnr  besitzen,  die  zugleich  als  Quelle  politischer  Weisheit  dienen 
kannu.  Seitdem  ist  der  Geschichtsschreibung  eine  grosse  Menge 
reicher  Quellen  fur  die  Geschichte  jener  grossen  Zeit  der  Samm- 
lung  und  Erhebung  Preussens  zuganglich  gemacht  worden.  Denn 
einerseits  haben  die  Staatsarchive  ihre  Thiiren  den  Forschern 
geoffhet,  andrerseits  ist  auch  von  manchen  Familienarchiven  der 
Yerschluss  hinweggenommen  worden,  so  dass  wir  nicht  nur  ein 
kkreres  und  wahreres  Bild  von  jener  Zeit  im  Allgemeinen  er- 
klten,  sondern  auch  den  Antheil  jedes  hervorragenden  Mit- 
kampfers  und  Mitarbeiters  an  jener  Erhebung  sicherer  abmessen 
konnen.  Aber  wir  diirfen  iuis  auch  nicht  verhehlen,  dass  die 
geachichtlich  grossen  Tage,  die  wir  selbst  eben  durchlebt  haben, 
dass  die  grossen  Staatsmanner  und  Heerfiihrer,  welche  wir  vor 
maeren  Augen  eben  haben  wirken  und  schaffen  sehen,  uns  einen 
neuen  und  hoheren  Massstab  zur  Beurtheilung  jener  Zeiten  und 
Manner  in  die  Hand  gegeben,  dass  sich  uns  auf  Schritt  und 
Tritt  die  Wahrheit  des  Schiller'schen  Spruches  aufdrangt:  Ein 
grosses  Muster  (weckt  Nacheiferung  und)  giebt  dem  Urtheil 
hohere  Gesetze. 

Es  haben  sich  hervorragende  Geschichtsforscher  und  Ge- 
Bchichtsschreiber  theils  aus  eigenem  Antriebe,  theils  in  Polge 
besonderen  Auftrages  an  die  Darstellung  des  Lebens  und  Wir- 
kens  einzelner  Manner  aus  der  Zeit  der  Freiheitskriege  gemacht , 
und  so  konnte  erst  neuerdings  M.  Duncker  in  unserer  Zeitschrift 
(VI.  Jahrg.  1.  H.)  die  von  L.  v.  Ranke  herausgegebenen  Denk- 
wiirdigkeiten  des  Staatskanzlers  v.  Hardenberg  anzeigen. 

Ein  junger  talentvoller  und  gut  geschulter  Historiker,  Max 
Lehmann,  hat  es  unternommen,  uns  die  lange  entbehrte  und  be- 
gehrte  Biographie  Scharnhorsts  zu  liefern.  Aber  in  seinem  Be- 
streben,  das  Ganze  zu  einem  einheitlichen  Bilde  zusammenzufugen, 
Btorten  ihm  einige  grelle  Misstone  die  Harmonic  „Der  treue 
Diener  des  preussischen  Konigshauses  sollte  im  Jahre  1812,  als 
Friedrich  Wilhelm  IH.  das  Bundniss  mit  Frankreich  geschlossen 
hatte,  hunderte  von  Offizieren  zum  Austritt  aus  der  Armee  be- 
wogen  haben,  um  dadurch  dem  Konig  die  neue  Alliance  zu  ver- 
leiden;  der  unermiidliche  Beformator  des  preussischen  Heeres 
sollte  das  Jahr  darauf  der  Errichtung  einer  Landwehr  wider- 
Btrebt  haben."  Er  ging  sorgfaltig  forschend  auf  die  Quellen 
zanick,  aus  denen  diese  zwei  bedenklichen  Nachrichten  geflossen, 
^ftd  fand,  dass  die  erste  auf  Knesebeck,  die  andere  auf  Schoen 
zuriickzufuhren  sei.  Er  priifte  ihre  Memoiren  und  fand  das  yon 
der  historischen  Methode  schon  verkiindete  Axiom  bestatigt, 
dass  „es  kaum  eine  unzuverlassigere  Art  der  Ueberlieferung 
giebt  als  Memoirenu,  da  es  den  Memoirenschreibern  zumeist  be- 
gegnet,  dass  sie  die  friihere  Zeit,  die  fruhere  Thatigkeit  zu  sehr 
in  dem  Lichte  der  spateren  Zeit ,  der  spateren  gelauterten  An- 
8chanung8-  und  Handlungsweise  betrachten,  darstellen  und  fur 
sich  deuten '  oder  dass  unter  anderen  Eindriicken  und  Einfliissen 
die  Treue  des  Gedachtnisses  sie  verlasst.  Das  urkundliche  Ma- 
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256  Lehmann,  Max,  Knesebeck  und  Schoen. 

terial  der  Staatsarchive  bot  Lehmann  die  besten  und  sicherstea 
Mittel  der  Remedur. 

Der   erste   Abschnitt   seines   Buches  (S.  1 — 77)  tragi  den 
Titel:    Knesebeck,    der    russische    Operationsplan 
und  die  300  preussischen  Offiziere  von  1812.    Mai 
Duncker    hat    bereits    in    seinen    2    Abhandlungen    „Preus8en 
wahrend   der   franzosischen  Occupation"    und   „die   Mission  des 
Obersten  v.  d.  Knesebeck   nach  Petersburg"  iy  die  gewichtigsten    \ 
Argumente  gegen  die  objective  Glaubwiirdigkeit  der  Knesebeck*- 
schen  Memoiren  geltend   gemacht  und  Lehmann  erkennt  bereat-    .. 
willig  an  (S.  13),  dass  er  hier  nur  Dunckers  Spuren  gefolgt  set   j 
Es    wird    nachgewiesen,    dass    der   in    den   Memoiren   als  eine    j 
Knesebeck'sche   Idee    hingestellte    russische    Riickzugsplan   mil 
seiner   im    preussischen    Staatsarchiv    aufbewahrten   Denkschrift 
vom  21.  Januar  1812  durchaus  im  Widerspruche  steht,  da  diese 
das  System  der  langen  retrograden  Linien   entschieden  verwirft. 
Durch  Herbeiziehung  der  archivalischen  Urkunden  sind  noch  vide 
andre  in's  Einzelne  gehende  Widerspruche  oder  Mischungen  von    i 
Wahrheit  und  Irrthum  nachgewiesen,  die  ^  hier  nicht  alle  wieder-    i 
gegeben  werden  konnen.     Zumeist  widerlegt  der  Knesebeck  von    , 
1812   den   Knesebeck   von  1846  selbst.     Vergessen   darf  nicht   j 
werden,  dass  Gneisenau  Knesebeck  im  Fruhjahr  1812  franzosisch 
gesinnt  nennt  und  noch  1813  von  ihm  sagt:    „Dieser  Mann  hat 
in  Betreff  Frankreichs   eine   fixe  Idee   im  Kopfe ,    die   nahe  an    , 
Narrheit  grenzt ;  er  wird  ewig  fur  Frankreich  arbeiten".  Aus  allem   j 
geht  hervor,  dass  Knesebeck  iiberall  fur  die  Erhaltung  des  Friedens    \ 
gewirkt,  nicht  aber  Kriegsplane  ausgedacht  und  mitgetheilt  hat   ] 

Mit  dramatischer  Lebendigkeit  und  Shakespeare'schem  Scenen-   \ 
wechsel   zeigt  uns  M.  L.  den   diplomatischen   General    bald  in   \ 
Berlin,   bald  in  Petersburg   und   kommt  zu  demselben  Resultat    [ 
wie    in    der    Besprechung    der    Knesebeck'schen    Memoiren  in    a 
v.  Sybels  historischer  Zeitschrift  (1876,  IV,  S.  433  ff.) :  Die  Denk-    5 
schrift  vom  21.  Januar  1812  enthalt  das  Gegentheil  des  Buck- 
zugsgedankens ,   von  dem  er  geradezu  den  Untergang  der  Frei- 
heit  Europas   erwartete.     Also  kann   er  ihn  nicht   kurz  znvor 
als  einziges  Mittel  der  Kettung  fur  diese  Freiheit  ersonnen  und 
zwischen  dem  21.  und  31.  Januar  dem  Konig  dargelegt  haben. 
Also  kann   er  ihn  nicht  zwischen  dem  17.  Februar  und  7.  Marz 
1812  in   geheimer  Mission   nach   Petersburg  zum  folgenreichen 
Entschlusse  Alexanders   erhoben   haben.     Auch   hat   Alexander 
iiberhaupt   einen   solchen   Plan   nicht  von  Anfang   an   verfolgt, 
sondern  schon  an  der  Diina  eine  entscheidende  Schlacht  schlagen, 
ja  noch  nach  Smolensk  zum  Angriff  schreiten  wollen*). 


x)  Aus  der  Zeit  Friedrichs  d.  Gr.  und  Friedrich  Wilhelms  IIL,  Ab- 
handlungon  zur  preussischen  Geschichte  S.  265—503  und  S.  551—579. 

a)  M.  Lehmann  ist  in  der  historischen  Zeitschrift  (1876,  IV,  S.  433  £) 
bei  der  Besprechung  von  Knesebecks  Memoiren  noch  einmal  auf  diewD 
Gegenstand  zurtlckgekommen  und  hat  dort  das  hier  erorterte  z.  Th.  noch  er- 
gfinzt  und  naher  begrflndet. 


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Lehmann,  Max,  Knesebeck  nnd  Scboen.  257 

Was  nun  die  300  Offiziere  betrifft,  so  sehen  wir,  class  bis 
zu  dem  Erscheinen  der  „Erinnerungen"  des  Grafen  Henckel  von 
Donnersmarck  (1846)  nnd  der  Bruchstiicke  aus  den  hinterlassenen 
Papieren  Knesebecks  (1850)  bei  alien  Berichterstattern  nur  von 
„einigenu,  „mehrerenu  preussischen  Offizieren  die  Rede  ist  und 
auch  in  spater  erschienenen  Memoiren  hochstens  von  „vielenu 
gesprochen  wird,  welche  1812  den  Abschied  genommen,  urn  gegen 
Napoleon  in  russische  Dienste  zu  treten,  wahrend  es  bei  Graf 
Henckel  (Knesebecks  Schwager)  heisst:  „Als  die  Nachricht  von  der 
franzosischen  Alliance  sich  verbreitete,  nahmen  300  Offiziere 
ihren  Abschied".  Freilich  fiigt  er  limitirend  hinzu:  „Die  Zahl 
mag  wohl  etwas  ubertrieben  sein,  mir  ist  sie  aber  von  glaub- 
wiirdigen  Mannern  versichert  worden".  Aber  Knesebeck  sagt 
mit  voller  bis  in's  Einzelne  gehender  Bestimmtheit :  „Scharnhorst, 
der  seine  Plane  durch  mich  vereitelt  sah,  hatte  noch  ein  Mittel 
Tersucht:  300  Offiziere  forderten  auf  einmal  den  Abschied.  Der 
Konig  verfiigte:  „K6nnen  gehen!"  Die  Fruchtlosigkeit  dieser 
Massregel  veranlasste  ihn,  sich  zuriickzuziehen  und  nach  Schlesien 
zu  gehen".  Diese  Nachricht  ist  mit  erstaunlicher  Schnelligkeit 
in  alle  Darstellungen  der  Geschichte  jener  Zeit  ubergegangen ; 
aber  sie  entbehrt  der  historischen  Wahrheit. 

Der  Austritt  der  300  miisste  zwischen  dem  19.  und  26.  Marz 
erfolgt  sein.  Nach  Ausweis  der  Acten  haben  aber  in  diesem 
Zeitraum  nur  9  Offiziere  der  preussischen  Armee  den  Abschied 
erbalten.  Und  spater?  —  Vom  26.  Marz  bis  1.  Juli  haben  65 
active  und  43  auf  Halbsold  dienende  Offiziere  den  Abschied  er- 
balten. Haben  diese  108  alle  die  von  Knesebeck  oder  die  von 
E.  M.  Arndt  angefuhrten  Motive  getrieben?  Von  ihnen  wurden 
43  mit  Pension  verabschiedet;  bei  vielen  ist  lediglich  Invaliditat 
als  Grund  angefuhrt.  Es  bleiben  im  Ganzen  60,  von  denen  an- 
genommen  werden  konnte,  sie  seien  vielleicht  in  russische  Dienste 
getreten.  Oder  wohin  sonst?  —  Die  Englander,  Spanier  und 
Russen  standen  damals  gegen  Napoleon.  Drei  von  den  obigen 
60  erscheinen  wirklich  in  der  „deutschen  Legion"  der  Englander, 
am  auf  spanischem  Boden  zu  kampfen.  Naher  lag  den  trotzigen 
Emigranten  Russland.  Der  Herzog  von  Oldenburg  warb  hier 
im  Einverstandniss  mit  seinem  Vetter  Alexander  durch  Oberst 
v.  Arentsschild  deutsche  Offiziete,  und  Stein  nahm  dann  den  Ge- 
danken  der  Bildung  einer  russisch-deutschen  Legion  mit  Warme 
auf.  Aber  in  der  Mitte  des  December  1812  zahlte  sie  erst 
1500  Mann,  durch  erbarmungslose  Disciplin  zusammengehalten, 
grossentheils  Kriegsgefangene.  In  ihren  Listen  begegnen  uns 
einige  der  obigen  60  Namen :  2  Grafen  Dohna,  Hans  v.  Natzmer, 
Giselbert  und  Wilhelm  v.  d.  Horst,  Major  und  2  Lieutenants 
▼.  Tiedemann ,  Carl  v.  Clausewitz  (ausser  der  Zahl  jener  60,  weil 
eigenwilhg  gehend),  Alexander  v.  d.  Goltz  (ebenso),  Ferdinand 
v.  Stiilpnagel,  Friedrich  v.  Horn,  Eugen  v.  By  em,  Alexander  v. 
Simolin,  Schimmelpfennig  v.  d.  Oye,  v.  Goertzen,  Woldemar  v. 
Bannecken,    Carl   v.   Perusser,    Hans   v.  Briinnow,    v.  Schaper? 

MittheiluMgcn  a.  d.  hiator.  Lltteratar.     VI.  17 

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258  Lehmann,  Max,  Knesebeck  und  Schoen. 


"^W| 


v.  Funck;  sie  alio  werden  uns  bei  M.  L.  in  ihrem  Character 
und  in  ihren  Schicksalen  lebendig  geschildert.  Prinz  Ernst 
v.  Hessen  Philippsthal  trat  unmittelbar  in  russische  Dienste. 
Andre  preussische  Offiziere,  denen  wir  in  der  russischen  Armee 
begegnen,  wie  Ludwig  Graf  Chasot  und  Leopold  v.  Liitzow, 
hat  ten  schon  vor  1812  ihren  Abschied  genommen;  ebenso  Ernst 
v.  Pfuel  (unser  Ministerprasident  1848),  Gustav  v.  Barnekow, 
Carl  v.  Nostitz.  Binige  sind  erst  spater  in  russische  Dienste 
getreten  wie  Ernst  Monhaupt.  Erwahnt  werden  noch  Wilhelm 
v.  Boeder,  Carl  Graf  v.  d.  Groeben,  Wilhelm  v.  Dorenberg,  Leo- 
pold Prinz  v.  Hessen  Homburg.  Es  sind  also  nachweisbar  nicht 
300,  sondern  etwa  30  preussische  Offiziere  in  russische  Dienste 
getreten. 

Es  werden  nun  im  folgenden  (S.  67  ff.)  die  Motive  zu 
diesem  Schritt  bei  den  einzelnen  Gruppen  erortert,  urn  das 
ganze  Phanomen  in  das  richtige  Licht  zu  stellen.  Scharnhorst, 
Gneisenau  und  Boyen  beanspruchen  neben  jenen  eine  besondre 
Beurtheilung ;  als  Haupter  der  Actionspartei  wollten  sie  dieRe- 
gierung  Frankreich  gegeniiber  nicht  compromittiren.  Auszu- 
sondern  sind  auch  deren  Verwandte,  Gehilfen  und  Schiiler,  wie 
die  Dohnas,  Clausewitz,  Groeben  und  Boeder.  Aber  alle  brachten 
Opfer  fur  eine  Idee.  „  Diese  erste  und  einzige  Emigration  des 
preussischen  Adels  ist  besser  als  alles  andere  geeignet,  Am 
fundamentalen  Unterschied  zwischen  unserem  ersten  Stande  und 
dem  der  Franzosen,  den  blinde  Parteileidenschaft  so  oft  iiber- 
sehen  hat,  zu  veranschaulichen ;  der  franzosische  Adlige  ging, 
nachdem  er  umsonst  die  konigliche  Autoritat  gemisbraucht  hatte, 
um  seine  Standesvorrechte  zu  retten,  der  preussische,  als  er 
glaubte,  die  Krone  sei  ihrem  nationalen  Berufe  untreu  geworden." 

Schwieriger  und  yerwickelter  ist  die  Losung  der  zweiten 
Frage:  „Schoen,  der  preussische  Landtag  und  die 
Landwehr  von  1813"  (S.  79—288).  Als  1875  der  erste 
Band  „aus  den  Papieren  des  Ministers  und  Burggrafen  von 
Marienburg  Theodor  v.  Schoen"  erschienen  war,  sagte  sich  wol 
jeder  Unbefangene,  dass  diese  Publication  nicht  mit  dem  Geschick 
eines  Historikers  von  Fach  erfolgt  sei,  dass  sie  der  Methode 
ermangele  und  dass  sie  wol  vielfachen  Widerspruch  erfahren 
werde,  so  wichtig  und  dankenswerth  dieselbe  auch  an  und  fur 
sich  zur  Aufklarung  eines  bedeutungsvollen  Abschnittes  unserer 
vaterlandischen  Geschichte  sei.  Zuerst  hat  Maurenbrecher  ra 
den  Grenzboten  (1875  S.  161  ff.)  seine  Bedenken  erhoben;  dann 
C.  Reichard  „im  neuen  Reich"  (1875  S.  732  ff.).  Wie  diese  hat 
auch  M.  Lehmann  seine  Kritik  vor  dem  Erscheinen  der  folgenden 
3  Bande  aus  Schoens  Nachlass  geschrieben  und  vertiffentlicht. 
Zu  Gunsten  Schoens  ist  nicht  nur  die  Fortsetzung  der  Publi- 
cation der  Schoen'schen  Familienpapiere  erfolgt,  sondern  es  ist 
inzwischen  auch  ein  Verehrer  Schoens,  welchem  diese  Papiere 
zur  Verfiigung  standen,  in  einer  langen  Reihe  von  Artikeln  in 
dem  Sonntagsblatte  der  Vossischen  Zeitung  fur  Schoen  und  dessen 

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Lehmann,  Max,  Knesebeck  and  Schoen.  259 

Denkwurdigkeiten  eingetreten  und  hat  dies  in  umfassenderem, 
aber  auch  heftigerera  Masse  gethan  in  einem  besonderen  Buche, 
welches  den  Titel  fuhrt:  „Zu  Schutz  und  Trutz  am  Grabe 
Schoens,  Bilder  aus  der  Zeit  der  Schmach  und  der  Erhebung 
Preussens,  von  einem  Ostpreussen,"  Berlin,  Fr.  Duncker  1876 
(IIL  lieferung  bis  S.  544). 

Indem  wir  nach  dieser  kurzen  bibliographischen  Uebersicht 
m  Lehmanns  Schrift  zuriickkehren ,  der  es  als  seine  Aufgabe 
betrachtet,  das  Uebermass  des  von  und  fur  Schoen  in  Anspruch 
genommenen  abzuwehren,  so  ist  die  Losung  dieser  Aufgabe  nicht 
als  eine  leichte  zu  bezeichnen,  da  in  der  stiirmischen  Zeit  1806 
bis  1813  so  viel  von  arcliivalischen  Urkunden  verloren  gegangen 
ist,  an  welchen  die  Zuverlassigkeit  der  reichlichen  Memoiren- 
htteratur  abgewogen  werden  konnte.  Die  Zweifel  an  der  Glaub- 
wiirdigkeit  des  Erzahlers  griindet  M.  L.  auf  folgende  Umstande. 
a)  Die  Schoen'schen  Memoiren  sind  verhaltnissmassig  spat  ge- 
schrieben.  Die  Autobiographic  verlegt  Reichard  sogar  erst  in 
die  Jahre  1854/56.  M.  L.  setzt  als  Anfangszeit  derselben  1838 
bis  1839.  Immerhin  war  Schoen  iiber  die  Mitte  der  Sechziger 
hinaus,  als  er  sich  anschickte  sein  Leben  aufzuzeichneu.  Aber 
diese  Erklarung  reicht  nicht  aus  bei  Darlegung  der  Hergange 
auf  dem  Landtage  1813.  b)  Alles  hat  bei  Schoen  ein  entschieden 
provinziellBs  Geprage;  sein  Provinzialstolz  „verhartete  sich  zu 
einer  Gesinnung,  die  von  Hochmuth  nicht  weit  entfernt  ist". 
Mit  Kant  hatte  Schoen  nach  M.  L.  die  nivellirende  Misachtung 
der  historischen  Grundlage  des  Staats  gemein  und  so  auch  des 
preussischen  Beamtenthums  und  des  preussisohen  Militar-  oder 
doch  Offizierwesens.  Es  friibten  also  provinziale  Neigung  und 
politische  Abneigung  seinen  Blick. 

Schoen  ist  grundverschieden  von  Stein,  dessen  Verdienste  er 
hoch  stellt,  den  er  aber  in  Bezug  auf  seine  philosophische,  litte- 
rarische  und  politische  Bildung  sehr  hart  beurtheilt  und  dessen 
Finanzoperationen  er  namentlich  in  Betreff  der  Emission  von  ' 
Papiergeld  1805  so  scharf  kritisirt,  wahrend  Stein*  doch  weise  Mass- 
baltung  beobachtet  hat,  ebenso  wie  1810,  als  von  Hardenberg  die- 
8elbeFrage  an  ihn  herangebracht  wurde.  Wie  aber  Stein  hier  nicht 
unwi8senschafllich  und  unpolitisch  verfuhr,  so  handelte  er  auch 
nicht  ohne  Grundsatze,  fuhrte  nicht  „kleinliche  Streitigkeiten"  nur 
nach  personlicher  Neigung  und  Abneigung,  als  1806  die  Minister- 
krise  eintrat  und  er  sich  gegen  die  Kabinetsregierung  wandte, 
deren  Beseitigung  auch  Hardenberg  und  Riichel  verlangten. 

Es  folgt  nun  die  Bauernemancipation  (S.  104  ff.). 
Das  beriihmte  Edict  vom  9.  October  1807,  „den  erleichterten 
Besitz  und  den  freien  Gebrauch  des  Grundeigenthums  sowie  die 
personhchen  Verhaltnisse  der  Landbewohner  betreffend",  wird 
von  Schoen  Stein  abgesprochen  und  auch  Hardenberg  so  dar- 
gestellt ,  als  wiisste  er  nichts  oder  wollte  er  nichts  wissen  von 
Menschenrechten ,  Hardenberg,  der  schon  1779  erklart,  dass 
nUahrong  und  Gewerbe  durch  Eigenthum  und  personliche  Freiheit 

17* 

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260  Lehmann,  Max,  Knesebeck  und  Sclioen. 

belebt  wiirden",  der  in  der  Denkschrift  vom  12.  September  1807 
die  Grundsatze  des  Edicts  vom  9.  October  schon  so  klar  ent- 
wickelt  hatte.  Die  ganze  Sachlage  wird  fast  so  dargestellt,  als 
hatte  vor  Schoen  niemand  in  Preussen  diesen  Gedauken  gehegt 
und  an  seine  Verwirklichung  gedacht.  Dem  gegeniiber  wird  von 
M.  L.  ausgefuhrt,  wie  die  Sache  historisch  geworden ,  und  dahin 
zielende  Bestrebungen  namhaft  gemacht,  die  bis  in  die  Zeit  des 
ersten  Konigs  zuriickreichen.  Schoen  meint,  Steins  innere  Richtung 
sei  gegen  das  Gesetz  gewesen.  M.  L.  zeigt,  dass  Stein  als  Ober- 
prasident  von  Westfalen  schon  1799  und  1801  die  Freiheit  des 
bauerlichen  Grundeigenthums ,  wie  die  Aufhebung  der  Dienste 
und  Abgaben,  die  den  bauerlichen  Gewerbfleiss  unterdriickten, 
entschieden  vertreten,  bis  zu  seinem  Amtsantritte  1807  diesen 
Gedanken  treu  festgehalten  und,  wo  er  nur  konnte,  praktiscfc 
durchgefiihrt ,  aber  auch  spaterhin  sich  nur  gegen  die  Harden- 
berg'schen  Ablosungsgesetze,  niemals  aber  gegen  den  Inhalt  der 
Reform  gewandt  habe.  Wenn  auch  die  Acten  iiber  die  Vor- 
geschichte  des  Octoberedicts  in  auffallend  verstiimmeltem  Zu- 
stande  an  das  geh.  Staatsarchiv  gelangt  sind  und  dadurch  die 
Controle  sehr  erschwert  ist,  so  lasst  sich  doch  der  innere  An- 
theil,  den  Stein  an  dem  Gesetz  genommen,  aus  den  2  wichtigen 
Modificationen  erkennen,  die  er  in  dasselbe  hineingebracht  und 
durch  welche  er  1)  eine  Verringerung  des  Bauerlandes  unmoglich 
gemacht,  2)  aber  das  Gesetz  von  der  Provinz  Preussen  auf  den 
ganzen  Staat  ausgedehnt  hat.  M.  L.  sucht  nun  psychologisch 
zu  entwickeln  (S.  122  ff.),  wie  und  warum  die  Anschauungen 
und  Urtheile  Schoens,  dessen  Anerkennung  fiir  Steins  Wirken 
1810  noch  als  eine  spontane  erscheint,  im  Laufe  der  Zeiten  sich 
anderten. 

Im  Anschlusse  an  diese  Entwickelung  stellt  er  dar,  wie 
Schoen  seit  1814  die  Historiographie  beeinflusst  habe,  wofiir 
seine  Schreiben  an  Arndt  1814,  an  Btilow  1819,  an  Joh.  Voigt 
1833,  an  Friccius  1838,  an  Gottschalk  1847,  an  Schlosser  1849, 
an  Varnhagen  1852  u.  a.  als  Beweismittel  ins  Treffen  gefuhrt 
werden.  Da  wird  von  Schoen  nicht  nur  Scharnhorst  die  Land- 
wehridee  und  Landwehrverfassung  ab-  und  dem  Grafen  Alexander 
Dohna  zugesprochen,  sondern  auch  Steins  Auftreten  so  dargestellt, 
als  habe  erRusslandsAnnexionsgeliiste  auf  die  Pro- 
vinz Preussen  begiinstigt  und  gefordert,  Annexionsgeliiste,  die 
an  massgebender  Stelle  iiberhaupt  gar  nicht  vorhanden  waren; 
damit  fallt  allerdings  ein  Theil  der  Verdienste  Schoens  und  des 
preussischen  Landtages  von  1813.  Wie  Wittgenstein  ausserte  auch 
Kutusoff  (S.  145)  bei  Ueberschreitung  der  preussischen  Grenze 
(10  Tage  vor  Tauroggen)  die  freundschaftlichsten  An-  und  Ab- 
sichten  und  versprach  der  Occupation  jede  Harte  zu  nehmen. 
Paulucci,  fiir  den  die  Tauroggener  Convention  nicht  vor  dem 
10.  Januar  verbindlich  wurde,  verfuhr  allerdings  feindselig  und 
besetzte  Memel ;  aber  er  that  dies  durchaus  nicht  aus  Preussen- 
feindschaft,    sondern   aus  Hass  und  Neid   gegen   Diebitsch   und 


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Lchmann,  Max,  Knesebeck  und  Schoen.  261 

Wittgenstein.  Schoen  will  bei  Paulucci  durch  Schulz  (S.  147) 
energisch  protestirt  und  Erhebung  in  Masse  angedroht  haben; 
aber  M.  L.  widerlegt  dieses  aus  Schulz'  Briefen.  Erbitterung 
und  Wuth  herrschte  in  Ostpreussen  uberhaupt  nur  gegen  die 
Franzosen,  wie  Schoen  damals  selbst  zugestand.  Die  strenge 
Kriegszucht  und  das  zutrauliche  Benehmen  der  Russen  gewann 
ihnen  Zuneigung.  Die  Einquartierung  ward  gut  geregelt;  den 
preussischen  Behorden,  auch  den  Gensdarmen  wurden  dieselben 
Befugnisse  gegen  die  russischen  wie  gegen  die  preussischen  Soldaten 
zuerkannt1)  (Vergl.  die  Beilagen  bei  M.  L.)  Freilich  wollte  auch 
die  machtige  Partei  der  Altrussen  das  Land  bis  zur  Weichsel ; 
aber  der  Kaiser  selbst  war  gegen  Preussen  aufrichtig  und  wohl 
gesinnt  (S.  158).  Schon  Duncker  hat  darauf  hingewiesen ,  dass 
Alexander  ein  ehrlicher  Feind  Napoleons  war,  dass  er  schon  in 
and  nach  der  Zeit  des  Tilsiter  Friedens  fest  entschlossen  war, 
Napoleon  todtlich  zu  bekriegen,  dass  er  nur  die  Zeit  zum  Los- 
schlagen  noch  nicht  fur  gekommen,  seine  Russen  noch  nicht  fur 
wideretandsfahig  genug*  hielt  (Peter  d.  Gr.  gegen  Carl  XIL), 
dass  er  aber  auch  entschieden  nicht  daran  gedacht  hat,  die 
Provinz  Preussen  den  Hohenzollern  zu  nehmen.  So  war,  was 
Wittgenstein  sagte  (S.  144),  Steins  und  Alexanders  aufrichtige 
Meinung.  —  Schoen  will  die  Drohung,  das  Volk  gegen  die  Russen 
aufzubieten,  auch  gegen  Stein  ausgesprochen  haben.  Doch  diese 
Erzahlung  halt  die  chronologische  und  historische  Kritik  nicht 
aus  (S.  160 — 163).  Die  Berufung  der  Landstande  aber  lag 
durchaus  im  Geiste  Steins  und  zwar  gerade  in  der  Provinz 
Preussen,  wo  er  1808  den  Kollmern  die  vollberechtigte  Auf- 
nahme  in  die  Landschaft  verschafft  und  uberhaupt  manche  Keime 
der  Verwandlung  der  standischen  in  eine  representative  Ver- 
fassung  gelegt  hatte  (S.  164 — 166),  wahrend  Schoen,  wenigstens 
nach  seiner  Erklarung  vom  20.  Juni  1808  zu  urtheilen  —  eher 
gegen  als  fur  die  Berufung  der  Stande  sein  musste. 

Es  folgt  nun  die Erorterung  der  Stein' schen  Vollmacht 
(S.  170),  die  schon  so  viel  Staub  aufgewirbolt  hat.  Das  ganze 
Schriftstiick  tragt  aber  eine  durchaus  preussische  Farbung,  ent- 
sprechend  der  Gesinnung  Alexanders,  und  bezeichnet  sich  selbst 
nur  als  fur  ein  kurzes  Provisorium  bestimmt.  Alexander  hebt 
in  dem  Brief  an  den  Konig  vom  31.  Januar  1813  ausdriicklich 
hervor,  dass  Stein  „einer  der  treuesten  Unterthanen"  des  Konigs 
sei,  wahrend  er  gleichzeitig  die  Riickgabo  Memels  notificirt. 
Wenn  Schoen  1849  behauptete  Stein  Widerstand  geloistet  zu 
haben,  so  widerlegt  ihn  sein  eigener  Bericht  an  den  Staats- 
kanzler  vom  30.  Januar  1813  (S.  173). 

Es  ist  dann  Yorks  Stellung  zur  Provinz  geschildert  (S.  175), 
die  nach  Verwerfung  seiner  Convention  eine  hochst  peinliche  war. 


*)  In  der  Biographie  0.  v.  Natzmors  (Berlin  1876)  ist  S.  98  sogar  mit- 
getheilt,  die  ostpreu88ischen  St&nde  hatton  den  russischen  Autorit&ten  Truppon 
ftr  den  Kampf  gegen  Franlcreieh  angeboten. 

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262  Lehmann,  Max,  Knesebeck  und  Schoen. 

Da  erscheint  Stein  zur  gliicklichen  Stunde  in  Konigsberg.  Die 
dortigen  Vorgangc  sind  von  Schoen  wiederum  in  falschem  Lichte 
nnd  Verlaufe  dargestellt  (S.  179  ff.)  Schoen  selbst  ist  minde- 
stens  hochst  kiihl  gegon  den  Landtag;  denn  er  schreibt  (S.  184) 
an  Hardenberg:  „Ich  fand  zwar  keino  Veranlassung,  die  von  dem 
Landhofmeister  v.  Auerswald  ausgeschriebene  Versammlung  in 
Absicht  der  Provinz  Litthauen  polizeilich  zu  sistiren,  aber  audi 
•  fur  mich  keine  Bcfugniss,  mich  in  standische  Angelegenheiten,  die 
nicht  zu  meinem  officio  gehoren,  zu  inischen".  Ja  Schoen  ist  mit 
daran  schuldig,  dass  Stein  sich  begniigte,  auf  die  Idee  eines 
staatsrechtlich  anerkannten  Landtags  zu  verzichtcn,  und  die  aus- 
geschriebene Versammlung  zu  einer  privaten  Zusammenkunft 
degradiren  Hess ;  aber  auf  letzterer  bestand  er.  In  das  rechte 
Fahrwassor  wurden  die  Verhandlungen  der  Stando  erst  durch 
die  Vorlagen  der  hochsten  Regierungsgewalt  d.  i.  Steins  gebrackt, 
dessen  Fiirsorgo  fiir  die  Provinz  in  jcder  seiner  Massnahmen 
hervortritt  (S.  189),  der  auch  entschiedcn  nicht,  wie  Schoen 
angiebt ,  eine  Provinzialpapiergeldemission  gefordert ,  sondern 
damals  die  Idee  eines  Bundespapiergeldes  verfolgto  (S.  192)  und 
nur  auf  Annahmo  des  russischen  Papiergeldes  in  der  occupirten 
Provinz  drang  (S.  194). 

Den  Behorden  wie  den  Standen  fehlto,  wie  damals  in 
Preussen  natiirlich,  jedo  Spontaneitat ,  fiir  alles  erwartete  man 
Winke  oder  Befohle  von  oben.  Nicht  anders  Schoen  (S.  203). 
Er  lehnte  den  Vorsitz  in  der  Standeversammlung  ab,  so  dass, 
da  auch  York  sich  weigerte,  v.  Brandt  die  Sitzung  eroflnete 
Eine  Deputation  ruft  York  herbci  zur  Verstandigung  iiber  die 
Mittel  zur  Vertheidigung  dos  Vaterlandes.  Nach  Erledigung 
gewisser  Formalien  iibernahm  er  dann  selbst  den  Vorsitz,  also 
dem  Wunsche  Steins  folgend,  welcher  ging,  als  er  sah,  dass  die 
Sache  in  guten  Handen  war,  und  nicht  etwa  auf  das  Drangen 
Schoens.  Von  der  Animositat  gegen  Kussland  und  dessen  Be- 
vollmachtigte,  von  der  Schoen  spricht,  ist  in  der  Versammlung 
keine  Spur:  uberall  zeigt  man  sich  der  Froundschaft  zwischcn 
Russland  und  Preussen  freudig  bewusst  (S.  211). 

„Nach  Steins  Abreise  entwickelte  Dohna  das  System  der 
Landwehr  und  des  Landsturms  ausfuhrlich.  Der  russische  M^or 
v.  Clausewitz  machte  dabei  nur  den  Concertmeister ;  er  entwarl 
namlich  den  Schematismus  fiir  die  einzelnen  Waffengattungen 
und  die  Eintheilungen  in  Compagnien,  Bataillone  und  Brigaden." 
So  Schoen  (S.  214).  Aber  aus  den  Protokollen  ist  ersichtlicht 
dass  von  York  der  Entwurf  eines  Landwehrgesetzes  der  Ver- 
sammlung vorgelegt  ist,  deren  Ausschuss  ihn  unter  Dohnas  Vor- 
sitz berieth.  Dieser  Entwurf  entsprang  aber  aus  der  Initiative 
Steins.  Derselbe  beauftragte  Clausewitz,  den  liebsten  und  eifrigsten 
Schiiler  Scharnhorsts,  welcher,  da  er  schnell  nach  Pillau  musste, 
den  fliichtigen  Entwurf  an  Friedrich  Dohna  gab,  durch  den  er 
an  Alexander  Dohna  gelangte.  Auch  abgesehen  von  Friedrich 
Dohnas  Zeugniss   sprechen   alle   inneren  Griinde  fiir  ClausewiU* 

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Lchmann,  Max,  Knesebeck  und  Schoen.  -  263 

Urheberschaft  *)  (S.  216).  Alexander  Dohiia  machte  danach  den 
Entwurf  zu  einer  Verordnung,  und  nachdem  Stein  und  York  ihn 
mit  Correcturen  vei'sehen,  wurde  er  vom  Ausschusse  mit  wesent- 
lichen  Modificationen  angenommen ;  wahrend  nainlich  Clausewitz 
einfeche  Aushebung  mit  unbedingter  Dienstpflicht  gefordert  hatte, 
Hess  der  Ausschuss  Stellvertretung  zu.  Indem  M.  L.  (S.  218  ff.) 
den  Clausewitz'schen  Entwurf  und  die  Festsetzungen  der  Stande- 
Yereammlung  neben  einander  stellt,  zeigt  er  klar  die  Einwirkung 
jene8  auf  das  Zustandekommen  des  Landwehrgesetzes.  Wir 
meinen,  dass  die  Landwehridee  gleichsam  in  der  Luft  gelfcgen 
and  dass  alle  Antheil  an  ihrer  Ausfiihrung  haben;  aber  die 
historische  Akribie  verlangt  doch ,  da&s  der  Antheil  jedes  ein- 
zeben  an  der  Praxis  der  Idee  festgestellt  werde,  so  gut  es  eben 
geht.  Der  specifisch  ostpreussische  Ursprung  der  Landwehr  cr- 
scheint  danach  ziemlich  modificirt. 

Die  Prioritat  des  Landwehrgedankens  gebiihrt  Scharnhorst 
in  8einem  am  31.  Juli  1807  dem  Konige  iiberreichten  Plane 
(S.  232  ff.),  wie  Hippel  bezeugt,   wahrond  die  Stande  Preussens 

1806  den  Plan  der  Bewaffnung  einos  Landsturmes  und  einer 
Miliz  (Landwehr)  entschiedon  abgewiesen  hatten  trotz  der  Konig- 
lichen  Kabinetsordro  (S.  237).  Den  Scharnhorst'schen  „vor- 
laufigen   Entwurf   der   Verfassung    der    Provinzialtruppenu    von 

1807  hat  Schoen  misverstanden ,  da  er  seit  Gervinus'  Veroffent- 
lichung  1846  nicht  mehr  zu  ignoriren  war.  Hat  er  aber  doch 
solbst  am  24.  December  1807  (S.  251)  ein  officielles  Gutachten 
iiber  Scharnhorsts  Entwurf  abgegeben,  das  erhalten  ist.     Schon 

1808  nach  der  bosen  Pariser  Convention  uberretchto  Scharnhorst 
dem  Konige  einen  neuen  Entwurf  zur  „Einrichtung  einer  National- 
armeeut  welcher  mit  jenem  vorlaufigen  Plane  grosse  Aehnlichkeit 
hat  Auch  1809  machte  Scharnhorst  Vorschlage  zur  Errichtung 
einer  Reservearmee  und  einer  allgemeinen  Miliz  (S.  260).  Aber 
alle  diese  Plane  werden  durch  den  wachsamen  Feind  vereitelt. 
Ein  Bericht  der  Commission  zur  Einfiihrung  der  allgemeinen 
Wehrpflicht  vom  5.  Februar  1810  zeigt  wiederum,  dass  Scharn- 
horst allgemeine  Wehrpflicht  und  Landwehr  als  untrennbare 
Dinge  betrachtete.  Unmittelbar  auf  den  Krieg  gerichtet  sind 
seine  Entwiirfe  aus  dem  Sommer  1811,  sonst  aber  jenen  fruheren 
dwchaus  ahnlich. 

Wer  kann  noch  behaupten,  dass  es  bei  Scharnhorst  eines 
fremden  Impulses  zur  Erweckung  des  Landwehrgedankens  be- 
durfte?  Hippel  bestatigt,  dass  ihm  1813  Scharnhorsts  Entwurf 
zur  Redaction  und  letzten  Feile  schon  im  Februar  iibergeben 
sei,  ehe  die  ostpreussischen  Entwurfe  anlangten,  deren  Ab- 
weichungen  bei  M.  L.  (S.  266  ff.)  klar  dargelegt  werden.  Scharn- 
horst war  gegen  diese  insofern  eingenommen,  als  sic  die  Verwendung 

!)  Man  vergleiche  auch  die  Briefe  von  Carl  v.  Clausewitz  an  Mario  v. 
Clangewitz,  mitgetheilt  in  der  Zeitschrift  fur  preussische  Geschichto  (13  S.  273  ff.). 
Dort  sagt  er  (26.  Marz  1813)  von  Knesebeck:  „Er  ist  mein  und  Scharnhorsts 
erkl&rter  Foindu. 


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264  Lehmann,  Max,  Knesebeck  und  Schoen. 

der  Landwehr  auf  das  rechte  Woichselufer  beschrankt  wisaen 
wollten,  was  im  Marz  bereits  jedem  einsichtigen  in  der  That 
unzulassig  erscheineu  mussto.  Scharnhorst  drang  iiberhaupt  auf 
innigere  Verbindung  der  Landwehr  mit  der  Linie  und  auf  ihre 
lebhaftere  Kriegsverwendbarkeit.  Ganz  besonders  aber  verdross 
ihn  die  ostpreussische  Stellvertretung ,  da  ihm  die  unbedingte 
und  personliche  Dienstpflicht  am  Herzen  lag.  Um  diese  Frage 
war  iiberhaupt  ein  heftiger  Streit  (S.  273  ff.):  die  Militara 
(Scharnhorst,  Boyen,  Hacke,  Rauch)  traten  mit  leidenschaftlicher 
Innigkeit  dafur  ein,  die  hochsten  Civilbeamten  dagegen  (besonders 
Altenstein  und  Alexander  Dohna)  erhoben  allerlei  national-oko- 
nomische  Bedenken.  Hier  tritt  also  Scharnhorst  nicht  gegen 
den  Landwehrplan,  sondern  gegen  dessen  Deteriorirung  au£ 

Die  Schrift  enthalt  (S.  289 — 347)  sehr  schatzenswerthe 
Beilagen  aus  dem  geh.  Staatsarchiv :  1)  Auerswalds  Entwurf  fiir 
eine  neuo  Organisation  des  ostpreussischen  Landtags  nebst  den 
Kritiken  von  Schoen  und  Stacgemann  a.  d.  J.  1808;  2)  einen 
Brief  Scharnhorsts  liber  don  Austritt  dor  preussischen  Offiziere 
v.  1812;  3)  Cap.  Roeders  Rechtfortigungsschrift  wegen  seines 
Abschiedsgesuches  v.  18.  Marz  1812;  4)  Berichte  aus  Ostpreussen 
aus  der  Zeit  der  russischen  Occupation  im  Winter  1812/13; 
5)  Berichte  iiber  die  Memeler  Angolegenhoit ;  6)  Friedens-  und 
Freundschaftsbriefe  Alexanders,  Januar  1813;  7)  Schoens  Bericht 
iiber  des  Zaren  Ankunft  und  Steins  Vollmacht  v.  30.  Januar 
1813;  8)  Acten  der  standischen  Versammlung  des  24.  Januar 
1813;  9)  Actenstiicke,  betreffend  die  Vorbereitung  des  Land- 
tags und  Steins  Wirksamkeit;  10)  die  Verhandlungen  des  Land- 
tagsausschusses  v.  6.  Februar  1813;  11)  Bericht  Schoens  iiber 
den  Landtag  v.  10.  Februar  1813;  12)  das  Ausscheiden  v.  Grau- 
denz'  aus  dem  Landtage;  13)  Correspondenz  der  beiden  Grafen 
Dohna  iiber  die  ostpreussische  Landwehr;  14)  Boyens  Brief  iiber 
Schoens  Aufsatz  zur  Landwehrfrage  v.  20.  April  1813;  15) 
Beymes  Brief  an  Schoen  iiber  die  Landwehrfrago  und  Scharn- 
horst v.  21.  Mai  1833. 

Seit  dem  Erscheinen  dieses  Buches  sind  inzwischen  3  weitere 
Bando  „aus  don  Papieren  des  Ministers  und  Burggrafen  von 
Marienburg  Theodor  v.  Schoen"  herausgegeben  worden  und 
eincstheils  als  Erklarung  und  Erganzung  zu  den  Schoen'schen 
Memoiren,  anderntheils  als  Fehdeschrift  gegen  Max  Lehmann 
das  oben  schon  erwabnte  Buch :  „Zu  Schutz  und  Trutz  am  Grabe 
Schoens,  Bilder  aus  dor  Zeit  der  Schmach  und  der  Erhebung 
Preussens,  von  einem  Ostpreussen"  (Berlin,  Fr.  Duncker,  1876). 
Das  fur  den  Historiker  schatzenswertheste  in  diesem  ausserst 
breit  (741  S.)  angelegten  Buche  sind  wol  die  Mittheilungen  aas 
ungedruckten  Papieren  Schoens,  Auerswalds  und  Dohnas,  die 
Nebeneinanderstellung  des  Schoen'schen  Concepts  und  der  offi- 
ciellen.  Reinschrift  des  sog.  politischen  Testaments  (S.  273 — 280), 
sowie  des  Entwurfs  der  Landwehrordnung  von  Dohna  und  von 
Clausewitz  und  cinige  andre  Beigaben.     Es  sind  14  verschiodeue 


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Lehmann,  Mai,  Stein,  Scharnhorst  und  Schoen.  265 

Aufiatze  oder  Bilder.  Auf  eine  64  S.  lange  Einleitung  folgt  das 
I.  Bild:  nDie  Einfiihrung  dos  Papiergeldes  in  Preussen  1805/6", 
dann  „die  erste  Entlassung  Steins  1806/7"  uud  „die  Zuriick- 
berufung  Steins  1807";  ferner  „der  Ursprung  des  Edicts  vom 
9.  October  1807"  und  „das  politische  Testament  vom  24.  No- 
vember 1808";  die  folgenden  Abschnitte  behandeln  sehr  aus- 
fihrlicb  die  „Stein1sche  Vollmacht"  und  die  Verhaltnisse  Ost- 
preussens  z.  Z.  der  russischen  Occupation,  endlich  den  ost- 
preossischen  Landtag  und  die  Entstehungsgeschichte  der  Land- 
wehr.  Auch  der  wohlwollende  Recensent  des  Buches  in  der  Vossi- 
schen  Zeitung  muss  eingestehen,  dass  man  die  breite,  weit- 
schweifige,  der  historischen  Methode  entbehrende  Manier  des 
Verfassers  „durch  Geduld  neutralisiren"  muss  (Sonntagsbeilage 
Nr.  10  4  J.  1877). 

Einer  scharfen  Kritik  hat  dieses  Buch  M.  Lehmann  in  seiner 
H.  Schriftt  „Stein,  Scharnhorst  und  Schoen"  unterworfen ;  er  glaubt 
nm  so  entschiedener  fur  die  in  seiner  ersten  Schrift  vertretene 
Ansicht  und  Darstellung  eintreten  zu  mtissen,  weil  er  in  der 
Schutz-  und  Trutzschrift  gegen  sich  ,jede  Riicksicht  der  guten 
Sitte  bei  Seite  gesetzt"  sieht  und  weil  die  quellenkritische  Frage 
zugleich  zu  einer  psychologischen  und  cthischen  geworden  ist. 
Ihm  gilt  als  Grundsatz,  dass  die  Diplomata  den  Fontcs  vor- 
gehen,  dass  die  Beweiskraft  einer  Urkunde  der  Autoritat 
auch  des  besten  Quellenschriftstellers  vorgeht.  Methodische 
Scharfe  und  Knappheit  zeichnen  ihn  vortheilhaft  vor  seinem 
Gegner  aus. 

In  dem  I.  Capitel,  in  welchem  er  den  Stand  der  Frage  bo- 
handelt ,  hebt  M.  L.  hervor,  wie  Schoen,  der  alle  in  hervor- 
ragender  Stellung  mitthatigen  Manner  jener  grossen  Zoit  iiber- 
lebt  hat  und  der  von  den  Epigonen,  namentlich  in  seiner  Heimats- 
provinz,  uberschwenglich  verohrt  worden,  die  Geschichtsschreibuug 
lange  Zeit  beeinflusst  hat  und  wie  der  Verfasser  der  Schutz- 
wid  Trutzschrift  zumeist  auch  nur  Schoen  durch  Schoen  zu  be- 
weisen  suche,  wahrend  ihm  selbst  das  schwere  Riistzeug  dos 
geheimen  Staatsarchivs  zu  Gebote  stand. 

In  dem  II.  Capitel  „Stein  und  Schoon"  zeigt  er  die 
tiefe  Abneigung,  welche  bei  Schoen  uberall  gegen  Stein  zu  Tage 
tritt  und  ihn  daher  unfahig  macht,  Steins  Thaten  ehrlich  und 
ttnbefangen  darzustellen  und  zu  beurtheilen.  Was  wollen  all- 
gemein  gehaltene  Lobeserhebungen  Steins  bei  Schoen  bedouten, 
wenn  wir  bei  ihm  Aeusserungen  finden  wie  diese :  „Stein  fangt 
an,  Hardenberg  zu  loben.  Es  muss  wieder  ein  Geldgeschaft  vor 
^in,  vielleicht  setzt  Hardenberg  ihm  einige  von  den  Domanen- 
pfandbriefen  am:  etwas  unklares  ist  jeden&lls  dabei.  Die  ganze 
Generation,  aus  der  Stein  ist,  muss  doch  erst  zu  Grunde  gehen, 
^enn  es  besser  werden  soil.  Kein  Gedanke,  keine  Idee,  keine 
Treue,  kein  Glauben:  Pfiffigkeit,  mit  etwas  Kenntnis  und  Witz 
gepaart,  aber   ohne    Kopf,    ohne    Herzl"    und:    „Stein   ist   so 

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266  Lehmann,  Max,  Stein,  Scharnhorst  und  Schoen. 

ungeordnet  wie  immec,  ohne  grossen  Kopf  und  ohne  Plan.  Er  ist 
keiner  grossen  Leitung  fahig"1). 

Entsprechend  dom  in  dem  Trutzbuche  oingeschlagenen  Grange 
behandelt  M.  L.  zuerst  das  „Papiergold  von  1805  und 
1806".  Stein  soil  nach  Schoen  den  Papiergeldgedanken  „bei- 
nabe  bis  zur  Verriicktheit"  verfolgt  haben.  Mit  Zuhilfenahme 
des  Archivs  der  Hauptverwaltung  der  Staatsschulden  zeigt  M.  L. 
Widerspriiche  und  Unrichtigkeiten  in  den  Memoiren  Schoens 
und  in  dem  diese  erganzenden  Trutzbuche.  Am  24.  September 
1805  citirte  der  Konig  Stein  zur  Besprechung  wichtiger  Finanz- 
operationen.  In  der  3  Tage  darauf  von  Stein  eingereichten 
Schrift  ist  von  Papiergeld  auch  nicht  mit  einer  Silbe  die  Redo. 
Diese  Frage  wurdo  erst  in  der  Antwort  des  konigliehen  Cabinets 
vom  28.  September  angeregt,  die  Emission  von  Papiergeld 
geradozu  an  die  Stelle  der  von  Stein  vorgeschlagenen  Steuer- 
crhohung  gesetzt  Nachdem  dio  friiheren  von  Struensee  ange- 
regten  Versuche  zu  Papiergeldemissionen  besprochen  sind,  aus 
denen  hervorgeht,  dass  der  Konig  einen  solchon  Plan  bereits 
seit  1798  entschiedcn  begiinstigte,  wendet  er  sich  zu  Steins 
Bericht  vom  9.  October  1805,  in  welchem  er  schweren  Herzens 
die  Ausgabe  von  5  Millionen  Thlr.  empfiehlt,  wahrend  in  den 
ihm  zugefertigten  Acten  von  20  Millionen  die  Rede  war  und 
Schulenburg,  der  Chef  der  Finanzcontrole,  wieder  das  4facbe  der 
von  Stoin  vorgeschlagenen  Summe  einsetzte.  Eben  diese  Summe 
hielt  der  Konig  fiir  nothwendig.  Obwol  der  Konig  (am  15.  October) 
schrieb :  „Schliesslich  mache  Ich  es  Euch  zur  angelegentlichsten 
Pflicht,  nunmehr  sowohl  die  Kreirung  des  Papiergeldes  als  die 
Eroffnung  offentlicher  Anleihen  eifrigst  zu  betreiben",  zogerte 
Steiri  doch  noch  7  Wochen.  Am  2.  December  legt  er  sein  Edict 
vor,  welches  von  Geist,  grosser  Vorsicht  und  Behutsamkeit  durch- 
haucht  ist  und  nach  welchem  das  Geld  wahrend  des  Krieges 
unrealisirbar ,  nach  hergestelltem  Frieden  aber  realisirbar  seiD 
sollte.  Am  7.  December  erklarte  der  Konig  sein  vollstes  Ein- 
verstandniss  mit  Steins  Plan.  Im  Genei'aldirectorium  hatte  auch 
Schoen  seine  Meinung  zu  aussern.  Und  wio  thut  er  es?  Zu 
unserer  grossen  Deberraschung  stimmt  er  mit  Stein  in  der  For- 
derung  von  Papiergeld  uborein,  er  erklart  sich  auch  mit  ihm 
fur  5  Millionen  und  betont  nur  noch  mehr  die  ReaJisirbarkeit 
Wo  bloibt  da  der  im  Trutzbuche  hingestellte  unversohnKche 
Gegensatz  zwischen  Stein  und  Schoen?  In  scharfen  und  klaren 
Ziigen  ist  (S.  24)  die  Summe  dieser  Untersuchung  gezogen. 

Sodann  behandelt  M.  L.  „Steins  Antheil  an  dem  Harden- 
berg'schen  Finanzplan  von  1810u.  Schoen  sagt:  *  „Im  Jahre  1810 
ertheilte  Stein  dem  Staatskanzler,  als  dieser  eben  sein  Amt  an- 
getreten  hatte,  unaufgefordert  den  Rath,  Papiergeld  machen  zu 
lassen.  Er  ging  sogar  soweit,  Hardenberg  gegen  meinen,  wie 
Schoen  sich  ausdriickt,  Esprit  a  systeme,  vermoge  dessen  ich  dem 


*)  Man  vergleiche  die  Blumenleso  auf  S.  89—90  u.  a.  0. 

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Lehmann,  Max,  Stein,  Scharnhorst  und  Schoen.  267 

Papiergeld  entgegen  sei,  zu  warnen".  M.  L.  weist  aus  den 
Acten  nach,  dass  Stein  von  Hardenberg  der  Plan  einer  Papier- 
aosgabe  Yon  16,093,210  Thlr.  vorgelegt  sei,  dass  er  also  sein 
Gutachten  und  soinen  Rath  nicht  unaufgefordert  gegeben  habe. 
In  Betreff  der  vermeintlichon  Warnung  vor  Schoen  wird  auf 
Steins  Brief  vom  2.  August  1810  an  Hardenberg  hingewiesen, 
in  welchem  es  heisst :  „Ich  bin  sehr  erfreut,  dass  E.  Exc.  Herrn 
?.  Schoen  wieder  berufen  und  dadurch  gezeigt  habon ,  dass  Sie 
semen  Talenten  und  Kenntnissen  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen. 
Ich  hatte  ihn  dem  Konig  vor  meinem  Riicktritt  zum  Minister  der 
Finanzen  vorgeschlagen  und  ich  glaube,  dass  er  sie  mit  Ueber- 
sioht  und  Sachkenntniss  verwaltet  haben  wiirde.  Der  Konig 
furchtete  seine  Heftigkeit:  —  ich  habe  ihn  niemals  sich  ver- 
gessen  oder  iibereilen  sehon.  Er  vereinigt  mit  einer  griindlichen 
Kenntnis  der  Grundsatze  dor  Finanzwissenschaft  eine  Klarheit 
in  seinen  Entwiirfen,  eine  Leichtigkeit  in  arithmetischen  Com- 
binationen  und  eino  Kenntnis  unsers  ehemaligen  finanziellen 
Systems,  welche  sehr  nutzlich  ist,  wenn  man  neuern  und  andern 
will.  Sein  esprit  a  systeme  wird  in  diesem  Each  durch  Zahlen 
beschrankt  und  in  seinen  Grenzon  gehalten". 

Der  nachste  Abschnitt  betrifft  „S,teins  ersten  Riick- 
tritt 1806—1807"  und  weist  nach,  dass  es  nicht  „kleinliche 
Streitigkeiten  mit  einem  der  Person  des  Konigs  sehr  nahe 
stehenden  Manneu  (otwa  Kockritz  oder  Beyme),  sondern  be- 
deutungsvolle  sachliche  Differenzon  warcn,  welche  zu  Steins 
Entlassung  fuhrten.  Am  deutlichsten  beweist  dieses  die  bekannte 
Cabinetsordre  vom  3.  Januar  1807  gegen  den  „widerspenstigen, 
trotzigen ,  hartnackigen  und  ungehorsamen  Staatsdiener" ,  in 
welcher  4  entschcidende  Griinde  fur  diesen  Schritt  des  Konigs 
angefuhrt  sind. 

Es  folgt  „das  Edict  vom  9.  October  1807".  Das 
Trutzbuch  behauptot  nach  Schoens  Vorgang,  Steins  Zurtick- 
berufung  sei  nur  ein  Nothbehelf  gewesen;  Schoen,  der  selbst 
abgelehnt,  habe  ihn  auf  diesen  Platz  gestelltv  „auf  welchem  er 
sich  mit  Schoens  Hilfe  und  solango  er  sich  seinem  Einflusse 
hingab,  seine  schonsten  Lorbeeren  erworben  habe".  Hardenbergs 
Denkschrift  uber  die  Reform  des  preussischen  Staats  vom 
12.  September  1807  *)  soil  aus  Schoens  Anregung  entsprungen 
sein,   der   den   erleuchtenden  Funken  in  Hardenborgs  und  auch 

*)  Die  ersten  Mittheilangen  aus  dieser  Denkschrift  hat  meines  Wissens 
Ft.  Forster  in  seiner  preussischen  Geschichte  (II,  207  ff.)  gomacht,  dem  ein 
85  Foiioseiten  umfassendes  eigenhandiges  Manuscript  Hardenbergs  vorgclegen. 
In  meiner  Biographic  Hippels  (S.  101 — 108)  habe  ich  die  Einleitung  zu  dieser 
Denkschrift  mitgetheilt  nach  einem  286  enge  Quartseitcn  umfassonden,  von 
unkondiger  Hand  gegehriebenem  Manusoripte,  das  mein  Grossvater  v.  Hippol  aus 
Hardenbergs  Kanzlei  erhalton  hatte.  Es  stimmt  mit  den  bei  Forster  abgo- 
druckten  Abschnitten  nicht  ftberein;  aber  auch  nicht  mit  der  von  L.  v.  Ranke 
in  Hardenbergs  Denkwfirdigkeiten  (Bd.  IV)  als  Anhang  mitgetheilten  Denk- 
schriffe,  welche  nach  Hardenbergs  eigenhandigen  Aufzeiohnungon  mitgetheilt  ist. 


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268  Lehmann,  Max,  Stein,  Scharnhorst  and  Schoen. 

in  des  Konigs  Seele  geworfen1).  „ Schoen  hat  dainals  den  Plan 
entworfen,  dessen  Ausfuhrung  nachher  in  Steins  Hande  gelegt 
wurde."  Da  Schoen  selbst  iiber  diese  seine  Urheberschaft 
schweigt,  so  scheint  es,  als  babe  Ewald  eine  Liicke  in  dessen 
Memoiren  ausfiillen  wollen.  Die  alteren  Versuche  einer  Bauern- 
emancipation  sind  bei  Schoen  nicht  erwahnt,  und  nach  dem  Til- 
siter  Frieden  brachte  nicht  Schoen,  sondern  Wilcken  die  Auf- 
hebung  der  Erbunterthanigkeit  zuerst  wieder  in  Anregung.  Dass 
Stein  dieser  Massregel  urspriinglich  abhold  gewesen,  ist  durch 
Urkunden  von  1801 — 1807  widerlegt.  Er  nimmt  auch  unum- 
wnnden  den  Ruhm  dieser  Massregel  fur  sich  in  Anspruch.  M.  L. 
bestatigt  die  zuerst  von  Preuss  in  seinem  Nachtrag  zur  Geschichte 
Friedrichs  des  Grossen  gemachten  Angaben  und  Feststellungen, 
ohne  Schoens  Verdienste  um  die  Vorbereitung  des  Gesetzes  zu 
bestreiten. 

Er  wendet  sich  dann  zu  dem  „politischen  Testa- 
mente  Steins"  und  beantwortet  die  von  den  Schoenianern 
aufgeworfene  Frage,  ob  er  den  Ideen  desselben  nur  mit  halbem 
Herzen  zugethan  gewesen,  und  ob  ihn  nur  der  „altklassische 
Sinn  fur  Nachruhm"  zur  Unterschrift  vermocht  habe,  noch  ein- 
mal  zu  Gunsten  Steins.  In  Schoens  Tagebuch  aus  jener  Zeit 
ist  von  Steins  Bedenken  nicht  mit  einem  Worte  die  Rede;  ja  er 
baut  auf  ihn  vor  alien,  wenn  er  am  5.  December  schreibt: 
„  Stein  fuhr  ab,  ich  sah  ihm  nach.  Er  nimmt  viel  mit,  die  An- 
hanglichkeit  aller  rechtlichen  Menschen.  Stein  schickte  seinen 
beiliegenden  Abschied.  Er  enthalt  alles,  und  der  grosse  Mann 
geht  seiner  wiirdig  ab."  Aus  Steins  Art  zu  arbeiten  muss  man 
schliessen,  dass  er  die  allgemeine  Direction  gab  und  Schoen 
beauftragte  das  Concept  zu  machen.  Dass  er  dieses  hier  und 
da  modificirte  und  wirkliche  Verbesserungen  anbrachte,  geht  aus 
den  Divergenzen  hervor,  die  bei  Nebeneinanderstellung  von  Concept 
und  Testament  in  die  Augen  fallen;  diese  Correcturen  zeigen 
gerade  den  inneren  und  innigen  Antheil,  den  Stein  am  Testa- 
ment hat. 

Es  wird  nun  „der  preussischo  Landfag  von  1813" 
besprochen.  Wenn  die  von  M.  L.  in  seinem  ersten  Buche  mit- 
getheilten  und  als  Beweismittel  verwendeten  Briefe  und  Berichte 
Schoens  aus  Gumbinnen  als  ostensible  zu  botrachten  sind,  wie 
das  Trutzbuch  meint,  so  beweisen  sic  nur  noch  mehr  Schoens 
damalige  Russenfreundlichkeit.  Was  die  Vorfalle  in  Memel  betrifft* 
so  ist  das  von  Schoen  behauptete  Rencontre  zwischen  seinem 
Commissarius  Schulze  und  General  Paulucci  nicht  gut  moglich 
gewesen,  auch  brief lich  nicht.  M.  L.  widerlegt  sodann  die 
Argumente,  welche  das  Trutzbuch  zu  Gunsten  der  Schoen  schen 
Memoirendarstellung  in  Betreflf  der  Ankunft  Steins  in  Gumbinnen 
und  seiner  Unterredung   mit  Schoen  bringt.    Was  wSteins  Voll- 


*)  Siehe   die    objective  Darsteilung  dieser  Verhaltnisso  in  Hardenbergs 
Denkwurdigkoiten  Bd.  IV  S.  101  ff. 


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Lehmann,  Max,  Stein,  Sebarnhorst  und  Schoen.  269 

macht"  betrifft,  so  gibt  M.  L.  zu  bedenken,  das 8  Preussen  de 
jure  noch  Russlands  Feind  war,  als  dessen  Truppen  in  Ostpreussen 
einriickten,  Russland  also  dieses  in  seine  vorlaufige  Verwaltung  zu 
nehmen  berechtigt  war.  Steins  Zweck  war  nicht,  dio  Annexion  vorzu- 
bereiten,  nicht  Reformen  in  der  Verwaltung  oder  Verfassung  vor- 
zunehmen,  nicht  die  Bevolkerung  aufzuwiegeln,  sondern  die  Krafte, 
welche  das  Land  bis  zur  Weichsel  fiir  den  nahe  bevorstehenden 
gemeinsamen  Krieg  gegen  den  gewaltig  und  schnell  riistenden 
Napoleon  noch  besass,  schleunigst  zu  entbinden  und  nutzbar  zu 
machen.  Auch  wollte  Stein  den  noch  zaudernden  Konig  mit- 
fortreis8en.  Schoen  verurtheilt  also  in  seinem  Sendschreiben  an 
Schlosser  (1849)  mit  Unrecht  diese  Vollmacht,  und  seine  Dar- 
stellung  entbehrt  der  Glaubwiirdigkeit.  In  Bezug  auf  das  Zer- 
wiirfhiss  zwischen  Stein  und  Auerswald  weist  M.  L.  nach,  dass 
Aoerswalds  schwankendes  Verhalten  mehr  daran  schuld  gewesen, 
als  Steins  Heftigkeit  oder  gar  seine  moskowitische  Gesinnung, 
tod  der  alle  seine  Massnahmen  das  Gegentheil  zeigen.  Aehnliche 
tendenziose  Unrichtigkeiten  und  Ungenauigkeiten  werden  in  Bezug 
aof  Schoens  zweite  Reise  nach  Konigsberg  und  die  beriihmte 
Unterredung  nachgewiesen,  welche  am  4.  Februar  1813  zwischen 
Stein,  York  und  Schoen  stattfand  und  in  welcher  das  Programm 
fur  die  Landtagssitzung  des  folgenden  Tages  festgesetzt  wurde. 
Nicht  minder  gewinnt  uns  M.  L.  fur  seine  Ansicht,  dass  Stein 
Konigsberg  nicht  verlassen,  weil  er  von  Schoen  iiberzeugt  worden, 
dass  seine  „fernere  Anwesenheit  dem  Fortgange  der  guten  Sache 
nur  hinderlich"  sei,  sondern  weil  er  seine  Mission  erfiillt  sah, 
weil  er  bereits  diese  gute  Sache  in  den  besten  Gang  gebracht 
and  fur  sie  nichts  mehr  zu  besorgen  hatte.  Und  so  kommt 
man  zu  dem  Schlusse  (S.  71):  „Man  schlage  ein  beliebiges  Buch 
iiber  die  Konigsberger  Ereignisse  d.  J.  1813  auf.  Was  preisen 
die  nachlebenden  Geschlechter  ?  Den  Landtag  —  er  war  das 
Werk  Steins ;  die  ostpreussische  Landwehr  —  sie  entsprang  der 
Initiative  Steins;  die  Eintracht  der  Provinz  —  sie  wurde  ge- 
rettet  durch  das  Eingreifen  Steins."  — 

Das  IIL  Capitel  tragt  die  Ueberschrift:  „Scharnhorst 
and  Schoen".  Am  7.  Februar  1813  beschloss  der  Landtag 
in  Konigsberg  ein  Landwehrgesetz  fur  die  Provinz ;  am  17.  Marz 
1813  wurde  ein  solches  in  Breslau  fur  die  ganze  Monarchic 
woffentlicht.  Schoen  sagt:  Scharnhorst  war  ein  grosser  Linien- 
soldat;  unsere  Landwehr  hat  er  nicht  geschaflfen;  er  war  ein 
Gegner  der  echten  Landwehr,  wie  sie  von  den  Ostpreussen  be- 
schlossen  wurde;  mit  Miihe  wurde  er  dazu  gebracht,  in  die  Er- 
richtung  der  echten  Landwehr  zu  willigen;  das  Gesetz  vom 
17.  Marz  ist  nach  dem  des  7.  Februar  gemacht;  Autor  ist  Graf 
Alexander  Dohna1).     M.  L.  dagegen  behauptet:  das  Gesetz  vom 

*)  Aua  einer  Anmerkung  S.  81  entnehmen  wir  die  unerfreuliche  Kunde, 
<ks8  im  Dohna' schen  Familienarchiv  die  aus  dem  J.  1813  staminenden  Papiere 
des  Grafen  Alexander  Dohna  sich  leider  nicht  finden,  also  wol  iiberhaupt  ver- 
loren  sind. 


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270     Prokesch-Oaten,  Mein  Verhfiltniss  zum  Herzog  von  ItoichstadL 

17.  Marz  ist  vollig  unabhangig  von  dem  des  7.  Februar  ent- 
standen;  es  tragt  Scharnhorsts  Namen  mit  Reoht;  schon  vor 
demselben  und  vor  dem  ostpreussischen  Gesetz  hat  der  General 
cine  Reihe  von  Landwebrplanen  entworfen ;  er  hat  einen  mittel- 
baren  Antheil  auch  an  dem  Gesetz  des  7.  Februar.  Er  veiv 
theidigt  diesen  schon  in  seinem  ersten  Buche  aufgestellten  Satz 
gegen  das  Trutzbuch,  indem  er  aus  der  Gebriider  Dohna  Auf- 
zeichnungen  darthut,  dass  Alexander  fiir  seinen  Entwurf  den  tor 
Glausewitz  benutzt  hat,  der  wiederum  auf  Scharnhorst  zuriiek- 
zufiihren  ist.  Den  selbstandigen  Ursprung  des  Gesetzes  vom 
17.  Marz  leitet  er  aus  den  Aufzeichnungen  Scharnhorsts,  des 
Autors,  und  Hippels,  des  Redactors  dieses  Gesetzes,  her.  Der 
Konig  hat  beide  Gesetze  am  17.  Marz  unterschrieben  und  be- 
stimmt,  dass  „nach  und  nach  die  Landwehr  in  Preussen  die 
Verfassung  derer  der  ubrigen  Provinzen  erhalten  solle".  Auch 
die  Vorgeschichte  des  Landwehrgesetzes  spricht  zu  Gunsten 
Scharnhorsts,  wie  aus  dessen  alteren  Landwehrplanen  erwiesen 
wird,  deren  es  nicht  weniger  als  7  gibt.  Gegen  den  ostpreussischen 
Entwurf  war  Scharnhorst,  wie  M.  L.  schon  in  seinem  ersten 
Buche  entwickelt,  weil  durch  die  dort  zugelassene  Stellvertretung 
der  Grundsatz  der  allgemeinen  Wehrpflicht  verletzt  war. 

Im  IV.  Capitel  „Ergebnissu  gibt  M.  L.  zunachst  ein 
Lexikon  der  Beurtheilungen ,  bez.  Verurtheilungen ,  welche  die 
yerdientesten  Manner  jener  Zeit  von  Seiten  Schoens  erfahren, 
und  zieht  daraus  den  Schluss,  dass  dieser  keinen  Beruf  zum 
Historiker  gehabt ;  denn  „von  den  beiden  grossen  Eigenschaften, 
welche  den  Historiker  machen:  Festigkeit  der  eigenen  Ueber- 
zeugung  und  Verstandnissfahigkeit  fiir  die  Ueberzeugung  anderer 
war  ihm  die  zweite  ganzlich  versagt". 

Berlin.  Th.  Bach. 


LIX. 
Prokesch-Osten.   Mein  Verhaitniss  zum  Herzog  von  Reichstadt 

Zwei  Sendungen  nach  Italien.  Selbstbiographische  Aufsatze 
aus  dem  Nachlass  des  Grafen  Prokesch-Osten.  gr.  8. 
(VII,  240  S.)     Stuttgart  1878.     W.  Spemann.     8  M. 

Der  vor  einigen  Jahren  verstorbene  Graf  Prokesch  -  Osten, 
bekannt  durch  seine  langjahrige  diplomatische  Thatigkeit  im  Orient, 
hatte  gegen  das  Ende  seiner  Tage  den  Gedanken  gefasst,  die  wich- 
tigsten  Momente  seines  ereignissreichen  Lebens  in  einer  langeren 
Reihe  von  Monographien  aufzuzeichnen  und  selbst  herauszugeben. 
Indessen  der  Tod  trat  dazwischen;  nur  drei  Monographien  war 
es  ihm  noch  vergonnt  zum  Drucke  vorzubereiten ;  herausgegeb«i 
von  dem  Sohne  des  Verstorbenen  liegen  sie  in  einem  vortrefiTich 
ausgestatteten  Bande  vor  uns,  als  der  Anfang  von  Veroffent- 
lichungen  aus  den  mannigfaltigen  Aufzeichnungen  und  Korrespon- 
denzen  des  Grafen,  die  bei  seinem  vielbewegten  Leben  eine  Reihe 
der  interessantesten  Beitrage  zur  neueren  und  neuesten  Geschichte 

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Proteseh-Osten,  Mein  Yerh&ltniss  zum  Herzog  von  Reichstadt.    271 

in  Anssicht  stellen.  Der  erste  Aufsatz:  „Meine  Begegnung  mit 
dem  Herzog  von  Reichstadt  und  mein  Verhaltniss  zu  ihm.  Aus 
meinem  Tagebuche  1830 — 1831",  schildert  die  Beziehungen  des 
Grafen  zu  dem  Sohne  Napoleons  I.,  Beziehungen,  die  seinem 
Herzen  und  seiner  Empfindung  alle  Ehre  machen,  aber  freilich 
die  politische  Einsicht  gar  sehr  vermissen  lassen ,  die  ihn  sonst 
aoffidchnete.  Er  war  im  Jahre  1830  mit  dem  Prinzen  bekannt 
geirorden;  bei  dem  ersten  Zusammentreffen  hatte  er,  wie  er 
sagt,  „das  Vorgefiihl ,  wie  es  den  Jungling  bei  der  ersten  Be- 
gegnung mit  dem  Madchen  befallty  dem  er  sein  Herz  geben 
wird".  In  der  That  wurde  ihr  Verhaltniss  bald  das  allerver- 
tranlicliste.  Der  junge  Prinz ,  der  von  sich  selbst ,  seiner  Be- 
stimmung  und  seiner  Zukunft  die  grosste  Vorstellung  hatte, 
empfand  ein  lebhaftes  Bediirfniss  sich  an  Jemand  anzuschliessen, 
der  aeinen  schwarmerischen  Vorstellungen  mit  Theilnahme  ent- 
gegenkam.  Prokesch-Osten  ging  auf  die  Ideen  und  Empfindungen 
des  Prinzen  mit  der  Neigung  ein ,  wie  sie  ihm  das  ungliickliche 
Schicksal  des  in  innerer  Unruhe  sich  sichtbar  verzehrenden 
Jimglings  einflosste.  Bald  wollte  er  ihn  zum  Konig  von  Griechen- 
land,  bald  zum  Konig  des  wiederhergestellten  Polens  machen; 
er  war  sehr  ernstlich  der  Ansicht,  „dass  der  Herzog  von  Reich- 
stadt der  zuletzt  alien  Kabineten  und  Volkern  genehme  Friedens- 
fiiret  sein  werde".  Der  Aufsatz,  der  mit  warmer,  fast  iiber- 
stromender  Empfindung  geschrieben  ist,  giebt  interessante  Auf- 
scbliisse  uber  die  Umtriebe  der  bonapartischen  Partei,  die  durch 
die  Juli-Revolution  neue  Anregungen  und  Hoffhungen  empfangen 
hatte.  Gross  und  bedeutend  erscheint  in  dem  Gewirre  der  sich 
kreuzenden  und  widersprechenden  Bestrebungen  jener  Tage  die 
Person  des  Fiirsten  Metternich:  mit  ebenso  kluger  als  ruhiger 
Umsicht  waltete  er  daruber,  dass  der  Prinz  und  sein  junger 
Freund  sich  nicht  zu  Unbesonnenheiten  hinreissen  liessen,  die 
sie  ins  Verderben  stiirzen  konnten. 

In  den  andern  beiden  Aufsatzen  tritt  das  personliche  Ele- 
ment, das  dem  ersten  ein  so  anziehendes  Geprage  giebt,  vor  den 
grossen  Verhaltnissen  der  europaischen  Politik  in  den  Hinter- 
gnrod*  Sie  betreffen  zwei  Sendungen  des  Grafen  nach  Italien, 
die  erste  veranlasst  durch  die  aufstandischen  Bewegungen  in  den 
papstlichen  Legationen,  die  andere  durch  die  Besetzung  Anconas 
Ton  franzosischen  Truppen.  Den  wesentlichen  Inhalt  der  Auf- 
zeichnungen  bilden  die,  wie  man  weiss,  stets  vergeblichen  Ver- 
sache,  res  dissociabiles,  die  papstliche  Herrschaft  und  eine  gute 
weltiiche  Verwaltung  mit  einander  zu  vereinigen.  Unter  dem 
ftrucke  der  allgemeinen  europaischen  Verbal tnisse ,  dem  ent- 
schiedenen  Gegensatz  der  politischen  Bestrebungen  Frankreichs 
and  Oesterreichs ,  der  erbitterten  Feindseligkeit  der  papstlich 
nnd  demokratisch  Gesinnten,  mussten  auch  damals  die  Bemiihungen 
fiir  eine  wirkliche  Verbesserung  der  papstlichen  Verwaltung 
scheitern,  um  so  mehr,  da  aus  Hoffhungslosigkeit  von  vornherein 
irar  die  Wenigsten   so   mit  Ernst  an  der  Sache  arbeiteten ,  wie 


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272  Hertzberg,  G.  F.,  Geschichte  Griechenlands  etc. 

Graf  Prokesch-Osten.  Den  Schluss  des  dritten  Aufeatzes  macht 
eine  sehr  hiibsche  Schilderung  des  gesellschaftlichen  Lebens, 
das  durch  das  Zusammenwirken  von  Kunst  und  Schonheit  im 
Anfang  der  dreissiger  Jahre  zu  Rom  bliihte.  Von  den  Briefen, 
die* den  Aufsatzen  beigegeben  sind,  mochte  icli  ein  Schreiben  Ra- 
detzkis  hervorheben,  welches  folgende  Stelle  enthalt:  „Gute 
Truppen  konnen  nur  jene  sein,  die  kein  anderes  Princip  als 
Treue  gegen  ihren  Monarchen,  kein  anderes  Gesetz  als  seinen 
Willen  kennen". 

Alle  drei  Aufsatze  von  Prokesch-Osten  sind  fast'mehr  an- 
ziehend  durch  die  Art,  wie  er  schreibt,  als  bedeutend  durch  das, 
was  er  schreibt:  eine  edle  und  liebenswiirdige  Personlichkeit 
tritt  uns  darin  entgegen. 

Paul  Bailleu. 


LX. 
Hertzberg,  G.  F.,  Geschichte  Griechenlands  seit  dem  Absterben 
des  antiken  Lebens  bis  zur  Gegenwart.  2.  und  3.  TheiL  Gotha 
1877/78,  F.  A.  Perthes. 

In  halt:  Zweiter  Theil:  Vom  lateinischen  Kreuzzuge  bis 
zur  Vollendung  der  Osmanischen  Eroberung  1204 — 1470. 
gr.  8.  (XVIII,  605  S.)  12  M.  Dritter  Theil:  Von  der  Voll- 
endung der  Osmanischen  Eroberung  bis  zur  Erhebung  der 
Neugriechen  gegen  die  Pforte  1470—1821.  gr.  8.  (XIII, 
473  S.)     9,60  M. 

Der  Verfasser  berichtet  im  Vorwort:  „Der  urspriinglich  ent- 
worfene  Plan,  die  Geschichte  Griechenlands  vom  lateinischen 
Kreuzzuge  bis  zum  Jahre  1821,  oder  doch  bis  zur  franzosischen 
Revolution,  in  Einem  Bande  zu  erledigen,  konnte  bei  der  Fiille 
des  zu  bewaltigenden  Stoffes  nicht  festgehalten  werden.  So 
kamen  Herr  Geheimrath  v.  Giesebrecht,  die  Verlagsbuchhandlung 
und  der  Verfasser  dahin  uberein,  fur  die  Geschichte  der  Griechen 
unter  der  osmanischen  Herrschaft  einen  besonderen  Band  vot- 
zubehalten,  der  bis  1821  herabreichen  soil".  Der  vorliegende 
zweite  Theil  des  Werkes  umfasst  demnach  die  Zeit  vonr- latei- 
nischen Kreuzzuge  bis  zur  Vollendung  der  osmanischen  Eroberung 
(1204—1470).  Ueber  das  Material,  auf  welchem  er  der  Haupt- 
sache  nach  beruht,  erhalten  wir  in  einer  Note  zu  S.  10  genaueren 
Aufschluss.  Es  ergibt  sich  aus  ihr,  dass  dasselbe  nicht  durch 
selbstandige  Forschung  gewonnen,  sondern  aus  andern  alteren 
und  neueren  Schriften,  besonders  aber  aus  den  epochemachenden 
Arbeiten  von  Karl  Hopf  geschopft  wurde.  Verf.  sagt :  „ Wer  jeto 
nach  Hopf  dieses  Zeitalter  von  1204  zunachst  bis  zur  Voll- 
endung der  osmanischen  Eroberung  historisch  absolut  neu  und 
selbstandig  behandeln  wollte,  der  miisste  Hopfs  Arbeiten  i» 
Wahrheit  von  Grund  aus  noch  einmal  unternehmen.  In  dieser 
Lage  bin  ich  nicht  ...  Ich  musste  daher  mich  darauf  be- 
schranken   —  um   es    mit    grober    und    resignirter    Ehrlichkeit 

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Hertzberg,  G.  F.,  Geschichto  Griochenlanda  etc.  273 

grade  herauszusagen  —  diesen  Theil  in  Gestalt  einer  Compi- 
lation, dieses  Wort  iminerhin  im  besten  Sinne  aufgefasst,  her- 
zustellen,  &  h.  langjahrige  eigene  Studien,  dann  die  Benutzung 
der  verschiedenen  andern  vor  und  nacli  Hopfe  Hauptwerk  in 
Bezug  auf  Griechenlands  Mittelalter  erschienenen  Werke,  mit  der 
Ansnutzung  des  riesigen  Hopfschen  Materials  zu  verbinden  .  .  .  / 
Ich  habe  dabei  manche  kleine  Fehler,  welche  der  ausgezeichnete 
Forscher  nicht  immer  zu  vermeiden  vermochte,  stillschweigend  zu 
?erbes8ern  mich  bemiiht.  Gruppirung  und  Gestaltung  des  histo- 
rischen  Stoffes  ist  eine  vollig  andere  geworden;  namentlich  ist 
auch  die  von  Hopf  nach  dem  Jahre  1261  zuriickgestellte  Ge- 
schichte  des  byzantinischen  Reiches  gebiihrendermassen  in  den 
Yordergrund  geriickt  und  im  Zusammenhange  des  Systems, 
welches  ich  bei  dieser  Arbeit  zu  Grunde  legen  zu  miissen 
glaubte,  wesentlich  als  Rahmen  fur  die  historische  Darstellung 
benutzt  wordenu. 

Wir  haben  die  Darstellungs-  und  Ausdrucksweise  des  Verf. 
nach  ihren  Vorzugen  und  Mangel  n  schon  friiher,  bei  der  Be- 
sprechung  des  ersten  Bandes  charakterisirt  und  wollen,  zumal 
sie  dieselbe  geblieben  ist,  hier  nicht  langer  dabei  verweilen. 
Da  aach  der  verarbeitete  Stoff  gegeben  ist  und  als  bekannt 
?orausgesetzt  werden  darf,  so  kann  sich  unser  Bericht  im 
Wesentlichen  damit  begniigen,  die  Gliederung  desselben  anzu- 
geben. 

Von  den  beiden  Buchern,  in  die  der  vorliegende  Band  zer- 
fallt,  geht  das  erste  (S.  1—237)  bis  zur  Eroberung  des  Herzog- 
thums  Athen  durch  die  Katalonier,  1204 — 1311.  Es  ist  seiner- 
8eits  wieder  in  drei  Kapitel  getheilt,  von  welchen  das  erste 
(S.  3—89)  mit  dem  Tode  des  Kaisers  Heinrich  von  Romanien 
(1216)  schliesst,  das  zweite  (S.  89 — 146)  bis  zur  Wiedergewinnung 
Lakoniens  durch  die  Palaologen  (1262)  reicht,  das  dritte  (S.  146 
bis  237)  den  Ausgang  des  Buches  hat.  Jeder  grossere  Abschnitt 
wird  durch  einleitende  Betrachtungen  eroffnet,  welche  die  gegon- 
wartige  Lage  der  Dinge  kurz  charakterisiren  und  den  Gang 
3»rer  weiteren  Entwickelung  in  den  Grundzugen  im  Voraus  an- 
.?eben.  An  sie  schliesst  sich  in  der  Regol  zuniichst  die  Geschichte 
des  (lateinischen,  spater  griechischen)  Kaiserthums,  der  dann  die 
der  iibrigen  zahlreichen  Staaten ,  welche  sich  im  Laufe  der  Zeit 
auf  der  Halbinsel,  wie  auf  den  Inseln  und  in  Kleinasien  heraus- 
Wden,  zu  folgen  pflegt.  AUe  diese  grosseren  und  kleineren 
Staaten  sind  bestandig  in  aussere  oder  innere  Kriege  verwickelt, 
die  dann  auch  den  fast  ausschliesslichen  Inhalt  der  Erzahlung 
abgeben.  Es  ist  gewiss  nicht  leicht ,  die  unauf  horlichen ,  an 
Wechselfallen  reichen  Kampfe,  die  sich  auf  einem  so  weiten 
Raume  abspielen  und  bald  ohne  nahern  Zusammenhaug  neben- 
einander  hergehen,  bald  sich  mannigfach  verschlingen  und  durch- 
kreuzen,  klar  und  ubersichtlich  darzustellen.  Verf.  erreicht  das 
sum  Theil  dadurch,  dass  er  die  einzelnen  Kapitel  nochmals  in 
Meinere   Abschnitte    zerlegt,    von    welchen   jeder    eine    gewisse 

Mittheifangen  a.  d.  hintor.  Litteratur.    VJ.  18 

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274  Hertzborg,  G.  F.,  Gesehichte  Griechenlands  etc. 

Folge  von  zusammengehorigen  Begebenheiten  zu  einem  wenigstens 
relativ  abgeschlossenen  Gaiizen  vereiiiigt.  Eine  genaue  Inhalts- 
angabe  dieser  Unterabtheilungen  wiirde  nicht  nur  zu  weit  fiihren, 
sondern  auch  uberflussig  und  ermiidend  sein.  Wir  beschr'anken 
uns  daher  auf  die  Hervorhebung  der  wichtigeren,  in  ihneu  zur 
Spracbe  kommenden  Punkte. 

Kapitel  1  besteht  aus  fiinf  Abschnitten.  Der  erste  gibt 
einen  allgemeinen  Ueberblick  iiber  die  Lage  der  jGriechen  und 
Franken;  der  zweite  berichtet  iiber  die  Griindung  des  Kaiser- 
thums  Nicaa,  die  Kriege  der  Franken  mit  Laskaris  und  den  Bul- 
garen,  die  Eroberungen  des  Konigs  Bonifkcius  von  Thessalonich; 
der  dritte  behandelt  die  Thronbesteigung  des  Kaisers  Heinrich 
und  seine  Kampfe  mit  den  Griechen  von  Nicaa;  der  vierte  er- 
zahlt  den  siegreichen  Bulgarenkrieg  dieses  Fiirsten,  erortert  dann 
seine  Beziehungen  zu  den  Lombarden  in  Makedonien  und  dem 
griechischen  Despotat  von  Epirus,  und  schliesst  mit  der  Bildung 
des  Fiirstenthums  Achaja  durch  Villebardouin ;  der  fiinfte  be- 
schaftigt  sich  zunachst  mit  der  Politik  und  den  Eroberungen 
der  Venetianer  in  Romanien,  berichtet  dann  iiber  die  Griindung 
des  Herzogthums  Naxos,  wie  iiber  die  Erweiterung  und  Befestigung 
der  frankischen  Herrschaft  in  Morea  und  fUhrt  die  Reichs- 
geschichte  bis  zum  Tode  Heinrichs  fort. 

Von  den  beiden  Abschnitten  des  zweiten  Kapitels  schildert 
der  eine  den  fortschreitenden  Verfall  des  frankischen  Reiches 
am  Bosporus  unter  den  Kaisern  Peter ,  Robert  und  Balduin  IL, 
sowie  die  zunehmende  Erstarkung  des  Kaiserthums  Nicaa  unter 
Theodor  Laskaris,  Johannes  III.  Vatatzes  und  dem  Palaologen 
Michael  VIII.,  dann  auch  die  andauernden  Kampfe  um  das  Reich  ?on 
Thessalonich,  welches  der  Reihe  nach  von  den  Epiroten,  Bulgaren 
und  Rhomaern  erobert  wird.  —  Erfreulicher  ist,  was  im  zweiten 
Abschnitt  von  dem  bliihenden  Zustande  der  frankischen  Fiirsten- 
thiimer  Achaja  und  Athen  berichtet  wird.  Doch  kommt  es  auch 
hier  bald  zu  verderblichen  Kriegen,  die  damit  endigen,  dass  die 
Palaologen,  seit  1261  im  Besitz  von  Konstantinopel,  im  sudlichen 
Theile  Moreas  festen  Fuss  fassen. 

An  die  Regierung  Michaels  VIIL ,  mit  welcher  das  dritte 
Kapitel  beginnt,  schliesst  sich  im  zweiten  Abschnitt  die  seines 
Nachfolgers  Andronikos  II.  Unter  ihm  nimmt  in  Kleinasien  die 
Macht  der  Osmanen  einen  bedeutenden  Aufschwung,  wahrend  in 
den  griechischen  Landschaften,  namentlich  in  Epirus  und  Achaja, 
die  Angiovinen  von  Neapel  ihre  schon  frtiher  begriindete  Herr- 
schaft zu  befestigen  suchen.  —  Abschnitt  3  erzahlt  die  Heer- 
fahrt  der  Katalonier,  eines  aus  spanischen  Abenteurern  beste- 
henden  Soldnerhaufens,  der  seit  1302  im  Dienste  des  Hofes  von 
Byzanz  die  Tiirken  in  Asien  bekampft,  dann,  mit  der  kaiser- 
lichen  Regierung  zerfallen,  auf  eigne  Hand  das  Reich  durchzieht 
die  frankische  Ritterschaft  in  der  Schlacht  am  Kephissos  ver- 
nichtet  und  sich  des  Herzogthums  Athen  bemachtigt  (1311). 

Verf.  schliesst  hier  das  erste  Buch  ab,  weil  er  dem  in  Rede 

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Hertzberg,  G.  P.,  Geschichte  Griechenlands  etc.  275 

stehenden  Ereigniss  eine  fiir  den  weiteren  Verlauf  der  Begeben- 
heiten  entscheidende  Wichtigkeit  beimisst.  „Die  kataloniscbe 
Katastrophe" ,  sagt  er,  „ist  nach  alien  Seiten  hin  fur  die  Ge- 
schichte  der  griechischen  und  der  griechisch-frankischen  Welt 
bedentungsvoll  geworden,  und  zwar  ausnahmslos  im  zerstorenden 
Sinne.  Fiir  die  Rhomaer  bedeutete  sie  das  Misslingen  des  letzten 
Vereuches,  auf  dem  Wege  des  energischen  Angriffes  der  tiir- 
kischen  Fluth  Meister  zu  werden :  auf  dieser  Seite  bricbt  nun 
das  Verderben  immer  unaufhaltsainer  herein.  Das  frankische 
Griechenland  dagegen  ist  durch  die  Eroberung  des  Herzogtbums 
Athen,  an  welche  sich  sehr  bald  die  Interessen  des  Hauses 
Aragon  kniipfen,  in  einen  Scbauplatz  erbitterter  Fehden  zwischen 
den  franzosischen  und  den  spaniscben  Romanen  verwandelt: 
derart,  class  die  Kraft  zur  Abwehr  der  griechischen  wie  der 
t&rkischen  Feinde  immer  mehr  schwindet,  und  nur  noch  Venedig 
die  Defensive  mit  Erfolg  zu  fiihren  vermag.  Wahrend  endlich 
tou  dem  Norden  der  Donauhalbinsel  her  einerseits  eine  neue 
SlaTenherrschaft  iiber  grosse  Theile  der  griechischen  Welt  vor- 
iibergehend  sich  ausbreitet;  wahrend  andererseits  in  dem  epi- 
rotischen  Norden  das  albanesische  Volk  sich  allmahlich  anschickt, 
die  Ethnographic  Griechenlands  noch  bunter  als  bisher  zu  ge- 
stagen :  so  nimmt  im  Grossen  die  Lage  des  frankischen  Griechen- 
lands immer  mehr  die  Wendung  zum  Schlimmstenu  (S.  241). 

Die  mitgetheilte  Stelle  enthalt  das  Programm  der  Aus- 
ffihrungen,  welche  im  ersten  Kapitel  des  zweiten  Buches  (S.  241 
bis  315)  gegeben  werden.  Dasselbe  behandelt  in  drei  Abschnitten 
den  Zeitraum  von  1311 — 58,  wo  die  Albanesen  anfangen,  selb- 
standig  aufzutreten.  Nachdem  zuvorderst  der  Ausgang  des  Hauses 
Angelos  und  die  Erhebung  des  Konigs  Friedrich  von  Sicilien 
znm  Schutzherrn  von  Athen  berichtet  worden,  finden  die  Kampfe 
wn  den  Besitz  Moreas  und  die  inneren  Zustande  dieses  Landes 
eine  eingehende  Darstellung.  Sodann  erzahlt  der  zweite  Ab- 
schnitt  die  dynastischen  Kampfe  zwischen  dem  Kaiser  Andro- 
wkos  II.  und  seinem  gleichnamigen  Enkel,  ferner  die  Eroberung 
^on  Prusa  und  Nicaa  durch  die  Osmanen ,  den  Aufschwung  der 
serbischen  Macht  unter  Stephan  Duschan,  endlich  die  weitere 
Entwickelung  der  Verhaltnisse  von  Epirus,  Athen,  Achaja  und 
Kreta.  Ebendamit  beschaftigt  sich  auch  der  folgendedritte  Abschnitt, 
wiewohl  hier  Ereignisse  von  grosserer  Bedeutung,  der  Biirger- 
krieg  zwischen  Johannes  V.  undKantakuzenos  (Kaiser  Johannes  VI), 
die  Erweiterung  und  spatere  Auflosung  des  Serbenreiches  und 
die  Erhebung  der  Albanesen  im  Vordergrunde  stehen. 

Das  zweite  Kapitel,  welches  die  Geschichte  Griechenlands 
bis  zum  Jahre  1432  fortfuhrt  (S.  315—464),  vertheilt  seineu 
reichen  Inhalt  an  sechs  Abschnitte.  Von  diesen  hat  es  der 
erste  vorzugsweise  mit  den  Osmanen  zu  thun,  die  unter  dem 
Sultan  Murad  I.  von  ihrer  neuen  Hauptstadt  Adrianopel  aus 
(seit  1361)  immer  weiter  um  sich  greifen,  nach  einem  Siege 
tiber  die  Serben  Makedonien  erobern  (1371),  sich  in  Folge  der 

18* 

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276  Hertzberg,  G.  F.,  Geachichto  Griechenlands  etc. 

Kampfe  der  griechischen  Gegenkaiser  Andronikos  IV.  und  Jo- 
hannes V.  den  letztern  tributpflichtig  machen,  endlich  den  Serben 
die  entscheidende  Niederlage  auf  dem  Amselfelde  bei  Kossova 
beibringen  (1389).  —  Ini  zweiten  Abscbnitt  wendet  sich  die  Er- 
zahlung  zu  den  niittel-  und  siidgrieehischen  Landschaften,  wo 
uns  eine  bunte  Reihe  von  ueuen  Dynasten,  die  sich  unauf  horlich 
bekampfen  und  verdrangen,  entgegentritt.  Eine  dauernde  Wirkung 
hat  die  Ansiedlung  der  Albanesen  in  Morea;  sie  gibt  denn  auch 
dem  Verf.  Anlass,  bei  diesem  Volke  etwas  linger  zu  verweilen.  — 
Im  folgenden  Abschnitt  kehrt  er  zu  den  Osmanen  zuriick,  die 
unter  ihrem  Sultan  Bajesid  I.  das  bulgarische  Reich  vernichten 
(1393),  Thessalien  annectiren  und  bis  in  den  Peloponnes  vor- 
dringen,  dann  aber  1402  den  Mongolen  erliegen.  —  In  Folge 
dieser  Katastrophe  schliesst,  wie  der  vierte  Abschnitt  ausfuhrt, 
Sultan  Suleiman  I.  mit  Kaiser  Manuel  und  den  iibrigen  Machten 
der  Balkanhalbinsel  Vertrage  ab.  Auf  griechischem  Boden  aber 
dauem  die  Kampfe  urn  die  einzelnen  Landestheile  ohne  Unter- 
brechung  fort.  Sie  ruhen  auch  nicht,  als  nach  der  Herstellung 
des  osmanischen  Reiches  durch  Muhamed  I.  (1413 — 21)  die 
Tiirken  ihre  Angriffspolitik  wieder  aufnehmen  und  verheerend 
bis  nach  Attika  vordringen.  Verf.\  der  im  funften  Abschnitt 
diese  Wendung  der  Dinge  verfolgt,  schildert  dann  die  Zustande 
im  frankischen  und  griechischen  Peloponnes,  wie  auf  den  Inseln. 
—  Von  grosserer  Bedeutung  sind  die  Ereignisse,  die  uns  der 
sechste  Abschnitt  vorfuhrt.  Sultan  Murad  II.  (1421 — 51)  be- 
lagert  1422  Konstantinopel,  lasst  im  folgenden  Jahre  den  Pelo- 
ponnes uberziehen  und  erobert  1430  Thessalonich  und  Epirus. 
Um  dieselbe  Zeit  gelingt  es  den  Paiaologen,  deren  Herrschaft 
am  Bosporus  nachgerade  zu  Ende  geht,  ganz  Morea  in  ihre 
Gewalt  zu  bringen. 

Mit  der  Schilderung  ihres  dortigen  Regiments  beginnt  das 
dritte  und  letzte  Kapitel  (S.  464 — 605),  in  dessen  erstem  Ab- 
schnitt der  bis  dahin  fast  unausgesetzt  tobende  Kriegslarm  fur 
eine  Weile  verstummt,  um  der  ruhigen  Betrachtung  der  inneren 
Zustande  Raum  zu  geben.  Verf.  erortert  zunachst  die  ethno- 
graphischen  Verhaltnisse  Moreas,  wobei  auch  die  Juden  und 
Zigeuner  zur  Sprache  kommen,  charakterisirt  dann,  mit  Riick- 
sicht  auf  die  stattgehabten  romanischen  Einwirkungen ,  das 
griechische  Volksthum  im  Allgemeinen,  wie  das  der  Peloponnesier 
ins  Besondere,  verbreitet  sich  ferner  iiber  die  materielle  Lage 
der  Halbinsel  und  den  griechischen  Handel,  iiber  das  wissen- 
schaftliche  Leben  in  Konstantinopel  und  seine  Beziehungen  zu 
Italien,  iiber  die  altere  volksthiimliche  und  die  romantische 
frankisch-griechische  Dichtung,  iiber  die  Philosophie  und  die 
Schule  Plethons  und  schliesst  mit  der  Klosterwelt  zu  Pathmos 
und  auf  dem  Athos.  —  Der  folgende  zweite  Abschnitt  versetzt 
uns  wieder  in  die  politiscben  und  kriegerischen  Vorgange  der 
Zeit.  Er  berichtet  von  den  Beziehungen  und  Fehden  der  Pa- 
laologen  in  Morea,   von   den   Unionsversuchen    des    kaiserlichen 

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Hertzberg,  G.  F.,  Geschichte  Griechenlaiids  etc.  277 

Hofes  and  dem  Widerwillen,  welchem  sie  bei  den  Griechen  be- 
gegneD,  von  der  Erhebung  Skanderbegs  und  dem  Kampfe  zwischen 
ihim  und  Murad  II.  (1449).  Den  Abschluss  bildet  der  letzte 
Tiirkenkrieg,  welcher  1452  von  Muhamed  II.  gegen  Konstantin  XI. 
eroffnet  wird  und  im  nachsten  Jahre,  nach  dem  Tode  des  Kaisers, 
mit  dem  Falle  der  Hauptstadt  eudigt.  —  Im  dritten  Abschnitt 
erortert  Verf.  zunachst  die  Politik  Muhameds  II.  gegeniiber  den 
Griechen  unter  osmanischer  Herrschaft,  geht  dann  auf  die 
griechische  Hierarcbie  iiber  und  stellt  die  Bedeutung  der  Kirche 
fir  die  Erhaltung  des  griechischen  Volkes  ins  Licht.  Nachdem 
er  weiterhin  der  Auswandorung  griechischer  Qelehrter  nach 
Italien  gedacht  hat,  erzahlt  er  den  Aufstand  der  Albanesen  im 
Peloponnes,  die  Angriffe  der  Osmanen  auf  Chios,  den  Fall  Athens 
und  die  Eroberung  Moreas  (1460),  der  in  den  nachsten  Jahren 
die  von  Trapezunt  und  Lesbos  folgt. 

Das  Verschwinden  aller  kleinern  Staaten,  die  bisher  noch 
zwischen  den  Besitzungen  der  Pforte  und  Venedigs  bestanden  hatten, 
be8chleunigt  den  Zusamm  ens  toss  der  beiden  levantinischen  Gross- 
machte  dieser  Zeit.  Abschnitt  4  und  5  berichten  iiber  die  ersten  Jahre 
des  unter  ihnen  1463  entbrennendenKrieges,  in  welchem  dieRepublik 
obwohl  mit  Skanderbog  und  den  Magyaren  im  Bunde  und  von  den 
aufetandischen  Poloponnesiern  unterstiitzt,  sich  bald  auf  die 
Defensive  beschrankt  und  im  Jahre  1470  ihrer  werthvollsten 
griechischen  Besitzung,  Euboas,  beraubt  sieht.  Mit  der  Eroberung 
dieser  Insel  schliesst  dor  Verf.  den  vorliegenden  Band  ab,  weil 
sie  ihm  als  Grenzpunkt  weit  geeigneter  erscheint  als  die  von 
Konstantinopel  oder  Morea.  Er  sagt:  „Mit  dem  Fall  von 
Negroponte  ist  die  feste  Stellung  Venedigs,  der  letzten  abend- 
landischen  Macht,-  die  in  „Romanien"  den  Osmanen  neben  und 
nach  den  sinkenden  Griechen  noch  Stand  gehalten,  hier  ent- 
*urzelt,  —  zerbricht  der  Rahmen,  den  die  stolze  Republik  der 
Lagunen  um  die  Trummer  der  durch  die  Osmanen  erschutterten 
Volkerwelt  der  Balkanhalbinsel  gezogen  hat,  —  sind  die  aus 
der  Zeit  des  lateinischen  Kreuzzuges  datirenden  politischen 
Schopfungen  in  Romanien  der  Hauptsache  nach  wieder  ver- 
nichtet  —  geht  den  Griechen  der  letzte  Stiitzpunkt  zu  even- 
tueller  Erhebung  gegen  die  Pforte  verloren.  Erst  seit  1470  ist 
der  Sieg  des  Halbmondes  iiber  die  griechische  Welt  fur  Jabr- 
hunderte  unwiderruflich  entschieden."     (Vorwort). 


Der  obige  Bericht  war  kaum  vollendet,  als  dem  Referenten 
Weits  der  noch  riickstandige  dritte  Theil  des  Werkes  zuging. 
Derselbe  behandelt  die  Geschichte  Griechenlands  von  der  Voll- 
eudung  der  osmanischen  Eroberung  bis  zur  Erhebung  der  Neu- 
griechen  gegen  die  Pforte  (1470 — 1821),  und  zerfallt,  wie  sein 
Vorganger,  in  zwei  Bticher,  deren  Grenzscheide  die  franzosische 
RcTolution  von  1789  bildet.  Das  erste  dieser  Biicher  aber  ist 
to  drei  Kapitel  getheilt,  die  ihrerseits  wieder  aus  mehreren  Ab- 
Bchnitten  bestehen.    —   Kapitel  1   (S.  3  —  127)  fiihrt   nach   der 

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278  Hertzberg,  G.  F.,  Geschichte  Griechenlands  etc. 

Ueber6chrift  bis  zur  Eroberung  von  Morea  durch  die  Venetians 
1684,  schliesst  indess  im  Texte  mit  der  Eroberung  Kretas  durch 
die  Osmanen  ab  (1669).  Der  ersto  Abschnitt  erzahit  den  weiteren 
Verlauf  des  grossen  Krieges,  welcher  17  Jahre  lang  zwischen 
der  Pforte  und  Venedig  gefiihrt  und  durch  den  fur  die  Republik 
schmachvollen  und  verlustreichcn  Frieden  von  1479  beendigt 
wurde.  Weitere  Eroberungen  der  Osmanen  (von  Leukadia, 
Kephallene  u.  s.  w.)  folgen,  doch  erfahren  sie  unter  Bajesid  II 
geit  1481  eine  Unterbrochung,  wahrend  welcher  Venedig  die 
Insel  Cypcrn  gewinnt.  Zehn  Jahre  spater  (1499)  bricht,  wie  im 
zweiten  Abschnitt  berichtet  wird,  ein  neuer  Krieg  aus,  der  zui 
Abtretung  von  Lepanto  und  Messenien  fiihrt.  Der  1503  ge- 
schlossene  Friede  dauert  auch  unter  Selim  I.,  den  Kampfe  am 
den  Thron  und  mit  den  Persern  in  Anspruch  nehmen,  fort  Erst 
Soliman  II.  (1520 — 66),  der  iibrigens  schon  1522  die  Insel  Rhodus 
den  Johannitern  entreisst,  nimmt  1537  den  Kampf  mit  der  Re- 
publik  wieder  auf,  die  im  Frieden  von  1540  ihre  letzten  Be- 
sitzungen  in  Morea  verliert.  An  diese  Erwerbung  schliesst  sich 
die  der  Inseln  des  Archipels,  zu  deren  Herzog  ein  jiidischer 
Giinstling  Selims  II.,  Don  Josef  Nasi,  ernannt  wird  (Abschnitt  3). 
Auch  Cypern  fallt  1570  in  die  Hande  der  Osmanen,  die  dann 
zwar  im  nachsten  Jahre  bei  Lepanto  eine  entschiedene  Nieder- 
lage,  aber  keine  wesentliche  Beeintrachtigung  ihrer  Machtstellung 
erfahren. 

Der  folgende  vierte  Abschnitt  beschaftigt  sich  vorzugsweise 
mit  den  Kampfen,  die  seit  1645  zwischen  der  Pforte  und  Venedig 
um  Kreta  gefiihrt  und  erst  1669  durch  die  osmanische  Eroberung 
dieser  Insel  beendigt  werden.  Verf.  lasst  hier  den  Faden  der 
Erzahlung  fallon,  um  uns  in  einer  ausfiihrlichen  und  sehr  inter- 
essanten  Schilderung  mit  der  Lage  der  Griechen  unter  der  tur- 
kischen  Herrschaft  bekannt  zu  machen.  Er  bespricht  zunachst 
die  Organisation  der  Verwaltung  und  das  tiirkische  Lehnssystem 
in  den  griechischen  Provinzen,  erortert  die  Stellung  und  den 
Wirkungskrois  der  die  Centralregiorung  vertretenden  Beamten 
und  fiihrt  die  mannigfachen  Abgaben  auf,  welche  die  Unter- 
thanen  in  Gold  (der  Kopfsteuer),  Friichten  (dem  Zehnten)  und 
Menschen  (durch  den  Knabenzins)  zu  entrichten  haben.  Indem 
er  sich  dann  der  griechischen  Kirche  zuwondet,  hcbt  er  die 
grosse  Macht  hervor,  welche  der  hohere  Klerus,  vor  Allem  der  Pa- 
triarch, nicht  nur  in  geistlichen,  sondern  auch  in  weltlichen  Dingen, 
namentlich  in  derRechtspflege,  ausiibt,  stellt  auch  die  guten  wie  die 
schlimmen  Seiten  dersclben  und  ihre  Bedeutung  fur  die  Erhal- 
tung  des  griechischen  Volksthums  ins  Licht.  Weiterhin  ver- 
breitet  er  sich  iiber  die  Stellung  und  Wirksamkeit  der  in  Stambul 
wohnenden  Griechen,  ins  Besondere  der  Fanarioten,  iiber  die 
griechischen  Beamten  im  Dienste  der  Pforte,  die  Ausbreitung 
des  Klephtenthums  und  die  Miliz  der  Armatolen,  endlich  iiber 
die  eigenthiimliche  griechisohe  Gemeindever&ssung  mit  ihron 
Primaten.    Er  schliesst  mit  einigen  Bemerkungen  iiber  die  neu- 

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Hertzberg,  G.  P.,  Geschichte  Griecheulands  etc.  279 

griechische  Sprache  und  Litteratur  und  einer  kurzen  Erorterung 
der  noch  sehr  vereinzelten  Beziehungen  Griechenlands  zum 
iibrigen  Europa. 

Von  den  drei  Abschnitten  des  zweiten  Kapitels  (S.  128  bis 
191),  welches  den  Zeitraum  von- 1669 — 1718  umfasst,  behandelt 
der  erste  den  Krieg,  welchen  1684  Venedig  im  Bunde  mit 
Oesterreich  nnd  Polen  gegen  die  Pforte  eroflhet,  der  zwoite  die 
Herrschaft  der  Republik  tiber  das  in  diesem  Kriege  gewonnene 
nnd  im  Frieden  von  Karlowitz  1699  behauptete  Morea,  der 
dritte  den  1715  crneuerten  Kampf  urn  die  Halbinsel,  die  im 
Fortgange  desselben  von  den  Osmanen  wiedererobort  und  ihnen 
durch  den  Frieden  von  Passarowitz  1718  zu  dauerndem  Besitze 
abgetreten  wird. 

Im  Eingange  des  dritten  Kapitels  (S.  191 — 264)  schildert 
Verf.  die  Zustande  in  Morea,  welche  sich  fur  die  Griechen  bei 
der  milderen  und  riicksichtsvolleren  Behandlung,  die  ihnen  die 
osmanischo  Regierung  fortan  zu  Theil  werden  lasst,  relativ  giinstig 
gestalten.  Auch  in  Stambul  gewinnt,  wie  weiterhin  ausgefuhrt 
wird,  das  Griechenthum  an  Macht  und  Einfluss;  die  Fanarioten, 
unter  welchen  namentlich  der  Grossdragoman  Alexander  Mauro- 
kordatos  und  sein  Geschlecht  hervortreten ,  gelangon  selbst,  als 
Hospodare  der  Moldau  und  Wallachei,  zu  einer  fiirstlichen 
Stellung,  machen  sich  auch  durch  die  Grundung  von  hoheren 
Lehranstalten  urn  die  geistige  Bildung  ihrer  Landsleute  in  hohem 
Grade  verdient.  Im  Folgenden  wird  der  Gracisirung  der  Bui- 
garen  durch  die  Kirche  sowie  des  Aufschwunges  gedacht,  den  die 
materielle  Wohlfahrt  der  Griechen  nimmt,  dann  die  Lago  der 
Dinge  auf  den  noch  unter  venetianischer  Herrschaft  stehenden 
ionischen  Inseln,  auf  Tinos,  Chios  und  dem  damals  auf  bliihenden 
Hydra  geschildert,  endlich  eine  genauere  Charakteristik  der  seit 
1740  m  feindlichen  Gegensatz  zu  den  Osmanen  trotenden  Arma- 
tolen  und  Klephten  gegoben,  an  welche  sich  dio  der  Sulioten  urid 
Mainoten  anschliesst.  —  Dor  zweite  Abschnitt  berichtet  iiber 
4ie  von  Russland,  nach  dem  Ausbruch  des  Kriegos  mit  dor 
Worte,  veranlasste,  aber  sehr  unzureichend  unterstiitzte  Erhebung 
der  Griechen  im  Jahre  1770  und  ihre  schlimmen  Folgen,  wie 
ftr  die  nord-  und  mittelgriechischen  Landschaften ,  so  ganz  be- 
wnders  fur  Morea,  dem  auch  der  fur  die  Inselgriechen  recht 
wtheilhafte  Friede  von  1774  kaum  zu  Statten  kommt.  —  Der 
dritte  Abschnitt  erzahlt  die  Jugendgeschichte  und  das  allmalige 
Eniporkoinmen  Alis,  des  Pascha  von  Janina,  der,  seit  1789  „domi- 
nirender  Machthaber  in  Thessalion,  Epirus  und  Akamanien,  fur 
*e  Griechen  in  Nord-  und  Mittelgriechcnland  zur  Zeit  bereits 
wmdestens  ebenso  wichtig  ist  wie  der  Sultan  selbst a. 

Wichtiger  noch  wird  er  und  seine  Herrschaft  fur  die  ge- 
sanunte  weitere  Zeit  bis  1821,  mit  welcher  sich  das  zweite  Buch 
beechaftigt  (S.  265—473).  Verf.  bemerkt  im  Eingange  desselben: 
rEa  ist  keineswegs  die  Willkiir  des  Historikers ,  wenn  wir  dio 
Geschichte  der   letzten  Periode   des   griechischen  Lebens  unter 

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280  Hertzberg,  G.  F.,  Geschichte  Griechenlands  etc. 

osnianischer  Herrschaft  mit  deni  Ausgange  des  neunten  Jahr- 
zehuts  des  achtzehnten  Jahrhunderts  beginnen.  In  der  That 
treffen  gerade  in  dieseni  Momentc  cine  Reihe  von  Motiven  zu- 
samnien,  welche  in  hochst  intensiver  Weise  auf  die  vollstandige 
aussero  und  innere  Unigestaltung  der  Lage  der  griechischen 
Nation  eingewirkt  haben.  Der  1787  wieder  ausgebrochene 
tiirkiscb-russische  Krieg,  und  die  damit  zusammenhangenden  Un- 
ruhen  und  Kampfo  in  Epirus  und  im  agaischen  Meere,  wie  audi 
seine  Folgen  fur  den  griechischen  Haudelsverkehr ,  wiirden  una 
noch  nicht  bestimmen  konnen,  gerade  bier  den  Ausgangspunkt 
einer  neuen  Epoche  des  griechischen  Lebens  zu  erkennen.  Wohl 
aber  ist  es  von  hochstor  Bedeutung  auch  fur  Griechenland  ge- 
worden,  dass  gerade  in  diese  Zeit  der  Beginn  der  franzosischen 
Revolution  fallt.  Die  Feuerfunken,  das  Flugfeuer  der  kolossalen 
Bewegung  in  Frankreich,  ziinden  auch  in  Griechenland,  iiberall 
in  der  griechischen  Welt,  selbst  bei  den  Klephten  der  Gebirge. 
Die  gros8en  Kriege  der  Revolution  und  der  Napoleonischen  Zeit 
beruhren  auch  den  Westrand  dor  griechischen  Welt,  namlich 
Epirus  und  die  ionischeu  Inscln.  Der  ungeheure  europaische 
Brand  dieses  Zeitalters  kommt  dem  Aufschwunge  des  griechischen 
Handels,  der  neuen  griechischen  Bildung  und  der  griechischen 
Freiheitsgluth  in  fiihlbarster  Weise  zu  Statten.  Dazu  kommt 
noch  ein  Anderos.  Die  humanitaren  und  reformatoriscben  Ideen 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  gelangen  nun  schliesslich  auch 
auf  der  Balkanhalbinsel  zum  Durchbruch.  Diesmal  sind  es  die 
Osmanen  selbst,  der  Sultan  an  der  Spitze,  welche  diesen  Weg 
einschlagen,  der  dann  doch  nur  den  Griechen  wirklich  zum  Vor- 
theil  gereichen  sollte.  Die  Schwache  aber  des  Centralregimentes 
in  Stambul  ruft  auf  der  Balkanhalbinsel  und  auf  andoren  Punkten 
unter  den  Mohammedanern  selbst  Erscheinungen  hervor,  die  an 
die  Loslosuug  der  persi3chen  Satrapen  des  vierten  Jahrhunderts 
v.  Chr.  von  dem  Reiche  der  Achameniden  und  deren  Fehden 
unter  einander  erinnern.  Unter  diesen  moderncn  Satrapen  aber 
nimmt  fur  die  Griechen  wieder  die  wichtigste  Stelle  ein  jener 
Ali-Pascha  von  Janina,  dessen  wir  zuletzt  noch  gedacht  haben. 
Und  Ali  ist  es,  der  lange  als  der  gefurchtetc  Horr  der  Griechen 
des  Fostlandes  auf  die  Armatolen  don  entschoidendsten  Einfluss 
au8iibt,  zuletzt  aber  in  seinem  feindlichen  Gegensatze  zu  der 
Macht  des  Grossherrn  selbst  wider  soin  Wissen  und  Wollen 
den  Schleier  ziehen  hilft,  hinter  welchem  sich  die  selbstandige 
Erhebung  der  Griechen  gegon  die  Pforte  vorbereitet" 

An  diose  allgemeino  Betrachtung  schliesst  sich  unmittelbar 
der  Bericht  Uber  die  doch  nur  sporadischen  Aufstande  in  Ru- 
melien ,  die  den  neuen  russisch-turkischen  Krieg  (von  1787—92) 
begleiten,  sowie  iiber  den  siegreichon  Kampf,  wolchen  als  Nach- 
spiol  dieses  Krioges  die  Sulioton  gegen  Ali  Pascha  zu  bestehen 
haben.  —  Es  folgt  im  zweiten  Abschnitt  eine  eingebende  Dar- 
stellung  dor  Reformpolitik  Selims  III.,  die  bei  den  Osmanen 
selbst  vielfach  auf  Widerstand  stosst  und  einzelne  kiihne  Macht- 

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Hertzberg,  G.  F.,  Geschichte  Griechenlands  etc.  281 

haber  in  Albanien  und  Bulgarien,  hier  besonders  den  Pascha 
von  Widdin,  Paswan-Oglu,  zu  offenem  Kampfo  gegen  die  Central- 
regieruiig  treibt  Sodann  wird  der  gewaltigen  revolutionaren 
G&hrung  gedacht,  welche  die  Kunde  von  den  Vorgangen  in 
Frankreich  bei  den  Griechen  hervorruft,  fernor  der  Zustand  der 
ionischen  Inseln  unter  der  Herrschaft  Venedigs  geschildert  und 
ihr  Uebergang  in  franzosischen  Besitz  (1797)  bericbtet,  endlich 
uber  die  Beziehungen  Bonapartes  zu  den  Griechen  iiberhaupt, 
wie  zu  den  Mainoten  ins  Besondere  Aufechluss  gegeben  und 
der  Lebensgang  „des  ersten  Martyrers  der  griechischen  Freiheit", 
des  als  Stifter  der  politischen  Hetario  und  als  Dicbter  der 
^griechischen  Marseillaise"  bekannten  Rhigas  ausfiihrlich  erzahlt. 

Der  dritte  Abschnitt  fuhrt  aus,  wie  die  verbiindeten  Russen 
und  Tiirken  die  ionischen  Inseln  erobern  (1798 — 99),  stellt  die 
Verfassung  und  die  Geschichtc  der  neuen  „Republik  der  sieben 
Inseln"  dar  und  schliesst  mit  dem  Kriege  Ali  Paschas  gegen  die 
Snlioten  (1800 — 3),  die  nach  langerm  Widerstande  uberwaltigt 
und  aus  Epirus  vertrieben  werden.  —  Aus  dem  mannigfaltigen 
Inhalte  des  vierten  Absohnittes  heben  wir  hervor  den  Aufstand 
der  Serben  unter  Kara  Georg  (seit  1804),  den  ira  Jahre  1806 
ausbrechenden  Krieg  der  Pforte  gegen  Russland  und  England 
und  die  damit  zusammenhangenden  Beweguugen  unter  den 
Griechen,  ferner  die  wiederholten,  durch  den  Gegensatz  der  alt- 
tiirki8chen  und  der  Reformpartoi  herbeigefuhrtcn  Thronwechsel 
inStambu],  den  spateren  russisch-tiirkischen  Krieg  von  1809 — 12, 
die  erfolgreiche  diplomatisch-militarische  Thatigkeit  Ali  Paschas 
und  seine  eigenthumliche  Stellung  zu  den  Griecheu,  besonders 
auch  die  interessante  Charakteristik  einzelnor  hervorragender 
Per8onlichkeiten ,  des  Grafen  Kapodistrias ,  der  Hypsilanti,  des 
OdysjBeus,  Kolettis  u.  s.  w.  —  Im  fiinften  Abschnitt  wirft  Verf. 
einen  Blick  auf  „die  seit  1789  entfaltete  Bluthe  griechischen 
HandeU  und  griechischer  Bildung,  die  uns  zugleich  die  neue 
Bedeutung  der  „nautischen  Inseln"  (Hydra,  Spezzii,  Psara)  fur 
Griechenland  verstehen  lehrt".  Als  vorzugswoise  lorderlich  fur 
&*  geistige  Hebung  der  Nation  betont  or  das  Studium  der 
jungen  Griechen  im  westlichen  Europa,  die  fortgesetzto  Griindung 
von  Akademien  und  Gymnasien,  dann  auch  den  neuen  Aufschwung 
der  Litteratur,  wie  er  weniger  durch  die  Vertretcr  der  redenden 
Kiinste,  als  durch  die  gelehrten  Vorkampfer  des  Hellenismus 
(Kora'is  u.  A.)  vermittelt  wird. 

Wir  kommen  ziim  zweiten  und  lotzten  Kapitel  (S.  400—473), 
welches  die,  verhaltnissmassig  kurze,  aber  fiir  die  unmittelbar 
folgende  national©  Erhebung  hochst  bedeutsame  Zoit  von  1814 
bis  21  zum  Gegenstande  hat.  In  diesen  Jahren  entsteht  die 
Hetarie  der  Philiken,  welche  sich  die  gewaltsame  Befreiung 
Griechenlands  von  der  tiirkischen  Herrschaft  zur  Aufgabe  stellt. 
Der  erste  Abschnitt  gibt  uber  Ursprung  und  Zweck,  Einrichtung 
^nd  Ausbreitung  dieses  Gehoimbundes  genaue  Auskunft.  Soinen 
bungen  kommt,  wie  im  zweiten  Abschnitt,   nach   einem 

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282  Otto,  Fr.,  Geschichte  der  Stadt  Wiesbaden. 

Blick  auf  die  seit  1815  unter  dor  Herrschaft  Englands  stehenden 
ionischeu  Inseln,  entwickelt  wird,  die  im  Jahre  1820  zum  offenen 
Kriege  fiihrende  Spannung  zwischen  dor  Pforte  und  Ali  Pasoha 
fordernd  entgegen.  Noch  ist  dieser  Krieg  nicht  beendigt,  als 
im  Fruhling  1821  die  Hetarie,  von  Alexander  Hypsilanti  geleitet, 
in  Rumanien  die  Fahne  des  Aufetandes  entfaltet,  die  dann  gleich 
nachher  auch  in  Morea  aufgepflanzt  wird.  Der  dritte  Abschnitt 
berichtet  iiber  diese  Anfango  des  grossen  Freiheitskampfes,  die 
er  bis  zur  Eroberung  Kalamatas  durch  die  Mainotten  und  der 
gleichzeitigen  Erhebung  der  Burger  von  Patra  am  4.  April, 
„dem  Geburtstage  der  griechischen  Freiheit",  verfolgt. 
Rheydt.  Brock  erhof. 

LXI. 

Otto,  Fr.,  Geschichte  der  Stadt  Wiesbaden.  8.  Wiesbaden  1877. 
Julius  Niedner.     2,50  M. 

Die  heissen  Quellen  des  heutigen  Wiosbadens,  die  schwerlich  je 
einem  der  Volker  entgehen  konnten,  welcbe  nordlich  von  der  Main- 
miindung  sassen,  mussten  auch  die  Aufmerksamkeit  der  Romer  in  urn 
so  hoherem  Grade  erregen,  als  ja  fur  sie  vorzugsweise  in  balneis  salus 
war;  kein  Wunder  daber,  wenn  zu  ihrer  Zeit  die  Quellen  bald 
der  Mittelpunkt  einer  Ansiedlung  wurden.  Urspriinglich  bestand 
diese,  wie  es  scheint,  in  einem  Castell,  das  auf  einem  vom  Taunus 
nach  Siiden  hin  vorspringenden  Bergzuge  lag ;  nicht  lange  danach 
entstand  jedoch  am  Fusse  desselben  eine  stadtische  Anlage,  in 
der  sich  ein  mannigfaltiges  und  reiches  Leben  cntwickelte  — 
ein  Leben,  wie  es  der  Ort  das  ganze  Mittelalter  hindurch  nicht 
gesehen  hat.  Aus  dieser  Zeit  haben  sich  dann  in  und  um  Wies- 
baden eine  ganz  bedeutende  Anzahl  von  Alterthiimern  aller  Art 
erhalten.  Sie  wurden  aber  zu  einem  grossen  Theile  erst  in  den 
letzten  60  Jahren  gefunden,  und  da  sie  auf  die  alteste  Geschichte 
der  Stadt  ein  interessantos  Licht  werfen,  eine  Geschichte  Wies- 
badens  aber  zuletzt  1817  (von  Ebhardt)  versucht  war,  so  war 
es  ein  glucklicher  Gedanke  des  Herrn  Fr.  Otto,  die  im  September 
1877  in  Wiesbaden  tagende  Philologenversammlung  mit  obiger 
Schrift  zu  begriissen,  die  zwar  die  Geschichte  Wiesbadens  bis  in 
die  ncueste  Zeit  hinein  behandelt,  jedoch  die  alteste  Zeit  in  unver- 
kennbarer  Weise  und  nicht  mit  Unrocht  bevorzugt. 

Dor  Verfhat  sich  seiner  nicht  leichten  Aufgabe  mit  Geschick 
entledigt:  wohl  das  gesammte  vorhandene  Material  beherrschend — 
auch  ungedrucktes  hat  er  in  dem  Archiv  des  Vereins  fur  nassauische 
Geschichte  benutzen  konnen  — ,  giebt  er  in  einfacher,  knapper 
Darstellung  eine  meist  sehr  klarc  Skizze  der  Geschichte  Wies- 
badens; nur  selten  ware  eine  grossere  Precision  wiinschens- 
werth  gewesen.  So  z.  B.  ist  in  der  Besatzungsgeschichte  (§  4) 
nicht  mit  voller  Klarheit  zu  orkennen,  worauf  hin  die  Anwesen- 
heit  der  Legio  III.  Augusta  erst  angenommen  wird,  um  spater 
S.  13  als  zweifelhaft  bezeichnet  zu  werden.  Auch  fur  die  andern 


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Otte,  Fr.,  Geschichte  der  Stadt  Wiesbaden.  283 

Truppen  findet  man  das  Beweismaterial  erst  an  auderer  Stelle 
(S.  97).  Ebenso  hatte  S.  67  f.  noch  deutlicher  gesagt  sein  konnen, 
dass  die  Darstellung  der  Verhaltnisse  wahrend  der  frankischen  Zeit 
nor  aaf  Ruckschliissen  beruht,  und  die  Grundlagen  der  letzteren 
hatten  sich  recht  wohl  mittheilen  lassen,  ohno  den  Umfang  der 
Schrift  iiber  Gebiihr  zu  vergrossern.  Z.  B.  hatte  wohl  erwahnt 
son  konnen,  dass  der  Gau  Kiinigessundra  erst  im  9.  Jh.  genannt  wird. 
Das  erwahnte  Castell  —  sein  Name  war  Mattiacum  —  war 
455'  breit  nnd  500'  lang,  d.  h.  13  lj%  Morgen  gross  und  fur 
ca»  1100  Mann  berechnet;  es  ist  von  der  Legio  XIV  gemina 
zwischen  17  v.  Chr.  und  35  n.  Chr. ,  vielloicht  schon  untcr 
Augustas  erbaut  und  diente  dann  verschiedenen  Legionen  zum 
Standquartier ,  bis  endlich  im  J.  120  die  XXII.  dorthin  verlegt 
wurde,  welche  bis  235  daselbst  blieb.  Zwei  Strassen  verbanden 
den  Ort  nrit  Mainz,  die  eine  16 — 17'  breit,  mit  einem  Fusssteigo 
ran  12 Vi'  Breite  zur  Seite,  das  Castell,  die  andere  die  eigent- 
liche  Stadt.  Eine  eigene  Verwaltung  scheint  Mattiacum  nicht 
besessen  zu  haben,  es  war  eben  nur  MQitarstation  und  Badestadt: 
fiber  diese  wird  der  Commandant  des  Castells  die  Aufsicht  gefiihrt 
haben,  Sonst  gehorte  der  Ort  politisch  zum  Castellum  Mattiacorum, 
dem  heutigen  Castell  bei  Mainz.  Denn  Castell  war  die  Haupt- 
stadt  der  civitas  Mattiacorum,  die  neben  der  civitas  Taunensium 
mit  der  Hauptstadt  Novus  vicus  (Heddernheim)  in  jenen  Gegenden 
erwahnt  wird.  Die  Umgegend  von  Mattiacum  war  nach  den 
vielen  noch  jetzt  erhaltenen  Fundamenten  mit  Villen  und  Ge- 
hoften  dicht  besetzt,  und  friih,  schon  im  1.  Jh.,  scheint  auch  das 
Christenthum  unter  der  Bevolkerung  Anhang  gefunden  zu  haben, 
welches  vermuthlich,  wie  so  vielfach,  zuerst  durch  die  Legionen 
dorthin  gelangto. 

Im  J.  282 ,  nach  Probus'  Tode ,  verliessen  die  Romer  das 
rechte  Rheinufer,  dennoch  ist  in  Mattiacum  romisches  Leben 
noch  nicht  erloschen;  ja  trotz  der  alles  verheerenden  Pliinderungs- 
ziige,  die  Julian  nach  der  Schlacht  bei  Argentoratum  von  Mainz 
aw  unternahm  (Amm.  Marc.  17,  1),  werden  die  Aquae  Mattiacae 
als  Aufenthalt  eines  deutschen  Konigs  Macrian  genannt,  den 
Valentinian  dort  zu  iiberfallen  suchto  (Amm.  29,  4,  2).  Dann 
verechwindet  Mattiacum  allerdings  fur  mehrero  Jahrhunderte, 
nur  Graber  zeigen,  dass  vom  5. — 7.  Jh.  hier,  allerdings  nicht 
auf  dem  Platze  der  alten  Stadt,  Ansiedlungen  waren :  denn  das 
Terrain  der  alten  Romerstadt  diente  als  Grabstatte.  In  diese 
Zeit  soil  auch  die  Erbauung  der  Mauritiuskirche  auf  don  Grund- 
maaern  eines  romischen  Gebaudes  fallen. 

Die  Geschichte  Wiesbadens  im  Mittelalter  bietet  wonig  von 
allgemeinerem  Interesse:  es  hatte  dieselben  Schicksale  wio  alle 
andem  deutschen  Stadte. 

Mit  ihrem  jetzigen  Namen  (Wisibadun)  wird  sie  zuerst  von 
Einhard  erwahnt,  der  sie  im  J.  830  auf  der  Reise  von  Seligen- 
stadt  nach  Aachen  passirte  und  bemerkt,  dass  er  zwei  Jahre 
frfiher  schon  einmal   hindurchgekommen  sei.     Dor  Namen   ist 

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284  Otto,  Fr->  Geschichte  der  Stadt  Wiesbaden. 

noch  nicht  geniigend  erklart,  doch  ist  der  Vert  geneigt,  ihm  die 
Bedeutung  Salzbad  beizulegen.  Der  Gau,  in  dem  Wiesbaden  lag, 
hiess  Kiinigessundra,  d.  h.  Konigssondergau,  weil  hier  besonders 
viel  koniglicher  Besitz  war.  Die  mittelalterliche  Stadt  lehnte  sich 
an  die  heut  noch  zum  Theil  erlialtene  Heidenmauer  —  eine  unvoll- 
endete  Befestigung  aus  romischer  Zeit  —  an.  So  lange  sie  nicht 
in  den  Besitz  der  Gaugrafen  iiberging,  soheint  sich  in  ihr  nur 
eiu  koniglicher  Frohnhof  befunden  zu  haben ;  erst  die  spateren 
Grafen  von  Nassau,  —  zuerst  (bis  1160)  nannten  sie  sich  nach 
ihrer  Burg  Lurenburg  an  der  Lahn  —  werden  die  sehr  feste 
Burg  in  der  Stadt  angelegt  haben,  als  Wiesbaden  endlich  voll- 
standig  ihre  Landstadt  wurde.  Die  Reste  dieser  Burg  standen 
noch  bis  1837,  und  aus  den  Jahren  1423—27  sind  die  Burg- 
mannen  bekannt. 

Die  Bewohner  Wiesbadens,  deren  hochste  Zahl  von  dem 
Verf.  auf  etwa  1000  berechnet  wird,  lebten  vorzugsweise  von 
Acker-  und  Weinbau:  letzterer  war  weit  ausgedehnter  als  jetzt 
Selbstverstandlich  fehlte  das  Kleingewerbe  nicht;  auch  besass 
die  Stadt  das  Marktrecht.  Daneben  war  aber  doch  schon  die 
Kurindustrie,  der  Hauptnahrungszweig  des  modernen  Wiesbadens, 
einigermassen  entwickelt.  Wir  haben  dariiber  drei  interessante 
Zeugnisso:  das  orste  aus  dem  Ende  des  14.  Jh.  von  Heinrich 
von  Langenstein  (geb.  1325),  eine  Schilderung  des  Wiesbadener 
Badelebens,  welche  mit  der  stimmt,  die  Aeneas  Sylvius  von  dem 
Treiben  in  Baden  giebt.  Das  zweite  ist  ein  Vertrag  von  1423, 
welcher  vier  Geistlichen  des  Praemonstratenserklosters  Miinster- 
Dneis  in  der  Pfalz  Stube,  Kammer  mit  vier  gut  gehaltenen 
Betten,  Holz,  Feuerung  und  ein  Bad  im  Hause  dafur  zusichert,  dass 
der  Abt  des  Klosters  15  fl.  zum  Bau  eines  Hauses  gegeben  hatte; 
man  scheint  damals  im  Mai  oder  October  gebadet  zu  haben.  — 
Das  dritte  Zeugniss  findet  sich  in  Hans  Folzens  Buch  „eine  gat 
lehre  von  alien  willtbaden".  (Bibl.  des  litterar.  Vereins  in  Stuttg. 
30,  1249);  es  mag  hier  vollstandig  stehen. 

Ein  bad  bey  montz,  genant  wissbaden, 
dut  den  colerici  bald  scbaden: 
den  lust  es  jn  zuo  essen  wert, 
darmit  den  turst  gar  sor  mert. 
Kalt  bos  fliis  und  iibrigo  feucht 
es  schnel  verzert  und  gantz  uss  zticbt. 
Wor  sich  nit  ordnirn  do  kan 
Dursts  haiben,  der  lass  bald  dar  fan. 

Als  ein  Vergnugungsbad  nennt  Folz  im  Gegensatz  zu  Wies- 
baden Ems.  —  Uebrigens  besuchten  mehrere  Kaiser  Wiesbaden,  so 
Otto  I.,  Friedrich  II.,  Adolf  (mehrmals),  Albrechtl.,  Ludwig  d.  Baier 
(mehrmals),  Ruprecht,  Friedrich  III.  (zweimal)  und  Maximilian  L 
Dass  auch  Karl  d.  Gr.  oft  hier  geweilt  habe,  ist  nicht  begriindet 

In  neuerer  Zeit  hat  die  Geschichte  Wiesbadens  noch  weniger 
Eigenthiimliches  aufeaweisen  als  im  Mittelalter.  Die  Fiirsten 
von  Nassau,  die  in  Biberich  residirten,  thaten  namentlich  im 
18.  Jh.  viel  fur  die  Stadt,   in  welcher  die  Badeindustrie   iminer 

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JOttheiL  ans  dem  Gcbiete  der  Gescbicbte  Liv-,  Est-  u.  Kurlands.     285 

noch  zuriicktrat  gegen  die  vorhingenannten  Beschaftigungen 
der  Biirger:  zum  Acker-  und  Weinbau  scheiut  vielmehr  noch 
erne  bedeutende  Topffabrication  hinzugetreten  zu  sein.  Erst 
1688  fing  man  seitens  der  Stadt  an ,  fur  die  Unterhaltnng  der 
Badegaste  zu  sorgen.  —  Die  Zahl  der  Badehauser  ist  von  1637 
bis  1817  fast  constant  geblieben,  allerdings  wurden  wahrend  de9 
30jahrigen  Krieges  12  nicht  benutzt.  Bis  gegen  1730  hatte 
man  noch  Massenbader ;  erst  in  diesem  Jahre  trennte  man  die 
fiaume  fiir  die  beiden  Geschlechter.  Eine  merkwiirdige  Mit- 
theilung  haben  wir  aus  dem  J.  1738  iiber  die  Badepraxis  in 
Wiesbaden  in  dem  Buche  des  Franzosen  Mervillieux1).  Sie  liest 
sich  besser  im  Urtext:  La  plupart  des  Bains  de  Wisbaden  sont 
commons  pour  les  gens  de  chaque  Cabaret,  ou  on  loge;  a  peine 
24  heures    suffisent  -  elles    pour    donner   assez    de  fraicheur   a 

lean C'est  pour  cette  raison  qu'on  ne  les  change  qu'une 

fois  le  jour.  lis  ne  sont  point  rafraichis  pendant  toute  la  journee 
qu'il  y  a  du  monde ;  si  bien  qu'il  faut  s'  y  baigner  dans  i'ordure, 
qu'on  y  a  depose  le  matin ,  tant  celle  qui  $ort  des  corps  par 
transpiration,  que  par  les  Urines,  que  toute  personne  qui  est 
aux  Bains  lache  et  qu'il  doit  meme  l&cher  avant  de  sortir  du 
Bam,  afin  qu'il  fasse  du  bien. 

Uebrigens  klagt  er  insbesondere  iiber  die  Betten  und  das 
Cngeziefer  und  bezeichnet  auch  die  Gegend  als  unsicher.  Es  fanden 
sich  auch  viele  fremde  Kaufleute  ein,  welche  die  Badegaste  sehr 
iibertheuerten.  Vorzugsweise  sei  Wiesbaden  an  Festtagen  be- 
sucht  und  zwar  von  Mainzern.  —  Andere  Besucher  schildern  die 
Verpflegung  als  eine  gute  und  riihmen  die  Einwohner  als  freund- 
lich  und  entgegenkommend.  Ein  Luxusbad,  wie  Schwalbach, 
war  Wiesbaden  damals  noch  nicht ,  obwohl  ab  und  zu  hohe 
Herrschaften  nach  Wiesbaden  kamen,  wie  Georg  III.  von  Eng- 
land und  Joseph  II.:  die  Beliebtheit,  dessen  es  sich  in  der 
bante  volee  heut  erfreut,  datirt  wohl  aus  der  Zeit  nach  den 
Befreiungskriegen :  wahrend  dieser,  als  Ende  1813  das  Haupt- 
quartier  der  schlesischen  Arraee  vier  Wochen  hier  war,  hat 
es  auch  der  jetzige  Kaiser  kennen  gelernt,  der  bekanntlich  Wies- 
baden eine  grosse  Anhanglichkeit  bewahrt. 
Berlin.  Edm.  Meyer. 


LXII. 

Mittbeilungen  aus  dem  Gebiete  der  Geschlchte  Liv-,  Est-  und 

Kurlands,   herausg.   von  der  Greseilschaft  fiir  Geschichte  und 

Alterthumskunde   der  Ostsee-Provinzen   Russlands.     12.  Band. 

2.  Heft.    gr.  8.   (S.  221—396).    Riga  1876,  N.  Kymmel.    3  M. 

Die   „Mittheilungenu   bringen    zuerst   einen   langeren 

Aufeatz  von  G.  Rathlef:    Bemerkungen   zur   Chrono- 

*)  Amusements  des  Eaux  de  Schwalbach ,  des  Bains  de  Wisbaden  et  de 
Schlangenbad. 

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286     Mittheil.  aua  dem  Gebiete  der  Geschichte  Liv-,  Est-  u,  Kuri&nds. 

logie  derlivlandischenOrden8meisteriml3.  Jahr- 
bundert  und  iibor  den  angeblicheu  Gebrauch  der 
Marienrechnung.  In  demselben  rectificirt  Rathlef  einige 
Angaben  Bonnells  in  dessen  Werke :  Russisch-livlandische  Chrono- 
graphie,  liber  die  livlandischen  Orderismeister  des  13.  Jahr- 
hunderts  und  weist  dann  in  Anlehnung  an  die  Bonnellschen 
Untersuchungen  ausfiihrlich  nach,  dass  sowol  in  den  ann&l. 
Dunamund.  als  anch  in  der  Diocese  Riga  die  Rechnung  nach 
Marienjahren  in  der  2.  Halfte  des  13.  Jahrhunderts  ebensowenig 
wie  in  Dorpat,  Oesel  und  Kurland  iiblich  gewesen  sei.  Von 
einigen  Fallen  abgesehen,  fiir  welche  geniigende  Erklarung  bei- 
zubringen  ist,  kann  man  in  Livland  im  ganzen  13.  Jahrhundert 
den  Gebrauch  des  Marienjahres  nicht  ein  einziges  Mai  sicher 
darthun,  es  ist  demnach  fiir  jede  livlandische  Urkunde  dieses 
Jahrhunderts  die  Rechnung  nach  Wei  h nach ts-  resp.  Januars- 
jahren  zu  nehmen. 

Dann  folgen:  Verbesserungen  zu  K.  E.  Napier  sky's 
russisch  -  livljyidischen  Urkunden  yon  Hermann 
Hildebrand. 

Dr.  Th.  Schiemann  bespricht  „das  piltensche 
Archiv".  Der  Verfasser  hat  dieses  bisher  nicht  geniigend 
beachtete  Archiv,  das  zu  Mitau  im  kurlandischen  Ritterhause 
aufbewahrt  wird,  neu  geordnet  und  ich  mochte  fast  sagen,  neu 
entdeckt.  Es  umfasst  dieses  Archiv  das  alte  piltensche  Re- 
gierungsarchiv  von  1556 — 1817  mit  Ausschluss  derjenigen  Sachen, 
wolche  in  die  bischotliche  Zeit  fallen.  Wie  wichtig  d&sselbe  fur 
die  Landesgeschichte  von  Pilten  ist,  liegt  auf  der  Hand;  die 
Geschichte  des  Stiftes  Pilten  ausfiihrlich  zu  schreiben,  wird  jetzt 
erst  moglich  sein.  Schiemann  zeichnet  uns  mit  raschen  Strichen 
ein  Bild  derselben. 

Der  „Beitrag  zur  Geschichte  der  zweiten 
schwedisch- livlandischen  Universitat  von  Dr.  Th. 
Beise"  veroflfentlicht  zum  ersten  Male  die  Matrikel  der  1690 
in  Dorpat  wiedereroflheten ,  1760  in  Pemau  eingegaogenen 
zweiten  livlandischen  Universitat  nach  dem  Originate  der  Dor- 
pater  Universitatsbibliothek.  Sie  ist  fiir  die  Personenkunde, 
Familien-  und  Gelehrtengeschichte  Livlands  hochst  interessant 
und  fiir  Deutschland  insofern,  als  aus  ihr  hervorgeht,  dass  inner- 
halb  dieses  Zeitraumes  von  591  Studenten  nicht  weniger  als 
gegen  70  Deutsche,  zumeist  aus  Sachsen  und  Preussen,  an  dieser 
Universitat  studirt  haben ;  besonders  gross  ist  die  Frequenz  von 
Finlandern  und  Nationalschweden ,  ein  Umstand,  der  nicht  anf- 
f alien  wird,  wenn  man  weiss,  dass  diese  Universitat  einen  vor- 
zugsweise  schwedischen  Charakter  gehabt  hat. 

Dr.  W.  von  Gutzeit  erzahlt  „die  Geschichte  eines 
Rechtsstreites  um  denBesitz  eines  livlandischen 
Landgutes,  Aahof-Neuermuhlen". 

Dr.  Hermann  Hildebrand  lasst  „Zehn  Urkunden 
zur  alteren  livlandischen  Geschichte  ausPeters- 

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Fesebel,  Oscar,  Abhandlungen  zur  Erd-  und  Volkerknude.  287 

burg  und  Stockholm"  abdrucken,  welche,  dem  13.  Jahr- 
hundert  angehorig,  theils  rem  kirchliche  Verhaltnisse  (2,  3,  5), 
tbeils  die  des  Bisthums  Riga  zu  seinen  Untorgebenen  behandeln. 

„Niflant"  von  Victor  Diederichs  betitelt  sich  der 
folgende  Aufsatz.  Niflant  kommt  haufig  fiir  Livland  vor,  nicht 
nor  in  der  altesteu  deutschen  livlandischen  Reimchronik,  sondern 
auch  in  Aufzeichnungen  ausserhalb  Livlands,  z.  B.  in  dem  Kudrun- 
liede,  so  dass  diese  Form  in  Deutschland  sehr  gelaufig  gewesen 
sein  muss.  Die  Vertauschung  des  L  mit  dem  N  im  Anlaut  ist 
willkiiriich  und  scheint  aus  oberdeutschen  Mundarten  zu  stammen. 
Auch  die  Formen  Ifland,  Eifland,  Leifland  und  Einfland  finden 
sich,  im  Polnischen  heisst  es  sogar  Inflanty,  im  Lettischen 
Wiplante. 

In  dem  Aufsatze  „  u  b  e  r  die  angeblicheBelagerung 
Riga's  imJahre  1567"  weist  Prof.  Dr.  R.  Hausmann  nach, 
dass  diese  BelagerungdurchKonigSigismund  August,  wie  sieHenning, 
Bossow  und  Renner  erzahlen,  gar  nicht  stattgefunden  habe,  und 
zwar  an  der  Hand  des  Vergleichs  zwischen  Sigismund  August  und 
Riga,  Mon.  Liv.  4,  c  c  c,  ferner  des  Buches :  Begangene  irthiimbe 
und  fehler  des  lieflandischen  Chronikenschreibers  Balthasaris 
Roussowens,  als  dessen  Verfasser  Berkholz  Heinrich  von  Tiefen- 
hausen  erwiesen  hat,  und  endlich  des  Aeltermannbuches,  also  droier 
gntbeglaubigter  von  einander  unabhangiger ,  aber  untereinander 
ubereinstimmender  Zeugnisse.  Zugleich  ergiebt  sich  daraus  die 
Willkiir,  mit  der  Renner  den  Russow  ausschreibt,  und  fur  die 
Charakteristik  Hennings  das  Resultat,  dass  er  zwar  von  dem 
?ernichtenden  Vorwurfe  der  Falschung,  nicht  aber  von  dem  der 
Parteilichkeit  freigesprochen  werden  kann. 

Den Schluss bilden  „Analecta  historiae  Livonicae" 
von  Prof  Dr.  E.  Winkelmann. 
Plauen  i.  Vogtlande.  Dr.  William  Fischer. 


LXIII. 

tachel,  Oscar,  Abhandlungen  zur  Erd-  und  Volkerkunde.  Heraus- 

gegeben  von  J.  Lowenberg.     gr.  8.    (X,  530  S.)    Leipzig  1877, 

Duncker  und  Humblot.     11  M. 

Etwa  vierzig  Aufsatze,  meist  zur  Geschichte  der  Geographie, 

die  sich  aber  zum  Theil  so  nahe  beriihren,  dass  sie  sich  inhalt- 

tich  fast  wie  Duplikate  verhalten.    Auch  wiirde  Aufsatz  VI  unter 

Gruppe  IV  gehoren.  — 

Es  gehen  voraus  Sagen  iiber  missgestaltete  Geschopfe 
(teratologische),  als  Fragmente  zur  Geschichte  der  wissenschaft- 
lichen  Irrthiimer.  Zumeist  schon  von  Ktesias  her  landlauiig, 
bilden  solche  bis  ins  MittelaJter  den  popularsten  Theil  der  Geo- 
graphie. Bei  manchen  dieser  Fabeln  hat  Peschel  den  Ursprung 
nicht  angedeutet,  so  bei  den  Skiapoden,  die  ihren  Namen  in 
erster  Linie  gewiss  dem  Stande  der  tropischen  Sonne  verdankten. 
Weitere  Aufsatze  handeln  von  fabelhaften  Or  ten:   goldene 

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~~'<* 


288         Peschel,  Oscar,  Abhandlungen  zur  Erd-  und  YOlkerkunda. 

Berge  und  goldene  Inseln,  Magnetberg,  Kuppel  von  Arin  (ein 
idealer  Nullmeridian) ,  werden  immer  in  der  Weise  besprochen, 
dass  dcr  meist  nicht  europaische  (arabische)  Ursprung  und  die 
Entwicklung  der  Sage  aufgozeigt  wird. 

In  dem  beriihmten  Aufsatz  iiber  die  Handelsgeschichte  des 
rothen  Meeres  (1855!)  haben  wir  eine  noch  immer  ansprechende 
Skizze,  und  seben  nach  Verwirklichung  des  Suezkanals,  dass  die 
Bedeutung  desselben  fur  den  Welthandel  in  der  That  eine  nur 
begrenzte  ist,  wie  Peschel  geweissagi 

Mehrere  Abhandlungen  zeigen  die  Bedeutung  der  mittel- 
alterlichen  Missionen  in  Asien  (und  Nordafrika),  neben  M.  Polos 
Reisen  lange  die  einzigen  Quellen  fur  die  Kunde  des  fernen 
Orients.  In  die  Geschichte  der  Geographic  schlagen  auch  die 
Aufsatze  iiber  die  Geschichte  des  Compasses,  worin  die  selbstan- 
dige  Erfindung  desselben  im  Abendland  plausibel  gemacht  wird, 
iiber  N.  Conti's  Reisen,  Heinrich  den  Seefahrer,  den  Entdecker 
Amerikas  u.  A. 

Ein  Complex  weiterer  Aufsatze  beschaftigt  sich  mit 
A.  v.  Humboldt  und  C.  Ritter,  Peschels  Vorgangern  und  Lehrern. 
Pescliel  modifiziert  darin  Ritters  Ansicht  dahin,  dass  die  Lander- 
beschaffenheit  gewisse  Culturen  wol  erleichtern,  nicht  aber  hervor- 
rufen  konne ;  keineswegs  aber  „triigen  die  Volker  nur  die  Livree 
Hirer  Erdtheile"  (Humboldt).  Peschel  will  auch  nicht  zugeben,  i 
dass  Ritter  vergleichende  Erdkunde  getrieben  habe;  diese  habe  } 
erst  er  selber  erfunden.  Aber  der  Streit  ist  leicht  zu  schlichten: 
Peschel  vergieicht  die  Lander  in  Bezug  auf  ihre  Entstehung, 
also  auf  ihre  Ursachen;  aber  ebensowol  vergieicht  sie  auch  t 
Ritter,  nur  in  Bezug  auf  die  Folgen  ihrer  eigenthiimlichen  Be-  j 
schaffenheit.  Ritters  Grundgedanken  selbst  spricht  Peschel  \ 
darum  die  wissenschafbliche  Wahrheit  ab,  weil  dabei  das  allge-  t 
mein  giltige  Gesetz:  „gleiche  Ursachen,  gleiche  Wirkungeri**  - 
nicht  allenthalben  durchfthrbar  sei. 

Die  letzten  Aufsatze  betreffen  die  Darwinsche  Frage,  liegen 
also  dem  Zweck  dieser  Zeitschrift  ganz  feme ;  heutzutage  wiirde 
sie  Peschel  vermuthlich  ohnehin  anders  schreiben  gegeniiber  der 
iibei-sturzten  Entwicklung,  welche  die  Darwinsche  Schule,  in 
Deutschland  wenigstens,  charakterisiert. 
Strassburg.  Dr.  SchadeL 


Dnick  von  OskAr  Bonde  in  Altenbnrg. 

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LXIV. 
Undenschmitt,  Heinrich,  Schliemann's  Ausgrabungen  in  Troja 
and  Mykenae.     Yortrag  gehalten  im  Vereine  zur  Erforschung 
rheinischer   Geschichte   und  Alterthiimer.     8.    (38   S.)     Mainz 
1878.  Victor  v.  Zabern.     1  M. 

Die  vorliegende  kleine  Schrift,  urspriiiiglicli  ein  Vortrag, 
kann  alien  denjenigen,  welch e  schnell,  ohne  sich  in  die  weit- 
schichtigen  Publicationen  Schliemanns  selbst  vertiefen  zu  wollen, 
sich  fiber  die  wissenschaftlichen  Unternehmungen  desselben  und 
deren  Ergebnisse  unterrichten  wollen,  auf  das  beste  empfohlen 
werden.  Nach  einem  kurzen  Ueberblick  iiber  die  anderen  grossen 
antiquarischen  Entdeckungen,  welche  das  letzte  Jahrhundetft  ge- 
biacht  bat,  schildert  der  Verf.  zunachst  das  Vorleben  Schfie- 
maims  und  dann  die  beiden  grossen  Unternehmungen  desselben, 
welche  von  ihm  mit  gleicher  Opferfreudigkeit  wie  Energie  ins 
Werk  gesetzt,  zu  so  interessanten  Funden  gefuhrt  haben,  die 
Ausgrabungen  in  Troja  und  Mykenae.  Er  beschreibt  zunachst 
die  Localitat  der  Landschaft  Troas,  schildert  darauf  die  Schwierig- 
keiten  und  Hindernisse,  welche  theils  die  Ignoranz  und  Habsucht 
der  tiirkischen  Beamten,  theils  die  natiirlichen  Verhaltnisse  dem 
begeisterten  und  kiihnen  Forscher  entgegengestellt  haben,  und 
berichtet  dann  iiber  die  Ergebnisse  seiner  Ausgrabungen  in 
Hissarlik,  besonders  iiber  die  zahlreichen  Gefasse,  Gerathschaften 
und  anderweitigen  Erz^ugnisse  der  Kunst  und  Industrie  ver- 
achiedener  Perioden,  welche  dort  gefunden  worden  sind,  er  be- 
schreibt endlich  genauer  den  Hauptfund,  den  Schatz  aus  Gegen- 
standen  von  Gold,  Silber  und  Bronze,  welchen  noch  zuletzt  ein 
glucklicher  Zufall  in  Schliemanns  Hande  gebracht  hat.  Dann 
folgt  in  ahnlicher  Weise  zunachst  wieder  eine  Debersicht  iiber 
die  Localitat  des  alten  Mykenae,  dann  eine  Beschreibung  der  von 
Schliemann  dort  ausgefiihrten  Arbeiten  und  seiner  Entdeckungen, 
endlich  eine  genauere  Aufzahlung  des  grossen  Schatzes  von  goldenen 
Schmucksachen,  Gefassen  und  anderen  Gegenstanden,  welchen  er 
wieder  ganz  zuletzt  aus  den  Felsengrabern  zu  Tage  gefordert 
bat  ©er  Verf.  schliesst  mit  dem  Hinweis  auf  den  hohen  Werth 
dieser  Entdeckungen  fiir  die  Beurtheilung  der  Bildungsanfange 
des  hellenischen  Volkes  und  des  Zusammenhanges  derselben  mit 
der  phonicischen  und  agyptischen  Cultur,  ein  entscheidendes 
Urtheil  iiber  die  Deutung,  welche  Schliemann  selbst  denselben 
gegeben  hat,  wird  nicht  ausgesprochen. 

Berlin.  F.  Hirsch. 

LXV. 

Droysen,  Job.  Gust.  Geschichte  des  Heilenismus.    Erster  Theil. 

6eschichte  Alexanders  des  Grossen.    2.  Auflage.    Halbband 

1  und  II    8.  (X  u.  400,  420  S.)    Gotha  1877,  F.  A.  Perthes. 

Die  Geschichte  Alexanders  des  Grossen,  mit  welcher  H.  Droysen 

im  Jahre  1833  die  Reihe  seiner  grosseren  historischen  Arbeiten 

UUtheUnugen  a.  d.  histor.  Litterator.    VI.  19 

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290  Droysen,  Joh.  Gust,  Geschichto  des  Hellenismus.    I. 

eroflhete,  war  ein  Werk,  welches  schon  damals  das  grosse  Talent 
seines  Verfassers  erkennen  liess.  Mit  begeisterter  Hingabe  an 
seinen  Gegenstand,  voll  Bewunderung  ebenso  fiir  das  militarische 
Genie  wie  auch  fiir  die  politische  Grosse  Alexanders  hatte  er  in 
demselben  in  lebendiger  und  schwungvoller  Darstellung  die  Thaten 
und  die  Ideen  desselben,  den  Character  des  Konigs,  seiner  Ge- 
nossen  und  seiner  Gegner  geschildert;  ohne  genauere  Rechen- 
schaft  iiber  den  Zustand  der  Ueberlieferang,  iiber  den  Werth  der 
Quellen  und  das  Verhaltniss  derselben  zu  einander  abzulegen, 
hatte  er  doch  mit  kritischem  Scharfsinn  die  besseren  und  zuver- 
lassigeren  unter  diesen  Quellen  erkannt  und  dieselben  seiner  Dar- 
stellung zu  Grunde  gelegt ;  mit  besonderer  Sorgfalt  hatte  er  die 
geographischen  Verhaltnisse  behandelt,  mit  Hiilfe  der  Berichte 
der  Alten  und  neuerer  Reisenden  das  Bild  der  Landschaften, 
welche  Alexander  durchzogen  und  wo  er  seine  Kampfe  gefiihrt, 
gezeichnet  und  dadurch  den  historischen  Schilderungen  Anschau- 
Hchkeit  und  Naturwahrheit  verliehen.  Allerdings  aber  zeigte 
dieses  Buch  auch  manche  Schwachen,  wie  sie  Jugendarbeiten 
gerade  besonders  talentvoller  Schriftsteller  anzuhaften  ptlegen. 
Bei  dem  ungestiimen  Eifer,  mit  welchem  er  gearbeitet,  hatte  er 
manche  Fliichtigkeitsfehler  und  Irrthiimer,  manche  zwar  zuver- 
sichtlich  vorgetragene  aber  wenig  begriindete  Behauptungen  in 
seine  Darstellung  einfliessen,  in  der  Begeisterung  fiir  seinen 
Helden  hatte  er  sich  zu  manchen  wenig  bedachten  und  geradezu 
ungerechten  Urtheilen  iiber  Gegner  desselben  fortreissen  lassen, 
und  gerade  diese  Schwachen  sind  damals  von  grimmigen  Kritikern 
hervorgekehrt  und  schonungslos  gegeisselt  worden.  Jetzt,  nacb 
fast  45  Jahren,  hat  uns  der  Verfasser  diese  seine  Jugendarbat 
zusammen  mit  denFortsetzungen,  welche  er  derselben  bald  nach- 
her  gegeben  hatte,  der  Geschichte  der  Nachfolger  Alexanders 
und  der  Bildung  des  hellenischen  Staatensystems ,  in  neuer  Be- 
arbeitung  vorgefiihrt.  Der  Titel:  „Geschichte  des  Hellenismus", 
welchen  er  friiher  nur  jenen  Fortsetzungen  gegeben  hatte  >  ist 
jetzt  auch  auf  die  Geschichte  Alexanders  ausgedehnt  worden, 
diese  bildet  jetzt  den  ersten  Theil  des  Gesammtwerkes.  Iter 
bequemeren  Benutzung  und  grosseren  Handlichkeit  wegen  sind 
die  3  Theile,  welche  friiher  je  einen  sehr  starken  Band  bildeten, 
jeder  in  2  Halbbande  zerlegt  worden,  und  die  Perthes'sche  Ver- 
lagsbuchhandlung  hat  dafiir  Sorge  getragen,  dass  auch  fan  Druck 
und  der  gesammten  ausseren  Ausstattung  der  Fortschritt  der 
Zeit  zum  Ausdruck  gekommen  ist.  In  der  kurzen  Vorrede  zn 
dem  ersten  Theile,  der  Geschichte  Alexanders,  auf  welche  wir 
hier  in  dieser  Anzeige  uns  vorlaufig  beschranken,  bemerkt  der 
Verf.:  Die  neue  Ausgabe  „ist  nicht  die  blosse  Wiederholung  der 
friiheren,  noch  will  sie  eine  neue  Arbeit  sein  oder  die  frubere 
in  dem  weiten  (Jmfang,  den  di^  Vorrede  der  Diadochen  1836  be- 
zeichnet  hatte,  zu  Ende  fiihren",  er  erklart  aber,  dass  der  Ge- 
danke,  den  er  damals  darlegen  wollte,  ihm  auch  heute  nocb 
richtig  und  sachgemass  erscheine,    rdie  friihere  Darstellung,  so 

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Droysen,  Joh.  Gust,  Geachichte  des  Hellenismus.    I.  291 

weit  es  mir  moglich  war,  berichtigend  und  erganzend,  habe 
ich  denselben  bestimmter  auszupragen  und  sicherer  zu  begriinden 
yenucht.  Freilich  das  Bedenkliche  und  in  gewissem  Sinne 
Triigerische,  das  die  erzahlende  Form  der  Darlegung  so  unzu- 
langlich  iiberlieferter  Ereignisse  hat,  vermochte  die  neue  Be- 
arbeitung  nicht  zu  beseitigen,  wenn  sie  nicht  diese  Form  selbst 
aufgeben  wollte.  Es  musste  geniigen,  theils  in  den  Anmerkungen 
das  Maass  der  Sicherheit  und  Zulanglichkeit  der  Ueberlieferungen 
anzudeuten,  theils  in  besonderer  Ausfuhrung  einzelner  wich tiger 
Pimkte  festzustellen,  wie  weit  mit  dem  historischen  Material,  das 
ubs  noch  vorliegt,  zu  kommen  ist.  Die  Beilagen  geben  einige 
solche  Untersuchungen,  andere  habe  ich  anderweitig  veroflfentlicht". 
Mit  diesen  Worten  wird  der  Character  der  neuen  Bearbeitung 
YoDkommen  richtig  geschildert.  Der  Verf.  hat  an  dem  Grund- 
gedanien,  von  dem  er  friiher  ausgegangen  ist,  festgehalten;  ob- 
wohl  im  Gegeiisatz  gegen  fast  die  gesammte  Tradition  des 
Alterthums,  ist  er  auch  jetzt  iiberzeugt,  dass  Alexander  in  be- 
wusster  Weise  eine  welthistorische  Mission  zu  erfullen  gesucht, 
dass  er  von  vorne  herein  nicht  nur  die  Eroberung  des  Orients, 
sondern  auch  eine  Verschmelzung  des  orientalischen  und  griechischen 
Wesens  beabsichtigt  hat  und  dass  von  diesem  grossen  Gedanken 
seine  einzelnen  Massregeln,  auch  diejenigen,  durch  welche  er  den 
macedonischen  und  hellenischen  Geist  so  schwer  verletzt  hat,  die . 
Annahme  orientalischer  Sitten  und  persischen  Hofceremoniells,  aus- 
gegangen sind.  Er  hat  es  verstanden,  seinem  Werke  den  Haupt- 
reiz,  welchen  es  friiher  besass,  die  Jugendfrische,  die  lebhaite, 
toh  Begeisterung  erfiillte  Darstellung  zu  bewahren,  er  hat  aber 
anderereeit8  einmal  verschiedene  einzelne  Irrthiimer  und  Ver- 
sehen,  welche  ihm  friiher  nachgewiesen  worden  waren,  berichtigt 
und  entsprechend  dem  jetzt  genauer  erkannten  und  durchforschten 
Zustande  der  Ueberlieferung  dieser  gegeniiber  eine  vorsichtigere 
Haltung  eingenommen.  Er  hat  ferner  den  Anmerkungen  eine 
weitere  Ausdehnung  gegeben,  in  ihnen  jetzt  fortlaufend  reichlicher 
wA  genauer  als  friiher  die  Angaben  des  Textes  begriindet, 
«»dlieh  hat  er  auf  das  sorgsamste  die  Arbeiten  Anderer,  welche 
wairend  jener  langen  Zwischenzeit  erschienen  sind,  benutzt  und 
wrwerthet.  Auf  Grand  derselben  hat  seine  Darstellung  nach 
drei  Seiten  bin  eine  Erweiterung  erfahren.  Erstens  ist  das  in- 
zwischen  neu  gefundene  Quellenmaterial,  bestehend  hauptsachlich 
in  Inschriften  und  Miinzen,  ausgebeutet  und  daraus  einige,  wenn 
ouch  nicht  sehr  zahlreiche,  neue  Nachrichten  und  Anschauungen 
gewonnen  worden.  Zweitens  hat  er  jetzt  ausfuhrlicher  und 
gnindlicher  die  friiher  nur  oberflachlich  behandelten  Ereignisse 
ttnd  Zustande  in  Griechenland  sowohl  vor  als  auch  wahrend  der 
Regierung  Alexanders  dargestellt.  Endlich  hat  er  drittens  die 
Schilderung  der  geographischen  Verhaltnisse,  auf  welche  er,  wie 
bemerkt,  schon  friiher  besondere  Sorgfalt  verwendet  hatte,  auf 
Grnnd  der  reichen  neueren  Litteratur  vervollstSndigt.  Als  An- 
tang  hat  er  diesem  Theile   zwei   gai\z  neue  Abschnitte  hinzuge- 

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292  Droysen,  Joh.  Gust.,,  Geschichte  des  Hellenisinus.    1. 

fiigt,  von  denen  der  cine  Bemerkungen  iiber  die  Chronologie, 
der  andere  iiber  die  verschiedenen  Arten  von  Quellen,  welche 
der  uns  erhaltenen  Ueberlieferung  zu  Grunde  liegen,  und  iiber 
die  Glaubwiirdigkeit  derselben  enthalt.  Wir  begleiten  im  Folgen- 
den  die  Darstellung  des  Verfassers,  um  im  Einzelnen  die 
wichtigeren  Veranderungen  und  Erweiterungen ,  welche  diese 
zweite  Bearbeitung  enthalt,  namhaft  zu  machen. 

Abweichend   von  der   friiheren  Eintheilung  in  9  Capitel  ist 
jetzt  die  Geschichte  Alexanders  in  4  Biicher  gesondert,  welche 
wieder   in  je  4  oder  3  Capitel  zerfallen.    Das  erste  Buch  reidt 
bis  zum  Aufbruche  Alexanders  nach  Asien,   also   bis  zum  Jahie 
334,  und  enthalt  zunachst  2  einleitende  Capitel.     Das  erste  der- 
selben   giebt    eine    Uebersicht    iiber    den    Gang    der    friiheren 
griechischen    und    persischen    Geschichte.     Die   Skizzirung   der 
griechischen  Geschichte  ist  ausfiihrlicher  als  friiher,  die  Hanpt- 
momente  sind   scharfer   hervorgehoben,  auch   die   friiher  ausser 
Acht  gelassenen  Ereignisse  im   griechischen  Westen,    in  Unter- 
Italien  und  Sicilien  sind  jetzt  beriicksichtigt ,    abweichend  gegen 
friiher   ist   namentlich  die  mildere,   gerechtere  Beurtheilung  des 
Demosthenes  (S.  33  f.).   Das  Resultat   dieser  Darlegung  aber  ist 
dasselbe  wie  friiher:   die  Freiheit   un<fr  Kleinstaaterei    Griechen- 
lands   hat  sich   iiberlebt,   die    von   Konig   Philipp  eingerichtete 
Bundesverfassung  ist  eine  gliickliche,  den  Bediirfnissen  der  Nation 
entsprechende,   durch   sie   ist  der  Haupttheil  derselben  geeinigt, 
innerer  Frieden  und  gemeinsame  Politik  nach   aussen    verbiirgt, 
den   einzelnen    Mitgliedern   des   Bundes   bleibt   ihre   communale 
Autonomie,    aber    die   Militarhoheit  und   die  Leitung   der  aus- 
wartigen  Politik  sind  an  das  Bundeshaupt,  den  machtigen  Konfc 
von  Macedonien,  iibertragen.     Der  Kampf  gegen  die  Barbaren  im 
Osten,   den  schon  Philipp  beabsichtigt   und   vorbereitet,  ist  far 
Griechenland   selbst    nothwendig,    durch    ihn    erhalten    die  der 
Heimat  gefehrlichen  Elemente  Gelegenheit   zu   neuer   wirkungs- 
voller  Thatigkeit.     Weniger   verandert   ist    die   Uebersicht  iiber 
die  persische  Geschichte,  etwas  ausfiihrlicher  wird  nur  die  Organi- 
sation des  Reiche8  durch  Darius  I.,  dann  der  Zug  des  jiingeren 
Cyrus   und  die  Theilung   Kleinasiens  in   eine  grossere  Zahl  tod 
Satrapien  durch  Artaxerxes  II.  behandelt,  vorsichtiger  als  friiher 
wird  dann  die  Ueberlieferung  iiber  die  Vorgange  am  Hofe  unter 
den  letzten  Konigen  mitgetheilt.    Das  Resultat  ist  auch  hier  das 
gleiche:  das  Perserreich   ist  verfallen  in  Folge  der  Erschlaffung 
der  Centralleitung  und  der  grosseren  Selbstandigkeit  der  Satrapien, 
die  ausseren  Erfolge   unter   den  letzten  Konigen  sind  nur  durch 
diplomatische  Kunst,  durch  Ausnutzung  der  Zerrissenheit  Griechen- 
lands  erreicht  worden,  Darius  III.  ist  eine  edle  Personlichkeit,  aber 
unfahig    das    zerriittete    Reich    gegen    die  jetzt  geeinte    Macbt 
Griechenlands  zu  schiitzen.     Das  zweite  Capitel,    die  Uebersicht 
iiber  die  Geschichte  Macedoniens  bis  zur  Thronbesteigung  Alexan- 
ders, ist  in  seinem  ersten  Theile  wesentlich  umgeandert,  die  Dar- 
stellung   der   alteren   Geschichte   ist    auf    Grund    der    neueren 

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Droysen,  Joh.  Gust.,  Geschichte  dea  Hellenismue.    I.  293 

Forschungen  berichtigt  und  erweitert.  Zum  Beweis  fiir  den 
griechischen,  pelasgischen  Ursprung  der  Macedonier  werden  die 
nenen  sprachlichen  Forschungen  herangezogen,  es  werden  die  alt- 
frankischen  Sitten  des  Volkes,  seine  Verfassung  geschildert,  es 
werden  die  Gefahren,  welche  dem  Konigthum  theils  durch  die 
nicht  fest  geordnete  Erbfolge,  theils  durch  die*an  jiingere  Prinzen 
rerliehenenoder  den  alten  Furs  ten  gelassenen  erblichenLehnsfursten- 
tiamer  drohten,  hervorgehobcn,  die  folgende  Darstellung  der  dyna- 
stischen  und  genealogischen  Verhaltnisse  ist  ganz  neu  auf  Grund  der 
Angaben  der  griechischen  Schrif  tsteller,  dann  aber  namentlich  auch 
der  Miinzen  und  Inschrifben  aufgebaut.  Dagegen  ist  der  zweite  Theil, 
dieDarstellung  der  Regierung  Philipps  II.,  wenig  verandert,  nur  sind 
die  Angaben  des  Textes  auch  hier  in  den  Noten  reichlicher  und 
genaoer  begriindet  und  einzelne  Punkte  theils  hinzugefugt  (S.  83 
die  Organisation  des  Nationalheeros,  S.  89  Anm.  die  Verhaltnisse 
der  epirotischen  Konigsfamilie),  theils  berichtigt  (der  Brief 
Philipps  an  Aristoteles  bei  Gelegenheit  der  Geburt  Alexanders 
wird  jetzt  S.  92  Anm.  2  als  Falschung  bezeichnet,  das  Ende  des 
Morders  Perdiccas  S.  99  anders  dargestellt,  der  Erlass  der  Steuern 
durch  Alexander  bei  seiner  Thronbesteigung  S.  101  auf  diejenigen, 
welche  im  Heere  dienten,  beschrankt).  Das  dritte  Capitel,  in 
welchem  die  Ereignisse  der  zwei  ersten  Regierungsjahre  Alexan- 
ders, die  Erneuerung  des  korinthischen  Bundes,  der  Feldzug  nach 
Thracien,  an  die  Donau  und  gegen  die  IUyrier,  dann  der  zweite 
Zng  nach  Griechenland,  die  Zerstorung  von  Theben  und  die 
zweite  Erneuerung  des  korinthischen  Bundes  dargestellt  werden, 
ist  in  der  Hauptsache  mit  der  fruheren  Bearbeitung  iiberein- 
sthnmend  geblieben,  nur  dass  auch  hier  die  Begriindung  in  den 
Anmerkungen  jetzt  cine  vollstandigere  ist,  namentlich  sind  fur  die 
griechischen  Ereignisse  die  Inschriften  verwerthet,  und  fiir  die 
Feldziige  die  geographischen  Verhaltnisse  naher  erlautert.  Von 
Einzelnheiten  fthren  wir  noch  an  die  jetzt  (S.  Ill)  hinzugefugte 
Sotiz,  dass  Delios  von  Ephesos,  von  den  asiatischen  Griechen  ge- 
s^dt,  Alexander  zum  Kriege  gegen  die  Perser  gedrangt  habo, 
die  Nachrichten  (S.  114)  liber  die  Fortschritte  des  unter  Par- 
fflcnio  nach  Asien  vorausgesandten  Corps,  die  abweichende  Be- 
fechnung  (S.  119  Anm.  3)  der  Starke  des  Heeres,  mit  welchem 
Alexander  nach  Thracien  auszog  (ca.  20,000  Mann) ,  die  genaueren 
Angaben  (S.  133  ff.)  iiber  den  Antheil  des  Demosthenes  an  den 
unruhigen  Bewegungen  in  Griechenland,  endlich  die  auf  die 
Analogic  anderer  griechischer  Bundesvertrage  gegriindete  Ver- 
mathung  (S.  140  Anm.  2),  dass  das  Urtheil  gegen  Theben  auf 
Grund  eines  Artikels  der  Bundesacte  gef  allt  sei. 

Das  zweite  Buch  erzahlt  den  Feldzug  Alexanders  in  Asien 
bis  zum  Tode  des  Darius  (330).  Ein  erstes  Capitel  innerhalb 
desselben  schildert  zunachst  die  Vorbereitungen  zum  Kriege. 
Der  Anfang  ist  fast  ganz  neu.  Der  Verf.  behandelt  dort  die 
Frage,  ob  Alexander  wie  ein  Abenteurer,  oder  ob  er  mit  einem 
festen  Plane  ausgezogcn  sei,  zum  Beweise  fiir  das  letztere  weist 

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294  Droyaen,  Joh.  Gust.,  Geachichte  des  Hellenismus.    I. 

er   auf  die   von   Alexander   neu  eingeffihrte   Mfinzordnung  tin, 
durch  welche  im  Gegonsatz  gegen  die  von  seinem  Vater  begriindete 
Doppelwahrung  zu  der  reinen  Silberwahrung  zuriickgokehrt  wurde. 
Er   erkennt    hierin    eine   Kriegserklarung    gegen   das   persisehe 
Mtinzsystem,   zugloich   vermuthet   er,   dass  Alexander   damit  zu 
Anfang  eine  gliickliche  Finanzoperation  gemacht  habe.    Auch  die 
Uebersicht  fiber   den  Machtbereich  Alexanders,   fiber  die  seiner 
Herrschaft   unterworfenen    Gebiete    und    die   verschiedenartigen 
Zustande    in    denselben,    ist    neu.      Dagegen    ist    die    folgeife 
Schilderung    der    macedonischen    Kriegsmacht   im    Grossen  vA 
Ganzen  mit  der  in  der  ersten  Auflage  gegebenen  iibereinstimmed 
nur  werden  hier  zum  Schluss  die  Eigenthfimlichkeiten  der  Arm 
Alexanders :  verhaltnissmassig  grosse  Zahl  der  Reiterei   und  das 
Vorhandensein   eines    wirklichen  Officierstandes   pracisirt,  dam 
wird  darauf  hingewiesen,  dass  der  Reiterdienst  bei  den  Griechen 
und  Macedoniern,    da  denselben  Steigbfigel,  Hufeisen  und  Sattel 
unbekannt  waren,  cin  ungleich  schwierigerer  gewesen  ist,  endM 
wird  hervorgehoben,   dass  erst  Alexander  die  voile  Offensivkraft 
des  macedonischen   Heeres  zu   benutzen  verstanden    habe.    Die 
Schilderung  der  Zustande  des  persischcn  Reiches  ist  Wiederholung 
des  in   der  ersten  Auflage  Gesagten,   auch   die  Darstellung  des 
Feldzuges  Alexanders  in  Kleinasien,  der  Schlacht  am  Granicus, 
des  Zuges  langs  der  Wcstkfiste,  der  Belagerung  von  Halicaniass, 
dann  des  Marsches  durch  Lycien,  Pamphylien  und  PisidieB  nach 
Gordium  stimmt  mit  der  fruheren  fiberein,  nur  ist  (S.  220)  eine 
kurze  Schilderung  der  Bundesverfassung  von  Lycien  eingesehobeu, 
dann  (S.  225  ff.)  die  Lage  einiger  Ortschaften  in  Pamphylien  uwJ 
Pisidien    genauer   bestimmt.     Neu    ist   wieder    der    Schluss  te 
Capitels,   eine  Darstellung   der  Organisation   der  Verwaltung  ia 
den  neueroberten  Landschaften.    Der  Verf.  zeigt,   dass  dieselbe 
von  vorne  herein  auf  dauernde  Besitznahme  berechnet  war.   Die 
Satr^pie  vrurde  beibehalten,  aber  die  Amtsbefugniss  der  Satrapea 
eng  umschrankt,   ihnen   selbstandige   militarischo  und  Finanzbe- 
horden  zur  Seite  gestellt.    Den  bcstohenden  organisirten  Gemeinden 
wurde   ihre   communale   Selbstandigkeit   gelassen,    sio    behielten 
auch  eigenes  Mfinzrecht,   nur  einzelne  von  den  griechischen  Ge- 
meinden  Kleinasiens   wurden   in  den   korinthischen  Bund  anfge- 
nommen,   andere  wurden  zu   eigenen  Biindnissen  vereinigt.    Das 
zweite  Capitel  schildert  zunachst  fibereinstimmcnd  mit  der  friiheren 
Bearbeitung  die  Vorgange  auf  persischer  Seite,  dio  Unternehmungen 
Memnons  und  die  Rfistung  des  persischen  Reichsaufgebotes,  dann 
ebenso  den  Marsch  Alexanders   von  Gordium   nach  Cilicien  und 
die  Schlacht  bei  Issus   (S.  247   sind  wieder   die  geographischen 
Verhaltnisse  des  Marsches  fiber  den  Taurus  genauer  festgestellt, 
S.  267    ist    eine   Berechnung   der  Verluste   macedonischer  Seits 
angestellt).     Neu   hinzugeffigt   sind   die  Angaben   (S.  271,  274) 
fiber  die  gleichzeitigen  Bewegungen  in  Griechenland  und  (S.  277) 
fiber   die   Ordnung  der   Verhaltnisse   in   Cilicien.     Die   folgende 
Erzahlung   des  Marsches   durch   Phoenicien,  der  Eroberung  ron 

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Droysen,  Joh.  Gust.,  Geschichte  des  Helleniamus.    L  295 

Tyros  und  Gaza ,  dann  der  Unterwerfung  von  Aegypten  ent- 
spricht  ganz  der  friiheren  Bearbeitung,  neu  eingeschoben  sind 
(8.  301  fF.)  Angaben  iiber  die  Organisation  von  Syrien  und 
Phoenicien.  Ans  den  Miinzen  der  dortigen  Stadte,  von  denen 
eine  verhaltnissmassig  grosse  Zahl  durch  den  Fund  von  Saida 
1863  bekannt  geworden  ist,  erhellt,  dass  dieselben  nicht  wie  die 
Stadte  in  Kleinasien  autonom  geblieben  sind,  sie  haben  nur  mit 
Alexanders  Typen  Geld  pragen  diirfen,  einzelne  unter  ihnen  (Ake 
nod  Arados)  datiren  seit  der  Befreiung  von  der  persischen  Herr- 
schaft  durch  Alexander  eine  neue  Aera.  Auch  der  Haupttheil 
des  dritten  Capitels,  die  Schilderung  der  neuen  Riistungen  des 
Darius,  der  Vernichtung  des  Restes  der  persischen  Flotte  im 
igauschen  Meere,  des  Zuges  Alexanders  nach  Ammonium,  dann 
seines  Marsches  durch  Mesopotamien ,  der  Schlacht  bei  Gangamela, 
der  Einnahme  von  Susa  und  Babylon  und  des  Zuges  nach  Persia, 
stzmmt  in  der  Hauptsache  mit  der  friiheren  Darstellung  iiberein. 
Neu  sind  die  Betrachtungen  (S.  320  ff.)  iiber  den  Zweck  des 
Zuges  nach  Ammonium,  der  Verf.  weist  darauf  hin,  dass  Alexander, 
der  aufgeklarte  Schiiler  des  Aristoteles,  dort  eine  ahnliche  ver- 
tiefte  Gotteslehre,  wio  die  von  Brugsch  publicirte  Inschrift 
Darras  II.  zeige,  vorgefunden  habe,  er  meint,  dass  die  Priester  des 
Amnion  in  voller  Ueberzeugung,  gemass  der  tieferen  Symbolik,  in 
welcher  sie  die  alte  Gotteslehre  fassten,  Alexander  als  den  Sohn 
des  Gottes  begriisst  haben.  Der  Weg  Alexanders  von  Gangamela 
nach  Babylon  (S.  343  Anm.  1) ,  ferner  sein  Zug  von  Susa  durch 
die  persischen  Gebirge  nach  Persepolis  (S.  343.  345)  wird  wieder 
nach  den  neueren  geographischen  Forschungen  genauer  bestintmt, 
doch  hat  der  Verf.  die  Ergebnisse  der  Untersuchungen  von  Z oiling 
nicht  angenommen.  Neu  hinzugef  iigt  sind  am  Schluss  (S.  362  ff.) 
Betrachtungen  iiber  die  Frage,  warum  Alexander  erat  oder  schon 
in  Persepolis  mit  der  Verbrennung  des  Konigspalastes  symbolisch 
die  Vernichtung  #  der  Achamenidenmacht  habe  declariren  wollen. 
Der  Verf.  vermuthet,  dass  Alexander  nach  der  Schlacht  bei 
Gangamela  bereit  gewesen  sei,  mit  Darius  Frieden  zu  schliessen, 
gich  mit  dom  Besitz  der  westlichen  Landschaften  vom  mittel- 
landischen  Meere  bis  zu  den  Bergen  Irans  zu  begniigen,  erst 
weil  Darius  die  erwarteten  Friedensantrage  nicht  gemacht,  habe 
er  sich  entschlossen,  die  Achamenidenherrschaft  vollstandig  zu 
veraichten.  Im  vierten  Capitel  wird  Alexanders  Marsch  nach 
Hedien,  die  Flucht  des  Darius,  seine  Ge&ngennehmung  durch 
Bessus,  die  Verfolgung  Alexanders  und  Darius'  Ermordung  ganz 
ahnlich  wie  in  der  ersten  Ausgabe  erzahlt,  nur  dass  auch  hier 
die  geographischen  Verhaltnisse  genauer  dargestellt  sind,  S.  379 
weist  der  Verf,  darauf  hin,  dass  durch  die  Ermordung  des  Darius 
fur  Alexander  die  Moglichkeit  ernes  Abschlusses  seiner  Eroberungs- 
laufbahn  abgeschnitten  worden  sei,  dass  er  jetzt  dem  Usurpator 
Bessus  gegeniiber  die  Majestat  des  persischen  Konigthums  habe 
rachon  miissen.  Umgearbeitet  und  genauer  ausgefiihrt  ist  am 
Schluss  die  Darstellung  der  Ereignisse  in  Griechonland ,  es  wird 

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296  Droysen,  Joh.  Gust,  Geschichte  des  Hollenismus.    L 

jetzt  auch  hier  das  Endedes  Konigs  Alexander  von  Epirus  inUnter- 
italien  berichtet,  dann  theils  aus  Inschriften,  theils  aus  den  Nach- 
richten  bei  Curtius  und  Diodor  der  Zusammenhang  zwischen 
dem  Aufstande  in  Thracien  und  den  Unruhen  in  Griechenland 
ermittelt,  die  Parteikampfe  in  Athen,  dann  die  Erhebung  des 
Konigs  Agis  von  Sparta  und  seine  Niederlage  und  sein«Tod  bei 
Mantinea  geschildert,  endlich  darauf  hingewiesen,  dass  auch  nach 
dioser  Katastrophe  in  Athen  die  Erbitterung  iiber  die  mace- 
donische  Herrschaf  t  sich,  freilich  in  sehr  niohtigen  Demonstration^ 
geaussert  habe. 

Das  dritte  Buch,  mit  wcjchem  der  zwoite  Halbband  begin^ 
erzahlt  in  4  Capiteln  den  Zug  Alexanders  durch  die  nordlichea 
iranischen  Landschaften,  seine  Kampfe  inBactrien  und  Sogdiana 
und  den  indischen  Feldzug  (330 — 326).   In  dem  ersten  Capitel,  der 
Darstellung  des  Marsches  durch  die  Provinzen  Areia,  Drangiana, 
Arachosia  und  das  Gebiet  der  Paropamisaden,  sind ,  abgesehen  you 
der  genaueren  Fixirung  der  Localitaten  in  den  Anmerkungen,  nor 
zwei  Punkto  zu  orwahnen,  von  donen  der  eine  hier  eine  veranderte 
Bearbeitung  erfahren  hat,  der  andere  neu  hinzugefiigt  worden  ifit: 
die  Verschworung  des  Philotasunddie  Veranderungen  in  dem  Heer- 
wesen.   Was  den  ersten  anbetrifft,  so  entwickelt  der  Verf.  hierge- 
nauer  (S.  13  ft)  das  Motiv  der  Missstimmung  der  Macedonier  gegen 
ihren  Konig,  dessen  Gedanken,  durch  eine  Verschmelzung  des  orien- 
talischen  und  griechischen  Wesens  sein  Weltreich  auf  fester  Basis 
zu  begriinden.     Er  zeigt,   wie  Alexander  mit   diesem    Gedanken 
iiber  die  Anschauungen  seines  Lehrers  Aristo teles  hinausgegangenist, 
welcher  nur  die  Hellenen  fiir   der  besten  Staatsform  fahig  nod 
wiirdig   erklart,  die  Barbaren  dagegen  wie  Thiere  und  PflaeaoD 
will   behandeln   lassen,    cr   zeigt   aber  auch,   welche  Schwierig- 
keiten   sich    der    Verwirklichung   dieses   Planes   entgegengestellt 
haben.    Die    Entdeckung   der   Verschworung   des  Philotas  und 
seinen  Process   erzahlt   er  dann  wie  in  der  ersten  Auflage  nach 
den  Berichten  des  Diodor, XJurtius  und  Plutarch,  doch  behandelt 
er  jetzt  diese  Ueberlieferung  vorsichtiger,  er  lasst  es  dahingestellfc 
(S.  21),  ob  diese  Erzahlung  der  Wahrheit  entspreche  und  ebenso 
(S.  28),  ob  das  Gericht  iiber  Philotas  gerecht  und  die  Ermordflng 
Parmenios  eine  politische  Nothwendigkeit  gewesen  set   Neu  hhtfth 
gefiigt  sind  die  Bemerkungen  (S.  29  ft)  iiber  die  Veranderungen 
in  der  Formation  der  Armee,  welche  den  doppelten  Zweck  gehabt 
haben  sollen,  dieselbe  fiir  den  weiteren  Kampf  noch  beweglicher 
zu  machen   und  asiatische   Truppen   in   sie  aufzunehmen.    Was 
die  Alexander  so  sehr  verdachte  Einf iihrung  orientalischer  Tracht 
anbetrifft,  so  weist   der  Verf.  darauf  hin,   dass  vielleicht  dabei 
klimatische  Riicksichten  massgebend  gewesen  sind.   In  dem  zweiten 
Capitel,  der  Darstellung  des  Aufenthaltes  Alexanders  und  seiner 
Kampfe  in  Bactrien   und  Sogdiana,   sind   es   einmal   wieder  die 
geographischen  Verhaltnisse,  fiir  welche   fortlaufend  die  neueren 
Forschungen   verwerthet  sind  (S.  46 — 47   ist   eine  anschauliche 
Schilderung  der  Landschaft  Sogdiana  in  den  Text  eingeschaltet), 


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Droysen,  Joh.  Gust.,  Geschiohte  d«s  Hellenismus.    I.  297 

dann  wird  neu  (S.  44  f.  und  82)  die  Organisation  jener  Gebiete 
geschildert.  Dieselben  werden  nicht  unmittelbar  mit  dem  Reiche 
Alexanders  vereinigt,  sondern  sie  werden  an  Lehnsfiirsten  ge- 
geben  und  sollen  ah  Grenzmark  des  Reiches  dienen.  Abweichend, 
wcnigrtens  vorsichtiger  als  friihor,  werden  dann  noch  zwei  Punkte 
behaodelt:  die  Ermordung  des  Klitus  und  das  Ende  des  Kalli- 
sthenes, Was  die  erstere  anbetrifft,  so  wiederholt  zwar  der  Verf. 
die  Angaben  der  Quollen ,  bemerkt  aber  (S.  73),  dass  dieselben 
aflicht  genligen,  den  wirklichen  Verlauf  des  Ereignisses,  noch 
weniger  zwischen  dem  Morder  und  dem  Ermordeten  das  Maass 
der  Schuld  festzustellen".  Auch  Kallisthenes  gegeniiber  ist  jetzt 
das  Urtheil  des  Verf.  ruhiger  und  bedachtiger,  nur  mit  einem: 
*er  soil  gesagt  haben"  wird  S.  88  die  hochrniithige  Aeusserung 
deaelben,  er  sei  zu  Alexander  gekommen,  nicht  urn  sich  Ruhm 
2Q  verschaffen,  sondern  um  ihn  beriihmt  zu  machen,  angefiihrt, 
diefriihere  wenig  begriindete,  sehr  ungiinstige  CharacterschUderung 
dea  PhiloBophen  ist  ganz  weggelassen,  die  Ueberlieferung  iiber 
die  Veranlassung  der  Entzweiung  zwischen  demselben  und  dem 
Konige  wird  wieder  mit  vorsichtiger  Zuriickhaltung  angefuhrt, 
aach  die  Mitschuld  des  Kallisthenes  an  der  Yerschworung  des 
Hermolaus  wird  jetzt  nicht  so  bestimmt  wie  friiher  behauptet. 
Das  dritte  und  vierte  Capitel,  die  Schilderung  des  Feldzuges 
Alexanders  nach  Indien,  sind  in  der  Hauptsache  unverandert  ge- 
blieben,  auch  die  schon  friiher  mit  vieler  Sorgfalt  behandelten 
geographischen  Verhaltnisse  haben  hier  nur  wenige  Berichtigungen 
undAenderungen,  namentlich  durch  Verwerthung  der  Forschungen 
wn  Lassen  und  Cunningham  erfahren  (s.  S.  103  die  kurze 
Schilderung  des  Kabullands,  dann  die  veranderten  Angaben  S.  123 
iiber  die  Lage  von  T^xila,  S.  152  iiber  die  Hauptstadt  der 
Mailer,  S.  190  iiber  das  sogdische  Alexandrien,  S.  200  iiber 
die  Lage  von  Pattala). 

In  dem  vierten  Buche  erzahlt  das  ersteOapitel  ganz  ahnlich 
wie  friiher  den  Marsch  Alexanders  durch  Gedrosien,  die  Seefohrt 
fosNearch,  die  Riickkehr  Alexanders  nach  Persis,  das  Straf- 
gericht  iiber  die  ungetreuen  Satrapen,  die  grosse  Hochzeitsfeier 
in  Susa  und  die  weitere,  durch  die  Aufnahme  zahlreicher,  in- 
zwischen  ausgebildeter  asiatischer  Truppen  veranlasste  Ver- 
anderung  der  Heeresorganisation.  Auch  der  Anfang  des  zweiten 
Capitels,  die  Schilderung  des  Soldatenaufruhrs  in  Opis  und  der 
Heimkehr  der  Veteranen  ist  unverandert  geblieben,  dagegen  ist 
der  spatere  Theil  dieses  Capitels  erheblich  umgearbeitet  worden. 
Der  Verf.  behandelt  hier  einmal  genauer  als  friiher  die  Verhalt- 
ni»e  in  Griechenland,  namentlich  auf  Grand  der  Untersuchungen 
S chafer's  die  Parteiumtriebe  in  Athen,  die  harpalischen  Pro- 
®*Qi  welche  zu  der  Verurtheilung  des  Demosthenes  und  seiner 
Audit  aus  Athen  fiihren.  Ebenso  umgearbeitet  und  erweitert 
i*t  die  folgende  Darlegung  der  inneren  Politik  Alexanders.  Der 
Verf.  hebt  hier  noch  einmal  den  Gegensatz  zwischen  dem  Konige 
Bad  Aristoteles  hervor,  auch  Alexander  sei  Realist  gewesen ,  aber  er 

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298  Droysen,  Joh.  Gust.,  Geschichte  des  Hellenismus.    L 

sei  nicht  bei  den  friiher  gegebenen  Bedingungen  stehen  geblieben, 
er  hatte  durcb  seine  Siege  neue  geschaffen,  und  er  hatte  nun 
versucht  diesen  entspreohend  hellenisohe  und  orientalische  Guitar 
zu  veroinigen.  Freilich  sei  dieses  Friedenswerk  die  schwierigste 
von  alien  seinen  Unternehmungen  gewesen,  und  es  wird  dann 
auf  eine  dieser  Schwierigkeiten,  die  Nothwendigkeit  einer  neuen 
Regelung  der  BesitzverhSltnisse  in  Folge  der  Zuriickfiihriing  der 
Verbannten,  der  Colonisationen  und  neuen  Stadtegriindungen,  hija- 
gewiesen.  Aehnlicb  wio  in  der  ersten  Auflage  wird  dann  eiae 
Reihe  von  Veranderungen  angefiihrt,  welche  theils  sofort,  thfli 
allmahlich  durch  die  Tbaten  Alexanders  hervorgerufen  word* 
sind:  Entfesselung  der  friiher  todtgelegten  Reichthiimer,  Ad- 
bebung  des  Systems  der  Naturallieferungen ,  Umgestaltung  des 
wirthschaftlichen  Lebens,  Aufschwung  des  Handels,  Eroffnung 
neuer  Land-  und  Seewege,  dann  die  Volkermischung  und  ibre 
Folgen  fiir  Kunst,  Wissenschaft  und  die  sittlicben  Zustande 
der  verschiedenen  Nationen,  endlich  die  Theokrasie.  Das  letzte, 
dritte  Capitel  behandelt  den  Zug  Alexanders  nach  Medien,  dann 
seinen  Auf  brueh  nach  Babylon ,  seinen  dortigen  Auf  en  t  halt,  seine 
weiteren  Plane  und  seinen  Tod.  Auch  hier  stimmt  die  Dar- 
stellung  in  der  Hauptsache  mit  der  friiheren  iiberein,  fiir  den 
Marsch  bach  Medien  sind  wieder  die  neueren  geographisohen 
Forschungen  yerwerthet  worden,  eingehender  als  friiher  wird 
(S.  317  S.)  die  schon  durch  Arrian  angeregte  Frage  behandelt, 
ob  wirklich  unter  den  Gesandtschaften  fremder  Volker,  welche 
zu  Alexander  auf  seinem  Zuge  nach  Babylon  kamen,  auch  eine 
romische  sich  befunden  habe,  der  Verfasser  sucht  die  WahrsoheiD- 
lichkeit  davon  nachzuweisen.  Genauer  wird  auch  S.  303  ff.  & 
neue  Formation  des  Heeres  besprochen,  yon  welcher  der  Ved 
vermuthet,  dass  sie  „im  Hinblick  auf  die  Volker  Italiens"  ein- 
gefiihrt  sei.  Das  Ende  Alexanders  wird  ganz  wie  in  der  ersten 
Auflage  nach  den  Fragmenten  der  yEqnjfi€^tdeg  fiaoileioi,  ohne 
Beriicksichtigung  der  anderweitigen,  wenig  zuverlassigen  Ueber- 
lieferungen  geschildert. 

Von  den  zwei  Beilagon,  welche,  wie  schon  beinerkt,  jetet 
neu  der  Geschichte  Alexanders  hmzugefugt  sind,  fuhrt  die  erete 
die  Deberschrift :  „  Die  Chronologie  des  Todes  Alexanders. u  Diese 
Bezeichnung  ist  wenig  genau,  in  Wirklichkeit  zerfallt  dies©  Ah- 
handlung  in  zwei  verschiedene  Theile.  Die  erste  enthalt  Unter* 
suchungen  iiber  den  macedonischen  Kalender.  Der  Verf.  weist 
dort  zuiAchst  nach,  dass  diejenigen  Stellen,  namentlich  bei 
Plutarch ,  in  denen  neben  den  macedonischen  auch  die  attischea 
Monatsnamen  genannt  werden,  auf  welche  Jdeler  seine  Unter- 
suchungen  iiber  den  macedonischen  Kalender  gegriindet  hatte, 
sammtlich  unzuverlassiig  sind,  er  macht  dann  den  Versuch,  den 
Todestag  Alexanders  und  die  Zeit  seiner  Geburt  und  seines 
Regierungsanfanges,  welche  uns  in  macedonischen  Daten  iiberr 
liefert  sind  (28  Daisios  und  Anfang  des  Dios),  genau  zu  berechnen, 
er  kommt  abor  nur  zu  dem  Ergebniss,   dass  Alexanders  Gehurt 

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Drojsen,  Joh.  Gust.,  Qeschichte  des  Hellenismus.    I.  299 

ofid  seine  Thronbesteigung  in  die  Zeit  von  October  bis  December 
356  resp.  336  fallen  mussen.    Der   zweite  Theil  beschaftigt  sich 
mit  der  Chronologic  Diodors ,  es  wird  dort  darauf  .hingewiescn, 
zu  wie  zahlrcichen   Irrthiimern   Diodor   die   Gleichstellung   der 
attischen  Archonten-   mit  den  romischen  Consulnjahren,    welche 
letztere  er  noch  dazu  fur  jene  Zeit  irrig  mit  dem  1.  Januar  be- 
ginuen  lasst,   gefiihrt  hat,   es  wird  dann   auch  gleich   noch   an 
einigen  Beispielen   nachgewiesen,    dass    der   Text  Diodors    una 
nicht  in  seiner  urspriinglichen  Gestalt,  sondern  iiberarbeitet  nnd 
rerkurzt   vorliegt.     Die   zweite  Beilage:    „Die  Materialien    zur 
Gachichte  Alexanders"  beschaftigt  sich  mit  den  Originalquellen, 
aos  welchen  die  uns  vorliegenden  spateren  Schriftsteller  geschopft 
haben,  ohne  die  andere  Frage,  welche  der  Gegenstand  verschiedener 
anderer  Untersuchungen  in  neuorer  Zeit  gewesen  ist,  welchp  von 
jenen  Originalquellen  den  einzelnen  Autoren  yorgelegen,  und  wie 
ffl'e  dieselben   benutzt   haben,   zu   erortern.     Der  Verf.   sondert 
diese  Originalquellen    in   4   Gruppen.    Zu  der  ersten  zahlt  er 
sokhe  Publicationen,  welche  die  Ereignisse  selbst  begleitet  haben, 
Darstellungen  einzelner  Abschnitte  der  Kriegfiihrung,  bald  nach- 
hcr  in  rhetorischer  Form  abgefasst,  welche  die  im  macedonischen 
flauptquartier  herrschende  Auflassung  wiedergegeben  haben  und 
aaf  die  Gestaltung  der  offentlichen  Meinung  in  Griechenland  be- 
rechnet  waren.    Dazu   werden  namentlich  die  Darstellungen  des 
Kallisthenes  gerechnet,  der  Yerf.  sucht  wahrscheinlich  zu  machen, 
daw  dieselben  urspriinglich   abschnittsweise   herausgegeben   und 
erst  spater  zusammengestellt   worden   sind.     Die   zweite  Gruppe 
bilden  Berichte  an  den  Konig  iiber  einzelne  Vorgange,  dazu  ge- 
hort  namentlich  der  des  Nearch  iiber  sein  Flottencommando,  die 
dritte  Journale ,  fortlaufende  Aufoeichnungen,  theils  iiber  die  Vor- 
gange am  Hofe  (die  'Eqnjfieqideg  ftaolleioi,  yon  Eumenes  abgefasst), 
theils  iiber  die  militarischen  Actionen,  ahnlich  auch  die  memoiren- 
artigen  Aufzeichnungen   des  Chares  von  Mitylene.     Eine   vierte 
Gruppe  endlich  bilden  die  etwas  spater,  in  der  Zeit  der  Diadochen- 
&mpfc,  abgefassten  Darstellungen,  welche  theils  auf  eben  jenen 
eraten  Quellen,  daneben  aber  auch  auf  eigenen  Erinnerungen  der 
Verfasser   und  mundlicher   Ueberlieferung  beruhen,    die   Werke 
des  Kleitaroh,    Ptolemaeus   und  Aristobul,    alio    drei   werden 
tier  genauer   characterisirt.     Dazu  kommen   dann   urkundliche 
Quellen :  Vertrage,  Gesetzc,  Rechenschaftsablegungen  und  ahnliche 
theils  staatliche,   theils   communale,   theils   private  Actenstiicke, 
von  denen    uns   manche   durch    Inschriften  erhalten  sind,   dann 
Geschaftsjournale »     endlich     Briefe    und     Reden.      Die     beiden 
ktzteren  Arten  werden  hier  in  Bezug  auf  ihre  Aechtheit  genauer 
gepriift.    Von   Briefen   halt   der  Vert,   nur   diejenigen  fur  acht, 
welche    Arrian    und    Strabo     als    solche    anfiihren,    und    die- 
jenigen, welche  Diodor  dem  Hieronymus  von  Kardia  entnommen 
hat    Was   die  Reden  anbetrifFt,   so   weist  er  nach,  dass  nicht 
aur  diejenigen,  welche    sich   in  den  dor  kleitarchischen  Ueber- 
lieferung   folgenden    Schriftstellen    finden,    sondern    auch    die 


300         Wenzel,  Max,  Kriegswesen  u.  Heeresorganisation  d.  Bfimer. 

von   Arrian  mitgetheilten  nicht  auf  authentischer  Ueberlieferung 
beruhen,  sondern  freie  historische  Compositionen  sind. 

Berlin.  F.  Hirsch. 


LXVI. 
Wenzel,  Max,  Hauptmann  und  Compagnie-Chef  im  2.  hess.  Inf- 
Rgt.  No.  82,  Kriegswesen  und  Heeresorganisation  der  Romer. 

Eine  kriegsgeschichtliche  Studie.    gr.  8.    (VIII,  124  S.)    Berlin 
und  Leipzig  1877.  Luckhardt'sche  Buchhandlung.     2  M. 

Eine  Wiedergabe  des  Inhalts,  wie  sie  im  Plane  der  „Histori- 
Bchen  Mittheilungen"  liegt,  ist  bei  der  Verworrenheit  und  Dispo- 
sitionslosigkeit  dor  vorliegenden  Studie  nicht  wohl  moglich,  und 
eine  kritische  Bosprochung  derselben  liegt  ausserhalb  des  Rahmens 
der  „Mittheilungentt.  Uebrigens  geniigen  einige  Proben  des  In- 
halts zur  Wiirdigung  des  Ganzen. 

S.  8  heisst  es :  „Nach  Verlauf  dieser  Dienstjahre  trat,  jedoch 
noch  nicht  vollige  Befreiung  voni  Kriegsdienste  ein;  entweder 
wurden  sie  in  die  Colonieen  gesandt  —  eYOcati  —  wo  sie  Land 
erhielten  und  blieben"  etc. 

S.  9.  „Diese  Soldaten  (nemlich  die  von  Sulla  mit  „den 
Schatzen  und  Giitern  der  Besiegten  ausgestatteten")  welche  fast 
alle  in  Italien  begutert  und  angesessen  waren,  wurden  bene- 
ficiarii  —  Dotirte  —  genannt." 

S.  25.  „  Caesar  berichtet,  dass  sie  (nemlich  die  Barbaren) 
jede  Ausschmiickung  durch  Decken  fur  schimpflich  hielten.tt 

S.  41  wird  die  Entdeckung  gemacht,  dass  die  romischeo 
Soldaten  incl.  Schild  und  Speer  zwirnsfadendiinn  gewesen  seien, 
denn  die  Manipelfront  a  120  Mann  mit  je  1  ll2  Schritt  Abstand 
zwischen  den  Einzelnen  wird  auf  180  Schritt  borechnet. 

Ebendaselbst  werden  die  10  Manipeln  der  hastati  —  ein  jeder 
eine  lange  Linie  bildend  —  hintereinander  aufgestollt ;  als  zweites 
Treffen  folgen,  ebenso  originell  geordnet,  die  10  Manipeln  der 
principes. 

S.  43  wird  geschildert,  wie  sich  erst  die  hinteren  Hastaten- 
manipeln  nach  vorn  hindurchziehen  und  schliesslich  das  aufgeriickte 
zweite  Treffen  (der  principes)  dieselbe  Manipulation  durch  |die 
Hastatenmanipeln  hindurch  vornimmt.  In  diesem  Gekrabbel  haben 
die  velites  noch  Zeit  und  Raum,  sich  durch  die  einzelnen  Glieder 
hindurchzuschlangeln ,  urn  die  Verwundeten  zuriickzuschleppen, 
event.  Speere  herbeizuholen  etc. 

S.  47  operiert  Caesar  mit  velites. 

S.  48  heisst  eswortlich:  „Die  aus  den  Taktikern  ge- 
bildete  griechische  Armee  bestand  aus  16,000  Hopliten"  etc 

S.  57  wird  die  Zahl  der  „mannbaren"  Burger  zur  Zeit  des 
zweiten  punischen  Krieges  auf  137,000  Mann  angegeben,  wovon 
100,000  dienen. 

S.  58  heisst  es:  „Zu  ihren  Schlachtfoldern  wahlten  sie 
Ebenen  und  nie  scheinen  sie  sich  aus  Stellungen  etwas  gemacht 

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Hndemann,  Br.  £.  E.,  Geschichte  des  romisfchen  Postwesens.       301 

zq  haben;  and  zwar  aus  zwei  Griinden:  einmal  warden  die 
Schlachten  mit  blankeV  Waffe  im  Handgemenge  geschlagen,  wo- 
bei  es  sich  hochstens  darum  handelte,  dem  Gegner  die  Sonne 
und  den  Wind  abzugewinnen"  etc. 

Von  einem  locus  aequus,  iniquus  etc.  weiss  der  Verf.  also  nichts. 

Die  Seiten  60 — 62  enthalten  eine  Menge  willkiirlicher  Mass- 
angaben,  die  dafiir  aber  auch  atif  Centimeter  und  Millimeter 
genao  berechnet  sind. 

S.  66:  „Die  Republik  dachte  nur  an  Eroberungen;  ihre 
grossen  stehenden  Lager  waren  fast  stets  zum  Angriff  geeignet 
und  immer  vor  den  grossen  Stromen  angelegt,  um  zwischen  den 
Legionen  und  dem  Feinde  kein  Hinderniss  zu  lassen." 

8.  69:  „Doch  die  Liicke  (namlich  der  testudo)  wird  wieder 
geschlo8sen  und  auf  das  erste  Schilddach  ein  zweites,  ja  auch 
woU  ein  drittes  gehoben  und  der  Feind  auf  der  Mauer  sieht 
die  Anstiirmenden  in  gleicher  Hohe  mit  sich."  Bei  einer  etwa 
noting  werdenden  zweiten  Auflage  rathen  wir  dem  Herrn  Verf., 
diese  drei  Etagen  hohe  Schildkrote  doch  gleich  zu  einem  zehn 
Stockwerke  hohen  Schildkroten  -  Belagerungs  -  Turm  aus  alten 
Romero  zu  erweitern. 

Anderes  interessantes  Detail  wolle  der  launige  Leser  an  Ort 
and  Stelle  nachlesen.     Zum  Schluss   noch  die  Bemerkung ,   dass 
fat  alle  Citato  ungenau  oder  falsch  sind. 
Miihlhausen  i.  Thiir. 

Ot fried  Schambach. 


lxvh. 

Hwtamann,  Dr.  E.  E.,  Subrector  a.  D.,  Geschichte  des  rdmischen 
Postwesens  wShrend  der  Kaiserzeit.  8.  (VIII,  211  S.) 
Berl.  1875.  S.  Calvary  &  Co.  2  M. 
Das  romische  Postwesen  hat  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten 
^r  besonders  vielseitigen  Behandlung  zu  erfreuen  gehabt. 
Wahrend  Friedlander  in  seiner  Sittengeschichte  Roms ,  von  den 
Jjjfiwn  ausgehend,  Strassenanlagen ,  Postverbindungen  und  Gast- 
fctoser  soweit  zur  Darstellung  heranzieht,  als  sie  nothig  sind, 
^  un8  das  Bild  des  Reiselebens  der  damaligen  Zeit  im  Gegen- 
satz  zur  Gegenwart  zu  beleben  und  abzurunden,  behandeln  Roth- 
schild1) und  Hartmann2)  sie  im  Zusammenhang  der  geschicht- 
lichen  Entwicklung  der  Post  im  allgemeinen  und  legen  dem- 
gemass  besonderes  Gewicht  auf  die  Stellung  der  Beamten  und 
*&f  die  Organisation,  Stephan  3)  endlich  geht  in  seiner  kraftigen 
und  farbenreichen  Schilderung,  welche  dieses  StUck  antiken  Lebens 
^  toller  Korperlichkeit  vor  unserm  geistigen  Auge  wiedererstehen 

*)  Arthur  de  Rothschild,  Histoire  d.  L  poate  aux  lettres.  Paris  1873. 
^uueme  edition  1876,  T.  I,  p.  34—82. 

*)  Eug.  Hartmann,  Entwickelungsgesch.  d.  Posten.  Leipz.  1868,  S.  25—122. 

')  Stephan,  Ueber  d.  Verkehrsleben  im  Alterthum,  in  Banmers  histor. 
mchenbuch  fftr  1868,  S.  1—136. 

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302      Hudemann,  Dr.  fi.  E.,  Geschichte  des  r5mischen  Postweaens. 

lasst,  auch  ausfiihrlich  auf  die  Bedeutung  ein,  welcbe  die  Post 
der  Kaiserzeit  als  Mittel  und  Zeichen  des  damaligen  socialeii 
Zustandes  der  Mittelmeerlander  hat. 

Das  vorliegende  Buch  ist  aus  friiheren  Studien  und  klei- 
neren  Arbeiten  des  Verf.  hervorgegangen ;  es  schliesst  sich  am 
nachsten  an  die  Arbeiten  Rothschilds  und  Hartmanns  an,  betont 
aber  noch  mehr  die  antiquarische  Seite.  Ueberall  auf  den  ersten 
Quellen  fussend,  behaudelt  der  Verf.  mit  grosser  Genauigkeit 
die  Namen  und  Ausdriicke,  die  Lasten  und  Berechtigungen,  wekie 
sich  an  das  Postwesen  der  Kaiserzeit  kniipfen,  und  bestirat 
ihre  Bedeutung  in  den  verschiedenen  Jahrhunderten ,  sowie  & 
Abanderungen ,  die  sie  durch  die  wechselnde  Gesetzgebung  dei 
Kaiser  erfiihren.  Man  kann  ihm  nicht  das  Lob  versagen,  dase 
er   den   Stoff  im   wesentlichen   vollstandig  gesammelt    und  mit 

Shilologischer  Genauigkeit  bearbeitet  hat,  so  dass  sein  Werk 
em  Inhalte  nach  sich  vorziiglich  zum  Nachschlage-  und  Hand- 
buch  fur  dies  Gebiet  eignen  wiirde.  Um  so  mehr  ist  zu  be- 
dauern,  dass  demselben  hierfiir  jede  aussere  Handhabe  feblt 
Weder  besitzt  es  Register,  noch  Inhaltsverzeichniss ,  und  die 
ganze  Eintheilung  besteht  darin ,  dass  auf  den  ersten  54  Seiten 
eine  historisch  -  chronologische  Uebersicht  vorausgeschickt  wird, 
worauf  dann  in  ununterbrochenem ,  durch  keine  Kapitel- 
eintheilung  geregelten  Fluss  die  ausfiihrliche  Darstellung der 
Einzelheiten  folgt. 

In  der  Einleitung  erwahnt  der  Verf,  die  Einrichtungen  im 
Perserreiche  und  die  Griinde,  welche  eine  Entwicklung  der  Post 
in  Griechenland  verhinderten ,  und  geht  dann  zu  den  Keimen 
eines  geregelten  Postwesens  iiber,  die  bei  den  Romern  bald  inch 
dem  zweiten  punischen  Kriege  heryortreten.  Damals  wurden 
die  Bundesgenossen  zuerst  zu  bestimmten  Leistungen  an  die 
reisenden  Beamten  verpflichtet.  In  der  Kaiserzeit  wurden  die* 
Einrichtungen  dann  systematisch  erweitert  und  ausgebaut,  er- 
wuchsen  bald  zu  einer  der  schwersten  Lasten  der  Provincial 
und  gingen  in  der  Zeit  der  Volkerwanderung  auch  auf  diejenigen 
germanischen  Staaten  iiber,  welche  auf  dem  Boden  des  romischen 
Reiches  entstanden. 

Auf  den  yortrefflichen  romischen  [Strassen  fand  schon  lange 
vor  Augustus  ein  reger  Brief-  und  Gepackverkehr  statt.  Er  wurde 
theils  durch  die  Libertinen  und  Sklaven  der  Vornehmen  ver- 
mittelt,  welche  statores  oder  cursores  genannt  werden,  theilfi 
durch  die  „tabellarii"  der  Publicanen,  die  nicht  nur  fur  ihre 
Herren,  sondern  auch  fur  andre  Private  Briefe  und  Gepackstiicke 
zur  Besorgung  iibernahmen.  Nachdem  Augustus  die  Lenkun? 
des  weiten  Reiches  in  seiner  Hand  vereinigt  hatte,  wandte  er 
bekanntlich  der  Ausdehnung  und  Vervollstandigung  des  Strassen- 
netzes  ganz  besondre  Fursorge  zu  und  benutzte  dasselbe  dann 
sogleich  zur  Einrichtung  einer  Botenpost  nach  persischem  Muster 
In  festen  Abstanden  wurden   an  den  Strassen  zuerst  juvenes  — 


I 


Hndemann,  Dr.  £.  E.,  Geschichte  des  rdmiBchen  Postwesens.       303 

wohl  Reiter  — ,  darauf  Wagen  —  vehicula  —  statioriirt,  durch 
die  mit  grosster  Schnelligkeit  Nachrichten  und  Befehle  zwischen 
Rom  and  den  fernsten  Grenzen  des  Reiches  ausgetauscht  werden 
konnten.  Daran  schloss  sich  dann  bald  auch  die  Beforderung 
wn  Personen ,  zuerst ,  unter  Augustas ,  nur  von  Mitgliedern  des 
Kaiserbauses ,  dann  von  Beaxnten  und  Andem,  die  im  Staats- 
dieast  reisten ,  endlich  auch  von  solchen ,  die  durch  besondre 
Veigimgtigung  das  Recht  zur  Benutzung  der  Post  erhalten  hatten. 
Trotz  dieser  Erweiterung  der  Rechte  war  und  blieb  aber  die 
romische  Post  bis  zum  Untergang  des  Reiches  im  wesentlichen 
ein  Machtmittel  der  Regierung ,  und  der  weitaus  grosste  Theil 
der  Unterthanen,  namlich  alle  Provincialen  und  die  romischen 
Burger  der  unteren  Klassen,  konnten  sich  derselben  zu  keiner 
Zeit  bedienen.  Nur  die  hoheren  Stande ,  d.  h.  die  Senatoren, 
oaimen  an  den  Vortheilen  der  Einrichtung  bald  mehr,  bald 
wenjger  theil,  dagegen  lagen  die  Unterhaltungskosten  mit  be- 
sondrer  Schwere  auf  den  Schultern  der  provincialen  Guts- 
besitzer  und  wurden  schliesslich  zu  einer  ganz  unertraglichen 
Last  Denn  immer  grossere  Anforderungen  wurden  an  sie  ge- 
steDt}  beforderte  doch  die  Post  unter  Constantin  nicht  allein 
Rekruten,  Gelder,  Pferde,  Vorrathe,  sondern  auch  ganze  Ab- 
tleilungen  des  Heeres  von  Gallien  nach  dem  Orient,  diente  den 
christlichen  Bischofen  bei  ihren  haufigen  Synodalreisen  und  hatte 
dann  wieder  fur  die  heidnischen  Spiele  Baren  und  andre  wilde 
Ttiere,  sowie  die  Gaste  nach  Rom  zu  schaffen.  Da  ist  es  kein 
Wunder,  wenn  sich  immer  von  neuem  Klagen  erheben.  Erleichte- 
nmgen  waren  nur  voriibergehend  und  meist  nicht  tiefgreifend. 
Von  Hadrian  und  Septimius  Severus  wird  berichtet,  dass  sie  die 
Koeten  auf  den  Fiscus  iibernahmen,  von  Nerva,  dass  er  wenigstens 
in  Italieu  die  Stellung  von  Fuhrwerken  und  Lastthieren  erliess. 
Ke  letztere  Massregel  ward  bereits  von  Trajan  wieder  auf- 
gehoben,  wahrend  die  erste  schon  durch  ihre  Wiederholung 
^gt,  wie  wenig  nachhaltig  sie  war.  Auch  lag  es  in  der  amt- 
Mien  und  socialen  Stellung  der  zum  Fordern  berechtigten  Vor- 
wkmen,  dass  sie  in  ihren  Anspriichen  trotz  aller  Gesetze  un- 
gestraft  und  ohne  dass  man  Widerspruch  wagte  weit  iiber  das 
ftchtliche  Mass  hinausgehen  konnten.  So  wurden  beispielsweise 
°fr  mehr  Lastthiere  verlangt,  als  sich  im  Reiseschein  angegeben 
fenden,  Wagen  und  Thiere  wurden  aus  Bequemlichkeit  oder  in 
Folge  augenblicklichen  Bediirfaisses  weiter  mitgenommen,  als 
wlanbt  war,  ja  es  kam,  wie  aus  einem  Verbot  hervorgeht,  sogar 
for,  dass  die  gestellten  Wagen  verkauft  wurden.  Von  Zeit  zu 
Zeit  erschien  dann  ein  Edict  des  Kaisers  gegen  die  eingerissenen 
■Kfcbrauche,  namentlich  gegen  die  allzu  freigebige  Ertheilung 
?j>n  Reisescheinen,  schnell  aber  gerieth  es  in  Vergessenheit  und 
J*l*  war  wieder  ebenso,  und  arger  wie  zuvor.  Trotz  dieser 
Uebektande  iiberlebten  die  Einrichtungen  das  westroniisohe 
jkicb  selbst  und  bestanden,  ganz  in  ihrer  alten  Weise,  unter 
^eodorich  dem   Grossen    in   den  ihm   unterworfenen   Landern 

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304      Hudemann,  Dr.  E.  E.,  Geachichte  des  romiachen  Postwesens. 

und  in  sehr  ahnlicher  im  Anschluss  an  die  alten  Stationen  und 
Strassen  im  Vandalen-  und  Frankenreiche. 

Der  Verf.  wendet  sich  nun  zur  Einzeldarstellung  und  be- 
handelt  zuerst  das  Personal  der  Post.  An  der  Spitze  desselben 
ist  der  praefectus  praetorio  zu  nennen,  welcher  neben  anderem 
auch  iiber  den  Postdienst  —  cursus  publicus  —  die  Oberleitung 
hatte.  Sein  Stellvertreter  war  der  praefectus  urbi.  Als  es  spater 
mehrere  praefecti  praetorio  gab,  hatte  jeder  einzelne  die  Auf- 
sicht  iiber  seinen  Bezirk,  doch  traten  jetzt  zuweilen  an  ih» 
Stelle  die  vicarii,  rectores  oder  praesides  provinciarum.  Neko 
andren  Aufsichtsbeamten  werden  dann  auch  „praefecti  vehio- 
lorum"  genannt  Seit  Constantin  verschwindet  die  Beziehung  dn 
Postwesens  zu  den  praefectis  praetorio  immer  mehr  >  und  der 
„regendarius" ,  der  bis  dahin  unter  jenen  gestanden  und  die 
Ausfertigung  der  Reisescheine  gehabt  hatte,  wird  nun  der  eigent- 
liche  Leiter  und  steht  in  der  Kangordnung  und  dem  Instanzen- 
zug  unmittelbar  zuerst  unter  dem  magister  aulae,  dann  unter 
dem  magister  officiorum. 

Die  Unterbeamten  zeriailen  in  reisende :  Boten  und  Begleiter 
der  Poststiicke,  und  standige:  Vorsteher  und  Personal  der  Sta- 
tionen. Von  den  letzteren  sind  die  wichtigsten  die  „mancipesa. 
Dies  waren  anfangs  ausgediente  Krieger  oder  dergleichen,  die 
vom  Staat  besoldet  werden;  spater  aber  wurde  das  Amt  meist 
den  Decurionen  und  Curialen  des  nachsten  Municipiums  iiber- 
tragen,  natiirlich  ohne  Besoldung,  nur  wo  kein  Municipium  in 
der  Nahe  war,  dem  man  die  Last  aufbiirden  konnte,  blieben 
besoldete  Beamte.  Dass  diese  Last  im  Laufe  der  Zeiten  immer 
driickender  und  harter  wurde,  ist  schon  erwahnt  worden,  doch 
irrt  der  Vert,  wenn  er  ihr  allein  die  bekannte  Erscheinung  ai- 
schreibt,  dass  Decurionen  und  Gutsbesitzer  Heimat  und  Erbe 
heimlich  im  Stich  liessen,  urn  sich  anderswo  unter  fremdeo 
Namen  niederzulassen :  vielmehr  ist  sie  nur  eine  unter  den  viete 
Lasten  und  Steuern,  welche  im  spateren  Kaiserreich  die  Lip 
der  landbesitzenden  Klasse  zu  einer  unertraglichen  machten,  — 
Die  mancipes  nun  hatten  die  Verwaltung  der  Stationen  und  des 
dazwischen  liegenden  Stiickes  der  Strasse;  sie  hatten  die  Baa- 
lichkeiten  in  Stand  zu  halten,  Thiere  und  Wagen  zu  stellen  und 
die  Naturalli^ferungen  an  Lebensmittelu  und  Futter  zu  leisten. 
Wahrend  der  Amtsdauer,  welche  fiinf  Jahre  betrug,  durfte  der 
manceps  sich  bei  schwerer  Strafe  nicht  langer  als  30  Tage  von 
seiner  Stelle  entfernen;  nach  Ablauf  der  fiinf  Jahre  sofite  er 
von  jeder  weiteren  Verpflichtung  frei  sein,  doch  wird  auch  hier. 
wie  bei  manchen  andern  Befreiungen,  der  Mangel  an  Leistungs- 
fahigen  zu  widerrechtlicher  Erneuerung  gefuhrt  haben.  Unter 
den  mancipes  standen  „stationarii"  —  etwa  Posthalter  — ,  denen 
im  besondern  die  Sorge  fur  die  Zugthiere  oblag,  ferner  „stra- 
tores44,  Stallkneohte ,  nicht,  wie  Stephan  meint,  Stallmeister  und 
Stationsvorsteher ,  „mulionesu  (Maulthiertreiber) ,  „apparitoresu 
(Amt8diener),  rhippocomi"  (Pferdewarter),  „carpentariiu  (Wagen* 


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Hndemann,  Dr.  E.  E.,  Geachicbte  des  romischen  Poatwesens.       305 

meister)  und  „mulomedici"  (Thierarzte).  Von  den  letzteren  be- 
fand  sich  auf  jeder  Station  einer,  die  Zahl  der  iibrigen  war  nach 
der  Grosse  und  Wichtigkeit  der  Platze  verschieden ,  man  rech- 
nete  einen  mulio  oder  hippocomus  anf  je  drei  Thiere,  welche 
die  Station  halten  musste ;  sie  waren  Staatssklaven  und  durften 
ihrer  Station  nicht  entzogen  werden.  Von  den  Reisenden  und 
Courieren  wurden  sie  haufig  gehanselt  und  verspottet. 

Zu  den    reisenden    (circulirenden)    Beamten    gehorten    die 
PprosecutoresM  (Postconducteure) ,   welche   das  staatliche  Eigen- 
thum,  als:   Geld,  Proviant,  Kleidungsstiicke ,  Pferde,  auch  Re- 
kruten  bei  der  Beforderung  mit   der  Post  begleiteten.    Da  sie 
aof  ihren  Fuhrwerken  oft  Platz  frei  hatten,  so  pflegten  sie  diesen 
aaHefeende,  die  keinen  Postschein  bekommen  konnten,   zu  ver- 
miethen  und  sie  dann   als  „Begleiter"  mitzunehmen.     Die  wich- 
tigste  Beamtenklasse  aber  sind  die  Staatsboten.    Bei  ihnen  zeigt 
sich  recht  deutlich  die  enge  Verbindung ,   in  welcher  die  ganze 
Posteinrichtung  mit  der  eigentlichen  Regierung  und  Verwaltung, 
ja  sogar  mit  der  Polizei  stand.    Im  Anfang  der  Kaiserzeit  waren 
die  sogenannten  frumentarii *),  welche  bei  Caesar  noch  als  Fou- 
riere  und  Proviantmeister  erscheinen.     Sie  waren  jetzt  Couriere 
des  Imperator  geworden  und  hatten   die  Befehle   desselben  mit 
grrastmoglicher  Schnelligkeit  nach  alien  Theilen  des  Reichs  zu 
iiberbringen.     Da  sie  nun   durchaus   zuverlassige  und   erprobte 
Leute  sein  mussten,1  so  war  es  bald  nichts  Ungewohnliches,  ihnen 
bei  vielen  Auftragen,  besonders  bei  Verhaftungen,  neben  der  Be- 
iorderung  auch  die  Ausfiihrung  zu  iibertragen,  tfnd  schhess- 
lich  gebrauchte   man   sie  zu  Polizeizwecken  der  verschiedensten 
Art.    Namentlich   hatten   sie   iiber  die   Stimmung   in   den  Pro- 
rinzen  zu  berichten,  Verbrecher   aufzuspiiren,   staatsgefahrliche 
Plane  zur  Kenntniss  des  Herrschors  zu  bringen.   Natiirlich  waren 
sie  unbeliebt  und  scheinen  auch  den  Einfluss ,   den  sie  besassen, 
zn  ErpressuDgen   und    andrer  Willkur   missbraucht   zu   haben. 
Diocletian  nahm  mit  ihrer  Genossenschaft  eine  UmgestaJtung  yor, 
die  irir  nicht  genauer  kennen ,   unter  Constantin   trat   dann  an 
tore  Stelle  das  Corps  der  „agentes  in  rebus" ,  1248  Mann  stark 
^  nach   Dienst  und  Rang   genau  gegliedert.    An   der  Spitze 
dieser  „scholaM    stand   ein   princeps  agentium,  unter   ihm  duce- 
narii,  centenarii,  biarchi,  circitores,  equites.    Die  Erklarung  dieser 
Namen,  welche  Rothschild  I,    76  giebt,   verwirft  der  Verf.  mit 
Recht,  ohne  eine  eigene  zu  wagen;   iiber  ducenarius  und  cente- 
narius,  als  allgemeine  Bezeichnung  hoherer  Beamten  nach  ihrem 
Gehalt f  ist  zu  vergleichen  Marqu.  Staatsverw.  I,  416.    Danach 
erecheint   auch  die  Meinung  Hudemann's   zweifelhaft,    dass  jene 
fcaf  Namen  nur  Rangstufen  bezeichneten ,   die  Thatigkeit   der- 
selben    sich    nicht    streng    unterschied    und    ein    regelmassiges 
Avancement  vom  eques  bis  zum  ducenarius  stattfand;   es  ware 

*)  Nach  Marquardt,  Rom.  Staatsverw.  I,  218  f.  vielmehr  die  „speculatore8", 
doch  acbeiiit  Hudemanns  Ansicht  richtiger. 

Mittheiluugen  a.  d.  hUtor.  Litteratnr.    VI.  20 

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306       Hudemann,  Dr.  E.  E.,  Geschichte  des  romischen  Postwesens. 

wohl  moglich,  dass  man  zwischen  hoheren  Beamten,  den  beiden 
ersten  Klassen,  und  niederen,  den  drei  letzten,  zu  unterscheiden 
hatte ,  und  dass  jene  nicht  regelmassig  aus  den  biarchi  henror- 
gingen,  sondern  mit  den  hoheren  Beamten  andrer  Zweige  zu- 
sammen  rangirten  und  aufriickten.  —  Die  agentes  hatten  An- 
spruch  auf  zwei  Courierpferde  —  veredi  —  und  im  Nothfall  auf 
Extrapferde  —  paraveredi  — ,  aber  nicht  auf  die  evectio ;  nacb 
15 — 20jahrigem  Dienste  bekamen  sie  Befreiung  von  der  curb. 
Neben  dem  Namen  agentes  kommen  noch  zwei  andre  ftir  dim 
Beamten  vor :  veredarii  und  curiosi,  bei  den  griechischen  Schift- 
stellern  auch  der  alte  Name  (pqov^twaqLoi.  Bs  werden  gegei 
sie  dieselben  Klagen  iiber  Willkiir,  Erpressungsversuche,  Bestech- 
lichkeit  erhoben  wie  gegen  die  frumentarii  und  Ammian.  16,  3, 11 
sagt  Kaiser  Julian  yon  ihnen:  „rapere,  non  accipere  sciunt 
agentes  in  rebus".  — 

Eine  nicht  unwichtige  Erganzung  zu  diesem  Capital  iiber 
die  Postbeamten  giebt  0.  Hirschfeld,  Unterss.  auf  d.  Gebiete  A 
rom.  Verwaltungsgesch.  I,  100  ff.  .  Er  stellt  dort  einige  Titd 
und  Amtsbefugnisse  aus  der  friiheren  Kaiserzeit  nach  Inschriften 
zusammen,  yon  denen  besonders  erwahnenswerth  ein  „abvehiculistt 
ist,  ein  Freigelassener  des  Trajan. 

Zur  Benutzung  der  Post  gehorte,  wie  schon  gesagt,  due 
besondre  Ermachtigung,  welche  diploma  hiess.  Diese  Reisescheine 
waren  anfangs  yon  Pergament  und,  wie  ihr  Name  anzeigt,  zum 
Zusammenfalten  eingerichtet ;  in  spaterer  Zeit  scheinen  sie  haufig 
die  Form  einer  tessera  gehabt  zu  haben,  welche  mit  Wachs 
iiberzogen  war.  Wie  schon  wahrend  der  Republik  ahnliche  An- 
weisungen  fur  reisende  Beamte  vom  Senat  gegeben  wurden,  so 
ertheilte  sie  auch  jetzt  der  Senat,  doch  mussten  sie  nun  vom 
Kaiser  unterschrieben  werden  und  sein  Siegel  tragen.  Den 
Kaiser  konnte  der  praefectus  praetorio  und  seit  Constantin  der 
magister  officiorum  vertreten.  Die  Scheine  hatten  einen  lie- 
stimmten  Termin,  nach  dessen  Ablauf  sie  erloschenj,  ebenso  yer- 
loren  sie  ihre  Giiltigkeit  beim  Tode  eines  Kaisers,  wenn  der 
Nachfolger  sie  nicht  ausdrucklich  bestatigte,  was  meist  generatim, 
aber  mit  Einschrankungen  gescliah. 

Sie  lauteten  entweder  auf  „evectiow,  d.  h.  Pferde,  r^p. 
Maulthiere  und  Fuhrwerk,  oder  auf  „tractoriau,  d.  h.  neben  der 
Beforderung  auch  auf  Bekostigung,  zwar  auf  jeder  Station  nur 
fiir  zwei ,  hochstens  funf  Tage,  dafur  aber  auch  im  ausgedehn- 
testen  Masse,  wie  aus  dem  Formular  einer  tractoria,  allerdings 
erst  aus  dem  siebenten  Jahrhundert,  hervorgeht. 

Da  iiber  die  Personen,  welche  Reisescheine  erhielten,  sowie 
iiber  die  zuletzt  iibermassig  wachsende  Benutzung  der  Post  fiir 
gewisse  fiscalische  Zwecke  schon  oben  das  Nothige  gesagt  ist, 
so  bleibt  noch  zu  berichten,  was  der  Verf.  iiber  die  Stationen 
und  die  Ausriistung  derselben  mit  Wagen  und  Zugthieren  bei- 
bringt.  Fiir  den  urspriinglichen  Namen  der  Stationen  halt  er 
im  Gegensatz   zu  Rothschild   nicht  „positio",  sondern  „mansiow 

• 


Monuments  Germaniao  histories,  307 

and  unterscheidet  mansio  und  „mutatio"  fur  die  spatere  Zeit 
daim  so,  dass  mansio  eine  Hauptstation  mit  Nachtquartier,  mu- 
tatio  eine  Zwischenstation  zum  Wechseln  der  Pferde  gewesen 
sei,  worin  ihm  Marqu.  I,  419  folgt,  wahrend  Rothschild  auch 
bier  das  Umgekehrte  annimmt.  „Statio",  ebenfalls  bei  der  Post 
erst  gpater  gebraucht ,  heisst  bei  den  Schriftstellern  der  ersten 
Kaiseneit  ein  Ort,  wo  viele  Menschen  zusammenzukommen 
pilegten,  am  Neuigkeiten  auszutauschen,  aus  der  Zusammenziehung 
fob  posita  statio  m  poststatio  leitet  sich  dann  der  Name  der 
Post  her.  Die  mansiones  lagen  in  bevolkerten  Gegenden  etwa 
5  riimische  Meilen,  in  oden  8—9  auseinander,  zwischen  zwei 
manaones  befanden  sich  6 — 8  mutationes.  (?)  Wahrend  auf  den 
Mutatkmen  alles  ge ringer  war,  fanden  sich  auf  den  Mansionen 
prachtvolle  kaiserliche  Palaste,  stattliohe  Gebaude  zum  Ueber- 
Mfiiten  fiir  andre  Reisende,  mit  Sorgfalt  ausgestattete  Stallungen, 
Sclrappen  u.  s.  w.  An  Pferden  hatten  die  einzelnen  40,  beson- 
dere  wichtige  sogar  80  vorrathig,  daneben  Maulthiere  und  Zug- 
oehsen;  fiir  die  Mutationen  waren  20  Pferde  vorgeschrieben. 
Von  den  verlangten  Vorrathen  an  Futter  und  dergl.  horen  wir, 
das  sie  bei  Inspectionen  gewohnlich  in  recht  mangelhaftem  Zu- 
staade  vorgefanden  wurden. 

Unter   den   vielen   verschiedenartigen   Wagen,    welche    die 
Homer  kannten,  wandte  die  Post  hauptsachlich  zwei  Arten   an: 

1)  fur  die  Schnellpost  —  cursus  yelox  —  die  „rhedaw ;  sie  war 
rierradrig,  erforderte  zur  Bespannung  je  nach  dem  Terrain 
2-4  Pferde  oder  8—10  Maulthiere  und  trug  bis  1000  Pfund; 

2)  fir  den  Frachtverkehr  —  cursus  clabularis  — ,  auf  den  aber 
anch  ausgediente  oder  beurlaubte  Soldaten  angewiesen  waren, 
die  „clabulau  oder  ^angaria",  einen  vierradrigen  offenen  Leiter- 
*agen,  der  mit  4 — 8  Ochsen  bespannt  wurde  und  1500  Pftmd 
fragen  konnte.  Auf  grosseren  Stationen  fanden  sich  indess  auch 
andre  Fuhrwerke,  z.  B.  carri,  carpenta  —  Planwagen,  die  auch 
w&boheren  Beamten  als  Schlafwagen  benutzt  wurden  — ,  end- 
Mi  birotae,  leicht  gebaut  und  von  geringer  Tragfahigkeit ,  fiir 
solcfe,  welohe  mit  wenigem  Gepack  besonders  schnell  vorwarts 
ioamen  wollten. 

Berlin.  Abraham. 


LXVIII. 

Hoiumenta  Germaniae  historica  inde  ab  anno  Christi  quingen- 

tesimo  usque  ad  annum  millesimum    et  quingentesimum  edidit 

societas   aperiendis  fontibus   rerum   germanicarum  medii  aevi. 

Scriptores    rerum    langobardicarum    et    itali- 

carum  saec.  VI— IX.    gr.   4.    (VIII,  636  S.)     Hannoyerae 

impensis  bibliopolii  Hahniani  1878.    20  M. 

Schon  Pertz  hatte  die  Absicht  gehabt,  die  fruheren  Theile 

der  Monumenta,  welche  ja  erst  mit  der  karolingischen  Zeit  be- 

Snmen,  in  der  Weise  zu  erganzen,   dass   nachtraglich   in   einem 

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308  Monumenta  Germaniao  historica. 

oder  mehreren  Banden  auch  die  Quellen  fur  die  deutsche  Ge- 
schichte der  alteren  Zeit,  von  der  Volkerwanderung  an,  heraua- 
gegeben  werden  sollten ,  allein  dieser  Plan  ist ,  so  lange  er  das 
Unternehmen  leitete,  nicht  zur  Ausfuhrung  gekommen.  Auch 
nach  dieser  Seite  hin  hat  aber  jetzt  die  neue  Direction  der 
Monumenta  die  eifrigste  Thatigkeit  entfaltet.  Nach  dem  von  ihr 
aufgestellten  Plane  sollen  einmal  als  besondere  Abtheilung,  unter 
der  Bezeichnung  Auctores  antiquissinii ,  die  Quellenschriften  fir 
die  Geschichte  der  Volkerwanderung  herausgegeben  werden.  Die 
Leitung  dieser  Abtheilung  ist  Th.  Mommsen  iibertragen  worin, 
und  von  ihr  sind  schon  zu  Ende  des  vorigen  Jahres  die  beidet 
ersten  Theile,  die  Schriften  des  Salvianus  von  Halm  und  dk 
Vita  S.  Severini  von  Eugippius  von  Sauppe  herausgegeben,  er- 
schienen,  welche  wir  in  Heft  3  dieses  Jahrganges  der  „Mit- 
theilungen"  (S.  200  f.)  angezeigt  haben.  Daneben  sollen  in  drei 
Banden  die  Scriptores  rerum  merovingicarum ,  langobardicarum 
und  die  Gesta  pontificum  romanorum  erscheinen,  und  auch  dies* 
Reihe  wird  jetzt  durch  den  vorliegenden  Band  eroflhet  Der- 
selbe  ist  fast  ganz  von  Waitz,  dem  Leiter  des  ganzen  grossen 
wissenschaftlichen  Unternehmens,  bearbeitet.  Wie  schon  der  Titel 
besagt,  enthalt  er  nicht  nur  die  Quellen  fur  die  eigentliche  Ge- 
schichte der  Langobarden  und  ihres  italischen  Reiches  (bis 
774) ,  sondern  er  geht  zeitlich  und  ortlich  weiter ,  er  enthalt 
auch  die  Quellen  fur  die  Geschichte  des  nach  dem  Unteigange 
des  langobardischenKonigreiches  in  bald  grosserer  bald  geringerer 
Selbstandigkeit  fortbestehenden  Fiirstenthums  Benevent  mid  der 
allmahlich  von  demselben  sich  abzweigenden  kleineren  Fursteo- 
thiimer  in  Unteritalien  bis  zum  Ausgange  des  9.  Jahrhunderts, 
ferner  aber  auch  die  Quellen  fur  die  Geschichte  von  Ravenna, 
Neapel  und  der  anderen  Ueberreste  der  griechischen  Herrschaft 
in  Italien,  welche  sich  von  der  langobardischen  und  dann  and 
wenigstens  zum  Theil  von  der  frankischen  Herrschaft  unabhiiup? 
behauptet  haben.  Dieser  Band  wird  von  alien  denen,  welAe 
sich  mit  der  Geschichte  Italiens  wahrend  jener  fruheren  Zdto 
des  Mittelalters  eingehender  beschaftigen,  mit  der  grossten  Frende 
begrusst  werden,  denn  dieselbon  finden  hier  einmal  in  einem 
bequem  zu  handhabenden  Quartbande  ein  umfangreiches  Material 
vereinigt,  welches  bisher  in  den  verschiedenen  Banden  der  Mura- 
torischen  Sammlung,  der  Acta  Sanctorum  und  in  anderen  wm 
Theil  seltenen  und  schwer  zu  beschaffenden  Sammelwerken 
zerstreut  war,  andererseits  aber  ist  dasselbe  hier  mit  soviel 
Grundlichkeit  und  Scharfsinn  behandelt,  ist  auch  auf  die 
Feststellung  des  Textes  selbst  der  weniger  bedeutenden  Chro- 
niken  und  Heiligengeschichten  eine  solche  philologische  Sorg&lt 
und  Kunst  verwendet  worden,  dass  diese  Quellen  hier  gleichsam 
in  einem  ganz  neuen  und  zwar  in  ihrem  echten  und  ursprung- 
lichen  Gewande  erscheinen.  Aus  beiden  Griinden,  sowohl  tun 
das  zusammengehorige  Material  vollstandig  zusammenzustelien, 
als  auch  um  die  gleiche  kritische  Methode  auch  auf  sie  anw 

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Monumenta  Germaniae  historica.  309 

wenden,  hat  Waitz  auch  die  Chroniken,  welche  schon  friiher  in 
dem  dritten  Bande  der  Scriptores  berausgegeben  waren,  hier 
eben&lls  mit  aufgenommen.  Bisher  unbekannte  Quellen  finden 
wir  hier  nur  wenige,  und  diese  sind  von  geringer  Bedeutung. 

Der  Band  beginnt  mit  den  Quellen  fiir  die  Urgeschichte  der 
Langobarden,  der  Origo  gentis  Langobardorum ,  einer  Schrift 
ass  der  zweiten  Halftc  des  7.  Jahrhunderts ,  welche  theils  nach 
mandlicher  Ueberlieferung ,  theils  aber  auch  schon  auf  Grund 
einer  schriftlichen  Vorlage  die  Herkunft  und  die  Wanderungen 
der  Langobarden  erzahlt  und  welche  schon  von  Paulus  benutzt 
worden  ist,  und  der  Historia  Langobardorum  codicis  Gothani, 
einer  bedentend  erweiterten  Bearbeitung  diesor  Origo  aus  dem 
Anfange  des  9.  Jahrhunderts,  deren  Werth  und  Glaubwiirdigkeit 
freilich  Waitz  im  Gegensatz  gegen  Bluhme  als  sehr  zweifelhaft 
bezeichnet.  Dann  folgt  das  Hauptwerk,  die  Historia  Langobar- 
dorum des  Paulus.  In  der  ausgedehnten  Einleitung  zu  derselben 
stellt  Waitz,  welcher  zwar  umfongreiche  Vorarbeiten  Bethmann's 
vorgefimden  hat,  dennoch  aber  erst  selbst  nach  alien  Seiten  hin 
die  entscheidende  Arbeit  gethan  hat,  zunachst  die  Lebensver- 
haltnisse  des  Paulus  fest,  indem  er  zugleich  die  Hauptquellen 
hiefiir,  einige  Gedichte  des  Paulus,  seine  Briefe  an  Abt  Theu- 
demar  von  Monte  Cassino  und  an  Adalhard,  sowie  auch  seine 
Grabschrift  abdruckt.  Seine  Darstellung  stimmt  in  der  Haupt- 
sache  mit  derjenigen,  welche  neuerdings  Dahn  in  seinen  Lango- 
bardischen  Studien  gegeben  hat,  iiberein,  auch  er  lasst  die  Zeit, 
wann  Paulus  Monch  in  Monte  Cassino  geworden  ist,  unbestimmt, 
doch  bezeichnet  er  Dahn's  Zweifel  an  der  Nachricht  des  Jo- 
hannes diaconus  von  Neapel,  dass  Paulus  in  Monte  Cassino  einen 
Kreis  von  Schiilern  um  sich  versammelt  habe,  als  ungegriindet, 
die  Grabschrift,  obwohl  sie  einen  groben  Fehler  enthalt,  erklart 
er  doch  nicht  fur  ganz  unglaubwiirdig  und  auch  in  dem  an 
Fabeln  reichen  Berichto  dos  Chronicon  Salernitanum ,  meint  er, 
kounten  einige  Nachrichten  auf  richtiger  Kunde  beruhen.  Dar- 
w&  folgt  eine  Aufzahlung  der  Quellen,  welche  Paulus  benutzt 
hat,  und  eine  Beurtheilung  seiner  Glaubwiirdigkeit :  Paulus'  Arbeit 
z^igt  mehrfache  Spuren  von  Fliichtigkeit ,  er  verbindet  Dinge, 
die  nicht  zusammen  gehoren,  er  kiimmert  sich  wenig  um  die 
Chronologie,  auch  von  Parteilichkeit  fur  seine  Nation  ist  er  nicht 
W,  wenngleich  er  nur  sehr  seiten  mit  seinem  eigenen  Urtheil 
hwortritt,  er  zeigt  eine  gewisse  Kritik,  alizu  fabelhafte  Nach- 
richten verwirft  er,-doch  glaubt  er  an  Wunder  der  Heiligen, 
die  Volkserzahlungen,  auf  welchen  der  friihere  Theil  seiner  Dar- 
stellung zum  grossen  Theile  beruht,  scheint  er  getreu  vrioder- 
gegeben  zu  haben.  Daran  schliessen  sich  Bemerkungen  iiber 
^>rache  und  Stil  des  Paulus  und  dann  eine  Aufzahlung  und 
Cbarakterisirung  der  verschiedenen  Handschriften.  Diese,  iiber 
100  an  der  Zahl,  sind  fast  sammtlich  schon  von  Bethmann 
ganz  oder  theilweise  collationirt  worden,  doch  hat  dann  Waitz 
die  hauptsachlichsten  noch  oinmal  durchgesehen  und  von 

• 


310  Monumenta  Gennaniae  historica. 

ihm  erst  riihrt  die  kritische  Verwertliung  dieses  gewaltigen  Ma- 
terials her.  Er  sondert  alle  diese  Handschriften  in  elf  ver- 
schiedene  Classen,  die  ersten  sieben  gehen  unabhangig  von  ein- 
ander  auf  das  Original  zuriick,  doch  haben  ihro  Schreiber 
dieses  bald  mehr,  bald  weniger  willkiirlich  verandert.  Durch 
Vergleichung  derselben  hat  nun  Waitz  den  Text  der  Original- 
handschrift nach  Moglichkeit  zu  reconstruiren  gesucht.  Dabei 
hat  es  sich  herausgestellt ,  dass  Sprache  and  Stil  derselben 
keineswegs  gut  und  fehlorlos  gewesen  sind;  gerade  die  altesten 
Handschriften  zeigen  zahlreiche  Spuren  des  Einflusses  der  Vol- 
garsprache,  sowohl  in  der  Orthographic  als  auch  in  der  Syntax, 
sie  enthalten  grobe  grammatikalische  Fehler,  folschen  GebrauA 
der  Casus,  unrichtige  Constructionen  u.  dergl.,  Fehler  und  Eigea- 
thiimlichkeiten/von  denen  eben  die  Uebereinstimmung  mehrerer 
Handschriften  aus  verschiedenen  Classen  zeigt,  dass  sie  schon 
der  gemeinsamen  Vorlage  derselben,  der  Originalhandschrift,  an- 
gehort  haben  miissen.  Freilioh  weist  Waitz  darauf  hin,  dass 
diese  Originalhandschrift  wahrscheinlich  nicht  von  Paulus  selbst 
geschrieben,  sondern  nach  seinem  Dictat  angefertigt  ist,  ferner 
dass  das  Werk  unvollstandig  geblieben  ist  und  jedenfalls  noch 
nicht  von  dem  Verfasser  die  letzte  Feilung  erhalten  hat.  Der 
Text  des  Paulus  erscheint  so  hier  in  einer  ganz  neuen,  von  der 
der  friiheren,  freilich  sehr  unvollkommenen,  Ausgaben  sehr  ver- 
schiedenen Gestalt ,  ihm  zur  Seite  steht  ein  umfangreicher  kri- 
tischer  Apparat.  Von  den  vier  altesten  und  werthvollsten  Hand- 
schriften sind  die  Varianten  vollstandig  aufgezahlt,  von  funf  an- 
deren,  ihnen  an  Werth  zunachst  kommenden,  alle  wichtigeren, 
von  der  Masse  der  iibrigen  nur  die,  welche  die  Beschaffenheit 
dieser  Handschriften  selbst  erkennen  lassen,  immerhin  spricht 
schon  der  Herausgeber  selbst  die  Befiirchtung  aus,  maacber 
Leser  werde  sich  wohl  iiber  die  Ueberfulle  von  Varianten  be- 
klagen. 

Als  Appendix  sind  dieser  Ausgabe  des  Paulus  beigegcb^' 
1)  ein  Catalogus  provinciarum  Italiae,  welcher  sich  bei  Paulas 
benutzt  findet,  hier  zum  ersten  Male  aus  einer  Madrider  Hand- 
schrift  odirt,  2)  em  Gedicht  auf  die  Synode  zu  Pavia  c.  698  und 
3)  die  Grabschrift  der  Konigin  Ansa,  der  Gemahlin  des  Desi- 
derius,  die  letztere  vielleicht  von  Paulus  herriihrend.  Daran 
sind  dann  angeschlossen  zwei  Epitomae  aus  Paulus,  kurzo,  aus 
ihm  geschopfte  Darstellungen  der  Langobardengeschichte ,  von 
denen  die  erste  bis  Konig  Rothari,  die  zweite  bis  Liutprand 
reicht,  dann  vier  verschiedone  Fortsetzungen  des  Paulus,  alle 
wenig  werthvoll,  da  ihre  Nachrichten  zum  grossten  Theile  den 
Gesta  pontificum  entlehnt  sind. 

Es  folgen  die  beiden  kiirzeren,  aber  werthvollen  Chroniken: 
Andreae  Bergomatis  historia  und  Erchemporti  historia  Langobar- 
dorum  Beneventanorum ,  welche  auch  als  Fortsetzungen  des 
Paulus  angesehen  werden  konnen.  Sie  waren  schon  von  Pertx 
im  3.  Bande  der  Scriptoros  herausgegeben ,   trotzdem  ist  Waitz 


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Monumenta  Germaniae  historica.  31 X 

fur  beide  noch  einmal  auf  die  Handschriften  zuriickgegangen. 
Von  Andreas  ist  die  Originalhandschrift  aus  dem  9.  Jahrhundert 
in  St.  Gallen  erhalten,  der  in  derselben  fehlende  Anfang  ist  jetzt 
aus  einer  anderen,  jiingeren  St.  Galler  Handschrift  erganzt 
worden,  freilich  ist  derselbe  von  geringem  Interesse,  da  er  nur 
emen  durftigen  Auszug  aus  Paulus  bringt.  Die  Chronik  Erchem- 
perts,  die  Hauptquelle  fiir  die  Geschichte  Unteritaliens  im  9.  Jahr- 
hundert, ist  zwar  in  mehreren  Handschriften  erhalten,  doch 
gehen  diese  sammtlich  auf  einen  Codex  Yaticanus  aus  dem  Ende 
dee  13.  Jahrhunderts  zuriick,  welcher  von  jiingerer  Hand  mehr- 
fach  durch  Kadirungen  und  Correcturen  verunstaltet  ist.  Waitz 
hat  auch  hier  mit  Zuhiilfenahme  anderer  Chroniken,  welche 
Erchempert  benutzt  haben,  den  urspriinglichen  Text  herzustellen 
gesucht,  Orthographie  und  Stil  erscheinen  hier,  ahnlich  wie  bei 
Paulas,  erheblich  roher  und  fehlerhafter  als  in  der  friiheren 
Auggabe. 

Den  zweiten  Haupttheil  des  Bandes  bildet  der  liber  ponti- 
ficalis  ecclesiae  Ravennatis  von  Agnellus  oder  Andreas,  heraus- 
gegeben  von  0.  Holder-Egger.  In  einer  langeren  Einleitung  be- 
spricht  derselbe  zunachst  das  handschriftliche  Material  Das- 
selbe  besteht  nur  aus  einer  nicht  vollstandigen ,  von  einem 
unwissenden  Schreiber  sehr  fehlerhaft  geschriebenen  Handschrift 
des  15.  Jahrhunderts  in  Modena  und  aus  einem  Fragment  in 
einem  Codex  Vaticanus  des  16.  Jahrhunderts,  beide  Handschriften 
gehen,  wenn  auch  vielleicht  nicht  direct,  auf  dieselbe  Vorlage 
zuriick,  welche  auch  schon  unvollstandig  gewesen  sein  muss.  Aus 
beiden  und  mit  Hiilfe  einiger  spateren  Werke,  welche  Agnellus 
benutzt  haben,  hat  der  Herausgeber  den  Text  der  Chronik  her- 
zustellen gesucht.  Seine  Arbeit  war  erne  sehr  schwierige,  da 
von  den  vielen  Fehlern  in  Orthographie  und  Sprache,  welche 
die  Haupthand8chrift  zeigt,  sich  schwer  feststellen  lasst,  wieviel 
dem  Schreiber  und  wieviel  dem  Verfasser,  dessen  Stil  auch  schon 
sehr  fehlerhaft  gewesen  sein  muss,  angehort.  Es  folgt  in  dieser 
Euleitung  eine  Darstellung  der  Lebensverhaltnisse  des  Agnellus, 
fiber  welche  dieser  selbst  reichliche  Nachrichten  giebt,  und  dar- 
aaf  eine  Zusammenstellung  seiner  Quellen.  Die  wichtigsten 
witer  diesen  sind  Paulus'  Langobardengeschichte ,  die  Chronik 
des  Bischofs  Maximian  von  Ravenna,  aus  welcher  der  sogenannte 
Anonymus  Valesii  wahrscheinlich  ein  Fragment  ist,  Annates  con- 
Bulares  von  Ravenna  fiir  das  5.  und  6.  Jahrhundert,  ausserdem 
aber  auch  Urkunden,  Denkmaler  (das  Werk  enthalt  Beschreibungen 
zahlreicher  Kunstwerke  und  in  ihm  sind  eine  Menge  von  In- 
8chriften  mitgetheilt  und  verwerthet),  endlich  miindliche  Erzah- 
lungen  von  sehr  ungleichem  Werthe,  theils  Fabel-  und  Wunder- 
geschichten,  theils  solche,  welche  eine  wenigstens  im  Allgemeinen 
richtige  Kenntniss  verrathen. 

Es  folgt  eine  kurze  Chronik  der  Patriarchen  von  Grado, 
welche  Pertz  irrthiimlich  fiir  ein  Excerpt  aus  dem  von  ihm  hinter 
dem  Chronicum  Venetum  des  Johannes  diaconus  (Scriptores  VH) 

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312  Monumenta  Germaniae  historica. 

herausgegebenen  Chronicon  Gradense  gehalten  und  daher  dort 
nicht  aufgenommen  hatte.  In  Wirklichkeit  aber  ist  dieselbe, 
wie  schon  friiher  Wilmans,  und  neuerdings  Kohlschiitter  und 
Simonsfeld  erkannt  haben,  alter  als  jenes  Chronicon  und  in  dem- 
selben  benutzt.  Eino  sehr  wichtige  Quelle  fur  die  Geschichte 
Unteritaliens  sind  die  dann  folgenden  Gesta  episcoporum  Neapo- 
litanorum.  Dieselben  sind  auch  nur  in  einer,  aber  in  der  Ori- 
ginalhandschrift  erhalten.  Muratori  und  die  anderen  friiheren 
Herausgeber  hatten  das  ganze  iibrige  Werk  von  Anfang  an  eineo 
Verfasser,  dem  Diaconus  Johannes,  und  nur  das  allerletzte  Stiefc 
die  unvollstandige  Geschichte  des  Bischofs  Athanasius  II.,  dem  in 
der  Handschrift  genannten  Fortsetzer  Petrus  zugeschriebon,  Waita 
dagegen  weist  sowohl  aus  den  Schriftziigen  als  auch  aus  dem 
Character  der  Geschichtserzahlung  selbst  nach,  dass  jener  Haupi- 
theil  wieder  aus  zwoi .  verschiedenen  Bestandtheilen  besteht.  Der 
erste,  in  Uncialschrift ,  also  wohl  noch  im  8.  Jahrhundert  ge- 
schrieben,  enthalt  eine  sehr  trockene,  in  sehr  fehlerhaftem  La- 
tein  abgefasste  Chronik,  in  welcher  ein  Catalog  der  neapolita- 
nischen  Bischofe  mit  einer  aus  verschiedenen  Quellen,  namentlich 
Paulus  und  den  Gesta  pontificum  romanorum,  entnommonen 
allgemeinen  Geschichte  verbunden  ist.  Dagegen  ist  der  zweite 
Theil  in  beneventanischer  Schrift  zu  Ende  des  9.  Jahrhunderts 
geschrieben  und  enthalt  eine  allmahlich  inimer  reichhaltiger 
werdende  Geschichte  der  Bischofe  von  Neapel  von  c.  763 — 872. 
Nur  dieser  Theil  hat  jenen  Johannes  diaconus  zum  Verfasser; 
derselbe  berichtet  theils  selbst  Erlebtes,  theils  von  Anderen  Ge- 
hortes,  wahrheitsliebend ,  in  lebhaftem  und  fliessendem,  aber 
etwas  wortreichem  Stile.  Die  Ausgabe,  auf  Grund  einer  sorg- 
faltigen  Collation  der  Handschrift  hergestellt,  bringt  auch  einen 
gegen  die  friiheren  Ausgaben  wesentlich  verbesserten  Text.  Als 
Anhange  sind  hinzugefugt :  ein  Catalogus  episcoporum  Neapolita- 
norum,  zum  grossen  Theil  den  Gesta  entnommen,  eine  Vita  und 
eine  Translatio  des  Bischofs  Athanasius  I.  von  Neapel,  be«fe 
von  demsolben  Verfasser  im  10.  Jahrhundert  auf  Grund  der 
Erzahlungen  des  Johannes  diaconus  und  Erchemperts,  aber  aoeh 
anderer  selbstandiger  Nachrichten  verfasst,  ferner  zwei  von  jenem 
Johannes  diaconus  geschriebene  Translationen  von  Heiligen 
(S.  Severini  und  S.  Sosii)  mit  einzelnen  interessanten  Nachrichten 
fur  die  Geschichte  jener  Zeit,  darauf  ein  Stuck  aus  den  Mira- 
cula  S.  Agrippini  und  endlich  eine  ganz  fabelhafte  kurze  Be- 
schreibung  eines  angeblichen  Sieges  der  Neapolitaner  iiber  die 
Araber  zur  Zeit  Carls  des  Grossen. 

Das  folgende  Stuck,  die  alteste  Chronik  von  Monte  Cassino 
(Chronicon  S.  Benedicti  Casinensis)  war  schon  friiher  im  3.  Band 
der  Scriptorcs  von  Pertz  herausgegeben ,  aber  als  zwei  beson- 
dere  Werke  (Chronicon  Casinense  und  Chronica  S.  Benedicti), 
hier  sind,  obenso  wie  in  der  Handschrift ,  beide  wieder  vereinigt 
worden.  Wahrscheinlich  ist  das  Gauze  die  Arbeit  des  Abtes 
Johannes    (Anfang    des    10.    Jahrhunderts),    von    welcher  L#> 

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Monumenta  Germariiae  historica,  313 

Ostiensis  in  der  spateren  grossen  Chronik  des  Klosters  als  von 
seiner  Quelle  spricht,  doch  ist  der  Haupttheil  iilteren  Ursprungs, 
stammt  aus  den  Jahren  867 — 871  und  ist  wahrscheinlich  von 
jenem  Abt  Johann  einfach  in  sein  Work  biniibergenommen  worden. 
Als  Appendix  ist  oin  Catalog  der  Aebto  von  Monte  Cassino  aus 
dem  8.  Jahrhundert  abgedruckt  worden.  Darauf  folgen,  neben 
eiDander  gedruckt,  2  Cataloge  der  langobardischen  Konige  und  der 
Herzoge  und  Fiirstcn  von  Benevent,  welche  in  ibrcm  Haupttheil 
aas  einem,  dem  Chronicon  Casinense  einverleibten  Cataloge  ab- 
geleitet,  nachher  aber  selbstandig  fortgesetzt  sind,  und  das  auch 
schon  von  Pertz,  aber  als  Theil  der  Chronica  S.  Bcnedieti,  her- 
ausgegebene  Chronicon  comitum  Capuao,  endlich  noch  eine  ganzo 
AnzaM  von  Catalogi  regum  Langobardicorum  et  Italicorum. 

Eme  weitere  Gruppe  bilden  eine  Anzahl  von  theils  voll- 
siandig,  theils  in  Auszugen  herausgegebenen  Heiligengeschichten, 
welche  fur  die  Geschichte  Italiens  in  jenen  Jahrhunderten  manche, 
irenn  auch  nur  sparliche  und  oft  wenig  sichero  Nachrichten  ent- 
halten.  Sie  beginnen  mit  Auszugen  aus  don  Dialogen  Papst 
Gregors  des  Grossen  (fur  diesen  Zweck  sincl  die  altesten  und 
besten  Handschriften  neu  collationirt  worden),  darauf  folgt  die 
sehr  fabelhafte  Schrift  de  apparitione  S.  Michaelis  in  Monte 
Gargano  und  Stiicke  aus  der  vita  S.  Laurentii  Sipontini,  dann 
Tollstandig  die  vita  Paldonis,  Tatonis  et  Tasonis,  der  Griinder 
and  ersten  Aebte  des  Klosters  S.  Vincenz  am  Volturno ,  c.  750 
von  dem  Monche  Autjpert  geschrieben  und  spater  in  die  grosse, 
von  dem  Monche  Johannes  verfasste  Chronik  jenes  Klosters  auf- 
genommen,  aus  deren  Originalhandschrift  sie  hier  herausgegeben 
ist,  dann  die  durch  manche  eigenthiimliche  Nachrichten  inter- 
es8ante  Vita  S.  Barbati,  des  ersten  Bischofs  von  Benevent,  im 
9.  Jahrhundert  abgefasst,  darauf  eine  sehr  fabelhafte  Geschichte 
der  Griindung  des  Klosters  Monteamiato  durch  den  Langobarden- 
tonig  Rachis  und  die  vita  S.  Anselmi,  des  Griinders  des  Klosters 
Nonantula.  Es  folgen  dann  die  Beschreibungen  mehrorer  Trans- 
lationen  von  Heiligen  nach  Benevent  nnter  dem  ersten  Fursten 
Arichis,  endlich  Ausziige  aus  den  Lebensbeschreibungen  einigcr 
Uflteritalischer  HeiKger,  des  S.  Antonius,  Abts  von  Sorrcnt,  des 
S.  Sabinus,  Bischofis  von  Canosa,  und  des  S.  Pardus,  Bischofs 
von  Luceria. 

Den  Schluss  bilden  *  unter  dem  Titel  Historiae  Langobar- 
dorum  fabulosae  fiinf  spatere,  sagenhafte  Darstellungen  der  lango- 
bardischen Geschichte,  von  ihnen  waren  die  ersten  drei,  welche 
als  Einleitungen  oder  Anhange  zu  den  langobardischen  Gesetzen 
entstanden  sind,  schon  friiher  von  Anschutz  herausgegeben,  die 
beiden  letzten  sind  neu,  die  vierte  ist  einem  Florentiner  Codex 
entnommen  und  enthalt  eine  der  Erzahlung  des  Jacobus  de 
Hragine  in  der  Legenda  aurea  nahe  verwandte  Fabelgeschichte, 
die  fiinfte  ist  eine  kurze  Notiz,  welche  Bethmann  in  einem  Wiener 
Codex  geftinden  hat. 

Dem  Bande  ist  ein  reichhaltiger  Namenindex  und  ein  Glossar, 


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314       v-  Kalckstein,  Geschichte  des  franzosischen  Konigthums.    I. 

beide  von  Herrn  Holder -Egger  angefertigt,  beigegeben,  ferner 
funf  Schrifttafelil ,   yoii   denen   die   ersten  vier  Proben  aus  ver- 
schiedenen  Handschriften  des  Paulus,  die  fiinfte  aus  der  Original- 
handschrift  der  Gesta  episcoporum  neapolitanorum  enthalten. 
Berlin,  F.  Hirsch. 


LXIX. 

v.  Kalckstein,  C,  Geschichte  des  franzosischen  Koniathw 
unter  den  ersten  Capetingern.  Erster  Band:  Der  Kampf 
der  Robertinor  und  Karolinger.  gr.  8.  (XTO, 
524  S.)    Leipzig  1877,  T.  0.  Weigel.     10  M. 

Herr   v.  Kalckstein,   der   sich   auf  dem  Felde   der  alteren 
franzosischen  Geschichte  bereits   durch  zwei  umfangreichere  Ab- 

handlnngen    (Robert   der   Tapfere , ,    1872 ,   und  Markgral 

Hugo  v.  Neustrien,  Forsch.z.D.  Gesch.  XTV)  bekannt  gemacht  hat 
ist  in  dem  vorliegenden  Werke  zu  einer  grossoren  und  nicht  gerade 
leichten  Aufgabe  fortgeschritten,  indem  er  die  Geschichte  der 
ersten  Capetinger  im  Zusammenhange  darlegen  wilL  Wie  weit 
er  die  „erstenu  Capetinger  rechnet,  ist  nicht  ausdriicklich  an- 
gegeben,  aus  einer  Notiz  der  Vorrede  jedoch  wird  man  an- 
nehmen  diirfen,  dass  er  bis  Philipp  August  gehen  will.  Denn 
er  hebt  hervor,  dass  bis  zu  dem  genannten  KSnige  die  Geschichte 
der  Capetinger  wissenschaftlich  noch  nicht  geniigend  erforscht 
sei,  trotz  der  grosson  Bedeutung,  die  das  Haus  mit  seiner  porto- 
giesischen  Nebenlinie,  mit  seinen  Verzweigungen  nach  ItaUeo, 
Spanien  und  Ungarn  hinein  im  Lauf  der  Zeit  erlangt  habe.  — 
Gegen  diese  Ansicht  des  Verf.  hat  jedoch  Dummler  in  seiner 
Recension  des  Buches  (Lit.  Centr.-Bl.  1878,  Nr.  3)  Einspruch 
erhoben,  da  von  verschiedenen  Seiten  —  er  denkt  offenbar  aa<4 
an  seine  eigenen  Arbeiten  —  einzelne  Puncte  dieses  Abschnft* 
der  franzosischen  Geschichte  zum  Gegenstande  wissenschaftli(iff 
Untersuchungen  gemacht  seien.  Allein  die  Meinung  des  Vert 
geht  wohl  auch  nur  dahin,  dass  die  yon  ihm  ins  Auge  gefessta 
Periode  in  ihrer  Gesammtheit  und  im  Zusammen- 
hange  derjenigen  kritischen  Grundlage  noch  entbehre, 
ohne  die  von  wissenschaftlicher  Bearbeitung  allerdings  nicht  die 
Rede  soin  kann.  Wenn  nun  andrerseits  der  in  Redo  stehende 
Zeitraum  in  den  Hauptphasen  seiner  Entwickelung  bereits  bo- 
kannt  war,  so  war  es  in  der  That  wesentlich,  dass  einmal  eben 
jene  kritischo  Grundlage  hergestellt  werde.  Und  diesen  Zweck 
hat  der  Verf.,  wie  auch  Dummler  anerkannt,  der  im  Einzelnen 
allerlei  zu  berichtigen  findet,  vollstandig  erreicht:  in  ahnlicher 
Weise,  wie  in  den  Jahrbiichern  des  doutschen  Reichs  die  deat- 
sche  Geschichte  Schritt  fur  Schritt  verfolgt  wird,  hat  er  an  der 
Hand  der  Quellen  und  mit  steter  Beriicksichtigung  der  bereits 
vorhandenen  Bearbeitungen  und  Untersuchungen  alle  Details 
der  frauzosischen  Geschichte  festzustellen  versucht,  derart,  dass 

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v.  Kalckstein,  Geschichte  des  franzosischen  Konigthums.    L        315 

sein  Buch  nicht  nur  fiir  Deutschland,  sondern  auch  fur  die  fran- 
zosische Forschung  immer  ein  „point  de  depart"  sein  wird.  Von 
besonderer  Wichtigkeit  ist  dabei,  dass  es  der  Verf.  ermoglicht 
hat,  die  franzosische  Litteratur  in  bedeutendem  Umfange  zu  be- 
rnitzen:  was  es  fur  Schwierigkeiten  maclit,  franzosische  Publi- 
cationen  in  Deutschland  zu  erlangon,  sofern  es  nicht  so  bekannte 
Werie  sind,  dass  sie  sich  auf  jeder  grosseren  Bibliothek  finden, 
Weiss  Ref.  aus  eigner  Erfahrung.  Der  Vert  hatte  sich  hier  ein 
grosses  Verdienst  erwerben  konnen,  wenn  er  einleitungsweise 
eine  kritische  Uebersicht  iiber  die  fiir  seinen  Zeitraum  wichtige 
franzosische  Litteratur  gegeben  hatte,  etwa  so,  wie  Waitz  in 
Sybels  Zeitschrifb  vor  Kurzem  die  neueren  franzosischen  Arbeiten 
xlW  altero  franzosische  Verfassungsgeschichte  besprochen  hat. 
Denn  riihrig  sind  die  Franzosen  auf  dem  Gebiete  Ihrer  eigenen 
Geschichte  sehr,  mag  auch  die  Methode,  welche  insbesondere  die 
Ecole  des  Chartos  fiir  historische  Forschung  begriindet  hat,  in 
Frankreich  noch  nicht  in  gleichem  Maasse  Verbreitung  und 
sichere  Anwendung  gefunden  haben  wie  bei  uns1).  Doch  eine 
solche  UebeTsicht  kann  ja  jederzeit  nachgeholt  werden. 

Der  Zeitraum ,  den  der  Verf.  sich  zum  Gegenstande  der  Be- 
arbeitung  gewahlt  hat,  gewahrt  ein  besonderes  Interesse  dadurch, 
dass  er  einen  der  wichtigsten  Lehrsatze  nachweist,  welche  die  Ge- 
schichte iiberhaupt  bisher  hat  aufstellen  konnen :  dass  Staaten  von 
grosser  Ausdehnung  sich  nur  dann  zu  behaupten  vermogen,  wenn 
sie  Schritt  fiir  Schritt  sich  Fremdes  assimilirend  gewachsen  sind,  — 
wie  es  vor  alien  Dingen  bei  Rom  der  Fall  war  und  in  neuerer 
Zeit  bei  Preussen:  die  deutsche  Geschichte  bietet  dazu  den 
apagogischen  Beweis.  Auch  die  Capetinger,  die  ihre  Macht  „lang- 
sam  aber  sicher"  auszudehnen  verstanden,  waren  urspriinglich  wie 
die  Hohenzollern  ein  unbedeutendes  Geschlecht:  war  doch  ihr 
Ahnherr  Witichin  vermuthlich  nichts  weiter  als  ein  sachsischer 
Friling:  kriegerische  Tiichtigkeit  und  spater  auch  an  List  gren- 
zende  Klugheit  brachten  dann  das  Haus  bald  empor ,  ob  sie  auch 
t»  auggezeichnet  wie  die  Hohenzollern  die  Kunst  verstanden  haben, 
sfcets  eine  gefullte  Kasse  zu  besitzen,  wird  vielleicht  der  2.  Band 
Jehren;  im  ersten  kann  das  noch  nicht  recht  hervortreten,  weil 
unsere  Ueberlieferung  fur  die  Zeit,  die  er  umfasst,  doch  sehr 
liickenhaft  ist,  wie  der  gewissenhafte  Verf.  denn  auch  nie  unter- 
lasst,  durch  ein    „wahrscheinlichM    oder  „vermuthlichtt   u.  s.  w. 


')  Die  „archivistes  paloographes "  —  diesen  Titcl  orhalten  die  Zoglinge 
der  Ecole  des  Chartes  nach  Ablegung  dos  letzten  Examens  —  sind  jetzt  schon 
6ber  ganz  Frankreich  in  mannigfachcn  Stollungon  vorbreitet  and  fiir  exacte 
Bearbeitung  der  Qaellen  und  der  franzdsischen  Gcschichto  nborhaupt  in  sehr 
werkennengwerthor  Weise  thatig.  Da  os  in  Frankreich  Sitte  ist,  5ffentlicho 
Vorlesungen  (cours)  fiber  die  vcrschiedensten  Gegenstande  zu  halten,  so  werden 
sicherlich  die  Schuler  der  $cole  des  Chartes  dazu  beitragen,  die  dilettantische 
Beschaftigung  mit  der  Geschichto  zu  vertiefen,  die  erklarlicherweise  in  den 
vielen  historischen  Vereinen  in  Frankreich  noch  ebenso  vorherrscht  wie 
bei  uhb. 


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316        v-  Kalckstein,  Gescbichto  des  franzosisehen  Kdnigthums.    L 


dem  Leser  den  Grad  der  Sicherheit  anzudeuten,   welchen   seine 
Forschungen  erreichen. 

Bei  der  Fiille  des  Materials  und  Details,  welches  der  Vert 
bietet  —  und  er  schreibt  eigentlich  nur  fur  solche  Leser  ,  die 
rait  den  Thatsachen  und  Personen  bereits  recht  sehr  vertraut 
sind,  —  ist  es  nicht  leicht,  den  Inhalt  des  Buohes  in  kurzen  Ziigen 
zu  skizziren,  obwohl  dor  Verf.,  was  Nachahmung  verdient,  den 
wesentlichen  Inhalt  auf  jeder  Seite  oben  in  einer  kurzen  Legende 
angegeben  hat.  Es  wird  daher  am  besten  sein,  den  Inhalt  da 
Buches  in  dor  Weise  unsern  Leseni  vorzufiihren,  wie  ihn  der  Verf  • 
selbst  am  Schlussc  S.  461  ff.  zusammenfassend  giebt. 

„Robert  der  Tapfere  und  seine  Sohne  Odo  und  Robert  u,  sagt 
er,  „hatten  durch  ihre  Klugheit  und  ihren  Heldenmuth  ein  fest 
geschlossenes  Herrschaftsgebiet  an  der  mittleren  Loire  geschaffen 
und  dann  bis  zur  mittleren  Seine  orweitort.  Die  beiden  konnten 
selbst  die  Krone  bis  zum  Tode  gegen  den  unfahigen  Karl  den 
Einfaltigen  behaupten." 

„Allerdings  zeigten  die  karolingischen  Reactionen  dem  Sohn 
Konig  Roberts  I.,  wie  schwer  eine  vielangefochtene  Herrschaft 
selbst  schwachen  Karolingern  gegeniiber  zu  behaupten  sei.  Hugo 
der  Grosse  solbst  stellte  Karls  Sohn,  Ludwig  den  Ueberseeischcn, 
hor,  urn  als  Frankenherzog  in  dessen  Namen  zu  herrschen.  Er 
begriindete  die  robertinische  Herrschaft  dauernd  in  Bourgogne, 
wahrend  alle  Versuche  des  Geschlechts  auf  Aquitanien  erfolglos 
blieben,  und  schob  sein  Gebiet  weiter  und  weiter  nach  Osten 
vor.  Aber  Ludwig  glich  nicht  dem  Vater  und  zog,  nach  dem 
Scheitern  allor  Versuche,  selbstandige  Macht  zu  erringen,  vor, 
unter  dem  Schutze  seines  deutschen  Schwagers  Otto  d.  Gr.  zu 
stehen,  als  unter  dem  Einflusse  des  verhassten  Robertiners. 
Hugo  d.  Gr.  starb  bald  nach  dem  Konig,  und  die  machtigen 
Grafen  von  Anjou  und  Chartres  machten  sich  wahrond  der  Jugend 
seiner  Sohne  bereits  sehr  unabhangig  und  traten  in  unmittelbaiw 
Verhaltniss  zum  Konig  Lothar.  Dessen  Beschiitzer  Bruno  unter- 
stiitzte  den  thatkraftigen  Fursten  zur  Erreichung  manches  Er- 
folges.  Aber  die  Krafte  der  Ottonen  wurden  mehr  und  mehr 
durch  die  italienischen  Verhaltnisse  in  Anspruch  genommen  und 
vom  Weston  abgelenkt.  Hugo  Capet  besass  die  Schlauheit  und 
Frommigkeit  seines  Vaters  in  verstarktem  Maass,  aber  noch  weniger 
als  dieser  von  dem  riicksichtslosen  Heldenmuth  der  Robertdner. 
Er  riss  Lothar  als  iibermachtiger  Freund  in  erfolglose  Kampfe 
gegen  Otto  II.  und  naherte  sich  dem  Kaiserhause  zur  rechten 
Zeit.  Durch  treue  Erfiillung  der  Pflichten  als  Lehnsherr  erwarb 
er  unter  den  Grosson  immor  mehr  Freunde  und  gewann  die 
immer  machtiger  werdende  Geistlichkeit.  Adalbert  von  Reims 
loste  den  Bund  seiner  Vorganger  mit  den  Karolingern  und  er- 
kannte  in  Hugo  den  Mann  der  Zukunft.  Vorsichtig  und  gewandt 
nach  alien  Seiten,  wusste  Hugo  auch  Lothars  Sohn  zu  gewinnen  und 
setzte  dem  fremdgewordenen  Karl  von  Lothringen  gegeniiber 
seine  Konigswahl  durch.    Er  behauptete  seine  Krone  und  benutzte 


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Saucrland,  H.  V.,  Dio  Immunit&t  von  Metz.  317 

king  die  von  Gerbert  und  Arnulf  geleitete  bischofliche  Opposition 
gegen  Rom,  wenn  er  auch  bei  den  Schwierigkeiten  seiner  Lage 
nicht  mit  voller  Energie  daran  festhalten  konnte.  Sein  Sohn  da- 
gegen,  als  Sclave  seiner  Leidenschaft  und  der  Monche,  schloss 
einen  demiithigenden  Frieden.  Binnen  150  Jahren  waren  die 
Nachkommen  des  sachsischen  Einwanderers  Konige  von  Frankreich 
geworden,  hatten  ein  wenigstens  dem  Namen  nach  einheitliches 
fleich  in  den  Formen  des  Lehnsstaates  gegriindet.  Die  Aner- 
kennung  des  Lehnsprincips  und  die  breitere  territoriale  Grund- 
lage  sicherten  die  Capetinger  vor  dem  Schicksal  ihrer  Vorganger. 
Sie  sollten  das  von  den  Robertinern  geschaffene  franzosische 
Komgthum,  so  schwach  es  noch  war,  allmalig  zu  wirklicher 
nationaler  Bedeutung  erhebenu. 

Vier  Excurse  behandeln  einzelne  Puncte  mit  grosserer  Aus- 
ffiiriichkeit :  die  Genealogie  der  Robertiner  —  die  Familie  der 
zweiten  Gemahlin  Ludwigs  des  Stammlers,  Adelhsid,  —  die  Quellen 
der  Geschichte  Konig  Odos,  insbesondere  die  sagenhafte  Ueber- 
liefenmg  —  und  die  spateren  Ueberlieferungen  tiber  die  Scblacht 
bei  Soissons.  Endlich  vervollstandigt  ein  sorgfaltig  gearbeiteter 
Index  das  verdienstvolle ,  aber  nicht  leicht  geschriebene  Werk. 
Berlin.  Edm.  Meyer. 

LXX. 
Sauerland,  H.  V.,  Die  Immunitat  von  Metz  von  ihren  Anfangen 

bis  zum  Ende  des  elften  Jahrhunderte.    gr.  8.  (158  S.)  Metz 

1877.  Deutsche  Buchhandlung.  3,20  M. 
Der  Verf.  weist  in  der  Einleitung  darauf  hin,  dass  die  Ent- 
stehung  der  freien  Reichsstadt  Metz  nicht,  wie  von  franzosischen 
Hi8torikern  behauptet  worden  ist,  in  der  alten  romischen  Stadte- 
verfassung  zu  suchen  ist,  sondern  in  den  Immunitatsrechten,  die 
von  den  deutschen  Konigen  und  den  Kaisern  dem  fiirstlichen 
Territorium  der  Metzer  Bischofe  verliehen  wurden.  Er  stiitzt 
aA  fur  seine  Schrift  iiber  die  Immunitaten  besonders  auf  die 
tahnbrechenden  Untersuchungen  Klippfel's  und  auf  Sickel's  diplo- 
fflatische  Arbeiten  zur  Interpretation  der  beziiglichen  Urkunden, 
von  denen  zehn  in  anerkennenswerther  Weise  als  Beilagen  abge- 
druckt  werden. 

Er  geht  aus  von  der  grossen  Machtstellung,  die  die  Bischofe 
miter  der  Herrschaft  der  Merowinger  erlangt  hatten,  und  von 
der  besonders  hervorragenden,  die  Arnulf,  dor  eigentliche  Ahn- 
Wr  der  Karolinger ,  als  Bischof  von  Metz  (610 — 625)  einnahm. 
Die  alteste  Urkunde  datirt  allerdings  erst  aus  dem  Jahre  775, 
worm  aber,  auf  Grund  vorgelegter  alterer  Diplome,  Karl  der 
Grosse  dem  Bischof  Angilram  (768 — 791)  die  damals  gebrauch- 
lichen  Immunitatsrechte  fiir  seine  gegenwartigen  und  noch  zu 
erwerbenden  Besitzungen  bestatigt.  Dem  koniglichen  Richter  ist 
^s  damach  verboten,  das  bischofliche  Gebiet  und  das  der  ihm 
uutergebenen  Kloster  und  Kirchen   zu  betreten,  urn   irgend  eine 

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318  Sauerland,  H,  V.,  t)ie  Immunittit  Ton  Metz. 

gerichtliche  Verhandlung,  irgend  einen  richterlichen  Act  zu  voll- 
ziehon  oder  konigliche  Gefalle  zu  erheben.  Nur  drei  Falle 
bleiben  dem  koniglichen  Grafen  reservirt:  Fur  nicht  geleisteten 
Heerdienst,  Briickenbau  und  Wachtdienst  bleiben  die  Freien  (illi 
homines  bene  ingenui)  letzterem  verantwortlich  reap,  zar  Zahlung 
der  Busse  an  ihn  verpflichtet.  Die  Einnahme  der  Gefalle,  be- 
sonder8  der  fructus  jurisdictions,  welche  friiher  dem  Grafen  zu- 
kamen ,  steht  dem  Immunitatsherrn  d.  h.  dem  Bischof  und  seinen 
Beamten  zu,  welche  auch  bei  Reohtshandeln  den  Verkehr  der 
Insassen  des  Gebietes  mit  diesem  vermitteln. 

Wie  auch  sonst  im  frankischen  Reich  mindert  sich  hier 
rasch  die  Zahl  der  Reichsfreien,  die,  urn  der  lastigen  Heerbann- 
pflicht  zu  entgehen,  sich  zu  Censualen  (Zinsleuten)  der  Metzer 
Kirche  machen.  Ein  Fall  aus  der  Zeit  des  Bischofs  Drogo 
(824—55),  eines  natiirlichen  Sohnes  Karl's  des  Grossen,  wird 
yon  Konig  Lothar  (II.)  857  urkundlich  bestatigt.  Der  Verf. 
ist  iibrigens  den  Nachweis  schuldig  geblieben,  dass  dadurch  ein 
neues  Recht  geschaffen  wurde,  insofern  der  Graf  bisher  berechtigt 
oder  vielmehr  verpflichtet  war,  jeden  personlich  Freien  zum 
Heerdienst  u.  s.  w.  heranzuziehen,  und  der  Censuale  war  ja  ein 
solcher,  die  Heerbannpflicht  beruhte  nach  deutschem  Recht  auf 
dem  vollen  freien  Grundbesitz,  nicht  auf  der  personlichen  Freiheit 

Bischof  Adalbero  I.  (928 — 964),  ein  naher  Verwandter  des 
Lothringerherzogs  Giselbert,  ein  Halbbruder  des  spateren  Herzogs 
Friedrich,  erwirbt  960  den  Geriohtsbann  fiir  sein  Gebiet  mit  den 
darauf  wohnenden  Freien,  d.  h,  die  vollen  grafschaftlichen  Rechte, 
mit  dem  Recht,  den  Vogt  und  Untervogt  zu  ernennen  iiber  Stadt, 
Gau  und  Bisthum  Metz,  welches  letztere  weit  die  Granzen  des 
alten  Metzer  Gaues  iiberschritt.  Der  konigliche  Graf  wird  da- 
durch ganz  beseitigt:  An  die  Stelle  des  graflichen  Heerbannes 
treten  die  bischoflichett  Vasallen  und  Ministerialen,  an  die  Stelk 
des  koniglichen  Grafen  der  bischofliche  Obervogt,  der  sich  jet^ 
zum  Unterschiede  von  dem  Metzer  Stadtvogt  und  den  Unto- 
vogten  Graf  von  Metz  nennt;  an  der  Spitze  der  Metzer  Hof- 
beamten  erscheint  der  Pfalzgraf.  Nicht  unwahrscheinlich  ist, 
dass  Adalbero  schon  neben  den  anderen  Regalien  auch  das  Miinx- 
recht  hatte,  sicher  ist,  dass  sein  Nachfolger  Theodorich  (965 — 
984),  ein  Vetter  Otto's  I.,  es  ausiibte,  der  auch  die  Immunitat 
seiner  Eingesessenen  muthig  und  entschlossen  gegen  die  Ueber- 
griffo  machtiger  Nachbarn  und  der  eigenen  Vogte  in  Schutz 
nimmt. 

Der  Obervogt  (Graf  von  Metz)  wie  die  anderen  Vogte, 
welchen  die  Gerichtsbarkeit  und  die  Vertheidigung  ihrer  be- 
trefifenden  Territorien  iiberwiesen  war,  waren  Vasallen;  nicht 
allein  erheben  sie  ihren  Anspruch  an  die  Gerichtsgefalle  und 
den  erblichen  Besitz  ihrer  Lehen,  auch  sonst  erlauben  sie  sich 
vielfach  Uebergriffe,  so  dass  besouders  Kirchen  und  Kloster 
schwere  Klagen  erheben,  und  schon  Bischof  Adalbero  IL  (984 — 
1005),  ein  Neffe  Bischof  Adalbero's  I.  und  Sohn  Herzog  Friedrich's. 

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Ebeling,  Zur  Characteristic  Adalberts  von  Bremen.  319 

gegen  die  Vogte  vorgeht.  Unter  Bischof  Adalbero  III.  (1046 — 
1072)  bestatigen  Heinrich  HI.  1062  und  Heinrich  IV.  1070  die 
alien  Immunitatsrechte :  dieselbe  Formeln,  welche  damals  dazu 
gedient  hatten,  die  koniglichen  Grafen  aus  dem  bischoflichen 
Gebiete  hinauszudrangen,  werden  nun  dazu  benutzt,  die  Vogtei- 
gewalt  abzuschaffen.  Die  Befugniss  und  Verpflichtung  der  Vogte 
wind  auf  die  Vertheidigung  der  Gerichtsbezirke  beschrankt  und 
die  Theilnahme  an  der  Gerichtsbarkeit  nur  bei  Aufforderung  der 
Lehnsherrn  gestattet ;  die  Ausiibung  derselben  wird  Ministerialen 
iibertragen.  Erst  mit  dem  Jahre  1225  findet  hier  ein  gewisser 
Abschluss  statt,  wo  die  einzige  Tochter  des  letzten  Grafen  von 
Dagrirorg  stirbt,  in  dessen  Besitz  die  Obervogtei  oder  Grafschaft 
von  Metz  gewesen  war.  Die  Leben  desselben  werden  in  diesem 
Jahre  eingezogen  und  nicht'  weiter  vergeben. 

E8  ist  zu  bedauern,  dass  der  Verf.  den  Einfluss  dieser  Ent- 
wk&elung  auf  die  Stadt  Metz,  die  Regungen  nach  stadtischer 
Freiheit  und  die  Erringung  der  Unabhkngigkeit  der  Stadt  von 
der  bischoflichen  Gewalt  nicht  angegeben,  noch  weniger  verfolgt 
hat  Dagegen  bespricht  er  im  letzten  Abschnitt,  vorliegenden 
Urknnden  folgend,  die  Verhaltnisse  verschiedener  Immunitats- 
eiagesessener,  erwahnt  die  altesten  Metzer  Hofrechte  und  die 
Exemtionen  der  Abteien  und  des  Domkapitels.  Der  ganze  Ab- 
schnitt  kommt  zu  keinem  einhcitlichen  Abschluss;  man  kann 
nur  wiinschen ,  dass  der  Verf  den  in  den  drei  vorhergehenden 
Abachnitten  eingeschlagenen  Weg  weiter  verfolgt,  urn  die  Ent- 
stebung  und  Entwickelung  der  Stadt  Metz  historisch  darzulegen. 

Berlin.  J.  Schirmer. 


LXXL 
Ebeling,  Zur  Charakteristik  Adalberts  von  Bremen.    Programm 
der  Realschule  I.  O.  zu  Vegesack.  1878.  4.    (18  S.) 

Bervorragende  Personlichkeiten  sind  mehr  als  gewohnliche 
SterbKche  der  Verkennung,  dem  Neide  und  Hasse  sowie  der 
Verlaamdung  yon  Mit-  und  Nach  welt  ausgesetzt.  Erzbischof 
Adalbert  von  Bremen,  dessen  machtige  Gestalt  uns  in  dem 
Geschichtswerke  Adams  von  Bremen  in  anschaulicher  Lebendig- 
keit  und  Grosse  entgegentritt,  war  der  bestgehasste  Mann  seiner 
Zeit;  die  Marchen,  welche  seine  Feinde  uns  tiber  seine  Habsucht 
ond  Sittenlosigkeit  aufgetischt  haben,  verschwinden  allmahlich 
aus  unsern  historischen  Lehrbuchern ,  und  jetzt  glaubt  Niemand 
^h,  dass  Adalbert  aus  seinem  koniglichen  Zogling,  dem  spateren 
Konig-  Heinrich  IV.,  durch  Nachsicht  gegen  dessen  Leiden- 
schaften  und  Ausschweifungen  sich  ein  gefiigiges  Werkzeug 
fiir  seine  ehrgeizigen  Plane  habe  erziehen  wollen.  —  Adalbert 
gehort  zu  jenen  grossartig  angelegten  Charakteren,  welche,  ge- 
Weben  von  unersattlichem  Ehrgeiz,  mit  einer  Zahigkeit  ohne 
Gleichen  an  der  Verwirklichung  ihrer  Idpen  arbeiten;  so  hat  er 

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320  Baltzor,  M.,  Zur  Geschichte  des  dcutschen  Kriegswesena. 

mit  rastlosem  Eifer",  mit  dem  Opfer  seiner  personKchcn  Stellung 
als  der  machtigste  Bischof  des  Nordens  sein  Leben  lang  nach 
der  Wiirde  eines  nordischen  Patriarchen  gestrebt.  Selbst  nach 
dem  Tode  Papst  Leo  IX.  im  Jahre  1054  liess  er  die  Patriarchata- 
idee  nicht  fallen ;  ohne  dieselbe  erfiillt  gesehen  zu  haben  ist  er 
am  16.  Marz  1069  zu  Goslar  gestorben;  sein  tiefer  Stun  im 
Jahre  1066  hatte  die  Kraft  des  Riesen  gebrochen,  und  seine 
nach  drei  Jahren  erfolgte  Wiedereinsetznng  vermochte  nidrt. 
ihn  von  den  Nachwirkungen  der  erlittonen  Seelenqualen  m 
befreien. 

Dieser  Auffassung  widerspricht  die  Darstellung  bei  Dehiok 
seiner  Geschichte  des  Erzbisthums  Hamburg  -  Bremen ,  da  er 
Adalbert,  den  Trager  der  Patriarchatsidee,  bald  zogern,  bald 
mit  Widerstreben  seinen  eignen  Planen  folgen  lasst.  Es  ist  ein 
Verdionst  Ebeling's,  in  seiner  sehr  lesbaren  Abhandlimg  diese 
Ansicht  als  auf  falscher  Erkliirung  einer  Stelle  bei  Adam  yod 
Bremen  III,  32  beruhend  zuriickgewiesen  zu  haben.  In  gldcher 
Weise  hatte  das  quamlibet  invitus  Laurent  in  der  Uebersetzmig 
der  Bremer  Chronik  S.  143  verstanden;  die  richtige  Deutnag 
der  beriihmten  Stelle  III,  45,  welche  vom  Wiirzburger  Ducat 
handelt,  hat  vor  Ebeling  schon  Henner:  die  herzogliche  Qewalt 
der  Bischofe  von  Wirzburg  1874  S.  108  gegeben. 
Bremen.  Dietrich  Konig. 


LXXII. 
Baltzer,  Martin,  Zur  Geschichte  des  deutschen  Kriegswaseos 
in    der  Zeit  von   den   letzten  Karolingern  bis  auf  Kaiser 
Friedrich  II.  gr.8.(VUI,116S.)  Leipzig  1877.  S.  Hirzel.  1,60 1L 

Erst  auf  Grund  der  streng  wissenschaftlichen  Publikationefl 
unserer  mittelalterlichen  Historiker  in  den  Monumenta  Germm 
und  in  verwandten  Sammlungen  und  nachdem  die  modern 
germanistische  Schule  den  Quell  mittelhochdeutscher  Po^sie  wieder 
erofl&iete,  ist  es  moglich  geworden,  nicht  nur  fur  die  politische 
Geschichte  unserer  Nation  feste  Grundlagen  zu  schaffen,  sondern 
auch  das  Verfassungs-  und  Culturleben  derselben  eingehenderen 
Studien  zu  unterziehen*  M.  Baltzer,  ein  Schuler  von  Nitzsch, 
Ficker  und  Scheffer-Boichorst,  hat  es  unternommen  im  Anschlus 
an  San  Marte's  Buch  ttber  die  altere  deutsche  Waflfenkunde  vd 
ahnliche  Arbeiten,  die  zerstreuten  Notizen  iiber  die  deutsck 
Heerverfassung  von  900 — 1250  mit  ungemeinem  Fleisse  zii  sammelB. 
ohne  dabei  neuere  Untersuchungen  von  Wichtigkeit  unberiick- 
sichtigt  zu  lassen.  Die  Arbeit  wurde  ausserdem  durch  eine  noch 
ungedruckte  Abhandlung  Ficker's  iiber  die  Beichsheerfahrt  wesent- 
lich  gefordert. 

L  Zur  Geschichte  der  Kriegsverfassung.  Nach 
dem  Verfall  des  karolingischen  Reiches  trat  das  Volksaufgebot 
wegen    seiner  geringer^p   Leistungsfahigkeit,  weil   es  nicht  he- 


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Baltzer,  M.,  Zur  Geschichte  des  d&utschen  Kriegswoseus.  321 

ritten  war,  melir  und  mehr  in  den  Hintergrund  und  es  bildete 
sich  dagegen  ein  eigener  Kriegerstand  aus  Vasallen  und  Mini- 
steriaIenY  welcher  urn  Lohn  diente.  Aus  ihm  entwickelte  sich  das 
Ritterthum,  gekennzeichnet  durch  eine  besondere  Tracbt  und  die 
Sctorertleite,  einen  im  12.  Jahrhundert  mit  dem  Rittereide  ver- 
bundenen  kirchlichen  Akt.  AUmahlich  verlor  dieselbe  die  Be- 
deutang  der  Wehrhaftmachung  und  wurde  noch  in  spaterem 
Alter  an  vielen  Ritterbiirtigen  vollzogen.  Deshalb  finden  wir  im 
zwolften  Jahrhundert  neben  den  Rittern  auch  andere  Krieger  in 
dem  Reichsheere,  vorzugsweise  Sarjanten  genannt,  ahnlich 
wie  in  Bohmen  milites  primi  und  secundi  ordinis,  in  Polen  lori- 
cati  und  clipeati  geschieden  werden.  Die  Grundlage  der  Reichs- 
biegsverfassung  ist  das  Lehnswesen,  denn  der  ritterliche  Kriegs- 
dienst  wird  nicht  umsonst,  sondern  gegen  Entgelt  geleistet.  Die 
Verpflichtung  zum  Reichskriegsdienst  beruhet  nicjit  auf  dem 
Gnmdbe8itz  als  solchem,  sondern  nur  auf  dem  Lehnbesitz,  sofern 
dieser  eben  die  Entschadigung  fur  die  militarische  Leistung  ver- 
tritt.  Ritter,  welche  weder  Vasallen  noch  Ministerialen  waren, 
hat  es  in  unserer  Epoche  wenig  oder  keine  gegeben.  Auf  dem 
Allod  ruhte  keine  Dienstpflicht. 

Seit  der  Zeit  Heinrich's  IV.  wurde  es  Regel,  dass  die  Fiirsten 
die  Reichsheerfahrten  erst  beschlossen  und  sich  dann  durch  einen 
Eid  verpflichteten ,  am  bestimmten  Ort  zu  bestimmter  Zeit  er- 
scheinen  zu  wollen.  Diese  Einrichtung,  welche  Fiirsten  und  Kaiser 
zugleich  band,  ist  ungefahr  bis  1240  nachzuweisen.  Auf  die 
Dienste  der  Afterbelehnten ,  Vasallen  oder  Ministerialen  konnte 
der  Konig  keinen  Anspruch  machen.  Weigerten  die  Fiirsten  die 
Zostimmung  zur  Reichsheerfahrt ,  so  war  er  auf  seine  eigenen 
milites  angewiesen,  die  im  Anfang  unserer  Periode  von  der  Pfalz- 
ferwaltung  abgehangen  zu  haben  scheinen. 

Wie  viele  Einrichtungen  der  Kriegsverfassung  Karls  des 
Gros8en,  so  hatte  sich  der  Theorie  nach  auch  die  Wehrpflicht 
riler  freien  Manner  bis  in  unsere  Epoche  herein  erhalten.  Der  Konig 
whrieb  aber  nur  noch  vor,  wie  viel  Mann  jeder  Fiirst  auf  bringen 
wllte,  und  zwar  war  die  Zahl  nicht  immer  die  gleiche.  Den 
Fiirsten  war  im  allgemeinen  iiberlassen,  welche  ihrer  Vasallen 
pd  Ministerialen  sie  zum  Dienst  heranziehen  wollten.  Es  gab 
in  yielen  Lehn-  und  Diensthofen  Lehn,  die  alle  eine  bestimmte 
Grosse  hatten,  auch  Lehn,  von  denen  eine  bestimmte  Anzahl  Ritter 
zu  stellen  war;  dass  aber  durchgangig  auf  ein  gewisses  Land- 
Jnass,  das  jemand  zu  Mann-  oder  Dienstlehn  hatte,  ein  Ritter 
torn,  ist  nicht  zu  erweisen. 

Jede  Reichsheerfahrt  wurde  von  Rechtswegen  feierlich  vorher 
angekiindigt ,  sodass  zwischen  dem  Ansagen  und  Anheben  ein 
competens  spatium  dazwischenlag.  Ministerialen  konnte  der  Herr 
nach  seinem  Belieben  zur  Theilnahme  am  Feldzug  oder  zu  einer 
Heersteuer  heranziehen,  Vasallen  urspriinglich  nur  zur  Theil- 
nahme.   Nicht  nur  auf  den  Romerzugen,  sondern  auch  auf  andern 

MUtheUnngen  a.  d.  hiator.  Litteratur.    VI.  21 

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322  Baltzer,  M.,  Zur  Geschklite  des  deutschen  Kriegsweaena, 

Heerfahrten  wttrde    das  Heer  gemustert  und  festgestellt,  wer 
etwa  saumig  gewesen  war. 

II.  Zur  Geschichte  der  militarischen  Technik. 
Die  deutschen  Ritter  (milites)  sind  anfangs  nur  mit  Schwert, 
Speer  und  Schild  bewaffnet.  Von  den  Angriffswaffen  bedienten 
sie  sich,  zumal  die  Sachsen,  mit  besonderer  Geschicklichkeit  des 
Schwertes,  wahrend  der  Speer  noch  bis  in  das  10.  Jahrhundert 
al8  Wurfgeschoss  gebraucht  wurde.  Da  man  noch  nicht  allge- 
mein  Helm  und  Harnisch  fiihrte,  so  war  der  Schild  von  besondew 
Wichtigkeit.  Auch  wenn  man  Harnische  trug,  so  waren  dies  im 
Anfange  unserer  Periode  noch  in  der  Regel  Briinnen,  welck 
weder  den  Nacken  noch  die  Beine  schiitzten,  im  elften  Jahr- 
hundert wurden  die  Halsbergen  haufiger  und  gegen  Ende  des 
12.  hat  man  auch  die  Streitrosse  zu  bepanzern  angefangen.  Ein 
Pferd  geniigte  nun  dem  Ritter  nicht  mehr,  seit  1050  tritt  daher 
die  Sitte  hervor,  mindestens  einen  dextrarius  (Schlachtross)  nebeu 
dem  palafredu8  ins  Feld  zu  fiihren.  Die  Schwere  der  Riistunj 
erforderte  es  ausserdem,  Harnisch  und  Schild  auf  dem  Marsche 
abzulegen  und  als  Gepackstiicke  transportiren  zu  lassen,  wie  die 
Mantelsacke,  Kleider,  Decken,  Tticher,  Gefasse  und  Zelte. 

Das  Futter  fur  die  Thiere  nahm  man  in  Deutschland  unter- 
wegs  unentgeltlich,  wo  man  es  fand,  den  Proviant  fur  die  Mann- 
schaften  fiihren  Volks-  und  Ritterheere  noch  bis  ins  11.  Jahrhundert 
hinein  regelmassig  mit  sich.  Spater  wurde  der  Bedarf  theik 
requirirt,  theils  gekauft,  indem  fur  die  Heere  Markte  abgehalt«ii 
wurden.  Als  Transportmittel  dienten  Wagen,  Saumthiere  nnd 
Schiffe.  Die  Trossknechte  hatten  den  niederen  Lagerdienst  m 
verrichten  und  zu  fouragieren,  sie  sind  theils  beritten,  theils  Fuss- 
ganger  und  in  der  Regel  unbewaffnet.  AusseTdom  folgen  den 
Heeren  fabri  und  wenigstens  seit  der  Mitte  des  12.  Jahrhundert? 
auch  Kaufleute.  In  der  Regel  lagerte  man  im  Freien  untff 
Zelten,  denn  ein  Recht  des  Kiinigs,  Heere  in  Ortschaften  cinsJ- 
quartieren,  ist  nicht  nachzuweisen.  Das  Lager  wurde  auf  griin& 
Wiesen  in  der  Nahe  fliessender  Gewasser  unbefestigt  aufgeschlagen- 
Je  eine  grossere  Anzahl  von  Rittern  bildete  ein  contubemiinn, 
das  seine  eigene  Parole  hatte.  Fur  die  Unterbringung  der  Truppen 
sorgte  der  Marschall,  der  auch  den  innern  Dienst  iiberwachte  usA 
die  Disciplin  erhielt 

Die  deutsohen  Ritter  waren  bis  ins  zwolfte  Jahrhundert 
hinein  noch  ungeschickte  Reiter  und  vorzugsweise  Fusskampfer. 
Wenn  sie  in  der  Schlacht  zu  Ross  stritten,  so  geschah  der  An- 
griff  in  geschlossener  Linie.  Wo  moglich  formierte  man  mehrere 
Treffen  hinter  einander,  das  Recht  des  Vorkampfes  war  viel  be- 
gehrt  und  umstritten.  Das  Banner  stand  in  engstem  Zusammen- 
hange  mit  der  Befehlsf  iihrung ,  in  kritischer  Lage  trug  der  Herr 
sein  Banner  wohl  selbst  im  Kampfe  voraus,  sonst  ernannte  er 
einen  seiner  Mannen  zum  signifer  fiir  den  ganzen  Feldzug  Q&® 
nur   fiir  ein   einzelnes   Treffen.     Manche   Fiirsten    hatten  anch 

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Friedensburg,  Dr.  W.,  Ludwig  IV.  d.  Baier  u.  Friodrich  v.  Oesterreich.  323 

standige  Bannertragor,   welche   dann  wohl  dafiir  ein  besonderes 
Lehn  erhielten. 

Berlin.  Ernst  Fischer. 


Lxxin. 

Friedensburg,  Dr.  Walter,  Ludwig  IV.  der  Baler  und  Friedrich 
von  Oesterreich,  von  dem  Vertrage  zu  Trausnitz  bis  zur 
Zusammenkunft  in  Innsbruck  1325—1326.  gr.  8.  (83  S.) 
Gottingen  1877.  R.  Peppmiiller.     1,80  M. 

Die  erste  Veranlassung  zu  der  vorliegenden,  aus  der  Schule 
wn  Weizsacker  hervorgegangenen  Schrift  gab  wohl  die  1875 
nnter  dem  Titel  „Die  Auseinandersetzung  zwischen  Ludwig  IV. 
dem  Baier  und  Friedrich  dem  Schonen  von  Oesterreich  im  Jahre 
lS2bu  erschienene  Abhandlung  von  R.  Dobner,  deren  Resultate 
ron  Friedensburg  bei  massvoller  Polemik  mit  den  schlagendsten 
Griinden  angefochten  werden.  Wir  geben  im  Folgenden  die 
Differenzpunkte  beider  Untersuchungen  wieder.  Zunachst  die 
Ansicht  Dobners.  Als  die  Unterhandlungen  des  aus  der  Gefangen- 
schaft  zu  Trausnitz  entlassenen  Konig  Friedrichs  mit  seinen 
Briidern  ohne  Erfolg  geblieben  sind,  und  diese  daher  zusammen 
unter  Mitwissen  Konig  Ludwigs  durch  eine  von  Herzog  Albrecht 
an  Papst  Johann  XXIL  im  Jahre  1325  abgeordnete  Gesandt- 
schaft  vergeblich  von  der  Curie  die  Anerkennung  Friedrichs  als 
deutechen  Konig  gefordert  haben,  findet  eine  Annaherung  zwischen 
den  Gegenkonigen  statt,  und  eine  Folge  derselben  ist  die  formelle 
Bestatigung  der  thatsachlich  wohl  schon  lange  vor  dem  1.  Sept. 
gemeinsam  geiibten  Regierung  durch  den  Munchener  Vertrag 
am  5.  Sept.  1325.  Da  dieser  an  dem  Widerstande  der  Kurfiirsten 
acheitert,  kommt  es  zu  einem  zweiten  Uebereinkommen  in  Ulm 
^n  7.  Jan.  1326,  in  dem  Ludwig  an  Friedrich  das  Reich  abtritt. 
Mit  dem  am  28.  Febr.  1326  erfolgten  Tode  Herzog  Leopolds 
*W  glaubt  sich  Ludwig  nicht  mehr  an  die  Ulmer  Erklarung 
gebunden  und  verweist  Friedrich  auf  die  im  Munchener  Vertrage 
gewahrten  Bedingungen  zuriick. 

Die  Untersuchung  Friedensburgs  dreht  sich  in  ihrem  Angel- 
pnnkte  wesentlich  urn  jene  von  den  Forschern  bald  in  das  Jahr 
1325,  bald  1326  verlegte  Gesandtschaft  Herzog  Albrechts  an  den 
Papst,  welche,  wie  der  Vert  scharfeinnig  und  unter  richtiger 
^erworthung  einiger  von  Dudik  1852  aus  den  papstlichen 
Regesten  gezogenen  Mittheilungen  nachweist,  endgiltig  fur  das 
ktztgenannte  Jahr  in  Anspruch  zu  nehmen  ist.  Die  Nachpriifung 
der  Dobnerschen  Arbeit  f iihrte  zu  folgendem  Resultat :  trotz  der 
^tgegengesetzten  Bemiihungen  seiner  Briider  bleibt  Konig  Fried- 
rich dem  Trausnitzer  Vertrage  treu  und  schliesst,  da  er  wie 
Ludwig  auf  gleiche  Weise  vom  Papste  und  von  Frankreich  in 
dem  Besitze  der  deutschen  Konigskrone  bedroht  werden,  mit 
seinem  Gegner  den  Munchener  Vertrag,  in  welchem  der  schon 

21* 

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324     Ebrard,  Dr.  Fr.,  i)er  erste  Annfcherungsversuch  Konig  Wenzek 

damal8  nach  dcr  Kaiserkrone  ausschauende  Baicr  Friedrich  die 
Herrschaft  in  Deutschland  als  Konig  zugesteht,  sich  aber  die 
Erwerbung  der  Kaiserkrone  und  die  Ausiibung  der  Hoheitsrechte 
in  Italien  vorbehalt,  wahrend  Herzog  Leopold,  freilich  nach  der 
einzigen  Angabe  Villauf  s,  ihn  als  Generalvicar  dorthin  begleiten 
soil.  Durch  die  Weigerung  der  Kurfiirsten,  den  Vertrag  anzu- 
erkennen,  wird  Ludwig  in  der  Ulmer  Erklarung  gezwungen,  sich 
den  Forderungen  der  Oesterreicher  zn  fiigen,  nach  welchen  ^obne 
Riicksicht  auf  die  Kurfiirsten  die  Entscheidung  in  die  Hande  <fa 
Papstes  gelegt  wird".  Der  Tod  Herzog  Leopolds  verringerte  & 
Aussichten  der  Habsburger,  doch  trat  keine  Aenderung  des  Ver- 
haltnisses  zwischen  Friedrich  und  Ludwig  ein;  jene  betriebea 
beim  heiligen  Stuhle  energisch  die  Anerkennung  Friedrichs,  und 
jetzt  erst  geht  die  oben  erwahnte  Gesandtschaft  an  den  Papst 
ab,  welche  mit  leeren  Handen  zuriickkehrt.  Dadurch  vergrossern 
sich  Konig  Ludwigs  Aussichten;  Ende  Dec.  1326  kommt  es 
zwischen  lhm  und  Friedrich  zu  einer  Zusammenkunft  in  Inns- 
bruck, welche  jedoch  keine  definitive  Auseinandersetzung  brachte; 
der  Verf.  ist  der  Ansicht ,  dass  Ludwig  seinem  Gegner  nur  die 
Fiihrung  des  Konigstitels  (?),  nicht  aber  Theilnahme  an  der 
Reichsregierung  zugestanden  hahe.  Factisch  verschwindet  Fried- 
rich seitdem  von  dem  Schauplatz  der  Geschichte. 

Die  Bewei8fiihrung  Friedensburgs  ist  klar  und  iiberzeugend; 
dass  manche  Glieder  in  der  Kette  der  diplomatischen  Verhand- 
lungen  nur  durch  Mutmassungen  erganzt  werden  konnen  wie 
S.  40,  58,  liegt  an  dem  Mangel  urkundlicher  Ueberlieferung. 
Uebersehen  ist  ein  Aufsatz  von  Wichert  in  den  Forschgn.  t 
deutsch.  Gesch.  B.  XVI.  Den  Schluss  der  Schrift  bildet  eiue 
Beilage ,  welche  den  Beweis  fuhrt ,  dass  Konig  Friedrich  bereite 
urn  Mitte  Marz  1325  aus  seiner  Haft  auf  der  Trausnitz  entlassen 
worden  ist  und  wahrscheinlich  iiber  Miinchen  seinon  Weg  raA 
Oesterreich  nahm. 

Bremen.  Dietrich  Konig. 

LXXIV. 
Ebrard,  Dr.  Fr.,  Der  erste  Annaherungsversuch  Konig  Weruels 
an  den  SchwSbisch-Rhelnischen  Stfidtebund  1384—1385.  Hit 

7  ungedruckten  Actenstiicken.   gr.  4.  (32  S.)    Strassburg  1877. 
K  J.  Trubner.     2  M. 

Es  ist  bekannt,  dass  Konig  Wenzel  nach  einer  an&ngs 
fiirstenfreundlichen  Politik  sich  allmahlich  den  Stadten  zuwandte: 
iiber  den  Zeitpunkt  aber,  in  welchem  diese  Aenderung  eintrat, 
gingen  die  neusten  Forschungen  auseinander.  Weizsacker  in  den 
Reichstagsacten  (Vorw.  C.  II.  u.  S.  427  f.)  zog  aus  den  spar- 
lichen  Notizen  der  Frankfurter  und  Niirnberger  Stadtrecbnungen 
den  Schluss,  dass  Wenzel  bereits  gegen  Ende  des  Jahres  13S4 
eine  „Einmiithigkeit"  mit  den  Stadten  zu  Stande  zu  brings 
suchte,    urn   seiner  von  den  Fiirsten   geplanten   Absetzung  wi 


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l|brard,  Dr.  Fr.,  Der  erste  Annaherungsversuch  Konig  Wenzels.  325 

Erfolg  eDtgegentreten  zu  konnen.  Th.  Lindner  (Gesch.  d.  d. 
Reiches  unter  K.  Wenzol  I,  241  f.)  hatte  diese  Vermuthung  be- 
stritten ,  indem  er  es  sowohl  iiberhaupt  fur  unwahrscheinlich 
hielt,  dass  Wenzel  in  Folge  dieses  Planes  eine  Schwenkung  zu 
Gunsten  der  Stadte  gemacht,  als  auch  aus  der  Oeffentlichkeit  der 
Maimer  Verhandlungen  folgerto,  Wenzel  habe  keine  Feindselig- 
keiten  gegen  die  Fiirsten  im  Sinne  getragen.  Lindner's  Erklarung 
fur  die  Mainzer  Verhandlungen  von  1384  war  vielmehr  folgende: 
r Als  der  Konig  den  Stadten  ein  Biindniss  anbot ,  wird  er  wohl 
nor  beabsichtigt  haben,  von  ihrer  kriegerischen  Macht  und  ihren 
Geldmitteln  Vortheile  zu  ziehen.  Wie  er  schon  vorher  von  ihnen 
bewafcete  Hilfe  gefordert  hatte,  mag  er  es  auch  jetzt  gethan 
haben  fur  den  Fall ,  dass  er  im  Westen  des  Reiches  Kriegshandel 
fond,  was  bei  den  schwankenden  Verhaltnissen  an  der  Grenze 
Jeicit  moglich  war".  Da  WenzeFs  Gegengebote  die  Stadte  nicht 
befriedigt  haben  durfton,  sei  aus  der  Sache  nichts  geworden  und 
das  Resultat  der  Berathungen,  die  sie  im  neuen  Jahre  zu  Speier 
pflogen,  daher  wohl  ein  ablehnendes  gewesen. 

Die  von  Ebrard  im  Strassburger  Archiv  aufgefundenen  und 
lrier  mitgetheilten  Actenstiicke  „rechtfertigen  dagegen  Weizsacker's 
Combinationen  und  gewahren  iiber  Verlauf  und  Inhalt  der  ganzen 
Verhandlungen  die  wiinschenswertheste  Klarhoit".  Auch  Lindner 
selbst  (Rec.  der  Ebrard'schen  Schrift  in  v.  SybeFs  Zeitschrift 
1878,  Hft.  2,  S.  324)  scheint  auf  Grund  der  Ebrard'schen 
Publikation,  an  der  er  auch  „musterhafte  Sorgfalt"  riihmt,  seine 
friibere  Ansicht  aufzugeben.  Der  Hergang  lksst  sich  etwa  in 
Folgendem  ziisammenfassen. 

Die  Rathe  Wenzel's  hatten  bereits  den  Tag ,  welchen  dieser 
Anfang  Dezember  1384,  von  der  Besitzergreifung  Luxemburgs 
kommend,  in  Koblenz  mit  einigen  Fiirsten  und  Stadten  abhielt, 
dazu  beniitzt,  den  anwesenden  Boten  der  rheinischen  Bundes- 
stadte  im  Auftrage  des  Konigs  die  ersten  Eroffnungen  zu  machen. 
Sie  schlugen  ein  fi>rmliches  Biindniss  zwischen  dem  Konig  und 
tan  rheinischen  und  schwabischen  Stadten  vor;  das  Biindniss 
*oBte  den  Stadten  ihre  Freiheiten  gegen  alle  etwaigen  Bedranger 
garantiren,  dem  Konige  aber  Schutz  gewahren  „wider  alle,  die 
«ch  wider  ihn  und  das  romische  Reich  setzten".  Wenzel  be- 
fiirchtete  demnach  schon  jetzt,  dass  Jemand  ihn  abzusetzen 
trachten  mochte  —  denn  so  erklart  E.  den  oben  gebrauchten 
Ausdruck  mit  Recht.  In  der  That  waren  bereits  im  Februar 
1384  Absetzungsgeruchtc  .  aufgetaucht ,  die  dem  Konige  bekannt 
geworden  sein  mussten.  Auf  der  Riickreise  nach  Bohmen  setzte 
Wenzel  in  Mainz  die  Berathungen  fort:  die  Stadte  verhandelten 
aebst  einigen  Boten  der  schwabischen  Bundesstadte  iiber  den 
Antrag  zu  Speier,  und  zwar  Ende  Dezember,  wie  E.  glaublich 
niacht.  Nr.  I.  der  mitgetheilten  Actenstiicke  ist  eine  Aufzeichnung 
ubor  diesen  Tag,  nach  E.  vielleicht  das  Protokoll  selbst.  Zur 
Entecheidung  kam  es  hier  nicht,  am  26.  Febr.  1385  sollten  beide 
Stadtebiinde  auf  einem  Tage  zu  Strassburg  endgiltig  beschliessen. 

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326    Ebrard,  Dr.  Fr.,  Der  ersto  Annaherungsvereucli  Konig  Wenzeb. 

Inzwischen  hatten  die  koniglichen  Rathe  von  Niimbcrg  aus 
sich  mit  den  schwabischen  Stadten  in  Verbindung  gesetzt  und 
auf  einer  Niirnberger  Versammlung,  die  vielleicht  etwas  friiher 
als  die  von  Speier  anzusetzen  ist,  den  schwabischen  Stadten  ahn- 
liche  Antrage  gemacht,  wie  den  rheinischen.  Wahrend  die  konig- 
lichen Rathe  aber  zuerst  Miene  gemacht  hatten,  die  Fortfuhrung 
der  Sache  den  rheinischen  Stadten  zu  iiberlassen,  nahm  nun  der 
vornehmste  derselben,  Herzog  Przemyslav  von  Teschen,  die  Leitang 
in  die  Hand  und  benachrichtigte  am  31.  Dezember  Speier,  er 
habe  die  schwabischen  Stadte  zum  5.  Februar  1385  nach  tot 
berufen,  urn  mit  beiden  Btinden  wegen  der  Juden,  der  Mm 
„und  andrer  Sachen"  zu  verhandeln.  Speier  moge  also  k 
rheinischen  Stadte  zu  diesem  Tage  einladen.  (Act.  Nr.  IL)  Den 
entsprechend  schrieb  Nurnberg  am  2.  Januar  an  Speier  und 
Ulm,  falls  etwa  ein  anderer  Termin  von  ihnen  schon  festgesetzt 
sei,  mochten  sie  denselben  widernifen.  Das  Niirnberger  Schreibea 
definirt  den  Ausdruck  im  herzoglichen  Briefe  „andere  Sacher 
als  „die  bereits  zu  Coblenz  und  Mainz  verhandelte  Einung  da 
Konigs  mit  den  Stadten".  (Act.  Nr.HI.)  Auf  Grund  dieser 
Mittheilungen  halt  E.  die  Hypothese  Weizsackers,  dass  Wenzel, 
nicht  die  Stadte  (wie  Hegel  annahm)  die  Judenfrage  angeregt, 
fur  ausgemacht.  Ebenso  scheint  erwiesen,  dass  die  Juden-  und 
Munzfrage  mit  dem  Biindnissanerbieten  zusammenhangt. 

Als  die  Schreiben  Przemyslav's  und  Niirnbergs  in  Speier  an-  j 
kamen,  war  aber  bereits  beschlossen,  jenen  Tag  in  Strassburg  * 
am  26.  Februar  abzuhalten.  Niirnberg,  welches  das  Project 
nicht  gern  scheitern  lassen  wollte,  benachrichtigte  den  Konig, 
dessen  Rathe  auch  schon  abgereist  waren,  von  der  Sachlago. 
Nach  einigem  Widerstreben ,  denn  Wenzel  hielt  den  Termin  fir 
zu  weit  tanausgeschoben ,  erklarte  sich  der  Konig  bereit,  den 
Strassburger  Tag  zu  besenden. 

Ein  neuer  Zwischenfall :  die  rheinischen  Stadte,  welcb&w 
Erfahrung  gebracht,  dass  der  Herzog  von  Teschen  nicht  vor  to 
12.  Marz  in's  Reich  kommen  konne,  hatten  auf  einem  Mai* 
Tage  —  Ende  Januar  —  beschlossen,  den  gemeinschaftlicto 
Tag  erst  am  7.  Marz  in  Speier  abzuhalten.  Niirnbergs  Remon- 
stration  kam  zu  spat,  und  es  blieb  bei  jenem  Beschluss.  (Actst 
Nr.  V.  und  VI.)  Ueber  diesen  Speierer  Tag  besitzen  wir  zwar 
eine  Auizeichnung  (Nr.  VH.),  aber  bei  dem  wichtigsten  Puntt 
lasst  sie  uns  im  Stich :  es  heisst  nur,  „der  Landgraf  von  Leuchten- 
berg  redete  im  Auftrage  des  Konigs  mit  den  Stadteboten  vofi 
Sache  wegen,  die  in  Heimlichkeit  verbleiben  soil". 

Somit  fehlt  iiber  das  Resultat  jede  Nachricht,  jedoch  ISast 
sich  mit  Sicherheit  annehmen,  dass  die  Antrage  des  Konigs  ab- 
gelehnt  wurden.  Die  „Sicherung  ihrer  Privilegien"  war  den 
Stadten  ein  zu  ungeniigender  Preis :  das  Aequivalent  fiir  ihren 
Beistand  war  die  Anerkennung  ihres  Bundes:  erst  als  diesol38< 
erfolgte ,  wenn  auch  nur  mundlich ,  kam  das  Bundniss  mit  dem 
Konige  zu  Stande. 

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Pauli,  Dr.  C.  W^  Lubeckische  Zustfinde  im  Mittelalter.   III.       327 

Selbst    in    der   Juden-    und    Miinzfrage    gingen    nur    die 
schwabischen  StUdte  auf  dio  koniglichen  Propositionen  oin. 

Wie  die  Sache  liegt,  wiirdo  dio  Beibringuug  neuen  Materials 
immer  noch   von  grossem  Wertho  sein,   wenngleich  dasselbe  die 
Ebrard'sche  Darlegung  kaum  wesentiieh  modilieiren  moohte. 
Berlin.  Willy  Boehm. 

LXXV. 
Pauli,  Dr.  C.  W.,  Oberappellationsgericbtsrath  a.  D.,  Liibeckische 
Zustande  im  Mittelalter.    III.  Then.  Recht  und  Kultur.  Nebst 
cinem   Urkundenbuch.     gr.    8.    (VI,   256   S.)     Leipzig   1878, 
Duncker  und  Huinblot.     5,40  M. 

Kcse  Arbeit  des  um  die  Geschichto  Lubecks  verdienten 
Veriasscrs  ist  eine  Fortsetzung  der  von  ihm  in  den  Jahren 
1838—46,  resp.  1850—68  gehaltenen  und  veroffentlichten  Vor- 
Jesangen.  Die  Yorliegende  Abtheilung  ist  iiberwiegend  juristisohen 
Inhalts  und  vorzugsweise  fur  die  Geschichte  des  Handelsreohts 
wichtig,  doch  haben  viele  der  betreffenden  Abschnitto  zugleich 
ein  allgemeineres  kulturhistorisches  Interesse.  Auch  beschaftigt 
sich  der  Vert  gelegentlich  mit  den  Rechtsverhaltnissen  der  Hand- 
werker  und  bringt  dabei  manche,  wenn  auch  nicht  grade  iiber- 
raschend  neue,  doch  immerhin  bemerkenswerthe  Mittheilungen 
tiber  die  gewerblichen  Zustande.  Aus  der  Fiille  des  Gebotenen 
sei  Folgendos  hervorgehoben. 

Der  Brauch,  einen  Kaufakt  dadurch  abzuschliessen ,  dass 
Kaufer  und  Vcrkiufer  sich  Bier,  spater  Wein  in  Gegenwart  yon 
Zeagen  zutranken  (litkop,  aelkop,  winkop),  findet  sich  im  fiinf- 
xehnten  Jahrhundert  noch  in  einem  Dorf ;  in  der  Stadt  war  an 
dessen  Stelle  die  Drauigabe  eines  Stiick  Geldes  (Friedepfennig, 
Gottespfcnnig)  getreten  (S.  17).  Die  ziinftigen  Beschrankungen 
des  Handwerksbetriebes  steigerten  sich  auch  in  Lubeck  gegen 
Ende  des  Mittelalters  ins  Maasslose.  Es  geniigte  nicht  mehr, 
*aiht  und  recht,  frei,  deutsch  und  nicht  wendischu,  ehelich  ge- 
boren  und  „unberiichtetu  zu  sein,  einem  .Burger  verweigerte 
man  den  Eintritt  in  die  Kramergildo,  weil  er  „enen  doden  vor- 
richteden  man  uthe  dem  water  gevisschet  unde  upgetogenu  habe. 
Der  Geselle  musste  wohl,  um  in  die  Zunft  aufgenommen  zu 
werden,  die  Wittwe  oder  Toohter  eines  Zunftgenossen  heirathen, 
wie  das  in  Betreff  der  Kerzengiesser  und  Paternostermacher  aus- 
driicklich  bezeugt  ist.  Dagegen  zeigt  sich  die  wohlthatige  Dis- 
ciplin,  wolche  dio  Zunfte  iiber  ihre  Mitglieder  lib  ten,  wenn  die 
Knochenhauer  im  J.  1494  einem  Ehemann,  der  in  seinem 
Hause  mit  einer  anderen  Frau  „in  Unzucht"  verkehrte,  den 
Eintritt  verwoigerten.  Auch  die  Malerei  und  die  mit  ihr  in 
einem  Gowerk  verbundene  Holzschnitzerei ,  da  sie  sich  von  dem 
handwerksmassigen  Betriebo  noch  nicht  losgelost  hatten  und 
dieselbe  Hand,  die  heute  einen  Thurmknopf  oder  irgend  ein 
Gerath  bemaHe*  vergoldete  oder  schnitztc,  zu  anderen  Zeiten  ein 


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328      Pauli,  Dr.  C.  W.,  Lubcckische  Zust&ndo  im  Mittelalter.    DlL 

Altarbild   von   kunstlerischein  Werthe  schuf,   war  den  ziinftigen 
Beschrankungen  unterworfen.    Auch  die  Maler  „wandertenu  gleich 
den  Handwerkern,  um  sich  unter  tiichtigen  Meistern,  namentlich 
wohl  unter  Johann  van  Eyck  und  andern  Koryphaen  der  nieder- 
landischen  Schule  zu  vervollkommnen.    Als  lubecker  Maler   der 
zweiten   Halfte  des   funfzehnten  Jahrliunderts   werden  genaimt: 
Hans    Backmeister,    der    eine    grosse   Altartafel    fiir   das 
Dominikanerkloster  Nestwede  in  Seeland,  Heinrich  Husmann, 
der  geschnitzte  und  gemalte  Altartafeln  fiir  Meschede  in  West- 
phalen,  Peter  Wise   und   als   fiir  Liibeck   besonders    wicWif 
Martin  Radeteffs,    der    eine   noch  jetzt   erhaltene    Altar- 
tafel fiir  die  dortige  Marienkircbe  lieferte.     Dass  in  einer  Stadt 
von  der  Bedeutung  Liibecks   nicht  bloss  die  fur  den  Bedarf  des 
gemeinen  Lebens  arbeitenden  Handwerke,  sondern  auch  Industrie- 
zweige  hoherer  Gattung  vertreten  waren,  versteht  sich  von  selbst: 
wir   finden   hier    Orgelbauer,    Posaunenmacher   (^Orgelmester"), 
Goldschlager,  Perlensticker.     Auch  die  jetzt  in  der  Kegel  fabrik- 
massig  betriebenen  Gewerbszweige  hatten  vorzugsweise  ihren  Site 
in   und   bei    solchen   grossen    Stadten:    so    in   Liibeck   Messer- 
schmiederei,  Wollen-  und  Leinweberei:  die  Wollenweberei  wurde 
in    solchem    Umfange    betrieben,     dass    im    J.    1435    mehrere 
„Wantscherer"   d.  h.   Schleifer   fiir  die   Tuchscheeren ,   erwahnt 
werden,  ein   Kupferhammer ,   eine  Papiermiihle,   eine   Glashiitte 
wurden   im  fiinfeehnten   Jahrhundert   in   Ortschaften  ausserhalb 
der  Stadt  von  lubecker  Biirgern  betrieben.     Wie  verschieden  die 
damalige  Stellung  der  arbeitenden  Klasse  von  der  heutigen  war, 
ergiebt  sich  daraus,  dass  in  den  Jahren  1434 — 36  fiir  jene  Miihle 
Arbeiter  auf  d  r  e  i  Jahr  kontraktlich  in  Lohn  genommen  warden. 
Auch  die  Seifensiederei   scheint   in  Liibeck  in   so   grossem  Urn- 
fang  betrieben  zu  sein,   dass  das  zu  verarbeitende  Material  sich 
nur  schwer  in   hinreichender  Menge   aufbringen  liess  und  man 
zum  Versieden   von  Hunden   und  Katzen   seine   Zuflucht   nalin: 
wenigstens    erwahnt   der  Verf.   eine  Beschwerde   von   Nachbani 
eines  Seifensieders ,  die  sich  beklagten,  dass  er  „von  unborlikea 
beesten,   katten  unde   hunden,    sepen  sode   unde   groten  stank 
makeden"  (S.  26 — 34).     Handelsgesellschaften  wurden  nicht  bloss 
unter  Liibeckern,  sondern  wenigstens  seit  dem  fiinfeehnten  Jahr- 
hundert  auch   zwischen  Liibeckern  und   Auswartigen  z.   B.  mit 
Stralsundern  und  Revalern  geschlossen.    Fiir  solche  Gesellschaften 
bestellte    man    auch   schon   Prokuristen.     Auch   griindeten 
Lubecker  Geschafte  in  anderen  Handelsstadten ,  z.  B.  eine  Com- 
manditgesellschaft  zu  Venedig.     Die  Antheile  an  solchen  Gesell- 
schaften wurden  vererbt,  verkauft,  verpf andet,  ahnlich  den  Aktien 
unserer  Tage.     Nach   den   hansischen  Recessen  waren  seit  dem 
J.  1426  Handelsgesellschaften   zwischen  Hansischen  und  Nicht- 
hansischen    verboten.     Wegen   des    engen    Zusammenhangs    der 
Handelsgesellschaften   mit   dem  Wechselverkehr  war  Liibeck  fur 
diesen  Verkehr   der   erste  Platz   in   ganz  Norddeutschland.     Die 
grosso  Bedeutung  des  liibeckischen  Handels  beruhte  darauf,  dass 


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Panli,  Dr.  C.  W.,  Lubeckische  Zust&nde  im  Mittelalter.    III.      329 

es  als  Zwischenstation  zwischon  den  Kiistenlandern  der  Ostsee 
und  dem  mittleren,  westlichen  und  selbst  siidlichen  Europa  diente. 
Fische,  besonders  Heringe  von  den  skandinavischen  Kiisten,  wnrden 
nach  dem  inneren  Deutschland,  England  und  den  Niederlanden 
verfuhrt:  bis  Island  erstreckte  sich  dieser  Handel  Lubecks,  und 
spater  bildete  sich  sogar  eine  Gesellschaft  der  Islandfahrer. 
Esenerz  (Osemunt),  spater  als  die  Schweden  das  Erz  zu  vor- 
schmclzen  gelernt  batten,  Stangeneisen  und  Draht  wurden  aus 
Schweden,  Holzer  aus  Danzig,  Flachs  (Leinsaat)  aus  Riga, 
Pottasche,  Wachs,  Pelzwerk,  Haute,  Thran  aus  Russland  iiber 
Rewl  bezogen,  um  diese  Giiter  gleichfalls  in  Deutschland,  Eng- 
land und  den  Niederlanden  abzusetzen.  Die  grosse,  in  Deutsch- 
land einzig  dastehende  Zunft  der  Paternostennacher  oder  Bern- 
steadreher  verarbeitete  den  Bernstein  der  Ostseekiiste  und  ihre 
Fabricate  gingen  bis  nach  Venedig:  im  J.  1475  pachtete  sie 
jom  deutschen  Orden  auf  drei  Jahr  das  Sammeln  des  Bernsteins 
in  Preussen  und  den  Handel  damit.  Dagegen  fiihrte  Liibeck 
Wollenwaaren,  Gewiirze,  Siidfriichte  aus  den  Niederlanden,  Salz 
von  der  franzoeischen  Westkiiste  (bayesches  solt),  spater  als  die 
Stecknitz  schiffbar  gemacht  war,  aus  der  liineburger  Saline, 
Mesringblech,  Messingdraht,  Schwertklingen  aus  NUrnberg,  Ring- 
iarni8che  aus  Iserlohn,  Spiegel  und  Seidenwaaren  wahrscheinlich 
aus  Venedig  iiber  Nurnberg,  Zucker  iiber  Deutschland  nach  den 
Ostseegebieten.  Nicht  selten  gingen  diese  Waaren  von  ihrem 
Ursprungsort  direkt  nach  ihrer  Bestimmung  fiir  Rechnung  des 
liibischen  Kaufherrn,  wie  denn  die  SalzschifFe  das  franzosischo 
Salz  direkt  nach  Reval  fuhren.  Der  Verf.  hat  nur  einige  Notizen 
uber  Handel  und  Waarenverkehr  aus  den  Stadtbiichern  Lubecks 
geaammelt;  eine  sorgsamere  Ausbeutung  dieser  Biicher  wiirde 
wch  seinem  Zeugniss  eine  vollstandigere  Darstellung  des  liibecker 
Handels  und  Waarenverkehrs  moglich  machen  (S.  34 — 44). 

Das  Institut  der  beeidigten  Makler  findet  sich  in  Liibeck 
^on  im  fiinfzehnten  Jahrhundert,  doch  war  es  den  Maklern, 
^  die  Courtage  (makeldil)  wahrscheinlich  zu  gering  war ,  noch 
ticht,  wie  jetzt,  verboten,  Geschafte  fiir  eigne  Rechnung  zu  treiben. 
&  werden  erwiihnt:  Hopfen-,  Herings-,  Korn-  und  Pferdemakler. 
«faler  Makler  hatte  iiber  seine  Geschafte  Buch  zu  fuhren  (mekel- 
rci  bok)  (S.  73—76).  Kaufmannischer  Concurs  kam  natiirlich 
damals,  wie  heute,  vor,  doch  gab  es  noch  keine  Concurse,  wie 
heute,  bei  denen  die  Glaubiger  nur  wenige  Procent  erhielten: 
meist  wurde  von  dem  Schuldner  nur  ein  Moratorium  beansprucht, 
und  die  Schuld  innerhalb  einiger  Jahre  nachtraglich  getilgt 
(S.  76—85). 

Schiffe  durften  in  hansischen  Stadten  nur  fiir  hansische 
Burger  gebaut  und  durften  auch  nicht  an  Fremde  verkauft  oder 
fermiethet  werden  (S.  85).  Bodmerei  (Bodemgeld)  kommt  wenig- 
sten8  schon  im  vierzehnten  Jahrhundert  vor;  sie  wurde  durch 
Ilanserecesse  von  1434  und  1447  verboten,  das  Verbot  scheint 
jedoch  nicht  sonderlich  streng  beobachtet  zu  sein  (S.  94 — 97). 

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330    Girgensohn,  Dr.  J.,  Aden  zur  Gesch.  der  Stadt  Riga  i  J.  1562. 

Eine  Pumpo  hat  der  Verf.  in  Liibeck  zuerst  im  J.  1360  er- 
wahnt  gefunden,  wahrend  es  zuerst,  wie  es  scheint,  auf  den 
Hofen  nur  Ziehbrunnen  gab,  und  zwar  cifter  zur  gemeinschaft- 
lichen  Benutzung  zweier  Nachbarn  (S.  55). 

Von  der  Strenge  und  dem  Umfang  der  stadtischen  Polizei- 
gewalt  liefert  der  Verf.  ein  merkwurdiges  Beispiel.  Dem  Rath- 
mann  und  spaterem  Burger meister  Heinrich  Bromse,  einem,  wie 
die  Ratbsmatrikel  besagt,  „bedeutenden,  gelehrten  und  beredten 
Mann"  (vir  grandis ,  doctus  et  eloquens)  missfiel  hochlichst  dss 
im  Hofc  seines  Nachbarn  betricbene  „Katzenspiel" ,  und  er  setxte 
die  Inhibirung  dessolben  durch  (S.  56 — 57). 

Berlin.  A.  Kotflmann. 


LXXVI. 

Girgensohn ,  Dr.  J. ,  Acten  zur  Geschichte  der  Stadt  Riga  ii 
Jahre  1562.    Programm  des  Stadtgymnasiums  zu  Riga.  i 

Von  den  in  dem  Rigischen  Rathsarchive  unter  der  Rubrik  s 
Aulico-Polonica  befindlichen  14  Volumina  Actenstiicken,  Briefen 
und  Urkunden,  welche  die  Zeit  von  1561 — 1587  umfassen,  ver- 
offentlicht  Dr.  J.  Girgensohn,  nachdem  das  erste  derselben,  die 
acta  conventus  generalis  ordinum  Livoniae  1561,  fast  vollstandig 
von  Fr.  Bornemann  im  5.  Bande  der  „Briefe  und  Urkunden  zur  i 
Geschichte  Livlands"  herausgegeben  worden  ist,  das  zweite, 
Civitatis  Rigensis  legatio  commitialis  Wildensis  (Wilna)  de  anno 
1562  cum  indice,  13  deutsche  Actenstiicke,  mit  Ausnahme  zweier 
Aufzeichnungen  zum  ersten  Male.  Eine  kurze  Einleitung  orientirt 
geniigend  iiber  die  Ereignisse,  welche  dieser  Rigischen  Gesandt- 
schaft  an  den  Konig  von  Polen  vorangingen.  Mit  dem  Zujsammen- 
bruche  der  Ordensherrschaft  fiel  Estland  an  Schweden,  das  StB 
Oesel  an  Danemark,  Dorpat  an  die  Russen.  Der  Ordensmeiter 
Gotthard  Kettler  und  der  Erzbischof  Wilhelm  von  Brandenbcg 
huldigten  1561  Sigismund  August  von  Polen.  Nur  Riga,  die  alte 
reiche  und  maehtige  Handelsstadt ,  suchto  sich  moglichst  selb- 
standig  zu  erhalten  und  wollte  nur  unter  gewissen  Bedingungen 
dem  Konige  unterthan  werden.  Als  nun  im  Marz  1562  die 
iibrigen  Stande  Livlands  zu  Riga  dem  Woywoden  von  Wilna, 
Nicolaus  Radzivil,  als  Vertreter  des  Konigs,  den  Unterthaneneid 
geleistet  hatten,  ward  Riga  nochmals  angegangen,  sich  zu  unter- 
werfen;  man  leistete  den  Eid,  aber  nur  bedingungsweise ,  nach- 
dem Radzivil  der  Stadt  eine  zweite  Versicherungsschrift  iibergebefi 
hatte.  Seitdem  bemuhten  sich  die  Gesaudten  Rigas  auf  alien 
polnischen  Reichstagen  bis  1582  um  Erfiillung  der  cautio  Radzi- 
viliana.  Die  erste  Gesandtschaft  ging  im  April  1562  ab,  und 
der  Bericht  derselben,  nebst  12  andern  Actenstiicken,  ist  es,  den 
Dr.  J.  Girgensohn  veroffentlicht.  Knappe  Anmerkungen,  dankens- 
werthe  Hinweise  und  moderne  Interpunction  erleichtern  das  Ver- 
standniss  der  Actenstiicke,  die  meist  ganz,  zum  Theil  in  ihren  unwich- 


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Ranke,  L.  v.,  Historisch-biograpluscho  Studien.  331 

tigeren  Partieen   verkiirzt   wiedergegeben  sind.    Miigcn  bald  die 
ubrigen  Theile  der  Aulico  -  Polonica  nachfolgen ,  denn  dann  orst 
wird  es  dem  Historiker   moglich   sein,    oin   treues  Bild   dieser 
traurigen  Katastropbe  der  Gescbichte  Rigas  zu  liefern. 
Plan  en  i.  Vogtlande. 

Dr.  William  Fischer. 


LXXVII. 
Ranke,  Leopold  v.,   Historisch  -  biographische  Studien.    gr.  8. 

(XL  544  S.)    Leipzig  1877.  Dunckor  &  Humblot.     11  M. 

Der  vorliegende  Theil  (Band  40  der  Gesammtausgabe 
der  Banke'schen  Werke)  enthalt  vier  einzelne  Aufeatze,  in  welchen 
die  Lebensverhaltnisse  und  das  Wirken  bedeutender  oder  wenig- 
stens  beriihmter  historischer  Personlichkeiten  dargestellt  werden. 
Die  Zusammenstellung  derselben  ist  eine  zuf allige ,  gemeinsam 
aber  ist  alien  die  gleiche  Art  der  Behandlung.  In  ihnen  alien 
namlich  wird  (so  erklart  der  Verf.  selbst  in  der  Vorrede  die 
Bezeichnung  „  historisch  -  biographisch  ")  die  Geschichte  jener 
Manner  auf  Grand  und  in  engster  Verbindung  mit  der  allge- 
meinen  Geschichte  ihrer  Zeit  geschildert:  „die  Manner  in  ihrer 
Zeit,  jede  Zeit  in  ihren  Mannern"  wird  uns  vorgefiihrt.  Dieses 
Feld,  die  Darstellung  der  Wechselwirkung  zwischon  einzelnen  Person- 
lichkeiten und  allgemeinen  Zeitrichtungen,  ist  ja  von  Ranke  in  alien 
seinen  Werken  mit  besonderer  Vorliebe  und  mit  besonderer  Meister- 
schaft  behandelt  worden,  und  auch  in  diesen  Biographien  konnen 
wir  nicht  genug  die  Kunst  des  Nestors  unter  unsren  Historikern  be- 
wundern.  Zwei  von  diesen  Aufeatzen ,  die  beiden  mittleren ,  sind 
ganz  neu  ausgearbeitet,  die  beiden  andern  sind,  wenigstens  theilweise 
schon  friiher  veroffentlicht  gewesen,  sie  gehoren  gerade  zu  den  alte- 
stenArbeiten  des  Verfassers.  Der  erste:  „  Cardinal  Consalvi  und  seine 
Staatsverwaltung  unter  dem  Pontificat  Pius'  VIL"  war  unter  dem 
Titd:  „Rom  1815 — 1823.  Staatsverwaltung  des  Cardinals  Con- 
whi*  in  dem  ersten  Bande  von  Ranke;s  Historisch  -  politischer 
Zeitschrift  (1832)  erschienen.  Der  eigentliche  Haupttheil,  die 
Schilderung  der  Staatsverwaltung  Consalvi's  nach  der  Restauration 
bis  zum  Tode  Pius'  VIL,  welcher,  wie  der  Verf.  jetzt  hier  selbst 
wklart,  zum  grossen  Theile  auf  den  Berichten  Niebuhr's,  des 
damaligen  preussischen  Gesandten  am  romischen  Hofe,  beruht, 
ist  fast  ganz  unverandert  goblieben,  nur  die  aussere  Anordnung 
tat  einige  kleine  Veranderungen  erfahren ,  dagegen  ist  der  erste 
Theil,  die  Einleitung  und  das  erste  Capitel  der  alteren  Arbeit, 
auf  Grand  der  inzwischen  erschienenen  bedeutenden  Publicationen, 
der  Memoiren,  welche  Consalvi  selbst  wahrend  seiner  Verbannung 
in  Rheims  (1810 — 1813)  geschrieben  und  welche  Chretineau-Joly 
horausgegeben  hat,  der  Corresponded  Napoleon's  L,  sowie  der 
Werke  von  Theiner:  Histoire  des  deux  concordats  do  1801  ot 
1813,  von  Artaud:  Histoire  du  pape  Pie  VIL  und  von  d'Hausson- 

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332  Ranke,  L.  vM  Historisch-biographische  Studien. 

ville :  L'eglise  romaine  et  le  premier  empire  umgearbeitet  tmd 
bedeutend  erweitert  worden.  Er  bildet  hier  4  Capitel.  Der 
Verf.  erzahlt  in  denselben  eingehender  und  ausfuhrlicher  als 
friiher  die  Jugendschicksale  und  das  Emporkommen  ConsaWi's, 
semen  Antheil  an  dem  Conclave  von  1799,  der  Erhebung 
Pius'  VII.,  dann  seine  Verhandlungen  als  Staatssecretar  in  Paris 
und  den  Abschluss  des  ersten  Concordats  vom  Jahre  1801,  durch 
welches  der  Papst  unter  seinem  Einfluss,  wenigstens  indirect,  die 
revolutionaren  Principien  anerkannt  bat.  Er  schildert  dann  & 
weiteren  Differenzen ,  welche  in  Folge  des  Bestrebens  Napolewn, 
den  Papst  und  den  Kircbenstaat  in  politiscber  Beziehung  gam 
von  sich  abhangig  zu  machen,  zwischen  ihm  und  dem  romischeB 
Stuble  ausbrechen,  die  Occupation  des  Kirchenstaates  1808,  dk 
Verhaftung  des  Papstes ,  seine  Fortfuhrung  nach  Frankreich,  die 
Berathungen  des  von  Napoleon  nach  Paris  berufenen  National- 
concils  und  die  weiteren  Verhandlungen  mit  dem  Papste,  wolcher 
endlich,  Anfang  1813,  unter  dem  Druck  der  Umstande  zmn 
Abschluss  des  zweiten  Concordats  und  damit  zur  Erfiillung  der 
Forderungen  Napoleon's  getrieben  wird.  Auch  der  „Blick  auf 
die  Restauration"  in  Cap.  4  ist  mehr  ausgefiihrt  als  in  der 
alteren  Arbeit,  namentlich  die  Darstellung  der  politischen  Thatig- 
keit  des  jetzt  wieder  zum  Staatssecretar  ernannten  Consalvi  auf 
seiner  Reise  nach  Paris  und  London  und  auf  dem  "Wiener  Con- 
gress; auch  die  Schilderung  der  Personlichkeit  sowohl  des 
Cardinals  als  auch  des  Papstes  am  Schluss  dieses  Capitels  ent- 
halt  neue  Momente.  Dagegen  ist,  wie  schon  bemerkt,  der  ganze 
folgende  Theil,  die  Capitel  5 — 10,  nur  Wiederholung  der  alteren 
Arbeit,  auch  die  Beilage:  jjErinnerunganromischeZustandeimM1, 
1829"  und  der  erste  Anhang:  „Ein  Wort  iiber  die  gegenwartigen 
Irrungen  im  Kirchenstaate  (1832)u  waren  schon  ebenderseften 
beigegeben,  der  2.  Anhang:  „Auszuge  aus  italienischen  Flug- 
schriften"  ist  die  Wiederholung  einer  urspriinglich  selbstandijff 
Abhandlung,  welche  in  demselben  ersten  Bande  der  Historiak- 
politischen  Zeitschrift  abgedruckt  war. 

Das  bedeutendste  Stuck  dieser  Sammlung  ist  ohne  Zweifel 
die  zweite,  neue  Abhandlung:  „ Savonarola  und  die  florentinische 
Republik  gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts".  In  derselben  sind 
nicht  nur  die  zahlreichen  in  neuerer  Zeit,  namentlich  durcn 
Villari  publicirten  Documente  verwerthet,  sondern  Ranke  bat 
auch-zwei  bisher  ungedruckte,  gleichzeitige  florentinische  Chroniken, 
die  Geschichte  des  Bartolomeo  Cerretani  und  das  Tagebuch  des 
Pietro  Parenti,  zu  benutzen  Gelegenheit  gehabt  und  aus  diescn 
manche  neue  Aufklarung  gewonnen.  Er  schildert  in  den  beiden 
ersten  Capiteln  zuerst  in  kurzen  Strichen  das  Emporkommen 
des  Hauses  Medici  und  die  Herrschaft  Cosimo's  und  Lorenzo  s, 
dann  aber,  auf  Grand  gerade  jener  beiden  Chroniken  schon  senr 
aU8fiihiiich  die  kurze  Regierung  Piero's  und  die  Staatsverandenmg 
von  1494,  den  Sturz  der  mediceischen  Herrschaft  gerade  durch 
die  bisherigen  Genossen  derselben,   die  friiher  mit  den  Medici 

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Banko,  L.  v.,  Historisch-biographischo  Studien.  333 

rerbundenen  vornehmen  Geschlechter,  welche  jetzt  ein  rein  aristo- 

kratisches   Regiment    zu   begriinden    suchen.     Die    3    nachsten 

Capitel  handeln    dann    von   den  friiheren   Schicksalen   und  der 

Siunesweise  Savonarola's  und  von  den  Anfangen  seiner  politischen 

Wirksamkeit    in   Florenz.      Savonarola's   Opposition    gegen    das 

Papstthum  wurzelt  in  den  conciliaren  Ideen  des  15.  Jahrhunderts, 

er  halt  fest  an  den  Lehren  der  katholischen  Kirche,    aber   er 

erstrebt  Besserung  derselben  im  Gegensatz  gegen  das  verderbte 

Papstthum.     Er  wirkt  machtig  auf  das  Volk  durch  seine  Predigten 

und  namentlich  durch   seine   in  voller  Ueberzeugung  von  seiner 

prophetischen  Kraft  ausgesprochenen  Prophezeiungen.  Durch  den 

Zug  Carl's  VIII.  nach  Italien  scheinen  dieselben  sich  zu  erfullen, 

Savonarola  hofft   von   dem  Konige   auch   die   Durchfiihrung  der 

Reform  der  Kirche,  zwar  wird  durch  die  Verstandigung  desselben 

mit  dem  Papste   dieselbe   in  die   Feme  geriickt ,   aber  dennoch 

iiilt  Savonarola  an  seinen  Hoflhungen  auf  den  franzosischen  Konig 

und  daher  an  der  Verbindung  mit   demselben  fest.    In  Florenz 

tritt  er  politisch  wirksam  zuerst   bei  der  Staatsveranderung  von 

1494  auf,  sein  Verdienst  ist  es,  dass  es  damals  zu  keinen  blutigen 

Feindseligkeiten  kommt.     Sein   politisches  Streben   geht  auf  Be- 

griindung  einer  wirklich  freiheitlichen ,   demokratischen   Staats- 

ordnung  im  Gegensatz   gegen   das   nach   dem  Sturz  der  Medici 

eingerichtete    aristokratische  Regiment.     Unter   seinem  Einfluss 

wird  im  December  1494   eine  neue  Verfassung   eingefiihrt:  Ein- 

setzung    eines  grossen   Rathes,    eine   allgemeine,    auch   auf  die 

Anbanger  der   Medici    ausgedehnte  Amnestie,    Einfiihrung   der 

Appellation  von  den  Urtheilen  des  Gerichtshofes  der  Acht  an  den 

grossen  Rath,  Abschaffung  der  Accoppiatoren  und  der  Parlamente, 

der  Hauptmittel,  welche  die  bisherige  Parteiregierung  angewandt 

tat.    Die  nachsten  3  Capitel  enthalten  die  Geschichte  der  Jahre 

1495—1497 ,    in    welchen    es   der   popularen  Partei ,    an  ihrer 

Spitze  der  mit  Savonarola  eng  verbundene  Francesco  Valori ,  ge- 

ligt,  die  Herrschaft  in  Florenz  zu  behaupten,   in  welchen  zu- 

glcaeh  der    vollstandige   Bruch   zwischen    Savonarola   und   dem 

Papst  erfolgt.    Alexander  VI.  excommunicirt  Savonarola  als  un- 

gelorsam  und  der  Ketzerei  verdachtig,   Savonarola   erklart   die 

^communication  fur  ungerecht  und  nichtig  und  sich  fur  befugt, 

mit  Hiilfe  der  weltlichen  Gewalt  derselben  zu  widerstehen.    Die 

3  letzten  Capitel  behandeln  Savonarola's  Ende.     Sein  Sturz  wird 

wesentlich   durch   politische  Verhaltnisse   hervorgebracht.     1498 

bietet  sowohl  Carl  VIII.,   welcher  einen  neuen  Zug  nach  Italien 

beabsichtigt,  als  auch  der  Papst  und  die  mit  diesem  verbundenen 

Machte  Florenz  als  Preis  eines  Biindnisses  die  Wiedergewinnung 

Yon  Pisa  an,    die  Verbindung  mit  dem   Papst  erscheint   als  die 

vortheilhaftere ,   aber   derselbe   verlangt  als  Bedingung  die  Aus- 

Ueferung  Savonarola's.  In  Florenz  selbst  erhebt  sich  die  oligarchische 

Partei ,  namentlich  die  mit  dem  ascetischen  Treiben  Savonarola's 

unzufriedene  Jugend,   sie  gewinnt  in  der  Signorie  das  Ueberge- 

wicbt,  allein  eine  grosse    im   Marz    1498    berufene   Pratica  be- 

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334  Ranko,  L.  v.,  Historisch-biographischo  Studien. 

schliesst  nur,  Savonarola  das  weitere  Predigen  zu  verbieten, 
dagegen  wird  soine  vom  Papst  geforderte  Auslieferung  verworfen. 
Savonarola  selbst  fiigt  sich  anfangs  dem  Verbote,  aber  seine 
Anhanger,  die  Dominikaner,  predigen  beftiger  denn  je  und  pro- 
vociren  ein  Gottesgericht ,  die  Feuerprobe,  gegen  die  fiir  den 
Papst  eifernden  Franziskaner.  Dasselbe  wird  aber  nicbt  aug- 
gefiihrt,  da  Savonarola's  Freund,  Dom.  da  Pescia  verlangt,  mii 
der  Hostie  in  der  Hand  durch  das  Feuer  zu  gehen,  die  Franzis- 
kaner aber  dieses  nicht  gestatten  wollen.  Die  Folge  davon  kt 
grosse  Yerstimmung  unter  der  Masse  gegen  die  Dominikaner. 
Als  dann  Savonarola  am  nachsten  Tage  doch  wieder  predigt 
kommt  es  zu  einem  grossen  Tumult,  Yolksmassen  Ziehen  gegen 
sein  Kloster  und  gegen  das  Haus  Valori's,  letzterer  wird  er- 
mordet,  Savonarola,  auch  bedroht,  folgt  der  Aufforderung  der 
Signorie  und  geht  nacb  dem  Palaste.  Er  wird  gefangen  gesetzt 
eine  von  der  Signorie  berufene  Pratica  beschliesst  dann ,  iha 
nicht  nach  Rom  auszultefern,  aber  in  Florenz  selbst  die  peinliche 
Untersuchung  gegen  ihn  anzustellen,  auch  der  Papst  willigt  em 
und  schickt  seine  Commissare  nach  Florenz.  Unter  den  Qualen 
der  Tortur  wird  Savonarola  nachgiebig ,  er  bekennt,  durch  faJsche 
Weissagungen  das  Volk  hintergangen  zu  haben,  und  so  erfolgt 
seine  Verurtheilung  wegen  Ketzerei,  Veranlassung  von  Zwietracht 
in  der  Stadt,  von  grossen  Geldausgaben  und  Vergiessen  von 
Biirgerblut,  und  endlich  seine  Hinrichtung.  Von  den  zwei 
Beilagen  zu  dieser  Abhandlung  enthalt  die  erste  Ausziige  aus 
jenen  Chroniken  von  Cerretani  und  Parenti ,  aus  der  letzteren 
hat  der  Verf.  auch  schon  vorher  in  den  Anmerkungen  zahlreiche 
Stellen  abdrucken  lassen.  Die  zweite  ist  eine  kritisohe  Unter- 
suchung iiber  die  beiden  Lebensbeschreibungen  Savonarola's  \on 
Pico  und  von  Burlamacchi.  Banke  zeigt,  dass  die  letztere  nicht 
von  jenem  Schriftsteller  selbst  herriihren  kann,  da  sie  erst  nach  1523 
geschrieben  ist,  dass  in  ihr  jene  andere  Biographie  von  Ffe 
schon  benutzt  erscheint,  aber  mit  zahlreichen  Aenderungen  ittA 
Zusatzen  im  Sinne  des  entsohiedenen  Monchthums,  die  zom 
Theil  ganz  fabulos  sind.  Die  1530  wahrend  der  Belagerang 
von  Florenz  geschriebene  Biographie  Savonarola's  von  dem 
Fiirsten  Pico  von  Mirandola,  einem  eifrigen  Anhanger  desselbeB, 
ist  in  der  Hauptsache  durchaus  glaubwiirdig,  aber  auch  in  ihr 
wird  an  dem  Prophetenthum  und  den  Wundern  Savonarola's 
festgehalten. 

Der  dritte,  ebenfalls  neue  Aufeatz:  „Filippo  Strozzi  und 
Cosimo  Medici,  der  erste  Grossherzog  von  Toscana"  schhesst 
sich  auch  dem  Inhalt  nach  eng  an  den  vorhergehenden 
an.  Der  Verf.  schildert  in  demselben  das  Wirken  und  die 
Schicksale  des  letzten  Vorfechters  der  republikanischen  Freiheit 
und  des  gliicklichen  Gegners  desselben,  des  Begriinders  der 
mediceischen  Furstengewalt.  Auch  #  hier  hat  Ranke  neben  dem 
bisher  bekannten  Quellenmaterial  eine  Anzahl  ungedruckter 
Documente  aus  dem  florentinischen  Archiv  benutzt,  welche  aoch 

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Ranke,  L.  v.;  Hifltorisch-biographische  Studien.  335 

?.  Reumont  noch  nicht  gekannt  hat.  In  der  Hauptsaehe  stimmt 
seine  Darstellung  mit  der  dieses  Gelehrten,  welche  wir  Gelegen- 
beifc  gehabt  haben  in  diesen  Blattern  ausfuhrlicher  wiederzu- 
geben  (s.  oben  S.  132  ff.) ,  iiberein,  die  Schwankungen  in  dem 
polilischen  Verhalten  Strozzi's  erklart  Ranke  dadurch,  dass  der- 
selbe  die  aristokratische  Republik  im  Gegensatz  ebensowohl  gegen 
eine  gewaltsame  Fiirstenmacht,  wie  gegen  eine  unheilvolle  Demo- 
kratie  zu  vertheidigen  gesucht  habe.  Zuletzt  allerdings  tritt  Strozzi, 
nm  die  Herrschaft  Cosimo  Medicos  zu  stiirzen,  in  Verbindung 
auch  mit  den  demokratischen  florentiner  Ausgewanderton,  durch 
die  Hitzkopfe  ^unter  seinen  Genossen ,  namentlich  seinen  Sohn 
Pieio,  wird  er  gegen  seinen  Willen  zu  dem  gewaltsamen  Unter- 
whm  gegen  Florenz  im  Jahre  1537  fortgerissen ,  welches  zu 
der  Kaiastrophe  von  Montemurlo  fiihrt.  In  einer  langeren  Note 
am  Schluss  untersucht  Ranke  die  yersohiedenen  Nachrichten  iiber 
den  Tod  Strozzi's,  er  weist  nach,  dass  der  Bericht  Adriani's, 
welcher  durch  die  Angaben  Lorenzo  Strozzi's,  des  Bruders 
Filippo's,  in  der  Biographie  desselben,  und  durch  die  des  floren- 
tinischen  Gesandtenam  kaiserlichen  Hof,  Bandini,  bestatigt  wird, 
der  glaubhafbe  ist,  dass  Strozzi,  nachdem  der  Kaiser  seine 
Aaslieferung  an  Cosimo  Medici  zugegeben,  derselben  durch 
Selbstmord  zuvorgekommen  ist.  In  der  Darstellung  der  Regierung 
Cosimo  Medici's  behandelt  Ranke  die  auswartige  Politik  des- 
selben recht  ausfuhrlich,  er  zeigt,  dass  derselbe  seine  Haupter- 
folge  theils  seinen  Geldmitteln,  theils  dem  geschickten  Laviren 
zwischen  den  beiden  Grossmachten ,  Spanien  und  Frankreich,  zu 
ferdanken  gehabt  hat.  Bei  dem  Ausbruch  des  Krieges  im  Jahre 
1552  nahert  er  sich  Frankreich  und  bewirkt  durch  diese  drohende 
Haltung,  am  spanischen  Hofe  selbst  unterstiitzt  durch  die  ihm 
rasehwagerte  machtige  Familie  der  Toledos,  dass  Carl  V.  ihm 
Rombino  iiberlasst,  ebenso  droht  er  1557  Philipp  II.  sich 
Frankreich  anzuschliessen,  und  bewirkt  dadurch,  dass  der  Konig 
foa  den  lange  ersehnten  Besitz  von  Siena  zugesteht.  Die  Thatig- 
kdt  Cosimo's  im  Inneren  seines  Staates  wird  nur  kurz  berfihrt, 
interessant  und  neu  sind  hier  die  Angaben  iiber  das  Bestreben 
des  Fursten ,  eine  Seemacht  zu  griinden ,  iiber  das  Heranziehen 
MslaBdischer  Seeleute,  ferner  iiber  seine  eigene  Handelsthatigkeit 
Der  letzte  Aufsatz  iiber  Don  Carlos  besteht  aus  2  ver- 
schiedenen  Theilen.  Der  erste,  eine  kritische  Abhandlung,  ent- 
talt  eine  „Analyse  bisheriger  Erzahlungen"  und  eine  „Erorterung 
der  wichtigsten  Streitfragen",  er  ist  schon  1829  in  den  Wiener 
Jahrbuchern  der  Litteratur  erschienen  und  ist  hier  (wir  mussen 
sagen,  leider!)  ganz  unverandert  wiederholt  Wie  interessant 
*£re  es,  wenn  Ranke  jene  Analyse  bisheriger  Erzahlungen, 
velche  bei  ihm  mit  Llorente  schliesst,  auch  auf  die  zahlreiehen, 
j»  den  inzwischen  verflossenen  50  Jahren  erschienenen  Arbeiten 
iiber  diesen  Gegenstand  ausgedehnt,  und  wenn  er  ebendiose 
aeueren  Darstellungen  und  vor  Allem  auch  das  inzwischen  reich- 
lich  zu  Tage  geforderte    neue   Quellenmaterial  auch    bei    der 

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p 

**>  iPny    - 

336      Haan,  L.  A.  et  Zsilinszky,  M.,  Mori,  diplom.  Comit.  Bokesionsia. 

Erorterung  der  Streitfragen  benutzt  hatte.  Dafiir  hat  er  nun 
freilich ,  veranlasst  durch  erne  ihn  dazu  auffordemde  Bemerkung 
Gachard's,  als  zweiten  Theil  erne  zusammenfassende  Darstellung 
der  Geschichte  des  Don  Carlos  hinzugefiigt  und  fur  diese  audi  die 
neueren  Materialien  und  Bearbeitungen,  namentlich  die  Gachard's, 
Verwerthet.  Es  werden  hier  auch  die  Jugendschicksale  des  Prinzen 
und  die  Anfange  seiner  Verstimmung  und  Abneigung  gegen  den 
Yater  beleuchtet,  spater  in  den  entscheidenden  Hauptpunkten 
aber  ist  doch  die  Auffassung  des  Yerf.  meist  dieselbe  wie  fruber 
geblieben.  Der  Conflict  zwischen  Yater  und  Sohn  kommt  bei 
Gelegenheit  der  Erhebung  in  den  Niederlanden  zum  Ausbrwk 
Der  Prinz  ist  gegen  ein  gewaltsames  Vorgehen  daselbst,  er  hoft 
dort  Gelegenheit  zu  finden,  seinen  Thatendurst  zu  befriedigen, 
die  Yerzogerung  und  dann  das  Aufgeben  der  Reise,  welche  Konig 
Philipp  angekiindigt  hatte  mit  ihm  zusammen  dorthin  unternehmen 
zu  wollen,  auf  der  auch  die  von  dem  Prinzen  gewiinschte  Ver- 
mahlung  mit  der  osterreichischen  Prinzessin  vollzogen  warden 
sollte,  bringt  Carlos  zur  Verzweiflung,  er  will  fliehen,  nach  dea 
Niederlanden  gehen,  seine  Plane  sind  in  der  That  fur  Philipp 
gefahrlich,  da  in  alien  Provinzen  Unzufiriedenheit  herrscht  In 
der  Beichte  bekennt  der  Prinz  sogar,  seinem  Yater  nach  dem 
Leben  zu  trachten.  Der  Konig  lasst  ihn  gefangen  setzen,  er- 
klart  ihn  fiir  unfahig  zur  Nachfolge  in  der  Regierung.  Carlos  j 
ist  schliesslich  nicht  gewaltsam  umgebracht  worden ,  in  seiner 
Verzweiflung  iiber  den  Verlust  der  Freiheit  hat  er  sich  durch 
eine  ganz  unverniinftige  Lebensweise  den  Tod  zugezogen. 
Berlin.  F.  Hirsch. 


LXXVIII. 
Haan,  Lud.  A.  et  Zsilinszky,  Michael.  Monumenta  diplomatics 
Comitatus  Bekesiensis.  Diplomata  LXXXIV  ab  anno  1323 — 1719. 
—  Missiles  XCIX  ab  anno  1583 — 1794  ex  variis  archivis  coDft- 
gerunt.  Zweites  Heft.  gr.  8.  (269  S.)  Pest-Ofen  1877,  F.  Tettej 
&  Cie.    6  Mark. 

oder  mit  ungarischem  Titel: 
Urkundenbuch  des  Bekeser  Komitats  mit  zahlreichen  auf  die 
innere  Geschichte  unseres  Vaterlandcs  sich  beziehenden  Daten 
gesammelt  und  herausgegeben  von  Ludwig  Haan  und  Michael 
Zsilinszky,  Mitgliedern  des  dirigirenden  Ausschusses  der  ungari- 
schen  historischen  Gesellschaft.  Pest-Ofen  1877.  Ferd. 
Tettey  &  Comp. 

Das  hier  genannte  zweite  Heft  des  von  dem  dirigirenden  Aus- 
schusse  der  ungarlandischen  historischen  Gesellschaft  herausge- 
gebenen  Werkes  enthalt  ein  fur  die  Geschichte  Ungarns  und  Sieben- 
biirgensnach  verschiedenenRichtungen  hin  sehr  werthvolles  Quellen- 
Material,  wenn  es  auch  fiir  die  Spezialgeschichte  des  Korosch-und 
bberen  Theissgebietes,  die  Komitate  von  Bekes,  Grosswardein,  Bihar 
undZaranddienachsteBedeutunghat.  Die  beidou  Veranstalter  der 


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Haan,  L.  A.,  et  Zsilinszky,  M.,  Mou.  diplom.  Comit.  B£kesiensis.      337 

Sammlung ,  die  Herren  L.  Haan  und  M.  Zsilinszky  haben  nicht 
weniger  als  15  Archive  durchforscht,  darunter  in  erster  Linie 
die  geheimen  Archive  der  konigl.  ungarland.  Hofkammer  in 
Ofen  und  Wien  und  das  fur  ihre  Zwecke  besonders  ergiebige 
Privatarchiv  der  mit  dem  beriihmten  Furstengeschlechte  von 
Bethlen  naheverwandten  Familie  Justh  von  Neczpal,  deren  jetzt 
lebender  Spross,  —  dem  das  vorliegende  Heft  aus  Dankbarkeit 
gewidmet  worden,  —  die  Veroffentlichung  desselben  materiell 
wesentlich  gef  ordert  hat. 

Das  Granze  gliedert  sich  in  zwei  Theile,  von  denen  der 
erste  85  Urkunden  in  lateinischer  Sprache  vom  Jahre  1323  an 
bis  z.  J.  1770  enthalt,  die  von  den  Konigen  Karl  Robert,  Sig- 
nrand,  Ladislaus  V.,  Mattliias  Corvinus,  Wladislaus  II.,  sowie 
von  den  Kaisern  Ferdinand  L,  Maximilian  II.  und  Rudolf  II., 
endlich  von  dem  Fiirsten  von  Siebenbiirgen  Sigmund  Rdkotzi 
herriihren  oder  unter  bischoflicher  Oberhoheit  auf  Familienbesitz 
oder  sonstige  lokale  Verhaltnisse  der  oben  genannten  Komitate 
Bezug  haben,  —  der  andere  Theil  aber  99  Dokumente  in 
magyarischer  Sprache  in  sich  schliesst,  welche  sich  vornehmlich 
auf  den  Briefwechsel  der  Fiirsten  von  Siebenbiirgen,  resp.  Konige 
von  Dngarn  mit  der  h.  Pforte  beziehen  und  wenn  auch  lokale 
Verhaltnisse  betreffend,  so  doch  von  mehr  allgemeinem  und  be- 
sonders kulturhistorischem  Interesse  sind.  Eine  Partie  derselben 
ist  den  „ActaPublica  Transsylvaniae  ab  Anno  1583  usque  ad 
A.  1594"  in  dem  Archive  der  Hofkammer  zu  Ofen,  eine  andere 
der  im  Auftrage  der  historischen  Kommission  der  ungarl.  Aka- 
demie  der  AVissenschaf  ten  durch  Aron  Szilady  und  Alex.  Szilagyi 
(Heft  I — VII)  veroffentlichten  Sammlung  von  Urkunden,  eine 
dritte  endlich  den  tiirkischen  Dokumenten  entnommen,  welche 
Johann  Repiczky  im  J.  1852  auf  Kosten  des  magyarischen 
Nationalrauseums  ins  Magyarische  iibersetzt  hat. 

Beide  Unternehmungen  schliessen  sich  an  die  in  demselben 
Verlage  v.  Ferd.  Tettey  &  Oomp.  in  Pest -Ofen  erschienenen 
Momunenta  comitialia  regni  Hungariae  I.  u.  II.  Bd.  von  den 
Jalren  1874  u.  75  des  Dr.  Wiihelm  Fraknoi,  und  die  Monumenta 
regni  Transsylvaniae  I.  u.  II.  Bd.  v.  J.  1875  u.  76  des  oben 
erwahnten  Alex,  Szilagyi  an.  Wahrend  aber  diese  beiden  Samm- 
lungen  einen  ganz  allgemeinen  Charakter  haben  und  sich  zur 
Aufgabe  stellen,  stimmtliche  Beschlusse,  welche  die  ungarlandischen 
Stande  auf  ihren  Theil-  und  Gesammtlandtagen ,  dann  die  kroa- 
tischen  und  siavonischen ,  endlich  die  siebenbiirgischen  auf  den 
itrigen  gefasst  haben,  als  auch  alle  jene  Akten  zu  sammeln, 
welche  mit  jenen  Landtagen  in  irgend  einem  Zusammejihange 
stehen,  —  beschranken  sich  die  hier  angezogenen  Sammlungen 
von  L.  Haan  und  M.  Zsilinszky  auf  den  viel  engeren  Kreis  des 
Korosch-  und  obern  Theissgebiets ,  ganz  speziell  den  Bekeser 
Komitat,  selbst  da,  wo  die  angefiihrten  Briefe  aus  Exonstadt 
oder  Klausenburg,  aus  Broos  oder  Karlsburg  datiren  oder  an 
die  Konigin  von  England   gerichtet  sind.     Indem   sie   aber   die 

MitthoiluBgcn  a.  d.  histor.  LHteratur.    VI.  22 

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338  Von  der  Briiggen,  E.,  Polena  Aufloanng. 

eigentliclien  diploraatischen  und  die  jeweilige  Verfassung  und  Ver- 
waltung  des  Landes    uiid    seiner    eiiizelnen    Theile   betreffenden 
Dokumente  nach  anderer,  zumal  kulturhistorischer  Seite  vielfach 
erlautern  und  erganzen,   liefern   sie   in    den    von  so  trefflichem 
Erfolge   gekronten  Bestrebungen  der  beiden  Verfasser  zugleich 
den  Beweis,  wie  unendlich   viel   des  Verdienstes  noch  iibrig  ist, 
das   gewiss   allerwarts   noch    reicklich    verborgene   Material  zo 
8ammeln,  kritisch  zu  sichten  und  zu  ordnen,  endlich,  wenn  aaci 
nicht   wie    bier    durch    die    riihmlicbe    Privat  -  Munifizenz   eina 
patriotischen  Magnaten,  so  doch  mit  Hlilfe  der  von  Staats  w^a 
reich  dotirten  ungarischen  Akademie  der  Wissenschaften  zum- 
offentlichen,   dabei  aber,   —  im   bestverstandenen   Interesse  da 
Landes  und  seiner  Geschichte,   hauptsachlich   aber  in   dem  der 
europaischen  Wissenschaft  —  nicht  zu  vergessen,  die  in  magyari- 
scher    Sprache    abgefassten    Dokumente    durch    Zugabe    einer 
lateinischen  TJebersetzung  zuganglicher  machen  zu  woUen. 
Berlin.  Zekeli. 


LXXIX. 
Von  der  Bruggen,  Ernst,  Polens  Auflosung.    KulturgeschicM 
liche    Skizzen    aus    den    letzten    Jahrzehnten    der    polnischin 
Selbststandigkeit.     gr.  8.  (IV,  417    S.)     Leipzig   1878,  Veil 
&  Cie.     6  M. 

Br.  bezweckt  mit  den  hier  in  Buchesform  gesaramelten, 
friiher  z.  Th.  als  einzelne  Aufsatze  publicirten  Skizzen  „den 
Zersetzungsprocess  innerhalb  der  gesellschaftlichen  Zustande  Polens 
darzustellen,  wie  ihn  die  staatliche  Theilung  vorfandu.  Dnrch 
personliche  Bekanntschaft  mit  Land  und  Leuten  vertrant  vsii 
an  der  Hand  einer  reichhaltigen  Litteratur,  bcsonders  von  thefl- 
weise  noch  ungedruckten  Memoiren  und  Correspondenzen  aus  der 
zweiten  Halfte  des  XVIII.  Jahrhunderts,  gelingt  ihm  dies  vt 
kommen.  Das  Buch  enthalt  folgende  17  Abschnitte :  I.  B* 
leitung,  ein  Leitfaden  der  politischen  und  socialen  Gescliichte 
des  Polenthums  vom  XV.— XVIII.  Jahrh.  II.  Landschaft 
Bevolkerung,  Bauer.  III.  Stadtewesen.  IV.  Finanzen,  Heer. 
Justiz,  Kirche.  V.  (xeistlichkeit,  Monchswesen,  Schule.  VI.  We 
Schlachta.  VII.— X.  Die  Magnaten:  Karl  Kadziwill,  Anton 
Tiesenhausen  und  P.  A.  Branicki,  Felix  Potocki,  Adam  Czar- 
toryski.  XI.  Warschau  wiihrend  des  langen  Reichstages. 
XII.  Stanislaw  August  Poniatowski.  XIII.  Der  Konig  und  das 
junge  Polen.  XIV.  Die  warschauer  Gesellschaft.  XV.  M* 
er8te  Theilung.  XVI.  Die  Constitution  vom  3.  Mai  1791- 
XVII.  Schlussbetrachtung,  enthaltend  eine  Uebersicht  der  politi- 
schen Entwicklung  des  Polenthums  von  der  3.  Theilung  bis  zum 
Erliegen  des  letzten  Aufstands  von  1863. 

Wie  diese  Aufziihlung  ergibt,  ist  die  Historic  mehr  nur  der 
verkniipfende  Faden,  das  Hauptgewicht  fallt  auf  die  sociale  Ge- 
staltung  des  alten  Polen,  die  Wechselwirkung  zwischen  polniscliem 

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Von  der  Briiggen,  E.,  Polens  Aufl5smig.  339 

Charakter  und  polnischer  Geschichte,  die  dem  Verf.  zu  selb- 
standigen  Betrachtungen,  Urteilen  und  Folgerungen  Anlass  gibt. 
Die  polnische  Geschichte  ist  seit  dem  XV.  Jahrh.  identisch  mit 
der  Geschichte  des  polnischen  Adels.  Derselbe,  in  der  neueren 
Zeit  Tom  XV. — XVIII.  Jahrh.  allein  rait  politischen  Rechten 
ausgestattet,  macht  in  den  Zeiten  seiner  Bliite  den  zwolften  bis 
dreizehnten  Theil  des  Ganzen,  nahezu  eine  Million  aus,  Nicht 
iwm  war  Biirger  und  Bauer  rechtlos.  Diese  Entwicklung  be- 
ginnt  mit  dem  Auftreten  der  Jagellonischen  Dynastie.  Der  nach 
Aussen  hin  gewaltige  Jagello  muss  sich  im  Innern  schon  den 
Tereinigten  polnischen  Magnaten  und  litthauischen  Bojaren  fiigen. 
Mit  der  Schlacht  von  Tannenberg,  dem  Triumph  physischer 
Kraft  rad  ungeziigelter  Kampfeslust  iiber  Ordnung  und  Dis- 
ciplin,  ?erschwinden  die  Burger  von  den  Reichstagen,  werden 
diese  selbst ,  auf  denen  jetzt  der  Adel  ausschliesslich  herrscht, 
znstetig  wiederkehrenden.  Mit  ihrer  Berufungund  Leitung  hat  der 
&>nig,  der  als  „dritter  Stand"  neben  Senatoren  und  Reichs- 
boten  tritt,  nichts  mehr  zu  thun.  Die  polnische  Freiheit, 
vie  sie  die  Schlachta  versteht,  beginnt  mit  der  Entrechtung 
<fe  Burgers  und  Bauem  (seit  Ende  des  XVI.  Jahrh.  Leibeigen- 
fclaft  der  Bauern  in  ihrer  hartesten  Form) ,  urn  mit  dem  anarchi- 
stischen  Regiment  der  Wenigen  zu  enden,  die  sich  durch  erb- 
iichen  Reichtum ,  Gewandtheit  und  Ehrgeiz  iiber  die  Masse  der 
«Briideru  erheben.  Denn  die  ganze  Million  Adliger  bildet  eine 
4fruderschaftu,  die  nicht  den  Staat  leitet,  sondern  selbst  die 
Nation  reprasentirt,  selbst  an  der  Regierung  in  den  Landtagen, 
hnn  darch  ihre  Vertretung  auf  den  Reichstagen  Theil  hat. 
khon  im  XV.  Jahrh.  entwickelt  sich  die  Macht  des  Adels  fast 
tos  m  den  letzten  Consequenzen ;  das  Symbol  seines  fruheren 
Pastes,  Schwert  und  Sporn,  wird  zu  dem  seines  Herrenrechts, 
ft*  wird  frei  von  alien  Lasten,  dagegen  allein  berechtigt  zu  alien 
Genfissen,  die  die  Staatsleitung ,  der  Staatsgrundbesitz ,  die 
J^enpfrunden  gewahren  konnen.  Nur  Adlige  treten  in  den 
™at,  eine  Art  Staatsrath  aus  fruheren  und  jeweiligen  hochsten 
J^ffliten,  zur  Vorbereitung  der  Geschafte  fiir  die  Reichstage, 
•kfamg  der  Administration  und  Kontrole  des  Konigs.  Jagellos 
kesetz  von  1430:  Neminem  captivabimus  nisi  de  jure  victum, 
^U  beim  Zustand  der  polnischen  Justiz  jeden  Adligen,  abge- 
sehen  von  besonders  schweren  Capitalverbrechen ,  straffrei.  Ein 
Nres  Gesetz  von  1496 ,  das  dem  Burger  verbietet ,  ausserhalb 
des  Weichbildes  Grundbesitz  zu  erwerben,  macht  den  Schlachtizen 
^  eigentlichen  Sinne  zum  Herrn  oder  (bei  Domanen)  Nutzniesser 
P  ganzen  polnischen  Landes,  damals  noch  iiber  21,000  Q  Meilen. 
We  Erklarung  Polens  zum  Wahlkonigreich,  1573,  war  ein  folge- 
ffchter  Schritt  auf  diesem  Wege,  dem  zwei  Jahrhunderte  spater 
e^  andrer  folgte ,  der  den  Konig  weit  unter  den  Prasidenten 
^er  Republik  stellte.  1775  verlor  er  als  letztes  von  alien  das 
J*echt  der  Aemterbesetzung ;  damit  wurde  der  Reichstag  souveran, 
w*  Konig  beschrankter  Ausfiihrer   seiner   Beschliisse.     Urn  der 

22* 

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340  V°n  der  Briiggen,  E.,  Polens  AuflSsung. 

„Nation"  die  Fiille  der  Staatsgewalt  zu  wahren,   waren  gewiss* 
Vorkehrungen  nothig,  die  die  Reichsboten  auf  den  alle  2  Jalire 
wiederkehrenden  Reichstagen  zwangen,    nur  in   der  ihnen  forge- 
schriebenen  Weise  vorzugehen.     Bei  ihrer  Wahl   auf  den  Land- 
tagen    erhalten    sie    auf   besonderen   Instructionslandtagen  ihns 
Cahiers,  von    denen   sie    nicht   abgehen    diirfen.     Zur  KontrA 
dariiber    dienen    die    nach    Schluss   des   Reichstags   zusamma- 
tretenden  Relationslandtage ,   auf  denen  die  Reichsboten  Beridit 
erstatten,   die  ihnen  gemachten  Vorwiirfe   zu   entkraften  kiea. 
Auf  den  Landtagen  wiederum  herrschen  die  einzelnen  Pann* 
beschrankt.     Das  liberum  veto  (zuerst  1652)    wird  in  derlW 
des  Landboten  nutzlos,  da  er  dem  allmiichtigen  Pan,  der  genk 
die  politische  Leitung  seiner  Landschaft  hat,  nicht  widersprada 
kann.     Thut  dies  eine  ganze  Partei  unter  Leitung  eines  Biraki, 
so  entscheidet   fast   stets   die   Gewalt;    kaum    war  ein  Landtag 
ohne  Kampf  und  Blut  denkbar.     Erst  1764  weicht  das  libeo 
veto  dem  Majoritatsvotum  auf  den  Landtagen ;    doch  nach « 
vor  entscheidet  hier   die  Gewalt.     Der  Reichstag   wird  von  ta 
170  Landboten,   etwa   140  Senatoren   und  dem  Konig  gebiliA 
Er  steht   unter  der  Leitung   eines   Reichstagsmarschalk   Seat 
Sitzungen   sind   ofFentlich ;   die   adlige    „Nation"    hat  als  Ga& 
„Arbitria,  Herren  und  Damen,  Zutritt  und  wird  bei  gewichtiga 
Fragen  durch  ihr  Eingreifen  eben  so  ehifiussreich  wie  das  rsot 
verane    Volk"    auf   den    Tribiinen   des    franzosischen    Convert 
1791 — 94.    Alle  zu  erledigenden  Gegenstiiiide  werden  zum  Schlas 
in  einer  „Constitution"  zusammengefasst.     Wird  nur  eiiierdufli 
Anwendung  des  Liberum   veto   unerledigt  gelassen ,   so  wird  <fe 
Constitution  unmoglich,  die  ganze  Arbeit  fruchtlos.  —  Die  Finm- 
kontrole  des  Reichstags  wird  illusorisch   durch    die  G^wandtliat 
des  Finanzministers,  seinen  Bericht  bis  auf  den  sptitesten  Tenais 
hinauszuschieben,    dem    dann  meist    die   gewaltsame   AuflW 
vorangeht,     So  kommt  es  wahrend  dreier  Jahrhunderte  kfl»/ 
zur  Rechenschaftsleguiig   iiber    die   Staatsfinanzen ,   derenA» 
beutung   als   natiirliches    Recht    des  jeweiligen    Knanzniin^ 
gilt.  —  Die  unumschrankte  Freiheit    flihrt   als    Gegenmittd  a 
den  „Confoderationen" ,   Adeisaufgeboten  der  Landschaften,  ^ 
denen  mit  Hintansetzung  des  liberum  veto  nach  Majoritiiten  ute  < 
die   dringlichsten   Angelegenheiten    gestimmt   wurde.    Aus  to 
Majoritat  der  Landschafts-Confoderationen  bildet  sich  die  BeicI* 
Confederation  zu  ahnlichen  Zwecken  unter  Leitung  der  dem  Konf 
oder  der  bestehenden  Regierung  feindlich  gesinnten  Pane.  W^ 
ringt  mit  dem  Konige,  event,  mit  den  Waffen  in  der  Hand,  » 
die  Gewalt.     Siegt  sie ,    so  schliesst   der  Senat  sich  ihr  an  u» 
beruft  einen  „Confoderirten  Reichstag"    zur  Erledigung  des  ^ 
stimmten  Reform-Programms  und  ohne  liberum  veto.   Zuerst  ba^ 
dies  System  auf  den  Wahlreichstagen  des  XVI.  Jahrb.  Eing^ 
gefunden,  da  das  Liberum  veto   eine  jede  Wahl   uniuoglicb p: 
macht    hatte.      Spater   wurde   jeder   Reichstag,    der   ernstlick 
Reformen   durchfiihren    sollte,   dazu   umgestaltet.     Die  Kirclits. 

■ 


Von  der  Briiggcii,  E.,  Polons  Auflosung.  341 

die  ihren  Einfluss  seit  dem  Anfang  des  XV.  Jahrh.  durch  Ver- 
weltlichung  und  Pfrundenwirtschaft  verloren  hatte,  gewinnt  ihn 
erst  in  der  Bliitezeit  der  Gegenreformation,  Ende  XVt.  Jahrh., 
wieder.  Seit  dieser  Zeit  beherrschen  die  Vertreter  derselben,  die 
Jesoiten,  unter  Voranschiebung  der  Schlachta,  das  ganze  Land. 
Da  ihr  Einfluss  der  einzige  geistige  in  Polen  ist,  die  Erziehtmg 
fast  ansschliesslich  in  ihrer  Hand  liegt,  so  thut  die  adlige  Nation, 
scbembar  geleitet  von  ihren  30 — 40  grossen  Panen,  doch  meist 
dot  das,  wozu  diese  letzteren  von  den  Jesuiten  ira  Interesse  der 
Kirche  und  ihres  Ordens  bestinunt  werden.  Ueberall  also  vom 
Obereten  bis  zum  Untersten  herrschen  fast  ausschliesslich  gesell- 
schaftfiche  Interessen  vor,  die  das  offentliche,  das  Staats-Interesse 
bis  zur  Unkenntlichkeit  iiberwuchern.  „Das  Jesuitenthum  auf 
der  einen,  die  adlige  Freiheit  auf  der  andern  Seite  haben  Polen 
gitidkl  Nirgend  war  jemals  ein  Volk  so  wenig  geeignet, 
repablikanische  Freiheit  zu  ertragen,  und  nirgend  ist  sie  so  sehr 
nrisshraucht  worden.  Die  lange  Leidensgeschichte  der  polnischen 
Kepublik  weist  einen  so  erschreckenden  Mangel  aller  politischen 
Migkeiten  auf,  wie  er  sonst  nur  bei  den  rohesten  Volkern  ge- 
fonden  wird.  Nur  straffe  monarchische  Gewalt  vermochte  und 
rermag  die  naturlichen  Anlagen  des  Slawen  in  einer  wohlthatigen 
fiichtung  zu  erhalten  und  vielleicht  allmahlich  in  ihm  die  Grund- 
%  8taatlichen  Wesens  zu  entwickein".  (S.  38.) 

Steigt  man  in  der  Betrachtung  der  einzelnen  Stande  von 
unten  aufwarts,  so  entrollt  sich  bei  der  des  Bauernstands  ein 
U3d  ror  unsern  Augen ,  wie  es ,  abgesehen  von  dem  Siidosten 
^sKontinents,  vielleicht  nicht  wieder  in  ganz  Europa  vorkommen 
oochte.  Obgleich  das  Land  noch  1660  ttber  21,000  QMeilen 
^  ca.  14  Millionen  Einw.  umfasste ,  wovon  die  kleinere  sttd- 
<«tliehe  Halfte,  Roth  Russland,  Volhynien,  Podolien,  die  Ukraine, 
zu  den  fruchtbarsten  Gegenden  Europas  gehorte,  so  ging  die 
ferliche  Kultur  bis  zu  den  Zeiten  Stanilaw  August  Ponia- 
tevrski's  doch  dermassen  abwiirts,  dass  sie  vollig  zu  erstarren 
drohte.  Endlose  Walder  bedecken,  nach  der  Schilderung  zeit- 
g^nossischer  Reisenden,  um  1770  das  Land.  Die  wenigen  Dorfer 
Itsteheu  aus  einer  Zahl  baufiilliger  Lehmhiitten,  die  nur  einen 
flaunt  enthalten,  der  Bauer  erhebt  sich  nur  wenig  iiber  die  Stufe 
^s  Thieres.  Furcht  und  Aberglauben  scheinen  die  einzigen 
Motive,  die  ihn  bewegen.  Ein  wenig  besser  wird  es  seit  dieser 
Zeit  Einsichtige  und  woldwollende  Magnaten  beginnen  ihre 
Baueru  freizugeben,  doch  bleibt  auch  dies  ohne  viel  Erfolg, 
&  es  an  den  notwendigsten  Mitteln  zur  Besserung  der  Wirt- 
^haft,  an  jeder  geistigen  und  sittlichen  Vorbildung  fehlte  und 
^ir  wenige  der  Herren  die  Energie  besassen,  selbst  zur  Abhilfe 
dieser  Gebrechen  Hand  mit  anzulegen. 

Wenig  erfreulicher  wirkt  der  Anblick  der  Stadte.  Eine 
Zahlung  ergibt  zu  Anfang  des  XIII.  Jahrh.  eine  Anzahl  von 
^Wgen  hundert;  im  XVIII.  ist  sie  vielleicht  um  ein  weniges 
gewachsen.    Da  der  Slawe  keine   Aniage  zum  Burger  hat,  so 

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342  v°a  der  Brfiggen,  EM  Polens  AuflosuDg. 

war  ein  grosser  Theil  der  urspriingliclien  Stadte  von  deutechen 
Handwerkern  and  Kaufleuten  begrundet,  die  unter  ihrem 
Schultheissen  und  Vogt  nach  eignem  Recht ,  mit  eigner  Ver- 
waltung  lebten.  Mit  der  Entrechtung  des  Biirgerthums  seitdem 
XV.  Jahrh.  raumt  der  Deutsche  den  Platz;  seine  Stelle  wird 
von  Solchen  eingenommen,  die  die  Verfolgung  ihres  Interest 
holier  anscblagen  als  die  politische  Freiheit,  fremde  Abenteurer, 
die  nur  so  lange  hier  weilen,  bis  sie  etwas  Vermogen  geschaffi, 
vor  andern  der  jiidische  Handelsmann ,  der  aus  dem  osUicfcu 
Theil  Deutschlands  einwandernd,  hier  festen  Fuss  fasst,  iff 
sich  in  die  polnische  Art  wol  zu  schicken  weiss,  und  als  nskr- 
thaniger  Begleiter  des  Schlachtizen  doch  stets  seinen  Vorfta 
wahrzunehmen  versteht.  Dennoch  ein  wenig  geeignetes  Elemei 
die  verfallenden  Stadte  wieder  zu  heben,  da  er  sich  dem  Geverk 
nur  soweit  zuwendet,  als  das  unerlassliche  Bediirfniss  es  erforderi 
—  Die  Verderblichkeit  des  polnischen  Systems  macht  sich  ai 
meisten  in  der  Physiognomic  der  Provinzialhauptstadte,  Lembeif, 
Warschau,  Wilna,  Grodno  etc.,  bemerklich.  Sie  behalten  ita 
alten  Umfang;  doch  drei  Viertel  der  Stadt  liegen  verodet,  la 
Rest  ist  in  Armut,  Unfreiheit  und  Unwissenheit  versunken.  Kur 
in  der  Zeit  der  Landtagsversammlungen  beleben  sich  die  6d«t 
Strassen  und  Palaste ,  sieht  man  Gegenstande  des  Luxus  und 
Reichtums  in  ihnen  erscheinen.  Bei  dieser  Lage,  dem  Mangd 
eigner  Industrie,  dem  Darniederliegen  bauerlicher  Kultur  ist  « 
nicht  befremdlich,  wenn  um  1777  der  Import  an  Manu&cta 
50  Mill.  Gulden  desJahres  betragt  bei  einem  Export  von  ca.  25  Mil 
in  Rohproducten,  wahrend  das  Land  bei  einigermassen  soigsamer 
Bewirthschaftung  leicht  das  Vierfache  exportiren  konnte.  Und  mit 
der  abnehmenden  Bevolkerung  der  Stadte  nahmen  auch  Handel  und 
Gewerbe  noch  ab,  so  class  bei  langerem  Vegetiren  derart  das  ge- 
sammte  stadtische  Leben,  mit  Ausnahme  der  Hauptstiidte,  tf 
erstarren  drohte. 

Die  Folge  dieses  innern  Absterbens  der  Lebensnervea  fe 
Staats  war  das  Versiegen  der  Einkommensquellen.  Vier  J4K 
nach  der  Wahl  Stan.  Augusts,  1768,  betrug  das  EinkomflM 
aus  den  koniglichen  Gutern  1%  Mill.  Gulden  (=  32/3  Mill.  Mart! 
die  Ausgaben  fiir  Hofhalt  und  Verwaltung  ll3/4  Mill.?  das  ge- 
sammte  Einkommen  13  Millionen,  d.  h.  die  druckendsten  directs 
und  indirecten  Steuern,  die  freilich  nur  Burger  und  Bauer  trafa 
bringen  etwa  bxjt  Mill.  Gulden  ein.  Die  steigenden  Bediirfni^ 
des  Hofs  und  des  reconstruirten  Heers  treiben  die  Ausgabei 
auf  iiber  20  Millionen  bei  einer  Einnahme  von  18 — 19  Mill,  i*j 
J.  1780.  Dennoch  wurden  Staatsschulden  nur  wenig  gemacht^ 
da  Niemand  diesem  Staat  etwas  leiht.  Das  druckendc  DeW 
wird  so  gut  es  geht  durch  Erhohung  der  Steuern  unci  patriotism 
Gaben  der  Magnaten  wie  des  Konigs  gedeckt. 

Das  Heer,  das  die  Eifersucht  der  Magnaten  stets  aufdtf 
niedrigst  moglichen  Hohe  erhielt  —  selten  iiberstieg  es  8  *f 
10,000  M.,  wenngleich  das  Zwei-  oder  Dreifeche  auf  dem  Papier 

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Von  der  Bruggen,  E.,  Polons  AufloBung.  343 

stand,  und  das  Aufgebot  der  Schlachta  noch  Ende  des  17.  Jahrh. 
iiber  100,000  M.  betrug  — ,  repriisentirte  eine  Volkswehr  und 
bildete  mit  seinen  Begimentern  aus  bisweilen  nur  100 — 200  M. 
ein  getreues  Abbild  der  ubrigen  Staats  -  Institute.  Die  oberen 
Officierstellen  eintragliche  Sinecuren,  die  Mehrzahl  der  Gemeinen 
bei  der  Cavallerie,  der  Lieblingstruppe,  Sclilachtizen,  die  nie  ihre 
Bruderschaft  mit  den  Befehlshabern  vergessen,  an  der  Spitze  der 
Kron-Hetmann  und  der  Feld-Hetmann  von  Litthauen,  die  ihre 
Maclit  zu  eignem  Vortbeil  ausnutzten  —  so  stand  das  polnische 
„Heeru  da ,  eine  Menge  nutzloser  Esser,  ohne  jede  Kenntniss  und 
Fahigkeit  zur  Vertbeidigung  des  Landes.  „ Auf  die  Tauglichkeit 
ward  nicht  geachtet.  Vincenz  Potocki,  der  nie  Pulver  gerochen, 
kaufte  das  beste  Regiment  um  30,000  Dukaten.  K.  N.  Sapieha 
wurdc  mit  15  Jabren  General  der  litthauischen  Artillerie,  welche 
ireflfch  nur  eine  Gesammtstarke  von  100  Mann  hatte.  Solcbe 
Heerfiihrer  wurden  dann  noch  gelegentlich  hoch  pensionirt,  wenn 
m  ihre  Stellen  verkauft  hatten.  P.  Potocki  z.  B.  kaufte  etwa 
am  1780  von  Stempkowski  die  Stelle  eines  Begimentsfuhrers  und 
wurde  dadurch  sofort  Generallieutenant  St.  selbst  aber  erhielt 
als  pensionirter  Generallieutenant  56,000  Gld.  oder  18,000  Mark. 
Noch betriibender womoglich ist der Zustand der  Bechtspflege. 
Der  Bauer  steht  ganz  unter  der  Jurisdiction  seines  Herrn ,  der 
Biirger  unter  der  des  Starosten  und  der  Landgerichte.  Der 
Adlige  wird  meist  nur  mit  Geld  gestraft  und  die  Urteilsfallung 
selbst  erfolgt  nicht  nach  einem  gewissen  Landrecht  —  ein  solches 
«ostirt  in  unserem  Sinne  gar  nicht,  vielmehr  bios  eine  Menge  von 
Herkommensrechten,  die  nur  dem  Eingeweihten  bekannt  und  ver- 
standlich  sind  —  sondern  nach  der  Grosse  der  den  Anwalten 
zur  Bestechung  der  Bichter  gezalilten  Summen  und  nach  der 
Kraft  der  Fiiuste^  die  oft  ein  unrechtes  Urteii  zu  einem  rechton, 
on  rechtes  zu  einem  unrechten  machen.  Recht  war  in  den 
poluischen  Gerichten  meist  das,  was  der  Patron  des  Bechtsuchen- 
den  zu  bestimmen  Kraft  und  Einfluss  hatte.  Charakteristisch 
istdabei,  dass  nicht  nur  unaufhorlich  Processe,  besonders  in  Erb- 
jciafts-  und  Grundbesitzsachen  vor  den  Gerichten  in  grosser 
^M  schwebten,  sondern  dass  es  geradezu  zum  guten  Tone  ge- 
iorte,  einen  langwierigen,  grossen  Process  zu  fiihren.  Ein  solcher 
nahrte  Hunderte  adliger  Anwiilte,  Schreiber  und  Bichter,  schaflFte 
den  Processirenden  eine  Emotion  und  starkte  den  Einfluss  der 
Magnaten  —  so  war  Allen  gedient. 

Kirche  und  Schule,  soviel  von  letzterer  die  Bede  sein 
bnnte,  wurden  von  den  Jesuiten  beherrscht:  Die  ganze  Aus- 
bildung  der  hoheren  Klassen  d.  h.  des  mittleren  und  hohen 
Adels,  da  der  niedere  Schlachtiz  meist  nur  die  elementarste  oder 
gar  keine  Unterweisung  erhielt,  geschah  nach  dem  bekannten 
scholastisch  -  formalistischen  Becept,  das  in  der  Aneignung  eines 
gewissen  Memorirstoffs  und  der  mittelalterlich  verzerrten  Methodik 
^s  Aristoteles  die  Summe  aller  Bildung  sah.  Fur  die  Ent- 
^icklung  des   Charakters,    innerer  Selbstandigkeit   war   in   der 


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344  Von  der  Bruggen,  E.,  Polcns  Auflosung. 

Jesuiten-Schule  kein  Raum.  Dagegen  wurde  hier  manch  schlechte 
Leidenschaft,  Scheinheiligkeit,  Verstellung,  Arroganz,  Grausam- 
keit,  reichlich  genahrt.  Besonders  den  Zoglingen  aus  vermogen- 
den  Hausern  wurde  hier  friihzeitig  gezeigt,  wie  derjenige,  der 
sich  den  Ordnungen  der  Kirche  nnd  ihrer  Vertreter  unterwerfe, 
so  leicht  nichts  im  weltlichen  Leben  zu  fiircliten  babe.  In 
Polen  sab  die  romische  Kirche  um  1600  ihr  Ideal  einer  Theo- 
kratie  verwirklicht.  Der  Fiirst  -  Primas ,  Erzbischof  von  Gnesen, 
erster  Berather  des  Konigs ;  jener  selbst  gleich  den  meisten  seiner 
Standesgenossen  aus  dem  Adel,  unter  der  wenig  sichtbareu  abertm 
so  tieferen  Einwirkung  der  Jesuiten ,  die  ihre  Parole  von  Ban 
her  empfingen,  und  ihrer  kosmopolitischen  Stellung  nach  mekr 
an  die  Interessen  dec  Kirche,  als  die  des  Volks  dachten,  unter 
dem  sie  lebten.  Nirgends  machte  sich  zugleich  das  Unzureichende 
ihrer  Lehre  und  ihres  Unterrichts  starker  bemerkbar  als  in  diesem 
Lande,  wo  kein  rivalisirender  Einfluss  sie  spornte  und  in  Athem 
hielt.  Daher  hat  „Polen  als  einziges  Land  abendlandisch-romi- 
scher  Kultur  jene  Wiedergeburt,  jene  Renaissance,  wie  man  es 
technisch  nennt,  nie  erlebt.  Wenn  sonst  nichts  in  der  Geschichte 
Polens  Denkwiirdiges  fur  uns  weiterverzeichnetstande,  dieses  Eine 
allein  ware  eines  eifrigen  und  eindringendenStudiuins  werth"  (S.  103). 
Wie  ein  so  angeleiteter ,  so  erzogener  Stand  das  Land 
lenken  musste,  ergibt  sich  von  selbst.  Beste  Verwerthung  ihrer 
Geburtsstellung  im  personlichen  Interesse ,  war  die  Losung  der 
adhgen  Nation,  der  S  c  h  1  a  c  h  t  a.  Die  10  oder  20,000  grosseren 
Besitzer  unter  dieser  Million  kamen  bei  dem  System  des  Libernm 
Veto  und  der  Bruderschaft  nicht  zur  Geltung.  Sie  begmigtcn 
sich ,  in  ihrem  Besitz  ein  allein  an  materiellem  Genuss  inches, 
gastfreies  Leben  zu  fiihren,  um  Politik  und  geistige  Dingo 
kiimmerten  sie  sich  so  wenig  als  moglich.  Neben  Gutmuthig* 
keit  und  Gastlichkeit  waren  Eitelkeit,  Genusssucht  und  Aberglauben 
ihre  hervorragenden  Charakterziige.  Von  weit  grosserer  B«- 
deutung  war  der  niedere  oder  Sch  oil  en -Adel,  der  bei  te 
steten  Theilbarkeit  des  Grundbesitzes,  mit  einem  Minimal-Acker- 
loose  ausgestattet,  oder  ganz  ohne  Besitz ,  im  Dienst  des  Staafc 
des  Hofs  oder  der  Magnaten,  doch  in  nichts  seine  politischen 
Anspriiche  gegen  die  des  Ersten  seines  Stands  herabsetzte. 
Pferd  und  Schwert,  einst  Zeichen  seiner  Dienstpflicht,  sind  jwm4 
bei  dem  zerlumptesten  Schollenadligen  zu  finden  als  Symbol  seiner 
Herr8chaftsrechte.  Er  i'st  der  wahre  Reprasentant  des  Polenthums, 
mit  all  seiner  Gutmiithigkeit  und  Freigebigkeit ,  doch  auch  der 
Ziigellosigkeit  in  sitthcher,  politischcr  und  materieller  Beziehung, 
die  das  Land  der  Anarchie,  Verarmung  und  Roheit  entgegen- 
trieb,  bis  der  machtige  Nachbar  nach  dem  politischen  Gesetz  der 
Schwere  die  haltlos  gewordene  Selbstandigkeit  mit  seiner  Wucht 
erdriickte.  An  den  machtigsten  Pan  einer  jeden  Landschaft 
8chlies8t  sich  deren  Schollenadel  als  Clientel,  von  seiner  Gunst 
zieht  er,  gegen  die  Aufopferung  seiner  politischen  Personlich- 
keit,  alle  seine  materiellen  Geniisse. 

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Von  der  Braggen,  E.,  Polens  Auflosung.  345 

Diese  Magnaten  selbst,  an  ihrer  Spitze  die  alten  Familien 
der  Sangusko  und  Radziwill,  der  Branicki  und  Potocki,  der 
Lnbomirski  und  Czartoryski  und  manche  andere  eben  so  guten 
Hangs,  gewahren  doch  keineswegs  einen  erfreulichen  Anblick 
in  der  Entwicklung,  die  sie  wiihrend  der  zweiten  Hiilfte  des 
18.  Jahrhunderts  nehmen.  Nicht  als  ob  es  ihnen  an  Patriotis- 
ms, natiirlichem  Wohlwollen  und  Arbeitskraft  gefehlt  hatte,  wol 
aber  an  der  iiberlegenen  Einsicht  in  die  Grundprincipien  der 
Politik,  an  Selbstentsagung  zu  Gunsten  des  Allgemeinen,  an  der 
Kraft  zur  Unterdriickung  personlicher  Rivalitaten  und  Neigungen. 
Nur  auf  der  Union  der  bedeutendsten  Magnatenfamilien  unter- 
einander  und  mit  dem  Konigtum  hatte  der  Neubau  begriindet 
werden  konnen.  Da  eine  solche  durch  die  Natur  des  polnischen 
Charakters  wie  durch  eine  400jiihrige  Geschicbte  unmoglich  ge- 
macht  wurde,  gewahren  alle  Bestrebungen  der  Magnaten  den 
findruck  atomistischer  Schwingungen  und  Bewegungen,  die  obne 
Ziel  und  Mass  sich  gegenseitig  hemmen,  ja  oft  geradezu  in 
ihren  Wirkungen  aufheben.  Um  das  J.  1780  machen  sich  drei 
Terschiedene  Richtungen  bemerkbar,  die  der  Russenfreunde,  die 
der  Neuerer  nach  westeuropaischem  Muster,  und  die  der  Ge- 
massigten  Nationalen ;  letztere  die  schwachste  und  schiichternste. 
Ware  eine  Rettung  moglich  gewesen,  so  hatte  sie  nur  von  Be- 
strebungen ausgehen  konnen,  wie  sie  die  Letzteren  vertraten, 
der  langsamen  Reform  der  bestehenden  Einrichtungen  von  Oben 
nach Unten ,  durch  eine  Umwandlung  der  verrotteten  Staatsver- 
fas8ung  und  Verwaltung  zu  der  der  socialen  Verfassung 
March.  Daran ,  dass  sie  dies  nicht  erkannten ,  nicht  im  Stande 
waren,  die  vereinte  Kraft  der  Magnaten  gegen  die  Anspriiche 
der  Schlachta  zu  Gunsten  der  Bauern  ins  Feld  zu  fiihren,  daran 
8cheiterten  zuletzt  die  Nationalen,  die  auch  in  sich  nicht  einig 
waren.  Als  ein  letzter  Versuch  auf  diesem  Weg  ist  die  An- 
bahnung  der  Constitution  vom  3.  Mai  1791  zu  betrachten,  nach- 
dem  das  immer  drohende  von  Osten  heraufziehende  Gewitter  — 
8chon  regierte  Catharinas  II.  Gesandter  als  Leiter  des  Perma- 
nenten  Raths  zu  Warschau  (seit  1775)  —  die  Gemuther  zur  Ein- 
fehr  und  Eintracht  gesthnmt  hatte.  Diese  Constitution,  die  das 
Werk  des  langen  Warschauer  Reichstags  (von  1788  —  92)  ist, 
konnte  nur  durch  die  Beseitigung  des  seit  30  Jahren  vorwalten- 
den  russischen  Einflusses  durchgesetzt  werden.  Der  Zeitpunkt  war 
gunstig  gewahlt,  da  Catharina  durch  den  Tiirkenkrieg  fiir  den 
Augenblick  ganz  in  Anspruch  genommen  war.  Die  nationalen 
Reformer  lehnen  sich  dabei  an  eine  der  andern  Nachbarmachte, 
Preussen,  die  ihnen  in  ihren  Vertretern,  erst  Buchholz,  dann 
Lucchesini,  endlich  Goltz,  wolwollend  entgegenkommt.  Im  Sept. 
1789  wird  eine  Deputation  zur  Entwerfung  der  Constitution  ein- 
gcsetzt,  in  der  die  Nationalen  dieOberhand  haben.  Fundamen- 
tale  Reformen  der  Verwaltung  und  des  Heerwesens ,  Herstellung 
gleichmassiger  Besteuerung  und  guter  Polizei,  Errichtung  eines 
stehenden  Heeres  von  40—50,000   M.   beschiiftigen  zur   selben 

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346  Von  der  Briiggon,  E.,  Polens  AoflosuBg. 

Zeit  den  Reichstag.     Die  praktischen  Reformen  scheitern  indess, 
da  ihnen  die  Vorbedingung,  Selbstlosigkeit ,   sittlicher  Ernst  und 
materielle  Mittel  fehlen.     So  z.  B.   waren   fur   das  reorganisirte 
Heer   allein   48   Mill.   Grid,   nothig,   wahrend   das   Gesammteio- 
kommen  26  Mill   betrug.     Die   theoretischen   Berathungen 
und  Entwurfe  der  Constitutions-Deputation  nehmen  dagegen  bessern 
Portgang.     Schon  im  Dez.  1789  konnten  die  von  Kollontaj  und 
Ignatz  Potocki  ausgearbeiteten  Grundziige  im  Reichstag  zur  Ver- 
lesung  kominen.     Dies  Projekt  wurde  angenommen,   und   da  es 
im  Princip   die  Erblichkeit  des  Thrones  innerhalb  der  jedeaa! 
gewahlten  Dynastie  aussprach,  so  wurde,  da  der  Konig  ©■ 
vermahlt  war ,  ein  Wahlreichstag  erforderlich.     Die  dadurch  im 
ganzen  Lande  erzeugte  Aufregung  wurde  von  den  conservatifen 
Magnaten,  numerisch  der  Mehrzahl,  zur  heftigsten  Agitation  be- 
nutzt,    so   dass    ihre   Anhanger  sowol   in   den   Wahllandtagen 
wie  in  dem  etwa  500  Reichsboten  zahlenden  Wahlreichstage  bri 
der  entscheidenden  Abstimmung  iiber  die  Constitution  die  Ober- 
hand  gewinnen  konnten.     Doch   die   Reformer   zeigten  sich  ge- 
schickt  und  entschlossen.     Auch  vor  einer  Ueberrumplung,  einem 
„Staatsstreichu,  schreckten    sie   nicht   zuriick.     Die    Macht  des 
Dichters   kam   ihnen    zu   Hiilfe.      Des   Landboten    Niemcewkz 
Lustspiei    „Die  Heimkehr   des    Landboten"    ziindete   bei  einem 
Theil  des  noch  unentschiedenen  Adels,  vor  Allem  der  Masse  der 
Warschauer  Bevolkerung;  und  die  Entschiedenheit,  mit  der  die 
Reformfreunde  auftraten,  bestimmte  endlich  auch  den  Konig,  sich 
ihnen  anzuschliessen.     Nach  mehreren  vorbereitenden  Reichstags- 
kampfen,  in  denen  die  Reformer  durchdrangen,  wurde  der  5.  Mai 
1791  als  Termin  fiir  die  Verlesung   und  Diskussion   der  Consti- 
tution ins  Auge  gefasst,  aber  geheim  gehalten,  weil  man  hofiEte,  dass 
ein  Theil  der  Ende  April   zum  Osterfest   heimgekehrten  conser- 
vativen  Reichsboten   dann  noch  nicht  zuriickgekehrt  sein  wiirda 
Die  Verrathung  dieses  Geheimnisses  zwang   zur  Beschleunigw? 
der  Ausftihrung.     Der  Termin  wurde  auf  den  3.  Mai  festgeseta 
und  durch  Fanatisirung  der  Bevolkerung  zu  Gunsten  der  Reform, 
durch  Umringung  des  Reichstagsgebaudes  mit  MiUtar  wie  direkte 
Einwirkungaufdieeinzelnen  MitgLieder  der  Erfolg  vorbereitet.  Der 
Tag  verlief  programmmassig.     Die  unter  Branicki  und  Anderer 
Leitung  stehende  Opposition  wurde  zu  Boden  geschrieen.   Die  Con- 
stitution ward  vom  Konige,   trotz    der  anscheinend  gegneriscbeD 
Majoritat,   als  von  der  Vertretung  der  Nation  fiir  gut  und  not- 
wendig  erkannt,  proklamirt;  gleich  darauf  wurde  in  der  St.  Johannis- 
kirche  erst  vom  Konig,  dann  von  einem  Theil  des  Reichstags  der 
Eid  auf  das  neue  „Gesetz  iiber  die  Regierunga  abgelegt  Der  voll- 
cndeten  Thatsache  beugte  sich  dann  auch  ein  Theil  der  Opposition 
Die   neuo  Verfassung  ist   ein  Gemisch   von  monarcbischen, 
aristokratischen   und  demokratischen  Elementen,   den  damaligeu 
Verhaltnissen   der   „Republik  Polen"    mit  ihrem  Wahlkonig  ^ 
der  Spitze  entsprechend.     Sie   hat   das  Verdienst,   einen  ernst- 
lichen  Versuch  zu  bilden  auf  dem  Wego  zur  Hebung  des  Burgers 

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Hillebrand,  K.,  Geschichto  Frankreichs  1830—71.  347 

und  Bauers,  zur  gerechteren  Vertheilung  der  Staatslasten ,  zur 
Organisation  einer  selbstandigen  Executive  in  Gestalt  von  Konig 
und  Staatsrath,  zur  Ordnung  des  reprasentativen  Elements  durch 
Minderung  der  Land-  und  Reichstagswahlen ,  Aufhebung  des 
unsinnigen  liberum  veto  und  als  Folge  davon  der  Confoderationen. 
Doch  darauf  beschrankt  sich  auch  das  Verdienst  —  denn  zu 
ihrer  Durchfuhrung  im  Einzelnen  fehlte  nicbt  mehr  als  Alles; 
Einstimmigkeit  des  Adels  tiber  ihre  Notwendigkeit ,  Selbstlosig- 
keit  und  Kraft  aller  Volksklassen  zur  redlichen  Arbeit  auf  diesem 
Grande,  vor  Allem  die  Zustimmung  der  Nachbarmachte  oder 
ein  starkes  Heer  zu  ihrer  gewaltsamen  Behauptung  gegen  etwaige 
Angriffe  von  Aussen.  Auf  den  Jubel  des  3.  Mai  1791,  den 
Bausch  des  ersten  Jahres  der  Freiheit  folgte  mit  innerer  Not- 
wendigkeit eine  Periode  des  Schreckens  und  der  Ernuchterung, 
die  die  Haltlosigkeit  des  „neuen  Polen"  unwiderleglich  darthat. 
Kaum  zwei  Jahre  nach  dem  Beginn  der  neuen  Aera  bewies  die 
unter  Catharinas  Inspiration  zusammentretende  Confederation  von 
Targowicz,  in  der  sich  fast  alle  konservativen  Elemente  zu- 
sammenfanden ,  wie  diese  letzteren  gesonnen  waren,  das  strenge 
Verbot  der  Constitution  vom  3.  Mai  gegen  die  Bildung  von 
Confoderationen  zu  achten.  Die  Ueberschwemmung  des  Landes 
mit  russischen  Truppen ,  der  Umsturz  der  Verfassung  auf  dem 
Reichstag  von  Grodno  (Sept.  1793),  die  Besetzung  Warschaus 
endeten  den  Freiheitstaumel ,  der  sich  im  Aufstand  von  1794 
noch  einmal  erhob,  urn  in  der  edlen  Gestalt  Cosciuskos  bei 
Maciowiece  fur  immer  niederzusinken.  Ob  fiir  immer?  ist  die 
Schlussfrage  des  Verf.  Er  beantwortet  dieselbc  dahin,  dass 
ein  Blick  auf  die  letzten  funfzig  Jahre  beweise,  dass  das  von 
Pactionen  so  sehr  als  je  zerrissene  Land  erst  auf  dem  Gebiet 
der  Kultur  sich  den  andern  Nationen  ebenbiirtig  an  die  Seite 
stellen  miisste,  ehe  die  Frage  iiber  seine  politische  Autonomic 
auch  nur  diskutirbar  werden  konnte. 
Berlin,  Juni  1878.  S.  Isaac  so  hn. 

LXXX. 
Hillebrand,  K.,  Geschichte  Frankreichs  1830 — 71.  Band  I.  gr.  8. 
(XV,  737  S.)  Gotha  1877,  Fr.  Andr.  Perthes.  15  M. 
Von  der  Geschichte  Frankreichs  wahrend  der  Jahre  1830 — 
1871,  welche  in  5  Theilen  erscheinen  soil,  enthalt  der  erste  die 
Zeit  von  1830—1837,  die  „ Sturm-  und  Drangperiodc"  des  Juli- 
Konigthums.  Der  Verf.  leistet  in  ihm,  was  er  in  der  Vorrede 
verspricht:  den  innercn  Zusammenhang  der  Thatsachen  nachzu- 
weisen  und  so  richtiges  Verstandniss  und  klaren  Ueberblick  der 
Ereignisse  und  Zustande  zu  erleichtern,  wobei  im  besonderen 
eine  psychologische  Analyse  der  bedeutenderen  Individualitilten 
entworfen  werden  soil.  —  Das  Werk  beginnt  mit  dem  Abzuge 
Karis  X.,  der  als  ein  wiirdiger  dargestellt  wird ;  vor  allem  aber 
erhalten  wir  eine  interessante  Charakter-Schilderung  Louis  Philipps 
^d   seiner    ersten   Minister,    des   Herzogs    von    Broglie,    des 

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348  Hillebrand,  K.,  Goschichto  Frankreichs  1830—71. 

Graf  en  Mole,  Periers,  Dupins  des  Aelteren,  Lafittes  u.  8.  w. 
Daran  schliesst  sich  eine  Darstellung  der  Verhaltnisse  des-Heeres, 
des  Beamtenstandes  und  der  Geistlichkeit,  welche  letztere  den  neuen 
Zustanden  gegeniiber  sich  feindselig  verhielt  und  so  verhasst  war, 
dass  beispielsweise  —  als  der  Erzbischof  von  Paris  eine  Todtenfeier 
zu  Ehren  des  Herzogs  von  Berry  abhielt  —  sein  Palast  geplundert 
wurde.  Ueberhaupt  war  die  revolutionlire  Bewegung,  obgleich 
sie  es  war,  welcher  das  neue  Konigthum  sein  Entstehen  Yer- 
dankte,  in  hohem  Grade  gefahrlich  und  urn  so  schwerer  im 
Zaume  zu  halten,  als  der  beliebteste  und  machtigste  Mann  im 
Staate ,  Lafayette ,  Befehlshaber  aller  Nationalgarden  des  Konig- 
reichs,  in  seiner  (vortrefflich  charakterisirten)  Haltungslosigkeit 
und  Popularitatshascherei  ihr  nicht  entgegentrat,  sondern  in  viel- 
leichtwohlmeinender,  jedenfalls  aber  durchaus  unklarer  und  unpoli- 
tischer  Weise  ihr  sich  zu  fttgen  bereit  war.  Der  Kampf  gegen  diese 
revolutionare  Aufregung,  der  mit  grosser  Massigung  und  Geschick- 
lichkeit  gefuhrt  werden  musste,  da  ja  die  Juli  -  Revolution  das 
Vergebliche  und  Thorichte  der  gewaltsamen  und  unverstandigen 
Reaction  aufs  evidenteste  an  den  Tag  gelegt  hatte,  und  der 
doch  andererseits  unumganglich  nothig  war,  um  zu  geordneten 
und  dauernden  Zustanden  zu  gelangen  und  um  Frankreich  vor 
Wiederholung  der  Scenen  der  neunziger  Jahre  zu  bewahren ,  ist 
es,  welcher  die  eine  Seite  der  Darstellung  ausfiillt  In  ihm 
spielte  der  neue  Konig  nicht  immer  die  beste  Rolle,  indem  er 
gar  manchmal  —  um  seine  Popularitat  besorgt  —  dem  Augcn- 
blick  nachgebend  anders  handelte,  als  er  gesollt  hatte,  oder 
anders,  als  er  dachte,  der  offentlichen  Meinung  zu  Munde  sich 
iiusserte ;  zuweilen  auch  trat  schon  damals  hervor,  dass  er  nicht 
fur  Frankreich  vor  allem  zu  sorgen  bestrebt  war,  sondern  fur 
seine  Familie.  Die  andere  Seite  der  Darstellung  bilden  die 
ausseren  Verhaltnisse.  Nach  dem  Sturz  der  Bourbons  hatte 
Kaiser  Nikolaus  die  grosste  Lust ,  sich  in  die  franzosischen  Ver- 
haltnisse einzumischen,  aber  besonders  Friedrich  Wilhelm  IIL 
empfand  dagegen  die  entschiedenste  Abneigung;  noch  wichtiger 
war,  dass  England,  Russlands  Uebermacht  fiirchtend,  stark  zum 
alten  Gegner  hinneigte,  eine  Politik,  welcher  durch  den  franzo- 
sischen Gesandten  in  London,  Talleyrand,  auf  alle  Weise  Vor- 
schub  geleistet  wurde.  Sowohl  die  inneren  wie  die  ausseren 
Verhaltnisse  gewannen  an  Festigkeit  durch  das  klare,  thatkraftige 
und  doch  gemassigte  Auftreten  Casimir  Periers ,  der  „vielleicht 
nicht  immer  im  Interesse  des  Konigs,  aber  stets  in  dem  Frank- 
reichs"  handelte,  und  dessen  eminente  Bedeutung  der  Verf.  in 
hohem  Grade  zur  Anschauung  zu  bringen  weiss.  Nach  aussen 
hin  war  die  Haltung  des  neuen  Konigthums  besonders  wichtig 
in  Bezug  auf  die  belgische  und  in  Bezug  auf  die  polnische 
Erhebung;  letztere  verhinderte  die  beabsichtigte  Einmischung 
Russlands  in  die  erstere.  Es  ist  nun  Periers  Verdienst,  Frank- 
reich vor  der  Intervention  in  Polen,  die  es  nicht  nur  mit  Russ- 
land,  sondern  auch  mit  Oesterreich  und  Preussen  in  Krieg  ver- 

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Hillobrand,  K.,  Cteschichto  Frankreiche  1830—71.  349 

wickelt  haben  wiirde,  bewahrt  zu  haben,  so  sebr  auch  die  offent- 
liche  Stimmung  dahin  driingte.  Andererseits  trat  er  dem  Urn- 
sichgreifen  der  Oesterreicher  in  Italien  mit  Energie  entgegen, 
namentlich  durcb  Besetzung  Ankonas.  Im  Iuneren  scheute  er 
sich  nicht  vor  reactioniir  aussebenden  Massregeln:  er  loste  den 
zur  Unter8tiitzung  renitenter  Beamten  gebildeten  National-Verein 
auf,  er  verbot  die  Feier  des  Bastille-Sturms,  er  warf  einen  Auf- 
stand  in  Lyon  nieder.  So  hat  er  trotz  seines  bald  erfolgenden 
Todes  vieles  geleistet:  er  bat  seinem  Vaterlande  Frieden  und 
Freiheit  erhalten  und  ihm  seine  Stellung  und  seinen  Einfluss  in 
Europa  zuruck  erobert 

Demnachst  wird  uns  das  Unternehmen   der  Herzogin  von 

Berry  geschildert,  unterstiitzt  durch  Carl  Albert  von  Sardinien, 

Dom  Miguel,  gegen  den  bereits  friiher  eine  franzosische  Flotte  in 

Action  getreten  war,  und  Wilhelm  von  Holland,  und  unternoinmen 

in  Hoffhung  auf  einen  demnachst  ausbrechen  sollenden  Krieg  am 

fihein,  vor  alien  -Dingen  aber  gefordert  durch   die  Zustande  im 

Westen  und  Siiden  Frankreichs,  wo  es  keine  Constitutionellen, 

sondern  nur  Royalisten  (d.  h.  Anhanger  der  Bourbons)  und  Republi- 

kaner  gab,  sowie  durch  die  Missgriffe  der  Regierung,  welche  mit 

den  Letzteren  verbundet  die  Ersteren  aufs  harteste  unterdriickte. 

Wir  verfolgen  mit  Interesse  den  ganzen  Verlauf  des  Unternehmens 

bis   zu   seinem   klaglichen  Schlusse   und  wundern  uns  iiber  den 

thorichten  Unwillen,  der  dadurch  hervorgerufen  wurde,  dass  die 

Regierung  staatskluger  Weise  die  Herzogin  nicht  vor  Gericht  stellte. 

Weiter  tritt  uns  die  republikanische  Partei  und  ihre  Haupter 

entgegen.     Wir   sehen,   wie   sie  gefordert  wird   durch   die   zwar 

constitutionell-koniglich,   aber   oppositional  gesinnten  Liberalen, 

die  uberall   —  zum  Theil  ihrer  Principien   wegen,   zum   Theil 

aus  Partei-Interesse  —  in  unverstiindiger  Weise  die  Massregeln 

der  Regierung  bekampfen  und  lahmen ;  ferner  durch  eine  Presse, 

von  deren  Ziigellosigkeit  und  Rohheit   einige "  kaum   glaubliche 

Proben    beigebracht   werden;    endlich   durch   die   Feigheit   der 

Geschworenen,   die  uberall  auch  die  aufs   schwerste   Gravirten 

freisprechen  aus  Furcht  vor  der  Presse,  welche  die  Verurtheilen- 

den   bei   der  offentlichen  Meinung  denuncirt  und  mit  Spott  und 

Holin   iiberschiittet  und  verfolgt.     So   entstehen   allmahlich   die 

geheunen  Gesellschaften ,   es  erfolgen   fortgesetzte  Mordversuche 

gegen  den  Konig  unci  melirfache  Aufstande,  wie  der  Juni-Auf- 

stand  (1832)  bei'm  Begriibniss  des  Generals  Lamarque,  ein  aber- 

maliger  Aufstand  in  Lyon  und  ein  eben  solcher  in  Paris  T1834) ; 

Cavaignac  als  Fiihi-er  der  Partei  und  Jules  Favre  als  Advokat  der 

apgeklagten  Republikaner  treten  uns  hier  bereits  entgegen.     Auch 

die  politische  Emigration,   Polen   und  Italiiiner,   unter  Letzteren 

Mazzini,  fangt  bereits  an  eine  Rolle  zu  spielen,   im  besonderen 

durch  den  erfolglosen  Einfall  nach  Sardinien. 

Es  folgt  das  Ministerium  Soult,  in  welchem  wir  bereits 
Thiers  und  Guizot,  die  kurz  aber  treffhch  charakterisirt  werden, 
erblicken.    An  dieses  schhesst  sich  das  Ministerium  Broglie,  aus 

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350  Hillobrand,  £.,  Oeachiehte  Frankreichs  1830-71. 

sogenannten  Doctrinaren  und  Liberalen  gemischt ;  obgleich  fried- 
lich  schreitet  es  doch  im  Bunde  mit  England  gegen  Holland 
ein,  welches  das  von  seinen  Truppen  besetzte  Antwerpen  nicht 
herausgeben  will  —  wie  bekannt,  mit  gutem  Erfolge.  Weniger 
gliicklich  sinddie  Bestrebungen,  die  deutschen  Kfeinstaaten  gegen 
die  beiden  Grossmachte  aufzuhetzen,  und  ebenso  nur  halb  erfolg- 
reich  die  Einmischung  in  den  turkisch-agyptischen  Krieg,  indem 
zwar  der  Sultan  durch  franzosischen  Einfhiss  zur  Abtretung  yon 
Syrien  an  Mehmed-Ali  bewogen  wird,  demnachst  aber  ein  Bund- 
niss  mit  Russland  betreffs  der  Sperrang  der  Dardanellen  ab- 
schliesst,  wahrend  zugleich  der  Pascha  yon  Aegypten  der  Stimme 
des  verbiindeten  Frankreichs  nur,  soweit  es  ihm  selber  passt, 
Gehor  zu  geben  geneigt  ist.  Noch  weniger  giinstig  verlauft  die 
spanische  Angelegenheit :  Prankreich  unterstiitzt  zunachst  in 
Portugal  Dom  Pedro  unter  der  Hand  gegen  Dom  Miguel,  und 
schliesst  dann  mit  Ersterem,  mit  England  und  Spanien  die 
Quadrupel-AUiance,  scheut  aber  weiteres  Vorgehen  und  zerfallt 
schliesslich  mit  England.  Gegeniiber  der  Schweiz  schliesst  sich 
Frankreich  den  ubrigen  Machten  an  hinsichtlich  der  Forderung, 
die  politischen  Fliichtlinge  auszuweisen,  und  erregt  dadurch  so- 
wie  durch  Absendung  von  Pblizei  -  Spionen  nicht  nur  in  der 
Schweiz  sondern  auch  im  eigenen  Lande  offentliches  Aergerniss. 

Weiter  wird  uns  das  Auftreten  des  Bonapartismus  geschildert, 
welcher  durch  die  Schwarmerei  fur  „das  National-Epos"  wesent- 
lich  gefordert  wird ;  Louis  N apoleon,  der  sanfte  Starrkopf  —  wie 
ihn  seine  Mutter  zu  nennen  pflegte  —  wird  uns  in  seiner  all- 
mahlichen  Entwickelung  vorgefiihrt,  dann  der  Strassburger  Auf- 
stands  -  Versuch ,  die  Entlassung  des  Pratendenten  sowie  die 
Freisprechung  der  Theilnehmer  des  Unternehmens  durch  die 
Geschworenen. 

Inzwischen  war  Thiers  beseitigt  worden  und  ein  neues 
Ministerium  unter  Graf  Mole  und  Guizot  gebildet.  Hatte  friih®" 
Louis  Philipp  in  Casimir  Perier  einen  „Vicekonig"  von  grosster 
Selbstandigkeit  neben  sich  gehabt,  so  bestand  das  jetzige  Mini- 
sterium aus  „des  Konigs  Leutenu,  schon  ausserlich  ein  Beweis,  dass 
der  Konig  jetzt  fest  im  Battel  sass  und  selbst  die  Ziigel  ergriffen 
hatte.  Jetzt  erledigte  sich  auch  die  italienische  Angelegenheit, 
so  dass  die  Besatzung  aus  Ankona  weggezogen  werden  konnte, 
und  ebenso  gelangten  die  belgischen  Verhaltnisse  zu  definitiver 
Ordnung.  Auch  wurde  das  um  die  Consolidirung  der  Zustande 
so  verdiente  neue  Konigshaus  allmahhch  auch  von  den  frulier 
feindsehgen  Machten  des  Auslands  anerkannt;  zwar  Oesterreich 
konnte  sich  nicht  entschliessen ,  die  Tochter  des  Siegers  von 
Aspern  nach  Frankreich  ziehen  zu  lassen,  wo  schon  zwei  Erz- 
herzoginnen  ein  so  triibes  Loos  gefunden  batten,  aber  der 
preussische  Konig  vermittelte  selbst  die  Verbindung  des  franzo- 
sischen Thronfolgers  mit  der  Herzogin  Helene  von  Mecklenburg. 
So  war  also  nach  aussen  wie  nach  innen  hin  die  „  Sturm-  und 
l)rang-Periodeu  gliicklich  iiberstanden. 

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Helfert,  J.  A.  v.,  Gosch.  Oesterr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct.-Aufst.  1848.  351 

Den  Schluss  des  Buches  bildet  die  Darstellung  der  Kampfe  in 
Algier.  Die  afrikanischen  Corsaren,  durch  die  Anwesenheit  starker 
Flotten  im  Mittelmeer  wahrend  der  Revolutionskriege  in  Zaum  ge- 
halten,  fingen  nach  deren  Wegziehung  ihre  alten  Raubereien  wieder 
an.  Der  Dey  von  Algier,  welchem  Frankreich  fur  Gretreide-Liefe- 
rungen  wahrend  jener  Kriege  mehrere  Millionen  schuldete,  liess 
seinem  Aerger  iiber  die  Verzogerung  der  Zahlung  resp.  die 
Zuriickweisnng  seiner  Porderungen  in  handgreiflicher  Weise 
gegen  den  franzosischen  Consul  freien  Lauf.  So  kam  es  zur  Er- 
oberung  von  Algier  trotz  der  Proteste  Englands,  das  alles  Ernstes  an 
den  Krieg  gegen  Frankreich  dachte,  als  die  Vertreibung  der  Bour- 
bonen  auf  einmal  die  ganze  Sachlage  anderte.  Nun  folgte,  haupt- 
Bachlich  durch  den  General  Clausel  veranlasst,  die  Unterwerfung 
auch  des  inneren  Landes,  wahrend  man  urspriinglich  wohl  nur  einen 
Toriibergehenden  Kriegszug  (wie  ihn  spater  die  Spanier  gegen  Ma- 
rokko  unternahmen)  oder  hochstens  Besetzung  der  wichtigsten 
Kiistenplatee  geplant  hatte,  was  oline  Zweifel  weit  richtiger  ge- 
wesen  ware.  Die  Kampfe ,  welche  die  Eroberung  erforderte ,  die 
Schwierigkeiten,  welche  dieser  Krieg  mit  sich  ^hrte,  die  Miss- 
griffe  endlich,  welche  zahlreich  dabei  vorkamen,  werden  uns  in 
lebendiger  nnd  anregender  Weise  vor  die  Augen  gestellt 

Das  Buch  bietet  nicht  nur  ein  reiches  Material  an  neuen  oder 
doch  wenig  bekannten  Thatsachen,  sondern  wir  werden  auch  in 
nnserer  historischen  Erkenntniss  wesentlich  durch  dasselbe  ge- 
fordert:  wir  sehen  klar,  mit  welchen  Schwierigkeiten  die  neue 
Kegierung  zu  ringen  hatte  nnd  wie  sie  alle  ein  einsichtsvoller, 
patriotischer  und  consequenter  Staatsmann,  wie  Perier,  zu  be- 
kampfen  und  zu  bezwingen  im  Stande  war;  ebenso  klar  aber 
erkennen  wir,  welche  Pehler  Regierung  wie  Volk  damals  machten, 
an  deren  Nachwirkungen  Prankreich  noch  heutzutage  zu  leiden 
tat,  indem  das  Volk  —  anstatt  von  der  Idee  des  Vaterlandes 
and  seiner  Interessen  —  erfiillt  war  von  dem  „rohen  und  ge- 
waltsamen  Geiste  der  Demokratie",  und  ebenso  der  Konig  in 
seiner  Politik  nicht  das  Wohl  des  Staates,  sondern  das  Interesse 
seiner  Pamilie  vor  allem  im  Auge  hatte,  denn  „nicht  —  wie 
dereinst  das  Haus  Bourbon  —  war  das  Haus  Orleans  Prankreich", 
Berlin.  Dr.  P.  Voigt. 

LXXXI. 

Helfert,  Jos.  Alex,  v.,  Geschichte  Oesterreichs  vom  Ausgange 

des  Wiener  October-Aufstandes  1848.  lV.  Bd:  Der  ungari- 

sche   Winter-Feldzug   und    die   octroyirte  Ver- 

fassung.    December  1848  bis  Marz  1849.    Erster  TheiL 

gr.  8.  (XV,  442  u.  Anh.  148  S.)  Prag  1876,  P.  Tempsky.  M.  10. 

Die  Verwaltung   des  osterreichischen  Staatsarchivs  hat  sich 

ln  den  letzten  Jahren  durch   die  bereitwilligste  Eroffnung  ihrer 

Schatze  den  Dank  aller  Forscher  der  neueren  Geschichte  zu  er- 

^erben   gewusst.     Besonders   konnte   es   einem  Manne   von   den 

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352    Helfort,  J.  A.  v.,  Gesch.  Ooaterr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct.-Aufst.  1848. 

Verdiensten  und  der  Richtung  des  Freiherrn  von  Helfert  nicbt 
schwer  fallen  in  die  Aktenstucke  einer  Zeit  Einsicht  za  nehmen, 
deren  Dokumente  von  den  meisten  deutschen  Regierungen  nocb 
mit  wahren  Cerberusaugen  den  profanen  Blicken  dex  Historiker 
vorenthalten  werden.  Wie  den  3  ersten  Banden  des  breit  ange- 
legten  Werkes,  ist  diese  Vergiinstigung  aucb  diesem  4.  Bande 
•fur  die  auswiirtigen  Verhaltnisse  des  Kaiserstaates  za  gute  ge- 
kommen  und  es  ist  in  jedem  Falle,  mag  man  sich  aucb  nicht 
ganz  der  Ansicht  entscblagen  konnen,  dass  Helfert  bei  dem  aua- 
gesprochenen  Charakter  seiner  Gescbicbtschreibnng,  die  um  in 
mancher  Hinsicht  lebbaft  an  die  Hurters  erinnert,  vorsichtig  in 
der  Auswabl  der  von  ihm  benutzten  Akten  gewesen  sein  wird, 
auch  in  diesem  4.  Bande  viel  Neues  enthalten,  was  dem  spatern 
Forscber  zu  Gute  kommen  wird.  Man  muss  demhacb  dem  Vert 
zu  Danke  verpflichtet  sein,  dass  er  unsro  bisherige  Kenntniss 
iiber  verscbiedne  Vorgange  dieser  dem  Forscber  viele  Schwierig- 
keiten  darbietenden  Epocbe  des  osterreichischen  Kaiserstaates 
ansehnbcb  erweitert  bat.  Andrerseits  darf  freilicb  aucb  nichi 
verschwiegen  werden,  dass  dieses  neuste  Werk  Helfcrts  an  den- 
selben  Mkngeln  laborirt  wie  seine  friiheren.  Die  plastische 
Objektivitat  eines  Ranke  geht  Helfert  mehr  oder  minder  ab ,  ab- 
gesehn  von  mancben  andern  schwer  wiegenden  Bedenken.  Das 
Buch  will  mit  kritischem  Auge  geiesen  sein,  beispielsweise  die 
Partie  iiber  Ursprung  und  Wesen  der  ungarischen  Revolution,  die 
wir  geradezu  als  verfeblt  ansehen  miissen.  Fur  den  Winterfeldzug 
standen  Helfert  als  bis  jetzt  nocb  unbenutzte  Quellen  von  oster- 
reicbiscber  Seite  zur  Verfiigung  die  Tagebucber  des  Fiirsten  Alfred 
Windischgrtltz ,  Sohn  des  Feldmarschalls,  aus  dem  grossen  Haupt- 
quartiere,  des  Obersten  Heller  von  Hellwald  im  Generalstabe 
Nobili's,  des  Grafon  Karl  Bigot  de  Saint  -Quentiu  im  Corps  des 
Banus,  des  Prinzen  Ludwig  Windiscbgratz  im  Corps  Wrbnas. 
Ungiinstiger  ist  er  beziiglich  der  ungarischen  Quellen  gestellt, 
fiir  die  ihm  „sowohl  die  personlichen  Beziebungen  abgeben  als 
die  Kenntniss  der  magyarischen  Sprache  fehlt".  Die  gesammtc 
Journalistik  und  Flugschriftenliteratur  hat  er  deshalb  unberiick- 
sichtigt  lassen  miissen.  Indessen  bot  ihm  einen  Ersatz  dafiir 
das  reichhaltige  Janotyckhsche  Arcbiv,  wenigstens  bis  zum 
5.  Januar  1849,  und  viel  weiter  reicht  ja  dieser  4.  Band  nicbt. 
Ausserdem  sind  die  wichtigston  Werke  iiber  die  ungariscbe  Ke- 
volution  gewissenhaft  benutzt  worden. 

Zur  Veranschaulichung  der  Kriegsereignisse  sind  dem  Texte 
4  kleine  gelungeiie  und  recht  instructive  Kartchen  einverleibt: 
Windischgratz's  Marsch  und  Gorgei's  Ruckzug  auf  Ofen  und  Pest; 
SchHks  Manoeuvres  von  Eperies  bis  Miskolcz;  die  Kampfe  urn 
Pan6ova;  Gorgei's  Marsch  in  den  District  der  Bergstadte. 

Das  gauze  Werk  zerfallt  in  3  Abschnitte,  von  denen  der 
erate  S.  1 — 175  die  allgemeine  Weltlage  und  Oesterreichs  Be- 
ziehungen  nach  aussen  um  die  Jahreswende  1848/49 ,  der  zweite 
S.   177 — 299    die    ungariscbe    Frage   am    Vorabend    ihrer   Ent- 

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Helfert,  J.  A.  v.,  Gescb.  Oesterr.  v.  Auag.d.  Wien.  Oct.-Aufst.  1848.  353 

scheidung,  der  dritte  S.  301—441  den  Einmarsch  der  kaiser- 
lichen  Hauptannee  in  Ungarn  behandelt.  Ein  Anhang  von  148  S. 
enthalt  diplomatische  Aktenstiicke  nnd  Anmerkungen. 

Aus  dem  erstenCMbschnitte  sind  fiir  uns  besonders  interessant 
die  Abtheilungen  8,  ll  und  12,  da  sie  aUein  in  mancher  Hinsicht 
wesentlich  Neues  enthalten.  Dass  Helfert  nicht  viel  vom  deutschen 
Parlamente  halt,  ist  selbstverstandiich.  Charakteristisch  ist 
sein  Urtheil  S.  63,  dass  demselben  von  keiner  massgebenden 
Seite  der  Beruf  geworden  iiber  deutsches  Land  und  Volk  zu  Gericht 
zu  sitzen,  und  dass  dasselbe  an  Allmachtswahn  gelitten. 

Die    Verhandlungen    mit  Preussen  in  Olmiitz  stellt    Helfert 
folgendermassen   dar:   Wahrend  Friedrich   Wilhelm   IV.   in  leb- 
haftem  Briefwechsel  mit  Bunsen  iioer  die  Kaiserfrage  stand  und 
aeiaem  Freunde  bedeutete,   dass   er   die  Kaiserkrone  weder  aus 
der  Hand    des  Volkes   noch   wider   den  Willen  Oesterreichs  an- 
nehmen  werde,   war   er  in   der   grossen   Frage   bereits   in   un- 
mittelbare  Action  mit  Oesterreich  getreten  aui'  Veranlassung  der 
bekannten  Stelle   des  Kremsierer  Programms   iiber   die  deutsche 
Frage  und  zwar  um  dieselbe  Zeit,  als  sich  Gagern  in  Berlin  be- 
fand,    um     den    Konig    fiir    die   Kaiseridee   zu    gewinnen.      Der 
Thronwechsel  in  Olmiitz  und  die  Mission  des   Erzherzogs  Ferdi- 
nand Este  nach  Potsdam  brachte   die  Sendung  Prinz  Karls  und 
Bruhls  nach  Olmiitz   zu  Stande.     In   einer  Denkschrift   (Anhang 
S.  2—5  publicirt)  setzte  Fiirst  Schwarzenberg  seine  Ansicht  iiber 
die  deutsche  Frage  ausfuhrlich  auseinander:  inniges  Einverstand- 
Bi88  zwischen  Preussen  und  Oesterreich  thue  noth;  in  Deatsch- 
land  wie  in  Oesterreich  herrsche  das  Streben  nach  einem  grossen 
und  machtigen  Staatsganzen.     Vom  osterreichischen  Standpunkte 
aus  komme   es   darauf  an   1)  die  Centralgewalt  zu  sttitzen,    so 
lange  das    Provisorium    dauere,    2)   den    von   der   Frankfurter 
Nationalversammlung  zu   Stande   gebrachten  Verfassungsentwurf 
zu  verwerfen   mit  Berufung  auf  den  Bundesbeschluss ,   der   die 
constituirende  Reichsversammlung  in's  Leben  rief  und  hierbei  den 
Regierungen   das  Recht   der    Vereinbarung  ausdriicklich   vorbe- 
hielt;  3)  ein  neues  von  den  Regierungen  vereinbartes  Project  der 
Frankfurter  Versammlung  vorzulegen,  dessen  Grundlinien  waren: 
an  Stelle  des  Bundesstaates  der  Staatenbund,   an  dessen  Spitze 
eine  Executivgewalt  und  ein  Reprasentativkorper,  hervorgegangen 
theils  aus  Abgeordneten  der  Fiirsten,  theils  aus  gewahlten  Mit- 
gliedem,  stiinde ;  endlich  ware  fiir  die  thunlichste  Verschmelzung 
der  materiellen  Interessen   der  deutschen  Stamme  und  die  Con- 
centrirung   der   Defensionskrafte    des  Bimdes    Sorge    zu    tragen. 
Friedrich  Wilhelm  IV.  zeigte  sich  diesen  Vorschlagen  giinstig.    Bei 
einer  zweiten  Anwesenheit  Briihls  in  Olmiitz  entwickelte  Schwarzen- 
berg neue  Ideen  iiber  die  Constituirung  Deutschlands ;  er  dachte 
68  sich   namlich   in  5  Gruppen   getheilt,  mit  je   einem   Konig- 
reiche   an   der   Spitze,   an  das   sich   die   kleineren  Staaten  an- 
schlossen,    die   6.    wiirde    alle    osterreichischen    Lander    bilden. 
Anch  damit  war  man  in  Potsdam  einverstanden ;  bei  einer  dritten 

Mitiheilunjien  a.  d.  histor.  Littei*atur.    VJ.  23 

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354  Helfert,  J.  A.  v.,  Gesch.  Oestorr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct.-Aufat  1848. 

gab  Briihl  sogar  die  Versicherung ,  „dass  von  eincr  Aiuiahme  der 
deutschen  Kaiserkrone,  fells  sie  wirklich  angeboten  werden  solltc, 
nicht  im  entfenitesten  die  Rede  sein  konne".  Die  massgebenden 
Personen  am  Berliner  Hofe  freilich  waren,  wie  man  weiss,  andrer 
Ansicht.  Bulow,  Bunsen,  Camphausen  und  selbst  Brandenburg 
wollten  entwedor  einen  weiteren  Bund  mit  Oesterreich  oder  einen 
engeren  ohne  Oesterreich;  in  letzterem  ware  nattirlich  Preussen 
die  erste  Rolle  zugefallen  und  von  da  ware  zum  Kaiserthum  nur 
noch  ein  Schritt  gewesen.  Bulow  sah  „die  Sendungen  Briihls 
nach  Olmiitz  fur  Privatunterhaltungen  des  Konigs  an,  die  durch- 
aus  keinen  ministeriellen  Werth  batten",  und  Bunsen  nannte  die 
Ideen  der  Olmiitzer  Denkschrift  „eine  Mediatisirung  Deutsch- 
lands  zu  Gunsten  der  6  Konige"  —  und  sie  waf  es  in  der  That 
auch,  wie  deutlich  aus  dem  Privatschreiben  Schwarzenbergs  an 
den  Grafcn  Buol  zu  St.  Petersburg  hervorgeht,  Anhang  S.  8—11 
—  „eine  Polonisirung  Deutschlands  unter  Oesterreich".  Obgleich 
sich  Friedrich  Wilhelm  IV.  zaher  zeigte  als  seine  Dranger  er- 
warteten  und  Schwarzenberg  einmal  den  ernsten  Willen  hatte 
mit  Preussen  Hand  in  Hand  zu  gehen  und  andrersoits  nicht 
gleich  mit  Frankfurt  zu  brechen,  gab  er  doch  plotzlich  nach 
und  durch  die  bekannte  Note  vom  23.  Januar  „sprang  Preussen 
von  Olmiitz  nach  Frankfurt  ab". 

Betreffs  der  englisch  -  franzosischen  Vermittlung  in  Italien, 
der  romischen  Frage  und  der  Briisseler  Conferenzen,  womit  der 
1.  Absqhnitt  des  Werkes  schliesst,  hat  Helfert  ebenfalls  neue 
Aufschlusse  gebracht.  Die  ganze  italienische  Frage  drehte  sich 
in  den  letzten  Monaten  1848  und  den  ersten  1849  um  die  eng- 
lisch-franzosische  Vermittlung,  um  den  Beitritt  Oesterreichs  zu 
derselben ,  um  die  Eroffnung  von  Conferenzen  zum  Zwecke  des 
Friedens.  Die  beiden  Westmachte  hattcn,  an  die  Hummelauer- 
schen  Vorschlage  ankniipfend ,  Oesterreich  vermogen  wollen,  seine 
Anspriiche  auf  Lombardo  -  Venetien  aufzugeben  und  seine  natur- 
gemasse  Entwicklung  in  seinem  Siidoston  zu  suchen.  Als  aber 
Radecky  die  Piemontesen  bis  iiber  den  Tessin  zuriickgeworfen 
hatte,  da  verbat  sich  Schwarzenberg,  der  durchaus  Nichtinter- 
ventionist  war,  jede  Intervention  fremder  Machte,  und  Bastide, 
der  franzosische  Minister,  dessen  Losungswort  vorher  die  Be- 
freiung  Italiens  gewesen,  gab  sein  Bestehen  auf  den  Hummelauer- 
schen  Vorschlagen  auf.  Allein  Palmerston  zeigte  sich  Sardinien 
um  so  geneigter,  und  so  kamen  denn,  trotzdem  dass  Oesterreich 
nur  mit  Sardinien  allein  auf  der  Basis  seines  ungeschmiilerten 
Territorialbesitzes  hatte  unterhandeln  wollen,  die  Briisseler 
Conferenzen  zu  Stande,  an  denen  Russland  und  Preussen  nicht 
theilnahmen.  Da  Schwarzenberg  betonte,  dass  das  Ziel  derselben 
„der  zwischen  Oesterreich  und  Sardinien  abzuschliessende  Friede 
sei,  dass  sich  Oesterreich  nicht  die  Einmischung  Frankreichs 
und  Englands  in  die  innern  Angelegenheiten  Lombardo-Venetiens 
gefallen  lassen  werde",  dass  nicht  „iiber  die  Fragen  deritaliem- 
schen  Nationalitiit  und  Unabhiingigkeit"  verhandelt  werdeu  diirie, 

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Helfcrt,  J.  A.  v.,  Gescb.  Oestorr.  v.  Ausg.  d.  Wion.  Oct.-Aufet.  1848.  355    • 

weil  dies  nur  „von  alien  Machten  geschehen  konnte,  die  an  dem 
Zustandekommen  der  Vertrage  von  1815  theil  genommon  hatten", 
so  war  eigentlich  die  Theilnahme  von  Frankreich  und  England 
an  den  Conferenzen  gegenstandslos  geworden  und  erstres  ver- 
mied  in  der  That  trotz  seiner  Vorliebe  fur  Sardinien  und  seiner 
Lust  nach  dem  Besitze  Savoyens  bis  zum  Beginne  der  Verhand- 
lungen  alles,  was  Oesterreich  hatte  verletzen  konnen.  Lord 
„Feuerbrand"  aber  wurde,  zuwider  der  fruheren  Metternichschen 
Stabilitatspolitik,  von  Schwarzenberg,  der  ihm  rundweg  jegliches 
Recht  der  Einmischung  absprach,  mit  ausgesuchter  Grobheit  be- 
handelt.  Unter  diesen  vielseitigen  Verwicklungen  der  italieni- 
Bchen  Frage  trat  Ende  December  die  romische  wieder  in  den 
VoTdergrund.  Solange  Pius  IX.,  der  eine  keineswegs  giinstige 
Beurtheilung ,  wenigstens  fur  diese  Zeit ,  von  Helfert  erf ahrt ,  cf. 
S.  162  und  163,  noch  in  Rom  gewesen,  hatte  er,  der  „ausge- 
sprochene  Italiener",  „dem  Mazzini  naher  stand  als  der  correcteste 
osterreichische  Staatsmann  oder  General",  sich  mehrere  gehassige 
Massnahmen  gegen  Oesterreich  erlaubt.  Nachdem  aber  Antonelli 
von  Gaeta  aus  das  bekatmte  Rundschreiben  erlassen  hatte,  hegte 
Schwarzenberg  den  lebhaften  Wunsch,  den  Papst  unter  Theil- 
nahme Frankreichs  und  Neapels  wieder  in  seine  Staaten  zuriick- 
zufiihren.  Drouin  de  l'Huys  lehnte  zwar  diesen  Antrag  schroff 
mit  der  Drohung  eines  Krieges  ab,  als  er  aber  schliesslich  mit 
Sardinien  nicht  durchdrang,  gab  er  zwar  endlich  nach,  schlug 
aber  fiir  Neapel  Spanien  vor.  Der  franzosische  Gesandte  Har- 
conrt  suchte  unterdessen  den  osterreichischen  Einfluss  auf  die  Curie 
zn  brechen  und  bot  sogar  dem  Papste  ein  Asyl  in  Frankreich 
an,  seit  der  Ankuuft  Eszterh«4zy's  in  Gaeta  aber  warfen  sich 
Pius  IX.  und  Antonelli  ganz  in  die  Arme  Oesterreichs. 

Der  Congress  in  Briissel  sollte  Anfang  1849  zusammentreten. 
Vor  Eroffnung  desselben  hatte  Sardinien  trotz  des  Waffenstill- 
standes  Venedig  unterstiitzt  und  auch  sonst  mannigfach  in  Italien 
gegen  Oesterreich  intriguirt.  Schwarzenberg  trat  deshalb  schroflfer 
als  je  auf  und  richtete  an  Palmerston  die  Frage ,  ob  England 
„das  von  Konig  Karl  Albert  proclamirte  oberitalische  Konigreich 
anerkenne,  wahrend  Europa  nichts  davon  wisse,  und  ob  in  den 
Angen  des  englischen  Cabinets  jener  Monarch  mit  der  unge- 
heuerlichen  Befugniss  ausgestattet  sei,  fur  sich  allein  Gebietsab- 
theilungen  zu  verriicken,  die  durch  die  Vertrage  festgesetzt 
seien".  Frankreich  aber  erklarte  er,  dass  sich  Oesterreich  die 
voile  Freiheit  seines  Handelus  vorbehalte.  Als  Frankreich  in 
Folge  dessen  drohte,  ging  Schwarzenberg  von  der  Aufrechter- 
haltung  der  Vertrage  von  1815  ab,  war  aber  iiberzeugt,  dass 
der  Gang  der  italienischen  Angelegenheiten  die  katholischen 
Gros8machte  bald  zwingen  werde',  sich  mit  wirksamer  Hilfe  in's 
Mittel  zu  legen. 

Dem  Abschnitte  II  ist  ein  bezeichnendes  Motto  aus  Stifters 
Brigitta  vorgesetzt :  „ .  .  .  Vielerlei  Volk  ist  in  dem  Lande,  manches 
ist  ein  Kind ,   dem  man  vormachen  muss,  was  es  beginnen  soil". 

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356  Helfert,  J.  A.  v.,  Gesch.  Oesterr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct.-Aufet  1848. 

Fiirst  Windischgratz,   der  Bandiger  Prags   und    Wiens,  der  all- 
machtige  Wiederhersteller  der  Monarchie,  ist  ein  Mann  nach  dem 
Herzen  Herrn  von  Helferts.     Er   war   der  damalige  Beherrachcr 
Oesterreichs ,   er   leitete   die  Politik   des  jungen  Monarchen,  die 
Minister  waren  nur  seine  Marionetten,  cf.  Anhang,  S.  91.    Seine 
Erfolge   und   die  Anerkennung,   die   man   ihm    von  alien  Seiten 
zollte ,    machten  ihn  sogar  so  stolz  und  kiihn,  dass  er  nach  der 
Einnahme  von  Raab  sagto:   „wonn  Oesterreich   seine  so  brillant 
wiedergewonnene   Stellung    zn    behaupten  weiss   und   im  Innern 
sich  consolidirt,  so  kann  es  in  Europa  dictiren  (!),  wie  es  in  der 
Besiegung  der  Revolution  so  eclatant  den  Ton  angegeben".    Dec 
Widerstand,  den  die  Ungarn  leisteten,  nannte  er  „erbarmlichu.(!) 
S.    355.      Dass   Windischgratz    kein    grosser   Feldherr  gewesen, 
scheint  Helfert  trotz  alles  Lobes  doch  selbst  zuzugeben,  cf.  An- 
hang   S.    141    und    142.      Seit   Beginn    des    Feldzugs   richtete 
Windischgratz  das  Hauptaugenmerk  auf  den  Ausbau  der  kiinftigen 
Verfassung.    Im  Gegensatze   zu  Schwarzenberg    forderte  er  bei 
Neugriindung  der  Verfassung  besonders  die  Beriicksichtigung  der 
Aristokratie ,   „ohne  Adel   konne  eine  Monarchie  nicht  bestehen, 
und  der  Adel  nicht  ohne  Majorate".     Mit  Stadion,  welchernach 
dem  Vorbilde  der  Departementaleintheilung  des  unificirten  Frank- 
reichs   den   Schwerpunkt   der   Verwaltung   in    die    Kreise  legen, 
um  zugleich  die  Reibungen  der  Nationalitaten  moglichst  zu  be- 
seitigen ,   die  Landesregierungen   dagegen  bios  als  eine  Art  Auf- 
sichtsbehorde  hinstellen    wollte ,   gerieth    Windischgratz   bald  in 
Streit ;  denn  er  verfocht  umgekehrt  die  Ansicht,  dass  den  Schwer- 
punkt  der    Verfassung    gerade   die   Provinziallandtage    bildeten, 
welche   eine  Anzahl   von  Ausschussmannern   in   den   allgemeinen 
Reichstag  zu  entsenden  batten.    Geradezu  Axiom  war  dem  Fiirsten 
Windischgratz    die   „Einbeziehung    Ungarns   in  den  Rahmen  des 
Gesammtstaates"   er  wollte  die  ungarische  Verfassung  dem  Tode 
weihen,    und    darin    trennte    ihn   eine   tiefe  Kluft    von  den  An- 
schauungen   in    Olmutz,    wo    man    fur  Ungarn    die  sogenannten 
Errungenschaf  ten  vom  Marz  und  April  1848  im  Auge  hatte.   Seine 
Berather    in    den   ungarischen  Angolegenheiten    waren  die  VoB- 
blutmagyaren   Josika  und  Dessewffy,    die   starksten    Pfeiler  des 
Metternich'schen  Systems,  welche  die  sich  aufopfernden  Kroaten, 
Slovaken,  Wallachen,  Serben  wieder  ihren  alten  Unterdruckern, 
den   Magyaren,  ausliefern   wollten.      Windischgratz   schaltete  in 
Ungarn    wie    ein  Monarch.      Sein    Auftreten    daselbst    ist  von 
zwei  Seiten  aufzufassen,    von  der   militarischen  und  politischen. 
Sein  grosses  Werk  ist  die  Einheit  der  Leitung  der  ganzen  oster- 
reichischen  Armee,  ausgenommen  Radecky's  Armee  in  Italien,  und 
die   Lostrennung   derselben   von   der    Militarverwaltung.     Wenn 
es  nichts  Kleines  war,  zur  rechten  Zeit  und  mit  einer  geniigen- 
den  Armee  in  Ungarn  einzufallen,  so  hat  dies  Windischgratz  zn 
Stande  gebracht,  nur  die  Ausriistung  der  Reserve  und  Cavallene 
liess    gegeniiber    dem    Reitervolke  der    Magyaren    manches  z« 
wiiiischeu    tibrig    und    andrerseits    storte    der  Mangel  einer  ge- 

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Helfert,  J.  A.  v  ,  Geseh.  Oesterr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct.-Aufst.  1848.  357 

niigenden  Anzahl  hoherer  Offiziere  sowie  der  an  Geld,  endlich 
der  Umstand,  dass  von  Wien  der  Befehl  eintraf,  es  sei  der  Ver- 
pflegungsbedarf  der  Truppen  „im  feindlichen  Landea  nach  einer 
geregelten  Ausschreibung  vom  Lande  zu  bestellen.  Nach  diesen 
Erorterungen  giebt  Helfert  eine  Cliarakteristik  der  Personen  des 
Hauptquartiers. 

Vom  Ausbruche  des  Krieges  bis  zum  Ende  desselben  waren 
es  zwei  Manner ,  urn  die  sich  der  Hauptsache  nach  alles  drehte, 
Ludwig   Kossuth   und   Arthur  von   Gorgei.     Wenn   irgend   auf 
jemand    das  ©ichterwort   zutrifft:    von   der  Parteien  Hass   und 
Gunst   etc.,   so   auf  Kossuth.     Von    den   einen   in  den  Schmutz 
gezerrt,  wird  er   von  den  andern  mit  Lorbeeren  gekront.     Viel- 
leicht  wird   man   spater,    wenn    der   Antagonismus   der   beiden 
Heichshalften  dem  Bewusstsein,   dass   nur  im  steten  engen  Zu- 
sammenhalten  die  Ejjistenz  und  Kraft  des  Donaureiches  beruhe, 
gewichen  sein  wird ,  iiber  ilin  unparfeiischer  urtheilen,  als  es  jetzt 
fast  noch    moglich    erscheint;    denn   die   Fahigkeit   des   grossen 
Thucydides ,  Partei  zu  ergreifen  und  doch  als  Geschichtsschreiber 
iiber  der  Partei  zu  stehen,   scheint  in   der  That  uns  Epigonen 
in  der  grossen  Mehrzahl  abzugehn.     Wie  durch   das  ganze  Werk 
Helferts  hindurch  ein  Zug  der  Bitterkeit  und  Gehassigkeit  gegen 
Ungarn  weht,  der  mit  blindem  Auge  im  Ungarnaufstande  nichts 
als  eine  frivole,  kiinstlich  gemachte  Revolution  sieht,   so  kommt 
besonders  der  nationale   Held   Ungarns   schlecht  bei   ihm   weg, 
Helfert  lasst,  abgesehen  von  der  Achtung,    die  er  seiner  Rede- 
pbe  zollt,  keinen  guten  Faden  an  Kossuth.     Man  verunglimpft 
wirklich  ein  ganzes  Volk,  wenn  man  glaubt,   dass   dasselbe  nur 
einem  blinden  Abenteurer  gefolgt  sei  —  und  so  nennt  ihn  Helfert 
S.  242 :     „Kossuth    hatte    sehr    viel   von   einem   riicksichtslosen 
Abenteurer,    nur   nicht   die   schopferische  Idee    und   den   selb- 
standigen  Entschluss,    von  Muth   gar  nicht  zu  reden,    denn   er 
war ,  wo  es  die  geringste  Gefahr  gab ,  furchtsam ,  ja  feig" !     In 
Zeiten  nationaler  Erhebungen  mag  manche  catilinarische  Existenz 
mit  an  die  Oberflache  der  Bewegung  getrieben  werden,  man  soil 
wis  aber   nicht   glauben  machen,   dass  Kossuth   nichts   als   ein 
Schwindler   und   politischer  Faiseur   gewesen,   besonders   nicht, 
dass  er  allein   die   ungarische  Revolution   gemacht   habe,   wie 
Helfert  S.  247  behauptet:  „Die ,  ungarische  Revolution  von  1848 
and  1849  ist:    Kossuth.     Diesen   Triumph   und   diesen   Fluch 
wird  ihm  die  Geschichte   in   alien  Zeiten   nicht  nehmenu.     Man 
kann  von   dem   enormen   Redetalente    des   „ungarischen   Demo- 
sthenes"   und   der  Wirkung   desselben  auf  die  Massen  noch  so 
hoch   denken,    hatte   nicht    das    „schwarzgelbe   Zopfthum   und 
Tyrannei"  seit  Jahrhunderten  sich  an  Ungarn  versiindigt  gehabt, 
nipunennehr  hatte  auch  die  gliihende  Beredsamkeit  dieses  Volks- 
tribunen,  des  „Tragers  der  pan-magyarischen  Action",  diese  Re- 
volution   des   an   und   fiir  sich  heissbliitigen  Volkes  der  Pussta 
neryorgerufen.     Man  vcrkennt  vollstandig  die  Ursachen  des  un- 
garischen  Aufstandes,    wenn   man  diesem   einen  Manne  die  ge- 

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358  Helfert,  J.  A.  v.,  Gesch.  Oesterr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct.-Aufst.  1848. 

waltige   Erhebung    des    gesammten    Volkes    anf    das    Kerbholz 
schreibt.     (Oder   wird   Kossuth   nicht  durcb    solche  Darstelhng 
atatt   kleiner  viel    mehr   noch   grosser?)    Ich  fiirchte,    dass  es 
dem  Urtheile  Helferts  iiber  Kossuth   und   seine  Bedeutung  zuni 
Tbeile  wenigstens  ebenso  gehen  wird,  wie  seiuem  bekannten  Buche 
iiber  den  Rastadter  Gesandtenmord.     Nach  Helfert  war  Kossutfc 
fernerS.  242 :  „zu  alien  Zeiten  gewissenlos  (nach  Szemere)  und  un- 
bescheiden  genug,  sich  die  Verdienste  andrer  anzueignen",  S.  252: 
„Kossuth  war  das  Wort,    und  das  Wort  war  bei  Kossuth,  mi 
ohne  das  Wort  war  Kossuth  nichts.     Oder  mindestens  nicht  be- 
sonders  viel ....  In  jeder  andern  Hinsicht  denn  als  Redner  wiri 
Kossuth,   wenn   einmal   die   Leidenschaften   der   Zeit  verbraust 
sind ,  sehr  leicht  befunden  werden",  S.  253,  „von  einem  bedeuten- 
den  Mamie  hatte  er  sonst  sehr  wenig,  von  einem  grossen  nichts  — 
er   war  kein  Charakter,  er  hatte  keine  festen  Grundsatze,  keincn 
sichern  Halt,  weder  als  Privater  noch  im  offentlichen  Leben.... 
Er  war    aber    auch   kein   Genie,    er   hat  nichts   wichtiges  aus 
eignem  angeregt,  sondern  fast  alles  nur  von  Andern   geholt  uri 
ausgebeutet"  (cfr.  damit  S.  247  etc.),  S.  254:    „er    besass  eine 
wahre    Virtuositat    der    Inconsequenz",    er    war    kein    Staats- 
mann  S.  228,  er  hat  den  Staat   ruinirt.     Endlich   ist   Kossuth 
auch  noch  ein  Pantoffelheld ,   S.  255,  S.  230.     Der    Geburtsteg 
Kossuths  wird  nach  miindlichen  glaubwiirdigen  Berichten  auf  den 
16.  September  1802  festgesetzt,   sein  Geburtsort  ist  nicht  Szer- 
dahely ,  sondern  Monok.     Sein  Name   ward   zuerst  durch  die  im 
Verein    mit   Orosz   ohne   Autorisation   der  Regierung  herausge- 
gebene   geschriebene    Reichstagszeitung    1830    bekannt     Damit 
hatte   die  Opposition,   die   durch   die   Regierung   mundtodt  ge- 
macht  worden   war ,    ein    glanzendes    Organ   gewonnen   and  die 
Nation  wurde  zur  politischen  Selbsterkenntniss   gebracht.    Noch 
grosseren  Einfluss  gewannen  die  seit  1836   von  Kossuth  heraus- 
gegebenen    „behordlichen   Nachrichten".     Das   politische  Leta 
kam  in  alien  Comitaten  in  Galirung,  so  dass  scliliesslich,  als  der 
Ton  Kossuths    immer  keeker  wurde,   die   Zeitung   verboten,  tf 
selbst  Mai  1837  bis  1.  Mai  1840  gefangen  gesetzt  wurde.    Dio* 
Gefangenschaft   trug   ihm   zwar  einen  gebrochenen  Leib  ein,  so 
dass  Szecheniy  nach  jenes  erster  Rede  in  einer  Pester  Comitate- 
versammlung  ausrief :  „der  kann  kein  Fuhrer  mehr  sein,  miseri- 
cordianus    frater    est",    aber    auch  die    Krone    des    politischen 
Martyrers  und  seine  Verheirathung  mit  Theresia  von  Meszleniy, 
die  nach  Helfert  sein  boser  Geist  gewesen  ist.     Nachdem  erso- 
dann   bis  1844   Redacteur    des   Pesti   Hirlap   gewesen,   und  in 
Folge  der  colossalen  Verbreityng  desselben  vermogend  geworden 
war,  betheiligte   er  sich  an  verschiedenen  HandelsgeseUschaften, 
„denen  er  sich  entzog ,   wenn   er  merkte ,   dass   es  schief  gi^S.  • 
Wenn  dies  wahr  ware,  wie  hatte  ihn  dann  sein  Feind  Szecheniy 
einen    Mann    nennen    konnen,    „dem    die    Tugend    kein  l^rer 
Klang44  ?  S.  232.    In   den   neuen  Landtag   1847   von  Pest  g«- 
wiihlt  ward  er,  da  Deak  wegen  KriinkliclJceit   ausbheb,  Fahfltf 

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T*T?T? 


Helfert,  J.  A.  v.,  Gescb.  Oesterr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct-Aiifst.  1848.   359 

der  Opposition.     Da  kam   die  Pariser  Februarrevolution    „und 

nun    sass  Kossuth   fest  im  Sattelu.     In   seiner   beriihmten  Rede 

vom  3.  Miirz  verlangte   er   ein  selbstandiges  Finanzministerium. 

Die   Folge    dieser   Rede   war   die   Absendung   einer  Deputation 

Bach  Wien    und   die   Bildung   eines   selbstandigen   Ministeriums 

unter  dem  Presidium  Batthyanyi's.    Kossuth  ward  Finanzminister. 

Vollblutmagyar   wollte    er  die  andern  Nationen  Ungarns  unter- 

driicken.     Nach  Helfert  war  es  sein  Einfluss,  „der  den  Hof  zu 

jenen  Schritten  gegen  Jela£i<5drangte,  die  das  Verhaltniss  zwischen 

Ungarn  und  Kroatien  zum  Bruche  brachten,  wie  auch  er  es  ge- 

wesen  sein  soil,  auf  dessen  Antrieb  Pulszky  in  Wien,   entgegen 

der  zu  Innsbruck  getroffenen  Abrede,  die  Achtserklarung  gegen 

den  Banus  veroffentlichen  liess".   S.  237.    Am  11.  Juli  hielt  er 

die  verhangnissvolle   Rede,    welche   der   Sache   nach   die  Los- 

trennung  Ungarns  von  Oesterreich  begriindete,  das  Kriegs-  und 

Pinanzwesen  Ungarns  ward  selbstandig.    Es  folgte  die  Errichtung 

der  Honvedbataillone  und  die  Ausgabe  der  Kossuthnoten.     Die 

Vorgange    am    11.    September   schildert   Helfert   als    die   reine 

Komodie    von   Seiten   Kossuths,    S.  243   und   244.     Die  Macht 

Kossuths,  die  man  hatte  brechen  wollen,   ward  jetzt  nur  um  so 

grosser,  er  und  Szemere  wurden  mit  der  einstweiligen  Fiihrung 

der   Regierung   betraut.     Seine   Reise    nach   Czegled,    um   den 

Landsturm  zu  alarmiren,   erscheint  Helfert  als    Fluchtversuch, 

trotzdem  er  nach  3  Tagen  wieder  zuruckkehrte,  ebenso  die  vom 

29.  nach  Szegedin.     Am  8.  October  ward  Kossuth  President  des 

neueingesetzten  Landesvertheidigungsausschusses  und  regierte  von  da 

ab  Ungarn  thatsachlich  allein.   Die  Erlebuisse  Kossuths  von  Schwe- 

chat  bis  zum  Fluchtversuche  hat  Helfert  schon  Band  I.  erzahlt. 

Bei  der  Schilderuug  Kossuths   hat  Helfert  fast  ausschliess- 

lich  dunkle  Tinten  angewandt,   bei  der  Gorgei's  ist  alles  Licht. 

Nach  Helfert  haftet  an  Gorgei's  Leben  auch  nicht  der  geringste 

Makel.     In  der  Biographie  der  Jugend  Gorgei's  halt  er  sich  der 

Hauptsache   nach   meist    an   Levitschnigg.     Die   Marzereignisse 

trafen    Arthur   von    Gorgei,    den   ehemaligen   Palatinalhusaren- 

officier,  im  chemischen  Laboratorium  der  Universitat  Prag,   der 

er  eben   hatte  Valet   sagen  wollen,    um   sich    ein  Heim  in   der 

Zips  zu  griinden.     Anfangs  dem  5.  Honvedbataillon  als  Haupt- 

mann  zugetheilt,   dann  bald   zum  Major  ernannt  mit  dem  Auf- 

trage,  die  Nationalgarde  diesseits  der  Theiss  zu  organisiren ,  er- 

hielt  Gorgei  Ende  September  beim  Heranriicken  des  Banus  gegen 

Pest  den  Befehl,    die   Donauinsel   Csepel   zu   besetzen   und   die 

Donauiibergange  zu  bewachen.     Die  bekannte  Blutthat  daselbst 

#egen   den   Grafen   Eugen  Zichy   schreibt  Helfert  der   Absicht 

Gorgei's  zu    von  sich   unter  alien  Umstanden  reden  zu  machen. 

Die  Kiihnheit  dieser  That  habe  auch  Kossuth  so  imponirt,  dass 

er  sich  von  nun  ab  vor  diesem  energischen   und   riicksichtslosen 

Manne  gebeugt  habe.     Seitdem  war  er  in  aller  Munde,  seitdem 

war  sein  Stern  in  raschem  Aufsteigen  begriflfen.    Im  Corps  des 

Obersten   Perczel  schloss    er   durch   einen   kiihnen    Streich   das 


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360  Helfert,  J.  A.  v.,  Gosch.  Oesterr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct.-Aufst.  1848. 

Roth'sche  Corps   em,   als  Oberst  zum  Corps   Moga's   geschickt, 
urn  diesen  zu  beobachten,    ordnete   sich  Gorgei  trotzdem  ttoga 
willig  unter  und  leistete  die  vortrefflichsten  Dienste  im  Kriegs- 
rathe  zu  Nickelsdorf  und  in  der  Schlacht  bei  Schwechat.    Zum 
Lohne   dafiir  ward  ihm   von  Kossuth  der  Oberbefehl   iiber   die 
Armee  an  der  obern  Donau  anvertraut.     Die  Truppen  befanden 
sich  in  einer  Zwitterstellung,  sie  hatten  dem  ungarischen  Kriegs- 
ministerium  und  dem  koniglichen  Statthalter  zu  gehorchen,  unter 
der  Hand  aber  erhielten  sie  auch  wieder  Weisungen  vom  Wiener 
Kriegsminister.     Weil   man   derselben   nicht  allenthalben    sicher 
war,    versicherte    man   sich    vor    alien    Dingen    der   Festungen 
Komorn  (unter  Mertz),  Ofen,  Essegg,   Leopolds'tadt ,  Munkacs. 
Nach   dem   Plane   Kossuths   sollte   das  ganze  ungarische  Heer 
magyarisirt  werden.     Es   entstanden  die  Honveds  und   Gorgei 
ward  mit   der  Organisation   der  Freiwiliigen  beauftragt,   neben 
ihnen  wucherten  die  vielberufenen  Fremdenlegionen  empor.    Das 
neugeschaffene  Heer  bestand  Ende  December  aus  60  Honved- 
bataillonen,  18  Husarenregimentern  und  der  Artillerie  unter  dem 
ehemaligen  Oberfeuerwerker  Mack.    Nach  Helferts  Urtheil,  das 
sich   auf  Gorgei    und  Klapka   stiitzt,    sind    die   Nationaltruppen 
nichts  werth  gewesen,  wenigstens  anfangs  nicht,  da  ihnen  Zucht 
und  Ordnung  fehlte,   und  Helfert  sucht  deranach  zu  beweisen, 
dass  die  alten  osterreichischen  Truppen,  die  man  mit  dem  neuen 
Heere  verschmolzen  hatte,   h&uptsachlich   der  Kern  des  Heeres 
gewesen  seien.   Die  Seele  der  ganzen  Armee  war  natiirlich  Grorgei, 
wie  er  im  Grossen  und  Ganzen  auch  ihr  Schopfer  gewesen.     H. 
lasst  seiner  Energie,   seinem   Organisationstalente ,   seinem  mili- 
tarischen  Blick   alle  Gerechtigkeit  widerfahren.     Sein  Plan  frei* 
lich,   die  Stellungen  an   der  Grenze  aufzugeben  und   das  Gros 
der  Armee   in  die  Verschanzungen  von  Raab   zu   ziehen,   weil 
das  Heer  noch  nicht  vollstandig  organisirt   und  eingeschult  war, 
musste    den    politischen    Erwagungen    der    Pester    Machthaber 
weichen  und  so  war  die  Prognose  fur  den  Winterfeldzug  gleich 
anfangs  eine  ungunstige. 

Der  3.  Abschnitt  behandelt  den  Einmarsch  der  kaiserlichen 
Hauptarmee  in  Ungarn.  S.  300 — 441,  also  die  eigentliche 
Geschichte  des  Winterfeldzugs.  Sie  ist  der  Haupttheil  des 
4.  Bandes,  das  bisher  Besprochene  die  Einleitung  dazu.  Soviel 
ich  als  militiirischer  Laie  ersehe,  ist  der  Feldzug  klar  geschildert, 
mitunter  freilich  mit  etwas  sehr  poetischem  und  patriotischem 
Pinsel.  Dies  merkt  man  z.  B.  besonders  gleich  anfangs,  wo 
Helfert  erzahlt,  wie  Hammerstein  von  Krakau  aus  iiber  Dublin 
durch  die  Karpathen  zieht.  Ebenfalls  durch  die  Karpathen  nach 
Eperies  zog  das  Schliksche  Corps,  dessen  Chef,  ein  tiichtiger 
Haudegen,  sehr  giinstig  von  Helfert  beurtheilt  wird.  Dieser 
Zug,  sowie  das  Gefecht  bei  Budamir  und  die  Einnahme  Kaschau's 
werden  meist  nach  Hellers  Manuscript,  nach  Kodi<fta  und  Nobili 
dargestellt,  wahrend  der  Einmarsch  Frischeisens  von  Teschen  aus 
durch   den  Jablunka-Pass  und   das   Gefecht   bei  Budatin  nach 


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Helfert,  J.  A.  v.,  Geech.  Oesterr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct-Aufst.  1848.  361 

Strack   gescbildert   werden.     Der  Zug  Frischeisens    das   Waag- 

thal  hinab  war  in  der  Absicht  geschehen,  die   Verbindung  mit 

Simunid,  der  diesseits  der  kleinen  Karpathen  stand,  zu  suchen; 

da  er  zu  schwacb  war,  zog  er,  wie  Helfert  nach  Hurban's  Be- 

richt  nachweist,  wieder  zuriick.    Das  Heer   des   Banns   Jellaci<5 

war  am  9.  December  gegen  die  nngarische  Grenze  geriickt,  das 

kleine  Gefecht,  welches  General  Zeisberg  bei  Prellenkirchen  mit 

den  Aufstandischen  bestand,   verlegt  Helfert  mit  Inkey  auf  den 

12.  December.     Am    14.  December   zog   endlich   Windischgratz 

mit  43915  Mann  und  216  Geschiitzen  von  Schonbrunn  aus.     Das 

Corps  "des  Banus  sollte  nun  nach  der  Disposition  Windischgratzs 

die  Stelle  des  Reservearmeecorps  einnehmen,  allein,  wie  Helfert 

nach  dem  Tagebuche   des   Grafen   Bigot   berichtet,   verhinderte 

dies  die  Schnelligkeit  und  Energie  Jella&d's.     Am  14.  December 

nshm  dann  Simunid  Tyrnau,  schob  am  17.   seine  Vorposten  bis 

Pre8burg  vor  und  stellte  am  20.   seine  Verbindung  mit  Friseh- 

eisen  her.     Gleichzeitig  war  von  Wiener-Neustadt  aus  Petrich- 

evich-Horvath  bis  Oedenburg   vorgeriickt.     Am    16.   begann  die 

Bewegung  der  Hauptarmee,  sie  schlug  die  Gefechte  bei  Parndorf 

und   Szent-Kazimir.     Das  2.  Corps   unter  Wrbna   war  auf  der 

Strasse  Holic-Presburg  in  Ungarn  vormarschirt.    Im   Angesicht 

dieser  Vorgange  raumte  Gorgei  Presburg  und  zog  nach  Wiesel- 

burg.     Am  18.  ruckte  Windischgratz  in  Presburg  ein,  wiihrend 

gleichzeitig   Jella&6   bei   Wieselburg   iiber   Gorgei   siegte.     Die 

schmutzige    Anekdote,   die  Helfert  von   der   Unerschrockenheit 

Zeisbergs  erzahlt,  passt,  mag  sie  auch  wahr  sein,  jedenfalls  nicht 

io  den  Rahmen  eines  ernsten  Geschichtswerkes,  man  vergrossert 

durch  solche  Scandalosa  wirklich   nicht  den  Ruhm   des   tapfern 

Zeisberg.     Da  nach  Windischgratzs  Anordnung  erst  alle  3  Corps 

am  rechten   Donauufer   vereinigt   sein   sollten ,    durfte   Jellacic 

&einen  Sieg  nicht  verfolgen. 

Siebenbiirgen  befand  sich  seit  Anfang  December  fast  ganz 
in  den  Handen  der  Kaiserlichen.  Da  erschien  dort,  von  Kossuth 
zum  Commandanten  ernannt,  Bern,  „der  Condottiere  im  Gewande 
des  19.  Jahrhunderts",  „der  General  auf  Gastrollen",  und  brachte 
Leben  in  den  Widerstand.  Der  Czucsa-Pass  ward  am  19.  De- 
cember gegen  die  Kaiserlichen  aufs  tapferste  vertheidigt,  Jab- 
lonski  musste  sich  am  20.  von  Sibo  nach  Dees  zuriickziehn  und 
ward  dort  am  22.  von  Bern  selbst  geschlagen.  Klausenburg 
wiirde,  da  auch  die  ubrigen  Abtheilungen  Wardeners  in  Be- 
drangniss  waren,  von  den  Kaiserlichen  verlassen,  Urban  zog  sich 
fcach  Bistritz  zu  Jablonski  zuriick.  In  8  Tagen  war  Bern  Herr 
von  fast  ganz  Siebenbiirgen  geworden.  Die  kaiserliche  Macht 
war  gespalten,  der  eine  Theil  stand  im  Nordosten,  der  andre  im 
kiiden,  in  der  Haromszek,  musste  bei  dem  Charakter  der  Be- 
wohner  fiirchten,  bald  zwischen  2  Feuer  zu  kommen. 

In  Ungarn  trat  Stillstand  der  Operationen  ein.  Windisch- 
gratz, sehr  vorsichtig  und  zaudernd,  organisirte  mittlerweile  vora 
Sauptquartier  Karlburg  aus  Ungarn  provisorisch,   er  ernannte 

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362  Helfert,  J.  A.  v. ,  Gesch.  Oester.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct  -Aufst  184a 

fur  die  besetzten  Distrjcte  provisorische  konigliche  Commissare, 
welche  unter  den  Militardistrictscommandanten  standen;  denn 
militarisch  sollte  vorab  das  in  Belagerungszustand  erklarte  Land 
im  Namen  des  Fttrsten  Windischgratz  verwaltet  werden,  m 
welchem  Ende  auch  eine  Centrabnilitaruntersuchungscommission 
ernannt  wurde.  Langsam  ging  Windischgratz  vor,  zu  langsam, 
ein  Vorwurf  freilich,  den  ihm  Helfert  nicht  macht.  Am  25. 
riickte  er  von  neuem  vor,  am  27.  verliess  Gorgei  deshalb  Eaab. 

Am  28.  Ueberfall  der  Ungarn  bei  B&bolna;  am  29.  Aaf- 
bruch  der  Kaiserlichen  von  Raab,  Wrbna  am  rechten  Donanuler, 
Serbelloni  auf  der  Fleischhackerstrasse ,  Jella6i<5  auf  der  St# 
weissenburger  Strasse.  Komorn  wurde  cernirt,  Perczel  am  29. 
bei  Moor  von  Jella&d  geschlagen  und  sein  Corps  zersprengt 

In  Pest  schaltete  unterdessen  Kossuth  als  President  writer 
und  vereinte  fast  alle  Geschafte  in  seiner  Hand;  sein  Heifers- 
heifer  war  Madarasz ,  „der  ungarische  Marat".  Wahrend  KossntJi 
jetzt  den  Guerillakrieg  organisirte ,  knebelte  Madarasz  die  anden 
denkende  Presse. 

Schlik  riickte  von  Kaschau  gegen  Misk61cz  vor  und  schlug 
dort  am  28.  bei  Szikszo  Mesz&ros,  um  dann  bei  einer  fest 
sibirischen  Kalte  wieder  umzukehren.  Meszaros,  am  31.  nach 
Pest  zuriickgekehrt,  wo  man  eben  die  Kunde  von  der  Nieder- 
lage  bei  Moor  erhalten  hatte,  beantragte  sogleich,  dass,  nachdeni 
der  Reichstag  auf  Kossuths  VorschLag  beschlossen  hatte,  den 
Weg  der  Vermittlung  mit  Windischgratz  einzuschlagen,  sich  die 
Nationalversammlung  nach  Debreczin  zuriickziehe.  Kossuth  ^floh* 
nach  Szolnok,  die  Krone  des  h.  Stephan  wanderte  mit  ihm. 
Helfert  sucht  hierbei  die  Erzahlung  Chownitz's  uber  die  Fort- 
schaffung  derselben  zum  Marchen  zu  stempeln  und  behauptet 
dass  Kossuth  dieselbe  heimlich  weggebracht;  ja  er  imputiri 
Kossuth  sogar  aus  den  Worten  einer  alten  Staatsrechtsquelle-' 
quemcunque  sacra  corona  coronatum  videris,  etiamsi  bos  faeift 
adorato  et  pro  sacrosancto  Rege  ducito  et  observato ,  den  Wffl^i 
dass  er  nach  der  Konigskrone  gestrebt.  Dasselbe  behauptet 
Helfert  verblumt  S.  247 ,  wo  er  sagt  7  dass  Kossuths  W«b, 
Theresia,  einmal  gesagt  haben  soil:  „Gewiss,  eines  Tages  bringt 
mir  mein  Lajos  eine  Krone  in's  Hausu.  „Kossuth  berieth  mit 
ihr,  oder  vielmehr  Frau  Theresia  nothigte  ihn  mit  ihr  zu  be- 
rathen  etc."  Man  mochte  fast  versucht  sein,  diese  Ansicht 
Helferts  einen  Scherz  zu  nennen ,  wenn  sie  nicht  so  ernst  aas- 
gesprochen  ware.  Beweisgriinde  fur  diese  Annahme  fehlen 
Helfert  und  er  wird  sie  wol  auch  schwerlich  beibringen  koiineD. 
Ich  meine  aber,  dass  es  dem  Historiker  nicht  zieme,  so  vage 
Vermuthungen  auszusprechen,  man  beweise  uns  vor  allem  zuerst, 
dass  die  Ungarn  wirklich  noch  an  jenen  Worten  der  alten 
Staatsrechtsquelle  hielten. 

Die  Leitung  der  militarischen  Angelegenheiten  iibernahinen 
jetzt  Vetter  und  (reorg  Klapka,  sie  stellten  den  neuen  PI*11 
auf,  die  Theisslinie  um  jeden  Preis  zu  halten.     Kossuth  und  der 

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Helfert,  J.  A.  v.,  Gesch.  Oesterr.  v.  Ausg.  d.  Wieu.  Oot.-Aufst  1848.  3(}3 

Landesvertheidigungsausschuss  waren  am  29-  December  von 
Windischgratz  fur  vogelfrei  erklart  worden1,  am  1.  Januar  1849 
wurde  das  Vennogen  aller  Anhanger  Kossuths  mit  Beschlag  be- 
legt  Helfert  sagt  iiber  die  Massregeln  Windischgriitz's  S.  381 : 
„Manche  der  Bestimmuiigen  waren  allerdings  hervorgerufen  durch 
die  Ausschreitungen  auf  der  Gegenseite,  zu  scharf  gofasst,  um 
buchstablich  genommen  zu  werden;  auch  war  der  Feldmarschall 
der  erste,  der  gegen  den  Wortlaut  seiner  eigenen  Androhung 
Gnade  iibte,  wo  er  nur  konnte.u  etc.  Dies  ist  Schonfarberei 
und  Helfert  iibt  sie  gegeniiber  Windischgratz  noch  ofters;  wie 
stimmen  damit  Windischgratz's  eigne  Worte,  welche  Helfert  An- 
merk.  324  anfiihrt? 

Am  3.  Januar  1849  erschien  vor  Windischgratz  in  Bicske 
dieReichstagsdeputation,  um  mit  ihm  zu  unterhandeln.  Windisch- 
gwtz  empfing  die  Mitglieder  derselben  mit  Ausnahme  Batthyanyis 
nur  in  ihrer  Eigenschaft  als  Privatpersonen.  „Ich  kenue  keinen Pester 
Beichstag,  der  von  Sr.  Majestat  als  aufgelost  erklart  wurde", 
autwortete  Windischgratz,  als  Majlath  ihn  „im  Namen  der  Depu- 
tation dee  ungaHschen  Reichstages"  anredete.  Windischgratz  schlug 
derselben  rundweg  AUes  ab,  sogar  die  Bitte,  nach  Olmutz  gehen 
zu  diirfen,  und  behielt  sie  „aus  niilitarischen  Riicksichten"  zuriick. 
Mittlerweile  siegten  die  Kaiserlichen  bei  Teteny,  damit  war  das 
Schicksal  von  Pest  entschieden.  Der  dortige  Kriegsrath  be- 
schloss  abermals  den  Riickzug  nach  der  Theiss  und,  im  Fall 
diese  Linie  nicht  zu  halten  sei,  nach  Siebenburgen  und  die  Neu- 
bildung  einer  Annee  daselbst.  Gorge?  ging  nun  mit  dem  einen 
Theil  der  Revolutionsarmee  nach  Nordwest,  Perczel  mit  dem 
andern  nach  Siidost,  um  die  Kaiserlichen  vom  Marsohe  auf  die 
Theiss  abzuhalten.  Am  5.  Januar  wurde  Pest  und  Ofen  be- 
setzt;  Kossuth  floh  mit  der  Stephanskrone  nach  Debreczin,  „dem 
Mittelpunkt  des  magyarischen  Calvinismus  oder  calvinischen 
Magyarismus".  Helfert  behauptet,  dass  die  Aufstandischen  bis 
zur  Besetzung  der  Hauptstadt  ohne  alle  Methode  gehandelt 
batten ,  S.  396,  erst  die  letzten  Berathungen  batten  System 
in  die  Vcrtheidigung  gebracht  (vgl.  damit  S.  299  u.  300). 
Gorgei  emancipirte  sich  seitdem  vom  Landesvertheidigungs- 
ausschusse,  er  war  von  nun  ab  .unabhangiger  und  selbstiindiger 
tiebieter  seiner  Truppen  und  seine  „lugenhafte"  Proclamation 
vom  6.  Januar  gegen  den  Landesvertheidigungsausschuss  fesselte 
seme  Truppen  ganz  an  seine  Person,  Gestiitzt  auf  die  Selbst- 
"iographie  Gorgei's,  in  der  es  heisst:  „Die  ungarische  Schild- 
whebung  war  eine  monarchisch-constitutionelle  und  hierin  lag 
^e  Starke ;  denn  diesem  Umstande  allein  verdankte  sie  die 
Mitwirkung  der  regularen  Trup)>enu;  dies  bestiitige  auch  „die 
unzahhgemal  gemachte  Erfahrung,  dass  alle  Agitationen  nur 
dann  reussirten,  wenn  solche  im  Namen  des  Konigs  versucht 
warden",  glaubt  Helfert  schliessen  zu  miissen,  dass  Gorgei  schon 
Jamais  diese  Ueberzeugung  hegte.  Wie  stimmt  damit  abcr 
Jeiie  von  Helfert  angefiihrte  Proclamation,  in  deren  Schlusse  es 

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364  Helfert  ^  J.  A.  v.,  Gesch.  Oesterr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Oct-Aufst.  1848. 

heisst  ,  das  Armeecorps  wolle  hinfort  nur  jenen  Befehlen  ge* 
horchen ,  die  ihm  von  dem  durch  seinen  „Konig  Ferdinand  V. 
bestatigten  verantwortlichen  ungarischen  Kriegsminister  oder  dessen 
durch  diesen  ernannten  Stellvertreter,  gegenwartig  General  Veto, 
in  gesetzlicher  Form  zukommen"?  War  aber  Meszaros  und  daim 
sein  Nachfolger,  Vetter,  in  der  That  von  Ferdinand  V.  bestatigt 
als  Kriegsminister  ?  cf.  S.  246. 

Gorgei  ging  gegen  Simunic  vor,  der  Leopoldstadt  belagcrte. 
Am  31.  December  riickten  die  Kaiserlichen  zum  3.  Male  Ami 
den  Jablunkapass  unter  Gotz  ein  und  suchten  Verbindung  lit 
Simunid  Czorich  verfolgte  Gorgei  von  Ofen-Pest  aus,  m 
zweitagiger  Aufenthalt  aber  in  Waitzen  und  der  neue  Plan ,  den 
Gorgei  gefasst,  rettete  die  beste  ungarische  Armeevom  Verderben. 
Gorgei  zog  in  den  District  der  Bergstadte  und  Perczel  ging, 
nachdem  er  vom  9.  Januar  ab  von  Ottinger  iiber  Szolnok  hinaos, 
den  Schlussel  von  Debreczin,  verfolgt  wordeu  war,  hinter  die 
Thei8s  zuriick.  Da  die  Kaiserlichen  noch  nicht  einmal  das  game 
rechte  Donauufer,  an  dem  sich  ein  kleiner  Krieg  etablirte,  n 
den  Handen  hatten  und  man  also  die  Theissliirfe  nicht  h&lten 
konnte,  versagte  der  Banus  Ottinger  die  Nachsendung  von 
Reserven,  und  so  war  Perczel  gerettet.  Nugent  zog  von  der 
Donau  rechts  nach  der  Festung  Essegg  und  dern  serbischen 
Kriegsschauplatze  ab.  Dort  war  am  27.  December  der  am  selben 
Tage  zum  Woiwoden  von  Serbien  ernannte  Supplikac  gestorben 
Mayerhofer,  oder  vielmehr  sein  Untergebener  Knidanin  schlug 
bei  PanCowa  Kiss ,  dem  Helfert  vorwirft,  er  habe  nur  aus  egoisti- 
schen  Griinden,  da  er  der  reichste  dortige  Grundbesitzer  gewesen, 
das  Banat  zu  halten  gesucht.  Damianich,  in  welchem  Helfert 
„die  wahre  Volksfigur  des  ungarischen  Revolutionskrieges"  (als 
wenn  es  keinen  Kossuth  gegeben!)  sieht,  trotz  seiner  serbischen 
Abstammung  der  bitterste  Feind  der  Serben  und  eben  deshaft 
so  popular  in  Ungarn,  der  „BAczenfresserM,  zog  sich  und  v& 
ihm  fast  das  ganze  Volk  aus  Furcht  vor  den  Serben  bis  ^t- 
schetz  zuriick,  wo  ihn  am  19.  Januar  der  neue  General,  Theo- 
dorovic,  schlug.  Damit  war  das  Banat  und  Ba6ka  ganz  in  den 
Handen  der  Kaiserlichen,  Wie  das  Banat  freiwillig,  gaben  die 
Ungarn  jetzt  das  Hernadthal  gezwungen  auf.  Am  4.  Jan.  siegte 
Schlik  bei  Kaschau  iiber  Mesz&ros,  der  nach  Tokaj  an  der 
Theiss  entrann,  und  besetzte  die  Zips. 

Mit  dem  Einzuge  in  Pest  hielt  man  in  Oesterreich  den 
Krieg  fiir  beendigt.  Wenn  iiber  etwas  Missmuth  herrschte, 
meint  Helfert,  so  war  es  dariiber,  dass  ihnen  der  Sieg  so  leicht 
geworden !  ?  In  Ungarn  begann  nun  der  Abfall  von  der  Sache 
des  Vaterlandes,  Civil  und  Militar,  die  Geistlichkeit  besondere 
in  den  deutschen  und  slavischen  Theilen,  unterwarfen  sich  zu^st, 
selbst  die  stock-magyarischen  Gegenden  folgten  rasch  diesem  Be1" 
spiele.  Windischgratz  drangte  beim  Kiiser  auf  Entwaffiaungdtf 
Volkswehr,  wie  er  dies  auch  fiir  den  ganzen  Kaiserstaat  empfei1* 
Allen  kleinen  Leuten  ward   Amnestie  gewahrt,   eine  allgememc 


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Helfert,  J.  A.  v.,  Gesch.  Oesterr.  v.  Ausg.  d.  Wien.  Ock-Aufst  1848.  365 

verweigert.  Unter  dem  Vorsitze  des  Oberstlieutenants  Baron 
Hallegg  begann  die  „militarisch-politische  Central-Untersuchungs- 
Commission"  die  Hochverrathsprocesse  (vgl.  die  interessanten 
Bemerkungen  dariiber  S.  435 — 437.)  Die  Bicsker  Reichstags- 
deputation  wurde  in  Freiheit  gesetzt,  „Graf  Batthy&nyi  wurde 
jedoch,  nachdem  er  seine  Eigenschaft  als  Abge- 
sandter  verloren,  noch  denselben  Abend  gefanglich  einge- 
zogen,  wie  es  heisst  aus  einer  Soiree  bei  Graf  Georg  Karolyi 
herausgeholt".  Es  beschonigt  also  Helfert  diese  Verhaftung. 
Sequestrirungen  und  Confiscationen  folgten  „in  ausgedehntestem 
Masse".  Die  Reaction  begann  ihre  Orgien ,  wir  erfahren  von 
Helfert  wenig  genug  dariiber,  in  welchem  Masse.  Damit  endigt 
die  1.  Halfte  des  4.  Bandes. 

In  einem  sehr  dankenswerthen  Anhange  publicirt  Helfert 
S.  1 — 53  1)  9  Aktenstiicke  der  Verhandlungen  zwiscben  den 
Cabineten  von  Wien,  Berlin  und  St.  Petersburg  fiber  die  deutsche 
Frage  vom  5.  December  1848  bis  24.  Januar  1849,  2)  9  Briefe 
aus  der  diplomatischen  Correspondenz  zwischen  Wien-Olmiitz 
und  London,  Paris,  Gaeta  iiber  die  italienische  Frage,  3)  10 
Stucke  aus  Windischgratz'schen  Schriften.  Letztre  sind  be- 
sonders  instructiv  fiir  den  Charakter  und  die  Politik  des  Piirsten, 
4)  eine  Tafel,  Gorgei's  Abstammung  betrefFend,  und  den  Theil 
der  Conduitenliste  des  Palatinalhusarenregiments  Nr.  12  zu 
Klattau  vom  Jahre  1844,  welcher  iiber  Gorgei  handelt.  S.  54—148 
euthalten  eine  reiche  Piille  von  Anmerkungen. 

Ein  paar  lastige  Druckfehler  sind  mir  aufgestossen,  Anhang 
&  55,  Anmerk.  2  heisst  es :  das  sachsische  Ministerium  Brauner- 
Pfordten  statt  Braun,  und  S.  82  Gombart  statt  Sombart. 
8chlies8licb  noch  einige  Bemerkungen  iiber  den  Stil.  Abgesehen 
von  einigen  osterreichischen  Eigenthiimlichkeiten,  spricht  Helfert 
haufig  in  einem  Tone,  der  sich  weniger  fiir  ein  strenges  Ge- 
schichtewerk  als  fiir  das  Feuilleton^  einer  Zeitung  eignet.  Ich 
rechne  dahin  Ausdriicke,  wie  S.  69 :  „und  damit  dem  unerquick- 
lichen  Schauspiele  gar  nichts  abgehe,  sollte  auch  das  bekannte: 
Schlagst  du  meinen  Juden  etc.  eine  neue  Anwendung  erleben", 
pder  S.  399 :  „Was  die  Proclamation  des  jungen  Obergenerals 
^  Debrecziner  Lager  fiir  Empfindungen  wachgerufen,  lasst  sich 
denken.  Kossuth  hatte  einen  Grund  mehr  in  Gorgei  einen 
»Yerratheru  zu  wittern  und  seine  fiemahlin  schloss  ihn,  wenn 
nicht  von  friiher  her,  gewiss  von  diesem  Tage  in  ihres  Hasses 
frommste  Wiinsche  ein,  woriiber  sich  Herr  Arthur  nicht  sehr 
gramte",  oder  S.  255 :  „Wahrscheinlich  ist  es  auch,  dass  Kossuth 
\on  allem  Anfange  an  nicht  so  weit  gegangen  ware  als  er  wirk- 
hch  ging,  wenn  er  kein  Weib  oder  wenn  er  ein  anderes  als 
^^  Theresia  an  seiner  Seite  gehabt  hatte.  Die  Frage  jenes 
franzosischen  Richters:  „Wo  ist  die  Frau?u  war  nirgends  mehr 
^  Platze  als  bei  Kossuth  Lajos",  oder  S.  273 :  „Der  General 
ness  die   anriickenden    Tonkiinstler    (es   handelt   sich   um    eine 

• 


366  Rosen,  G.,  Dio  Balkan  -  Haidukon. 

Katzenmusik,  welche  Lederer  dargebracht  werden  sollte)   sammt 
Chor  auseinandertreiben"  etc. 

Plauen   im  Vogtlande.  Dr.  William  Fischer. 


Lxxxn. 

Rosen,  Georg,  Die  Balkan -Haiduken.    Ein  Beitrag  zur  inneren 
Geschichte  des  Slaventhums.     gr.  8.  (X,  336  S.)    Leipzig  1878. 
F.  A.  Brockhaus.     5,50  M. 
Auf  die  historisch  gewordenen  Ereignisse  der  letzten  Jabre, 
Welche  sich  auf  der  Balkanhalbinsel  gewissermassen   vor  unsern 
Augen  zugetragen  haben,  Bezug  nehmend,    bezweckt   der  Verf. 
des  genannten  Werks,  der  als  mehrjahriger  Konsul  des  deutschen 
Reichs  in  Belgrad  den  Verhaltnissen   moglichst  nahe  gestanden, 
unsere  ethnographische  Kunde  von   dem  unter  alien   slavisehen 
Nationen  am  wenigsten  gekannten   und  am  seltensten  genannten 
Volke  der  Bulgaren  zu  bereichern.     Er  versucht  dies  allerdinga 
nur  nach  der  einen  Richtung  hin,    dass   er   uns   mit  der  eigen- 
thiimlichen  Erscheinung  ihres  Volkslebens,  dem  Rauberwesen  im 
Balkan  und  den  Sympathien,   deren  dasselbe  in  der  Nation  ge- 
niesst,  bekannt  macht,  als  eigenthchen  Kern  seines  Buches  aber 
„bulgarische  Selbstbekenntnisse,  gleichsam  in  vertrautem  Kreise 
gefaflene  und  nur   fiir  sie  bestimmte  Aeusserungen"  bezeichnet, 
wie  er  sie  in  der  bulgarischen  Haidukenpoesie  gefunden,  die  er 
im  Versmasse  der  Originate  ubersetzt,  und   aus   der  „Lebensge- 
schichte   des   Haidukenfuhrers   Panajot  Hitow    (von  ihm   selbst 
bescbrieben,  nebst  Nachrichten   iiber  jetzige   und   fruhere  Woi- 
woden)"  schopft. 

Daraus  leitet  der  Verf.  in  seinem  Vorworte  sowol,  als  auch 
in  seinen  „erlauternden  und  kritischen  Bemerkungen"  zu  Panajots 
Lebensgeschichte  zugleich  die  unmittelbare  Bedeutung  dieeer 
nationalbulgarischen  Stimmen  fiir  die  Beurtheilung  der  grossen 
Tagesfragen  her,  indem  er  darzuthun  sich  bemiiht,  dass  rder 
vorjahrige  Krieg  mit  seinen  Grasslichkeiten  in  der  Bulgarei  seine 
lokale  Vorgeschichte  habe,  dass  das  bulgarische  Banditenweseo 
nach  dem  Krimkriege  von  fremden  politischen  Zwecken  in  Dienst 
genommen  sei  und  dass  der  Panslavismus,  „die  unsichtbare  Ge- 
walt"  —  in  den  untern  Donaulandern  sich  die  Herrschaft  iiber 
das  Lebensgluek,  ja  das  Leben  vieler  Verblendeten  und  Kom- 
promittirten  zu  verschaffen  gewusst  habe,  u.  s.  w.  —  aus  dessen 
unheilvollen  Banden  sich  das  Volk  der  Bulgaren  losreissen  miisse, 
wenn  es  seine  nationale  Wiedergeburt  statt  durch  Wiihlereien 
und  politische  Intriguen,  vielmehr  und  nur  durch  emstliche  und 
griindliche  Arbeit  an  dem  ^igenen  geistigen  und  sittlichen  Fort- 
schritte  erlangen  wolle. 

In  dem  1.  Theile  der  Flugschrift:  „Allgemeines 
iiber  das  Brigantenthu  m  im  Balkan",  —  glaubt  der 
Verf.  nachweisen  zu  konnen,  dass  der  Balkan  seit  SJtester  Zeit 
sein  Rauberthum  besessen  habe,  dass  die  alten  Bessen  —  Rauber 


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Rosen,  GM  Dio  Balkan -Haiduken.  567 

gewesen  und  dass,  da  es  dem  Romischen  Reiche  in  seiner  grossten 
Sfachtfiille  nicht  gelungen  sei,  dasselbe  auszurotten,  dies  von  der 
Zeit  seines  Niedergangs,  der  Zeit  der  Volkerwanderung,  endlich 
nach  dem  Entstehen  unabhangiger  Slavenstaaten  von  derjenigen 
de8  Byzantinischen  Reichs  nicht  zu  erwarten  gewesen.  Es  scheine 
vielmehr,  dass  nicht  ethnographische ,  sondern  topographische 
Grriinde,  steile  Berggehange,  dichte  Bewaldungen,  zahlreiche 
Sehluchten  und  Felsenwildnisse  der  Hochflachen,  —  die  Ein- 
wohner  unwiderstehlich  an  das  Raubergewerbe  fesselten.  Als 
tiewahrsmanner  dafur,  dass  im  Balkan  schon  vor  Alters  Rauber 
gewesen,  fiihrt  der  Verf.  aus  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts, 
der  Zeit  des  kraftigen  Regenten  Suleiman  II.,  den  Reichsge- 
sandten  A.  Ghislain  Busbecq  und  fur  das  Jahr  1665  den  eng- 
Yiscben  Botschaftssekretair  Paul  Rycaut  an,  welche  er  zum  Theil 
recht  schauerliche  Raubergeschichten  erzahlen  lasst. 

Die  Banditen  des  Balkans  stehen  iibrigens  in  einem  gewissen 
arspriinglichen  Zusammenhange  mit  dem  ungarischen  Tieflande 
und  der  siidostlich  an  dasselbe  grenzenden  Gebirgsgegend.  Das 
Wort  haiduk  (tiirk.  haidut,  bulg.  haidutin)  selbst  ist  ein  vom 
ungarischen  Boden  nach  dem  Balkan  verpflanztes  Fremdwort 
(hadad,  Stamm  had,  der  Krieg)  und  bedeutet  bei  den  altern 
tiirkischen  Historikern  einfach  die  ungarische  Infanterie  im  Gegen- 
satz  zur  ungarischen  Kavallerie  (katana  oder  huszdr).  Diese 
haidones  waren  Von  dem  ungarischen  Adel  gegen  die  Tiirken 
bewaffnete  serbische  und  walachische  Hirten,  welche,  nachdem 
Sudungarn  langst  der  Tiirkei  einverleibt  worden,  den  Krieg  noch 
in  Form  von  Riiubern  gegen  alle  Welt  fortsetzten.  Gab  es  nun 
unter  den  Haidonen  Sudungarns  Bulgaren,  die  mit  den  Banditen 
des  Balkans  in  Verbindung  standen,  und  gingen  letztere  haupt- 
sachlich  aus  dem  Hirtenstande  hervor,  so  erklart  sich  die  Ueber- 
tragung  des  von  Ungarn  her  bekannten  Namens  der  Haiduken 
auf  die  Bulgariens.  Und  Missvergniigte ,  von  Steuerlast  und 
allerlei  sonstigem  Druck  schwer  Heimgesuchte  gab  es  in  der 
europiiischen  Tiirkei  zu  alien  Zeiten,  wobei  es,  wenn  man  nach 
der  Schuld  fragt,  schwer  halt,  zu  entscheiden,  ob  die  Verge- 
waltigung  der  Pfortenregierung  und  ihre  Lassigkeit  in  der  Unter- 
driickung  des  Haidukenthums  oder  die  stille  Begehungssiinde  der 
B«volkerung,  welche  die  Rauber  ins  Gebirge  sandte,  schilrfer  ge- 
tadelt  zu  werden  verdient. 

Wenn  aber  der  Verf.  daflir  die  bulgarische  Nation  in  erster 
Linie  verantwortlich  macht  und  wiederholt  erklart,  dass  sie  von 
alien  slavischen  Nationen  die  am  wenigsten  bekannte  sei  und  im 
civilisirten  Europa  ein  sonderliches  Interesse  wach  zu  rufen 
wol  kaum  im  Stande  sein  diirfte,  so  ist  beziiglich  der  noth- 
wendigen  Objektivitat  seiner  Darstellung  doppelt  zu  bedauem, 
dass  er  „den  sehr  tiichtigen  Schriftstellern  Hilferding  und  Kanitz, 
welche  fur  die  Bulgaren  entschieden  wohlwollend  gesinnt  sind", 
die  England^r  S.  G.  B.  Saint -Clair  und  Ch.  A.  Brophy  ent- 
schieden vorzieht,  welche,  —  wie  er  selbst  sagt,  —    „von  einer 

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368  Rosen,  G.,  Dio  Balkan  -  Haiduken. 

gewissen  Voreingenommenheit  fiir  das  tiirkische  und  gegen  das  bul- 
garische  Bevolkerungselement  des  Landes  niclit  freizusprechensind*. 

Indem  er  sich  auf  die  wahrend  eines  dreijahrigen  Aufenthalts 
in  der  Gegend  von  Varna  gemachten  Erfahrungen  der  beidenletzt- 
genannten  beruft  und  deren  Werk :  A  residence  in  Bulgaria  or 
notes  on  the  resources  and  administration  of  Turky,  London  1869, 
al8  seine  hauptsachlichste  Quelle  citirt,  entlehnt  er  dem  „Brigandage 
in  the  Balkan"  iiberschriebenen  Kapitel  derselben  seine  Kenntniss 
von  dem  Banditenthum  „innerhalb  der  bulgarischen  Nation". 

Ohne  dem  Verf.  und  seiner  so  eben  angegebenen  Quelle  k 
einzelne  folgen  zu  wollen  ,  konnen  wir  es  uns  doch  nicht  th- 
sagen,  die  von  ilir  unterschiedenen  3  Arten  von  Briganten  dai 
nacb  und  nach  des  Verfassers  Schilderung  kurz  zu  charakterisireii: 

1.  Der  Balkan-T  schelebi  oder  der  Edle  vom  Walde 
ist  in  der  Kegel  der  Sprossling  einer  Balkan- Bey -Familie,  in 
dessen  Erinnerung  der  Glanz,  die  Macht  und  die  Vorreckte  der 
Familie  noch  fortlebcn,  der  aber  durch  Bestechlichkeit  der 
tiirkischen  Behorden  seiner  ihm  noch  gebliebenen  Gerechtsane 
zu  Gunsten  eines  rankevollen  Rajahs  beraubt  worden  ist  Aif 
seinen  Widerspruch  vor  den  Pascha  gefordert,  sucht  er  der 
verhassten  Vorladung  durch  seine  Flucht  in  den  Wald  m  ent- 
gehen,  wo  er  sicher  vor  Verrath  einzeln  ein  freies,  wildromanti- 
sches  Leben  fiihrt.  In  einem  Engpasse,  durch  welchen  eine  Jnirz^ 
Strecke  der  Weg  fiihrt,  taucht  er,  die  Pistole  in  der  Hand  plotz- 
lich  vor  dem  reichen  armenischen  oder  griechischen  Kaufherraauf 
und  fordert  ihm  sein  Geld  ab.  Der  Reisende  uberlegt  schnell,  dap 
das  Leben  besser  sei  als  das  Geld,  und  dass  die  Tiirkei  ein 
grosses  Land  ist,  in  dem  er  bald  wieder  zu  Reichthum  gelangeu 
kann,  und  gibt  das  Geld  her,  wenn  auch  mit  Gram,  so  doch 
ohne  Widerstand  zu  leisten.  Selbst  der  zu  seinem  Schutz  ito 
begleitende  Polizeisergeant  halt  es  fiir  rathsamer ,  seine  Flinte  m 
die  Luft  abzufeuern  und  daheim  der  Behorde  zu  berichten,  to® 
er  von  einer  Menge  von  Briganten  angegriffen  worden  seirod 
sich  tapfer  gewehrt  habe.  Der  Edle  vom  Walde  ist  ja  vielkicht 
ein  ferner  Verwandter  oder  es  betreibt  vielleicht  sein  eig#r 
Bruder  in  anderer  Gegend  dasselbe  Geschaft.  Zuweilen  hat  der 
Balkan-Tschelebi  auch  manches  mit  dem  irrenden  Ritter  der 
Romane  gemein,  wenn  er  von  einer  Vergewaltigung  des  Amu" 
und  Schwachen  durch  den  Reichen  und  Machtigen  hort  uw 
nicht  selten  mit  Blosstellung  seines  eignen  Lebens  bereit  i» 
eine  Art  wilder  Gerechtigkeit  zu  iiben  und  dem  Verletzten  z« 
seinem  Schaden  zu  verhelfen.  Mit  der  Zeit  wird  der  Edle  vom 
Walde  des  unstaten  Lebens  uberdrussig:  wenn  die  Jahre  aul 
sein  Verbrechen  einen  Schleier  geworfen  haben  und  seine  Gegw* 
gestorben  sind,  kehrt  er  in  sein  Dorf  zuriick  und  wird  ein  arbeit- 
sames  Glied  der  biirgerlichen  Gesellschaft,  auf  dessen  Character 
sein  Vorleben  keinen  Flecken  hinterlassen  hat.  ,      . 

2.  Der  Chyrsyz  oder  der  Strassenrauber  ist  ^n^1 
weitem   schlimmerer   Geselle.     In   der  Regel  ist   er  ein 

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Rosen,  G.,  Die  Balkan  -  Haiduken.  369 

gibt  sich  aber  einen  moslemitischen  Namen  und  setzt  sich  8tatt 
der  national  -  bulgarischen  Schaffellmiitze  einen  dicken  Turban 
auf  den  Kopf,  urn  dem  wehrlosen  Tiirken  gegenuber  als  Bulgare, 
dem  Bulgaren  und  Griechen  gegenuber  als  Tiirke  aufzutreten. 
1st  die  Ernte  schlecht  oder  die  Steuer  unerschwinglich ,  so 
machen  sich  mehrere  Spiessgesellen,  mit  Empfehlungen  an  ver- 
8chiedene  christjiche  Dorfer  versehen,  zu  einer  Streife  imWalde 
auf,  sie  stehlen  Pferde,  Schafe,  Kinder,  entfuhren  junge  Dorfler 
ins  Gebirge  und  verlangen  Losegeld  fur  sie.  Des  Weges  arglos 
vortiberziehende  Reisende  schiessen  sie  meuchlings  iiber  den 
Haufen,  berauben  die  Ermordeten  alles  Werthvollen  und  be- 
graben  die  Leichen  an  einer  entlegenen  Stelle  des  Waldes, 
worauf  sie  im  nachsten  Rajahdorfe  einen  Theil  der  Beute  in 
Wein  und  Branntwein  verprassen ,  meist  ohne  sich  einer  Be- 
Mligung  ausgesetzt  zu  sehen  oder  am  freien  Abzuge  verhindert 
ru  werden.  Denn  fast  jedes  Rajahdorf  in  der  Bulgarei  hat 
einige  Einwohner,  die  vor  kurzem  selbst  Rauber  gewesen  sind 
oder  es  bald  wieder  sein  werden,  fast  jedes  ist  also  entweder 
unmittelbar  an  der  Frevelthat  betheiligt  oder  hat  sich  durch 
TIebernahme  des  Raubes  zum  Mitschuldigen  gemacht.  Die  tiirkische 
Behorde  hat  deshalb  gewohnlich  nur  das  eine  Mittel  dagegen, 
derartige  Dorfer  behufs  Exekution  mit  Gensdarmen-Einquartirung 
zu  belegen  7  welche  so  lange  auf  Kosten  des  Dorfes  isst  und 
trinkt,  bis  die  Bauern  dieselbe  satt  bekommen  und  selbst  die 
Rauber,  ihre  Freunde*  ersuchen,  diesen  Theil  des  Landes  zu  ver- 
lassen.  Dann  ist  es  dort  eine  Weile  ruhig,  bis  sie  wiederkommen. 
Die  Gemeindevorsteher  (Tschorbadji)  vermogen  nichts  dagegen 
zu  thun,  weil  sie  personhch  in  keiner  Weise  geschutzt,  der  Rache 
der  Betheiligten  stets  zu  allernachst  ausgesetzt  sind.  Wenn  der 
Chyrsyz  auch  zeitweilig  sein  Erbgut  meidet,  so  halt  er  doch  an 
demselben  fest  und  macht  sich  oft  vom  eigenen  Hofe,  aus  dem 
Kreise  angesehener  Freunde  und  Verwandte  zu  seinem  Streif- 
zuge  auf.  Er  kann  wegen  der  Angst  der  Beschadigten ,  gegen 
ibn  klagbar  aufzutreten,  und  wegen  der  Elendigkeit  der  tiirkischen 
Sicherheits-  und  Justizpflege  oft  sein  ganzes  Leben  straflos 
bleiben  oder  im  Falle  einer  Denunziation  durch  den  Einfluss 
einer  angesehenen  Sippschaft  und  durch  Bestechung  mit  einer 
leichten  Strafe  davonkommen. 

3.  Der  Haiduk  oder  der  Vogelfreie  unterscheidet  sich 
von  den  beiden  vorigen  dadurch ,  dass  er  ausser  in  der  eigenen 
Bande  keine  Freunde,  d.  i.  Hehler  besitzt,  dass  er  sich  eines 
yor  den  tiirkischen  Behorden  schwer  wiegenden  Vergehens  wegen 
,n  seinem  friihern  "Wohnsitze  nicht  mehr  sehen  lassen  darf ,  dass 
ff  keine  Heimat  mehr  hat  und  von  vorne  herein  gebrandmarkt 
ist.  Er  hat  die  Schiffe  hinter  sich  verbrannt,  er  ist  entweder 
gsrichtlich  zum  Tode  verurtheilt  oder  sonst  an  seinem  Heimats- 
^  vom  sichern  Tode  bedroht.  Sein  Verbrechen  kann  in  nationalem 
Vorurtheil  und  in  politischen  Verirrungen  seine  Entschuldigung 
toden,  in  der  Regel  wird  es  ein  gemeines  Verbrechen,  Meuchelmord, 

llUtheiluugen  a.  d.  histor.  Lltteratur.     VI.  24 

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370  Bosen,  G.,  Dio  Balkan -Haiduken. 

Todtschlag,   Einbruch  u.  dgl.    sein.     Der   Haiduk  fuhlt  sich  in 
offener,  eingestandener  Revolution  gegen  die  Landesregierung. 

Abweichend  vom  Balkan -Tschelebi,  der  sich  allein  seinem 
Opfer  gegeniiberstellt ,  thun  sich  Haiduken  wie  Chyrsyz  mit 
Schicksals-  und  G-esinnungsgenossen  zusammen  und  bilden*  Banden, 
iiber  deren  Organisation  die  Haidukenlieder  und  die  von  Panajot 
Hitow  mitgetheilten  Notizen  ein  ziemlich  deutliches  Bild  ge- 
wahren.  Dabei  handelt  es  sich  zunachst  darum,  die  nothigen 
Mannschaften  zusammenzubringen ,  wozu  vor  allem  G-ewandtheit 
gehort,  Personalkenntniss  und  die  Kunst,  sich  Vertrauen  zu  er- 
werben.  Die  Unternehmer  sowie  die  anzuwerbenden  Leute  mussen 
von  Leib  und  Gremiith  stahlharte ,  an  Hunger  und  Durst ,  Frost 
und  Hitze,  Entbehrungen  und  Anstrengungen  aller  Art  gewohnte, 
Schmerz  und  das  eigne  Leben  gering,  das  ihrer  Mitmenschen 
aber  gar  nicht  achtende  Wesen  sein,  wie  solche  die  sogenannten 
Koliben  oder  Sennliiitten  auf  der  Hohe  des  Gebirges  in  Menge 
beherbergen.  Viele  Mitglieder  einer  Bande  sind  also  Hirten- 
bursche,  denen  das  abenteuernde  Rauberleben  mehr  zusagt  als 
die  einformige  Beschaftigung  mit  der  Heerde.  Zu  ihnen  gesellen 
sich  dann  die  der  obrigkeitlichen  Verfolgung  entsprungenen  Straf- 
linge  aus  den  bulgarischen  Ortschaften  ferner  Gegenden,  wean 
sie  nur  die  erforderlichen  Eigenschaften  besitzen. 

Durch  die  Wahl  eines  ersten  und  zweiten  Oberhauptes  und 
durch  Austheilung  von  Waffen  wird  zur  Constituirung  der  Bande 
geschritten.  Der  Oberanfiihrer  heisst  Wojwode  oder  Stari-Woj- 
wode  (Herzog  oder  Altherzog) ,  ihm  geloben  sammtliche  Mitglieder 
unbedingten  Gehorsam  zu  leisten;  das  zweite  Haupt  ist  der 
Bairaktar,  welcher  das  Panier  der  Bande  tragt  und  in  Abwesen- 
heit  des  Chefs  den  Befehl  iiber  sie  fuhrt.  Die  Wiirde  des 
Wojwoden  kommt  von  rechtswegen  demjenigen  zu,  in  dessen 
Erfahrung ,  Muth  und  Gliick  die  Genossen  das  meiste  Vertraaen 
setzen ;  darum  ist  seine  Stellung  auch  eine  sehr  schwierige ,  arf 
ihm  ruht  die  ganze  Verantwortlichkeit ;  er  hat  die  Unternehmungea 
vorzubereiten ,  er  hat  fur  das  tagliche  Brod  und  die  Sicherheit 
der  Bande  zu  sorgen.  Brod  (unter  glimmender  Asche  ab  und 
zu  frisch  gebackener  flacher  Kuchen) ,  Kase  aus  den  zahlreichen 
Sennereien  und  Pastyrma  (gesalzenes  und  an  der  Luft  gedorrtes 
Rind-  oder  Schaffleisch) ,  sowie  zur  Pastenzeit  gedorrte  Salzfische 
sind  ihre  gewohnlichen  Nahrungsmittel.  Dazu  fehlt  es  nicht  an 
Wein,  der  im  Lande  viel  gebaut  wird,  und  an  Branntwein.  Als 
Festessen  dient  im  Sommer  ein  Lamm,  das  ein  Schafer  in  der 
Nahe,  oder  im  Winter  ein  junges  Schwein,  das  eine  benachbarte 
Ortschaft  liefern  muss.  Die  "Wahl  des  Aufenthalts  sowie  der 
Lagerstatte  der  Bande  erfordert  grosse  Vorsicht  und  hat  d^ 
Sommer  zu  wenig  eingebracht,  um  in  der  Feme  das  Gewonnene 
in  Ruhe  verzehren  zu  konnen,  so  mussen  bei  Zeiten  f&r  die 
Ueberwinterung  in  den  Hohlen  oder  Schluchten  des  Gebirges 
Vorkehrungen  getrofifen  werden.  Auf  tadelloses  Aussehen,  iiba> 
haupt  gute  InstandhaJtung  der  Waffen,  als  Flinten,  Pistolen  und 

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Eosen,  G.,  Die  Balkan -Haidukeu.  371 

Yatagans  legen  die  Haiduken  den  grossten  Werth.  Sobald  das 
Gewerbe  einen  kleinen  Ueberschuss  ergeben,  streift  der  Haiduk 
die  missfarbige,  grobwollene  Tracht  des  gemeinen  Bulgaren  ab 
und  tritt  in  geschmackvoller  gescbnittenen  Gewandern  auf ,  der 
Wojwode  und  sein  Fahnentrager  selbst  mit  goldgesticktem  Dolman, 
die  blankgeputzten  Waffen  auf  der  Scbulter  oder  im  Giirtel 
tragend,  wie  es  freien  Leuten  geziemt.  Halt  in  solchem  Auf- 
zuge  die  ganze  Bande,  die  aufgerollte  Fahne  beim  Marsche 
voran,  in  einem  Dorfe  oder  Marktflecken  ihren  Einzug,  so  im- 
ponirt  sie  den  Bauern  gewaltig,  welche  stolz  sind,  mit  diesen 
so  selbstbewusst  auf  tretenden  Kriegern  wie  mit  ihresgleichen  ver- 
kehren  zu  konnen,  und  es  ist  nicbts  natiirlicher,  als  dass  der 
Hirtenknabe ,  wenn  er  seinen  Ziegen  liber  einsame  Bergklippen 
ton  folgt,  von  dem  Gliicke  traumt,  dereinst  unter  einem  wackern 
Fiihrer,  der  wie  ein  kleiner  Souverain  auftritt  und  von  niemandem 
unter  der  Sonne  Befehle  anzunehmen  braucht,  einer  Haiduken- 
bande  anzugehoren. 

Es  hiingt  aber  nicbt  nur  die  Hirten-  und  Bauernbevolkerung 
mit  einer  gewissen  Scbwarmerei  am  Haidukenthum,  auch  die 
Stadtebewohner  der  Ebene  bis  zum  Aegaischen  Meere  im  Siiden 
und  bis  zur  Donau  im  Norden  tbeilen  diese  Vorliebe.  Erst 
machte  sich  bei  dem  bulgarischen  Haiduken  die  alien  orienta- 
lischen  Nationen,  einschliesslicb  der  turkischen,  eigenthiimliche 
Abneigung  der  Regierten  gegen  die  Regierenden  geltend,  seit 
aber  die  alle  Leidenschaften  der  Masse  aufregenden  Nationalitats- 
ideen  auch  zu  den  Volkern  der  Siidosthalbinsel  Europas  ibren 
Weg  gefunden,  bildete  sich  im  Balkan  ein  Haidukenthum  von 
nahezu  rein  politischem  Charakter  aus,  von  dem  der  Verf. 
S.  34  wortlicb  sagt: 

„Wenn  die  Bulgaren  in  den  Haiduken  nationale  Helden  und 
gleichsam  ein  Ueberbleibsel  der  alten  Unabhangigkeit  des  Volkes 
sehen,    so   findet  dies   eine  Analogie  erstens  in  dem  Haiduken- 
thum Serbiens  im  Anfang  unsers  Jahrhunderts   und  zweitens  in 
den  Klephten  der  Griechen  wahrend  der  Freibeitskampfe.    Hier 
^ie  dort  racht  sich  spat  an  der  Pforte  das  liistorische  Unrecht 
der  TJnterjochung  anderer  Nationen,   sowie  der  politische  Unver- 
stand  der  herabwiirdigenden  Behandlung   dieser  als   willenloser 
Heerde  bei  ibrer  Belassung  im  Besitz  ihres  heimatlichen  Bodens, 
ibrer  Sprache,  Sitte  und  Religion.     Es  ist   die   tiirkische  Miss- 
i^gierung,   welche   ihren  Freiheitsdrang  gegen   den   moralischen 
Werth   seiner  Vorkampfer  so   gleichgtiltig  gemacbt  hat;   diese 
Sleichgultigkeit  selbst  aber  ist  Tbatsache.    Ausserdem  hat  man 
aber  die  Bedeutung  des  Balkans   fiir   die  von  den  Bulgaren  be- 
^ohnten   Lander    in    Anscblag    zu  bringen.     Obwol   dieselben 
weit  iiber   das  Balkangebiet  Hnaus   durch  Thracien  und  Mace- 
donien  ihre  Sitze  ausdehnen   und   ihnen  von  dem  Gebirge  selbst 
ein  reichliches  Secbstel  durch  tiirkische  Colonisation  und  Ueber- 
tritt  zum  Islam  verloren  gegangen  ist,    so   betrachten   sie   doch 
ta&  Balkan^  den  wichtigsten  Hohenzug  der  nach  ibm  benannten 

24* 

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372  Rosen,  G.,  Die  Balkan  -  Haidukcn. 

grossen  Halbinsel,  sowol  nach  dem  gegenwartigen  vorwiegenden 
Besitzstande ,  wie  aucli  nach  historischen  Erinnerungen  als  ihr 
angestammtes  Gut  und  ihren  nationalen  Mittelpunkt ;  kein  Bulgare 
zweifelt,  dass  die  Tiirken  einmal  das  Land  raumen,  dass  die  Bul- 
garen  von  neuem  die  einzigen  Anwohner  des  Gebirges  sein  werden. 
Da  nun  der  Balkan  gleichsam  der  Vater  und  Pfleger  des  Haiduken- 
thums  ist,  so  iibertragt  sich  auf  letzteres  die  Idee  eines  Zube- 
hors  des  gefeierten  Volksheiligthums.  Dazu  kommt,  dass  wenn 
der  Haiduk  die  zukunftige  Freiheit  vom  tiirkischen  Joch  anticipirt, 
nur  der  Balkan  diese  Freiheit  ermoglicht.  Der  Hirt  und  der  Haiduk, 
sagt  Panajot,  sind  die  einzigen  freien  Menschen  in  der  Tiirkei; 
auf  das  Gebirge  schickt  der  Kadi  keine  Vorladung,  kein  Steuer- 
sammler  erscheint  dort ,  keine  Einquartirung  wird  angesagt ,  die 
Verfolgungen,  die  der  Pascha  hinter  den  Haiduken  hersendet* 
sind  rasch  verfliegenden  Gewittern  vergleichbar ,  die  Luft,  die 
der  freie  Sohn  der  Berge  athmet,  wird  nicht  dadurch  getrubt* 

Die  Phantasie  des  Sudlanders  malt  sich  dies  alles  schoner 
aus,  als  es  in  Wirklichkeit  ist ;  iiber  die  Entbehrungen  und  An- 
strengungen,  mit  denen  jene  Freiheit  erkauft  werden  muss,  geht 
sie  hinweg,  sie  weiss  nicht,  was  es  heisst,  jeden  Augenblick 
bereit  zu  sein,  Feindesblut  zu  vergiessen,  ihr  schmeichelt  der  in 
seiner  Idee  durch  das  Rauberthum  ermoglichte  rasche  Erwerb 
von  Beichthum,  ihr  gefallt  dies  Wiirfelspiel,  wo  allerdings  das 
Leben  der  Einsatz  ist,  jedoch  alle  Wahrscheinlichkeit  den  Ge- 
winn  eines  sorg-  und  arbeitlosen  Lebens  verheisst. 

Der  2.  Theil  der  Schrift  enthalt  ,,Proben  bulgari- 
scher  Haidukenpoesie"  im  Versmass  der  Originale  iiber- 
setzt.  —  Wie  der  Verf.  erlautert,  ist  die  bulgarische  Nation 
an  echter  Volkspoesie  —  im  wahren  Sinne  des  Wortes  —  wol 
reicher  als  irgend  ein  Volk  in  Europa:  die  aus  dem  Vorrathe 
ihres  Gedachtnisses  geschopften,  irf  Volksmund  uberlieferten 
Lieder  werden  durch  einfache  Melodien,  fast  ebenso  gleicliform^ 
und  zalilreich  wie  sie  selbst  und  oft  noch  mit  Tanzbewegungen 
begleitet;  so  wandern  sie  von  Ort  zu  Ort,  von  Geschlecht  zu 
Geschlecht,  und  ihr  Fortleben  beruht  auf  dem  tiefen  Eindruck. 
den  sie  trotz  ihres  geringen  asthetischen  Weillies  auf  das  Gemut 
des  bulgarischen  Volkes  machen.  Erst  seit  ungefahr  18  Jahren 
hat  der  dem  Volksthiimlichen  pietatvoll  nachspiirende  Sammel- 
geist  slavischer  Gelehrten  sich  auch  diesen  reich  vorhandenen 
Gebildeji  zugewandt  und  einiges  davon  nach  mundlichem  Vor- 
trage  zur  VeroiFentlichung  aufgezeichnet.  Als  Ergebniss  dieses 
patriotischen  Fleisses  bezeichnet  der  Verf.  2  hervorragende 
Werke :  1.  Die  bulgarischen  Volkslieder  der  Gebruder  Miladinow, 
die  Bulgaren  in  Obermosien,  Hoch-  und  Niedermacedonien  be- 
trefFend,  und  2.  Der  bulgarische  Nationalschatz  des  Wasili 
Tscholakow,  die  Bewohner  des  Balkangebiets  umfassend.  —  Die 
von  den  Gebriidern  Miladinow  besonders  aufgereihten  18  „Hai- 
dukenlieder"  sind  mit  vielen  andern  als  ,.Schafer-,  K3age-  und 
Heldenlieder"    aufgezahlten   sehr  nahe  verwandt,   da   sie  eben- 


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Rosen,  G.,  Die  Balkan  -  Haiduken.  373 

falls  auf  das  Haidukentlmm  Bezug  nehmen.  Noch  zahlreicher 
nnd  charaktcristischer  sind  die  von  Tscholakow  aus  den  Ort- 
schaften  am  Balkan  selbst  mitgetheilten  Gedichte,  welche  viel- 
fach  wieder  an  die  von  Panajot  Hitow  aus  der  Gegend  von 
Sliwen  stammenden  erinnern.  Wenn  die  Qebriider  Miladinow 
in  der  Vorrede  zu  ihrem  Werke  im  allgemeinen  sagen,  dass, 
wenn  man  in  Einer  Ortschaft  an  einem  unerschopflichen  Borne 
gestanden  zu  haben  meine,  man  gleich  an  einem  andern  Orte 
eine  ganz  neue  nicht  minder  ergiebige  Quelle  entdecke,  so  mag 
dies  daher  speziell  auch  von  der  Haidukenpoesie  gelten. 

Durch  seine  „sich  genau  an  das  Original  anschliessenden 
Uebersetzungen  der  von  Panajot  in  seinem  Werke  gegebenen 
Proben"  und  durch  die  aus  den  ^Bulgarischen  Volksliedern" 
und  dem  „  Bulgarischen  Nationalschatz "  beigefiigte  Vervoll- 
standigung  derselben  gestattet  der  Verf.  aucb  uns  einen  Einblick 
in  diese  Dichtungsart.  Er  unterscheidet  dabei  selbst  eigentliche 
Lieder,  die  von  einem  andern  Halbchore  gesungen  am  Ende  jeder 
Verszeil  durch  einen  von  einem  Halbchore  vorgetragenen  Antworts- 
refrain  unterbrochenwerden, — und  zukantilirenderRezitation  einge- 
richtete  versifizirte  Erzahlungen,  wie  deren  Panajot  bietet,  welche  an 
poetischem  Werthe  den  eigentlichen  Liedern  nachstehen  diirften. 

„Wie  aber  die  Sympathien,  deren  sich  das  Haidukenthum 
in  der  bulgarischen  Nation  in  so  hohem  Grade  erfreut,  diese  in 
sozialer  Hinsicht  genugsam  charakterisiren,  so  vervollstandigt 
dasselbe  in  sittlicher  Beziehung  ihre  grosse  Vorliebe  fur  die 
Haidukenpoesie,  denn  man  kann  nicht  sagen,  dass  Lieder,  welche 
beruhmte  Rauber  verherrlichen ,  das  Rauberleben  preisen  oder 
auch  nur  die  Erinnerung  grasslicher  Thaten  verewigen  und  das 
Scheussliche  familiar  machen,  eine  passende  Nahrung  fiir  Geist 
und  Gemiit  eines  rohen  Volkes  seien." 

Den  3.  Theil  des  Werkes  bildet  „die  Lebensge- 
schichte  des  Haidukenfiihrers  Panajot  Hitow" 
von  ihm  selbst  beschrieben,  nebst  Nachrichten  iiber  jetzige  und 
fruhere  Wojwoden,  aus  dem  Bulgarischen  iibersetzt.  Er  ist 
der  umfangreichste  und  auch  fur  den  deutschen  Leser,  der  die 
Ansichten  des  Uebersetzers  etwa  nicht  theilt,  der  interessantere, 
insofern  er  ihn  Land  und  Leute  Bulgariens  in  origineller  und 
in8truktiver  Weise  kennen  lehrt. 

Nachdem  Panajot  iiber  seine  Herkunft  und  Jugendzeit  kurze 
Nachricht  gegeben,  theilt  er  mit,  dass  er  erst  bei  einem  Materialien- 
handler  in  der  Lehre  gewesen,  dann  sich  dem  Metzgergewerbe 
gewidmet  und,  weil  ihm  beide  Berufsarten  fiir  die  Dauer  nicht 
zugesagt,  endlich  einen  Viehhandel  mit  Schafen,  Ziegen  und 
Kiihen  angefangen  habe.  Mit  den  Schwestern  in  Erbstreit  ver- 
flochten,  bekam  er  ungeiahr  im  30.  Jahre  seines  Lebens  Handel  mit 
dem  tiirkischen  Gerichte  undhielt,  nachdem  er  den  Prozess  und  da- 
unt den  grossten  Theil  seines  Vermogens  verloren,  seinen  Aus- 
zug  in  den  Balkan,  fest  entschlossen,  „an  den  tiirkischen  Un- 
holden  Rache  zu  nehmen".     Die  Schonheit  und  Herrlichkeit  der 


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374  Rosen,  G.,  Die  Balkan -Haidukon. 

Natur  auf  der  im  Friihlingskleide  prangenden  Stara  Planina,  im 
schroffen  Gegensatz  zu  der  Noth  und  dem  Elend  der  durch  die  tiir- 
kische  Bastonnade  und  die  phanariotische  GeistlichkeitzuSklaven 
und  willenlosen  Maschinen  herabgewiirdigten  bulgarischen  Bauern, 
war  wol  dazu  geeignet,  im  Herzen  Liebe  zum  Vaterlande  zn 
nahren,  aber  auch  den  Hass  gegen  seine  blutigsten  Feinde  zu 
entflammen.  So  kam  denn  eine  kleine  „treu  eintrachtige  Ge- 
nossenschaft"  zusammen  und  sie  fanden  bald  Gelegenheit  „mit 
einigen  siindigen  Seelen  aufzuraumen".  Als  aber  der  Herbst 
herangekommen ,  schickte  sich  ein  Theil  der  Bande  an  in  der 
Walachei  Winterquartiere  zu  beziehen,  nur  Panajot  und  sein 
Schwager  fanden  in  einer  Schlucht  unweit  Sliwen  verborgene 
Unterkunft.  In  Verbindung  mit  Genossen  aus  der  Umgegend 
sinnen  sie  „auf  Abstellung  der  Schandthaten,  welche  von  Ttirken, 
bulgar.  Tschorbadjis  und  den  jiingst  erst  aus  Russland  dort  an- 
gesiedelten  Tscherkessen  begangen  worden",  und  bringen  wenig- 
stens  den  letztern  eine  vollstandige  Niederlage  bei 

Aber  ihre  Unternehmungen  gliicken  nicht  immer:  in  Folge 
des  Gestandnisses  eines  bei  der  gewaltsamen  Beraubung  des 
Kadhi  von  Sliwen  betbeiligten  Spiessgesellen  werden  gegen 
300  Bulgaren  eingezogen,  viele  derselben  Monate,  andere  Jahre 
lang  gefangen  gehalten,  noch  andere  zu  lebenslanglicher  Zwangs- 
arbeit  verurtheilt,  wahrend  50  allein  in  den  Gefangnissen  starben. 
Von  der  ganzen  Gesellschaft  entkamen  ausser  Panajot  nur  noch 
2,  die  sich  an  einer  sehr  verborgenen  Stelle  der  Walder  ver- 
steckt  batten  und  denen  denn  auch  —  obwol  vergeblich,  —  eine 
Rauberhetze  nachgeschickt  wurde.  Wiederholt  zur  Aenderung 
ihres  Aufenthaltsortes  genothigt,  suchten  sie,  neue  Genossen  an- 
werbend,  der  Reihe  nach  die  Distrikte  von  Schumla  und  von 
Tyrnowo  auf,  den  Winter  liber  zogen  sie  sich  aber  fern  von 
jeder  Ortschaft  auf  die  Matejska-Planina  beim  obern  Tundscha- 
kessel  auf  der  Hohe  des  Balkan  zuriick.  Sehr  strenge  Kalte 
zwang  sie  in  Gebirgsdorfern  Zuflucht  zu  suchen,  wo  „sehr  treoe 
und  ergebene  Freunde"  sie  unterstiitzten  und  besonders  zu  Weih- 
nachten  mit  Wein,  Branntwein  u.  dgl.  beschenkten,  „wie  wenn 
man  dem  Pathen  Festgeschenke  bringtu ;  —  sie  stiegen  dann  in  die 
thracische  Ebene  an  der  Tundscha  hinab  und  in  den  Kusten- 
distrikt  des  Schwarzen  Meeres,  wo  sie  mit  dort  angesiedelten 
tatarischen  Mohamedanern  in  blutiges  Handgemeng  geriethen;  — 
fliichteten  hierauf  wieder  nach  den  Gebirgen  von  Kazanlik  und 
Gabrowo,  wo  sie  auf  der  Karlowo-Alpe  Sicherheit  sucht^i ;  bald 
aber  von  der  Sakar-Pl.  aus  in  das  Maritzathal  bis  Adrian opel 
streiften.  Im  Gegensatz  zu  den  mit  dem  Schimpfnamen  Koko- 
schar  (Hiilmerdieb)  belegten  und  aus  ihrer  Gemeinschaft  als  ehrlos 
ausgestossenen  bulgarischen  Raubern,  die  auch  Christen  iiberfallen, 
fuhlt  sich  Panajot  veranlasst,  die  Grundsatze  ihrer  Haiduken- 
moral  dahin  zu  entwickeln,  dass  der  Beruf  des  eigentlichen 
Haiduken  seiner  vollen  Ueberzeugung  gemiiss  ein  ehreiSiafter  sei 
und   demgemass   auch  nicht   durch  ehrlose   Tbaten  geschandet 


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Rosen,  G.,  Die  Balkan -Haiduken.  375 

werden  d&rfe:  „Wir  smd  von  Gott  gesandt,"  sagt  er,  „um  die 
Armuth  zu  ,beschutzen  und  die  Uebelthater  zu  ziichtigen,  des- 
halb  miissen  wir  aber  auch  ehrsam  sein,  gerecht  und  treu.  Die 
bulgar.  Nation  hat  keinen  Kaiser,  keinen  Hort,  keinen  Heifer, 
sie  hat  nur  die  Hoffnung  auf  Gott  und  auf  urisern  Heldenarm. 
Darum  muss  der  Haiduk  die  eigne  Ehre  hochhalten,  damit  er 
die  Wittwen  und  Schutzlosen  behuten  und  trosten  konne." 

Mit  dem  Jahre  1862  beginnt  Panajots  politische  Thatigkeit. 
Unter  verschiedenen  Briefen  erhalt  er  auch  vom  „patriotischen  Public 
cisten  Rakowski"  aus  Bukarest  ein  Schreiben  des  Inhalts :  „H6ret, 
bulgarische  Briider  und  Ihr  tapfern  Helden  in  den  Bergen,  seid  brav, 
seid  zur  Hand  und  harret  der  Zeit,  der  wir  alle  entgegensehn, 
riistet  Euch,  Unser  Vaterland  wird  bald  frei  sein,  bereitet  Euch  vor  !a 
Darauf  hin  schickte  er  einen  gewissen  Paskal  zu  seinen  Freunden 
auf  einer  Rundreise  durch  Thracien  und  Macedonien  und  begab 
sich  selbst  mit  seinen  Leuten  nach  der  Srdna-Gora  und  dem 
Gebiete  von  Kotel;  denn  „allgemein  hielt  man  die  Zeit  der 
Entscheidung  fur  ganz  naheu.  Aber  der  Belgrader  Aufstand, 
auf  den  die  Missvergniigten  viele  Jahre  lang  gewartet,  war 
mittlerweile  niedergeschlagen  worden,  die  politischen  Wirren 
schienen  plotzlich  wieder  vollstandig  ausgeglichen  zu  sein;  aus 
Sistowa  kam  die  niederschlagende  Nachricht,  es  waren  in  Tyrnowo 
zwei  Bulgaren  als  serbische  Emissare  verhaftet  und  nach  Kon- 
stantinopel  gebracht  worden.  In  Folge  dessen  wurde  die  Land- 
bevolkerung  urn  so  mehr  eingeschiichtert ,  als  es  die  tiirkische 
Regierung  an  "Wachsamkeit ,  wiederholten  Rauberhetzen  und 
energischen  Verfolgungen  nicht  fehlen  liess:  Hunger,  Ent- 
behrungen  und  Drangsale  aller  Art  mehrten  sich,  und  da  es 
der  Bande  auch  unmoglich  gemacht  wurde,  nach  der  Walachei 
oder  nach  Serbien  zu  entkommen,  theilte  sie  sich,  der  Fahnen- 
trager  und  7  Mann,  die  sich  nach  der  Srdna-Gora  begeben, 
wurden  dort  aufgerieben  und  Panajot  selbst,  der  sich  wieder 
Sliwen  und  dem  Schwarzen  Meere  zu  wandte,  lief  wiederholt 
fiefahr  durch  Verratherei  von  Leuten,  die  ihm  am  nachsteu 
gestanden,  den  Tiirken  iiberliefert  zu  werden.  Zu  diesen  Freunden 
z^hlt  Paskal ,  der  sich  dem  Obersten  von  Sliwen  ergeben  hatto, 
aber  im  entscheidenden  Augenblicke,  bevor  er  noch  alle  Geheim- 
^se  verrathen,  durch  Gift,  das  ihm  die  bulgarische  National- 
partei  beigebracht  hatte,  unschadlich  gemacht  worden  war. 

So  viel  zur  Probe  fur  die  Illustration  einzelner  Ziige  aus 
dem  Leben  von  Panajot  Hitow  nach  eigenem  Bericht.  Ohne 
™a  des  weitern  auf  seinen  Irrfahrten  und  Streifzugen  durch  die 
verschiedenen  Theile  der  Stara  -  Planina  zu  folgen,  sei  kurz  noch 
erwahnt,  dass  er  wiederholt  von  Serbien  aus,  wo  er  theils  gast- 
uch  aufgenommen,  theils  von  den  Behorden  der  Grenze  fern  ge- 
"^ten,  ein  burgerliches  Gewerbe  zu  treiben  genothigt  wurde, 
^d  von  Rumanien  aus,  wo  er  mit  Rakowski  und  Genossen  ge- 
nennepohtische  Verbindungen  hatte,  Einfalle  in  Bulgarien  zu  unter- 
^ehmen  und  Aufstande  zu  erregen  aufgefordert  wurde.  Besonders 

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376  Rosen,  G.,  Die  Balkan -Haiduken. 

bemerkenswerth  sind  seine  Nachrichten  iiber  die  Bildung  einer 
bulgarischen  Militarkompagnie  in  Belgrad,  welche  dieseiben 
Tendenzen  verfolgte.  Anfangs  vereinigten  sich  bios  15  junge 
Bulgaren  aus  Sistow  und  Umgebung,  urn  die  Kriegskunst  theore- 
tisch  und  praktisch  zu  erlernen.  Durch  Freunde  und  Gesinnungs- 
genossen  wuchs  diese  Kompagnie  bald  auf  200  Kopfe  an ,  doch 
waren  auch  Bosnier,  Herzegowsken  und  Montenegriner  dabei; 
spater  kamen  noch  Kroaten,  Dalmatiner  und  Serben  aus  Ungarn 
dazu,  wodurch  sie  die  Starke  von  300  Mann  erreichte  und  im 
serbischen  Heere  eine  bevorzugte  Stellung  einnahm.  Aber 
sclion  nach  3  Monaten  anderte  sich  die  Sachlage,  statt  des 
bisher  den  neuen  Soldaten  pro  Mann  und  Monat  gezablten 
1  Dukaten  erhielten  sie  von  der  serbischen  Regierung  nur  noch 
jo  1  Rubel  ausgezahlt  und  die  gewohnliche  Kost  statt  der  friiher 
bedungenen.  Das  erregte  unter  den  jungen  Leuten  eine  sehr 
grosse  Missstimmung  und  diese  erreichte  ihren  Hohepunkt,  als 
ein  Geographic  -Lehrer  aus  sprachlichen  Grunden  Serbiens  Grenze 
bis  iiber  Salonik  ausdehnte  und  Bulgarien  auf  die  Strecke  von 
Tyrnowo  bis  Varna  beschrankte.  Die  jungen  Leute  baten  das 
Kriegsministerium  um  ihre  Entlassung,  welche  sie  erst  nach 
vielen  Unterhandlungen  mit  dem  bulgarischen  Comite  in  Bukarest 
und  einem  aus  Russland  abgesandten  Oberst  K.  erhielten.  Von 
der  Walachei  aus  planten  sie  einen  Einfall  nach  Bulgarien.  Der 
serbische  Minister  des  Krieges,  Blaznawatz,  tadelte  das  Unter- 
nehmen  und  f uhrte  es  unverholen  auf  „  d  i  e  unsichtbare 
Gewalt"  zuriick,  welche  die  bulgarischen  Junglinge  betriige 
und  in  den  offenen  Tod  fiihre.  Auf  dessen  Wunsch  ging 
Panajot  auch  nach  Bukarest,  wollte  aber  unter  keinen  Dm- 
stiinden  an  der  Expedition  nach  der  Bulgarei  theilnehmen,  weil 
die  Zeit  dazu  nicht  angethan  sei,  Land  und  Volk  keine  Vor- 
bereitung  getroffen  hatten,  zumal  aber  Serbien  und  Griechenland 
sich  in  keiner  Weise,  wie  es  doch  einzig  und  allein  zweckdien- 
lich  ware,  an  der  Erhebung  betheiligten. 

In  seinen  erlauternden  und  kritischen  Bemerkungen  zu  Pana- 
jots  Lebensgeschichte  kommt  der  Verf.  zu  folgendem  Besultate: 
Bis  zum  Jahre  1862  hat  das  Haidukenthum  Panajots  die  grosste 
Aehnlichkeit  mit  dem  Banditenwesen  anderer  Lander,  wenn  es 
auch  durch  die  grossere  Ausdehnung  der  Hehlerschaft  und  durch 
den  im  allgemeinen  fest  gehaJtenen,  auf  den  eigenthiimlichen 
Bevolkerungsverhaltnissen  der  Balkanhalbinsel  beruhenden  natio- 
nalen  Charakter  sich  vor  diesem  auszeichnen  mag.  Der  seitherige 
Erwerbsbetrieb  desselben  kann  fuglich  als  ein  Kampf  gegen  das 
Eigenthum  unter  gewissen  nationalen  Beschrankungen  und  Bevor- 
zugungen  bezeichnet  werden.  Dazu  stimmen  auch  die  Berichte 
iiber  das  Leben  zeitgenossischer  und  fniherer  Wojwoden.  Der 
einzige  Unterschied  zwischen  dem  Rauberleben  der  friiheren 
Zeit  und  den  von  Panajot  bis  1861  befolgten  Grundsiitzen 
scheint  nur  der  zu  sein,  dass  der  nationale  Charakter  melir  der 
"Wirldichkeit  entsprach  und  dass  der  Tschorbadji,  der  Archimao- 

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Roson,  G.,  Die  Balkan -Haidukcn.  377 

drit  nicht  weil  er  reich  war,  fiir  vogelfrei  gait.  Erst  mit  dem 
Jahre  1862  nelimen  die  Banden  einen  politischen  Charakter  an 
und  stehen  die  Haiduken  als  ein  wesentlicher  Faktor  der  Be- 
freiung  ihres  Vaterlandes  in  revolutionaren  Beziehungen  zum 
Auslande. 

„Der  Krimkrieg  hatte  die  Welt  beziiglich  des  Einflusses 
Russlands  anf  die  stamm-  und  konfessionsverwandte  Rajah  der 
Turkei  von  einer  Illusion  befreit.  Die  vielfachen  Bemuhungen, 
Aufetande  unter  den  christlichen  Nationen  der  Balkanhalbinsel  zji 
erregen,  waren  bei  den  Griechen  von  unbedeutendem ,  bei  den 
Slaven  von  gar  keinem  Erfolge  gewesen.  Fiir  den  Kirchen- 
schliissel  von  Bethlehem,  nicht  fur  Christenthum  und  Humanitat 
zog  Russland  sein  Schwert.  Der  Krieg  nahm  seinen  ungliick- 
lichen  Verlauf ,  der  alte  Glaube  an  die  Uniiberwindlichkeit  der 
orthodoxen  Grossmacht  war  bei  Tiirken  und  Rajah  erschiittert. 
Zur  "Wiederherstellung  eines  Prastigiums,  das  noch  iiber  das 
friihere  hinausgehen  sollte,  wurde  nun  in  Russland  die  panslavi- 
stische  Idee  zu  Tage  gefordert,  welche  allmalig  im  Lande  selbst 
solche  Macht  gewann,  dass  sie  die  innere  und  aussere  Politik 
beherrschte.  Dieser  Panslavismus  fiirchtete  ernstlich  einen  Aus- 
gleich  zwischen  der  herrschenden  Nation  und  den  durch  Verdienst 
nnd  Handel  wahrend  des  Krieges  entschieden  besser  situirten 
beherrschten  auf  dem  Boden  der  materiellen  Interessen.  Um 
dem  vorzubeugen,  mussten  durch  Sendlinge  die  Gemiither  der 
Leute  erregt,  dadurch  die  Pforte  mit  ihren  Unterthanen  verfeindet, 
mussten  die  slavischen  Provinzen  der  Turkei  in  einen  Herd  be- 
standiger  Unruhen  verwandelt  werden.  Serbien  sollte  der  Aus- 
gangspunkt  der  Agitation  sein,  aber  auch  bei  den  Bosniern  war 
gewiihlt  worden  und  den  Montenegrinern  war  bei  einem  Kriege 
gegen  die  Pforte  serbische  Unterstiitzung  zugesagt  worden.  Es 
8chien  ein  allgemeines  Losschlagen  auf  der  Balkanhalbinsel  be- 
vorzustehen ;  von  Belgrad  erwartete  man  das  Signal ,  Serbien 
aber,  welches  der  russischen  Politik  nicht  traute,  schloss,  nach- 
dem  es  durch  Intervention  der  Machte  sein  nachstes  politisches 
Ziel,  die  Nichtwiederkehr  der  vertriebenen  tiirkischen  Civilisten- 
kobnie  erreicht  hatte,  Frieden  mit  der  Turkei,  seine  compromittirten 
Stammverwandten  in  den  slavischen  Immediatprovinzen  sich  selbst 
uberlassend.  Das  ist  der  geschichtliche  Hintergrund,  von  dem 
Panajots  Bericht  iiber  das  Jahr  1862  sich  abhebt." 

wDie  durch  die  tiirkische  Polizei  fast  unmoglich  gewerdenen 
Haidukenbanden  waren  auf  einmal,  wie  im  Anfange  unseres 
Jahrhunderts  unter  ganz  andern  Kulturverhaltnissen  wahrend  der 
Kriege  Kara-Djordjes  die  serbischen  Haiduken,  —  Nationalhelden 
geworden  und  dadurch  zu  den  wol  wenig  weisen,  aber  doch  ehr- 
uchen  und  anstandigen  Freiheitsbestrebungen  der  bulgarischen 
Nation  in  Beziehung  getreten.  Es  war  dies  das  Werk  des  Pan- 
*Javi8mus,  dem  es  gelang,  die  slavischen  Balkanchristen  zum 
^horsam  unter  seine  Befehle  zu  bringen.  Durch  Schulen ,  in 
denen  vornehmlich  Politik   getrieben   wurde,    durch   Lesevereine 

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378  Rosen,  GM  Die  Balkan -Haiduken. 

und  politische  Reiseapostel,  endlich  durch  allerlei  Druckschriften, 
durch  mannigfaches  Anschlagen  der  nationalen  Saite  wurde  eine 
geistige  Bewegung,  mit  welcher  die  Bildung  nicht  gleichen  Schritt 
hielt,  noch  mehr  aber  ein  unverstandiger  Diinkel  unter  den 
BulgareA  gefordert,  die  wie  so  viele  andere  von  den  Verhaltnisaen 
zur  Unbedeutendheit  verdammte  Nationalitaten  jetzt.keine  Grenze 
des  ihnen  Moglichen  anerkennen  wollten,  wenn  nur  der  geistige 
Druck  des  grieckischen  Klerus,  der  physische  der  Pfortenherrschaft 
abgeworfen  wiirde.  Allerdings  ist  dieser  doppelte  Druck  einebe- 
dauernswerthe  Thatsache;  wenn  aber  der  Panslavismus  durch 
Forderung  des  Haidukenthums  dagegen  einen  an  kein  Sittengesetz 
gebundenen  Kampf  empfahl,  da  waren  es  sicher  die  Bulgaren, 
denen  damit  der  grossere  Schaden  zugefugt  wurde." 

Als  besondern  Anhang  fiigt  der  Verf.  seinem  Werke  noch 
ein  Greographisches  Register  bei.  Es  bildet  dasselbe 
eine  Vielen  gewiss  sehr  willkommene  Erlauterung  und  Vervoll- 
standigung  der  von  Panajot  Hitow  in  seinem  letzten  (XVII)  Ah- 
schnitt  gebrachten  allgemeinen  Beschreibung  des  Balkans.  Wenn 
diese  aber  schon  dem  Bildungsgrade  des  aussergewohnlichen 
Schriftstellers  entsprechend ,  selbst  bescheidene  wissenschaftliche 
Ansprtiche  kaum  befriedigt,  so  regt  sie  doch  durch  die  zahl- 
reichen  sonst  noch  wenig  aufgehellten  Thatsachen,  die  sie  bringt 
das  Interesse  des  lern-  und  wissbegierigen  Forschers  an,  wie  denn 
auch  Kanitz  in  dem  zweiten  Bande  seines  Donau  -  Bulgariens 
wiederholt  Anlass  nimmt,  des  Panajot  Hitow  speziell  nach  dieser 
Richtung  hin  riihmend  zu  gedenken. 

In  seinem  Register  hat  aber  der  Verf.  der  Uebersichtlichkeit 
wegen  nicht  nur  die  in  dem  erwahnten  Abschnitte  enthaltenen, 
sondern  auch  die  fruher  bei  den  geschichtlichen  Mittheilungen 
angefiihrten  LokaUtaten  der  Balkanhalbinsel  in  einem  alphabe- 
tischen  Verzeichnisse  zusammengefasst  und  die  entsprechenden 
Punkte  mit  der  Kiepert'schen  Karte  moghchst  in  Beziehung  ge- 
bracht.  Diese  kleine  Zugabe  erhoht  dadurch  noch  den  Werth 
des  kleinen  Werkes,  welches  zumal  fur  diese  unsere  Zeit,  da  die 
BUcke  von  ganz  Europa  auf  Bulgarien  und  den  Balkan  gerichtet 
sind,  und  vielleicht  noch  fiir  kommende  Geschlechter  den  Schleier 
von  geheim  betiiebenen  Machinationen  liiftet,  um  ein  bedeutendes 
und  gibt  Veranlassung ,  dasselbe  fiir  die  weitesten  Kreise  aufs 
warmste  zu  empfehlen. 

Berlin.  Zekeli. 


Drnck  von  Osknr  Bonde  in  Altcnbttrp. 


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Mttheilungen 


rub  der 

historischen  Litteratur 

herausgegeben  von  der 

historischen  Gesellschaft  in  Berlin 

und  in  deren  Auftrage  redigirt 

von 

Dr.  Ferdinand  Hirsch. 


VH  Jahrgang. 


Berlin,  1879. 

Vorlag  von  Rudolph  Gaertner. 

Mohrenatrasje  18/14. 


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Inhalts  -Yerzeicliniss. 


Seite 
Allgemeine    Geschichte    in   Einzeldarstellnngen.      Herausgegeben    von 

W.  Oncken.    Abth.  1,  2.    (Hirsch) 97,  193 

Andre  e,  Ethnographische  Parallelen  trod  Vergleiche.  (Schixmer)      .    .  191 

Ainae  Comnenae  Alexiadis  voh  II  ed.  Reifferscheid.    (Hirseh)   .  133 

Babelon,  Les  demiers  Carolingiens.    (v.  Kalokstein) 118 

Bachmann,  Bdhmen  and  seine  Nachbarlander  nnter  Georg  v.  Podiebrad 

1458-1461.    (Bohm) 812 

Bauer,  Christus  nnd  die  Caeaaren.  (Becker) 11 

Baumg&rtner,  Hermann  v.  Stahleck,  Pfalzgraf  bei  Rhein.    (Bresslau)  24 

Baumgarten,  Ueber  Sleidana  Leben  nnd  Briefwechsel.  (Ermisch)  .  .  145 
▼.  Bernhardi,  Geschichte  Rnsslands  nnd  der  enropfiisohen  Politik  in 

den  Jahren  1814—1881.  m.  (Bafflen) 72 

Bernheim,  Znr  Geschichte  des  Wormser  Concordates.    (George)    .    .  22 

Beyer,  Der  Limes  Saxoni&e  Karls  des  Grossen.    (Meyer) 229 

Bikelas,  Die  Griechen  des  Mittelalters  nnd  ihr  Einflnss  anf  die  euro- 

palsche-  Cnltnr  iibers.  von  W.  Wagner.  (Hirsch) 25 

Bottger,  Wohnsitze  der  Dentschen  in  den  von  Tacitus  in  seiner  Ger- 

mania  beschriebenen  Lande.   (Fobs) 19 

Br  e  a  si  an  nnd  Isaacsohn,   Der  Pall   zweier   prenssischer  Minister 

(Voigt) 346 

B*Ue,  Geschichte  der  Jahre  1871—1877.    I,  II.  (Rodenwaldt)    .    .  79,  375 

v-  Bunge,  Die  Stadt  Riga  im  13.  nnd  14.  Jahrhundert.  (W.  Fischer)  .  308 
Bemetriades,  Die  christliche  Regiernng  und  Orthodoxie  Kaiser  Con- 

stantins  des  Grossen.    (Hirsch) 17 

Bobel,  Memmingen  im  Reformations zeitalter.    (Brecher) 335 

Droysen,  Friedrich  der  Grosse  nnd  Maria  Theresia  nach  dem  Dresdner 

Frieden.   (Hirsch) 278 

Bumichen,  Geschichte  des  alten  Aegyptens.  I.    (Hirsch) 98 

backer,  Geschichte  des  Alterthums.  5.  Anfl.  II.    (Hirsch)  ....  289 

^8li,  Die  Zuricher  Wiedertfiufer  in  der  Reformationszeit.   (Kirchner)  .  52 


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IV  Inhalts-Verzeichniss. 

Seta 
Ewald,  Studien  zur  Ausgabe  des  Registers  Gregors  L  (Lowenfeld)  .  115 
Gerdes,  Die  Bischofswahlen  in  Deutschland  unter  Otto  dem  Grossen 

in  den  Jahren  953—973.    (Ilwof) 283 

Die  Geschichtsschreiber   der   deutschen  Vorzeit    in  deutscher 

Bearbeitung.    Heransgegeben  von  Pertz,  Grimm  etc.    Fortgesetzt 

von  W.  Wattenbach.    Lief.  6,  12,  16,  54,  55.    (Hirsch)  ...    226 
Gindely,  Geschichte  des  dreissigjahrigen  Krieges.    II. III.  (E.Fischer)    150 

Gladstone,  Homer  und  sein  Zeitalter.     (EUger) 4 

Go  the  in,   Politische   und   religiose  Yolksbewegungen   vor   der  Refor- 

mation.   (Bohm) 141 

Hansische   Geschichtsbl&tter.     Heransgegeben   vom  „Verein   fur 

hansische  Geschichte".    II.    (W.  Fischer) 256 

Hegel,  Ueber  den  historischen  "Werth  der  alteren  Dante -Commentare. 

(Hirsch) 247 

Heidenheimer,  Machiavellis  erste  romische  Legation.  (Zermelo)     .     .     44 
y.  Helfert,    Joachim   Murat,    seine   letzten  Kfimpfe   und   sein  Ende. 

(Bailleu) 282 

v.  Hellwald,  Die  Russen  in  Centralasien.   (George) 81 

Hensel,  Die  Familie  Mendelssohn  1729—1847.  (Hirsch) 374 

Huhn,  Geschichte  Lothringens.   (Schirmer) 64 

v.  Inama-Sternegg,  Die  Ausbildung  der  grossen  Grundherrschaften 

in  Deutschland  wahrend  der  Earolingerzeit.  (Bresslau)  ....    231 
Jans  sen,  Geschichte  des  Deutschen  Yolkes  seit  dem  Ansgang  des  Mattel- 
alters  I,  2.  (Schottmiiller) 264 

Justi,  Geschichte  des  alten  Persiens.   (Hirsch) 193 

Eiepert,  Lehrbuch  der  alten  Geographic.    (Hirsch) 103 

Eirchner,  Elsass  im  Jahre  1648.    (E.  Fischer) 269 

Eleinschmidt,  Die  Eltern  und  Geschwister  Napoleons  L  (Bailleu)    .    358 

Eolbe,  Marburg  im  Mittelalter.   (Kirchner) 256 

Eomp,  Fiirstabt  Johann  Bernhard  Schenk  zu  Schweinsberg,  der  zweite 

Restaurator  des  Eatholicismus  im  Hochstift  Fulda.    (Ermisch)    .    147 
Eoppmann,  Eammereirechnungen  der  Stadt  Hamburg.   (W.  Fischer).   262 

Erichenbauer,  Die  Irrfahrt  des  Menelaos.   (EUger) 9 

Euhn,  Ueber  die  Entstehung  der  Stadte  der  Alten.    (Foss)    ....    291 
Lamprecht,  Beitrage  zur  Geschichte  des  franzosischen  Wirthschafts- 

lebens  im  11.  Jahrhundert.  (v.  Ealckstein) 119 

AafinqoSy  At  'A&rjycu  naql  tec  tiXrj  tov  o*<odexarov  altuyog  xava  nrjyag 

avex&ozovg.  (Hirsch) ^     .    .    .     28 

Act  (An  q  6g,   A6yog  ehnzijqiog    elg   to    /udO-Tjfia    zr$    sXXT}yt>xrjg    ttnogiag. 

(Hirsch) 32 

v.  Ledebur,  Ednig  Friedrichl.  von  Preussen.   Beitrage  zur  Geschichte 

seines   Hofes,   sowie   der  Wissenschaiten ,    Eiinste   und   Staats- 

verwaltung  jener  Zeit.   (Holtze) 184 

Lehmann,     Preussen    und    die    katholische    Eirche    seit    1640.     L 

(Isaacsohn) 348 

Lenz,  Die  Schlacht  bei  Miihlberg.   (Rodenwaldt) 389 

Lorenz,  Deutschlands  Geschichtsquellen  im  Mittelalter  seit  der  Mitte 

t  des  13.  Jahrhunderts.    2.  Aufl.    II.    (Meyer) 84 


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Inhalts-Verzeiehniss.  V 

Selte 

Loaaius,   Jftrgen  und    Johan  Uexkiill  im   Getriebe  der  Hvlandischen 

Hofleute.   (W.  Fischer) 263 

Martin,  Beitrage  zur  Geschichte  Bruno's  I.  von  Kolu.  (Ilwof)  .  .  .  235 
Martin,   Das  Leben   des  Prinzen  Albert,   Prinzgemahls   der  Kdnigin 

von  England.    Uebersetzt   von  E.  Lehmann.     I.  bis  HI.  (Gold- 

schmidt) 366 

Miscellaneenzur  Geschichte  Konig Friedrich s  des  Grossen.  (Isaacsohn)  354 
Monumenta     Germaniae    historica,    Auctorum    antiquissimorum 

torn.  II  et  in  pars  1.   (Hirsch) 295 

Morel-Fatio,  L'Espagne  au  16e  et  au  17©  siecle.  (Philippson)  .  .  .  269 
Mailer  nnd  Dandliker,  Lehrbuch  der  allgem.  Geschichte.  (Kirchner)  3 
Nerger,  Die  Goldene  Bulle  nach  ihrem  Ursprunge  nnd  reichsrechtlichen 

Inhalt.  (Meyer) 273 

Peschel,  Abhandlungen  zur  Erd- und  Volkerkunde ,  herausgegeben  von 

J.  Ldwenberg.     Nene  Folge.     (Dasse) 188 

Preussische  Staatsschriften  aus  der  Eegierungszeit  Konig  Fried- 

richs  II.    Bearbeitet  von  K.  Koser.  I.    (Hirsch) 56 

Programmenschau  1878.    (Foss) 1 

Programme nschau.    Alterthnm.   (Foss) 100 

Programmenschau.    Mittelalter.    (Foss) 220 

Programmenschau.    Neue  Zeit.    (Foss) 332 

Querner,  Zur  Frage  nach  der  Glaubwiirdigkeit  Lamberts  von  Hersfeld. 

(Volkmar) 236 

Rausch,  Die  staatsreehtliche  Stellung  Mittelitaliens  unter  Heinrich  VI. 

(Hirsch) 241 

Read,  Le  tigre  de  1560.  (Schadel) .343 

BeusB,  Die   Beschreibung  des  bischof lichen  Krieges  von  1592.    Eine 

Strassburger  Chronik.    (Schadel) 54 

Rezek,  Geschichte  der  Regiernng  Ferdinands  I.  in  Bohmen.  L  (Dwof)  46 
BShricht,  Beitr&ge  zur  Geschichte  der  Kreuzziige.  U.  ^Hirsch)  .  .  126 
Ropertz,   Quellen  nnd  Beitrage  zur  Geschichte  der  Benediktinerabtei 

des  h.  Vitus  in  M.-Gladbach.   (W.  Fischer) 307 

Sara n,   Die  Schwedische  Invasion  in  Enrsachsen  nnd  der  Friede    zu 

Altranstadt.  (Ermisch) 277 

v.  SchlSzer,  General  Graf  Chasot.    (Koser) 281 

Schrador,  Keilinschriften  nnd  Geschichtsforschung.  (Nowack)  .  .  .  105 
▼•  Sflltl,  Das  deutsche  Volk  und  Reich  in  fortschreitender  Entwicke- 

lung.    (Koser) 376 

Stadelmann,  Friedrich  Wilhelm  I.  in  seiner  Thfttigkeit  fur  die  Landes- 

kultur  Preussens.   (Isaacsohn) 352 

Thaer,  Verordnung  Karls  des  Grossen  iiber  die  kaiserlichen  Gnter  oder 

H5fe.    (Meyer) 230 

Villari,  Niccolo  Macchiavelli  und  seine  Zeit.    Uebersetzt  von  B.  Man- 
gold.   I.    (Zermelo) 33 

Fischer,  Kleine  Schriften.    (Winckler) 194 

^ulliemin,  Geschichte  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft,  deutsch 

von  J.  Keller.    (B6hm) 67 

^&itz,  Deutsche  Verfassungsgeschichte.    VIII.    (Hirsch) 302 


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VI  Inhalts  -Verzeickniss. 

BeUe 

We  n  c  k,  Die  Entetehnng  der  EeinhardabrunnerGeschichtsbucher.  (Volkmar)  887 
Woudt,   Die  Nationalitfct   der  Bevolkerung   der  deutschen  Ostmarken 

vor  dem  Beginn  der  Germanisirung.    (Hwof) 118 

Wenzel,  Veranderungen  der  Karto  Europas  seit  1815.   (Kirchner)  .    .  185 

Wenzelburger,  Greschicbte  der  Niederlande.    I.    (Batten)  ....  319 

Werunsky,  Der  erste  Bdmerzug  Kaiser  Karl  IV.    (Kbnig)      ....  136 

Wiegand,  Bellum  Waltherianuin.     (ScMdel) 252 

Wigger,  Geschichte  der  Familie  Blucher.    IL,  1.    (Bach) 359 

Wiponis  gesta  Cbuonradi  II  ceteraqne  quae  supers  out  opera,    ecL  2. 

recogn.  H.  Bresslau.   (Hirscb) 21 

Z earner,   Die   deutsdien  Stadtesteuern ,   insbesondere   die   stadtiachen 

Reichssteuern  im  12.  und  13.  Jahrhundert    (Bresslau)  ....  243 
t.  Zwiedineck-Stidenhorst,   Uober  den  Versuch  einer  Translation 

des  deutschen  Ordens  an  die  ungarische  Grenze,   (Meyer)  ...  267 


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I. 
Programmenschau  1878. 

1)  GeschichteTarentsbisaufdieUnterwerfung 
uoter  Rom  von  Dr.  Doehle,  Oberlehrer.  Beilage 
zum  Programm  des  Kaiserl.  Lyceums  zu  Strass- 
burg  i.  E.  187  7. 

Der  Verfasser  bespricht  im  ersten  Theile  der  Arbeit  zuerst 
die  Quellen  fiir  die  Geschichte  der  Stadt,  die  sich  alle  auf  die 
Werke  des  Antiochus  von  Syracus  und  des  Ephorus  zuruckfuhren 
laasen.  An  die  Griindungsgeschichte  kniipft  sich  die  Frage  nach 
der  Bedeutung  der  IlaQ&eviat,  und  der  des  Oikisten  Phalanthos. 
Diesen  Namen  erklart  der  Verf.  als  einen  Zunamen  des  Poseidon, 
so  wie  den  Namen  Tarent  gleich  6  Tdgag  und  dies  bedeute  nach 
dem  Verf.  eine  dem  Poseidon  geweihte  Stadt. 

Der  zweite  Theil  bringt  das  eigentlich  Historische  und  zwar 
in  drei  durch  die  Natur  der  Dinge  bedingten  Abtheilungen.  Zuerst 
die  Herr8chaft  der  Konige  und  Altbiirger  bis  zum  J.  473,  dann 
die  Bliitezeit ,  die  gemassigte  Herrschaft  des  Volkes ,  zuletzt  die 
Zeit  der  ziigellosen  Democratic,  welche  den  Untergang  der  Frei- 
heit  im  J.  272  verschuldet. 

2)  Kaiserliches  Lyceum  in  Colmar.  „Ueber  die 
Quellen  Plutarchs  in  der  Biograp hie  Alexanders" 
von  Dr.  A.  VogeL     Colmar  1877. 

Das  Resultat  der  Detailuntersuchung  wird  S.  17  so  formulirt : 
^Plutarch  hat  fast  ausschliesslich  nach  jiingern  Werken 
gearbeitet.  Diese  stiitzen  sich  zu  einem  Theile  auf  wol  beglau- 
bigte,  altere  Zeugnisse,  speziell  auf  Aristobulos  und  Onesikritos, 
folgen  aber  an  andern  Stellen  auch  der  minder  glaubwiirdigen 
Ueberheferung ,  als  deren  Hauptvertreter  Kleitarchos  betrachtet 
vird.  Dieses  Urteil  trifft  nicht  nur  das  anon}rme  Sammelwerk 
wid  Satyros,  sondern  auch  die  sogenannten  Briefe  Alexanders. 
Es  folgt  daraus,  dass  der  Inhalt  der  plutarchischen  Biographie 
Alexanders  als  eine  im  Einzelnen  mit  Vorsicht  zu  benutzende, 
im  Ganzen  aber  keineswegs  zu  verachtende  Erganzung  der 
grb8seren  Werke  anzusehen  ist.u 

3)  Gymnasium  in  Buschweiler.  1876/77.  Ueber 
Marsilius  von  Padua.  1.  Theil.  Oberlehrer 
Dr.  Schockel.     Strassburg  1877. 

Von  diesem  interessanten  Vorkampfer  der  staatlichen  Frei- 
heit  gegeniiber  den  Anmassungen  der  Papste  wissen  wir  leider 
nicht  vieL  Wir  wissen,  dass  er  ein  Franciscaner  gewesen  und 
i&  dem  Streite  Ludwigs  des  Baiern  mit  dem  Papste  die  Partei 
dea  Kaisers  genommen  und  dessen  Sache  namentlich  in  seinem 
"^rke;  defensor  pacis  vertheidigt  hat. 

Mtttheilangeu  a.  <L  hlstor.  Llttcratur.    VU  1 

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2  Programmenschau  1878. 

4)  Fiirstlich  Waldecksches  Landesgymnasium 
zu  Corbach.  1876/77.  Prof.  Dr.  Hermann  GentheT 
Director.  Vom  Director:  Alterthiimer  aus  Wal- 
deck  und  Pyrmont.     Mengeringhausen.     1877. 

Der  Verf.  hat  seine  Untersuchung  mit  verstandiger  Ruhe 
angestellt  und  halt  sich  ganz  frei  von  dem  sturmischen  Local- 
patriotismus ,  .der  in  jedem  noch  so  elenden  Flintenstein  einen 
Beweis  fur  die  Existenz  von  der  Cultur  prahistorischer  Menschen 
findet. 

Zuerst  wird  die  Lage  und  die  Zugehorigkeit  des  Landes  zu 
drei  Gauen  auf  der  Grenze  der  Sachsen  und  Franken  festgestellt, 
dann  weist  der  Verf.  nach,  dass  man  bis  ins  12.  scl.  81  bewohnte 
Platze  aufzahlen  kann,  also  noch  vor  der  Zeit,  ehe  die  Dorfer 
in  die8eh  Gegenden  sich  bildeten.  Von  diesen  81  Platzen  be- 
stehen  20  nicht  mehr.  Zuletzt  bespricht  er  die  einzelnen  Alter- 
thiimer, die  man  gefunden. 

5)  Stadtisches  Katholisches  Gymnasium  zu 
Beuthen  O.-S.  1876/77.  Director  Wentzel.  Ueber 
die  geographische  Lage  und  Entwick  elung  der 
Stadt  Beuthen  in  Ober-S  chlesien  von  Dr.  Ed- 
mund Franke,  Gymnasiallehrer.  Beuthen  O.-S. 
1877. 

Es  ist  gewiss  hochst  interessant  und  sehr  anzuerkennen, 
dass  ein  Geschichtslehrer  an  einem  katholischen  Gymnasium  es 
unternimmt,  in  objectiver  Darstellung  zu  zeigen,  welchen  Segen 
und  welches  Heil  bornirtem  katholischem  Fanatismus  und  sla- 
vischer  Sorglosigkeit  gegeniiber  ein  verniinftiges  evangelisches 
und  deutsches  Regiment  verbreitet.  Der  Verf.  hat  ein  sehr  ver- 
dienstvolles  Unternehmen  gewagt  und  hatten  wir  gewiinscht,  dass 
er  statt  der  summarischen  Uebersicht  eingehender  noch  die 
Sache  behandelt  hatte.  Doch  wollte  das  der  Verf.  nicht,  eT 
wollte  nur  einen  Ueberblick  gewahren  und  das  ist  ihm  gelungen. 

Zunachst  schildert  er  richtig  und  verstandnissvoll  die  Lage 
Beuthens,  die  es  auf  der  Wasserscheide  der  Oder  und  Weichsel 
einnimmt,  und  weist  aus  der  Lage  und  Bodenbescbaffenheit 
richtig  die  Bedeutung  des  Ortes  nach. 

Dann  folgt  eine  kurze  geschichtliche  Uebersicht,  die  inter- 
essant wird  mit  dem  Jahre  1632,  in  welchem  die  Grafen  Henkel 
diese  Besitzung  erhielten.  Wenn  auch  nur  kurz,  so  wird  doch 
hinreichend  klar  geschildert ,  welch'  ein  Unheil  die  katholisch- 
jesuitisch-polnische  Reaction  war,  als  sie  nach  dem  Siege  Ferdi- 
nands II.  iiber  die  Stadt  hereinbrach.  Erst  Friedrich  d.  Gr. 
machte  der  Wirthschaft  ein  Ende  und  bessere  Zeiten  begannen- 

6)  Materialien  zu  einer  Geschichte  der  Stadt 
Meseritz.  II.  Beitrag:  Kirche  und  Schule  von 
dem  Rector  Dr.  Adolf  Sarg.  Progymnasium  sn 
Tremessen.     1877. 

Den  ersten  Theil  dieser  Arbeit  haben  wir  schon  friiher 
angezeigt.    Dieser  zweite  beginnt  mit  der  Einfuhrung  der  Refor- 


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Muller  u.  D&ndliker,  Lehrb.  der  allgem.  Geschichte  etc.  3 

mation  und  schildert  dann  die  darauf  folgende  katholische 
Reaction,  die  Umtriebe  der  Jesuiten,  den  Uebermuth  der  pol- 
nischen  Edelleute  und  die  endliche  Erlosung.  Wir,  die  wir  aus 
jenen  Gegenden  Btammen,  kennen  polnische  Wirthschaft  zur 
Geniige;  wer  sie  aber  nicht  kennt  und  etwa  fur  die  edle  unter- 
driickte  Nation  schwarmt,  der  moge  bier  die  autbentiscben  Be- 
lege  dafiir  lesen,  dass  eine  solche  Nation  es  verdient,  auf  den 
Aussterbeetat  gesetzt  zu  werden. 

7)  Realschule  zuForbach  (Lotbringen)  1876/77. 
Dr.  Atorf.  Die  Geschichte  der  friiher^n  Herr- 
schaft  Forbach.    Saarbriicken  1877. 

Die  Triimmer  der  Burg  Forbach  liegen  auf  dem  340  Meter 
hohen  Schlossberge.  Die  erste  Nachricht  von  diefeer  Herrscbaft 
stammt  aus  dem  Jabre  1070,  da  geborte  sie  zu  Oberlothringen. 
Damals  kam  die  Herrschaft  an  die  Abtei  Vanne,  spater  an  einen 
weltlichen  Herrn.  Im  13.  scl.  ist  sie  im  Besitze  der  Grafen 
Rixingen,  gegen  Ende  des  15.  in  dem  der  Leiningen,  seit  1756 
besass  sie  der  Herzog  von  Pfalz  -  Zweibriicken ,  der  sie  seiner 
morganatischen  Gemahlin  zuwies.  In  der  franzosischen  Revolution 
wurden  sie  dieser  geraubt. 

Berlin.  *        Foss. 

IL 
Mii Her,  J.  ). ,  und  D&ndliker,   K.,   Lehrbuch  der  allgemeinen 

Geschichte  fiir  hohere  Volksschulen,  sowie  zur  Selbstbelehrung. 

Zweite  umgearb.  Aufl.    gr.  8.     (XV  u.  360  S.)    Zurich  1878, 

Fr.  Schulthess.     3,60  M. 

Das  vorliegende  Buch  ist  eine  vollstandige  Neubearbeitung 
der  Weltgeschichte  von  Kottinger.  Hauptzweck  dabei  war,  die 
geschichtlichen  Erscheinungen  in  ihrem  ursachlichen  Zusammen- 
hange  und  in  ihrer  continuirlichen  Verkettung'darzustellen.  Dabei 
kam  es  besonders  darauf  an,  dass,  ohne  einen  einseitig  nationalen 
Standpunkt  festzuhaJten,  die  treibenden  Ideen  einer  Zeit  in  alien 
ihren,  oft  unerwarteten  und  zerstreuten  Aeusserungen  verfolgt 
wurden.  Wenn  auch  das  Buch,  wie  jedes  gute  Schulbuch,  den 
Lehrer  nicht  iiberfliissig  macht,  so  sind  doch  die  Wendepunkte 
der  Geschichte  ausfiihrlich  dargestellt,  Nebensachliches  an  Zahlen 
und  Daten  dagegen  moglichst  fortgelassen. 

Sehr  zu  loben  ist  der  Verfasser  Bestreben,  alles  Unwahre 
und  Sagenhafte  zu  vermeiden.  Denn  man  kann  der  Jugend 
nicht  friih  genug  die  Wahrheit  mittheilen ,  sie  hat  ja  ohnedies 
soviel  falsche  Vorstellungen  im  Laufe  ihrer  Entwickelung  erst 
abzulegen  und  zu  verlernen.  Auch  darin  stimmen  wir  den  Ver- 
fassern  vollig  bei,  dass  sie  nicht  hauptsachlich  Kxiege  und  Staats- 
actionen  berichten  wollen,  sondern  Ctdturgeschichte.  Daber 
haben  sie,  deren  Hauptziel  ist ,  die  Bildung  ihres  Volkes  zu  be- 
fordern ,  wohl  ein  Recht,  Voltaire's  schones  Wort  aus  dem  Essai 
gur   les   moeurs  et  r  esprit  des  nations  zur  Devise  zu  wahlen: 

1* 

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4  Gladstone,  Homer  und  sein  Zeitalter. 

Je  considere  done  ici  en  general  le  sort  des  homines  plutot  que 
les  revolutions  da  trone.  Mon  but  est  toujours  d'observer  Fesprit 
du  temps;  e'est  lui  qui  dirige  les  grands  evenements  du  monde. 
Die  neueste  Geschichte  bis  1877  ist  beriicksichtigt ,  beson- 
ders  darin  die  wissenschaftlichen ,  commerciellen  und  socialen 
Bestrebungeu.  Den  Schluss  des  Buches  bildet  eine  eigenthum- 
lich  gearbeitete  chronologische  Uebersicht.  Dieselbe  soil  nicht 
wortlich  „eingepaukt" ,  sondern  durchgearbeitet  und  so  den 
Schulern  angeeignet  werden,  und  zwar  ganz  allmahlich  und 
durch  ZusammensteUung  ahnlicher,  oder  einander  bedingender 
Ereignisse  (z.  B.  1046,  1077,  1215,  1245,  1303). 

Wir   konnen   daher   das   Buch   nach   Inhalt  und  Form  nur 
empfehlen. 
Berlin.  Lie.  Dr.  Friedr.  Kirchner. 


m. 

Gladstone,  W.  E. ,  Homer  und  sein  Zeitalter.  Eine  Unter- 
suchung  iiber  die  Zeit  und  das  Vaterland  Homers.  Autori- 
sirte  und  auf  Veranlassung  des  Verfassers  ubertragene  deutsche 
Ausgabe  von  Prof.  Dr.  D.  Bendan.  gr.  8.  (XXV,  315  S.) 
Jena  1877.     H.  Costenoble.     6  M. 

Nach  dem  Verf.  (p.  3)  ist  das  Studium  der  homerischen 
Gesange  so  mannigfaltig,  schlagt  es  in  fast  jedes  Gebiet  der 
lebenden  und  bleibenden  Interessen  der  Menschheit  ein,  dass  er 
es  von  dem  gewohnlichen  Studium  der  griechischen  Schriftsteller 
trennen  und  eine  besondere  Homerologie  annehmen  zu  miissen 
glaubt.  Ein  Blick  auf  die  Verschiedenartigkeit  und  Menge  der 
literarischen  Erscheinungen ,  welche  sich  in  den  letzten  Jahren 
iiber  Homer  aufgehiiuft  haben,  zeigt  allerdings,  dass  der  Ver- 
fasser  mit  seiner  Behauptung  nicht  Unrecht  hat.  Aber  er  selbst 
hat  gleich  von  vorn  herein  unterlassen,  eine  aus  den  angefuhrten 
Thatsachen  sich  ergebende  Folgerung  zu  ziehen.  Wenn  in  der 
Homerologie  sich  die  verschiedensten  Richtungen  der  Wissen- 
schaft  vereinigen,  so  ist  bei  der  Unzulanglichkeit  des  zu  Grunde 
liegenden  Materials  nur  dann  ein  fur  die  Wissenschaft  belang- 
reiches  Resultat  zu  erwarten,  wenn  mit  moglichster  Beherrschung 
aller  dieser  Richtungen,  soweit  sie  fiir  Homer  in  Betracht 
kommen,  eine  strenge  Methode  des  Urtheils  sich  verbindet.  So 
verlockend  die  Homerologie  fiir  den  Dilettantismus  ist,  ebenso 
ungeeignet  ist  sie  auch  fiir  ihn.  Hatte  der  Verf.  diese  Erwagung 
angestellt,  so  wiirde  er  es  sich  versagt  haben,  ein  neues  Bach 
iiber  Homer  zu  schreiben. 

Denn  auch  Gladstone  ist  fiir  die  Homerforschung  nichts 
mehr  als  ein  Dilettant,  so  bedeutend  auch  die  Autoritat  des 
beruhmten  Staatsmanns  auf  andern  Gebieten  sein  mag.  Den 
Unterschied  zwischen  Epos  und  historischer  Urkunde  liisst  er 
vollig  unbeachtet;  er  vergisst  die  freischaffende  Phantasie  des 
dichtenden  Volksgeistes  und  behandelt  Zahlen,  Genealogien  u.  &  w. 


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Gladstone,  Homer  und  sein  Zeitalter.  '  5 

in  den  homerischen  Gedichten  als  historische  Wahrheit.  Dabei 
hat  er  keine  Ahnung  von  den  Veranderungen,  die  der  homerische 
Text,  mag  er  auch  von  noch  so  conservativem  Standpunkt  ange- 
sehen  werden,  erfaliren  haben  muss.  Ein  Widerspruch  z.  B. 
mit  dem  Schiffscatalog  wird  p.  93  ohne  Weiteres  einem  Wider- 
spruch gegen  den  Dichter  selber  gleich  gesetzt.  Cf.  p.  84  f.  In 
Bezug  auf  seine  Method e  erklart  er  zwar  p.  2,  er  habe  sich  be- 
strebt,  zwischen  Sicherem  und  Wahrscneinlichem,  zwischen  Wissen 
mid  Vermuthen  sorgfaltig  zu  unterseheiden ,  leider  aber  ist 
ihm  dies  keineswegs  gelungen.  Seine^  Schliisse  zieht  er  meist 
aus  Urtheilen ,  denen  nur  die  Qualitat*  der  Moglichkeit  zu- 
kommt;  dabei  gehen  ihm  auch  diese  Urtheile  selber  oft  unver- 
merkt  in  solche  der  Wirklichkeit  ocfer  Nothwendigkeit  iiber. 
Yor  allem  aber  lasst  er  seiner  Phanta,sie  freien  Lauf ,  so  dass 
das  Resultat,  welches  wir  schliesslich  erhalten,  nicht  ein  Beitrag 
zur  altesten  griechischen  Geschichte,  sondern  ein  eitles  Luft- 
gebilde  ist. 

Den  Kern  des  Buches  bilden  zwi  im  Contemporary  Review 
in  den  Monaten  Juli  und  August  1874  erschienene  Abhandlungen 
des  Verfassers.  Es  zerfallt  demnach  in  zwei  Theile,  die  mit 
einander  in  nur  geringem  Zusammenhang  stehen. 

Der  erste  Theil  ist  durch  die  Funde  Schliemanns  veranlasst 
worden  und  schliesst  sich  im  Wesentlichen  an  G.  v.  Ecken- 
brechers  Arbeit  iiber  die  Lage  des  homerischen  Troja  an.  Im 
1.  Cap.  wird  nachzuweisen  versucht,  dass  die  Anhaltspunkte, 
welche  die  homerischen  Gedichte  fur  ein  Urtheil  iiber  die  Lage 
von  Troja  gewahren,  auf  Hissarlik  deuten  und  nicht  auf  Bunar- 
baschi.  Im  2.  Cap.  findet  der  Verf.,  dass  dieses  Resultat  durch 
die  von  Schliemann  auf  Hissarlik  gefundenen  Alterthiimer  be- 
statigt  werde.  Mit  Schliemann  ist  er  der  naiven  Ueberzeugung, 
<^s  derselbe  die  Poseidonische  Mauer,  das  Skaische  Thor,  den 
Palast  des  Priamus,  den  grossen  Thurm  von  Troja,  die  3chon 
gepflasterte  Strasse  nach  dem  Skaischen  Thore,  ja  sogar  von 
dem  II.  22,  468  ff.  beschriebenen  Kopfschmuck  der  Andromache 
die  atu7tv^  und  die  ithewtrj  avadia(xrj  u.  a.  m.  wieder  gefunden 
babe.  Wenn  die  Uebereinstimmung  zwischen  den  in  Hissarlik 
bios  gelegten  Gegenstanden  und  den  in  den  Gesangen  beschrie- 
benen keine  vollstandige  sei,  so  komme  dies  daher,  dass  Homer 
die  Stadt  erst  besucht  habe,  als  sie  bereits  niedergebrannt  ge- 
wesen  sei,  und  deshalb  zwar  noch  die  massiveren  Spuren  und 
Reste,  aber  nicht  mehr  die  tragbaren  und  beweglichen  Gegen- 
atande  gesehen  habe.  Im  3.  Cap.  wird  die  Ansicht  vertreten, 
dass  Homer  ein  europaischer  Grieche  gewesen  sei  und  vor  der 
dorischen  Wanderung  gelebt  habe.  Weil  dieser  Ansicht  der 
Hymnus  an  den  Delischen  Apollo  widerspricht,  bemiiht  sich  der 
Verf.  zuletzt  in  einem  4.  Cap.,  denselben  als  nicht  von  Homer 
gedichtet  zu  erweisen,  ein  Bemiihen,  das  er  sich  hatte  ersparen 
tonnen,  wenn  er  die  Literatur  der  Deutschen  Gelehrten  iiber 
die8en  Gegenstand   auch  aus   der  neueren  Zeit  und  nicht  bios 

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6  Gladstone,  Homer  und  sein  Zeitalter. 

Matthiae  und  Ilgen  gekannt  hatte.  —  Die  ersten  3  Capitel  des 
ersten  Theils  beweisen  nicht,  was  sie  beweisen  sollen,  das  letzte 
wiederholt  einen  Beweis,  der  schon  langst  gefiihrt  ist,  ohne  etwas 
Neues  hinzuzufiigen. 

In  dem  zweiten  umfangreicheren  Theil  sucht  der  Vert  Er- 
gebnisse  aus  der  modernen  Aegyptologie  fiir  die  Homerforschung 
zu  gewinnen.  In  einem  ersten,  mehr  chronologisch  -  politischen 
Capitel,  in  welchem  er  sich  wesentlich  auf  die  Forschungen  der 
franzosischen  Gelehrten  Lenormant,  De  Rouge,  Chabas  stiitzt, 
gelangt  er  zu  dem  Resultat,  dass  der  trojanische  Krieg  1316  bis 
1307  v.  Chr.  durchgekampft  worden  sei;  in  einem  zweiten,  mehr 
culturhistorischen  Capitel,  in  welchem  er  besonders  Lauths 
„Homer  und  Aegypten"  beniitzt,  sucht  er  die  agyptischen  Ele- 
mente  in  den  homerischen  Gedichten  festzustellen.  Ret  muss 
gestehen,  dass  ihm  schon  diese  Gewahrsmanner  auf  dem  ange- 
fuhrten  Forschungsgebiet  mehr  als  bedenklich  erscheinen. 

Was  im  ersten  Capitel  die  historische  Verwerthung  der 
agyptischen  Inschriften  anlangt,  so  scheint  sie  ihm  gegenwartig 
noch  an  zwei  Gebrechen  zu  leiden.  Zunachst  steht  theils  in 
Folge  von  Eigenthiimlichkeiten  der  Schrift,  theils  ungeniigender 
Lesung  in  vielen  Fallen  der  inschriftliche  Text  nicht  fest.  So 
ist  es  zweifelhaft,  ob  auf  der  Inschrift  Rameses  II.  Drdni  oder 
Dldni  oder  Dndni  zu  lesen  ist,  ob  Huna,  Iruna,  Aluna,  Aruna 
gesprochen  werden  muss.  (Cf.  hieriiber  wie  iiber  das  Folgende 
den  Jahresbericht  fiir  griech.  Geschichte  von  Volquardsen  im 
4.  Jahrg.  der  Jahresber.  iiber  die  Fortschr.  der  class.  Alter- 
thumswissensch.)  Sodann  aber  ist  es  em  falschliches  Bestreben, 
besonders  der  genannten  franzosischen  Gelehrten,  die  so  zum 
Theil  nur  vermutheten  Namen  mit  solchen,  die  aus  ausser- 
agyptischen  Urkunden  behannt  sind,  und  zwar  mit  moglichst 
beruhmten  zu  identificiren.  Als  ob  wir  nicht  vielmehr  von  rorn 
herein  annehmen  mussten,  dass  entsprechend  der  Zeit  und  dem 
Ort  der  agyptischen  Demkmaler  die  in  ihnen  erwahnten  Nameu 
uns  zum  grossen  Theil  als  sonst  unbekannt  zu  gelten  hatten. 
Zwar  behauptet  Lenormant,  aile  Aegyptologen  stimmten  diesen 
Identificirungen  bei,  doch  Brugsch  hat  sich  entschieden  dagegen 
erklart.  Wenn  er  freilich  z.  B.  jenes  oben  erwahnte  Didni 
oder  Dldni  oder  Dndni,  dessen  Erklarung  durch  Dardaner  den 
Franzosen  zweifellos  ist,  als  das  in  den  Keilinschriften  erwahnte 
Danildan  liest,  so  verfallt  er  in  denselben  Fehler,  alles  wissen 
zu  wollen.  A.  v.  Gutschmid  hat  mit  grossem  Recht  zur  Vor- 
sicht  den  Assyriologen  gegenuber  gemahnt,  doch  auch  den 
Aegyptologen  scheint  zum  Theil  die  ars  nesciendi  abhanden  ge- 
kommen  zu  sein. 

Auf  einer  solchen  Grundlage  nun  baut  Gladstone  zum  Theil 
noch  unsicherere  Pramissen  auf,  urn  zu  Schliissen  iiber  die  Zeit 
des  Trojanischen  Krieges  zu  gelangen.  Die  wichtigsten  sind 
folgende: 

1)  In  der  Inschrift  Rameses  IL  d.  i.  ungefahr  1406  v.  Chr. 

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Gladstone,  Homer  trad  sein  Zeitalter.  7 

kommen   die  schon  mehrfaoh  erwahnten  Drdni  oder  Dldni  oder 
Dndni  d.  i.  die  Dardaner  vor.     Dardaner   aber  hiessen  die  Ein- 
wohner  der  Troas  wahrscheinlich  nur  60  Jahre  lang,  nanilich  in 
den  Zeitaltern   des   Dardanos   nnd   Erichthonios ,   da  unter  des 
letzteren  Sohn  Tros  der  Name  Troer  dafiir  eintrat ;  also  hat  die 
Herrschaft  des  Dardanos ,  je   nachdem   das  in  der  Inschrift  er- 
wahnte  Ereigniss   in  den  Anfang  oder  das  Ende  dieses  sechzig- 
jahrigen  Zeitraums  fallt,  in  den  Jahren  1466 — 1406  v.  Chr.  be- 
gonnen.     Nun   gehort   Dardanos   aber   nach  der  von  Homer  ge- 
gebenen  Genealogie  der  7.  Generation  vor  Hector,  Paris,  Aineias 
an,  hat   also   ungefahr    180  Jahre  vor  dem  Trojanischen  Krieg 
gelebt,  folglich  fallt  der  Trojanische  Krieg  zwischen  1286 — 1226* 
Fieilich  nimmt  Lenormant  an,  dass  die  in  der  Inschrift  genannten 
Dardaner  die  Dardaner  von  Ilios  waren.     Ilios  ist  aber  erst  von 
JIos,  dem  Sohne  des  Tros ,  erbaut  worden.     Fallt  also  das  Jahr 
1406  in  die  Generation  des  Ilos,  so  muss  der  Regierungsantritt 
des  Dardanos  wenigstens  urn  eine  Generation  friiher  gesetzt  wer- 
den.   Urn    daher    auch    diese    Moglichkeit    zu    beriicksichtigen, 
werden  als   zeitliche  Grenzen  fur  den  Troischen  Krieg  die  Jahre 
1316  und  1226 'v.  Chr.  angenommen. 

2)  Unter  Merepthah  ungefahr  1345  v.  Chr.  werden  die 
Achaiusha  erwahnt.  Dies  sind  die  Achaer.  Achaer  aber  hiessen 
die  Griechen  nur  etwa  100  Jahre  lang  vor  und  nach  dem 
Trojanischen  Kriege.  Wahrscheinlich  fallt  somit  der  Trojanische 
Krieg  50  oder  60  Jahre  nach  jenem  Datum,  darnach  also 
1345-1285  v.  Chr. 

3)  Unter  Ramses  HI.  1306  werden  die  Daanau  genannt. 
Dies  sind  die  Danaer.  Nun  fuhrten  die  Griechen  diesen  Namen 
allerdings,  ehe  der  Name  Achaer  gebrauchlich  wurde.  Doch 
iann  man  auch  annehmen,  dass  man,  nachdem  der  Achaische 
Name  ausser  Gebrauch  gekommen  war,  aus  Noth  den  alten 
Namen  Danaer  wieder  hervorsuchte.  Hiernach  ist  somit  der 
Trojanische  Krieg  in  die  Jahre  1387—1307  zu  verlegen. 

Vergleicht  man  diese  dreifachen  Zeitgrenzen,  so  findet  man, 
<k8s  gerade  die  10  Jahre  1316  — 1307  fur  den  Trojanischen 
Krieg  alle  Berechnungen  befriedigen  (p.  223). 

Was  von  dem  Verf.  sonst  noch  in  diesem  Capitel  angefiihrt 
^d,  soil  wohl  nur  zur  Bestatigung  dieses  Ergebnisses  dienen. 
Die  Troica  fanden  darnach  zur  Zeit  der  Thebanischen  Monarchic 
stett;  diese  reichte  aber  annahernd  von  1530  — 1100.  Ferner 
sollen  die  Homerischen  Gedichte  der  Periode  bis  1209  angehoren, 
^  der  Sidon  den  Vorrang  in  Phonicien  behauptete  und  noch 
aicht  von  Tyros  iiberfliigelt  worden  war;  denn  von  Tyros  findet 
aich  keine  Spur,  als  dass  „Tyro  die  Grossmutter  Nestors  und 
eia  Abkommling  von  Poseidon"  war  (!  I).  Wir  werden  una  daher 
aach  nicht  mehr  wundern,  dass  nach  Gladstone  Memnon  ein 
Keteier  ist,  diese  aber  den  Kheta  in  der  Inschrift  Barneses  H. 
gleich  zu  setzen  sind,  dass  die  Legende  des  Pseudo  -  Odysseus 
^hts  weiter   ist  als   eine   Entlehnung  aus  dem  Feldzug  gegen 


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8  Gladstone,  Homer  und  sein  Zeitalter. 

Mereptbah,  dass  die  Fahrt  des  Sekiffes  Argo  gegen  Colchis  darum 
unternommen  wurde,  weil  die  Colchier  zur  Race  der  National- 
feinde  Griechenlands ,  der  Aegypter,  gehorten,  dass  die  Ver- 
herrlichung  Achills  das  Echo  ist  der  in  dem  Pentaour  von 
Rameses  II.  erzahlten  Kriegsthaten,  dass  aber  auch  dieses  „unge- 
heuern  Wolliistlings"  166  Kinder,  von  denen  59  Sohne  waren, 
das  Vorbild  zu  den  50  Sohnen  und  der  nirgends  genau  ange- 
gebenen  Zahl  von  Tochtern  des  Priamus  abgegeben  haben. 

Griechenland  ist  namlich  dem  Verf.  zur  Zeit  der  agyptischeE 
Seeherrschaft  eine  agyptische  Provinz;  die,Aeoliden,  welche  mit 
dem  nicht-hellenischen  Titel  aval;  avdqtov  bekleidet  sind  (p.  229) 
und  meistentheils  dem  Poseidondienst  anhangen,  sind  die  agypti- 
schen  Statthalter  oder  Satrapen;  der  Zug  der  Sieben  gegen 
Theben,  der  Angriff  der  Epigonen,  die  Argonautenfahrt,  die  aof 
den  agyptischen  Denkmalern  vermeintlich  erwahnten  Einfalle  in 
Aegypten  sind  die  nationalen  Befreiungskriege  von  der  agypti- 
schen Weltherrschaft.  Dass  von  diesem  allem  die  Homerischen 
Gedichte  nichts  wissen,  zum  Theil  sogar  auf  das  Gegentheil 
deuten,  darin  wird  jeder  Unbefangene  dem  Ref.  beistimmen.  Wie 
jedoch  Gladstone  p.  153  den  Einwand  Rawlinsons,  dass  die 
Achaer  und  Lakonier  selbst  zur  Zeit  Homers  von  fremden  Schiffen 
in  Griechischen  Gewassern  ausser  den  Phonicischen  nichts  wussten, 
zugeben  kann,  ist  unverstiindlich.  Freilich  behauptet  er  p.  216 1, 
Homer  habe  in  Folge  seines  starken  Gefiihls  fur  Griechenland 
und  das  Griechenthum  die  directen  Zeichen  seiner  friiheren  Be- 
ziehungen  zu  Aegypten  unterdriickt v  oder  so  viel  als  moglich 
reducirt;  doch  hieraus  scheint  nur  hervorzugehen ,  dass  dem 
Verf.  die  Eigenart  der  Homerischen  Poesie  noch  ein  Rathsel  ist 

Diesem  ersten  Capitel  entspricht  das  zweite  iiber  Homers 
agyptisches  Wissen.  Dass  die  Griechen  manches  Cultarelement 
aus  Aegypten,  wenn  auch  nur  im  seltensten  Falle  direct,  iiber- 
kommen  haben,  dass  auch  in  den  homerischen  Gedichten  Spuren 
davon  sich  finden  mogen,  soil  nicht  geleugnet  werden.  Aber  ist 
denn  jede  Aehnlichkeit  in  der  Religion,  in  den  Sitten  nnd 
Gebmuchen  zweier  Volker  ohne  Weiteres  auf  Entlehnung  zuriick- 
zufuhren?  Konnen  nicht,  zumaJ  in  allgemein  menschlichen  An- 
schauungen  und  Handlungen,  zwei  Volker  auch  unabhangig  von 
einander  auf  dasselbe  treffen?  Nach  Gladstone  ist  dies  kaum 
der  Fall.  Homers  agyptisches  Wissen,  das  er  sich  besondew 
an  den  Hofen  der  agyptischen  Aeolidten  erworben  hat,  ist  von 
einer  Ausdehnung,  die  wohl  noch  niemand  geahnt  hat.  Es  wiirde 
dem  Zwecke  dieser  Zeitschrift  nicht  entsprechen,  alle  die  Einzel- 
heiten,  welche  vorgefuhrt  werden,  besonders  durchzugehen.  Wirk- 
liche  Beweiskraft  gewinnt  in  diesem  Ensemble  keine  einzige 
Erorterung.  Zum  Schluss  werden  noch  besonders  etymologische 
Deutungen  griechischer  Worter  aus  agyptischen  nach  Lantb 
gegeben.  Als  Beispiel  will  ich  nur  eine  der  letzten  anfuhreiL 
Der  Verf,  findet  es  geistreich,  dass  Lauth  das  homerische  (5  ^roVrw 

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.  Krichenbauer,  Dio  Irrfahrt  des  Menelaos.  9 

von   dem  Konig   Pupui    ableitet,    der    „den   wundervollen   See 
Moeris  machteu. 

Auf  eine  nahere  Beurtheilung  einzugehen ,  darf  ich  mir 
wohl  erlassen.  Ich  glaube,  das  Angefiihrte  geniigt,  urn  zu  be- 
weisen,  dass  mein  oben  ausgesprochenes  Urtheil,  Gladstone  hatte 
das  Buch  nicht  schreiben  sollen,  begriindet  war.  Merkwiirdiger 
Weise  ist  auch  die  Uebersetzung  in  das  Deutsche  hochst  mangel- 
haft.  Die  Wahl  der  Ausdrucke  und  Wendungen,  die  Beziehung 
der  Pronomina,  die  Wortstellung,  die  Satzgliederung  macheri  dem 
Uebersetzer  noch  grosse  Schwierigkeiten.  Statt  weder  .  .  .  noch 
braucht  er  z.  B.  die  Partikelverbindung  weder  ,  .  .  oder.  Da 
auch  eine  grosse  Menge  von  Druckfehlern  hinzukommt,  so  lasst 
act  nicht  einmal  sagen,  dass  das  Buch  sich  bequem  lese. 
Berlin.       '  G.  Ellger. 


IV. 
Krichenbauer ,  Anton,  Die  Irrfahrt  des  Menelaos,  nebst  einem 
Anhange  zur  Aufklarung  iiber  die  Rosenfinger  und  den  Safran- 
mantel  der  Sonne.  Progr.  des  k.  k.  Gymnasiums  in  Znaim. 
1877.  8.  (32  S.) 
Die  Fortschritte  der  modernen  Wissenschaft  werden  immer 
8taunenswerther.  Wer  hatte  je  gedacht,  dass  die  Griechen  schon 
in  der  Mitte  des  15.  Jahrh.  v.  Chr.  das  Kathsel  der  Umschiffung 
Afrikas  gelost  batten?  A.  Krichenbauer  hat  es  bewiesen.  Ja, 
es  muss  sogar  eine  allgemeine  Begeisterung  fur  die  Losung  dieses 
geographischen  Problems  unter  den  Griechen  der  damaligen 
Zeit  bestanden  haben.  Zwar  hat  nur  Odysseus  allein  das  Werk 
wklich  vollendet,  wie  der  Verf.  in  seiner  friiheren  Schrift  „Die 
Irrfahrt  des  Odysseus  als  eine  Umschiffung  Afrikas  erklart. 
Berlin  1877."  gezeigt  hat,  doch  auch  Menelaos,  lehrt  uns  seine 
neueste  Arbeit,  hat  das  Wagniss  unternommen  und  ist  nur  durch 
ungiinstige  Winde  abgehalten  worden,  iiber  Sokotora  am 
Golf  von  Aden  hinauszukommen.  Von  Aias  aber  und  Agamemnon 
ist  es  hochst  wahrscheinlich,  dass  sie  noch  weiter  gelangt  sind; 
der  erstere  hat  allem  Anschein  nach  in  der  Nahe  Madagaskars 
Schiffbruch  gelitten,  der  letztere  ist  am  Cap  der  guten  Hoffhung 
vom  Sturm  iiberfallen  worden. 

Dem  Verf.  ist  es  namlich  gelungen,  ganz  neue  Mittel  fur 
die  Homerforschung  ausfindig  zu  machen,  Kosmologie  und  Astro- 
nomie.  Damit  ihm  nach  der  Publication  dieser  Entdeckung  die 
Friichte  derselben  nicht  entzogen  werden  konnten,  hat  er  sie 
gleich  selbst  nach  Kraften  ausgeniitzt.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  dass  jeder  Widerstand  der  Ueberlieferung  dagegen  ge- 
brochen  werden  muss.  A.  Krichenbauer  ist  in  dieser  Beziehung 
vollig  souverain  und  sagt  L'histoire  c'est  moi. 

Im  Text  der  Odyssee  steht  geschrieben,  dass  Menelaos  auf 
Pharos  zuriickgehalten  worden  sei.  Passt  jedoch  die  bekannte 
lnsel  vor  dem  spateren  Alexandriei*  zu  des  Vert's  Ueberzeugung? 


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10  Krichenbauer,  Die  Irrfahrt  des  Menelaos. 

Nein,  folglich  hat  man  sicli  die  Insel  Sokotora  am  Ausgang  des 
Golfs  von  Aden  darunter  zu  denken.  Wem  etwa  ja  noch  ein 
Zweifel  beikommen  sollte,  dem  wird  er  durch  folgende  Grunde 
genoinmen : 

1)  d,  355  heisst  es  von  Pharos,  es  liege  7tQ07idQ0i&ev  Ai- 
yvrtTOV)  vor  Aegypten.  Da  nach  A.  Krichenbauer  Menelaos  im 
indischen  Ocean  sich  aufhielt,  so  kann  dies  nur  auf  eine  Insel 
siidlich  von  Aegypten  sich  beziehen. 

2)  <J,  360  f.  wird  gesagt,  dass  auf  der  Insel  Pharos  dem 
Menelaos  keine  gunstigen  Winde  erschienen  seien,  „die  Geleiter 
der  Schiffe  iiber  den  breiten  Riicken  des  Meeres".  Diese  Winde 
konnen  nur  die  Moussonwinde  sein,  mit  denen  man  „iiber  den 
wahren  breiten  Riicken  des  Meeres,  iiber  den  indischen  Ocean, 
hinausfuhr".  Referent  erlaubt  sich  nur  eine  Frage.  Liegt 
Troja  ebenfalls  am  indischen  Ocean,  da  nach  y,  142  Menelaos 
auch  von  dort  iiber  den  breiten  Riicken  des  Meeres 
fuhr? 

3)  d,  356  f.  wird  angegeben,  dass  ein  Schiff  unter  giinstigem 
Fahrwind  von  Pharos  nach  Aegypten  einen  ganzen  Tag  fahre. 
Nun  sind  aber  nach  den  astronomischen  Entdeckungen  des  Verf's 
in  den  alten  Theilen  der  Odyssee  die  Tagesbezeichnungen  sammt- 
lich  auf  das  Jahr  zu  iibertragen,  also  fj^czQ  ist  Sommer,  n'f 
Winter,  ywg  Friihling,  doqrtov  Herbstfest  etc.  Also  brauchte 
man  von  Pharos  bis  Aegypten  „einen  ganzen  Sommer,  sechs 
Monate".  Dies  passt  bei  der  beschwerlichen  und  gefahrlichen 
Fahrt  durch  das  rothe  Meer  aber  gerade  fur  die  Entfernung 
Sokotoras  von  Unteragypten. 

4)  Endlich  beweist  die  neue  Etymologic  des  Vert's ,  nach 
der  0aQog  von  einer  Wurzel  tpaq  =  bohren,  schneiden,  reissen 
abzuleiten  ist,  dass  <baqog  urspriinglich  Appellativ  ist  und  ein 
abgerissenes  Stiick  Land,  also  jede  Insel,  die  nahe  am  Festlande 
liegt,  bezeichnet. 

Von  gleicher  Wichtigkeit  ist,  wer  unter  dem  auf  diesem 
Eiland  erscheinenden  Proteus,  dem  aliog  yi(>iov7  zu  verstehen 
sei.  Diese  Frage  ist  allerdings  sehr  schwierig  und  nur  unter 
Aufwendung  bedeutenden  Scharfsinns  zu  losen.  Es  sind  namlich 
im  4.  Buch  der  Odyssee  zwei  urspriinglich  geschiedene  Gruppen 
in  einander  geschoben;  394  —  461  bilden  die  eine,  354  —  393. 
462  —  584  die  andre.  Jene  erzahlt,  wie  Proteus  beim  Zahlen 
der  Robben  von  Odysseus  festgehalten  wird,  und  hat  ihren 
Schauplatz  in  Unteragypten,  diese,  wie  Proteus,  der  altog  ysQOf, 
auf  Sokotora  dem  Menelaos  zur  Heimkehr  verhilft  und  ihm  die 
Schicksale  des  Aias,  Agamemnon  und  Odysseus  mittheilt.  Nur 
in  der  ersten  Gruppe  ist  der  Name  des  Proteus  urspriinglich; 
dort  ist  er  die  Personification  des  Nils,  der  allerlei  Gestalten 
annimmt,  wenn  er  in  der  Hitze  des  Juni  austritt  und  dann  die 
Robben  an  der  Kiiste  vorfindet,  aus  deren  Sippe  „noch  heute 
die  phoca  monachus  im  Mittelmeere  vorkommt".  In  der  zweiten 
Gruppe   dagegen   ist   von   einem   ganz   andern   aXiog  yiqmv  die 

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Krichenbauer,  Die  Irrfahrt  des  Menelaos.  11 

Rede.  Nur  der  Umstand,  dass  Proteus  denselben  Beinamen  fiihrt. 
hat  ihn  anch  in  diese  eingeschwarzt.  Der  akwg  yfywv  der 
zweiten  Gruppe  ist  vielmehr  „ein  alter  Seefahrer,  der  mit  Soko- 
tora  in  Verkehr  steht  oder  Handel  treibt  (7t(akeiTai)u  und  wegen 
seiner  ofteren  Fahrten  an  den  Kiisten  Afrikas  auch  iiber  die 
Schicksale  des  Odysseus,  Agamemnon  und  Aias  unterrichtet  war. 
Denn  die  Gyraischen  Felsen,  an  denen  Aias  scheiterte,  liegt  es 
nahe  in  die  Gegend  von  Madagascar  zu  verlegen  und  das  Vor- 
gebirge  Maleia  der  alten  Zeit,  wo  Agamemnon  von  seinem  Curs 
yerschlagen  wurde,  mit  dem  Cap  der  guten  Hoffnung  zu  identi- 
ficiren.  —  Welche  Perspective  eroffnet  sich  hier  fur  eine  Ge- 
schichte  des  Welthandels !  Zu  bedauern  ist  nur,  dass  izwXua&ai 
sonafc  nirgends  „Handel  treiben"  heisst,  sondern  „haufig  zu 
jemand  gehen  oder  kommen". 

Eidothea  schliesslich,  welche  dem  Menelaos  mit  Rathschlagen 
zu  Hiilfe  kommt,  ist  die  Bewohnerschaft  Sokotoras ,  welche  dem 
Menelaos,  der  siidwarts  fahren  wollte,  keine  Auskunft  geben 
konnte  und  ihn  daher  an  den  alten  Seemann  verwies.  Wenn  sie 
eine  Tochter  des  Proteus  genannt  wird,  so  wird  sie  damit,  ahn- 
lich  wie  wir  Italien,  Frankreich,  Spanien  Tochter  Roms  nennen, 
als  Colonie  von  Aegypten  bezeichnet,  was  mit  Dr.  Fr.  Miillers 
Allg.  Ethnographie  auffallend  ubereinstimmt. 

So  ergiebt  sich  denn  folgendes  historische  Resultat:  Die 
JFahrt  des  Menelaos  ist  so  wenig  eine  Irrfahrt  als  die  des 
Odysseus;  er  hatte  den  Plan,  von  Unteragypten  aus  eine  Fahrt 
ins  Wunderland  Aia  um  Afrika  herum  zu  machen.  Das  ganze 
Friihjahr  (itoLGav  rjolrp  s.  oben)  bleibt  er  in  Unteragypten  an 
for  Meereskuste.  „Nachdem  er  die  Nilschwelle  gesehen  und 
einen  Robbenschlag  mitgemacht  hatte,  begiebt  er  sich  zu  Fuss 
Aafdem  Landwege  iiber  den  Isthmus  nach  der  Kiiste  des 
wthen  Meeres."  Es  wird  Herbst  {doQ7tov),  und  weil  die  Meeres- 
stromung  ihm  ungiinstig  ist,  verbringt  er  dort  die  Zeit  des 
griechischen  Winterhalbjahrs.  Als  aber  das  Land  im  Rosenflor 
prangt  (Qododaxrvlog  rjwg),  fahrt  er  in  das  rothe  Meer  ein,  be- 
sucht  die  Ktistenlander  Arabien  ('EQefifiovg)  und  Libyen,  wo  die 
Schafe  mit  ungewundenen  Hornern  (acpaq  %eqaoi ;  denn  aq>aq  von 
der  bereits  oben  genannten  Wurzel  <pccQ  heisst  zeitlich  „ohne  Um- 
schweife",  raumlich  „ohne  Windungul)  wachsen,  und  gelangt  bis 
Sokotora.  Doch  dort  stellen  sich  die  zur  Weiterfahrt  nothigen 
Nordostmoussons  nicht  ein,  die  dortigen  Bewohner  konnen  ihm 
keine  Auskunft  geben,  erst  der  alte  Seemann  weiss  zu  helfen 
wid  schickt  ihn  wieder  zuriick  nach  Aegypten. 

Der  Ver£  legt  hierbei  auf  die  Fuss  tour  iiber  den  Isthmus 
grosses  Gewicht  (cf.  p.  22).  Um  so  mehr  vermissen  wir  daher 
dfe  gewiss  interessante  Schilderung,  wie  Menelaos  den  Transport 
seiner  Schiffe  (denn  er  hatte  deren  mehrere)  iiber  denselben  be- 
^erkatelligte.  P.  10  hat  der  Verf.  die  Fusstour  freilich  ganz 
vergessen  und  behauptet,  Menelaos  sei  nur  zur  See  gereist. 
Es  liegt  dem  Ref.  fern,  ein  Urtheil  iiber  das  Ganze  auszu- 


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12  Bauer,  Cbristus  und  die  Casaren. 

sprechen.  Nicht  alien  Sterblichen  gelingt  es,  sich  bis  zu  den 
luftigen  Hohen  mancher  Homerforscher  aufzuschwingen.  Er  ver- 
sagt  es  sich  auch,  die  interessanten  Einzelheiten ,  welche  in  die 
Abhandlung  eingestreut  sind,  ausfiihrlicher  zu  wiirdigen.  Wird 
doch  noch  anhangsweise  die  Qododdxvvlog  rjwq  als  der  roeen- 
erzeugende,  xgoxo/r&rAos  (von  Wurzel  it&z  kochen!)  vjcig  aber 
als  der  krokuserzeugende  Friihling  erklart  nnd  daran  die  Auf- 
gabe  der  Philologie  erlautert,  „durch  verstandesmassige  Arbeit 
dem  Schwalle  der  Phantasie  entgegen  zu  arbeiten  und  die  Natur 
wieder  in  ibre  Rechte  zu  bringenu.  Nur  zwei  diesen  gewaltigen 
Resultaten  gegeniiber  freilich  unbedeutende  Berichtigungen  mochte 
er  sich  noch  erlauben.  Einen  Aufenthalt  im  Elysium  legt  der 
Verf.  p.  19  dem  Odysseus  bei,  nach  Homer  wird  er  nur  dem 
Menelaos  in  Aussicht  gestellt.  Sodann  behauptet  der  Verf.  p.  10, 
um  die  Sidonier  und  Erember  als  Arten  der  Aethiopen  nachzu- 
weisen,  sie  seien  durch  xor/ .  .  .  xert  zu  einem  Qanzen  verbunden 
und  Libyen  ihnen  durch  Se  gegeniibergestellt ,  doch  auch  von 
Libyen  heisst  es  6  85  *al  Jtifivrp.  Oder  sind  nun  die  Libyer 
eine  dritte  Art  von  Aethiopen? 
Berlin.  G.  Ellger. 


Bauer,  B.,  Christus  und  die  Casaren.  Der  Ursprung  des# 
Christentums  aus  dem  romischen  Griechentume.  gr.  8.  (IV, 
387  S.)     Berlin  1877.    E.  Grosser.     7,50  M. 

Das  vorliegende  Buch  enthalt  einen  Versuch,  das  Christen- 
tum  aus  der  griechischen  Philosophie  herzuleiten,  seine  Lehren 
darzustellen  als  „den  in  jiidischer  Metamorphose  zur  Herrschaft 
gelangten  Stoicismus",  wie  wir  letzteren  vornehmlich  in  dm 
Schriften  Senecas  niedergelegt  finden.  Beherzigenswert  ist  der 
im  Vorwort  ausgesprochene  Wunsch,  dass  der  bisher  iiblichen 
Trennung  zwischen  profaner  und  kirchlicher  Historiographie  fur 
die  ersten  Jahrhunderte  nach  Chr.  ein  Ende  gemacht  werden 
moge,  und  der  Verfasser  erhebt  den  Anspruch,  diesem  Wunsche 
gerecht  geworden  zu  sein. 

Die  drei  ersten  Abschnitte  —  fast  die  Halfte  des  ganzen 
Buches  —  sind  dem  Philosophen  Seneca,  seiner  „Religions- 
stiftung" ,  seiner  Tatigkeit  als  Lehrer  und  Minister  Neros  und 
dem  Untergange  beider  Manner  gewidmet,  wahrend  in  den  vier 
folgenden  Abschnitten  die  Flavier  und  ihr  Bundesgenosse ,  das 
Judentum ,  Trajan  und  das  erste  Hervortreten  des  Christentums, 
Hadrian  und  die  christliche  Gnosis,  sowie  die  Zeit  Marc  Aurels 
behandelt  werden.  Im  letzten  Abschnitte  fasst  B.  sein  Urteil 
iiber  die  Entstehung  der  neutestamentlichen  Litteratur  zu- 
8ammen. 

„Der  christliche  Heiland  und  die  Trager  des  romischen 
Imperatorentums  sind  Erzeugnisse  derselben  Kraft,  welche  die 
Ahnungen  und  immateriellen  Giiter  des  Altertums  in  eine  per- 

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Bauer,  Ckristus  und  die  Casaren.  13 

sonliche,  allmachtige  Gestalt  zusammenzufassen  sucht".  Rom 
hatte  in  den  Casaren  die  Mittler  zwischen  Himuiel  und  Erde 
aufgestellt,  ehe  die  Christen  mit  der  Predigt  Yon  ihrem  Mittler 
und  Gesalbten  auftraten.  Daher  im  Laufe  der  nachsten  Jahr- 
hunderte  die  Spaltung  der  Welt  zwischen  den  Verehrern  „beider 
Incarnationen".  Die  christliche  Incarnation  siegte,  als  der  Im- 
perator  seinen  Heiligenschein  zu  Fiissen  des  Gekreuzigten  nieder- 
legte.  Den  Kampf  gegen  das  Casarentum  hatten  vor  dem 
Christentum  schon  die  griechisch  -  romischen  Philosophen  be- 
gonnen.  „Die  Poeten,  Rhetoren  und  Philosophen  der  ersten 
Kaiserzeit  haben  ein  geistliches  Rom  gegriindet,  auf  dessen 
Fruchtboden  die  Grundtypen  zu  den  Spriichen  und  Formeln  des 
Keuen  Testamentes  gezeitigt  sind.u  Vor  AUem  die  Schriften 
Senecas,  den  schon  die  Kirchenvater  einen  der  Ihrigen  nennen, 
enthalten  die  Originale  der  neutestamentlichen  Litteratur.  Da 
Men  sich  folgende  Satze :  Die  Welt  ist  ein  allgemeines  Kranken- 
haus,  in  welchem  sich  Niemand  iiber  den  Andern  erheben  kann. 
Keiner  ist  ohne  Schuld.  Der  Leib  ist  des  Geistes  Last;  der 
Mensch  muss  sich  deshalb  von  der  Herrschaft  des  Fleisches  frei- 
machen  und  nach  dem  Himmel  streben.  Der  Durchgang  durch 
das  Leben  ist  nur  eine  fliichtige  Wanderschaft.  Wirf  alles  von 
dir  und  trachte  nach  einem  weisen  Sinn.  Wen  Gott  lieb  hat, 
ziichtigt  er.  Auch  das  Gebot  der  Nachstenliebe,  die  Lehre  von 
der  Wiedergeburt  im  Geist,  Anklange  an  die  Trinitatslehre,  das 
allgemeine  Menschenrecht  der  Sklaven,  Materialien  zum  Bilde 
des  jiingsten  Tages  lassen  sich  bei  Seneca  nachweisen.  Sehen 
wir  aber  von  dem  romischen  Philosophen  in's  Altertum  zuriick, 
80  bietet  uns  keiner  seiner  Satze  etwas  Neues.  Die  Urheber 
sind  Plato,  der  das  Abscheiden  aus  dem  Irdischen  und  das  Ein- 
gehen  in  die  Welt  der  Ideen  preist,  die  Stoiker,  welche  ihr 
Streben  auf  den  inneren  Frieden  rich  ten,  und  die  Cyniker,  die 
jenes  evangelische  Schwelgen  im  Ungliick  iiben.  Seneca  ent- 
wirft  das  Ideal  eines  stoischen  Weisen,  das  in  seiner  Vollendung 
zwar  unerreichbar  in  der  Ferae  schwebt,  doch  das  der  Strebende 
stets  vor  Augen  haben  soil;  es  ahnelt  in  manchen  Ziigen  dem 
Messiasbilde  des  N.  T. 

Senecas  offentliches  Leben  ist  ein  Gompromiss  zwischen  dem 
Philosophen  und  dem  Minister.  (B.  beschaftigt  sich  eingehend 
mit  dieser  Seite  der  Tatigkeit  des  „Religionsstiftersu  und  ge- 
langt  schlieslich  zu  einer  Ehrenrettung  desselben  wie  seines 
kaiserlichen  Schiilers.)  Seine' Intimitat  mit  der  Julia  entsprach 
dem  Wunsche,  „durch  eine  Frau  die  Hohen  der  Gosellschaft  zu 
ersteigen"  und  so  den  rechten  Platz  fiir  seine  Reformen  zu  ge- 
winnen ;  er  war  eingeweiht  in  die  Intriguen,  welche  den  Tod  des 
Claudius  zur  Folge  hatten,  und  hoffte,  dass  Agrippinas  bedenk- 
liche  Handlungen  „am  Ende  doch  der  Herrschaft  der  Tugend 
und  Milde  zu  Gute  kommen  wiirden".  Nero ,  „der  Menschen- 
freund  auf  dem  Thron",  gelangte  durch  seine  Mutter  zur  Herr- 
schaft, „ein  fahiges,  und  fiir  alles  Ehrbare  erregbares  Kind".   Im 


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14  Bauer,  Christus  und  die  Casaren. 


Gegensatz  zu  Caligula,  der  schon  bei  lebendigem  Leibe  als  Gott 
unter  den  Menschen  wandeln  und  gebieten  wollte,  gedachte  Nero 
ohne  gottliche  Attribute  die  Souveranitat  iiber  die  Welt  zu  iiben. 
„Nichts    als    Mensch"    zu     sein    und     alle    menschenmoglichen 
Triumphe   fiir   seine   Person   davonzutragen,    gait   ihm   als    das 
hochste  Ziel.     Als   „Kosmopolit"   beteiligte  er  sich  an  den  grie- 
chischen  Spielen,  als  „Menschenfreund"  banquettirte  und  fraterni- 
sirte  er  mit  dem  Volke,   bewies   er   den  Provinzialen ,    Sklaven 
und  Gladiatoren  seine  Teilnahme.     So   entstand  in  dem  Zogling 
fur  Seneca  ein  Meister,  der  zeigte,  „was  der  Humanitatsglaube 
vermag   und   dass   vor   der   Person   gewordenen  Menschenmacht 
Recht   und   Verbrechen   in   ein   gleichgiltiges  Nichts  zusammen- 
sinken".    Dass  Seneca  die  Verstossung  der  Octavia  nicht  billigte, 
fiihrte  seinen  Sturz  herbei.     Neros  Katastropbe  trat  ein,  als  die 
Aristokraten  des  Kaisers  Allmacht,   die    er   sich   als  Haupt  der 
Menschheit  zuschrieb,  nicht  mehr  anerkennen  wollten.    Das  Yolk 
bewahrte   dem   Todten   noch   seine   Sympathie.     Die   christliche 
Kirche  hat  fur  die  universalistische,  menschenfreundliche  Richtung 
der  Neronischen  Regierung  kein  Verstandnis  gehabt ;  dem  Verfasser 
der  Apokalypse,  der  friihestens  unter  Marc  Aurel  schrieb,  schwebte 
Neros  Zeit  bei  seinem  Antichrist  vor. 

Wie  die  Julier  kamen  auch  die  Flavier  als  Verbiindete  der 
Gottheit.  Damals  war  allgemein  in  der  romischen  Welt  der 
Glaube  verbreitet,  dass  der  Weltherr  aus  dem  Orient  kommen 
werde.  Josephus  deutete  als  „Gottesboteu  diesen  Glauben  za 
Gunsten  der  Flavier.  Sein  Zeugnis  iiber  Jesus  ist  eine  spatere 
Falschung.  Die  Juden,  seine  Landsleute,  fuhlten  sich  als  Ban- 
quiers  der  asiatischen  Fiirsten,  wie  spater  des  kaiserlichen  Hauses 
machtig  in  Rom.  „Sie  und  die  stoischen  Asceten,  die  ihre 
strengen  Lebensansichten  auf  den  Strassen  und  in  den  Palasten 
der  Grossen  verkiindeten,  konnten  sich  auf  die  Dauer  einander 
nicht  fremd  bleiben."  Die  Welthauptst«ult  und  Alexandria 
waren  die  beiden  Hauptwerkstatten ,  wo  die  Verschmelzung  des 
Orients  und  Occidents  vor  sich  ging.  In  Rom  gab  das  Juden- 
tum  dem  Monotheismus  einen  Halt  und  den  Gedanken  des  Ge- 
setzes,  wahrend  man  sich  in  Alexandria  von  dem  Wortlaut  der 
Satzungen  emancipirte  und  die  Gesetze  allegorisch  deutete.  So 
ging  etwas  Neues  aus  der  Vermalung  des  Judentums  und  der 
griechisch  -  romischen  Welt  hervor;  „aber  ersteres  empfing  in 
diesem  Bunde  wie  es  gab.  Das  Gemiit  des  neuen  Gebildes  kam 
vom  Westen,  das  Knochengeriist  lieferte  das  Judentum". 

Vespasian  und  Titus  regierten  auf  eine  „niichterne  und  joviale 
Art".  Bei  Domitian  steigerte  sich  der  Stolz  auf  die  gottliche 
Mission  wie  bei  Caligula  zum  Glauben  an  die  eigene  Gottliebs 
keit;  er  verfolgte  die  Philosophen^  welche  Neros  Schlachtopfer 
priesen;  seinem  Hass  erlag  auch  sein  Vetter  Sabinus,  der  den 
judischen  Ideen  der  Weltentsagung  sich  ergeben  hatte. 

Die  Tugendkaiser  iibten  das  Regiment  „der  Prosa,  der  Arbeit 
und  simplen  Rechtlichkeit".     Trotzdem  ihre   Zeit   „di©   fur  die 

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Bauer,  Christus  und  die  Casaren.  15 

Menschheit  gliicklichste  Periode  der  romischen  Geschichte"  bildet, 
konnte  dies  Alles  die  gereizte  Stimmung  gegen  den  Weltstaat 
nicht  beseitigen.  „Die  Sklavenzwinger  und  die  problematischen 
Gruppen  der  Freigelassenen  lieferten  wie  die  hochsten  Gesell- 
Bchaftsclassen  die  Elemente  zu  einer  geordneten  Schaar,  fur 
welche  die  angebliche  Gliickseligkeit  dieses  Zeitalters  ein  Elend 
und  ein  schales  Ding  war,  welches  sie  freudig  fiir  die  Teilnahme 
an  einem  neuen  geistigen  Bunde  hingaben."  Der  wahre  Staat 
war  ihnen  der  Himmel.  „Die  griechische  Entdeckung  der  allge- 
meinen  Gleichheit  und  Briiderlicbkeit  hatte  sich  zu  einem 
Liebesgefuhl  entziindet,  welches  alle  Volker  der  zerfallenden 
Staatenordnung  umfasste." 

Plinius'  vielbesprochener  Brief  an  Trajan  beweist  nur  das 
leibhaftige  Dasein  einer  christlichen  Gemeinde.  Derselbe  enthalt 
Lob  und  Tadel  der  Christen;  in  seiner  urspriinglichen ,  nicht 
interpolirten  Gestalt  war  nur  Tadel  der  neuen  Gemeinde  zu 
finden;  nach  ihm  hat  Tacitus  seinen  unhistorischen  Bericht  von 
der  Neronischen  Christenverfolgung  entworfen. 

Mit  Hadrian  bestieg  „der  potenzirte  Nero"  den  Thron, 
ein  „encyclcpadischer  Geist,  der  gleich  Nero  alles,  was  sein 
Reich  enthielt,  in  seinem  Innern  zusammenfassen  wollte.  Daher 
seine  Reisen  nach  dem  fernen  Osten,  sein  Interesse  fiir  die  Bewegung 
der  Geister  ,  welche  das  Gottliche  in  eine  Universal -Einheit  zu- 
sammenfassen wollte.  In  seinem  Brief  iiber  die  „Religions- 
mengerei"  in  Alexandria  heisst  es:  „Sie  haben  nur  Einen  Gott 
Md  diesen  beten  die  Christen,  die  Juden  und  alle  Volkerschaften 
iegyptens  an." 

Das  kaiserliche  Testament  Marc  Aurels,  seine  Selbst- 
betrachtungen ,  „  enthalt  Strahlenbrechungen  desselben  Lichts, 
Welches  sich  in  den  Evangelien  und  Episteln  ausbreitet". 

Unter  Hadrian  und  seinen  beiden  Nachfolgern  vollzog  sich 
derAbschluss  der  neutestamentlichen  Litteratur. 
Das  Christentum  ist  nur  eine  Modification  und  Steigerung  der 
Alten ;  eine  Kluft  zwischen  der  neuen  christlichen  Gemeinde  und 
der  alten  heidnischen  Gemeinschaft  existirt  nicht.  Das  Urevan- 
gelium,  welches  wahrend  der  ersten  Halfte  der  Regierung  des 
Hadrian  zu  •  Stande  gekommen  war,  hatte  nur  einen  Lehrvortrag 
Jesu  an  das  Volk,  die  Gleichnisse  vom  Himmelreich  zum  Inhalt. 
(B.  aussert  sich  nicht  dariiber,  ob  er  Jesu  Personlichkeit  fiir 
historisch  ansieht  oder  nicht.)  Der  Urlukas  des  Marcion  und 
der  spatere  Matthaus  fiigten  Erweiterungen  hinzu,  die  Selig- 
prei8imgen  und  den  Gegensatz  des  alten  und  neuen  Gesetzes. 
Der  spatere  Lukas  hat  uns  Nachbildungen  enthalten  in  den 
Sabbathsheilungen  Jesu,  welche  die  Freiheit  von  den  Satzungen 
documentiren.  Die  Kindheitsgeschichten  sind  durchaus  romisch, 
stammen  von  einem  „echten  Romer,  der  mit  der  Allegoristen- 
schule  in  Alexandria  nicht  unbekannt  war".  Der  Verfasser  des 
ilarcusevangeliums  war  ein  „geborener  ItaJer,  der  in  Rom  und 

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16  Bauer,  Chris tus  and  die  C&saren. 

Alexandria  zu  Hause  war  und  das  Werk  in  der  damaJigen  Welt- 
sprache,  der  griechischen,  verfasst  h^t.u 

Das  vierte  Evangelium  ist  auf  dem  Boden  des  Gnosticismus 
erwachsen.  Die  ersten  Entwiirfe  dieses  Systems  gehoren  dem 
Anfange  der  Regierung  Hadrians  an,  unter  Antoninus  Pius  bahnte 
die  Gnosis  sich  ihren  Weg  in  die  neue  Lehre.  Der  Jesus  der 
Gnostiker  bekampfte  von  Anfang  an  den  Gott  der  Juden  und 
seine  Satzungen;  auch  der  Verfasser  des  Johannesevangeliums 
hat  es  versucht,  den  Gegensatz  der  gnostischen  Lehre  gegen  das 
Judentum  in  seiner  Schrift  systematisch  durchzufuhren ,  „doch 
hat  er  aus  dem  sicheren,  gemessenen  Kampf  des  Urevangeliums 
gegen  die  Satzungen  einen  schreienden  Zank  gemacht".  Seine 
Wtinder  sind  Steigerungen  der  Gemaldo  in  der  vorhergehenden 
Evangelien-Litteratur.  Um  die  Mitte  von  Marc  Aurels  Regierungs- 
zeit  verfasste  er  sein  Evangelium,  kannte  Philo  und  seine  Schule, 
dessen  Grundformeln  er  seinem  Werke  voransetzte. 

Mit  der  fortschreitenden  Redaction  der  Apostelgeschichte 
und  der  Paulinischen  Brief  litteratur  sind  die  Jahrzehnte  seit  den 
letzten  Jahren  Hadrians  bis  zur  ersten  Halfte  der  Regierung 
Marc  Aurels  beschaftigt  gewesen.  Der  Paulus  der  Apostel- 
geschichte ist  ein  anderer  wie  der  in  den  Episteln  erscheinende. 
Der  erstere  ist  eine  Copie  der  erhabenen  Gestalt  des  Apostel- 
fiirsten,  doch  hat  Petrus  stets  den  Vortritt.  Die  Berichte  iiber 
Beider  Wundertaten  stimmen  bis  auf  den  Satzbau  iiberein,  sind 
Nachbildungen  der  Grosstaten  Jesu  im  Evangelium.  Die  Pau- 
linischen Briefe,  in  welchen  der  Gnosticismus  und  Philos  Ver- 
schmelzung  der  Weisheit  Heraklits  und  der  Stoa  vorherrschen, 
lehren  uns  einen  andern  Paulus  wie  die  Apostelgeschichte  kennen. 
Vornehmlich  der  Galaterbrief  enthalt  ein  Portrat  des  Paulus, 
welches  Zug  fiir  Zug  gegen  das  der  Apostelgeschichte  gerichtet 
ist.  Dieser  Widerspruch  erklart  sich,  wenn  wir  die  beiden, 
damals  in  den  christlichen  Gemeinden  sich  bekampfenden  Rich- 
tungen  ins  Auge  fassen.  Wahrend  das  casarische  Princip  in 
Petrus  und  dem  Paulus  der  Apostelgeschichte,  welche  beide 
Trager  des  Positiven  und  Katholicismus  sind,  seine  Abbilder 
erhielt,  schuf  dagegen  das  Bediirfnis  der  Freiheit,  der  es  in  der 
Ueberlieferung  zu  eng  ward,  den  Paulus  der  Episteln.  Der  Streit 
gipfelt  in  der  Apostelgeschichte,  deren  letzte  Redaction  Lnkas 
seinem  Evangelium  anfiigte,  und  im  Galaterbriefe.  Dann  trat 
eine  Erschopfiing  der  erregten  Geister  ein,  „nun  fanden  sich 
Petrus  und  Paulus  auf  der  abgeplatteten  Ebene  zusammen  und 
Hand  in  Hand  schreiten  sie  als  versohnte  Genossen  dem  dritten 
Jahrhundert  entgegen". 

Berlin.  Hermann  Becker. 


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Demetriades,  Die  christl.  Begierung  u.  Orth.  CoDstantins  d.  Gr.  17 

VI. 
Demetriades,  Kalliopios,  Die  christliche  Regierung  und  Ortho- 
doxie   Kaiser   Constantins   des   Grosser).     Eine   historische 
Studie.     gr.  8.     (II,  47  S.)     Miinchen  1878.     Th.  Ackermann. 
1  M. 
Die  vorliegende  Schrift  ist  eine  miinchener  Doctordissertation, 
ihr  Verfasser,  welcher  sich  als  einen  Geistlichen  der  griechisch- 
katholischen  Kirche  kund  giebt,   hat  sich  in  derselben  die  Auf- 
gabe  gestellt,   den  grossen  Kaiser,   welchem  seine  Kirche  ihre 
gauze  Machtstellung   verdanke  und  den  sie  als  Heiligen  verehre, 
gegeniiber  den  ungiinstigen  Darstellungen,  welche  sein  Character 
in  neueren  Werken  gefunden  hat,  im  wahren  und  rechten  Lichte 
zu  zeigen,   vor   Allem   seine   christliche   Gesinnung  und  Recht- 
glaabigkeit  zu  vertheidigen.    Er  sucht  nachzuweisen ,   dass  Con- 
stants nicht  nur  aus  politischen  Motiven  das  Christenthum  be- 
giingtigt  und  befbrdert  habe,  sondern  dass  er  wirklich  ein  glau- 
biger,  und    zwar  ein  orthodoxer  Christ  gewesen  sei.    Dass  ihm 
dieser  NacTiweis   gelungen  sei  und  dass  diese  Schrift  iiberhaupt 
wissenschaftlichen  Werth  besitze,   konnen  wir  nicht  anerkennen. 
Eine  wissenschaftliche  Behandlung  dieser  Frage  konnte  nur  auf 
Grand  qu^llenkritischer   Untersuchungen   unternommen   werden, 
es  wiirde  sich  darum  handeln  zu  beweisen,  dass  diejenigen  Quellen, 
welche  Constantin  aus  wirklicher  religioser  Ueberzeugung  handeln 
lagsen,  namentlich  Eusebius,  zuverlassiger,  weniger  parteiisch  und 
tiigenhaft   Bind,    als   die   historische  Kritik  sie  bisher  beurtheilt 
bat    Von  einer  solchen  kritischen  Grundlage  aber  ist  hier  keine 
Spur  zu  finden.    Der  Verf.   gesteht  an  einer  Stelle  (S.  19) ,   wo 
«  rich  urn  die  angebliche  Wundererscheinung  vor  der  Schlacht 
gegen  Maxentius  handelt,  zu,  dass  die  Sache,  so,  wie  Eusebius 
ffl'e  erzahlt,  sich  nicht  habe  zutragen  konnen,  aber  er  behauptet 
doch  (S.  21),  Eusebius  habe  hier  nur  Thatsachen,  die  der  Zeit 
nach  auseinander  liegen,  zn  einem  einzigen  Ereignisse  verbunden 
und  nach  Art  der  Panegyriker  ausgeschmiickt ,   und  im  iibrigen 
folgt  er   diesem  und  den  verwandten  Quellen  so  vertrauensvoll, 
als  ob  gegen  die  Glaubwiirdigkeit  derselben  nie  Zweifel  erhoben 
worden  waren.  Die  neueren  Darstellungen  von  Manso,  Barckhardt, 
Keim  u.  A.  kennt  er  wohl  und  er  citirt  auch  dieselben  gelegent- 
lich,   bei  den   entscheidenden   Fragen   aber   hat   er  sich  weder 
durch  sie  belehren  lassen,  noch  hat  er  sich  auf  eine  Widerlegung 
derselben  eingelassen.    Die  Schrift  zerfallt  in  3  Abschnitte.    Der 
erste,   betitelt:    „Die   Stellung   des  Christenthums  im  romischen 
Reiche  in  der  Zeit  von  Diocletian  bis  zu  Constantins  d.  Gr.  Re- 
gierungsantritt"  soil  nach  der  Vorrede  den  Beweis  fiihren,  „dass 
Constantin   bei  seiner   Regierung   so   und  nicht  anders  handeln 
konnte".    Dieser   Ausdruck   ist   unklar   und  auch  aus  der  Dar- 
stellung   selbst   ist  der  eigentliche  Zweck  derselben  ebensowenig 
deutUch  zu   erkennen.     Der  Verf.   erzahlt   hier  die  Christenver- 
folgungen  des  Diocletian,   Galerius  und  Maximin  nach  Eusebius 

MittheUnngen  a.  d.  histor.  Litteratur.    VU.  2 


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18  Demetriades,  Die  christl.  Eegierung  u.  Orth.  Constants*  d.  Gr. 

und    der   angeblichen  Schrift  des  Lactantius  de  mortibus  perse- 
cutorum.     Dass  die  Aechtheit  und  Glaubwiirdigkeit  der  letzteren 
Schrift  von  Burckhardt  mit  gewichtigen   Griinden   angefochten 
worden    ist,     wird     garnicht     beriicksichtigt.      Das    Ergebniss, 
welches  man  ans  der  Darstelliuig  Ziehen   muss,   ist,   was  jeder 
einigermas8en    Geschichtskundige    auch    sonst   weiss,    dass  jene 
Verfolgungen  durchaus  vergeblich  gewesen  sind,  dass  das  Christen- 
thum aus  ihnen  machtiger   als  zuvor   hervorgegangen  ist;  dass 
aber  darum  Constantin  dasselbe  hat  begiinstigen,  zur  herrschen- 
den  Stellung  hat  erheben  miissen,  und  vor  Allem  —  worauf  der 
Verf.  hinausgeht  —  dass   er   aus    religioser   Ueberzeugung  Be- 
schiitzer  desselben  geworden  ist,  geht  daraus  nicht  hervor.   Der 
zweite   Abschnitt   tragt   die  Ueberschrift :    „Regierung    Constan- 
tins  d.  Gr   und  seine  Begiinstigung  des  Christenthums."   Erent- 
halt    eine    Aufzahlung    der   Hauptereignisse   aus   der  Geschidte 
Gonstantins,   wie   man  sie   in   den  meisten  grosseren  geschicht- 
lichen  Compendien  finden  kann ;  was  das  Verhaltniss  Constantins 
zum  Christenthum  anbetriflFt,  so  behauptet  der  Verf.,  dass  dei- 
selbe  schon  in  dem  Kampfe  gegen  Maxentius  sich  als  Anhangei 
des  Christen thums  gezeigt  habe,  wie  schon  bemerkt,  verwirft  ex 
die  Wundergeschichte  des  Eusebius  keineswegs  ganz  ,  die  Vision 
Constantins   sucht   er   in   rationalistischer   Weise  durch  die  An- 
nahme    zu    erklaren,    der    Kaiser   habe   eine  Erscheinung  von 
Nebensonnen,    welche    mit   ihren   Kreisen    eine    Art   Kreuzfigur 
bilden,  fur  ein  besonderes  Himmelszeichen  angesehen.    Er  gesteht 
dann  zu,  dass  Constantin  nachher  langere  Zeit  eine  gleichmassige 
HaJtung  zwischen  Christenthum  und  Heidenthum  beobachtet  habe, 
erst   nach  der  Vernichtung  des  Licinius  und  der  Erlangung  der 
Alleinherrschaft   habe   er   danach  getrachtet,    alle  seine  Unter- 
thanen   in   einer   und   derselben   Gottesverehrung  zu  vereinigec, 
doch   habe   er   keine  gewaltsamen  Versuche  zur  Ausrottuug  des 
Heidenthums  gemacht.     Sonderbarer  Weise  wird  auch  die  Griin- 
dung  der  neuen  Hauptstadt  als  eine  der  Thaten  Constantins  fur 
die   Ausbreitung  und  Befestigung   des   Christenthunas  angefiitrt, 
in    dieser    Stadt   hatten   nur   Christen   wohnen,    die   chnstliehe 
Religion  die  herrschende  sein  sollen.     Sollte  es  dem  Verf.  wirk- 
lich   unbekannt   sein,   dass  Constantin  in  seiner  neuen  Resident 
neben   christlichen  Kirchen  auch   heidnische   Tempel  gegriindet 
hat  und  dass  er  bei  der  Bevolkerung  derselben  mit,  zum  Thd 
zwangsweise,  aus  alien  Theilen  des  Reiches  dorthin  verpflanzten 
Bewohnern   keineswegs  wahlerisch   gewesen  ist?     Es  wird  dann 
kurz  der  Verlauf  des  arianischen  Kirchenstreites,  die  Taufe  Con- 
stantins  kurz   vor   seinem   Tode  und   sein   Ende  erzahlt.    Dass 
Constantin  schwere  Frevelthaten  begangen  hat,   kann  der  Verf 
nicht  laugnen,  doch  geht  er  leicht  dariiber  hinweg:  „ Constantin 
lebte  unter  schlechten  Sitten   und  Ueberlieferungen;   seine  Vor- 
ganger  und  Mitregenten  achteten  gewohnlich  kein  gottliches  oder 
menschliches  Gesetz,  so  dass  es  nicht  zu  verwundern  ist,  wenn 
er  nicht  in  alien  Fallen  nach  christlichen  Grundsatzen  bandelte. 


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Bottger,  Wohnsitze  der  Deutschen  etc.  19 

Eb  bleibt  flir  ihn  iinnierhin  noeh  Verdienst  genug,  dass  er  es  in 
seiner  Stellung  zur  Erkenniniss  de:  Principien  des  Christenthums 
brachte  und  zur  Verwirklichung  derselben  in  seinem  Reiche  das 
Moglichste  tba,.tt     (S.  41.) 

Der  letzve  ganz  kurze  Ab;}chmcc  (S.  43 — 47)  behandelt  die 
eigentliche  Kernfrage:  „War  Constantin  aufrichtig  Christ  und 
orthodox?"  Was  der  Verf.  bier  anfiihrt,  kann  nicht  als  iiber- 
zeugend  gelten.  Die  verschiedenen  Massregeln  und  Verordnungen 
des  Kaisers,  welche  er  aufzahlt,  zeigen  iiur,  woran  Niemand  iiber- 
haapt  zweifelt,  dass  derselbe  das  Christenthum  befordert  und 
begUnstigt  hat,  beweisen  aber  nicht,  dass  ihn  religiose  Ueber- 
zeugung  dazu  getrieben  hat.  Wenn  er  den  Einwand,  warum 
dam  Constantin  den  Titel  Pontifex  maximus  nicht  abgelegt  habe, 
mit  dem  Hinweis  darauf  zu  beseitigen  sucht ,  Constantin  hatte 
dftmit  grosse  Yortheile  aufgegeben,  denn  in  dieser  Eigenschaft 
m  er  das  Haupt  der  heidnischen  Priesterschaft  und  der  heidnisch- 
romischen  Staatsreligion  gewesen,  so  erkennt  er  dadurch  selbst 
an,  dass  politische  Motive  flir  den  Kaiser  massgebend  gewesen 
sind.  Ebeiisowenig  kann  das  befriedigen,  was  zur  Erklarung 
der  so  spaten  Taufe  des  Kaisers  angefuhrt  wird,  es  sei  damals 
iiberhaupt  Sitte  gewesen,  die  Taufe  bis  ans  Lebensende  zu  ver- 
schieben.  Schliesslich  muss  der  Verf.  doch  selbst  bekennen: 
nChrist  im  strengen  moralischen  Sinne  war  Constantin  nicht, 
weil  er  sich  nicht  entschliessen  konnte,  auch  wirklich  als  Christ 
zu  leben.u  Das  Yerhaltniss  des  Kaisers  zum  Arianismus  wird 
tier  nur  mit  wenigen  Worten  beriihrt,  der  Ver£  erklart,  hieriiber 
spater  ausfiihrlich  schreiben  zu  wollen. 

Berlin.    '  F.  Hirsch. 


vn. 

jp,  Dr.  Heinrich,  Wohnsitze   der  Deutschen  in  dem  von 
Tacitus   in  seiner  Sermania  beschriebenen  Lande,  aus  den 

Originalquellen  des  Julius  Caesar,  Strabo,  Vellejus,  Tacitus, 
Plinius  des  Aelteren,  Ptolomaus,  Pomponius  Mela,  Sueton, 
Florus,  Dio  Cassius  u.  A.  auf  Grundlage  seiner  Diocesan-  und 
Gaugrenzen  Norddeutschlands  erwiesen,  nebst  einer  Gau-,  einer 
dieselbe  begriindenden  Diocesankarte  und  einer  daraus  ent- 
worfenen  Volkerkarte.  gr.  8.  (XX,  78  S.)  Stuttgart  1877. 
Carl  Griininger.     10  M. 

Die  Ansichten  des  Verf.  iiber  Gau-  und  Diocesangrenzen 
Had  denen  nicht  unbekannt,  welche  sich  mit  den  alteren  kirch- 
lichen  Verhiiltnissen  namentlich  Norddeutschlands  beschaftigen. 
Es  ist  aber  denselben  auch  nicht  neu,  dass  die  Meinungen  des 
gelehrten  Forschers  auf  vielen  Widerspruch  stossen.  — 

Seine  Ansichten  und  seine  Polemik  hat  der  Verf.  in  der 
Vorrede  niedergelegt,  und  ist  diese  deshalb  der  interessan  teste 
^d  lesbarste  Theil  des  ganzen  Werkes.  —  Wir  sind  der  Tendenz 

2* 

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20  Bottger,  Wohnsitze  der  Deutschen  ete. 

der  Zeitschrift  nach  weit  davon  entfernt,   uns   in   kritische  Er- 
orterungen  einzulassen,  und  wollen  nur  referiren.  — 

Der  Verf.  geht  von  der  Anschauung  aus,  class  die  Gaukarten 
sich  griinden  miissen  auf  Diocesankarten  und  auf  die  sioh  daraus 
ergebenden  Vtflkerkarten.  Er  setzt  also  voraus,  dass  die  kirch- 
liche  Eintheilung  mit  der  alteren  politischen  Eintheilung  des 
Landes  stimme  und  dass  die  Grenzen  der  Bisthiimer  und  Archi- 
diaconate  dieselben  sind  wie  die  der  Gaue. 

Sonach  begrundet  die  Diocesankarte  die  Gaugrenzen;  die 
Gaue  aber  sind  die  Grundlage,  um  daraus  festzustellen ,  welche 
Wohnsitze  die  Deutschen  zur  Zeit  des  Tacitus  inne  gehabt 
haben.  Der  Vert  geht  ausser  dieser  noch  von  einer  zweiten 
Voraussetzung  aus,  namlich  von  der,  dass  die  Gaue  in  Deutsch- 
land  vor  Julius  Caesar  und  Tacitus  schon  festgestellt  sind.  Darin 
widersprechen  ihm  viele  gewichtige  Autoritaten,  wie  er  dafi  selbst 
in  der  Darlegung  des  vorliegenden  Materiales  zugiebt.  Wean 
man  in  dieser  Streitfrage  zu  einer  klaren  Anschauung  kommen 
will,  so  kann  das  —  wie  Ref.  glaubt  —  nur  auf  dem  Wege  ge- 
schehen,  den  Felix  Dahn  gleich  im  Anfange  des  ersten  Bandes 
seiner:  „Konige  der  Germanen"  eingeschlagen.  Dort  untersucht 
er,  wie  bei  Caesar  und  Tacitus  das  Wort  pagus  gebraucht  wird, 
und  zieht  dann  erst  Folgerungen.  Ebenso  wenig  wird  der 
zweite  Theil  von  des  Verf.  Ansicht  ohne  sehr  begriindeten 
Widerspruch  bleiben,  dass  die  einmal  so  festgestellten  Gaue  in 
alien  und  trotz  aller  Wanderungen  dieselben  geblieben  sind. 

Von  diesen  Annahmen  ausgehend  giebt  der  Verf.  nun  eine 
vergleichende  Geographic  der  alteren  und  mittleren  Geographie 
von  drei  Fiinfteln  Deutschlands.  So  viel  umfasst  die  Germania 
des  Tacitus.  Um  dies  auszufiihren,  reiht  er  die  Quellenaussagen 
an  einander. 

Die  Arbeit  enthalt  sehr  viel  fleissig  gesammeltes  Material, 
ist  aber  in  dieser  Form  nicht  geniessbar,  da  dies  Material  nicht 
verarbeitet  ist.  Die  aussere  Form  des  Werkes  ist  folgende. 
Links  auf  der  Seite  steht  der  lateinische  oder  griechische  Text, 
rechts  daneben  die  deutsche  Uebersetzung ,  unten  Anmerkungen 
aller  Art.  Die  Uebertragung  ist  nach  des  Verf.  eigener  Angabe 
so  wortgetreu  wie  moglich,  selbst  wenn  die  Diction  darunter 
sollte  gelitten  haben.  Es  ist  dem  Ref.  aufgefellen,  dass  nicht 
immer  die  neusten  Hiilfsmittel  benutzt  und  dass  dem  gelehrten 
Verf.,  wie  das  die  Fiille  der  Details  entschuldigt ,  Manches  ent- 
gangen  ist,  was  Vielen  schon  bekannt  sein  diirfte.  — 

Der  Verf.  behandelt  in  §  1  Deutschland  im  Allge- 
meinen  und  die  Volksstamme  in  demselben.  In  §  2 
geht  er  zu  den  einzelnen  Volkern  iiber  und  zwar  zuerst 
zu  den  Nichtsueven,  dann  zu  den  Suevischen  Volkern. 

Unter  diesen  fiihrt  Casar  S.  10  die  Eburonen  auf,  und  der 
Verf  nimmt  ohne  eine  Bemerkung  dieses  Volk  als  ein  deutsches 
an.  Aber  Ref.  giebt  zu  bedenken,  dass  manche  Forscher  nicht 
ohne  Weiteres  diese  Ansicht  theilen.   Sie  meinen,  die  Urbewohner 


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Wiponis  opera  rec.  H.  Bresslau.  21 

Britanniens,  Galliens  und  Iberiens  seien  eben  die  Iberer  gewesen 
und  ein  Beweis  dafiir  sei  der,  dass  es  noch  in  spaterer  Zeit  in 
Britannien  und  in  Gallien  Volker  gegeben  habe,  welche  sich 
Eburones  =  Iberer  nannten.  Ob  die  S.  26  gegebene  Ableitung 
des  Namens  Sigambri  yon  sig  und  gambar  der  Tapfere  haltbar 
ist,  wagt  Ref.  nicht  zu  entscheiden. 

Wenn  Ref.  vorbin  erwahnte,  dass  dem  gelehrten  Herrn  Vert 

merkwurdigerweise   mancbe   bekannten   Sachen   entgangen   Sind, 

so  fiihrt  er  als  Beleg  fur  seinen  Ausspruch  die  S.  45  aufgestellte 

Erklarung   des   Namens  Idistavisus   an.     Nach   alter  Art   inter- 

pretirt  der  Verf. ,   wie  folgt:   Ein  Rdmer  hatte  einen  Deutscben 

gefragt,  wie  das  Schlachtfeld  hiesse,  und  dieser  ihm  halb  deutscb 

halb    lateinisch    geantwortet:    id   is    te   Wiese.    Nun    hat   aber 

Grimm  in  der  bekannten  Abbandlung,    die   er  iiber  die  Merse- 

bnrger  Zauberformeln  in  der  Berliner  Akademie  las,  die  schone 

Conjectur  gemacht :  Das  Wort  Idistavisus  sei  aus  Idisiavisus  ver- 

schrieben.     Idizi  oder  Idisi  sind  weise  Waldfrauen,  daher  Hage- 

disi    =   Hexe   xmd    somit   hiese   Idisiavisus    Elfenwiese.      Damit 

stimmt  des  Tacitus  schone  Schilderung  von   dem   welligen,   mit 

Gebiisch  bestandenen  Kampfplatz. 

Ref.  wiederholt  zum  Schlusse  nochmals  mit  Bedauern,  dass 
in  dieser  Form  die  Arbeit  ungeniessbar  und  wenig  frucht- 
bringend  ist. 

Berlin.  Foss. 


VIII. 
Wiponis  gesta  Chuonradi  II.  ceteraque  quae  supersunt  opera 

in  usum  scholarum  ex  Monumentis  Germaniae  historicis  recusa. 
Editio  altera.  Recognovit  Henricus  Bresslau.  8.  (XII, 
81  S.)     Hannover  1878.     Hahn'sche  Buchh.     75  P£ 

Die  vorliegende  neue  Ausgabe  der  Werke  Wipo's  in  der  den 
Monumenta  Germ.  hist,  zur  Seite  gehenden  Sammlung  der 
Scriptores  rerum  germanicarum  in  usum  scholarum  ex  Monu- 
mentis Germaniae  historicis  recusi  unterscheidet  sich  von  der 
ersten,  von  Pertz  auf  Grund  seiner  Ausgabe  in  den  Monumenta, 
im  11.  Bande  der  Scriptores  besorgten,  sehr  wesentlich.  Sie 
beruht  auf  neuen  handschriftlichen  Studien.  H.  Bresslau  hat 
fur  die  Vita  Chuonradi  sowohl  den  von  Pertz  benutzten  Codex 
Caxlsruhanus  noch  einmal  verglichen,  als  auch  den  Codex 
Zwetlensis  der  Continuatio  chronici  Mellicensis,  welche  auf  Wipo 
beruht,  herangezogen,  auch  fur  die  Proverbia  hat  er  eine  Anzahl 
nener  Handschriften  benutzen  konnen,  wahrend  fur  den  Tetra- 
logns  Heinrici  imperatoris  und  die  Versus  ad  mensam  regis,  von 
denen  Handschriften  nicht  mehr  vorhanden  sind,  auch  er  sich  darauf 
hat  beschranken  miissen,  die  Ausgabe  des  Canisius  mit  einigen 
Emendationen  zu  wiederholen.  Unter  dem  Text  sind  die  Varianten 
und  auch  einige  erlauternde  Anmerkungen  hinzugefugt.  ,  Die 
Vorrede    enthillt    eine    ausfiihrlichere ,    auf    Grund    der    neuen 


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22  Bernheim,  Zur  Geschichte  des  Wormser  Concordates. 

Forschungen  an  inehreren  Punkten  veranderte  und  verbesserte 
Dar8tellung  der  Lebensverhaltnisse  Wipo's,  und  eine  Aufzahlung 
seiner  Schriften  sowie  der  fur  diese  Ausgabe  benutzten  Hand- 
schriften.  Auch  hier  wird  die  zuerst  von  Steindorff  aufgestellte 
und  dann  von  Bresslau  selbst  genauer  begriindete  Behauptung 
wiederholt,  Wipo's  Angabe,  er  habe  bei  der  Abfassung  der  Vita 
Chuonradi  keino  schriftliche  Quelle  vor  Augen  gehabt,  sei  falser 
derSelbe  habe  vielmehr  manche  Nachrichten  einem  schwabischen 
Annalenwerke  entlehnt,  aus  welchem  sich  Ausziige  auch  in  den 
Annales  Sangallenses  majores,  in  dein  Chronicon  Herimanni 
Augiensis  und  in  dem  Chronicon  Suevicum  universale  fanden 
Zur  Veranschaulichung  dieses  Yerhaltnisses  sind'  hier  in  einem 
Appendix  die  betreffenden,  die  Zeit  von  1024 — 1039  umfassenden 
Stiicke  jener  Chroniken  abgedruckt  worden,  ferner  sind  dort 
nach  der  Ausgabe  Jaffe's  zwei  in  einer  Cambridger  Handsckrift 
erhaltene  Gedichte  auf  die  Kaiserkronung  Conrads  IL  und  anf 
die  Konigskronung  Heinrichs  III.  wiederholt,  welche  nach  der 
Vermuthung  von  Pertz  und  Arndt  auch  Wipo  zum  Verfasser 
haben  sollen. 

Berlin.  F.  Hirsch. 


IX. 
Bernheim,  Dr.  Ernst,  Zur  Geschichte  des  Wormser  Concordats. 

gr.  8.    (II,  66  S.)    Gottingen  1878.   Rob.  Peppmuller.    2,25  M. 

Die  kleine  Schrift  behandelt  in  klarer,  ubersichtlicher  Weise 
die  innere  Geschichte  des  Wormser  Concordates. 

Die  Wahl-  und  Investiturtheorien ,  ferner  die  Programme 
der  verschiedenen  Parteien,  welche  fur  die  endgiltige  Festsetzung 
des  Concordates  bestimmend  waren,  bilden  den  Iuhalt  des  ersteu 
Abschnittes,  der  zweite  bespricht  das  Wormser  Concordat  selbst, 
seine  Auffassung  und  seinen  authentischen  Text;  der  dritle  und 
letzte  zeigt,  wie  das  Concordat  von  den  verschiedenen  deutschen 
Kaisern  verschieden  gehandhabt  wurde,  wie  endlich  die  unbe- 
friedigten  Parteien ,  am  sich  Geltung  zu  verschaffen ,  zu  dem 
Mittel  der  Falschung  griffen. 

In  dem  Kampie,  den  das  Papstthum  im  11.  Jahrhundert 
gegen  die  staatliche  Gewalt  aufnahm,  waren  die  Angriffe  der 
Kirche  vomehmlich  darauf  gerichtet,  den  Einfluss  zu  brechen, 
den  die  fiirstliche  Gewalt  im  Laufe  der  Zeit  entgegen  den  kano- 
nischen  Satzungen  auf  Wahl  und  Einsetzung  des  hoheren  Clerus 
zu  erringen  gewusst  hatte.  Den  kanonischen  Satzungen,  am 
welche  die  Kirche  sich  beruft,  stellt  der  Staat  das  Gewohnheits- 
recht  gegemiber,  welches  freilich  von  gegnerischer  Seite  als  gegen 
die  Kirchengesetze  verstossend  d.  h.  unsittlich  nicht  anerkannt 
wird.  Die  kirchliche  Anschuldigung  der  Simonie  wird  von  der 
koniglichen  Partei  duroh  den  Nachweis  entkraftet,  dass  mit  der 
Investitur  nicht  das  Amt,  sondern  nur  der  Besitz  iibergehe.  Als 
man  spater,  des  langen  Kampfes  miide,  beiderseits  zu  Concessions 


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Bornheim,  Zur  Geschichte  des  Wormser  Concordats.  23 

bereit  war,  war  es  die  Mittelpartei ,  welche  endlich  eine  Ver- 
einiguBg  wenigstens  formell  herbeiftthrte.  Die  Fuhrer  dieser 
Partei,  Manner  wie  Otto  von  Bamberg,  Ivo  von  Chartres,  Bruno 
von  Trier  u.  a.  wollten  es  ebensowenig  mit  dem  Kaiser,  wie  mit 
dem  Papste  verderben.  Sie  liessen  sich  daher  erst  weltlich  in- 
vestiren,  sodann  aber  in  Rom  bestatigen  nnd  weihen. 

Die  Einigung  in  diesem  Kircbenstreite  wnrde  bekanntlich 
herbeigefuhrt ,  indem  man  scbied  zwischen  den  deutscben  Be- 
sitzungen  des  Kaisers  und  den  ausserdeutschen,  d.  i.  Italien  und 
Burguud. 

In  den  ersteren  Landen  drang  der  Hauptsacbe  nach  die 
komgliche  Partei  mit  ibren  Forderungen  durcb,  nur  dass  bei 
zwktigen  Wahlen  die  Ernennung  des  Geistlichen  seitens  des 
KonJgB  an  die  Zustimmung  des  Metropoliten  mid  seiner  Suffra- 
ge gebunden  war  und  die  Investitur  nicbt  mit  den  geist- 
lichen Symbolen,  d.  b.  Ring  und  Stab,  sondern  mit  dem  welt- 
lichen,  dem  Scepter,  vollzogen  wurde:  wahrend  in  Italien  und 
Burgund  selbst  die  passive  Anwesenheit  des  Konigs  im  Gegen- 
satz  zu  den  deutschen  Besitzungen  verweigert  wurde.  Ferner 
erfolgte  die  Weibe  mit  Ring  und  Stab  vor  der  weltlichen  In- 
vestitur, der  Bischof  war  also  hier  ein  Beamter  der  Kircbe  und 
nicht  wie  dort  ein  Beamter  des  Staats. 

Allein  an  diese  Concordatsvereinbarungen  pflegten  deutscbe 
Kaiser  wie  Heinrich  V.  und  Friedrich  I.  von  Hobenstaufen  sich 
ticht  zu  binden,  sobald  sie  ibres  Uebergewichts  iiber  das  Papst- 
thum  sich  bewusst  waren.  Fur  sie  war  die  Scheidung  zwischen 
iWien  und  Burgund  auf  der  einen  und  Deutschland  auf  der 
anfern  Seite  nicht  vorhanden,  wie  sie  auch  die  Clausel,  dass  die  Er- 
nennung des  Geistlichen  ihrerseits  an  die  Zustimmung  des  Metro- 
politen gebunden  war,  ignorirten.  Ja  man  berief  sich  bei  Ent- 
scheidung  von  kirchlichen  Wahlzwisten  direct  auf  den  Text  des 
Wormser  Concordates.  Aber  dies  war  dann  nicht  der  wirklich 
vereinbarte  Text,  sondern  eine  Falschung  der  mit  dem  Erfolge 
des  Concordates  unzufriedenen  koniglichen  Partei  (der  sog.  Cod. 
Udalrici),  ahnlich  wie  die  missvergniigten  Bischofe  von  Salzburg 
ihrem  Programm  t  durch  eine  Falschung  (Cod.  2)  den  Anschein 
gesetzlicher  Autoritat  zu  geben  bemiiht  waren. 

Soweit  die  kleine  Schrift.  Angefugt  ist  ein  Excurs  iiber 
die  Entscheidung  des  Wahlzwistes  in  St.  Gallen  durch  Hein- 
rich V.  Dieselbe  soil  nach  der  Meinung  des  Vert  in  das  Jahr 
1123  fallen.  - 

Berlin.  0.  George. 


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24  Baumg&rtiwr,  Hermann  von  Stahleck,  Pfalzgraf  bei  Rhein. 


Baumg&rtner ,  Dr.  L. ,  Hermann  von  Stahleck ,  Pfalzgraf  bei 
Rhein  (1142—1156).  gr.  8.  (49  S.)  Leipzig  1877.  Baum- 
gartners  Buchhandlung. 

Das  Geschlecht  des  Pfalzgrafen  Hermann  von  Stahleck  tritt 
urn   die  Mitte   des   11.  Jahrhunderts   in  Ostfranken  zuerst  auf; 
der  characteristische  Vorname  der  Vorfahren  desselben,  die  nach 
einem  ihrer  Hauptsitze   als  Grafen  von  Hochstadt  an  der  Aisch 
bezeichnet   werden,   der  ihnen  so  eigenthiimlich  war,   wie  z.  B. 
der  Name  Emicho  den  Leiningern,  war  Gozwin.    Um  die  Scheide 
des  11.  und  12.  Jahrhunderts  treten  die   Grafen  von  Hochstadt 
auch  in  den    rheinischen  Gegenden   auf;   wie  Baumgartner  an- 
nimmt,  hatten  sie  diese  rheinischen  Besitzungen  durch  die  Yer- 
mahlung  eines  Grafen  Gozwin  mit  Luitgard,   Wittwe   des  1102 
verstorbenen   Grafen   Heinrich  I.   von  Katzenellenbogen  erlangt; 
er  schliesst  das  daraus,  dass  Gozwin  erst  jetzt  und  zwar  zuerst 
1108    in   Mainzer  Urkunden   als  Zeuge  auftrete.     Diese  Voraus- 
setzung  ist  indessen  irrig ;  der  Verf.  hat  das  alteste  Zeugnis  fir 
ein  Auftreten  Gozwins   am  Rhein,    seine  Zeugenschaft  in  einer 
schon  1091,  also  mindestens  17  Jahre  vor  jener  Heirath  ausge- 
stellten  Urkunde  Ruthards  von  Mainz  (Will,  Monumenta  Reiden- 
stad.  S.  20)  iibersehen.    Gozwin  ist  der  Griinder  des  Benedictiner- 
klosters  Monchaurach,   mit   dessen   Griindung  die  merkwiirdige 
Legende   der   H.  Hildegund  bei   Oefele   SS.  R.  Boic.  I,  628  in 
Verbindung  steht.     Eine  Kritik  der  Legende,  die  —  was  Baum- 
gartner nicht   beachtet  zu   haben   scheint  —  in   der  Sage  von 
Herzog  Ernst  eine  Rolle   spielt   und  von  Haupt  misverstandlicli 
ins    11.  Jahrh.   gesetzt  wurde,   giebt  der  Verfasser  nicht   Ein 
Sohn   des    1137   zuletzt  genannten  Grafen  Gozwin  ist  Hermann, 
der  sich  zumeist  nach  seinen  rheinischen  Giitern  Graf  von  Stahleck 
nannte ,  durch  seine  Vermahlung  mit  Gertrud ,  Sch wester  Konig 
Konracis  HI.,  seinen  Besitz  betrachtlich  erweiterte,  und  1142  von 
seinem  koniglichen  Schwager  mit  der  rheinischen  Pfalzgrafechaft 
belehnt  wurde.     Er  nahm  im  Sommer  1147  am  Kreuzzuge  gegen 
die  Wenden  Theil,  gerieth  nach  seiner  Riickkehr  mit  den  Grafen 
von  Rineck  und  dem  Erzbischof  Albero  von  Trier  in  eine  Fehde 
um  die  Burg  Treis  an  der  Mosel,  nahm  1149  den  Grafen  Otto 
von  Rineck  gefangen,  den  er  im  Geiangnis  soil  haben  erdrosseln 
lassen,  war   1155   Fuhrer  des  Aufstandes  der  Mainzischen  Va- 
sallen   gegen  Erzbischof  Arnold  von  Selehofen  und  wurde  dafur 
von  Friedrich  I.  zur  schimpflichen  Strafe  des  Hundetragens  ver- 
urtheilt.     Er  starb  am  20.  Sept.  1156  kinderlos;  ein  Theil  seiner 
Giiter  fiel   an  das  von  ihm  gestiftete  Kloster  Bildhausen.    Eine 
Characteri8tik  Hermanns  giebt  B.  nicht;  sie  ist  bei  der  Durftig- 
keit  der  Quellen  immoglich.    75  fleissig  zusammengestellte  Regesten 
Hermanns  beschliessen  die  Arbeit;  zuN.  71  ist  Ficker,  Urkunden- 
lehre  I,  242  zu  vergleichen. 

H.  Bresslau. 


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Bikelas,  Die  Griechen  des  Mittelalters  etc.  25 

XL 
Bikelas,  Demetrius,  Die  Griechen  des  Mittelalters  und  ihr  Ein- 
fluss  auf  die  europ&ische  Cultur.    Mit  Bewilligung  des  Ver- 
fassers  aus  dem  Griechischen  iibersetzt  von  Dr.  Wilh.  Wagner. 
8.     (Ill  S.)     Giitersloh  1878.     C.  Bertelsmann.     1,20  M. 

AaftfiQog,  SitvQ.  II.  ^4.\  l4&rjv<xi  7teqi  ta  reXt]  tov 
dwdendtov  alwvog  %axa  nqyag  avendorovg.  Id&irjvtjoi  in 
tov  vvfcoyQcupeiov  trjg  (pilo/xxXiag  1878.    gr.  8.    (rf  u.  139  S.) 

Aa^iTt Qog,  2tvvq.  II.  Aoyog  eiacrrj q tog  eig  to 
pad- rip  a  trig  eXXtivcxijg  lor  oq  lag  iy.<p(ovr]&eig  tt}  30 
uagrlov  1878  ^AvaTVTtwatg  h,  xov  £  xo/iov  xov  neqiodii^ov 
Afajvalov).  ZdxhfjvrjOiv  iyi  xov  xvnoyqaq>eLov  *Eq/iov.  1878. 
gr.  8.     (13  S.) 

Herr  Wagner  bemerkt  in  der  Vorrede  zu  seiner  vortreff- 
lichen  Uebersetzung  der  Schrift  von  Bikelas,  ein  giinstiges  Zeichen 
dafiir,  dass  man  sich  im  heutigen  Griechenland  iiber  die  Stellung 
znm  Alterthum  und  Mittelalter  klar  werde  und  sich  von  den 
fflusionen  der  Philhellenen  losgerissen  habe,  sei,  dass  man  jetzt 
rich  dort  mit  grosserem  Eifer  der  Erforschung  des  griechischen 
Mittelalters,  der  byzantinischen  Geschichte,  zugewandt  habe.  Er 
weist  hin  auf  die  trefflichen  Arbeiten  von  Sathas  und  auf  das 
grosse  Wexk  von  Paparrigopulos,  in  welchem  die  Geschichte  des 
griechischen  Volkes  durch  das  Alterthum,  das  Mittelalter  und 
die  Neuzeit  hindurch  als  eine  Einheit  dargestellt  worden  ist. 
Demselben  Kreise  gehoren  auch  die  beiden  ersten  unter  den 
drei  uns  hier  vorliegenden  Schriften  an ,  die  eine  sucht  durch 
allgemeine  Betrachtungen  das  gewohnliche  Urtheil  iiber  das 
griechische  Mittelalter  zu  berichtigen,  in  der  anderen  wird  mit 
fltilfe  neuer  Quellen  ein  interessanter  Punkt  aus  der  griechisch- 
byzantinischen  Geschichte  aufgehellt. 

Die  Arbeit  von  Bikelas  ist  hervorgegangen  aus  drei  Vor- 
lesungen,  welche  derselbe  vor  der  griechischen  Gesellschaft  in 
Marseille  gehalten  hat.  Der  deutsche  Uebersetzer  hat  die  Form 
der  Vorlesung  in  die  der  Abhandlung  umgegossen  und  eine  Ein- 
leitung  sowie  einige  Anmerkungen  hinzugefiigt.  Die  Schrift  hat, 
wie  der  Verf.  hervorhebt,  nicht  den  Zweck,  einen  neuen  Beitrag 
zur  byzantinischen  Geschichte  zu  liefern,  vielmehr  will  dieselbe 
nor  den  Leser  mit  einigen  der  bedeutenderen  allgemeinen  Ge- 
sichtspunkte  vertraut  machen,  welche  bei  der  Beurtheilung  der- 
selben  in  Frage  kommen,  und  andererseits  die  Griinde  vorfuhren, 
weshalb  bis  auf  den  heutigen  Tag  die  Auffassung  dieser  Ge- 
schichte von  einer  Reihe  von  uralten  Antipathien  und  Vorurtheilen 
getriibt  wird.  Seine  Betrachtungen  beruhen  auf  einer  ausge- 
dehnten,  wenn  auch  nicht  gerade  tiefen  und  immer  ganz  genauen 
Kfcnntniss  der  byzantinischen  Geschichte  (sowohl  in  der  Abhand- 
tong  selbst,  als  auch  in  dem  ihr  angehangten  chronologischen 
Verzeichniss  der  byzantinischen  Kaiser  finden  sich  einige  einzelne 


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26  Bikelas,  Die  Griechen  des  Mittelalters  etc. 

Irrthiimer),  sie  zeigen  im  Allgemeinen  ein  gesundes  und  nuchteraes 
Urtheil,  doch  hat  sich  der  Verf.  nicht  ganz  von  Uebertreibungen 
und  schiefen  Auffassungen  frei  gehalten  tind  er  hat  manche 
Punkte,  welche  fur  die  Losung  der  von  ihm  angeregten  Fragen 
von  Bedeutung  sind,  ausser  Acht  gelassen. 

H.  Bikelas  sucht  nachzuweisen ,    dass   die  gewohnliche  Vor- 
stellung,   welche   man   von   dem   byzantinischen  Reiche   als  von 
einem  Reiche  des  Verfailes  habe,  unrichtig  ist.     Er  bemerkt  mit 
Recht,   dass  schon  seine  tausendjahrige  Existenz  ein  Beweis  des 
Gegentheils  sei,   ferner  dass,   wenn  die  byzantinische  Geschichte 
viele   schreckliche   Scenen,   Mordthaten   und  Revolutionen  zeige, 
diese  doch  nur  die  Unterbrechung  langer  Perioden  einer  ruhigen 
Regierung  von   legitimen  Kaisern   seien,    dass   die   Grausamkeit 
der  Byzantiner  nicht  schlimmer  gewesen  sei  als  die  der  anderen, 
auch   der   sonstigen  civilisirten  Volker  des  Mittelalters.     Ebenso 
.  richtig  weist  er  darauf  hin ,    dass  der  byzantinische  Hof  keines- 
wegs   eine  Pflanzst&tte  von  Schlaffheit  und  Verweichlichung  ge- 
wesen  ist,   das  Reich   habe   eine  Menge  von  tiichtigen  Kaisern, 
Feldherren,  Staatsmannern,  Kirchenfursten  und  Gelehrten  aufzn?- 
weisen.     Zum  Beweise  der  Kraft,  welche  dasselbe  entfaltet  habe, 
werden  alle  Gegner  desselben,   die  Volker,   welche   von  Westen 
und  von  Osten  her  dasselbe  fast  ununtei'brochen  bedroht  habon, 
aufgezahlt.    Das  Reich  ist  gegen  Osten  hin  der  Vorkampfer  des 
Abendlandes  gegen  Perser,,  Araber  und  Tiirken  gewesen,   wenn 
es  den  letzteren  schliesslich  erlegen  ist,  so  kommt  dieses  daher, 
weil   es   geschwacht   und    entkraftet   war   in  Folge  der  Angriffe 
von  Westen   her,    durch   die   Normannen   und   die  Kreuzfahrer, 
insbesondere  in  Folge  der  vorubergehenden  Eroberung  durch  die 
Lateiner.     Sehr  mit  Recht  bemerkt  der  Verf. ,    dass   die  Kreux- 
ziige   vom   morgenlandischen   Standpunkte   aus   ganz   anders  zu 
beurtheilen  seien,  als  vom  abendlandischen,  und  dass  eine  anpar- 
teiische   Darstellung  des  Yerhaltnisses  zwischen  dem  Osten  und 
dem  Westen   noch   nicht  vorhanden  sei.    Auch  er  ist  der  "Mei- 
nung,  dass  eine  dauernde  Eroberung  durch  die  Lateiner  fur  das 
Griechenthum   verderblicher  gewesen   ware   als    die   Knechtung 
durch   die  Tiirken,   denn   in  Folge  der  ersteren  wiirde  dasselbe 
die   Traditionen   seiner   Vorzeit  verloren  haben  und  schliesslich 
ganz  untergegangen  sein. 

Zahlreiche  andere  Vorwiirfe  sind  gegen  den  Byzantinismus 
erhoben  worden,  namentlich  durch  Montesquieu  und  Gibbon, 
denen  der  Verf.  die  Hauptschuld  an  der  gewohnlichen  ungerechten 
Beurtheilung  desselben  zuschreibt,  auch  von  diesen  sucht  er 
wenigstens  einen  Theil  zu  entkraften.  Er  zeigt,  dass  in  dem 
byzantinischen  Staate  das  Volk  keineswegs  eine  bloss  passive 
Rolle  gespielt  hat,  allerdings  sei  die  Regierung  absolut  gewesen, 
aber  sie  sei  doch  beschrankt  worden  durch  die  Kirche  und  durch 
das  herrschende  Recht,  das  Volk  sei  dem  politischen  Leben 
keineswegs  ganz  fremd  geblieben,  habe  vielmehr  mehrfach  in 
dasselbe   eingegriffen,   es  habe   demselben  keineswegs  an  einem 

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Bikelas,  Die  Griechen  des  Mittelalters  etc.  27 

gewissen  Patriotismus  gefehlt.  Auch  das  Yorherrschen  des 
religiosen  Elementes  in  dem  byzantinischen  Reiche  sei  keines- 
wegs  so  schlimm  gewesen,  wie  es  gewohnlich  dargestellt  werde, 
die  religiosen  Fragen  seien  zugleich  ein  integrirender  Theil  der 
ausseren  und  inneren  Politik  gewesen,  die  Byzantiner  hatten  das 
Christenthum  organisirt  (?)  und  fur  die  Ausbreitung  desselben 
gewirkt.  Auch  die  Confusion  von  Kirche  und  Staat,  welche  man 
mit  dem  Namen  des  Byzantinismus  bezeichne,  sei  keineswegs 
immer  dort  vorhanden  gewesen,  es  wird  auf  die  heftigen  Kampfe 
hingewiesen ,  welche  zwischen  beiden  Machten  gefuhrt  worden 
sind;  auch  den  schadlichen  Einfliissen  des  Monchthums  standen 
heusame  gegeniiber. 

Der  Ver£  schildert  dann  den  hohen  materiellen  Wohlstand, 
dessen  sich  das  byzantinische  Reich  erfreut  habe,  die  Bluthe  von 
Handel  und  Industrie,  die  reichen  Einkiinfte  des  Staates.  Diese 
BKithe  ist  vernichtet  worden  durch  die  Rivalitat  der  italienischen 
flandelsrepubliken  und  durch  den  uberwiegenden  Einfluss,  welchen 
dieselben  in  der  Zeit  der  Kreuzziige  erlangt  und  auch  nach  der 
Wiederherstellung  des  grieohischen  Kaiserreiches  behauptet  haben, 
fiir  ebendiese  aber  ist  gerade  die  Beriihrung  mit  dem  byzan- 
tinischen  Reiohe  der  Anlass  der  Bluthe  geworden.  Er  weist 
dann  hin  auf  die  Pflege,  welche  die  Kiinste  und  Wissenschaften 
bei  den  Byzantinern  gefunden  haben,  insbesondere  auf  die  hohe 
Ausbildung  der  Jurisprudenz.  In  der  Kunst  seien  die  Byzajitiner 
die  Lehrmeister  der  jinderen  Nationen  gewesen,  sie  hatten  uns 
die  Werke  des  griechischen  Alterthums  erhalten,  durch  ihre 
Vermittlung  hatten  damals  die  Araber  dieselben  kennen  gelernt. 
Allerdings,  bemerkt  er,  fehle  den  byzantinischen  Schriftstellern 
Tiefe  und  Originalitat,  ihre  Schwache  gerade  sei  das,  worin  sie 
fltfea  Ruhrn  gesucht,  die  sclavische  Nachahmung  der  Alten,  doch 
zeige  die  griechische  Liturgie  und  manche  religiose  Dichtungen 
audi  mehr  Tiefe  des  Gefuhls. 

Schliesslich  stellt  der  Verf.  den  von  ihm  hervorgehobenen 
Lichtseiten  des  byzantinischen  Staatswesens  auch  die  Schatten- 
seiten  gegeniiber.  Als  solche  bezeichnet  er  drei  Punkte:  den 
Mangel  an  politischer  Freiheit,  das  Vorwiegen  des  kirchlichen 
Elfmentes  und  die  Entwaffnung  des  Volkes,  veranlasst  durch 
das  Bestehen  eines  besonderen  Soldatenstandes. 

Wenn  wir  von  Uebertreibuugen  sprachen,  welche  sich  in 
der  Schrift  finden,  so  sind  als  solche  namentlich  die  Angaben 
fiber  den  hohen  intellectuellen  und  auch  moralischen  Zustand 
der  Byzantiner  zu  bezeichnen.  Der  Verf.  versteigt  sich  zu  der 
Behauptung:  der  intellectuelle  und  moralische  Zustand  der  Be- 
wohner  beweise,  dass  dieses  Reich  eine  Oase  innerhalb  der  es 
Ipn  alien  Seiten  umgebendon  Barbarei  des  Mittelalters  bilde. 
*«  lasst  dabei  ganzlich  ausser  Acht,  dass,  was  wissenschaftliche 
Bildnng  anbetrifft,  dieselbe  doch  auch  dort  nur  auf  einen  sehr 
Ueinen  Kreis  beschrankt  gewesen  ist,  da^s  der  grosste  Theil  der 
^olkerung  dort   ebenso   ungebildet  und  unwissend  gewesen  ist 

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28  Aafjn^of,  At  'A&rjvat  negl  ta  tiXr^  to  v.  if£  cdwvos. 

wie  in  den  abendlandischen  Reichen,  ferner  dass  es  in  diesen 
ebensowenig  an  geistigen  und  wissenschaftlichen  Bestrebungen 
gefehlt  hat,  dass  die  Litteratur  des  Abendlandes,  ebensowohl  die 
poetische  wie  die  bistorische  und  tbeologische,  am  wenigsten  den 
Vergleich  mit  der  byzantinischen  zu  scheuen  hat.  Was  den 
moralischen  Standpunkt  der  Byzantiner  anbetrifft,  so  werden 
wir  gegentiber  den  hochst  ungiinstigen  Berichten  der  gleich- 
zeitigen  Abendlander  iiber  die  Feigheit,  Falschheit  und  Treo- 
losigkeit  der  Griechen  una  unmoglich  von  der  ganzlichen  Grund- 
losigkeit  dieser  Anklagen  dadurch  iiberzeugen  lassen  konnei 
dass  der  Verf.  einige  Phrasen  Finlay's  wiederholt.  Ueberhanft 
muss  bemerkt  werden,  dass  derselbe  einen  Theil  seiner  Be- 
hauptungen  viel  zu  allgemein  gefasst,  dass  er  viel  zu  wenig  die 
grossen  Verschiedenheiten,  welche  die  Zustande  des  byzantiniscben 
Reiches  in  verschiedenen  Zeiten  zeigen,  und  ebensowenij  die 
Unterschiede  zwischen  der  bevorzugten  Hauptstadt  und  den 
Provinzen  beriicksichtigt  hat.  Wenn  der  Verf.  angiebt  (S.  15), 
auf  Grund  gleichzeitiger  Nachrichten  liessen  sich  die  Einkuufe 
der  byzantinischen  Regierung  in  dem  12.  Jahrhundert  aaf 
ca.  25  Mill.  Pfund  Sterling ,  d.  h.  nach  dem  Verhaltniss  <te 
Geldwerthes  auf  heutige  125  Mill,  berechnen,  so  miissen  wir  erstens 
bedauern,  dass  er  uns  nicht  die  Quelle  dieser  interessanten 
Nachricht  genannt  hat,  und  wir  miissen  andererseits  vcrmuthen, 
dass  dieselbe,  wenn  iiberhaupt,  jedenfalls  nur  fur  einen  kurzeren, 
besonders  gliicklichen  Zeitabschnitt  innerhalb  dieses  Jahrhunderte 
richtig  sein  kann. 

Auch  H.  Bikelas  bemerkt,  dass  eine  vollfcommen  richtige 
Wiirdigung  des  byzantinischen  Reiches  und  seiner  Zustande  eret 
dann  moglich  sein  werde,  wenn  die  noch  in  vielen  Theilen  dunkle 
Geschichte  desselben  genauer  aufgehellt  sei,  und  er  richtet  gerade 
an  die  jiingeren  Historiker  Griechenlands  die  Aufforderung,  durch 
monographische  Arbteiten  dazu  mitzuwirken.  Dass  diese  j&hwing 
nicht  unbeachtet  verhallt  ist,  zeigt  die  an  zweiter  Stelle  genannte 
Arbeit  des  H.  Lampros,  welche  iiber  die  Zustande  Athens  ^ 
Ende  des  12.  Jahrhunderts  neue  Aufklarung  verbreitei  Freilich 
werden  durch  dieselbe  die  so  giinstigen  allgemeinen  Schilderung**1 
von  Bikelas  keineswegs  bestatigt. 

Ueber  die  Schicksale  Athens  unter  der  byzantinischen  Herr- 
schaft,  seit  der  Zeit  Kaiser  Justinians,  welcher  durch  Schliessung 
der  Universitat  529  die  Bliithe  der  Stadt  gebrochen  hat,  to 
zum  Jahre  1205,  in  welchem  dieselbe  unter  die  lateinische  Herr- 
8chaft  gekommen  ist,  besitzen  wir  nur  sehr  sparliche,  vereinzdte 
Nachrichten.  Nur  fur  die  allerletzte  Zeit  eroffhet  sich  ein  ver- 
haltnissmassig  reiches  Quellenmaterial  in  den  Schriften  des  E^' 
bischofs  Michael  Akominatos,  welcher  dort  von  1182  an  bisflUD 
Jahre  1205  gewaltet  hat.  Von  diesen  Werken  desselben,  to" 
stehend  in  Briefen,  Predigten,  Reden  und  Schriften,  welche  dem 
Gedachtniss  verstorbener ,  dem  Verfasser  vertrauter  Persons 
gewidmet  sind,  ist  eine  voUstandige  Sammlung  in  einem  florentn^ 

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AaunQos,  At  'A&rjvtu  ne^i  ta  z£Xr\  vov  ifl'  altivoe.  29 

Codex  erhalten,  einzelne  haben  sich  auch  in  anderen,  namentlich 
in    einer  oxforder  Handschrift   gefunden.     Von  denselben  waren 
bisher  nur  wenige,  allerdings  gerade  die  wichtigeren,  der  Naoh- 
ruf  an  den  eigenen  Bruder  Michaels,  den  bekannten  Staatsmann 
and    Geschichtsschreiber   Nicetas    Choniates,    ferner    an    seinen 
Lehrer,  den  beriihmten  Erzbischof  Eustathios  von  Thessalonich, 
ein  Panegyrikus  auf  den  Kaiser  Isaac  Angelos,  eine  Denkschrift 
uber  die  Zustande  Athens  an  dessen  Nachfolger  Alexios  III.,  eine 
Predigt,   einige    Verse   auf  Athen  und   6  Briefe  an  jenen  Erz- 
bischof  Eustathios,    die   meisten    durch    Tafel,,     herausgegeben 
worden,    anf   Grand    derselben   hat    1846    Ellissen   eine   kleine 
Scbrift:  Michael  Akominatos  von  Chonai,  Erzbischof  von  Athen, 
\eroffentlicht ,   in   welcher   er   die  Nachrichten  iiber    das  Leben 
und  die  Schrifben  desselben  verarbeitet  nnd  zugleich  die  letzteren, 
soweit  sie  bekannt  waren,  mit  beigefiigter  deutscher  Uebersetzung 
wieder  herausgegeben  hat.     Auf  eben  diesen  beruhen  die  Nach- 
richten iiber  die  Zustande  Athens,  welche  sich  bei  Hopf  und  in 
den   anderen  neueren  Bearbeitungen   der   Geschichte  Griechen- 
lands    im  Mittelalter  finden.    H.  Lampros  hat  zum  Zweck  einer 
Herausgabe  der  sammtlichen  Schriften  Michaels  die  verschiedenen 
Handsohriften   derselben   studirt   und  hat   es   dann  zunachst  in 
der  vorliegenden  Schrift  unternommen ,  die  Nachrichten,  welche 
sich  in  denselben,   namentlich  in  den  noch  ungedruckten ,   iiber 
den    Verfasser   selbst   und    iiber    die    Schicksale    und    Zustande 
Athens  zu  seiner  Zeit  finden,   zu   verwerthen.     Er   hat  daneben 
auch  noch  benutzt  Briefe  des  Erzbischofs  Georgios  Tornikes  von 
Ephesus  an  Michael,  welche  er  in  einer  wiener  Handschrift  ge- 
hmden  hat,  ferner  Inschrifben  und  Siegel,  und  mit  Hiilfe  dieses 
neuen  Quellenmaterials  hat  er  das  Bild  der  damaligen  Zustande 
Athens   erheblich    vervollstandigt    und    manche    Irrthiimer    der 
friiheren  Darsteilungen  berichtigt. 

Nach  einem  kurzen  Ueberblick  iiber  die,  wie  schon  bemerkt, 
sehr   wenig  bekannten  Schicksale  Athens  in  den  friiheren  Jahr- 
hunderten   schildert   er  zunachst  den  Lebensgang  jenes  Michael 
Akominatos.     Derselbe  ist  ca.  1140  in  Chonai  in  Kleinasien,  dein 
alten  Colossai,  geboren.     Von  friih  auf  fur  den  geistliohen  Stand 
bestimmt,  wurde  er  von  seinen  Eltern  zu  seiner  Ausbildung  nach 
Constantinopel  geschickt,  sein  Lehrer  wurde  der  beriihmte  Eusta- 
thios, durch  diesen  wurde  er  auch  in  das  Studium  des  classischen 
Alterthums   eingefuhrt   und   mit   Begeisterung  hat  er  sich  dem- 
selben  hingegeben.    Nach  Beendigung  seiner  Studieilzeit  lebte  er 
zunachst  noch   weiter  in   Constantinopel   als   Secretar   des  Pa- 
triarchen  und  fand  hier  Gelegenheit,   Verbindungen   mit  hoch- 
gestellten  und  einflussreichen  Personlichkeiten   anzukniipfen,  zu 
Anfang   des   Jahres  1182  wurde  er  dann  zum  MetropoUten  von 
Athen   ernannt.     Dort  hat  er  dann  bis  zum  Jahre  1205  gelebt 
und  er  hat  uns  in  seinen  Schriften  zahlreiche  Nachrichten  iiber 
die   dortigen  Zustande  mitgetheilt.    Athen  gehorte  zu  der  Pro- 
vinz  Hellas,    welche   damals  aber  mit  dem  friiher  getrennten 

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30  AafjMQQSy  At  'A&jjvcu  neqi  ra  tsXrj  tov  tf  tdmvog. 

Peloponncs   znsammen   unter   einem   Statthalter,  damals  Prator 
genannt,  stand.    Michael  fand  Stadt  mid  Land  in  trauriger  Ver- 
kommenheit.     Anf   dem    sandigen   Boden   Athens   wurde  wenig 
Getreide  gewonnen,   die  Haupterzeugnisse ,   wie  schon  im  Alter- 
thum,  waren  Oel,  Wein  und  Honig.     Die  Stadt  war  verodet  und 
arm,   Mauern   und  Hauser  lagen  zum  Theil   in  Triimmern,  die 
Gewerbthatigkeit  war  gering,  namentlich  fehlte  die  Seidenindustrie, 
welcher  andere  Stadte,  wie  Theben  und  Euripos,  ihren  Wohlstand 
verdankten,   doch   war   sie  nicht  ganz  ohne  HandeL     Der  Verf 
schliesst  aus  einigen  Andeutungen  Michaels,  dass  dieser  traurige 
Zustand  der  Stadt  durch  ein  besonderes,  ungliickliches  Ereignif 
veranlasst  sein  miisse,  und  er  vermuthet,  dass  dieses  die  Eroberung 
der  Stadt  durch  den  Konig  Roger  von  Sicilien  ca.  1147  gewesen  sa 
von   welcher  wir   freilich   nur   durch   den  deutschen  Chronisten 
Otto  von  Freising  Kunde  erhalten.     Doch   erhob  sich  stolz  uter 
der   Stadt   der  Parthenon,  jetzt   die   Kirche  der  Gottesmutter, 
geschmiickt  mit  Mosaikbildern,  reich  an  Kostbarkeiten ,  das  Ziel 
vieler  Wallfahrer,  auch  andere  Kirchen  werden  in  der  Stadt  ge- 
nannt.    In   seiner  Antrittspredigt   ermahnt  Michael  die  Athens 
zur  Tugend  unter  Hinweis  auf  ihre  grosse  Vergangenheit.    Aber 
das   Volk,    zu   welchem   er  predigte,    war   arm  und  unwissend, 
Michael  klagt,    dass  es  seine  attisirende  Rede  garaicht  verstehe, 
dass  er  sich  ihren  barbarischen  Dialekt  angewohnen  miisse.  Doch 
sucht  der  Verf.  nachzuweisen ,  dass  Michaels  Klagen  iiber  gam- 
lichen  Mangel  an  Bildung  in  Athen  iibertrieben  seien,  zwar  ?er- 
wirft  er   als   wenig  zuverlassig    die   Nachrichten,    welche  Hopt 
herangezogen  hatte,  von  jungen  Spaniern,  deren  immer  alljahrlieh 
eine  Anzahl  zur  Ausbildung  nach  Athen  geschickt  sei,  und  von 
einem  Englander  Aegidius,  der  dort  seine  Studien  gemacht  habe, 
glaublicher   erscheinen  ihm  die  Nachrichten  iiber  einen  anderffl 
Englander    Basingestokes ,    der    auch    in  Athen  studirt  und  die 
Tochter  des  dortigen  Erzbischofes  Constantina  zur  Lehrerin  g&" 
habt  haben  soil,  er  zeigt  aber,  dass  diese  Constantina  nicK  *ie 
Hopf  meinte,  die  Tochter  Michaels  gewesen  sein  kann.    Freflich 
ist   seine   eigene   Vermuthung ,   dass  sie   die    Tochter   ernes  der 
lateinischen  Erzbischofe  gewesen  sei,  welche  seit  1205  den  En- 
stuhl  von  Athen  inne  hatten,  auch  wenig  wahrscheinlich.    Dock 
giebt  es  noch  andere  Zeugnisse,   welche  beweisen,  dass  Bildung 
und  Wissenschaft   in  Athen  damals  nicht  ganz  erstorben  waren, 
wir  finden  Athener  im  Besitz  der  hochsten  kirchlichen  Wiirden, 
Michael   selbst   erwahnt,    dass   es  in  Athen  Biicherfreunde  gel* 
und  dass  er  selbst  dort  seine  Bibliothek  bereichert  habe,  freilich 
aber  auch,  dass  ein  fbrmlicher  Handel  mit  Buchern  nach  Italian 
hin  getrieben  werde. 

Athen  hatte  besonders  durch  die  Seerauber  zu  leiden,  welche 
bei  dem  VerMl  der  griechischen  Seemacht  im  agaischen  Meere 
iiberhand  genommen  hatten,  die  benachbarten  Inseln  Aegina  und 
Macri  waren  Hauptstationen  derselben,  und  von  dort  aus  machten 
sie  Raubziige  selbst  bis  in  das  Innere  des  Landes.  Michael  ergeht 

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\ 

AafinqoSi  At  'Afrrprai  neqi  ta  teXy  tov  ij}'  aiwvog.  31 

sich   in   semen  Schriften   in   Klagen   iiber   das  Ungliick  Athens, 
bestandig  betont  er  den  Gegensatz  zwischen  der  glanzenden  Ver- 
gangenheit  und  der  traurigen  Gegenwart,  doch  liess  er  es  nicht 
nur  an  diesen  Klagen  bewenden,  sondern  er  bemiihte  sich  auch> 
Abhiilfe  zu  schaffen.     Aber  diejenigen,  auf  deren  Mitwirkung  er 
dabei   am   meisten   angewiesen   war,   die   kaiserlichen   Beamten, 
waren  selbst  die  schlimmste  Plage  des  Landes.    Die  Statthalter 
waren  auf  Gebiihren  aus  der  Proyinz  selbst  angewiesen,  und  sie 
sowohl  wie  ihre  Unterbeamten  erlaubten  sich  mit  wenigen  riihm- 
lichen   Ausnahmen  —   so    preist   Michael   als   damals   noch    in 
daukbarer     Erinnerung    stehend    die    Verwaltung    des    Alexios 
Bryennios,    des    Sohnes    der   kaiserlichen   Geschichtsschreiberin 
Anna  Komnena    —    die    schlimmsten   Erpressungen    und    Will- 
kMichkeiten.     H.  Lampros  sucht  nachzuweisen,  dass  die  Angabe 
Hopfe,  welche  in  alle   anderen   Darstellungen   der  griechischen 
Geschichte  iibergegangen  ist,  Athen  habe  sich  ganz  besonderer 
Pririlegien  erfreut,  unrichtig  sei,  dass  Hopf  einige  Aeusserungen 
Michaels  missverstanden  habe.     Wenn   derselbe   angebe,   Athen 
habe  wenigex  Steuern  als  Theben  oder  Euripos  zu  zahlen  gehabt, 
so  erklare     sich   dieses   daraus,    dass   es  armer  als  jene  Stadte 
gewesen  sei,   das  kaiserliche  Privileg,   auf  welches  sich  Michael 
beruft,  habe   den  Statthaltern  nicht  iiberhaupt  untersagt,  Athen 
zu  betreten-,    sondern   hatte  ihnen   nur  verboten,   mit  Truppen 
dort  zu  erscheinen.     Wir  besitzen  noch  die  Beden ,  mit  welchen 
Michael  einige   dieser   Statthalter   bei   ihrem   Einzuge  in  Athen 
begrusst  hat,   die  eine  derselben,    die  Rede  an  den  Prator  De- 
nietrios  Drimys,  hat  der  Verf.  hier  im  Anhange  abdrucken  lassen ; 
anch  in  ihnen   ergeht   sich   der  Erzbischof  in  Klagen  iiber  den 
fraurigen  Zustand  der  Stadt  im  Vergleiche  mit  der  Vorzeit,   er 
strcht  jene  Beamten,  indem  er  sie,  so  wie  die  gerade  regierenden 
Kaiser  mit    Schmeicheleien  uberschiittet ,    zum  Einschreiten   zu 
Gunsten  derselben  zu  bewegen,  und  seine  Mahnungen  sind  auch 
nicht  ganz    erfolglos   gewesen.     Nach    der   Thronbesteigung  des 
Kaisers    Isaac    Angelos    und    der    gliicklichen    Beendigung    des 
Krieges  gegen   den  sicilischen   Konig  Wilhelm  II.   ging  Michael 
fclbst  nach   Constantinopel  und   hielt   hier   diesem  Kaiser   eine 
schmeichlerische  Lobrede,  in  welcher  er  wiederum  denselben  fur 
Athen   zu  interessiren  suchte.    Doch  trotz  kaiserlicher  Erlasse, 
seiche   er   erwirkte,    und  trotz  seiner  Verwendung  bei  einfluss- 
reichen  Freunden,  dauerten  die  Leiden  und  Bedriickungen  Athens 
fort.     Am    schlimmsten    warden    sie    unter    Isaacs    Nachfolger 
Alexios  HI. ,   als   der  Admiral  Johannes  Stirione  den  Befehl  er- 
hielt,  gegen  die  Piraten  eine  Flotte  zu  riisten,  aber  unter  diesem 
>orwande,   ohne   gegen  jene  wirkliche  Abhiilfe  zu  schaffen,   die 
groasten  Erpressungen  vornahm,   wahrend  gleichzeitig  auch  der 
dajmalige  Prator   sich  die  argsten  Gewaltthaten  und  Baubereien 
snaubte.    Damals   hat  Michael    an  den  Kaiser  eine  Denkschrift 
gencntet,  in  welcher   er   in   den  schwarzesten  Farben  das  Un- 
stick der  Stadt   und  die  Frevelthaten  jener  Beamten  schildert. 

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32  AccfiTiQos,  Aoyos  eicfctyJQCog. 

Zuletzt  hat  Michael  noch,  wie  wir  aus  dem  Berichte  seines 
Bruders,  des  Geschichtsschreihers  Nicetas  Choniates  erfiaJiren  — 
in  seinen  eigenen  Schriften  finden  sich  keine  Nachrichten 
dariiber  —  mit  gewaffneter  Hand  Athen  gegen  den  machtigen 
Herrn  von  Nauplia,  Argos  und  Corinth,  Leo  Sguros,  vertheicbgt 
Nachdem  derselbe  zuerst  Gelderpressungen  versucht  hatte,  zog 
er  1203  vor  Athen,  urn  sich  der  Stadt  zu  bemachtigen,  aber 
Erzbischof  Michael  leitete  geschickt  die  Vertheidigung  der  Acro- 
polis, auf  welche  sich  die  Einwohner  zuriickgezogen  hatten,  mid 
Sguros  musste  schliesslich  unverrichteter  Sache  abziehen. 

Ohne  Widerstand  dagegen  ergab  sich  im  Jahre  1205  Atha 
an  Bonifacius  von  Montferrat,  der  nach  der  Eroberung  von  Cast 
stantinopel  nach  Griechenland  kam,  urn  die  ihm  bei  der  Ver- 
theilung  des  eroberten  Reiches  zugefallenen  Gebiete  in  Besitz  za 
nehmen.  Der  Parthenon  wurde  bei  dieser  Gelegenheit  gepliindert, 
ebenso  die  Wohnung  Michaels  (nach  der  Vermuthung  des  Verf. 
befand  sich  dieselbe  in  den  Propylaen),  dieser  selbst  musste  vor 
einem  lateinischen  Priester,  Berard,  welcher  von  den  Eroberen 
zum  Erzbischof  eingesetzt  wurde,  weichen,  er  floh  zuerst  m4 
Thessalonich ,  dann  nach  Euripos ,  endlich  nach  der  Insel  Keos: 
dort,  angesichts  der  attischen  Kiiste,  hat  er  in  einem  Kloster 
unter  armlichen  Verhaltnissen  seine  letzte  Lebenszeit  zugebracbi 
Doch  blieb  er  fortgesetzt  in  Briefwechsel  mit  zahlreichen  Freun- 
den  in  der  Fremde,  mit  seinen  Klagen  iiber  das  Ungliick  de8 
Vaterlandes  vermischen  sich  die  Hoffiiungen  auf  eine  bessere 
Zukunft,  auf  die  Befreiung  von  der  Fremdherrschaft ;  erst  ca.  1220 
ist  er  gestorben. 

Wir  machen  bei  dieser  Gelegenheit  auch  auf  die  oben  an 
dritter  Stelle  genannte  kleine  Schrift  desselben  Verfetssers  auf- 
merksam,  welche  derselbe  die  Freundlichkeit  gehabt  hatf  was 
zuzuschicken.  Es  ist  die  Antrittsrede,  welche  er  bei  Uebernaime 
der  Professur  fur  griechische  Geschichte  und  Palaograpiue  an 
der  Universitat  Athen  gehalten  hat  In  dem  Haupttheile  der- 
selben  giebt  er  einen  Ueberblick  iiber  die  Entwickelung,  welche 
das  Studium  des  griechischen  Alterthums  in  den  verschiedenen 
Perioden  seit  der  Renaissance  genommen  hat,  er  charakterisirt 
dabei  in  sehr  eingehender  und  richtiger  Weise  die  Werke  tod 
Grote  und  Curtius.  In  dem  folgenden  kiirzeren  Theile  wendet 
er  sich  der  spateren  Geschichte  Griecheniands  zu,  er  weist  daranl 
hin,  dass  dieselbe  noch  vernachlassigt  und  zuriickgesetzt  sei,  und 
er  bezeichnet  dann  als  die  Ursachen  dieser  Erscheinung  einma! 
die  nationalen  und  kirchlichen  Vorurtheile,  von  denen  sich  die 
Historiker  des  Abendlandes  haben  beeinflussen  lassen,  und  ferner 
die  BeschaflFenheit  des  Quellenmaterials  fur  die  Greschichte  des 
griechischen  Mittelalters.  Er  nennt  dann  riihmend  die  beiden 
Geiehrten,  welche  sich  um  die  Erforschung  derselben  besonders 
verdient  gemacht  haben,  Buchon  und  Hopf,  und  er  fordert  ebenso 
wie  H.  Bikelas  seine  Schiiler  auf,  dem  Beispiele  derselben  folgend 
durch  Herausgabe   neuer    Quellen    und    durch    monographfeche 


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Villari,  Niccolo  Machiavelli  und  seine  Zeit  33 

Darstellungen  an  der  weitereu  Aufklarung  dieses  Theiles  der 
griechischen  Geschichte  mitzuwirken.  Er  preist  zum  Schluss 
seinen  einstigen  Lehrer  und  jetzigen  Collegen,  H.  Paparrigopulos, 
als  das  Vorbild  eines  nationalen  Geschichtsschreibers  und  spricht 
die  Hofihung  aus,  dass  es  auch  ihm  gelingen  werde,  fUr  die 
Forderung  der  wissenschaftlichen  Studien  und  die  Belebung  des 
nationalen  Geistes  unter  seinen  Schulern  thatig  zu  sein. 
Berlin.  F.  Hirsch. 

XII, 
Villari,  Pasquale,  Niccolo  Machiavelli  und  seine  Zeit.  Durch 
neue  Dokumente  beleuchtet.  [In  2  Bdn.]  Mit  des  Verfassers 
Eriaubniss  iibersetzt  von  Bernhard  Mangold.  I.  Band.  gr.  8. 
(XVIII,  508  S.)  Leipzig  1877.  H.  Hartung  &  Sohn.  8  M. 
Sicher  konnte  der  Biograph  Savonarola's  fur  ganz  beson- 
ders  befahigt  und  vorbereitet  gelten,  das  Leben  eines  Mannes 
darzustellen,  dessen  Charakterbild  nicbt  nur  „  durch  der  Parteien 
Gunst  und  Hass  verwirrt",  sondern  auch  in  der  Beurteilung  der 
ruhigsten  und  gewissenhaftesten  Forscher  nocb  heute  wie  eine 
Sphinx  erscheint,  unlosbare  Ratsel  aufgebend,  damonisch  fesselnd 
und  abstossend  zugleich.  Auf  dem  festen,  iiberall  sorgfaltig  aus- 
gefiihrten  Unterbau  der  Renaissancezeit  lasst  Villari's  Meister- 
hand  das  Standbild  des  Mannes  sich  erbeben:  in  diesem  ersten 
—  nur  bis  1507  reichenden  —  Theile  natiirlich  noch  mit  unent- 
wickelten,  aber  doch  scbon  hie  und  da  scharf  markirten,  klar 
anf  Zukiinftiges  hinweisenden  Ziigen.  Der  Verfasser  war  bemiiht 
zu  erforschen,  „wie  in  jenern  Jahrhundert  der  Geist  des  Macbia- 
vellismus  entstand,  ehe  Machiavelli  selbst  auf  die  Biihne  trat, 
urn  ihm  das  eigentiimliche  Geprage  seines  politischen  Genies  zu 
geben  und  ihn  wissenschaftlich  zu  formuliren".  Villari  kennt 
und  wiirdigt  vollkommen,  was  Voigt  und  Burckhardt,  v.  Reumont 
und  Gregorovius  fur  Aufhelliuig  der  italienischen  Renaissance- 
periode  geleistet  haben:  seine  vollstandige  Beherrschung  des 
urkundlichen  Materials  gibt  ihm  aber  immer  noch  Gelegenheit, 
dem  Gemalde  hie  und  da  neue  Lichter  aufzusetzen,  dem  Be- 
trachter  einen  eigenthiimlichen  Gesichtspunkt  anzuweisen.  Die 
Darstellung  ist  schlicht,  aber  doch  ohne  Trockenheit ;  sie  schreitet 
ohne  Hast  in  anmutiger  Lebendigkeit  fort  und  lasst  unter  der 
ruiigen  Objectivitat  des  Forschers  die  patriotische  Gesinnung, 
das  warme  sittliche  Gefiihl  klar  genug  hervorscheinen. 

Ausser  den  gedruckten  Urkunden,  wie  den  diplomatischen 
Correspondenzen  fest  aller  italienischen  Provinzen,  den  kiirzlich 
erschienenen  zehn  Banden  bisher  unpublicirter  Werke  Guicciar- 
dini's  u.  s,  w.  hat  V.  die  auf  mehrere  Tausende  sich  belaufenden, 
von  Machiavelli  eigenhandig  geschriebenen  amtlichen  Briefe  der 
NationaJbibliothek  aufs  sorgfaltigste  durchgearbeitet.  Fur  die 
Form  seiner  Biographie  musste  die  fortdauernde  Benutzung  der 
Gesaudtschaftsberichte  Machiavelli's  neben  jenen  Briefen  aus  der 
^izlei   und    die   Vergleichung    dieser    boiden    Quellen    ersten 

MUthellungcn  a.  d.  hiator.  Litteratur.    VH.  3 

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34  Villari,  Niccolo  Machiavelli  und  seine  Zeit. 

Ranges  mit  den  von  Villari  selbst  veroffentlichten  Depeschen 
des  venetianischen  Gesandten  Giustinian  charakteristisch  werden. 
Die  Werke  M/s  citirt  er  nach  der  Ausgabe  von  1813,  vergleicht 
aber  damit,  soweit  sie  reicht,  die  seit  1873  in  Florenz  erschei- 
nende.  Das  Bedauern  der  Herausgeber  derselben,  Passerini  und 
Milanesi,  dass  die  vielen  Bande  vertraulicher  Briefe  M.'s,  die  aus 
dem  Besitz  des  englischen  Sammlers  Philipps  ins  britische  Mu- 
seum iibergegangen ,  noch  immer  der  Benutzung  entzogen  seien, 
veranlasste  Villari,  nach  jenem  ungehobenen  Schatzo  zu  forschen. 
Er  erkannte  in  den  drei  Banden  des  Carteggio  originale  di 
N.  Machiavelli,  die  sich  jetzt  wie  die  ganze  PhUipps'sche  Biblio- 
thek  in  Cheltenham  befinden,  nur  einen  einzigen,  mog- 
licherweise  von  M.  entworfenen  Brief,  wahrend  alle  iibrigen 
von  1513  —  26,  also  zu  einer  Zeit,  als  er  nicht  mehr  im  Amt 
war,  geschriebenen  nicht  von  ihm  herriihren  konnen  und  das 
N.  M.  am  Fuss  mancher  Seite  nur  auf  den  damaligen  Ka&zter 
der  Acht:  Niccolo  Michelozzi  zu  deuten  ist. 

Die  mehr  als  die  Halfte  des  ersten  Bandes  umfassende  E»- 
leitung  betrachtet  in  ihrem  ersten  Abschnitt :  dieRenaissance 
im  AUgemeinen,  ihr  Wesen,  ihren  kulturhistorischen  und  politi- 
schen  Charakter.  Gerade  als  die  mittelalterlichen  Institutional 
in  Italien,  die  sich  uberlebt  hatten,  mit  Neubildungen  rangen, 
im  Augenblick  einer  allgemeinen  Verwirrung  der  Geseltechaft, 
stiirzten  sich  die  Fremden  auf  die  Halbinsel  und  hemmten  ihr 
Vorwartsschreiten.  Man  arbeitet  mit  unwiderstehlicher  Energie, 
sucht  und  findet  alle  litterarischen  Formen,  aber  das  religiose 
Gefuhl  und  der  moralische  Sinn  schwinden.  Wenn  dieses  Uebel 
an  die  Oberflache  treten  wird,  muss  eine  schreckliche  Katastrophe 
erfolgen;  „und  eben  das  bestandige  Heranriicken  dieser  Kata- 
strophe inmitten  solchen  geistigen  Fortschritts  ist  die  Geschichte 
der  Renaissance". 

Der  zweite  Abschnitt  behandelt  diewichtigstenStaaten 
It  aliens:  Mailand,  Florenz,  Venedig,  Rom  und  Neapel.  In 
knappen  Umrissen  wird  die  politische  Entwickelung  dersdben 
dargestellt  und  noch  Raum  gewonnen  hier  fur  ein  lebensvolles 
Portrait,  dort  fur  ein  ausgefuhrtes  kleines  Culturbild.  Der 
dritte  Abschnitt  ist  der  Litteratur  gewidmet  und  zeigt  Villan s 
griindliche  Kenntnisse  und  feines  Urteil  auf  alien  Punkten  dieses 
Gebiets,  ob  er  Petrarka  und  den  mit  ihm  beginnenden  Humanis- 
mus  im  allgemeinen  schildert,  oder  die  Humanisten  in  Florenz, 
Rom,  Mailand,  Neapel  und  in  den  kleineren  Staaten  in  einer 
Galerie  anziehender  Charakterkopfe  uns  vorfiihrt,  oder  endlicb 
das  Entstehen  und  die  Wirksamkeit  der  platonischen  Akademie 
und  das  Erwachen  der  italienischen  Nationallitteratur  darstellt 
Im  vierten  Abschnitt  endlich  wird  uns  die  politische  Lage 
Italiens  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  geschildert: 
die  einzelnen  Kapitel  desselben  behandeln  in  ausfuhrlicher  Er- 
zahlung  die  Wahl  des  Papstes  Alexander  VI.,  die  Ankunft 
Karls  VIII.   in  Italien,   die  Borgia,   endlich  Savonarola  und  die 


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Villari,  Niccolo  Machiavelli  imd  seine  Zoit.  35 

florentinische   Republik.    In    diesem   letzteren   zieht   Villari   auf 

vierzehn   Seiten   die   Summe  seiner  Studien  iiber  den  schwarme- 

rischen  Monch,  der  nach  ihm  im  Einzelnen  auch  „Beweise  eines 

wunderbar  gesunden  politischen  Verstandes  gegeben",  darin  aber 

sich  tauschte  und  darum  zum  Theil  auf  Sand  baute,  weil  er  „die 

freie  Regierung  wollte,  um  die  religiose  Reform  zu   fdrdern,   die 

Florentiner  aber   die   religiose   Reform   nur   annahmen,   um  die 

freie  Regierung  besser  zu  befestigen".  —  Das  erste  noch  nicht 

beendete   Buch   der   eigentlichen  Biographie  soil  von  der  Ge- 

burt   Niccolo   Machiavelli's    bis    zu    seiner   Amts- 

entsetzung   als   Kanzl-er    der    Zehn   (1469 — 1512) 

reichen.     Nur   ausserst   wenig   weiss   uns   V.  von  seinem  Helden 

vot  dem  Zeitpunkte   zu  berichten,   wo   er,   29  Jahre  alt,   zum 

Kanrier    der   Zehn   gewahlt  wird  und  damit  zum  ersten  Mai  in 

der  Geschichte  erscheint.    Die  Machiavelli  waren  eine  alte  tos- 

tanische  Familie,  im  13.  Jahrhundert  gehoren  sie  zu  den  ange- 

sehensten  Popolanen   von   Florenz   und    nehmen,   verbannt   und 

wieder   zuriickkehrend ,    an    den  Geschicken   der   Guelfen  theil. 

Der  Vater    Niccolo's   war   Rechtsgelehrter   mit   massigem   Ein- 

kommen.     Von  seinem  zweiten,  am  3.  Mai  1469  geborenen  Sohne 

finden  sich  die  ersten  geschriebenen  Worte  in  einem  italienischen 

und  einem  Stuck  eines  lateinischen  Briefes  vom  December  1497, 

worm  Niccolo  als  Vertreter  aller  Machiavelli  die  Patronatsrechte 

der  Familie  auf  eine  Kirche   in  Mugello   einem   romischen   Pra- 

laten*  (wahrscheinlich    dem   Cardinal   von   Perugia)   mit  grosser 

Gewandtheit  ans  Herz  legt.    Bewiesen  ist  damit,  dass  er  damaJs 

Latein  verstand  und  schrieb,  was  bezweifelt  warden;  griechische 

Schriftsteller  im  Original  zu  lesen,  war  er  nach  Villari  nicht  im 

Stajide.     Vom  8.  Marz  1498  ist  uns  ein  merkwurdiger  Brief  er- 

halten,  in  dem  sich  Machiavelli,  nach  dem  er  zweimal  Savonarola 

in  San  Marco  predigen  gehort,  mit  Ironie  und  Verachtung  iiber 

ihn  aussert,  nicht  begreifen  will,  was  gross  und  edel  an  ihm  sei, 

and  wie    er   in  Florenz  einen  solchen  Einfluss  gewinnen  konnte. 

Am  15.  Juni   desselben    Jahres   wurde  M.  im  Rath  der  Achtzig 

znm  Secretar  der  zweiten  Kanzlei,  der  der  Zehn,  gewahlt,  welche 

zunachst  Kriegsangelegenheiten  aber  auch  die  innere  Verwaltung 

der  Republik  leiteten.     Am   14.  Juli   von  der  Signorie  bestatigt, 

trat  er  sofort  sein  Amt  an,  das  er  bis  zum  Sturze  der  republi- 

kanischen   Regierung   1512  behielt.     Sein   College   als   Secretar 

der  Signorie   oder  Kanzler  der  Republik   war  damais  Marcello 

Virgilio.     Im   Vergleich  zu  diesem  Manne,   einem  Gelehrten  der 

alten   Schule,    gibt   uns   V.   hier   eine   Schilderung  M.'s,    seines 

Aeusseren  und  seiner  Lebensfiihrung,  die  aber  vom  Politiker  und 

Schriftsteller   noch   vollig   absieht.     Sich   seinen  Amtsgeschaften 

eifrig  hinzugeben  entsprach  M.'s  fieberhaftem  Thatigkeitstriebe, 

^och  behielt  er  noch  Musse   genug   fur   Lecture,    Unterhaltung 

und  die  Freuden  des  Lebens. 

Der  Krieg  mit  Pisa,  der  vorher  und  nachher  den  Florentinern 
*o  viel  zu  schaffen  machte,  nahm  auch  sofort  den  Kopf  und  die 


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36  Villari,  Niccolo  Machiavelli  und  seine  Zeit 

Feder  des  neuen  Secretars  energisch  in  Anspruch.  Die  Unter- 
handlungen  mit  den  tragen  oder  eigenmachtigen  Hauptleuten 
notigten  ihn  nicht  bios  zu  einer  nie  rastenden  Corresponded 
sondern  auch  oft  zu  Reisen  und  personlichem  Einschroiten.  Den 
ersten  eigentlich  diplomatischen  Auftrag  erhielt  er  im  Juli  1499, 
als  er  zu  Caterina  Sforza,  der  Grafin  von  Iniola  und  Forli,  ge- 
sandt  wurde,  urn  mit  ihr  einen  Vertrag  abzuschliessen,  der  den 
Florentinern  die  Beschaffung  von  Kriegsinaterial  und  die  Wer- 
bung  von  Soldnern  aus  ihrem  Gebiet  gestattete.  Jene  abenteuer- 
liche  Frau  mit  mannlichem  Geiste,  die  damals  vor  kurzem  erst 
ihren  dritten  Gemal  Giovanni  vom  jiingern  Zweig  der  Medici 
begraben  hatte,  stand  gleichzeitig  mit  dem  Herzog  von  Mailand 
in  Unterhandlung.  Da  die  Bedingung,  die  sie  ganz  unerwartet 
vor  Unterzeichnung  des  Vertrags  stellte,  die  Florentiner  miissten 
sich  ausdriicklich  zur  Bcschutzung  ihres  Staates  verpflichteo,  der 
Signorie  unannehmbar  erschien,  verliess  M.  Forli,  ohne  that- 
sachlich  viel  erreicht  zu  haben,  aber  doch,  wie  die  Briefe  seines 
Freundes  Buonaccorsi  beweisen,  in  der  Ueberzeugung,  dass  seifi 
Eifer  und  seine  Gewandtheit  von  der  heimischen  Regierung  nicht 
verkannt  wurden.  Im  August  und  September  machte  ihm  der 
gegen  Pisa  operirende  Feldhauptmann  Paolo  Vitelli  viel  zu 
schaffen,  dessen  Verhalten  verdachtig,  ja  zuletzt  verraterisck 
erschien,  und  der  deshalb,  nicht  ohne  M.'s  Mitwirkung,  von 
Kriegscommissaren  der  Republik  hinterlistig  gefangen  genommen 
und  gleich  darauf  hingerichtet  ward.  Eine  noch  aus  dresem 
Jahre  stammende  „Rede  an  die  Zehn  iiber  die  Pisaner 
Angelegenheiten"  beweist  M.'s  lebhaftes  Interesse  auch  fur 
die  Einzelnheiten  der  Kriegskunst,  „die  fiir  ihn  damals  schon 
ein  wesentlicher  Theil  der  Politik  war". 

Am  11.  September  1499  war  das  franzosische  Heer  sisg- 
reich  in  Mailand  eingezogen:  am  19.  October  schlossen  di'e 
Florentiner  mit  Ludwig  XIL  einen  Vertrag,  wonach  dieser  ton 
zur  Unterwerfung  Pisas  behilflich  sein,  sie  fiir  ihn  Truppennadi 
Mailand  senden  und  mit  500  Reisigen  und  50000  Scudi  sein 
Unternehmen  gegen  Neapel  unterstiitzen  sollten.  Als  nach  dw 
Riickkehr  Ludovico  Moro's  und  seiner  Gefangennahme  wirklicb 
Schweizer  und  Gascogner  Soldner  den  Florentinern  fiir  Pisa  zur 
Verfiigung  gestellt  wurden,  die  Eroberung  der  Stadt  aber,  die 
schon  gesichert  schien,  schliesslich  doch  mislaug,  und  wegeu  der 
Unbotmassigkeit  und  der  immer  wachsenden  GeldforderungJJ1 
der  franzosischen  Truppen  Misverstandnisse  zwischen  Ludwig  Xlt 
und  der  florentinischen  Regierung  eintraten,  wurden  im  Juli  1500 
zur  Beseitigung  derselben  Francesco  della  Casa  und  Niccolo 
Machiavelli  nach  Frankreich  gesendet  Da  sein  College  naj* 
den  ersten  Monaten  krank  wurde,  ruhte  die  wichtige  Gesandt- 
schaft  allein  auf  M.'s  Schultern,  der  hier  zuerst  ein  grosser^ 
Beobachtungsfeld  betrat.  In  seinen  Berichten,  besonders  uw 
die  Unterredungen ,  die  er  mit  dem  Cardinal  Amboise  hatfe 
pragte   er   die  Scharfe  und  Urspriinglichkeit  seines  Geistes  rma 

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"V* 


Villari,  Niccolo  Machiavelli  und  seine  Zeit.  37 


die  Kraft  seiner  Sprache  schon  so  klar  aus,  dass  Villari  darin 
den  kiinftigen  Verfasser  der  Discorsi  und  des  Principe,  „wenn 
auch  noch  gleichsam  aus  den  Wolken"  hervorleuchten  sieht.  Es 
gelang  M. ,  das  Mistrauen  und  die  Empfindlichkeit  des  Konigs 
und  seines  Ratgebers  nach  Moglichkeit  zu  uberwinden:  doch 
hatte  er,  dem  die  kargo  Regierung  durch  ungeniigende  Tage- 
gelder  personlich  manchen  Verdruss  bereitete ,  guten  Grand  lhr 
einzuscharfen ,  „sich  durch  Geld  gute  Freunde  in  Frankreich  zu 
erwerben,  da  man  nicht  den  Process  gewinnen  konne,  ohne  den 
Anwalt  zu  bezahlen". 

Nach  seiner  Ruckkehr  finden  wir  ihn  wieder  mit  grossem 
Eifer  in  seinem  Amte  wirken.  Die  Kampfe  zwischen  den  Can- 
cellieri  und  den  Panciatichi  in  dem  untert&nigen  Pistoja  machten 
TOeflerholt  die  Vermittelung  und  das  bewaffnete  Einschreiten  der 
florentinischen  Regierung  notwendig:  wiederholt  wurde  M.  dort- 
hin  gesandt.  Noch  besorgniserregender  war  1501  das  Einriicken 
Casar  Borgia's  in  Toskana;  im  Mai  unterzeichneten  die  Floren- 
tiner  einen  Vertrag,  wonach  er  zur  Vertheidigung  der  Republik 
300  Reisige  stellen,  rechtzeitig  benachrichtigt  auch  mit  den 
Franzosen  gegen  Neapel  Ziehen  und  fur  sein  Commando  jahrlich 
36000  Dukaten  erhalten  sollte.  Ein  Jahr  spater  wurden  Arezzo 
und  das  Chianathal  von  den  damals  mit  Borgia  verbundenen 
Orsini  und  seinem  Hauptmann  Vitellozzo,  die  in  die  Landschaft 
einriickten,  gegen  Florenz  aufgewiegelt ,  wahrend  Casar  selbst 
nnd  sein  Vater,  der  Papst,  mit  Pisa  unterhandelten ,  das  unter 
dem  Herzog  einen  unabhiingigen  Staat  griinden  wollte.  In  dieser 
gefahrvollen  Lage  erwarteten  die  Florentiner  mit  Bangen  die 
franzosischen  Hilfstruppen.  Da  verlangte  der  Herzog  von  Valentino 
pit  ihn  en  zu  unterhandeln ,  und  sie  schickten  —  Juni  1502  — 
ihm  Francesco  Soderini,  Bischof  von  Volterra,  und  N.  Machiavelli 
nach  Urbino,  dessen  er  sich  soeben  verraterischer  Weise  be- 
machtigt  hatte.  Der  riicksichtslos  thatkraftige ,  kriegerisch 
tiichtige ,  nicht  zu  tauschende  Mann  machte  auf  M.  einen  Ein- 
druck,  den  er  in  seinen  Briefen  unverhiillt  aussprach:  dem 
Drangen  des  Herzogs  nach  dem  Abschluss  eines  fur  ihn  giinstigen 
\  ertrags  wusste  er  aber  Stand  zu  halten.  M.  reiste  ohne  Sode- 
rini nach  Florenz  zuriick:  bald  erschien  die  franzosische  Hilfe; 
die  verloren  gegangenen  Orte  wurden  bis  Ende  August  zuriick- 
gewonnen.  Nachdem  M.  im  September  zwei  Reisen  nach  Arezzo 
gemacht,  verfasste  er  nach  den  dort  gemachten  Erfahrungen  die 
MeineSchrift:  „Wie  mit  dem  aufstandischen  Volk  $e$ 
CManathales  zu  verfahren  sei."  Das  Verfahren  der 
Homer  gegen  das  aufriihrerische  Latium  gibt  ihm  neb  en,  und, 
*ie  es  scheint,  noch  vor  dem  Selbsterlebten  den  Massstab  fur 
seine  Urteile  und  Ratschlage;  „miide  einer  Politik  kurzreichen- 
der  Auskunftsmittel ,  vermochte  er  nur  iiber  die  Schultern  des 
Altertimis  hinaus  sich  in  eine  hohere  Welt  zu  erheben".  Wenn 
er  die  halbe  Strenge  gegen  die  besiegten  Untertanen  misbilligte, 
wollte  er  das  Verfahren  der  Behorden  nicht  geradezu  verwerfen. 

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38  Villari,  Nicoolo  Machiavelli  und  aoine  Zeit. 

sondern   nur   zeigen,   welches   die  Politik  eines  nach  romischem 
Vorbild   handelnden   Volkes    sein  miisste.  —   Die   wichtige   Er- 
richtung  des  Bannerherr  -  Amtes  auf  Lebenszeit  im  August  1502 
und  die  Besetzung   desselben   mit  Piero   Soderini,   dem  Bruder 
des  Bisehofs,  war  auch  von  personlicher  Wichtigkeit  fiir  Machia- 
velli, weil  er,  mit  dessen  Familie  langst  befreundet,  sofort  dem 
neuen   Vorgesetzten   das   vollste   Vertrauen   abgewinnt   und    die 
schwierigsten  Auftrage  von  jetzt  an  gerade  ihm  iibertragen  wer- 
den.     Die   erste   Gelegenheit  dazu   fend   sich   schon  im  October 
1502,   als  der  Herzog  von  Valentino  in  seinem  Siegeslauf  durch 
die    Romagna     durck     den    Bund    seiner    Hauptleute     Vitelli, 
Baglioni   u.   a.   mit   den  Orsini   sich  plotzlich  gehemmt  sah  und 
einen   Riickhalt   an   den  Florentinern  suchte.     Diese  hatten  den 
Anschluss    an    seine    Gegner    abgelehnt;    ihn   wollten   sie  weder 
zum  Feinde  haben  noch  ernstlich  unterstiitzen :  so  war  die  Auf- 
gabe,  den  schlauen  und  gewaltthatigen  Mann  mit  Freundschafts- 
versicherungen   hinzuhalten,    die  M.  jetzt  durch  Wahl  der  Zehn 
iibertragen  wurde,  eine  besonders  schwierige.    Er  ubernahm  sie 
nicht    ohne    Widerstreben ,     denn    als    blosser    Geschaftstrager 
(Mandatario)    wurde    er  unzureichend    bezahlt    und    hatte    vor 
kurzem  erst  Marietta,  die  Tochter  Lodovico  Corsini's,  geheirathet, 
die   nur   sehr  schwer  sich  in  die  Trennung  von  ihm  fiigte.     Bei 
dieser  Gelegenheit  bemerkt  Villari,  dass  der  frivole  Ton,  in  dem 
M.   in   den  vertraulichen   Briefen  an  seinen  Freund  Buonaccorsi 
von  seiner  Frau  spricht,   weder   beweist,   dass   sie  seiner  Liebe 
unwiirdig,  noch  dass  er  ohne  Zuneigung  fur  sie  gewesen :  es  ware 
eben   die    Verachtung   des   Weibes    ein    gemeinsamer    Zug    des 
Humanistenkreises.    —   Noch   unerfahren  im  praktischen  Leben, 
von  Natur  viel  mehr  zum  Forschen  und  Begreifen  als  zum  Han- 
deln  geneigt,   stand  er  jetzt   einem  Manne   der  riicksichtslosen 
That  gegeniiber,  der  ihm  imponirte,  und  den  er  bald  zum  fie- 
prasentanten  jener   noch  erst  wissenschaftlich  zu  formulirenden, 
von  der  Moral  ganzlich  getrennten,  Politik  machte,  die  nach  ihrn 
die  Kunst  ist,  zur  Erreichung  irgendwelchen  Zweckes  die  geeig- 
neten  Mittel  zu  finden.     Von  dem  Schutz-  und  Trutzbiindnis,  das 
der   Herzog   am   28.    October   mit   den  Aufstandischen   schloss, 
offenbar  nur  in  der  Absicht,  Zeit  zu  gewinnen,  schickte  M.  eine 
heimlich  erhaltene  Abschrift  an  die  Zehn.     Seine  Briefe  vom  13. 
und  20.  November  beweisen,  dass  er  Caesars  Plan,  einige  seiner 
Gegner  „auszukoppeln"  und  schliesslich  alle  zu  vernichten,  durch- 
schaute:   aber  nichts   spricht   dafur,   dass   er   ihm  irgend    eine 
Hinterlist  eingegeben,  ihn  wohl  gar  (was  schon  Gervinus  wider- 
legte)    zu   der   verraterischen    Gefangennahme    vier   seiner   ver- 
hasstesten   Gegner  zu  Sinigaglia  am  31.  December  aufgestachelt 
hatte.    Im  Gegenteil  zeigen  einige  Stellen  seiner  Briefe,  dass  ihm 
die  schrecklichen  Dinge  in  seiner  unmittelbaren  Nahe  unheimlidb 
genug  waren:   durch   zweideutige   Scherze   und  die  Lectiire  des 
Plutarch,  den  ihm  Buonaccorsi  zusenden  sollte,  suchte  er  daruber 
hinwegzukommen.     „Es  ist  ein  eigentumliches  Schauspiel,"    sagt 

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Villari,  Niccolo  Machiavelli  and  seine  Zeit.  39 

Villari,  „Machiavelli,  einerseits  die  Helden  Plutarchs  und  andrer- 

seits  die  Handlungen  Valentino's  betrachtend,  die  Schopfung  jener 

Staatswissenschaft,  die  sich  auf  die  Geschichte  der  Vergangenheit 

und  auf  die  Erfahrung  der  Gegenwart  griinden  soil,  beginnen  zu 

sehen."     So   lehrreich  ihm  seine  Stellung  in  der  Nahe  des  Her- 

zogs  war,  und  so  viel  Anerkennung  auch  seine  Berichte  bei  der 

heimischen  Regierung   gefunden  hatten,   wiederholt   bat   er  urn 

seine   Abberuftmg,   die   aber,   da  er  dem  Gonfaloniere  nicht  zu 

ersetzen    schien,   erst   Mitte  Januar  1503   erfolgte.     Vor  seiner 

Heimreise  schrieb  er  noch,   urn   die   vielen  verloren  gegangenen 

Berichte  zu  ersetzen,  einen  Brief,  der  alle  Ereignisse  seiner  Ge- 

sandtschaft    zusammenfasste.     Auf  dem,    uns    allein   erhaltenen, 

ersten  Blatt  desselben  entwirft  er  ein  allgemeines  Bild  der  Mass- 

regeln  und  Thaten  des  Herzogs ,    die    er   gleich   im   Anfang  fiir 

«wahrhaft  einzig  und  denkwiirdig"  erklart.    Er  hebt  dessen  Ent- 

sclilossenheit  und  Gewandtheit  in   solchem   Masse  hervor,   dass 

ihm  Buonaccorsi  schreiben  konnte,   in   Florenz  beschuldige  man 

ihn,   zu    viel  Wesens   aus  Valentino  zu  inachen.     Aber  wirklich 

zu   einem    Heroen    der    Staatskunst,    der   Alles  voraussieht  und 

Alles  durchsetzt,  wird  ihm  Caesar  Borgia  in  der,  spater  in  Florenz 

geschriebenen :  Descrizione  del  modo  tenuto  dalduca 

Valentino  nello  ammazzareVitellozzoVitelli  etc. 

Die  von    seinen   eigenen  Depeschen  mehrfach  abweichende  Dar- 

stellung   ist  mehr  die   eines  politischen  Romans   als   eines  Ge- 

schichtswerks.     Der   Herzog   iiberrascht   Alle   und   wird   durch 

nichts  iiberrascht.     Er  entlasst  vor  dem  Einzug  in  Sinigaglia  die 

franzosische  Hilfsschaar  zu  dem  bestimmten  Zweck,   seine  Opfer 

sicherer    zu   machen,     seinen    Plan    zu    maskiren,    wahrend    in 

seinen  Depeschen  Machiavelli  selbst  am  20.  December  schreibt, 

die  plotzliche  Abberufung  der  Franzosen  habe  „den  ganzen  Hof 

unterst  zu  oberst  gekehrt" ,  und  am  23. :    der  Herzog  habe  da- 

durch    „mehr   als   die   Halfte   seiner   Truppen  und  zwei  Drittel 

seines  Rufs  eingebiisst".    Der  uns  hier  geschilderte  Staats-  und 

Kriegsmann    ist    eben    nichts    anderes    als    der    Vorlaufer    des 

r,Fur8ten"  Machiavelli's.  —  Am  Anfang  des  Jahres  1503  brauchte 

die  Republik,  einerseits  von  den  Borgia  und  andrerseits  von  Pisa 

bedroht  und  ausserdem  durch  ein  neues  franzosisches  Heer,  das 

nach  Neapel  marschirte,  beunruhigt,  notwendig  bedeutende  Geld- 

mittel,  um  neue  Truppen  aufzustellen.  Die  Abneigung  der  Btirger- 

schaft   gegen   die   vorgeschlagenen  Steuern  war  sehr  schvver  zu 

uberwinden:   endlich   gelang  dies   Soderini  durch  eine  feierliche 

Rede  im  grossen  Rat,  nach  welcher  beschlossen  wurde,  von  alien 

unbeweglichen  Giitern  einen  Zehnten  zu  erhebon  und  ausserdem 

^etwas   Willkiir",    eine  Art  von  Gewerbesteuer.    Moglicherweise 

ist  die  von  M.   erhaltene  Rede :    rParoledadirlesopra 

la  provviBione  del  danaiou  fur  den  Gonfaloniere  ausge- 

arbeitet  und  von  diesem  bei  jener  Gelegenheit  vorgetragen  wor- 

den.    Sie   ist   fiir    den    Verfasser    charakteristisch    wegen    ihres 

Reichtums  an  Maximen  und  geschichtlichen  Beispielen.  .  Im  April 

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40  Villari,  Niccolo  Machiavelli  und  seine  Zeit. 

wurde  M.  auf  Veranlassung  der  Franzosen,  die.,  mit  den  Borgia 
zerfallen,  einen  Bund  zwischen  Florenz,  Siena,  Lucca  und  Bologna 
zu  Stande  bringen  wollten,  nach  Siena  zu  dem,  mit  franzosischer 
Hilfe  zuriickgekehrten,  Tyrannen  Petrucci  gesandt.    Von  hier  aus 
berichtete  er  iiber  die  Truppenbewegungen  des  Herzogs,  die  einen 
Handstreich  vermuten  liessen,  vielleicht  aber  auch  bios  auf  eine 
Diversion   der   florentinischen   Truppen  vom  pisanischen  Gebiete 
berechnet  waren.     Gegen  Pisa  war   man   entschlossen  in  diesem 
Sommer    energisch    vorzugehen:     der    tiichtige    Feldhauptmann 
Antonio  Giacomini  verheerte  ihr  Gebiet  am  Arno  und  nachher  im 
Serchiothale  und  wurde  dabei  durch  Depeschen  Machiavelli's,  die 
den  Auftragen  des  Rats  noch  mancherlei  detaillirte  militarische 
Anweisungen  hinzufiigten,  angefeuert,  unterstiitzt  und  belobt.  — 
Am  18.  August  starb  Alexander  VI. ;   nach  der  zehntagigen  Re- 
gierung  Pius'  III.   wurde  am  31.  October  Giuliano  della  Rovere 
zum   Papst  gewahlt,   der   sich   Julius  II.   nannte.    Sieben  Tage 
vorher   hatte  M.   den   Auftrag   erhalten,   nach  Rom  zu   gehen, 
hauptsachlich  um  iiber   das   Conclave   zu    berichten;    er    nahm 
Empfehlungsschreiben  an  viele  Cardinale  mit,   besonders  an  dea 
Cardinal  Soderini,    der   dort   die  wichtigsten  Geschafte  der  Re- 
publik   besorgte,    und   dem  er  sich  zur  Verfugung  stellen  sollte. 
Da  das  Conclave,   gleich   nachdem  die  Thiiren  geschlossen,   mit 
seiner   Wahl   fertig  war,   handelte   es  sich   fiir  die  Florentiner 
hauptsachlich   um   die   Fragen,   wie  der  neue  Papst  mit  Caesar 
Borgia,  durch  den  er  die  Stimmen  der  spanischen  Cardinale  er- 
halten,  und  wie  er  mit  den  Venetianern  stande.    Die  letzteren, 
die   inzwischen  in  die  Romagna  eingeruckt  waren  und  nach  der 
„italienischen  Monarchic"  zu  streben  schienen,  hatten  einen  hochst 
gewandten  und   erfahrenen   Vertreter  ihrer  Interessen    in   dem 
Gesandten   Giustinian.     Wenn   dieser   sich  durch  das  scheinbare 
Wohlwollen  des  Papstes  nicht  tauschen  liess  und  dessen  Absicfct, 
die  Romagna  fiir  die  Kirche  zu  erobern,  durchschaute,  so  hatte 
Machiavelli   nicht   erst   notig,    die   Eifersucht    desselben  gegen 
Venedig   zu   erwecken.     Unsicherer   war  er  iiber  das  Verhaltnis 
Julius'   zum  Herzog,   bis  er  am  20.  November  seiner  Regierung 
schreiben  konnte,  der  auf  Veranlassung  des  Papstes  von  Soderini 
und   ihm  selbst  fiir  den  Durchzug  Caesars  durch  Toskana  aus- 
gestellte  Geleitsbrief  brauche  ihre  Entschliisse  nicht  zu  hemmen, 
der  Papst  wolle  jenen  nur  wegschicken,  aber  nicht  stiitzen.     M. 
spricht  jetzt   durchweg   von   seinem  Helden  von  1502  in  einem 
Tone  kalter  Verachtung,  der  Vielen  als  Beweis  seiner  niedrigen 
Gesinnung   erschienen  ist.     Diese   vergessen,   wie  Villari   meint, 
dass   er  damals  sein  politisches  Ideal  lobte  und  jetzt  den  wirk- 
lichen  Menschen  tadelt,  dass  er  niemals  der  personliche  Freund 
oderRatgeber  Casars  gewesen,  und  dass  dieser  sich  imUngliick  mutlos 
und  unwiirdig  zeigte,   indem  er  seine  Hofihung  nur  auf  niedrige 
Intriguen  und  heuchlerische  Demut  setzte.     Der  Papst-  hatte  ihn 
nach    Ostia    Ziehen   lassen:    auf  die  Kunde  von   der  Besetzung 
Faenzas  und  Riminis  durch  die  Venetianer  forderte  er  aber  von 


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Villari,  Niccolo  Machiavelli  und  seine  Zeit.  41 

ihm  die  sofortige  Uebergabe  der  Citadellen  von  Cesena  und  Forli 

und   liess    ihn   gefangen   nach   Rom   fiihren,    als   er  Ausfliichte 

machte.    M.  betrachtete  ihn  jetzt  schon  als  einen  todten  Mann, 

ob   er   nun,    wie   das  Geriicht  sage,    in  den  Tiber  geworfen  sei 

oder  nicht.    „Dieser  Papst  fangt  an,"  schreibt  er,  „seine  Schulden 

in  sehr  achtbarer  Weise  zu  bezahlen,   und  er  tilgt  sie  mit  dem 

Tintenwischer."     Seinen   letzten  Brief  von  Rom  schickte  M.  am 

16.  December  ab,  dann  reiste  er  selbst  nach  Florenz  mit  einem 

Schreiben  des  Cardinals  Soderini,    das   ihn   als  einen  Mann  von 

Treue,  Fleiss  und  Klugheit  ohne  Gleichen  der  Republik  empfiehlt. 

Bald  darauf  traf  die  Nachricht  von  der  Niederlage  der  Fran- 

zo8en  am    Garigliano   ein,   die  Florenz  in  Gefahr  brachte,   den 

Spaniern    zu    erliegen.     Wieder   war    es   der  Kanzler  der  Zehn, 

dei  Mitte  Januar  1504  beauftragt   wurde ,   nach   Lyon   zu   dem 

staudigen    Gesandten    Valori   und   zum  Konige   sich  zu  begeben, 

tun  zu  erklaren,  dass  die  Republik,  wenn  sie  nicht  schleunige  und 

energische  Unterstiitzung  von  Frankreich  erhielte,    genotigt  sei, 

fihr  Heil   anderswo   zu  suchen".     Der  zu  Lyon  auf  drei  Jahre 

nnterzeichnete  Waffenstillstand  zwischen  Frankreich  und  Spanien, 

in  welchen  die  Florentiner  als  Freunde  Frankreichs  eingeschlossen 

waren,    machte   Ende   Februar   dieser    Gesandtschaft  ein  Ende. 

Im  April   wurde  M.   zum  Fursten   von  Piombino   geschickt,   urn 

diesen  von    Siena  zu   Florenz  hinuberzuziehn :   dann  wandte  er 

seinen  ganzen    Eifer    dem   wiederaufgenommenen   Kriege   gegen 

Pisa  und  1  eider  auch  dem  phantastischen  Projecte  Soderini's  zu, 

den  Arno  bei  Pisa  aus  seinem  Bette  ab  und  in  einen  Sumpf  bei 

Livorno   zu    leiten ,    um  jener   Stadt   alle  Verbindung  mit  dem 

Meere  abzuschneiden.    Nachdem  ausserordentlich  viel  Geld  und 

Arbeitskraft  an  das  Unternehmen  verschwendet  worden,   musste 

es  im  October  als  aussichtslos  aufgegeben  werden.     Gerade  da- 

mals  schrieb  M.  die  ersten  Verse,  die  wir  von  ihm  besitzen,  sein 

erstes  „Decennale",  das  er  mit  einem  Briefe  vom  9.  November 

Alamanno   Salviati   widmete.     Es  ist  eine  in  Terzinen  abgefasste 

Darstellung   der  Geschicke  Italiens  zwischen  1494  — 1504.     Die 

Muse  wird  angerufen,  ihm  bei  der  Erzahlung  der  Leiden  Italiens 

zu  helfen,  die  anfingen?  als  es  sich  von  neuem  von  den  barbari- 

8chen  Volkern  niedertreten  liess.     Bei  Beschreibung  der  Ereig- 

ni8se  in  der  Romagna  ist  der  Herzog  von  Valentino  der  Basilisk, 

der  giftige   Schlangen   sanft   zischend  in  seine  Hohle  lockt  und 

t-odtet.     Als   Julius   II.    zum   Pfortner    des    Paradieses   gewahlt 

worden,    erhalt  jener   durch   ihn  und  Consalvo  die  Strafe,    die 

seine  Scheusslichkeiten  verdienen.    Wir  finden  in  dieser  Arbeit 

neben  einer  beissenden,  fast  cynischen  Ironie  den,  bald  elegischen 

oald  energischen,    Ausdruck    des    lautersten   Patriotismus :    am 

Schluss  wendet  sich  M.  an  seine  Vaterstadt  Florenz,  die  er  durch 

Bewaflnung  ihrer  eigenen  Burger  retten  will.     Um  dieselbe  Zeit 

schrieb  er  auch   eine,  uns  verloren  gegangene,   aristophanische 

Komodie:  Die  Masken.    Giuliano  de'  Ricci,  der  iiber  sie  be- 

^chtet,  fugt  die  Bemerkung  hinzu:    „Niccolo  sei  in  alien  seinen 


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42  Villari,  Niccolo  Machiavelli  und  seine  Zeit. 

Werken    viel   zu   frei    gewesen   sowohl  im   Tadel  hochstehender 
Personen  als  auch  in   der  Zuruckfiihrung   aller  Dinge 
auf   natiirliche    oder   zufallige    Ursachen"    —  eine 
Charakteristik ,  auf  der  allerdings  zu  nicht  geringem  Theile  der 
Ruhm  Machiavelli's  beruht.  —  Im  Anfang  des  Jahres  1505  waren 
die  Florentiner  in  schwerer  Sorge,  dass  Bartolommeo  d'Alviano, 
der  8ich   von   Consalvo   getrennt   hatte,    im    Einverstandnis    mit 
ihrem   eigenen   Feldhauptmann   Baglioni   einen  Schlag  gegen  sie 
vorbereitete.     M.  wurde  im  April  zu  letzterem  nach  Perugia  ge- 
schickt  und  brachte,   wie  der  einzige,  mit  grosser  Klarheit  und 
Geisteskraft  geschriebene  Brief  dieser  Gesandtschaft  beweist,  die 
Ueberzeugung  heim,  dass  wirklich  swischen  jenen  beiden,  Petrucci 
und  den  Orsini  ein  Einvernehmen  bestande,  urn  den  Florentinern 
Pisa  zu  entreisen.     Im  Mai  erhielt  er   den  Auftrag,   nach  Siena 
zu  gehen,   urn  die  Gesinnung  Petrucci's  zu  erforschen:    aber  es 
war  ihm  nicht  moglich,    aus   dieseni   und   seinem   nicht    minder 
gewandten  Ratgeber  Antonio   da   Venafro  irgend  etwas  heraus- 
zulocken.     Es  blieb  nichts  anderes  Ubrig,  als  sich  zu  kriegerischer 
Abwehr  zu  riisten,  und  am  17.  Juli  gelang  es  den  florentinischs 
Feldhauptleuten    wirklich,    bei    Torre    di   S.  Vincenzo  d'Alviano 
glanzend    zu    besiegen.      Aber    dass    der    eine    FeldhauptmauB 
Bentivoglio,  von  ubermassigem  Vertrauen  zu  seinen  Truppen  er- 
fiillt,  jetzt  vorschlug,  Pisa  sofort  anzugreifen  und  der  Gonfaloniere 
dieses  unbedachte  Project  im  grossen   Rate   durchbrachte ,   liess 
jenen  Gliicksfall  zu  schwerem  Schaden  der  Florentiner  ausschlagen. 
Als   zwei  Stiirme  von  den  Pisanern  und  ihrem  spanischen  HiUV 
corps  abgewiesen  waren  und  die  Belagerungstruppen  in  Verwirrung 
und  Furcht  gerieten,  beschloss  man  in  Florenz,  das  Unternehmen 
fallen  zu  lassen.     Die  Erbitterung  des  Volkes  wendete  sich  nicht 
nur  gegen  Soderini   und   Bentivoglio,    sondern  auch    gegen  den 
ganz  unschuldigen  Giacomini,  der  seine  Energie  und  Herzhaftig- 
keit  bei  Pisa  nicht  minder  als  bei  Torre  di  S.  Vincenzo  bewahrt 
hatte.     Entrii8tet   reichte    er  jetzt   sein   Entlassungsgesuch  ein, 
das  sofort  angenommen  ward.     Machiavelli  machte  sich  an  dem 
Undank   seiner  Mitbiirger   nicht  mitschuldig:    in  seinem  zweiten 
Decennale   pries   er  spater   Giacomini's   Tugend   und   tadelt  die 
Florentiner,  die  den  edlen  Mann  blind  und  arm  sterben  liessen.  — 
Als   Papst   Julius   II.   im   August    1505   seinen   siegreichen  Zaf 
gegen  Perugia  und   Bologna  begann   und   die   Florentiner  anr 
forderte,   ihm   mit   ihrem   Feldhauptmann  Marcantonio  Colona 
und  dessen  Truppen  zu  Hilfe  zu  kommen,   schickten  sie    M.  zn 
ihm,  um  die  Erklarung  abzugeben,  sie  waren  bereit,  sein  heiliges 
Werk  zu  unterstiitzen ,   konnten  aber  augenblicklich  Colonna  im 
Lager  vor   Pisa   nicht   entbehren.     M.  war  im  September  Zeuge 
des  Einzuges  des  Papstes  in  Perugia,  der  ihm  spater  Veranlassung 
gab ,   nicht  Julius'  Kiihnheit  zu   bewundern ,   sondern   Baglioni's 
Feigheit  zu  tadeln.     Es  ist   merkwiirdig,   dass   der  Bewund^er 
eines   Borgia   gegen   die   grossen   Eigenschaften  Julius'  IL   ganz 
unempfindlich   erscheint.     Es  hangt  dies  mit  seinem  Hass  gegen 

j 


Villari,  Nkcolo  Maohiavelli  tind  seine  Zeit.  43 

die  Priester  iiberhaupt  und  seiner  Ueberzeugung  zusammen,  dass 

das  Ansehen  der  Religion  und  die  Macht  geistlicher  Herrschaften 

in  seinem  System  einer  natiirlichen  Politik  keine  Stelle  habe, 

und    „die   Verwegenheit   des   Papstes   vielleicht  eine  personliche 

Tugend     aber    kein    Zeichen    politischer    Umsicht    sei".      Am 

17.  October  erteilten  die  Florentiner  Colonna   den  Befehl,   zum 

Papste    zu    stossen;    als    dieser    am   21.    sein   Hauptquartier  zu 

Imola   aufgeschlagen   hatte   und  die  Einnahme  Bolognas    bevor- 

st&nd,    wurde   der   Geschaftstrager   Maohiavelli   durch   den  Ge- 

sandten  Pepi  vertauscht.     M.  kehrte  nach  Florenz  und  zu  seiner 

Lieblingsarbeit,  der  Schopfung  einer  florentinischen  Miliz,  zuriick. 

„lhr  gab  er  sich  mit  einem   so   selbstlosen  Eifer,   mit   einer   so 

jngendlichen  Begeisterung  hin,  dass  uns  sein  Charakter  jetzt  zum 

ersten  Male  eine  Sympathie  und  eine  Bewunderung  einflosst,  die 

wir  bisher    nicht   fiir  ihn   empfinden   konnten."  —    Von  seinen 

Bemiihungen  durfte  er   keinen   personlichen  Vorteil,    keine   Be- 

forderung  im  Amte   erwarten:    es   war   eine    „aufrichtige,    tief- 

gehende  Selbstentausserung  im  offentlichen  Interesse" ,    wenn   er 

in  Rede   und   Schrift  und  unermiidlicher  praktischer  Thatigkeit 

nichts    unversucbt    liess,    urn    nach    dem    Vorbild    der  Romer, 

der  Schweizer  und  der  mittelalterlichen  Stadtgemeinden  „  Florenz 

und  spater    vielleicht  Italien   ein   eigenes   Heer  und  damit  jene 

Macht  zu  geben,  die  ihnen  fehlte,  und  jene  politische  Wurde,  die 

schwache  Staaten  niemals  habenw.     Der  Ansicht,   dass  man  nur' 

aof  die  Soldaten  von   Handwork  zahlen    diirfe,    setzte   M.   den 

^achweis  eutgegen,  dass  nur  der  Mangel  an  guter  Ordnung  und 

Disciplin  das  Zuriickweichen  der  Ausgehobenen  verschuldet  habe. 

Aber  auch    nachdem   er   den  Gonfaloniere   fiir   seinen  Plan  ge- 

wonnen,  durfte  er#  um  diesen  nicht  in  den  Verdacht  tyrannischer 

Geliiste   zu  bringen,   seinen   Versuch   nur  im  kleinen  Massstabe 

machen.     Wir  haben  einen  (im  Anhang  abgedruckten)  B  e  r  i  c  h  t 

von  Machiavelli,  der  genau  die  dabei  beobachteten  Regeln  dar- 

legt.    Wolle  die  Republik  ein  eigenes  Heer,   so   diirfe   dies  nur 

von  Florentinera  commandirt  werden,  die  auch  allein  die  Reiterei 

bilden   miissten.    Beginnen   miisse  man   mit  der  Aushebung  von 

Fusstruppen  ausserhalb  der  Stadt,  aber  nicht  in  den  untertanigen 

Districten,  weil  diese  die  Waffen  gegen  die  Stadt  selbst  kehren 

ionnten.     Die   Hauptleute   miisse  man  aus  Vorsicht   immer  aus 

^inem  andern  Orte  wahlen  als  ihre  Leute  und  jedes  Jahr  wechseln. 

Die     Miliz   sollte  vonwahrem  Patriotismus  beseelt  und  deshalb 

ans  ehrenwerten  und  wolerzogenen  Mannern  bestehen;  aber  die 

Disciplin  iiber  sie  aufrecht  zu  erhalten,   dazu   beriefen  Soderini 

nnd  Machiavelli  einen  erfahrenen  Kriegsmann  ohne  Riicksicht  auf 

soinen  moralischen  Charakter:  den  beriichtigten  Don  Micheletto, 

<ten  Henker  und  Vertrauten  Caesar  Borgia's.     „Wie  friiher  ^um 

Podesta,  so  wollte  man  jetzt  zum  Bargello  des  Stadtgebiets  nur 

^inen  Fremden!"     Im  December  1505  begann  M.  seine  Rundreise 

durch  Toskana,  um  Mannschaften  auszuheben ;  Mitte  Marz  kehrt 

er  zuriick.     Die   Reviien   im   Jahr    1506    machten  die  Miliz  bei 

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44      x  Heidenheimer,  MachiavellTs  erste  romische  Legation. 

der  Biirgerschaft  popular:  am  16.  December  wurde  im  Grossen 
Bate  die  Verordnung  genehmigt,  welche  die  „neun  Offiziere  der 
florentinischen  Aushebung  und  Miliz"  einsetzt.  Am  10.  Januar  1507 
wurden  die  ersten  Neun  gewahlt.  —  Die  Hoffnungen,  welche  M.  and 
die  Gebriider  Soderini  auf  diese  Militarverfassung  setzten,  wurden 
nur  zum  kleinen  Teil  erfiillt,  aber  1527  ward  die  neuerstandene 
Republik  von  der  wiedcr  neu  belebten  Miliz  aufs  riihmlichste 
verteidigt,  wahrend  ihr  Schopfer  gerade  damals  ins  Grab  sank.  — 
Der  Anhang  enthalt  35  Documente  im  Original  mit  deutschen 
Anmerknngen.     Die  Uebersetzung  verdient  Lob. 

Berlin.  *  Th.  Zermelo. 


XIIL 

Heidenheimer,  H.,  Machiavelli's  erste  romische  Legation.   Em 

Beitrag  zur  Beleuchtung  seiner  gesandtschaftlichen  Thatigkeit 
Dissertation  zur  Erlangung  der  Doctorwiirde  etc.  8.  (74  S.) 
Leipzig  1878.    Simmel  &  Co.     1,60  M. 

Der  Verfasser  sagt,  dass,  als  das  Werk  Villari's  uberS. 
erschien,  seine  Arbeit  im  weSentlichen  schon  vollendet  geweseu*. 
er  glaubt  nicht,  dass  sie  durch  dasselbe  uberflussig  geworden, 
weil  man  eine  tiefere  Auffassung  der  Yerhaltnisse  und  pracisere 
Darstellung  bei  V.  nicht  selten  vermisse.  Sehr  ergiebig  ist  nun 
allerdings  die  genauere  Analyse  der  Depeschen  Machiavelli's  und 
Giustinians  aus  ihren  romischen  Legationen  vom  J.  1503  nicht 
geworden:  die  wiederholten  Hinweisungen  auf  M.'s  Scharfsinn 
und  Energie  des  Ausdrucks  kommen  mehr  dem  Umfang  als  dem 
Inhalt  der  sonst  sorgfaltig  gearbeiteten  Schrift  zu  gute.  In 
einem  Punkte  weicht  der  Yerfasser  von  dem  italienischen  Bio- 
graphen  ab :  wahrend  dieser  behauptet,  M.  hatte  aus  Mangel  an 
Interesse  fur  einen  geistlichen  Fursten  Julius  II.  ungenfigend 
charakterisirt,  hebt  H.  mit  Recht  hervor,  dass  M.  bei  den  beideu 
Legationen,  in  denen  er  dem  Papste  personlich  gegeniibertTat, 
an  der  Erforscbung  seines  Wesens  und  seiner  Absichten  das  grosste 
Interesse  habe  nehmen  m  u  s  s  e  n ,  und  wirklich  jede  Miene,  jede 
Bewegung  desselben  begierig  erfasst  und  alle  seine  Aeusserungen 
referirt  habe.  Dass  darum  „ diese  Mosaiknachrichten ,  mit  rich- 
tigem  Verstandnis  aneinandergefugt,  einganzes  und  recht es 
Bild  des  Mannes  ergeben"  —  abgesehen  von  dem  einen  Punkte 
der  falschlich  ihm  zugeschriebenen  Wahrheitsliebe  —  scheint  tms 
doch  zu  viel  behauptet  zu  sein. 

Dankenswerther  noch  ist  der  zweite  Teil  der  Dissertation, 
der  die  Stellung  M.'s  als  Vertreter  der  Republik  Florenz  und 
das  Technische  seiner  diplomatischen  Thatigkeit  beleuchtet.  M. 
war  niemals  ordentlicher  Gesandter  —  Oratore  oder  Ambascia- 
tore  —  er  war  immer  nur  Mandatario  und  wurde  als  solcher  nur 
zu  ausserordentlichen  Legationen  verwandt.  Der  Mandatario 
hatte  einen  beschrankteren  Wirkungskreis  und  einen  geringeren 
Gehalt:   in   Rom   erhielt  M.  10  Lire  taglich,   ohne  Vergiitigung 


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Heidenheimer,  Machiavelli's  erate  romische  Legation.  45 

der  Reisekosten,  der  Oratore  der  Venetianer,  Giustinian,  4  Du- 
katen.  Die  Pflicht  des  Gesandten  —  des  ordentlichen  wie  des 
ausserordentlichen  —  begranzt  M.  ziemlich  enge :  er  habe  nichts 
Anderos  zu  thun,  als  Alles  fleissig  zu  erkunden  und  der  Signorie 
mitzutheilen ,  was  er  der  Mittheilung  werth  erachte.  Zuweilen 
kniipft  er  an  sein  Urteil  iiber  die  beobachteten  Yerhaltnisse, 
das  er  meistens  sehr  reservirt  gibt,  einen  Rat;  immer  jedoch 
bindet  er  sich  an  die  Befehle  der  Regiertmg.  Fiir  seine  Vater- 
stadt  Freunde  zu  werben,  sie  im  beston  Lichte  erscheinen  zu 
lassen,  glaubt  er  berechtigt  und  verpflichtet  zu  sein;  niemals 
aber  treibt  er  Politik  auf  eigene  Hand.  Seine  Gewahrsmanner, 
sofern  sie  eine  bedeutende  Stefiung  haben,  nennt  er  und  charakte- 
risirt  sie  auch  wol,  um  seine  Urteile  dadurch  zu  stiitzen:  wenn 
er  die  Namen  verschweigt,  so  mag  dies  haufig  auf  seine  Besorgnis 
zuriickzufiihren  sein,  jenen  Personen,  wenn  etwa  die  Depeschen 
erbrochen  wiirden,  Unannehmlichkeiten  oder  gar  Gefahren  zu 
bereiten.  Er  liebt  es,  die  Ausspriiche,  auch  wol  ganze  Reden, 
hervorragender  Manner  in  seine  Berichte  einzuflechten,  um  diese 
glaubwiirdiger  zu  machen;  Geriichte  theilt  er  selten  mit.  Der 
Stil  M/s  ia  seinen  Legationen  ist  noch  nicht  so  fein  durch- 
gebildet  wie  in  den  spateren,  in  Musse  ausgearbeiteten  Schriften  : 
Bilder  und  Vergleiche  sowie  Sprichworter  braucht  er  nicht  oft, 
aber  stets  am  rechten  Orte.  Die  Composition  der  Depeschen 
entbehrt  jeder  festen  Regel.  —  Ueber  das  Aeusserliche  des  De- 
peschenwesens  ist  noch  zu  bemerken,  dass  im  ersten  Briefe  iiber 
den  Verlauf  der  Reise  Bericht  erstattet  und  in  fast  alien  ange- 
geben  wird,  wann  der  letzte  niedergeschrieben  und  durch  wen 
er  abgesandt  worden,  wer  den  letzten  von  der  Signorie  iiber- 
bracht  und  wann  dieser  eingetroffen.  Wenn  sich  M.  auf  be- 
stimmte  friihere  Depeschen  beruft,  so  beweist  dies,  dass  die 
Gesandten  ihre  Briefe  zu  copiren  oder  ein  Register  iiber  sie  zu 
fiibren  pflegten. 

H.  macht  uns  dann  noch  Mittheilungen  aus  einer  1522  von 
M.  fur  Raffaelo  Girolami,  der  damals  als  Gesandter  nach  Spa- 
wen  ging,  privatim  ausgearbeiteten  Instruction.  Darin  heisst 
cs  u.  a.:  ein  Gesandter  miisse  sich  als  tuchtigen  Menschen  er- 
weisen,  er  miisse  sich  bemiihen,  freigebig  und  aufrichtig  zu 
erscheinen  (esser  tenuto),  nicht  geizig  und  doppelziiugig, 
zuweilen  eine  Sache  durch  die  Worte  zu  verhiillen  suchen,  aber 
so,  dass  dies  Niemand  merke.  Notig  sei  es,  den  Fursten  und 
den  Hof,  das  Land  und  Volk  griindlich  kennen  zu  lernen,  sich 
Freunde  aus  alien  Parteien  zu  erwerben,  in  Gesprachen  aber 
das  eigene  Urteil  zuriickzuhalten ,  da  dies  odios  sei.  —  Wir 
wiinschen  mit  dem  Verfasser,  dass  seine  Arbeit  dazu  anregen 
inochte,  auch  die  ubrigen  Gesandtschaften  M.Js  zu  priifen,  um  die 
in  ihnen  enthaltenen  Notizen  und  Anschauungen  mit  denen  anderer 
Diplomaten  eingehend  zu  vergleichen. 
Berlin.  Th.  Zermelo. 


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46  Rezek,  Geschichte  der  Eegiemug  Ferdinands  I.  in  Bohmen. 

XIV. 

Re2ek,  Dr.  Ant,  Geschichte  der  Regierung  Ferdinands  I.  in 
Bohmen.  I.  Theil.  Ferdinands  L  Wahl  und  Regierungsantiitt. 
gr.  8.    (VI,  174  S.)    Prag  1878.    J.  Otto. 

Das   Jahr  1526   bezeichnet  den  bedeutendsten  Wendepunct 
in    der   Geschichte    Oesterreichs.     Durch    den    Untergang    des 
letzten  Jagellonen  in  der  Schlacht  bei  Mohacs   ging,    allerdings 
erst  nach  langen  wechselvollen  Kampfen,    der  grosse  bohmisch- 
nngarische   Landerbesitz   an   das  Haus  Habsburg  iiber  und  erst 
dadurch   wurde   Oesterreich,    welches   bis    dahin   nur  ein  Staat 
ersten  Ranges  im  deutschen   Reiche   gewesen,    eine   europaiscbe 
Macht  von  hervorragender  Bedeutung.     Es  bedurfte  aber  langer 
Zeit  und  grosser  Anstrengung,  ehe  die  Habsburger  diesen  Besitz 
sich  dauernd  und  im  ganzen  UmfaDge  sichern  konnten,  nament- 
lich   hatten   sie   in   Ungarn   gegen  die  unbotmassigen  Magnaten 
und   gegen   die    Tiirken  hartnackige  und  schwere  Kampfe  durch 
zwei  Jahrhunderte  hindurch  zu  bestehen.    Doch  auch  in  Bohmen 
ging  der  Wechsel  des  Herrscherhauses  nicht  ganz  ruhig  vor  skk, 
und  diese  Verhandlungen  und  Kampfe  darzustellen,  hat  sich  der 
Verfasser   des  vorliegenden   Werkes  in   dem   ersten   bisher    er- 
schienenen  Theile  zur  Aufgabe  gestellt.  —  Im  ersten  Abschnitte 
„Bohmens   innere   Verhaltnisse   vor  dem  Jahre  1526"    schildert 
Rezek   den   traurigen   Zustand   dieses   Landes   schon   unter   den 
Jagellonen  Wladislaw  und  Ludwig,  die  Anarchie  und  Zerruttimg, 
welche   sowol  in  religioser  als  politischer  Beziehung  herrschten. 
Vier  Religionsparteien  befehdeten  sich  gegenseitig  auf  das  heftigste, 
die  Katholiken,  die  Utraquisten,  die  bohmischen  Briider,    wozu 
bald  nach  1517  auch  die  Anhanger  Luthers  kamen.    Noch  klag- 
licher  waren  die  anderen  Zustande  im  Lande,   indem   die  stan- 
dischen   Zwistigkeiten   zwischen  den  Baronen  und  Rittern  einer- 
seits   und  den  koniglichen  Stadten  anderseits  das  sociale  Leben, 
die  Geschafts-  und  Gewerbsthatigkeit  fast  vernichtet  hatten.   Im 
Volke  herrschte  leichtsinniges,  uomoralisches  Leben  an  Stelle  der 
friiheren  Sittenstrenge  und  harter  Druck  des  Adels  auf  das  nie- 
dere  Volk,  das  fast  ganz  in  personliche  Unfreiheit  gerathen  war. 
Ebenso  waren  die  Finanzen  des  bohmischen  Staates  tief  zerriittet 
Ja  selbst  der  Adel,  der  sonst  den  Biirgern  und  Bauern  gegeniibv 
einmiithig  auftrat,  zerfiel  1523  in  Folge  eines  Erbschaftsstreites  in 
zwei  einander  heftig  befehdende  Parteien,  in  die  rosenbergische  und 
in  die  rofrnitalische.  Diess  waren  die  Verhaltnisse  in  Bohmen,  als  am 
29.  August  1526  Konig  Ludwig  nach  der  Schlacht  bei  Mohacs  im 
Sumpfe  sein  Leben  verlor  und,  da  er  ohne  Leibeserben  gestorben 
war,   Bohmens   Stande   zur  Wahl   eines   neuen  Konigs  schreiten 
sollten.     Um   die  Krone   der  schonen  bohmischen  Lander  traten 
(II.  „Von  der  Schlacht  bei  Mohacs  bis  zur  Eroffnung  des  Land- 
tage8a)    zahlreiche    Bewerber    auf:    Erzherzog    Ferdinand    von 
Oesterreich,   die   bairischen  Herzoge  Ludwig  und  Wilhelm,   der 
polnische  Konig  Sigmund,   der  sachsische  Kurfiirst  Johann  und 


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Rezok,  Geschichte  der  Regierung  Ferdinands  I.  in  Bohmen.  47 

sein  Sohn  Johann  Friedrich  und  der  sachsisehe  Herzog  Georg. 
Aus8erdem  sprach  man  von  einer  Candidatur  des  Markgrafen 
Joachim  von  Brandenburg,  des  franzosischen  Konigs  Franz  I., 
des  Fiirsten  Friedrich  zu  Liegnitz;  auch  einheimische  Edelleute 
hofften,  wie  es  vor  sechs  Jahrzehnten  Georg  von  Podiebrad  ge- 
lungen,  Anspriiche  auf  die  Krone  geltend  machen  zu  konnen,  so 
der  Landeshauptmann  Herzog  Karl  von  Miinsterberg,  der  Oberst- 
burggraf  Zdenek  Lew  von  Rozmital  und  Adalbert  von  Pernstein ; 
und  um  Mahren  und  Schlesien  bewarb  sich  iiberdiess  noch  Johann 
Zapolja.  Der  massgebende  Adel  zerfiel  in  zwei  Parteien,  von 
denen  die  eine  einen  einheimischen  Edeln,  die  andere  einen 
fremden  Fiirsten  zum  Herrscher  wollte.  —  AUe  Kronpraten- 
denten  suchten  nun  durch  Gesandte  und  auf  anderen  Wegen  fur 
ihre  Sache  zu  wirken,  am  nachhaltigsten  Ferdinand  von  Oester- 
reich,  der  bald  die  machtigen  Herren  von  Rosenberg  und  Adam 
von  Neuhaus  fur  sich  gewann,  und  die  bairischen  Herzoge,  welche 
in  Lew  von  Rozmital  und  seinen  Aaihangern  ihre  Stiitzen  fanden. 
Unter  diesen  Verhaltnissen  trat  am  8.  October  1526  der  „Wahl- 
landtag"  (III.  Abschnitt)  zusammen.  Es  zeigte  sich  bald,  dass  nur 
entweder  Erzherzog  Ferdinand  oder  einer  der  bairischen  Herzoge 
Aussicht  habe,  die  Krone  Bohmens  zu  erlangen;  Ferdinands 
Gesandte,  unter  denen  besonders  Hans  von  Stahremberg  hervor- 
tretend  wirkte,  stiitzten  sich  auf  des  Erzherzogs  und  seiner  Ge- 
mahlin  Verwandtschaft  mit  dem  verstorbenen  Konige,  vornehm- 
tich  jedocb  auf  den  Umstand,  dass  der  Erzherzog  bereits  ein 
machtiger  Fiirst  sei,  und  dass  seine  Erblande  an  Bohmen  grenzen, 
wodurch  er  diesem  stets  stattliche  Hilfe  und  niitzlichen  Beistand 
leisten  konne,  und  versprachen,  dass  Ferdinand  den  Standen, 
Communen  und  Personen  ihre  Freiheiten  und  Gerechtigkeiten 
bestatigen  und  die  Schulden  des  Landes  ohne  Beschwerung  des- 
selben  mit  der  Stande  Beirath  bezahlen  wolle.  Ebenso  energisch 
TOkten  die  bairischen  Gesandten  fur  einen  ihrer  Herren  und 
anfenglich  gelang  es  ihnen  in  der  That  durch  Unterhandlungen, 
Versprechungen  und  Bestechungen  mehrere  der  einflussreichsten 
bohmischen  Edelherren,  namentlich  den  Oberstburggrafen  Lew 
von  Rozmital,  der  iiber  einen  grossen  Anhang  gebot,  zu  ge- 
winnen.  Und  dieser  letztere  war  es  auch,  der  bei  der  Konigs- 
wahl  den  Ausschlag  gab,  aber  in  anderem  Sinne  als  es  anfang- 
lich  den  Anschein  hatte.  Denn  die  osterreichischen  Gesandten, 
seiche  die  hohe  Stellung  und  den  grossen  Einfluss  Lew's  zu 
^iirdigen  verstanden,  machten  den  Versuch,  ihn  und  mit  ihm 
s^ine  zahlreichen  Anhanger  auf  die  osterreichische  Seite  zu 
bringen.  Ferdinand  stellte  dem  Lew  Verschreibungen  aus,  dass 
er  ihn  in  alien  seinen  Rechten  belassen,  seine  Schulden 
"-  50000  fl.  —  bezahlen,  und  alle  seine  von  Wladislaw  und 
Ludwig  ihm  ertheilten  Verschreibungen  bestatigen  werde;  dass 
^r  gegen  diejenigen,  welche  nicht  von  Anfang  zur  osterreichischen 
Partei  gehorten,  keinen  Unwillen  tragen,  sondern  sie  in  alien 
"tten  Freiheiten ,.  Begnadungen  und  Rechten  belassen ,   und  dass 

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48  Rezek,  Geschichte  der  Regierung  Ferdinands  L  in  Bohmen. 

er  dem  Lew  und  seinen  Freunden  die  bisher  aus  dem  Joachims- 
thaler  Bergwerke  ausgezahlten  Summen  auch  weiterhin  zuerkennen 
wolle.  So  war  fur  Ferdinand  die  roZmitalische  Partei  gewonnen, 
und  da  die  rosenbergische  von  Anfang  an  schon  fur  ihn  geneigt 
war,  so  war  seine  Wahl  gesichert.  Lew  von  Rozmital  setzte  nun 
im  Landtage  durch,  dass  dieser  selbst  in  seiner  Vollversammlung 
nicht  die  Wahl  vornehme,  sondern  diese  einem  Ausschusse  iiber- 
trage,  welcher  aus  24  Mitgliedern,  je  acht  aus  dem  Herren-, 
dem  Ritter-  und  dem  Burgerstande  zusammengesetzt  wurde. 
Und  dieser  Ausschuss  wahlte  am  23.  October  1526  Erzherzo^ 
Ferdinand  zum  Konig  von  Bohmen.  — 

Der  IV.  Abschnitt  handelt  von  der  „Anerkennung  Ferdi- 
nands in  Mahren,  Schlesien  und  in  der  Lausitz".  Diese  ging 
hier  viel  stiller  und  nicht  mit  so  grossen  Geldopfern  als  in 
Bohmen  vor  sich.  Ferdinand  hatte  schon  dadurch  einen  grossen 
Vorsprung  gegen  alle  iibrigen  Candidaten  gewonnen,  dass  er 
nicht  nur  nach  Prag,  sondern  in  alle  Kronlander  Bohmens  seine 
Boten  behufs  Unterhandlungen  mit  den  Standen  schickte,  was 
fast  von  alien  iibrigen  Candidaten  versaumt  wurde.  Diese  Anf- 
merksamkeit  schmeichelte  den  Standen  jener  Lander  urn  so  mehr, 
da  zu  derselben  Zeit  die  bohmischen  Stande  ohne  Riicksicht  anf 
die  Mahrer  und  Schlesier  allein  zur  Wahl  schritten;  denn  diese 
hatten  gehoflft,  die  Bohmen  wiirden  behufs  Vornahme  der  Konigs- 
wahl  einen  Generallandtag  einberufen  und  in  diesem  wiirden  die 
Deputationen  aus  den  der  Krone  Bohmen  einverleibten  Landern 
als  selbstandige  Curien  Stimmen  haben ;  die  Bohmen  jedoch  be- 
trachteten  Mahren  und  Schlesien  bloss  als  Lehen  der  bohmischen 
Krone  und  gingen  bei  der  Wahl  einseitig  ohne  Riicksicht  anf 
diese  Lander  vor. 

In  Mahren  herrschte  sehr  giinstige  Stimmung  fur  Ferdinand, 
man  anerkannte  dort  das  Erbrecht  seiner  Gemahlin  und  sein 
eigenes,  die  Bewerbungen  des  Polenkonigs  Sigmund  und  Johanns 
Zapolja  scheiterten,  und  Ferdinand  wurde  ohne  Schwierigkeit  als 
Markgraf  von  Mahren,  Herr  von  Schlesien  und  der  Lausitz  an- 
erkannt.  „Und  so  kam  ein  herrliches  Reich  ohne  Schwertstreich 
in  die  Hande  eines  neuen  Herrn."  Inzwischen  hatten  schon  in 
Wien  die  Unterhandlungen  mit  der  bohmischen  Gesandtschaft 
begonnen,  zu  welcher  sich  bald  auch  die  Gesandtschaften  vob 
Mahren  und  Schlesien  gesellten.  „Und  nun  begann  ein  grosser 
diplomatischer  Kampf  zwischen  dem  Konige  und  seinen  Unter- 
thanen.  Nach  Wien  richteten  sich  jetzt  die  Blicke  sammtlicher 
Freunde  und  Feinde  der  Habsburger.  Ferdinand  sollte  nach 
den  Anschauungen  der  Stande  alles  bewilligen,  was  sie  ihm  vor- 
legen  wollten  Aber  sie  waren  dabei  uneinig  und  es  herrschte 
zwischen  den  Bohmen,  Mahrern  und  Schlesiern  und  umgekehrt 
eine  so  kleinliche  Gehkssigkeit  und  Uneinigkeit,  dass  dadurch 
ein  solidarisches  Auftreten  gegen  die  Plane  Ferdinands  im  Vor- 
hinein  unmoglich  gemacht  wurde.  Doch  schiirten  die  bairischen 
Agenten  gegen  den  neuerwahlten  Konig  derart,  dass  es  sich  bei 


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Rezek,  Geecliichte  der  Regierung  Ferdinands  I.  in  Bohmen.  49 

den  wiener  Verhandlungen  in  der  That  sehr  bald  um  etwas  viel 
Wichtigeres  und  Weitgehenderes  als  um  die  blosse  Bestatigung 
der  vorgelegten  Artikel  handeltc.  Aber  Ferdinands  eiserner 
Wille  trotzte  mit  solchem  politischen  Takte  und  solcher  Ge- 
waudtheit  alien  derartigen  Bestrebungen  der  Gesandten,  dass  er 
am  Ende  dennoch  den  Sieg  davontrug."  — 

Diese    „Verhandlungen   in    Wienu   erzahlt   der  Verfasser  im 
V.  Ab8chnitte.      Die    bohmische    Landtagsdeputation   stellte    an 
Ferdinand   eine  Reihe  von  Forderungen,    durch  deren  Erfiillung 
die  konigliche  Gewalt  geschwacht,  ja  gegeniiber  der  Macht  der 
Stande  geradezu  vernichtet  worden  ware ;  Bohmens  Adel  glaubte 
mit   Ferdinand   ebenso   umspringen  zu   konnen,    wie   er  es   mit 
Wladislaw  und  Ludwig  gethan ;  denn  diese  beiden  Konige  waren 
so  schwach   gewesen,    dass   sich  die  Stande  unter  dem  Schirme 
ihrer   Privilegien   die  masslosesten    Uebergriffe   nicht  nur  gegen 
die  Konige  selbst,  sondern  auch  gegen  ihre  Unterthanen  erlaubt 
hatten,    welche   nie   zu   oiner   so  tiefen  Stufe  der  Horigkeit  ge- 
sunken  waren  als  gerade  jetzt  zur  Zeit  der  Herrscbaft  der  stiin- 
dischen  „Freiheiten".  —  Und  jetzt  wollten  die  bohmischen  Stande 
ihren  neu  erwahlten  Konig  noch  mohr  unter  ihren  Willen  beugen, 
und   alles    das   zum    Gesetze  machen,  was  unter  dem  schwachen 
Regimente    der    beiden    letzten    Konige    als    blosse   Willkiir   ins 
Leben   trat   und  vou  den  Standen  ohne  Strafe  getrieben  wurde. 
Sie  wollten  dem  Konige  nicht  das  Recht  zugestehon,  einen  oder 
den  anderen  Landesbeamten  seines  Amtes  zu  entsetzen,  die  Suc- 
cession seiner  Kinder  sollte  durch  die  Entscheidung  der  Stande 
beeiutrachtigt  werden  konnen,  indem  der  Sohn  nie  bei  Lebzeiten 
des  Vaters  gewahlt'  und   gekront   werden   sollte;    sie  begnugten 
sich   nicht    mit    dem   ihnen    zustehenden   Rechte    der  Wahl    der 
Dynastie,  sie  wollten  sich  nach  dem  Tode  jedes  Konigs  die  Wahl 
des  Nachfolgers  sichern ;  „denn  wie  schon  ware  es  gewesen,  wenn 
solche  Wahllandtage   immer  nach  dem  Absterben  des  jeweiligen 
Konigs   sich   wiederholt   und  die  „Freiheitenu  sich  als  eine  sehr 
ergiebige    Quelle    guter    Einkiinfte     fur     die     Stande     erwiesen 
batten  !u  —  „Bei  Miinnern,  wie  es  die  letzten  zwei  Konige  waren, 
waren    vielleicht    die    Stande    mit    solchen    Anspriichen    durch- 
gedrungen,   aber   bei  Ferdinand   stiessen  diese  Bemiihungen  auf 
beftigen  Widerstand.    So  lauge  Ferdinand  noch  nicht  zum  Konige 
gewahlt  war,  unterliess  er  es  vorsich tiger  Weise,  an  seinem  an- 
geblichen    Erbrechte   festzuhalten ,    um    seine    Hoffnungen    nicht 
selbst  zu  vereiteln;   nachdem  er  aber  erwahlt  war,  war  er  ent- 
schlossen,    von   den   koniglichen  Rechten  nicht  das  geringste  zu 
vergeben.     Bei   solchen  Differenzen  kam  es  dann  wohl  zu  einem 
diplomatischen  Kampfe,  als  es  sich  um  die  Annahme  des  Land- 
tagsbeschlusses   und    der   Artikel    der   Instruction  handelte.u  — 
Die  bohmische  Deputation  hatte  erwartet,   dass  der  Konig  iiber 
alle  ilim    von    dem    bohmischen    Landtage    vorgelegten   Artikel 
euizeln  verhandeln,  oder  sie  insgesammt  annehmen  werde.   Ferdi- 
nand verweigerte   diess  jedoch   entschieden ,   und  nach  langeren 

Mittiieilungen  a.  d.  histor.  Litteratur.    VII.  4 

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50  Rezek,  Geschichte  dor  Regierung  Ferdinands  I.  in  Bohmen. 

Verhandlungen  erliess  er  nur  die  allgemein  gehaltene  Erklarung, 
dass  er  den  Standen  e  i  n  i  g  e  Verschreibungen  ausstellen  und 
bestatigen,  dass  er  sammtliche  Schuldeu  des  Landes  bezahlen, 
dass  er  die  Eide  nach  den  vorgeschriebenen  Formularien  ablegen 
und  dass  er  dem  Konigreiche  sammtliche  Freiheiten,  alte  Ge- 
wohnheiten  und  Privilegien  bestatigen  werde.  Alle  weitergehenden 
Forderungen  lehnte  Ferdinand  unbedingt  ab ;  er  bestatigte  damit 
nur  das,  was  auch  die  friiheren  Konige  den  Standen  bereits  aus- 
gestellt  hatten ;  zur  Annahme  solcher  Artikel,  welche  etwas  friiher 
nicht  gesetzlich  Anerkanntes  zum  Gesetze  erhoben,  und  somit 
das  Verhaltniss  zwischen'  dem  Konige  und  den  Standen  fiir 
Ferdinand  noch  ungiinstiger  gestaltet  hatten,  liess  er  sich  weder 
jetzt,  noch  irgend  jemals  spater  bewegen.  „Desswegen  wurden 
auch  in  seiney  letzten  Antwort  die  Artikel  der  Instruction  und 
des  Landtagsbeschlusses  nicht  einer  nach  dem  an  dem,  sondern 
nur  wieder  cumulativ  angenommen,  damit  auch  jetzt  die  Klansel 
wegen  der  spateren  Verhandlungen  etlicher  von  ihnen  und  ihrer 
definitiven  Annahme  oder  Verwerfung  hinzugefiigt  werden  konnte." 
Mit  diesen  Zugestandnissen  von  Seite  ihres  neuen  Konigs  kehrte 
die  Landtagsdeputation  nach  Prag  zuriick.  —  In  ahnlicher  Weise, 
aber  einfacher  und  leichter  verliefen  die  Verhandlungen  mit  der 
mahrischen  Landtagsdeputation  und  ganz  glatt  kam  Ferdinand 
mit  den  Abgeordneten  der  schlesischen  Stande  zu  einem  giinstigen 
Abschlusso. 

Die  Entschiedenheit,  mit  welcher  Ferdinand  den  weitgehen- 
den  Forderungen  der  Stande  entgegentrat,  hatte  ihm  zah&eiche 
Feinde  unter  dem  bohmischen  Adel  verscha£ft,  und  insbesondere 
trat  Lew  von  Rozmital,  der  friiher  durch  Geld  gewonnen  worden 
war,  mit  seinen  Anhangern  wieder  gegen  Ferdinand  auf  und  be- 
forderte  die  antihabsburgischen  Umtriebe  in  Bohmen,  welche 
abermals  auf  das  lebhafteste  gegen  Ferdinand  von  den  bauischen 
Herzogen  und  von  Zapolja  erregt  wurden.  Diese  „Agitationen 
der  Gegner  Ferdinands"  erzahlt  der  Verf.  im  VI.  Absclmitte;  sie 
gingen  soweit,  dass  die  Feinde  des  neuen  Konigs  daran  dachten, 
sogar  seine  unmittelbar  bevorstehende  Kronung  zu  vereiteln. 
Ferdinand  kam  aber  diesem  Plane  zuvor,  indem  er  rasch,  am 
21.  Januar  1527,  seine  Kronungsfahrt  von  Wien  nach  Prag  an- 
trat.  —  Ueber  „Ferdinands  Fahrt  nach  Bohmen,  seine  Kronung 
in  Prag,  Huldigung  in  Mahren  und  Schlesien"  berichtet  Rezek 
im  letzten  (VII.)  Abschnitte  des  vorliegenden  Bandes.  Am 
5.  Februar  langten  Ferdinand  und  Anna  in  Prag  an,  die  Kro- 
nung fand  jedoch  noch  nicht  sogleich  statt,  sondern  es  wurde 
vorher  ein  Landtag  zur  Beilegung  der  noch  zwischen  Ferdinand 
und  den  Standen  strittigen  Fragen  einberufen.  Ferdinand  er- 
klarte  sich  besonders  gegen  drei  Artikel,  dass  bei  Lebzeiten 
des  jeweiligen  Konigs  sein  Sohn  zum  Nachfolger  weder  gewahlt 
noch  gekront  wrerden  koune,  dass  der  Konig  keinen  Land^- 
beamten  seines  Amtes  entheben  diirfe ,  und  dass  der  Konig  in 
den   Angelegenheiten    des   Konigreichs   Bohmen ,    auch   bei  der 

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Rezek,  Gesohichte  der  Kegierong  Ferdinands  I.  in  Bohmen.         .  51 

Verwaltung    der    Bergwerke,     der    Regalien,     der    koniglichen 
Kammer  u.  s.  w.   nur   auf  einheimische   bohmische  Rathe  ange- 
wiesen  sein  solle.     Am  ersten  ging  der  Landtag  von  der  dritten 
Forderung  ab;  Ferdinands  Wunsch,  die  Finanzen  seiner  Lander 
gemeinsam    zu   verwalten,    war    ein    vollkommen    berechtigter. 
„Denn  es  lag  ja  im   Interesse   des    Herrschers  ,    dass    seine    aus 
den  Erblandern  fliessenden  Regalien  mit  den  ihm  als  Konig  von 
Bohmen  gebiihrenden  Einkiinften  verbunden  nnd  gemeinschaftlioh 
auf  eine  nnd  dieselbe  Weise  verwaltet  werden.     Dies  war  ja  das 
hauptsachlichste  und  auch  natiirlichste  Band,  welches  die  dnrch 
blosse    Personalunion  verbundenen   Lander   vereinigte.      In    der 
Gemeinschaftlichkeit  des  Konigs  und   alles   dessen,   was   in  den 
verschiedenen   Verfassungen ,    Privilegien   und  Gewohnheiten  der 
einzelnen  Lander  sich  auf  den  gemeinsamen  Herrscher  bezog,  lag 
aach  der  Keim  zu  der  allmalig  sich  entwickelnden  Idee  des  oster- 
reichischen  Kaiserstaats.     Aber  speziell  fur  Bohmen  hatte  dieser 
gerade  jetzt  bewilligte  Einfiuss  fremder  Ratho  auf  die  Angelegen- 
heiten   der   bohmischen   Kammer  schwere   Folgen.     Die   Stande 
willigten  ohne  Erwagung  und  ohno  genugende  politische  Reife  in 
etwas,  was  sich  sehr  bald  als  eine  Sache  von  grosser  Tragweite 
herausstellte.     Denn  die  politische  Gewandtheit  des  neuen  Konigs 
brachte    es    bei    den   stets   hadernden  und   wegen   der  grossten 
Lappalien    in    zahlreiche   Parteien    zerschlagenen    Standen    sehr 
bald  dahin,  dass  die  Kammer  sich  vollkommen,   ohne  den  min- 
desten  Einfluss  der  bohmischen  Stande,  in  den  Handen  des  Konigs 
befand,    von  seinen  vertrautesten  Anhangern  verwaltet  und  zum 
Ausgangspuncte   sammtlicher   Plane   der  spateren  Politik  Ferdi- 
nands gemacht  wurde."  —   Die  Verhandlungen   liber  die  beiden 
anderen  von  Ferdinand  beanstandeten  Artikel,  nemlich  iiber  die 
Wahl  und  Kronung  des  Nachfolgers  bei  Lebzeiten  des  jeweiligen 
Konigs  und  beziiglich  des  Einflusses,  welchen  der  Konig  auf  die 
Ernennung  und  Absetzung   der   Beamten   haben   sollte,   wurden 
erst  nach  der  Kronung  beendet  und  durch  die  am  2.  Marz  aus- 
ge8tellten   Urkunden  definitiv  gelost.  —   Diesen  Sieg  verdankte 
Ferdinand    seiner   Festigkeit,   wodurch   er   nicht   nur  die  schon 
bestehende  habsburgische  Partei  an  sich   kettete,   sondern  auch 
*Grgr6s8erte ,   nnd   als   seine  Gegner  sahen,   dass  er  nicht  mehr 
von  der  Herrschaft  zu  verdrangen  sei,    liessen   sie    ab   von  den 
Agitationen  gegen  ihn,  und  ihr  Haupt,  Lew  von  Rozmital,  zeigte 
sich  jetzt  im  hochsten  Grade  unterwiirfig,  um  den  Konig  in  der 
Angelegenheit  des  Erbschaftsstreites  mit  den  Herren  von  Rosen- 
berg fur  sich  zu  gewinnen.     Und  so  geschah  es,  dass  diejenigen 
Stande,   welche    am    Landtage    1526    dem   Konige   eine  scharfe 
Wahlcapitulation  dictirt  hatten,   nunmehr  den  wichtigsten  Theil 
derselben  zuriicknahmen.     Es   geschah  dies  aber  nur  zum  Heile 
des  Landes,    weil   nur  auf  eine  solche  Weise  dem  verderblichen 
Gebahren   der   standischen    Oligarchic    Einhalt    gethan    werden 
konnte.  —  Inzwischen   war   am   24.  und  25.  Februar  1527   die 
Kronung  Ferdinands   und   seiner   Gemahlin  Anna  auf  das  feier- 

4* 

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52  Egli,  Die  Zuricher  WiedertSufer  zur  Reformationszeit. 

lichste   vollzogen  worden,    und   Ende   April  fanden  zu  Olmiitz, 
"und  Anfangs  Mai  zu  Breslau  die  Huldigungen  der  Stande  Mahrens 
und  Schlesiens  statt.  — 

Diess  ist  der  Inhalt  des  ersten  Bandes  von  Rezeks  Ge- 
schichte  der  Regierung  Ferdinands  I.  in  Bohmen;  er  schliesst 
sich  eng  an  Palacky's  Geschichte  Bohmens  an,  ist  ebenso  wie 
das  Werk  dieses  beriihmten  Historiographen  durchwegs  auf  ein 
reiches  Quellenmaterial  basirt  und  daher  unbedingt  als  eine 
wesentliche  Bereicherung  der  osterreichischen  Geschichtsschreibung 
zu  betrachten.  Einzelne  Partien  werden  allerdings  nicht  unbe- 
stritten  bleiben,  so  z.  B.  der  gegen  die  meisten  friiheren  Bearbeiter 
dieser  Periode  versuehte  Nachweis,  dass  Ferdinand  trotz  seiner 
Vermahlung  mit  der  Jagellonin  Anna  und  trotz  der  mit  Wladis- 
law  und  Ludwig  geschlossenen  Vertriige  gar  kein  Anrecht  anf 
Bohmens  Krone  zugestanden  sei  und  dass  er  dieselbe  nur  seiner 
Wahl  durch  die  Stande  verdanke.  — 

Wir  sehen  mit  Spannung  den  folgenden  Banden  dieses 
Werkes  entgegen. 

Graz.  Franz  Ilwo£ 


XV. 
Egli,   Emil,  Pfarrer,  Die  Zuricher  Wiedertaufer  zur  Refor- 
mationszeit.   Nach  den  Quellen  des  Staatsarchivs  dargestellt 
8.     (104  S.)     Zurich  1878.    Fr.  Schulthess     2  M. 

Der  Verf.,  welcher  schon  in  einer  schatzbaren  Monographie 
die  Schlacht  bei  Cappel  behandelt  hat,  stellt  hier  eine  andre  Epi- 
sode der  Zuricher  Reformation  dar.  Das  Missverstandniss,  welches 
die  grossen  Reformatoren  durch  ihre  Verkiindigung  der  christ- 
lichen  Freiheit  und  ihre  Opposition  gegen  viele  Missbrauche  im 
katholischen  Cultus  erregten,  rief  die  weitverbreitete  Bewegung 
der  Wiedertaufer  in's  Leben,  welche  das  ganze  Reformationswerk 
in  Frage  stellte.  Egli  hebt  aus  den  Acten  rich  tig  hervor,  dass 
die  Taufe  („der  Tauf")  keineswegs  die  Hauptsache  dabei  war; 
doch  vermissen  wir  eine  Charakteristik  dieser  gewaltigen  „  Rotten 
und  Schwarmgeister".  Vielleicht  wollte  Verf.  hier  nicht  in  das 
theologische  Gebiet  hiniibergreifen ,  das  er  „seinem  Freunde 
Usteri"  uberlassen  will  (S.  103).  Jene  radicale  Richtung  cba- 
rakterisirt  sich  durch  6  Momente:  1)  Verwerfung  der  hL  Schrift; 
2)  Donatistische  Reinheitskirche ;  3)  Allegorese;  4)  Antinomis- 
mus ;  5)  Chiliastische  Tendenzen  und  6)  Verwerfung  der  Kinder- 
taufe.  Der  Grundzug  aber  ist  oifenbar  iibertriebener  Spiri- 
tualismus. 

An  der  Hand  der  Acten  im  Staatsarchiv  zeigt  nun  Egli,  wie 
sich  zuerst  durch  einige  entschieden  talentvolle  Manner  (Grebel, 
Manz,  Hottinger)  eine  radicalere  Reformpartei ,  der  Zwingli  und 
„Mine  Herren"  zu  bedachtig  waren,  bildete  und  zur  Stiftung 
einer  Sonderkirche  schritt.  Sie  gingen  dabei  von  der  Kinder- 
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Egli,  Die  Zuriclier  Wiedert&ufer  zur  Eoformationszeit.  53 

taufe  aus,  und  Zwingli,  der  danials,  ja  zeitlebens  ziemlich 
rationalistisch  dariiber  dachte,  hatte  einen  scblimmeil  Stand, 
wenn  er  aucb  durch  seine  dialektische  Gewandtbeit  siegte. 
Trotzdem  die  Wortfiibrer  in  der  Disputation  fiir  uberwunden 
erklart  wurden,  vollzogen  Grebel,  Manz  und  Blaurock  in  Zollikon 
die  Wiedertaufe  und  das  Nachtmahl  sub  utraque.  Alsbald 
eiferten  sie  gegen  die  Pradicanten,  schalten  sie  und  Zwingli 
„Rauber  und  Diebe" ,  unterbrachen  sie  mitten  in  der  Predigt 
mit  Vorwiirfen  und  scblugen  Giitergemeinschaft  vor.  Es  handelte 
sich  eben,  wie  Zwingli  am  28.  Mai  1525  an  Vadian  schreibt, 
„nicht  um  die  Taufe,  sondern  um  Aufruhr,  Rottung  und  Ketzerei". 
Vergeblich  disputirte  er,  Leo  Juda  und  Myconius  noch  einige 
Male,  vergeblich  schrieb  er  „Vom  Tauf,  Wiedertauf  und  Kinder- 
tauf1,  die  Gegner  blieben  bei  einigen  Satzen  stehen,  wie:  „Man 
miisse  Gott  mehr  gehorchen  als  den  Menschen1',  verwarfen  Obrig- 
keit,  Todesstrafe,  Ehe  und  Eigenthum. 

Es  ist  nun  fast  riihrend,  zu  verfolgen,  mit  wie  vaterlicher 
Milde  der  Rath  gegen  diese  „verirrten  Liit"  verfahrt.  Drobungen, 
Belehrung,  Disputation,  Verhaftung,  Geldbusse,  Erlass  derselben, 
Verhaftung,  Eid  (den  die  Taufer  fur  null  und  rich  tig  erkliiren), 
neue  Busse  —  das  sind  die  gutgemeinten ,  aber  fruchtlosen 
Mittel,  welcbe  Mine  Herren  bis  1527  anwandten.  Gewiss  hat 
Zwingli,  wie  er  es  selbst  offen  erklart,  sehr  viel  zu  dieser  Lang- 
muth  und  Milde  beigetragen,  weil  er  mit  Recht  nicht  nur  fiir 
die  biirgerliche  Freiheit,  sondern  auch  fiir  sein  eignes  Werk 
lurchtete.  Dazu  kam,  dass  manche  Vogte  nicht  ohne  Grund  im 
Verdacht  standen,  den  Taufern  insgeheim  Vorschub  zu  leisten. 
Seit  1527  mischten  sich  nun  auch  die  weltlichen  Ziele  der 
Bauernbewegung  mit  ein,  besonders  in  Griiningen,  dessen  Vogt 
nicht  recht  zuverlassig  schien.  Emissare  aus  St.  Gallen  regten 
die  Leute  gegen  Zehnt,  Obrigkeit  und  Herrschaft  auf ,  forderten 
Guter-  und  Weibergemeinschaft ,  storten  den  Gottesdienst  und 
trieben  allerlei  Unfug.  Zur  Controlle  der  Kinder-  resp.  Wieder- 
taufe waren  schon  1526  auf  Zwingli's  Vorschlag  Kirchenbiicher 
eingerichtet  worden,  die  freilich  vielfach  noch  recht  unsorglaltig 
gefuhrt  wurden. 

Endlich  machte  der  Rath  Ernst.  Am  5.  Jan.  1527  ward 
Manz,  ein  Ziircher,  ertrankt,  den  Andern  „zur  Forcht  und 
Ebenbild",  da  er  „wider  christenlich  ordnung  und  bruch"  in  den 
Wiedertauf  sich  eingelassen  und  ein  „Hauptsacheru  desselben  ge- 
worden.  ^  Trotzdem  liessen  sich  die  Taufer  nicht  entmuthigen, 
weder  in  ihrer  passiven  noch  schriftlichen  Opposition.  Sie 
reichten  dem  Landtag  eine  „Darlegung  ihres  Standpunktes"  ein, 
seiche  die  Grunde  gegen  die  Kindertaufe  kurz,  klar  und  sach- 
gemass  vortragt.  Fiir  uns  Heutige  macht  es  einen  unangenehmen 
Eimlruck,  zu  sehen,  wie  so  schriftgemasse,  sachliche  Griinde  von 
c*eB  Reformirten  vollig  ignorirt,  ja  mit  Gewaltmassregeln  beant- 
^ortet  werden  konnten.  Auch  darin  batten  die  Taufer  recht, 
^ss  sie  gegen  den  Wandel  der  Geistlichen  eiferten.     Egli  zahlt 

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54        Reuss,  Die  Beschreibung  des  bischoflichen  Krieges  anno  1592. 

S.  75  eine  grosse  Zahl  derselben  auf,  die  durch  Spiel,  Trunk, 
Zanksucht  und  Unzucht  grossen  Anstoss  gaben.  Freilich  scbritt 
aucb  ZwiBgli  seit  1527  gegen  sie  energisch  ein,  wahrend  er 
andrerseits  die  Griininger  Taufer  in  einer  bisher  unbekannten 
Schrift  zu  widerlegen  sucbte.  Wie  die  sittliche,  so  suchte  man 
die  kirchliche  Zucht  zu  starken;  man  verpflichtete  die  Pradi- 
canten,  keine  neue  Meinung  oder  Opinion  hervorzuzieben  und  zu 
predigen,  sie  sei  denn  vorher  der  gemeinen  Synode  vorgelegt; 
zwang  alle  Gemeindeglieder  bei  Basse  zum  Kirchengehen  und 
bracbte  mit  Gewalt  die  Staatskirche  zur  Geltung.  Dann  stellte 
man  die  Pfarrer  okonomisch  besser,  gab  Gesetze  gegen  Todfc- 
schlag,  Friedensbruch,  Zinskaufe,  Geldanleihen  und  Winkelwirth- 
schaften.  Aber  noch  3  Taufer  wurden  bis  1530  ertrankt,  ehe 
die  Wellen  der  Bewegung  sicb  legten;  1531  — 1538  erlosch  die 
Tauferei  allmahlich  ganz. 

Ein  Anhang  bringt  eine  Reihe  charakteristischer  Ausspriiche 
der  Taufer  und  eine  chronologiscb  -  geograpbiscbe  Tafel  der  Be- 
wegung, welche  durch  zahlreiche  Noten  belegt  wird. 

Berlin.  Lie.  Dr.  Fr.  Kirchner. 


XVI. 
Reuss,    Rud.,    Die   Beschreibung   des   bischoflichen   Krieges 

anno    1592.      Eine    Strassburger    Chronik   mit    Anmerkungen 

und  ungedruckten   Beilagen   zum   ersten  Male  herausgegeben. 

gr.  8.    (XIV,  160  S.)    Strassburg  1878.    Treuttel  und  Wiirtz. 

4  M. 

Der  Verf.  ist  bereits  durch  mehrere  Sohriften  und  Heraus- 
gaben  zur  elsass.  Gescbichte  riihmlich  bekannt;  insbesondere 
sind  die  beiden  Jahrhunderte  der  Reformation  seine  Domiine. 
Er  aussert  iiber  die  Bedeutung  seines  diesmaligen  Gegenstandea, 
die  Stadt  habe  damals  zum  letzten  Mai  fur  allgomeinere  Interessen 
selbstandig  gehandelt ,  aber  von  der  gewaitigen  politischen  vxA 
finanziellen  Erschiitterung  sich  nie  wieder  ganzlich  erholt:  Die 
sog.  Bruderhofischen  Handel  (der  Anlass  dieses  Kriegs)  bezeich- 
neten  „den  Eintritt  in  das  Jahrhundert  des  Verfalles".  Zugleich 
aber  sei  der  Krieg  ein  Vorspiel  der  Tragodie  des  grossen  deut- 
schen  Krieges.  Doch  gilt  vom  bischoflichen  Krieg  im  aller- 
hochsten  Grade  das  parturiunt  montes :  spate  Entschliisse,  unge- 
niigende  Vorbereitung ,  mangelnde  Eintracht  und  ein  starkes 
Deficit  an  Energie. 

Aus  einem  Sammelbande  des  evangelischen  Thomasstiftes  ist 
die  von  einem  unbekannten  hiesigen  Burger  gleichzeitig  nieder- 
geschriebene  Chronik  entnommen  worden;  am  Schlusse  bildet 
sie  iiberdies  die  Erganzung  einer  friiher  von  Stober  in  der 
Alsatia  gemachten  Publikation.  Diese  Chronik  ist  nun  nicW 
eben  geeignet,  uns  iiber  die  Vorgange  des  bischoflichen  Kriegs 
neue  Aufklarungen  zu  verschaffen;  namentlich  ist  der  Anthril 
der  hierher  zahlreich   zu  Hilfe  geeilten   ScHweizer  nicht  nm 

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Renss,  Die  Beschreibung  des  biscboflichen  Krieges  anno  1592.        55 

Gebtihr  beriicksichtigt.  Noch  war  Hertzogs  „edelsassische  Chro- 
nicku  kauin  vollendet,  als  der  Krieg  ausbrach:  er  hatte  ihn 
vorausgesehen  und  schliesst  sein  viertes  Buch:  „Der  Allmechtig 
woll  dise  sach  dahin  richten,  das  sie  ohn  weitleuffigkeit  uffgute 
mittel  giitlich  vergleichen  und  hingelegt,  ferner  zurriittung  und 
thatlichkeit  verhiitet,  unnd  inn  dem  Reich  friedt,  ruhe  und  einig- 
keit  erhalten  werd."  Und  ahnend  schliesst  der  wiirdige  Amt- 
mann  von  Worth  sein  Verzeichniss  der  damaligen  24  Domherrn 
an,  von  denen  schon  iiber  die  Halfte  evangelisch  gesinnt  waren. 
Die  Folge  war  eine  zwiespaltige  Wahl:  Die  Erhebung  des 
l&jahrigen  Markgrafen  Johann  Georg  von  Brandenburg  zum 
Administrator  beantworteten  die  Katholiken  mit  der  Wahl  Carls 
von  Lothringen,  des  Bischofs  von  Metz.  Die  Stadt  hatte  unterm 
8.  Dezbr.  1591  durch  Hugo  Sturm  ein  Bundniss  mit  dem  fuhren- 
den  Domherrn  Gebhard,  dem  vertriebenen  Kolner  Erzbischof, 
aufgerichtet :  es  verpflichtete  Strassburg  zu  nachdriicklicher  Hilfe ; 
konnte  es  doch  umsobesser  der  fernen  Hoffnung  auf  Erwerbung 
des  bischoflichen  Landbesitzes  zuarbeiten  I  Vergebens  suchte  nach 
Ansammlung  einer  hinlanglichen  Truppenmacht  (15000?)  Christian 
von  Anhalt  einen  bessern  Nachdruck  in  die  Kriegfuhrung  gegen 
den  Lothringer  zu  bringen,  fiir  welchen  seines  Vaters  Adel  und 
Soldner  fochten;  gegen  die  an  Cavallerie  iiberlegenen  Feinde 
war  wenig  auszurichten :  kleine  Ueberfalle,  Pliinderungen  und 
Belagerungen  en  miniature  —  das  war  Alles,  bis  der  Krieg  nach 
3/4  Jahren  vorerst  einschlief,  nichts  als  eine  guerre  d'escarmouches, 
wie  ihn  Spoch  mit  Recht  genannt  hat.  Die  Einnahme  des  kleinen 
Molsheim  war  (wie  18  Jahre  hernach)  der  Glanzpunkt  unter 
den  evangelischen  Heldenstiicken.  Am  meisten  Ernst  war  es 
noch  den  brandenburgischen  adligen  Parteigangern  gewesen, 
den  Dohna,  Schulenburg,  Kettritz,  v.  Buch,  die  sich  auch  damals, 
wie  100  Jahre  hernach,  im  Elsass  tummelten.  Eine  ganz  andre  ' 
Energie  haben  die  oberdeutschen  unirten  Furs  ten  anno  1610 
denselben  Feinden  gegeniiber  bewiesen.  Erst  1610  auch  kam  oin 
Definitiwertrag  zu  Stande,  von  Heinrich  IV.  erwirkt,  der  sich, 
wie  seine  Vorganger  seit  700  Jahren,  immer  wieder  in  die 
elsassischen  Angelegenheiten  mischte.  Strassburg  hatte,  ausser 
dem  Glauben  an  die  Einheit  der  evangelischen  Stande  und  jenen 
hochfliegenden  Ideen,  viel  Geld  und  ziemlich  Ehre  bei  der  Affaire 
eingebiisst  —  und  noch  etwas  andres,  seine  innere  Geschlossen- 
heit.  Schon  gab  es  mitten  im  Rathe  eine  Opposition  (der  Stett- 
meister  Friedrich  Prechter),  welche  den  Katholiken  heimlich  in 
die  Hande  arbeitete,  und  deren  Bedeutung  Chronist  und  Heraus- 
geber  an  mehreren  Stellen  betonen. 

Die   Litteratur  iiber   diesen  Krieg,  welche  Strobel  (Gesch. 
des  Elsass)  fur  seine  Zeit  ira  Wesentlichen  gab,  hat  der  Heraus- 

f&ber  nicht  nur  durch  eine  Bibliographie,  besonders  der  damaligen 
treitschriften  vervollstandigt ,  sondern  vor  Allem  durch  die  an- 
gefugten  Beilagen.  Am  interessantesten  davon  sind  2  Schrift- 
stucke  des   Anhalters:   ein  Vorschlag   zu  erfolgreicherer  Krieg- 

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56     Preussische  Staatsschriften  a.  d.  Regierungszeit  Konig  Friedricha  IL 

fuhrung,  und  fiinf  Monate  hernach  (3.  Febr.  1593)  ein  trotziger 
Schreibebrief,  worin  er  den  Verbiindeten  ihre  Klagen  und  Anklagea 
iiber  die  Mangel  der  Kriegfiilirung  reichlich  und  selbstbewusst  zu- 
riickgibt.  In  sitten-  und  kulturhistorischer  Hinsicht  noch  belang- 
reicher  sind  die  notariell  aufgenommenen  Zeugenaussagen  einiger 
Strassburger  Burger,  welche  von  den  Lothringern  gefangen  und 
bis  zu  ibrer  Ranzionirung  furchterlioh  misshandelt  worden  waren: 
in  den  Martern,  die  man  ihnen  anthat,  kiindigt  sieb  bereits  die 
unsagliche  Roheit  an,  welcbe  der  deutsche  Krieg  allenthalben 
entfesselte. 

Obwol  der  Yerf.  die  selteneren  und  alterthumlichen  Worter 
hier  und  da  erklart  hat,  bleiben  auffallender  Weise  die  wirklich 
schwierigen  obne  Deutung.  Da  sie ,  iiberall  zu  jener  Zeit  be- 
gegnend,  von  allgeineinerem  Interesse  sind,  folgen  sie  hier :  sluten, 
Schlamm,  mhd.  sluot;  diihle  =  mhd.  tole,  Rohre;  train  =  mhd. 
dram,  Balken;  gerembs  =  mhd.  geremze,  Gitter;  lit  =  mhd. 
Deckel;  arbeitselig  (nicht  felig,  wie  irrig  steht)  =  unheilbar 
krank;  zwehel,  Handtuch,  mhd.  twehele;  sweizen  =  bluten; 
unerschwindtlich  =  unerschwinglich,  mit  alemannischem  Wechsel 
von  nd  und  ng ;  zinstag,  soil  heissen  ziustag,  Dienstag ;  schalten  = 
mhd.  schieben ;  gaden  =  mhd.,  Gemach ;  deucheln  =  mhd.  tiuchehi, 
gleichfalls  Rohren;  letzte  =  mhd.  letze,  Abschied ;  reisswort 
(mit  ?)  ist  reizwort,  wie  S.  44  und  58  schutz  fur  schuz;  hellec 
ist  mhd.,  niichtern;  gleich,  mhd.,  Glied;  S.  15  endlich  gibt  der 
Yerf.  eine  Stelle  verloren,  die  ich  durch  Einsetzung  eines  e  heileu 
wiirde:  „nicht  so  ellendem  vieheu  fiir  „nicht  sollendem". 
Strassburg.  Dr.  SchadeL 


xvn. 

Preussische  Staatsschriften  aus  der  Regierungszeit  Konig 
Friedrichs  II.  Im  Auftrage  der  Koniglichen  Akadeniie  der 
Wissenschaften  zu  Berlin  herausgegeben  von  J.  G.  Droysen 
und  M.  Duncker.  I.  Bd.  (1740  — 1745.)  Bearbeitet  tou 
Dr.  Reinhold  Koser.  gr.  8.  (LIV  u.  726  S.)  Berlin  1877. 
A.  Duncker.     17  M. 

Auf  Anregung  der  Herren  Droysen  und  Duncker  und  auf 
Grund  eines  von  denselben  vorgelegten  Planes  hat  die  Konigi 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  die  Herausgabe  ver- 
schiedener  Arten  von  Quellen  zur  Geschichte  Friedrichs  des 
Grossen  beschlossen.  Der  vorliegende  Band  eroffnet  diese  Publi- 
cationen,  er  bildet  den  ersten  Theil  der  einen  unter  den  vier 
Abtheilungen  derselben,  der  „Preussischen  Staatsschriften  aus  der 
Regierungszeit  Konig  Friedrichs  II."  Der  Begriff  „Staatsschriftenu 
ist  hier  in  der  weiten  Ausdehnung  gefasst,  welche  demselben  im 
vorigen  Jahrhundert  gegeben  wurde,  es  werden  darunter  ver- 
standen  Publicationen  der  verschiedonsten  Art,  welche  von  den 
Regierungen  ausgehen  und  den  Zweck  haben,  die  Schritte  der- 
selben der  offentlichen  Meinung  gegeniiber  zu  rechtfertigen  oder 


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Preussische  Staatsschriften  a.  d.  Regierungszeit  Konig  Friedrichs  II.     57 

in  ein  richtiges  Licht  zu  setzen.  Dieser  erste  Band,  enthaltend 
die  preussischen  Staatsschriften  aus  den  ersten  seclis  Regierungs- 
jahren  Friedrichs  (1740 — 1745),  ist  von  Herrn  Koser  bearbeitet 
worden.  Die  demselben  gestellte  Aufgabe  war  eine  keineswegs 
leichte.  Zunachst  hat  schon  die  Sammlung  dieser  Schriften  nicht 
geringe  Schwierigkeiten  bereitet;  dieselben  sind  heut  zu  Tage 
iiberaus  selten,  von  vielen  sind  die  Originaldrucke  garnicht  mehr 
vorhanden,  sie  mussten  in  Zeitungen,  Zeitschriften  und  alteren 
Sammelwerken  aufgesucht  werden,  auch  diese  abor  sind  selten 
und  enthalten  solche  Schriften  meist  in  wenig  correcter  Form, 
oft  ganz  willkiirlich  verandert.  Die  reichste  Ausbeute  hat  deni 
Herausgeber  das  Konigl.  Geh.  Staatsarchiv  zu  Berlin  gewahrt,  in 
dessen  Akten  sich  manche  von  jenen  Drucken  selbst,  dann  aber 
auch  zahlreiche  Manuscripte  derselben  und  zwar  ofter  ausser 
der  Schlussredaction  auch  Concepte  und  friihere  Entwiirfe  ge- 
funden  haben.  Auf  Grund  dieses  handschriftlichen  Materials  ist 
da,  wo  die  Originaldrucke  nicht  vorhanden  waren,  der  authen- 
tische  Text  dieser  Schriften  hergestellt,  einige,  welche  urspriing- 
lich  fur  die  Veroflfentlichung  bestimmt,  aber  dann  doch  nicht 
gedruckt  waren,  sind  hier  zum  ersten  Male  hervorgezogen  wor- 
den. Der  Herausgeber  hat  sich  aber  ferner  auch  bemiiht,  das 
Verstandniss  dieser  Schriften  durch  Darlegung  ihres  Ursprunges 
und  der  politischen  Verhaltnisse,  auf  welche  sie  sich  beziehen 
und  unter  welchen  sie  entstanden  sind,  zu  ermoglichen  und  auch 
nach  dieser  Seite  hin  hat  er  auf  das  glanzendste,  mit  ebensoviel 
Fleiss  und  Sorgfalt  wie  Scharfsinn  und  Geschicklichkeit  seine 
Aufgabe  gelost.  In  den  Einleitungen,  welche  theils  den  grosseren 
Abtheilungen,  in  welche  die  Sammlung  gesondert  ist,  theils  den 
einzelnen  Stucken  vorangestellt  sind,  werden  auf  Grund  der  Akten 
des  Berliner  Archivs  und  unter  reichhaltiger  Verwerthung  der 
historischen  Litteratur  alterer  und  neuerer  Zeit  einmal  die 
pohtischen  Verhaltnisse  dargestellt,  welche  die  Abfassung  und 
Veroflfentlichung  dieser  Staatsschriften  vcranlasst  haben ,  dann 
aber  auch  iiber  Autor  und  Zeit  der  Abfassung,  iiber  die  Art 
der  Verbreitung  und  iiber  die  Erfolge  derselben  eingehende,  oft 
sehr  specielle  Mittheilungen  gemacht.  Manche  dieser  Einleitungen 
erweitern  sich  zu  abgerundeten  historischen  Abhandlungen,  welche 
ebenso  durch  ihren  reichen  Inhalt  und  die  neuen  Aufschliisse, 
welche  sie  enthalten,  wie  durch  ihre  anziehende  Form  das  Interesse 
des  Lesers  fesseln  miissen. 

Vorangeschickt  ist  eine  langere  Einleitung,  in  welcher  zu« 
uachst  der  BegriflF  Staatsschriften  in  der  oben  angegebenen  Weise 
festgestellt  und  dann  die  verschiedenen  Formen  angegeben  war- 
den, welche  dieselben  angonommen  haben.  Es  werden  unter- 
schieden  Staatsschriften  im  engeren  Sinne,  solche  Publicationen, 
deren  officiellor  Ursprung  offen  zu  Tage  tritt,  und  Flugschriften, 
maskirte  Staatsschriften,  welche  auch  aus  den  leitenden  Kreisen 
hervorgegangen  oder  durch  dieselben  veranlasst  sind,  diesen  Ur- 
sprung aber   sorgsam   zu   verhiillen    suchen.      Die    eigentlichen 

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58     Preussische  Staatsschriften  a.  d.  Regierungszeit  Eonig  Friedrichs  JL 

Staatsschriften  werden  wieder  in  zwei  Classen  eingetheilt,  in 
solche ,  welche  keine  bestimmte  Adresse  tragen ,  unmittelbar  an 
das  Publikum  gerichtet  sind  (sie  werden  ihrem  Inhalte  nach 
wieder  in  mehrere  Unterabtheilungen  gesondert),  und  in  solche 
mit  bestimmter  Adresse ,  nur  mittelbar  fur  das  Publikum  be- 
stimmt.  Diese  letzteren  sind  theils  Patente  (Proclamationen), 
theils  diplomatische  Aktenstiicke  der  verschiedensten  Art,  die 
theils  von  vorne  herein  fiir  die  Oeffentlichkeit  bestimmt  sind, 
theils  Mittheilungen  von  Hof  zu  Hof,  die  erst  nachtraglich  publi- 
cirt  worden  sind.  Der  Verf.  bespricht  dann  den  Antheil,  welchen 
Friedrich  der  Grosse  selbst  an  der  publicistischen  Litteratur 
genommen  hat,  er  weist  darauf  hin,  wie  mehrere  jener  Staats- 
schriften von  dem  Konige  selbst  verfasst  sind,  und  mit  welcher 
Sorgfalt  er  dieselben  gearbeitet  und  gefeilt  hat,  er  fuhrt  dann 
mit  Beifugung  genauerer  biographischer  Angaben  die  Manner 
auf,  welche  die  Mitarbeiter  des  Konigs  auf  diesem  Gebiete  ge- 
wesen  sind,  von  ihnen  sind  die  wichtigsten  der  Cabinetssecretar 
Eichel,  der  Minister  v.  Podewils,  die  Geheimen  Rathe  Vockerodt 
uud  Weinreich,  ferner  fur  staatsrechtliche  Deductionen  der  Kanzler 
der  Universitat  Halle  v.  Ludwig,  Cocceji  und  der  preussische 
Gesandte  am  Reichstage  zu  Regensburg  Pollmann.  Er  bespricht 
dann  den  Zustand  der  Ueberlieferung  und  giebt  hier  sehr 
interessante  Mittheilungen  iiber  die  Zeitungen  und  Zeitschriften 
jener  Zeit,  ferner  iiber  die  ersten  zusammenfassenden  Darstel- 
lungen  der  Zeitgeschichte,  welche  auch  hauptsachlich.  aus  solchen 
Erzeugnissen  der  publicistischen  Litteratur  compilirt  sind. 

Die  in  diesem  Bande  vereinigtcn  Staatsschriften  sind  in 
7  grossere  Abtheilungen  gesondert,  innerhalb  deren  die  einzelnen 
Stucke  in  chronologischer  Ordnung  auf  einander  folgen.  Die 
erste  Abtheiluog  ist  betitelt:  „Der  Regieruugsanfang".  In  einer 
ganz  kurzen  Einleitung  wird  auf  den  veraudertea  Character 
hingewiesen,  welchen  die  preussische  Politik  gleich  nach  dem 
Thronwechsel  angenommen  hat,  derselbe  giebt  sich  in  den  ersten 
Monaten  1740  kund  in  zwei  Actionen,  in  der  Einmischung  Konig 
Friedrichs  in  die  Grenzstreitigkeiten  zwischen  Kur- Mainz  und 
Hessen-Cassel  zu  Gunsten  des  letzteren,  und  in  seinem  Vorgehen 
gegen  den  Bischof  von  Liittich  in  Folge  der  Unterstutzong, 
welche  derselbe  der  aus  der  oranischen  Erbschaft  endlich  an 
Preussen  gekommenen  Grafschaft  Herstal  in  ihrem  Widerstande 
gegen  die  preussische  Herrschaft  leistete.  Auf  diese  beiden 
Ereignisse  beziehen  sich  die  6  in  dieser  Abtheilung  heraus- 
gegebenen  Schriftstiicke :  2  Schreiben  Friedrichs  an  den  Kur- 
flirsten  von  Mainz  und  an  den  Bischof  von  Liittich  und  4  Recht- 
fertigungsschriften  in  der  Liitticher  Angelegenheit.  In  einem 
Excurs  am  Schlusse  wird  die  Angabe  Voltaire's  in  seinen  Me- 
moiren,  er  habe  im  Auftrage  Friedrichs  ein  Manifest  gegeu  den 
Bischof  von  Liittich  geschrieben,  berichtigt:  Voltaire  hat  ohne 
Auftrag    eine    solche    Schrift   verfasst   und   im  Haag   erscheinen 


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Preussische  Staatsschriften  a.  d.  Eegierangszeit  Kftnig  Friedrichs  II.    59 

lassen,  dieselbe  ist  aber  auf  Veranlassung  des  dortigen  preussi- 
schen  Gesandten  unterdruckt  worden. 

Der  zweiten  Abtheilung:  „Die  preussischen  Anspriiche  auf 
Schlesien"  geht  eine  langere  Einleitung  voran,  in  welcher  der 
Verf.  in  ebenso  griindlicher  wie  scharfeinniger  Weise  diese  An- 
spriiche darlegt  und  beurtheilt.  Er  kommt  zu  dem  Resultat, 
dass  Friedrich  zwar  nicht  formell  juristiscb,  aber  wohl  moralisch 
zur  Besitzergreifung  von  Schlesien  berechtigt  gewesen  ist.  Er 
betont  namentlich,  dass  der  Konig  sehr  genau  iiber  die  treulose 
Politik  Oesterreichs  gegen  seine  Vorfahren  unterrichtet  gewesen 
ist,  ferner  dass  das  Verhalten  Oesterreichs  in  der  bergischen 
Successionsfrage,  der  Bruch  des  1728  mit  Preussen  abgoschlosse- 
nen  Vertrages,  Friedrich  eine  bequeme  Handhabe  geboten  hat, 
um  auf  die  schlesischen  Anspriiche  zuriickzukommen,  endlich  dass 
Oesterreich  noch  zuletzt  1740  durch  eine  plumpe  Luge  Preussen 
zu  beschwichtigen  versucht  hat.  Von  den  11  Stiicken,  welche 
in  dieser  Abtheilung  sich  vereinigt  finden,  sind  die  ersten  7 
kiirzere  Schriften,  betreffend  den  Einmarsch  in  Schlesien,  darunter 
besonders  interessant  N.  X?  das  von  Friedrich  eigenhandig  ab- 
gefasste  Memoire  sur  les  raisons,  qui  ont  determine  le  Roi  a 
faire  entrer  ses  troupes  en  Silesie,  die  letzen  4  ausgedehnte 
staatsrechtliche  Deductionen ,  die  erste  (N.  XIV)  von  Ludwig, 
die  zweite  (N.  XV)  von  Cocceji,  die  beiden  letzten  Widerlegungen 
osterreichischer  Gegenschrifton ,  welche  letzteren  hier  auch  mit 
abgedruckt  sind. 

Die  dritte  Abtheilung,  betitelt:  „Bis  zum  Breslauer  Frie- 
den",  enthalt  zunachst  einige  Schriften,  welche  den  gegen  Preussen 
ausgestreuten  Verdachtigungen,  dasselbe  habe  einen  Religionskrieg 
angefangen,  sinne  auf  Sacularisation  der  geistlichen  Fursten- 
thiimer  u.  8.  w.,  entgegentreten,  dann  diplomatische  Papiere,  be- 
treffend die  nach  der  Schlacht  bei  Mollwitz  zwischen  Preussen, 
Oesterreich  und  England  gefiihrten  Verhandlungen ,  das  interes- 
santeste  Stiick  ist  das  letzte  (N.  XXIX):  Lettre  de  M.  le  Comto 
de  *  *  *  a  un  ami ,  eine  eigenhandige  Schrift  Friedrichs ,  eine . 
Rechtfertigung  des  mit  Oesterreich  zu  Breslau  abgeschlossenen 
Friedens  gegeniiber  den  bisherigen  Bundesgenossen ,  namentlich 
Frankreich,  namentlich  gegeniiber  den  von  dem  Cardinal  Fleury 
veroffentlichten  heftigen  Anklagen.  Sie  enthalt  Enthiillungen 
iiber  die  von  Frankreich  hinter  dem  Riicken  seiner  Bundes- 
genossen gesponnenen  Intriguen,  Friedrich  hat  sie  aber  schliess- 
lich  auf  den  Rath  seines  Ministers  Podewils,  um  die  franzosische 
Regierung  nicht  noch  mehr  zu  erbittern,  nicht  drucken  lassen. 
Ein  Excurs  zu  dieser  Abtheilung  betrifft  die  Kaiserwahl  von 
1741 — 42,  es  wird  dort  darauf  hingewiesen,  dass  in  dieser  An- 
gelegenheit  nur  einige  Depeschen  und  Erklarungen  Preussens  be- 
kannt  geworden  sind,  dass  aber  einige  private  Flugschriften 
erschienen  sind,  in  denen  die  Wahl  Friedrichs  befurwortet  wird. 

Die  vierte  Abtheilung  behandelt  „Das  Friedensjahr  1743". 
Es  werden  dort  zuerst  eine  Reihe  von  Schriftstiicken  mitgetheilt, 


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60    Preussische  Staatsschriften  a.  d.  Regierungszeit  KSnig  Friedrichs  II. 

in  welchen  das  Bestreben  der  preussischen  Politik,  die  Neutralist 
des  Reiche8  in  dcm  zwischen  Kaiser  Carl  VII.  und  Oesterreich 
gefuhrten  Kriege  zu  erhalten,  zum  Ausdruck  kommt.  Die  iibri- 
gen  Schriften  sind  veranlasst  durch  den  Protest  Oesterreichs 
gegen  die  Wahl  Carls  VII. ,  dessen  Aufnahme  in  die  Reichstags- 
akten  der  Wiener  Hof  unter  Mitwirkung  des  neuen  Kurfiirsten 
von  Mainz  durchgesetzt  hatte:  ein  Brief  Friedrichs  an  den 
Kaiser  (N.  XXXVII),  eine  nach  seinen  Weisungen  ausgearbeitete 
Flugschrift  (Lettre  d  un  gentilhomine  frangais  a  un  de  ses  amis) 
und  die  Erklarungen,  welche  der  Konig  in  Wien  durch  seinen 
Gesandten  zu  Ende  des  Jahres  hat  abgeben  lassen,  durch  die  er 
den  Geriichten  von  angeblichen  kriegerischen  Absichten  Preussens 
entgegentritt ,  zugleich  aber  iiber  jenes  Vorgehen  Oesterreichs 
und  iiber  dessen  Riistungen  in  Bohmen  und  Mahren  Klage  fuhrt 
und  sich  entschlossen  zeigt,  im  Nothfalle  demselben  mit  den 
Wafien  entgegenzutreten.  Ein  Excurs  behandelt  zwei  damals 
verbreitete  apocryphe  preussische  Schriften,  eine  angebliche  Ver- 
wendung  Friedrichs  fur  die  ungarischen  Protestanten  und  ein 
Circularschreiben  an  die  andern  neutralen  Machte  wegen  Her- 
stellung  des  Friedens. 

Auch  die  fiinfte  Abtheilung:  „Preussen  und  Oesterreich  im 
zweiten  schlesischen  Kriege"  enthalt,  ebenso  wie  die  beiden  vori- 
gen,  zu  Anfang  nur  eine  kurze  orientirende  Einleitung.  Dann 
folgen  zwei  Schriften,  durch  welche  Friedrich  seine  neue  Kriegs- 
erklarung  an  Oesterreich  gerechtfertigt  hat,  das  von  dem  Konige 
selbst  abgefasste  Expose  des  motifs,  qui  ont  oblige  le  Hoi  de 
donner  des  troupes  auxiliaires  a  l'Empereur  (N.  XLIII),  dessen 
verschiedene  Redactionen  mitgetheilt  werden,  und  die  dazu  von 
Podewils  verfassten  und  aJs  Flugschrift  verbreiteten  Remarqnes 
d'un  bon  patriote  allemand,  darauf  eine  damit  im  Zusammenhang 
stehende  Schrift  eines  bairischen  Diplomaten,  dann  die  Erklanmg 
Friedrichs  an  den  wiener  Hof  bei  seinem  Einmarsch  in  Bohmen 
und  seine  Patente  an  die  Bohmen  und  an  die  Ungarn.  N.  L 
.gehort  nur  uneigentlich  in  die  Preussischen  Staatsschriften 
hinein,  es  ist  eine  Zuschrift  der  osterreichischen  Kaiserin  an  den 
in  Ulm  tagenden  Convent  des  schwabischen  Kreises,  welcher  eine 
Anzahl  aufgefangener  Depeschen  des  preussischen  Gesandten  in 
Paris  v.  Schmettau  beigegeben  sind,  welche  zu  Enthiillungen 
iiber  das  zwischen  Preussen  und  Frankreich  abgeschlossene 
Bundniss  benutzt  werden.  Unter  den  weiteren  Stiicken  dieser 
Abtheilung  sind  hervorzuheben :  N.  LIV,  eine  Flugschrift,  in 
welcher  das  barbarische  Treiben  der  osterreichischen,  1745  in 
Schlesien  eingeriickten  Truppen  geschildert  wird,  und  N.  LV, 
eine  Rechtfertigung  des  Verhaltens  des  preussischen  und  des 
kurpfalzischen  Gesandten  bei  der  neuen  Kaiserwahl. 

Der  sechsten  Abtheilung:  „Preussen  und  England  1744  und 
1745"  ist  eine  liingere  Einleitung  vorausgeschickt ,  in  welcher 
eine  eingehende  und  sehr  interessante  Characteristik  der  Per- 
sonlichkeit  und  der  Politik  des  damaligen  Hauptes  der  englischen 

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Preussische  Staatsschriften  a.  d.  Regierungszeit  Konig  Friedrichs  IL     61 

Regierung,  Lord  Carteret,  gegeben  und  dann  die  Verhaltnisse 
dargelegt  werden,  welche  schliesslich,  Ende  1745,  den  Sturz  des- 
delben  herbeigefuhrt  haben.  Unter  den  hier  mitgetheilten  Schrift- 
stiicken  sind  von  besonderem  Interesse :  N.  LVIII,  eine  besondere 
Erlauterung  des  Expose  des  motifs  mit  Bezug  auf  die  englischen 
Verhaltnisse  und  mit  Anklagen  gegen  die  englische  Politik,  und 
N.  LIX,  eine  in  Uebereinstimmung  mit  jener  preussischen  Scbrift 
gegen  die  Politik  der  englischen  Regierung  gerichtete  Flugschrift 
von  Lord  Chesterfield,  dem  Haupte  der  englischen  Oppositions- 
partei.  Dieser  Schrift,  obwohl  sie  cigentlich  nur  anhangsweise 
in  diese  Sammlung  preussischer  Staatsschriften  hineingehoren 
wiirde,  geht  eine  besondere  langere  Einleitung  voran,  in  welcher 
der  Character  und  die  Lebensverhaltuisse  des  Verfassers,  sowie 
sein  Verhaltniss  zu  Konig  Friedrich  (er  war  ein  enthusiastischer, 
aufrichtiger  Bewunderer  desselben)  geschildert  werden,  ein  Excurs 
enthalt  eine  Analyse  einer  anderen  ahnlichen  von  Seiten  der 
Opposition  ausgegangenen  Flugschrift,  als  deren  Verfasser  auch 
Chesterfield  gemuthmasst  wird.  N.  LX  ist  eine  Denkschrift  des 
Prinzen  Wilhelm  von  Hessen,  des  Vermittlers  bei  den  Friedens- 
verhandlungen  zu  Hanau,  welche  durch  die  Schuld  der  englischen 
Regierung  scheiterten,  sie  war  urspriinglich  dazu  bestimmt,  in 
England  gedruckt  zu  werden,  um  den  Behauptungen  der  mini- 
steriellen  Presse,  dass  die  meisten  Angaben  der  preussischen 
Publicationen  grundlos  seien,  entgegenzutreten ,  der  Druck  der- 
selben  wurde  aber  in  England  inhibirt  und  ist  nachher,  nachdem 
durch  den  Tod  Kaiser  Carls  VII.  die  Sachlage  sich  verandert 
hatte,  ganz  unterblieben ;  in  der  Einleitung  dazu  wird  wieder 
eingehend  das  Verhalten  des  englischen  Ministeriums  bei  diesen 
Friedensverhandlungen  und  der  Sturz  Carterets  geschildert.  Die 
heiden  folgenden  Nummern  enthalten  preussische  Depeschen, 
welche  den  Zweck  haben,  mit  der  neuen  englischen  Regierung, 
an  deren  Spitze  Pitt  und  Chesterfield  getreten  sind,  ein  freund- 
schaftliches  Verhaltniss  anzubahnen,  Versuche,  welche  damals 
erfolglos  blieben,  da  die.neue  Regierung  vorlaufig  noch  an  der 
auswartigen  Politik  Carterets  festhielt.  Auch  diese  Schriftstiicke  * 
gehoren  nicht  eigentlich  zu  den  preussischen  Staatsschriften,  da 
sie  nur  durch  die  Indiscretion  der  englischen  Regierung  in  die 
Oeffentlichkeit  gekommen  sind.  Ein  Excurs  enthalt  wieder  Be- 
merkungen  iiber  einige  apocryphe  preussische  Publicationen. 

Die  Bezeichnung  der  letzten,  siebenten  Abtheilung :  „Preussen 
tmd  Sachsen  1744  und  1745"  ist  nicht  ganz  erschopfend ,  denn 
von  den  darin  zusammengestellten  17  Stiicken  beziehen  sich  in 
Wirklichkeit  nur  7  auf  das  Verhaltniss  Preussens  zu  Sachsen, 
es  sind  theils  diplomatische  Schriftstucke ,  welche  den  Zweck 
verfolgen,  Sachsen  von  der  Allianz  mit  Oesterreich  zuriickzuhalten, 
dann  das  wieder  von  Friedrich  eigenhandig  verfasste  Kriegs- 
manifest  (N.  LXX),  endlich  Denkschriften,  welche  das  feindliche 
Vorgehen  gegen  Sachsen  rechtfertigen.  Dazu  kommen  4  Stiicke, 
welche  das  Verhalten  zu  Polen  betreffen:  Manifestationen,  welche 


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62  Krones,  Handbuch  der  Geschichte  Oesterreichs. 

den  Geriichten  von  feindlichen  Absichten  Preussens  gegen  dieses,  mit 
Sachsen  ja  nur  durch  Personalunion  verbundene  Reich  entgegentreten 
und  ein  Zeitungsbericht  iiber  den  im  November  1744  abgehaltenen 
Reichstag  zu  Grodno,  auf  welchem  der  Versuch  Konig  Augusts, 
auch  Polen  zur  Theilnahme  an  dem  Kriege  gegen  Preussen  zu 
bewegen,  scheitert.  Die  iibrigen  Stiicke  (N.  LXXIII — LXXYIII) 
sind  preussische  Denkschriften  und  Noten  an  den  russischen  Ho£ 
durch  welche  vergebliche  Versuch  e  gemacht  wurden,  diesen  erst 
zur  Vermittlung  in  dem  Kriege  onit  Oesterreich ,  dann  zur  Stel- 
lung  eines  Hiilfscorps,  endlich  zur  Vermittlung  gegeniiber  Sachsen 
zu  bewegen. 

Berlin.  F.  Hirsch. 


XVIII. 

Krones,  Dr.  Fr.,  Handbuch  der  Geschichte  Oesterreichs  voi 
der  altesten  bis  neuesten  Zeit.  Lfrg.  3  bis  21.  (Bd.  I— HI). 
Berlin  1876—78,  Th.  Grieben.     k  Lfrg.  1,50  M. 

Von  dem  Handbuche  der  Geschichte  des  osterreichischen 
Kaiserstaates  aus  der  Feder  von  Fr.  Krones,  dessen  erste  Liefe- 
rungen  schon  friiher  in  diesen  Blattern  einer  Besprechung  uuter- 
zogen  wurden  (V,  S.  343),  liegen  jetzt  die  drei  ersten  Bande 
(Lfrg.  1 — 21)  vollendet  vor,  welche  in  derselben  unermiidlich 
fleissigen,  streng  wissenschaftlichen  Weise  gearbeitet,  die  in 
diesen  Heften  friiher  gespendete  Anerkennung  durchaus  recht- 
fertigen.  Band  I  erzahlt  in  sieben  Biichern  (III:  Die  romische 
Herrschaft.  IV:  Volkerwanderung.  V:  Anfange  des  mittelalter- 
lichen  Staatslebens.  VI:  Der  historische  Boden  Oesterreichs. 
VII:  Geschichtliches  Leben  976—1308),  nachdem  der  Leser 
durch  einleitende  Capitel  aus  der  allgemeinen  deutschen  Geschichte 
und  durch  geographische  Uebersichten  geniigend  vorbereitet  ist, 
die  Anfange  des  historischen  Lebens  in  der  deutschen  Ostmark 
bis  zum  Eingreifen  Rudolfs  von  Habsburg  und  der  Verpflanzung 
seiner  Dynastie  an  dieUfer  der  mittleren  Donau.  Der  26.  August 
1278  „ein  wichtiger  Markstein  in  Oesterreichs  Geschichte"  be- 
schliesst  hier  die  Darstellung. 

Der  zweite  Band  (Lfrg.  8—14)  beginnt  mit  den  Folgen  der 
Schlacht  auf  dem  Marchfelde  und  geleitet  den  Leser  bis  auf  den 
Untergang  des  letzten  Jagellonen  in  Bohmen  und  Ungarn.  Die 
iiberreiche  Fulle  des  Stoffes  ist  von  dem  Verf.  auf  fiinf  Bucher 
verteilt  worden.  (VII  fuhrt  die  Geschichte  der  habsburgischen 
Lande  bis  1308  zu  Ende.  VIII:  Alpenlander,  Bohmen  und 
Ungarn  1308 — 1382.  IX:  Haus  Habsburg,  Bohmen  und  Ungarn 
1382—1437.  X:  Die  Geschichte  der  Jahre  1437—1493.  XI:  Der 
Uebergang  zur  Geschichte  der  Neuzeit.)  Mit  besonderer  Ge- 
nauigkeit  behandelt  der  Verf.  die  Epoche  Maximilian's  L,  sowie 
die  Zeiten  der  reformatorischen  Bewegung  und  des  Bauernkrieges 
bis  zum  Jahre  1526,   welches   mit  Kecht  als    der  Beginn   der 


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Krones,  Handbuch  der  Geschichte  Oesterreichs.  63 

neueren  osterreichischen  Geschichte  angesetzt  wird.  Eine  Reihe 
genealogisch-temtorialgeschichtlicher  Tafeln  der  bedeutendsten 
Dynastenfamilien  des  osterreichischen  Alpenlandes,  der  Habs- 
burger  und  der  Herrscherhauser  Bohmens  und  Ungarns  bis  1526 
bietet  dem  Leser  einen  willkonimenen  Leitfaden  in  dem  Gewirr 
der  verwandtschaftlichen  Beziehungen  jener  Jahrhunderte. 

Mit  dem  dritten  Bande  (Lfrg.  15—21)  beginnt  die  Darstellung 
der  Entwicklung  des  eigentiimlich  osterreichisch  -  habsburgischen 
Staatswesens.  Buch  XII  schildert  das  innere  Staatsleben  vom 
Schluss  des  10.  Jahrhunderts  bis  1526  imd  entwirft  dieGrundziige  der 
Verfassungs-,  Rechts-  und  Culturgeschichte  der  deutschen,  bohmi- 
schen  und  ungarischen  Landergruppen.  Buch  XIII  erzahlt  die 
Zeiten  Ferdinand's  I.  und  Maximilian's  II.  (1526—76),  Buch  XIV 
die  Rudolfs  II.  und  Matthias'  (1576—1618).  Das  XV.  Buch  ist 
dem  dreissigjahrigen  Kriege  gewidmet,  wahrend  das  XVI.  die 
Epoche  vom  westphalischen  Frieden  bis  zum  spanischen  Erb- 
folgekriege  (1648 — 1700)  dem  Leser  in  anziehender  Darstellung 
Yorfiihrt. 

Der  Stoff  ist  dem  Verf.  derartig  unter  den  Handen  ange- 
wachsen ,  dass  er  noch  einmal  gezwungen  wird ,  iiber  die  dem 
Unternehmen  urspriinglich  gesteckten  Grenzen  hinauszugreifen  und 
einen  v  i  e  r  t  e  n  Band  von  7  Lieferungen  als  Schluss  des  Ganzen 
anzukiindigen.  Wir  konnen  uns  iiber  diese  Erweiterung  nur 
freuen,  da  dieselbe  allein  eine  ebenmassig  eingehende  Erzahlung 
der  wechselvollen  Geschicke  Oesterreichs  auch  in  der  neueren 
Zeit  bis  zur  Gegenwart  ermoglicht.  Der  Kaiserstaat  an  der 
Donau  gelangt  auf  diese  Weise  zu  einer  neuen  beschreibenden 
Darstellung  seines  Entwicklungsganges,  welcho  die  alteren  Werke, 
wie  die  Arbeiten  Mailaths  und  andere,  vollkommen  in  den  Hinter- 
grund  drangt,  und  der  bis  jetzt  die  preussische  Historiographie 
leider  nichts  an  die  Seite  zu  stellen  hat.  Abgesehen  von  der 
schonen,  fesselnden  Darstellung,  welche  auch  dem  gebildeten 
Laien  die  Lecture  des  Buches  angenehm  machen  wird,  sind  die 
sorgfaltigen  litterarischen  Einleitungen  mit  besonderm  Lobe  zu 
erwahnen,  welche  dem  Fachmanne  wertvolle  Fingerzeige  fiir  ein- 
gehendere  Studien  bieten.  Dass  sich  bei  der  Aufzahlung  der 
Quellenschriftsteller  iiber  ein  und  das  andere  mit  dem  Verf. 
rechten  lasst,  dass  manche  Angabe  vermisst  wird,  wahrend 
anderes  vielleicht  entbehrlich  erscheint,  dass  schliesslich  auch 
einzelne  Irrtiimer  zu  berichtigen  bleiben,  ist  bei  einer  so  urn- 
fassenden,  die  Krafte  eines  Gelehrten  fast  iibersteigenden  Arbeit 
selbstverstandlich ,  doch  ist  es  nicht  die  Aufgabe  dieser  Blatter 
vereinzelte  Kleinigkeiten  pedantisch  zu  bemangeln,  und  sicher 
wird  der  Verfasser  selbst  bei  einer  neuen  Auflage  die  ihm  an 
andern  Orten  erteilten  Winke  beriicksichtigen. 

Ein  eigentiimliches  Zeichen  des  in  Oesterreich  herrschenden 
Geistes  bleibt  es  iibrigens,  dass  eine  so  wertvolle  historische 
Arbeit  im   Kaiserstaate  keinen  Verleger  gefunden  hat  und  in 


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(J4  Huhn,  Geschichte  Lothringens. 

Berlin  erscheinen  muss ,  wahrend  in  Wien  kostbare  Kupferwerke 

in  der  prachtvollsten  Ausstattung  in  Fulle  herausgegeben  werden. 

Berlin.  Ernst  Fischer. 


XIX. 
Huhn,  Dr.  Eugen  Th.,  Geschichte  Lothringens.     Mit  genea- 

logischen    Tabellen  und   historischen   Karten.     2  Bde.     gr.  8. 

(IX,  401  u.  428  S.)  Berlin  1877  u.  78.  Th.  Grieben.  12  M. 
Der  Verfasser,  ein  Schiiler  Schlosser's,  hat  schon  1875  eine 
Landes-,  Volks-  und  Ortskunde  von  Deutschlothringen  veroffent- 
licht.  Seine  Geschichte  Lothringens  stiitzt  sich  aaf  ein  langeres 
Studium  (ein  rnehr  als  zwanzigiahriges  Spezialstudium  giebt  er 
in  der  Einleitung  an)  und  ein  viei  umfassenderes  Quellenmaterial 
als  der  Major  Westphal  in  seiner  Geschichte  der  Stadt  Metz 
(Metz  1875 — 77,  3.  Th.)  benutzt  hat.  Sie  ist  im  guten  patrioti- 
schcn  Geiste  geschrieben  im  Gegensatz  zu  den  bis  dahin  nar 
vorhandenen  tendenziosen  franzosischen  Darstellungen,  besonders 
der  von  Digot  (Histoire  de  Lorraine  1856.  6  Bde.)  und  auch 
fur  das  grossere  Publicum  bestimmt;  aber  gerade  darum  sind 
die  vielen  stilistischen  Incorrectheiten  und  die  oft  ermiidende 
Art  der  Darstellung  sehr  zu  bedauern.  Letztere  ist  theilweise 
durch  die  Anlage  des  ganzen  Werkes  bedingt.  Nachdem  namlich 
der  Verfasser  im  ersten  Buche  einen  geographischen  Ueberblick 
iiber  das  spiiter  Lothringen  genannte  Gebiet  gegeben  und  seine 
Schicksale  von  der  altesten  historischen  Zeit  unter  den  Kelten, 
wahrend  der  Romerherrschaft  und  der  deutschen  Besiedelung 
bis  zum  Jahre  1048  verfolgt  hat,  giebt  er  in  den  folgenden 
9  Buchern  chronikenartig  die  Geschichte  der  einzelnen  Herzoge 
bis  zur  volligen  Incorporation  des  ganzen  Landes  in  Frankreich 
und  in  dem  letzten  Abschnitt  jedes  Buches  unter  dem  Titel: 
Innere  Verhaltnisse  neben  einigen  allgemeinen  Bemerkungen  eine 
bunte  Zusammenstellung  von  culturhistorischcn  und  statistischen 
Daten.  Auch  an  historischen  Incorrectheiten  fehlt  es  nicht :  der 
Kaisertitel  wird  verschiedenen  Konigen  beigelegt,  die  ihn  nie  ge- 
habt  haben,  wie  S.  67  Ludwig  dem  Kinde,  S.  112  Heinrich  L, 
S.  288  dem  Gegenkonige  Friedrich  von  Oestreich  als  Friedrich  IIL 
und  Friedrich  III.  wird  p.  373  Kaiser  Friedrich  IV.  genannt, 
der  jedoch  spater,  B.  II,  S.  3,  rich  tig  als  der  dritte  bezeiclmet 
wird;  worauf  griindet  sich  der  S.  10  und  S.  21  aufgestellte 
Unterschied  zwischen  der  Vielgotterei  der  Gallier  und  der 
Druidenlohre  der  Belgier?  S.  159  erweckt  es  den  Anschein,  als 
ob  Jerusalem  erst  kurz  vor  Beginn  der  Kreuzziige  in  die  Hande 
der  Muhamedaner  gefallen  sei. 

Referent  kann  nicht  umhin,  diese  Aussetzungen ,  denen  er 
noch  einige  andere  hinzufugen  konnte,  hier  auszusprechen ,  wo- 
gegen  er  auch  gern  anerkennt,  dass  der  Verfasser  mit  gr  ossein 
Fleisse  ein  sehr  reiches  Material  zusammengestellt  hat.  Vor 
jedem   einzelnen   Abschnitt   sind  die   allgemeinen   Darstellungen 

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Huhn,  Goschichte  Lothringens.     •  65 

und  speziellen  Quellen  angegeben,  einzelne  Belege  zum  Text  fiihrt 
er  nicht  an. 

Langere  Zeit  schwankten  diese  Kernlande  des  alten  Austra- 
siens  zwischen  dem  ost-  und  westfrankischen  Reiche  und  erst 
unter  Otto  dem  Grossen,  940,  nach  dem  Faile  des  Herzogs  (2i- 
selbert,  werden  sie  ein  deutsches  Herzogthum  und  einige  Jahre 
darauf  unter  der  Verwaltung  von  Otto's  Bruder,  dem  Erzbischofe 
Bruno,  in  Unter-  und  Oberlothringen  getheilt.  Jenes  umfasste 
die  Gebiete  des  Hennegau,  von  Brabant,  Namur,  Luttich,  Luxem- 
burg und  die  Gegend  der  unteren  Maas  und  des  untereu  Rheins ; 
Oberlothringen,  vielfach  zerrissen  durch  anderweitige,  besonders 
geistlicbe  Besitzungen,  begranzt  durch  das  Erzbisthum  Trier, 
Luxemburg,  die  Vogesen  und  die  Champagne,  bewahrte  allein 
den  Namen,  als  Gerhard  vom  Elsass,  der  1048  zum  Herzoge  er- 
nannt  wurde ,  das  Herzogthum  in  seinem  Hause  erblich  zu  erhalten 
wusste.  15  Herzoge  folgten  sich  nach  einander  aus  dieser  Fa- 
milie.  Nach  der  im  Jahre  1306  mit  den  Standen  vereinbarten 
Erbfolgeordnung  sollte  es  in  directer  Linie  auf  die  Tochter  ver- 
erben,  wenn  keiue  Sonne  vorhanden  waren,  mit  Ausschluss  der 
entfernteren  mannlichen  Verwandten.  In  Folge  dessen  kam  es 
1431,  beim  Tode  Herzogs  Karl  II.,  an  seine  Tochter  Isabelle, 
die  Gemahlin  Rene's  von  Anjou  (f  1480),  der  auch  die  Regierung 
fuhrte  als  Rene  L;  bei  ihrem  Tode  (1453)  aber  ging  diese  auf 
ihren  Sohn  und  dann  1470  auf  ihren  Enkel  iiber.  Da  dieser 
schon  1473  kinderlos  starb  und  ihre  Tochter  in  die  jiingere  Linie 
Elsass  -  Vaudemont  verheirathet  war,  so  ging  das  Herzogthum 
nun  an  diese  iiber. 

Unter  dem  Hause  Elsass  spielte  Lothringen  eine  ziemlich 
unbedeutende  Rolle,  es  stand  immer  in  engster  Verbindung  mit 
dem  iibrigen  Deutsohland  und  das  herzogliche  Geschlecht  in 
naher  verwandtschaftlicher  Beziehung  zu  den  bedeutendsten  deut- 
schen  Fiirstenfamilien,  seine  ganze  Geschichte  dreht  sich  fast  nur 
urn  locale  Fehden  und  Brandschatzungen.  Die  kurze  Zwischen- 
regierung  des  Hauses  Anjou  brachte  ihm  auch  kein  Gliick ;  erst 
gereichten  ihm  die  Erbfolgestreitigkeiten  der  jiiiigeren  Linie 
Vaudemont  nicht  zum  Heil,  dann  noch  viel  weniger  die  abenteuer- 
lichen  und  kostspieligen  Unternehmungen  des  Hauses  zur  Er- 
werbung  der  Kronen  von  Neapel  und  Catalonien. 

Der  zweite  Band  behandelt  die*  Geschichte  des  Landes  unter 
den  9  Herzogen  der  jiingeren  Linie  Elsass- Vaudemont  bis  zum 
Jahre  1737  und  die  Zwischenregierung  des  Konigs  Stanislaus 
bis  1766,  worauf  noch  einige  kurze  Notizen  iiber  die  Schicksale 
des  Landes  wahrend  der  volligen  Verschmelzung  desselben  mit 
Frankreich  folgen. 

Die  Verwickelung  Lothringens  in  die  rankevolle  und  gewalt- 
thatige  Politik  der  machtigen  Nachbarn,  Karl's  des  Kiihnen  von 
Burgund  und  Ludwig's  XI.  von  Frankreich,  ebenso  wie  der  glan- 
zende  Sieg  Rene's  II.  iiber  den  ersteren  bei  Nancy  1477  sind 
eingehond  und  iibersichtlich  erzahlt;   uberhaupt  gelingt   es  dem 

Mlttheilungen  a.  cL  hlstor.  Litteratur.   VH.  5 


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66  Huhn,  Geschichte  Lotkringens. 

Verfasser  in  diesem  zweiten  Bande ,  die  Hauptmomente,  und  die 
folgenden  sind  nur  ungluckliche,  iu  lebendigerer  und  ergreifenderer 
Darstellung  wiederzugeben.  Dem  ersten  glanzenden  Erfolge  ent- 
snrach  die  weitere  Regierung  Rene's  und  seiner  Nachfolger  selir 
wenig ;  die  eigenen  nachsten  Verwandten  der  Herzoge,  die  Guise, 
trugen  sehr  viel  dazu  bei,  dass  Frankreich  immer  festeren  Fuss 
in  dem  zerrissenen  Gebiete  gewann.  Was  die  Herzoge  nicht 
hatten  erreichen  konnen,  die  bedeutendste  Stadt  des  Landea, 
die  Reichsstadt  Metz,  in  Unterwurfigkeit  zu  bringen  —  war  es  ibnen 
doch  nicht  einmal  gelungen,  ein  festes  bundesfreundliches  Ver- 
haltniss  mit  ihr  herzustellen  —  fiihrte  Heinrich  II.  gewaltsam  zu 
Gunsten  Frankreichs  aus,  mit  ihr  wie  mit  den  beiden  Bischof- 
stadton  Toul  und  Verdun ;  dass  es  ihm  mit  der  bedeutendsten 
Stadt  des  Elsass  ebenso  gelang,  vereitelte  nur  die  Wachsamkoit 
und  Ruhrigkeit  der  Strassburger.  Das  Ungliick  wollte,  dass  da- 
mals  eine  wenig  umsichtige  und  energielose  Regierung  fiir  den 
minderjahrigen  Karl  III.  im  Lande  waltete,  aber  auch  das  directe 
Eingreifen  Kaiser  Karl  V.  konnte  an  diesem  Erfolge  der  fran- 
zosischen  List  und  Gewalt  nichts  mehr  anderru  —  Unter  den 
Quellenangaben  vermisst  man  hier  die  Memoiren  iiber  den  Herzog 
von  Vieilleville  von  Carloix,  sie  scheinen  auch  nicht  benutzt  wor- 
den  zu  sein,  sie  liefern  aber  gerade  fiir  die  Sittengeschichte,  fiir 
die  Kennzeichnung  des  franzosischen  Verfahrens  und  der  Ge- 
8innung  der  damaligen  Lothringer  eine  Reihe  unschatzbarer  Ziige. 
Die  erzkatholische  Gesinnung  der  Herzoge,  ihre  Unter- 
stiitzung  der  Guisen  bei  ihren  Anspriichen  auf  die  franzosische 
Krone  ziehen  das  Land  mit  in  die  unheilvollen  Religionskriege 
Frankreichs;  aber  erst  mit  dem  Jahre  1632  beginnt  dann  die 
ununterbrochene  Reihe  der  schlimmsten  Jahre  fiir  Lothringen, 
die  seine  Vereinigung  mit  Frankreich  fast  als  eine  Erleichterung 
fur  dasselbe  erscheinen  lassen.  Nicht  die  Theilnahmlosigkeit 
Deutschlands ,  sondern  vor  allem  die  kurzsichtige  Politik  seiner 
eigenen  Fiirsten  sind  an  dem  endlichen  Schicksal  des  Landos 
Schuld.  Die  katholische  und  jesuitische  Richtung  Karl's  IV. 
(1624 — 1675)  hatte  ihn  verleitet,  thatig  an  der  Bekampfung  dOT 
Protestanten  in  Deutschland  sich  zu  betheiligen,  das  katholische 
Frankreich  nahm  offen  Partei  fur  die  Protestanten  und  die 
Schweden  und  nothigte  den  Herzog  zu  dem  Vertrage  von  Vic> 
der  ihn  lahm  legen  sollte  und  in  voUige  Abhangigkeit  von  Frank- 
reich brachte.  Herzog  Karl  hatte  diesen  Vertrag  nicht  ernst 
gemeint,  Richelieu  aber  war  stark  genug  ihn  zu  erzwingen,  und 
riicksichtslos  genug  jeglichen  Vortheil,  auch  in  der  gewaltthatig- 
sten  Weise,  daraus  fur  sich  zu  ziehen.  Die  demiithigendaten  Er- 
niedrigungen  blieben  dem  Herzoge,  die  driickendsten  AussaugungeB 
blieben  dem  Lande  nicht  erspart.  Der  Herzog  war  viele  Jahre 
hindurch  landesfliichtig ,  das  Volk  selbst  aber  hing  mit  grosster 
Ergebenheit  an  seinem  Fiirsten,  so  dass  aus  Erbitterung  dariiber 
1638  auf  franzosischer  Seite  der  Plan  in  Erwagung  gezogen 
wurde,  alle  Lothringer  gewaltsam  nach  America  hinuberzufuhren. 

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VuilJiemin,  Geschichte  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft.         67 

Unter  Ludwig  XIV.  wurde  die  Vergewaltigung  noch  arger,  man 
ging  offen  damit  um,  Lothringen  mit  Frankreich  zu  vereinigen, 
und  nur  mit  genauer  Noth  entging  der  Herzog  dem  verrathe- 
rischen  Ueberfalle,  der  ihn  nach  Frankreich  entfiihren  sollte. 
Sein  Neffe  und  Nachfolger,  Karl  V.  (1675  —  90),  einer  der 
geachtetsten  Feldherrn  der  Zeit,  konnte  gar  nicht  in  sein  Land 
kommen,  das  von  den  Franzosen  vollstaudig  besetzt  gehalten 
wurde.  Dessen  Sohn  Leopold  (1690 — 1724),  vormahlt  mit  Elisa- 
beth Charlotte,  Tochter  Philipps  von  Orleans  und  der  pfalzischep 
Prinzessin  Charlotte,  war  schon  geneigt,  auf  einen  Tauschvor- 
schlag  Lothringens  gegen  Mailand  einzugehen;  aber  erst  Franz  ID- 
war  herzlos  genug,  im  Jahre  seiner  Vermahlung  mit  der  Kaiser- 
tochter  Maria  Theresia  1736  den  Tauschvertrag  gegen  Toscana 
zu  vollziehen,  der  1737  beim  Aussterben  der  Medicaer  in  Toscana 
zur  Ausfiihrung  kam.  Alle  Bitten  seiner  Verwandten,  auch  seiner 
Mutter  nicht,  die  im  Lande  verblieb  und  daselbst  starb,  alle 
Vorstellungen  der  Lothringer  hatten  den  Herzog  nicht  davon 
abhalten  konnen.  Gross  waren  die  Bezeigungen  der  Anhanglich- 
keit  an  das  alte  Fiirstenhaus  von  Seiten  der  Bewohner,  eine 
grosse  Zahl  von  ihnen  wanderte  aus  in  andere  deutsche  Gebiete. 
Lothringen  ging  der  Abmachung  gemass,  die  zwischen  Kaiser 
Karl  VI.  und  Frankreich  gemacht  war,  an  Ludwig's  XV.  Schwieger- 
vater  iiber,  den  vertriebenen  Konig  Stanislaus  von  Polen.  Die 
von  franzosischen  Schriftstellern  so  sehr  geruhmte  Regierung  des 
schwachen  und  den  Jesuiten  ergebenen  Stanislaus  wird  in  ge- 
biihrender  Weise  gewiirdigt;  das  Land  wurde  ganz  im  franzosi- 
schen Interesse  und  in  franzosischer  Weise  verwaltet  und  nach 
seinem  Tode  vollstandig  mit  Frankreich  vereinigt.  Abermals 
verliessen  Tausende  das  Land  und  viele  andere  waren  ihnen  ge- 
folgt,  wenn  es  ihnen  moglich  gewesen  ware. 

Dankenswerthe  Beigaben  zu  dem  Werke  sind  die  ausfiihr- 
lichen  genealogischen  Tabellen  der  Hauser  Elsass,  Anjou,  der 
Guisen  und  Elsass- Vaudemont,  so  wie  die  3  historischen  Karten 
von  Lothringen  und  die  Plane  von  der  Schlacht  von  Nancy  1477 
und  der  Belagerung  von  Metz  1552. 
Berlin.  J.  Schirmer. 


XX. 
Vuilliemin,  L,   Geschichte  der  schweizerischen  Eidgenossen- 
8Chaft.     Deutsch  von  J.  Keller.     I.    Von  den  altesten  Zeiten 
bis  auf  die   Reformation.     II.    Von   den  Anfangen  der  Refor- 
mation  bis   auf  die   Gegenwart.    gr.   8.     CTV,  260  u.  292  S.) 
Aarau  1877  und  1878.    H.  R.  Sauerlander.     6,30  M. 
Das  vorliegende  Werk,  welches  ein  fast  achtzigjahriger  For- 
Bcher  fur  die    „kommenden  Geschlechter"    geschrieben,   ist  &st 
allenthalben,  namentlich  von  den  gelehrten  Landsleuten  des  Ver- 
fassers,  mit  Beifitll  begriisst  worden.    Es  verdient  denselben  ,auch 

5* 


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68         Vuilliemin,  GescMchto  der  schweizerischen  Eidgenoasenschaft 

reichlich  nach  Inhalt  und  Form:  seinen  Hauptzweck,  „denLeser 
in  Stand  zu  setzen,  dass  er  die  Grenzscheide  erkenne  zwischen 
dem  Gebiete  der  urkundlichen  Geschichte  und  jeoem  andern,  wo 
unsichere  Tradition  und  dicbterische  Schopfungen  aus  der  Sagen- 
welt  im  Helldunkel  durch  einander  wogen",  diesen  Hauptzweck 
hat  V.  in  glanzender  Weise  erreicht.  Man  weiss,  dass  es  den 
Schweizern  nicht  leicht  geworden  ist,  mit  mancher  loblichen 
Tradition  zu  brechen :  Vuilliemin  gebraucht  consequent  das  Messer 
cjer  Kritik  und  trennt  scharf  zwischen  Geschichte  und  Tradition, 
aber  mit  schonender  Hand:  der  kritische  Process  vollzieht  sich 
nicht  vor  unsern  Augen  und  die  Tradition  wird  mit  der  Pietat, 
welche  man  nationalen  Ueberlieferungen  schuldet,  nur  mit  festen 
Grenzen  umgeben,  aber  nicht  mit  Spott  bei  Seite  geworfen.  Ganz 
vorziiglich  ist  in  dieser  Hinsicht  die  Erziihlung  von  der  Einigung 
der  drei  Waldstadte:  wahrhaft  beschamend  fiir  Schulbucher- 
fabrikanten,  wie  Hrn.  L.  Stacke,  der  in  seiner  „neunten  ver- 
besserten  Auflage"  der  „Erzahlungen  aus  dem  Mittelalter"  die 
ganze  Tellsage  auftischt  und  seinen  Bericht  kiihn  einleitet:  ,Jn 
das  Todesjahr  Kaiser  Albrechts  fallt  die  Griindung  der  Schweizer 
Eidgenossenschaft".  V.  dagegen  erwahnt  den  Namen  des  Tell  erst 
da,  wo  von  der  Ausbildung  der  Sage  durch  das  „weisse  Buch" 
und  die  Chronisten  die  Rede  ist,  und  begniigt  sich,  seine  Lands- 
leute  iiber  das  Aufgeben  der  liebgewordenen  Vorstellung  in  wirk- 
lich  anmuthender  Weise  zu  trosten.  (I,  S.  248.)  Wer  sich  mit 
der  Winkelried-Frage  genauer  beschaftigt  hat,  wird  erkennen 
und  anerkennen,  wie  diplomatisch  fein  die  Zeilen  sind,  in  denen 
V.  von  dem  Ereigniss  berichtet.  In  der  Frage  nach  dem  Ur- 
sprung  der  Burgunderkriege  weicht  V.  von  der  Annahme  des 
neuesten  Bearbeiters,  C.  Dandliker,  etwas  ab :  wahrend  D.  nach- 
zuweisen  sucht,  dass  sich  das  Biindniss  der  Schweizer  mit  Frank- 
reich  und  ihre  Parteinahme  gegen  Burgund  mit  einer  in  der 
Sache  liegenden  Folgerichtigkeit  entwickelt  habe,  ist  V.  mehr 
geneigt,  das  Pensionswesen  und  den  Egoismus  franzosisch-gesinnter 
Geschlechter,  wie  der  Diesbach,  fiir  diese  Kriege  verantwortlich 
zu  machen.  Daher  nennt  V.  auch  den  doch  schwerlich  ganz 
unparteiischen  Val.  Anshelm  „einen  gewissenhaften  Schriftsteller, 
der  ein  Feind  war  des  Pensions-  und  Soldwesens".  Grade  der 
letzte  Zusatz  zeigt  aber,  dass  Anshelm  tendenzios  ist,  wie  Dand- 
liker (p.  11)  hervorhebt.  —  Selbstverstandlich  ist,  dass  V.  trotz 
der  Begeisterung  fur  seinen  Gegenstand  iiber  alle  Thatsachen 
mit  volligem  Freimuthe  urtheilt  und  nicht  etwa  versucht,  die 
Uebelstande  zu  verschleiern  oder  zu  entschuldigen ,  unter  denen 
die  Schweiz  in  den  verschiedenen  Jahrhunderten  gelitten  hat: 
so  bekennt  er  II,  144:  7>Aber  wie  ein  Blatt,  das  der  Sturmwind 
schiittelt,  thaten  die  Eidgenossen  jeweilen,  nachdem  sie  eine 
Sache  beschlossen,  deren  Gegentheil."  Nur  einmal  stosst  man  auf 
unmotivirten  Lokalpatriotismus ,  indem  der  Hauptmann  L.  von 
Erlach  „der  edle  Berner"  genannt  und  mit  dem  Prinzen  Eugen 
verglichen  wird,  weil  er  —  wegen  nicht  geleisteter  Vorschiisse  — 

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Vuilliemin,  Geschichte  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft.         69 

Frankreich    den  Riicken  kehrt  und  in  den  Dienst  der  deutschen 
Protestanten  tritt. 

Das  Buch  ist  nun  so  eingerichtet,  dass  die  Geschichte  der 
Lander,  aus  welchen  die  schweizer  Eidgenossenschaft  erwachsen, 
sich  an  die  allgemeine  Geschichte  anlehnt,  zuerst  an  die  romische, 
dann  an  die  frankische  nnd  die  Geschichte  des  romischen  Reiches 
deutscher  Nation;  an  der  Grenze  der  neueren  Zeit  tritt  Frank- 
reich in  den  Vordergrund,  welches  als  machtiger  Naohbarstaat  dann 
immer  einen  bedeutenden  Einfluss  behauptet:  daneben  aber  wirken 
die  europaischen  Ereignisse,  wie  die  Reformation,  der  dreissig- 
jahrige  und  der  spanische  Erbfolgekrieg ,  in  neuester  Zeit  die 
franzosischen  Revolutionen  auf  die  Gestaltungen  der  Eidgenossen- 
schaft bestimmend  ein.  Die  Geschichte  der  Eidgenossenschaft 
ist  natiirlich  in  dem  ersten  Buch  des  ersten  Bandes  wesentlich 
Geschichte  der  Kan  tone,  die  sich  an  den  urspriinglichen  Kern 
ansetzen. 

Das  zweite  Buch  beginnt  mit  dem  Bericht  von  der  Erobe- 
rung  des  Aargaus  und  reicht  bis  zur  Schlacht  bei  Marignano 
und  don  ersten  Anzeichen  der  Reformation ;  die  beiden  vorletzten 
Capitel  „Innere  Entwickelung"  und  „Das  Wiederaufleben  der 
Wissenschaft"  sind  treffliche  kulturhistorische  und  litterarhisto- 
rische  Skizzen. 

Aufgefallen  ist  dem  Ref.  nur,  dass  der  Verf.  die  unter  Maxi- 
milian vollzogene  Ausscheidung  der  Schweizer  aus  dem  Verbande 
des  deutschen  Reiches  so  wenig  betont  und  eben  so  wenig  Auf- 
hebens  macht  von  der  Stellung,  welche  die  Schweizer  um  das 
Jahr  1512  einnehmen.  Er  erwahnt  zwar  schon  bei  der  Ge- 
schichte Hans  Waldmanns,  dass  die  fremden  Machte  um  die 
Gunst  der  Eidgenossen  buhlten,  und  verkennt  auch  nicht  die 
Bedeutung  M.  Schinners,  doch  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  Ranke 
jenes  Jahr  als  den  Hohepunkt  der  schweizer  Geschichte  iiber- 
haupt  ansieht:  von  diesem  Zeitpunkt  sprechend  vergleicht  er 
(Rom.  u.  Germ.  396)  „die  Unschuld  der  ersten  Verbriiderungen 
und  das  selbstandige  Eintreten  in  die  Mitte  der  Welthandel  zur 
Behauptung  eines  fremden  Landes"  und  urtheilt  schliesslich :  „Es 
ist  nicht  allein  den  Menschen,  sondern  auch  den  Volkern  ein 
hochster  Punkt  der  Macht  und  des  Lebens  gesetzt ;  und  niemals 
sind  die  Eidgenossen  machtiger  geworden,  als  sie  in  dieser  Stunde 
waren." 

Im  zweiten  Bande  wird  zunachst  die  Zwingli'sche  Refor- 
ination  vorgefiihrt,  deren  Triumph  zugleich  ein  politischer  ist, 
ein  Sieg  des  arbeitsamen  Biirgerthums  iiber  die  Bandenfuhrer, 
dann  wird  nach  einer  Betraohtung  der  wissenschaftlichen  und 
wirthschaftlichen  Verhaltnisse  die  Geschichte  Calvins  ange- 
8chlo88en.  Weiter  sehen  wir  auch  in  der  Schweiz  Vorboten  der 
gewaltigen  Stiirme  des  30jahrigen  Krieges :  Richelieu  und  Gustav 
Adolf  wirken  auch  hier  ein ,  dieselben  Geschicke ,  wie  Deutsch- 
land  und  Europa,  treflfen  die  Eidgenossenschaft,  die  doch  vom 
ttgentlichen  Kriege   unberiihrt  bleibt,    in  manchen  Beziehungen. 


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70         Vuilliemin,  Geschichte  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft. 

Ein  engherziger  reaktioniirer  Geist  zwangt  die  Wissenschaft  ein: 
nur  die  Klostergeschichte  gedeiht,  fur  Manner,  wie  den  thur- 
gauischen  Edelmann  Goldast,  1st  kein  Platz  in  der  Heimath,  die 
Geistlichkeit  wird  reicher,  ihre  Gewalt  nimmt  zu.  Wie  die  Mon- 
archien  absolut  werden,  so  wird  hier  die  Obrigkeit  zur  regie- 
renden  Kaste:  die  schroffste  Oligarchic  fiihrt  das  Scepter;  in 
Bern  sind  seit  1680  nur  360  regierungsfahige  Geschlechter ,  in 
Wirkliclikeit  theilen  aber  80  Familien  sich  in  die  Besetzung  der 
Staatsamter.  „Der  Gewalt"  ziebt  von  der  Landschaft  ganz  in 
die  Stadt.  Wahrend  in  Deutschland  dem  Frieden  von  1648,  bei 
welchem  Wettstein  von  Basel  die  Unabhangigkeit  der  Schweiz 
durcbsetzte,  wenigstens  ausserlich  eine  kurze  Zeit  der  Ruhe  folgt, 
rnfen  die  veranderten  wirthschaftlichen  Zustande,  namentlich  das 
Nachlassen  des  Soldnerbedarfs  und  die  Herabsetzung  der  Geld- 
werthe,  in  der  Schweiz  Bewegungen  hervor,  wie  den  Bauernkrieg 
von  1648  — 1653.  Die  Rache  der  siegenden  Obrigkeiten  war 
nicht  weniger  streng,  als  die  der  deutschen  Fursten  nach  dem 
Bauernkrieg  von  1525.  In  dem  Villmerger  Kriege  von  1656 
drangen  religiose  Differenzen  zur  Entscheidung  der  Freiziigigkeite- 
Frage,  die  aber  ungelost  bleibt.  Von  1656 — 1678  erscheint  die 
Schweiz  wieder  im  Dienste  Frankreichs,  dem  sich  die  katholischen 
Orte  zuerst  hingaben:  am  24.  Sept.  1663  aber  schliessen  alle 
Eidgenossen  mit  Ludwig  XIV.  einen  Bund,  der,  dem  Wortlaute 
nach  auf  Vertheidigung  allein  zielend,  in  Wirklichkeit  der  An- 
griffspolitik  des  Konigs  niitzen  sollte.  Der  Devolutionskrieg  oflFnet 
den  Schweizern  iiber  die  Absichten  Ludwigs  XIV.  die  Augen, 
auch  sie  werden  unruhig,  die  Tagsatzung  befiehlt  den  Regimenta- 
obersten,  welche  in  die  Freigrafischaft  eingeriickt  sind,  bei  Todes- 
strafe  dieselbe  zu  raumen.  Der  Eigennutz,  in  den  katholischen 
Orten  aber  auch  die  Confession,  fiihrte  die  Eidgenossen  aber 
wieder  in  die  Arme  Frankreichs  zuriick.  Geschickte  Emissare, 
wie  Peter  Stuppa  aus  Cleven,  kniipfen  die  Verbindungen  von 
neuem  und  verschaffen  den  Franzosen  schweizerische  Frd- 
kompagnien  zu  herabgesetzten  Preisen.  Wohl  regte  sich  die 
nationale  Partei:  Freiburg  rief  das  Regiment  Erlach  zuriick,  alte 
Orte  gelobten,  der  Freigrafschaft  beizuspringen ,  aber  bei  dem 
guten  Willen  blieb  es  auch,  und  der  Friede  von  Nimwegen 
brachte  ihnen  zu  geringem  Vergniigen  als  Nachbar  den  Fursten, 
„der  ofter  im  Tone  des  Befehls,  denn  der  Freundschaft  mit  ihnen 
gesprochen" 

Die  Aufhebung  des  Ediktes  von  Nantes  fiihrte  auch  der 
Schweiz  eine  Menge  von  Emigranten  zu,  regte  aber  die  dffent- 
liche  Meinung  gewaltig  auf  und  hatte  zur  Folge,  dass  die  evan- 
gelischen  Stadte  der  Schweiz  sich  vom  Joche  Ludwigs  XIV.  firei- 
machten.  Da  die  Leidenschaft  fur  das  Feldlager,  oder,  wenn 
man  will,  die  Begierde  Sold  zu  verdienen,  die  Schweizer  noch 
immer  fesselte,  so  sehen  wir  freilich  wieder  sowohl  in  dem 
Rachekrieg  Ludwigs  XIV.,  als  auch  in  dem  spanischen  Erbfolge- 
kriege    Schweizer   auf  beiden  Seiten,   und  allerdings   auch  mit 

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Vuilliemin,  Geschichte  der  sohweizerischen  Eidgenossenschaft         71 

ausgezeichneter  Tapferkeit  streiten.  Das  fiinfte  Kapitel  behandelt 
den  Anschluss  Neuenburgs  an  den  preussischen  Staat,  das  secbste 
den  zweiten  Villmerger  Krieg  (1712 — 1715);  das  si'ebente  giebt 
unter  dem  Titel  „Die  Zeiten  des  Majors  Davel"  zunachst  eine 
Uebersicht  iiber  Verwaltungsverhaltnisse  in  Bern  und  anderen 
Kantonen,  sowie  iiber  die  religiosen  Zustande  und  schildert  dann 
das  tragische  Ende  des  waadtlandischen  Majors  Davel,  welcher 
die  Waadt  von  der  Herrscbaft  Berns  hatte  befreien  wollen. 
Dann  wird  die  Zeit  von  1720  bis  etwa  1750  nacb  drei  Seiten 
beleuchtet;  zuerst  werden  die  auswartigen  Beziehungen  darge- 
stellt,  —  zur  Zeit  des  Aachener  Friedens  dienten  wieder  80000 
Schweizer  als  Soldner  in  den  verschiedenen  fremden  Heeren  — , 
dann  werden  die  Beziehungen  zu  den  benaehbarten  geistlichen 
Fiirsten  und  die  Handel  zwischen  Rom  und  Luzern  betrachtet; 
in  dem  Absohnitt  „Herren  und  Unterthanen"  wird  gezeigt,  wie 
die  engherzige  Geschlechterherrschaft  zu  verschiedenen  Aufstanden 
fiihrt  und  wie  die  Regierungen  die  demokratischen  Orte  mit 
Strenge  niederdriicken. 

Dann  wird  die  geistige  Entwicklung  zur  Anschauung  ge- 
bracht,  indem  die  Namen  Haller,  Gesner,  Wyttenbach,  Buchat, 
Iselin,  Hirzel,  Joh.  Miiller,  Euler,  Bernoulli,  Breitinger,  Fiissli  u.  A. 
vorgefuhrt  werden  und  die  Griindung  der  „helvetischen  Gesell- 
schaft"  erzahlt  wird;  —  Haller,  dies  sei  nebepbei  bemerkt,  als 
Reformator  der  deutschen  Dichtkunst  zu  bezeichnen,  ist  wohl 
etwas  zu  viel  gesagt.  Ein  riistiges  Vorwartsstreben  (Kap.  XII) 
macht  sich  auch  auf  dem  Gebiete  der  Industrie  geltend,  gefordert 
durch  gemeinniitzige  Gesellschaften :  die  Schweizer  beginnen  auf 
einigen  Gebieten  mit  Frankreich  erfolgreich  zu  concurriren,  in 
Neuenburg  und  Genf  erreicht  die  Uhrenfabrikation  einen  hohen 
Aufschwung.  Selbst  Kiinstler,  wie  Arlaud  und  Liotard,  Heinrich 
Fiissli,  Angelika  Kaufinann  aus  Chur  u.  A.  brachte  die  Schweiz 
damals  hervor,  aber  das  Land,  „arm  und  sparsam,  nahm  der- 
selben  nicht  wahr".  Die  Lage  des  Landes  war  im  allgemeinen 
gunstig,  obwohl  namentlich  der  Bettel  florirte  und  das  Land  die 
Volkskrafte,  welche  es  friiher  durch  den  Solddienst  verlor,  bald 
durch  die  Auswanderung  einzubiissen  begann.  Religion  und 
Sitten,  Voltaire  und  Rousseau,  die  Philanthropic ,  Lavater  und 
Pestalozzi  beschaftigen  uns  im  XV.  Kapitel. 

Nachdem  das  Verhaltniss  zu  Frankreich  mannigfache  Par- 
teiungen  hervorgerufen,  kommt  im  Jahr  1777  ein  neues  Biindniss 
mit  Frankreich  auf  50  Jahre  zu  Stande.  Die  verwickelten  Zu- 
stande in  Genf,  die  Streitigkeiten  zuerst  der  Burger  mit  dem 
Bath,  dann  der  Natifs  und  Habitants,  fiihren  schon  hiniiber  in 
<fo  Zeit  der  franzosischen  Revolution;  mit  der  Griindung  der 
helvetischen  Republik  beginnt  der  fiinfte  Theil  des  Werkes,  das 
durch  die  Begebenheiten  der  neueaten  Zeit  hindurch  bis  zur 
Bundesverfassung  des  Jahres  1848  fortgefuhrt  ist.  Eine  Speciali- 
sirung  des  Inhaltes  ist  erlasslich,  da  die  Schweiz  in  diesem  Zeit- 
^^me  in   die  allgemeinen  politischen  Verhaltnisse  verwoben  ist. 

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72  v.  Bernhardi,  GescMchte  Russlands  1814—1831.    EL  Theil 

Wahrend  wir  an  dem  Inhalte  des  Werkes,  dessen  Zweek- 
massigkeit  einleuchtet,  nichts  Erhebliches  auszusetzen  finden, 
konnen  wir  jedoch,  im  Gegensatz  za  anderweitigen  Referenten. 
eine  ungiinstige  Bemerkung  iiber  den  Stil  der  Uebersetzung 
nicht  zuriickhalten.  Stellenweise ,  nicht  durchgangig,  —  denn 
manche  Partien  des  Werkes  sind  von  dem  zu  riigenden  Uebel 
ganz  freigehalten,  —  finden  sich  Ausdriicke  und  Wendungen,  die, 
ausser  im  Schweizerdeutsch,  schwerlich  vorkommen  diirften.  Wir 
konnen  uns  freilich  nicht  herausnehmen,  in  dieser  HinsichtYor- 
schriften  zu  machen,  niochten  aber  doch  dringend  wiinschen, 
dass  der  deutschen  Sprache  nicht  ohne  Noth  Zwang  angethan 
werde.  Wozu  Worte,  wie  „Verumstandungen",  das  freilich  nicht 
nur  von  dem  Uebersetzer,  Herrn  Director  Keller,  sondern  anch 
z.  B.  von  C.  Dandliker  gebraucht  wird.  Wir  halten  es  nicht  fur 
iiberfliissig,  durch  eine  kleine  Auswahl  dessen,  was  uns  anffiel, 
unsern  Tadel  zu  begriinden. 

Ganz  abweichend  vom  gewohnlichen  Sprachgebrauch  sind 
Wortstellungen ,  wie:  „Rom  fand  darin  nicht  Grund  genug,  um 
ihrem  Schicksal  sie  zu  iiberlassen".  II,  243.  „Sie  nahmen  ihre 
Frauenzimmer  am  Arm."  II,  242.  „In  Bern  schlug  er  mit 
denen  ein,  welche  .  .  .  .",  flir:  „machte  er  gemeinschaftliche 
Sache."  II,  276.  „Einen  Grundsatz  gutheissen,  der  hand- 
k  eh  rum  eine  Waffe  gegen  sie  hatte  abgeben  konnen. u  II,  273. 
„Einfache  Wohlmeinenheit."  I,  234.  Der  Ausdruck  „Stanzer 
Verkommniss"  mag  landesiiblich  sein,  deutsch  ist  er  sicler 
nicht.  „Die  g  u  t  f  i  n  d  e  n  d  e  (f.  „ willkiirliche")  Vertheilung."  H 170. 
„Das  lose  Band  einer  gemeinsamen  Vereinigung."  II,  174. 
„Man  ging  als  die  besten  Freunde  auseinander."  11,174 
„Ge8ner  lohnte  ih  n  dadurch"  ist  grade  so  falsch  wie  „Nur  Lavaters 
Dazwischentreten  konnte  hindern ,  dass  k  e  i  n  Todesurtheil  aus- 
gesprochen  wurde."  Wiederholt  heisst  es  „erbleichtu  statt  „er- 
blichen".  (z.  B.  II,  212.)  Noch  auffalliger  sind  Wendungen,  wie 
„der  stolze  Sinn  von  ehedem  war  weg,  von  feme  nicht  so 
fast,  weil  ....  als  weil  .  .  .  ."  Im  Schriftdeutsch  wurde 
fur  „von  feme"  doch  „bei  weitem"  und  fur  „so  fast44  das  \ 
bedeutende  „so  sehr"  empfehlen. 

Einen  sachlichen  Fehler  mochten  wir  endlich  noch  notiren: 
I,  S.  74  wird  Friedrichs  II.  Sohn  Heinrich  VII.  genannt;  er  zahlt 
aber  bekanntlich  nicht  mit. 
Berlin.  Willy  Boehm. 

XXI. 
v.  Bernhardi ,  Theodor ,  Geschichte  Russlands  und  der  euro- 
pftiechen   Politik  in   den  Jahren  1814— 1831.    Dritter  Theil 
gr.  8.    (VIII,  731  S.)    Leipzig  1877.     S.  Hirzel.     10  M. 
Der  vorliegende  dritte  Band  von  Bernhardi's  russischer  Ge- 
schichte zerfiillt  in  zwei  grosse  Theile.  Der  erste  umfasst  die  eigent- 
liche,namentlich    die    innere   Geschichte  Russlands;   der  zweite, 


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v.  Bernhardi,  Geschichte  Knsalanda  1814—1831.    III.  Theil.  73 

grossere,  behandelt  die  europaische  Politik  vom  zweiten  Pariser 
Frieden  bis  zum  Congress  von  Aachen,  selbstverstandlich  mit  be- 
sonderer  Beriicksichtigung  der  Einwirkungen  Russlands.  Fur  den 
ersten  Theil  bildet  das  leider  noch  nicht  ins  Deutsche  iibertragene 
Werk  von  Bogdanowitsch  iiber  die  Geschichte  Kaiser  Alexanders 
und  seiner  Zeit  die  Hauptgrundlage,  fur  den  zweiten  das  bande- 
reiche  Werk  von  Viel-Castel  iiber  die  Restauration,  Baumgartens 
Geschichte  Spaniens  u.  s.  w.  So  anziehend  und  unterrichtend 
jene  erste  H&lfte  iiber  die  innere  Geschichte  Russlands  ist,  so 
wenig  will  uns  die  breite  Ausfiihrlichkeit  gefallen,  mit  der  in 
der  zweiten  Halfte  allbekannte  Ereignisse  der  franzosischen  und 
spanischen  Geschichte  wiederholt  werden.  Wir  wiinschten  den 
Verfasser  sich  mehr  auf  die  Darstellung  der  russischen  Dinge 
einschranken  zu  sehen,  deren  Verstandniss  uns  nun  einmal  Nie- 
mand  besser  vermitteln  kann,  als  wenn  auch  noch  so  geistreich 
geschriebene  Auszuge  aus  Werken  zu  lesen,  die  in  Jedermanns 
Handen  sind.  (Man  vergleiche  Kap.  10  und  11  des  vorliegenden 
Bandes  mit  Kap.  5 — 8  des  dritten  Buches  von  Baumgartens  spa- 
uischer  Geschichte.)  Demgemass  werden  auch  die  folgenden  Be- 
merkungen  sich  mehr  mit  Bernhardi's  Darstellung  der  inneren 
Geschichte  Russlands  beschaftigen,  seine  Mittheilungen  aber  liber 
die  Stellung  Russlands  zu  den  grossen  Fragen  der  europaischen 
PoUtik  —  Mittheilungen ,  die  unter  der  eingehenden  Schilderung 
der  parlamentarischen  Kampfe  in  Frankreich  und  der  Intriguen 
am  Hofe  zu  Madrid  oft  vollig  verschwinden  —  in  aller  Kurze 
zusamraenfassen. 

Die  jedesmalige  Stellung,  die  ein  Staat  inmitten  der  Ver- 
wicklungen  der  europaischen  Politik  einnimmt,  wirkt  in  der  nach- 
haltigsten  Weise  auf  sein  Inneres  zuriick;  die  Anforderungen, 
die  aus  dieser  europaischen  Stellung  entspringen,  beherrschen 
seine  innere  Entwicklung  in  den  wesentlichsten  Punkten.  Von 
Kaiser  Alexander  weiss  man,  dass  er  nach  dem  Abschluss  des 
zweiten  Pariser  Friedens  in  seine  Heimath  mit  dem  festen  Ent- 
schlu8se  zuriickkehrte,  die  aus  dem  siegreichen  Widerstande 
gegen  Napoleon  hervorgegangene  Machtstellung  Russlands  auf- 
recht  zu  erhalteii  und  in  liberalem  Sinne  zur  Geltung  zu  bringen. 
D&zu  gehorte  aber  vor  Allem,  dass  er  die  Hiilfsquellen  seines 
^eiten  Reiches,  die  sich  den  Bedurfhissen  einer  langeren  Kriegs- 
zeit  keineswegs  gewachsen  gezeigt  hatten,  in  einer  Weise  ent- 
wickelte,  wie  sie  nur  auf  dem  Wege  umfassonder  Reformen  er- 
reicht  werden  konnte.  Es  gab  kein  Gebiet,  auf  dem  nicht  die 
argsten  Missstande  grell  zu  Tage  getreten  waren:  es  gab  auch 
kein  Gebiet,  auf  dem  Kaiser  Alexander  nicht  entschlossen  gewesen 
ware,  reformirend  durchzugreifen.  In  social  - politischer  und 
iutellektueller ,  in  militarischer  und  finanzieller  Hinsicht  sollte 
Russland  zu  dem  Range  erhoben  werden,  der  seiner  europaischen 
Stellung  entsprach  und  dieselbe  fur  alio  Zukunft  gewahrleistete. 
Mit  diesen  Antrieben  des  Ehrgeizes,  der  eine  imponirende  Macht- 
e^tfaitung  nach  Aussen  und  deshalb  Reformen  im  Innern  verlangte, 

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74  ▼•  Bernhardt  Geschichte  Busslands  1814—1831.    HE.  Theil 

verbanden   sich   in   dem   Kaiser   liberale    und    philanthropische 
Tendenzen ,  die  jetzt  wie  in  den  ersten  Jahren  seiner  Regierung 
zu   dem   gleichen   Ziele   einer  inneren    Umwalzung    hindrangteo. 
Aber,   wie    einst   bei  Joseph   II.:    dem   Woilen   entsprach  keia 
Konnen.     Herangewachsen   in   der   Atmosphare    der  Phiiosophie 
des    18.   Jahrhunderts ,   die   von    alien    gegebenen  Verhaltnissen 
abzusehen  liebte,  urn  sich  in  ihren  grossartigen  Entwiirfen  einer 
von  Grand  aus   neuen  Weltordnung    zu    gefallen,   hatte    Kaiser 
Alexander  niemals  Zeit  und  Gelegenheit  gefunden,  die  historische 
Entwicklung  und  die  augenblicklichen  Zustande  seines  gewaltigen 
Reiches  mehr  als  oberflachlich  kennen  zu  lernen,  und,  was  viel- 
leicht  ebenso  schlimm  ist,  es  fehlte  auch  in  seiner  Umgebung  an 
einem   Manne,   der   diese   mangelnde  Kenntniss   hatte   ersetzen 
konnen.     So   fuhrten  denn  auch   diese   Yarsuche   dahin,   wohin 
dergleichen  immer  gefuhrt  hat:  iiberall  entstand  ein  Gefiihl  der 
Unruhe  und  des  Missbehagens ,  das  sich   hie  und  da   selbst  in 
kleinen  Aufstanden  Luft  machte.    Wer  mochte  sagen,  ob  es  nicht 
schliesslich  noch   zu  einer  jener  in  Russland  so  haufigen  Kata- 
strophen .  gekommen  ware,  wenn  der  Kaiser  nicht  bei  Zeiten  Ton 
seinen  Reformen  abgestanden  ware? 

Um  Russlands  Entwicklung  in  social  -  politischer  Beziehung 
zu  fordern,  dachte  Kaiser  Alexander  ernstlich  an  die  Durch- 
fuhrung  zweier  Massregeln,  von  denen  die  eine  erst  fast  ein 
halbes  Jahrhundert  spater,  die  andere  auch  heute  noch  nicht 
ins  Werk  gesetzt  ist :  die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  und  die 
Einfiihrung  einer  constitutionellen  Verfassung.  Mit  jener  beab- 
sichtigte  er  zuerst  in  den  Ostseeprovinzen ,  mit  dieser  in  seinem 
Konigreich  Polen  den  Anfang  zu  machen;  die  dort  gewonnenen 
Erfahrungen  sollten  bei  der  Umbildung  des  eigentlichen  Russ- 
lands verwerthet  werden.  Ankniipfend  an  einige  unausgefuhrt 
gebliebene  Versuche  aus  den  ersten  Jahren  Alexanders,  warden 
nun  (1816—1818)  nach  einander  in  Esthland,  Kurland,  Lieviand 
die  Rechtsverhaltnisse  der  Bauern  von  Grund  aus  und  dabei 
derartig  umgestaltet,  dass  eigentlich  weder  die  okonomische 
Lage  des  Landes  im  Ganzen  noch  die  sociale  Stellung  des  Bauern 
im  Besondern  gehoben  wurde.  Es  ist  wahr,  der  Bauer  in  den 
Ostseeprovinzen  wurde  personlich  frei,  aber  er  wurde  zugleich 
heimathlos ;  aus  dem  erbberechtigten  Inhaber  eines  Bauemhofes, 
der  er  als  Leibeigener  gewesen  war,  verwandelte  er  sich  in  einen 
Zeitpachter,  der  nach  wie  vor  von  der  Willkiir  des  Grundherrn 
abhangig  blieb.  Die  Uebertragung  dieser  Reformen  auf  das 
eigentliche  Russland  wurde  dann  damit  eingeleitet,  dass  dem 
General-Gubernator  der  Ostseeprovinzen,  dem  aus  Yorks  Leben 
bekannten  Marchese  Paulucci,  auch  das  russische  Gubernium 
Pskow  zugetheilt  wurde.  Indessen  ist  es  in  Russland  selbst 
dabei  geblieben,  dass  Kaiser  Alexander  aus  den  ihm  vorgelegten 
Entwiirfen  den  von  Araktschejew  zur  Ausfuhrung  bestimmte- 
Danach  wiirde  der  Staat  die  leibeigenen  Seelen  allmahlich  ihren 
Besitzern  abgekauft  und   dieselben  dann  fiir  frei  erklart  haben. 

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v.  Bernhardt  Geechichte  Busglands  1814—1831.    DDL  TheiL  75 

Bernhardi  berechnet,  dass  dieso  Operation  bei  der  geringen 
Summe ,  die  jahrlich  dafur  angewiesen  wurde ,  ein  halbes  Jahr- 
tausend  gedauert  haben  wurde.  Ein  wirklicher  Versuch  ist  damit 
aber  iiberbaupt  nie  angestellt  worden  und  wUrde  unzweifelhaft 
misslungen  sein,  da  dieser  Entwurf  wie  alle  anderen,  deren 
Bernhardi  erwahnt,  eben  die  national-okonomischen  Verhaltnisse 
Russlands  unberiicksichtigt  Hess,  urn  sich  mit  dem  Scheine  einer 
personlichen  Befreiung  der  Bauern  zu  begniigen. 

Eine  ganz  ahnliche  Wendnng  nahm  der  Plan  zur  Einfuhrung 
einer  constitutionellen  Verfassung.  Wir  beruhrten  schon,  dass 
Kaiser  Alexander  sein  Konigreich  Polen,  wie  man  beute  sagt, 
zum  Versuchsfeld  ausersehen  hatte,  um  daselbst  eine  constitutio- 
nelle  Musterregierung  zu  begriinden,  die  nicht  nur  Russland, 
sondern  auch  dem  iibrigen  Europa  zum  Vorbild  dienen  sollte. 
So  wollte  es  jene  Neigung  zum  LiberaJismus ,  in  der  der  Kaiser 
Bich  damals  gefiel;  so  wollte  es  seine  alte  Vorliebe  zur  polni- 
schcn  Nation ,  an  der  er  jetzt  eine  feste  Stutze  fur  seine  euro- 
paische  Macbt8tellung  gewonnen  zu  haben  glaubte.  Er  liess  sich 
wenig  dadurch  storen,  dass  Aristokraten  wie  Liberale,  Stein  wie 
Kapodistrias ,'  ihn  gleichmassig  darauf  hinwiesen ,  wie  sehr  in 
Polen  alle  Vorbedingungen  eines  parlamentarischen  Lebens  ab- 
gisgen;  nur  so  viel  gewann  er  iiber  sich,  seinen  Endzweck,  die 
Einfuhrung  einer  parlamentarischen  Verfassung  auch  in  Russ- 
land, vorlaufig  noch  nicht  laut  werden  zu  lassen.  Fur  Polen 
selbst  aber  unterzeichnete  er  noch  im  November  1815  die  Con- 
stitution, die  ihm  von  einer  eigens  dazu  eingesetzten  Commission 
unterbreitet  wurde;  der  Selbstherrscher  aller  Reussen  willigte 
nicht  nur  ein,  man  kann  sagen,  er  verlangte  selbst,  in  Polen  nur 
ein  constitutionell  beschrankter  Konig  zu  sein.  Die  neue  pol- 
nische  Verfassung  war  bestrebt,  die  alten  nationalen  Formen  und 
Benennungen  wieder  ins  Leben  zu  rufen;  sie  sprach  von  einem 
Senat,  von  Landboten  u.  s.  w.  Der  Inhalt  war  zum  Theil  der 
Constitution  vom  3.  Mai  1791,  zum  Theil  der  franzosischen 
Charte  nachgebildet,  „ohne  die  mindeste  Rucksicht  auf  die  kaum 
zu  ermessende  Verschiedenheit  der  herrschenden  Bildung  und 
der  realen  Lebensverhaltnisse  in  den  beiden  Landern".  Das 
Wesentliche  in  derselben  war,  dass,  bei  aller  Au&ahme  liberaler 
Ideen  und  liberaler  Formen,  gleichwol  die  Gewalt  nach  wie  vor 
ausschliesslich  in  den  Handen  des  Adels  blieb,  der  neben  weit- 
tragenden  anderen  Befugnissen  sich  besonders  das  Vorrecht,  in 
die  Landesvertretung  gewahlt  zu  werden,  sicherte.  Zum  Vice- 
Konig  ernannte  Alexander  den  alten  General-Lieutenant  Zajonczek; 
als  bevollmachtigter  Commissar  des  russischen  Kaisers  bei  der 
Regierung  in  Warschau  fungirte  Nowossiltzow,  der  zugleich  beauf- 
tragt  war,  eine  Constitution  fur  Russland  auszuarbeiten ,  und 
dariiber  einen  jahrelangen  Briefwechsel  mit  dem  Kaiser  fiihrte. 
Dass  es  auch  in  dieser  Frage  bei  theoretischen  Erorterungen 
geblieben  ist,   hangt  mit  jener  Wandlung  in  den  Anschauungen 

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76  v.  Bernhardi,  Geschichte  Russlands  1814—1831.    III.  Theil. 

Alexanders  zusammen,  iiber  die  uns  erst  der  folgende  Band 
Bernhardi's  niihere  Aufklarungen  bringen  wird. 

Gliicklicher  vorliefen  die  Bemiihungen  des  Kaisers  zur 
Hebung  der  intellektuellen  Bildung  seiner  Unterthanen.  Wiewohl 
auch  auf  diesem  Gebiete  der  Mangel  einer  Kenntniss  der  biirger- 
lichen  Verhaltnisse  im  Allgemeinen  und  Russlands  im  Besonderen 
nicht  selten  Missgriffe  und  Storungen  verursachte,  so  zeigte  sich 
hier  doch  das  Walten  eines  gereifteren  Geistes,  der  sich  von  der 
tibersturzenden  Hast  fruherer  Jahre  gliicklich  frei  zu  machen 
gewusst  hatte.  Nur  fehlte  es  auch  hiebei  an  einer  klaren  Ansicht 
dessen,  was  man  eigentlich  erreichen  wollte,  und  dadurch  auch 
an  Folgerichtigkeit  in  der  Wahl  der  Mittel.  Schon  langst  war 
die  Einrichtung  von  Kreisschulen  in  alien  Kreisstadten ,  von 
Kirchspielschulen  auf  dem  platten  Lande  anbefohlen ,  aber  nur 
jene  waren  zu  Stande  gekommen,  fiir  diese  fehlte  es  uberall  an 
Geld  und  an  Lehrern.  Man  liess  es  jetzt  an  ernstlichen  An- 
strengungen  nicht  fehlen,  urn  diesen  Mangeln  abzuhelfen;  man 
griindete  eine  Art  Schullehrer  -  Seminar ,  das  doch  nur  kurza 
Bestand  hatte;  man  glaubte  endlich  in  der  Bell-Lancasterschen 
Weise  des  wechselseitigen  Unterrichts  ein  Mittel  gefunden  zu 
haben,  iiber  jene  Schwierigkeiten  hinwegzukommen.  Fiir  die 
Heranbildung  von  Gymnasiallehrern,  deren  Fehlen  bisher  gleich- 
falls  schmerzlich  empfunden  war,  wurde  in  Petersburg  ein  Pada- 
gogisches  Institut  begriindet,  das  sich  nach  allmahlicher  Er- 
weiterung  schliesslich  durch  Uwarow  in  die  Petersburger  Uni- 
versitat  verwandelte  (1819).  Neben  diesen  Einrichtungen ,  bei 
denen  mehr  deutsche  Muster  vorschwebten,  fuhr  man  fort,  nach 
franzosischem  Vorbilde  Specialschulen  zu  begriinden,  deren  merk- 
wiirdigste,  das  Lyceum  in  Zarskoje-Sselo,  schon  1810  zur  Heran- 
bildung kiinftiger  Staatsmanner  geschaffen,  jetzt  von  dem  Kaiser, 
der  die  erste  Priifung  1817  mit  seiner  Gegenwart  beehrte,  mit 
besonderer  Theilnahme  und  Vorliebe  gepflegt  wurde.  Von  wel- 
chem  Geiste  iibrigens  Kaiser  Alexander  bei  seinen  Bestrebungen 
zur  Hebung  des  Schulwesens  geleitet  wurde,  zeigte  er  1817,  als 
er  die  bisher  getrennten  Departements  des  Cultus  und  des  Unter- 
richts zu  Einera  Ministerium  vereinigte  und  dabei  erklarte,  dass 
der  Geist  christlicher  Gottesfurcht  stets  die  Grundlage  alles 
Unterrichts  und  aller  wahren  Auf  klarung  sein  und  bleiben  sollfc 
Dahin  gehort  auch  die  lebhafte  Forderung,  die  der  Kaiser  der 
von  ihm  selbst  angeregten  russischen  Bibelgesellschaft  angedeihen 
liess;  auf  seine  unmittelbare  Veranlassung  geschah  es,  dass  da- 
mals  zuerst  eine  Uebertragung  der  heiligen  Schrift  in  die  nen- 
russische  Sprache  unternommen  wurde. 

Von  alien  Reformversuchen  Alexanders  hatte  •  keiner 
einen  ungliicklicheren  Ausgang  als  die  Einrichtung  der  Militar- 
Colonien.  In  den  Kampfen  mit  Napoleon  war  er  inne  geworden* 
dass  die  russische  Militannacht  trotz  aller  Anstrengungen  u 
ihrer  Vergrosserung  den  gewaltigen  Heeren  Frankreichs  nnd 
Oesterreichs    an    Zahl    nicht   entfernt  gewachsen   war. ,  Kaiser 


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v.  Bernhardi,  Geschichte  Eusslands  1814—1831.    III.  Theil.  77 

Alexander  fasste  deshalb  den  Gedanken,  ein  angesiedeltes  Heer 
zu  schaffen,  das  sich  selbst  ganz  oder  fast  ganz  durch  seine  eigene 
Arbeit  erhalten  und  aus  den  Familien  der  verheiratheten  Krieger 
erganzen  sollte.  Er  schmeichelte  sich,  durch  die  allmahliche 
Ausbreitung  von  Militar  -  Colonien  tiber  das  ganze  Land  hin 
schliesslich  eine  Million  streitbarer  Manner  zu  seiner  freiesten 
Verfiigung  zu  schaffen;  diese  wiirden  zugleich  die  stets  viele 
Unzufriedenhe.it  erweckenden  Aushebungen  uberflussig  machen 
und  die  Finanzen  des  Reiches  von  einem  grossen  Theile  der  Aus- 
gaben  fur  das  Militarwesen  entlasten.  Der  erste  Versuch  zur 
Durchfuhrung  dieses  Gedankens,  den  man  schon  im  Jahre  1810 
mit  der  Ansiedlung  eines  Bataillons  des  Jeletzkischen  Regimentes 
machte,  hatte  indessen  den  daran  gekniipften  Erwartungen  so 
wenig  entsprochen,  dass  man  nach  den  Friedensschliissen  den 
urspriinglichen  Entwurf  in  einer  Weise  anderte,  welche  die 
traurigsten  Folgen  nach  sich  zog.  Man  beschloss  namlich,  die 
Bauernschaften  der  Dorfer,  die  man  mit  Militar-Colonien  belegte, 
nicht  mehr,  wie  zuerst  geschehen  war,  anderswohin  zu  versetzen, 
sonctern  dieselben  vielmehr  in  den  Verband  der  Colonien  mit 
aufzunehmen.  Die  gesammten  mannlichen  Bewohner  eines  solchen 
Dorfes  —  nur  die  Greise  ausgenommen  —  mussten  ihre  Bauern- 
kleider  ablegen  und  Uniform  anziehen;  sie  wurden  der  Autoritat 
der  Civilbehorden  entzogen  und  militarischer  Disciplin  unter- 
worfen . —  kurz  sie.  wurden  mit  Einem  Schlage  in  Soldaten  ver- 
wandelt,  und  zwar  auf  Lebenszeit,  ohne  Aussicht,  ohne  Ende.  In 
dieser  Weise  sollte  nach  und  nach  das  gesammte  russische  Hoer 
angesiedelt  werden  auf  den  weiten  Landgutern,  in  den  Dorfern, 
die  der  Krone  gehorten;  ein  breites  Band  solcher  Militar-Colonien 
sollte  sich  von  Norden  nach  Siiden,  fast  von  dem  Finnischen 
Meerbusen  bis  zum  Schwarzen  Meer,  durch  das  Reich  ziehen; 
ein  Staat  im  Staate,  nach  eigenen  Gesetzen  verwaltet,  von  einer 
Kriegerkaste  bewohnt.  Es  hatte  in  der  That  dahin  kommen 
miis8en,  was  Nowossiltzow  bemerkte,  dass  namlich  die  erste 
Generation  der  Colonisten-Soldaten  dazu  bestimmt  sei,  sehr  un- 
gliicklich  zu  werden,  die  folgende  aber  dazu,  ganz  Russland 
ungliicklich  zu  machen  —  wenn  es  iiberhaupt  moglich  gewesen 
ware,  den  Gedanken  in  einiger  Ausdehnung  zu  verwirklichen. 
Aber  schon  bei  den  orsten  Colonisationsanlagen ,  die  man  bei 
Nowgorod  und  am  Bug  vornahm,  erhob  sich  dort  unter  den 
Kronbauern,  hier  unter  den  Kosaken  ein  Widerstand,  der  nur 
durch  Gewalt  und  Blutvergiessen  unterdriickt  werden  konnte. 
Da  das  Geriicht,  wie  es  zu  geschehen  pflegt,  diese  Dinge  noch 
vergrosserte  —  man  sprach  von  formlichen  Gefechten,  in  denen 
die  wehr-  und  waffenlosen  Bauern  niedergemacht  seien  — ,  so 
verbreiteten  sich  iiberall  Unruhe  mid  Besorgnisse  vor  ferneren 
Colonisationen ,  von  denen  man  jedoch,  bei  dem  unermesslichen 
Elend,  das  sie  hervorriefen ,  und  dem  geringen  Nutzen,  den  sie 
brachten,  bald  zuriickgekommen  ist. 

Wie  oben  angedeutet,  war  bei  dem  Plane  der  Militar-Colonien 


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78  v.  Bernhardi,  Geschichte  Busslands  1814—1881.    III.  TheiL 

auch  der  Gedanke  einer  finanziellen  Erleichterung  des  Landes 
mit  bestimmend  gewesen.  In  der  That  befanden  sich,  in  Folge 
der  langen  Kriegsjahre  und  der  Kontinentalsperre,  die  national- 
6konomi8chen  und  damit  auch  die  finanziellen  Verhaltnisse  Russ- 
lands  in  einer  Zerriittung,  welche  die  wohlerwogensten  und  be- 
sonnensten  Massnahmen  erfordert  hatte,  zu  deren  Abhiilfe  indessen 
der  Finanzminister  Guriew  ebenso  wirkungslose  als  verderbliche 
Massregein  wahlte.  Einerseits  suchte  er  namlich  den  Stand  des 
tief  gesunkenen  Papiergeldes  dadurch  zu  heben,  dass  er  einen 
grossen  Theil  desselben  fur  Geldsummen  aufkaufen  und  ver- 
brennen  liess,  die  der  Staat  sich  doch  wieder  nur  durch  un- 
giinstige  Anleihen  zu  verschaffen  vermochte ;  andrerseits  nahm  er 
in  der  Verwaltung  des  Branntweinschankes ,  der  in  Russland 
bekanntlich  Regal  ist,  Aenderungen  vor,  durch  welche  allerdings 
der  Ertrag  desselben  um  ein  Betrachtliches  gesteigert,  aber 
nicht  minder  zugleich  Beamte  und  Volk  demoralisirt  warden. 
Von  alien  Operationen  Ghiriews  weiss  Bernhardi  nur  die  eine  za 
loben,  dass  er,  in  seinen  national-okonomischen  Grundsatzen  dem 
Freihandel  zuneigend,  die  Tarife  herabsetzte  und  damit  zugleich 
den  Handel  forderte  und  die  Zolleinkiinfte  erhohte. 

Wir  haben  damit  den  Kreis,  in  dem  sich  die  reformatorisehe 
Thatigkeit  Alexanders  bewegte,  in  den  wesentlichen  Punkten 
beriihrt,  ohne  doch  von  der  Fiille  merkwiirdiger  Thatsachen 
und  feiner  Bemerkungen,  wie  sie  bei  Bernhardi  vorliegen,  mehr 
als  ein  schwaches  Bild  geben  zu  konnen.  Dabei  ist  noch  uner- 
wahnt  geblieben,  was  Kaiser  Alexander  fur  Forderung  des 
Gewerbfleisses,  Anlage  von  Landstrassen,  Vollendung  des  Gesetz- 
buches  u.  s.  w.  gethan  hat,  immer  doch  mehr  einem  schonen 
Scheine  nachjagend,  als  die  okonomischen  und  socialen  Verhalt- 
nisse seines  Reiches  wahrhaft  bessernd. 

Wie  die  innere  Politik  Kaiser  Alexanders  neben  den  liberalen 
Tendenzen  durch  die  Riicksicht  auf  die  Machtstellung  Russlands 
in  Europa  bestimmt  erscheint,  so  wird  in  ganz  ahnlicher  Weise 
seine  auswartige  Politik  einmal  durch  seine  liberalen  Neigungen, 
dann  aber  besonders  durch  den  Gegensatz  gegen  England  be- 
herrscht,  der  zugleich  ein  territorialer  und  ein  politischer  ist. 
Denn  —  wenn  wir  uns  hiebei  der  parlamentarischen  Termino- 
logie  bedienen  diirfen  —  die  Stellung  der  grossen  europaischen 
Machte  war  unmittelbar  nach  dem  Pariser  Frieden  derartig,  dass 
England  die  ausserste  Rechte,  Russland  die  ausserste  Linke  ein- 
nimmt,  wahrend  Oesterreich  das  rechte,  Preussen  das  linke 
Centrum  bilden.  So  sehen  wir  in  den  europaischen  Angelegen- 
heiten  den  Kaiser  Alexander  iiberall  als  Schirmvogt  liberaler 
Ideen,  als  Gonner  und  Freund  parlamentarischer  Regierung  auf- 
treten;  er  schiitzt  die  liberale  Opposition  gegen  die  absoluten 
Regierungen,  er  begriisst  die  Einrichtung  constitutioneller  Ver- 
fassungen  mit  Freude  und  aufrichtigem  Beifall.  Wie  er  in  Frank- 
reich  den  Konig  Ludwig  XVIII.  und  das  Ministerium  Richelieu 
in  ihrem   Widerstande  gegen  das   wilde   Andraugeu  der  Ultra- 


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Bulle,  Geschichte  der  Jahre  1871—1877.    L  Band.  79 

Royalisten  unterstiitzt,  so  sucht  er  gleiohzeitig  auf  Konig  Ferdi- 
nand von  Spanien  in  liberalem  Sinne  einzuwirken  und  ihn  zu 
einer  constitutionellen  Regierung  nicht  nur  in  Spanien,  sondern 
auch  in  den  siidamerikanischen  Colonien  zu  veranlassen.  Dabei 
begegnet  er  auf  alien  seinen  Wegen  den  entgegengesetzten  Ein- 
wirkungen  Englands  und  seines  reactionaren  Ministeriums :  in 
Frankreich  und  Spanien,  in  Portugal  und  Siidamerika  sind  die 
Schlachtfelder ,  auf  denen  sich  die  englischen  und  russischen 
Diplomaten  mit  wechselndem  Erfolge  bekampfen.  Auch  Oester- 
reich  gegeniiber  hiitet  Kaiser  Alexander  die  Unabhangigkeit 
kleinerer  Staaten:  mit  der  russischen  Macht  im  Riickhalt,  unter- 
nimmt  es  Sardinien,  sich  der  osterreichischen  Herrschaft  in  Italien 
entgegenzusetzen.  Bei  seiner  lebhaften  und  nachhaltigen  Theil- 
nahme  an  den  Verwicklungen  des  Westens  ist  es  natiirlich,  dass 
er  die  Angelegenheiten  des  Ostens  vernachlassigt ;  Kaiser  Alexander 
tritt  auch  dadurch  als  eine  selbstandige  und  eigenthiimliche  Er- 
8cheinung  aus  der  Reihe  der  iibrigen  Herrscher  Russlands  heraus, 
dass  er  von  den  immer  nach  dem  Osten  gerichteten  nationalen 
Impulsen  unboriihrt  bleibt;  er  lasst  die  Verhaltnisse  im  Orient 
im  Wesentlichen  so,  wie  sie  der  Tiirkei  gegeniiber  durch  den 
Frieden  von  Bukarest,  Persien  gegeniiber  durch  den  Frieden  von 
Gulistan  festgestellt  sind. 

Inmitten  dieser  liberalen  und  philanthropischen  Bestrebungen 
muss  nun  Kaiser  Alexander  erleben,  dass  sich  in  seinem  Reiche 
geheime  revolutionare  Gesellschaften  gegen  ihn  bilden ;  die  Kunde 
hievon  —  eine  bittre  Enttauschung  fur  den  edlen  Fiirsten  — 
zusammenwirkend  mit  der  Entwicklung  der  europaischen  Ange- 
legenheiten bringt  in  dem  Kaiser  einen  reactionaren  Umschwung 
herTor,  iiber  den  uns  der  folgende  Band  Bernhardi's,  dem  wir 
mit  Spawning  entgegensehen,  nahere  Aufklarung  bringen  wird. 
Berlin.  Paul  Bailleu. 


xxn. 

Bulle,  Constantin,  Geschichte  der  Jahre  1871—1877.  [In  2  Bdn.] 
L  Band.  Frankreich  und  Deutschland.  gr.  8.  (VIII,  421  S.) 
Leipzig  1878.  Duncker  &  Humblot.  5  M. 
Als  Ref.  desselben  Verfassers  „Geschichte  der  neuesten  Zeit 
Ton  1815—1871"  in  dieser  Zeitschrift  V.  4,  S.  338—343  anzeigte, 
wies  er  hin  auf  die  Aehnlichkeit ,  die  das  Werk  in  Anlage  und 
Tendenz  mit  Arnds  Fortsetzung  zu  Beckers  Weltgeschichte  zeige, 
und  suchte  seinen  Werth  durch  eingehende  Vergleichung  ge- 
wissermassen  an  jenem  zu  messen.  Diese  Gleichartigkeit  der 
Bestrebungen  hat  wohl  auch  die  Verleger  der  genaimten  Welt- 
geschichte veranlasst,  den  Verf.  fiir  die  Fortflihrung  derselben 
bis  auf  die  Gegen  wart  zu  gewinnen,  sodass  der  I.  Band  dieses 
seines  neuesten,  auf  2  Bande  berechneten  Werkes  zugleich  auf- 
tritt  als  Supplementband  I.  zu  Beckers  Weltgeschichte  resp.  als 
V.  Band  von  Arnds  Geschichte  der  Gegenwart.    Da  Bulles  Buch 

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80  Bulle,  Geschichte  der  Jahre  1871—1877.    L  Band. 

so  eine  Erganzung  bildet  zu  jenem  vielgelesenen  popularen  Ge- 
schichtswerke,  der  einzigen  Weltgeschichte ,  welche  nunmehr  bis 
auf  unsere  Tage  fortgefiihrt  wird,  so  diirfte  ihm  schon  dadurch 
eine  umfassende  Verbreitung  gesichert  sein. 

Der  Verf.  verkennt  die  grossen  Schwiei'igkeiten  nicht,  die 
sich  dem  Bearbeiter  der  Geschichte  der  Gegenwart  entgegen- 
stellen ;  er  gesteht  in  der  Einleitung  ein,  dass  es  vergeblich  sein 
wiirde,  in  den  Ereignissen  der  Gegenwart,  wahrend  sie  in  vollem 
Flusse  begriffen  sind,  bereits  die  innoren  Gesetze,  welche  sie  be- 
herrschen,  erkennen  zu  wollen ;  er  fiihlt  sich  seinem  Stoffe  gegen- 
iibcr  wie  Jemand,  der  des  beschrankten  Raumes  wegen  un- 
mittelbar  an  ein  grosses  Gemalde,  das  er  betrachten  will, 
herantreten  muss,  und  will  sich  daher  begniigen,  die  Ereignisse 
des  letzten  Lustrums  einfach  zu  erzahlen,  allerdings  unter  einem 
durchgehenden  Gesichtspunkt,  namlich  ihrem  Verhaitniss  zu  der 
1871  begriindeten  Neugestaltung  unseres  Vaterlandes. 

Allerdings  muss  jedem,  der  mit  offenem  Auge  die  geschicht- 
liche  Entwickelung  des  behandelten  Zeitraums  iiberschaut,  die 
Unfertigkeit  aller  politischen  und  socialen.  Zustande  auffallea, 
und  aus  diesem  Grande  scheint  das  Jahr  1877  als  Abschluss 
eines  als  Ganzes  zu  behandelnden  Zeitraumes  nicht  gerade  giinstig 
gewahlt;  Ref.  erinnert  nur  an  den  Ultramontanismus  und  die 
Bestrebungen  der  Socialdemocratie,  politische  Krankheitsformen, 
die  noch  der  Heilung  harren,  sowie  an  die  orientalischen  Wirren, 
denen  erst  das  Jahr  1878  durch  den  Berliner  Congress  eine 
wenigstens  vorlaufige  Losung  gebracht  hat,  und  mochte  daraa 
den  Wunsch  kniipfen,  in  Zukunft  bei  der  Fortsetzung  des  Werkes 
scharfer  markirte  Einschnitte  abzuwarten  und  fur  das  zu  be- 
trachtende  Gemalde  einen  weniger  beschrankten  Raum  zu  schaffen. 
Wenn  man  nun  aber  einmal  die  dem  Werke  gesteckten  Grenzen 
als  gegebene  Factoren  hinnimmt,  so  kann  man  wohl  den  Fleiss 
und  das  Geschick  anerkennen,  mit  dem  der  Verf.  seiner  Aufgabe 
sich  entledigt  hat. 

S.  1 — 145  behandeln  die  schwankenden  politischen  Verhalt- 
nisse  in  Frankreich  von  dem  Zusammentritt  der  Nationalversamm- 
lung  in  Bordeaux  den  16.  Febr.  1871  bis  zur  Auflosung  der 
Kammern  am  25.  Juni  1877,  S.  145—421  die  Eutwicklung  des 
deutschen  Reichs  vom  Frankfurter  Frieden  bis  zu  den  Reichstags- 
wahlen  am  10.  Jan.  1877.  Dass  dabei  die  Kammerverhandlungen 
in  beiden  Reichen  in  eingehender  Weise  reproducirt  werden,  liegt 
in  der  Natur  der  Sache  begriindet;  auch  den  eifrigen  Zeituugs- 
leser  wird  es  nicht  verdriessen,  die  Quintessenz  seiner  taglicheu 
Lecture  hier  noch  einmal  in  einem  Gesammtbilde  iiberschauea 
zu  konnen.  Nur  iiber  das  Quantum  des  Gebotenen  liesse  sicli 
rechten;  es  scheint  kaum  der  ganzen  Anlage  der  Beckerschen 
Weltgeschichte  zu  entsprechen,  wenn  den  deutschen  Verhaltnissen 
eines  Lustrums,  und  noch  dazu  in  einer  ereignissarmen  Zeit,  ein 
Raum  von  276  Seiten  gr.  8  gewidmet  wird. 

Ref.  verzichtet  auf  eine  ins  Einzelne  gehende  Reproduction 

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v.  Hellwald,  Die  Russen  in  Centralasien.  81 

eines  Werkes,  dessen  Interesse  weniger  in  dem  im  Grossen  und 
Ganzen  allgemein  bekannten  Stoffe  als  in  der  Behandlung  des- 
selben  liegt ;  dass  letztere,  wenn  man  von  Kleinigkeiten,  wie  der 
ohne  Princip  wechselnden  Verwendung  der  Thaler-  und  Mark- 
rechnung  (S.  187  ff.)  absieht,  durchweg  einen  klaren  Blick  und 
eine  geschickte  Hand  verrath,  ist  schon  anerkannt  worden;  auch 
der  gemassigte,  reichstreue  Standpunkt,  von  dem  aus  Verf.  die 
politische  Entwickelung  des  deutschen  Reiches  darstellt,  wird 
mit  dazu  beitragen,  dem  Werke  Freunde  zu  erwerben. 

Die  Darstellung  der   orientalischen   Verwickelung  verspart 
rich  der   Verf.   auf  den  IL  Band,  der  im  Herbste  dieses  Jahres 
erscheinen  und  die  Geschichte  der  iibrigen  Lander  innerhalb  der 
oben  erwahnten  Grenzen  umfassen  wird. 
Berlin-  R.  Rodenwaldt. 


xxni. 

v.  Hellwald,  Friedrich,  Die  Russen  in  Centralasien.  Eine  Studie 

uber  die  neuere  Geographie  und  Geschichte  Centralasiens.  Neue 

Ausgabe.     gr.   8.     (VII,   233  S.)    Augsburg   1878.     Lampart 

&  Comp.     4  M. 

Das  vorliegende  Buch  ist  eine  Erweiterung  resp.  Umarbeitung 

einer  Reihe  von  Aufisatzen  desselben  Verfassers  iiber  den  gleichen 

Gegenstand    in    Streffleur's    „militarischer»  osterreichischer  Zeit- 

schrifl".     Obwohl   der  Verfasser  selbst  sein  Werk  „eino  Studie" 

nennt,  so  diirfte  doch  die  Bezeichnung  desselben  als  „  Compilation" 

zutreffender    erscheinen.     Nirgends    ein    wissenschaftliches   Ein- 

dringen  in  die  einschlagigen  Verhaltnisse,  iiberall  entweder  kurzo 

Skizzirung  oder  einfache  Erzahlung. 

Friedrich  von  Hellwald  ist  trotz  Oesterreich  Russe  vom 
reinsten  Wasser,  er  schwarmt  fur  den  schwarzen  Aar  und  den 
unter  Leitung  des  „tuchtigen"  russischen  Generalstabs  begonnenen 
Siegeslauf  in  Centralasien,  von  dessen  weiterer  Fortsetzung  er 
das  Heil  Asiens  erwartet.  Diese  seine  Ansicht  diirfte  durch  die 
jiingsten  Ereignisse  theilweise  schon  eine  ebenso  nachdriickliche 
wie  drastische  Widerlegung  gefunden  haben!  Soviel  zur  Cha- 
rakteristik  der  Auffassung  russischer  Verhaltnisse  seitens  des 
Verfassers. 

Das  Werk  zerfallt,  wie  schon  sein  Titel  vermuten  lasst,  in 
zwei  Haupttheile,  einen  geographischen ,  die  Kapitel  II — V  und 
einen  historischen,  Kapitel  VII— XI  umfassend. 

Als  Einleitung  vorauf  geht  ein  Kapitel,  „die  russischen 
Forschungen  in  Mittelasien"  uberschrieben,  welches  die  verschie- 
denen  Expeditionen  aufzahlt,  die  Russland,  namentlich  seit  dem 
Jahre  1845,  das  ist  seit  der  Griindung  der  kaiserlich  russischen 
geographischen  Gesellschaft,  zur  Erforschung  der  mittelasiatischen 
Qebiete  unternommen  hat.  Den  Schluss  des  Werkes  bildet  eine 
Betrachtung   des  Verfassers   iiber   die  Rivalitat  Russlands   und 

Mlttheilnngen  a.  d.  hlstor.  Litteratar.    VII.  6 

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82  y.  Hollwald,  Die  Kusaen  in  Centralasien. 

Englands  in   Asien,   wahrend    das   VI.  Kapitol   der  Bevolkerung 
der  mittelasiatischen  Gobiete  gewidmet  ist. 

Der  geographische  Theil  bietet  Nichts  als  Skizzen  und  zwar 
bespricht  Kapitel  II.  „die  Landschaften  Centralasiens",  wobei  des 
Weiteren  die  Hypothesen  iiber  den  Aral-See  auseinandergeseizt 
werden,  ohne  dass  jedoch  der  Verfosser  Stellung  zu  ihnen  nimmt. 
Nach  den  „Wiisten-  und  Steppenbildern"  des  dritten  Kapitels  be- 
spricht der  Verfasser  im  vierten  die  Landschaften  am  Ssyr-und 
Amu-Darj&,  d.  L  die  Chanate  Chiva,  Boch&ra  und  Chokand,  deren 
Fruchtbarkeit  hervorgehoben  wird,  urn  sein  geographisches  Gemalde 
im  funften   mit   dem  centralasiatischen  Hochland  abzuschliessen. 

Das  sechste  Kapitel  beschaftigt  sich,  wie  schon  bemerkt,  mit 
den  ethnographischen  Verhaltnissen  Mittelasiens.  Die  Bevolke- 
rong dieses  Gebietes  zerfallt  in  zwei  Hauptgruppen :  die  Iranier, 
unter  denen  die  Kafirs  (d.  h.  Unglaubige),  in  dem  die  Wasser- 
scheide  zwischen  Oxus  und  Indus  bildenden  Berglande  sesshaft, 
sich  am  reinsten  von  fremden  Bestandtheilen  anderer  Stamme 
erhalten  haben,  und  die  hochasiatischen  Turktataren,  ein  Unter- 
schied,  der  zusammenfallt  mit  dem  von  sesshaften  Ackerbauem 
oder  Gewerbetreibenden  und  Nomaden.  Die  unterjochte  arische 
Bevolkerung  wird  von  den  erobernden  Tataren  mit  dem  Colleoti?- 
namen  „Tadschik"  bezeichnet.  In  Ost  -  Turkestan  ist  diese  Be- 
zeichnung  geschwunden,  nachdem  die  arische  Bevolkerung  sich 
mit  der  tatarischen  verschmolzen  hat,  wahrend  in  West-Turkestan 
noch  heute  der  Gegeasatz  ein  schroffer  ist.  Die  Scheidung  in 
Kirghisen  imd  Sarten  ist  eine  durch  die  Lebensweise  hervor- 
gerufene,  und  zwar  versteht  man  unter  der  ersteren  Bezeichnung 
Nomaden,  unter  der  zweiten  Bodensassige.  Letztere  werden 
auch  Sogdager,  d.  i.  Handelsleute,  genannt  und  den  rein  tatarischen 
Nomaden  als  Nicht  -  Nomaden ,  gleichviel  ob  sie  arischen  oder 
tatarischen  Blutes  sind,  entgegengesetzt.  — 

Ein   weiteres  Eingehen   auf  die   zu  einer  jeden  von  beiden 
Volkergruppen  gehorenden  Stamme  wiirde  zu  weit  fiihren    Der 
geschichtliche  Theil   beginnt  mit  einer  verungliickten  Expedition 
gegen   Chiva,    die  Kaiser  Nicolaus  befohlen  hatte,    da  er  durch 
den  Einfall   der  Englander  unter  Lord  Auckland  1839  in  Kabul 
zu   der   Befiirchtung   gedrangt   wurde,     dieselben    wollten  sich 
Turkestans  bemachtigen.     Gewitzigt  ersaheu  sich  die  Russen  ein 
schwacheres   Chanat,   namlich    Chokan,   Welches   1840  von  dem 
Emir  von  Boch&ra  Nasr- Allah-Chan  erobert  worden  war,  zu  ihrem 
ferneren  Angriffsobject.     Zu  diesem  Zwecke  wurden  die  russischen 
Grenzen  nach  Siiden  vorgeschoben,  die  nominelle  Oberherrschaft 
iiber  drei  Millionen  Kirghisen  in  eine  factische  umgewandelt  mid 
durch  eine  Reihe  von  Festungen,  darunter  Orenburg  am  Turgai 
und   Aralsk   in    der   Nahe    der  Ssyr  -  Darj4  -  Miindung  gesicheii 
Bedriickungen    der   am    Ssyr-Darja,   sesshaften   Kirghisen  sowie 
rauberische   Einfalle   seitens    der   Chokanzen   gaben   den  Ante® 
zum   Kriege   gegen  sie  wie  friiher  gegen  Chiva.     Im  Jahre  1852 
wurde   eine   Expedition   gegen   das   wichtigsto   Fort  der  Fcnute 

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v.  Hellwald,  Die  Russen  in  Contralasion.  83 

Ak-Medsclied  ausgesandt,  die  jedoch  bei  ihrer  numerischen 
Schwache  sich  mit  der  Zerstorung  der  Vorwerke  dieses  Fort, 
80wie  Vernichtung  von  mehreren  anderen  unbedeutenden  Festungen 
begniigen  musste.  Der  starkeren  Expedition  des  folgenden 
Jahres  mit  12  Kanonen  und  2000  Pferden  gelang  es,  das  von 
nur  300  Mann  besetzte  Fort  Ak-Medsched  zu  stiirmen  trotz  der 
lowenmiithigen  Vertheidigung ,  von  300  blieben  230  auf  dem 
Kampfplatze.  Der  Chan  von  Chokan  konnte  den  Russen  dasselbe 
nicht  wieder  entreissen,  da  sie  sich  stark  verschanzt  hatten. 

Eine  Rebellion  der  kurzlich  einverleibten  Kirghisen  unter 
ihrem  Anfiihrer  Isched  Kutebar  konnte  nach  fiinfjahrigem  fur 
die  Russen  hochst  ungiinstigen  Kampfe  erst  1858  auf  diplomati- 
schem  Wege  ausgetragen  werden,  indem  man  allgemeine  Amnestie 
yersprach  und  Isched  Kutebar  sowie  seinen  Unterbefehlshabern 
ehrenvolle  Stellungen  anbot. 

Russland  mit  dem  Krimkriege  beschiiftigt  und  die  Ein- 
mischung  Englands  befurchtend,  verhielt  sich  in  den  inneren 
Kampfen  der  Chokanzischen  Pratendenten  wie  des  Bocharen-Emir 
Mozaffer  ed-din  Chan  neutral.  Nach  Beendigung  des  Krim- 
krieges  jedoch  ging  es  mit  erneuerter  Energie  vor.  Nachdem 
1859  — 1861  mehrere  feindliche  Festungen  genommen,  erobert 
1864  der  inzwischen  an  Perowski's  Stelle  getretene  Major 
Tschernajew  das'wichtige  Tschemkend,  mit  dessen  Falle  die  be- 
deutendsten  Stadte  des  Chanates  Taschkend,  Chodschand  wie 
die  Hauptstadt  selbst  dem  Angriff  der  Russen  blossgestellt 
wurden.  Zwar  wurden  die  Englander  durch  das  siegreiche 
Vordringen  der  Russen  beunruhigt,  indessen  durch  ein  Cirkular 
des  Fiirsten  Gortschakow  beschwichtigt  (21.  Novbr.  1864),  in 
dem  die  Notwendigkeit  der  von  den  Russen  getroffenen  Mass- 
regeln  des  Weiteren  auseinandergesetzt  wurde.  Nach  einem 
weiteren  Siege  der  Russen,  die  inzwischen  eine  bedeutende  Nieder- 
lage  Ende  1864  erlitten  hatten,  am  9.  Mai  1865  bei  Taschkend 
war  das  Chanat  Chokan  factisch  in  den  Handen  der  Russen  und 
wurde  in  die  „Provinz  Turkestan"  verwandelt. 

Der  Emir  von  BocMra  Mozaffer,  welcher  bei  den  Thron- 
streitigkeiten  in  Chokan  eine  bedeutende  Rolle  gespielt  hatte, 
gerieth  in  Verwickelung  mit  den  Russen  durch  Absendung  eines 
Hilfskorps  nach  dem  von  ihnen  bedrohten  Taschkend,  ohne  jedoch 
den  Fall  der  Stadt  verhuten  zu  konnen.  Nach  wechselndem 
Erfolge  vernichteten  die  Russen  im  Mai  1868  in  der  Schlacht 
bei  Samarkand  den  Gegner. 

Den  Schluss  der  russischen  Eroberungen  in  Centralasien 
bildete  das  Chanat  Chiva,  das,  wie  bemerkt,  bereits  1839  von 
den  Russen  zu  nehmen  versucht  war.  Bis  zum  Ende  des  Jahres 
1872  war  mit  wechselndem  Erfolge  scharmutzirt  worden.  Ja 
eine  im  Herbste  des  Jahres  1872  unternommene  Expedition  muss 
vollstandig  missgliickt  sein,  da  nur  auf  diese  Weise  die  Offensive 
der  Chivaner  auf  der  ganzen  Steppe  bis  nach  Orenburg  hin  zu 
erklarcn  ist     In  Folge  dessen  sieht  sich  die  russische  Regierung 

6* 

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84  Lorenz,  Doutschlands  Geschichtsquellcn  im  Mittelalter  etc. 

veranlasst,  im  Anfange  des  Jahres  1873  dem  General  von  Kauf- 
mann  eine  neue  Expedition  zur  Unterwerfung  dieses  unruhigen 
Chanates  aufcutragen. 

Damit   schliesst  der  geschichtliche  Theil.     Das  Werk  selbst 
bietet   noch   zwei   Anhange,   deren   Inhalt   bereits    oben  ange- 
deutet  ist. 
Berlin.  0.  George. 

XXIV. 
Lorenz,  0.,  Deutschlands  Geschichtsquellen  im  Mittelalter  seit 
der  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderte.    2.  Band.    2.  umge- 
arbeitete  Auflage.    gr.  8.    (VIII,  359  S.)  Berlin  1877.   W.  Hertz. 
7  M.     (1.  u.  2.:  13  M.) 

Hr.  Lorenz  hat  Wort  gehalten:  der  2.  Band  seiner  Ge- 
schichtsquellen ist,  wenn  auch  nicht  im  Laufe  desselben  Jahres, 
in  welchem  der  erste  veroffentlicht  wurde,  so  doch  bald  Bach 
dem  Beginn  des  neuen  Jahres  (1877)  erschienen,  und  wir  konneo 
uns  freuen,  dass  nun  endlich  fiir  die  letzten  Jahrhunderte  des 
Mittelalters  ein  Wegweiser  durch  das  so  schwer  zu  durchwandernde 
Gebiet  unserer  Quellen  vorliegt.  Dass  hier  noch  viele  Frageo 
zu  losen  sind  und  manche  Resultate  der  wiinschenswerthen 
Sicherheit  entbehren,  wird  niemand  besser  wissen  als  Hr.  Lorenz 
selbst1),  aber  das  ist  gerade  sein  Verdienst,  dass  er  den  Muth 
gehabt  hat,  in  diese  rudis  indigestaque  moles  einzudringen  und 
Licht  iiber  sie  zu  verbreiten;  ja  unzweifelhaft  hat  bereits  die 
1.  Auflage  das  ihrige  dazu  beigetragen,  die  spatere  Zeit  des 
Mittelalters  dem  Interesse  naher  zu  bringen  und  weitere  For- 
schungen,  gerade  auch  iiber  die  Quellen,  hervorzurufen. 

Jedoch  der  Ruhm  eines  solchen  Verdienstes  —  und  es  wird 
in  vieler  Augen  nicht  ganz  unbedeutend  sein  —  ist  es  nicht, 
nach  dem  Hr.  Lorenz  strebt;  sonst  hatte  er  wohl  die  Vorrede 
nicht  zu  einer  formlichen  Philippika  gegen  die  mikrologische  Art 
und  Weise  werden  lassen,  in  der  es  bei  uns  jetzt  Mode  sei  die 
Quellen  zu  behandeln.  Hr.  Lorenz  will  im  Interesse  der  nallge- 
meineren  historischen  Bildung  der  Nation"  umfassendere  Probleme 
behandelt  sehen,  im  Zusammenhange  mit  welchen  die  Einzelfragen 
der  Quellenkritik  erspriesslicher  behandelt  werden  konnten. 

Im  Ernst  kann  man  sich  angesichts  der  wahrhaft  ent- 
sagenden  Thatigkeit  unserer  Zeit,  die  zunachst  die  reichen 
Quellenschatze  der  mittelalterlichen  und  neuen  Zeit  dor  Forsclrong 
zuganglich  machen  will,  mit  Hrn.  Lorenz  auf  eine  Discussion 
dieses  Punctes  nicht  einlassen,  zumal  es  dazu  nothwendig,  aber 
hier  zu  weitlaufig  sein  wiirde,  die  verschiedenen  Argumente,  die 
bei  ihm  etwas  unklar  ineinanderlaufen ,  zu  sondern;  wenn  er 
aber  unter  anderem  auch  anfiihrt,   es   sei   nicht  mehr  moglicbt 


*)  Schon  am  Scblues  des  Bandes  in  den  Nachtr&gen  konnte  Hr.  L.  da* 
selbst  anerkennen  und  gesteht  z.  B.  ofifen  ein,  dass  seine  Angaben  iiber 
Lerbeke  unzureichend  seien. 


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Lorenzj  Deutschlauds  Gesckichtsquellen  im  Mittelalter  etc.  85 

sich  auch  nur  flir  ein  paar  Jahrhunderte  auf  dem  Laufenden  zu 
crhalten,  so  mochte  es  gut  sein,  insbesondere  ihn,  der  ja  jiingst 
ein  kleines  Geplankel  mit  den  Pratensionen  der  Naturwissenschaft 
gehabt  hat,  auf  das  ungeheure  Material  hinzuweisen,  das  auf 
diesen  durch  Detailforschungen  zu  Tage  gefordert  wird :  sie  haben 
sich  geholfen,  iiidem  sie,  jede  Disciplin  fiir  sich,  zusammenfassende 
Jahresberichte  publiciren,  und  ihnen  sind  auf  diesem  Wege 
andere  Wisscnschaften,  wie  die  Mathematik  und  zuletzt  auch  die 
klassische  Philologie  gefolgt;  auch  beruhen  auf  der  Erkenntniss 
des  Mangels  solcher  Publicationen  auf  historischem  Gebiete  offen- 
bar  die  Uebersichten,  welche  die  Revue  historique  in  jedem  Hefte 
bringt.  Konnen  letztere  nun  auch  die  angedeutete  Liicke  nicht 
ausfullen,  weil  sie  nicht  systematisch'das  ganze  Gebiet  der  Geschichte 
umfassen,  so  miissen  wir  uns  doch  gestelien,  dass  bei  uns  in 
Deutschland  gar  nichts  dem  Aehnliches  existirt,  und  doch  be- 
neidet  uns  das  Ausland  urn  die  Bltithe,  in  der  die  historischo 
Forschung  bei  uns  stent!  —  Die  „allgemeine  historische  Bildung" 
unseres  Volkes  muss  jedenfalls  mit  grosser  Vorsicht  getrieben  werden. 

Den  Inhalt  des  Buches  selbst  anlangend,  so  enthalt  der  vor- 
liegende  Band,  dem  bereits  im  V.  Jahrg.  S.  13  dieser  Zeitschrift 
angegebenen  veranderten  Plane  der  2,  Auflage  zufolge,  die  Quellen 
der  norddeutschen  Lander,  d.  h.  die  §§  11 — 23  der  ersten  Auf- 
lage; die  friiher  „Einiges  aus  italienischen  Quellen",  „Kaiser- 
und  Reichsgeschichte" ,  „Politische  Schriftenu  iiberschriebenen 
drei  Paragraphen  (33 — 35)  bilden  jetzt,  zu  sechs  erweitert,  eine 
eigene  (dritte)  Abtheilung :  „Reichs-  u.  Kaisergeschichte".  Ueberall 
sind  nicht  nur  die  einzelnen  Capitel  bis  zum  Ende  des  XV.  Jahr- 
hunderts  berabgefuhrt ,  was  zu  ganz  neuen  Abschnitten  (§  5: 
Cbronicon  magn.  belgicum;  §  9  und  11 :  westfalische  und  thiiringische 
Geschichtsschreiber  des  XV.  Jahrh. ;  §  16:  Hermann  Korner; 
§  19;  Die  Hochmeisterchroniken  u.  a.)  Anlass  gegeben  hat,  son- 
dern  es  sind  auch  Abschnitte,  welche  das  XIV.  Jahrh.  behandeln, 
oft  sehr  vermehrt. 

So  z.  B.  sind  an  Stelle  des  einen  §  14,  der  die  Niederlande 
besprach,  jetzt  drei  getreteri  (§  2 — 4);  die  beiden  ersten,  „die 
Reimchroniken"  und  die  „Chroniken,  besonders  von  Flandern  und 
Brabant",  haben  auf  Grund  von  Jonckbloets  „Geschichte  der 
niederland.  Litteratur"  bedeutende  Zusatze  erfahren,  dem  §  4  ist 
jetzt  das  in  der  1.  Auflage  nicht  benutzte  Buch  von  Wohlwill, 
nAnfange  der  landstand.  Verfassung  im  Bisth.  Liittich"  zu  Guto 
gekommen.  §  5  (Erzb.  u.  Stadt  Koln)  enthalt  zunachst  S.  50  f. 
einen  Zusatz  iiber  die  Quellen  der  Bischofschronik  nach  Cardauns 
(Stadtechron.  XII,  S.  LXXIII),  dem  Hr.  Lorenz  trotz  gewichtiger 
Zweifel  und  Bedenken  „blindlingsu  folgt;  nach  demselben  setzt 
Hr.  Lorenz  auch  die  Abfassungszeit  von  Hagens  Reimchronik 
zwischen  1277  und  1288  (S.  54).  Erweitert  ist  dann  noch  der 
Abschnitt  iiber  die  „Weberschlachtu.  —  Gegen  Ende  des  XIV. 
Jahrh.  findet  sich  in  Koln  in  dem  „nuwen  boichu  eine  Art  offi- 
ciose  Geschichtsschreibung,  im  XV.  eine  Anzahl  Erzahlungen, 

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86  Lorenz,  Deutschlands  G-eschichtsquellen  im  Mittolalter  etc. 

die  zum  Theil  Beilagen  von  Actenstiicken  sind,  und  deutsche 
Jahrbiicher,  welche  fur  die  Culturgeschichte  sehr  wichtig  sind. 
Zusammenhangende  Darstellungen  der  Geschichte  Kolns  von  seinem 
Ursprunge  an  entstanden  erst  seit  1469. 

Fast  unverandert  ist  §  7  (Levold  v.  Northof),  und  §  8 
(Westfalen)  ist  nur  durch  Zusatze  iiber  die  historische  Litteratur 
des  XV.  Jahrh.  vermehrt.  Aus  dieser  stellt  sich  die  Beschreibung 
der  Fehde  zwischen  dem  Erzbischof  Dietricli  von  Koln  und  Soest 
(1444—47),  vermuthlich  von  Bartholomaeus  von  der  Lake,  den 
besten  Stadtechroniken  zur  Seite. 

Unbedeutender  ist  die  in  Osnabriick  ebenfalls  erst  gegen 
Ende  des  Jahrhunderts  verfasste  Bischofegeschichte  von  Ertwin 
Erdmann,  der  mit  seiner  juristischen  Gelehrsamkeit  prahlt,  aber 
doch  mit  einer  gewissen  Sorgfalt  arbeitete;  leider  standen  ihm 
gute  Quellen  nicht  zu  Gebote.  Wichtiger  sind  die  Chroniken 
von  Munster  im  XV.  Jahrh.,  Fortsetzungen  der  vom  Biscbof 
Florenz  von  Wewelinghofen  (1364  —  79)  ins  Leben  gerufenen; 
auch  eine  populare  niederdeutsche  Beschreibung  der  Bischofe- 
geschichte  wurde  hier  von  Arnd  Bevergern  verfasst. 

Unter  den  Autoren,  welche  in  Westfalen  die  Geschichte  weltlicher 
Territorien  schrieben,  ragt  fur  Mark  und  Cleve  Gert  v.  d.  Schiiren 
durch  umfassende  Bildung,  grosse  Belesenheit  und  Sprachkennt- 
nisse  hervor  (urn  1450);  er  war  Geheimschreiber  des  Herzogs. 
Ihm  gegeniiber  steht  im  ostlichen  Westphalen  als  Geschichts- 
schreiber  Schaumburgs  ebenso  ausgezeichnet  Herman  v.  Lerbecke, 
Dominikaner  in  Minden,  iiber  den  S.  340,  wio  bemerkt,  viel  nach- 
getragen  wird. 

Von  besonderem  Interesse  ist  es,  dass  Westfalen  die  grossen 
Universalhistoriker  Dietrich  von  Niem  (nicht  Nieheim),  Gobelinus 
Persona  und  Werner  Rolevink  angehoren,  die  bereits  in  der 
1.  Auflage  kurz  erwahnt  waren  und  jetzt  den  Inhalt  von  §  9 
ausmachen.  Sie  zeichnen  sich  durch  eine  juristische  Auffassung 
der  Ereignisse  aus,  die  Hr.  L.  auf  den  praktischen  Sinn  des 
westfalischen  Stammes  zuriickfiihrt.  Hinsichtlich  des  erstern  riigt 
es  Hr.  L. ,  dass  seine  kirchliche  und  politische  Richtung  nodi 
nicht  zum  Gegenstande  eingehender  Untersuchungen  gemacht 
sei;  er  selbst  halt  ihn  fur  einen  Anhanger  der  Unionspartei, 
welche  die  Reformfrage  in  den  Hintergrund  treten  liess,  wahrend 
Gobelinus  der  entgegengesetzten  Richtung  angehorte.  Seine  drei 
Hauptwerke,  „der"  (sic)  nemus  unionis  (1407/8),  die  libri  de  schismate 
und  die  historia  Johannis  XXIU.  bilden  eine  wohlverbundene,  an 
Material  erdriickend  reiche  Zeitgeschichte,  die  sich  mitunter  zur 
„Anschaulichkeit  Sullyscher  Memoiren"  erheben.  Das  beste  seiner 
Werke  ist  die  Vita  Johannis  XXIU.;  die  gegen  die  Echtheit  des 
Nemus  unionis  von  Schiitz  erhobenen  Zweifel  halt  Hr.  L.  fur  un- 
bedeutend.  Uebrigens  involvire  letzteres  Werk  einen  Actendieb- 
stahl  Dietrichs,  der  als  Canzleibeamter  zur  Veroffentlichung  des 
mitgetheilten  Materials  nicht  befugt  sein  konnte. 

Gobelinus  Person,  von   biirgerlicher  Abkunft ,   war  in 

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Lorenz,  Deutschlands  Gesehichtsquellen  im  Mittelalter  etc.  87 

Paderborn  1358  geboren  und  6tarb  nach  1421.  Auch  er  ging 
wie  Dietrich  von  Niem  nach  Italien,  erhielt  aber  spater  wieder 
in  seiner  Heimath  eine  Pfriinde.  Bei  den  Reformen ,  die  er  an- 
strebte,  fand  er  bei  dem  Bischof  Wilhelm  von  Berg  einen  starken 
Riickhali  Sein  systematisch  vorbereitetes  und  angelegtes  Werk, 
Cosmodromium ,  schrieb  er  zwischen  1390  und  1418;  die  Dar- 
stellang  des  Costnitzer  Concils  ist  meisterhaft. 

Der  Karthauser  Rolevink,  1425  bei  Meschede  geboren, 
gest.  1502,  war  durch  seinen  Fasciculus  temporum  eine  Zeitlang 
weltberiihmt. .  Er  verdrangte  Martin  von  Troppau,  wozu  der 
Umstand  beitrug,  dass  er  —  durch  Speculation  des  Buchdruckers  — 
1474  sofort  gedruckt  wurde.  Verdient  war  sein  Ansehen  nicht, 
vielmehr  ist  sein  Fasciculus  eine  elende  Compilation.  Dagegen 
ist  sein  Buch  de  laudibus  Westfaliae  (ed.  Rump,  aus  Tross'  Nach- 
lass,  1865)  interessant,  besonders  durch  seine  Schilderung  von 
Land  und  Leuten  im  3.  Bucho. 

In  §  10  (Hessen  u.  Thuringen)  lasst  Hr.  L.  die  Autorschaft 
Johann  Riedesels  jur  die  hessische  Chronik,  die  Wigand  Gersten- 
berger  in  Ausziige  brachte,  dahingestellt;  von  der  Meinung,  das 
aus  dem  XIV.  Jahrh.  angefuhrte  Chronicon  Hennebergense ,  das 
nicht  mehr  vorhanden  sei,  habe  vielleicht  in  die  Chronica  „altes 
Herkommen  der  Lantgraven  zu  Thuringen"  Aufhahme  geftmden, 
ist  er  zuriickgekommen ,  da  das  Chron.  Henneb.  von  Heidemann 
mit  dem  Anonymus  Vesserensis  bei  Reich,  Beitr.  zur  Gesch.  d. 
FrankenL  I,  113  als  identisch  erkannt  ist  (Privatmittheilang 
Heidemanns).  Fiir  die  Reinhardsbrunner  Annalen  mag  unserer- 
seits  auf  die  vor  Kurzem  erschienene  Schrift  Wencks  aufmerksam 
gemacht  sein,  die  in  dieser  Zeitschrift  noch  eine  Besprechung 
erfahren  wird. 

Bei  den  Erfurter  Annalen  hatte  Hr.  L.  in  der  1.  Auflage 
Stiibels  Dissertation  iiber  das  Chronicum  Sanpetrinum  (1867) 
iibersehen;  jetzt  ist  sie  beriicksichtigt,  nur  hatte  S.  101  Anm.  2 
die  abweichende  Meinung  Stiibels  kurz  angegeben  werden  sollen. 
Leider  findet  sich  ein  ahnliches,  etwas  bequemes  Verfahren  mehr- 
fach  bei  dem  Verf.,  —  allerdings  auch  bei  seinem  Vorbilde  Watten- 
bach.  —  Auch  die  Annales  breves  de  lantgrav.  Thuringiae  waren 
friiher  Iibersehen,  die  ahnlich  wie  das  in  Wien  befindliche  Chro- 
nicon Thuring.  Viennense  aus  dem  Bediirfhisse  hervorgingen,  die 
umfangreichen  Ann.  Reinhartsbrunn.  in  kiirzerem  Auszuge  zu 
haben. 

§  11  (Thuring.  Geschichtsschreiber  des  XV.  Jahrh.)  beginnt 
mit  dem  Chronicon  Erfordensis  civitatis,  dessen  Autorschaft 
dem  Theodor.  Engelhus  entschieden  abgesprochen  wird.  Von 
grosserer  Bedeutung  als  dieser  sind  Johann  Rothe  von  Kreuz- 
burg  (f  ca.  1425),  Hartung  Kammermeister ,  Konrad  Stolle 
(t  1405).  Auch  die  allgemeine  Weltgeschichte  wurde  in  Erfurt 
bchandelt,  seit  dort  1479  ein  „hoheres  Studiumu  gegriindet  war, 
einmal  durch  Johann  von  Dorsten  (eigentlich  Buer,  t  1481), 
dessen  Chronicon  imperatorum  noch  ungedruckt  ist,  —  sodann  durch 

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88  Lorenz,  Deutachlands  Gescbichtsquellen  im  Mittelalter  etc. 

Nicolaus  von  Siegen,  dessen  Werk  durch  den  Titel  „Chronic. 
ecclesiasticum"  nicht  genau  gekennzeichnet  wird,  da  es  aus 
einer  Universalgeschichte  immer  mehr  in  Landesgeschichte 
iiborgeht. 

In  §  12  (Meissen  u.  Sachsen)  ist  fur  das  XIV.  Jahrh.  nnr 
wenig  neu;  S.  117  Anm.  3  ist  Ulmanns  Ansicht  iiber  das  Ver- 
haltniss  der  Ann.  Veterocellenses,  des  Chronicon  principum  Misn, 
des  Catalog,  brev.  lantgrav.  Thur.  und  des  Chronicon  Veterocell. 
adoptirt.  Fur  Zittau  wird  jetzt  bei  Johann  v.  Guben  gegen 
die  friihere  Ansicht  Carpzovs  der  urspriinglich  private  Character 
seiner  Arbeit  scharfer  hervorgehoben ;  sein  Buch  wurde  spater 
durch  Rathsbeschluss  angekauft  und  zum  amtlichen  Jahrbuch 
erklart.  Joh.  v.  Guben  steht  jedoch  nicht  auf  jener  Hohe  stadti- 
scher  Geschichtsschreibung ,  die  zum  Theil  schon  am  Ende  des 
XIV.  Jahrh.  erreicht  war.  Die  amtlich  gefuhrte  Fortsetzung 
seines  Werkes  wird  erst  nach  1420  bedeutender.  —  In  Gorlitz 
gelangt  die  stadtische  Historiographie,  die  im  XV.  Jahrh.  Johairo 
Bereith  von  Jiiterbogk  (t  1474)  und  Bernhard  Melzer  (t  1512)  aufo- 
weisen  hat,  erst  im  XVL  Jahrh.  zu  einer  Bliithe.  Hoher  als  die 
eben  genannten  steht  die  auch  fur  die  Lausitz  wichtige  Geschichts- 
schreibung Martin  von  Bolkenhains,  auf  den  Freytag  in  dec 
Bildern  aus  der  deutschen  Vergangenheit  nachdnicklich  hinwies: 
sonst  gehort  er  nach  Schlesien. 

Bei  dem  Abschnitt  iiber  die  Magdeburger  Schoppen- 
chronik  ist  nur  wenig  zu  andern  gewesen,  nur  dass  jetzt  als  der 
wahrscheinliche  Verfasser  Heinrich  von  Lammespringe  angegeben 
wird,  der  1386  Priester  und  Stadtschreiber  war,  als  Altaristvon 
St.  Peter  aber  sehr  alt  geworden  zu  sein  scheint.  Von  den 
Fortsetzungen  ist  die,  welche  die  Jahre  von  1388 — 97  umfasst, 
vielleicht  nicht  voller  Originalbericht.  Im  XV.  Jahrh.  waren 
wohl  ( —  1410)  Hinrik  van  den  Ronen,  von  1411— 1421  sicher 
Engelbert  Wusterwitz  aus  Brandenburg  die  Fortsetzer  der 
Schoppenchronik,  ersterer  „Juriste  und  Schriver",  letzterer  (t  1453) 
Syndicus  von  Magdeburg;  Wusterwitz  hatte  wahrscheinlich 
auch  eine  Chronik  von  Brandenburg  geschrieben.  Ueber  ihn  ist 
Heidemanns  Abhandlung  im  XVII.  Bande  der  Forschungen  z.  d.  G. 
neuerdings  hervorzuheben.  Auch  Halle  und  Zerbst  besassen 
im  XV.  Jahrh.  ihre  Chronisten:  Halle  in  dem  Rathsmeister 
Marcus  Spickendorf,  der  seine  ungedruckte  tagebuchartige  Chronik 
(1474 — 80)  nur  zum  Hausbuch  seiner  aristokratischen  Familie 
bestimmt  hat,  —  Zerbst  in  dem  Biirgermeister  Peter  Becker, 
der  seine  Schicksale  bei  der  Verwaltung  der  Stadt  in  der  Zerbsfcer 
Chronik  memoirenartig  niederlegte  (um  1450). 

§  13  a  (Gedichte,  besonders  von  Thiiringen  und  Sachsen, 
a)  lat.  Gedichte,  b)  deutsche)  ist  nur  unwesentlich  veranderfc; 
iiber  Nicolaus  von  Biberas  Carmen  satiricum  —  der  richtigere 
Titel  istPoemata  —  bleibt  Hr.  L.  Theobald  Fischer  gegen- 
iiber  bei  seiner  fruheren  Ansicht,  dass  hier  mehrere  fiir  sich 
bestehende   Gedichte   vorliegen.     Dasselbe  gilt  von  §  13  b:  das 

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Xorenz,  Doutschlands  Geschicktsquellon  im  Mittelalter  etc.  89 

XV.  Jahrh.  hat  hier  nichts  von  hervorragender  Bedeutung  auf- 
zuweisen. 

§  14  ist  nur  durch  einen  kurzen  Hinweis  auf  die  Arbeit 
Kohlmanns  liber  die  Quellen  der  Braunschweiger  Reimchronik 
und  durch  den  Abschnitt  iiber  das  XV.  Jahrh.  erweitert  worden. 
Braunschweig  liefert  hier  interessante  Aufzeichnungen :  Erinne- 
rungen  und  Rechenschaftsberichte  zur  Unterweisung  gegenwartiger 
und  zukiinftiger  Rathsmitglieder,  die  sog.  „heimliche  Rechonschaft"; 
vielleicht  von  Hermann  von  Vechelde  1406  vollendet,  ist  sie  ein 
Bericht  der  zur  Regierung  gelangton  demokratischen  Partei  iiber 
ihre  Erfolge  und  ihre  Ziele,  der  spater  alle  drei  Jahre  verlesen 
werden  sollte.  Von  besonderem  Interesse  fur  Kenntniss  okono- 
mischer  Verhaltnisse  ist  das  Tagebuch  (1417  —  26)  des  Rath- 
manns  Hans  Porner.  Noch  zn  erwarten  haben  wir  in  der  Aus- 
gabe  der  Stadtechroniken  das  Papon bok,  eine  officielle  Dar- 
stellung  eines  Streites  mit  dem  Clerus  (1493),  das  „Schicht- 
speel",  eine  Reimchronik  iiber  den  Aufstand  von  1488 — 91,  und' 
das  „Schichtboik",  das  bis  1513  geht. 

In  Liineburg  trug  der  Rathsschreiber  Nicolaus  Floreke 
(um  1370)  historische  Notizen  in  das  Stadtbuch  ein,  eine  stadtische 
Chronik  entstand  aber  daraus  nicht. 

Dagegen  tritt  uns  mit  dem  Beginn  des  XV.  Jahrh.  in  dem 
niedersachsischen  Kreise  eine  wichtige  Quelle  in  Theodorich 
Engelhus  entgegen;  leider  liegen  iiber  ihn  neuere  Forschungen 
nicht  vor.  Aus  Eimbeok  gebiirtig,  soil  er  in  Wittenberg  1434 
gestorben  sein.  Seine  "Weltgeschichte  hat  das  Eigenthumliche, 
dass  sie  anch  die  byzantinischen  Kaiser  beriicksichtigt ;  beson- 
dere  merkwiirdig  sind  in  ihr  die  versus  memoriales  iiber  jeden 
Kaiser  und  Papst,  die  er  bestimmten  Schriftstellern ,  wie  Heinr. 
Rossia  und  Dietr.  Lange,  zuschreibt.  Fur  seine  eigene  Zeit 
hatte  Engelhus  kein  sonderliches  Interesse  und  ist  deshalb 
fiir  sie  nicht  original.  Fortgesetzt  ist  er  durch  Matthias 
Doring,  Prof,  in  Erfurt  und  Pfarrer  in  Kiritz  (1420 — 64);  sonst 
existirte  von  ihm  noch  eine  Genealogie  der  braunschweigischcn 
Herzoge  und  Lebensbeschreibungen  der  Kaiser,  in  denen  locale 
Sympathien  stark  hervortreten.  Vermuthlich  riihrt  von  ihm  auch 
die  Chronik  der  Bischofe  von  Hildesheim  und  Erfurt  her.  —  Unter 
den  popularen  Darstellungen  der  braunschweigischcn  Landes- 
geschichte  ist  die  sogenannte  gemalte  Sachsenchronik  des  Conrad 
Botho  zu  nennen,  unter  den  stadtischen  Aufzeichnungen  die 
schatzenswerthe  Darstellung  des  Pralatenkrieges  in  Liineburg 
von  Heinrich  Lange. 

Oldenburg  fand  seinen  Geschichtsschreiber  in  Joh. 
Schiphower  (geb.  1463),  mit  dem  aber  eine  neue  Litteraturepoche 
beginn  t. 

Dem  folgenden  (15.)  Capitel  iiber  die  Hansestadte  sind  be- 
sonders  Koppmanns  Arbeiten  (Recension  der  1.  Aufl.  der  G.-Q.  im 
Hamb.  Correspond.,  Sept.  u.  Oct.  1870,  und  in  den  Hansischen 
Geschichtsblattern)    zu    Gute    gekommen,    dem   Hr.  L.    auch  da 


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90  Lorenz,  Doutschlands  Geschichtsquollen  im  Mittelaltor  etc. 

folgt,  wo  er  erklart,  ihn  nicht  ganz  verstehon  zu  kounen 
(s.  S.  156  Anm.  1);  dennoch  Weibt  er  Koppmann  gegeniiber 
dabei ,  in  Detmar  eine  Fundgrube  fur  die  liibeckische  Historio- 
graphie  des  XIV.  Jahrh.  zu  sehen.  Definitive  Resultate  sind  fiir 
die  liibecker  Geschichtsschreibung  erst  durch  Mantels'  Ausgabe 
der  lubischen  Chroniken  zu  erwarten. 

Auch  bei  Korner  §  16  ist  Hr.  L.  sehr  zuriickhaltend  mit 
seinem  Urtheil:  er  will  nur  iibor  den  Stand  der  Forschung 
referiren.  Obwohl  er  aber  Waitz'  Untersuchungen  vollste  Aner- 
kennung  zu  Theil  werden  lasst,  weicht  er  von  ihm  doch  darin 
ab,  dass  er  niclit  nur  die  beiden  lateinischen  Bearbeitungen  von 
1416  und  1435  von  Korner  herriihren  lasst,  sondern  auch  die 
deutsche  Chronik,  in  der  sich  K.  selbst  als  Uebersetzer  seiner 
Chronica  novella  bezeichnet.  Trotz  der  Massenhaftigkeit  seiner 
Vorlagen  hat  K.  als  Quelle  keinen  Werth,  wie  schon  Lappenberg 
nachwies,  sein  Verdienst  besteht  darin,  dass  er  em  populares 
deutsches  Geschichtsbuch  abfasste,  das  dem  Geschmack  und  der 
Gesinnung  der  Zeit  mit  Geschick  entgegen  kam.  Von  diesem  Ge- 
sichtspuncte  aus  hatte  Hr.  L.  vielleicht  Koppmanns  Ansichten 
mehr  wurdigen  kounen,  der  vier  verschiodene  deutsche  Redactionen 
und  ebenso  viel  lateinische  annimmt.  Wenn  Korner  acht  Auflagen1) 
zu'  veranstalten  Gelegenheit  hatte,  wiirde  er  allerdings  wohl  der 
gelesenste  Autor  des  Mittelalters  gowesen  seiu;  dass  er  aber 
den  deutschen  Ausgaben  lateinische  folgen  liess,  kann  urn  so 
weniger  auffallen,  als  man  es  noch  im  XVII.  Jahrh.  gut  fend, 
deutsche  Sachen,  selbst  Zeitungen,  ins  Lateinische  zu  ubersetzen, 
fur  einen  Leserkreis,  dem  Biicher  eben  nur  in  lateinischem 
Gewande  schmackhaft  waren.  Hat  doch  noch  im  vorigen 
Jahrhundert  —  die  ganz  verschiedene  Art  des  Buches  thut 
nichts  zur  Sache  —  Basedow  sein  bekanntes  Elementarwerk  auch 
in  lateinischer  Ausgabe  erscheinen  lassen. 

In  §  17,  der  die  Historiographie  der  iibrigen  Hansestadte 
ausser  Hamburg,  Bremen  und  Liibeck  behandelt*)  und  das 
Vorherrschen  localer  und  territorialer  Gesichtspuncte  hervorhebt, 
ist  nach  Weilands  neuer  Ausgabe  in  den  Monn.  zuerst  der  Ab- 
schnitt  uber  den  Presbyter  Bremensis  umgearbeitet ;  zu  gleicher 
Zeit  mit  dessen  Chronik  entstand,  wohl  von  einem  Weltlicben 
herriihrend,  die  Chronik  der  nortelvischen  Sassen,  deren  Compo- 
sition etwas  rathselhaft  ist.  Sodann  ist  Wis  mar,  namentfich 
auf  Grund  des  Mecklenb.  U.-B.  auch  fur  das  XHI.  und  XIV.  Jahrh. 
beriicksichtigt.      Fiir  Rostock   waren   die   Angaben   iiber  die 


*)  Weiter  unten  werden  wir  zu  orwahnen  haben,  dass  Bernard  Guidoois 
9  Ausgaben  seiner  Flores  temporum  veranstaltet  hat. 

a)  Hier  mag  einmal  auf  einen'  stilistischen  Mangel  aufmerksam  gemacht 
sein:  die  im  (Hanse-)Bunde  vereinten  Stadte  .  .  .  bildon  eino  iDnig  vjt- 
kniipfte  Gruppe  von  „Geschichtsquellonu  (S.  172).  —  Eino  Ungenauig- 
keit,  die  an  die  „Reitende  Artilloriekaserno'4  Friedrichs  d.  Gr.  erinnert,  mo- 
niren  wir  unten  bei  §  17 ;  das  „Kaiser  Sigismundsbuch"  S.  275  gehdrt  deraelbei 
Gattung  von  Fohlern  an.  Uebrigens  wissen  wir  wohl,  dass  man  solche  Punete 
ubersieht,  wenn  man  nur  die  Sachen  im  Auge  hat,  und  in  diesem  Sinne 
mogen  diese  Bemerkungen  aufgefasst  sein. 

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Lorenz,  Doutschlands  Geschichtsquellen  im  Mittolaltor  etc.  91 

Rostocker  plattdeutschen  Chroniken  S.  170  schon  in  den  Nach- 
tragen  der  1.  Auflage  berichtigt.  Wenn  Hr.  L.  hier  bedauert, 
ernes  Rostocker  Programmes  nicht  habbaft  geworden  zu  sein, 
welches  die  Frage  nach  dem  Verhaltniss  der  Rostocker  Cbronik 
zu  Kirchberg  gelost  hatte,  so  mag  hier  bemerkt  sein,  dass  auch 
die  osterreichischen  Lehranstalten  an  dem  im  Deutschen  Reiche 
iiblichen  Programmentausch  theilnehmen1),  Hr.  L.  es  sich  also 
in  Wien  vermuthlich  hatte  beschaffen  konnen,  iibrigens  aber  die 
Directoren  unsererSchulen  ein  directesGesuchum  Verabfolgungeines 
Exemplars  gern  zu  erfullen  pflegen.  —  Eine  bedeutende  Urn- 
arbeitung  nach  Thorns  und  Schirrmachers  Untersuchungen  (in 
deu  Beitr.  zur  Geschichto  Mecklenb.  II)  musste  der  Abschnitt 
uber  Ernst  yon  Kirchberg  erfahren.  Das  Rathsel,  warum  er 
hochdeutsch  schrieb,  lost  sich  dahin,  dass  er  ein  Thiiringer  von 
Adel  war:  indem  er  „sich  auf  den  bedenklichen  Boden  des 
fahrenden  Handwerks  begab,  verliess  er  seine  Heimath  aus  dem- 
selben  Grunde,  aus  welchem  etwa  heutzutage  ein  Professor  seine 
Tochter  ihre  Laufbahn  als  Sangerin  lieber  in  einer  benachbarten 
Residenz  als  vor  dem  Studentenpublicum  der  Universitat  beginnen 
liesse".  —  Auch  liber  den  Marschalk  Thurius  und  sein  Chronicon 
rhythmicum,  den  Hr.  L.  in  der  1.  Auflage  als  Verfasser  des 
Chron.  noch  nicht  kannte ,  wird  jetzt  nach  Muffelinanns  Disser- 
tation Genaueres  gegeben.  Desgleichen  hat  die  mecklenburgische 
Klosterlitteratur  und  die  pommersche  Geschichtsschreibung  Wiir- 
digung  gefunden :  in  Stettin  und  Stralsund  tritt  eine  solche  aller- 
dings  erst  im  XV.  Jahrh.  hervor,  Bugenhagen  und  Krantzow 
sind  aber  nach  Hrn.  Lorenz  fur  die  gesammte  alte  pommersche 
Chronistik  noch  nicht  genugend  ausgenutzt. 

Fiir  Danzig  haben  die  seit  dem  Erscheinen  des  1.  Bandes 
veroffentlichten  Chroniken  (Scr.  rer.  pruss.  IV)  fur  das  XV. 
Jahrh.  nichts  ergeben:  die  Geschichte  der  Stadt  vor  1410  ist 
nur  von  einem  einzigen  Chronisten,  Heinrich  Caper  (Ordens- 
bruder,  f  1457)  beriihrt;  die  ubrigen  stellten  nur  Selbsterlebtes 
dar  und  lebten  nicht  vor  der  Mitte  des  XV.  Jahrh.  Der  be- 
deutendste  ist  Caspar  Weinreich  (aus  einer  danziger  Rheder- 
familie),  der  die  Zeit  von  1461—96  umfasst,  aber  nur  fur  die 
Jahre  1480—89  selbstandig  ist. 

Danzigs  Historiographie  bildet  den  Uebergang  zu  der  gross- 
artigen  „preussischen  und  deutschen  Ordenslitteratur"  (sicl  S.  187), 
die  in  den  §§  18  und  19  behandelt  ist. 

§  18  hat  nur  geringe  Veranderungen  zu  erfahren  gebraucht; 
fiber  die  Fortsetzung  des  Dusburg  durch  Conrad  Bitschin  im 
XV.  Jahrh.  und,  nach  Zeissbergs  und  Perlbachs  Arbeiten,  iiber 
die  Olivaer  Chronik;  einen  kleinen  Ausfall  gegen  die  Monumenta, 

J)  don  jetzt  die  Teubnersche  Buchhandlung  vormittelt.  Indem  sio  vorher 
dn  Verzeichnks  veraendet  iibor  dio  Abhandlungen,  dio  in  den  Programmen 
erscheinen  werden,  ist  dio  Orientirung  sehr  erleichtert;  etwaigo  Voriinderungen 
*wden  in  den  zweimonatliehen  „Mitthoilnngen4t  dor  Teubnerschen  Officin 
nwtgetheilt  Wir  machen  hieranf  aufmerksam,  weil  Hr.  Lorenz  aach  an 
andern  Stellon  bedauert,  Programmabhandlungon  nicht  erhalton  zu  haben. 

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92  Lorena,  Deutscblands  Geschichtsquollea  im  Mittelalter  etc. 

d.  h.  in  diesem  Falle  gegen  W.  Arndt,  don  Hr.  L.  auch  an  an- 
dern  Stellen  mit  wenig  Sympathie  behandelt,  rechnet  man  nicht. 

Ueber  die  Darstellung  der  Geschichte  des  deutscben  Ordens 
im  XV.  Jahrb.  (§  19),  die  im  engen  Anschluss  an  die  Ausgaben 
in  den  Scr.  rer.  pruss.  besprocben  wird,  ist  zu  bemerken,  dass 
sie  sich  in  sofern  andert,  als  die  Ordensgeschicbte  sich  zu  einer 
Geschicbte  der  Hocbmeister  im  Sinne  von  Landesherren 
umgestaltet.  Hervorzuheben  ist,  dass  die  beiden  sogenannten 
Hochmeistercbroniken  nur  an  einem  Puncte  sacblicbes  Interesse 
gewahren,  wo  uns  durcb  einen  seltenen  Zufall  seitens  der  beiden 
streitenden  Parteien  ausfiihrlicbe  Darstellungen  vorliegen:  bei 
dem  Zerwiirfni88  der  Stadte  mit  dem  Orden,  der  1466  zu  dem 
fur  letztereu  so  demiitbigenden  Frieden  von  Thorn  fiibrte.  Neben 
der  ersten  Fortsetzung  der  alteren  Hochmeisterchronik  und  Peter 
Brambeck  sind  hier  insbesondere  wichtig  die  „Geschichten  von 
wegen  ernes  Bundes  von  Landen  und  Steten  wider  den  Orden 
u.  L.  F.u,  die  sich  durch  ausserordentliche  Treue  auszeichnen,  und 
die  historia  de  ordine  Theutonicorum  des  Laurentius  Blumenao, 
der  Hofjurist  der  beiden  Hocbmeister  Conrad  und  Ludwig  von  Erlicb- 
hausen  war  und  als  Diplomat  an  den  Streitigkeiten  thiitigen 
Antheil  nahm,  bis  er  1456  den  Orden  gezwungen  verlassen 
musste  (t  1484). 

Fiir  §  20  (livlandische  Quellen)  lagen  an  neueren  Forschungen 
zunachst  Leo  Meyers  Arbeiten  uber  die  livlandische  Iteimchronik 
vor,  nach  denen  es  unmoglich  ist,  dass  Dietleip  Alnpeke  der 
Verfassor  ist,  da  die  auf  ilm  hinweisende  Unterschrift  der  Berg- 
mannschen  Hds.  gefalscht  ist;  aber  ebenso  wenig  wird  Bruder 
Wicbolt  Dosel,  der  in  den  letzten  Versen  genannt  ist,  aJs  Ver- 
fasser  anzunehmen  sein.  —  Sodann  wurden  hier  von  grosser 
Wichtigkeit  Hohlbaums  Untersuchungen,  der  in  der  Prosachronik 
des  von  Kohl  in  Bremen  aufgefuudenen  Renner  die  Prosa- 
umschreibung  einer  jiingeren  Reimchronik  nachwies:  nach  Renners 
cigenen  Angaben  war  der  Autor  Bartholomaeus  Hoeneke  oder 
Hennike  von  Osnabriick. 

§  21  (Schlesien  u.  Polen)  wollte  Hr.  L.,  wie  er  in  derEin- 
leitung  S.  221  angiebt,  mit  Rucksicbt  auf  Zeissbergs  Arbeitei 
(Schriften  der  Jablonowskyschen  Gs.  XVIU)  eher  k  u  r  z  e  n  als 
vermehren,  er  ist  aber  fiir  das  XIV.  Jahrh.  so  gut  wie  ganz 
unverandert  geblieben.  Das  XV.  Jahrh.  weist  fur  Schlesien  einen 
Aufschwung  der  Historiographie  auf:  iu  Breslau  find  en  wir  ein 
Seitenstiick  zu  den  Chroniken  der  „Reichs"stadte  in  den  Anf- 
zeichnungen  des  Domherrn  Sigismund  Rositz  und  in  Peter 
Eschenloers  (f  1481)  Geschichte  der  Stadt  Breslau.  Hinsichtlich 
des  letzteren  ist  Hr.  L.  aber  in  einigen  Puncten  mit  dem  neusten 
Herausgeber,  Markgraf  (Scr.  rer.  Siles.  VII),  nicht  einverstanden.  — 

Einen  Boden,  der  ihm  doch  etwas  heimischer  ist  als  das 
der  Donau  so  feme  Norddeutschland,  in  dem  das  Reich  vollends 
ohnmachtig  war,  betritt  Hr.  Lorenz  wieder  im  3.  Abschnitt :  Reich*- 
und  Kaisergeschichte,  der  seine  eigene  Paragraphenzahlung  tat 

Hier    sind   die   beiden    ersten   Paragraphen   und  die  erste 

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Lorenz,  Deutschlands  Geschichtsquelien  im  Mittolaltor  etc.  93 

Halfte  des  dritten  mit  einigen  Zusatzen  und  in  anderer  Anord- 
nung  den  alten  §§  33  und  34  gleich:  was  es  sagen  will,  wenn 
Hr.  L.  S.  52?  erklart,  er  habe  den  Abschnitt  iiber  die  streng 
locale  italienische  Geschichtsschreibung  fallen  lassen,  ist  nicht 
recht  verstandlich,  denn  es  fehlt  im  Grunde  nur  der  kurze  Ab- 
schnitt iiber  das  Memoriale  Potestatum  Regiensium  des  Salimbene 
und  iiber  die  letzteren  fortsetzenden  oder  kiirzenden  Schrift- 
steller1),  d.  h.  kaum  eine  halbe  Seite.  —  Der  Abschnitt  iiber 
Salimbene  ist  nun  nach  Dove  umgearbeitet ,  dem  Hr.  L.  dafiir, 
dass  er  ihn  formlich  „verfehmt"  habe,  ein  so  liebenswiirdiges 
Compliment  macht,  wie  man  es  sich  nur  wiinschen  kann.  Er 
bleibt  jedoch  dabei,  beim  „Durchblattern  des  weitlaufigen  Werkes", 
das  ihm  „manche  Abendstunde  angenehmster  Unterhaltung  ein- 
gebracht  habe",  den  richtigen  Totaleindruck  empfangen  zu  haben : 
mindestens  seit  1245  miissten  ibm  tagebuchartige  Notizen  zu 
Grunde  liegen.  Sonst  haben  die  beiden  ersten  Paragraphen  noch 
Heine  Zusatze  erhalten  iiber  den  Wormser  Magister  Emicho  nacb 
Falk  ^S.  243)  und  iiber  Giovanni  di  Lelmo  und  Wilhelmus 
Ventura  (S.  256)  nach  D.  Konig;  verandert  sind  die  Stellen  iiber 
Bernardus  Guidonis  und  Ptolomaus  v.  Lucca,  ebenfalls  nach 
Konig,  ohne  dass  jedoch  iiber  die  Resultate  des  letzteren,  denen 
L.  grosses  Lob  spendet,  geniigende  Mittheilung  gemacht  wiirde. 
Dazu  moge  bemerkt  sein,  dass  es  doch  zweifelhaft  sein  muss, 
ob  Konig,  der  nur  mit  den  Bruchstiicken  des  Bernardus  operirt, 
welche  die  Franzosen  in  den  Script,  rer.  Gallic.  XXII  veroffent- 
licht  haben,  Recht  behalten  wird.  Seine  nouerdings  iiber  Ptolo- 
maus veroffentlichte  kleine  Schrift  (Stader  Programm  1878) 
enthalt  nichts  Neues,  von  Interesse  aber  sind  die  Mittheiluugen, 
die  bereits  im  vorigen  Jahre  der  verdienstvolle  Oberbibliothekar 
der  Pariser  Nationalbibliothek ,  Delisle,  in  der  Academie  des 
Inscr.  et  B.  L.  gemacht  hat.  Danach  hatte  Bernard  in  den 
Jahren  von  1315 — 31  nicht  weniger  als  neun  Auflagen  veranstaltet, 
von  denen  vielleicht  einige  Autographa  in  Paris  noch  vorhanden 
sind  (s.  Revue  critique  1877,  II,  489).  Uebrigens  ist  zu  Ptolo- 
maus v.  Lucca  meiner  Anzeige  von  Kriigers  Schrift  in  diesen 
Mitth.  Ill,  180  ff.,  die  Ehre  zu  Theil  geworden,  von  Hrn.  Lorenz 
beachtet  zu  werden :  ich  hatte  die  Arbeit  sehr  angeruhmt.  Will 
Hr.  L.  sich  die  Miihe  geben  und  noch  einmal  nachlesen,  so  wird 
er  sehen,  dass  ich  vielmehr  Plan  und  Idee  der  Arbeit  mit 
Freuden  begriisst  habe.  Freilich  ist  Kriiger  den  zweiten,  d.  h. 
den  Haupttheil,  noch  schuldig  geblieben,  fur  den  seine  Disser- 
tation nur  als  Vorlaufer  dienen  sollte.  Bemerkt  mag  sein,  dass 
auch  Konig  die  von  mir  a.  a.  0.  S.  183  erhobenen  und  von  Hrn.  L. 
nicht  iibersehenen  Bedenken  nicht  beseitigt  hat ;  dagegen  bin  ich 
jetzt  nach  nochmaliger  Priifung  der  Frage  zu  der  Ansicht  ge- 
kommen,  dass  Kriigers  Hauptresultat ,  die  Papstleben  der  Pata- 
vinischen  Hdss.   der   Hist.  eccl.  stammten  aus  einer  zweiten  Re- 


J)  S.  248  Anm.  1,  die  sich  auf  diese  Schriftsteller  bezog,  ist  trotz  deg 
AasfaUg  des  Toxtes  stehen  geblieben.  t 

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94  Lorenz,  Deutschlands  Gresehichtsquellon  im  Mittolalter  etc. 

cension  der  Annalen,  erheblichen  Bedenken  unterliegt.  —  Selbst- 
verstandlich  ist  in  eben  diesem  §  2  der  Abschnitt  iiber  Dino 
Compagni  umgearbeitet ;  zu  S.  250  Anm.  1  wollen  wir  nach- 
tragen,  dass  Bonainis  Acta  Heinr.  VII.  jetzt  endlich  der  Oeffent- 
lichkeit  iibergeben  sind,  nachdem  sie,  seit  dem  Tode  des  Ver- 
fassers,    Jahre   lang  bereits  gedruckt  in  Pisa  gelegen  haben.  — 

Die  letzten  Abschnitte  des  alten  §  34  haben  jetzt  die  eigen- 
thiimliche  Ueberschrift  „Anhang  zur  Wiederherstellung  des 
Reichs"  erhalten,  weisen  aber  auch  kleine  Zusatze  iiber  einen 
Spruch  des  Bmder  Werner,  Friedrich  v.  Sonnenburg  und  Walther 
v.  Klingen  auf.  Wir  wollen  hier  erwahnen,  dass  friiher  Wilmanns 
die  Absicht  hatte,  die  politische  Spruchpoesie  des  XUI.  Jahrh. 
zu  sammeln  und  zu  ediren  (s.  dessen  Reorganis.  des  Kurt-Coll., 
Vorrede,  und  diese  Mittheil.  Ill,  129):  hoffen  wir,  dass  er  seinen 
Plan  nicht  aufgegeben  hat 

In  §  3  fallt  als  Novum  zunachst  auf,  dass  Hr.  L.  es  fur 
Unsinn  aus  romantischer  Schule  erklart,  wenn  von  einem 
600jahrigen  Verfallo  des  deutschen  Reichs  gesprochen  werde. 
Diirften  wir  vielleicht  dem  Hrn.  Verf.  seine  Geschichte  des  XIII 
und  XIV.  Jahrh.  entgegen  halten,  deren  Fortsetzung  er  leider 
aufgegeben  zu  haben  scheint?  Voiles  Recht  hat  er  aber,  wenn 
er  einmal  auf  die  trefflichen  Lehrbiicher  Putters  hinweist:  aber 
die  ganze  reiche  historische  Litteratur,  welche  im  XVIL  und 
namentlich  im  vorigen  Jahrh.  von  den  Reichspublicisten  ausging, 
wird  heut  ignorirt1). 

Sonst  besteht  §  3  aus  einigen  Abschnitten  des  Mheren 
§  34,  die  erweitert  sind  durch  Bemerkungen  iiber  Petrarca  und 
Cola  di  Rienzi,  Johann  v.  Neumarkt,  Kanzler  Carls  IV.  und  die 
Entrevue  de  Charles  IV.,  empereur  .  .  et  de  Charles  V.,  Roy  de 
France.  Von  S.  270  ab  wird  das  XV.  Jahrh.  behandelt,  fur  welches 
die  seit  Sigismund  erhaltenen  Registraturbiicher  und  Sigismunds 
Historiograph  Eberhard  Windek  am  wichtigsten  sind.  Ueber 
letzteren  sind  noch  vielfache  Rathsel  zu  losen;  hoffentlich  wird 
dies  geschehen  anlasslich  der  Preisaufgabe,  welche  die  Gottinger 
Ges.  d.  W.  im  vorigen  Jahre  iiber  Windek  ausgeschrieben  hat 
(S.  Nachr.  v.  der  Georgia-Augusta  1877,  N.  6.  7.)  Dass  Sigismund 
selbst  auf  die  Abfassung  des  Buches  mittelbar  oder  unmittelbar 
hingewirkt  habe,  stellt  Hr.  L.  entschieden  in  Abrede,  ebenso 
bestreitet  er  Droysens  Ansicht,  die  in  Wien  vorhandene  excer- 
pirte  Handschrift  sei  eine  altere  Recension. 

Als  Grundlage  fur  die  Beurtheilung  des  Buches  sieht  Hr.  L. 
noch  immer  die  jetzt  in  Gotha  befindliche,  von  Ulrich  Aicber 
1461  gefertigte  Abschrift  an;  eine  „wirklich  ungeheuerliche 
Gestart"  aber  kann  er  dem  Werke  mit  Droysen  nicht  zugestehent 
vielmehr  liege  in  dem  Mangel  der  Composition  gerade  das 
Charakteristische  derChroniken  des XV.  Jahrh.,  wie  es  auch  beiEben- 

*)  Droysen  in  seinem  Seminar  schoint  auf  ihre  Bedeutung  hingewieson 
zu  haben,  wenigstens  verdankt  doch  wohl  ihra  eine  Dissertation  ihre  Ent- 
stehung,  die  diesen  Punct  beriihrt :  F.  U.  Lange :  de  imperii  historiis  inde  a 
saec.  XVIII  initio  usque  ad  Pntternm  conscriptis.    Borlin  1868. 

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Lorenz,  Deutscklands  Geschichtsquellen  im  Mittelalter  etc.  95 

dorffer  hervortreto.  Es  sei  ein  grosses  Sammelwerk  und  Bilder- 
buch:  „Urkundenabschriften ,  Zeitungsblatter,  Pamphlete ,  Zeit- 
gedichte  —  d.  h.  der  ganze  Hausrath  eines  erfahrenen,  aufmerk- 
samen  reisenden  Agenten,  der  sich  zur  Ruhe  gesetzt  hat, 
liegt  hier,  in  ungeschicktester  Weise  redigirt  und  mit  Lebens- 
erinnerungen  bei  schlechtem  Gedachtniss  vermischt,  voru.  Fur 
die  Geschichte  des  Zeitungswesens  im  XV.  Jahrh.  sei  Windek 
offenbar  die  hervorragendste  Quelle,  seine  eigene  Schriftstellerei 
aber  sei  derart,  dass  man  nicht  einmal  mit  einiger  Sicherheit 
seine  politische  Gesinnung  erkennen  konne:  Bezolds  Urtheil,  er 
sei  entschieden  kaiserlicb  und  anticlerical  gewesen,  sei  einstweilen 
nicht  geniigend  zu  belegen.  Der  ganze  Charakter  des  „Mainzer 
Borsenspeculanten",  der  bei  dem  Pressburger  Handel  durch  eine 
rSchwindelei"  mit  der  Polizei  in  Conflict  gerathen  sein  werde, 
lasse  gunstige  Vermuthungen  in  keiner  Weise  zu.  —  Die  Haupt- 
arbeit  des  Werkcs  habe  der  in  der  Vorrede  genannte  Heinrich 
von  Niirnberg  gehabt;  der  „Reiche  habe  dem  Armen  wie  so  oft 
sein  Verdienst  entzogen" :  nach  Heinrich  von  Niirnberg  ware  das 
Buch  besser  zu  benennen.  In  manchen  Puncten  wiirde  man 
hiernach  Windek  mit  Londorp  vergleichen  konnen:  wenn  Hr.  L. 
aus  „einem  gewissen  plastischen  Geprage"  der  Capiteliiberschriften 
auf  ein  ursprungliches  „Bilderbuch"  schliessen  will,  scheint  uns 
das  sehr  gewagt:  es  wiirden  sich  dann  wohl  Hdss.  finden,  die 
Raum  fur  die  Bilder  des  Originals  liessen,  wie  das  bei  Hdss., 
deren  Original  mit  Bildern  ausgestattet  war,  vorkommt. 

Charakteristisch  fiir  die  Historiograph ie  des  XV.  Jahrh. 
iiberhaupt  ist  die  Thatsache,  dass  die  erzahlenden  Quellen  iiber 
die  grossen  Instrumenta  publica  (um  diesen  Ausdruck  der  deutschen 
Publicistik  des  XVH.  und  XVIII.  Jahrh.  zu  gebrauchen),  welche 
jene  Zeit  hervorbrachte,  vollstandig  schweigen.  —  Hinsichtlich  der 
Reformatio  Sigismundi  ist  Hr.  L.  durchaus  mit  W.  Bohm  iiber 
die  Autorschaft  Fr.  Reysers  einverstanden. 

§  4  behandelt  die  Quellen  zur  Geschichte  Friedrichs  III., 
fiir  welche  die  rein  erzahlenden  Quellen  fast  gauz  verstummen; 
die  anderen,  wie  z.  B.  die  eigenen  Aufceichnungen  des  Kaisers, 
die  Ordinatio  ingressus  Friderici  III. ,  Enenkels  Beschreibung 
der  Kaiserkronung,  die  des  Johannes  von  Ferrara  von  dem 
Romerzuge  u.  a.,  sind,  wenn  auch  beachtet,  doch  noch  nicht  ge- 
niigend behandelt  und  gewiirdigt  worden. 

Hinsichtlich  Enenkels  vermuthet  Hr.  L. ,  es  liege  uns  sein 
officieller  Bericht  an  die  Landstande  vor.  —  Eingehender  hat  man 
sich  mit  Aeneas  Sylvius  beschiiftigt,  iiber  dessen  Behandlung  an 
dieser  Stelle  der  Geschichtsquellen  Hr.  L.  sich  nicht  zu  entschuldigen 
brauchte1).    Hier  haben  Bayers  neuere  Untersuchungen  (1872)  die 


J)  Man  muss  sich  vielmehr  wundern,  dass  nur  die  Historia  Fr.  III.  er- 
wahnt  ist.  Hr.  Lorenz,  der  die  eigentliche  Aufgabe  des  Historikors  hervor- 
^pheben  nicht  mtide  wird,  wird  doch  die  Bedeutung  dor  Schrift  de  ritu 
situ  etc.  Germaniao  *als  eine  Quelle  von  grosser  Bedeutung  fiir  das  XV.  Jahrh. 
ebenso  anerkennen,  wie  er  es  bei  Rolevinks  dc  laudibus  Westfaliae  ge- 
t^an  (g.  o.  S.  87). 


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96  Lorenz,  Deutschlands  Geschichtsquellen  im  Mittelalter  etc. 

Voigts  fast  durchweg  bestatigt,  und  es  muss  als  sicher  angesehen 
werden,  dass  die  Geschichte  Friedrichs  III.  des  Aeneas  „Denk- 
wiirdigkeiten"  vor  seiner  papstlichen  Periode  sind.  Beziiglich 
der  Quellen  derjenigen  Partien,  die  Aen.  nicht  selbst  miterlebte, 
vermuthet  Hr.  L.,  er  habe  Correspondenzen  benutzt,  die  er  nach- 
traglich  in  der  kaiserlichen  Kanzlei  vorgefunden  babe.  —  Johann 
Hinderbacbs  Fortsetzung  der  Geschichte  Friedrichs  HI  ist  ein 
klaglicher  Versuch  einer  Art  amtlicher  Reichsannalistik,  der  nach 
dem  Tode  Hinderbachs  wieder  einschlief. 

In  §  5  (Politische  Schriften  aus  der  Zeit  des  staatskirch- 
lichen  (sic)  Kampfes)  sind  vorzugsweise  Riezlers  Forschungen 
verwerthet,  die  wir  hier  als  bekannt  voraussetzen  durfen;  in 
einzelnen  Puncten  weicht  Hr.  L.  jedoch  von  ihm  ab.  So  in  der 
Annahme,  Dantes  Monarchia  sei  zur  Zeit  des  Romerzuges  Hein- 
richs  VII.  entstanden :  er  nimmt  mit  Witte  jetzt  an,  dass  sie  vor 
Ostern  1300  schon  bekannt  war.  Auch  bei  dem  Defensor  Pads  findet 
er  die  Einheit  der  Composition  nicht  so  gross  als  Riezler  meint, 
der  hieraus  die  Mitwirkung.  Johannes  v.  Jandun  sehr  redu- 
ciren  wollte :  ebenso  halt  er  die  Zweifel  Riezlers  an  der  Echtheit 
des  dem  Marsilius  zugeschriebenen  tract,  de  jurisd.  imper.  in 
causis  matrimonialibus  fur  nicht  hinlanglich  begriindet,  obwohl 
er  natiirlich  nicht  von  Marsilius  sein  konne ;  endlich  will  er  nicht 
alien  Ausfiibrungen  Riezlers  iiber  Occam  beipflichten,  insbesondere 
nicht  der  Ansicht,  dass  er  erst  1349  gestorben  sei:  wie  es  dann 
zu  erklaren  sei,  dass  der  tractatus  de  electione  Caroli  IV.  von 
Occam  sei,  der  den  Tod  Ludwigs  (1347,  Oct.  11)  erwahnt, 
wahrend  Occam  angeblich  am  10.  April  gestorben  ist,  lasst  Hr.  L 
in  suspenso. 

Von  hohem  Interesse  ist  endlich  der  neu  hinzugekommene 
§  6:  politische  Schriften  zur  Zeit  der  kirchlichen  Reform- 
bestrebungen,  in  dem  auch  die  Hauptschriften  aus  fremden  Litte- 
raturen  besprochen  werden:  wie  die  Heinrichs  von  Langenstein 
(Professor  in  Paris),  Gersons,  Zabarellas,  neben  denen  Konrads 
von  Gelnhausen,  Matthias*  von  Krakow  (dies  war  sein  Familien- 
name),  Nicolaus'  v.  Cues,  Gregor  v.  Heimburgs  u.  a.  In  dem 
Umfange,  in  dem  es  Hr.  L.  thut,  ware  es  freilich  vielleicht  nicht 
nothig  gewesen,  aber  wir  nehmen  die  Uebersicht  iiber  die  Ten- 
denzen  der  gesammten  damaligen  Welt  immerhin  mit  Dank  an. 
Etwas  scharfer  fur  unser  besseres  Verstandniss  hatten  vielleicht 
die  rein  politischen  Anschauungen  der  genannten  Autoren  von 
ihren  kirchenpolitischen  geschieden  werden  konnen,  die  damaJs  freilich 
in  einauder  liefen;  aber  trotz  einzelner  tiich tiger  Schriften  fehlt 
es  hier  doch  noch  an  gemigenden  Vorarbeiten.  Manche  Liicke  hat 
Hr.  L.  wie  in  anderen  Abschnitten ,  so  auch  gerade  in  diesem 
Paragraphen  bezeichnet,  mag  denn  hier  die  Forschung  riistig 
oinsetzen,  um  den  wahrhaften  embarras  de  richesses  zu  be- 
waltigen,  der  in  der  That  hier  vorliegt. 

Berlin.  Edm.  Meyer. 


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XXV. 
Allgemeine  Geschichte  in  Einzeldarstellungen.  Unter  Mitwirkung 
von  A.  Bruckner,   Felix   Dahn,   Joh.   Diimichen,   Bernh.   Erd- 
mannsdorffer,  Theod.  Flathe,  Ludw.  Geiger,   R.  Gosche,    Gust. 
Hertzberg,  Ferd.  Justi,  Friedr.  Kapp,   B.  Kugler,   S.  Lefmann, 
M.  Philippson,   Eberh.   Schrader,   B.   Stade,   A.   Stern,    Otto 
Waltz,  Ed.  Winkelmann  herausgegeben  von  WilbelmOncken. 
1.  Abth.  g.  8.  (80  u.  80  S.)    Berlin  1878.     G.  Grotesche  Ver- 
lagshandlung.     3  M. 
Unter  der  Leitung  von  W.  Oncken  bat  sich  eine  Anzahl  der 
nambafbesten  Historiker  Deutschlands  zur  Herausgabe  einer  all- 
gemeinen  Geschicbte  in   Einzeldarstellungen   in  popularer   Form 
vereinigt.    In  dem  diesem  grossen  Unternehmen  vorau9gescbickten 
Prospecte  heisst  es :    „Unser  Werk  ist  in  Deutschland  das  erste, 
das  es  unternimmt,  die  Geschicbte  der  Welt  in  Einzeldarstellungen 
zu  bebandeln.     Die  Culturvolker  des  Altertbums,  des  Mittelalters 
und  der  Neuzeit  sollen  in  den  Hauptepochen  ihres  geschichtlichen 
Lebens    der   gebildeten   Leserwelt    unserer    Nation    vorgefubrt 
werden.     Nach  jabrelanger  Vorbereitung  ist  es   gelungen,   einen 
Verein  von  Gelebrten  zu  gewinnen,  welche  die  Fahigkeit  bewahrt 
haben,    die   Ergebnisse    eigener    aus    den    Quellen    gescbopfter 
Forschung  in  allgefiaein  fesselnder  und  lebendig  anregender  Weise 
darzustellen.    Nur  durch  einen  Verein  zusammenwirkender  Fach- 
manner  ist  es  moglicb,  jedes  Sondergebiet   der  Allgemeinen  Ge- 
schichte  mit  der   eingehenden   Sachkunde,  welche    die   heutige 
Wissenschaft  verlangt,  zu   behandeln   und   in   der   unabsehbaren 
Fiille,  insbesondere  der  urkundlichen  Ermittelungen,  das  Sichere 
vom  Unsicheren  zu  scheiden."    Es  wird  dann  auf  den  nationalen 
Charakter  und  die  nationale  Bedeutung  des  Werkes  hingewiesen 
und  die  Nation  aufgefordert,  dasselbe  zu  unterstiitzen.     Aus  der 
folgenden  Inhaltsubersicht  ersehen  wir,  dass  von  den  4  Abthei- 
ldDgen,  in  welche  auch  hier  die  gesammte  Weltgeschicbte  getheilt 
ist,  die  erste  die   Geschichte   des   Alterthums   in   6,    die   zweite 
die  Geschichte  des  Mittelalters  in  7,    die   dritte   die   Geschichte 
der  neueren  Zeit  in   8,   die   vierte   die   neueste   Zeit,   hier   vom 
Revolutionszeitalter  an  gerechnet,    in  6   Einzelwerken  behandelt 
enthalten  werden.     Das  Ganze  soil  c.  40   Bande   umfassen,   die- 
selben  sollen  im  Laufe  der  nachsten   6 — 7    Jahre   in  c.  100  Ab- 
theilungen  zum  Preise  von  je   3   Mark   erscheinen.     Alle   sollen 
begleitet  werden  von   einer   nach  wissenschaftlichen  Grundsatzen 
angelegten  culturhistorischen  Illustration.    Ueber  diese  wird  be- 
merkt :  „Dieselbe  wird  eine  grosse  Zahl  von  sorgsamst  mit  strenger 
historiscner  Treue   ausgefiihrten   Holzschnitten   bringen.     Nacb- 
bildungen  von  Architecturen  und  Sculpturen,  Portraits,  Facsimiles, 
Siegel,  Miinzen,  Waffen,  Riistungen,  Werkzeuge,   Costume,  Monu- 
mente,  Bauwerke  und   Grundrisse   von   solchen,   Nachbildungen 
alter  Handschriften  und  Drucke,  Plane  und  Karten  von  Stadten, 
Landern  und  Schlachten,  die  Einrichtung  des  Hauses  aller  Zeiten, 
kurz,  historische  und  kunsthistorische  Objecte  sollen   so   in   der 

Mlttheilungen  a.  d.  hUtor.  Lltt«ratur.    V1L  7 


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98  AHgemeine  Geschichte  in  Einzeldarstcllungen  I. 

Illustration  vertreten  sein,  class  sie  den  Zweck  des  darstellenden 
Wortes,  dem  Leser  ein  hochst  anschauliches,  charakteristisches 
Bild  auch  von  den  Culturzustanden  aller  Epochen,  von  hervor- 
ragenden  Personlichkeiten  u.  s.  w.  zu  entwerfen,  mit  bestem  Er- 
folge  unter8tiitzt.u 

So  der  Prospect.  Die  vorliegende  erste  Abtheilung  soil 
gleichsam  als  Probe  dienen,  sie  soil  zeigen,  in  wie  weit  das  dort 
Zugesagte  wirklich  ausgefiihrt  wird,  daher  bringt  sie  ausnahms- 
weise  gleichzeitig  die  Anfange  von  zwei  Werken,  von  der  Geschichte 
des  alten  Aegyptens  von  Dr.  Joh.  Diimichen  und  der  Geschichte 
des  alten  Persiens  von  Dr.  Ferd.  Justi. 

Was  die  erste  Arbeit  anbetrifft,  so  muss  zugestanden  werden, 
dass  sie  diejenigen  beiden  Vorziige  besitzt,  welche  fur  das  ganze 
Werk  in  Anspruch  genommen  werden.  Sie  beruht  auf  einem 
umfassenden  Quellenstudium,  gepaart  mit  einer  genauen  Kennt- 
niss  des  Landes  und  seiner  Denkmaler,  ferner  ist  die  Darstellung 
lebendig  und,  abgesehen  von  einigen  stylistischen  Eigenheiten, 
welche  nicht  Jedermann  zusagen  werden,  ansprechend  und  ge- 
fallig.  Aber  sie  leidet  an  einem,  wie  uns  diinkt,  sehr  erheblichen 
Fehler,  an  einer  iibergrossen  Breite  und  Weitlaufigkeit.  Der 
vorliegende  Theil,  80  Seiten,  enthalt  nur  den  Anfang  der  Ein- 
leitung,  diese  wird,  wenn  sie  in  derselben  Weise  fortgesetzt  wird, 
gewiss  noch  2  voile  Abtheilungen  in  Anspruch  nehmen,  dann  erst 
wird  die  eigentliche  Geschichte  anfangen,  es  lasst  sich  erwarten, 
dass  das  ganze  Werk  einen  ahnlichen  Umfang  haben  wird,  wie 
Brugsch's  Geschichte  Aegyptens  unter  den  Pharaonen.  Ent- 
spricht  aber  eine  so  voluminose  Arbeit  dem  Zwecke  dieses  Unter- 
nehmens?  Dasselbe  soil  nicht  nur  den  Fachgenossen  dieneo, 
im  Gegentheil,  es  wendet  sich  an  die  Nation  und  nimmt  deren 
Unterstiitzung  in  Anspruch,  d.  h.  es  ist  vorzugsweise  fur  gebildete 
Laien  bestimmt,  wiinscht  von  diesen  gekauft  und  gelesen  zu 
werden.  Von  solchen  aber  ist  nicht  zu  verlangen,  dass  sie 
sich  durch  ein  so  dickes  Buch  durcharbeiten  und  dass  sie  aus 
der  unendlichen  Fiille  des  hier  Gebotenen  sich  selbst  erst  das 
fur  sie  Brauchbare  aussuchen  sollen. 

Ein  erstes  recht  hiibsches  Capitel  behandelt  das  Volk  der 
alten  Aegypter,  ihr  Land  und  den  Nil,  als  den  Erzeuger  desselben 
und  seines  Culturlebens.  Der  Verf.  fuhrt  zunachst  die  Yorstel- 
lungen  an,  welche  die  alten  Aegypter  selbst  von  dem  Ursprunge 
des  Stromes  gehabt  haben,  sodann  die  Kunde,  welche  sich  in 
dem  spateren  Alterthum  dariiber  entwickelt  hat,  er  zeigt,  daw 
die  Angaben  des  Ptolemaeos  der  Wirklichkeit  schon  sehr  nahe 
kommen.  Er  schildert  dann,  z.  Th.  eine  Darstellung  Schwein- 
fdrt's  wiederholend,  den  Lauf  des  Nil  und  die  Beschaffenheit  seines 
Thales,  er  weist  endlich  auf  den  Einfluss  hin,  welchen  das  Land 
und  namentlich  der  Nil  selbst  auf  die  friihe  und  reiche  Ent- 
wickelung  der  Cultur  der  Aegypter  ausgeiibt  hat.  Das  zweite 
Capitel,  von  welchem  hier  erst  der  Anfang  erschienen  ist,  fuhrt 
die  Ueberschrift :  Die  alte  geographische  Eintheilung  des  Landes. 

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Allgemeine  Geschichte  in  Einzeldarstelltmgen  I.  99 

Dasselbe  enthalt  allerdings  eine  Fiille  von  Angaben,  welche  fiir 
den,  der  sich  ganz  speciell  fur  die  agyptische  Geschichte  inter- 
essirt,  sehr  interessant  und  lehrreich  sein  werden,  in  diesem  Zu- 
sammenhange  aber,  in  einem  popular  sein  sollenden  Werke, 
erscheint  uns  eine  so  breite  und  ausfuhrliche ,  noch  dazu  mit 
allerhand  Digressionen  beschwerte  topographische  Beschreibung 
sehr  verfehlt.  Der  Verf.  befcpricht  zunachst  die  Hauptquellen 
fiir  die  alte  Geographie  von  Aegypten,  die  geographischen  In- 
schriften,  welche  sich  an  den  nnteren  Theilen  der  Mauern  zahl- 
reicher  agyptischer  Tempel  finden,  und  welche  uns  nicht  nur  die 
einzelnen  Gaue,  in  welche  das  Land  getheilt  war,  sondern  auch 
die  Hauptstadte,  Hauptheiligthiimer,  Canale  u.  s.  w.  derselben 
yorfiihren,  und  er  beginnt  dann  eine  Schilderung  dieser  einzelnen 
Gaue,  deren  Zahl  von  35  bis  47  wechselt.  Auf  das  speciellste 
werden  innerhalb  derselben  alle  einst  und  jetzt  vorhandenen 
wichtigeren  Ortschaften  und  ihre  Denkmaler  besprochen.  Die 
Schilderung  beginnt  mit  dem  Suden,  mit  Oberagypten.  In  dem 
ersten,  dem  nubischen  Gaue,  Ta-Chont,  bieten  namentlich  die 
Nilinseln  Philae,  Senem  und  Elephantine,  dann  Syene,  Nubi  (Ombos) 
und  Chenu  Gelegenheit  zu  ausfuhrlicheren  Erorterungen,  in  dem 
zweiten,  Tes-Hor,  die  Hauptstadt  Tebu  (Apollinopolis),  das  heutige 
Edfu,  mit  seinem  beriihmten  Tempel  des  Horus,  in  dem  dritten, 
Ten,  die  beiden  Hauptstadte  Seni  (Latopolis)  und  Necheb 
(Eileithyiopolis).  Inmitten  der  Schilderung  des  vierten  Gaues, 
Us,  und  der  Hauptstadt  desselben  Theben  (der  Name  wird  nach 
Lepsius  von  dem  agyptischen  Ta-apiu,  Stadt  der  Throne,  eigent- 
lich  nur  der  ostliche  Stadttheil,  abgeleitet),  gerade  in  der  Be- 
sprechung  der  Denkmaler  von  Karnak  bricht  die  Darstellung  ab. 

Ganz  vortreff lich  sind  die  IUustrationen,  fiir  welche  ja  gerade 
die  agyptische  Geschichte  ein  besonders  reiches  Material  dar- 
bietet.  Von  den  in  den  Text  gedruckten  Holzschnitten  fiihrt 
uns  zunachst  eine  Reihe  Landschaftsbilder  aus  den  verschiedenen 
Theilen  des  NilthaJes  von  den  Katarakten  bis  zum  Delta  vor, 
andere  verschiedene  Denkmaler,  insbesondere  sind  den  Tempeln 
von  Edfu  und  Karnak  mehrere  Abbildungen  gewidmet.  Dazu 
kommen  drei  Vollbilder :  eine  farbig  ausgefiihrte  Darstellung  des 
Todtengerichtes  vor  dem  Gotte  Osiris  aus  einem  jetzt  im 
Berliner  Museum  befindlichen  Exemplare  des  Todtenbuches,  eine 
Abbildung  von  Wandgemalden  in  einem  Grabe  zu  Eileithyia  und 
eine  Darstellung  des  Felsentempels  von  Abu-Simbel.  Als  weitere 
Beilagen  sind  zwei  Karten  hinzugefugt,  eine  Uebersichtskarte 
des  gesammten  Stromgebietes  des  Nil  und  eine  Speciaikarte  des 
ersten  und  zweiten  oberagyptischen  Gaues,  endlich  das  Facsimile 
eines  altagyptischen  Brief es  aus  dem  14.  Jahrhundert  v.  Chr. 

Den  zweiten  Theil  dieser  ersten  Abtheilung  bildet  der  An- 
fang,  ebenfalls  die  ersten  80  Seiten  von  Justus  Geschichte  des 
alten  Persiens.  Auch  diese  Arbeit  beruht  auf  dem  griindlichsten 
Studium  und  auch  hier  zeigt  sich  der  Verf.  mit  dem  Lande, 
dessen  Geschichte  er  schreibt,  wohl   vertraut.     Die  Darstellung 

7* 

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100  Programmenschau  1878. 

ist  etwas  trocken,  sie  ist  aber  keineswegs  zu  ausfuhrlich,  sondern 
fiihrt  in  verstandiger  Auswahl  nur  die  wichtigeren  Punkte  vor. 
In  einem  ersten  Capitel  werden  die  ethnographischen  Verhaltnioe 
Irans  in  der  altesten  Zeit,  der  Gegensatz  scythischer  und  arisqher 
Volker,  besprochen  und  dann  eine  Uebersicht  der  medischen,  als 
der  Vorgeschicbte  der  persischen  Geschichte  gegeben,  auch  hier 
werden  die  erhaltenen  Denkmale  beriicksichtigt,  ferner  werden 
ebenso  wie  auch  nachher  in  dem  folgenden  Abschnitte  kuree 
Ueber8ichten  iiber  die  ethnographischen,  politischen  und  Cultur- 
verhaltnisse  der  verschiedenen  anderen  Volker,  welche  erst  dem 
medischen,  dann  dem  persischen  Reiche  einverleibt  werden,  ein- 
geschaltet.  Der  zweite  Abschnitt  behandelt  die  Geschichte  der 
Achameniden,  hier  zunachst  die  des  Kyros,  des  Kambyses  und 
den  Anfang  der  Geschichte  Darius  I.  Neben  der  griechischen 
Ueberlieferung,  aus  welcher  die  sagenhaften  Elemente  ausge- 
schieden  sind,  verwerthet  der  Verf.  auch  die  einheimische 
iranische  Sage,  welche  im  Avesta  und  in  dem  von  Firdusi  be- 
arbeiteten  Konigsbuch  erhalten  ist,  sowie  insbesondere  die  in- 
schriftlichen  Denkmaier.  Die  Geschichte  des  Darius  bietet  auch 
Gelegenheit  zu  ausfiihrlicheren  Darstellungen  einmal  der  inneren 
Organisation  des  persischen  Reiches,  andererseits  des  durch 
Zoroaster  wahrscheinlich  zur  Zeit  dieses  Konigs  reformirten 
Religionswesens,  inmitten  dieser  letzteren  Schilderung  bricht  die 
Darstellung  ab. 

Die  altere  persische  Geschichte  bietet  keineswegs  ein  so 
reiches  Material  fur  Illustrationen  wie  die  agyptische,  doch  fehlt 
es  auch  hier  an  solchen  nicht.  Dieselben  fiihren  uns  einmal  die 
wenigen  Ueberreste  der  alteren  persischen  Kunst  (das  Grab  des 
Kyros  und  andere  Denkmale  zu  Pasargada,  das "  Relief  bild  von 
Bisutun,  eine  Portratdarstellung  des  Darius  an  dem  von  ihm 
hergestellten  Canale  vom  Nil  in's  rothe  Meer,  ferner  Miinzen  und 
Cultusgegenstande),  daneben  aber  auch  Denkmaier  der  Kunst- 
thatigkeit  anderer,  dem  persischen  Reiche  unterworfener  Volker, 
namentlich  der  Lykier,  vor.  Von  den  beiden  Vollbildern  steDt 
das  eine  ein  Felsengrab  in  Myra  in  Lykien,  das  andere  das 
Reliefbild  des  mit  dem  ahrimanischen  Thiere  kampfenden  Konigs 
von  dem  Palaste  des  Darius  in  Persepolis  dar. 

Berlin.  F.  Hirsch. 

XXVI. 

Programmenschau  1878. 
Alterthum. 

1)  Hohere  Biirgerschule  zu  Langensalza. 
Rottsahl:  Die  Expedition  der  Ath.ener  nacb 
Sicilien  in  don  Jahren415 — 413  v.  Chr.  EinStiick 
athenischer  Geschichte.     Erste  Abtheilung. 

Die  Arbeit  bespricht  in  der  Einleitung  die  Einmischnng 
in  die  sicilischen  Wirren,  welche  von  Athen  aus  vor  der  Expedition 

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Programmenschau  1878.  J01 

versucht  wurde,  um  in  Sicilian  festen  Fuss  zu  fassen,  dann  wird 
der  erste  Theil  der  grossen  Expedition  behandelt.  Der  Verf. 
benutzt  Thucydides,  Diodor,  Curtius,  Grote  und  Holm,  ohne  jedoch 
neue  Kesultate  zu  gewinnen. 

2)  An  diese  Arbeit  schliesst  sich  diejenige  an,  welche  in 
dem  Frogramm  von  Cassel  1877/78  enthalten  ist.  In 
ihm  schreibt  der  Oberlehrer  Julius  Riedel  de  Her- 
mocratis  Syracusani  vita  ac  moribus.  Die  Abhand- 
lung,  in  gewandtem  Latein  verfasst,  wird  gut  eingeleitet  durch 
das  Horazische: 

justum  ac  tenacem  propositi  virum  etc. 

Zuerst  erzahlt  der  Verf.  das  Leben  des  Hermocrates.  Man 
kennt  weder  sein  Geburtsjahr  noch  den  Namen  seiner  Mutter, 
auch  von  seiner  Jugend  weiss  man  so  gut  wie  Nichts.  Dann 
behandelt  der  Verf.  die  Thatigkeit  des  patriotischen  Mannes  im 
peloponnesischen  Kriege  und  erzahlt  dabei  wohl  etwas  zu  weit- 
laufig  die  Vorgange  in  demselben.  Wir  horen  von  seiner  Theil- 
nahme  an  den  Ereignissen  des  Jahres  415,  412,  411,  410,  in 
welchem  Jahre  er  aus  seiner  Vaterstadt  verbannt  wurde,  wahrend 
er  noch  im  Felde  stand.  Er  begab  sich  zum  Pharnabazus.  Als 
er  Syracus  zu  iiberrumpeln  versuchte,  wurde  er  bei  diesem 
Unternehmen  im^J.  408  getodtet 

Die  Arbeit  ist  weniger  eine  kritische  Untersuchung  als  eine 
laudatio  des  Hermocrates. 

3)  Friedrich- Wilhelms-Gymnasium  zu  Coin. 
Ostern  1878.  M.  Atilius  Regulus.  Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  des  Volkerrechtes  von  Director 
Dr.  Oscar  Jager. 

Der~bekannte  Bearbeiter  der  romischen  und  griechischen 
Geschichte  behandelt  hier  die  viel  besprochene  Frage  nach  dem 
Ausgange  des  Regulus  und  kommt  dabei  zu  folgendem,  wie  es 
scheint,  unumstosslichen  Resultate: 

Der  alteste  auf  das  Problem  beziigliche  ist  der  Bericht 
Diodor  24  fr.  19  und  stammt  aus  Philinos.  Was  Polybius  sagt, 
hat  er  ebenfalls  aus  Philinos  geschopft.  Dieser  ist  mithin  eine 
sehr  beachtenswerthe  Quelle.  Jener  Bericht  Diodor  24,19  bildet 
den  Ausgangspunct  fur  die  Feststellung  der  Thatsachen.  Es  hat 
eine  Misshandlung  der  carthagischen  Geiseln  durch  die  Familie 
des  Regulus  nach  dem  Ableben  des  Letzteren  stattgefunden. 
Deswegen  wurde  gegen  die  Atilier  vom  Senate  eingeschritten. 
Der  Tod  des  Regulus  war  ein  naturlicher,  bei  dem  Alles  mit 
rechten  Dingen  zugegangen  ist.  Der  Tod  erfolgte  friihestens  im 
J-  250,  spatestens  im  J.  247.  *  Unzweifelhaft  fest  steht  es,  dass 
die  Carthager  vorher  eine  Friedensbotschaft  nach  Rom  geschickt 
h&ben,  dass  bei  dieser  sich  Regulus  befunden  und  gegen  die 
Auswechselung  der  Gefangenen  gesprochen  hat.  Gewahrsmann 
dafur  ist  Tuditanus.  Das  Gerucht  von  einem  gewaltsamen  Tode 
des  Regulus  entstand  schon  friihe  und  lebte  dann  wieder  auf,  als 
*n  den  spateren  punischen  Kriegen   der  Hass  zwischen  Rom  und 


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102  ProgTammen8chau  1878. 

Carthago  so  heftig  entbrannte.  Die  erste  Spur  dieses  Geriichtes  findet 
sich  bei  Tuditanus  und  wird  durch  die  Rhetorenschulen  vergrossert 

4)  Gymnasium  z ti Brie g.  DieHeeresverpflegung 
derRomerimletztenJahrhundert  derRepublik 
1.  Theil  von  Dr.  Arnold  La  n  gen. 

Der  Verf.  weist  zuerst  nacli,  warum  er  gerade  diese  Zeit 
bebandelt  hat.  Die  ersten  Zeiten  der  Republik  hat  namlich 
Zander,  die  Kaiserzeit  Sonklar  nach  dieser  Richtung  hin  bearbeitet 

Die  romischen  Soldaten  erhielten  Getreide  und  zwar  Weizen 
und  Gerste  in  natura.  Der  einzelne  Mann  bekam  fur  den  Monat  */t 
preussische  Scheffel.  Diese  Ration  wurde  nicht  auf  einmal,  auch 
nicht  taglich,  sondern  fur  17  Tage  gegeben.  Eins  bleibt  dabei 
unklar,  wie  es  moglich  gewesen  ist,  dass  der  schon  so  schwer  belastete 
romische  Soldat  im  Felde  noch  fur  17  Tage  Proviant  hat  tragen 
konnen.  Um  das  Getreide  im  Felde  zuzubereiten  dienten  Hand- 
miihlen,  die  auf  Pferden  mitgefuhrt  wurden.  Wahrscheinlich  srod 
auchFleischportionen,  aber  nicht  so  regelmassig,  verabreichtworden. 

Getrank  wurde  nicht  geliefert,  wohl  aber  Salz.  — 

Da  die  Truppen  sehr  selten  einquartiert  und  somit  selten 
von  den  Einwohnern  direct  bekostigt  wurden,  so  musste  man  die 
Verpflegung  entweder  aus  den  stabilen  Magazinen  besorgen  odcr 
aus  solchen,  die  ad  hoc  angelegt  waren.  Konnte  man  das  nicht, 
dann  halfen  Fouragierungen  und  Requisitionen.  Die  Details 
konnen  hier  selbstverstandlich  nicht  besprochen  werden,  das 
hiesse,  die  Abhandlung  selbst  mittheilen. . 

5)  Ein  viel  behandeltes  Thema  wird  von  Neuem  besprochen 
in  der  wissenschaftlichen  Beilage  des  Programms  von 
Paderborn  vom  Jahre  18781),  namlich: 

Die  Gegend  der  Varus-Schlacht  nach  den 
Quellen  und  Lokalforschungen  von  F.  Hiilsen- 
beck.     Oberlehrer.     Paderborn  1878. 

Die  Arbeit  beschaftigt  sich  sehr  eingehend  mit  der  Sache. 
Der  Verf.  untersucht  zuerst,  wie  er  es  nennt,  „die  Zuglinie  des 
Varus"  und  entscheidet  sich  in  §  7  S.  21  dahin,  dass  sie  auf 
der  Siidseite  der  Lippe  gesucht  werden  miisse.  Dann  kommt 
er  in  §  8  zu  dem  ResiUtate,  dass  Varus  am  Fusse  des  Haar  seinen 
Untergang  gefunden  habe  und  zwar  (§  9)  im  Thale  der  Wester, 
die  bei  Beleke  in  die  Mohne  miindet.  Dort  nimmt  er  als 
Schlachtort  die  Gegend  des  sogenannten  Judenkirchhofes  an.  (S.  25.) 

6)  Dresden.  Gymnasium  zum  heiligen  Kreuz. 
Ostern  1878.  Dr.  Fr.  Grundt:  Kaise  rin  Helena's 
Pilgerfahrt  nach  dem  heiligen  Lande. 

Die  Pilgerfahrt  der  Kai6erin  ist  durch  die  Sage  sehr  aus- 
geschmiickt  worden.     Wir  konnen  nicht   mit   voller   Sicherheit 


x)  Wenn  wir  dies  hier  so  hinstellen,  so  bitten  wir  um  Entschuldignngj 
falls  wir  irren  sollteu.  Auf  der  Abhandlung  steht  weder  die  Nummer  des 
Programms  noch  die  Notiz,  dass  es  eine  wissenschaftliche  Beilage  ist,  wir 
haben  das  nur  daraus  geschlossen,  dass  dioselbe  una  mit  Shnlichen  Arbeiten 
zugekommen  ist. 


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Kiepert,  Lehrbuch  der  alten  Goographie.  103 

nachweisen,  auf  welchem  Wege  sie  durch  das   heilige   Land  ge- 
zogen  ist ;  es  scheint,  als  sei  sie  vom  Sinai  iiber  Jerusalem  durch 
Samaria  und  Galilaea  bis  nach  Damascus  gekommen;   doch   ist 
das  sehr  fraglich.     Wahrscheinlich  reiste  sie  im  J.  326  und  327. 
Die  Kirche  iiber  dem  heiligen  Grabe  in  Jerusalem   hat   sie 
wohl  nicht,  sondern  Constantin  erbaut;    wer   die   in   Bethlehem 
mid  auf  Golgatha  errichtet  hat,  ob  sie,  ob  Constantin,  ist  frag- 
lich.   Es  lasst  sich  von  alle  dem,  was  ihr  die   Sage   zuschreibt, 
namlich  die  Erbauung  anderer  Kirchen  und  die  Auffindung   von 
Reliquien,  Nichts  mit  Sicherheit  als  ihr  zukommend  nachweisen. 
7)    Evangelisches    Gymnasium    Gross-Glogau. 
Ostern  1878.     Die   Quellen   des    Cornelius   Nepos 
zur     Griechischen    Geschichte     (Miltiades     bis 
Alcibiades  inclus.)     von  Dr.  Gothe. 
Zunachst  bespricht  der   Verf.    den  historischen   Werth  der 
Schriften  des  Cornel,  dann  die  Art,  wie  er  gearbeitet  hat.     Er 
giebt  an,  dass  er  meist  nur  einen  Schriftsteller  excerpierte. 
Das  Resultat  der  Untersuchung  ist  folgendes:   Fiir 

Pausanias      1  ^enu^zte  Cornel  den  Ephorus  und  Thucydides, 
fur  Miltiades 

Aristides        [den  Ephorus 
Lysander 
und  fur  Cimon 

Alcibiades 
Berlin.  Foss. 


!■ 

}  den  Theopomp. 


XXVIL 
Kiepert,  Heinrich.     Lehrbuch  der  alten  Geographic,    gr.  8. 

(XVI,  544  S.)  Berlin  1878.  Dietrich  Reimer.  6  M. 
Das  vorliegende  Werk  wird  nicht  nur  in  den  Kreisen  der 
akademischen  Jugend,  fur  welche  es  zunachst  bestimmt  ist, 
sondern  bei  alien  denen,  welche  sich  entweder  im  Allgemeinen 
iiber  alte  Geographic  unterrichten  oder  iiber  Einzelnheiten  Be- 
lehrung  suchen  wollen,  Beifall  und  Dank  erndten.  Auf  der  um- 
fassendsten  Kenntniss  beruhend,  iiberall  mit  besonnener  Kritik 
die  Resultate  der  neueren  Forschungen  verwerthend,  iibersicht- 
lich  geordnet,  in  knapper  und  doch  klarer  Darstellung  alles 
Wesentliche  darbietend,  fullt  dasselbe  in  erwiinschtester  Weise 
eine  Liicke  aus,  welche  bisher  nicht  nur  in  unserer  deutschen 
philologisch-historischen  Litteratur,  sondern  in  der  Alterthums- 
wi8senschaft  iiberhaupt  schmerzlich  genug  empfiinden  worden 
^ar.  Kein  Wunder  daher,  wenn  schon  von  verschiedehen  Seiten 
her  der  Wunsch  geaussert  worden  ist,  dass  dasselbe  durch 
Uebersetzungen  auch  den  gelehrten  Kreisen  anderer  Nationen 
zuganglich  gemacht  werden-  moge.  Es  kann  nicht  Aufgabe  dieser 
Zeitschrift  sein,  genauer   im   Einzelnen   den  reichen   Inhalt   des 

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104  Kiepert,  Lehrbuch  der  alten  Geographie 

Werkes  darzulegen,  sondern  wir  beschranken   uns   darauf,   kurz 
Gang  und  Art  der  Darstellung  zu  schildern. 

Was  den  ersteren  anbetriiFt,  so  ist  er  im  Wesentlichen  dem- 
jenigen  gleich,  welchen  der  Verf.  in  der  Einleitung  zu  seinem 
Schulatlas  der  alten  Welt,  einer  kurzen  Skizze,  welche  gleich- 
sam  als  der  Eeim  dieser  grosseren  Arbeit  angesehen  werden 
kann,  eingeschlagen  hat.  Das  ganze  Werk  ist  in  12  grosse  Ab- 
scbnitte  gesondert.  Die  3  ersten  sind  einleitender  Art.  Der 
erste:  „Quellenkunde",  giebt  eine  Uebersicht  dessen,  was  wir 
von  geographiscber  Kunde  den  verschiedenen  Volkern  des  Alter- 
thums  verdanken.  Er  beginnt  mit  einem  ganz  kurzen  Ueberblick 
iiber  die  orientalischen  Volker,  behandelt  dann  eingehend  die 
Leistungen  der  Griechen,  schildert  darauf  den  sehr  geringen 
Antheil  der  Homer  und  bespricht  zuletzt  die  compendiarischen 
Werke  aus  dem  spateren  Alterthum  (Pomponius  Mela,  Plinius 
und  das  Kartenwerk  des  Ptolemaeos),  aus  denen  wir,  da  die 
alteren  Quellen  meist  verloren  sind,  den  grosseren  Tbeil  unsrer 
Kenntniss  scbopfen  miissen.  Der  zweite  Abscbnitt:  „Ethno- 
graphische  Uebersicht",  berichtet  zunachst  iiber  die  hochst  un- 
gemigenden  ethnographischen  Vorstellungen  der  AJten  selbst  und 
giebt  dann  auf  Grund  der  Resultate  der  heutigen  Wissenschaft 
eine  Classification  der  im  Alterthum  in  den  Kreis  der  Geschichte 
eingetretenen  Volker.  Der  dritte  Abschnitt:  „Erdtheile  und 
Meere",  fiihrt  uns  historisch  die  allmahlich  fortschreitende  Ein- 
theilung  der  den  Alten  bekannt  gewordenen  Land-  und  Wasser- 
massen.  vor.  Mit  dem  vierten  Abschnitte  beginnt  die  specielle 
Darstellung  der  einzelnen  Lander.  Der  Verf.  hat  selbst  in  der 
Vorrede  bemerkt,  dass,  da  der  Druck  schon  vor  der  Vollendung 
der  Arbeit  begonnen  habe,  die  Vertheilung  des  Stoffes  eine  nicht 
ganz  gleichmassige  geworden  sei,  dass  namentlich  gegeniiber  der 
ausfiihrlicheren  Darstellung  Europas  manche  Partien  Asiens  und 
Africas  vielleicht  zu  kurz  erscheinen  mochten,  er  hat  aber  schon 
selbst  darauf  hingewiesen,  dass  in  einer  neuen  Auflage,  deren 
Erscheinen  wohl  in  nicht  allzulanger  Frist  erwartet  werden  darf, 
eine  Ausgleichung  werde  erreicht  werden  konnen,  auch  manche 
Berichtigungen  im  Einzelnen  stellt  er  dort  in  Aussicht  und  schon 
hier  sind  (S.  VIII)  einige  solche  zu  den  ersten  Abschnitten  ver- 
zeichnet  worden.  Bei  der  Darstellung  der  einzelnen  Lander  ver- 
fahrt  der  Verf.  so,  dass  er  zunachst  kurz  die  physischen,  darauf  die 
ethnographischen  und  politischen  Verhaltnisse  derselben  schildert 
und  dann  die  specielle  Beschreibung  der  einzelnen  Landestheile 
folgen  lasst.  Manche  Einzelnheiten,  welche  im  Text  nicht  an- 
gefuhrt  sind,  werden  in  den  erlauternden  Anmerkungen  beruck- 
sichtigt.  Auf  eine  detaillirte  Schilderung  der  Topographie  ein- 
zelner  Orte  hat  der  Verf.  verzichtet,  selbst  Athen  und  Rom 
werden  verhaltnissmassig  nur  kurz  behandelt.  Aus  der  neueren 
Litteratur  werden  in  den  einzelnen  Abschnitten  die  bedeutenderen 
Werke  angefiihrt,  dagegen  wird  auf  einzelne  Controversen  nicht 
eingegangen. 

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Schrader,  Keilinschriften  mid  Gescbichtaforschung.  105 

Die  specielle  Darstellung  beginnt  mit  Asien,  welchem  Erd- 
theile  die  Abschnitte  4 — 7  gewidmet  sind.  Der  vierte  behandelt 
Ost-Asien,  zunachst  recht  eingehend  Vorderindien ,  dann  ganz 
kurz  diejenigen  Lander,  von  denen  die  Alten  ja  nur  selir  diirf- 
tige  und  dunkle  Kunde  gehabt  haben:  die  hinterindische  Halb- 
insel,  Sinae  und  Serika  (das  siidlicbe  und  nordliche  China)  und 
Skythia  (Centralasien).  Im  fiinften  Abschnitt  wird  Vorder- Asien, 
und  zwar  der  ostliche  Theil  desselben  Ariana  (Iran)  durchge- 
nommen,  im  sechsten  Armenien,  die  Kaukasischen  Lander  und 
Klein-Asien,  im  siebenten  das  sudliche  oder  semitische  Vorder- 
asien:  die  Euphrat-Tigrislandschaften,  Syrien  und  Arabien.  Der 
achte  Abschnitt  behandelt  die  den  Alten  bekannten  Theile  yon 
Africa:  Aegypten,  Aethiopien  am  Nil,  das  eigentliche  Libyen,  das 
phonikische  Africa  (die  Nordkiiste  von  den  Syrten  bis  Mauretania), 
endlich  das  westliche  Aethiopien.  Die  zweite,  grossere  Halfte 
des  Bandes  ist  Europa  gewidmet,  hier  behandelt  der  neunte 
grosse  Abschnitt  Griechenland,  der  zehnte  Mittel-  und  Osteuropa, 
die  thrakischen,  nordpontischen  und  illyrischen  Lander,  der  elfte 
Italien,  der  zwolfte  West-  und  Nordeuropa,  Hispania,  Gallia, 
Britannia,  Germania,  endlich  das  wenige,  was  die  Alten  von  den 
Volkern  im  aussersten  Norden  und  Osten,  den  Veneden  (Slaven), 
Aestuern  (Preussen),  den  Finnen  und  Skandinaviern  gewusst 
haben. 

Seine  urspriingliche  Absicht,  hinten  ein  alphabetisches  Namen- 
register  hinzuzulugen,  hat  der  Verf.  nicht  ausgefiihrt,  wie  er  in 
der  Vorrede  anfuhrt,  weil  ein  solches  noch  zwei  ganze  Bogen 
angefullt  haben  wiirde.  Trotz  seiner  weiteren  rechtfertigenden  Be- 
merkungen  dariiber  vermissen  wir  doch  ein  solches  in  diesem 
Werke,  das  doch  auch  namentlich  als  Nachschlagebuch  wird  zu 
dienen  haben,  sehr  schmerzlich  und  konnen  auch  das  ausfiihr- 
liche  Inhaltsverzeichniss  vorne  nicht  als  einen  geniigenden  Ersatz 
ansehen.  HoflFentlich  wird  eine  neue  Auflage  auch  diese  Er- 
^mzung  bringen.  Mit  Freuden  werden  wir  auch  das  Erscheinen 
eines  kurzen  Leitfadens  fur  Schiiler  begriissen,  mit  dessen  Ab- 
&ssung  der  Verf.,  wie  er  hier  bemerkt,  schon  beschaftigt  ist. 

Berlin.  F.  Hirsch. 


XXVHI. 
Schrader,  Eberhard.    Keilinschriften  und  Geschichtsforschunfl. 

EinBeitrag  zur  monumentalen  Geographiei  Geschichte  und  Chro- 

nologie  der  Assyrer.     Mit   1    Karte.     gr.   8.     (VIII,   555   S.) 

Giessen  1878.     J.  Ricker.     14  M. 

Vorliegende  Arbeit   des   beriihmten   deutschen   Assyriologen 

ist  die  Antwort  auf  das  1876  erschienene  Buch:    Neue  Beitrage 

zur  Geschichte  des  alten  Orients,  Die  Assyriologie  in  Deutschland 

*on  A.  von  Gutschmid,  Leipzig,  in  welchem  dieser   scharfsinnige 

Kritiker  vornehmlich  sich  gegen  Schrader  und  die  von  ihm  ver- 

tretenen  Aufstellungen  gewendet  und  iiberhaupt  gegen   die  Ver- 

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106  Schrader,  Keilinschriften  und  Geschichtsforschung. 

wendung  der  ausserst  unsichern  Ergebnisse  der  Assyriologie  durch 
den  Hi8toriker  auf  Kosten  anderer  uns  uberkommener  Geschiclits- 
quellen  protestirt  hatte.  Schr.  erortert  in  dieser  Antwort  auf 
G.'s  Buch  auf's  Sorgfaltigste  die  einzelnen  Angriffe  und  Aulrtel- 
lungen  desselben.  Er  untersucht  zunachst  in  einem  ersten  aUgemri- 
nen  Theil,  nach  einem  Blick  auf  die  Moglichkeit  der  Entzifferung 
assyrischer  Inschriften  uberhaupt,  den  schon  jetzt  erreichbaren 
bezw.  erreichten  Grad  ihrer  Zuverlassigkeit  und  die  demgemisse 
Verwendbarkeit  der  Ergebnisse  seitens  des  Historikers,  und  zwar 
behandelt  er:  die  Hilfsmittel  der  Entzifferung,  das  Wesen  der 
assyrischen  Keilschrift,  die  Scbreibfehler  in  den  Inschriften,  den 
Ursprung  der  Keilschrift  und  des  Pahlavi,  die  Frage,  ob  das 
Assyrische  eine  absterbende  Sprache  war,  die  Brauchbarkeit  der 
Entzifferungen  im  Allgemeinen ,  die  Controlle  derselben  und 
schliesslich  die  Gotter-,  Personen-,  geographischen  Namen  raid 
die  geschichtlichen  Ergebnisse.  Im  zweiten  speciellen  Theil 
bespricht  Schr.  die  wichtigsten  der  von  G.  in  Discussion  ge- 
zogenen  Detailfragen  und  zwar  zunachst  eine  grosse  Reihe  geo- 
graphischer  Fragen,  Schr.  priift  auf's  Eingehendste  G/s  Gr^en- 
griinde  und  dessen  positive  Aufstellungen  und  ohne  Zweifel  ist 
08  ihm  an  vielen  Stellen  gelungen,  die  ihm  vorgehalteDea 
Schwierigkeiten  zu  beseitigen  und  G.'s  Aufstellungen  als  munog- 
lich  darzuthun,  doch  das  liegt  ausser  dem  Bereich  dieser  Zeit- 
schrift,  wir  haben  es  heute  nur  mit  dem  historischen  Theil  you 
Sch.'s  Buch  zu  thun,  dem  Niemand  ein  ernsteres  Studium  widmen 
wird,  ohne  mannigfache  Belehrung  zu  empfangen.  Schr.  behandelt 
zunachst 

1)  die  assyrischen  Eponymenlisten,  deren  Bedeutung^fiir  die 
Chronologie  schon  friih  erkannt  wurde.  Diese  Bedeutung  wnrde 
noch  erhoht,  als  die  Parallellisten  entdeckt  warden,  die  unter 
den  chronikartigen  Notizen  auch  die  iiber  eine  in  einem  be- 
stimmten  Eponymate  stattgefundene  Sonnenfinsterniss  bot.  Da- 
mit  war  uns  fiir  die  Jahre  747  aufwarts  bis  etwa  900  eine 
liickenlose  verlassliche  chronologische  Grundlage  gegeben.  Da 
diese  assyrische  Chronologie,  die  durch  den  ptolemaischen  Canon 
von  747  ab  ihre  Bestatigung  erhalt,  mit  der  bibl.  Chronologie 
der  K6nig8biicher  in  Widerstreit  ist,  so  suchte  Oppert  die  Con- 
cordanz  dadurch  zu  erreichen,  dass  er  eine  Unterbrechung  der 
Eponymenlisten  fur  46  Jahre  annahm.  Obgleich  G.  darin  nicht 
Oppert  beistimmt,  aber  doch  auch  den  Werth  dieser  Eponymen- 
listen herabzudriicken  sucht,  so  unterzieht  Schr.  diese  ganxe 
Frage  einer  neuen  Untersuchung.  Was  die  innere  Kritik  dieser 
Eponymenlisten  betrifift,  so  zeigt  er,  wie  1)  in  Bezug  auf  ZaU 
und  Reihenfolge  der  228  Eponymen  zwischen  den  sammtlichen 
uns  iiberkommenen  Exemplaren  der  Listen  auch  nicht  die  ge- 
ringste  Differenz  sich  aufeeigen  .la^sst,  2)  dass  die  factisch  vor- 
handenen  Diflferenzen  eines  Theiles  lediglich  imaginarer  Art  sind, 
oder  aber  die  Abgrenzung  der  einzelnen  Eponymengrnppen 
gegeneinander  zum  Zwecke  der  Bestimmung  der  R^fierungsdaoer 

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Schrader,  Keilinschriften  und  Geschichtsforschung.  107 

der  Konige  d.  h.  die  Setzung  der  Theilstriche  betreffen  und  3) 
dass  diese  Differenzen  solche  sind,  welche  die  Zuverlassigkeit  der 
Listen  als  Eponymenlisten  und  die  Eigenschaften  derselben  als 
chronologische  Fundamentallisten  in  nichts  beriihren.  Was  die 
aossere  Kritik  angeht,  so  behandelt  Schr.  das  Verhaltniss  zum 
ptolem.  Canon,  der  die  Dauer  der  babylon.  Konige  seit.  747  genau 
verzeichnet,  das  ist  die  Zeit,  wo  die  Geschichte  Babyloniens  mit 
der  Assyriens  auf  s  Engste  verkniipft  ist.  Da  nach  vorhandenen 
Thontafelchen  das  erste  Jahr  des  Sargon  als  Konig  von  Baby- 
lonien  dem  13.  als  Konig  von  Assyrien  entspricht,  so  gelangen  wir 
in  das  Jahr  721  als  das  erste  Jahr  Sargon's  als  Konig  von 
Assyrien.  Damit  sind  zugleich  alle  iibrigen  Konige  und  Eponymen 
fixirt.  So  bestimmt  der  ptolem.  Canon  die  Eponymenreihe  in 
der  ge8ammten  chronologischen  Jahresfolge,  er  bestatigt  aber 
auch  im  Einzelnen  die  Richtigkeit  seiner  Aufstellungen.  Andrer- 
seits  erhalten  auch  seine  chronologischen  Ansatze  durch  die 
Eponymenlisten  in  mehreren  Fallen  ihre  ausdriickliche  Bestati- 
gung  und  mehr  als  das:  wie  der  ptolem.  Canon  den  assyrischen 
Eponymencanon  astronomisch  fixirt,  so  wird  er  selber  wieder 
durch  jenen  astronomisch  bestatigt.  Nach  ihm  wird  namlich 
fur  das  Archontat  des  Purilsagal'i  im  Monat  Sivan  eine  Sonnen- 
finsterniss  gemeldet,  dies  Archontat  fallt  nach  jener  vom  ptole- 
maischen  Canon  ausgegangenen  Fixirung  in's  Jahr  763  und  in  der 
That  hat  nach  den  angestellten  Berechnungen  am  15.  Juni  763 
fur  Ninive  und  Umgebung  eine  fast  totale  Sonnenfinsterniss  statt- 
gefunden.  Oppert  denkt  freilich  an  die  vom  Jahre  809,  eine  An- 
nahme, die  er  dadurch  sttttzt,  dass  dann  eine  andre,  eine  zweite 
Sonnenfinsterniss  meldende  Inschrift  ihre  Erledigung  findet,  die 
sich  auf  das  Jahr  930  bezieht.  Aber  weder  sagt  die  betreffende 
Inschrift  derartiges,  noch  auch  war  diese  Sonnenfinsterniss,  die 
fur  N.  nur  etwa  4  Zoll  betrug,  hier  sichtbar.  Sodann  aber  wird 
bei  dieser  Annahme  Oppert's  die  Continuitat  der  Eponymenlisten 
unterbrochen,  er  schiebt  in  den  so  gewonnenen  Raum  den  bibl. 
Phul  und  verdoppelt  dann  Menahem  und  Aizarjah,  was  gegen 
Bibel  und  Inschriften  in  gleicher  Weise  verstosst,  und  die  lezteren 
gestatten  auf  keine  Weise  eine  Unterbrechung  vor  745,  wie  das 
0.  will. 

2)  Auf  den  Inschriften  Salmanassar's  II.  iiber  die  Schlacht 
von  Karkar  wird  ein  Ahaabbu  (mat)  Sirlaai  erwahnt,  den  Schr. 
und  andre  mit  Ahab  von  Israel  identificirt  hatten.  GL  erhob  hier 
sowohl  gegen  die  Lesung  Sirlaai  wie  gegen  diese  Identificirung 
Bedenken.  Jetzt  hat  sich  herausgesteUt,  dass  dieser  Name  nur 
wie  angegeben  gelesen  werden  darf,  es  entspricht  das  assyrische 
Ahaabbu  Sirlaai  durchaus  dem  hebraischen  ••banto'*  snhn.  Schliess- 
lich  erortert  Schr.  die  von  Wellhausen  erhobnen  Bedenken  gegen 
die  Annahme  einer  Bundesgenossenschaft  zwischen  Ahab  von  Israel 
und  Benhadad  von  Syrien. 

3)  Schr,   hatte  den   auf  den  Inschriften   erwahnten   X'idri 
(d.  h.  mit  einem  Ideogramm  X  und  idri  geschrieben)  mit  Ben- 
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hadad,  dem  Vorganger  des  Hazael  identificirt.  Da  jenes  Ideogramm 
AN.  IM  (oben  X)  den  Namen  des  Blitz-  und  Donnergottes  ent- 
halt,  also  einem  phonetischen  Rammanu,  Barku  entspricht,  so 
hatte  G.  den  Namen  Ramman'idri  gelesen  und  behauptet,  dass 
Hazael  wohl  eine  Zeitlang  fur  einen  Abkommling  der  syrischen 
Konigsfamilie  etwa  Rammanidri  regiert.  Schr.  zeigt,  wie  dies 
gegen  den  Wortlaut  der  Bibel  2  Reg.  8,15  verstosst,  aber  aach 
sonst  bedenkliche  Schwierigkeiten  hat,  zugleich  rechtfertigt  er 
seine  Identificirung  mit  Benhadad,  die  sich  freilich  auf  die  Bich- 
tigkeit  der  in  den  LXX  erhaltenen  Lesart  viog  ZideQ  stiitzt.  Da- 
gegen  hatte  G.  Nicolaus  Damascenus  in's  Feld  gefuhrt,  der  ?on 
zehn  Konigen  Adados  redet,  die  auf  einander  gefolgt  seien.  Schr. 
zeigt,  wie  Nic.  in  dieser  Nachricht  werthlos  ist,  denn  in  jenem 
ganzen  von  Josephus  berichteten  Abschnitt  findet  sich  kein  Name 
und  keine  Aussage,  die  sich  nicht  als  sei  es  direct  der  Bibel  ent- 
nommen,  sei  es  auf  die  biblische  Darstellung  und  die  biblisch 
jiidische  Tradition  irgendwie  zuriickgehend  aufzeigen  oder  sum 
Mindesten  doch  wahrscheinlich  machen  liesse.  Schliesslich  weist 
Schr.  die  Unmoglichkeit  der  Aufstellung  G.'s  betreffs  Justinos 
XXXVI,  2.3  nach  und  zeigt,  wie  Justinus'  Konigs-  (nicht  Gotter) 
Paar  Azelus  und  Adores  auf  ein  griechisches  lAyirjkog  und  (viog) 
yideq  zuriickgeht.  In  den  Nachtragen  weist  Schr.  darauf  hin, 
dass  moglicher  Weise  der  assyr.  Name  dem  Hebr.  Hadad  -Eser 
entspreche  und  dann  dem  bibl.  Geschichtsschreiber  eine  Ver- 
wechslung  zur  Last  zu  legen  ware. 

4)  Auf  zwei  Marmorplatten,  welche  von  Tiglat  Pileser  IL 
herruhren,  finden  sich  erwahnt  ein  Az-ri-a(-u)  und  Az-ri-ja-a-u 
sowie  die  Verstiimmelungen  ....  ja-a-u  mat  Ja-hu-da-ai  und 
....  ri-ja-u  mat  Ju-hu-di  und  [j]a-a-u.  Alle  diese  Namen 
hatte  Schr.  auf  Azarjah-Usiah  von  Juda  bezogen.  G.  hatte  da- 
gegen  geltend  gemacht  1)  die  Verschiedenheit  der  einzelnen 
Namen,  Schr.  zeigt  wie  diese  einmal  zum  Theil  dadurch  schwande, 
dass  das  Zeichen  fur  az  auch  as  und  as  gelesen  werden  konne, 
und  fuhrt  sodann  durch  eine  Reihe  von  Beispielen  den  Nachweis. 
dass  derartige  Abweichungen  in  den  Namen  keineswegs  gegen  die 
Identitat  sprechen.  Und  was  den  zweiten  Einwand  G.'s  betriffi: 
hier  konne  nicht  der  Konig  Azarjah  gemeint  sein,  weil  eben 
der  Konigstitel  fehle,  so  weist  Schr.  darauf  hin,  wie  auf  dieselbe 
Weise  wie  hier  Azrijahu  so  auch  sonst  Konige  und  Fiirsten  be- 
zeichnet  werden,  z.  B.  Kustasp  der  von  Kummuch  etc.  Zugleich 
widerlegt  er  die  Meinung  Oppert's,  der  unsern  Azrijahu  fiir  einen 
von  dem  jiid.  Konig  Azarjah  verschiedenen  erklart  und  mit  dem  Jes.  7,6 
erwahnten  Sohn  des  T&b'Sl  identificirt,  was  nach  G.  weniger  saci- 
liches  Bedenken  haben  solle  als  Sch.'s  Meinung.  Aber  auffallend  ist 
schon,  dass  er,  der  nach  den  Inschr.  ein  Jude  war  und  einen  rein 
jud.  Namen  hatte,  einen  Vater  hatte,  der  einen  rein  aram.  Namen 
tragt,  und  wenn  er  nach  Oppert  ausserhalb  der  Grenzen  Judas  sicb 
herumtummelte,  so  konnte  er  doch  nicht  „der  vom  Lande  Judau 
genannt  werden,  womit  Tigl.  Pil.  nur   Fiirsten  bezeichnet.    Die 

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Schrader,  Keilinschriften  und  Geschichtsforschung.  109 

ganze  sonstige  Aufstellung  Oppert's  beruht  darauf,  dass  ent- 
gegen  der  Bibel  und  den  Inschriften  1)  deni  Ahas  ein  Gegen- 
konig  Asrijahu  jiid.  Abstammung  aufoctroyirt  wird,  von  dem  die 
Bibel  nichts  weiss,  und  von  dem  die  Inschriften  grade  das 
nicht  aussagen,  was  sie  aussagen  sollten;  2)  die  Regierung 
des  Pekach  mitten  durchschnitten  und  zwischen  die  beiden  Enden 
ein  Gegenkonig  Menahem  II.  eingefugt  wird,  von  dem  die  Bibel 
nichts  weiss,  wie  sie  denn  auch  sonst  das  angeblich  in  den  In- 
schriften von  ihm  berichtete  fur  diese  Zeit  nicht  erwahnt;  3) 
die  Regierung  des  cIniil  von  Hamath  halbirt  und  zwischen  die 
beiden  Halften  ein  Dritter,  hier  der  Jude  Azrijahu,  als  Usurpator 
eingeschoben  wird,  wahrend  die  Inschriften  immer  nur  den  einen 
'Iniil  kennen  und  nennen.  G.  giebt  zu,  dass  O.'s  Asurijahu  = 
Azarjah-Usiah  sei,  ist  aber  doch  geneigt,  0.  seinen  Asrijahu  von  Juda 
als  assyr.  hamathensischen  Rebellen  zu  lassen.  Dafiir  spricht 
weder,  wie  oben  gezeigt,  die  verschiedene  Schreibung  der  Nainen, 
noch  wird  man  durch  die  Chronologie  zu  dieser  Annahme  ge- 
zwungen.  Schliesslich  erortert  Schr.  die  von  Wellhausen  und 
Gutschm.  geltend  gemachten  historischen  Schwierigkeiten,  welche 
seiner  Meinung  entgegenstehen  sollen. 

5)  Sehr  ausfiihrlich  behandelt  Schrader  sodann  die  Frage 
nach  Phul-Tiglat  Pileser.  Zunachst  weist  er  die  Meinung  G. 
Kawlinson's  zuriick,  dass  Phul  ein  Usurpator  war  und  die  westl. 
und  siidl.  Provinzen  des  assyr.  Reichs  beherrschte,  oder  vielleicht 
auch  ein  babylon.  Monarch  entspr.  dem  Porus  des  ptolem.  Canon 
war.  Verwandt  damit  ist  die  Ansicht  G.'s:  Phul  war  Mitregent 
des  Tigl.  Pil.  oder  vielmehr  ein  neben  ihm  in  Theilen  Babyloniens 
und  wohl  auch  Assyriens  herrschender  und  mit  ihm  engver- 
biindeter  Fiirst.  Gegen  beide  Hypothesen  macht  Schr.  geltend 
1)  dass  der  statuirte  Phul  von  Babylon-Chaldaea  in  der  Bibel 
als  Konig  von  Assyrien  erscheint;  2)  die  Unwahrscheinlichkeit, 
dass,  wahrend  in  Niniveh  ein  einheim.  Konig  auf  dem  Thron 
sass,  ein  Babylonier,  statt  jenen  zuvor  aus  seinem  Reich  zu  ver- 
jagen,  einen  selbst  fur  einen  leidlich  machtigen  Fiirsten  bei  einer 
solchen  Position  ausserst  geiahrlichen  Zug  nach  dem  fernen 
Westen  hatte  unternehmen  sollen;  3)  dass  beide  Historiker  fiir 
diesen  Konig  keinen  Reichsmittelpunkt  finden  konnen,  auf  keinen 
Fall  ist  mit  G.  an  Sipar-Sepharvaim  zu  denken.  Und  wenn  G. 
sich  fur  die  Gleichzeitigkeit  von  Phul  und  Tiglat  Pileser  auf 
1  Chron.  5,26  und  2  Chron.  28,16  beruft,  so  hat  er  offenbar  die 
Bedeutung  dieser  Stellen  der  Chronik  als  Geschichtsquellen  iiber- 
schatzt,  Schr.  zeigt  wie  1  Chron.  5,  1.  2.  25.  26  nichts  als  reine 
Conceptionen  des  Chronikers  sind. 

ioidre  haben  zugestanden,  dass  Phul  ein  assyrischer  Konig 
war,  so  identificirt  ihn  G.  Smith  mit  Binnirar;  das  geht  aber 
nicht  wegen  der  sich  nun  ergebenden  chronologischen  Schwierig- 
keiten. A.  Kohler  halt  ihn  fiir  identisch  mit  dem  Eponymen  des 
Jahres  763  Purilsagali.  Aber  1)  weist  dieser  weder  in  Can.  V 
aoch  Can.  VII  den  Konigstitel  au£  2)  kann  das  assyr.  Pur  nicht 

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110  Schrader,  Keilinschiiften  und  Geschichteforschung. 

in  hebr.  Phul  ubergehen  und  3)  bleiben  auch  dabei  die  chronolog. 
Schwierigkeiten.    Das  gilt  auch  von  dem  Versuch  von  G.  Bosch, 
der  den  hebr.  Phul  for  Missverstand  aus  Bil  malik  ansieht.    Da- 
bei ist  bedenklich  sowohl  dieser  Missverstand  als  auch  der  Um- 
si  md,  dass  Bil  malik  durchaus  nicht  etwa  assyr.  Generalissimos, 
sondern  ein  einfacher  Statthalter  in  Arrapachitis  war.  —  Wenn 
G.  gegen  die  Identificirung  des  Phul   und  Tigl.  PiL  betont,  dass 
in  den  Verwaltungslisten  vor  734  nie  ein  Zug  nach  dem  fernen 
Westen  angefiihrt  werde,  so  zeigt  Schr.,  dass   diese  Listen  Voll- 
standigkeit  nicht  beanspruchen   konnen,  ja   dass  mit   Sicherheit 
ein  solcher  Zug  vor  734  stattgefunden  haben  muss.    Schr.  hatte 
zugleich  zur  Stiitze  fiir  seine  Meinung  darauf  hingewiesen,  dass 
wie  Tigl.  Pil.  727  starb,  so  auch  der  ptolem.  Canon  hier  mit  dem 
Tode  des  Porus  einen  Regentenwechsel  melde.    Dem  will  G.  ein 
gewisses    Gewicht   beilegen,   wenn   es   mit   dem  Weiteren  seine 
Richtigkeit  habe,   dass,   wie   Por-Phul    731    Konig   von  Babylon 
geworden,  so  Tigl.  Pil.  in  diesem  Jahre  die  Huldigung  des  babylon. 
Konigs  Merodach  BaJadan  entgegengenommen  und   einen  andem 
babylon.    Konig,    namlich    den    Chinzir  -  Ukinzir    besiegt    habe. 
Schrader  hatte  das  in  der  That  behauptet  und  seine  Vermuthung 
darauf  gegriindet,   dass  fur   731    die   Besiegung   eines  gewissen 
Dugab  gemeldet  wurde.     G.  bestritt  diese   Annahme,  jetzt  aber 
hat  sich  herausgestellt,  dass  Norris  sich  verlesen  habe  und  dass 
auf  der  Thontafel  sammt  Doublette  vielmehr  DU.  zir  d.  i.  Ukinrir- 
Chinzir  zu  lesen  sei.     Eonnten  noch  Bedenken  bestehen,  so  sind 
sie  schliesslich  wohl  dadurch  beseitigt,  dass  jetzt  fiir   das  Jahr 
731,  das  Jahr  der  Eroberung  Babylons,    eine  Inschrift  gefunden 
ist,  auf  der  sich  Tiglat  Pileser  wie  Konig  von  Sumir  und  Akkad 
so  auch  Konig  von  Babylonien  nennt. 

6)  Berossus  und  die  Monumente.     Schr.  hatte  Bedenken  ge- 
tragen,  di  e  fiinfte  histor.  Dynastie  des  Beross.,  welche  526  Jahre 
umspannt,  nach  Dauer  und  Wesen  der  520jahrigen  Oberherrschaft 
der  Assyrer  iiber  Ober-Asien  einfach  gleich  zu  setzen.     Da  nach 
Herodot  die  Assyrer,  nicht  etwa  die  babylon.  Chaldaer,  520  Jahre 
Ober-Asien,    also   auch   Babylonien  von   Ninive   aus   beherrscht 
haben,  so  sind  nur  zwei  Moglichkeiten :  entweder  die  45  babylon. 
Konige  des   Beross.   sind   die  gleichzeitigen   assyr.   Konige  oder 
jene  45  babylon.  Konige  sind  Vasallenkflnige.     Die  erste  ehedem 
von  G.  getheilte  Ansieht  wird  durch  einen  Blick  auf  die  synchron. 
Tafel    der    assyrisch-babylonischen    Geschichte   hinfallig.     Aber 
auch    die    zweite    von    Niebuhr   herruhrende,    hernach  von  6. 
adoptirte  Anschauung  ist  unmoglich.     Nichts   beweist   der  Hin- 
weis  N/s,  den  G.  wiederholt,  diese  fiinfte   Dynastie   konne  keine 
erblichen  Regierungen   enthalten ,  weil  durchschnittlich  jede  nnr 
ll8/s  Jahre  gedauert  hatte.     Grade  das  Umgekehrte  ist  der  Fall, 
grade  da  wo  Beross.  wirklich  auslandische  Herrschaften  anmerkt, 
sind  diese  von  sehr  langer  Dauer.     Sodann  aber  legen  auch  die 
Inschriften  gegen  diese  Aufifassung  N.-G's  Protest  ein,  die  assyr. 
Konige  sind  weit  entfernt  davon,  die   babylon.   iiberall  ak-W- 


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Schrader.  Keilinschriften  und  Geschichtsforschung.  HI 

rohrerische  Vasallen  zu  betrachten,  sie  erscheinen  vielmehr  durchaus 
als  ebenbiirtige  Konige.     Die  wirklicbe  Hegemonie  Assyriens  iiber 
Babylonien  beginnt  erst  nach  der  funften  Dynastie   des   B.   und 
nach  den  520  Jabren  des  Her.,  namlich  mit  TigL  Pil.  731.    Ent- 
weder  ist  das  aqxei^v  des  Her.   also  abzuschwachen  und  nur  von 
einer    zeitweiligen    Obmacht    Assyriens    iiber   Babylon   zu  ver- 
stehen,  dann  aber  beginnt  diese  Zeit  schon  mit    1400   vor    Chr. 
und  dauert  bis  650  d.  h.  750  Jabre,  oder  aqxetv  ist  im  eigentlicben 
Sinn  zu  verstehen,  dann  kommt  aber  nur  die  Zeit  von  745  (731)  bis 
650  in  Betracbt.     G.  findet  zugleich  eine  Sttttze   fur    seine   An- 
sicht  in   der  Nachricht   des   Ber.-Polyh.,   dass  Nabonassar   die 
Annalen  der  vor  ibm  herrschenden  Konige  habe  vernichten  lassen. 
Das  sei  nur  verstandlich,  wenn  er  im  scbarfen  Gegensatz  zu  die  sen 
von  Assyrien  abhangigen  Konigen   gestanden,  darum   auch  habe 
Ber.  nur  die   Namen,   nicht   aber  die   Thaten   dieser  Herrscher 
rerzeichnet.     Schr.  weist  darauf  hin,  dass  diese  Vernichtung  der 
Annalen  offenbar  nur  den  Zweck  hatte,  soweit  als   moglich   eine 
neue  Zeitrechnung,  die  von  ihm,  dem  neuen  Reichsgninder,  aus- 
ging,  zu  sichern,  ob  die  friiheren  Konige  einer  andern  Nationalist 
angehort    haben    oder    nicht,    kam    daher    gar    nicht    in    Be- 
tracht.    Und  hatte  der  Grund,  warum  Beross.  mit  747  =  1  Nabo- 
nassar neu  beginnt,  in  dem  nationalen  Gegensatz  dieses  Herrschers 
zu  seiiien  Vorgangern  gelegen,  warum  zahlte   er  die   122   Jahre 
assyrischer  Oberherrschaft  nach  747  nicht  noch  zu  den  526  Jahren 
zu,  wie  konnte  er  die  Herrscher  von  Nabonassar  an  als   einhei- 
nusche,  also  als  Chaldaer,  den  Vorgangern  entgegenstellen,  wenn 
doch  noch   nach   Nabon.   eine   so   grosse   Zahl   von   Jahren   auf 
assyr.  Herrscher  kommt,  die  iiber  Babyl.  herrschten,  wie   das  ja 
auch  nicht  anders  vor  747  war?    Ja   schon   im   3.   Jahr   seiner 
eignen  Herrschaft  trat  das  und  zwar  auf  hundert  Jahre   wieder 
ein,  was  vorher  500  Jahre  nach  G.  bestanden  haben  soil.    Auch 
die  von  G.  aufgestellte  Behauptung,  dass  diese  45  Konige   einer 
assyr.  Nebendynastie  angehoren,  ist  hinfallig,  weil  sie   durchweg 
keine  assyr.  Namen  tragen.     Und   wenn   G.    sich  fiir   seine   An- 
schauung  auf  Eus.  chron.  I,  25  ed.  Schoene  beruft,  so  sind  hier 
nur  2  Moglichkeiten :    1)  entweder   die   Worte   post   quos  .... 
tradit  sind  wortlich  so  wie  sie  lauten  zu  verstehen  und  auf  eine 
Herrschaft    der   (nach   Beross.)   Assyrierin   Semiramis    iiber   die 
Assyrer  zu  beziehen,  dann  gehoren  sie  nicht  in  diesen  Canon,  in 
welchem   es   sich  um   babylon.   Dynastien   handelt,  und   Beross. 
kann  die  Aussage  nicht  concipirt  haben,  die  Worte   sagen   dann 
aus8erdem    iiber    einen    assyr.    Ursprung    der   funften    Dynastie 
iiichts  aus;    oder  2)  nach   des   Eus.    Sprachgebrauch   steht   „in 
Assyrios"  im  Sinne  von  „in  Chaldaeos",   dann   haben   wir  nicht 
mehr  die   urspriingliche  Berossus'sche   Fassung   der  Worte,   fiir 
ihn  ist  die  Annahme  einer   derartigen  Vertauschung  undenkbar. 
In  diesem  Fall  nun  aber  tritt  a)  die  betreffende  Notiz   aus  dem 
R&hmen  der  Berossus'schen  Darstellung,  betreflfend  die  Dynastien- 
aufeahlung,   heraus,    tritt   dieselbe   b)    mit   den   Inschriften   in 

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112  Schrader,  Keilinschriften  und  Geschichtsforschung. 

Widerspruch,  die  von  einer  Erbauung  Babylons  durch  eine  in- 
schriftlich  fUr  jene  Zeit  bis  jetzt  nirgends  nachweisbare  assyr. 
Konigin  niclits  wissen,  tritt  dieselbe  c)  mit  des  Beross.  ander- 
weitigor  Aussage  iiber  jene  Semiramis,  die  er  nur  als  Assyrierin 
nicht  zugleich  als  Babylonierin  kennt,  in  Discrepanz.  —  Nach 
alledem  ist  Beross.  fur  die  Bezeichnung  der  funften  Dynastie 
Chaldaeas  als  einer  assyrischen  hinfort  nicht  mehr  verantwort- 
lich  zu  machen. 

7)  Ktesias  und  Herodot.  Schr.  hatte  darauf  hingewiesen, 
wie  sicb  immer  mehr  die  bisher  fur  historisch  gehaltenen  nnd 
glaubig  hingenommenen  Berichte  der  Griechen  und  iiberhaupt 
der  Classiker  als  unglaubwiirdig  herausstellen.  Demgegeniiber 
wies  G.  darauf  hin,  wie  schon  vor  Mitte  des  vorigen  Jhdts.  die 
Unglaubwurdigkeit  der  Berichte  des  Ktesias  sei  erkannt  worden, 
seit  Anfang  dieses  Jhdts.  diese  Erkenntniss  als  gesicherter  Be- 
sitz  der  Geschichtswissenschaft  angesehen  werden  durfte.  Schr. 
zeigt,  wie  unrecht  grade  G.  daran  that,  diese  Worte  zu  schreibeo, 
der  1853  den  Satz  aufstellte,  dass  die  Nachrichten  des  Et.  nick 
unbedingt  verworfen  werden  diirfen,  vielmehr,  freilich  nach  vor- 
hergegangener  kritischer  Sichtung,  gar  wohl  zur  Beleuchtung 
und  Bestatigung  der  Nachrichten  des  chaldaischen  Historiken 
angewandt  werden  konnen;  1857  stand  es  ihm  noch  fest,  dass 
BOgar  in  den  Nachrichten  des  Kt.  vom  Sturze  des  Thonos  Kon- 
koleros,  wenn  man  die  mythische  Einkleidung  wegnimmt,  der 
Hauptsache  nach  historische  Treue  zu  finden  sei,  und  1860 
schrieb  derselbe  G. :  „Bei  der  Bestimmung  des  Umfangs  des 
assyr.  Reichs  ist  von  den  Nachrichten  des  Kt.  gar  kein  Gebrauch 
gemacht,  sehr  zum  Nachtheil  der  Sache,  indem  jene 
Nachrichten  ganz  unverfanglich  und  innerlich  wahrscheinlich 
sind"  etc.,  ja  G.  versteigt  sich  zu  der  Behauptung,  dass,  wenn 
man  die  drei  gewiss  nicht  personlichen  Namen  (Semiramis,  Ninns, 
Ninyas)  von  der  Konigsliste  des  Ktesias  ablose,  dessen  Darlegong 
unter  einem  so  neuen  gunstigen  Lichte  erscheine,  dass  eine 
vollige  Ehrenrettung  des  Ktesias  auf  diesemGe- 
biete  erreichbar  sein  durfte. 

Was  Herodot  betrifft,  so  zeigt  Schr.,  dass  trotz  des  Tadels 
G.'s  er  doch  im  Wesentlichen  Schr.  beistimme,  welcher  behauptet 
hatte,  dass  des  Herodot  Angabe  beziiglich  einer  520jahrigen 
Oberherrschaft  der  Assyrier  iiber  Oberasien,  bei  deren  Ende 
sich  zuerst  die  Meder,  dann  die  ubrigen  Volker  frei  gemacht 
hatten,  nicht  eine  richtige  und  den  thatsachlichen  durch  die 
Inschriften  an  die  Hand  gegebenen  Verhaltnissen  entsprechende 
sei,  ja  Schr.  weist  schliesslich  G.  aus  dessen  eignen  Aeusserungen 
nach,  wie  G.  eher  noch  geringer  als  Schr.  von  der  Glaubwiirdig- 
keit  des  Herodot  denke  und  zwar  durch  den  Hinweis  auf  einen 
Aufeatz  in  den  Jahrbiichern  fiir  class.  Philologie  1860  p.  445.  449. 

Nach  dieser  Darlegung  folgt  sodann  eine  Reihe  von  Excursen 
iiber  die  Derketaden,  iiber  Arbakes  und  Belesys  und  iiber  Sar- 
danapal  und  endlich   behandelt   Schr.   noch   mit  Riicksicht  auf 


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Wendt,  Die  Nationalist  der  Bovolkerung  der  deutschen  Oatmarken.    H3 

einige  Bemerkungen  G.'s  die  Culturmission  der  Assyrer.  Das 
dem  Buche  beigefugte  ausfiihrliche  Register  erleichtert  die 
sclinelle  Auffindung  der  einzelnen  Gegenstande.  Nicht  minder 
dankenswerth  ist  die  von  Kiepert  beigegebene  Karte,  ein  treff- 
liches  Mittel  zur  Orientirung  fiir  den  ersten  Abschnitt:  „Znr 
monumentalen  Geographic". 

Nut  einen  kurzen  Einblick  in  den  reichen  dem  Historiker 
gebotnen  Stoff  konnten  wir  geben,  aber  er  wird  geniigen,  um 
jeden  die  Bedeutung  dieser  Arbeit  erkennen  zu  lassen. 

Berlin.  Nowack. 


XXIX. 
Wendt  Georg.    Die  Nationalist  der  Bevoikerung  der  deutschen 
08tmarken  vor  dem  Beginne  der  Germanisirung.    8.   (63  S.) 

Gottingen  1878.    Robert  Peppmiiller.     1,20  M. 

Die  Frage,  welchen  Nationalitaten  die  Bewohner  der  deutschen 
Ostmarken  von  der  Ostsee  bis  Bohmen  vor  ihrer  um  die  Mitte 
des  12.  Jahrhunderts  beginnenden  und  im  13.  Jahrh.  vollzogenen 
Germanisirung  angehorten,  ist  eine  mehrfach  umstrittene.  Nach 
der  einen,  der  herrschenden,  Ansicht  waren  alle  diese  Gebiete 
von  Slaven  bewohnt,  und  die  ungemein  rasehe  Ausbreitung  der 
Deutschen  iiber  diese  weiten  Landstriche  ist  nur  einer  massen- 
haften  deutschen  Colonisation  und  der  darauf  ziemlich  schneli 
erfolgten  Assimilation  der  vorgefundenen  Slaven  an  das  ihnen 
damals  an  Cultur  weit  iiberlegene  deutsche  Element  zuzuschreiben. 
Die  andere  Ansicht  geht  dahin,  dass  dieser  uberraschend  schnelle 
Wechsel  der  Nationalist  auf  einem  so  umfangreichen  Gebiete 
nur  dadurch  moglich  gewesen  sei,  dass  dort  seit  der  Volker- 
wanderung  unter  den  herrschenden  Slaven  zahlreiche  unterdriickte 
deutsche  Volksbestandtheile  vorhanden  blieben,  die  nun  durch 
die  im  12.  und  13.  Jahrhunderte  stattgefundene  Colonisation  zu 
neuem  Leben  erweckt  wurden.  Diese  letztere  Ansicht  hat  jiingst 
Plainer  in  seiner  Abhandlung:  „Ueber  Spuren  deutscher  Bevoi- 
kerung zur  Zeit  der  slavischen  Herrschaft  in  den  ostlich  der 
Elbe  und  Saale  gelegenen  Landern"  (in  den  „Forschungen  zur 
deutschen  Geschichte",  XVII.  Bd.,  S.  409—520)  wieder  aufgegriffen 
und  durch  neue  Beweise  zu  stiitzen  gesucht;  gegen  diesen  Ver- 
such  Platner's  tritt  Wendt  in  der  vorliegenden  Schrift,  wie  uns 
scheint,  mit  Gliick  auf  und  fuhrt  aus,  dass  die  schwachen  Triimmer 
germanischer  Stamme,  welche  im  5.  und  6.  Jahrh.  unter  das 
Joch  der  Slaven  geriethen,  nicht  im  Stande  waren,  ihre  Natio- 
nalitat bis  zu  dem  erst  nach  sechs  Jahrhunderten  wieder  be- 
ginnenden Ruck8trome  des  Germanenthums  zu  erhalten,  so  dass 
der  Germanisirungsprocess  des  12. — 14.  Jahrhunderts  sich  auf 
einem  rein  slavisch  gewordenen  Boden  vollziehen  musste.  — 

Diesen  Beweis  fiihrt  er  in  drei  Abschnitten;  der  erste  han- 
delt  von  Pommern  und  Mecklenburg,  fiir  welche  Lander  nachst 
Platner  als  altere  Vertreter  der  „Urgermanentheorie"  Professor 

Mltthoilungen  a.  d.  hlstor.  Litterator.    VII.  8 

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114    Wendt,  Die  Nationalitat  der  Bevdlkerung  der  deutschen  Ostmarken. 

Fabricius  (Mecklenburgische  Jahrbiicher  VI.  2  ff.),  Burgermeister 
Fabricius  (Urkunden  zur  Geschichte  des  Furstenthums  Rugen 
II.  b,  44,  72)  und  Ludwig  Giesebrecht  (Wendische  Geschichten  L  37) 
beriicksichtigt  werden ;  Wendt  bespricht  alle  von  Platner  herbei- 
gezogenen  Quellenstellen  und  gelangt  zu  dem  Resultate,  dass  alle 
von  diesem  fiir  eine  altansassige  deutsche  Bevdlkerung  in  Pommern 
und  Mecklenburg  angefuhrten  Griinde  als  auf  Missverstandnissen 
oder  unechten  Urkunden  beruhend  sich  erweisen;  es  bleibe  fur 
Pommern  und  Mecklenburg  daher  bei  dem  Ausspruche  von 
Hasselbach  und  Kosegarten  (Codex  Pomeraniae  diplomaticus  p. 
317 — 321)  dass  die  besten  gleichzeitigen  Quellen  fur  jene  Gegen- 
den,  die  Berichte  uber  Otto's  von  Bamberg  Missionsreisen,  Helmold 
und  Saxo  Grammaticus  dort  nur  Slaven  kennen,  dass  ebenso 
die  Urkunden  vor  dem  Beginne  der  deutschen  Einwanderung  nur 
von  Slaven  reden,  dass  alle  Personen-  und  Lokalnamen  vor 
dieser  Zeit  rein  slavisch  sind,  kurz,  dass  sich  keine  Spur 
eines  germanischen  Grundstocks  der  Bevolkerung  jener  Lander 
auffinden  lasst. 

In  dem  zweiten  Abschnitte  spricht  Wendt  von  Bohmen  ,  vro 
diese  rein  wissenschaftliche  Frage  zu  einer  politischen  Partei- 
sache  geworden,  indem  jeder  der  beiden  Stamme,  die  sich  jetzt 
in  das  Land  theilen,  sich  selbst  fiir  den  alteren  und  den  anderen 
fiir  einen  Eindringling  erklart,  von  Schlesien,  von  der  Laositz 
und  von  Meissen,  und  fiihrt  auch  hier  durch,  dass  man  die  iiberall 
herumspukenden  und  nirgends  greifbaren  Reste  von  Urgermajien 
in  den  bohmischen  Grenzgebirgen,  im  mahrischen  Gesenke  und 
in  Schlesien  unbedenklich  in  das  Reich  der  Fabel  verweisen  konne. 
Der  dritte  Abschnitt  handelt  von  den  angeblichen  „Urger- 
manen"  in  der  Mark  Brandenburg,  deren  Existenz  namentlich 
dadurch  bewiesen  werden  soil,  dass  Platner  an  den  Harlunger- 
berg  bei  Brandenburg  die  Harlungensage  kniipft,  und  dass  der 
bohmische  Chronist  Pulkava  (nach  1374)  davon  spricht,  da^ 
noch  1157  ein  aus  Slaven  und  Sachsen  gemischtes  Volk  Branden- 
burg bewohnt  habe.  Wendt  meint  beziiglich  des  Harlunger- 
berges,  dass,  wenn  derselbe  seinen  Namen  in  der  That  von  seinen 
ersten  germanischen  Anwohnern  vor  der  Volkerwanderung  erhielt, 
sich  dieser  Name  auch  wahrend  der  Slavisirung  der  Mark  bei 
den  zunachst  wohnenden  Deutschen  erhalten  haben  und  bei  der 
Wiedereroberung  des  Landes  durch  die  Sachsen  wieder  aufge- 
frischt  worden  sein  kann;  und  was  die  gens  Slavonica  et  Saxo- 
nica  betrifft,  so  fiihrt  Wendt  in  einem  Excurse  aus,  dass  diese 
nur  einem  groben  Missverstandnisse  Pulkava's  ihren  Ursprung 
verdankt. 

Graz  in  Steiermark.  Dr.  Franz  Ilwot 


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Ewald,  Studien  zur  Ausgabe  des  Kegisters  Gregors  I.  H5 

XXX. 
Ewald,  Paul.    Studien  zur  Ausgabe  des  Registers  Gregors  I. 
im   Neuen  Arch,   der  Ges.  f.  fiitere   deutsche  Geschichts- 
kunde  III.  433-625. 

Eine  der  wichtigsten  Quellen  fur  die  Geschichte  des  be- 
ginnenden  Mittelalters  ist  das  sogenannte  Register  Gregors  des 
Grossen,  d.  h.  die  Sammlung  seiner  Briefe,  welche  —  nur  ein 
kleiner  Bruchtheil  des  urspriinglichen  grossen  Registers  —  ein 
giinstiges  Geschick  durch  den  Lauf  der  Jahrhunderte  uns  auf- 
bewahrt  hat.  Der  Wichtigkeit  der  Sammlung  entspricht  die 
grosse  Anzahl  der  Handschriften  und,  seit  Erfindung  der  Buch- 
druckerkunst,  der  Editionen.  Aber  da  selbst  die  beste  dieser 
letzteren,  die  der  Mauriner  vom  J.  1705  —  „ein  Ereigniss  fiir 
die  damalige  literarische  Welt"  —  nicht  mehr  den  gesteigerten 
Anforderungen  der  modernen  Wissenscbaft  geniigte,  so  beschloss 
die  Centraldirektion  der  Monumenta  Germaniae,  die  Abtheilung 
der  Epistolae  (unter  Wattenbach's  Leitung)  mit  einer  neuen  Aus- 
gabe der  Gregorianischen  Briefe  einzuleiten.  Paul  Ewald,  dem 
diese  Aufgabe  zufiel,  unternahm  vornehmlich  fur  diesen  Zweck 
im  Winter  1876  auf  77  eine  Reise  nach  Italien,  iiber  deren  Ergeb- 
nisse  er  im  3.  Bde.  des  „Neuen  Archivs"  bericbtet  hat.  Uns 
interessirt  hier  nur  seine  umfangreiche  Abhandlung  iiber  das 
Register  Gregors,  worin  der  Verf.  die  Methode  darlegt,  nach 
welcher  das  Ordnen  der  Briefe  vor  sich  gehen  wird. 

Als  Ziel  musste  der  neuen  Edition  vorschweben,  uns  ein 
moglichst  getreues  Bild  der  im  papstlichen  Archive  einst 
vorhandenen  Regestenbande  zu  geben,  oder  kurz  die  Rekonstruk- 
tion  des  Lateranensischen  Registers;  denn  eine  grosse  Zahl  von 
Briefen  erhalt  schon  durch  ihre  Stellung  im  Register  eine  ge- 
naue  oder  wenigstens  annahernde  chronologische  Fixirung,  welche 
nach  dem  Inhalte  in  vielen  Fallen  unmoghch  ware.  Um  dies  zu 
erreichen,  war  es  nothwendig,  auf  die  Handschriften  selbst  zuriick- 
zugehen,  da  kein  einziger  Druck  dieselben  vollstandig  und  in 
urspriinglicher  Reinheit  wiedergiebt.  Die  Editionen  fussen  fast 
8ammtlich  auf  der  in  Mailand  entstandenen  Codification  (Ende  des 
XV.  Jahrhunderts),  welche  die  drei  verschiedenen  Sammlungen 
der  Gregor.  Briefe  von  einem  andern  als  dem  oben  angedeuteten 
und  einzig  richtigen  Standpunkte  aus  zu  combiniren  versucht 
hat.  Drei  Sammlungen,  wie  gesagt,  sind  es,  auf  welche  der  vor- 
handene  Bestand  von  c.  850  Briefen  sich  zuruckfuhren  lasst: 
1)  Die  in  den  Handschriften  als  Regis trum  (R)  bezeichnete  mit 
686,  2)  die  collectio  der  200  (C)  und  3)  die  sog.  Collectio  Pauli 
(P)1)  mit  53  Briefen,  aus  deren  Summe  jedoch  c.  89  Stiickeaus- 


J)  Nach  dem  Schreiber  eines  Briefes,  welclier  sich  am  Anfange  eines 
dieso  Sammlung  enthaltenden  Codex  saec.  VIII.  befand.  Ob  unter  diesem 
Paolns  P.  diaconus  zu  verstehen  ist,  wie  Mabillon  vermutheto,  dem  die 
Mauriner,  Bethmann,  Waitz  und  zum  Theil  Dahn  gefolgt  sind,  ist  soar 
fraglich,  (Ewald  473). 

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116  Ewald,  Studion  zur  Ausgabe  des  Registers  Gregors  L 

zuscheiden  sind,  die  in  den  Sammlungen  doppelt,  bezw.  dreifach 
vorkommen. 

Verweilen  wir  einen  Augenblick  bei  R,  so  fallt  uns  auf,  dass 
die  aussere  Einrichtung  desselben  Erscheinungen  zeigt,  welche 
Johannes  diaconus  in  seiner  Vita  Gregorii  als  Merkmale  einer 
zur  Zoit  Hadrians  I.  entstandenen  Briefsammlung  des  grossen 
Papstes  angiebt:  dahin  gehort  besonders  die  Eintheilung  nach 
Indiktionen,  und  nicht  nach  Biichern,  ferner  die  Trennung  in 
zwei  Volumina  (in  duobus  voluminibus  congregatae),  deren  erstes 
die  Jahre  590—597  d.  h.  Indictio  IX— XV  (von  Ewald  r  ge- 
nannt),  deren  zweites  (q)  d.  J.  598 — 604  d.  h.  Indictio  I— VII 
umfasst1).  Ewald  braucht  daher  fur  R  auch  die  Bezeichnung: 
das  Hadrianische  Register  Gregors;  merkwurdig  ist,  dass  die 
alteste  Handschrift  desselben  —  jetzt  in  Trier  —  erst  aus  dem 
X.,  die  beste  —  in  Montecassino  —  aus  dem  Ende  des  XI.  Jahrhun- 
derts  stammt.  Abschriften  dieser  letzteren  liegen  vor  im  Cod. 
Parisiensis  2281  u.  Urbinas  99. 

Die  zweite  Sammlung  von  Gregorbriefen  (collectio  CC  episto- 
larum),  deren  vorziiglichster  Vertreter,  ein  Coiner  Codex,  bereitt 
aus  dem  VIII.  Jahrhundert  stammt,  ist,  nach  Ewalds  Vermuthung, 
ebenso  wie  die  collectio  P.  vor  R.  entstanden.  Die  bestandige 
Verbindung,  in  der  C.  mit  P.  auftritt,  konnte  zu  der  Annahme 
verleiten,  dass  beide  urspninglich  zusammengehort  haben,  aber 
dagegen  spricht  die  Eigenartigkeit  von  P.,  die  sich  sowohl  in 
der  aussern  wie  innern  Gestalt  der  uberlieferten  Briefe  kund- 
giebt  (Ewald  464  u.  476).  Von  den  Handschriften  dieser  dritten 
Sammlung  ist  zu  merken,  dass  einige  die  Daten  in  der  Ueber- 
schrift,  andere  am  Schlusse  der  Briefe  geben;  die  Eenntniss 
eines  sehr  guten  Codex  aus  St.  Germain,  der  seit  der  franzo- 
sischen  Revolution  verschollen  ist,  wird  uns  durch  die  oben  er- 
wahnte  Maurinerausgabe  (1705)  vermittelt. 

Schon  frtih  hat  sich  das  Bediirfniss  geltend  gemacht,  zwei 
oder  drei  (bezw.  vier,  da  R  =  r  -f-  q)  der  vorhandenen  Samm- 
lungen an-  und  ineinder  zu  bringen.  Der  Verbindung  von  C  -4-  P 
haben  wir  bereits  gedacht,  ebenso  erscheint  q -f- P  und  C-f-P-f-^; 
schliesslich  wird  R  zu  Grunde  gelegt  und  der  erste  Schritt  ist 
gethan,  der  zu  der  endlichen  Vereinigung  aller  drei  Sammlungen 
fiihrt.  Nach  mannigfachen  Versuchen,  R  aus  C  und  P  zu  com- 
pletiren,  unternimmt  es  ein  Mailander  Gelehrter,  wie  es  scheint 
auf  Veranlassung  des  dortigen  Erzbischofs  Johannes  Arcimboldi 
(1484 — 88),  sammtliche  C-  und  P-Briefe  in  R  einzuiugen2),  und 
stellt  so  eine  Sammlung  her,  die  fur  die  ganze  Folgezeit  mass- 
gebend  geblieben  ist.     „In  den  Fesseln   dieser  Mailander   Codi- 


J)  Es  ist  8omit  nicht  auffallend,  dass  eino  Anzahl  Handschriften  nnr 
dio  erste  HSlfte  von  R  (='r),  andere  wieder  nur  dessen  zweite  Halfte  (=^) 
zeigen,  (Ewald  456—462). 

a)  Die  Einfogungen  beschriinken  sich  auf  die  letzten  6  Indiktionen 
(II— VII),  vgl.  S.  504  u.  511;  7  auf  S.  502  Zeilo  19  ist  wohl  nur  ein  Druek- 
fehler. 


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Ewald,  Studien  zur  Ausgabe  des  Eogistera  Gregors  I.  117 

fikation  lagen  auch  die  Mauriner,  und  ihr  Einfluss  ist  ebenso  in 
der  Ordnung  der  Gregorbriefe  in  den  Papstregesten  Jaffes  gel- 
tend  geblieben."  Aber  keine  Spur  eines  Systems  ist  in  der 
Kedaktion  des  Mailanders  zu  entdecken ;  weder  liess  er  sich  von 
chronologischen  noch  lokalen  Gesichtspunkten  hierbei  leiten.  — 
So  sind  wir  in  die  Zeit  hineingekommen,  wo  die  Buchdrucker- 
kunst  sich  bereits  der  Gregorbriefe  bemachtigt  hatte.  Schon 
bevor  die  Mailander  Arbeit  beendet  war,  hatte  Giinther  Zainer 
in  Augsburg  einen  Druck  veranstaltet  (c.  1472),  indem  er  P  und 
einen  Theil  von  C  an  R  anhangte ;  aber  sammtliche  nun  folgende 
Editionen  —  27  (od.  28,  vgl.  Nachtrag  zu  S.  513)  an  Zahl  — 
haben  die  Methode  der  Mailander  Zusammenstellung  adoptirt. 
Sie  im  Einzelnen  hier  anzufuhren,  ist  unmoglich;  ich  begniige 
mieh,  die  wichtigsten  zu  nennen.  Da  ist  zuerst  die  Venetianer 
von  1504;  die  romische  Ausgabe  der  Werke  Gregors  (1588  ff.), 
gegen  welche  sich  die  Vindiciae  Gregorianae  des  Thomas  James 
(Genf  1625)  richten;  die  Pariser  Edition  von  Pierre  Goussain- 
ville  (1675)  mit  ihrem  vorziiglichen  Commentar,  und  endlich  die 
der  Mauriner  vom  J.  1705  (Paris;  das  Reg.  epistolarum  im 
2.  Foliobande).  Dom  Denis  de  Ste.  Marthe  (Dionysius  Sammar- 
thanus)  hatte  die  Herausgabe  iibernommen,  aber,  mit  Arbeiten 
iiberhauft,  die  Edition  der  Briefe  Dom  Gruillaume  Bessin  iiber- 
tragen,  der  die  von  ihm  vorgenommenen  Aenderungen  in  der 
Reihenfolge  der  Briefe  in  einer  besonderen  Abhandlung  zu  recht- 
fertigen  suchte.  Wir  haben  eine  Nachricht  aus  jener  Zeit,  nach 
welcher  Ste.  Marthe  mit  der  Arbeit  Bessins  sehr  unzufrieden 
war  und  eine   griindliche   Revision   derselben  vorgenommen   hat 

( employa  plus   de   terns   a   le   corriger   qu'il  ne   lui   en 

auroit  falu  pour  le   composer ) :    wie  viel   aber   von   der 

Abhandlung  auf  Conto  eines  Jeden  zu  setzen  ist,  wie  weit  iiber- 
haupt  die  Correktur  des  Ersteren  sich  erstreckt  hat,  bleibt  wohl 
fur  alle  Zeiten  ungelost.  Eine  eingehende  Priifung  widmet  Ewald 
dieser  Edition  auf  S.  518 — 521.  Lediglich  Nachdrucke  der 
Maurinerausgabe  sind:  die  von  Galliciolli,  Venedig  1768  und  die 
neueste  von  Migne,  Paris  1851.  Mit  Hiilfe  des  handschriftlichen 
und  zum  Theil  auch  des  gedruckten  Apparats  tritt  der  Verf.  an 
die  Reconstruktion  des  Lateranensischen  Registers ;  er  weist  nach, 
dass  C  ein  Auszug  aus  der  zweiten,  P  aus  der  X.,  XIII.  und  IV. 
Indiktion  ist.  Man  sieht  sofort  ein,  wie  viel  hierdurch  fur  die 
richtige  Einfugung  der  C-  und  P-Briefe  gewonnen  ist1).  Dass 
im  Einzelnen  manches  unsicher  bleibt,  thut  dem  Ganzen  keinen 


*)  Wie  die  Einf&gung  im  Einzelnen  vor  sich  geht,  mogen  einige  Bei- 
spiele  erlautern..  1,  r  und  v  seien  drei  Briefe,  die  in  C  vorkommen,  1  u.  v 
aber  auch  in  R,  und  zwar  bilden  sie  hier  die  Nummern  18  und  19,  wahrend  sie 
in  C  die  Nummern  25  (26)  und  27  bilden;  es  folgtdaraus  ohne  weiteres,  dass 
im  Later.  Register  r  zwischen  1  u.  v  gestanden  hat.  Aber  die  Reconstruktion 
ist  nicht  immer  so  einfach.  Denken  wir  uns  jetzt  1,  r,  v  in  C,  und  1,  p,  v 
in  R  stehend,  dort  nehmon  1  u.  v,  dio  25.  u.  27.,  hier  die  40.  u.  42.  Stelle 
ein,  folglich  rangiren  r  u.  p  zwischen  1  u.  v,  aber  in  welcher  Reihenfolge?  sobald  sie 


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118  Potits  meinoires  sur  l'histoire  de  Franco. 

Eintrag.  Beda,  Paulus  diaconus,  die  canonischen  Sammlungen 
miissen  bei  der  An-  und  Einordnung  der  Briefe  behiilflich  sein; 
die  in  R,  C  und  P  vorhandenen  Daten  werden  einer  ebenso  .ge- 
nauen  wie  scharfsinnigen  Priifung  unterzogen;  der  Vert  muss  an 
vielen  Stellen  auf  die  damaligen  Kanzleiverhaltnisse  eingehen,  und  die 
Unvollkommenheit  derselben  erklart  zur  Geniige  mancherlei  Un- 
regelmassigkeiten  der  Briefsendung  und  Eintragung  ins  Register1). 
—  Dies  der  ungefahre  Inhalt  der  genannten  Abhandlung.  Das 
Erscheinen  der  neuen  Edition  der  Gregorbriefe  ist  in  baldige 
Aussicht  gestellt;  noch  im  Laufe  dieses  Jahres  wird,  nach  dem 
letzten  Bericht  der  Monumenta-Direktion  (Neues  Archiv  IV.  7), 
der  Druck  beginnen.  Von  Neuem  wird  8ich  die  Geschichte- 
schreibung  jener  wichtigen  Epoche  zuwenden,  und  das  Verdienst, 
die  Grundlage  geschaffen  zu  haben,  wird  sicher  von  alien  Seiten  dem 
Verfasser  der  „Studienu  und  Herausgeber  des  „Gregorianischen 
Registers"  neidlos  zuerkannt  werden. 
Berlin.  S.  Lowonfeld. 


XXXI. 
Petits  memoires  sur  l'histoire  de  France,  publies  sous  la  direction 

de  Marius  Sepet.    —   Les    derniers    Garolingiens   p. 

Ern.  Bab  el  on.  8°.  XI,  388.  Paris  1878.  3  Fr. 
Es  ist  gewiss  ein  anerkennenswerthes  Unternehmen,  weiten 
Kreisen  des  franzosischen  Volkes  hervorragende  Quellen  seiner 
Geschichte  in  guter  Uebersetzung  oder  Modernisirung  der  Sprache, 
hiibsch  ausgestattet,  mit  nicht  iiblen  Illustrationen  nach  Werken, 
die  auf  mittelalterlichen  Miniaturen  oder  sonstigen  Originalen 
beruhen,  fiir  einen  geringen  Preis  zuganglich  zu  machen. 
Babelon's  derniers  Carolingiens  haben  alle  erwahnten  Vorziige, 
aber  man  musste  an  eine  Darstellung  der  Geschichte  Frankreichs 
von  882 — 996  d'apres  Richer,  wie  der  Titel  hinzufiigt,  von  vorn- 
herein  mit  starkem  Misstrauen  horangehn.  Hen*  Babelon  hatte 
die  autres  sources  originates,  vor  Allem  Flodoard,  welchen  er  be- 
standig  nach  friiherer  irrthiimlicher  Schreibweise  Frodoard  nennt, 
zur  Berichtigung  des  ihn  benutzenden  Richer  starker  heran- 
ziehen  miissen.  Regino  und  sein  Fortsetzer  sind  auch  Herrn 
Babelon,  wie  den  meisten  franzosischen  Historikern,  nur  in  der 
Compilation  der  Metzer  Annalen  bekannt.    Dem  eleve  de  Fecole 


keine  Daten  haben  und  nicht  inner o  Griinde  massgebend  sind,  ist  ihre  Stellung 
der  reinen  Willkiir  unterworfen.  Noch  verwickelter  wird  die  Anordnnng, 
wenn  es  sich  um  ganze  Gruppen  von  Briefen  handelt. 

s)  Ob  dieses  letztere,  wie  Ewald  annimmt  (passim),  in  der  Weise  ge- 
schah,  dass  die  Conzepte  an  die  Kegistratur  abgeliefert  wurden,  ist  minde- 
stens  sehr  zweifelhaft;  fur  die  Zeit  seit  Innocenz  III.  ist  es  erwiesen,  dass 
die  Regesten  auf  Grundlage  der  Originate  entstanden  sind;  stehen  uns  fe 
die  Zeit  Gregors  auch  keine  position  Bewoiso  zu  Gebote,  so  entspricht  docn 
das  Copiren  nach  dem  Original  einzig  und  allein  einer  regelrechten  Ge- 
schaftsfuhrung,  und  alio  Erscheinungen,  die  Ewald  durch  das  entgegengesetete 
Verfahren  erklaren  will,  finden  auch  bei  jener  Annahmo  ihre  Doutung. 


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Lamprecht,  Beitrago  zur  Geschichte  des  franzde.  Wirthschaftslebens.   119 

des  chartes  hatte  es  nahe  liegen  miissen,  die  Urkunden  und  die 
wichtigen  Briefe  Gerberts  wenigstens  in  etwas  zu  beriicksichtigon. 
Er  folgt  fast  blind  und  ohne  Kritik  dem  unzuverlassigen,  in 
seiner  Nationaleitelkeit  selbst  zu  Falschungen  greifenden  Richer. 
Freilich  zeigte  dieser  bereits  die  echt  franzosischen  Vorziige 
einer  geschickten  stylistisch  gewandten  Darstellung  und  hat  daher 
mit  AusnahmeMonod's  noch  jeden  franzosischen  Forscher,  zuletzt  den 
oberflachlichen  Mourin  in  seinen  Comtes  de  Paris  (1869),  zu  all- 
zuweitgehender  Benutzung  verlockt.  Babelon  bietet  daher  den 
weiten  Kreisen,  welchen  sein  Buch  zuganglich  ist,  ein  arg  ver- 
zerrtes  Bild  der  franzosischen  Geschichte  in  der  wichtigen  Ueber- 
gangszeit  von  den  Karolingern  zu  den  Capetingern.  Es  ist  nach 
Sepet's  Abhandlung  Gerbert  et  le  changement  de  dynastie  im 
VU.  Bd.  der  Revue  des  questions  historiques  sehr  zu  bedauern, 
dass  er  nicht  selbst  diesen  Theil  der  petits  memoires  heraus- 
gegeben  hat. 
Konigsberg.  v.  Kalckstein. 


XXXII. 
Lamprecht,  K.      Beitrage  zur  Geschichte   dee  franzosischen 
Wirthschaftslebens   im    II.   Jahrhundert.     gr.   8.     (152  S.) 
Leipzig  1878.     Duncker  &  Humblot.     4  M. 

Der  Verfasser  bezeichnet  seine  Schrift  als  seine  Erstlings- 
arbeit  und  als  eine  Erstlingsarbeit  dem  Stoff  nach.  Wir  diirfen 
ihn  begliickwiinschen,  dass  er  in  die  wissenschaftliche  Welt  mit 
einer  so  vortrefflichen  Leistung  eintritt,  und  wollen  hoffen,  dass 
er  selbst  und  Andere  der  Erstlingsarbeit  auf  diesem  Gebiet 
wiirdige  fernere  Arbeiten  folgen  lassen. 

Namentlich  Guerard  hat  im  Anschluss  an  den  Polyptyque 
d'Irminon  und  andere  hervorragende  Cartularien  die  wirthschaft- 
lichen  Zustande  Frankreichs  durch  eine  Reihe  von  Jahrhunder- 
ten  hin,  wesentlich  im  Anschluss  an  den  weitverbreiteten  Besitz 
reicher  Kirchen  dargestellt.  Es  fehlt  auch  sonst  in  der  franzo- 
sischen Geschichtslitteratur  nicht  an  Werken  iiber  die  Geschichte 
einzelner  Stande,  aber  Herr  Lamprecht  giobt  uns  zuerst  die 
wirthschaftliche  Geschichte  eines  Jahrhunderts,  besonders  in 
Nordfrankreich  nach  dem  massenhaften  urkundlichen  Material 
und  mit  eingehender  Kenntniss  der  Litteratur. 

Es  kann  natiirlich  in  einer  solchen  Arbeit  an  kleinen  Ver- 
sehen  nicht  fehlen.  Ich  hebe  nur  S.  26  die  Datirung  der  Canones 
des  Abts  Abbo  von  Fleury  auf  den  Anfang  des  11.  Jahrhunderts 
hervor.  Diese  Sammlung  ist  996  abgefasst,  wie  die  Beziehungen 
auf  den  Streit  der  franzosischen  Kirche  mit  dem  Papst  unter 
Hugo  Capet  ergeben. 

Referent  wird  im  Folgenden  versuchen,  einen  Ueberblick 
der  wichtigsten  Ergebnisse  des  geschickt  geschriebenen  Buches 
zu  geben.  Nach  kurzer  Einleitung  behandelt  das  erste  Capitel 
die    Urproductionen.      Im    11.    Jahrhundert    beherrschte    der 

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120  Lamprecht,  Boitrage  zur  Geschichte  des  franzos.  Wirthschaftslebena. 

Ackerbau  noch  das  gauze  wirthschaftliche  Leben  Frankreichs. 
Im  Walde  zeigen  sich  die  Anfange  eiiier  rationelleren  Forst- 
wirthschaft,  der  Fischfang  horte  auf  Jedem  zuzustehn,  und  der 
Wieseiibau  breitete  sich  aJlmahlig  auf  Kosten  der  Weide  aus. 
Handel  und  Gewerbfleiss  zeigten  junge,  aber  kraftige  Keime, 
/ast  Jeder  bezog  noch  zugleich  Grundrente,  den  Lohn  der 
eigenen  Arbeit  und  den  Ertrag  des  verhaltnissmassig  geringen 
Capitals. 

Dichter  Wald  bedeckte  einen  grossen  Theil  Nordfrankreichs.  Der 
Ardennenwald  reichte  weit  iiber  die  Grenzen  des  Gebirges  hinaus, 
in  der  nachmaligen  Ile-de-France  lagen  die  ausgedehnten  Bannforste 
dor  Konige,  dagegen  hatte  man  im  Nordwesten  bereits  Miihe, 
grosse  Wildbahnen  zu  finden.  Im  Siidosten  arbeiteten  die  ver- 
haltnissmassig hohe  Cultur  der  Bourgogne,  der  sich  ausbreitende 
Weinbau  und  die  friihe  Auftheilung  des  Gemeindelandes  an  der 
Vernichtung  des  Dickichts.  Doch  gab  es  hier  Kastanienwalder, 
Nuss-  und  Olivenol  wurden  gewonnen  und  Weidengeblische  ge- 
pflegt.  Im  Norden  iiberwogen  die  fiir  die  Schweinemast  hock- 
wichtigen  Eichenwalder. 

Die  Ausnutzung  des  Waldes  gait  noch  dem  Volksbewussteein 
als  Jedem  zustehend,  obgleich  in  der  Normandie,  im  Saone-  und 
Rhonegebiete  Walder  getauscht,  im  Letzteren  sogar  Brennholz 
verkauft  wurde. 

Wildkatzen,  Wolfe  und  Schwarzwild  waren  noch  zahlreicli 
und  die  Jagd  bot  reichen  Erwerb,  zumal  mannigfach  Felle  zur 
Kleidung  verarbeitet  wurden.  Jeder  sollte  die  Jagd  nur  in  der 
Mark  seines  Wohnortes  iiben,  und  das  Feudalwesen  ergriff  auch 
den  Wald.  Fremde  Personen  und  Corporationen  besassen  das 
Obereigenthum  iiber  denselben,  wie  iiber  die  Ortschaften  selbst, 
ihre  Beamten  das  ausschliessliche  Jagdrecht  oder  doch  die 
hohere  Jagd.  Grosse  weigerten  sich,  Wildbahnen  zu  besserer 
Colonisation  aufzugeben,  selbst  Bischofe  griindeten  in  der  Nor- 
mandie Wildparks,  obwohl  der  Geistlichkeit  alle  Jagd  verboten  war. 

Das  Wachs  der  Waldbienen  gab  zur  Anfertigung  von  Kirchen- 
kerzen,  der  Honig  zur  Methbereitung  oder  als  Wiirze  reichen  Ertrag- 

Der  Wald  wurde  fast  nur  zur  Unterlage  fur  Scrvituten, 
welche  bis  zum  vollen  Niessbrauch  einschliesslich  Jagdrecht  und 
Zinseinnahmen  gingen.  Dann  behielt  der  Eigenthiimer  nor  das 
Verausserungsrecht  und  unbeschrankte  Nutzung.  Daneben  be- 
standen  gemessene  Dienstbarkeiten  fur  einzelne  Bediirfiiisse,  in 
Bezug  auf  den  Umfang  oder  den  Gegenstand,  z.  B.  auf  Reisig 
beschrankt  oder  fur  den  Bedarf  zur  Einfriedigung  der  Aecker 
und  an  Weinpiahlen. 

Weide-  und  Hutungsrecht  waren  gesondert  und  bezogen 
sich  meist  auf  Schweine  oder  Kleinvieh  in  bestimmter  Zahl.  Fiir 
Holz-  und  Weidenutzung  waren  oft  ansehnliche  Natural-  und 
Geldabgaben  zu  zahlen.  Neben  der  Eiche  galten  Eberesehe, 
Tanne  und  Fichte  als  Fruchtbaum,  die  Letzteren  hauptsachlicb 
wegen    der    in    manchen    Gegenden  betriebenen   Pechbereitung. 

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*5\V    ■ 


Lamprecht,  Bcitrage  zur  Geschichte  des  franzos.  Wirthschaftelebens.   121 

Die  Gemessenheit  der  Dienstbarkeiten,  besonders  im  Westen, 
bezeichnet  einen  Fortschritt,  aber  man  liess  meist  noch  das 
Holz  im  Walde  absterben  und  austrocknen. 

Die  Fischerei  stand  mit  der  Forstwirthschaft  im  engsten 
Zusammenhang  und  war  selbst  im  Meer  nicht  mehr  iiberall  frei. 
In  den  Fliissen  bestanden  raumliche  und  zeitliche  Nutzungsrechte, 
oder  gewisse  Fisch-  und  Fangarten  waren  ausgeschlossen.  Die 
Fischerei  war  meist  das  Gewerbe  niedriger  und  unfreier  Leute, 
war  aber  der  Geistlichkeit  gestattet.  Man  benutzte  schon  Schleusen 
und  zur  Aufbewahrung  Fischgraben,  trieb  die  Fischerei  mit 
Licht  und  Schleppnetz.  Aale  scheinen  besonders  beliebt  ge- 
wesen  zu  sein.  Die  Fischerei  war  im  wasserreichen  Norden  und 
Westen  sehr  stark  und  die  Kloster  betrieben  eifrig  die  Teich- 
wirthschaft. 

Der  Begriff  der  Weide  gait  fur  die  Wuhlorte  der  Schweine, 
wie  fiir  das  Weiderecht  in  Feld  und  Wald.  Man  liess  wohl  die 
Weide  im  Fruhjahr  eine  Zeitlang  unabgehiitet  und  machte  sio 
so  zur  halben  Wiese,  oder  offnete  die  abgemahten  Wiesen  dem 
Vieh.  Die  Stallfiitterung  machte  bereits  Fortschritte ;  man  be- 
gann,  auf  ein  gewisses  Verhaltniss  der  Wiese  zum  Acker  zu 
halten,  und  verwandelte  Wald  und  Feld  in  Wiesen. 

Noch  waren  die  Dorfhirten  wichtige  Personlichkeiten,  welche 
jeden  von  ihren  Thieren  angerichteten  Schaden  biissen  mussten. 
hn  N.-W.  wurde  bedeutende  Pferde-  und  Rinderzucht  getrieben, 
gab  die  Zucht  der  Schweine  vor  Allem  reichen  Ertrag,  da  ihr  Preis 
verhaltnissmassig  sehr  hoch  war.  Die  Schafheerden  Frankreichs 
lieferten  neben  denen  Englands  der  flandrischen  Tuchindustrio 
die  Wolle.  S.  Omer  war  ein  sehr  bedeutender  Markt,  wie  das 
rom  Verfasser  noch  nicht  benutzte  vortfeffliche  Werk  von 
Giry  nachweist :  Histoire  de  la  ville  do  S.  Omer  et  de  ses  insti- 
tutions jusqu  'au  14.  siecle,  Paris  1877.  (Das  31.  Heft  der 
hochst  beachtenswerthen  Bibliotheque  de  Pecole  des  hautes 
etudes.)  Die  Schafe  lieferten  auch  Milch  und  Kase,  wurden  im 
Siiden  im  Sommer  auf  die  Alp  geschickt  und  als  Fleischthier 
geschatzt.  Im  S.-O.  machte  das  Maulthier  den  Pferden  Con- 
currenz.  Im  Ganzen  stand  die  Viehzucht  noch  nicht  auf  hoher 
Stufe. 

Beim  Anbau  neuen  Landes,  bisweilen  beim  Verkauf,  wurde 
das  Land  vermessen  und  mit  Steinen  begrenzt.  Die  Ernten 
wurden,  wie  schon  in  der  Zeit  der  Volksrechte,  gegen  das  Vieh 
umzaunt,  Weinberge  und  Garten  besonders  eingefriedigt. 

Wohn-  und  Wirthschaftsgebaude  waren  meist  von  Holz,  der 
Pflug  die  einzige  Maschine,  Ochsen  bis  auf  die  wirthschaftlich 
hochstehende  Gegend  von  M4con  das  Ackerthier.  Der  kleine 
Besitzer  arbeitete  in  mancher  Landschaft  nur  mit  Grabscheit 
und  Hacke.  Fast  nur  Schafdiinger  wurde  verwerthet.  Die  ein- 
heitlichen  Wirthschaftscomplexe  waren  klein  und  das  altherkomm- 
Uche  Kerbholz  geniigte  zur  Abrechnung. 

Die  Dreifolderwirthschaft  herrschte  durchaus  vor,  doch  hielt 


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122  Lamprecht,  Beitr&ge  zur  Geschichte  des  franzos.  Wirthschaftslebens. 

sich  namentlich  in  Berglandern,  besonders  im  Walde,  noch  die 
Brenncultur  (exarteria),  wurde  aber  vielfach  durch  die  Drei- 
felderwirthschaft  verdrangt.  Oft  schien  der  Gartenbau  noch 
lohnender  als  Weinbau  und  war  bei  dem  Fehlen  eines  Gemiise- 
handels,  der  Vorliebe  der  Monche  dafiir,  weit  zerstreut,  auch  gab 
es  Grasgarten  (viridarium). 

Man  erinnerte  sich  noch,  dass  urn  Chartres  Weinberge  selten 
gewesen,  jetzt  reichten  sie  bis  in  die  Bretagne,  Normandie  und 
nach  Artois  sowie  nach  dem  Nordosten. 

Namentlich  im  Siidosten  wurde  oft  mitten  im  Weinberge 
Obst  gebaut,  meist  in  einem  anliegenden  Feld  (vircaria).  Bis- 
weilen  folgte  der  Weinstock  orst  dem  Obstbaum.  Weiden- 
gebiisch  (salicetum  od.  virgultum)  wurde  zur  Gewinnung  des 
nothigen  Holzes  angelegt,  der  Boden  oft  als  Wiese  benutzt  Die 
noch  sehr  urspriinglichen  Weinpflanzungen  (plantata)  wurden  nach 
funfjahriger  Dauer  als  tragend  angesehen  und  beim  regelmasaigen 
Umgraben  bestellt.  Die  Ernte  fand  im  Siiden  im  August,  sonst 
meist  im  September  statt.  Der  im  Verhaltniss  yon  1 : 5  schwia- 
kende  Ertrag  wurde  durch  den  Fruchtlesezwang  beeintrachtigt, 
da  Naturalleistungen  auf  dem  Weinberg  lasteten. 

Die  mechanische  Kelter,  oft  fiir  mehrere  Winzer,  war  schon 
weit  verbreitet,  doch  beeintrachtigte  mangelhafte  Behandlung  die 
Giite  des  um  Pfingsten  als  verkaufsfahig  geltenden  Weines. 

Ueberhaupt  dehnte  man  den  Anbau  und  Betrieb  eifrig  aus, 
dachte  aber  wenig  an  Verbesserungen.  Der  Bodenpreis  war  noch 
zu  niedrig,  die  Verkauflichkeit  zu  sehr  gehemmt.  Ernteausfalle 
brachten  furchtbare  Hungersnothe.  Nur  an  einem  Theil  der 
Loire  war  1003  den  Ueberschwemmungen  durch  Damme  vorge- 
beugt,  und  die  Fehden  wirkten  furchtbar  verheerend. 

Doch  heilten  (seit  dem  letzten  Drittel  des  10.  Jahrhunderts) 
die  Wunden  der  Normannenzeit,  ein  neues  Wirthschaftsleben  be- 
gann  auf  den  Triimmern.  Noch  gab  es,  auch  in  Folge  holier 
Abgaben  und  Armuth,  viele  verlassene  Aecker  und  Dorfer.  Aber 
man  beutete  (wie  heute  im  Westen  Nordamerikas)  die  Kraft  des 
jungfraulichen  Neulandes  riicksichtslos  aus. 

Es  entstand  eine  ausgedehnte  Colonisation,  es  gait  fur  vor 
Gott  verdienstlich,  unfruchtbare  Strecken  anzubauen.  Siimpfe 
wurden  nur  im  Siiden,  namentlich  von  den  capitalkraftigstcn 
Corporationen,  den  Klostem,  ausgetrocknet.  Die  Masse  der 
Neubauer  rodete  und  brannte  schon  seit  den  Karolingerzeiten 
den  Wald,  zerschlug  das  Rodeland  in  Ackerloose  und  grundete 
auch  Colonien  mitten  im  Wald.  Um  die  zuerst  gebauten  ein- 
samen  Kirchen  siedelten  sich  nach  und  nach  Familien,  Hof  an 
Hof  an,  eine  gemeinsame  Weide,  Wege  wurden  angelegt  und 
ein  neues  Dorf  entstand. 

Lamprecht  behandelt  in  dem  2.  Capitel  Feldsysteme  rod 
Landvertheilung.  —  Die  wesentlich  beschrankte  Dmlaufisiahig- 
keit  der  Producte  begriindete  das  starke  Uebergewicht  der  Weiler 
(villae)  und  Dorfer  (vici)  iiber  die  Burgen  und  Stadte  (civitates). 


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Lamprecht,  Beitr&ge  zur  Geachichto  des  franzos.  Wirthschaftalebens.  123 

Unter  dem  Dorf  begriff  man  auch  die  Feldmark,  die  Zahl  dazu  ge- 
horiger  selbststandiger  Wirthschaften  betrug  gewohnlich  15 — 20. 
Oft  hingen  davon  Weiler,  Dorfchen  und  andere  kleine  Ansiedlungen 
ab,  namentlich  vom  Kirchdorf  (plebicula,  plebs,  parochia).  Ein 
System  von  Einzelhofen  bestand  fast  nur  in  Flandern,  unter- 
halb  und  nordlich  von  Rouen  und,  wie  bekannt,  in  der  Vendee. 

Das  urspriingliche,  der  deutschen  Hufe  entsprechende  Acker- 
gut,  der  mansus,  der  bisweilen  einen  besonderen  Namen  fiihrte, 
enthielt  zunachst  die  meist  durch  Graben  abgeschlossene  Hof- 
statte,  dann  die  in  der  Kegel  nur  nahe  am  Dorf  bebauten  Felder, 
meist  in  drei  Schlagen  und  innerhaJb  derselben  gleich  grossen 
Aeckern. 

Der  Flurzwang  hemmte  hier  Verbesserungen,  dagegen  konnte 
der  Besitzer  Theile  des  unbebauten  Gemeindelandes  durch  Zaune 
als  novale  oder  clausum ,  exquirendum  oder  inquirendum  oder 
quaesitum,  dem  deutschen  Bifang  entsprechend,  zum  Privateigen- 
thum  machen  und  hier  selbststandig  wirthschaften.  In  der  ge- 
meinen  Mark  d.  h.  Wald,  Weide,  Wasser  und  Gemeindeland  er- 
hielten  die  Bauern  friih  bestimmte  Nutzungsrechte.  Namentlich 
durch  die  Normannenzeit  war  die  Mobilisirung  von  Grand  und 
Boden  eingetreten  und  hatte  zur  Zerstiickelung  und  Haufung  des 
Besitzes  gefiihrt.  An  der  Saone  wurde  die  Hufe,  mansus,  schon 
mit  der  Hofetatte  mansio  verwechselt,  in  Auvergne  und  Poitou 
verlor  sie  als  massus  den  wirthschaftlichen  Charakter. 

Neue  anfangs  von  ihm  abhangigeWirthschaftseinheiten  drangten 
den  mansus  zuriick,  in  Saintonge,  Poitou  und  Limousin  bis  zur 
Auvergne  die  Borderia,  deren  Hauptgrundlage  der  Ackerbau  ist. 
Sie  lag  wohl  meist  nach  der  ausseren  Dorfgrenze,  der  Flur  zu,  war 
ein  neuer  ungefahr  halb  so  grosser  Anbau  auf  dem  mansus  und 
zunachst  mit  Zinsen  und  Lasten  oder  Abgabe  eines  Theils  vom 
Ertrag  an  den  mansus  belastet. 

Von  Bourgogne  bis  nach  Viennois  und  Limousin  zog  sich  die 
condamina,  ein  bisweilen  eben  erst  in  Cultur  genommenes  Kathner- 
gut  im  Dorfe  selbst,  meist  gehorte  auch  das  Inventar  dem  Herrn. 
Das  ahnliche  casale,  von  Viennois  bis  zur  Auvergne,  konnte  auch 
in  der  Stadt  liegen  und  umfasste  wenig  mehr  als  eine  Hiitte. 
Durch  diese  Wirthschaften  verwertheten  grosse  Grundeigenthiimer 
wenig  lohnende  Landereien. 

Die  grosse  Fruchtbarkeit  von  Siidostfrankreich  massigte  dort 
fruh  den  Flurzwang.  Es  hatte  sich  hier  bereits  der  curtilus  oder  das 
curtilum  entwickelt,  im  Wesentlichen  ein  Weinberg  mit  Obstgarten 
und  Weidengebiisch.  Dazu  kamen  Wald  und  bisweilen  zur  Brenn- 
cultur  berechtigende  Waldnutzungen,  Garten  und  Wiesen,  der 
Werth  betrug  durchschnittlich  1/6  von  dem  mansus. 

Diese  Giiter  lagen  bis  nordlich  von  M&con  und  in  die  Slid- 
auvergne,  meist  im  novale,  und  bildeten  oft  bis  zu  3  an  der 
Zahl  mit  dem  mansus  einen  m.  melioratus,  wurden  aber  auch 
oft  das  Hauptgut  oder  losten  sich  ab.  Werth  und  Grosse 
Btiegen,  zumal  hier  nicht   der  Flurzwang   den   wirthschaftlichen 

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124  Lamprecht,  Boitrage  zur  Geschicbto  des  franzos.  Wirthschaftslebens. 

Fortscliritt  hemmte.     Aehnlich,  wenn  auch  sparlicher,  entwickelte 
sich  das  Weingut  in  Poiton. 

Oestlich  vom  Verbreitungsgebiet  der  Borderia,  im  Suden 
der  Diozese  Clermont,  in  den  Bisthiimern  Puy,  Viviers  bis  Rodez 
und  Lodeve  fand  sich  die  Appendaria  fern  vom  Dorf  auf  der 
Flur,  bisweilen  auch  mit  dem  mansus  zusammenhangend,  im 
Wesentlichen  Ackergut. 

Mehr  und  mehr  nahm  der  bunte  Wechsel  grosser  und  kleiner 
Giiter  zu.  Es  gab  im  Siiden  in  massigen  Schranken  Zwerg- 
wirthschaft,  sonst  iiberwogen,  besonders  im  Nordwesten,  mittlere 
Giiter  und  leidlicher  Wohlstand.  Der  Arme  pflegte,  ausser  im 
N.-O.,  Ochsen  und  Kiihe  zu  besitzen  und  eine  arme  Frau  im  reichen 
S.-W.  verfiigte  iiber  Land,  5  Ochsen  und  ein  Stiick  Weinberg.  Die 
fortschreitende  Colonisation  bot  dem  Thatigen  giinstige  Aussichten. 

Selbst  die  grossen  Herrschaften  des  Nordens  wurden  meist 
in  mittlerem  Betrieb  bewirthschaftet ,  der  Herr  ganzer  Dorfer 
bebaute  selbst  oder  durch  Frohndienste  nur  ein  nicht  seir 
grosses  Herrengut  (Indominicatum)  und  gab  das  Uebrige,  oft 
gegen  geringen  Entgelt  und  auf  sehr  lange  Dauer  in  fremie 
Hand.  Bei  Verausserung  und  Vererbung  von  Lehen  wurde  woU 
gar  der  geringe  Kecognitionszins  verweigert 

Namentlich  entwickelte  sich  eine  Reihe  von  Pachtsystemen, 
mit  denen  zum  Theil  eine  Menge  realer  und  personlicher  Lasten 
und  Leistungen,  Dienste  und  Abgaben,  Zehnten  und  Zinsen,  Her- 
kommen  und  Brauche  verbundon  war.  Diese  wurden  oft  urkuud- 
lich  festgestellt,  weil  die  Wirthschaftsbeamten  des  Herrn  g«rn 
neue  Lasten  erfanden. 

Die  urspriinglichen  Hand-  und  Spanndienste  oder  Natural- 
abgaben,  namentlich  Fleisch  und  Fische,  wurden  friih,  z.  Th.  fast 
voUstandig,  unter  Vereinbarung  der  Ablosungssumme  abgelost 
Man  nahm  vielfach  ein  Verhaltniss  zum  Ertrag  von  20  bis  30°/0 
an,  bei  dem  wahrscheinlichen  Zinsfass  von  12%,  und  1,2  (so  ist 
statt  0,2  zu  lesen)  bis  2,7%  vom  Preis  des  Zinsgutes, 

Die  bekannte  Form  der  Precaria  hielt  sich  im  S.-O.  das 
ganze  Jahrhundert  hindurch,  verschwand  im  S.-W.  viel  friiher 
und  kam  in  der  Mitte  nur  in  der  ersten  Halfte  des  Jahrhunderts 
vor.  Die  precaria  durfte  in  Theilbau  gegeben  werden,  bei  ihrem 
Riickfall  traten  stets  Schwierigkeiten  von  Seiten  des  Inhabers 
oder  seiner  Verwandten  ein 

Neben  ihr  war  besonders  in  der  Mitte  und  im  W.  die 
manus  firma  verbreitet,  ein  Pachtvertrag,  meist  auf  3  Generationon 
mit  hoherem  Zins. 

Bei  der  Verausserung  haftete  der  Kaufer  fur  den  Zins,  der 
wirkliche  Heimfall  war  gradezu  ungewohnlich  und  die  manos 
firma  wurde  zur  Erbpacht. 

Neben  diesen  Formen  bestimmte  mehr  und  mehr  der  The!- 
bau  den  wirthschaftlichen  Charakter  Frankreichs.  Die  altere 
allgemein  verbreitete  Form  heisst  campi  pars  (champart),  agrariuin 
(agrier),  terragium   (terrage).     Der   Theilbauer  musste  bis  xar 

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Lamprecht,  Bcitrago  zur  Geschichte  des  franzos.  Wirthschaftslebena.  125 

Halfte  des  Ertrages  und  ausserdem  nach  der  Gegend  vielfach 
wechselnde  Abgaben  zahlen.  Dem  Herrn  gehorte  meist,  wie  bei 
fast  alien  Pachtverhaltnissen  des  Jahrhunderts,  daslnventar,  dagegen 
waren  die  Wirthschaftsgebaude  haufig  Eigenthum  des  Pachters. 
Wichtiger  war  fur  den  Weinbau  der  sich  seit  Beginn  des 
Jahrhunderts  ausbreitende  Complant.  Diese  Art  Theilbau  herrschte 
von  Poitou  durch  Marche  bis  nach  Siidauvergne.  Im  ganzen 
Sudosten  fand  sich  der  medius  plautus,  iiberall  die  Bezeichnung 
mediatus.  Der  Zins  betrug  in  besonderen  Fallen  nur  lj%  vom 
Ertrag,  abgesehen  von  mannigfachen  Nebenabgaben. 

Die  oft  recht  grossen  Complants  lagen  in  der  Regel  in  der  Flur 
und  waren  meist  zunachst  die  Form  des  Erwerbs  von  Nutzbesitz. 
Neuland  wurde  auf  3 — 7  Jahre  zum  Anbau  tiberwiesen,  dann 
in  2  Halften  getheilt  und  der  Ertrag  der  einen  als  Pacht  be- 
8timmt.  Der  Herr  konnte  den  Complant  ganz,  die  Nutzung  auch 
theilweise  veraussern,  durfte  ihn  oft  allein  kaufen  oder  in 
Pfand  nehmen;  doch  stand  dem  Bauern  oft  nach  dreimaligem 
oder  einmaligem  Angebot  an  den  Herrn,  mit  dessen  Beirath  und 
Zustimmung  die  Verausserung  des  Gutes  zu,  wobei  der  Kaufer 
namentlich  betreffe  der  Beendigung  des  Vertrages  den  gleichen 
Bedingungen  unterworfen  blieb. 

Derselbe  gait  in  der  Regel  auf  Lebenszeit,  aber  die  Rtick- 
gabe  war  auch  hier  am  Ende  des  Jahrhunderts  nur  durch  Zu- 
gestandnisse  zu  erkaufen,  der  complant  entwickelte  sich  gradezu 
zur  manus  firma  und  gestattete  dem  Aermsten,  unter  leidlichen 
Bedingungen  Pachter  zu  werden. 

Der  Raum  verbietet,  auf  das  dritte  Capitel,  landarbeitende 
Stande,  Ackerbau  und  Handwerk,  ausfuhrlich  einzugehen,  die 
dort  beriihrten  Verhaltnisse  sind  allgemeiner  bekannt  und  der 
deutschen  Entwickelung  verwandter.  Beachtenswerth  sind  die 
Angaben  fiber  den  Preis  der  Landarbeit  und  der  Unfreien. 
Dieser  ist  wenig  h5her,  als  der  Preis  einer  vollen  Jahresarbeit, 
betragt  nur  y8  von  dem  eines  Pfluggespanns,  wenig  mehr  als  Vs 
des  hohen  Pferdepreises.  Es  lag  wohl  wesentlich  darin,  dass 
die  Leistungen  der  Unfreien  meist  schon  bemessen  waren,  dass 
ihre  Krafte  nicht  vollkommen  ausgeniitzt  werden  durften.  Eine 
Hebung  ihrer  Lage  ist  unverkennbar,  tritt  namentlich  in  dem 
den  deutschen  Fiscalinen  verwandten  Verhaltniss  der  coliberti 
bervor.  Diese  erscheinen  bald  als  Ackerbauer,  bald  als  Hand- 
werker,  auch  als  Wirthschaftsbeamte.  Der  Vater  des  Colibertus 
war  hin  und  wieder  ein  Freier  gewesen,  er  selbst  besass  oft 
nicht  geringe  Mittel,  war  stolz  auf  Heimat  und  Eltern,  deren 
Namen  er  gern  dem  seinen  hinzufugte.  Kurz  er  war  der  Aristokrat 
nnter  den  Unfreien.  Die  Coliberti  kamen  von  Saintes  und 
Bourges  bis  nordlich  von  Paris  und  zur  Grenze  der  Bretagne  vor. 
Wahrend  die  wirthschaftliche  Lage  dieser  und  anderer 
Unfreien  sich  verbesserte,  sanken  die  Freien  in  rechtlicher  Be- 
ziehung  mehr  imd  mehr  herab,  die  bauerliche  Bevolkerung 
schmolz  zu  einer  Masse  zusammen.     Arme  Freie   gelangten   in 

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126  Rohricht,  Beitrage  zur  Geschichte  der  Kreuzzuge. 

Saintonge,  Poitou,  den  Diozesen  Chalons  und  M&con  und  nordlich 
davon  als  Colonisten,  als  hospites,  in  bessere  wirthschaftliche 
Lage.  Sie  bereiteten  wiiste  Strecken  und  Wald  fur  den  inten- 
siveren  Anbau  vor  und  wurden  dann  oft  gehindert  weiter  u 
ziehen  und  gleich  den  iibrigen  Bauern  mehr  und  mehr  an  die 
Scholle  gebunden.  Man  erwartete  bisweilen  ihre  Ergebung  in 
Unfreiheit.  Man  nannte  sie  auch  habitatores,  convenae  oder  ad- 
venae,  coloni,  pulverei  und  albani  (aubains).  Bisweilen  traten 
sie  in  das  Verhaltniss  des  champart  ein,  die  hospites  wurden  unent- 
geltlich  angesiedelt  und  blieben  meist  einige  Jahre   abgabenfreL 

Dann  traten  sie  unter  die  Gerichtsgewalt  des  Herrn,  zahlten 
fiir  den  Schutz  ein  nach  der  Grosse  ihres  Besitzes  bemessenes 
salvamentum,  batten  fur  den  Loskauf  aus  der  Gefangenschaft, 
Verheiratung  der  Tochter,  Kauf  einer  Burg  durch  den  Herrn 
taiile  aufzubringen. 

Auch  das  vierte  Capitel,  Natural-  und  Geldwirthschaft,  be- 
handelt  grossentheils  bekannte  Dinge,  stellt  die  grossen  Er- 
schwerungen  des  Kaufs  und  Verkaufs,  namentlicb  durch  is 
Lehnswesen  und  durch  willkiirliche  Zolle  und  Verkaufsabgabea 
dar.  Am  meisten  ausgebildet  erscheint  die  Geldwirthschaft  be- 
reits  in  der  Normandie,  wo  ofter  Kauf  und  Verleihung  an  dea 
Meistbietenden  vorkommen. 

Der  Credit  ist  natiirlich,  wie  das  Handwerk,  noch  in  den 
Anfangen,  4600  Solidi  sind  die  hochste  in  Frankreich  als  Ter- 
fiigbare  Zahlungsmittel  erwahnte  Summe.  (Besan^on,  wo  der 
Verf.  7000  Solidi  als  erwahnt  nachweist,  gehort  zu  Burgund.) 

Ein  dankenswerther  Anhang  der  vortrefflichen  Schriftgiebt 
eine  Anzahl  von  Preisangaben  und  erlautert  dieselben. 
Konigsberg.  v.  Kalckstein. 


xxxni. 

Rohricht,  Reinhold.    Beitrfige  zur  Geschichte  der  Kreuzzuge. 

2.  Band.  8.   (VIII,  452  S.)  Berlin  1878.    Weidmannsche  Buch- 

handlung.     10  M. 

Der  im  Jahre  1874  erschienene  erste  Band  von  Rohricht's  Bei- 
tragen  zur  Geschichte  der  Kreuzzuge,  welchen  der  Herr  Verf.  selbst 
in  dieser  Zeitschrift  (Jahrg.  II,  S.  221  ff.)  angezeigt  hat,  enthielt  dra 
Arbeiten  verschiedenen  Lnhalts:  eine  Darstellung  des  Kreuzzuges 
Kaiser  Friedrich's  II.,  eine  Greschichte  des  Feldzuges  Saladifl?s 
gegen  die  Christen  1187  und  1188,  und  Auszuge  aus  Kamal-ad-diVs 
Geschichte  von  Aleppo  in  der  Uebersetzung  von  S.  de  Sacy. 
Der  jetzt  vorliegende  zweite  Band  beschaftigt  sich  nur  mit  einem 
Gegenstande,  mit  den  deutschen  Pilger-  und  Kreuzfahrten  nack 
dem  heiligen  Lande  bis  zum  Jahre  1300.  Der  Verf.  erklart  in 
der  Vorrede,  dass  der  Entschlugs  zu  dieser  Arbeit  sich  haupt- 
sachlich  aus  einem  patriotischen  Gefuhl  entwickelt  hat,  es  ei- 
schien  ihm  als  eine  nothwendige  und  lohnende  Aufgabe,  ahnliA 
wie  dieses  fur  andere  Lander  schon  langst  geschehen  ist,  so  anch 

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RBhricht,  Beitrage  zar  Geschichte  der  Kreuzzuge.  127 

fur  Deutschland  den  Antheil,  welchen  unsre  Nation  an  den 
Kreuzziigen  genommen  hat,  die  Thaten  der  Deutschen  im  Morgen- 
lande,  in  einer  ubersichtlichen  Darstellung  zu  vereinigen.  Um 
die  grossen  Schwierigkeiten  dieser  Arbeit,  welche  sich  iiber 
einen  Zeitraum  von  mehr  als  2  Jahrhunderten  zu  erstrecken 
hat,  nicht  unnothig  zu  vermehren,  hat  er  dem  Begriff  Deutsch- 
land nicht  die  weiteste  Ausdehnung  gegeben,  sondern  solcho 
Gebiete,  welche  schon  damals  zu  dem  Deutschen  Reiche  nur 
noch  in  einer  losen,  heute  in  gar  keiner  Verbindung  stehen 
(Burgund,  Lothringen,  die  Niederlande),  ausgeschlossen,  wenigstens 
die  Thaten  und  Geschicke  der  diesen  L&ndern  angehorigen  Kreuz- 
fahrer  nicht  mit  derselben  Ausfiihrlichkeit  behandelt,  wie  die 
der  aus  den  eigentlichen  deutschen  Landen  stammenden.  Eine 
Bolche  Einschrankung  der  Aufgabe  muss  gewiss  als  gerechtfer- 
tigt  erscheinen,  dagegen  wiinscht  Ref.,  dass  der  Verf.  dieselbe 
nach  einer  anderen  Seite  hin  etwas  weiter  ausgedehnt  hatte. 
Die  Geschichte  des  deutschen  Ritterordens  im  heiligen  Lande 
hat  hier  keine  irgendwie  eingehendere  Darstellung  gefimden,  von 
diesem  Orden  ist  hier  nur  ebenso  beilaufig  wie  von  den  Templern 
und  Johannitern  die  Rede,  selbst  die  Griindung  desselben  wird 
in  kurzester  Weise  berichtet.  Ein  Capitel,  welches  die  aussere 
und  innere  Geschichte  dieses  Ordens  im  Morgenlande  im  Zu- 
sammenhange  und  ausfiihrlich  behandelte,  wiirde  unsrer  Meinung 
nach  ein  sehr  passender  Abschluss  fiir  diese  Arbeit  gewesen  sein, 
welche  es  sich  ja  zur  Aufgabe  stellt,  „die  Erinnerung  an  die 
Thaten  unsrer  Nation  im  heiligen  Lande  wach  zu  rufen  und  zu 
befestigen".  Vielleicht  bringt  ein  spaterer  Band  der  Beitrage 
uns  hiefur  Ersatz. 

Die  vorliegende  Arbeit  zeugt  von  grossem  Fleisse  und  aus- 
gebreiteter  Gelehrsamkeit.  Der  Verf.  ist  nicht  nur  mit  dem 
abendlandischen  Quellenmaterial  fur  die  Geschichte  der  Kreuz- 
zuge auf  das  besto  vertraut,  sondern,  als  Kenner  des  Arabischen 
und  der  arabischen  historischen  Litteratur,  hat  er  auch  von  den 
orientalischen  Quellen  einen  viel  weiteren  Gebrauch  machen 
konnen,  als  es  den  meisten  anderen  Historikern  moglich  ge- 
wesen sein  wiirde.  Dazu  kommt  dann  eine  ausgedehnte  Kennt- 
niss  der  neueren  seinen'Gegenstand  betrefifenden  Litteratur,  nicht 
nur  der  deutschen,  franzosischen  und  englischen,  sondern  auch 
der  anderer,  fiir  die  Wissenschaft  entlegenerer  Lander.  Wenn 
der  Vert  fur  die  Geschichte  der  crsten  vier  Kreuzzuge  sich  in 
der  gliicklichen  Lage  befunden  hat,  auf  zahlreichen  vortrefflichen 
Vorarbeiten  fussen  zu  konnen,  und  wenn  er  hier,  obwohl  er  be- 
8tandig  auf  die  Originalquellen  zuriickgegangen  ist,  doch  im 
Grossen  und  Ganzen  die  Resultate  friiherer  Forschungen  wieder- 
gegeben  hat,  so  hat  er  dagegen  ebensowohl  fiir  die  Vorgeschichte 
der  Kreuzzuge,  wie  auch  fiir  die  Geschichte  der  spateren  Expe- 
ditionen  erst  selbst  an  vielen  Stellen  die  grundlegenden  For- 
schungen anstellen  miissen.  Er  hat  diese  Specialstudien  grossten- 
theik  schon  ftiiher   in   einer   Reihe   von   Abhandlungen,  welche 


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128  Bohricht,  Beitrfige  zur  Geschichto  der  Kreuzzfige. 

theils  in  Sybel's  historischer  Zeitschrift,  theils  in  den  Forschungen 
zur  deutschen  Geschichte  und  in  Raumer's  historischem  Taschen- 
buch  erschienen  sind,  veroffentlicht  und  er  hat  hier  meist  nor 
die  Resultate  derselben  verwerthen,  fur  das  Einzelne  auf  jene 
friiheren  Arbeiten  verweisen  konnen.  Trotzdem  ist  auch  hier 
den  Anmerkungen  eine  sehr  bedeutende  Ausdehnung  gegehen 
worden.  Dem  franzosischen  Muster  folgend,  hat  der  Ver£  die- 
selben  nicht  auf  den  einzelnen  Seiten  unter  den  Text  gesetzt, 
sondern  den  einzelnen  Abschnitten  hinten  folgen  lassen.  Er 
selbst  bemerkt  in  der  Vorrede,  dass  dieser  Notenapparat,  „um 
dem  gelehrten  Leser  eine  Controle  und  die  Mittel  zu  Detailstudien 
zu  geben,  ausserordentlich  reich  ausgestattet  ist,"  und  in  der  That 
finden  wir  dort  nicht  nur  fortlaufend  die  chronikalischen  und 
urkundlichen  Quellen,  auf  denen  die  Darstellung  beruht,  ange- 
fiihrt,  nicht  seiten  die  Worte  derselben,  auch  langere  Stellen, 
ausgeschrieben  (einige,  zwar  nicht  ganz  neue,  aber  doch  wenig 
bekannte  urkundliche  Denkmaler  sind  hier  vollstandig  abge- 
druckt,  so  S.  217  ein  von  dem  Grossmeister  der  Johanniter  mt 
gestellter  Invalidenpass,  S.  322  ein  Brief  des  Grossmeisters  4a 
Tempelherren  an  den  Bischof  von  Orleans  vom  Jahre  1243,  8. 
287  flf.  zwei  weitere  Briefe  aus  dem  Morgenlande),  sondern  da- 
neben  auch  Verweise  auf  jene  zahlreichen  und  verschiedenartigen 
Hiilfemittel,  welche  der  Verf.  selbst  benutzt  hat  und  deren  Kennt- 
ni8s  er  auch  dem  Leser  eroflEnet.  Uns  scheint  hier  des  Guten 
etwas  zu  viel  gethan.  Der  Verf.  verwendet  namlich  die  Fiille 
seiner  Gelehrsamkeit  nicht  nur  zur  Begriindung  und  Erlautenmg 
solcher  Punkte,  welche  zu  seinem  eigentlichen  Thema  gehoren, 
sondern  auch  anderer  Gegenstande,  welche  im  Texte  selbst,  weil 
ausserhalb  dieses  Themas  liegend,  nur  kurz  und  beilaufig  er- 
wahnt  sind.  So  lehrreich  diese  Nachweise  iiber  die  verschieden- 
artigsten  Gegenstande,  auch  der  ausserdeutschen  Geschichte, 
auch  sein  mogen,  so  werden  sie  doch  kaum  recht  fruchtbriDgend 
sein  konnen,  da  die  wenigsten  sie  in  diesem  Werke  iiberhaupt 
suchen  werden.  Ferner  sind  diese  Uebersichten  iiber  Quellen 
und  Litteratur  fur  die  verschiedenartigsten  Punkte  doch  nicht 
iiberall  erschopfend,  und  endlich  haben  bei  der  Massenhaftigkeit 
der  Citate  Irrthiimer  und  Ungenauigkeiten  im  Einzelnen  nicht 
ganz  vermieden  werden  konnen.  Von  beiden  letzteren  Fallec 
sind  dem  Ref.  auf  dem  ihm  bekannteren  Gebiete  manche  Beispiele 
aufgestossen:  S.  15  Anm.  9  (zu  S.  5)  citirt  der  Verf  als  Quellen 
fur  den  1087  auf  Antrieb  Papst  Victor's  II.  (soil  heissen  III) 
unternommenen  Zug  der  Pisaner  und  Genuesen  nach  der  Nord- 
kiiste  von  Africa:  Wilhelm  von  Tyrus  I,  10  und  Baldricus  I 
S.  86,  die  eigentlichen  Quellen  dafiir  aber  sind:  Annales  Pisani 
a.  1088,  Caffari  Annales  Januenses,  Bernoldi  chron.  a.  1088, 
Gaufred  Malaterra  IV,  3  und  vor  Allem  das  von  du  Meril  heraas- 
gegebene  Volkslied  (s.  Forsch.  z.  d.  Gesch.  VII,  S.  102).  S.  18 
Anm.  18  (zu  S.  10)  fehlt  in  der  Aufzahlung  der  Litteratur  iiber 
die  Kampfe  und  Eroberungen  der  Araber  im  Westen  des  Mittel* 


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Rohricht,  Beitrilge  zar  Geschichte  der  Kreuzzuge.  129 

meeres  das  Hauptwerk:  Amari,  Storia  dei  musulmani  di  Sicilia, 
wahrend  das  ganz  werthlose  Buch  von  la  Primaudie  (soil  heissen 
Primaudaie)  kaum  die  Erwahnung  verdient.  S.  49  Anm.  38  and 
auch  noch  spater  (S.  51)  wird  als  Quelle  citirt:  Lupus  Proto- 
plast, bei  Pertz  III,  62;  gemeint  ist  die  unteritalische  Chronik 
des  Lupus  Protospatarius,  welche  bei  Pertz  VII  (SS.  V)  abge- 
druckt  ist.  S.  56  Anm.  101  wird  fur  einen  Kreuzzug  der  Vene- 
tianer  1123  citirt:  Le  (soil  heissen  De)  Blasiis.  La  insurrezione 
pugliese  e  la  conquista  normanna  ad  ann.,  vgl.  Romania  (soil 
heissen  Romanin)  II,  38.  Das  Werk  von  De  Blasiis  ist  aber 
uicht  annalistisch  angelegt,  daher  ist  dieses  Citat  dort  garnicht 
zu  finden.  Auffallig  ist  auch  die  mehrfach  wiederholte  Bezeich- 
nung  (s.  S.  101  Anm.  81,  S.  262  Anm.  55):  N.  Archiv  fur  altere 
dwtsche  Geschichtswerke  (sic!) 

Ref.  erlaubt  sich  bei  dieser  Gelegenheit  noch  einen  Punkt 
m  beriihren,  in  Betreff  dessen  er  dem  von  dem  Verf.  angewandten 
Verfehren  nicht  beipflichten  kann,  das  ist  die  Schreibung  der 
arabischen  Namen  nach  dem  Fleischerschen  Systeme.  Er  zweifelt 
nicht,  dass  in  Werken,  welche  vornehmlich  fur  Orientalisten  von 
Facli  bestimmt  sind,  dasselbe  sehr  zweckmassig  sein  mag,  das 
Gegentheil  aber  scheint  ihm  der  Fall  zu  sein  bei  Arbeiten,  wie 
die  vorliegende,  deren  Leser  zum  allergrossten  Theile  in  dieser 
Hinsicht  Laien  sein  werden.  Diese  aber  wissen  mit  den  Spiritus, 
den  Punkten  und  Strichen  iiber  und  unter  einzelnen  Buchstaben, 
den  Accenten  iiber  Consonanten  u.  s.  w.  nichts  anzufangen,  fur 
diese  ware  eine  einfache  phonetische  Schreibweise,  welche  die 
arabischen  Buchstaben  durch  die  entsprechend  klingenden  der 
betreffenden,  also  hier  der  deutschen  Sprache  ersetzt,  viel  an- 
gebrachter. 

Ref.  hofft  durch  diese  Bemerkungen  nicht  don  Verdacht  zu 
erregen,  als  ob  er  das  Verdienst  des  Verf.  und  den  Werth  seiner 
Arbeit  irgendwie  herabzusetzen  beabsichtigte.  Ln  Gegentheil  er- 
kennt  derselbe  mit  Freuden  an,  dass  sie  eine  sehr  lehrreiche 
und  tiichtige  ist  und  dass  durch  sie  eine  empfindliche  Liicke  in 
unsrer  deutschen  Geschichtsschreibung  ausgefiillt  wird.  Der 
Werth  derselben  wird  noch  wesentlich  erhoht  durch  die  Form  der 
Darstellung.  Der  Verf.  erklart  in  der  Vorrede,  dass  er  jedem  feuille- 
tonistischen  Aufputze,  jeder  kiinstlichen  Zuspitzung  entsagt  habe, 
und  dass  Sprache  und  Darstellung  schlicht  und  treu  sich  dem 
einfachen  Inhalte  anpassen  sollen.  Seine  Darstellung  ist  aber, 
wenn  auch  ein&ch,  doch  lebhaft  und  ansprechend,  und  indem 
er  nicht  selten  den  Wortlaut  der  Quellen  durchschimmern  lasst, 
weiss  er  derselben  auch  Warme  und  Farbe  zu  verleihen.  Das 
Werk  ist  so  trotz  aller  darin  entfalteten  Gelehrsamkeit  wohl  ge- 
eignet,  auch  einen  weiteren  Leserkreis  zu  interessiren. 

Die  Geschichte  der  deutschen  Pilger-  und  Kreuzfahrten 
nach  dem  heiligen  Lande  ist  in  8  Capitel  gesondert.  Das  erste 
einleitende  behandelt  die  Zeit  von  700—1095,  es  schildert  zu- 
nachst    die  Motive,    welche   schon   seit   frtther    Zeit,    auch    in 

Mittbcilungcn  a.  d.  hUtor.  Litterateur.   VU.  9 

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130  RShricht,  Beitr&ge  zur  Gesehichte  der  Kreuzzuge. 

Deutschland  zuerst  Einzelne,  dann  grossere  Schaaren  zurUnter- 
nehmung  von  Wallfahrten  nach  dem  heiligen  Lande  getrieben 
haben.  Der  Verf.  hat  schon  friiher  in  einem  Aufeatze  iiber  die 
Pilgerfahrten  nach  dem  heiligen  Lande  vor  den  Kreuzziigen  (in 
Raumer's  historischem  Taschenbuche  1875)  ausfuhrlich  iiber  diesen 
Gegenstand  und  iiber  jene  Pilgerfahrten  selbst  gehandeit,  bier 
wird  nur  die  bedeutendste  der  von  Deutschland  aus  unter- 
nommenen  Wallfahrten,  die  von  1064,  an  welcher  sich  mehrere 
Tausende  von  Pilgern  unter  Piihrung  des  Erzbischofe  Siegfried 
von  Mainz  und  anderer  Bischofe  betheiligten,  genauer  erzahlt 
Dann  verbreitet  sich  der  Vert  ausfuhrlich  iiber  die  verschieden- 
artigen  Ursachen  der  spateren  Kreuzziige,  er  spricht  denselben 
keineswegs  ihre  Berechtigung  ab,  er  erkennt  diese  hauptsachlich 
in  ihrer  Continuitat  und  er  erklart  es  flir  unhistorisch,  sie  irar 
pathologisch  als  Producte  des  Aberglaubens  und  papstlichen 
Ehrgeizes  zu  betrachten.  Das  zweite  Capitel  behandelt  die  Zeit 
von  1096 — 1140.  Ausfuhrlich  wird  hier  das  erste  Erwacho 
der  Kreuzzugsbegeisterung  in  Folge  der  Thatigkeit  Peters  m 
Amiens  und  des  Papstes  Urban  H.  geschildert  (sonderbarer  Wt« 
wird  hier  auch  die  sagenhafte  Tradition  iiber  Peter  nock  em- 
mal  wiederholt),  dann  ebenso  eingehend  iiber  die  Schickale 
der  zuerst  ausgezogenen  ungeordneten  Schaaren  berichtet,  wo- 
gegen  die  Ereignisse  des  eigentlichen  Kreuzzuges  selbst  und  der 
kurzen  Regierung  Gottfrieds  von  Bouillon  in  Jerusalem  nur  in  den 
ausseren  Umrissen  vorgefuhrt  werden.  Daim  folgt  wieder  eineaas- 
fuhrliche  Schilderung  der  Schicksale  der  beiden  groesen  Schaaren 
von  Kreuzfahrern  aus  Italien,  Frankreich  und  Deutschland,  welche 
1101  auf  dem  Wege  gegen  Bagdad  selbst  in  Klein- Asien  zum 
grossen  Theile  vernichtet  worden  sind;  nur  unbedeutende  Reste 
entkamen  nach  Palastina  und  haben  dort  an  den  Kampfen  Konig 
Balduin's  I.  Theil  genommen.  Endlich  werden  die  Thaten  des 
Grafen  Dietrich  von  Flandern  erzahlt,  der  1139  seinem  Schwieger- 
vater,  dem  Konige  Fulco,  zu  Hiilfe  zog.  J)as  dritte  Capitel 
(1144—1149)  enthalt  eine  ausfiihrliche  Darstellung  zunaohst 
der  vorbereitenden  Ereignisse  des  zweiten  Kreuzzuges  und  w- 
dann  dieses  selbst  bis  zur  Heimkehr  Konig  Conrad's.  Daran  an- 
geschlossen  ist  eine  ebenso  detaillirte  Schilderung  der  Thaten 
niederrheinischer ,  normannischer  und  englischer  KreuzfidiiWi 
welche  auf  der  Fahrt  zur  See  nach  dem  heiligen  Lande  sich 
unterwegs  bewegen  liessen,  an  den  Kampfen  gegen  die  Araber 
in  Portugal  Theil  zu  nehmen,  und  mit  deren  Hiilfe  1147  Lissabon 
erobert  worden  ist.  In  dem  vierten  Capitel  (1150—1187)  wird 
zunachst  die  nach  dem  ungliicklichen  Ausgange  des  zweiten  Kreuz- 
zuges immer  mehr  zunehmende  Bedrangniss  des  heiligen  Landes 
geschildert,  sodann  werden  die  vereinzelten  Kreuzfahrten  einig^ 
deutscher  Fiirsten  (des  Grafen  Dietrich  von  Flandern\  1157  and 
1165,  Heinrichs  des  Lowen  1172,  Philipps  von  Flandern  11^) 
erzahlt.  In  dem  funfteh  Capitel  (1188—1191),  fur  welches  *r 
Verf.    als   Vorarbeiten    seine   eigenen   Abhandlungen    iiber  &# 

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R5hricht,  Beitriige  zur  Gsschichte  der  Kreuzziige.  131 

Rustungen  des   Abendlandes   zum   dritten   Kreuzzuge  in  Sybel's 
Zeitschrift  XXXIV  und  iiber   die  Belagerung  von   Akka  in   den 
Forschungen  zur  deutschen   Gesch.   XVI,    ausserdem  namentlich 
die  trefffiche   Arbeit   von   Riezler   iiber    den    Kreuzzug    Kaiser 
Friedrich  Barbarossa's   benutzen   konnte,   erzahlt   derselbe   sehr 
ausfuhrlich  und  in  engem  Anschlusse  an  den  Bericht  der  Haupt- 
quelle  Ansbert  diesen  Zug  Kaiser  Friedrich's,  die  Vorbereitungen, 
dann  den  friedlichen  Marsch   durch   Ungarn,   dann   die  Kampfe 
anf  dem  Wege  durch  das  griechische  Reich,  dessen  Kaiser  Isaac 
Angelos    anfangs   in    formlichem    Biindniss    mit   Saladin  stand, 
schhesslich  aber  zum  Frieden  und  zur  Ueberfuhrung  des  Kreuz- 
heeres  iiber  deq  Hellespont  genothigt  wurde,  sodann  den  miihe- 
und  gefahrvollen   Zug   durch    das   Innere   von   Klein-Asien   und 
endlich  durch  GQicien  bis  zum  Tode   des  Kaisers.     Dann   wird 
ebenso  eingehend  von  den  Thaten  und  Schicksalen  der  zur   See 
abgereisten  norddeutschen  Kreuzfahrer  berichtet,  welche   wieder 
zunacbst  in  Portugal  an   den   Kampfen   gegen   die  Araber,   der 
Belagerung  und  Eroberung  von  Silvas  Theil  nahmen,  dann  nach 
Palastina  segelten  und  hier  mit  Konig  Guido  zusammen  die  Be- 
lagerung von  Akka  begannen,   an   welcher   dann   nachher  auch 
die  Ueberreste  des  grosssn  Heeres  unter  Herzog  Friedrich   von 
Schwaben,    spater   ja    auch    die    englischen    und    franzosischen 
Schaaren  unter  den  Konigen  Richard  und  Philipp  AuguBt  Theil 
nahmen.     Die  Belagerung   dieser   Stadt  wird  bier  nur  bis   zum 
Tode  Herzog  Friedrich's  ausfuhrlich  erzahlt,  die  spateren  Ereig- 
nisse,  an  denen  die  Deutschen  keinen  Antheil  genommen   haben, 
nur  kurz  beriihrt.     Im   sechsten    Capitel   (1192 — 1204)  werden 
znnachst  die  Kreuzzugsriistungen  Kaiser  Heinrich's  VI.  geschildert, 
and  dann  ausfuhrlich  die  Schicksale  und   Thaten   der  von  dem- 
selben  unter  dem  Kanzler  Conrad,  dem  Erzbischofe  Conrad   von 
Mainz  und  dem  Herzoge  Heinrich  von  Lothringen  vorausgesandten 
Schaaren    erzahlt:    die   Eroberung   von   Beirut,   die   vergebliche 
Belagerung  von  Turon  und   die   Heimkehr,  wahrend,   wie   schon 
erwahnt,  die  Griindung  des  deutschen  Ritterordens  nur  kurz  be- 
handelt  wird.    Auch  iiber  die  Ereignisse  des  vierten  Kreuzzuges 
gegen  Constantinopel  giebt  der  Verf.  nur  eine  kurze  Uebersicht, 
ausfuhrlich  erzahlt  er  nur  die  Schicksale  der  Deutschen,  welche 
damals   wirklich    nach    dem   heiligen   Lande   gezogen   sind,    des 
Abtes  Martin  von  Pairis  und  des  Bischofes  Conrad  von   Halber- 
stadt     Das  siebente  Capitel  (1205 — 1221)  behandelt  Ereignisse, 
mit  denen   der   Verf.   durch   specielle   Studien   besonders  genau 
tertraut  ist.     Schon   friiher   hatte   er   einen  Aufsatz   iiber  den 
Kinderkreuzzug  (in   Sybel's    Zeitschrift   XXXVI),   einen  anderen 
iiber  die  Kreuzzugsbewegung  im  Jahre   1217   (Forsch.   z.   d.    G. 
1876)   und   einen    dritten   iiber    die    Belagerung   von    Damiette 
(Raumer's  Taschenbuch  1876)  veroffentlicht   und   er   giebt  jetzt 
Scriptores  minores  quinti  belli   sacri   im   Auftrage   der    Soci6te 
pour  la  publication  de  textes  relatife  a  Thistoire  et  la  geographie 
de  Torient  latin  heraus.    Auch  hier   erzahlt   er   ausfuhrlich   die 

9* 

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132  Rohricht,  Beitrfige  zur  Geechichte  der  Kreuzzflge. 

Schicksale  der  deutschen  Kinder,  welche  sich  zur  Theilnahme 
an  der  unseligen  Unternehmung  des  Jahres  1212  hatten  ?er- 
leiten  lassen,  sowie  die  Ereignisse  des  funften  Kreuzzuges,  zu- 
nachst  die  ganz  erfolglosen  Unternehmungen  der  unter  Konig 
Andreas  von  Ungarn  und  Herzog  Leopold  von  Oesterreich  nach 
Palastina  gezogenen  Schaaren,  die  Belagerung  von  Damascus 
und  der  Burg  auf  dem  Berge  Tabor,  dann  die  Thaten,  welche 
die  zur  See  ausgezogenen  hollandischen  und  norddeutschen  Pilger 
unterwegs  wieder  in  Portugal  verrichtet  haben,  dann  aber  den 
Zug  nach  Damiette  und  die  Belagerung  dieser  Stadt,  zu  welcher 
sich  jene  norddeutschen  Ereuzfahrer  mit  den  nach  dem  Abzuge 
des  Konigs  Andreas  unter  Leopold  yon  Oesterreich  zuriickge- 
bliebenen  deutschen  Schaaren  und  der  Streitmacht,  welche  Konig 
Johann  von  Jerusalem  herbeifuhrte,  vereinigten.  Die  ausfuhr- 
liche  Schilderung  reicht  bis  zur  Eroberung  des  Inselthurmes  und 
dem  Abzuge  Herzog  Leopolds,  der  weitere  Verlauf  der  Ereig- 
nisse, an  welchem  die  Deutsohen  keinen  hervorragenden  AntW 
genommen  haben,  wird  nur  kurz  berichtet.  Den  Kreuzzug  Ka*r 
Friedrich's  II.  hatte  der  Verf.  schon  ausfiihrlioh  in  dem  erstta 
Bande  der  Beitrage  dargestellt,  er  hat  denselben  daher  hier 
gar  nicht  weiter  beriicksichtigt.  In  dem  letzten,  achten  C^)itel 
(1230—1291)  erzahlt  er  die  Unruhen,  welche  bald  nach  Aw 
Abzuge  des  Kaisers  in  Palastina  ausbrachen,  die  Erhebung  der 
syrischen  Barone,  unterstxitzt  durch  die  Venetianer  gegen  dessen 
Statthalter,  den  Marschall  Richard,  die  anf anglichen  Vermittlungs- 
versuche  Papst  Gregor's  IX.  und  dann  die  fruchtlosen  Bemiihungen 
desselben,  eine  neue  Kreuzfahrt  zu  Stande  zu  bringen.  Zum  SchlusB 
berjchtet  er  iiber  die  letzte  von  Deutschland,  von  Friesland  aas 
1270  unternommene  Kreuzfahrt,  deren  Theilnehmer  zunachst  vor 
Tunis  mitkampften,  dann  nach  Palastina  gingen,  aber  theils  dort, 
theils  auf  dem  Meere  zum  grossten  Theil  umgekommen  sind. 

Diesem  Haupttheile  des  Bandes  sind  zwei  Beilagen  hinzu- 
gefugt:  ein  um&ngreiches  chronologisches  Verzeichniss  aller  be- 
kannten  deutschen  Pilger  und  Kreuzfahrer  vom  5.  Jahrhunderte 
an  bis  1300,  dessen  Haupttheil  der  Verf.  schon  fruher  im  7.  Bande 
der  Zeitschrift  fiir  deutsche  Philologie  (1876)  veroflfentlicht  hatte 
und  welches  er  hier  nooh  an  'einigen  Stellen  hat  verbessern  und 
vervollstandigen  konnen,  dann  ein  kurzer  Aufeatz :  die  Sagen  vol 
deutschen  Kreuzfahrern,  in  dem  keineswegs  diese  Sagen  ausffil^ 
lich  erzahlt,  sondern  nur  die  in  denselben  vorkommenden  histo- 
rischen  Ziige  zusammengestellt  sind.  Darauf  folgen  einige  Ver- 
besserungen  zu  dem  im  ersten  Bande  der  Beitrage  abgedruckten 
Auszuge  aus  der  Geschichte  Aleppos  von  Kamal-ad-dSn,  welche 
der  Verf.  Herrn  Defremery  verdankt,  endlich  zwei  Register,  em 
historisches  und  ein  geographisches ,  welche  auch  den  ersteo 
Band  dieser  Beitrage  mit  umfassen. 
Berlin.  F.  Hirsch. 


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AnnB  Comnena  Vol.  II.  ed.  Reifferscheid.  133 

XXXIV. 
Corpus  scriptorum  historiae  Byz^ntinae.    Anna  Comnena  Vol.  II. 

—  Annae  Comnenae  Alexiadis  Libri  X — XV.  Recensuit,  L. 
Schopeni  interpretationem  latinam  subiecit,  P.  Possini  glos- 
sarium,  C.  Ducangii  commentaries,  indices  addidit  Augustus 
Reifferscheid.  8°  (XII  u.  828  S.  u.  4  tafeln).  Bonnae 
Impensis  Ed.  Weberi  1878.  18  M. 
Dass  die  Ausgabe  der  Anna  Comnena  von  Schopen  in  der 
Bonner  Sammlung  der  byzantinischen  Geschichtsschreiber  unvoll- 
standig  geblieben  war  (der  erste,  im  Jahre  1839  erschienene 
Band  enthielt  von  den  15  Biichern  der  Alexias  nur  die  ersten  9), 
musste  um  so  mehr  bedauert  werden,  als  einmal  gerade  der 
letzte  Theil  des  Geschiohtswerkes  der  gelehrten  Prinzessin  der 
mtyressantere,  die  dort  gegebene  Darstellung  des  ersten  Kreuz- 
zuges,  des  spateren  Verhaltnisses  des  Kaisers  Alexius  zu  den  im 
Morgenlande  gegrundeten  christlichen  Herrschaften  und  seines 
Eampfes  gegen  Boamund  auch  fur  die  allgemeine  Geschichte  von 
grosserer  Wichtigkeit  ist,  und  als  andererseits  diese  Ausgabe  im 
Gegensatz  gegen  die  meisten  anderen  in  derselben  Sammlung  mit 
Sorgfalt  und  Interesse  fiir  den  Gegenstand  gearbeitet  war  und 
einen  wirklichen  Portschritt  gegen  die  fruhere  Ausgabe  in  der 
Pariser  Sammlung  erkennen  liess.  Um  so  erfreulicher  ist  es, 
dass  jetzt,  nach  einem  fast  vierzigjahrigen  Zwischenraum,  durch 
das  Erscheinqn  des  zweiten,  von  Herrn  Reifferscheid  herausge- 
gebenen  Bandes  das  Werk  seine  Vollendung  erhalten  hat.  Der 
editio  princeps  in  der  Pariser  Sammlung  lag  ein  sehr  unvoll- 
standiger  Codex  Barberinus,  welcher  stellenweise  durch  L.  Holstenius 
axis  einem  ebenfalls  nicht  vollstandigen  Codex  Florentinus  er- 
ganzt  war,  zu  Grunde.  Der  Herausgeber  P.  Possinus  hatte 
diesen,  wie  er  selbst  erkannte,  noch  immer  liickenhaften  und 
sehr  fehlerhaften  Text  einfach  abgedruckt  und  seine  eigene 
Thatigkeit  auf  die  Anfertigung  einer  zwar  eleganten,  aber  sehr 
freien  lateinischen  Uebersetzung  beschrankt.  Schopen  hatte  zur 
Verbesserung  dieses  in  der  That  sehr  mangelhaften  Textes 
herangezogen  einmal  die  von  Montfaucon  in  der  Bibliotheca 
Coisliniana  mitgetheilten  Lesarten  eines  Codex  Coislinianus  aus 
dem  12.  Jahrhundert,  ferner  eine  in  Leyden  befindliche  von  J. 
Gronov  freUich  nach  demselben  Codex  Barberinus  gefertigte  Ab- 
schrift,  endlich  einen  in  einem  Codex  Monacensis  befindlichen, 
noch  aus  dem  Anfange  des  12.  Jahrhunderts  herruhrenden  Aus- 
zug  aus  der  Alexias,  welcher  fur  die  ersten  7  Biicher  recht  aus- 
fiihrlich  ist  und  sich  an  vielen  Stellen  zur  Herstellung  eines 
richtigeren  Textes  hiilfreich  erwies,  er  hatte  ferner  selbst  durch 
zahlreiche  vorsichtige  und  treffliche  Emendationen  nachzuhelfen 
versucht.  Das  wichtigste  Hiilfsmittel,  jenen  schon  nach  der 
Beschreibung  Bandini's  als  vortrefflich  bekannten,  auch  aus  dem 
12.  Jahrhundert  stammenden  Codex  Florentinus  hatte  er  fur 
den  ersten  Band  noch  nicht  herangezogen,  erst  im  Jahre  1863 
unternahm  sein  Schiiler  H.  Reifferscheid  fur  die  letzten  6  Biicher 

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134  Anna  Comnena  Vol.  II.  od.  Reifforscheid. 

eine  genaue  Vergleichung  desselben,  er   schickte   seine  Collation 
Schopen  zu  und  dieser   hat  danach  die  Lesarten  jener  Hand- 
schrift  in   sein    Exemplar    eingetragen,    ist   dann  aber  an  der 
weiteren  Verwerthung  derselben  und  der  damals  von  ihm  beabsich- 
tigten  Vollendung  seiner  Ausgabe  durch  den  Tod  verhindert  worden. 
H.  Reifferscheid  hat  es  dann  nach  langerer  Zwischenzeit  unter- 
nommen,  das  von  seinem  Lehrer   begonnene  Werk   zu  Ende  zu 
fiihren.     Seiner  Ausgabe  liegt  nun  die  beste  unter  den  bekann- 
ten  Handschriften,  jene  Florentiner,  zu  Grunde,  leider  war  seine 
eigene  Collation  in  den  Papieren  Schopen's  nicht  zu  fin  den  und  musste 
er  sieh  jnit  der  Abschrift  desselben  begniigen,  welche  sich  freilich 
nachtraglich  als  nicht  ganz  voUstandig  erwiesen   hat.     Daneben 
hat  auch  er  jene  Miinchener  Epitome   der  Alexias  und  zwar  in 
der    Originalhandschrift   (Schopen   hatte   nur  eine   von  Crusius 
angefertigte  Abschrift  aus   Tubingen  vorgelegen)  benutzt,  aller- 
dings    enthalt  dieselbe   von   diesen  letzten   Biichern    nur  einen 
sehr  gedrangten,  sum  Schluss  unvollstandigen  Auszug,   der  aber 
doch  eine  nahe  Yerwandtschaft  mit  dem  Codex  Florentines  n- 
rath  und  auch  zu  manchen  Yerbesserungen  desselben  die  Hani- 
habe   geboten   hat     Ferner   hat    er   fiir    den    letzten,    in  der 
Florentiner  Handschrift  nicht  erhaltenen   Theil   (dieselbe  bricht 
im  8.  Capitel  des  14.  Buches  ab)  den  Codex  Coislinianus  selbst 
genau  collationirt,  doch  ist  auch  dieser  am   Schluss   defect  and 
iiberhaupt,  obwohl   auch  aus  dem   12.  Jahrhundert   stammend, 
keineswegs  so  gut  wie  der  Florentinus.     Die   Yarianten  der  als 
werthlos  erkannten  Gronovschen  Abschrift  hat   er   nur  fur  das 
10.    Buch   angefuhrt,   auch   von   einer  Verwendung    des  Codex 
Barberinus  und  eines  Vaticanus,  aus  welchem  L.  AUatius  einige 
Stiicke  mitgetheilt  hatte,   hat  er  Abstand  genommen,    da  beide 
Handschriften  nur  Abschriften  des   Coislinianus   sind.     Der  mit 
solchen  Hiilfsmitteln  festgestellte  Text  erweist   sich   nun  in  der 
That  als  unendlich  viel   besser   als  derjenige   der  Pariser  Aus- 
gabe, an  der  Hand  des  Florentiner   Codex  ist  eine   Menge  von 
Fehlern,  welche  nicht  nur  sprachlich   anstossig   waren,  sondeni 
auch  den  Sinn  theils  undeutHch  gemacht,   theils  geradezu  ent- 
stellt  hatten,  beseitigt  word  en,  an  manchen  Stellen  hat  auch  der 
Herausgeber  selbst  nachzuhelfen  versucht,  doch  ist  auch  er  da- 
bei  mit  anerkennenswerther  Vorsicht  verfahren,  gewagtere  Emen- 
dationen  sind  nicht  in  den  Text  aufgenommen,   sondern  nur  ifi 
den  kritischen  Noten  aufgefiihrt  worden.    Am  meisten  ist  diese 
emendirende  Thatigkeit  zuletzt,  wo   in   dem   Codex  Coislinianus 
eine  weit  weniger  sichere  Grundlage  als  friiher  in   dem   Floren- 
tinus vorlag,  nothwendig  gewesen,  doch  hat  auch  H.  Reifferscheid 
auf  eine  Erganzung  der  fast  unzahligen  Liicken  in    dem  letzten 
Capitel  (XV,  11;  die  letzten  5  Blatter  der  Handschrift  sind  bier 
durch  Feuchtigkeit  arg  beschadigt  worden)  verzichtet   und  aei 
hier  darauf  beschrankt,  den  Raum,  welchen  sie  in  den  einzeln^ 
Zeilen  einnehmen,  auf  Grund  genauer,   in   der  Handschrift  vo*- 
genommener  Messungen  zu  bezeichnen  und  so  getreu  den  traurigen 

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"twr- 


M^/ 


Anna  Comnena  Vol.  II.  ed.  Beifferscheid.  135 


Zustand  dieser  Handschrift  vor  Augen  zu  fuhren.  Zum  Gliick  ist 
sachlich  an  diesem  letzten  Capitel  nicht  sehr  viel  verloren,  denn 
dasselbe  enthalt  nur  eine  sehr  weitlaufig  ausgesponnene  Schilde- 
rung  der  letzten  Krankheit  des  Kaisers  und  Klagen  urn  den 
Dahingeschiedenen. 

Der  Druck  dieses  Bandes  hat  sich  mehrere  Jahre  hinge- 
zogen,  erst  als  derselbe  schon  zum  grossen  Theil  beendet  war, 
kam  dem  Herausgeber  die  Ausgabe  der  auf  die  Kreuzzugs- 
geschichte  beziiglichen  Stiicke  der  Alexias  (des  grossten  Theiles 
der  Biicher  X— XIV)  in  die  Hande,  welche  E.  Miller  in  dem 
1875  erschienenen  ersten  Bande  der  Auteurs  grecs  in  dem  von 
der  Pariser  Akademie  herausgegebenen  Recueil  des  historiens 
des  croisades  veranstaltet  hat.  Der  Text  dieser  Ausgabe  beruht 
nicht  auf  dem  God.  Florentinus,  sondern  Miller  hat  fur  den- 
selben  nur  den  Coislinianus  und  die  Gronovsche  Abschrift  ver- 
werthet,  doch  hat  er  nachtraglich  noch  den  Florentinus  ver- 
glichen  und  ein  Yerzeichniss  der  zahlreichen  Varianten  desselben 
in  einem  der  Vorrede  hinzugefugten  Anhange  abdrucken  lassen. 
Eine  Vergleichung  derselben  mit  den  von  Schopen  nach  seiner 
eigenen  Collation  notirten  bestarkte  in  H.  Keififerscheid  den 
Verdacht,  dass  Schopen  seine  Collation  nicht  vollstandig  ver- 
werthet  habe,  er  ist  im  Jahre  1878  noch  einmal  nach  Florenz 
gegangen  und  hat  dort  die  Handschrift  nochmals  sorgialtig 
untersucht,  er  hat  erkannt,  dass  allerdings  nicht  alle  Lesarten 
desselben  beriicksichtigt  waren,  dass  andrerseits  aber  auch  Miller 
sich  an  einigen  Stellen  geirrt  habe,  und  er  hat  nachtraglich  in 
einem  Anhange  sowohl  die  friiher  nicht  bemerkten  Lesarten 
des  Codex  Florentinus  als  auch  die  Emendationen  Miller's  auf- 
gefiihrt,  von  beiden  sind  einige  von  ihm  als  richtig  und  in  den  Text 
aufzunehmen  durch  ein  beigetugtes  Sternchen  bezeichnet  worden. 

Fiir  die  sonstige  Einrichtung  dieses  Bandes  ist  das  Muster 
der  friiheren  Theile  der  Bonner  Sammlung  massgebend  geblieben. 
Dem  griechi8chen  Texte  geht  eine  lateinische  Uebersetzung  zur 
Seite;  dieselbe  ist  schon  unter  Schopen's  Leitung  von  einigen 
seiner  Schiiler  angefertigt  worden  und  sucht  im  Gegensatz  gegen 
die  freie  und  oft  ganz  willkiirliche  Uebertragung  des  Possinus 
den  Sinn  des  Originals  getreu,  aber  ohne  sich  sclavisch  an  die 
einzelnen  Worte  zu  binden,  wiederzugeben,  der  Herausgeber  hat 
dieselbe  nur  noch  einmal  revidirt  und  namentlich  da,  wo  der 
Text  Veranderungen  erfahren  hatte,  verbessert.  Schopen  hatte 
in  seiner  Vorrede  versprochen,  dem  zweiten  Bande  kritische  und 
erklarende  Anmerkungen  zu  der  ganzen  Alexias  beizugeben,  doch 
haben  sich  zu  solchen  keine  Yorarbeiten  in  seinen  Papieren  ge- 
funden,  und  H.  Beifferscheid  hat  diese  Arbeit  nicht  iibernommen. 
Er  hat  sich  darauf  beschrankt,  was  auch  schon  Schopen  ange- 
kiindigt  hatte,  das  Glossarium  Annaeum,  welches  Possinus  der 
Pariser  Ausgabe  beigegeben  hatte,  sowie  den  umfangreichen, 
hochst  werthvollen  historischen  Commentar  zur  Alexias  von 
Ducange,  welcher  in  jener  Ausgabe  sich  in  dem  das  Geschichts- 

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136  Werurftky,  Der  erste  RSmerzug  Kaiser  Karl  IV. 

werk  de8  Johannes  Cinnamus  enthaltenden  Bande  zusammen 
mit  Anmerkungen  zu  diesem  und  zu  Nicephorus  Bryennius 
befindet,  wieder  abzudrucken.  Darauf  folgen  Indices,  m. 
historischer  und  ein  sprachiicher  zur  Alexias  und  ein  dritter, 
in  welchem  die  von  Ducange  in  seinem  Commentar  behandel- 
ten  Gegenstande  alphabetisch  aufgefiihrt  sind.  Dann  folgt 
ein  Verzeichniss  der  Addenda  et  Corrigenda,  in  welchem  auch, 
wie  schon  erwahnt,  die  fur  den  Text  selbst  nicht  verwertheten 
Lesarten  des  Codex  Florentinus  aufgefiihrt  werden.  DenSchluss 
des  Bandes  endlich  bilden  4  Tafeln  mit  Abbildungen,  welche  zu 
den  Noten  Ducange's  gehoren,  bei  denen  aber  leider  eine  jede 
erklarende  oder  zurechtweisende  Bezeichnung  fehlt,  so  Am 
man  erst  miihsam  in  dem  Commentar  herumsuchen  muss,  ehe 
man  die  Stellen  findet,  zu  deren  Illustration  sie  dienen  sollen 
Tafel  1  gehort  zu  S.  459  und  enthalt  Facsimiles  der  in  ihrer 
Verschnorkelung  ganz  unkenntlichen  Namensunterschriften  der 
Kaiser  Balduin  II.  und  Andronicus  Palaeologus,  Tafel  2,  zu  & 
468  gehorig,  stellt  die  beiden  Flachen  einer  Goldbulle  Kaier 
Balduin's  II.  dar,  welche  Gewandung  und  Insignien  der  byzur 
tiniBchen  Kaiser  erkennen  lassen.  Tafel  3,  zu  S.  491,  enthalt 
Abbildungen  einiger  sogenannter  Romanaten,  von  Kaiser  Romania 
Diogenes  gepragter  Goldmiinzen,  Tafel  4  endlich,  zu  S.  554, 
stellt  Miinzen  der  Kaiser  Isaac,  Alexius  I.  und  Manuel  Comnenus  dar. 
Berlin.  F.  HirscL 


XXXV. 
Werunsky  Dr.,  Emil.     Der  erste  Romerzug  Kaiser  Karl  IV. 

(1354—1355).    gr.  8.    (339  S.)    Innsbruck  1878.    Wagnersche 

Universitatsbuchhandlung.     7,20  M. 

Wer  unbe&ngen  durch  den  glanzenden,  geistftmkelnden  Stil 
des  Geschichtsschreibers  der  Stadt  Rom,  F.  Gregorovius,  das  den 
ersten  Romerzug  Kaiser  Karls  IV.  behandelnde  Capitel  (B.  VL) 
gelesen  hat,  wird  in  ihm  leicht  die  durchaus  einseitige  und  t^i- 
denziose  Darstellung  erkennen;  der  Standpunkt  des  Florentiuer 
Chronisten  Matteo  Villani,  der  fur  die  geringste  Handlung  Kails 
ein  gehassiges  Motiv  sucht,  sowie  derjenige  des  Dichters  Petrarca, 
welcher  sich  in  seinen  auf  den  deutschen  Konig  gesetzten  Hoff- 
nungen  einer  Wiedererneuerung  des  Kaiserthums  getauscht  saht 
ist  von  Gregorovius  zu  dem  seinigen  gemacht  worden.  Wir 
konnen  daher  Werunsky  nur  begluckwiinschen ,  dass  er  dem 
Beispiele  seiner  unmittelbaren  Vorganger  Friedjung  (Kaiser 
Karl  IV.)  und  Milan  (Kaiser  Karl  IV.  Romerzug,  Programm  der 
Staatsunterrealschule  in  Karolinenthal  bei  Prag)  folgend  im 
Anschluss  an  sein  im  vorigen  Jahre  erschienenes  Buch:  ItaL 
Politik  Papst  Innocenz  VI.  und  Konig  Karl  IV.  in  den  Jahm 
1353  u.  54,  (130  S.)  eine  gerechtere  und  unparteiisohere  Wiirfr 
gung  Kaiser  Karls  IV.  und  seines  ersten  Romerzuges  versucht  hat 
Nach  dem  Verlauf  desselben  war  die  Theilung  in  4  Capitel: 
I.  Zug  durch  Lombardien,  II  Zug  durch  Tuscien,  DX  Die  Kaiser- 
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Werungky,  Der  erste  Romerzug  Kaiser  Karl  IV.  137 

kronung,  IV.  Riickzug,  von  selbst  gegeben.  Bekanntlioh  hatte 
Konig  Earl  den  Antritt  seines  Romerzuges  so  lange  hinausge- 
schoben,  bis  er  als  ein  Retter  aus  der  Noth  von  den  tuscischen 
Communen  und  Venedig  gegen  die  alles  erdriickende  Macht  des 
energievollen  Visconti,  Erzbischof  Giovanni,  angerufen  wurde.  Mit 
einem  kleinen  Gefolge  von  nur  300  Bittern  brach  Karl  wahr- 
scheinlich  am  26.  Sept.  1354  von  Niirnberg  auf,  zog  iiber  Regens- 
bnrg,  Salzburg,  die  hohen  Tauern  nnd  die  karnischen  Alpen  nach 
Friaul,  von  wo  aus  ihn  sein  Bruder  Nicolaus,  Patriarch  von 
Aglei,  begleitete.  Als  er  iiber  Padua  am  10.  Nov.  in  Mantua  an- 
gelangt  war,  fand  er  die  politischen  Verhaltnisse  Oberitaliens 
durch  den  am  5.  Okt.  erfolgten  Tod  des  Mailander  Tyrannen 
verandert.  Dessen  Nachfolger,  seine  Neffen  Matteo  II.,  Bernabo 
und  Galeazzo  II.,  mussten  zunachst  auf  die  Erlangung  eines 
Rechtstitels  zur  Sicherung  ihres  Besitzes  bedacht  sein;  daber 
konnte  Karl  mit  Erfolg  sein  Friedenswerk  beginnen,  und  wirk- 
lich  brachte  er  nach  langen  Unterhandlungen  einen  Waffenstill- 
stand  unter  den  Parteien  zu  Stande.  Seinen  eigenen  Vortheil 
vergass  der  Konig  nicht  dabei:  er  traf  mit  den  Visconti  ein 
Separatabkommen,  nach  welchem  diese  seine  Kronung  mit  der 
lombardischen  Krone  in  Mailand  zuliessen  (am  6.  Jan.  1355). 
Sein  Aufenthalt  glich  trotz  der  ihm  zu  Ehren  in  ostensiver  Weise 
reranstalteten  militarischen  Paraden  mehr  einer  Gefangenschaft. 
Am  Sonntag,  den  18.  Januar,  um  2  Uhr  nachmittags  erfolgte  der 
glanzende  Einzug  des  Konigs  in  Pisa.  In  dieser  Stadt  war  seit 
dem  Tode  des  Grafen  Ranieri  im  Jahre  1347  eine  Spaltung  der 
gesammten  Burgerschaft  eingetreten;  der  mehr  guelfisch  gesinn- 
ten  Partei,  an  deren  Spitze  Andrea  Gambacorta  stand,  gehorte 
hauptsachlich  der  Popolo  grasso,  d.  h.  der  in  hohere  Ziinfte 
gegliederte,  reiche  Kaufmannsstand  an ;  sie  hatte  von  ihren  mehr 
ghibellinisch  gefarbten  Gegnern  des  Adels  und  des  Popolo 
minuto,  d.  h.  des  in  niedere  Ziinfte  organisirten  Handwerker- 
standes  den  Spottnamen  der  Bergolini  „der  Einfaltigen"  erhalten, 
wogegen  sie  der  Gegenpartei  mit  der  Bezeichnung  der  Raspanti 
ffRauber"  antwortete.  Die  Zwistigkeiten  der  Parteien  wusste 
Karl  so  geschickt  zu  benutzen,  dass  ihm  von  der  herrschenden 
Familie  der  Gambacorta  die  Signorie  iiber  Pisa  sammt  Graf- 
schaft  und  Gebiet  iibertragen  wurde.  Der  das  Volk  von  Pisa 
reprasentirende  Consiglio  generale,  unwillig  daruber,  dass  er  in 
dieser  Angelegenheit  iibergangen  worden  war,  murrte;  doch 
wurde  eine  Einigung  erzielt  durch  die  Einrichtung  einer  Executiv- 
commission  von  24  gleichmassig  aus  jeder  Partei  erwahlten 
Burgern  (riformatori),  welche  behufs  Neubesetzung  der  Aemter 
gemeinschaftlich  mit  dem  Konige  unterhandeln  sollten. 

In  Florenz  war  man  lange  unschliissig,  welche  Haltung  man 
Karl  gegeniiber  beobachten  solle:  man  entschied  sich  schliesslich 
fiir  den  Weg  diplomatischer  Verhandlung  mit  der  Forderung, 
dass  die  Selbstandigkeit  der  Commune  erhalten  werde.  Die 
anfangs  zuversichtliche  Haltung  von  Florenz  gerieth  ins  Schwanken 

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138  Wcrunsky,  Der  erste  Romerzug  KaUer  Karl  IV. 

durch  den  offenen  Uebertritt  Sienas  in  das  konigliche  Lager, 
da  diese  Stadt  die  Stimmung  der  der  straffen  Fiihrerschaft  Yon 
Florenz  iiberdriissig  gewordenen  mittelitalischen  Gommunen  be- 
nutzte,  sich  auf  eigene  Fiisse  zu  stellen,  und  dem  Eonige  die 
Signorie  ubergab.  Andere  Stadte  folgten  dem  Beispiele.  Auf 
diese  Weise  in  die  Enge  getrieben  und  durch  die  taglich  wach- 
sende  militarische  Macht  Earls  kleinlaut  geworden,  schloss  die 
Florentiner  Commune  mit  diesem  am  20.  Marz  einen  Yertrag 
folgenden  Inhaltes:  Earl  hob  alle  Verdammungs-  und  Straf- 
urtheile  seiner  Vorganger  auf  und  ernannte  die  jeweiligen  Prioren 
der  Ziinfte  und  den  Bannerherrn  der  Gereohtigkeit  (gonfaloniere 
della  giustizia)  fiir  die  Dauer  seines  Lebens  zu  seinen  General- 
yicaren  in  Stadt,  Grafsohaft  und  District  von  Florenz;  miuidlich 
gab  Earl  den  Gesandten  das  Versprechen,  Florenz  odor  Gebiet 
weder  personiich  zu  betreten  noch  bewaffnete  Mannschaft  dort- 
hin  zu  schicken.  Dagegen  erkannte  die  Commune  Earl  ais 
romischen  Eonig  an,  verpflichtete  sich  zur  Zahlung  eines  jakr- 
lichen  Zinses  von  4000,  sowie  einer  einmaligen  Zahlung  m 
100000  Goldgulden,  ferner  auch  zum  Erlass  einer  Amnestie  Si 
die  seit  der  Zeit  Eaiser  Heinrichs  VII.  Exilirten. 

Mit  diesem  Erfolge  durfte  Earl  wohl  zufrieden  sein;  sein 
naehster  Gedanke  war  die  Eaiserkronung  in  Bom.  Mit  seiner 
inzwischen  eingetroffenen,  erst  sechszehnjahrigen  Gemahlin  Anna 
und  dem  zur  Eronung  abgeordneten  Cardinalbischof  Peter  von 
Ostia  brach  der  Eonig  am  22.  Marz  auf.  In  Siena  gab  seine 
Ankunft  das  Zeichen  zu  einer  langst  im  Stillen  vorbereiteten 
Erhebung  des  mit  dem  niedern  Volk,  dem  Popolo  minuto,  ver- 
biindeten  Adels  gegen  die  Herrschaft  der  „Neun",  welche  die  reiche, 
handeltreibende  Bourgeoisie  vertrat;  Earl  wurde  gedrangt,  mit 
den  Emporern  gemeinsame  Sache  zu  machen,  und  da  er  auf 
ihrer  Seite  den  Vortheil  des  Augenblicks  fand,  gab  er  ihnen 
nach.  Die  Commune  leistete  den  Treueid,  und  nachdem  bei  der 
Verfassilngsberathung  der  Adel  #wegen  seines  anmassenden  Be- 
nehmens  von  dem  Popolo  minuto  zuriickgewiesen  war,  wurde 
die  Verfassung  der  Stadt  Siena  in  folgender  Weise  geregelt: 
12  populare  Signoren  —  4  aus  jedem  der  3  Stadttheile  gewahlt 
—  bilden  fur  je  2  Monate  die  Regierung ;  einer  von  ihnen  ist 
Capitano  del  Popolo;  6  Vertreter  des  Adels,  2  aus  jedem  Stadt- 
theil,  stehen  in  wichtigen  Fallen  den  Zwolfen  zur  Seite. 

Darauf  setzte  Earl  seinen  Marsch  nach  Rom  fort  in  fie- 
gleitung  des  Cardinals,  welcher  am  2.  April  daselbst  einzog, 
wahrend  der  Eonig  nur  in  dem  Incognito  eines  Pilgers  die 
heiligen  Statten  besuchen  durfte.  Am  5.  April  fand  die  Eaiser- 
kronung der  beiden  Majestaten  in  herkommlioher ,  feierlicher 
Weise  statt;  16000  Bitter  und  berittene  Enechte  zahlte  man  in 
seinem  Gefolge,  Ungefahr  1500  Personen,  unter  andern  and 
dem  altghibellinischen  Geschlecht  der  Colonna,  wurde  die  Ete 
des  Ritterschlages  zu  theil.  Der  Glanz  der  Eronung  verhullto 
kaum  den  Makel  und   die   Erniedrigung,    in   der  der  Gekronte 

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Wernnsky,  Der  orate  Koraerzug  Kaiser  Karl  IV.  139 

dem  Papste  alle  Rechte  und  Besitzungen  der  romischen  Kirche, 
sowie  alle  Concessionen  seines  Grossvaters  Heinrich,  „dcs  letzten 
Kaisers",  bestatigte  und  noch  am  Kronungstage  Rom  zu  ver- 
lassen  versprach. 

Auf  dem  Riickzuge  von  Rom  traf  der  Kaiser  in  Siena  mit 
dem  Cardinallegaten  Albornoz  zusammen,  welcher  bislang  jede 
Annahernng  an  Earl  vermieden  hatte,  jetzt  aber  wegen  Mangels 
an  Geld  und  Truppen  seine  Hilfe  suchte.  Der  Kaiser  hatte  dieselbo 
bereits  zugesagt,  als  ein  entscheidender  Sieg  des  Oberfeldherrn 
der  Kirche,  Ridolfo  da  Camerino,  den  dieser  iiber  die  Malatesta, 
die  gefahrlichsten  Gegner  des  Papstes  in  der  Romagna,  am 
29.  April  bei  Paterno  erfocht,  gemeldet  wurde.  Albornoz  kehrte 
beruhigt  auf  den  Kriegsscbauplatz  zuriick,  Karl  dagegen  brach 
nach  Pisa  auf,  nachdem  er  zuvor  noch  unter  Zustimmung  des 
Popolo  minuto  seinen  Bruder  Nicolaus  als  Signoren  der  Stadt 
zuriickgelassen  hatte.  In  Pisa  waren,  sobald  Karl  den  Rucken 
wandte,  die  Parteien  heftiger  als  jemals  aneinander  gerathen: 
in  der  Absicht,  die  Gegenpartei  in  den  Augen  des  Kaisers  herab- 
zusetzen,  buhlte  eine  jede  urn  die  Gunst  desselben,  und  auf  Be- 
treiben  der  Raspanti  war  ihm  schliesslich  die  voile  Signorie 
iiber  Pisa  und  Lucca  iibergeben  worden.  Jetzt  erhohte  die 
Ankunft  Karls  die  Gahrung  der  Gemiither;  verschiedene  Um- 
stande,  welche  sich  unglucklicher  Weise  begegneten,  riefen  in 
kurzer  Zeit  eine  encrgische,  revolutionare  Bewegung  hervor, 
deren  Karl  schwerlich  Herr  geworden  ware,  wenn  nicht  auf 
Vermittelung  der  Gonzaga  die  Raspanti  im  letzten  Augenblicke 
zu  ihm  ubergetreten  waren.  So  wurde  der  Aufstand  blutig 
niedergeschlagen ;  drei  der  Gambacorta,  welche  ihn  schiiren 
halfen  und  dann  vor  dem  Kaiser  die  Unschuldigen  spielten, 
bussten  ihren  Verrath  mit  dem  Tode  durch  Henkershand.  Der 
Lohn,  welchen  Karl  den  Ueberlaufern  zahlte,  bestand  in  der 
Preisgebung  Luccas,  dem  er  die  Wiedererlangung  der  commu- 
nalen  Selbstandigkeit  in  Aussjcht  gestellt,  nachdem  die  Floren- 
tine^ wie  W.  in  ansprechender  Weise  vermuthet,  die  verlocken- 
den  Anerbietungen  zum  Kauf  Luccas  abgewiesen  hatten.  Der 
Compromiss  zwischen  dem  Kaiser  und  den  Raspanti  war  fur 
Beide  wenig  ehrenvoll,  und  daher  erscheint  der  Versuch  des 
Verf.,  den  ersteren  zu  rechtfertigen,  misslungen,  wenn  er  sagt, 
nKarl  habe  sich  mit  den  Lucchesen  verstandigerweise  nicht  so- 
weit  eingelassen,  dass  ihn  die  Pisaner  hatten  der  Liige  zeihen 
konnen ;  sein  Verhalten  sei  ein  correctes  gewesen,  da  der  Status 
quo,  zu  dessen  Aufrechthaltung  er  sich  frUher  den  Gambacorta 
gegeniiber  verpflichtet  hatte,  ohne  seine  Schuld  geandert  sei" 
(S.  264,  265),  wahrend  der  Verf.  riohtig,  wenn  auch  den  vorigen 
Ausfiihrungen  widersprechend,  S.  276,  277  bemerkt,  „dass  Karl 
in  dem  Augenblicke,  wo  er  sich  mit  den  Raspanti  in  Unter- 
handlungen  einliess,  den  Gambacorta  das  konigliche  Wort  brach". 

WShrend  dieser  Ereignisse  war  die  Stellung  des  Patriarchen 
in  Siena  unhaltbar  geworden;  der  Popolo  minuto  hatte  schliess- 

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140  Werunsky,  Der  erste  Romerzng  Kaiser  Karl  IV. 

lich  den  Adel  vollig  von  der  Theilnahme  am  Regiment  ausge- 
schlossen,  und  Nicolaus  es  fiir  das  Beste  gehalten,  die  Signorie 
in  die  Hande  dee  Volkes  zu  legen  und  mit  des  Kaisers  Zustim- 
mung  zu  diesem  zuriickzukehren.  Zu  derselben  Zeit  war  dem 
thatkraftigen  Albornoz  die  Unterwerfung  der  Mark  Ancona  ge- 
lungen  und  damit  die  Horrschaft  des  papstlichen  Stuhles 
in  dem  fruheren  Urafange  in  Mittelitalien  wieder  hergestellt, 
ohne  dass  Kaiser  Karl  der  papstlichen  Politik  Schwierigkeiten 
in  den  Weg  gelegt  hatte.  Offenen  Kampf  scheute  er;  zufrieden, 
zwei  Kronen  ohne  Kosten  und  ohne  grosse  Miihe  erlangt  zu 
haben,  trat  er  seinen  fluchtahnlichen  Riickzug  nach  Deutschland 
an,  welcher  ihm  schon  bei  den  Zeitgenossen  Verachtung  und 
Spott  eintrug. 

Der  Werth  dieser  fleissigen,  stellenweise  fesselnd  geschrie- 
benen  Studie  beruht  weniger  auf  der  Mittheilung  neuer  That- 
sachen  und  der  heutzutage  beliebten  Entdeckungen  als  auf  einer 
sorgfaltigen  Zusammenfassung  und  Sichtung  des  bislang  bekaiffl- 
ten  Materials,  sowie  einer  wiirdevolleren  und  ruhigeren  Bter- 
theilung  von  Karls  Charakter  und  Handlungen,  bei  der  freilich  dieser 
an  manchen  Stellen  sich  fiir  die  Milde  seines  Richters  bedankenmag. 
Indess  kann  dem  Verf.  ein  zwiefacher  Vorwurf  nicht  erspart  bleiben: 
der  eine  betrifft  die  Form  der  Darstellung,  welche  durch  Mit- 
theilung ganz  gleichgiiltigen  Details  ungehorig  aufgebauscht  ist, 
der  andere  die  Art  seiner  kritischen  Methode.  Zunachst  ware 
trotz  der  Einleitung  zu  Hubers  Regesten  ein  umfassender  Ab- 
schnitt  iiber  die  Quellen  jener  Zeit  und  ihre  Beziehungen  zu 
einander  wiinschenswerther  gewesen  als  die  seitenlangen  An- 
merkungen,  welche  den  Leser  storen  und  Wiederholungen  nothig 
machen.  So  hat  der  Verf.  es  unterlassen,  —  der  Tadel  triffi 
in  hoherem  Grade  noch  des  Verf.  „Ital.  Ereignisse"  S.  84  Anm.  1 
und  sonst  —  das  Verhaltniss  des  Chr.  Estense  zu  der  Cronica 
di  Bologna  und  dem  Polistore  klarzulegen;  es  stehen  sich  bis- 
lang die  Ansichten  Knolls,  dessen  Buch  „  Beit  rage  zur  ital 
Historiographie  im  14.  Jahrh.",  Gott.  1876,  der  Verf.  nicht  zu 
kennen  scheint,  Perlbachs  im  XII.  B.  der  Forschgn.  z.  deatsch. 
Gesch.  und  diejenige  des  Referenten  (Kritische  Erorterungen  zn 
einigen  italienischen  Quellen,  Gott.  1874)  unvermittelt  gegentiber. 
Perlbach  ist  der  Ansicht,  dass  die  Historia  miscella  Bonon.  stets  deu 
Polistore  benutzt  habe,  wahrend  dieser  bis  1354  das  Chr.  Estense 
ausschreibe,  aber  fiir  die  Jahre  1354 — 67  vom  Chr.  Est.  augge- 
schrieben  werde.  Knoll  dagegen  S.  59  sucht  im  Gegensatz  zu 
dieser  Ansicht  und  der  des  Referenten,  der  entwickelt,  dass  die 
Hist.  misc.  Bonon.  und  der  Polistore  von  einander  unabhangig, 
aber  beide  durch  das  Medium  einer  italienischen  Uebersetzung 
geflossen  seien,  die  Verwandtschaft  der  drei  Quellen  so  zu  er- 
klaren,  dass  die  Jahre  1354—67  direkt  aus  dem  Chr.  Est  in 
den  Polistore  iibergingen,  die  Historia  misc.  B.  dagegen  direkt 
aus  dem  Polistore  fur  diese  Jahre  entlehnt  habe.  Ebenso  hatte 
Abschnitt  IV  bei  Knoll,  wo  dieser  fiir   die   Cronaca  Pisana  des 

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Gothein,  Politische  und  religiose  Volksbewegungen  vor  der  Reformation.  141 

Ranieri  Sardo  eine  verloreue  Quelle  nachweist,  wohl  Erwahnuug 
verdient. 
Bremen.  Dietrich  Konig. 

XXXVI. 
Gothein,  Eberhard.  Politische  und  religiose  Volksbewegungen 
'  vor  der  Reformation,  g.  (124  S.)  Breslau  1878.  Wilhelm 
Koebner.  3  M. 
So  lange  die  letzten  Jahrzehnte  des  funfzehnten  Jahrhunderts 
noch  nicht  von  competenter  Seite  eine  eingehendo  und  zusammen- 
fassende  Bearbeitung  gefunden  haben,  wird  jeder  Beitrag  zur 
Kenntniss  dieses  uberaus  interessanten  und  bedeutsamen  Zeit- 
abschnittes  mit  Dank  entgegengenommen  werden  miissen,  aber 
der  Natur  der  Sache  nach  auch  nur  ein  Brucbstiick  bleiben. 
Das  ist  aucb  der  Fall  mit  dem  vorliegenden  Buche,  welches 
mancherlei  der  Zeit  nach  Zusammengehorige  neben  einander 
stellt  und  in  innere  Verbindung  zu  setzen  sucht,  iibrigens  seinem 
Titel  keineswegs  genau  entspricht.  Denn  soweit  von  den  Reform- 
Yersuchen  des  Kurfiirsten  Berthold  von  Mainz  gesprochen  wird, 
kann  von  einer  politischen  Volksbewegung  kaum  die  Rede  sein. 
Die  Einleitung  beginnt  mit  dem  auffalligen  Satze:  „Mit  der 
kurzen  glanzenden  Laufbahn  des  burgundischen  Reiches  hatte 
fur  Europa  eine  neue  Phase  der  Politik  begonnen."  Das  ist 
ebenso  wenig  begriindet,  wie  das  daran  gefugte  Urtheil:  „Unter 
wilden  inneren  Kfimpfen  hatte  sich  der  alte  Lehensstaat  erschopft, 
der  Fiirstengewalt,  die  in  seine  Erbschaft  eintrat,  fielen  uner- 
wartet  schnell  alle  geistigen  und  materiellen  Krafte  der  Volker 
zu,"  Weder  in  dem  deutschen  Reich,  noch  in  irgend  einem 
Territorium  mochte  sich  dieser  Satz  auch  nur  entfernt  bewahr- 
heiten  lassen.  An  einige  theils  allgemein  gehaltene,  theils  schiefe 
Phrasen  iiber  die  Reichsreformversuche  vor  1476  schliesst  sich 
eine  Betrachtung  iiber  die  durch  Karls  des  Kiihnen  Auftreten 
veranlasste  Mnationale  Bewegung":  ziemlich  unvermittelt  folgt 
eine  Notiz  iiber  die  Pilgerfahrten  nach  dem  heiligen  Blut  zu 
Wilsnack  1475  und  dann  die  Geschichte  des  Pfeifers  von  Niklas- 
liausen.  Neues  wird  nicht  gegeben  weder  hinsichtlich  des  Stoffes 
noch  der  Beurtheilung  der  Bewegung:  das  von  Barak  ver- 
offentlichte  Material  liegt  zu  Grunde;  dass  man  in  der  Niklas- 
hauser  Angelegenheit  ein  Vorspiel  des  grossen  Bauernkrieges  zu 
sehen  hat,  ist  nachgerade  auch  geniigend  hervorgehoben,  auch 
vom  Ref.  in  seiner  Arbeit  iiber  Fr.  Reisers  Reformation  des 
Konigs  Sigmund.  Hatte  der  Verf.  eine  geniigende  Kenntniss 
von  der  Continuitat  der  aus  der  Husitenzeit  stammenden  Be- 
wegungen  auf  socialem  Gebiet,  so  wiirde  er  aber  nicht  schliessen: 
nNach  der  nationalen  Bewegung  des  burgundischen  Erieges  er- 
schienen  diese  Volksbewegungen  wie  die  letzten  unregelmkssigeu 
Pendelschwingungen,  wenn  das  Uhrwerk  bereits  abgelaufen  ist.u 
G.  fuhrt  seine  Untersuchung  mit  folgenden  Satzen  fort: 
»Nie  fuhrt  in  der  wirklichen  Welt  ein  grosses  Ereigniss  zu  einer 


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142  Gothein,  Politische  und  religiose  Volksbewegungen  Yor  der  Reformation. 

so  vollstandigen  Abwicklung  der  Stimmungen,  wie  sie  da8  Ziel 
der  Tragodie  sein  soil.  Eine  Spannung,  ein  Gefuhl  der  Unbe- 
friedigung  bleibt  in  jedem  Fall  zurtick,  am  starksten  freilich  da, 
wo  sie  mit  einer  Enttauschung  verbunden  ist.u  Dergleichen 
ist  lediglich  Ballast  fur  jede  ernste  wissenschaftliche  Ar- 
beit. Um  von  der  Stellung  des  Clerus  zu  diesen  popnlaren 
Bewegungen  zu  sprechen,  waren  die  gewahlten  Umwege  nicht 
noting.  Dagegen  macht  G.  eine  feine  Bemerkung  mit  Bezug 
auf  Diethers  von  Mainz  Erlasse  gegen  die  Niklashauser  Fahrten. 
Natiirlich  ist  die  Geistlichkeit  dem  Auftreten  prophetischer,  on- 
gebildeter  Laien  feindlich,  aber  „freilich  richteten  sich  diePrin- 
cipien  Diethers  gegen  die  ganze  mittelalterliche  Kirche,  wenn 
er  erklart,  dass  eine  Enthiillung  von  Offenbarungen  iiber  die 
spateren  Schicksale  der  Welt  iiberhaupt  unmoglich  sei,  weun 
er  sich  halbspottisch  gegen  die  Pratension  besonderer  HeiBg- 
keit  eines  Ortes  wendet,  als  ob  selbst  heilige  Manner  Hob:  mid 
Steinen  solche  Kraft  geben  konnten".  Damit,  meint  G.,  sei  & 
jederzeit  mogliche  Wiederholung  des  Wunderbaren,  auf  dem  & 
ganze  katholische  Kirche  beruht,  verneint.  Auch  Sebastian 
Brant  in  der  bekannten  Stelle  des  „Narrenschiffsu  will  nurwfl 
alten  und  neuen  Testament  wissen.  „In  diesem  Zuriiokgehen  aai 
eine  unverriickbare,  als  Ideal  hingestellte,  in  der  Vergangenbeit 
liegende  Grundlage  haben  sich  Renaissance  und  Reformation  am 
engsten  beriihrt". 

Capitel  I,  betitelt  „die  Partei  der  Reichsreform  und  das 
VolkM,  beschaftigt  sich  zunachst  mit  Berthold  von  Mainz.  Ori- 
ginalitat  will  ihm  G.  nicht  absprechen,  aber  „der  Staatsmann 
will  gemessen  sein  nicht  nur  nach  der  Folgerichtigkeit  und 
Originalitat  seiner  Ideen,  sondern  auch  nach  deren  praktischer 
Giiltigkeit  und  nach  der  eigenen  Fahigkeit,  wirkend  das  dar- 
zustellen,  was  er  denkend  als  Ziel  erkannt  hat.  Diese  Probe 
halt  Kurfiirst  Berthold  nicht  aus".  Bevor  man  eine  ausreichende 
Arbeit  iiber  Bertholds  gesammte  Thatigkeit  besitzt,  kann  man 
ihn  iiberhaupt  nicht  mit  absoluter  Sicherheit  beurtheilen:  ihn 
zu  verurtheilen,  weil  seine  Plane  iiber  die  Begriffe  und  den 
guten  Willen  seiner  Zeitgenossen  hinausgingen,  diirfte  aber  kanm 
statthaft  sein.  G.  weist  darauf  hin,  dass  die  eigentlich  popular* 
Forderung  noch  immer  der  Landfrieden  war,  dagegen  fur  da 
Kammergericht  niemand  schwarmte :  dass  gegen  die  Reichssteae* 
von  Seiten  der  Stadte,  denen  er  zu  wenig  Rechte  eingeranM 
die  Redensart  vom  „ewigen  Servitut"  vorgebracht  wurde.  Beides 
kann  Bertholds  Verdienste  nicht  schmalern:  will  man^  ihm  znfl 
Vorwurf  machen,  dass  er  richtig  erkannte,  wie  die  —  keintf- 
wegs  neuerdings  erst  projectirte  —  Institution  des  Kammer- 
gerichtes  eine  nothwendige  Vorbedingung  des  Landfriedens  war* 
Auf  die  Opposition  der  Stadte  ist  wenig  zu  geben,  nicht  we»J 
stolz  auf  ihre  Stellung  als  Reichsstadte  haben  sie  zu  Sigma** 
Zeiten,  wie  zu  denen  Friedrichs  III.  oft  genug  Reichsinteresse*1 
im  Munde  gefuhrt,  aber  stets   nur  Kirchthurmpolitik  getrieben. 

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Gothein,  Politische  und  religiSse  Volksbewegungen  vor  der  Eeformation.  143 

Dass  in  einer  Zeit  des  Uebergangee  ein  Organisator  scheitert,  ist 
eben  nicht  auffallig.  Gegen  die  Idee  des  „gemeinen  Pfennigs" 
spricht  weder  die  Schwierigkeit  ihn  einzubringen,  noch  die 
Theilnahmlosigkeit  der  Fiirsten,  noch  das  „Geschrei  des  gemeinen 
Mannes",  dass  ihm  diese  Steuer  widerwartig  sei.  Und  wenn 
man  nachher  in  sieben  Jahren  drei  grundversohiedene  Steuer- 
plane  vorlegte,  so  pflegt  der  von  G.  geriigte  Uebelstand,  „dass 
man  viel  klarer  war  iiber  das,  was  man  abschaffen  wollte,  als 
iiber  das,  was  an  die  Stelle  treten  sollte",  bei  Neuerungen  nicht 
selten  einzutreten. 

Was  G.  dann  iiber  die  Mangel  der  Matiikularbeitrage,  iiber  die 
Concurrenz  der  „eilenden"  nnd  „grossen"  Hiilfen  sagt  (S.  39  ff.) 
ist  durchaus  sachgemass  und  geeignet,  die  seinen  Ansichten  iiber 
Berthold  entgegenstehende  Meinung  zu  befestigen.  Seine  Argu- 
mentation, dass  die  Reichskriegsteuer  summum  jus  summa  injuria 
gewesen,  ist  nicht  iiberzeugend;  gewiss  wurden  die  Hintersassen 
zum  Nachtheil  der  renten-  und  giiltenniessenden  Herren  be- 
steuert,  aber  ohne  Opfer  war  eine  Besserung  nicht  zu  erzielen. 
Nor  dass  zu  Opfern  niemand  bereit  war. 

G.  stellt  dann  dar,  wie  man  in  Folge  des  Widerstandes 
schliesslich  in  Augsburg  das  urspriingliche  Princip  „zu  Gunsten 
einer  partiellen  Einkommensteuer,  verbunden  mit  einer  Miliz- 
ordnung"  aufgab,  hinsichtlich  der  Erhebung  und  Verwaltung  die 
Centralisationsgeluste  fallen  liess  und  ein  Compromiss  mit  der 
Landesobrigkeit  schloss,  deren  Einfluss  durchaus  iiberwog. 

Daraus,  dass  man  den  Stadten  gegeniiber  von  vornherein 
den  „Erhebungsmechanismus  sammt  der  Controle"  preisgab, 
folgert  G.,  die  Reformpartei  habe  mit  dem  Landvolk  unbeschadet 
experimentiren  zu  diirfen  geglaubt ;  dass  speciell  Kurfurst  Berthold 
in  dem  Landvolk  eine  „urtheilslose,  an  duldendes  Gehorchen  zu 
gewohnende  Masse"  erblickt,  scheint  ihm  daraus  hervorzugehen, 
dass  der  Mainzer  der  Erfinder  der  Biichercensur  fur  Deutsch- 
land  gewesen.  „Dieses  Auftreten  im  Felde  der  geistigen  Inter- 
essen  ist  typisch  fiir  sein  ganzes  Verhalten  in  der  Politik."  Auch 
wird  Berthold  getadelt  (S.  49),  weil  er  mit  der  Geheimhaltung 
der  Reichsverhandlungen  auf  die  Leitung  der  oflfentlichen  Mei- 
nung, und  damit  auf  ein  vorziigliches  Agitationsmittel  verzichtete. 
Dass  man  sich  der  Religion,  der  Tiirkengefahr,  bediente,  um  fur 
den  „gemeinen  Pfennig",  —  der  dann  wirklich  der  „tiirkische 
Pfennig"  genannt  wurde  —  Propaganda  zu  machen,  wird  von  G. 
schwer  verurtheilt. 

Im  zweiten  Capitel  wird  unter  der  Ueberschrift  „K6nig 
Maximilian  und  das  Volk"  zuerst  der  Gegensatz  zwischen  dieser 
und  der  eben  besprochenen  Personlichkeit  treffend  gezeichnet, 
darauf  untersucht,  ob  Maximilians  Politik,  —  denn  Bertholds 
Politik  soil  ja  nicht  deutsch-national  gewesen  sein,  —  nationale 
und  volksmassige  Elemente  enthalten  habe.  Der  Verf.  meint, 
merkwiirdig  genug,  das  lasse  sich  erst  entscheiden,  wenn  wir 
wissen,  was   der  Konig  fur  volksmassig  und   national  gehalten. 

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144  Gothoin,  Politiache  und  religiSsc  Volkebowegungen  vor  der  Reformation. 

Ware  der  Satz  rich  tig,  so   wiirde   es   nichts   objectiv-nationales 
fur  irgend  eine  Zeit  geben.    Ausgehend  von  dem  Satze,  Maximilian 
sei  das  „erste  reife  Kind  der  Neuzeit  gewesen"  (?)  kommterzu 
dem  Resultat,  wenn  auch   die   Ziele    der   maxim.   Politik  nicht 
eigentlich  nationale  zu  nennen  waren,   habe    er  doch  stets  ge- 
strebt,  fur  dieselben  nationale  Begeisterung  zu  erwecken.   Das  ist 
augenscheinlich  keine  Antwort   auf  die  von   G.   selbst  gestellte 
Frage.    Hierauf  wird  dargestellt,  wie  der  Konig  bei  seinen  ereten 
Unternehmungen  an  der  alten  Form  des  „gemeinen  Zuges"  festhalt 
und  durch  Flugblatter  fur  seine  Plane   Stimmung   macht,  dann 
aber  seit  1495  sich  mit  der  Reichskriegsteuer  der  Reformpartei 
befreundet,  freilich  nur,  well  es  ihm  dadureh  moglich  wird,  an 
Stelle  buntscheckiger   Gontingente  mittelst   berufemassiger  Sol- 
daten  seine  Kriege  zu  fuhren.     Wenn  der  Verf.   bei   dieser  Ge- 
legenheit  wiedernm  auf  die  Burgunderkriege  zu  sprechen  kommt, 
„die  das  Selbstvertrauen  des  Volkes  auf  seine  eigene  Kraft  iibewll 
so  machtig  gestarkt  hatten",  so  geht  er  von  einer  vorlaufig  nodi 
unbewiesenen  Hypothese  aus.     Unseres  Wissens  ist  die  dentofli- 
nationale  Bedeutung  des  Neusser   Zuges   noch  nirgends  gescB- 
dert,  und  wie  weit  und  wie  nachhaltig  der  Eindruck  der  Schweiza 
Siege   gewosen,  miisste  auch   erst   festgestellt  werden.     Gewis 
haben  die  Burgunderkriege  das  Emporkommen  des  Landsknecht- 
thunw  befordert,  aber  nicht  weil  iiberall  das  Vertrauen  d« 
Volkes  auf  die  eigene  Kraft  machtig  erstarkt  war,  sondern  weil 
die   Schweizer   am   Todtschlagen  und  Beutemachen  Geschmadc 
gefunden  hatten  und  nun  lieber  im  kriegerischen   Beruf,  als  in 
friedlichen  Beschaftigungen  ihr  Brot   suchten.     Mit   Maximilians 
militarischen  Massregeln  beschaftigt  sich  der  Rest   des  Capitels. 
Im  dritten  Capitel:    „Nichtpolitische  Ursachen   der   Aufregttng", 
wird  yon  Landfriedensbruchen,  Hungersnoth  und  Franzosenkraii- 
heit  gesprochen,  Cap.  4   behandelt    „die  Kreuzwunder".     Maxi- 
milian wiinschte  die  bussfertige  Stimmung  des  Volkes   zu  einem 
Kriege  gegen  die  Tiirken  auszunutzen.     Der  Landshuter  Krieg, 
dann  die  italienischen  Ziige  traten  storend  dazwischen,    Nur  der 
St.  Georgs-Orden,  der,  scheinbar  ohne  Zuthun   des  Konigs  ent- 
standen,  den  Zweck  hatte,   aus   den  zerfahrenen  Adelselementen 
eine  dem  Konige  ergebene  feste  Truppe  zu  bilden,  war  das  nach- 
mals    freilich    unfruchtbare    Resultat    der    religiosen   Erregunf 
Das  letzte  Capitel  beschaftigt  sich  mit  dem  „Jubilaum",  mittelst 

dessen  „alle  geistlichen   und   weltlichen   Behorden Vortheil 

von  der   Erregung  des  Volkes  hatten   Ziehen wollen.    B 

schliesst  sich  diese  Ablassagitation  wie  der  Schlussstein  in  das 
ganze  G6baude  dieser  auf  Ausbeutung  einer  religiosen  Volks- 
bewegung  gerichteten  Politik". 

Berlin.  Willy  Boehm. 


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Baumgarten,  Ueber  Sleidans  Leben  nnd  Brief wechseL  145 

xxxvn. 

Baumgarten,  Hermann,  Ueber  Sleidans  Leben  und  Briefwechsel. 

Mit  einem  Facsimile.     8°.     (118  S.)    Strassburg  1878.    Karl 
J.  Triibner.     2,50  M. 

Obwol  Sleidan  eine  der  bedeutendsten  Personen  des  Refor- 
mationszeitalters  gewesen  ist  und  Jahrhunderte  lang  fur  einen 
der  ersten  Histonker  Deutschlands  gegolten  hat,  existirt  doch 
noch  keine  eigentliche  Biographie  desselben;  Baumgarten  be- 
zeichnet  mit  Recht  die  vorhandenen  als  nahezu  werthlos,  weil 
der  eine  dem  andern  Unbewiesenes  und  Unbeweisbares  nachge- 
schrieben  hat.  Der  Grund  fiir  diese  Vernachlassigung  eines  der 
hervorragendsten  Manner  jener  schon  so  vielfach  durchforschten 
Zeit  ist  der,  dass  sich  ganz  auffallend  wenig  Nachrichten  iiber 
Sleidan  und  namentlich  Briefe  von  ihm  und  an  ihn  haben  auf- 
finden  lassen ;  vielleicht  deshalb,  weil  Sleidan  selbst  seine  Corre- 
spondenzen,  die  sich  grossentheils  auf  politischem  Boden  be- 
wegten,  sorglich  geheim  hielt.  Dieser  Mangel  an  Stoif  war  es 
olme  Zweifel,  was  den  fleissigen  Christoph  Carl  am  Ende,  der 
1767  eine  Aufforderung  zur  Mittheilung  von  Material  erliess, 
veranlasst  hat,  die  Arbeit  unvollendet  liegen  zu  lassen,  nachdem 
er  sehr  viel  gesammelt  hatte.  Die  Collectaneen  am  Ende's, 
welche  Baumgarten  verloren  glaubt,  befinden  sich  iibrigens  ini 
Privatbesitz  des  Bibliothekars  Ernst  am  Ende  zu  Dresden  (vergl. 
J.  Petzholdts  Neuen  Anzeiger  fiir  Bibliographic  und  Bibliothek- 
wissenschaft  Jahrg.  1873  S.  181  Anm.  11). 

Auch  der  Verfasser  der  vorliegenden  Arbeit  sieht  sich  nach 
jahrelangem  Suchen  und  Forschen  genothigt,  denselben  Weg, 
wenn  auch  nicht  ohne  Widerstreben,  einzuschlagen,  auf  dem  am 
Ende  zu  einigen  Resultaten  gelangt  ist;  auch  er  wendet  sich 
an  das  gelehrte  Publicum  mit  der  Bitte,  ihn  auf  weitere  Spuren, 
die  sich  auf  das  Leben  des  beruhmten  (xeschichtsschreibers  be- 
ziehen,  aufmerksam  zu  machen.  So  will  unser  Schriftchen 
eigentlich  nur  ein  Programm  sein.  Freilich  ist  es  viel  mehr 
geworden,  und  wiirde,  sollte  auch  Baumgarten  schliesslich  den  Plan 
-einer  eigentlichen  Biographie  Sleidans  aufgeben  mtissen,  den  Mangel 
^iner  solchen  wesentlich  weniger  empfindlich   erscheinen  lassen. 

Zunachst  (S.  9—44)  giebt  B.  ein  genaues  Verzeichniss  aller 
ihm  bisher  bekannt  gewordenen  Briefe  von  und  an  Sleidan.  Es 
flind  im  Ganzen  152.  Ist  diese  Zahl  an  sich  schon  verhaltniss- 
massig  klein,  so  lasst  die  iiberaus  ungleiche  Vertheilung  der 
Briefe  iiber  die  Lebenszeit  Sleidans  die  Liickenhaftigkeit  des 
Materials  noch  schmerzlicher  empfinden.  Dem  Jahre  1545  allein 
gehoren  47,  den  Jahren  1551  und  1552  36  Briefe  an.  Das 
Verzeichniss  giebt  Datum,  Anfangs-  und  Schlussworte  jedes 
Schreibens,  endlich  den  Druck-  oder  Fundort  und  manche 
dankenswerthe  Anmerkung  und  Erganzung  der  bisherigen  Drucke; 
mit  Hilfe  desselben  und  namentlich  auch  des  dem  Schriftchen  beige- 
gebenen  Facsimile  eines  Briefes  Sleidans  wird  es  hoffentlich  ge- 
lingen,  weitere  Nachrichten  aufzufinden. 

Mitthoilangeo  a.  d.  hlstor.  LlUeratur.    VII.  10 


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146  Baumgarten,  Ueber  Sleidans  Leben  and  Briefwechse). 

Den  grossern  Theil  der  Arbeit  bildet  eine  knappe  Skizze 
des  Lebens  Sleidans,  die  ausschlicsslich  auf  Grand  der  authen- 
tischen  Quellen  gegeben  wird  und  vielfach  von  den  bisherigen 
Biographien  abweicht.  Nur  wenig  unterrichtet  ist  man  liber 
die  Pamilie  und  die  Studienzeit  Sleidans  in  Koln  und  Lowen, 
sowie  iiber  seinen  neunjahrigen  Aufenthalt  in  Frankreich 
(1533 — 1542),  wahrend  dessert  er  seine  Thatigkeit  als  Geschicht- 
schreiber  mit  einer  Bearbeitung  des  Froissard  nnd  gleichzeitig 
seine  politische  Thatigkeit  im  Dienste  des  Cardinal  du  Bellay 
begann.  Cardinal  du  Bellay  verfolgte  damals  eine  den  deutschen 
Protestanten  im  Wesentlichen  freundliche  Politik ;  er  suchtc  die 
Schmalkaldener,  besonders  Landgraf  Philipp,  bei  ihren  alten  Be- 
ziehungen  zu  Frankreich  zu  erhalten.  Von  besonderem  Interesse 
mag  Sleidan  in  dieser  Beziehung  der  Tag  zu  Hagenau  1540  ge- 
wesen  sein,  den  er  als  Abgesandter  des  Cardinals  besuchte. 
Mit  dieser  Sendung  bringt  Baumgarten  den  Entschluss  Sleidans 
publicistisch  in  den  Kampf  der  deutschen  Parteien  einzugreifen, 
sowie  auch  seinen  Plan,  Materialien  zu  einer  B^formationsge- 
schichte  zu  sammeln,  in  Verbindung.  Der  Tag  zu  Hagenau  hatte 
indess  nicht  den  gewunschten  Erfolg;  dies  sowie  die  wachsende 
Entfremdung  zwischen  Konig  Franz  und  dem  Schmalkaldischen 
Bunde  bewirkten,  dass  Sleidans  Stellung  zum  franzosischen  Hofe 
sich  weniger  angenehm  gestaltete  und  er  schliesslich  vorzog,  nach 
Deutschland  zuriickzukehren. 

Ueber  seinen  Aufenthalt  in  den  nachsten  Jahren  sind  wieder 
nur  sehr  fragmentarische  Nachrichten  erhalten;  dass  er,  wiedie 
bisherigen  Biographen  annahmen,  sofort  in  Strassburg  seinen 
festen  Wohnsitz,  sei  es  als  Lehrer  am  Gymnasium,  oder  ab 
Beamter  des  Stadtraths,  genommen  habe,  giebt  B.  nicht  zu. 
Am  besten  sind  wir  iiber  das  fur  Sleidans  Leben  hochwichtige  Jahr 
1545  unterrichtet.  In  dieses  Jahr  fallt  seine  Bestallung  im 
Dienste  des  Schmalkaldischen  Bundes,  die  namentlich  auf  Bucers 
Veranlassung  erfolgte.  Er  sollte  eine  Geschichte  des  Schmal- 
kaldischen Bundes  schreiben,  ein  Werk,  das  ihm  schon  lange 
als  Lebensaufgabe  vorschwebte  und  dem  er  sich  jetzt  mit  warmem 
Eifer  zuwandte.  Allein  nur  das  erste  Buch  vollendete  er  da- 
mals; die  Schwierigkeit,  Material  zu  erhalten,  vielfache  diplo- 
matische  und  politische  Verwendungen  im  Dienste  des  Bundes, 
endlich  der  Schmalkaldische  Krieg,  der  dem  Bunde  ein  Ende 
machte,  liessen  die  Arbeit  ins  Stocken  gerathen,  imd  der  letztere 
brachte  Sleidan  auch  personlich  in  eine  iible  Lage;  er  verlor 
nicht  bios  seinen  Gehalt,  von  dem  ihm  der  Bund  noch  einen 
grossen  Theil  schuldete,  sondern  auch  personlich  drohten  ihm 
Gefahren,  weil  man  seinen  Verbindungen  mit  Frankreich  miss- 
traute.  Er  bemiihte  sich,  von  England,  wohin  sich  Bucer  vsA 
Fagius  damals  gewandt  hatten,  Unterstiitzung  zur  Fortsetzung 
seines  Werkes  zu  erhalten,  und  in  der  That  wurde  ihm  1551 
ein  Jahrgeld  zugesichert,  von  dem  er  jedoch  nicht  viel  erhalten 
zu  haben  scheint. 

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Korap,  FQrstabt  Johanii  Bemhard  Sclieuk  zu  Schweinsberg.  J  47 

Besser  gestalteten  sich  seine  Verhaltnisse,  als  die  Erhebung 
des  Kurfiir8ten  Moritz  einen  Umschwung  der  politischen  Lage 
bewirkte.  Die  Stadt  Strassburg,  in  der  er  nun  schon  seit 
mehreren  Jahren  seinen  dauernden  Aufenthalt  genommen  und 
wo  er  sich  der  Gunst  der  hervorragendsten  Manner,  namentlich 
seines  treuen  Freundes  Jacob  Sturm,  erfreute,  nahm  sich  seiner  an 
und  stellte  ihn,  nachdem  er  eine  Mission  nach  Trient  im  Herbst 
1551  glucklich  ausgefiihrt,  dauernd,  freilich  nur  mit  150  Gulden 
Grehalt,  an.  Man  wollte  ihm  hauptsachlich  Musse  fiir  sein  Lebens- 
werk  gewahren,  und  er  benutzte  diese  mit  grossem  Eifer.  Trotz 
neuer  schwerer  Schicksalsschlage  —  er  verlor  1553  seine  Ge- 
mahlin  und  seinen  Gonner  Jacob  Sturm  durch  den  Tod  — 
vollendete  er  die  „Commentarienu  bis  zum  September  1554. 
Er  wunschte,  sie  dem  Herzog  Christoph  von  Wiirttemberg  zu 
dediciren;  allein  dieser  trug  Bedenken,  die  Widmung  anzu- 
nehmen,  wollte  sogar  den  Verfasser  veranlassen,  die  Publication 
bis  auf  eine  gelegnere  Zeit  aufzuschieben.  Dies  war  nicht  die 
einzige  Gefahr,  die  dem  Werke  noch  kurz  vor  seinem  Erscheinen 
drohte;  auch  der  Rath  zu  Strassburg  machte  Miene,  der  Her- 
ausgabe  Schwierigkeiten  in  den  Weg  zu  legen;  wol  nicht  mit 
Unrecht  glaubte  man  damals,  Karl  V.  selbst  sehe  das  Erscheinen 
des  Buches  ungern.  Trotz  allem  kam  es  im  April  1555  in  den 
Handel;  Kurfiirst  August  von  Sachsen  hatte  schliesslich  die 
Widmung  angenommen.  Indess  Herzog  Christoph  hatte  Recht 
gehabt,  wenn  er  die  Zeit  des  Erscheinens  fiir  eine  inopportune 
hielt.  Zwar  hatte  das  Werk  einen  ausserordentlich  starken  Ab- 
satz ;  schon  im  Juli  1555  war  die  erste  Auflage  von  1000  Exem- 
plaren  fast  vollstandig  verkauft.  Allein  nach  anderer  Seite  hin 
brachte  das  Werk  seinem  Verfasser  trotz  seiner  Reservirtheit 
doch  Ajifeindungen  aller  Art;  man  drohte  ihm  mit  Confiscation 
und  dem  Kammergericht.  Hatte  Sleidan  gehofft,  durch  das 
Buch  eine  feste  Anstellung  bei  einem  deutschen  Fiirsten  zu 
finden,  so  war  die  Hoffnung  ganz  illusorisch.  —  Lange  iiber- 
lebte  Sleidan  diesen  Kummer  nicht,  er  starb  bereits  im  Sep- 
tember 1556. 
Dresden.  Dr.  H.  Ermisch. 


xxxvm. 

Komp,    Dr.,   Regens    des   bischofl.   Klerikal-Seminars   zu  Fulda, 
Furstabt  Johann    Bernhard  Schenk    zu    Schweinsberg,  der 

zweite  Restaurator    des   Katholicismus   im    Hochstifte   Fulda. 

(1623 — 1632).     Nach  meist  unedirten   Quellen.     gr.   8.      (V, 

134  S.)  Fulda  1878.  A.  Maier.  2  M. 
Der  Verfasser  hat  schon  mehrere  Beitrage  zur  Geschichte 
des  Hochstifts  Fulda  im  16.  und  17.  Jahrhundert  geliefert, 
einige  Aufsatze  iiber  den  Furstabt  Balthasar  von  Dernbach  und 
ein  im  vorigen  Jahre  erschienenes  Buch  iiber  die  zweite  Schule 
Fiddas  und  das  papstliche  Seminar  (1571—1773);  in  der  Ein- 
leitung  hebt  er  hervor,  dass  das  letztere  im  „Katholik",  in   den 

10* 


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148        Komp,  Fiirstabt  Johann  Bernhard  Schenk  m  Schweinsberg. 

„Historisch-politischen  Blattern",  den  „Laacher  Stimmen"  und 
der  ^Katholischen  Bewegung"  giinstig  beurtheilt  worden  sei. 
Diese  Aufzahlung  charakterisirt  die  Stellung,  welche  jenen  Werken 
und  auch  dem  vorliegenden  in  der  historischen  Literatur  anzuweisen 
ist.  DerVerfasser  rechnet  sich  entschieden  zur  ecclesia  militans; 
von  streng  confessionellem  Standpnnkt  ausgehend,  kann  er  keine 
Gelegenheit  voriibergehen  lassen,  ohne  seinem  Grimm  gegen  die 
„sogenanntett  Reformation  und  die  Reformatoren ,  namentiicli 
Luther,  Luft  zu  machen,  und  hebt  ihnen  gegeniiber  die  Th&tig- 
keit  derjenigen  Manner,  welche  den  reformatorischen  Bewegungen 
im  Hochstift  Fulda  entgegentraten,  in  einer  recht  oft  an  den 
Ton  der  Erbauungsliteratur  streifenden  Weise  hervor.  Es  sind 
dies  namentlich  der  Fiirstabt  Balthasar  von  Dernbach,  der 
1571  die  Jesuiten  ins  Stift  rief,  und  sein  zweiter  Nachfolger, 
Johann  Bernhard  Schenk  zu  Schweinsberg. 

Einseitig  wie  die  ganze  Anschauung  ist  auch  die  Auswahl 
der  Quellen.  Vor  allem  sind  benutzt  die  Jahresbriefe  der 
Jesuiten,  die  sich  in  Fulda  befinden,  eine  Quelle,  deren  Wich- 
tigkeit  nicht  unterschatzt  werden  darf,  die  aber  wie  kaum  eine 
andere  der  Kritik  bedarf.  Auch  die  iibrigen  im  Vorwort  ge- 
nannten  gedruckten  und  ungedruckten  Quellenschriften  vertreten 
fast  ausnahmslos  den  streng  katholischen  Standpunkt.  Wahr- 
scheinlich  wiirde  die  Personlichkeit  Johann  Bernhards  in  einem 
vielfach  andern  Lichte  erscheinen,  wenn  die  im  Marburger 
Staatsarchiv  vorhandenen  Archivalien  benutzt  worden  waren. 
Der  Verfasser  hat  dies  jedoch  nicht  gethan,  er  weiss  nicht 
einmal,  ob  „das  im  J.  1874  mit  einer  unerklarlichen  Hast  nach 
Marburg  centralisirte"  Fuldaer  Archiv  schon  zuni  Gebrauch  ge- 
ordnet  ist  oder  ob  es  noch  in  Sacken  liegt  (vgl.  S.  15). 

Das  erste  Capitel  des  Buchs  giebt  einen  einleitenden  Ueber- 
blick  uber  die  Zustande  der  Abtei  im  16.  Jahrhundert  und 
iiber  die  Anfange  der  Reformation  daselbst.  Die  interessante- 
sten  Personlichkeiten  unter  den  Aebten  dieser  Zeit  sind  der 
1541  gewahlte  Fiirstabt  Philipp  Schenk  zu  Schweinsberg,  d«i 
Estor  seiner  Zeit  als  innerlich  der  neuen  Lehre  zugethan  be- 
zeichnet  hat  und  der  sich  wenigstens  durch  die  Ordination  von 
1542,  deren  rein  katholischen  Charakter  Komp  eifrig  vertheidigt> 
als  tolerant  bewies,  und  der  schon  genannte  Balthasar  von 
Dernbach,  der  als  der  Retter  des  Katholicismus  in  Fulda  be- 
zeichnet  wird. 

Unser  Johann  Bernhard  Schenk,  aus  der  Hermannsteiner 
Linie  der  Schenkischen  Familie,  ist  1584  geboren  und  trat  1618 
als  Decan  des  Stifts  dem  Fiirstabt  Johann  Friedrich  von  Schwal- 
bach,  dem  die  nothige  Energie  zur  Leitung  des  Stifts  in  so  be- 
denklicher  Zeit  abging,  zur  Seite.  Schon  damals  bemiihte  er 
sich  sehr  um  die  Hebung  des  kirchlichen  Lebens  im  Fuldaischen; 
er  veranlasste  eine  Visitation  des  Stifts  durch  den  papstiichen 
Nuntius  Antonius  Albergardo  und  unterstiitzte  den  Abt  wesent- 
lich  bei  seinen  Bemiihungen  um  die   Reform   des   Stifts.     Auch 

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'  nj  j'v 


•     Komp,  Fiirstabt  Johann  Bernhard  Schenk  zu  Sckweinsberg.        149 

an  der  Berufung  der  Franciscaner  hatte  er  hervorragenden 
Antheil. 

Diese  reformirende  Thatigkeit  war  es  auch  hauptsachlich, 
die  Johann  Bernhard  nach  seiner  Wahl  zum  Fiirstabt  (1623 
12.  Jan.)  fortsetzte.  Nach  einer  Rundreise  durch  das  Stift  be- 
rief  er  sofort  eine  Synode  nach  Fulda,  deren  Artikel  und  Decrete 
eingehend  behandelt  werden.  Das  erste  Decret  war  gegen  die 
Unzucht  gerichtet,  und  der  Verfasser  hat  bei  dieser  Gelegenheit 
die  —  Kiihnheit,  dieses  Uebel  als  „das  charakteristischc  Merk- 
mal  der  deutschen  religiosen  Bewegung"  hinzustellen.  Mit  Energie 
geht  der  neue  Fiirstabt  gegen  die  Protestanten ,  die  noch  in 
seinem  Lande  wohnen,  vor ;  die  evangelischen  Pradicanten  werden 
verjagt,  Jesuiten  in  ihre  Stellen  gesetzt,  was  freilich  bisweilen 
zu  Conflicten  mit  dem  Adel,  der  seine  Patronatsrechte  betonte, 
Anlass  gab.  Das  Jesuitencolleg  sowie  das  papstliche  Seminar 
werden  in  jeder  Weise  gefordert.  Durch  Heranziehung  von 
S.  Galler  Monchen  werden  dann  die  Bemiilmngen  um  Reformi- 
rung  des  Hauptklosters  fortgesetzt ;  es  bildeten  sich  in  der  Folge 
eine  Partei  strengerer  Richtung  und  eine  andere,  jener  Visitation 
widerstrebende  Partei,  ein  Gegensatz,  der  in  der  spatern  Stifts- 
geschichte  eine  nicht  unwichtige  Rolle  spielt.  Namentlich  die 
Riicksicht  auf  die  Zustande  des  Klosters  bestimmten  den  Abt 
auch,  um  eine  neue  apostolische  Visitation  nachzusuchen.  Petrus 
Aloysius  Carafa,  der  papsthche  Nuntius  am  Rhein,  wurde  da- 
mit  beauftragt.  Die  Visitation  selbst  ist  nach  dem  Schriftchen 
eines  Begleiters  des  Carafa,  des  Caelius  Servilius,  sehr  ausflihr- 
lich  (S.  57—88)  dargestellt.  Wir  gehen  darauf  um  so  weniger 
ein,  als  der  Erfolg  ein  nicht  sehr  befriedigender  war.  —  Auch 
die  Begriindung  des  Benedictinerinnenklosters  und  der  beiden  noch 
jetzt  bestehenden  Marianischen  Congregationen  unter  der  Biirger- 
schaft  Fuldas  war  das  Werk  des  Abts  Johann  Bernhard. 

Ohne  Zweifel  war  der  Abt  ein  vielgeschaftiger  Mann,  der 
die  Stellung,  die  er  einnahm,  gliinzend  ausfiillte ;  aber  was  wir  von 
ihm  bis  jetzt  gehort  haben,  zeichnet  ihn  in  keiner  Weise  vor  vielen 
andern  Aebten  aus.  Die  interessantesten  Seiten  seines  Lebens, 
namentlich  die  Verbindung  mit  Tilly,  sind  sehr  kurz  behandelt 
worden. 

Mit  der  Schlacht  bei  Breitenfeld  war  ein  vollstandiger 
Umschwung  in  der  bis  dahin  fur  das  Stift  sehr  vortheilhaften 
politischen  Lage  eingetreten,  und  Landgraf  Wilhelm  V.  von 
Hessen-Cassel  zogerte  durchaus  nicht,  daraus  Nutzen  zu  ziehen. 
Schon  damals  hatte  er  das  Stift  in  Besitz  genommen;  doch 
hinderten  ihn  daran  Fugger's  bayrische  Reiterregimenter.  Nach- 
dem  diese  aber  abgezogen  waren,  erfolgte  sofort  die  Besetzung 
der  Stadt  durch  hessische  Truppen.  Die  Art,  wie  die  Hessen 
dort  gehaust,  ist  in  den  schwarzesten  Farben  dargestellt ;  hoffent- 
lich  wird  dies  den  Anstoss  zu  einer  objectiveren  Darstellung 
des  Sachverhalts  geben.  Dass  der  protestantische  Gottesdienst 
wieder  eingerichtet  wurde,  bedauert  der  Verfasser  natiirlich  sehr ; 


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150  Gindely,  Goschicbte  dea  dreissigjiihrigen  Krieges. 

# 
er  scheint  nicht   einzusehen,   dass   dies   nach   demselben  Rechte 
der    Temtorialitat   geschehen   ist,    mit   dem    er    das   Vorgehen 
Jokann  Bernhards  gegen  die  Protestanten  wiederholt  entschuldigt. 

Die  letzten  Lebensjahre  des  Abts  sind  traurig.  Aus  Fulda 
entflohen,  irrte  er  heruui,  bis  er  sich  endKch  an  Tilly  an- 
schloss.  In  der  Schlaclit  bei  Liitzen  traf  ihn  eine  Kugel;  er 
wurde  mit  Gustav  Adolf  und  Pappenheim  ein  Opfer  des  Tages. 
Ein  kurzer  Ueberblick  iiber  die  spatern  Schicksale  des  Stifte  bis 
zum  westfalischen  Frieden  beschliesst  das  Buch. 

Nachtraglich  mag  noch  ein  Punkt  erwahnt  werden,  der  toii 
allgemeinerem  Interesse  ist.  Fulda  besass  noch  im  Anfang  des 
17.  Jahrhunderts  eine  ausserordentlich  reiche  Bibliothek  und 
Manuscriptensammlung,  die  seit  jener  Zeit  zum  grossen  Theil  ver- 
schwunden  ist ;  Reste  finden  sich  in  der  Vaticanischen  Bibliothek 
zu  Rom  und  in  der  Landesbibliothek  zu  Cassel.  Kindlinger, 
der  1808  einen  Katalog  dieser  Bibliothek  entdeckte  und  veroffent- 
lichte,  hat  die  Vermuthung  ausgesprochen,  dieselbe  sei  von  dem 
Nuntius  Caraffa  —  der  auch  bei  der  Ueberfuhrung  der  palatini- 
schen  Bibliothek  aus  Heidelberg  nach  Rom  eine  hervorragende  Rolle 
gespielt  hat  —  bei  Gelegenheit  jener  Visitation  nach  Rom  ge- 
sandt  worden.  Komp  dagegen  sucht  dies  zu  widerlegen  und  zu 
beweisen,  dass  sie,  wie  alles,  was  nicht  niet-  und  nagelfest  war, 
von  den  Hessen  nach  Cassel  geschickt  worden  sei.  Wo  die 
meisten  Bande  sich  jetzt  befinden,  ist  vollig  unbekannt. 
Dresden.  Dr.  H.  Ermisch. 


XXXIX. 
Gindely,    Anton,    Geschichte    des    dreissigjahrigen    Krieges. 

1.  Abtheilung:  Geschichte  des  bohmischen  Auf- 
stand es  von  1618.  II.  und  III.  Band.  gr.  8.  (XVL 
442  u.  XII,  496  S.)  Prag  1878.  F.  Tempsky.  16  M. 
Nach  einer  Unterbrechung  von  neun  Jahren  folgen  der 
zweite  und  dritte  Band  der  ,.  Geschichte  des  dreissigjahrigen 
Krieges"  von  Gindely  auf  den  ersten,  welche  ebenso  wie  ihr 
Vorganger  die  Ergebuisse  umfassender  Forschungen  in  den 
wichtigsten  Archiven  und  Bibliotheken  Europas  dem  historischen 
Publilaim  in  wissenschaftlich  objectiven  Darstellungen  vorzu- 
fiihi-en  bemiiht  sind.  Im  zweiten  Bande  hat  der  Verfasser  noch 
an  dem  Grundsatze  festgehalten,  moghchst  unbekiimmert  urn  die 
Arbeiten  friiherer  Autoren  die  Ereignisse  aus  ungedruckten 
Urkunden  zu  ergrttnden  und  sein  Material  in  erster  Linie  den 
Archiven  zu  Simancas,  Paris,  Wien,  Miinchen  und  Dresden  eat- 
nommen.  Fiir  die  englischen  Verhaltnisse  konnten  neben  Samuel 
Rawson  Gardiner's  veroffentiichten  „Letters<%'  die  von  demselben 
Forscher  im  englischen  Staatsarchive  some  in  mehreren  andem 
bedeutenden  Sammlungen  verfertigten  Abschriften  fiir  das  Jabr 
1620  und  die  Folgezeit  benutzt  werden,  ausserdem  boten  die 
Privatarchive    der   Grafen    von    Buquoy   in    Gratzen   und  der 

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Gindely,  Geschichte  des  dreissigjShrigen  Krieges.  151 

Grafen  von  Harrach  in  Wien  eine  zahlreiche  Menge  unschatz- 
barer  Dokumente.  So  liegen  der  Geschichte  des  bohmischen 
Aufstandes  etwa  5 — 6000  bisher  kaum  benutzte  und  durch  ganz 
Europa  zerstreute  Aktenstucke  zu  Grunde.  Dem  dritten  Bande 
fiigt  Gindely  einen  Anhang  bei,  welcher  dreizehn  Dokumente 
von  hervorragender  Bedeutung  enthalt  (S.  440—96)  und  somit 
eine  Urkundensammlung  beginnt,  deren  Fortsetzung  in  den 
spateren  Biinden  beabsichtigt  wird.  Wir  niochten  dem  Verfasser 
das  Hinoinziehen  dieses  fremdartigen  Elementes  nicht  empfehlen, 
8ondem  wiinschten  demselben  soviel  Selbstlosigkeit,  dass  er  die 
reiche  Fiille  seiner  Sammlungen  jenen  Gelehrten  zur  Verfiigung 
stelle,  welche  die  Herausgabe  der  „Briefe  und  Akten  zur  Ge- 
schichte des  drcissigjahrigen  Krieges"  nun  schon  bis  zum  vierten 
Bande  gefdrdert  haben,  damit  das  deutsche  Volk  in  dieser  Publi- 
kation  einen  Ersatz  fur  den  unkritischen  Lundorp  erhalte,  und 
in  Zukunft  der  Historiker  nicht  nothig  habe,  sein  Material  an 
so  verschiedenen  Stellen  zu  suchen.  Auch  die  Benutzung  der 
Werke  von  Moser,  d'Elvert,  Palm,  Voigt  und  auderer  verschmaht 
der  Ver£  beim  dritten  Bande  nicht,  wie  er  sich  auch  der  zeit- 
genossischen  Literatur  und  den  Flugschriften  gegeniiber  keines- 
wegs  mehr  so  sprode  zeigt,  wie  bei  den  ersten  Banden.  Akten- 
stiicke  aus  dem  Lundorp  zu  benutzen,  ohne  ihre  Echtheit  und 
die  Correctheit  des  Abdruckes  bewiesen  zu  haben,  halt  der 
Verfasser  dieser  Zeilen  nach  der  von  ihm  veroffentlichten  Unter- 
suchung  in  einer  strong  wissenschaftlichen  Arbeit  nicht  fur  statt- 
haft,  da  kaum  ein  Dokument  in  diesem  nachlassig  aus  Flug- 
blattern  zusammengestellten  Compilat  fehlerlos  wiedergegeben 
sein  diirfte.  Fiir  den  Gang  der  kriegerischen  Ereignisse  in 
Bohmen  hat  Gindely  ferner  eine  wichtige  Quelle,  Mansfelds  Apo- 
logie,  iibersehen,  in  welcher  der  Feldherr  selbst  unter  Einlegung 
von  Aktenstiicken  seine  Betheiligung  an  den  Operationen  von  der 
Eroberung  Pilsens  bis  zur  Prager  Schlacht  behufs  seiner  Recht- 
fertigung  darlegt.  Die  citirten  Acta  Mansfeldica  sind  eine  bos- 
artige  Schmahschrift  voller  Liigen  und  nur  mit  der  grossten 
Vorsicht  zu  benutzen. 

Die  vorliegenden  Bande  heben  mit  dem  Auftreten  Ferdinands  II. 
an,  schildern  das  Umsichgreifen  der  bohmischen  Bewegung,  die 
Zurustungen  fiir  den  Entscheidungskampf,  in  welche  die  Be- 
werbungen  um  die  Krone  des  h.  Wenzel  und  die  Streitigkeiten 
wegen  der  Kaiserwahl  verflochten  sind,  und  schliessen  mit  der 
Katastrophe  am  weissen  Berge  und  der  Niederwerfung  von 
Mahren,  Schlesien  und  den  Lausitzen.  Bei  dem  Vorhandensein 
einer  Reihe  tuchtiger  Vorarbeiten,  zumal  aus  der  Droysenschen 
Schule,  welche  vom  Autor  merkwiirdiger  Weise  ignorirt  werden, 
waren  ahnlich  iiberraschende  Entdeckungen  wie  in  der  rGeschichte 
Rudolf  II."  nicht  zu  erwarten,  dennoch  hat  Gindely,  beson- 
ders  durch  das  Herbeiziehen  tschechischer  Quellen,  die  Ent- 
wicklung  der  Ereignisse  in  Bohmen,  sowie  manche  Partien 
aus     der     innern     Geschichte     der    habsburgischen    Provinzen 

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152  Gindely,  Geschichte  des  dreissigj&hrigen  Krieges. 

iiberhaupt  zum  ersten  Male  recht  eigentlich  in  ein  helles  Licht 
gestellt. 

Die  Eltern  Ferdinands  II.  waren  Erzherzog  Karl,  der  jiingste 
Sohn  Kaiser  Ferdinands  I.,  und  die  Herzogin  Maria  von  Baiero. 
Fur  Karl  bemiihte  sich  sein  Vater  mehrere  Jahre  vergeblich, 
die  Hand  der  Konigin  Elisabeth  von  England  zu  erwerben 
(1559—67);  da  dieser  Plan  jedoch  scheiterte,  so  vermahlte  sich 
der  Erzherzog,  der  eigenen  Neigung  folgend,  nach  Einholung  des 
papstlichen  Dispenses  mit  seiner  jugendfichen  Nichte  Maria,  der 
Tochter  des  Baiernherzogs  Albrecht  V.,  welche  ihm  in  einer 
wahren  Musterehe  15  Kinder  gebar.  Karl  stand  in  religioser 
Hinsicht  seinem  Bruder,  dem  Kaiser  Maximilian  II.,  nahe 
und  hatte  wahrend  der  Verhandlungen  mit  Elisabeth  sich 
sogar  erboten,  seine  Gemahlin  in  den  anglikanischen  Gottesdienst 
zu  begleiten  und  mit  einer  privaten  katholischen  Andacht  zu- 
frieden  zu  sein.  Solche  Nachgiebigkeit  lag  durchaus  nicht  in 
dem  Charakter  seiner  jugendlichen  Gattin,  welche  eine  fanatische 
Katholikin  war  mid  ihren  Einfluss,  der  je  langer  je  mehr  Macht 
iiber  den  Gemahl  gewann,  dazu  benutzte,  den  drohenden  Unter- 
gang  der  romischen  Kirche  in  Innerosterreich  zu  hemmen.  Den 
Jesuiten  wurde  die  Universitat  zu  Graz  iibergeben,  dem  Luther- 
thum  durch  scharfe  Verordnungen  entgegengetreten ,  aber  in- 
mitten  dieser  Bestrebungen  starb  Karl  1590  und  liess  seinen  altesten 
Sohn  Ferdinand  ais  zwolfjahrigen  Knaben  zuriick. 

Nachdem  derselbe  seinen  ersten  Unterricht  in  Graz  erhalten 
hatte,  war  er  schon  einige  Monate  vor  dem  Tode  seines  Vaters 
auf  die  Universitat  Ingolstadt  geschickt  worden  und  studirte 
dort  mit  seinem,  um  sechs  Jahre  alteren  Vetter,  dem  Herzoge 
Maximilian  von  Baiern,  fiinf  Jahre  lang  unter  der  strengen 
Aufsicht  der  Jesuiten.  Mit  noch  nicht  vollendetem  17.  Jahre 
ubernahm  er  darauf  mit  kaiserlicher  Erlaubnis  die  Regierung 
seines  Erblandes  und  begann  sofort  mit  einer  so  griindlichen  Katho- 
lisirung  desselben,  dass  man  ihn  sogar  am  Wiener  Hofe  vor 
iibereilten  Schritten  warnen  zu  miissen  glaubte.  Eine  Beise  nach 
Loretto  1598,  auf  welcher  er  in  Ferrara  mit  dem  Papste 
Clemens  VIII.  zusammentraf,  sollte  ihn  fiir  seinen  heiligen  Beruf 
starken.  Hier  legte  er  das  Geliibde  ab,  dass  er  selbst  mit  Ge- 
fahr  seines  Lebens  alle  Sekten  und  Irrlehren  aus  seinen  Erb- 
landern  vertreiben  wolle.  Nachdem  er  in  Rom  und  Florenz 
einen  Besuch  gemacht  hatte,  kehrte  er  nach  Graz  zuriick.  Wie 
griindlich  er  hierauf  sein  Werk  durchfuhrte,  braucht  an  dieser 
Stelle  nicht  mehr  erwahnt  zu  werden.  Dennoch  ist  Ferdinand  II 
nichts  weniger  als  ein  Monarch  im  Sinne  des  spanischen  Philipp. 
und  die  grossen  Erfolge,  welche  er  wahrend  seiner  Regierung 
erlangte,  sind  nur  das  Resultat  der  Erbarmlichkeit  seiner  GegiM 
und  der  allseitigen  Hilfe  seiner  auswartigen  Freunde.  Freflich 
war  er  streng  katholisch,  liess  sich  im  Fasten  und  Gebet  vob 
keinem  Monche  iiberbieten  und  horte  in  alien  Angelegenheiten, 
welche  eine   kirchliche   Beziehung  hatten,   allein   auf  den  Ba^ 

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Gindely,  Geschichte  des  dreissigjalirigen  Krieges.  15$ 

seiner  jesuitischen  Beichtviiter,  aber  ebenso  angstlich  wie  die 
Siinde  mied  er  auch  jede  ernste  Geistesanstrengung,  jede  ernste 
Arbeit  und  blieb  allezeit  ein  Spielball  seiner  Hoflinge  und  geist- 
lichen  Berather,  die  seine  Gunst  zu  ihrer  Bereicherung  und  zur 
Begriindung  ihrer  Herrschaft  missbrauchten.  Niemals  griff  er 
selbstandig  in  die  Regierung  ein  und  gestattete  namentlich  dem 
Herrn  von  Eggenberg  einen  Einfluss,  der  denselben  fast  zum 
absoluten  Herrn  iiber  ihn  machte,  sodass  Ludwig  XIII.  dem 
Kardinal  Richelieu  gegeniiber  jedenfalls  viel  mehr  Selbstandig- 
keit  bewahrte,  als  Ferdinand  in  dem  Verhaltnis  zu  seinen 
Rathen.  Nie  wagte  er  im  Staatsrathe  gegen  die  Majoritat  zu 
stimmen.  Im  personlichen  Verkehr  war  Ferdinand  leicht  zu- 
ganglich  und  freundlich  ohne  Unterschied  des  Ranges,  ja  er 
zeigte  eine  Vorliebe  fiir  ein  Gesprach  mit  niedriggestellten  Per- 
sonen.  Der  dritte  Theil  des  Tages  wurde  mit  Ajndachtsiibungen 
verbracht,  zwei-  bis  dreimal  in  der  Woche  gejagt,  dazu  kamen 
musikalische  Unterhaltungen,  sodass  in  der  That  fiir  ernste  Ge- 
schafte  nioht  viel  Zeit  ubrig  blieb.  Diese  Lassigkeit  und  Un- 
selbstandigkeit  des  Herrschers  trug  auch  die  Schuld  daran,  dass 
die  hohen  und  niedrigen  Beamten  sich  wenig  um  ihre  Pflicht 
kiimmerten  und  die  trage  Amtsfiihrung  am  Wiener  Hofe  gradezu 
den  Spott  der  fremden  Gesandten  herausforderte.  Dazu  war 
der  Kaiser  ein  arger  Verschwender :  jede  grossere  Summe,  welche 
in  seinen  Besitz  gerieth,  war  gewiss  nach  24  Stunden  unter  seine 
Giinatlinge  und  geistlichen  Freunde  vertheilt.  Oft  mussten  Zwangs- 
anleihen  die  Kassen  fallen.  1620  bemachtigte  er  sich  sogar  in 
Wien  der  Waisengelder,  ohne  sie  je  zuriickzuzahlen,  wie  denn 
der  Venetianische  Gesandte  die  Behandlung  der  kaiserlichen 
Glaubiger  gradezu  skandalos  uennt.  In  das  Armeekommando 
griff  der  unkriegerische  Fiirst  niemals  ein,  Obersten  und  Generate 
geberdeten  sich  wie  unabhangige  Fursten  und  iibten  tausend- 
fache  Verstosse  gegen  die  Disciplin.  Die  selten  bezahlten  Soldner 
waren  fiir  ihren  Unterhalt  hauptsachlich  auf  Raub  und  Pliinde- 
rang  angewiesen. 

Nacb  dem  Tode  des  Kaisers  Matthias  suchte  Ferdinand 
als  Erbe  und  Nachfolger  desselben  die  Verhandlungen  fiir  einen 
Interpositionstag  zu  Eger  mit  den  bohmischen  Standen  zum 
Scheine  noch  fortzufuhren,  um  einige  Monate  Zeit  fiir  die  ge- 
planten  Riistungen  zu  gewinnen,  wahrend  .  die  pfalzische  Partei, 
und  vor  alien  der  Fiirst  von  Anhalt, '  ebenso  wie  Maximilian  von 
Baiern,  vom  entgegengesetzten  Standpunkte  aus,  anstatt  zu  ver- 
mitteln,  die  Dinge  zum  offenen  Bruch  zu  bringen  unternahmen. 
Wioderholte  Schreiben  aus  Wien  wurden  jedoch  von  den  Direc- 
toren  zu  Prag  selbst  zuriickgewiesen,  da  dieselben  entschlossen 
waren,  Ferdinand  unter  keiner  Bedingung  zur  Regierung  zuzu- 
lassen,  vielmehr  mit  fieberhafter  Thatigkeit  dahin  strebten,  auch 
die  iibrigen  Lander  der  Wenzelskrone  zum  Anschluss  an  ihre 
Sache  und  fur  den  Abfall  vom  Hause  Habsburg  zu  gewinnen. 
Den  Schlesiern  wurde  fiir  die   Zukunft  bei   der  Konigswahl 

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154  Gindely,  Gescliichte  des  dreissigjahrigeu  Krieges. 

neben  Bohmen  cine  entsclieidende  Stimme  eingeraumt,  ausser- 
dem  wurden  denselben  hinsichtlich  der  Besetzung  der  einzelnen 
Stellen  in  der  Canzlei  noch  einige  andere  Concessionen  gemach^ 
urn  welcher  Vorteile  willen  sie  Ferdinand  die  Anerkennung  so 
lange  versagten,  bis  er  thatsachlich  die  Regierung  erst  in  Bohmen 
und  Mahren  angetreten  habe.  Die  Oberlausitzer  schlossen 
sich  dem  bohmisch-schlesischen  Biindnisse  an. 

In  Mahren  bot  Karl  von  Zerotin,  obwohl  Protestant, 
seinen  ganzen  Einfluss  fur  die  Sache  Ferdinands  auf.  Um  den- 
selben zu  brechen,  fassten  die  Directoren  zu  Prag  den  kiihnen 
Beschluss,  diese  Provinz  mit  Gewalt  in  den  Aufstand  hineinzu- 
zielien.  Am  18.  April  1619  riickte  Thurn  mit  8—10  000  Mann, 
geworbenen  Soldnern  und  einem  Theile  des  Landesaufgebotes, 
aus  seiner  Stellung  vor  Budweis,  welches  er  mehr  beobachtete 
als  belagerte,  iiber  die  Grenze.  Seine  Aufhahme  war  iiberall 
eine  gleich  sympathische :  er  konnte  bald  nach  Prag  die  Ver- 
sicherung  geben,  mit  Ausnahme  weniger  Personen  seien  der  ge- 
sammte  Adel  und  alle  Stadte  bereit,  auf  seine  Seite  zu  treten. 
Selbst  der  Cardinal  Dietrichstein  und  der  Fiirst  von  Lichten- 
stein  versprachen  in  grosser  Angst,  das  Bundnis  mit  Bohmen 
befordern  zu  wollen,  nur  der  lutherische  Zerotin  beharrte  in 
seiner  Rolle.  Die  mahrischen  Truppen  —  zwei  Reiterregimenfcer 
und  eine  Abtheilung  Fussknechte  —  'waren  fast  durchweg  stan- 
disch  gesinnt,  die  Obristen  Nachod  und  Albrecht  von  Waldstein 
waren  allein  Anhanger  Ferdinands.  Der  erstere  wurde  jedoch 
unter  Beschimpfungen  von  seinen  eigenen  Leuten  vertrieben, 
wahrend  es  dem  spateren  Herzog  von  Friedland  gelang, 
nachdem  er  seinen  Oberstlieutenant  eigenhandig  vom  Pferde  ge- 
stochen,  wenigstens  4  Fahnleiu  seines  Regimentes  und  96  000  Thlr. 
standische  Gelder  fiir  Ferdinand  zu  retten.  Inzwischen  trat  der 
Landtag  in  Briinn  (4.  Mai)  zusammen,  Dietrichstein  und  Zerotin 
wurden  in  Haft  genommen,  dem  Fiirsten  von  Lichtenstein  aber 
freundlicher  begegnet,  da  er  mit  einem  Handschlag  versprach, 
fortan  mit  den  Standen  auf  Leben  und  Tod  verbunden  sein  zu 
wollen.  So  stiirzte  auch  in  Mahren  der  Rest  des  habsburgischen 
Ansehns  zusammen:  der  Landeshauptmann  wurde  abgesetzt,  die 
Jesuiten  fiir  alle  Zukunft  aus  dem  Lande  verbannt,  die  Regierong 
nach  bohmischem  Muster  30  Directoren  anvertraut  und  die 
Streitkrafte  den  Truppen  Thurns  angeschlossen. 

Man  war  nun  bohmischerseits  entschlossen,  die  mahrische 
Allianz  zu  einem  Angriff  auf  das  Erzherzogthum  Oesterreich  selbst 
zu  verwerthen,  mit  dessen  Standen  seit  Monaten  schon  Verbin- 
dungen  angekniipft  waren.  Als  den  Vertretern  von  Niederosterreich 
am  25.  Marz  1619  in  Ferdinands  Gegenwart  mitgetheilt  worde, 
dass  Erzherzog  Albrecht,  der  Erbe  des  verstorbenen  Matthias 
seinen  „vielgeUebten  Vetter"  mit  der  Regierung  betraut  habe, 
da  er  selbst  nicht  nach  Wien  kommen  konne,  so  erklarten  die 
protestantischen  Standemitglieder,  mit  den  Katholiken  so  lange 
nicht    gemeinsam    verhandeln    zu   wollen,   bis   ihren   Religions- 


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Gindelj,  Ge3chichte  des  dreis3igjiilirigen  Kriegea.  155 

beschwerden  vollstandig  abgeholfen  ware,  erkannten  die  von  Albrecht 
ausgestellte  Vollmacht  uicht  an  und  zerrissen  durch  ihre  Ent- 
fernung  den  Landtag.  Auch  die  Katholiken  vertagten  in  Folge 
dessen  ihre  Berathungen.  Der  oberosterreichische  Landtag  zu 
Linz  stand  vollstandig  unter  dem  Einfluss  der  Herren  von 
Tschemembi  nnd  Gotthard  von  Starbemberg :  er  erkliirte,  da  der 
wahre  Erbe,  Erzherzog  Albrecht,  ausser  Landes  sei,  so  seien  die 
Stande  allein  befugt,  bis  zu  seiner  Ankunft  die  Regierung  zu 
leiten.  Man  beniachtigte  sicb,  ohne  Riicksicbt  auf  Ferdinand  zu 
nehmen,  der  Verwaltung  des  Landes  und  der  Kanimerguter,  dock 
sonderten  sicb,  durch  diese  eigenmachtigen  Schritte  bewogen, 
die  Pralaton,  und  auch  bier  wurde  auf  diese  Weise  die  Trennung 
im  Landtage  zur  Thatsache.  Mehr  urn  mit  den  Niederosterreichern 
in  Verbindung  zu  treten,  als  wegen  der  Aussohnung  Ferdinands 
wurde  eine  Deputation  nach  Wien  abgeschickt,  welche  in  einer 
vertraulichen  Sitzung  den  niederosterreichischen  Protestanten  den 
Abschluss  eines  Biindnisses  mit  Bohnien,  Mahren  und  Ungarn 
empfahl  und  zu  schleunigen  Riistungen  aufforderte.  Wenige 
Augenblicke  darauf  fand  sich  dieselbe  Deputation  bei  Ferdinand 
ein,  um  den  Konig  fur  die  friedliche  Beilegung  des  bohmischen 
Streites  und  fur  die  Anerkennung  der  standischen  Regierung  zu 
gewinnen.  Wie  sehr  die  Abgeordneten  aber  auf  cine  abschliigige 
Antwort  gefasst  waren,  ergiebt  sich  daraus,  dass  die  Linzer, 
ohne  dieselbe  abzuwarten,  auf  der  betretenen  Bahn  entschlossen 
vorwarts  gingen.  Ihr  Kriegsoberster,  Gotthard  von  Starheinberg, 
ordnete  gegen  Ende  April  300  Mann  nach  Bohmen  ab,  welche 
das  Kloster  Hohenfurt  besetzten,  um  den  Zuzug  des  Kriegsvolkes, 
welches  Ferdinand  in  Deutschland  werben  liess,  zu  verhindern. 
Mit  Thurn  und  Hohenlohe  trat  er  in  die  vertrautesten  Be- 
ziehungen  und  bat  den  ersteren,  nach  Niederosterreich  vorzu- 
riicken,  wo  man  seiner  wie  „eines  Messias  harre".  Tschernembl, 
von  Ferdinand  zu  einer  Besprechung  nach  Wien  eingeladen, 
lehnte  eine  Audienz  ab,  richtete  aber  dafiir  zwei  umfangreiche 
Mahnbriefe  an  den  Konig,  wTelche  denselben  belehrten,  dass  die 
Stande  nur  ihrem  Erbherrn  Albrecht  verpflichtet  seien,  zumal 
68  sehr  bezweifelt  werde,  dass  die  Vollmacht  desselben  nach  dem 
Tode  des  Kaisers  Matthias  noch  Giiltigkeit  habe,  und  ausserdem 
niemand  wisse,  ob  derselbe  seit  jener  Zeit  nicht  anderes  Sinnes 
geworden  sei.  Diese  Schritte  erhohten  auch  jetzt  den  Muth  der 
Niederosterreicher,  sie  lehnten  die  ihnen  zugemuthete  Huldigung 
ab,  schickten  Gesandte  nach  Briinn  und  Pressburg  und  traten 
mit  Thurn  in  Verhandlung,  der  bis  Laa  vorgenickt  war  und  die 
katholische  Besatzung  in  dieser  Stadt  belagerte.  Das  konigliche 
Heer  war  im  Winter  so  zusammengeschmolzen,  dass  Buquoy  im 
Marz  1619  kaum  uber  5000  Mann  gebot.  Die  zu  erneuten 
Riistungen  nothwendigen  Geldsummen  waren  allein  vom  Konige 
Philipp  in.  von  Spanien  zu  erlangen,  von  dessen  Gnade  die 
Wiener  Regierung  vollstandig  abhieng.  Durch  das  Zusaninien- 
wirken  de3  kaiserlichen  Gesandten  in  Madrid,  des  Grafen  Kheven- 

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156  Gindely,  Geschichte  des  dreissigjahrigen  Krieges. 

hiller,  und  des  spanischen  in  Wien,  Onate,  war  schon  Matthias 
trotz  der  Ebbe  im  spanischen  Staatsschatze  mit  bedeutenden 
Summen  unterstutzt,  jetzt  entschloss  sich  der  Konig  noch  ein- 
mal  mit  Aufbietung  aller  seiner  Mittel  dem  deutschen  Vetter 
beizustehen,  der  nach  seiner  eigenen  Ueberzeugung  verloren  war, 
wenn  ihm  nicht  rasch  und  ausreichend  geholfen  werde.  Deimocli 
hatten  bis  zum  Juni  1619  die  Streitkrafte  Ferdinands  durch  den 
Zuzug  aus  Italien,  Flandern,  Lothringen  und  dem  Elsass  kaom 
eine  Verstarkung  von  16  000  Mann  erfahren,  denen  die  Bohmen 
ohne  ihr  Landesaufgebot,  welches  auf  19  000  Mann  veranschlagt 
wurde,  allein  15  000  geworbene  Fussknechte  und  3700  Reiter 
entgegenstellen  konnten.  Als  Thurn  vor  Laa  erschien  (Mai 
1619),  verfiigte  Ferdinand  noch  nicht  iiber  die  zum  Widerstande 
nothwendigen  Mittel  und  musste  uni  jeden  Preis  Zeit  gewinneii, 
seinen  Hilfstruppen  Gelegenheit  zum  Anmarsch  zu  verschaffen. 
Hielt  doch  Onate  selbst  alles  fur  verloren!  Nach  langeren  ab- 
sichtlich  verschleppten  Verhandlungen  wurde  Laa  deshalb  end- 
lich  ohne  Kampf  von  Ferdinands  Truppen  geriiumt  und  die 
bohmische  Armee  riickte  nun,  etwa  10000  Mann  stark,  gegen 
Wien,  zu  dessen  Vertheidigung  abgesehen  von  der  Burgerschaft 
etwa  2000  Mann  zur  Verfiigung  standen.  Bei  Fischamend  wurde 
die  Donau  iiberschritten  und  in  der  Nacht  vom  5.  zum  6.  Juni  ein 
Theil  der  Vorstadte  besetzt.  In  Folge  der  Aussicht  auf  eine 
Belagerung  der  Hauptstadt  gestaltete  sich  die  Lage  selbst  far 
Ferdinands  personliche  Sicherheit  zu  einer  ausserst  gefahrlichen 
Die  wprotestantischen  Standemitglieder  sonderten  sich  von  den 
Katholiken,  brachen  mit  ihnen  alle  Verhandlungen  ab  und  ver- 
fiigten  sich  gegen  die  10.  Vormittagsstunde  (5.  Juni  1619)  auf 
die  Burg,  urn  vor  Ferdinand  ihr  Biindnis  mit  Bohmen  zu  recht- 
fertigen  und  ihm  zu  rathen,  den  ferneren  Krieg  aufzugeben. 
Neben  dem  Fiihrer  der  Deputation,  Paul  Jacob  von  Starhemberg, 
ergriffen  noch  andere  Edelleute  in  sehr  heftiger  Weise  das  Wort, 
namentlich  Andreas  Thonradl,  so  dass  der  unterwurfige  Ton,  der 
zwischen  Souveranen  und  Unterthanen  zu  herrschen  pflegt,  bald 
einer  herausfordernden  Sprache  Platz  machte.  Dass  jemand  den 
Konig  an  den  Knopfen  seines  Wamses  erfasst  habe,  ist  eine 
Sage.  Den  leidenschaftlichen  Ausbruchen  der  Protestanten  be- 
gegnete  Ferdinand  mit  Ruhe,  massvollem  Tadel  und  Hess  sich 
sogar  zu  Bitten  herab,  urn  sie  von  dem  betretenen  Wege  abzulenken. 
Die  peinliche  Scene  dauerte  eine  Stunde,  als  zufallig  vier  Cornets 
eines  Kiirassierregimentes,  das  in  der  Formation  begriffen  war  und 
6ich  von  Krems  aus  vor  den  Bohmen  nach  Wien  zuruckzog,  unter 
dem  Befehl  des  Arsenalhauptmanns  Gilbert  von  Saint-Hilaire,  eines 
Franzosen,  in  den  Burghof  sprengten.  Die  Standemitglieder 
furchteten  einen  Gewaltstreich  und  empfahlen  sich  nach  einigen 
Hoflichkeitsphrasen  in  ziemlicher  Verlegenheit.  Das  ist  da» 
Thatsachliche  an  dieser  durch  die  Sage  so  aufgebauschten  Scene, 
welche  noch  Hurter,  unter  Einmischung  vieler  Irrtiimer  in  der 
Datirung  und  den  Namen,  fur  seine  Zwecke   poetisch   ausgemalt 


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Gindely,  Geschickte  des  droissigj&hrigen  Krieges.  157 

hat.  Am  Nachmittage  desselben  Tages  batten  iibrigens  auf 
Ferdinands  eigenen  Wunsch  dieselben  Standemitglieder  noch  erne 
zweite  Audienz,  damit  sie  den  Grafen  Thurn  zum  Ruckzuge  aus 
Oesterreich  iiberredeten.  Der  konigliche  Yorschlag  wurde  jedoch 
einstimmig  abgelehnt.  Thurn  hatte  gehofft,  die  Stande  wiirdeii 
ihm  ein  Thor  von  Wien  offnen  und  er  auf  diese  Weise  ohne 
erheblichen  Kampf  eindringen  konnen.  Die  am  5.  Juni  einriicken- 
den  Verstarkungen  schiichterten  jedoch  die  Protestanten  in  dem 
Grade  ein,  dass  sie  ein  solches  Unternehmen  nicht  wagten  und  spater 
war  Ferdinand,  zumal  nach  Bewaffnung  der  katholischen  Burger 
und  der  Studentenschaft,  hinreichend  zur  Vertheidigung  seiner 
Residenz  geriistet.  Die  Bohmen  fiihrten  dazu  nicht  einmal  Be- 
lagerungsgeschiitze  mit  sich  und  verfiigten  kaum  iiber  mehr  als 
eine  oder  zwei  Karthaunen.  Da  der  Konig  Zeit  gewinnen 
mu88te,  urn  das  Herannahen  Buquoy's  abzijwtrten,  so  verhandel- 
ten  die  niederosterreichischen  Stande  mit  seiner  Erlaubnis  offen 
mit  dem  tschechischen  Feldherrn  iiber  den  Ausgleich  und  eine 
nahere  Verbindung.  Bei  wiederholten  Besuchen  im  feindlichen 
Lager  wurden  sie  auf  das  herzlichste  empfangen.  Auch  eine 
ungarische  Gesandtschaft,  bei  welcher  Graf  Stanislaus  Thurzo 
eine  hervorragende  Rolle  spielte,  erschien  vor  Wien  und  beeilte 
rich  zu  vermitteln  und  mit  Thurn  in  personliche  Beziehungen  zu 
treten.  Man  fasste  den  Abschluss  eines  Bundnisses  ins  Auge, 
welches  alle  Stande  des  habsburgischen  Besitzes  umschliessen 
sollte.  Unterdessen  kamen  aber  aus  Bohmen  so  klagliche  Nach- 
richten,  dass  die  Belagerung  Wiens  am  14.  Juni  aufgehoben  und 
der  Riickzug  angetreten  werden  musste.  Die  Gelegeuheit  zur 
ganzlichen  Niederwerfung  Ferdinands  war  versaumt  und  der 
bohmischen  Bewegung  dadurch  der  schwerste  Schlag  versetzt 
worden. 

In  Bohmen  hatte  unterdessen  Buquoy  so  bedeutende  Ver- 
starkungen an  sich  gezogen,  dass  er  den  Grafen  Hohenlohe, 
welcher  in  Thurns  Abwesenheit  den  Oberbefehl  fiihrte,  hart  be- 
drangte  und  derselbe  sich  genothigt  sah,  an  Mansfeld  den  Befehl 
ergehen  zu  lassen,  er  moge  mit  seinen  sammtlichen  Truppen  aus 
dem  Pilsener  Kreise  abriicken  und  sich  der  Hauptarmee  an- 
schliessen.  Eho  der  letztere  jedoch  seine  Vereinigung  bewirken 
konnte,  wurde  er  bei  Ziiblat  oder  Netolitz  (10.  Juni  1619)  von 
dem  koniglichen  Feldherrn  mit  doppelter  Macht  angegriffen  und 
sein  kleines  Corps  von  3000  Mann  zersprengt.  Gindely  schopft 
die  Erzahlung  des  Gefechtes  aus  den  Berichten  des  Bohmen 
Skala  und  des  sachsischen  Agenten  Lebzelter,  sowio  aus  dem 
Schreiben,  das  nach  den  offiziellen  Nachrichten  Buquoy's  von 
Onate  fur  den  Hof  zu  Madrid  zusammengestellt  wurde;  eine 
Reihe  gedruckter  Berichte,  welche  von  Augenzeugen  ausgiengen, 
vor  alien  Dingen  Mansfelds  eigene  Schilderung  in  seiner  rApo- 
logie",  sind  ihm  leider  entgangen.  Zumal  die  %  letztere  wirft  ein 
wesentlich  giinstigeres  Licht  auf  Mansfelds  Verfahren,  welcher 
sich  in  militarischer   Hinsicht   durchaus  korrokt   zeigte,  jedoch 

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158  Gindely,  Geschichtc  des  droissigjahrigen  Kricges. 

von  der  Hauptarmee  aus  Eifersucht  im  Stich  gelassen  wurde. 
Diese  Niedorlage  fiigte  der  bohmischen  Bewegung  schwere  Nach- 
theile  zu.  Hohenlohe  musste  das  sudwestliche  Bohmen  preis- 
geben  nnd  sich  in  der  Richtung  auf  Prag  zuruckziehen.  Frauen- 
berg,  Rosenberg  und  eine  Zahl  kleiner  Ortschaften  wurden 
vom  Feinde  besetzt  und  ausgepliindert,  wobei  besonders  die 
Ungaro  so  viehische  Gewaltthaten  veriibten,  dass  Buquoy  selbst 
dariiber  auf  das  hochste  emport  war,  ohne  bei  dem  Mangel 
jeder  Disciplin  dergleichen  Grausamkeiten  hindern  zu  konnen. 

Die  Zustande  im  bohmischen  Heere  waren  jotzt  wahrhaft 
trostlos.  Vom  Januar  bis  zum  September  1619  vermochten  die 
Directoren  den  Soldaten  nur  ungefahr  drei  und  einen  halben 
Monatssold  zu  zahlen.  Nach  der  Versicherung  eines  schlesischen 
Mustercommissars,  also  eines  offiziellen  Augenzeugen>  liefen  die 
Soldaten  zum  Theft  v>ganz  nackt  herum,  so  sehr  waren  sie  in 
ihrer  Kleidung  herabgekommen.  Da  es  in  den  ausgesogenen 
Gegenden  nichts  zu  rauben  gab,  so  versetzten  sie  ihre  Waffen 
gegen  Lebensmittel  bei  den  Marketendern.  Man  konnte  Reiter- 
compagnien  sehen,  welche  weder  Pistolen,  noch  Sporen  oder 
Stiefel  hatten,  alle  diese  Requisiten  waren  sorgfaltig  in  den 
Pfandleihanstalten  aufgeschichtet.  Solche  Mannschaften  konnten 
nicht  einmal  die  Wachen  beziehen,  geschweige  denn  dem  Feinde 
entgegentreten.  In  dieser  aussersten  Not  liess  die  Regierungzu 
Prag  vom  Landtage  die  Confiscation  des  ganzen  lmmobiliar- 
besitzes  der  katholischen  Kircho  beschliessen,  ohne  bei  dem 
Mangel  an  sicheren  Kaufern  die  Beute  rasch  zu  Gelde  machen 
zu  konnen,  pliinderte  die  Kloster  ohne  Scheu  aus,  trieb  e^ 
zwungene  Anlehen  gewaltsam  ein  und  belegte  selbst  Erbschafts- 
capitalien  gegen  die  Zusage  kiinftiger  Erstattung  mit  Beschlag. 
Dennoch  konnte  der  Sold  nicht  piinktlich  gezahlt  werden,  und 
es  machte  sich  bei  den  Truppen  mehr  und  mehr  ein  meute- 
rischer  Geist  geltend,  sodass  die  Directoren  vor  den  DrohuDgen 
ihrer  eigenen  Soldnern  zitterten.  Dass  Buquoy  diese  Lage  nicht 
zu  einem  entscheidenden  Siege  ausbeutete,  zeugt  von  grosser 
militarischer  Dnfahigkeit.  Aber  anstatt  die  Landeshauptstadt 
zu  bedrohen,  zog  sich  der  konigliche  Feldherr,  nachdem  Thuro 
wieder  zu  Hohenlohe  gestossen  war,  auf  Budweis  zurtick  und 
beschrankte  sich  darauf,  alio  jene  kleinen  Platze  zu  erobern, 
die  noch  im  feindlichen  Besitze  waren  und  seine  Verbindung  mit 
dem  Erzherzogthume  etwa  unterbrechon  konnten,  Dabei  zahlte 
die  bohmische  Armee  hochstens  30  000  Mann  und  auch  dies  mir, 
wenn  das  Landesaufgebot  vollstandig  unter  den  Fahnen  stand. 
Um  der  Verwirrung  im  Heerwesen  durch  ein  einheitliches  Com- 
mando ein  Ende  zu  machen,  denn  Thurn,  Hohenlohe,  der  Mark- 
graf  von  Jagerndorf  und  Mansfeld  hatten  stets  auf  eigene  Faust 
gehandelt,  erwahlte  man  in  dieser  kritischen  Lage  den  Ffirstea 
von  Anhalt  (5.  ,Nov.)  zum  Oberfeldherrn  mit  dem  enonnen 
Monatsgehalt  von  10000  Gulden.  Doch  auch  diese  Massregel 
sollte   der  um   sich   greifenden   Desorganisation  keinen  Einhalt 

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Gindcly,  Geschichto  des  dreissigj&hrigen  Krieges.  J  59 


thun,  weil  das  Landesaufgebot  T>ei  dem  Stillstand  der  Operationen 
seine  Entlassung  verlangte  und  nichts  iibrig  blieb  als  einen  Theil 
zu  beurlauben  und  sich  mit  dem  Versprechen  zu  begniigen,  dass 
sie  sioh  im  Notfall  wieder  bei  den  Fahnen  einfinden  wiirden. 
Der  reichere  Adel  entzog  sich  in  Menge  unter  dem  Vorwande 
von  Krankheiten  der  Dienstpflicht.  Die  Offiziere  der  im  Lager 
befindlichen  Landwehr,  welche  die  Besoldung  und  Verpflegung 
ihrer  Mannschaften  zu  besorgen  batten,  fingen  ebenfalls  an  aus- 
zureissen,  sodass  die  Soldaten  fast  ohne  Fiihrung  waren.  Bei  den 
unregelmassigen  Zahlungen  giengen  die  Soldtruppen  der  ganz- 
lichen  Auflosung  mehr  und  mebr  entgegen,  und  dazu  brachen 
in  Folge  des  Elendes  Anfangs  August  typhose  Krankheiten  aus, 
denen  taglich  gegen  50  Soldaten  erlagen.  Schliesslich  schickte 
die  Reiterei  aus  dem  Lager  eine  Deputation  nach  Prag,  welche 
neben  anderen  Forderungen  binnen  10  Tagen  die  Auszahlung  eines 
viermonatlichen  Soldes  verlangte,  sonst  wiirden  die  Truppen  das 
Lager  verlassen,  einige  Stadte  besetzen  und  sich  selbst  bezahlt 
machen.  Der  Gesammtbetrag  der  Soldreste  war  auf  1800000 
Gulden  angewachsenl  Die  Directoren  bekamen  im  Landtage 
harte  Dingo  zu  horen.  Die  liederlichste  Geldwirthschaft,  Unter- 
8chleifo  und  Betrugereien  aller  Art  kamen  an  den  Tag,  die 
Rschnungen  iiber  die  Kriegsauslagen  waren  in  unentwirrbarer 
Confusion,  man  klagte  auch  die  Generale  an,  dass  sie  in  schmah- 
licher  Weise  ihre  Pflicht  versaumten  und  sich  die  Zeit  mit 
Saufgelagen  vertrieben.  Schliesslich  gaben  sich  die  Reiter  zu- 
frieden,  dass  ihnen  binnen  vier  Wochen  ein  viermonatlicher  Sold 
gezahlt  werden  sollte. 

Obwohl  also  das  bohmische  Heerwesen  mit  der  „liederlichen 
Missgeburt  der  dreissigkopfigen  Regierung "  zu  Prag  im  voll- 
kommenen  Einklange  stand,  so  wagte  Buquoy  dennoch  nicht  die 
feindliche  Armee  anzugreifen,  da  er  auf  Befehl  Ferdinands  Dam- 
pierre  mit  iiber  8000  Mann  und  3  Gesphutzen  nach  Mahren 
detachirt  hatte,  wo  derselbe  unter  fiirchterlichen  Grausamkeiten, 
Jammer  und  Elend  verbreitend,  iiber  Nikolsburg  bis  zur  Thaya 
vordrang.  Bei  Wisternitz  stiess  derselbe  auf  das  mahrische  Volk 
unter  Friedrich  von  Tiefenbach,  das  kaum  4000  Mann  zahlte 
und  trotzdem  nach  sechsstiindigem ,  hartnackigem  Kampfe  das 
Peld  behauptete.  Dieser  ehrenvolle  Erfolg  der  Mahrer,  sowie 
eine  im  eigenen  Heere  ausgebrochene  Meuterei  der  ungarischen 
Reiter,  von  denen  2000  mit  reicher  Beute  beladen  in  die  Hei- 
n»at  zuriickkehrten  und  der  Rest  von  500,  die  diesem  Beispiele 
folgen  wollten,  zusammengehauen  wurde,  bestimmte  Buquoy, 
nicht  auf  Prag  zu  marschiren,  sondern  den  Siidwesten  Bohmens 
auch  ferner  zu  verwiisten,  sich  womoglich  Pilsens  zu  bemachtigen, 
Eger  zu  okkupiren  und  daselbst  seine  Winterquartiere  aufeu- 
schlagen.  Er  schnitt  damit  die  Verbindung  mit  der  Union  ab» 
^d  der  bohmische  Aufstand  musste  an  eigener  Erschopfung  zu 
Grande  gehen.  Unterdessen  inspizirte  der  neue  Oberbefehlshaber 
der  Bohmen,  Christian  von  Anhalt,  seine  Armee  in  ihrem  Lager 

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160  Gindely,  Goschichto  des  dreissigjiihrigen  Krieges. 

bei  Mirowitz  mid  alle  Welt  erwartete  nach  dreimonatlicher  Un- 
thatigkeit  endlich  eine  Entscheidung.  Er  tauschte  diese  Hoff- 
nung  und  verliess  schon  nach  wenigen  Tagen  den  Kriegsschau- 
platz  und  reiste  nach  Heidelberg,  urn  den  Pfalzgrafen  zu  be- 
stimmen,  die  angebotene  Krone  des  h.  Wenzel  nicht  auszu- 
schlagen.  Damit  war  der  letzte  moralische  Halt,  an  dem  sich 
das  tschechische  Kriegsvolk  noch  aufgerichtet  hatte,  geschwunden: 
es  ware  alles  verloren  gewesen,  wenn  nicht  auf  der  koniglichen 
Seite  ein  Buquoy  commandirt  und  der  Fiirst  von  Siebenbiirgen 
in  diesem  Augenblicke  fur  Bohmen  eingegriffen  hatte. 

Der  Sieg  bei  Z&blat  befreite  nicht  nur  Wien  von  den  Ge- 
fahren,  welche  es  bedrohten,  er  gab  auch  Ferdinand  die  Mog- 
lichkeit,  sich  nach  Frankfurt  zur  Kaiserwahl  zu  begeben.  Nach- 
dem  der  Erzherzog  Leopold  fur  die  Zeit  der  Abwesenheit  zua 
Stellvertretfcr  mit  unbeschrankter  Gewalt  ernannt  war,  wurde 
die  Reise  am  11.  Juli  1619  mit  einem,  in  den  Augen  der  Zeit- 
genossen  hochst  bescheidenem  Gefolge  von  ungefahr  100  hoch- 
gestellten  Personen  und  ihrer  Dienerschaft  unter  Bedeckung 
eines  Reiterkornets  angetreten.  In  Salzburg  erwartete  ein 
Gesandter  Jacobs  von  England,  Lord  Doncaster,  die  Ankunft  des 
Konigs,  um  zu  Gunsten  desselben  in  dem  bohmischen  Streite  zd 
vermitteln.  Die  englische  Instruction  zeigte  klar,  class  Jacob 
durch  die  Schmeicheleien  des  spanischen  Hofes  gewonnen  sei, 
und  ihm  die  Wiinsche  der  Bohmen  weit  weniger  am  Herzen 
lagen,  als  die  Wahrung  der  Interessen  des  Kaiserhauses,  Don- 
caster  sollte  vor  allem  dafur  Sorge  tragen,  dass  die  Kaiserwahl 
bald  vor  sich  gehe  und  auf  Ferdinand  falle,  und  dann  den  Ans- 
gleich  zwischen  dem  Kaiser  und  den  Bohmen  zu  Stande  bringen 
In  Brussel  war  er  von  dem  Erzherzog  Albrecht  zuvorkommffld 
empfangen  und  aufs  warmste  nach  Wien  empfohlen  worden.  In 
Heidelberg  traf  er  grade  zu  >  der  Zeit  ein,  als  die  Union  za 
Heilbronn  tagte,  er  wartete  deshalb  die  Riickkunft  des  Pfe^ 
grafen  in  seiner  Residenz  ab  und  war  dort  der  Gegenstand  ?iel- 
facher  Aufinerksamkeiten.  Bei  den  vertraulichen  Besprechungen 
mit  Friedrich  und  seinen  Rathen  machten  sich  bei  dem  Ge- 
sandten  im  offenbaren  Widerspruche  mit  den  Auftragen  Jacobs 
machtige  Sympathien  fur  die  protestantische  Sache  geltend.  & 
erregte  Hoffnungen,  welche  zu  erfiillen  niemals  in  der  Absicht 
seines  Herrn  lag,  trotzdem  bei  den  Pfalzern  unverhohlen  das 
Missbehagen  an  den  friedlichen  Auftragen  des  Englanders  her- 
vortrat.  Man  riet  ihm  gradezu  die  Nichtbeachtung  seiner  In- 
struction an,  er  sollte  sich  der  Erhebung  Ferdinands  auf  den 
deutschen  Thron  widersetzen  und  das  bohmische  Interesse 
scharfer  wahren,  als  es  sein  Konig  wiinschte.  Von  Heidelberg 
begab  sich  Doncaster  nach  Miinchen,  wo  Herzog  Maximilian  eine 
8ehr  zuwartende  Stellung  behauptete,  Jacobs  eitle  Einbildung 
mit  einigen  starken  Brocken  fiitterte  und  sich  sogar  heuchlerisdi 
fur  einen  Gegner  der  Jesuiten  erklarte,  der  den  Orden  but 
dulde,  aber   nicht  begiinstige.     Der   Gesandte   schrieb  ruhmend 


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Gindely,  Geschichte  des  dreiasigjlihrigea  Krieges.  161 

i 
each  Hanse,  „kein  Engender  konne  Se.  Maj.  mehr  ehren,  als 
dies  der  Herzog  thue".  Die  bairische  Versicherung,  dass  man 
dem  Friedenswerke  das  beste  Gedeihen  wiinsche,  war  iibrigens 
bei  der  allgemeinen  Verbreitiing  der  bohmischen  Bewegung  iiber 
die  gesammte  osterreichische  Monarchie  wohl  ehrlich  gemeint. 
Anderes  musste  der  Lord  in  Salzburg  horen.  Ferdinand,  der  in 
den  argsten  Gefahren  nie  an  eine  Befriedigung  der  Bohmen  ge- 
dacht  hatte,  war  nach  den  neuesten  Erfolgen  so  voller  Sieges- 
hofihung,  dass  er  eine  zwar  hofliche,  aber  unumwundene  Ab- 
lehnnng  der  engliscben  Vermittlungsv^rsuche  ertheilte  und  sich 
auf  vieles  Drangen  kaum  zu  der  Erklarung  fortreissen  liess,  in 
Frankfurt  die  Angelegenheit  in  fernere  Berathung  zieben  zu 
wollen.  In  Miinchen  traf  Ferdinajid  am  19.  Juli  ein  und  setzte 
na,ch  einer  vertraulichen  Besprecbung  mit  Maximilian  von  Baiern, 
welcher  die  trostlicbsten  Versicherungen  ertbeilte,  die  Reise  nacb 
Frankfurt  fort,  das  am  28.  Juli  erreicht  wurde. 

Selten  ist  wohl  eine  Kaiserwahl  unter  so  heftigen  Erregungen 
vor  sich  gegangen  als  die  im  Jabre  1619.  Die  pfalzischen 
Diplomaten  boten  alles  auf,  um  den  Akt  bis  zur  Beilegung  der 
bohmischen  Streitigkeiten  hinauszuschieben  oder  die  Stimmen  auf 
einen  andern  Fiirsten  als  Ferdinand  zu  lenken.  Der  Erzbischof 
Schweikhard  von  Mainz  liess  sich  jedoch  nicht  irre  machen,  be- 
rief  die  Kurfiirsten  auf  den  20.  Juli  nach  Frankfurt  und  liess 
durch  den  papstlichen  Nuntius  in  Eoln  an  den  Eonig  von 
Spanien  die  Bitte  richten,  im  Notfalle  den  Marques  von  Spinola 
mit  den  flandrischen  Truppen  gegen  die  Eronungsstadt  mar- 
schiren  zu  lassen.  Die  Erfolge  der  pfalzischen  Gesandten  in 
Dresden  und  Miinohen  waren  klaglich,  Brandenburg  hingegen 
war  zwar  ihren  Wiinschen  nicht  abgeneigt,  that  aber  gar  nichts  zu 
deren  Forderung.  Bei  diesem  Stande  der  diplomatischen  Ver- 
handlungen  war,  als  letzte  Hoffnung  des  Heidelberger  Kabinets, 
der  Unionstag  in  Heilbronn  zusammengetreten.  Hier  wurde  be- 
schlossen,  den  Bohmen  heimlich  den  Rath  zu  geben,  gegen  die 
Wahlstimme  Ferdinands  zu  protestiren;  man  erwog  sogar  den 
Gedanken,  durch  eine  Besetzung  Frankfurts  im  Einverstandnis 
mit  der  Burgerschaft  die  Wahl  gewaltsam  zu  verhindern,  doch 
widerriet  Furcht  und  Geldmangel  ein  solches  Unternehmen.  So 
blieb  nichts  iibrig,  als  den  Wahltag  zu  beschicken.  Die  geist- 
lichen  Kurfiirsten  fanden  sich  in  Person  ein,  Sachsen  schickte 
als  Principalgesandten  den  Grafen  Mansfeld,  Brandenburg  den 
Herrn  von  Putlitz,  Pfalz  den  Grafen  Albrecht  von  Solms  abf 
Von  Bohmen  waren  Abgeordnete  in  der  Nahe  von  Frankfurt  ein- 
getrofifen,  um  die  Rechte  der  bomischen  Eur  auszuiiben.  Pfalz, 
Sftchsen  und  Brandenburg  empfahlen,  ihr  Anliegen  zu  horen  und 
«i  Perathung  zu  Ziehen.  Hatte  Mainz  diesen  Vorschlag  zur  Ab- 
$timmung  gebracht,  so  wiirde  sich  bei  der  Abwesenheit  Ferdinands 
vielleicht  erne  Mehrheit  ergeben  haben,  mindestens  standen  die 
drei  geistlichen  gegen  die  drei  weltlichen  Stimmen.  Deshaib 
vertagte  Schweikhard  die   Sitzung  bis  zur  Ankunft  Ferdinands, 

MittheUungen  a.  d.  htetor.  Litterator.   VH.  11 

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162  Gindely,  Geschichte  des  dreissigjShrigen  Krieges. 

der  als  sehr  unwillkommener  Gast  von  den  Frankfartern  mit 
offenbar  feindseliger  Stimmung  am  28.  Juli  Abends  empfangen 
wurde.  Am  Tage  des  Einzuges  kam  es  zwischen  den  Biirgem 
and  den  katholischen  Soldnern  zu  einem  Conflict,  bei  dem  ein 
kolnischer  Reiter  djsn  Tod  fand  und  ein  Burger  verwundet  wurde. 
Auch  nach  der  Ankunft  des  Konigs  anderte  sich  das  Stimmen- 
verhaltnis  im  Kurcollegium  nicht,  denn  der  katholische  Ffirst 
verwarf  absolut  jede  Friedensverhandlung,  bei  welcher  er  nicht 
als  Konig  von  Bohmen  und  die  Stande  als  seine  Unterthanen 
behandelt  wurden,  wahrend  die  bohmische  Deputation  die  Ab- 
setzung  Ferdinands  als  selbstverstandliche  Thatsache  ansah  und 
ihr  Kurrecht  ausiiben  wollte.  Endlich  gewahrten  die  geistlichen 
Herren  den  Gesandten  der  weltlichen  Fiirsten  acht  bis  zehn 
Tage  Frist  zur  Einholung  neuer  Instructionen ,  urn  aus  diesem 
Dilemma  zu  kommen. 

In  der  Zwischenzeit  war  der  Kurfurst  Johann  Georg  von 
Sachsen  offen  zur  Partei  Ferdinands  iibergetreten  und  hatte  sicb 
fur  die  unmittelbare  Vornahme  der  Wahl  entschieden,  wie  denn 
seine  ganze  bisherige  Opposition  nur  Spiegelfechterei  gewesen 
war.  In  den  beiden  Audienzen,  welche  er  dem  pfalzischen  Ge- 
sandten Christoph  von  Dohna  zu  Dresden  ertheilte ,  war  cr  irie 
gewohnlich  betrunken  und  konnte  nur  Scbeltworte  lallen.  Kur- 
brandenburg  wollte  nun  auch  nicht  zwecklos  die  Feindschaft  des 
nouen  Kaisers  auf  sich  laden  und  so  erhielt  Putlitz  Befehl,  sich 
der  Majoritat  anzuschliessen.  Der  in  den  Wahlverhandlungen 
eingetretene  Stillstand  wurde  von  Ferdinand  kliiglich  dazu  be- 
nutzt,  sich  die  englische  Vermittlung  endgiltig  vom  Halse  zu 
schaffen.  Nach  dem  Doncaster  vom  Grafen  Trautmannsdorf  raid 
Onate  bis  Mitte  August  mit  leeren  Verhandlungen  genarrt  war, 
entschloss  er  sich  —  wegen  Kranklichkeit  nach  Spaa  ins  Bad 
zu  reisen,  so  vollkommen  war  er  von  der  Erfolglosigkeit  seiner 
Sendung  iiberzeugt. 

Die  Verhandlungen  des  kurfiirstlichen  Collegiums  nahmen 
nun  einen  raschen  Fortgang.  Zuerst  wurde  beschlossen,  dass 
die  bohmischen  Gresandten  in  Frankfurt  nicht  zugelassen  werden 
sollten.  Sachsen  und  Brandenburg  gaben  ihre  Opposition  auf, 
und  die  pfalzischen  Gesandten  richteten  mit  ihrer  Meinung  nichts 
aus.  Mit  den  Bohmen  wollte  das  Kurfurstenkollegium  allein 
vermitteln,  der  Versuch  einer  Gegencandidatur  des  Baiernherzogs, 
welche  von  dessen  Vetter  Friedrich  V.  ausging,  scheiterte  an 
der  Klugheit  des  Wittelsbachers,  und  so  wurde  am  28.  August 
Ferdinand  unter  dem  ublichen  Ceremoniel  einstimmig  zum  Kaiser 
erwahlt.  Der  pfalzische  Gesandte  votirte  allein  fur  den  Herzog 
von  Baiern,  schloss  sich  aber  dann  ohne  Widerspruch  den 
iibrigen  Kurstimmen  an.  Der  Wahlkapitulation  hatte  man  das- 
jenige  Schriftstiick  zu  Grunde  gelegt,  welches  Matthias  be- 
schworen  hatte.  Die  Niederlage  der  pfalzischen  Diplomatic  war 
eine  vollstandige  zu  nennen:  nachdem  gewissermassen  Himmel 
und  Erde  in  Bewegung  gesetzt  war,  urn  Ferdinand  vom  Kaiser- 


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W'*r- 


•Gindely,  Geschichte  des  dreissigj&brigen  Krieges.  163 

thron  auszuschliessen,  besagte  nunmehr  das  Wahlprotokoll,  dass 
derselbe  einstimmig  gewahlt  sei.  Yon  der  pfalzischerseits 
ebenfalls  in  Aussicht  genommenen  Candidatur  des  Herzogs  von 
Savoyen  war  kaum  die  Rede  gewesen.  Zu  derselben  Zeit  gaben 
sich  die  Lander  der  Wenzelskrone  eine  neue  Verfassung.  Auf 
einem  Generallandtage  zu  Prag  wurde  der  Staat  fur  ein  Wahl- 
reich  erklart  und  Bohnien  selbst  zwei,  Mahren,  Schlesien,  Ober- 
und  Niederlausitz  je  eine  Stimme  bei  der  Konigswahl  zugesprochen. 
Die  Protestanten  verwarfen  die  alte  Bezeichnung  des  Majestats- 
briefes  „Utraquistenu  und  bezeichneten  sich  als  Anhanger  des 
„evangelischen  Bekenntnisses".  Von  der  freien  Religionsiibung 
abgesehen,  wurden  die  Katholiken  ihrer  Vorrechte  beraubt  und 
nach  jeder  Beziehung  eingeschrankt.  Die  neue  „Confoderations- 
acteu  gab  ferner  die  bevorzugte  Stellung  Bohmens  vollkommen 
auf  und  machte  die  Stande  der  einzelnen  Provinzen  fast  selb- 
standig,  sodass  an  die  Stelle  des  bohmischen  Staates  jetzt  fiinf 
von  einander  unabhangige,  nur  durch  die  Personalunion  ver- 
bundene  Staatswesen  getreten  waren.  Eine  im  ubrigen  macht- 
lose  Kanzlei  sollte  den  Verkebr  zwischen  dem  ganz  abhangigen 
Monarchen  und  seinen  Landern  vermitteln.  Die  Einfuhrung  dieser 
Verfassung  ware  der  vollkommenste  Sieg  des  standischen  Princips 
iiber  das  Konigtum  gewesen!  Am  31.  Juli  1619  wurde  sie  in 
feierlicher  Sitzung  in  bohmischer  und  deutscher  Spracbe  von 
alien  Betheiligten  beschworen.  Der  Gedanke,  nunmebr  Ferdinand 
abzusetzen  und  zu  einer  neuen  Wabl  zu  schreiten,  fand  jedoch 
bei  den  Mahrern  anfangs  noch  Widersprucb;  erst  der  oben- 
erwahnte  Einfall  Dampierre's  reizte  sie  zu  grosserem  Widerstande. 
Um  nach  dem  Treffen  bei  Wisternitz  ihre  Soldner  auf  eine  Hohe 
von  6500  Mann  bringen  zu  konnen,  confiscirten  sie,  wie  schon 
friiher  die  Bohmen,  den  gesammten  Grundbesitz  der  katholischen 
Kirche,  so  wie  das  Privateigentum  aller  notorischen  Gegner  der 
Erhebung,  des  Kardinal  Dietrichstein,  der  Obersten  Waldstein, 
Nachod  und  anderer,  und  ersetzten  einige  laue  Directoren  durch 
kiihnere  Manner.  Auch  in  den  Erzherzogtumern  selbst  reiften 
die  Dinge  einer  gewaltsamen  Umwalzung  entgegen.  Da  Ferdinand 
nach  dem  Abzuge  Thurns  in  Wien  mit  grosser  Energie  auftrat 
und  eine  Untersuchung  des  Geschehenen  anordnete,  so  verlegten 
die  protestantischen  Stande  Kiederosterreichs  ihre  Sitzungen 
nach  Horn  und  schlossen  ebenso,  wie  ihre  Landsleute  in  Linz, 
ein  Biindnis  mit  den  Bohmen  zum  Schutze  ihrer  standischen 
Gerechtsame  und  des  evangelischen  Bekenntnisses.  Da  von 
Wien  abermals  der  Befehl  zur  Leistung  der  Huldigung  ange- 
kommen  war,  so  beschlossen  sie,  eine  Deputation  zum  Erzherzog 
Albrecht  abzuschicken,  der  seit  dem  Tode  des  Matthias  ihr 
rechtmassiger  Herr  war  und  fiir  Ferdinand  immer  noch  keine 
Verzichtleistungsurkunde  ausgestellt  hatte.  Derselbe  kannte 
namlich  zur  Geniige  die  Finanzwirtschaft  seines  Vetters  und 
wollte  die  Cessionsurkunde  nur  nach  vollstandigster  Sicherstellung 
der  ihm  versprochenen  Renten  (einer  Revenue  von  115  000  GW. 

11* 


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164  Gindely,  Geschiohte  des  drcissigjakrigen  Krieget 

jahrlich  und  kleinerer  Bezuge)  durch  Verpfandung  des  kaiser* 
lichen  Privateinkommens  ausfertigen  lassen.  Dies  geschah  erst 
anfongs  1620,  mithin  war  Ferdinand  1619  durchaus  nicht  zur 
Regierung  Oesterreichs  im  Namen  seines  Vetters  befugt  und  die 
Stande  juristisch  im  vollsten  Rechte.  Es  mag  hier  nicht  ver- 
schwiegen  werden,  dass  trotz  aller  Versprechungen  Albrecht 
kaum  jemal8  einen  Gulden  seiner  Rente  von  Wien  bekam,  und 
dass  selbst  seine  Wittwe  spater  vergeblich  auf  die  ununterbrochene 
Zahlung  ihrer  Pension  gehofft  hat.  Die  in  Horn  geplante  Ge- 
sandtschaft  wurde  jedoch  von  den  Ereignissen  iiberholt  uad 
kam  nicht  zu  Stande.  Man  kopirte  die  bohmischen  Einrichtungen, 
setzte  eine  Direotorialregierung  ein  und  entwand  so  die  Herr- 
schaft  iiber  das  Erzherzogtum  den  Handen  Ferdinands,  wahrend 
in  Oberosterreich  Tschernembl  und  seine  Partei  ohne  Wider- 
spruch  herrschten.  Zwei  Tage  nach  dem  Abschlusse  des  bohmisch- 
osterreichischen  Biindnisses  begannen  zu  Prag  die  entscheidendcn 
Yerhandlungen  iiber  Ferdinands  Absetzung.  Eine  RechtsdeductioB 
wies  dem  Landtage  nach,  dass  der  Konig  consequent  an  dem 
Ruine  der  bohmischen  Freiheiten  arbeite  und  wie  ein  Tynuui 
herrsche.  Eine  Masse  von  einzelnen  Anklagen  misohte  wicktiges 
und  unwichtiges  durcheinander,  doch  geniigte  der  einzige  Grand, 
„dass  Ferdinand  die  Existenz  der  Protestanten  iiberhaupt  nnr 
dort  unbeanstandet  liess,  wo  die  Wirksamkeit  seines  Schwertes 
ihre  Grenze  fand".  Mochte  er  auch  nicht  aus  Grausamkeit, 
sondern  aus  Glaubenseifer  handeln,  „fiir  die  Protestanten  war 
es  schliesslich  einerlei,  ob  man  sie  aus  frommer  Ueber- 
zeugung  oder  aus  Bosheit  auf  die  Schlachtbank  fiihrte,  fur  sie 
.  unterlag  es  keinem  Zweifel,  dass  sie  sich  wehren  mussten.  Diese 
Ueberzeugung  leitete  die  Masse  der  rebellischen  Unterthanen 
Ferdinands,  sie  allein  unterhielt  den  grossen  Eampf,  den  woil 
der  Ehrgeiz  Einzelner  geschiirt,  aber  nur  das  Interesse  der  Ge- 
sammtheit  entziindet  hatte".  Am  19.  August  1619  erklarten  die 
bohmischen  Stande  Ferdinand  fur  abgesetzt,  in  den  Tagen  dar- 
auf  folgten  die  iibrigen  Lander  der  Wenzelskrone  ihrem  Bei- 
spiele.  Selbstverstandlich  war  dieser  Beschluss  in  der  VoraoB- 
setzung  gefasst,  dass  unmittelbar  darauf  eine  Neuwahl  stattfinden 
musse.  Als  Throncandidaten  kamen  in  Betracht:  der  Herzog 
Karl  Emanuel  von  Savoyen,  der  Kurfurst  von  der  PfaJz  und  der 
Kurfurst  Johann  Georg  von  Sachsen,  von  denen  jeder  im  Laade 
seine  Partei  hatte. 

Der  Herzog#  von  Savoyen  hatte  schon  vor  Matthias'  Tode 
dem  Pfalzgrafen  das  Elsass  und  die  vorderosterreichischen  Laade 
versprochen,  wenn  er  selbst  zur  bohmischen  oder  deutschfln 
Krone  gelangen  konne.  Auf  seine  Kosten  waren  die  Soldoer 
Hansfelds  unterhalten  worden.  Die  geringen  Erfolge  der  Bohme^ 
die  Zuriickhaltung  Venedigs  und  die  unfreundliche  Stimmuug 
Frankreichs  seinen  Bestrebungen  gegeniiber  trugen  aber  im  fol- 
genden  Jahre  1619  wesentlich  zur  Emuchterung  des  Herzogs 
bei.    Noch  gelang   es   dem  Fiirsten   von  Anhalt   im  Mai  einen 

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Gindely,  Gescbichte  des  dreissigj&hrigen  Kriogea.  165 

Subsidienvertrag  zu  Rivoli  zwischen  ihm  und  dem  Pfalzgrafen,  als 
dem  Haupte  der  Union,  zu  Stande  zu  bringen,  in  welchem  die  Er- 
langung  der  bohmischen  oder  deutschen  Krone  fur  Savpyen  in 
Anssicht  genommen  war,  doch  schickte  Karl  Emanuel  zugleich 
den  Herren  de  Bausse  nach  Deutschland,  urn  sich  Gewissheit 
fiber  seine  Aussichten  zu  verschaffen,  bevor  er  sich  zu  den  in 
dem  Vertrage  stipulirten  Opfern  verstehe.  De  Bausse  begab 
sich,  durch  Anhalt  empfohlen,  nach  Prag,  urn  im  Verein  mit 
Mansfeld  far  seinen  Herrn  die  Verhandlungen  zu  fiihren.  Er 
wurde  durch  seine  Aufnahme  daselbst  gewaltig  enttauscht:  dier 
Majoritat  der  bohmischen  Stande,  der  President  der  Directorialregie- 
rung  Wilhelm  vonRuppa  an  der  Spitze,  war  entschieden  pfalzisch  ge- 
sinnt  und  dem  katholischen  Herzoge  urn  so  abgeneigter,  als  derselbe 
seit  der  Niederlage  von  Z&blat  trotz  der  dringendsten  Bitten 
Mansfeld  nicht  mehr  unterstiitzt  hatte.  Die  savoyische  Candidatur 
gait  mehr  fiir  eine  Intrigue  als  fiir  eine  staatsmannische  Losung 
der  bohmischen  Frage.  Dafiir  kam  zwischen  Ruppa  und  dem 
pfalzischen  Gesandten,  Grafen  Dohna,  eine  vollige  Einigung  zu 
Stande  zum  Zweck  der  Erwahlung  Friedrichs  V.,  welcher  die 
Annahme  der  bohmischen  Krone  nur  noch  davon  abhangig 
machte,  dass  er  zuvor  der  Zustimmung  seines  Schwiegervaters 
imd  der  Hilfe  der  Generalstaaten  versichert  sein  wollte.  Wie 
alle  schwachen  Geister,  betrat  er  zwar  den  gefahrvollen  Weg, 
snchte  sich  aber  zugleich  die  Ruckkehr  offen  zu  halten  und 
wlinschte  deshalb  einen  Aufschub  der  Wahl.  Noch  war  aber 
seine  Erklarung  zu  Prag  nicht  angelangt,  als  der  Act  daselbst 
schon  vollzogen  war.  Mit  vieler  Sympathie  ware  auch  der  Kur- 
furBt  ron  Sachsen  in„B6hmen  auf  den  Thron  gehoben,  wiewohl 
er  sich  selbst  nie  um  denselben  beworben  hatte,  und  seine  Trunk- 
sucht  und  seine  rohen  Sitten,  mit  denen  er  seine  Umgebung  wie 
ein  orientaJi8cher  Despot  behandelte,  aller  Welt  bekannt  waren. 
Bei  seinem  Geize  besass  er  aber  bedeutende  Mittel  und  mit 
seiner  Hilfe  war,  nach  der  Ansicht  der  Directoren,  das  Haus 
Habsburg  am  besten  zu  bekampfen.  Thurn,  Hohenlohe  und 
Schlick  waren  die  Haupter  der  sachsischen  Partei;  die  offent- 
liche  Stimme  bezeichnete  den  Kurfiirsten  allgemein  als  den  zu- 
ktinftigen  Konig,  trotzdem  er  sich  mit  Ostentation  durchaus  ab- 
lehnend  verhielt  und  ron  seiner  Erwahlung  nichts  wissen  wollte. 
Gegen  seine  Erhebung  wirkten  die  Schlesier  und  Lausitzer, 
welche  ihn  offen  einen  gemeinen  Trunkenbold  nannten,  der  eine 
Schande  fiir  das  Volk  und  eine  Ge&hr  fur  die  Freiheiten  des 
Landes  sein  werde.  Sie  bemxihten  sich  mit  aller  Macht  fur 
den  Pfalzgrafen.  Auch  Christian  IV.  von  Danemark  und  Bethlen 
Qabor  wurden  von  einzelnen  Planmachern  genannt, ,  doch  kam 
ihre  Candidatur  nicht  einen  Augenblick  ernstlich  in  Betracht. 
Bei  der  Konigswahl  am  26.  August  1619  erhielt  Johann  Georg 
im  ganzen  Landtage  nur  7  Stimmen,  alle  iibrigen  waren  fur  den 
Pfitkgrafen,  den  Namen  des  Herzogs  von  Savoyen  nannte  nie- 
maud.    Auf  folgendem  Tage  erklarten  sich  die  Nebenlander  eben- 

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166  Gindely,  Geschichte  dea  dreissigjSlirigen  Kriogea. 

falls  fur  Friedrich  V.  In  Sachsen,  wo  man  die  bohmische  Krone 
sicher  nicht  angenommen  hatte,  erregte  dennoch  dieses  Ergebnis 
eine  sehr  erbitterte  Stimmung,  die  unfreundliche  Haltung  spitzte 
sich  jetzt  den  Bohmen  gegeniiber  in  offene  Feindseligkeit  zu. 
Der  Pfalzgraf  war  bei  der  Schnelligkeit  des  Wahlactes  vollig 
iiberrascbt  nnd  sah  sich  plotzlich  einer  vollendeten  Thatsache 
gegeniiber,  nicht  ohne  starke  Zweifel  und  Seelenkampfe  nahm 
er  zu  Amberg  auf  Drangen  des  Fiirsten  von  Anhalt  die  Krone 
an.  Die  Union  erklarte  zu  Rothenburg,  ihn  beschiitzen  zn 
wollen,  falls  er  wegen  dieses  Schrittes  in  seinen  Erblandern  an- 
gegriffen  werden  sollte. 

Jacob  von  England  brauste  auf  die  Nachricht  von  der  Er- 
wahlung  seines  Schwiegersohnes  heftig  auf,  anstatt  schleunig  zu 
helfen,  schrieb  er  sofort  an  Philipp  III.  von  Spanien,  um  seine 
vollige  Unschuld  an  diesem  Schritte  hoch  zu  betheuern,  damit 
8ein  Lieblingsplan,  die  Heirat  seines  Sohnes  mit  der  Infantin, 
nicht  Schiffbruch  leide.  Trotz  der  flehentlichen  Bitten  seiner 
Tochter,  deren  Sache  in  den  Herzen  aller  Englander  den  leb- 
haftesten  Sympathien  begegnete,  trotz  des  Drangens  der  General- 
staaten  und  der  Beschliisse  des  eigenen  Staatsrathes  trug  er 
seino  Vorliebe  fur  die  habsburgische  Sache  offentlich  zur  Schau  und 
behandelte  den  Gesandten  seines  Schwiegersohnes,  Christof  von 
Dohna,  mit  absichtlicher  Zurucksetzung.  Von  ihm  war  keine 
Unter8tiitzung  zu  hoflfen.  Gleicherweise  wurde  der  Pfalzgraf 
durch  den  Kurfiirsten  von  Mainz  und  Sachsen,  sowie  den  Herzog 
von  Baiern  vor  der  Annahme  der  bohmischen  Krone  gewanit, 
natiirlich  ohne  diesen  Mahnungen  Gehor  zu  geben.  Auf  Lord 
Doncasters  Rath,  der  auf  Jacobs  Befehl  vor  dem  Bekanntwerden 
des  Wahlresultates  immer  noch  Ferdinand  seine  Vermittlung  auf- 
zudrangen  versuchte,  im  Herzen  aber  ganz  auf  pfalzischer  Seite 
stand,  entschloss  sich  Friedrich,  seine  Gemablin  mit  sich  nach 
Bohmen  zu  nehmen  und  nicht,  wie  er  zuerst  beabsiohtigte,  nach 
England  zu  schicken.  Trotz  erneuter  Abmahnungen,  auch  seitens 
Ferdinands,  wurde  er  am  4.  November  1619  zu  Prag  gekront. 

Inzwischen  tagte  zu  Pressburg  der  ungarische  Landtag, 
umworben  von  alien  Parteien.  Ferdinands  Antrag,  eine  Steuer 
zur  Bekampfung  seiner  Feinde  zu  bewilligen,  wurde  von  dea 
Protestanten  mit  einer  Aufzahlung  ihrer  Beschwerden  beant- 
wortet  Residtatlo8  gieng  die  Versammlung  am  13.  August  aus- 
einander.  Auf  katholischer  Seite  hatte  man  keine  Ahnung  davon, 
dass  der  Fiirst  von  Siebenbiirgen  eben  Vorbereitungen  treffe,  um  sich 
den  Feinden  Habsburgs  anzuschliessen.  Wenn  er  in  Ungam 
einfiel,  so  konnte  er  hoffen,  dass  sich  der  protestantische  Adel 
um  ihn  schaaren,  die  katholische  Herrschaft,  die  nur  in  den 
reichen  Kirchenfursten  wurzelte,  iiber  den  Haufen  werfen  und 
sich  an  dem  Kirchengute  fiir  die  iiberstandene  Miihe  entschadigen 
wiirde.  Bethlen  gehorte  dem  niedem  Adel  an  und  war  seit 
seinem  17.  Jahre  Soldat.  In  seiner  Jugend  hatte  er  einige  Jahre 
in    Constantinopel    zugebracht ,    wissenschaftliche    Bestrebungen 


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Gindely,  Geschichte  dea  dreissigjahrigen  Krieges.  167 

liebte  er,  dem  Calvinismus   war   er  von  Herzen   ergeben.     Dem 

Weingenuss  huldigte  er  sehr,  verhandeln  konnte  man  mit  ihm  nur 

friih,  weil  er  am  Ende   des   Vormittags   sich   stets   schon  einen 

halben  Rausch  angetrunken  hatte.     H&ufig  ist  er   hart  beurteilt 

worden,  aber  auf  dem  Wege,  den  er  zuriicklegte,  „um  zu  seiner 

hohen   Stelluug   zu  gelangeu,    konnte    er    allerdings    nicht   den 

Tugendpfad  innehalten,    wie   dies   ein  vom   Schicksal  von  vorn- 

herein  zur  Furstenwiirde  bestimmter  Mann  thun  kann".     Unter 

dem  Vorwande  eines    nahen  Turkenkrieges   riistete   er   im   Juli 

1619,  Ende  August  brach  er  in  das  babsburgische   Ungarn   ein, 

wo  sein  Unterfeldherr  R&koczi  am  5.  September  das   fast   ganz 

protestantische  Kaschau  als  erste  Stadt  einnahm.    Wahrend  eine 

andere  seiner  Abteilungen  gegen  Pressburg  vorriickte,  versammel- 

ten  sich  die  Magnaten  und  Stadte  Oberungarns  zu  Kaschau  und 

gaben  nachtraglich  ihre  Billigung  zu  dem  Verfahren  des  Sieben- 

biirgers.     In  Wien  war  man  uberzeugt,  dass   ganz   Ungarn   sich 

an  dem   Aufetande   betheiligen   werde   und  fur   Ferdinand   ver- 

loren  sei.     Am  14.  October  wurde   Pressburg   dem   Kaiser   ent- 

rissen  und  der  Palatin  Forgach  gezwungen,  das  Schloss  und  die 

Krone  an  Bethlen  zu  ubergeben,   so  wie   auf  den   11.   November 

einen  Reichstag  auszuschreiben.    Die  Wiener  ergriff  ein  panischer 

Schrecken,  sodass  eine   allgemeine   Auswanderung  nach   Westen 

begann,  selbst  Ferdinand,  der  eben  von   Frankfurt   heimgekehrt 

war,  lenkte  mit  einigen  hundert  Fliichtlingen  seine  Schritte  nach 

Graz.     Fiir  Bohmen  brachte  dies  Ereignis   ungeheuere  Vorteile: 

Buquoy  musste  schleunigst  nach   Oesterreich   abziehen,   urn  den 

von  Mahrern  und  Ungarn  fast  erdriickten  Dampierre   zu  retten, 

ware  das  bohmische  Heer  nicht  vollstandig  demoralisirt  gewesen, 

so  wiirden  die  kaiserlichen  Truppen  in  eine  schlimme  Lage   ge- 

kommen  sein.     Aber  als  Hohenlohe,  welcher  fur  den  in  Mahren 

abwesenden  Thurn  das  Commando  fiihrte,  die  giinstige  Gelegen- 

heit  benutzen  wollte,  sagten  ihm  sammtliche  Truppen  den   Ge- 

horsam    auf,    bis    ihnen  der  versprochene    dreimonatliche    Sold 

gezahlt   sein  wiirde,  imd    diesen   konnten   die   Directoren   trotz 

aller  Finanzoperationen,  Beschlagnahmen   von   Erbschaftsmassen, 

Klosterpliinderungen  und  Miinzverschlechterungen  nicht  zusammen- 

bringen.    Unangefochten  befestigte  der  kaiserliche  Feldherr  seine 

Stellungen   in  Sudbohmen,  zog   dann  nach   Oesterreich,   wo   er 

zuerst  durch  sein  Nahen  die  Standeversammlong  zu  Horn  auseinan- 

dertrieb,  und  drang  bei  Znaim  in  Mahren  ein.     Als  endlich   die 

bohmischen  Soldner   durch   Abschlagszahlungen  und  Bitten  be- 

wogen  waren,  die  WaflFen  wiederum  gegen  Ferdinand  zu  ergreifen, 

hatte  der  kaiserliche  General  seine  Vereinigung   mit   Dampierre 

bereits  gesichert.    Beide  Feldherren  zogen  sich  zur  Deckung  der 

Uauptstadt  auf  Wien  zunick,  gefolgt  von   den   nunmehr  verein- 

ten  Truppen  der  Bohmen  und  Mahrer,  zu  denen  12  000  ungarische 

Reiter  unter   Redai's  Befehl   gestossen   waren.     Das   gesammte 

Bundesheer   zahlte  jetzt  gegen   35  000   Mann,   vermochte   aber 

dennoch  nicht  zu  hmdern,  dass  Buquoy   iiber   die  Donau  gieng 


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168  Gindely,  Geachichte  des  dreissigjahrigen  Krieges. 

und  die  Briicken  hinter  rich  abbrach.  Behufs  weiterer  Be- 
sprechungen  begaben  sioh  nun  Thnrn  und  Hohenlohe  nach  PreBS- 
burg  zu  Bethlen,  der  unter  andern  Gedanken  auch  den  Wonsch 
aussprach,  Ungarn  moge  als  Kurfurstenthum  in  das  Reich  auf- 
genommen  werden,  naehdem  er  es  urn  Oesterreich,  Steiermark, 
Karnthen  und  Krain  vergriissert  hatte.  Bedenklicher  war  bei 
der  Zerriittung  der  bohmischen  Finanzen  eine  Forderung  von 
400000  Gulden  fiir  die  Kriegszwecke  Siebenbiirgens,  welche  der 
Fiirst  durch  eine  eigene  Gesandtschaft  in  Prag  betreiben  liess. 
Dem  Konige  Friedrich  und  seinen  Rathen  blieb  nichte  iibiig,  als 
ihn  mit  leeren  Ausfluchten  hinzuhalten.  Dieser  Umstand  und 
der  Einfall  seines  Rivaien,  des  Grafen  Georg  Drugeth  de  Homonna, 
welcher  an  der  Spitze  von  11000  Kosaken  aus  Polen  uber  die 
Karpathen  voTdrang,  bewogen  Bethlen,  von  einer  Belagerung 
Wiens  abzustehen,  sodass  auch  das  Bundesheer  nach  einer  Reihe 
unentschiedener  Gefechte  wieder  abziehen  musste.  In  Ferdinands 
Hauptstadt  herrschten  iibrigens  die  traurigstenZustande:  zu  dem  in 
Folge  der  ungarischen  Streif  ziige  eintretenden  Mangel  an  Lebens- 
mitteln  gesellten  sich  die  ziigellosesten  Ausschweifungen  der 
kaiserlichen  Soldner,  bei  denen  man  wie  bei  den  Bohmen  mit 
den  Soldzahlungen  im  Riickstande  war. 

Urn  die  HUfe  der  Union  auch  fiir  die  Vertheidigung  Bohmens 
in  Anspruch  zu  nehmen,  da  der  Bund  sich  auf  der  Versamm- 
lung  zu  Rothenburg  nur  fur  eine  Sicherstellung  der  pfalzischen 
Lande  verpflichtet  hatte,  rief  der  Pfalzgraf  einen  Correspondeitf- 
tag  nach  Niirnberg  zusammen  (November  1619),  zu  dem  all* 
protestantischen  Fursten  Deutschlands  sowie  der  Konig  von 
Danemark  eingeladen  wurden.  Ausser  den  Unionsmitgliedern 
erschien  jedoch  niemand.  Anhalt  arbeitete  dahin,  dass  Bohmen 
in  den  Verband  der  Union  aufgenommen  werde  und  Friedrich 
als  der  Konig  dieses  Landes  das  Haupt  des  Bundes  und  der 
General  iiber  sammtiiche  Truppen  bleiben  sollte.  Er  stiess  mit 
diesem  Gedanken  auf  einen  hefiagen  Widerstand.  Die  Mehrzahl 
der  Mitglieder  bek&mjrfte  offen  jede  Verwendung  der  Bundes- 
truppen  in  Bohmen,  welche  factisoh  schon  eingetreten  war,  and 
verlangte  die  Zuriicksendung  derselben.  Leider  lag  Anhalt  ft 
Amberg  krank  darnieder  und  konntie  personlich  seinen  Emflnss 
nicht  ausiiben,  sodass  die  Unzufriedenheit  bedenkliche  Dimen- 
sionen  annahm  und  der  Pfalzgraf  in  diesem  wie  in  mehreren 
andern  Punkten  zum  Schaden  seiner  bohmischen  Macht  nack- 
geben  musste.  Hochst  wichtig  waa*  jedoch  der  Beschluss,  ini 
Reiche  selbst  zu  den  Waffen  zu  greifen,  weil  die  Gravamina 
eine  unertragliche  Hdhe  erreicht  h&tten.  Man  gedachte  deA 
Angriff  dadurch  einzuleiten,  dass  man  die  Truppen,  deren  Untei^ 
haltung  so  schwer  empfunden  wurde,  auf  den  gefetiiohen  Be* 
sitzungen  einquartierte,  womit  man  freilioh  die  Bahn  der  Sako- 
larisation  betreten  und  zragleich  die  geistiichen  Furtten  fftf 
rechts-  und  schutzlos  erklftrt  hatte.  Eine  Gefahr  schien  nur  von 
Baiern  zu  drohen,  doch  hoffte  man  den  Herzog  durch  die  Ueber- 


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Gindely,  Geachiehte  des  dreissigj&hrigen  Rrieges.  169 

lassung  von  Augsburg,   Regensburg  und   Freising  zu   gewinnen 
und  ordnete  deshalb  eine  eigene  Gesandtschaft  an  denselben  ab. 
Der  Reichshofrathsprasident,  Graf  von  Zollern,  welcher  im  Namen 
des  Kaisers  ersohien,  um  die  Versammlung  vor  der   Theilnahme 
an  den  bohmischen  Handeln  zu  warnen,  wurde  mit  dem  Bescheide 
abgefertigt,  wenn  aus  was  immer  fur   einem  Grunde   der  Pfalz- 
graf  oder  ein   anderes  Unionsmitglied   in   seinen   ererbten   Be- 
8itzungen  beunruhigt  werden  wiirde,  so  wiirde  die   Union   diesen 
Angriff  abschlagen.    In  Miinchen  stellten  die   Abgeordneten   des 
Bttndes  die  bestimmte  Forderung,  die  Katholiken  sollten  binnen 
zwei  Monaten  abriisten,  die  evangelischen  Stande  bei  alien  ihren  ehe- 
mals  geistlichen  Besitzungen  unangefochten  lassen  und  eine  voile 
Gleichberechtigung  in  der  Besetzung  der  Stellen  des  Reichshofrathes 
und  des  Reichskammergerichts  zugestehen.  Geschahe  dies  nicht,  so 
werde  man  zum  Angriff  iibergehen.     Wenn  man  den  Herzog  von 
Baiern  hierdurch  einzuschuchtern  meinte,  so  irrte  man  sich:   er 
kannte  genau  die  Krafte  der  streitenden  Parteien  und  erklarte,  dass 
er  einen  Angriff  auf  die  Katholiken  nicht  dulden  werde.  Seine  Ant- 
wort  uberbot  an  Entschlossenheit  die  herausfordernde  Sprache  der 
Union.    Auch  die  Stande  von  Ober-  und  Niederosterreich  beschick- 
ten  den  Niirnberger  Correspondenztag,  um  sich  des  Schutzes  der 
grossen  evangelischen  Verbindung  zu  versichern.    Da  ihr  Begehren 
daselbst  abgelehnt  wurde,  Ferdinand  hingegen  in  einem  sehr  ver- 
sohnlichen  Schreiben  ihnen  die  Beilegung  der  religiosen  Streitig- 
keiten  im  protestantischen  Sinne  zu  versprechen  schien  und  sich 
schliesslich  das  Gerucht  verbreitete,  Bethlen  wolle  sich  der  Herr- 
schaft  Oesterreichs   bemachtigen,    so    trat    ein   merklicher    Um- 
Bchwung  der  Stimmung  ein,  brachten  doch  die  Deputirten  nichts 
ab  allgemeine  Theilnahmsversicherungen  in  ihre  Heimat  zuriick! 
Fiir  den  Kampf  in  Bohmen  gewann  Friedrich  mithin  in  Niirnberg 
nicht  die  geringste  Stiitze,  ja  die   osterreichischen   Stande,   auf 
deren  engen  Anschluss  er  gehofft  hatte,  wurden  durch  die  kiihle 
Haltung   der  Union    abgeschreckt   und    zu  Verhandlungen    mit 
Ferdinand  hingeleitet.     Schliesslich  beendete  hier  Lord  Doncaster 
auch  seine  diplomatischen  Irrfahrten.     Nachdem  er   gegen  seine 
Instruction,  und  freilich  auch  ohne  Erfolg  die  Republik  Venedig 
fiir  Friedrich  zu  gewinnen  versucht,   dann  in  Graz   den  Kaiser 
zu  seiner  Erwahlung  begliickwiinscht  und  auf  dem  Riickwege  in 
Wi^i    mit    Onate    noch   einige   Sticheleien    ausgetauBcht  hatte, 
reiste  er  iiber  Graz  naoh  London,  um  von  Jacob  sehr  ungnadig 
empfangen  und  niemals  wieder  politisch  verwendet  zu   werden. 
Inzwischen  zeigte  der  Winterkonig  zu  Prag  —  denn  dieser 
Spottname  findet  sich  schon  in  Actenstiicken  vom  Januar   1620 
—  dass  er  der  iibernommenen  Aufgabe  durchaus  nicht  gewachsen 
sei,  „denn  von  tuchtiger  Arbeitskraft  oder  von  einem. Verstand- 
nisse  seiner  Stellung  und   seiner  Pflichten   war  bei  ihm   keine 
Rede.     Seine  Unselbstandigkeit  wurde  bald   allgemein   bekannt 
und  verspottet.    Er  war  ein  gutmiithiger  Prinz,   dessen  Hand- 
lungsweise  zum  Theil  an  das  kaum  iiberschrittene   Knabenalter 


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170  Gindely,  Geschickto  des  dreissigj&krigen  Kriege3. 

mahnte,  der  sich  nur  in  Unterhaltungen  oder  pomposen  Auf- 
ziigen  gefiel  und  der  die  meiste  Zeit  in  Gesellschaft  seiner  heiss- 
gelicbten  Frau  zubrachte,  statt  in  die  Rathsstube  zu  gehen  oder 
auf  das  Schlachtfeld  zu  eilen".  Er  sowohl  wie  Elisabeth  Stuart 
verstiessen  durch  ihre  englischen  Hofmanieren  haufig  gegen  die 
steifen  Sitten  der  altfrankischen  bohinischen  Aristokratie.  Durch 
die  thorichte  Bilderstiirmerei  und  Ausraubung  des  Doms,  der 
altstadtischen  Jesuitenkirche  und  der  Prager  Briicke  wurde 
unniitzer  Weise  auch  das  religiose  Gefuhl  des  gemeinen  Stannes 
beleidigt,  sodass  man  bald  nur  hamische  Bemerkungen  liber  das 
Gebabren  des  neuen  Konigs  hatte,  an  dem  man  anfangs  alles 
so  vortrefflich  fand.  Dabei  zeigte  sich  zu  derselben  Zeit  grade 
die  tiefe  moralische  Versunkenheit  des  bohmischen  Adels  im 
Wartenbergischen  Processe,  selbst  Wenzel  von  Ruppa  hatte  sicli 
mit  50000  Thlr.  bestechen  lassenl  Ein  solcher  Fiirst  konnte 
wohl  in  der  Pfalz  seinen  Pflichten  geniigen,  bei  der  Verkommeu- 
heit  der  Bohmen  aber  nicht  einmal  in  Zeiten  des  Friedens  sein 
Ansehen  aufrecht  erhalten.  Ende  Januar  1620  begab  sich  der 
junge  Konig  nach  Briinn,  urn  hier  die  Huldigung  der  Mahrer 
entgegenzunehmen,  bei  welcher  Gelegeuheit  natiirlich  wiederum 
eine  an  Selbstmord  streifende  Vergeudung  zu  Tage  trat,  wahrend 
das  Bundesheer  bei  Pressburg  vor  Mangel  am  Nothwendigsten 
verkam  und  eine  Rotte  von  4000  Kosaken  die  Markgrafechaft 
nach  alien  Richtungen  hin  pliindernd  durchstreifte.  Ueber 
Ohniitz  gieng  die  Reise  nach  Breslau,  wo  der  Empfang  (23.  Febr. 
1620)  womoglich  noch  prachtvoller  war  als  in  der  Hauptstadt 
Mahrens.  Selbst  das  Breslauer  Capitel  und  einige  Aebte  leisteten 
hier  mit  den  iibrigen  Standen  die  Huldigung.  Den  Treueid  der 
Lausitzer  nahm  der  Fiirst  nicht  personlioh,  sondern  durch 
Commissare  entgegen,  indem  er  unaufischiebbare  Geschafte  vor- 
schiitzte.  Das  zur  Befriedigung  Bethlens  nothwendige  Geld  hatte 
er  nirgends  erlangen  konnen. 

Schon  im  November  1619  war  bei  Ferdinand  der  Entschluss 
gereift,  mit  Bethlen  Gabor  zu  verhandeln.  Um  denselben  wr 
Ruhe  zu  bringen,  war  er  zu  grossen  Opfern  bereit,  weil  eben 
nur  dann  ein  Erfolg  in  Bohmen  moglich  war.  Ende  December 
erschienen  die  kaiserlichen  Gesandten  in  Pressburg  und  machten 
dem  Fiirsten  die  glanzendsten  Anerbietungen,  wahrend  von  den 
Bohmen  nichts  als  leere  Versprechungen  zu  erlangen  waren. 
Bethlen  wurde  unschliissig,  ob  er  sein  Los  noch  ferner  an  das 
des  Pfalzgrafen  ketten  oder  den  vom  Kaiser  angebotenen  Lohn 
einheimsen  solle.  Nachdem  er  sich  durch  erneute  Besprechungen 
mit  einer  bohmischen  Gesandtschaft  unter  Hohenlohe  UbGrzeugt 
hatte,  dass  ihm  von  Prag  keine  Geldmittel  zur  Verfugung  ge- 
stellt  werden  wiirden,  naim  er  die  Verhandlungen  der  Wiener 
Rathe  mit  Entschiedenheit  auf,  zumal  Ferdinand  sowohl  an  ihu 
als  an  den  in  derselben  Zeit  versammelten  Reichstag  hoobst 
weitgehende  Concessionen  machen  wollte.  Die  Mehrzahl  der 
Magnatenversammlung  verwarf  jedoch  alle  Yorschlage  des  Kai$ers 


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Gindely,  Gescbichte  des  dreissigjahrigon  Krieges.  171 

und  trug  Bethlen  die  ungarische  Krone  an.  Gern  hatte  derselbe 
die  neue  Wttrde  angenommen,  allein  ihn  qualte  die  Angst  vor 
den  Tiirken,  deren  Angriffen  er  zum  Opfer  fallen  musste,  wenn  er 
nicht  eine  Sttitze  an  Bohmen  oder  an  dem  Kaiser  fand.  Er 
schlug  deshalb  den  Mittelweg  ein  und  liess  sich  zum  Fiirsten 
(nicht  zum  Konig)  von  Ungarn  ernennen.  Ein  Waffenstillstand 
mit  Ferdinand  kam  in  Folge  dieser  Massigung  im  Januar  1620 
zu  Stande.  Nach  ihm  sollte  Bethlen  vorlaufig  im  Besitze  alles 
dessen  bleiben,  was  er  inne  habe.  Als  Gegenpreis  fur  seine  Ver- 
zichtleistung  auf  die  ungarische  Krone  warden  ihm  etwa  zwei 
Drittel  des  kaiserlichen  Ungarns  und  die  Furstenthiimer  Oppeln 
und  Ratibor  in  Aussicht  gestellt.  Zur  selben  Zeit  vertagte  sich 
der  Reichstag  zu  Pressburg,  nachdem  er  noch  die  hervorragend- 
sten  Freunde  des  Kaisers  des  Landes  verwiesen  hatte.  Nach 
langem  Schwanken  ratificirte  endlich  Ferdinand  die  mit  Bethlen 
abgeschlossenen  Vertrage  unter  Hinzufiigung  verschiedener  Clau- 
sein :  er  gab  damit  freilich  Ungarn  preis,  welches  er  aber  keines- 
falls  hatte  halten  konnen.  Auf  Wunsch  des  Siebenbiirgers  wollte 
er  sich  sogar  zu  Friedensverhandlungen  mit  den  Bohmen,  aber 
nicht  mit  deren  Konig  Friedrich  V.  verstehen.  Den  Waffen- 
stillstand auf  die  nichtungarischen  Provinzen  auszudehnen,  war 
er  nicht  zu  bewegen.  Von  alien  Seiten  umworben  residirte  jetzt 
Bethlen  zu  Kaschau.  Um  jeden  Preis  musste  der  Pfalzgraf  den 
Waffenstillstand  in  Ungarn  verhindern,  weil  die  Macht  des  Kaisers 
sich  sonst  ungetheilt  auf  seine  Lande  geworfen  hatte.  Nach  einander 
verhandelten  Dohna  und  Anhalt  mit  dem  schwankenden  Bundes- 
genossen,  ohne  anfangs  etwas  zu  erreichen,  da  Ferdinand  den 
Kanzler  Pechy  bestochen  hatte  und  sein  Herr  noch  Zeit  ge- 
winnen  wollte.  Als  jedoch  beruhigende  Nachrichten  aus  Con- 
stantinopel  einliefen,  dass  von  dort  her  die  siebenbiirgischen 
Projecte  nicht  durchkreuzt  werden  wiirden,  so  besohloss  Bethlen, 
die  Feindseligkeiten  wieder  aufzunehmen,  wenn  die  Bekriegung 
der  Bohmen  kaiserlicherseits  nicht  aufhore.  Er  gestand  Ferdi- 
nand nur  eine  Bedenkzeit  von  25  Tagen  zu  (31.  Marz  1620). 

Als  durch  das  Eingreifen  des  Fiirsten  von  Siebenbiirgen 
sich  die  Aussichten  des  neuerwahlten  Kaisers  auf  diese  Weise 
immer  schlimmer  gestalteten,  machte  sich  zu  seinen  Gunsten 
eine  allgemeine  Bewegung  in  der  katholischen  Welt  geltend. 
Wenn  auch  der  Gedanke  des  Hofkammersecretars  Arnoldinus 
von  Klarstein  scheiterte,  einen  katholischen  Vertheidigungsbund 
(societas  christianae  defensionis)  auf  Grund  freiwilliger  Gaben 
der  Glaubigen  zu  griinden  und  dem  Kaiser  die  Mittel  zur 
Kriegfuhrung  durch  fromme  Collecten  zu  verschaffen,  so  ereig- 
nete  sich  dafiir  das  Unglaubliche,  dass  im  Winter  1619/20  eine 
Coalition  aller  katholischen  Machte  unter  Leitung  des  Papstes 
zu  Stande  kam,  welcher  selbst  Kursachsen  beitrat.  Durch  diese 
Verbindung  sollte  Ferdinand  zum  vollen  Siege  iiber  seine 
emporten  Lande  gelangen.  Spanien  muss  hier  wieder  zuerst 
genannt  werden,  denn  zu  Ende  des  Jahres  1619  entschloss  sich 


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172  Gindely,  Geschichte  dee  dreissigjahrigen  Krieges 

Philipp  III.  zu  neuen  Opfern,  die  alles,  was  er  bis  dahin  ge- 
leistet  hatte,  iiberboten.  Wegen  der  trostlosen  Ebbe  im  Staate- 
8chatze  und  beeinflusst  durch  seine  Giinstlinge,  den  Herzog  Ton 
Uzeda  und  den  Grossinquisitor  Aliaga,  hatte  sich  der  Monarch 
znerst  den  Bitten  des  kaiserlichen  Gesandten,  des  Grafen 
Khevenhiller,  gegenuber  ablehnend  verhalten,  endlich  war  es 
jedoch  dem  letzteren  im  Verein  mit  der  kaiserlichen  Partei  am 
Madrider  Hofe  gelungen,  durch  Herbeiziehung  religioser  Momente 
der  Ueberzeugung  Bahn  zu  brechen,  dass  der  Kampf  in  Deutsch- 
land  kein  politischer,  sondern  ein  heiliger  Krieg,  und  dass  dem- 
nach  die  Haltung  des  Konigs  vorgezeichnet  sei.  Am  20.  Januar 
1620  unterzeichnete  derselbe  ein  Schreiben  an  den  Erzherzog 
Albrecht,  in  welchem  er  die  nothigen  Mittel  zur  Verfugung  stellte, 
um  die  Niederpfalz  mit  spanischen  Truppen  anzugretfen.  Er 
bewilligte  dazu  1  600  000  Dukaten.  Man  beschloss  zugleich,  das 
ehtri8sene  Land  dem  Pfalzgrafen  nicht  zuruckzngeben  und  zwei- 
felte  nur,  ob  Spanien  die  Eroberungen  einfach  behalten  oderae 
an  Pfalz-Neuburg  abtreten  und  dessen  Anspriiche  auf  Julich 
dagegen  in  den  Tausch  nehmen  solle.  Auch  von  der  Uebertragung 
der  Kurwiirde  auf  Baiern  war  im  spanischen  Staatsrathe  die  Rede. 
Mit  grosser  Miihe  war  es  su  derselben  Zeit  der  kai8e^ 
lichen  Diplomatic  gegliickt,  die  Hilfe  der  Liga  zu  erlangen,  die 
fur  Ferdinand  von  hochster  Bedeutung  war,  da  durch  sie  der 
bohmische  Aufstand  direct  zum  Falle  gebracht  werden  konnte. 
Noch  unter  der  Regierung  des  Matthias  waren  habsburgischer- 
seits  zur  Wiederbelebung  dieses  katholischen  Biindnissee  ener- 
gische  Versuche  gemacht  worden,  sie  waren  aber  sammtlich  as 
der  kiihlen  Haltung  des  Herzogs  von  Baiern  sowie  seines  Bruders* 
des  Erzbischofs  von  Koln,  gescheitert.  Auch  Ferdinand  gegen- 
iiber  verhielt  sich  Maximilian  anfangs  durchaus  ablehnend  ofid 
verbat  sich  jede  Einmischung  seiner  Person  in  die  bdhmischen 
Handel.  Als  niichterner  Kopf  wartete  er  ruhig,  bis  auch  seine 
Zeit  kam,  bis  er  wahrnahm,  dass  sich  die  Wagschale  auf  F«- 
dinands  Seite  neigte,  dass  Spanien  und  der  Papst  zu  Opfern 
entschlossen  waren,  der  deutsche  Clerus  den  Kaiser  unterstiitzen 
wollte  und  Frankreich  mindestens  in  einer  gtinstigen  Neutralist 
verharren  wiirde.  Jetzt  konnte  er,  als  Vertheidiger  der  katho- 
lischen Interessen  auftretend,  seine  egoistischen  Plane  verfolgen. 
Als  Ferdinand  auf  seiner  Ruckreise  von  Frankfurt  Miinchen  beriihrte, 
8chlo8s  er  am  8.  Oct.  1619  mit  seinem  Wittelsbachischen  Vetter  einen 
Vertrag  ab,  nach  welchem  der  letztere  die  oberste  Leitung  der 
Liga  und  die  Fiihrung  des  katholischen  Bundesheeres  ubernahm. 
Fiir  die  Auslagen  setzte  der  Kaiser  seine  und  seines  gesammten 
Hauses  Besitzungen  zum  Pfande ;  sobald  Maximilian  irgend  eben 
Theil  der  osterreichischen  Provinzen  den  Feinden  entrissen  hatte, 
sollte  er  daselbst  als  Pfandbesitzer  alle  Rechte  eines  Lander 
fiirsten  ausiiben,  bis  er  voile  Entschadigung  erlangt  haben  wurde. 
Ausserdem  wurde  ihm  miindlich  die  Uebertragung  der  Kurwiirde 
auf  seine  Linie  versprochen^  sowie  jener  Theil  des  pfalzgraflichen 


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Gindely,  Geschichte  des  dreissigjahrigen  Krieges.  173 

Besitzes,  dessen  er  sich  im  Kriege  bemachtigen  wiirde.  Die  Bei- 
stimmung  Spaniens  zu  diesen  Entschadigungen  liess  Maximilian 
seit  dem  Marz  1620  durch  eineu  eigenen  Gesandten,  Dr.  Leuker, 
in  Madrid  betreiben.  So  war  gegen  alles  Recht  Wiirde  und 
Beaitz  des  Pfalzgrafen  vom  Kaiser  schon  unter  seine  Bundes- 
genossen  vertheilt,  bevor  iiberhaupt  gegen  ihn  vorgegangpn  oder 
die  Acht  ausgesprochen  war.  Der  Convent  der  katholischen 
Stande  zu  Wiirzburg  (December  1619)  bescbloss  nunmehr  zur 
Unterstutzung  des  Kaisers  eine  Armee  von  21000  Mann  zu  Fuss 
und  4000  Reitern  anzuwerben  und  den  Oberbefehl  an  Baiern  zu 
iibertragen. 

Auch  den  Papst  gelang  es  jetzt  zu  einer  ausgiebigeren 
Hilfeleistung  zu  bewegen.  Auf  dem  Stuhle  Petri  sass  der  geizige 
Paul  V.,  der  sich  anfangs  alien  Zahlungen  unter  dem  Vorwande 
entzogen  hatte,  dass  der  Streit  in  Bohmen  zwar  ein  habsbur- 
gisches,  aber  nicht  ein  vorzugsweise  kirchlicbes  Interesse  antaste, 
schliesslich  aber  noch  an  Matthias  und  spater  an  Ferdinand 
monatlich  10000  Gulden  Subsidien  zu  spenden  sich  bereit  er- 
kl&rte.  Auf  Drangen  Spaniens  und  Baierns  erhohete  er  Mitte 
November  1619  diese  Summe  auf  20000  Gulden  und  befahl  in 
Italien  zu  Gunsten  der  Ldga  einen  Zehent  zu  erheben.  Waren 
diese  Beitrage  im  Verhaltnis  zum  Schatze  der  Kirche  auch  nur 
massig,  so  verschafften  sie  schliesslich  dem  Kaiser  doch  den  Sieg, 
da  sein  Gegner,  der  Pfalzgraf,  allein  von  Holland  mit  Geld 
unterstiitzt  wurde.  Neben  der  papstlichen  Hilfe  fiel  auch  die 
Unteretutzung  des  Konigs  Sigismund  III.  von  Polen  bedeutend  in 
die  Wagschale,  da  er  wiederholt  Schwarme  von  mehreren  Tausend 
Kosaken  iiber  die  Karpathen  nach  Ungarn  einbrechen  liess.  Er 
war  sogar  geneigt,  die  Krafte  des  gesammten  Polens  mit  Beistim- 
mung  des  Reichstages  gegen  die  Bohmen  aufizubieten,  wofiir  ihm 
Ferdinand  seinerseits  den  Besitz  aller  Fiirstenthiimer  in  Schlesien 
anbot,  deren  Inhaber  wegen  Treubruchs  geachtet  werden  wiirden. 
Die  Moglichkeit,  dass  Schlesien  wieder  mit  Polen  vcreint  und 
dem  deutschen  Reiche  entfremdet  wiirde,  war  vom  „Mehrer  des 
Reichesu  ernstlich  ins  Auge  gefasst;  musste  er  doch  diese,  wie 
jede  Unterstutzung  seiner  glaubenseifrigen  Bundesgenossen  mit 
schweren  Opfern  bezahlen.  Die  Verhandlungen  wurden  jedoch 
unterbrochen,  weil  die  Polen  mittlerweile  von  einem  Angriffe  der 
Tiirken  bedroht  wurden,  durch  deren  Intervention  Schlesien 
glucklich  der  Krone  Bohmen  und  Deutschland  erhalten  blieb! 
Auch  auf  Savoyen,  so  sonderbar  es  scheinen  mag,  richtete  die 
Liga  ihre  Aufinerksamkeit,  da  der  Herzog  Karl  Emanuel  sich 
vollstandig  von  der  pfalzischen  Sache  abgewendet  hatte.  Dies^r 
^geriebene  Fuchs,  der  nie  ohne  eigenen  Vorteil  einen  Thaler 
ausgab",  hatte  seit  seinen  Niederlagen  bei  den  Wahlen  zu 
Frankfurt  und  Prag  jede  weitere  Unterstutzung  der  Bohmen 
eingestellt,  er  bot  En&e  1619  dem  Kaiser,  der  Wittwer  war,  die 
Band  seiner  Tochter  und  sich  selbst  mit  einem  schonen  Heere 
-als  General  in  dem  „gerechten  Kriege"  an.    Als  Lohn  erbat  er 


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274  Gindely,  Geschichto  des  dreissigjahrigen  Kriegea. 

sich  den  koniglichen  Titel  und  eine  Gebietserweiterung.  In 
Spanien  erfreute  sich  dieser  plotzliche  Diensteifer  keiner  beson- 
deren  Wiirdigung,  man  hielt  den  Herzog  jeder  Falschheit  fur 
fahig  und  wollte  nicbts  davon  wissen,  ihn  an  der  Spitze  eine8 
Heeres  zu  sehen,  und  in  Folge  dessen  lehnte  auch  der  Kaiser  in 
hoflich  kiihler  Weise  die  neue,  zudringliche  Freundschaft  ab.  Anf 
Spaniens  Drobungen,  und  da  auch  Frankreich  in  seiner  dem  Kaiser 
freundlichen  Stimmung  verharrte,  gieng  Karl  Emanuel  dennoch  zu 
Turin  am  5.  Mai  1620  einen  Vertrag  ein,  der  den  spanischen  Truppen 
den  Durohzug  aus  Italien  nach  Flandern  gestattete,  wies  aber 
dafiir  seinerseits  das  Gesuch  der  Liga  um  eine  Geldunterstutzung 
ohne  Umschweife  rund  von  der  Hand  und  entschloss  sich, 
an  dem  weiteren  Kampfe  vorlaufig  keinen  Anteil  zu  nehmen. 
Im  Monat  Marz  1620  kam  schliesslich  das  Meisterstuck  der 
kaiserlich-bairischen  Diplomatic  zu  Stande :  die  Anbahnung  eines 
Biindnisses  zwischen  dem  Kurfiirsten  von  Sachsen  und  der  Liga. 
Johann  Georg  empfend  die  Wahlsiege  des  PfaJzgrafen  als  eine 
personliche  Niederlage  und  dieser  Groll,  genahrt  durch  die 
giftigen  Einfliisterungen  des  im  kaiserlichen  Solde  stehenden 
Hofpredigers  Hoe  von  Hoenegg,  steigerte  sich  zum  Hasse,  als  der 
Herzog  von  Sachsen -Weimar  sich  mit  Friedrich  verband,  um 
nach  dem  Siege  der  Bohmen  die  Kurwiirde  der  alteren  Lanie 
wieder  heimzufordern.  Nachdem  ein  Convent  der  Liga  zu  Wurz- 
burg  (Febr.  1620)  dem  Fiirsten  versichert  hatte,  dass  den  Stan- 
den  des  niedersachsischen  Kreises  die  sacularisirten  Stifts-  und 
Klosterguter  nicht  entrissen  werden  sollten,  nahm  er  die  Ve^ 
handlungen  mit  dem  Kaiser  auf  und  war  bereit  eine  Fiirsten^ 
versammlung  der  kaiserlichen  Partei  zu  Miihlhausen  personlich 
zu  besuchen.  Die  Frage  nach  den  ehemaligen  Stiftern  und 
Klostern  im  sachsischen  Kreise  versprach  Ferdinand  daselbst  ent- 
scheiden  zu  lassen,  den  Majestatsbriei  wollte  er  gegen  jene  beob- 
achten,  die  sich  ihm  freiwillig  unterwerfen  wiirden.  Fiir  die  Kosten 
der  sachsischen  Hilfe  wurde  die  Ober-  und  Niederlausitz  verpfandet 
und  als  Preis  der  Treue  das  Fiirstenthum  Anhalt,  dessen  Be- 
sitzer  wegen  ihrer  Unterstiitzung  der  Bohmen  geachtet  werden 
sollten,  in  Aussicht  gestellt.  Nachdem  auf  diese  Bedingungen 
ein  Vertrag  zwischen  Johann  Georg  und  dem  Kaiser  abgeschlossen 
war,  begab  sich  der  erstere  nach  Miihlhausen,  wo  ausser  ihm 
die  Kurfiirsten  von  Mainz  und  Koln  und  der  Landgraf  Ludwig 
von  Hessen  in  Person  eintrafen,  wahrend  Ferdinand  und  Maxi- 
milian von  Baiern  durch  Gesandte  vertreten  wurden.  Johann 
Georg  und  sein  Hofprediger  traten  hier  in  einer  Weise  katholi- 
sirend  auf,  dass  der  Kurfurst  von  Koln  sie  der  ganzen  Liebe 
aller  Papisten  versicherte:  „sie  schatzten  sie  wie  das  eigene 
Fleisch  und  Blutlu  Alle  Abmahnungsversuche  seitens  des  Land- 
grafen  Moriz  von  Hessen  sowie  des  Konigs  von  Danemark  wurden 
von  Johann  Georg  grob  zurtickgewiesen.  In  der  Stifterfrage 
begniigte  sich  derselbe  sogar  mit  geringerem  als  selbst  Maxi- 
milian zuzugeben  entschlossen  war:  die  niedersachsischen  Stande 

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Gindely,  Geschichte  des  dreiasigjahrigen  Krieges.  175 

sollten  nicht  mit  Waffengewalt  aus  den  sacularisirten  Giitern 
yerdrangt  werden,  so  lange  sie  im  Lutherthum  und  dcr  Treue 
gegen  den  Kaiser  verharrten  und  nicht  Anspriiche  auf  Sitz  und 
Stimme  im  Reichstage  erheben  wiirden.  Ausserdem  reservirten 
sich  die  geistlichen  Kurfiirsten  das  Klagerecht  auf  Riickgabo  in 
alien  einzelnen  Fallen.  Am  21.  Marz  1620  wurde  eine  Bundes- 
urkunde  znr  Unterstiitzung  des  Kaisers  unterzeichnet,  selbst  der 
Erzherzog  Albrecht  und  Spinola  wollten  dieser  Nachricht  anfangs 
nicht  Glauben  schenken!  Der  Gedanke,  schon  jetzt  die  Acht 
iiber  den  Pfalzgrafen  trotz  der  Wahlkapitulation  zu  verhangen, 
stiess  jedoch  bei  den  Fiirsten  des  Miihlhauser  Conventes  auf 
Widerspruch,  nur  Maximilian  rieth  dem  Kaiser  diese  Massregel 
an,  da  er  ja  nur  so  in.  den  Besitz  des  versprochenen  Kurhutes 
gelangen  konnte.  Besonders  war  es  Johann  Georg,  der  aufs 
bestimmteste  verlangte,  dass  sich  der  Kaiser  mit  der  blossen 
Androhung  der  Acht  begniige  und  sie  erst  dann  verhange,  wenn  er 
hiezu  auch  die  Zustimmung  Brandenburgs  erhalten  hatte.  Um 
ihn  nicht  in  das  feindliche  Lager  hiniiberzutreiben,  verschob  man 
die  Achtserklarung,  bis  der  Kampf  in  Bohmen  einen  gliicklichen 
Ausgang  genommen  haben  wurde.  Ferdinand  betrachtete  mit- 
hin  das  Verfahren  als  eine  rein  politische  Massregel;  von  einem 
Einschreiten  der  Reichsgerichte ,  von  einem  Processverfahren 
gegen  den  aufstandischen  Vasallen,  das  mit  Notwendigkeit  er- 
folgen  musste,  war  nicht  die  Rede.  Das  Ganze  war  ein  heuch- 
lerisches  Spiel  mit  den  abgestorbenen  Formen  des  in  der  Auf- 
losung  begriffenen  Heil.  Rom.  Reiches.  Mit  dem  Abschluss  dieser 
sich  zu  Gunsten  des  Kaisers  entwickelnden  Alliancen  schliesst 
der  zweite  Band  der  Gindely'schen  Publikation. 

Band  III.  beginnt  mit  einer  Darstellung  des  franzosischen 
Vermittlungsversuches  und  des  Ulmer  Vertrages.  Frankreich 
vervollstandigte  den  katholischen  Bund,  der  sich  gegen  die  pro- 
testantischen  Angriffe  in  Bohmen  gebildet  hatte,  und  trug  indirect 
das  Seinige  zur  Niederlage  des  Pfalzgrafen  bei.  Der  gesammte 
gallische  Clerus,  mit  dem  Nuntius  und  den  Jesuiten  an  der 
Spitze,  vertrat  energisch  die  Sache  der  in  Bohmen  gefahrdeten 
Krche,  und  da  Jacob  von  England  die  ihm  fur  den  Prinzen  von 
Wales  angebotene  Hand  der  Prinzessin  Henriette  kiihl  zuriick- 
wies,  so  entband  er  damit  auch  die  franzosischen  Staatsmanner 
der  Rucksichtnahme  auf  seinen  Schwiegersohn  und  fdrderte  den 
Gedanken  der  Neutralitat  bei  denselben,  ja  Ludwig  XIIL,  durch 
seinen  jesuitischen  Beichtvater  bearbeitet,  dachte  sogar  um  Weih- 
nachten  1619  an  eine  Unterstiitzung  Ferdinands  durch  franzosische 
Truppen,  ein  Gedanke,  welcher  freilich  den  alten  Traditionen 
der  franzosischen  Politik  zu  sehr  widersprach,  um  nicht  bald 
darauf  wieder  aufgegeben  zu  werden.  Auf  Grand  eines  Memoires 
des  Ministers  Jeannin  wurde  darauf  die  Abordnung  einer  Gesandt- 
schaft  nach  Deutschland  beschlossen,  an  deren  Spitze  der  Herzog 
von  Angoul&ne  und  die  Grafen  von  Bethune  und  Preaux  traten. 
Die  auf  diese   diplomatische   Sendung  beziiglichen   Actenstiicke 


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176  Gindoly,  Geschickte  dea  dreissigjahrigen  Kriegee. 

von  Wichtigkeit  aind  schon  in  der  „L'amba8sade  £ran$aise  extra- 
ordinaire" veroffentlicht  worden,  wie  auch  die  Thatigkeit  der 
Unionsgesajidten  in  Paris  durch  Kriiner  in  seinem  „ Johann  ?on 
Busdorf "  ihre  Wiirdigung  fand.  AngoulSme  sollte  mit  den  ein- 
zelnen  katholischen  und  protestantischen  Fiirsten  Deutschlands 
in  Verhandlung  treten,  sie  zum  Frieden  inahnen  und  einen  all- 
gemeinen  Waffenstillstand  vorschlagen.  Man  wollte  den  Kaiser 
stutzen,  aber  den  Pfalzgrafen  in  der  bohmischen  Frage  nicht 
ganz  zu  Grunde  gehen  lassen.  Die  Union  hatte  zu  derselben  Zeit 
Schritt  fiir  Schritt  ihre  Angriffsplane  fahren  lassen  und  war  all- 
malig  in  eine  immer  klagUchere  Haltung  hineingeraten.  Der 
Markgraf  von  Baden  hatte  am  Bhein  bei  Breisach  Wache  ge- 
halten,  urn  den  katholischen  Heeren  den  Zuzug  aus  dem  Westen 
zu  verwehren.  Auf  Ferdinands  Forderung  gestattete  er  anfangs 
dem  Nachschube  zum  kaiserlichen  Heere  den  freien  Durchzug 
und  darauf  den  Ligisten  ebenfalls,  weil  dieselben  nach  der  Er- 
klarung  des  Kaisers  als  in  seinem  Dienst  befindlich  anzusehen 
seien.  Da  es  nun  nichts  mehr  zu  bewachen  gab,  vereinte  er 
sich  mit  den  iibrigen  Streitkraften  bei  Ulm  in  einem  Lager. 
Dem  Unionsheere  von  13  000  Mann  standen  24000  Ligisten  in 
unmittelbarer  Nahe  bei  Lauingen  und  Giinzburg  gegenuber, 
wahrend  in  Ulm  selbst  eine  Versammlung  des  evangelischeD 
Bundes  tagte.  Dennoch  kam  es  zu  keinen  Feindseligkeiten,  viel- 
mehr  gelang  der.  franzosischen  Gesandtschaft  (Juli  1620)  die 
Vermittlung  eines  Vertrages,  in  dem  beide  Parteien  die  Ver- 
sicherung  abgaben,  mit  einander  in  Frieden  leben  zu  wollen. 
Die  Liga  verpflichtete  sich,  die  Erblander  des  Pfalzgrafen  mit 
jedem  Angriffe  zu  verschonen,  nur  Bohmen  wurde  ausdrucklich 
au8genommen.  Des  Erzherzoges  Albrecht  geschah  jedoch  in  dem 
Vertrage  keine  Erwahnung,  ihm  blieb  es  mithin  freigestellt,  die 
unter  Spinola  vereinte  spanische  Truppenmacht  nach  Bohmen 
oder  nach  der  Pfalz  marschiren  zu  lassen.  Als  der  Vertrag  & 
Prag  bekannt  wurde,  geriet  Elisabeth  Stuart  in  vollige  Ver- 
zweiflung,  weinte  und  raufte  sich  die  Haare  aus!  1m  Lager  zu 
I^tuingen  empfieng  der  Herzog  von  Baiern  die  franzosische  Ge- 
sandtschaft  in  schmeichelhafter  Weise,  in  Wien  wurde  ihr  vom  Kaiser 
ein  wahrhaft  prachtiger  Emp&ng  bereitet.  Ihre  diplomatischen 
Erfolge  waren  dort  urn  so  geringer,  man  lehnte  jede  Vermitte- 
lung  kaiserlicherseits  ab  und  erwartete  allein  von  den  Waffen 
eine  giinstige  Entscheidung.  In  ihrem  Berichte  schoben  sie  dk 
Schuld  ihres  Misserfolges  auf  Onate,  der  sich  bei  der  Auszahlung 
der  Subsidien  durch  eine  Miinzoperation  bereicherte,  indem  er 
das  spanische  Geld  in  osterreichisches  von  leichterer  Wahrung 
umpragen  liess  und  die  Differenz  in  seine  Tasche  steckte.  War 
diese  Beschuldigung  auch  begriindet,  so  lag  andrerseits  der 
Krieg  allein  im  wahren  Interesse  des  Hauses  Hahsburg  I 

In  England  hielt  Parlament  und  Volk  dafiir,  dass  die  Sadtf 
Friedrichs  mit  der  des  Evangeliums  auf  das  innigste  verkniipft 
sei,  und  war  zu  jedem  Opfer  bereit,   dennoch  gelang  es  selW 

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Gindoly,  Geschichte  dcs  dreissigj&hrigen  Krieges.  177 

den  Bemiihungen  des  hollandischen  Gesandten  Noel  de  Caron 
nicht,  die  unfreundliche  Stimmung  Jacobs  gegen  seinen  Schwieger- 
sohn  zu  andern.  In  den  ersten  Tagen  des  Jahres  1620  erklarte 
er  dem  spanischen  Gesandten,  „wie  auf  der  einen  Seite  seine 
Kinder  und  Verwandten  in  ihn  drangen,  sich  fur  Friedrich  zu 
erklaren,  wie  aber  auf  der  andern  Seite  dieWahrheit  und 
die  Freundschaft  mit  dem  Konige  von  Spanien  und  dem 
Hatise  Oesterreich  stehe  'und  ihn  von  diesem  Schritte  zuriick- 
balteu.  Den  Titel  eines  bohmischen  Konigs  verweigerte  er  auch 
ferner  seinem  Schwiegersohne ,  nur  mit  Miihe  war  er  dazu 
zu  bewegen,  zur  Vertheidigung  der  Pfalz  in  England  eine 
Werbung  von  2000  Mann  unter  John  Gray  zu  gestatten 
und  bei  seinem  Schwager,  dem  Konige  von  Danemark,  ein  Dar- 
lehen  fiir  Friedrich  zu  befiirworten.  Dies  Gebahren  Jacobs 
ichien  selbst  dem  Konige  von  Spanien  unglaublich:  er  schickte 
deshalb  den  Grafen  Gondomar  nach  London,  einen  der  bedeu- 
tendsten  Diplomaten  seines  Jahrhunderts,  der  sich  seit  36  Jahren 
im  Dienste  Spaniens  bewahrt  hatte.  Diesem  gelang  es,  den 
Konig  und  seinen  Giinstling  Buckingham  vollstandig  zu  umgarnen. 
Jacob  erklarte  ihm,  er  sei  von  Verrathern  umgeben,  den  Katho- 
liken  in  England  geschahe  Unrecht,  der  Erzbischof  Abbot  sei  ein 
gottloser  Puritaner,  der  Pfalzgraf  ein  Usurpator,  doch  weder  er 
noch  die  Unionsfursten  wiirden  etwas  von  ihm  erlangen.  Ja 
der  verblendete  Monarch  war,  wahrend  es  sich  um  Friedrichs 
Existenz  handelte  und  die  Niederlande  mit  englischer  Unter- 
8tiitzung  die  Niederpfalz  zu  schiitzen  bereit  waren,  so  gemein 
und  niedertrachtig,  sich  in  eine  Intrigue  gegen  diesen  Staat  ein- 
zulassen.  Im  Verein  mit  Philipp  IIL  von  Spanien  wollte  er  die 
Republik  niederwerfen.  Die  Grafschaften  Holland  und  Seeland 
sofiten  englische,  der  Rest  sollte  spanische  Provinz  werden. 
Allerdings  blieb  dieses  Project,  wie  sammtliche  Plane  Jacob  V., 
leeres  Geschwatz  und  wurde  auch  als  solches  von  dem  Erzherzog 
Albrecht  in  Briissel  behandelt,  sobald  ihm  Philipp  HI.  Eroff- 
nungen  daruber  machte. 

Trotzdem  im  Januar  1620  die  niederosterreichischen  Stiinde 
beschlossen,  die  kaiserlichen  Truppen  als  Feinde  anzusehen,  und 
ihre  Regimenter  mit  den  Bohmen  vereinten,  so  mussten  sich  die 
letzteren  dennoch,  durch  Hunger  und  Krankheiten  decimirt,  von 
Wien  nach  Norden  zuruckziehen,  fortwahrend  von  Buquoy  be- 
drangt.  Dampierre  riistete  in  derselben  Zeit  einen  Einfall  nach 
Mahren,  sodass  die  Stande  dieser  Provinz  ihre  Truppen  in  die 
Heimat  abriefen,  wahrend  zu  derselben  Zeit  22  Fahnloin  von  dem 
in  Passau  stationirten  italienischen  Volke  unter  Marradas  in 
Bohmen  vordrangen  und  die  Besatzung  von  Budweis  verstarkten. 
Bei  Langenlois  kam  es  zwischen  den  Kaiserlichen  unter  Buquoy 
und  den  vereinten  Oesterreichern  und  Bohmen,  deren  Befehls- 
haber  sich  wieder  einmal  zu  Prag  aufhielten,  zu  einem  fiir  die 
letzteren  ungiinstigen  Gefecht.  Die  Prager  Regierung  geriet  in 
die  grosste  Bestiirzung  und  bot  den  zwanzigsten  Mann  auf,  aber 

Mitthelluiigen  a.  d.  hlstor.  Littcratur.    VII.  12 

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178  Gindely,  GeBchichte  dea  dreissigjahrigen  Krieges. 

selbst  vierzehn   Tage   nach    der  Veroffentlichung  des  Patentes 

hatte  sich   auf  den   Sammelplatzen   noch   niemand  eingefunden. 

Die    beste   Hilfe   in   dieser    Noth   war  die    unertragliche  Lang- 

samkeit  des  kaiserlichen  Feldherrn,  der  nie  einen  Schlag  wagen 

wollte,  ah  wenn  er   „den    Feind   im   Sacke    halte",   obwol  sein 

Heer    darch    den    Anschluss    Dampierre's    und    der    polnischen 

Kosaken    bedeutend    verstarkt   war.     Jetzt    hatte    sich   endlicb 

Anhalt  nach  semen  diplomatischen  Irrfahrten  bei  der  bohmischen 

Armee  eingefunden  und  das  Kommando  iibernommen.     Ihm  ge- 

lang  es  durch  eine  Reihe  kleinerer  Gefechte  bei  Meissau  (10.— 12. 

Marz  1620)  die  Kaiserlichen  nach  Erems  zuriickzudrangen,  aber 

ein  weiteres  Vordringen  wurde  durch  die    totale   Verodung  Ton 

Niederosterreich,  das  fast  in   eine  Wiiste  verwandelt  war,  ver- 

hindert.    Kosaken  und  Wallonen   ascherten   mutwillig  die  Ort- 

schaften  ein,  beraiibten  ohne  Unterschied  der  Confession,  schan- 

deten    Knaben    und    Madchen    bis    zum    Tode    und    veriibten 

unmenschliche  Grausamkeiten,  um  Geld  zu  erpressen.    Selbst  d6r 

Abt  yon  Molk  fiihrte  beim   Kaiser   iiber   Buquoy's  Soldaten  die 

bittersten  Klagen.     In  ahnlicher  Weise  wiitheten  die  bohprischen 

Soldaten    auf    lutherischen    Giitern   und   den   bohmenfreundlich 

gesinnten  Edelleuten  gehorigen   Besitzungen  und,   anstatt  Zeuge 

alles  dieses  Elendes  zu  sein  oder  mit  den  Soldaten  die  Unbilden 

des  Krieges   zu   tragen,   feierte   der   Winterkonig   zu   Prag  mit 

verschwenderischer    Pracht    die    Taufe    des    Prinzen    Ruprecht 

(Marz  1620)  und   liess   seinen   altesten   Sohn   zu  seinem  Nach- 

folger  in  Bohmen   erwahlen.     Die   kriegerischen   Ereignisse  bis 

zum  Einmar8che  der  ligistischen  Truppen  in  Oesterreich,  Mans- 

felds  Thatigkeit  nach  dem  Gefecht  bei  Gars  und  die  stets  wach- 

sende  Demoralisation  des  bohmischen   Heeres   schildert   Gindely 

im  wesentlichen  auf  Grund  der,  schon  von  Miiller  Yeroffentlichten 

Schreiben    des   sachsischen   Agenten   Lebzelter,    des   Tagebuchs 

Anhalts  und  der  Acta  bohemica,  ohne  hier  neue  Thatsachen  von 

Wichtigkeit   beizubringen.     Mansfelds    Berichte,    der    in  seiner 

Apologie    dieselben    Zeiten    behufe    seiner    Rechtfertigung  dar- 

gestellt    hat,     werden     zum    Schaden    der    Darstellung   nicht 

beriicksichtigt.     Dagegen   sind   die   socialen   Zustande   des  ver- 

kommenden    Bohmenvolkes  vom  Verfasser  mit  Recht  als  Haupt- 

grund   fur    die    Niederlage    der    protestantischen    Sache  hinge- 

stellt:    im   Sommer   1620   emporten    sich    die   durch    die  Hab- 

gier  des  Adels  und  die  Pliinderungen  der  Soldaten  zur  Verzwoif- 

lung  getriebenen  Bauern  und  forderten  die  Aufhebung  der  Leib- 

eigenschaft,  welche  ihnen   selbst   der   Kaiser   yersprochen  habe, 

wenn  sie  sich  fiir  ihn  erklaren  wiirden.     Trotz  der  verzweifelten 

Lage  des  Winterkonigs  wurde   ihren   Bitten  nicht   entsprochen, 

nur  in    dem   Mangel   an   Nahrungsmitteln  ist   die   Ursache  der 

Auflo8ung  der  aufetandischen  Bauernhaufen  zu  finden. 

Von  hohem  Interesse  sind  die  Nachrichten,  welche  der  Ve^ 
falser  iiber  den  ungarischen  Reichstag  zu  Neusohl  (Juni — August 
1620),  auf  Grund   vieler  unbekannter   Aktenstiicke   des  Wiener 

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Gimlely,  Geechichto  des  dreissigjahrigen  Kriegee.  179 

Kuttenberger  und  Miinchener  Archivs  beibringt.  Die  Vorgange 
auf  dieser  Versammlung  mahnen  in  ihrer  Formlosigkeit  und  in 
der  Behandlung  inissliebiger  Gegner  mehr  an  den  Orient  als  an 
den  Occident,  trotzdem  der  Reichstag  einer  der  glanzendsten 
war,  der  seit  einem  Jahrhundert  in  Ungarn  stattgefunden  hatte. 
Neben  den  Gesandtschaften  des  Kaisers,  der  Polen,  Bohmen, 
Oesterreicher  und  Unionsfiirsten  fanden  sich  gegen  10000  Personen 
aus  Ungarn  unter  verschiedenen  Titeln  ein.  Da  die  Abgeordneten 
Ferdinands  mit  ihren  Vorschlagen  nicht  durchdringen  konnten, 
8chlossen  sie  ihre  Thatigkeit  durch  Abgabe  eines  feierlichen 
Protestes  (17.  August  1620)  und  reisten  ab.  Wenige  Tage  dar- 
auf  wurde  ihr  Herr  fiir  abgesetzt  erklart  und  Bethlen  zum 
Konige  proclamirt,  welcher  jedoch  kliiglicher  Weise  die  Kronung 
noch  unterliess.  Siebenbiirgen  wurde  in  das  ungarisch-bohmische 
Biindnis  aufgenommen  und  seine  Verpflichtung  fur  den  Kriegs- 
fall  auf  25000  Mann  bestiinmt.  Den  Katholiken  wurden  nur 
drei  Bischofe  zugestanden,  mit  einem  Gehalt  von  2000  Gulden, 
das  gesammto  iibrige  Vermogen  der  Kirche  wurde  confiscirt. 
Mit  Widerstreben  ging  Bethlen  auch  daran,  die  Tiirken  um 
ihre  Unterstiitzung  zu  ersuchen,  deren  Neutralitat  dem  Kaiser 
den  grossten  Nutzen  brachte.  Schon  Matthias  hatte  den  Frei- 
herrn  Ludwig  von  Mollart  als  Gesandten  an  den  Hof  von 
Stambul  geschickt,  einen  Diplomaten,  der  sich  in  der  schwie- 
rigsten  Lage  eine  ehrenvolle  Stellung  bei  der  Pforte  zu  schaffen 
wttsste.  Als  die  bohmischon  und  ungarischen  Gesandten  am 
Bosporus  eintrafen,  war  der  Freiherr  seit  sieben  Monaten  ohne 
Ziischrift  aus  Wien,  seine  Geldmittel  waren  dem  tiirkischen  Heiss- 
hunger  langst  zum  Opfer  ge fallen:  er  musste  auf  Borg  leben, 
sodass  seine  elende  Lage  jedes  Vergleichs  spottete.  Die  glan- 
zenden  Geschenke,  welche  seine  Gegner  spendeten  —  ihr  Werth 
belief  sich  auf  70000  Gulden  —  drangten  ihn  bald  in  den 
Schatten.  Ein  Vertrag  wurde  zwischen  der  Pforte  und  den  ver- 
bundeten  Landern  abgeschlossen :  Siebenbiirgen  sollte  in  alter 
Weise  dem  Sultan  tributpflichtig  bleiben,  von  Ungarn  und  den 
iibrigen  Landern  beanspruchte  der  Sultan  nur  alle  fiinf  Jahre 
Geschenke,  wdie  seiner  wiirdig  seien",  dafiir  erkannte  er  Bethlen 
als  Konig  von  Ungarn  an  und  versprach  bewaffnete  Hilfe.  Am 
27.  November  waren  die  Gesandten  in  Konstantinopel  eingetroffen, 
sie  ahnten  nicht,  dass  bereits  seit  19  Tagen  am  weissen  Berge  die  Ent- 
8cheidung  oingetreten  und  die  mit  so  grossen  Schwierigkoiten  Air  die 
Reise  herbeigeschafften  Geldsummen  nutzlos  vergeudet  seien. 

Zu  derselben  Zeit  giengen  die  Ausgleichsverhandlungen 
zwischen  den  Standen  von  Oesterreich  ob  und  unter  der  Ens 
und  dem  Kaiser  ihren  Gang,  da  letzterer  nach  der  Einigusg 
mit  dem  Erzherzog  Albrecht  (8.  Okt.  1619)  jetzt  die  Huldigung 
der  abgetretenen  Erzherzogtiimer  fiir  sich  selbst  verlangte. 
Deputationen  beider  Standeversammlungen  verweilten  in  Wien 
und  stellten  Forderungen  an  Ferdinand,  welche  nicht  nur  das 
Uebergewicht  des  Protestantismus  fiir  alle  Zeiten  sicher  gestellt, 

12* 

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180  Gindely,  Geschichte  dea  dreisaigjahrigen  Kriogea. 

sondern  ein  vollkommen  aristokratisches  Regiment  fest  begrun- 
det  hatten.  War  doch  schon  davon  die  Rede,  das  Recht  der 
Bundnisse  mit  fremden  Fiirsten,  welcher  die  deutschen  Reichsstande 
erst  im  westfalischen  Frieden  erlangten,  fur  die  Vertretung  dea 
osterreichischen  Adels  zu  fordern.  Der  Kaiser  sollte  sein  Kriegs- 
volk  entlassen,  die  neuen  Verhaltnisse  in  Ungarn  und  Bohmen 
anerkennen  und  die  zwischen  den  Oesterreichern  und  Bohmen 
im  August  1619  abgeschlossene  „  Confederation"  gutheissen,  er 
sollte  also  bewilligen,  dass  seine  Unterthanen  mit  einem  ihm 
feindlichen  Volke  ein  Bundnis  abschlossen,  das  sich  auf  die 
inneren  Angelegenheiten  seines  Reiches  bezog.  Nie  und  nimmer 
konnte  man  in  Wien  solche  Forderungen  zugestehen!  Da  mao 
iiberdies  seit  dem  Monat  Mai  1620  mit  Sicherheit  auf  das  bal- 
dige  Eingreifen  der  ligistischen  und  spanischen  Armee  rechnen 
konnte,  so  wurden  die  standischen  Anspriiche  unberiicksicbtigt  ge- 
lassen  und  wiederholt  Termine  zur  Leistung  der  Huldigung  anbe- 
raumt  (8.  April,  1.  Juni,  9.  Juni,  13.  Juli  1620),  freilich  ohne  da» 
dadurch  etwas  fur  Ferdinand  erreicht  wurde.  Derselbe  fiihlte 
sich  in  erster  Linie  in  seinem  Gewissen  beschwert,  weil  die 
Protestanten  die  Religionsfreiheit  in  dem  Masse  forderten,  wie 
sie  solche  unter  Matthias  besessen  hatten.  Die  Mehrzahl  der 
Rathe  warnte,  die  Stande  in  kirchlicher  Beziehung  zu  bedrangen, 
doch  ihr  Herr  erklarte,  „er  wolle  lieber  seine  Lander  und  Leute, 
ja  sein  eigenes  Leben  verlieren,  als  im  geringsten  wider  Gott 
handelnu,  und  holte  die  Meinung  der  Jesuiten  ein,  welche  ihrer- 
seits  mit  grosser  Klugheit  den  Verhaltnissen  Rechnung  trugea 
und  die  Gewahrung  der  hergebrachten  Religionsfreiheit  empfahleiL 
Das  energische  Vorgehen  der  oberosterreichischen  Stande  iiber- 
hob  bald  darauf  den  Kaiser  aller  religiosen  ZweifeL  Sie  er- 
klarten  Ferdinand  fiir  abgesetzt  und  wahlten  Friedrich  von  der 
Pfalz  zu  ihrem  Schutzherrn,  wahrend  die  niederosterreichischen 
Stande  am  13.  Juli  1620  dem  Kaiser  die  Huldigung  leisteten. 

Im  Juli  1620  betrat  endlich  die  Liga  den  Kampfplatz  fiir 
den  Kaiser  und  bald  darauf  folgte  Spanien  und  Sachsen  ihrem 
Beispiel.  Nachdem  Maximilian  yon  Baiern  sich  mit  Johann 
Georg  iiber  den  AngrifF  auf  Bohmen  dahin  verstandigt,  dass  der- 
selbe die  Lausitz  besetzen,  er  selbst  aber  nach  Oberosterreich 
einfallen  sollte,  wurde  am  27.  Juli  die  Grenze  iiberschritten  und 
schon  am  4.  August  nach  kurzem  Widerstande  Linz  besetzt 
Die  Einzelheiten  des  bairischen  Feldzuges  sind  schon  damals 
durch  officieUe  Schriften  der  Zeit  selbst,  sowie  in  unsern  Tagen 
durch  Miiller's  und  Schreiber's  Veroflfentlichungen  genugend  dar- 
gestellt,  sodass  Gindely  nicht  viel  des  neuen  beibringen  kann. 
Bezeichnend  ist  vor  alien  Dingen  das  Auftreten  des  tappischen 
Ferdinand,  der  unthatig  in  Wien  sitzend  schbn  nach  dem  ersten 
Erfolge  seinen  Vetter  ai^forderte,  „die  Pradicanten  sammt  der  ver- 
dammten  Ketzerei  aus  Oberosterreich  abzuschaffen".  Vor  der  Zeit 
hatte  ein  solches  unkluges  Gebahren  die  wahren  Ziele  seiner  Politik 
enthullt  und  allerorten  den  Widerstand  im  Reiche  wie  in  den  Erb- 


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Gindely,  Geschickte  des  dreissigj&hrigen  Krieges.  181 

landern  gestarkt.  Aus  diesen  Griinden  gieng  der  verschlagene 
Baiernherzog  auf  die  gewaltthatigen  Plane  Ferdinands  nicht  ein, 
sondern  trug  die  grosste  Milde  zur  Schau,  jesuitisch  zweideutig 
das  beste  hoffen  lassend,  ohne  ein  bindendes  Versprechen  wegen 
der  kiinftigen  Neuordnung  der  Dinge  abzugeben. 

Es  ist  selbstverstandlich,  dass  bei  dieser  Lage  der  Dinge 
die  Bemiihungen  Frankreichs  und  Englands  urn  einen  Ausgleich  der 
streitenden  Machte  vergeblich  waren  und  besonders  an  den  Kaiser 
tmd  den  ligistischen  Fiirsten  scheiterten,  welche  ihren  Sieg  griind- 
lich  auskaufen  wollten.  Die  Gesandten  Conway  und  Weston 
suchten  das  Vorriicken  der  Spanier  am  Hofe  zu  Brussel  zu  ver- 
hindern:  man  hielt  sie  mit  Versprechungen  hin,  bis  Spinola  in 
die  Niederpfolz  eingefallen  war,  ja  missbrauchte  sogar  ihre  Ver- 
trauensseligkeit,  urn  das  Unionsheer  zur  Unthatigkeit  zu  vermogen, 
sodass  der  spanische  Feldherr  unangefochten  bei  Mainz  den  Rhein 
iiberschroiten  konnte.  In  Dresden  trieb  man  die  Missachtung 
gegen  Jacob  sogar  soweit,  die  Koffer  seiner  Abgeordneten  zu 
durchsuchen,  weil  man  vermuthete,  dass  sie  Hilfegelder  fiir  den 
Winterkonig  mit  sich  nach  Prag  fuhrten.  Henry  Wotton,  der 
zugleich  mit  der  franzosischen  Gesandtschaft  in  Wien  fiir  den 
Frieden  arbeitete,  hatte  ebensowenig  Erfolge  aufzuweisen,  wie 
seine  Collegen  in  den  Niederlanden.  Ferdinand  liess  es  sich  nur 
gefallen,  dass  der  Herzog  yon  Angoul^me  im  Namen  Ludwig  XIII. 
fur  ihn  mit  Bethlen  Gabor  unterhandele,  in  der  stillen  Hoffnung, 
denselben  von  den  Bobmen  zu  trennen.  Der  Siebenbtirger  Fiirst 
hatte  inzwiscben  ganz  Ungarn  bis  auf  Raab  tmd  Komorn  er- 
obert  und  Dampierre  war  vor  Pressburg  gefallen  (9.  Oct.  1620). 
Beide  Parteien  meinten  es  mit  ihren  Friedensverhandlungen  nicht 
ehrlich.  Bezeichnend  war  die  erste  Zusammenkunft  Bethlen 
Gabors  mit  den  Franzosen.  Als  sie  um  eine  Audienz  am  Tage 
nach  ihrer  Ankunft  in  Pressburg  baten,  wurde  dieselbe  bis  auf 
den  folgenden  Tag  verschoben,  weil  der  Fiirst  „bereits  zuviel 
getrunken  habe".  Dem  Wiener  Hofe  brachte  man  Verachtung 
und  Misstrauen  entgegen.  „Der  Kaiser  sei  ein  guter  Mann,  aber 
er  sei  unterthan  den  spanischen  Rathschlagen,  die  auf  die  Unter- 
druckung  yon  ganz  Europa  hinausgiengen.  Alle  Verhandlungen,  die 
von  Wien  aus  gefuhrt  wiirden,  seien  auf  Tauschung  berechnet." 
Bethlen  trennte  sein  Geschick  nicht  yon  dem  der  Bohmen  und 
beeilte  sich,  seinen  Freunden  8000  Reiter  zu  Hilfe  zu  schicken. 
Auch  in  Prag  gelang  es  Conway  und  Weston  zu  derselben  Zeit 
nicht,  Friedrich  zu  Concessionen  zu  bewegen.  Trotzdem  sich 
die  Erbiinnlichkeit  Jacobs  von  England  von  Tag  zu  Tag  mehr 
offenbarte,  hielt  der  Winterkonig  an  der  bohmischen  Krone  fest 
und  wollte  hochstens  darein  willigen,  dass  der  Kaiser  den  Titel 
eines  Konigs  von  Bohmen  fuhro  und  eine  Jahrespension  crhalte. 
Die  Prager  Schlacht  machte  hier  der  Thatigkeit  der  englischen 
Gesandtschaft  ein  Ende. 

Der  verhaltnismassig  schwachste  Theil  des  Gindely'schen 
Werkes  ist   die   Schilderung   des   bohmischen   Krieges   bis   zur 

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182  Gindely,  Geschichte  des  droissigjfthrigen  Krieges. 

Prager  Schlacht.  Als  Hauptquellen  werden  hior  das  bekannte  Diur- 
nale  Maximilians  von  Baiern,  Buquoy's  iter  quadrimestre,  Avisen  aus 
Prag  und  anderes  der  Darstellung  zu  Grande  gelegt,  Lebzelters  an- 
ziehende,  fiir  den  Dresdener  Hof  bestimmte  Berichte  schliessen 
mit  dem  Einriicken  der  Baiern  nach  Bohmen,  weil  ihr  Verfasser 
aus  Prag  fliichten  musste.  Mansfelds  apologetische  Schriften, 
welche  grade  fur  diesen  Zeitraum  sehr  wichtig  sind,  werden 
leider  nicht  benutzt,  weshalb  die  Thatigkeit  dieses  nicht  unbe- 
deutenden  Feldherrn  in  durchaus  falschem  Lichte  erscheint 
Derselbe  dachte  trotz  alien  glanzendsten  Versprechungen  nicht 
daran,  zu  den  Eaiserlichen  iiberzugehen!  Allein  um  sich  ii 
Pilsen  halten  zu  konnen,  verhandelte  er  iiber  einen  Uebertriil 
zur  katholischen  Partei.  Er  wunschte  auf  diese  Art  den  ent- 
8eheidenden  Schlag  hinauszuschieben ,  und  ware  die  Prager 
Schlacht  in  Wirklichkeit  vermieden,  so  hatte  der  rauhe  Winter 
die  heruntergekommene  Armee  des  Kaisers  wahrscheinlich  ganz- 
lich  aufgelost.  In  der  Umgebung  Maximilians,  wie  in  Prag  hielt 
man  tibrigens  Mansfelds  Erbietungen  fiir  ehrlich,  denn  an  beiden 
Orten  wusste  man,  wie  niedertrachtig  der  Bastard  von  der 
tschechischen  Aristokratie  behandelt  war,  und  traute  aus  diesem 
Grunde  ihm  alles  erdenkliche  zu.  Der  Graf  Thurn  allein, 
Mansfelds  ehemaliger  Bival,  wollte  von  einem  Verrathe  desselben 
an  der  Sache  des  Protestantismus  nichts  wissen  und  nahm  sict 
seiner  aufs  warmste  an.  Die  Verhandlungen  selbst  erzahlt  die 
„apologie  pour  Ernest  comte  de  Mansfeld"  unter  Einlegung  der 
darauf  beziiglichen  Actenstiicke  ausfuhrlich.  Von  Bedeutung  sind 
die  Nachrichten,  welche  Gindely  aus  einigen  privaten  Schreiben 
iiber  den  Zustand  der  feindlichen  Heere  schopft.  Beide  Armeen 
wiitheten  in  der  entsetzlichsten  Weise,  indem  sie,  ohne  einen 
Unterschied  der  Confession  zu  machen,  raubten,  mordeten,  die 
Weiber  entfiihrten  und  Barchen  und  Kloster  pliinderten.  Es  kam 
sogar  soweit,  dass  die  Truppen  Buquoy's  Proviantziige  der  ver- 
biindeten  Baiern  iiberfielen.  In  der  Nahe  des  Kriegsschauplatxes 
waren  die  Ortschaften  wie  mit  dem  Besen  weggefegt,  da  selbst 
die  Dacher  und  das  Fachwerk  der  Hauser  als  Brennmaterial 
verwerthet  wurden.  Bei  der  Schilderung  der  Schlacht  am  weissen 
Berge  hatte  sich  Gindely  manche  Untersuchung  ersparen  konnen, 
wenn  ihm  BrendePs  fleissige  Arbeit  (Die  Schlacht  am  weissen 
Berge,  Halle  1875)  nicht  entgangen  ware,  welche  eine  sorgfaltige 
Sichtung  der  Flugschriften  iiber  jene  Katastrophe  giebt.  Im 
allgemeinen  folgen  beide  Autoren  denselben  Quellen,  nur  dass 
Gindely  noch  eine  Anzahl  archivalisoher  Notizen  bohmischen 
Ursprungs  zu  Gebote  standen,  wahrend  Brendel  die  Broschiiren- 
literatur  mehr  beriicksichtigt.  Beide  Arbeiten  gelangen  fast  zn 
demselben  Result  at  ^.  die  Schlacht  wahrte  kaum  eine  Stunde  nsi 
ware  fast  durch  das  Eingreifen  des  jiingern  Anbalt  fur  Bohmeft 
gewonnen.  Das  gross te  Verdienst  um  den  Sieg  der  katholischen 
Waffen  erwarb  sich  Verdugo  und  Tilly,  welchem  Maximilian  den 
Oberbefehl  iiber  die  Baiern  iibertragen  hatte.    Der  Herzog  selbst 

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Gindely,  Geschiohte  des  dreisaigjahrigen  Krieges.  183 

blieb  wahrend  der  Schlacht  an  der  Seite  des  krankon  Grafen 
Buquoy  und  respondirte  mit  ihm  auf  das  Gebet  „Salve  Regina". 
Die  Bohmen  befehligte  Christian  von  Anhalt.  Friedrich  V.  be- 
fand  sich  in  Prag,  urn  die  Vertheidigung  der  Stadt  zu  leiten. 
Er  schwelgte  zwar  nicht  an  einer  uppigen  Tafel,  sondern  stritt 
mit  den  Gesandten  seines  Schwiegervaters,  Weston  und  Conway, 
ob  es  zu  einer  Schlacht  kommen  werde  oder  nicht,  wahrend 
draussen  die  Wurfel  fielen.  Als  er  nach  Beendigung  seiner  ge- 
wohnlichen  Mittagsmahlzeit  hinausreiton  wollte,  kamen  ihm  schon 
die  fliichtenden  Trummer  seines  Heeres  entgegen. 

Gindely  hat  eine  Reihe  von  Briefen  des  Zerbster  Archives 
nicht  benutzt,  welche  Krebs  (Jahres-Bericht  der  Schles.  Ge- 
sellsch.  fur  vaterL  Cultur  1878,  413)  ans  Licht  gezogen  hat. 
Sie  entstammen  der  Feder  Christian's  von  Anhalt,  Hohenlohe's 
and  des  Obersten  Stubenvoll.  Mit  Evidenz  geht  aus  ihnen 
hervor,  dass  Anhalt  sich  vor  und  wahrend  der  Schlacht  als 
hochst  umsichtiger  Feldherr  gezeigt  hat  und  dass  er  wahrend 
des  Aufinarsches  der  Ligisten  fiber  den  Littowitzer  Bach  die 
Absicht  hatte,  sich  von  der  Hohe  mit  Wucht  dem  emporsteigen- 
den  Feinde  entgegenzuwerfen,  wie  das  sein  Sohn  in  einer  spa- 
teren  Phase  des  Eampfes  mit  grossem  Erfolge  gethan  hat.  Auf 
Zoreden  Hohenlohe's  liess  er  aber  diese  Absicht  wieder  fallen 
und  machte  leider  den  Vorschlag  des  Grafen,  den  Aufmarsch 
des  Feindes  von  der  steilen  Berglehne  nicht  zu  storen  und  den 
Angriff  oben  auf  dem  Plateau  zu  erwarten,  zu  dem  seinigen. 

Wie  schon  Brendel  bemerkt  hat,  wnrde  Prag  von  den 
Katholiken  griindlichst  gepliindert,  Gindely  weist  nach,  dass 
«die  Trager  der  erlauchtesten  Namen,  welche  unter  Buquoy  die 
hochsten  militarischen  Wiirden  bekleideten"  sich  gleich  den  go- 
meinen  Soldlingen  personlich  an  der  Beraubung  betheiligten. 
Die  Niederlage  auf  dem  weissen  Berge  war  nur  der  Schlusssatz 
einer  Reihe  von  Pramissen.  In  den  Jahren  1618  und  1619  war 
die  Schwache  des  Kaisers  nicht  zu  raschen,  todtlichen  Schlagen 
benutzt  worden.  Die  Schuld  daran  trug  die  bohmische  Direc- 
torialregierung,  eine  Art  von  adliger  „Gevatterregierung,  welche 
alle  Glieder  der  Familie  zum  Nachtheile  des  Ganzen  mit  gleicher 
Liebe  behandelte".  1620  stand  aber  Bohmen  einer  Coalition 
gegeniiber,  der  es  nicht  gewachsen  war.  Abgesehen  von  den 
Streitkraften ,  die  Ferdinand  mit  Hilfe  des  Papstes  und  des 
Konigs  von  Polen  aufigtellte,  hatte  er  auch  noch  die  Truppen 
der  reichen  ligistischen  Fiirsten  auf  seiner  Seite  und  zuletzt 
noch  die  von  Philipp  III.  mit  den  Schatzen  Amerikas  unterhal- 
tenen  Heere.  Dazu  besass  die  bohmische  Nation  nicht  einen 
fahigen  Staatsmann  oder  Feldherren,  der  hussitische  Geist  war 
erloschen  und  fiir  die  nationale  Sache  liess  man  bezahlte  Soldner 
aller  Yolksstamme  fechten.  In  einem  so  ungleichen  Eampfe 
mus8te  Bohmen  unterliegen. 

Die  unmittelbare  Folge  der  Schlacht  am  weissen  Berge  war 
die   Beruhigung    Mahrens,    welches    sich    beim    Einrucken   der 

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184  v-  Ledebur,  Konig  Friedrich  I.  von  Preussen. 

kaiserlichen  Truppen,  olme  Widerstand  zu  leisten,  aof  Gnade 
und  Ungnade  ergeben  musste.  Der  Feldzug  des  Kurfursten 
Johann  Georg  von  Sachsen  gegen  die  Lausitzer  und  Schlesier 
wird  von  Gindely  hauptsachlich  nach  Actenstiicken  des  Dresdener 
Archives  dargestellt,  welche  schon  K.  A.  Miiller  in  seinen  „For- 
schungen"  (Dresden  1838)  ausgiebig  benutzt  hat. 
Berlin.  Ernst  Fischer. 

xxxx. 

von  Ledebur,  Karl  Freiherr,  Konig  Friedrich  I.  von  Preuswu. 

Beitrage  zur  Geschichte  seines  Hofes,  sowie  der  Wissenschaften, 
Kiinste  und  Staatsverwaltung  jener  Zeit.  gr.  8.  (VII,  494  S.) 
Leipzig,  1878.     Otto  Aug.  Schulz.     10  M. 

Man  erfahrt  aus  der  Vorrede,  dass  das  vorliegende  Werk 
„lediglich  aus  historischen  Notizen  bestehe,  die  vor  Jahren  der 
Vater  des  Verfassers  gesammelt,  er  selbst  aber  geordnet,  yer- 
vollstandigt  und  verbunden"  hat.  Die  ganze  Sammlung  zerfallt 
in  8  Abschnitte,  von  denen  vier  hier  mitgetheilt  werden  (S.  1—62: 
Die  Familienverhaltnisse  am  Kurfurstlichen  Hofe.  Das  Leben 
Friedrichs  bis  zu  seinem  Regierungsantritt ;  S.  63 — 192:  Wissen- 
schaften.  Kiinste ;  S.  193 — 382 :  Oeffentliche  Feierlichkeiten.  Hof- 
feste;  S.  383—494:  Politik.  Staatsverwaltung.),  wahrend  die  an- 
dern  4  (Heerwesen;  Kriegerische  Begebenheiten ;  Religionsver- 
haltnisse ;  Haupt-  und  Residenzstadt  Berlin ;  Stadtisches ;)  voi- 
laufig  unveroflfentlicht  geblieben  sind,  da  es  dem  Verfasser  „in 
seiner  gegenwartigen  Stellung  als  Leiter  eines  Kunstinstituts  (zu 
Riga)  an  der  nothigen  Musse  zur  Vollendung  dieser  Arbeit  fehle". 
Leider  haben  dem  Verfasser  neue  Quellen  nicht  zu  Gebote  ge- 
standen,  und  eine  eigenthiimliche  Auffassung  des  Bekanntefl 
findot  sich  nirgends ;  die  Wissenschaft  also  geht  leer  aus.  Aber 
auch  in  der  Form  des  Vortrags  hat  der  Verfasser  auf  eine 
kunstlerische  Gestaltung,  wie  z.  B.  die  populare  Darstellung  sie 
orfordern  wiirde,  verzichtet.  Auch  so  noch  ware  der  Versueh, 
das  Wichtigste  des  in  Druckschriften  niedergelegten  Materials 
zur  Geschichte  Friedrichs  I.  in  guter  Ordnung  und  mit  den  er- 
forderlichen  Nachweisen  aufzuspeichern ,  eine  dankenswerthc 
Arbeit ;  allein  einerseits  sind  eine  grossere  Anzahl  quellenmassiger 
Druckwerke  unbenutzt  gelassen,  andererseits  ist  die  Auswahl 
ohne  Kritik  getroffen,  so  dass  neben  Besser,  Kiister  und  Droysen, 
den  Hauptfundgruben  unseres  Sammlers,  nicht  nur  Kugler, 
Werner  Hahn  u.  s.  w.  treten,  sondern  selbst  Streckfuss,  mid 
zwar  in  einer  Weise  citirt,  als  ob  die  Einen  mit  den  Andern 
von  gleichem  oder  ahnlichem  Werthe  waren.  Dazu  kommt,  dass 
dem  Herausgeber,  wie  er  selbst  andeutet,  die  voile  Sachkunde 
abgeht,  dass  daher  Verwechselungcn  und  andere  aus  der  Ufl- 
kenntniss  erwachsene  Missverstandnisse  nicht  selten  vorkommfifi- 
Endlich  hat  die  Entfernung  des  Druckortes  vom  Wohnsitze  des 
Verfassers  eine  ausserordentliche  Menge  von  Druckfehlern  her- 
beigefiihrt,    die   zum    Theil,    namentUch    bei    den   in   fremdeu 

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Wenzel,  Veranderungeu  der  Karte  Europas  seit  1815.  185 

Sprachen  wiedergegebenen  Citateu,  so  arg  sind,  dass  selbst  der- 
jenige,  der  in  der  betreffenden  Literatur  einigermassen  Bescheid 
weiss,  mitunter  das  Richtige  kaum  zu  errathen  verm&g.  So  auf- 
richtig  man  demgemass  den  guten  Willen  des  Herausgebers, 
„Beitrage  ziir  Geschichte  des  ruhmgekronten  Hohenzollernhauses" 
zu  liefern,  anerkennen  muss,  so  wenig  kann  man  umhin,  sein 
Unternehmen  als  ein  verfehltes  zu  bezeichnen. 

F.  Holtze. 


XXXXI. 
Wenzel,  Dr.  J.  K.,  Veranderungen  der  Karte  Ei/ropas  seit  1815. 

Mit  einer  Landkarte.     gr.   8.     (52   S.)     Prag   1878.     J.   G. 

Calve'sche  Hof-  und  Univ.-Buchhandlung.  1,60  M. 
Der  Professor  J.  K.  Wenzel  hat  im  Herbst  1878  eine  Ab- 
handlung  im  Programm  der  deutschen  Staats-Ober-Realschule 
zu  Prag  iiber  das  angegebene  Thema  veroffentlicht  und  dieselbe 
dann  auch  als  Separatabdruck  der  Calve'schen  Buchhandlung  zu 
Prag  in  Commission  gegeben.  Die  beigegebene  Karte  zeigt  das 
Terrain  von  Mitteleuropa  von  dem  Langegrad  von  Paris  bis  zum 
Dnjestr  und  von  dem  Breitegrad  der  Konigsau  bis  zum  35°  Br. 
(etwas  siidl.  von  Malta)  in  einer  Grosse  von  55X60  cm  und 
veranscliaulicht  die  Veranderungen  der  Landesgrenzen  und  Terri- 
torien  in  rothem  Farbendruck. 

Der  Verfasser  giebt  im  ersten  Abschnitt  der  Abhandlung 
einen  Ueberblick  iiber  die  politischen  Zustande  in.Europa  nacb 
dem  Jahre  1815  und  stellt  dann  den  Satz  auf,  dass  die  vielen 
Kriege  seit  1815  die  Folge  der  unversohnlichen  Gegensatze 
waren,  welche  im  Wiener  Congress  scheinbar  ausgesohnt  oder 
auch  unberticksichtigt  beiSeite  geschoben  „nur  so  lange  schlummer- 
ten,  bis  sie  entsprechend  gekraftigt  den  erbittertsten  Kampf 
gegen  einander  aufnahmen".  Zwei  Gedanken  beherrschten  seit 
dem  Wiener  Congress  das  Leben  der  Volker,  die  Nationalitats- 
idee  und  das  Verlangen  nach  constitutionellen  Regie rungsformen. 
Die  Volker,  namentlich  das  deutsche  Volk,  sehnten  sich  nach 
staatlicher  Einheit  und  nach  der  Betheiligung  an  Gesetzgebung 
und  Verwaltung,  doch  die  Zerrissenheit  Deutschlands  wurde  auf ' 
dem  Wiener -Congress  festgesetzt  und  der  Absolutismus  gefordert. 
Derselbe  Egoismus  und  dieselbe  Willktir,  welche  die  Vielherr- 
schaft  in  deutschen  Landen  aufrecht  erhielt,  verfuhr  ahnlich  in 
Italien  und  vereinte  in  den  Niederlanden  Holland  und  Belgien 
zu  einem  Staate,  der  verschieden  an  Sprache,  Religion,  Gesin- 
uung  und  jeglicher  Lebensanschauung  unmoglich  Bestand  haben 
konnte.  Dieselbe  Willkur  lastete  schwer  aufPolen,  obwohl  man 
mit  Aufrichtung  der  Republik  Krakau  den  Wiinschen  der  Polen 
ein  Zugestandniss  gemacht  hatte.  Derselbe  Egoismus  errichteto 
neben  dem  schwachen,  vielgetheilten  Deutschland  ein  starkes, 
einiges  Frankreich  und  kraftigte  Englands  und  Russlands  Macht ; 
trotz  alledem  behauptete  man  kiihn  und  keck,  das  politische 
Gleichgewicht  Europas  sei  wiederhergestellt. 

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186  Wenzel,  Ver&nderungen  der  Karte  Europas  seit  1815. 

Doch  die  Nationalitatsidee,  welche  man  zu  Wien  tief  nieder- 
gedriickt  hatte,  erhob  sich  wieder  und  immer  wieder  und  fuhrte 
Kriege  iiber  Kriege  herbei,  und  wir  stehen  noch  nicht  am  Ende 
derselben.  So  kampfte  Griechenland  gogen  die  Tiirkei,  Belgien 
gegen  Holland,  Italien  gogen  Oesterreich,  Preussen-Oesterreicli 
gegen  Danemark,  Deutschland  gegen  Frankreich  und  auf  diesen 
Grund  sind  die  Wirren  im  Orient  zuriickzufuhren.  Die  Bewe- 
gungen  und  Veranderungen  gingen  nicht  so  sehr  von  der  Ein- 
gebung  und  Leitung  eines  Einzelnen  aus,  sondern  waren  Tiel- 
mehr  „das  Ergebniss  des  vereinten,  zweckbewussten  Strebens  ganzer 
V61keru.  Andererseits  erscholl  der  Ruf  nach  Constitution  seft 
1815  immer  wieder,  immer  lauter  und  da,  wo  or  ungehort  verscholl, 
kamen  Erschiitterungen  und  Revolutionen. 

Nach  diesen  allgemein  einfuhrenden  Gedanken  und  Bemer- 
kungen  geht  Herr  Wenzel  in  21  Abschnitten  die  einzelnen  staat- 
lichen  Veranderungen  durch,  weist  bei  den  bedeutenderen  Kampfen 
immer  auf  das  Gleichartige  des  Entstehungsgrundes  hin,  auf  die 
„Nationalitat8ideea,  welche  zu  ihrem  Rechte  kommen  wollte,  geht 
dann  die  Kriege  in  grossen  Umrissen  durch  und  fuhrt  ausfuhr- 
licher  die  Friedenstractate  mit  ihren  territorialen  Veranderungen 
an.  Neue  Aufschliisse  aus  den  Archiven  iiber  dunkle  Punkte 
sind  natiirlich  in  der  Arbeit  nicht  zu  suchen,  ein  besonderes, 
eingehenderes  Quellenstudium  ist  nicht  gemacht;  die  Starke  der 
Arbeit  liegt  vielmehr  in  der  klaren,  lebendigen,  iibersichtlichea 
Darstellung,  in  der  warmen  nationalen  Begeisterung  und  in  der 
beigegebenen  hiibschen  Karte. 

Eine  kurze  Uebersicht  mag  zeigen,  was  in  der  Abhandlung 
besprochen  wird.  §  2  zeigt  die  Entstehung  des  Konigreicles 
Griechenland  im  Jahre  1830;  §  3  die  des  Konigreiches  Belgiea 
1831 ;  §  4 — 9  erinnert  an  kleinere  Veranderungen  auf  der  Karte 
Europas:  §  4  Sachsen-Coburg  tritt  fur  eine  Jahresrente  das 
Fiirstenthum  Lichtenberg  an  Preussen  ab,  §  5  die  Republik  Krakaa 
wird  1846  osterreichisches  Grossfurstenthum,  §  6  Besitzwec^sel  der 
Herzogthiimer  Lucca  und  Guastaila  1847,  §  7  Neuch&tel  fiLllt 
1848  von  Preussen  ab,  §  8  die  Fiirstenthiimer  Hohenzollern 
werden  1849  Preussen  einverleibt,  §  9  Preussen  erwirbt  1853 
V*  CJMeile  am  Jahdebusen  durch  Kauf  von  Oldenburg;  §  10 
bcspricht  den  Krieg  der  Tiirkei  und  Westmachte  gegen  Russ- 
land  1854 — 56.  Ein  Theil  Bessarabiens  wird  nach  dem  Pariser 
Frieden  vom  30.  Marz  1856  mit  dem  Fiirstenthum  Moldau  vereinigt 
Auch  die  iibrigen  wichtigen  Bestimmungen  dieses  Friedensschlusses 
werden  recapitulirt ;  §  11 — 14  vergegenwartigen  uns  den  osten. 
Krieg  in  Italien  von  1859  und  fiihren  die  Territorialveranderungen 
in  Italien  incl.  Nizza  im  Einzelnen  aus;  §  15  Schleswig-Holsteifl 
und  Lauenburg  werden  1864  von  Danemark  getrennt  und  in 
demselben  Jahre  §  16  die  Jonischen  Inseln  mit  Griechenland 
vereinigt;  §  17  Preussen  erhalt  durch  den  Gasteiner  Vertrag 
vom  14.  August  1865  das  Herzogthum  Lauenburg. 

§  18  stellt  den   Krieg  Preussens  gegen   Oesterreich  1866 

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Wenzel,  Ver&nderungen  dor  Karte  Europe  seit  1815.  187 

dar.  Der  Verfasser  schreibt  iiberall  in  warmer,  bogeistortor 
Weise,  sonst,  wenn  es  sich  urn  deutsche  Interessen  handelt,  fast 
mochte  ich  sagen  im  deutsch-patriotischen  Sinn,  hier  —  das  ist 
begreiflich  —  tritt  der  osterreichische  Standpunkt  hervor,  eino 
gewisse  Befangenheit,  welche  ihni  den  klaren  Blick  triibt.  Diese 
Befangenheit  zeigt  sich  am  deutlichsten  in  den  Stellen,  wo  er 
iiber  das  Verhaltniss  und  das  Recht  des  Augustenburgers  han- 
delt.  Die  Kriege  der  Neuzeit,  so  lehrt  er  sonst,  gingen  hervor 
aus  dem  Bestreben  der  Volkor  sich  national  zu  einigen.  Er 
billigt  diesen  Kriegsgrund,  dann  aber  diirfen  auch  nicht  die  in 
alter  Zeit  geschlossenen  Vertriige  und  die  daraus  resultirenden 
Rechte  der  Fiirsten,  wie  sie  im  eigensten  Interesse  derselben,  oft 
ohne  Beriicksichtigung  der  Volksrechte  oder  wohl  gar  im  Wider- 
spruch  mit  denselben  gefasst  wurden,  nnser  Urtheil  bestimmen. 
Die  alten  Vertrage,  „das  papierne  Recht"  sprach  allerdings  fur 
den  Augustenburger  und  fur  Oesterreich,  welches  die  Partei 
desselben  ergriff;  doch  wie  stand  es  mit  der  Nationalitatsidee, 
wie  mit  dem  Wunsche  des  deutsohon  Volkes,  sich  fest  zu 
einigen?  Das  nationale  Einigungswerk  hatte  sicherlich  nicht 
einen  sichtbaren  Schritt  nach  vorwarts  gemacht,  sondern  nach 
riickwarts,  wenn  ein  neuer  Kleinstaat  unter  dem  Augustenburger 
orrichtet  ware.  Der  Augustenburger  wollte  ja  von  seinen  angeb- 
lichen  Souveranitatsreohten  gar  nichts  aufgeben;  man  vergleiche 
nur  die  interessante  Schilderung  in  dem  Buche  von  Busch,  Graf 
Bismarck  und  seine  Leute  wahrend  des  Krieges  in  Frankreich,  wie 
sie  Bismarck  iiber  seine  Besprechungen  mit  dem  Augustenburger 
machte.  Der  Augustenburger  war  absolut  unfahig,  den  etwa  zu 
errichtenden  neuen  Staat  gegen  Danemark  zu  vertheidigen,  er 
sah  es  wohl  fur  sein  Recht  an,  im  Fall  eines  danischen  Angriffs- 
krieges  vom  deutschen  Bunde  geschiitzt  zu  werden,  doch  Zuge- 
standnisse  im  nationalen  Sinn  zum  Schutz  des  Landes  und  zur 
Fernhaltung  eines  Krieges  wollte  er  nicht  machen,  und  nament- 
lich  Preussens  Forderung,  Unterstellung  des  Heeres  unter  Preussens 
Commando,  wies  er  als  krankende  Bedingung  zuriick.  Nur 
Preussen  konnte  ihn  schiitzen,  nicht  die  Mittelstaaten,  nicht  der 
Bund,  Preussens  Hand  stiess  er  von  sich,  da  stellte  sich  Preussen 
mit  ganzer  Kraft  auf  die  nationale  Seite,  auf  die  Seite  der 
Nationalitatsidee  und  siegte;  einige  Fiirsten  wurden  entsetzt, 
einige  Kleinstaaten  verschwanden,  doch  die  Ehre  und  Macht  der 
Nation  wurden  gefordert.  Herr  Wenzel  hat  dies  auch  ange- 
deutet,  indem  er  sagt,  dass  „Preussen  1866  nicht  sowohl  rein 
preussische,  als  vielmehr  national  deutsche  Interessen  ins  Auge 
gefasst  habett,  consequent  aber  hat  er  es  nicht  durchgefiihrt. 

Im  Anschluss  daran  behandelt  der  Verfasser  in  §  19 
Oesterreichs  Verlust  in  Italien,  und  stimmen  wir  ihm  gern  bei, 
^enn  er  schreibt:  „Durch  den  Verlust  Italiens  und  der  ange- 
feindeten  Fiihrerschaft  Deutschlands  hat  Oesterreich  nicht  nur 
nichts  verloren,  sondern  ist  nach  innen  und  aussen  machtiger 
geworden.     Es  konnte  sich  jetzt  ausschliesslich  seinen  innern 

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188  Peschel,  Abhandlungen  zar  Erd-  und  Volkerkunde. 

Angelegenheiten  widmen;  es  verliess  die  freie  Bahn  des  Abso- 
lutismus  und  betrat  den  Weg  constitutioneUer  Verfassung."  §20 
bespricht  den  Krieg  von  1870/71  mit  deutsch  nationalem  Sinn: 
„Frankreich  wurde  in  seine  natiirlichen  Grenzen  zuriickgewiesen.11 
§  21  Italien  besetzt  Rom  und  den  letzten  Rest  des  Kirchen- 
staates  1870.  §  22  Staatenbildung  anf  der  Balkanhalbinsel  naeh 
dem  Berliner  Congress  vom  Juni  1878. 

Im  Schlusswort  wiederholt  W.  noch  einmal  seine  Grundge 
danken:  „Die  bewegenden  Ideen  der  Gegenwart  sind  nicht  mehrfr 
Absolutismus  oder  gar  Despotismus,  sondern  Constitutionalism 
und  Nationalist".  —  „Italien  und  Deutschland  haben  diesa 
Forderungen  der  Gegenwart  ihre  jetzige  so  lang  entbelirte  Em- 
heit  und  Grosse  zu  danken  —  die  Tiirkei  ist  denselben  znm 
Opfer  gefallen." 

Auf  der  letzten  Seite  finden  wir  eine  tabellarische  Uebersk&t 
der  Veranderungen  der  Karte  Europas  in  chronologischer  Ordnung 
mit  Angabe  der  Quadrat-Meilen  (und  auch  Quadrat-Kilom.)  tod 
1830  bis  78.  In  29  Nummern  sind  diese  Veranderungen  zusammen- 
gestellt;  der  Verfasser  hat  die  Zahlen  nicht  summirt,  es  sind  c.  13160 
□Meilen.  Man  sieht,  dass  es  sich  wohl  der  Miihe  lohnt,  diese 
Quadrat-Meilen  auf  einer  Karte  in  Farbenton  zu  bezeichnen. 
Die  beigegebene,  sonst  uncolorirte  Karte  zeigt  in  vollem  rothei 
Farbendruck  die  Veranderungen  der  definitiv  abgetretenen  Terfr 
torien  und  in  schraffirtem  rothen  Druck  Bosnien  und  Herzega- 
wina  als  interimistisch  verwaltete  Lander  Oesterreichs. 

Einige  Druckfehler  sind  mir  aufgefallen  S.  45  Versail,  S.  11 
(zweimal)  Quastala,  S.  17  Peresina,  S.  26  Konig  Gnut,  S.  9 
flammisch,  S.  28  Danisirung  (besser  doch  wohl  Danisirung). 

Mit  Freude  und  nicht  ohne  Belehrung  hat  der  Bericht- 
erstatter  die  kleine  Schrift  gelesen  und  empfiehlt  den  Collegen 
namentlich  die  saubere  Karte,  welche  sich  wohl  eignet,  als  Ueb^- 
sichtsblatt  fiir  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit  benutzt  za 
werden. 

Duisburg.  M.  Kirchner. 


XXXXII. 
Peschel,  Oscar,  Abhandlungen   zur   Erd-   und   Volkerkunde, 

Hrsg.  von  J.  Lowenberg.    Neue  Folge.    gr.   8.     (VI,   546  S.) 

Leipzig  1878.     Duncker  &  Hurablot.     10  M. 

Dem  im  Jahre  1877  erschienonen  ersten  Bande  gesammelter 
Essais  von  Oscar  Peschel  ist  sehr  bald  der  von  demselbeo 
Herausgeber  zusammengestellte  zweite  Band  gefolgt.  Wie  der 
Herausgeber  in  der  Vorrede  sagt,  hat  er  seinen  urspriinglichcn 
Plan,  den  im  ersten  Bande  gesammelten  Abhandlungen  zur  Erd- 
und  Volkerkunde  zunachst  oinen  Band  Aufeiitze  aus  anderei 
Gobieten  des  Wissens,  namentlich  aus  der  Nationalokonoinie  and 
Handelsgeschichte,  folgen  zu  lassen,  aufgegeben  und,  ermuD^rt 
durch   den  Beifall,   den   der  erste   Band   gefunden,   ihm  einen 


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Peachel,  Abhandlungen  zur  Erd-  und  Volkerkuude.  189 

zweiten  Band  Abhandlungen  verwandten  Inhalts  angereiht.  Die 
Grundsatze  der  Herausgabe  und  des  Arrangements  der  einzelnen 
Aufeatze  sind  dieselben  wie  zuvor.  Die  33  meist  den  friiheren 
Jahrgangen  des  „Ausland"  entnommenen  Nummern,  aus  denen 
die  Sammlung  besteht,  sind  nach  ihrer  inneren  Zusammengehorig- 
keit  moglichst  chronologisch  geordnet  und  unverandert  in  der 
Gestalt  erhalten,  die  der  Autor  ihnen  gegeben  hat.  Sie  grup- 
piren  sich  in  3  grossere  Abtheilungen,  deren  erste  in  14  Nummern 
die  „Zur  Geschichte  der  Geographic"  gehorigen  Artikel  umfasst. 
Einige  der  grossen  arabischen  Geographen,  wie  Ibn  Batuta,  den 
Carl  Bitter  den  grossten  Continentalreisenden  aller  Volker  ge- 
nannt  hat,  Massudi,  del*  Verfasser  der  „goldenen  Wiesen  und 
Edelsteingruben",  die  Beziehungen  der  mittelalterlichen  euro- 
paischen  Seehandelsvolker,  namentlich  der  Italiener,  zum  ost- 
lichen  Asien  und  zur  Levante,  ein  Lieblingsthema  Pescherscher 
Studien,  endlich  ein  langerer  Essai  „uber  die  grossen  Entdeckungen 
in  den  Jahren  1849 — 1856"  bilden  die  hauptsachlichsten  Gegen- 
stande,  mit  denen  sich  diese  Abtheilung  beschaftigt. 

Namentlich  diirfte  die  letztgenannte,  in  die  anziehendste 
Form  gekleidete,  oft  poetisch  angehauchte  klare  und  spannende 
Daretellung  einerseits  der  nordpolaren  Entdeckungen,  welche 
sich  an  die  Aufsuchung  des  ungliicklichen  Sir  John  Franklin 
kniipfen  und  deren  Hauptresultate  die  Auffindung  der  nordwest- 
lichen  Durchfahrt  und  die  Beobachtung  eines  oflfenen  Polarmeeres 
in  sehr  hohen  ntirdlichen  Breiten  sind,  andererseits  der  Ent- 
deckungen Barths  in  Mittelafrika ,  Livingstones  im  sudlichen 
Theile  dieses  Festlandes  in  hohem  Grade  die  verdiente  Aufmerk- 
samkeit  jedes  gebildeten  Lesers  fesseln. 

Die  zweite  Gruppe  „Zur  mathematischen  und  physischen 
Geographic"  enthalt  sehr  verschiedenartige  Aufsatze,  von  denen 
man  je  nach  personlicher  Neigung  bald  diesen  bald  jenen  den 
Vorzug  geben  wird.  Einzelnes,  wie  z.  B.  der  1865  geschriebene 
kurze  Aufeatz  „Was  ist  eine  Sonne?"  hat  durch  neuere  Unter- 
Buchungen  wohl  an  Interesse  verloren;  Anderes,  wie  die  Artikel 
iiber  „Die  Rolle  der  Gewiirze  im  Welthandel  und  auf  der  Lon- 
doner Ausstellung"  und  „Die  narkotischen  und  einige  exotische 
Genussmittel  im  Welthandel  und  auf  der  Londoner  Weltausstel- 
lungtt  gehiiren  weniger  in  das  Gebiet  der  physischen  Geographic 
^U  der  Handelsgeschichte ;  nichtsdestoweniger  iiben  auch  dieso 
Anfeatze  denselben  Reiz  auf  den  Leser  aus,  wie  Alles,  was  Peschel 
geschrieben.  Ganz  besonders  aufinerksam  machen  mochten  wir 
auf  die  mit  der  Gestalt  der  Erde  und  den  Erdmessungen  sich 
beschaftigenden  Abhandlungen  Nr.  3  und  4,  sowie  auf  die 
alwserst  lehrreiche  Darstellung  des  gegenwartigen  Wissens  von 
den  Erdbeben.  Indessen  fafit  es  bei  dem  grossen  Interesse, 
welches  auch  die  meisten  anderen  Nummern  dieser  Abtheilung 
dem  Leser  einflossen,  einer  unparteiischen  Schatzung  fast  schwer, 
den  Vorzug,  den  sie  der  einen  odor  anderen  von  ihnen  giebt, 
zu  motiviren. 

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190  Peschel,  Abhandlungen  zur  Erd-  und  Volkerkunde. 

Die  dritte  Abtheilung  „Zur  Lander-  und  Volkerkunde**  ent- 
halt  das  Anziehendste  am  Sohlusse,  namlich  1)  einen  langeren 
Artikel  „Wanderziele  der  Deutschen"  und  2)  eine  Sammluog 
von  Aufsatzen  unter  dem  Gesammttitel  „Ferienreisenu.  Errierer 
reprasentirt  einen  wahren  Auswandererkatechismus,  von  dem 
man  nur  bedauern  kann,  dass  er  im  Jahre  1861  und  nicht  1878 
geschrieben  worden  ist,  da  natiirlich  bei  den  schnellen  Pnls- 
schlagen,  in  denen  das  Leben  jener  von  der  deutschen  kw 
wanderung  hauptsachlich  aufgesuchten  Golonialgebiete  verlaufi, 
in  17  Jahren  sich  Manches  geandert  hat.  Der  Reihe  nach  gehtP, 
die  einzelnen  Auswanderungsziele  durch,  zunachst  die  europaiscba: 
Ungarn  und  Russland,  dann  die  afrikanischen :  Algerien,  da 
Capland,  ferner  die  amerikanischen :  Canada,  den  fernen  Westa 
des  britischen  Nord-Amerika  wie  der  Vereinigten  Staaten,  die 
unbebauten  Striohe  der  schon  besiedelten  Nordstaaten,  sowiedie 
Siidstaaten  der  Union,  Mexico,  Mittel-Amerika,  insbesondere 
Costarica,  sodann  Brasilien,  Paraguay,  Chili,  Californien,  britiseh 
Columbien.  Schliesslich  fiihrt  er  uns  von  dort  tiber  den  gtiBen 
Ocean  nach  Neuseeland  und  dem  australischen  Continent.  Alle 
diese  Gebiete  werden  riicksichtlich  ihres  Werthes  und  ihwr 
Empfehlbarkeit  fur  den  deutschen  Auswanderer  gepruft  und 
schliesslich  eine  kleine  Auswahl  solcher  getroffen,  welche  sos 
einem  oder  dem  anderen  Grande  fiir  vorzugsweise  geeignet  golta 
konnen.  Es  sind  dies:  Canada,  Costarica,  Paraguay,  Chili,  k 
Capland,  Californien,  Australien. 

Den  Schluss  des  Werkes  bilden  die  schon  erwahnten  Ferien- 
reisen,  eine  Reihe  feuilletonistischer  Artikel,  welche  in  reizvoller, 
theilweiso  humoristischer  Schilderung  Erlebnisse  und  Eindrucke 
auf  des  Verfassers  Ferienausflugen  in  die  Alpen,  an  die  Gestade 
des  Mittelmeeres  und  uber  den  Apennin  wiedergeben.  P.  xeigt 
sich  in  ihnen  als  Touristen,  der  nicht  nur  ein  offenes  Auge  nsd 
tiefes  Verstandniss  fur  die  wechselnden  Erscheinungen  der  Natur, 
8ondern  auch  die  Gabe  besitzt,  seine  Eindrucke  in  gewandter, 
geistreicher  Form  und  klaren  Bildern  zu  reproduoiren. 

Unsere  neuere  Literatur  ist  iiberreich  an  gesammelten 
Essais  aller  moglichen  Gelehrten  und  Schriftsteller ;  Manehes 
von  zweifelhaftem  Werthe  befindet  sich  darunter.  Wer  indessec 
diese  anziehenden  Peschel'schen  Aufsatze  gelesen  hat,  wird  0 
sicher  nicht  fur  verloren  halten,  dass  der  Herausgeber  sich  d« 
Miihe  unterzogen  hat,  sie  zusammenzusuchen  und  auf  s  Neue  z& 
veroffentlichen;  denn  ihr  Verfasser  gehort  zu  den  bevorzugteo 
Geistern,  die  Allem,  selbst  dem  scheinbar  Geringfiigigsten,  so 
interessante  Gesichtspunkte  abzugewinnen  wissen,  dass  ihr  games 
Schaffen  fur  die  Wahrheit  des  Humboldt'schen  Aussprocbe* 
Zeugniss  ablegt,  es  gebe  in  der  Wissenschaft  nichts  Unbedeo- 
tendes. 
Danzig.  Dr.  Georg  Dasse 


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Andree,  Ethnographische  Parallelen  und  Vergleiche.  191 

xxxxiil 

Andree,  Richard,  Ethnographische  Parallelen  und  Vergleiche. 

Mit  6  Tafeln   und  21   Holzschnitten.     gr.    8.     (XII,   303   S.) 

Stuttgart  1878.  Julius  Maier.  6  M. 
Rich.  Andree,  dem  die  geographische  Literatur  schon  meh- 
rere  werthvolle  Arbeiten  verdankt  (Wendische  Wanderstudien, 
zur  Kunde  der  Lausitz  und  Sorbenwenden ;  die  zweite  Auflage 
von  K.  Andree's  Geographic  des  Welthandels),  fugt  in  dem  an- 
gefiihrten  Werke  den  fruheren  ein  neues  hinzu.  Es  umfosst  eine 
Reihe  von  23  selbstandigen  Abhandlungen,  von  denen  7  schon 
an  anderen  Or  ten  abgedruckt  gewesen  sind;  das  gemeinsame 
Band,  das  dieselben  verbindet,  ist  die  Wahrnehmung,  dass  die- 
selben  oder  ahnliche  Anschauungen  und  darauf  sich  stiitzende 
Sitten  und  Gebrauche  bei  raumlich  ganz  entfernt  wohnenden 
Volkern  und  Stammen  sich  finden;  diese  Erscheinung  berechtigt 
aber  noch  nioht,  wie  friiher  vielfach  irrthiimlich  versucht  worden 
ist,  auf  Gleiohheit  der  Abstammung,  direkte  Entlehnung  und 
alten  Verkehr  der  Volker  zu  schliessen.  Schon  Alex.  v.  Humboldt 
(Ans.  der  Natur  I.  284)  hat  bei  Erwiihnung  der  mit  Maandern 
und  Labyrinthen  verzierten  Todtenurnen  der  Indianer,  die  in 
der  Hohle  von  Ataniipe  an  den  Orinocofallen  gefunden  worden, 
die  Ursache  dieser  Aehnlichkeit  mit  europaischen  auf  psychische 
Griinde,  auf  die  gleichartige  Natur  der  menschlichen  Geistes- 
anlagen  zuriickgefiihrt.  In  reicher  Fiille  tragt  nun  der  Verfasser 
gleichartige  Erscheinungen  dor  verschiedenen  Lander  und  Erd- 
theile  zu&ammen.  Ein  spocielles  Eingeten  auf  die  einzelnen 
Capitel  wiirde  den  Rahmen  dieser  Zeitschrift  iiberschreiten ; 
Referent  muss  sich  darauf  beschranken,  die  Titel  derselben  an- 
zufuhren,  obgleich  einzelne  vielmehr  enthaJten  als  sie  anzugeben 
scheinen: 

1.  Tagewahlerei,  Angang  und     13.  Speiseverbote. 
Schicksalsvogel.  14.  Schadelcultus. 

2.  Einmauern.  15.  Trauerverstiimmlung. 

3.  Hausbau.  16.  Der  Schmied. 

4.  Siindenbock.  17.  Schwiegermutter. 

5.  Boser  Blick.  18.  Personennamen. 

6.  Steinhaufen.  19.  Merkzeichen    und   Knoten- 

7.  Lappenbaume.  scbrift. 

8.  Werwolf.  20.  Anfange  der  Kartographie. 

9.  Vampyr.  21.  Werthmesser. 

10.  Fussspuren.     In  Stein  ver-  22.  Der    Schirm    als    Wiirde- 
wandelte  Menschen.  zeichen. 

11.  Erdbeben.  23.  Petroglyphen. 

12.  Gestirne. 

Dass  diese  Zusammenstellungen  noch  betrachtlich  vermehrt 
werden  konnen  und  miissen,  um  zur  Darstellung  einer  Psychologie 
der  Volker  zu  gelangen,  ist  selbstverstandlich.  Bei  dem  Capitel 
Schadelcultus,    S.    145,    wo    gelegentlich    der    Behandlung    der 


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192  Andree,  Ethnographische  Parallclen  und  Vergloiche. 

Negerfetische  an  der  Loango  auch  die  Stellung  des  niederen 
italienischen  Volkes  zu  seinen  Heiligenbildem  besprochen  wird, 
mochte  Ref.  auf  eine  Bemerkung  Michelet's  aufmerksam  machen 
(Revue  des  deux  Mondes  15.  juQlet  1833,  la  Bretagne),  in  der 
es  heisst:  Es  ist  ein  grosser  Irrthum  zu  glauben,  dass  die  Be- 
volkerungen  des  westlichen  Frankreichs,  der  Bretagne  und  der 
Vendee,  tief  religios  seien;  in  mehreren  westlichen  Cantonen 
setzt  sich  der  Heilige,  der  die  Gebete  nicht  erhort,  dem  aos, 
tuchtig  durcbgepriigelt  zu  werden  (risque  d'etre  vigoureusement 
fouette). 

In  angemessener  Weise  wird  in  der  Einleitung  hervorge- 
hoben,  von  welcher  Bedeutung  zunachst  die  Sammlung  des 
Materials  fur  die  Volkerpsychologie  ist;  die  dabei  erwahnte 
Sichtung  dieses  Materials,  d.  b.  die  Angabe  der  specifischen 
Differenzen  zur  Charakterisirung  der  einzelnen  Volkertypen  ist 
doch  nocb  von  boherer  Bedeutung,  und  dafur  ist  in  den  einzel^ 
nen  Abhandlungen  noch  zu  wenig  gescheben ;  nur  in  den  Artikeln 
Werwolf  und  Vampyr  ist  ein  hiibscher  Anfang  dazu  gemacht  worden, 
indem  nachgewiesen  wird,  dass  der  Vampyrglaube  sick  auf 
die  slaviscben  oder  mit  Slaven  in  Beriihrung  stebenden  Volker 
beschrankt.  Der  unter  dem  Namen  Bruxa  in  Portugal  hen- 
schende  Aberglaube  (S.  87)  ist  deshalb  auch  unter  Werwolf  zu 
subsummiren.  Ferner  mochte  Ref.  noch  darauf  aufmerksam  macheo, 
dass  der  auf  Speiseverbote  beschrankte  Tabu  (S.  116)  dod 
unter  einem  weiteren  Gesichtspunkt  zu  fassen  ist.  (VergL  Peschel 
Yolkerkunde.) 

Berlin.  J.  Schirmer. 


V 


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XXXXIV. 
Jtroti,  Ferdinand,  Geschichte  des  aiten  Persiens.  (Allgemeine 
Geschichte  in  Einzeldarstellungen,  herausgegeben  von  Wilhelni 
Oncken.  2.  Abtheilung.)  gr.  8°.  (VIII,  170  S.)  Berlin,  1879. 
G.  Grote'sche  Verlagsbuchhandlung.  3  M. 
Ueber  den  ersten  Theil  von  Justi's  Geschichte  des  alten 
Persiens,  welche  die  zweite  Halfte  der  ersten  Abtheilung  des 
grossen  von  Oncken  herausgegebenen  Geschichtswerkes  bildet, 
haben  wir  in  dem  vorigen  Hefte  dieses  Jahrganges  (S.  99  f.)  be- 
richtet.  Der  vorliegende  zweite  Theil  nimmt  die  ganze  zweite 
Abtheilung  ein  und  fuhrt  diese  Darstellung  zu  Ende.  Hier  ist 
auch  nachtraglich  cine  Vorrede  beigegeben,  in  welcher  der  Verf. 
sich  namentlich  iiber  die  von  ihm  benutzten  Quellen  ausspricht. 
Er  bemerkt,  worauf  auch  wir  schon  hingewiesen  hatten,  dass  er 
ausser  den  abendlandisohen  Geschichtsschreibern  auch  sowohl 
die  Keilinschriften  als  auch  die  einheimische  persische  Ueber- 
lieferung,  die  letztere  namentlich  fur  die  Geschichte  des  alten 
baktrischen  Reiches  und  fur  die  Darstellung  der  ^oroastrischen 
Religion  verwerthet  habe;  zu  bedauern  ist,  dass  er  den  Quellen 
und  Hiilfsmitteln  fur  die  spatere  Geschichte  des  parthischen 
und  sasanidischen  Reiches  nur  ganz  kurze  und  allgemein  gehal- 
tene  Bemerkungen  gewidmet  hat,  den  Lesern,  auch  den  Fach- 
genossen,  wiirde  eine  Auffiihrung  der  gewiss  den  meisten  von 
ihnen  unbekannten  Werke  erwtinscht  gewesen  sein. 

In  seiner  Darstellung  beendigt  der  Verf.  zuniichst  die  Ueber- 
sicht  iiber  die  zoroastrische  Religion,  in  deren  Mitte  die  erste 
Abtheilung  abgebrochen  hatte,  dann  folgt  eine  kurze  Schilderung 
der  Kriege  Konig  Darius'  I.  in  seinen  spateren  Jahren  und  eine 
eingehendere  Schilderung  seiner  Bauten,  namentlich  der  Ruinen 
von  Persepolis.  In  der  folgenden  Geschichte  des  Xerxes  nimnjt 
er  bei  der  Darstellung  des  Feldzuges  desselben  gegen  Griechen- 
land  Gelegenheit,  die  persischen  Heeres-  und  Lagereinrichtungen 
zu  8childern,  er  beruhrt  sodann  die  Ursachen  des  unter  diesem 
Konige  zuerst  beginnenden  inneren  Verfalles  des  Reiches,  schil- 
dert  die  Pracht  des  Hofes  und  weist  auf  die  glanzenden  auch 
von  diesem  Konige  ausgefuhrten  Baudenkmaler  hin.  Dann  folgt 
eine  kiirzere  Darstellung  der  Geschichte  der  spateren  persischen 
Konige  bis  zum  Untergange  des  Reiches  durch  Alexander  und 
des  Eroberungszuges  Alexanders  selbst  sowie  der  Wirren  nach 
dem  Tode  desselben.  Der  Haupttheil  des  ehemaligen  persischen 
Reiches  kommt  schliesslich  unter  die  Herrschaft  der  Seleuciden; 
schon  unter  Antiochos  II.  (c.  250)  aber  lost  sich  von  derselben 
einmal  das  baktrisch-indische  Reich,  andererseits  Parthien  los 
und  von  hier  aus  wird  dann  ein  neues  orientalisches  Reich  ge- 
griindet. 

Sehr  dankenswerth  ist  es,  dass  der  Verf.  auch  die  spateren 
Goschicke  Persiens  beriicksichtigt  und  uns  hier  auch  eine  Dar- 
stellung der  Geschichte  sowohl  des  parthischen  Reiches,  als  auch 
der  Sasanidenherrschaft   bis    zu    ihrer  Vernichtung    durch    die 

MitthcUimyen  a.  d.  histor.  Littemtur.    VII.  H» 

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194  Vischer,  Kleino  Schriften. 

Araber  (635)  geboten  hat,  froilich  wiirde  fiir  den  wfciteren  Leser- 
kreis,  auf  welchen  dieses  Geschichtswerk  besonders  berechnet  ist, 
eine  zusammenfassende  Uebersicht  der  Hauptereignisse  an- 
sprechender  gewesen  sein  als  die  Aufzahluug  der  einzelnen  Ko- 
nige  und  der  zum  Theil  sehr  gleichforraigen  Ereignisse  ihrer 
Regierung.  Unterbrochen  wird  dieselbe  durch  culturhistorische 
Schilderungen,  von  denen  namentlich  die  liingere  iiber  die  Bauten 
Chosro's  I.  und  iiber  die  unter  seiner  Regierung  beginnende 
Blttthe  von  Wissenschaft  und  Litteratur  Von  Interesse  ist.  Be- 
sonders eingehend  behandelt  er  dio  selbstandigen  religiosen 
Schriften,  welche  in  dieser  Zeit  neben  der  Uebersetzung  des 
Avesta  in  das  Neupersische  entstanden  sind,  namentlich  die  in 
demselben  aufgestellte  Sittenlehre. 

Auch  diese  Abtheilung  ist  mit  zahlreichen  Ulustrationen  ge- 
8ohmiickt,  welche,  wie  der  Verf.  in  der  Vorrede  angiebt,  meist 
nach  Federzoichnungen  ausgefuhrt  sind,  in  denen  er  selbst  Zeich- 
nungen  in  neueren  Reisewerkon  getreu  nachgebildet  hat.  In 
den  Text  eingedruckt  sind  zahlreiche  kleinere  Abbildungen  von 
Bauwerken  und  Sculptural,  ferner  von  Miinzen  und  Gemmen, 
welche  uns  die  Portraits  der  Fiirsten  vorfiihren.  Daneben  finden 
wir  4  Vollbilder:  die  Darstellung  eines  Marmorgrabes  von  Xan- 
thos  in  Lykien,  der  Ruinen  des  PaJastes  des  Xerxes  in  Peree- 
polis,  eine  Rcliefgruppe  von  der  Treppe  dieses  Palastes  (Kampt 
zwischen  Lowe  und  Stier),  endlich  eine  Gesammtansicht  der 
Ruinen  von  Persepolis.  Beigegeben  ist  ferner  das  Facsimile  einer 
Seite  des  Avesta  nach  der  Kopenhagener  Handschrift,  endlich 
zwei  auch  von  dem  Verf.  selbst  entworfene  Karten,  von  denen 
dio  eine  die  westlichen,  die  andere  die  ostlichen  Provinzen  des 
persischen  Reiches  und  die  angrenzenden  Lander  darstellt. 

Berlin.  F.  Hirsch. 


xxxxv. 

Vischer,  Wilhelm,  Kleine  Schriften.  2  Bde.  gr.  8.  Leipzig, 
1877—78.     S.  Hirzel.     32  M. 

Erster  Band:  Historische  Schriften,  heraus- 
gegeben  von  Prof.  Dr.  Heinrich  Gelzer.  Mit  einer 
lithographischen  Tafel.    (VIII  u.  615  S.) 

Zweiter  Band:  Archaologische  und  epigra- 
phische  Schriften,  herausgegeben  von  Dr.  Achil- 
les Burckhardt.  Mit  26  lithographischen  Tafeln  und  einer 
Beigabe:  Lebensbild  des  Verfassers  von  Dr.  A.  v.  Gonzenbact 
(LXVI  u.  669  S.) 

Die  Pflicht  der  Pietat  gegen  Manner,  die  einen  umfang- 
reichen  Wirkungskreis  mit  Ehren  ausgefullt  haben,  legt  es  den 
Hinterbleibenden  nahe,  als  dauernde  Beweise  fiir  das,  was  die 
Verstorbenen  der  Welt  genutzt  haben,  den  vorgefundenen  lite- 
rarischen  Nachlass  dem  Drucke  zu  ubergeben.  Dabei  ergiebt  ^ 
sich  oft,  dass  dieser  mit  der  Wirksamkeit  des  Lebenden  in  ein^n 

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Vischer,  Kleine  Schriften.  195 

umgekehrten  Verhaltnisse  steht,  weil  nach  einer  sehr  natiirlichen 
Wechselwirkung ,  je  mehr  der  Heimgegangene  einem  wichtigen 
Lebensberufe  mit  ganzer  Kraft  obgelegen  hat,  desto  geringere 
Zeit  fur  eigone  wissenschaftliche  Productionon  ubrig  gebliebea  ist. 

I.  Unstreitig  war  es  wohl  selten  einem  Schulmanne  beschie- 
den,  in  so  vollkommener  Weise  das  Ideal  zu  verwirklichen, 
welches  einer  tiichtigen  und  auch  alien  Eichtungen  des  prac- 
tischen  Lebens  erschlossenen  Personlichkeit  vorschweben  kann, 
wie  dem  am  5.  Juli  1874  verstorbenen  Professor  Dr.  Wilhelm 
Vischer  in  Basel.  Schon  in  friihen  Jahren  (1832  —  er  war  am 
30.  Mai  1808  geboren  — )  ertheilte  er  Unterricht  in  der  grie- 
chischen  Sprache  auf  den  hohern  Stufen  des  Padagogiums  zu 
Basel  und  begann  zu  gleicher  Zeit  seine  Vorlesungen  an  der 
dortigen  Universitat  (iiber  den  Prometheus  des  Aischylos  1832/33 
-  Kl.  Schr.  Bd.  2,  605  —  631).  Bald  darauf  (23.  August 
1834)  wurde  er  zum  Mitglied  des  grossen  Raths  des  Kantons 
Baselstadt  gewahlt,  im  December  1867  wurde  er  auch  Mitglied 
des  kleinen  Raths,  eine  Wurde,  die  er,  schon  schwer  krank,  am 
5.  Mai  1873  noch  einmal  iibernahm,  „um  den  Radicalen  nicht 
den  Gefellen  zu  thun  zu  gehen".  Endlich  iibernahm  er  (am 
28.  December  1867)  das  Presidium  des  Unterrichtscollegiums, 
dem  alle  Schulen,  hohe  und  niedere,  sammt  der  Universitat,  unter- 
geordnet  waren.  In  alien  diesen  Richtungen  hat  er  eine  rastlose 
und  segensreiche  Thatigkeit  entfaltet  und  ist  fast  immer  der 
Mittelpunkt  der  Kreise  gewesen,  in  die  das  Geschick  ihn  gestellt 
hatte,  aber  er  wurde  durch  seine  vielfachen  Verpflichtungcn  so 
in  Anspruch  genommen,  dass  seine  schriftstellerischen  Arbeiten 
nur  als  Nebenschosslinge  zu  betrachten  Bind;  es  sind  weithin  zer- 
streute  Aufeatze,  die  sich  um  jenen  Kern  gruppiren:  ein  ab- 
geschlossenes  Werk  von  grosserem  Umfange  zu  schaffen,  war 
ihm  nicht  beschieden. 

II.  Vischer  hat  immer  in  Basel  gelebt,  sein  ganzes  Leben 
hat  er  den  Interessen  seiner  Vaterstadt  gewidmet. 

Die  Schranken  der  engen  heimatlichen  Umgebungen  such- 
ten  seine  Eltern  mit  richtigem  Blick  dadurch  zu  brechen,  dass 
sie  ihn  schon  mit  acht  Jahren  der  damals  unter  Fellenberg 
bliihenden  Erziehungsanstalt  zu  Hofwyl  (bei  Bern)  iibergaben. 
In  dem  Umgange  mit  Sohnen  von  Fiirsten  und  Grafen  aus  aller 
Herren  Landern  lernte  der  nervos  reizbare  Knabe  sich  gesellig 
frei  bewegen,  bo  dass  Vischer  spater  wegen  der  Feinheit  und 
Eleganz  seines  Auftretens  ebensogut  fur  einen  deutschen  Baron 
als  fiir  einen  deutschen  Professor  genommen  werden  konnte. 
Durch  die  herrliche  Lage  des  Orts  und  die  Erziehung  aus- 
gezeichneter  Lehrer,  die  es  mehr  noch  auf  die  Ausbildung  des 
Characters  als  auf  die  Ueberlieferung  von  Kenntnissen  abgesehen 
hatten,  gewann  er  Liebe  fur  alles  Hohe  iu  der  Natur,  in  der 
Wissenschaft  und  in  der  menschlichen  Gesellschaft,  und  nie  hat 
er  Schwindel  empfunden,  auf  Bergeshohen  so  wenig,  als  in  hohen 
gesellschaftlichen  Kreisen,   trotz  seiner  Schwerhorigkeit,  .die  ihn 

18* 

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196  Vischer,  Kloine  Schriften. 

oft  zwang,    Augen   und  Oliren  zu  spitzen,  urn  einem  Gesprache 
folgen  zu  konnen  (a.  a.  0.  S.  XIX). 

Einen  freiern  Blick  gewann  er,  als  er,  nach  vorbereitenden 
Studien  an  der  heimischen  Universitat  (1825—1828  —  Gerlach, 
Kortiim)  und  einem  halbjahrigen  Aufenthalte  in  Genf  (zur  griind- 
lichen  Erlernung  der  franzosischen  Sprache),  die  Universitat 
Bonn  bezog  (Niebuhr,  Welcker),  von  wo  er  nach  zweijahrigem 
Studium  sich  nach  Jena  begab  (Mai  1830  —  Gottling,  Eich- 
stadt,  Luden)  und  hier  promovirte  (19.  April  1831),  worauf  er, 
nachdem  er  noch  fliichtig  Berlin  kennen  gelernt  hatte  (Boeckh), 
nach  Basel  zuriickkehrte.  So  hatte  er  den  Unterricht  und  den 
anregenden  Verkehr  der  bedeutendsten  Historiker  jener  Zeit  ge- 
nossen,  und  fand  in  der  Heimat  sofort  Gelegenheit,  die  crwor- 
benen  Kenntnisse  an  den  hohern  Bildungsanstalten  seiner  Vater- 
stadt  zu  verwerthen.  Die  historischen  Aufsiitze,  welche  in  die 
vorliegende  Sammlung  aufgenommen  sind,  bewegen  sich  in  dem 
engen  Rahmen  der  griechischen  Geschichte  von  dem  Ende  der 
Perserkriege  bis  zur  Schlacht  bei  Mantinea  (schon  promovirt 
hatte  Vischer  „iiber  die  Belagerung  von  Syracus").  Dor  Cha- 
racter dieser  Abhandlungen  ist  durch  die  Gelegenheit,  der  sie 
ent8tammen,  und  den  Ort,  wo  sie  Aufnahme  gefunden  haben,  von 
Vorne  herein  bestimmt.  Theils  sind  es  Programme  des  Pada- 
gogiums,  theils  academische  Gelegenheitsschriften,  theils 'Vortrage 
auf  Philologenversammlungen  (1848.  1855.  1870.),  dann  wiederum 
langere  oder  kiirzere  Beitrage  fiir  vcrschiedene  gelehrte  Zeit- 
schriften  (schweizerisches  Museum,  rheinisches  Museum,  Philo- 
logus,  Hermes,  Zeitschrift  fiir  die  Alterthumswissenschaft, 
Gottinger  gelehrte  Anzeigen,  Neue  Jahrbiicher  fur  Philologie, 
Preussische  Jahrbiicher,  Archaologische  Zeitung,  Archaqjpgischer 
Anzeiger,  Nuove  Memoire).  Auch  fiir  heimische  Zeitungen  und 
Sammelwerke  lieferte  er  Beitrage  (Bluntschli's  Staatsworterbuch, 
Baseler  Zeitung,  Grenzpost),  besonders  fiir  die  von  ihm  selbst 
ins  Leben  gerufene  Zeitschrift  fur  vaterlandische  Alterthums- 
kunde,  ebenso  fur  die  Jahresschrift  des  Vereins  schweizerischer 
Gymnasiallehrer.  —  Die  Herausgeber  der  Kleinen  Schriften  haben 
sich  der  miihevollen  Arbeit  unterzogen,  das  noch  jetzt  Werth- 
volle  zu  sammeln  und,  zur  bequemeren  Benutzung  fiir  den  Leser, 
nicht  nach  der  Jahresfolge  des  Erscheinens,  sondern  nach  der 
innern  Zusammengehorigkeit  gruppenweise  zu  ordnen.  Ausserdem 
bietet  Dr.  A.  v.  Gonzenbach,  welcher  mit  warmer  Hingebung 
und  echt  schweizerischem  Patriotismus  ein  Lebensbild  des  Ver- 
ewigten  entworfen  hat,  zum  Schlusse  seiner  Darstellung  eine 
Aufeahlung  aller  im  Drucke  erschienenen  Schriften  desselben 
nach  chronologischer  Folge.  Unter  diesen  hier  in  bunter  Reihe 
vorgefiihrten  Arbeiten  findet  sich  kein  fliichtiges  oder  oberflach- 
liches  Machwerk,  wie  dies  ja  bei  Gelegenheitsschriften  und  Pro- 
grammen  sehr  gewohnlich  ist.  Im  Allgemeinen  wird  zwar  sehr 
weit  ausgeholt,  da  ja  bei  den  Zuhorern  oder  Lesern  keine  ge- 
nauere  Kenntniss   der  Zeitverhiiltnisse  vorauszusetzen  war,  aber 

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Vischer,  Kleine  Schriften.  197 

auch  wo  die  (Jntersuchung  keine  neuen  Resultate  ergiebt,  er- 
freuen  wir  uns  an  der  lichtvollen  Darstellung  und  neuen  Ge- 
sichtspunkten  *).  Uebor  den  allgemeinen  Character  dieser  Auf- 
gatze  fallt  der  Biograph  folgendes  treffende  Urtheil:  „Alle  seine 
Arbeiten  sind  echte  selbstandige  Forschungen,  welche  das  Gebiet 
des  Wissens  wirklich  erweitern.  Er  gehort  nicht  zu  denen, 
welche  mit  dem  von  Andern  gesammelten  Material  spielen,  welche 
die  Bausteine,  die  langst  beigebracht  sind,  nur  noch  einmal 
durch  einander  werfen;  seine  Schriften  sind  immer  Fortschritte 
des  Erkennens,  sie  sind  allgemein  anerkannt  als  eine  Stufe  am 
grossen  Bau,  auf  der  sich  unbedenklich  weiter  bauen  lasst,  und 
auf  der  auch  er  und  Andere  weiter  gebaut  haben.  Oft  hat  er 
aucn  das,  was  er  sich  zur  Darstellung  gewahlt,  vollstandig  er- 
ledigt,  indem  er  aus  dem  historischen  Material  entwickelte,  was 
sich  daraus  entwickeln  lioss.  Und  das  geschah  ofter,  als  man 
bei  einem  fliichtigen  Blick  auf  die  neueste  Literatur  glauben 
mochte!  Er  blieb  eben  jeweilen  in  der  Untersuchung  bei  dem, 
was  die  Quellen  boten,  und  leitete  daraus  ab,  was  eine  gesunde 
Kritik,  eine  allseitige  Betrachtung  und  eine  sichere  Combination 
daraus  zu  •  gestalten  vermochten.  Wo  ein  festes  Resultat  nicht 
zu  gewinnen  war,  stellte  er  das  Wahrscheinliche  ans  Licht,  in 
Vermuthungen  hielt  er  Maass;  widerlich  war  es  ihm,  wenn  die 
Phantasie  die  niichterne  Forschung  verdrangte,  wenn  aus  Stellen, 
die  einfach  und  klar  da  lagen,  Dinge  gefolgert  wurden,  an  die 
der  Schreiber  wohl  zuletzt  wiirde  gedacht  haben,  und  so  in  die- 
selben  die  vorgefassten  Ansichten  moderner  Theoretiker  hinein 
interpretirt  wurden." 

III.  Nur  in  der  Schweiz  und  in  England  gab  es  zu  Anfang 
der  dreissiger  Jahre  ein  offentliches  politisches  Leben,  auf 
Deutschland  lastete  im  allgemeinen  ein  dumpfer  Druck  und  eine 
weit  verbreitete  Gleichgultigkeit  gegen  staatliche  Angelegenheitcn. 
Vischer  insbesondere  wurde  durch  das  Leben  in  einer  Republik, 
die  damals  gerade  die  schwersten  Kampfe  durchzumachen  hatte, 
befahigt,  in  lebendigerer  Weise  die  ahnlichen  Verhaltnisse  des 
athenischen  Volkes  aufzufassen.  So  blickt  er  denn  mit  einer 
gewissen  Vornehmheit  auf  die  deutsche  Geschichtsforschung 
herab,  die  sich  ahnliche  Aufgaben  gestellt  hatte.  (Ueber  die 
neueren  Bearbei  tungen  der  griechisohen  6e- 
schichte  1861.  Kleine  Schr.,  Bd.  1,  S.  511—533).  Nach 
seinem  Urtheile  haben  sich  die  Deutschen  zwei  Mai  hinter 
einander  ihren  einschlagigen  Bedarf  von  den  Englandern  holen 
miissen.  Zu  Anfang  unseres  Jahrhunderts  begniigten  sie  sich 
mit  Uebersetzungen  der  Werke  des  oberflachlichen  Oliver  Gold- 
smith, des  ausfiihrlicheren,  langst  veralteten  John  Gillies,  oder 
des  torystischen  William  Mitford.  Als  dann  Niebuhr  durch  seine 
romische  Geschichte  (1811)  den  Glauben  an  die  unbedingte  Zu- 


')  Vischer  klagt  mohrfach,  dass  seino  Arboitcn  von  Andern  ausgebeutct 
seion,  ohue  seiner  irgend  Erwahnung  za  thun  (Kl.  Schr.,  Bd.  1,  S.  128.  289). 


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198  Vischer,  Kleine  Schriften. 

verlassigkeit  dcr  Quellen  erschiittert  hatte,  durch  F.  A.  Wolff 
ein  neues  Leben  in  die  Alterthumsstudien  gekommen  war,  auch 
Nachwirkungen  der  franzosischen  Revolution  in  Deutschland  sich 
zeigten,  wandte  sich  die  Au&nerksamkeit  auch  hier  mehr  you 
den  aussern  Ereignissen  und  Kriegen  auf  die  tiefer  liegenden 
Ursachen  derselben,  auf  das  Yolksleben  in  alien  seinen  Ver- 
zweigungen,  auf  die  Einrichtungen  in  Staat  und  Gemeinde,  aut 
Sitte  und  Bildung,  Kunst  und  Wissenschaft.  Es  erschien  eine 
Reihe  „kritiscber  und  hyperkritischer"  Specialforschungen  (0. 
Miiller,  Boeckh),  selbst  „griechische  Alterthumer",  die  sich  ion 
den  fruheren  geistlos  zusammengestoppelten  Handbiichern  der 
Antiquitaten  sehr  vortheilhaft  unterschieden,  es  fehlte  aber  eine 
klare  Gesammtubersicht  der  Geschichte  nach  dem  Standpunkte 
der  neuern  Wissenschaft,  hier  mussten  die  Englander  zum  zweiten 
Male  helfend  eintreten.  Zuerst  schrieb  auf  dieser  Grundlage 
Connop  Thirwall  sein  Werk  1835  —  zuerst  Professor,  dann 
Bischof  —  mit  grosser  Gelehrsamkeit,  besonnenem,  kritischem 
Sinne  und  selbststandigem,  unbefangenem  Urtheile.  Ihm  folgte 
der  gelehrte  Londoner  Banquier  Georg  Grote  (seit  1846,  12  Bande), 
zu  dessen  Vorzugen  zu  rechnen  sind  grundliche  Kenntniss  der 
alten  Quellen  und  umfassende,  wenn  auch  nicht  immer  vollstan- 
dige  Beriick8ichtigung  der  neueren  Forschungen,  selbststan- 
diges,  scharfes  Urtheil,  ungewohnlich  klarer,  practischer  Blick 
in  die  politischen  Verhaltnisse,  lebendiger  Sinn  fur  Wahrheit, 
Fahigkeit  sich  in  die  antiken  Verhaltnisse  hinein  zu  versetzen,  mit 
den  Alten  zu  denken  und  zu  fuhlen,  ferner  ein  trefflicher  kri- 
tischer  Tact,  der  bei  widersprechenden  oder  mangelhaften  Nach- 
richten  in  der  Regel  das  Wahrscheinliche  zu  treffen  weiss  und 
mit  gliicklichem  Scharfsinn  die  Ursachen  der  Abweichungen  zu 
entrathseln  versteht,  der  auch  die  Schranken  historischer  Er- 
kenntniss  anzuerkennen  weiss,  nicht  Hypothesen  dem  Leser  fur 
geschichtliche  Wirklichkeit  darbietet  (Duncker,  Curtius).  Au8se^ 
dem  riihrnt  Vischer  noch  an  ihm  die  einfache,  allgemein  ver- 
standliche,  nicht  durch  Schultheorien  und  durch  Schulausdrucke 
getriibte,  aber  von  einer  edlen,  wohlwollenden  Gesinnung  ge- 
tragene  Darstellung,  riigt  aber,  als  zu  den  Mangeln  und  Schatten- 
seiten  gehorig,  eine  iibermassige  Breite,  die  oft  zur  Weitschwei- 
figkeit  werde,  die  iiberfliissige  Wiederholung  von  Lieblings- 
ideen  des  Verfassers,  die  Ausscheidung  der  Periode  bis  zur 
sogenannten  dorischen  Wanderung,  theilweise  sogar  bis  zur 
ersten  Olympiade  als  „legendary  liistory"  (wogegen  z.  B.  die 
Ucberreste  in  Mykcnai  sprachen),  die  zu  woit  getriebene  nega- 
tive Kritik  (z.  B.  das  ganzliche  Verwerfen  einer  Aeckertheiluiig 
in  Sparta),  die  Parteilichkeit  bei  Beurtheilung  der  Athener, 
welche  er  gegen  die  Vorwiirfe  von  Undankbarkeit,  Leichtsinn, 
Justizmorden  u.  a.  (Mitford)  verthcidigt,  mehr  wie  ein  (zwar 
scharfsinniger,  ernster)  Advocat  des  attischen  Demos,  als  wie 
ein  ruhig  und  parteilos  abwagender  Historiker.  (—  In  dieser 
Hinsicht    wird   jedoch    Vischer's   Urtheil    noch   an   innerer  Er- 

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Viseher,  Kleine  Schriften.  199 

bitteruog  ubertroffen  durch  Bernhardy's  Angriffc  gegen 
Grote  in  d.  G  run  dr.  d.  griech.  Lit.  I,  S.  465  — ).  Zuin  Be- 
weise  dient,  dass  Kleon  sogar  gegen  die  Angaben  des  Thuky- 
dides  in  Schutz  genomnien,  aber  die  Schuldlosigkeit  der  Sieger 
bei  den  Arginusen  in  Zweifel  gezogen,  endlich  aus  der  angeblich 
viel  gefahrlicheren  Sopbistik  des  Socrates  die  Berechtigung  der 
Atbener  zu  seiner  Verurtheilung  hergeleitet  wird. 

Diesen  grossen  Leistungen  der  Englander  gegeniiber  finden 
die  neueren  Gesammtdarstellungen  deutscher  Gelehrten  nur  ge- 
ringe  Gnade  vor  den  Augen  des  schweizer  Historikers.  Nie- 
buhr's  Vorlesungen  iiber  alte  Geschichte  (1846), 
obgleich  sie  sich  in  ibrem  weitaus  grosseren  Tbeile  mit  Griechen- 
land  beschaftigen,  werden  gleich  an  der  Schwelle  abgewiesen. 
Sie  seien  zwar  geistreich,  gelehrt  und  in  hohem  Grade  anregend, 
aber  fast  zwanzig  Jahre  friiher  gehalten,  kein  fertiges  Werk, 
auch  von  einem  Andern  zum  Drucke  befordert  und,  da  die 
bessernde  Hand  des  Verfassers  fehle,  voll  von  Ungenauigkeiten. 
Es  seien  freie  Vortrage,  fur  Studenten  berechnet,  trotz  sorg- 
faltiger  Vorbereitung  der  Erguss  der  jeweiligen  Stimmung,  reicb 
an  scharfen  und  lehrreichen  Winken  und  Beobachtungen,  aber 
nicht  von  gleichmassiger  Ausfiihrung  aller  Theile,  ohne  strenge 
Anordnung  im  Einzelnen,  ohne  die  gemessene  Abwagung  des 
Attsdrucks,  wie  sie  ein  abgescblossenes  Geschichtswerk  fordere, 
in  den  Urtheilen  oft  riicksichtslos  und  einseitig  (fiir  Athen,  daher 
Hass  gegen  Sparta,  gegen  Philipp  und  Alexander),  nur  an  der 
Hand  der  Quellen  mit  Nutzen  zu  losen. 

Sebr  gelobt  wird  dann,  zum  Tbeil  wohl  aus  schweizer 
Localpatriotismus,  Die  Geschichte  Griechenlands  von 
der  Drzeit  bis  zum  Untergange  des  Achaischen 
Bun  des  (1854)  vonFr.  Kortiim,  friiher  in  Hofwyl  und  Basel 
Yischer's  Lehrer,  damals  Professor  in  Heidelberg.  Viseher  klagt, 
dass  es  demselben  nicht  gelungen  sei,  sich  in  Deutschland  einen 
gedeihlichen  Wirkungskreis  und  Anerkennung  zu  verschaffen,  be- 
sonders  habe  er  seit  1848  durch  seine  herbe,  feindliche  Stimmung 
gegen  die  dort  vorherrschenden  Bestrebungen  sich  immor  mehr 
isolirt  und  die  gelehrte  Welt  entfremdet,  hierin  sei  zum  Theil 
der  Grund  fiir  die  geringe  Verbreitung  und  Beriicksichtigung 
seines  Geschichtswerks  zu  suchen.  Fiir  den  grossern  Kreis  der 
Gebildeten,  an  den  er  doch  bei  der  Abfassung  vorziiglich  ge- 
dacht  habe,  mache  ohnehin  die  originelle,  oft  ans  Sonderbaro 
streifende  Manier  der  Darstellung  und  die  eine  grosse  Gedanken- 
fiille  in  wenige  Satze  zusammendrangende,  an  ungewohnlichen 
Ausdriicken  reiche  Sprache  das  Buch  wenig  geeignet.  Es  ent- 
halte  aber  manches  Vortreffliche  und  zeichne  sich  durch  ernstes 
Streben  nach  strengster  Unparteilichkeit  aus. 

So  bleiben  denn,  meint  or,  zwei  Werke  ubrig,  die  gleich 
bei  ihrem  ersten  Erscheinen  die  grosste  Aufmerksamkeit  erregt 
haben  und  schon  durch  ihre  weite  Verbreitung  beweisen,  dass 
ibre  Verfasser  den  Ton  getroflfen  haben,  welcher  ein  Geschichts- 

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200  Vischor,  Kleine  Schriften. 

werk  aus  dem  engern  Kreise  der  bios  gelehrten  Litteratur  in 
den  weiteren  der  Nationallitteratur  hinaustragt  und  es  zu  einem 
Besitzthum  der  Gebildeten  iiberhaupt  macht 

Max  Duncker's  Geschichte  der  Griechen  (1856. 
1857)  ist  ein  Bestandtheil  seiner:  Geschichte  des  Alterthums  bis 
auf  die  Begrundung  der  Herrschaft  der  Caesaren,  worin  er  von 
dem  Orient  ausgehend  eine  zusammcnhangende  Entwickelung  der 
ganzen  alten  Geschichte  zu  geben  gedenkt  nach  den  sorgfaltig 
gepriiften  Ergebnissen  der  Specialforschungen  der  Orientalisten, 
Theoiogen,  Mythologen,  Archaologen,  PhSologeii,  Romanisten, 
und  zwar  mit  Betonung  der  Bedeutung  der  alten  Welt  fur  die 
spatere  Geschichte  und  die  Gegenwart.  Ernst  der  Gesimrong, 
griindliches  Studium,  Kenntniss  der  neueren  Forschungen  ver- 
bindet  er  mit  Unbefangenheit  des  Urtheils  den  verschiedenen 
politischen  Richtungen  gegeniiber.  Sehr  schon  •  ist  z.  B.  die 
griechische  Aristocratic  in  ihrer  Bliithezeit  dargestellt  (obwohl 
er  selbst  liberal  ist),  weniger  gelungen  die  Darstellung  der 
Tyrannis  (als  dem  modernen  Konigthum  entsprechend  auf  demo- 
cratischer  Basis).  Die  Anordnung  des  Stoffes  ist  ubersichtlich 
und  klar,  die  Darstellung  im  Ganzen  einfach  und  wiirdig,  aber 
oft  breit,  und  nicht  ohne  Manier.  Duncker  sucht  sich  von 
dem  Inhalte  einer  Periode  ganz  zu  durchdringen,  und  giebt 
dann  den  StofF  wie  ein  urspriinglicher  Erzahler  mit  frei  gestal- 
tender  Phantasie,  so  dass  er  oft  an  den  historischen  Roman 
streift.  Die  an  Grote  geriihmte  Kunst  des  Nichtwissens  wird 
ganz  bei  Seite  gesetzt,  die  ungewissesten  Hypothesen  werden  mit 
apodiktigcher  Sicherheit  vorgetragen. 

Ueber  E.  Curtius  endlich  (seit  1857  —  Weidmann'sche 
Sammlung)  urtheilt  Vischer,  der  nur  erst  den  ersten  Theil  der 
griechischen  Geschichte  genauer  kannte,  in  folgender 
Weise.  Die  durch  das  vortreffliche  Werk  iiber  den  Peloponnes 
hochgespannten  Erwartungen  sind  nicht  getausoht  worden.  Der 
Verfasser  will  in  einem  Werke  von  massigein  Umfange  das 
uberaus  reiche  Material  der  Monographien  zusammenfassen  and 
ein  lebendiges  Bild  von  dem  griechischen  Volke  und  seiner  Ge- 
schichte entrollen,  indem  er  die  Ergebnisse  eigener  und  fremder 
Forschung  ubersichtlich  darstellt  und  durch  Nebeneinander- 
stellen  grosserer  Gruppen  den  innern  Zusammenhang  selbst 
sprechen  und  wirken  lasst.  Da  er  fur  die  Gebildeten,  nicht  fur 
die  Gelehrten  schrieb,  gab  er  anfanglich  keine  (spater  nur  spar- 
liche)  Belege  fur  Darstellung  und  Auffassung.  Diese  Methode 
wird  hochst  gefahrlich,  wo  ganz  neue  Satze  und  Vermuthungen 
aufgestellt  werden  und  fiihrt  zu  einem  Vermengen  des  Sichern 
und  Hypothetischen.  Sonst  ist  der  Stoff  mit  grosser  Kunst  ge- 
staltet.  Die  verschiedenen  Seiten  des  Volkslebens  sind  mit  war- 
mer Theilnahme  gezeichnet,  dio  Urtheile  sorgfaltig  erwogen,  der 
Boden,  auf  dem  die  Griechen  gelebt  und  gewirkt  haben,  meis^ 
haft  geschildert.  *Sein  mehrjahriger  Aufenthalt  in  Griechenland 
hat  ihm  einen  grossen  Vorzug  vor  Duncker  und  Grote  gegeben. 

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Viscber,  Kleine  Schriften.  201 

IV.  Fur  eine  unbefangene  Auffassung  der  eigeuen  Leistungen 
Vischer's  ist  e8  nothwendig,  auf  seinen  politischen  Parteistand- 
punkt  Riicksicht  zu  nehmen.  Die  blutigen  Vorgange  des 
3.  August  1833  zwangen  ihn,  mit  dem  republikanischen  Ideale  zu 
brechen.  Landschaftliche  Truppen  hatten  das  von  der  Regierung 
der  Stadt  Basel  den  ihr  treu  gebliebenen  Gemeinden  zu  Hiilfe 
gesendete  Militar  auf  das  Grausamste  und  Schonungsloseste 
niedergemacht.  Die  dem  Befehlshaber  dieser  hingemordeten 
Mannschaften,  dem  Vater  unseres  Vischer,  seitens  der  Bundes- 
behorden  zugefugten  Krankungen,  welche  sich  dann  auoh  auf 
andere  Familienglieder  ausdehnten,  erfiillten  den  jungen  Mann 
mit  Hass  gegen  Alles,  was  von  den  Eidgenossischen  Centralbe- 
horden  ausging  und  liessen  ihn  alles  Heil  von  der  aristocrati- 
schen  Partei  hoffen,  der  er  schon  seinen  Familienverbindungen 
nach  angehorte.  So  beisst  es  vom  Untergange  des  pytha- 
goreischen  Bundes  (Kl.  Schrft.  Bd.  1,  S.  156):  Allein  das  zum 
blinden  Gehorsam  unter  die  Aristocraten  bestimmte  Volk  machte 
diesem  Versuche,  ein  philosophisches  Ideal  zu  realisiren,  ein 
fiirchtbares,  blutiges  Ende. 

V.  Das  Jahr  1852  bot  Vischer  die  lange  gewiinschte,  und 
reichlich  benutzte,  Gelegenheit,  den  Schauplatz  der  Begebenheiten 
kennen  zu  lernen,  deren  Erforschung  und  Darstellung  er  bereits 
zwanzig  Jahre  seines  Lebens  gewidmet  hatte.  Die  grosse  Reise, 
die  er  1852 — 1853  durch  Griechenland  machte,  und  dann  durch 
Italien,  wo  er  mit  Welcker  zusammentraf,  hatte  nicht  bestimmte 
Ebzelforschungen  zum  Zwecke,  deshalb  meinte  Vischer,  dass  er 
nicht  viel  Neues  finden  konnte  und  gefunden  habe.  Dennoch  hat 
er  auf  mehrfachen  Wunsch  die  Ergebnisse  veroflfentlicht.  (Er- 
innerungen  und  Eindrucke  aus  Griechenland. 
Basel.  Schweighauser  1857.)  Dieses  umfangreichste,  aber  schwer 
zugangliche  Werk  Vischer;s  ist  von  den  Herausgebern  der  Kleinen 
Schriften  nicht  mit  aufgenommen  worden,  was  sehr  zu  bedauern, 
da  die  meisten  Leser  es  gewiss  mit  grosserm  Danke  entgegen- 
genommen  hatten,  als  den  grossten  Theil  der  umfangreichen 
epigraphischen  Beitrage.  Es  ruhmt  namlich  v.  Gonzenbach  dieser 
Reisebeschreibnng  nach  die  durchaus  zuverlassige  Beobachtung 
der  Landschaft,  die  ge^chickte  Weise,  die  geschichtlichen  That- 
sachen  auf  diesem  beschriebenon  Schauplatz  dem  Leser  vor  Augen 
zu  stellen;  dann  fahrt  er  fort:  Gerade,  wer  sich  nicht  mit  den 
weitschichtigen  topographischen  und  geographischen  Forschungen. 
iiber  Altgriechenland  befassen  will,  noch  kann,  wird  gerne  bei 
dem  Lesen  der  griechischen  Historiker  Vischer's  Erinnerungen 
aufschlagen,  um  sich  daraus  von  der  Ebene  von  Argos,  von  dem 
heiligen  Sunion,  von  dem  Felde  von  Plataa  eine  klare  Anschauung 
zu  bilden.  (L.  LI.)  Vischer  selbst  hatte  endlich  in  die  Ver- 
offentlichung  gewilligt,  weil  er  mehrfach  Gelegenheit  hatte,  zu 
bemerken,  wie  wenig  richtige  Kenntniss  des  alten  und  neuen 
Griochenland8,  trotz  der  verschiedenen  neueron  Werke,  oft  selbst 
bei  Mannern  von  Fach  verbreitet  wiiren.     Eine  zweite  Reise  nach 

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202  Vischer,  Kleino  Schriften. 

Griechenland  unternahm  derselbe  im  Jahre  1862  auf  die  Ein- 
ladung  von  E.  Curtius  und  wohnte  der  Ausgrabung  des 
Theaters  dos  Dionysos  in  Athen  bei.  (Bericht  aus 
dem  Neuen  Schweiz.  Mus.  1863,  III,  S.  1—35,  KL  Schr.  Bd.  2, 
S.  324—390.) 

VI.  Von  der  Anschauung,  die  Vischer  von  Land  und  Leuten 
gewonnen,  erhalten  wir  gelegentlich  Mittheilung  bei  Einfiihrung 
der  epigraphischen  Entdeckungen.  Wichtige  Aufschliisge  iiber 
das  alte  Griechenland  enthalten  die  Anzeigen  und  Beurtheilirogeii 
zweier  Schriften,  die  wir  im  Auszuge  mittheilen.  Besonden 
interessant  ist  es,  zu  sehen,  wie  manche  kuhne  Combinations 
von  Curtius  vor  der  niichternen  Kritik  Vischer's  zerfliessen. 

August   Baumeister,    Topographische   Skizze 
der    Insel    Euboia.      Mit    zwei    lithographischen    Tafeln. 
Liibeck,  im  Februar  1864.     74  S.  in  Quart.     (Recension  zuerst: 
Goetting.  Gel.  Anz.  1864.  S.  1361—1383,  dann  auch  KL  Schriften 
Bd.    1,    S.  588-604,   wo  Vischer    noch   einen   Plan   der  Stadt 
Kerinthos  beigegeben  hat.)  —  Baumeister  hatte  1854  drei  Wochen 
lang  alle  Theile  von  Euboia  durchwandert  und  wurde  von  noch 
weiterer   Durchforschung   der  Insel  nur   durch   die    damals  im 
Zu8ammenhang  mit  dem  orientalischen  Kriege  eingetretene  Un- 
sicherheit  abgehalten.     In  topographischer  Hinsicht  sind  wir  iiber 
keinen  Theil  Griechenlands   so  wenig  unterrichtet.     Wir  kenneu 
die  alten  Namen  einiger  Berge  und  Vorgebirge,  mit  annahernder 
Sicherheit   die   einiger  Fliisschen,   die  Lage  von  etwia  acht  oder 
neun  Ortschaften,  die  grosstentheils  ihre  alten  Namen  nur  wenig 
verandert  haben.     Selbst  die  wenigen  Namen  auf  der  Karte  von 
Kiepert  beruhen  zum  Theil  auf  sehr  unsicherer  Vermuthung.    In 
Folge   der   natiirlichen  Beschaffenheit   der  Insel   hatte  sich  ihre 
Geschichte    in   wenigen  Hauptstadten   concentrirt,    die   iibrigen 
zahlreichen  Ortschaften   waren   wohl  nicht  viel  mehr  als  Dorfer 
und   boten  zur   Erwahnung   selten  Anlass.     Von   alten   Schrift- 
stellern  hat  Pausanias  die  Insel  nicht  in  den  Kreis  seiner  Perie- 
gese   gezogen,   Strabo   ist   diirftig  und  ungenau,    der  Werth  der 
erhaltenen  Inschriften  gering.     Die  Zahl  der  Ortsnamen  betragt 
bei  Baumeister  105  —  darunter  auch  manche  nur  verschiedeue 
Formen   und   die   allgemeinen  Namen   mitgezahlt  — ,  und  unter 
diesen  ist  bei  vielen  keine  Moglichkeit  gegeben,  ihnen  ihren  Platz 
anzuweisen.     Umgekehrt  finden   wir   manche  Spuren   alter  Ort- 
.  schaften,  ohne  sie  benennen  zu  konnen.     Bedeutend  freilich  sifid 
die   wenigsten    dieser   Ueberrestc.      Von   der   Pracht  der  alten 
Hauptstadt  Chalkis  ist   nur,   was   in   den  Felsboden  eingehauen 
war,   iibrig  geblieben.     Ansehnliche  Ruinen   finden   sich   h&upt* 
sachlich  von  Eretria  und  an  einigen  Orten  des  siidlichen  Theflcfi 
der  Insel,   diese   meist   aus   sehr   alter  Zeit.  —  Wenn  man  der 
geographischon   Gestaltung    nach   Euboia    in    einen   ndrdlichen, 
mittleren   und   siidlichen  Theil   zerlegt,   so   hat  Baumeister  sich 
vorherrschend    mit    dem    mittlern    und    siidlichen    beschaftig*. 
Vischer  auch  den  nordlichen  zwei  Mai  besucht  und  genaa  dureh- 


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Vischer,  Kleine  Schriften.  203 

for8cht.  Deshalb  zeigt  er  dort  uberall  Autopsie  und  sucht  Bau- 
ineister  zu  bericlitigen.  Wo  an  der  Sudwestkiiste  das  von  der 
See  etwas  zuriicktretende  Gebirge  Raum  darbot,  lagen  die  Dry- 
operstadte  Karystos  und  Styra  (jetzt  Stura).  Vischer  giebt  hier 
gelegentlich  Nachricht  yon  einem  merkwiirdigen  Funde,  man 
entdeckte  namlich  in  der  Nahe  des  alten  Styra  bei  einem  alten 
viereckigen  Denkmale  in  einer  thonernen  Urne,  die  aber  zer- 
brochen  war,  eine  grosse  Anzahl  von  kleinen  langlichen  Blei- 
plattchen  mit  Inschriften  (evQe&rjoav  dd,  wg  lfyetaiy  ev  Evpoiq, 
ml  drj  ev  2rtQOig  tfjg  Evfioiag  neqi  TezQaytoviKov  xi  [ivijfxelov 
ivzbg  %aX7tr\g  7ttjXiv7jg  avvreTQi(.ifxe'vrig  evqe&eiarjg,  nqb  oXLyoyv  izuiv. 
Rusopulos  in  A  archaol.  Ephem.  von  Atben,  Neue  Folge  1862, 
S.  276).  Urspriinglich  erklarte  Vischer  das  Denkmal  fiir  ein 
Polyandrion,  und  die  Inschriften,  meinte  er,  enthielten  die  Namen 
der  gemeinsam  in  einem  Kriege  gefallenen  Manner,  wobei  es 
freilich  merkwiirdig  sei,  dass  die  Namen  in  dem  Grabe  verborgen 
waren.  (KL  Schr.  Bd.  1,  S.  594)  Als  er  spater  75  dieser 
Tafelchen  in  seinen  Besitz  gebracht  hatte,  und  54  abgebildet 
mit  Erlauterung  herausgab  (Alte  Bleiinschrifte  n  aus 
Styra  auf  der  Insel  Euboia  (1867).  KL  Schr.  Bd.  2, 
S.  116 — 139),  versuchte  er  eine  andere  Deutung,  sie  seien  fur 
die  Loosung  bestimmt  gewesen,  da  ja  bekanntlich  in  den  grie- 
cliischen  Democratien  viele  Aemter  und  grosse  Collegien,  wie 
der  Bath   und   die   Gerichte,   durch   das  Loos   besetzt  wurden. 

(a.  a.  0.,   S.  136.) Eiue  zweite  Merkwiirdigkeit,  die  Vischer 

auf  Euboia  fand,  waren  die  Einschnitte  im  Felsboden  an  dem 
steinigen  Hiigel  Karababa  (Kanethos)  gegeniiber  Chalkis,  welche 
derselbe  mit  Boss  fiir  die  Fundamente  der  alten  Euriposfesten 
crklart,  gegen  Bursian  und  Baumeistor,  die  darin  Graber  zu  er- 
kennen  glaubten.  Besondere  Sorgfalt  wendet  Vischer  darauf,  die 
Notizen  iiber  Lage  (Urlichs)  und  Geschichte  des  alten  Kerinthos 
(von  dem  er  eine  Karte  beigiebt)  und  die  von  Baumeister  mit 
Bezug  auf  eine  misverstandene  Stelle  des  Theognis  gegebonen 
Nachrichten  iiber  die  Schicksale  der  Stadt  zu  berichtigen. 

E.  Curtius,  zur  Geschichte  des  Wegebaus  bei 
den  Griechen.  (Bee.  zuerst  in  d.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Padag. 
1856.  Bd.  LXXIII,  S.  131—140.  KL  Schr.  Bd.  2,  S.  645-659.) 
Der  Wegebau  hatte  bei  den  Griechen  zwei  Hauptarten :  entweder 
bestand  er  im  Lichten  der  Waldungen  und  Ebnen  der  Bahn  auf 
festem  Boden,  oder  im  Auffuhren  von  Dammen  in  sumpfiger 
Niederung.  Im  Letztern  waren  die  Phonicier  Lehrer  und  Vor- 
bild  (die  bootischen  Gephyrai,  Gephyraier).  Schon  die  homeri- 
schen  Helden  durchreisen  auf  ihren  Wagen  ungehindert  das 
ganze  Land.  —  Spater  tritt  in  Folge  der  republikanischen 
Gleichstellung  der  Wagenverkehr  nicht  nur  in  den  Stadten  und 
ihrer  Umgebung,  sondern  auch  auf  Reisen  zuriick.  Die  wyQO- 
dgofioi  werden  gebraucht  fiir  Eilbotschaftenv^elbst  Gosandtc  reisen 
2u  Fuss.  Hauptstrassen  werden  Bediirfniss :  a)  fiir  die  Ziige  der 
Festgenossen   nach   den  Heiligthiimern  (heilige  Strassen),    b)  fiir 

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204  Vischer,  Kleine  Schriften. 

den  Waarentransport  aus  dem  Binnenlande  nach  der  Kiiste.  — 
Bei  dem  vorzugsweise  stein  igen  Boden  wurde  nicht  die  ganze 
Flache  geglattet,  sondern  nur  Geleise  (t%vrj)  fur  die  Rader  aus- 
gehauen,  welche  sich  vielfach  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten 
haben,  in  der  regelmassigen  Breite  von  1,62  m.  (bdov  xinmv, 
QvfAoroiiia,  viam  secare.)  —  Das  Geleise  war  entweder  doppelt 
angelegt,  oder  mit  Ausweichstellen  (hiTQ07iai)  versehen,  wie  man 
sie  noch  jetzt  in  Laconien  findet.  Der  Weg  lief  meist  in  Thalern, 
und  in  Kriimmungen,  in  Steigen  und  Fallen  dem  Terrain  sich 
anschliessend.  —  Wo  die  Natur  einen  Zugang  versagt  zu  haben 
schien,  verzichteten  die  Griechen  auf  Fahrstrassen.  So  war  im 
Lande  der  Lykier  die  ganze  stadtereiche  Gegend  ostlich  von  der 
Xanthosmundung  ohne  Fahrstrasse,  und  iiber  den  Isthmos  fuhrte 

bis  auf  Hadrian  nur  ein  schmaler  Fusssteig. Die  heiligen 

Strassen  waren  1)  solche,  die  der  Gott  selbst  gewandelt 
sein  sollte,  der  Verbreitungsweg  des  Cultus,  nur  bei  einge- 
wanderten  Gottern  moglich,  z.  B.  bei  Apollo,  fur  den  in  Delphoi 
die  verschiedenen  Bahnen  zusammenlaufen,  auf  denen  der  Gott 
ins  Land  gezogen  ist.  Dem  ahnlich  sind  die  Verbindungsstrassen 
nach  den  Filialen  des  Tempels.  2)  Indem  das  Heiligthum 
eines  uberwaltigten  Staats  mit  der  Hauptstadt  der  Sieger 
verbunden  wird.  (Amyklai  mit  Sparta,  Olympia  mit  Elk) 
—  Zur  Ausstattung  der  heiligen  Wege  gehorte  zunachst  ein  in- 
augurirter  Ausgangspunkt,  z.  B.  das  Festthor  in  Elis, 
oder  ein  dem  Endpunkte  entsprechendes  Heiligthum.  Die  heilige 
Strasse  von  Athen  nach  Delphoi  ist  lehrreich  fur  die  Entstehuug 
solcher  Strassen.  Der  Apollocultus  wanderte  von  Delos  Dact 
der  Ostkiiste  von  Attika,  hier  wurde  er  gepflegt  von  der  jonischen 
Tetrapolis  (Marathon,  Oinoe,  Probalinthos,  Trikorythos,  vergL 
auch  Bursian  Geog.  v.  Griech.  I,  S.  339.  340),  und  von  dort 
durch  das  Asoposthal  weiter  nach  Boiotien  und  nach  Delphoi 
verpflanzt,  erst  mit  dem  Versetzen  der  jonischen  Geschlechter 
aus  der  Tetrapolis  nach  Athen  kam  er  dahin.  —  Spater  ging 
nun  die  heilige  Strasse  vom  Pythion  in  Athen  aus,  aber  nicht 
iiber  das  Poikilongebirge  auf  dem  Eleusinischen  Wege,  sondern 
zunachst  nach  der  Tetrapolis,  wo  in  dem  Pythion  des  Mara- 
thonischen  Oinoe  noch  besonders  die  Zeichen  fiir  die  Theorie 
beobachtet  wurden,  von  da  iiber  Tanagra  weiter.  —  ZwischeJi 
dem  Anfangs-  und  Endpunkt  der  heiligen  Strassen  waren  Sta- 
tion en,  die  an  die  Schicksale  des  Gottes  erinnerten,  Heilig- 
thumer  anderer  Gotter,  Heroa,  Graber  x)  —  und  der  Weg  war 
iiberhaupt  moglichst  anmuthig  gemacht,  —  je  naher  dem  Tempel, 
desto  reicher  an  Baumen,  Statuen,  auch  Marmorsesseln  (auf- 
fallend  ist  beim  Didymaion  in  Kleinasien  und  bei  Teos  eine  den 
agyptischen   Tempelzugangen   anaioge  Einfassung   mit  Kolossen). 


J)  Doch  nur  insofern  sie  in  dio  Augon  fallonde  Punkte  ausmacbteu- 
deren  es  auch  audore  gab ,  wie  z.  B.  der  Thurm  des  Polygnotos  anf  da 
Strasse  von  Argos  nach  Korinth.    Plat.  Arat.  5,  6.    Vise  her. 


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Vischer,  Kleine  Schriften.  205 

Das  Thor  des  Tempelhofs  bildete  den  Schluss  der 
heiligen  Strasse,  es  war  oft  an  der  Westseite  gelegen.  — 
Die  heiligen  Strassen  wurden  natiirlich  auch  zum  profanen  Verkehr 
benutzt  und  waren  die  Vorbilder  anderer  Kunststrassen.  Man 
brauchte  die  Strassen,  als  offentliches  Gut  (drjfxooiov,  Allmende), 
vielfach  als  Grenzbestimmung ,  sie  standen  unter  sorgsamster 
Aufsicht  des  Staats  (Sparta,  Athen  —  seit  den  Pisistratiden  war 
die  Entfernung  versdhiedenor  wichtiger  Orte  von  dem  Zwolf- 
gotteraltar  auf  dem  athenischen  Markt  Yerzeichnet).  Alle  Heer- 
strassen  standen  unter  dem  Schutz  der  Gotter,  und  mit  ibnen 
der  Wanderer,  dem  den  rechten  Weg  zu  zeigen  als  eine  religiose 
Pflicht  gait.  *)  Besondere  Schutzgotter  der  Strassen  sind  Apollo 
(ayvievg  als  Sonnengott  und  Wegebabner),  Hermes  als  Gott  des 
Geleites  (sQfxala  Steinhaufen  —  Grenzstein,  Wegweiser  —  daraus 
der  Name  des  Gottes),  Artemis  als  Enodia,  Hegemone,  Hekate, 
Epipyrgidia,  Eileithyia,  Athena,  Herakles,  Pan.  —  Ausserdem  na- 
tiirlich Fusspfade  (ccTQctTtol),  z.  B.  der  iiber  1000  Stufen 
zahlendc  parnassische  Fusssteig.  (Eine  Skizze  desParnass 
und  seiner  Umgebung  hat  Vischer  vorgetragen  auf  der 
Philologenversammlung  zu  Altenburg  1855.  Vergl.  Verhandlungen 
dieser  Versammlung  S.  69.)  —  Von  den  Ringmauern  und 
Stadtthoren  und  ihrem  Verbal tniss  zu  den  Wegen  wird  so- 
dann  bemerkt:  Im  Peloponnes  findet  sich  zuerst  der  Mauerbau 
und  die  einthorige  Umwallung  der  Berghaupter  (in  der 
grossten  Vollendung  in  Argolis).  Die  mehrthorige  Umwallung 
der  Stadte  zuerst  in  Boiotien,  an  Theben  kniipfen  sich  die  meisten 
My  then  vom  Stadtebau.  —  Bei  der  AnlagederThore  herrscht 
durchweg  der  Gesichtspunkt,  die  rechte  Seite  —  Lanzenseite  — 
der  Angreifenden  den  Geschossen  so  lange  als  moglich  auszusetzen. 
Daher  riihren  die  Mauervorspriinge,  aus  denen  dann  Thiirme 
wurden,  zuerst  nur  an  den  Thoren,  daher  Thurm  oft  gleichbe- 
deutend  mit  Thor.  Dann  traten  an  ihre  Stelle  die  kunstreichen 
Festungseingange  (Mantineia).  —  Das  Zusammentreffen  ver- 
schiedener  Strassen  vor  don  Thoren  und  religiose  Bedurfnisse 
fiihrten  gegeniiber  jenen  fortificatorischen  Riicksichten  zu  den 
Verbindungen  mehrerer  Thoreingange  neben  einander  (das  Athe- 
nische  Dipylon).  Dass  sich  mit  militarischer  Festigkeit  auch  die 
Iiiicksicht  auf  Wiirde  und  Schonheit  vereinigt  finde,  wird  gegen 
Curtius  von  Vischer  durch  Anfuhrung  des  Arkadischen  Thores 
in  Messene  erwiesen.  Unter  den  Thoren,  welcho  Provinzen 
trennten   oder  vorbanden,  sind  die  Pylen  oder  Thermopylen  die 


J)  Characteristisch  far  dio  Soelenstimraung  Vischer' a  ist  folgende 
Aeusserung  bei  dieser  Gelegenheit.^  Kl.  Schrft.  Bd.  II.,  S.  649:  Eine 
nierkwiirdige  Analogic  daniit  fand  sich,  wenigstens  bis  vor  wenigen  Jahren, 
im  Canton  Unterwalden,  wo  joder  Landniann  verpflichtet  war,  dem  Reisenden 
d^n  Weg  zu  weison.  Ich  weiss  nicbt,  ob  diese  schiine  Ordnung  noch  besteht, 
oder  ob  sie  einer  alle  Eeste  alter  .frommer  Sitte  vertilgenden  verraeinton 
Cultur  hat  weichen  mtlsson,  der  es  bedonklich  erscheinen  mag,  die  Leute 
tinen  Augenblick  der  Arbeit  zu  cntziehen. 


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206  Vtecher,  Kleine  Schriften. 

beriihmtesten.  —  In  der  Anlage  der  Strassen  unterscheiden 
sich  die  allmahlich  gewordenen  Stadte  mit  ihren  unregelmassigen. 
oft  engen  und  krummen  Strassen  von  den  neuern  nach  einem 
bestimmten  regelmassigen  Plane  angelegten.  Diese  Neuerang 
stammte  aus  Asien  (Babylon),  kam  durch  die  Jonier  nach 
Griechenland,  der  Milesier  Hippodamas  baute  die  Stadt  Peiraieus. 
Spater  wurden  in  grossartigster  Weise  die  Macedonischen  Stadte 
des  Orients  aufgefiihrt  (Antiocheia,  Seleukeia  —  Vischer  fugt 
mit  Recht  nocb  Alexandreia  binzu  mit  seinen  im  rechten  Winkel 
sicb  durchschneidenden  iiber  100  Fuss  breiten  Hauptstrassec 
Strabo  793  C.  Diodor  XVII,  52).  —  In  alien,  auch  den  prach- 
tigsten,  befand  sich  das  einfache  althellenische  Symbol  des  Om- 
phalos in  der  Mitte  der  Stadt,  wo  die  beiden  Hauptstrassen  sich 
kreuzten.  —  Curtius  erklart  dies  Wahrzeichen  als  das  Abbild 
des  aus  der  deukalionischen  Fluth  hervorragenden  Berghauptes, 
also  fur  das  Symbol  der  Erde,  und  weil  diese  immer  von  Neaem 
befleckt  wird,  muss  der  Omphalos  immer  von  Neuern  durch  das 
herabfliessende  Opferblut  gereinigt  werden. 

Nachdem  Vischer  so  dem  Verfasser  des  Aufsatzes  bis  zum 
Ende  mit  Aufmerksamkeit  gefolgt  ist,  macht  er  folgende  Ein- 
wendungen:  In  der  Heroenzeit  gab  es  ein  Netz  von  Strassen, 
spater  nicht:  sind  jene  verfallen  und  unbrauchbar  geworden? 
Zum  Theil  sicherlich ;  denn  zu  Theseus'  Zeiten  gab  es  eine  Strasse 
zu  gottesdienstlichen  Zwecken  iiber  den  Isthmus,  spater  nur  einen 
Fusspfad.  Nun  fallt  aber  die  Anlage  der  Apollonischen  Strassen 
in  die  fruheste  Heroenzeit.  —  Ferner  war  wohl  fur  die  Anlegong 
der  Strassen  neben  dem  Waarenverkehr  nach  der  Kiiste  das 
militarische  Bediirfniss  bestimmend  (Lakedaimon),  mehr  noch  bd 
den  Volkern  des  mittleren  und  nordlichen  Griechenlands,  die 
durch  ihre  Reiterei  sich  auszeichneten.  —  Die  Strassen  der 
Stadte  waren,  abgesehen  von  den  religiosen  Riicksichteii,  ein 
nothwendiges  Bediirfniss,  lewg<p6(>og  und  ayvid  bedeute  nicht 
Strasse  fiir  Festziige,  sondern  die  von  einer  Menge  betreteoe 
Strasse,  wie  Her.  I,  187:  al  \iakiota  XecogyoQOi  nvXai  und  der 
Pythagoreische  Spruch:  Xewgqtoqovg  odovg  nrj  arel^e.  —  Sodann 
bezweifelt  Vischer,  dass  bdov  ri/xvetv,  QV(j,oTO[*la,  secare  viam 
vom  Einhauen  der  Geleise  abzuleiten  sei,  vielmehr  bedeute  wjurtw 
das  Bahnen  der  Strassen  durch  Walder  und  felsige  Gegen- 
den,  und  Thukydides  sage  von  Archelaos  Makedonien  II,  100: 
odovg  ev&eiag  eve^ey.  Die  Worter  §v[.iOTO[ieiv  und  QVfiotofiia 
kenne  er  nur  von  den  eine  Stadt  durchschneidenden  geraden 
Strassen.  Endlich  bedeute  Xyvog  wohl  nicht  eingehauenes  Geleis, 
im  Gegensatz  zu  aQ/^avoTQoyJa,  der  im  Sande  sich  voriibergehend 
bildenden  Wagenspur.  Jene  Bedeutung  sei  vielleicht  in  eia- 
zelnen  Stellen  von  Inschriften  zu*  statuiren,  aber  nicht  die  ge- 
wohnliche  und  erst  aus  der  allgemeinen  abzuleiten,  wie  wir  Bad 
und  Spur  von  den  voriibergehend  eingedriickten  Radspuren  wf 
die  eisernen  Schienenbahnen  iibertragen  haben.  —  Die  Beliaup- 
tuug,    dass  die  Hollenen,  wo  die  Natur  den  Weg  versperrte,  anf 

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Vischer,  Kleine  Schriften.  207 

die  Anlegung  von  Fahrstrassen  verzichteten,  ist  zu  allgemein  ge- 
fasst.  Schon  in  der  Heroenzeit  gab  es  eine  Fahrstrasse  iiber 
die  wilden  Joche  des  Taygetos,  die  man  jetzt  nur  miihsam  mit 
Maulthieren  iibersteigt ;  ferner  baute  der  eben  erwahnte  Archelaos 
in  dem  gebirgigen  Macedonien  Fahrstrassen,  ohne  sich  an  das 
Terrain  anzuschiiessen.  Ueber  den  Isthmos  habe  zwar  nach 
Pausanias  Skiron  einen  Weg  fiir  nistige  Manner  gebahnt  (evtw- 
voig  avdQaoiv),  und  erst  Hadrian  ein  Fahrstrasse  fur  zwei  Wagen 
gebaut,  aber  Curtius  selbst  erwahne  eino  heilige  Strasse  langs 
des  Saronischen  Meerbusens  zur  Zeit  des  Theseus,  und,  von  dieser 
mythischen  Zeit  abgesehen,  sagt  Herodot  (VUI,  71),  die  Pelo- 
ponnesier  hatten  im  Perserkriege  die  Skironische  Strasse  ver- 
schiittet,  wo  doch  odog  kaum  einen  blossen  Fusspfad  bedeuten 
kann.  Dieselbe  Strasse  haben  nach  Aristides  im  Panathenaikos 
S.  333  die  Theoren  der  Athener  benutzt ,  eine  Strecke  von 
Hopliten  begleitet,  da  die  Athener  mit  den  Korinthern  damals  in 
Streit  waren,  die  sie  nicht  zu  den  isthmischen  Spielen  zulassen 
wollten.  Wann,  ist  ungewiss,  wohl,  bevor  die  Strasse  verschiittet 
war.  Gegen  eine  Wiederherstellung  spricht  der  Umstand,  dass 
sie  Archidamos  nicht  benutzte,  da  er  iiber  Oinoe,  nicht  iiber 
Eleusis  Attika  betrat.  —  Ueberdies  fiihrtc  iiber  den  Isthmos  auf 
der  nordwestlichen  Seite  der  Geraneia  eine  wenn  auch  beschwer- 
liche  Fahrstrasse  nach  Boeotien,  aiif  der  die  peloponnesischen 
Theoren  nach  Delphoi  zogen  (Curtius  Peloponnes.  II.,  S.  552). 
VII.  Auf  die  Erforschung  von  Kunstgegenstanden  hat  Vischer 
nur  gelegentlich  sich  eingelassen.  In  unserer  Sammlung  gehoron 
hieher  die  Aufsatze :  „Ueber  dieArtemis  aus  Pagonda" 
(auf  Euboia),  wo  Vischer  in  einer  Statuette  von  ziemlich  genau 
zehn  Centimeter  Hohe,  deren  Photographic  er  in  natiirlicher 
Grosse  in  zwei  Stellungen  beifugt,  eine  Artemis  zu  erkennen 
glaubt,  wahrend  man  sie  bisher  fiir  einen  Wagenlenker  gehalten 
hatte  (Kl.  Schr.  Bd.  2,  S.  291—293),  —  und  Anciens  bronces 
Gr6cs  (Kl.  Schr.  S.  302—310).  Die  verschiedenen  Typen  der 
Apollobildsaulen  werden  an  2  Abbildungen  des  (sogenannten 
Didymeischen)  Apollo  und  des  Hermes  KQioyogog  erlautert. 
Wichtiger  sind  fiir  uus  die  Auseinandersetzungen :  „Ueber 
das  plataiische  Weihgeschenk  in  Constantinopel" 
(Kl.  Schr.  Bd.  2,  S.  294—296  und  S.  297-301).  Vischer  er- 
klart  sich  fiir  die  Aechtheit.  Der  Gang  der  Untersuchung  ist 
folgender.  Bekanntlich  steht  auf  dem  Atmeidan  in  Konstan- 
tinopel,  dem  alten  Hippodrom,  eine  oben  verstiimmelte  gewundene 
Saule,  oder  richtiger  ein  Gewinde  von  drei  Schlangen,  worin 
man  seit  langer  Zeit  den  Rest  jenes  Weihgeschenkes  zu  erkennen 
gewohnt  war,  welches  einst  die  Griechen  nach  dem  Siege  von 
Hataiai  dem  delphischen  Gotto  aus  der  Beute  gestiftet  hatten. 
Als  Vischer  im  Jahro  1853  vor  dem  Denkmale  stand,  ragte  es 
etwa  zehn  Fuss  aus  dem  Boden,  der  seinen  untern  Theil  um- 
schloss.  Wahrend  des  Krimkricges  wurden  auf  Anregung  des 
onglischen  Viceconsuls  zu  Mytilene  (Newton)  durch  den  britischen 

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208  Vischer,  Kleine  Schriften. 

Botschafter  (Lord  Redcliffe)  Nachgrabungen  auf  dem  Hippodrom 
veranlasst,  und  im  Anfang  des  Jahres  1856  auch  der  Fuss  der 
Saule  bloss  gelegt.  Sie  steht  auf  einem  Wiirfel  von  Granit  und 
mi8st,  soweit  sie  erhalten  ist,  etwa  sechzehn  Fuss  in  der  Hohe 
bei  ungefahr  einem  Fuss  Durchmesser.  Bei  dieser  Aufdeckung 
kam  eine  in  die  Windungen  eingegrabene  Inschrifl  zum  Vor- 
schein,  welche  die  Namen  der  griechischen  Volkerschaften  enthalt, 
die  dem  Apollo  das  Werk  geweiht  hatten.  Um  die  Lesung 
derselben  hat  sich  besonders  verdient  gemacht  der  damals  in 
Constantinopel  lebende  Dr.  Otto  Frick.  In  dem  ersten  genauen 
Bericht  an  die  Berliner  Academie  (durch  E.  Curtius  vermittelt 
—  in  deren  Monatsbericht  1856,  S.  162  ff.)  theilt  er  mit,  dass 
von  den  drei  Schlangenkopfen,  die  jetzt  dem  Monumente  fehlen, 
einer  sich  in  der  Sammlung  der  Irenenkirche  finde.  Sogleich 
bei  dem  ersten  Berichte  erhob  E.  Curtius  Bedenken  gegen  die 
Aechtheit  wegen  der  durchaus  ungriechischen  Form  der  ge- 
wundenen  Saule,  der  Fluchtigkeit  der  eingeritzten  Schriftzuge, 
sowie  der  Inconsequenz  der  Schreibart  (seine  Ansicht  aufe  Neue 
begnindet  in  don  Gottinger  Nachrichten  vom  23.  December  1861, 
No.  21:  „Ueber  die  Weihgeschenke  der  Griechen 
nach  den  Perse  rkriegen  und  insbesondere  iiber 
das  plataiische  Weihgeschenk  in  Delphi").  Auch 
Botticher  konnte  sich  von  der  Aechtheit  nicht  ixberzeugen.  Dar- 
auf  liess  Frick  1859  in  dem  dritten  Supplementbande  der  Jahrb. 
f.  klass.  Phil,  eine  iiberaus  genaue  Abhandlung  iiber  „Das  pla- 
taiische Weihgeschenk  in  Konstantinopel"  erscheinen,  der  er  eine 
Tafel  mit  acht  Abbildungen  beifiigte.  Diese  Schrift  scheint  durch 
die  genau  constatirte  Lesung  der  Inschrift  eher  den  Zweiflern 
Waffen  geliefert  zu  haben.  So  hat  (ausser  E.  Curtius)  noch 
Schubart  (Jahrb.  f.  klass.  Phil.  1861,  S.  474)  ernste  Bedenken 
geaussert.  Beiden  antwortet  Frick  in  den  Jahrb.  f.  klass.  Phi 
(1862,  S.  441—466).  Schubart  hatte  besonders  die  Verschieden- 
heit  des  Monumentes  selbst  und  der  Inschrift  von  den  Nach- 
richten des  Pausanias  hervorgehoben ;  —  dabei  nimmt  er  den 
Pausanias  und  sein  Verzeichniss  der  weihenden  Staaten  (V,  23) 
zur  Basis  der  Untersuchung,  Frick  aber,  wenn  nicht  andere 
Griinde  der  Unachtheit  da  seien,  das  Monument,  und  das  mit 
Recht.  Denn  so  vortrefflich  Pausanias  in  der  Kegel  beobachtet 
hat,  so  oft  irrt  er  bei  historischen  Angaben.  Ausserdem  ist  der 
Zustand  seines  Textes  in  dieser  Stelle  otfenbar  verdorben,  wahrend 
die  Inschrift,  fur  sich  betrachtet,  keinen  Grund  zu  Zweifeln  dar- 
bietet.  Vielmehr  empfiehlt  sich  das  Verzeichniss  der  Bundes- 
genossen  auf  dem  Monumente  gegeniiber  dem  bei  Pausanias  afc 
das  vollstandigere  und  richtigere,  dem  sich  auch  durch  Em- 
schaltuogen  und  Transpositionen  schwerlich  auf  helfen  lasst  D& 
begriindet8te  Bedenken  Schubart's  war  gegen  die  auffallendeDe- 
dicationsformel  gerichtet,  die  Frick  liest:  !A7i6\X\ku>vi  Set?  ff^- 
9mia  zcov  €EU.fjv<ov,  was  Gottling  (Commentariolum  de  inscription6 
monumenti  Plataeensis   Jenao  1861)   mit   grosserer  Wabrschein- 

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Vischer,  Kleine  Schriften.  209 

lichkeit  entzifferte:  y47t6[l]la)vi  &€$  OTaoavr7  avdd-rjii'  mcb  Mr\- 
itav.  Auch  die  Widerlegung  dor.  epigraphischen  Griinde  ist 
Frick  gelungen.  Die  Schreibung  l47tok(ovi  statt  14tz6XXo)vi  ist 
durch  andere  Beispiele  dos  einfachen  Consonanten  statt  des 
doppelten  in  alten  Inschriften  hinlanglich  gerechtfertigt.  Fur 
die  verschiedene  Form  des  E  auf  derselben  Inschrift,  woran 
Curtius  Aiistoss  nimmt,  fiihrt  Frick  mehrere  Beispiele  aus  Franz 
elem.  epigr.  an,  denen  Vischer  eine  von  ihm  selbst  in  Athen  ge- 
fundene  Inschrift  beifiigen  kann.  Die  Schreibung  yfoidaioL  statt 
ifliaoioc  hat  Curtius  seitdem  selbst  als  zulassig  anerkannt 
(Gottg.  Gel.  Anz.  1862,  S.  288).  Ueber  die  Stellung  der  In- 
schrift auf  den  Schlangenwindungen  und  die  Gestalt  des  Monu- 
ments ist  noch  zu  vergleichen  Welcker  in  der  Griechischen 
Gotterlehre,  Bd.  2,  811—816.  Wenn  Curtius  endlich  meint, 
durch  die  Ausmeisselung  des  urspriinglichen  Dedicationsdistichons 
des  Pausanias  waren  die  Schlangenwindungen  zerstort  worden, 
so  will  Vischer  nicht  untersuchen,  ob  es  nicht  moglich  gewesen 
ware,  durch  Ueberarbeitung  die  Spuren  der  ausgemeisselten  ersten 
Inschrift  ohne  Schaden  fur  das  Werk  zu  entfernen,  er  meint 
aber,  es  konne  allerdings  das  Distichon  des  Pausanias  auf  dem 
Steinpostamente  gestanden  haben;  hier  sei  es  ausgemeisselt  d.  h. 
die  Oberflache  der  Marmorbasis  abgenommen  worden,  die  neue 
Inschrift  aber,  das  Verzeichniss  der  sammtlichen  weihenden 
Staaten,  setzte  man  jetzt  auf  das  Schlangengewinde  selbst, 
welches  fiir  solch  eine  lange  Reihe  unter  einander  stehender 
Namcn  viel  geeigneter  war  als  das  Postament.  Vielleicht  ist  an 
die  Stelle  des  ersten  Distichons  dann  auf  der  Basis  das  bei 
Diodor  XI,  33  erwahnte  getreten. 

VIII.  Seit  seiner  ersten  Reise  nach  Griechenland  wandte 
sich  Vischer  fast  ausschliesslich  archaologischen  oder  epigraphi- 
schen Studien  zu,  indem  ihm  die  Inschriften  ganz  neue  Auf- 
3chlii88e  fiir  die  Alterthumskunde  zu  geben  schienen,  und  er  war 
wegen  seiner  Genauigkeit  und  Zuverlassigkeit  in  der  Wiedergabe 
des  Originals  und  wegen  seiner  Vertrautheit  mit  Geschichte  und 
Antiquitaten  zu  solchen  Arbeiton  wie  berufen.  Alle  diese  Arbeiten 
hangen  auf  das  Engste  zusammen  mit  seiner  Thatigkeit  als  Vor- 
steher  der  antiquarischen  Gesellschaft  und  der  antiquarischen 
Sammlung  des  Museums.  Auf  seinen  Betrieb  hatte  im  Jahre  1839 
die  drei  Jahre  vorher  unter  seiner  Mitwirkung  gegriindete 
historische  Gesellschaft  eine  Commission  niedergesetzt,  die  sich 
mit  der  Untersuchung  und  Beschreibung  der  in  der  Umgegend 
vorkommenden  Alterthiimer  befassen  sollte.  Im  Jahre  1841 
wurde  dann  aber  eine  selbststandige  „  Gesellschaft  fur  vater- 
landische  Alterthiimer",  gewohnlich  antiquarische  Gesellschaft 
genannt,  gegriindet,  deren  Vorsteherschaft  Vischer  iibernahm  und 
iiber  dreissig  Jahre  bis  an  seinen  Tod  behielt.  Die  Mittheilungen 
und  Vortrage  im  Schosse  dieser  Gesellschaft  beschrankten  sich 
jedoch  keineswegs  auf  die  heimische  Vorzeit,  sondern  zogen  die 
Archaologie  im  weitesten  Umfange  in  ihren  Bereich.     Die  Gesell- 

Mittheilungen  a.  d.  hUtor.  Lttteratur.     VU.  14 

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210  Vischer,  Kloine  Schriften. 

schaft  gelangte  durch  Ausgrabungen  unci  Ankaufe  in  den  Besitz 
manoher  Alterthiimer,  die  im  Jahr  1849  mit  den  der  Univeraitat 
gehorigen,  bis  dahin  auf  der  Bibliothek  befindlichen  Antiquitaten 
und  dem  Miinzcabinet  vereinigt  und  in  dem  neuerbauten  Museum  in 
passender  Weise  aufgestellt  wurden.  (Ueber  einige  Gegen- 
standeder  S  a  mm  lung  von  Alterthumern  im  Museum 
zn  Basel.  Aus  der  Festschrift  zur  Einweihung  des  Museums 
1849  mit  einer  Abbildung.  KL  Schr.  Bd.  2,  S.  412—429.)  IV 
ermiidlich  war  er  bestrebt,  durch  Ankaufe  und  durch  Schenkungen1) 
den  Bestand  der  Sammlung  zu  mehren,  durch  Mittheilungeu  und 
Vortrage  das  Interesse  fur  sie  zu  wecken  und  zu  erhalten, 
namentlich  aber  auch  ihren  Werth  durch  eine  wohl  durchge- 
fuhrte  Ordnung  zu  orhohen.  (Kurzer  Bericht  iiber  die 
fiir  das  Museum  in  Basel  erworbene  Schmid'sche 
Sammlung  von  Alterthumern  aus  Angst.  Universit&te- 
progr.  1858.  KL  Schr.  Bd.#  2,  S.  430-463  mit  einer  Tafel  Ab- 
bildungen.)  Hierbei  verdient  bemerkt  zu  werden,  dass  Augst, 
das  alte  Augusta  Rauracorum,  einige  Stunden  ostlich  von  Basel 
an  der  Grenze  des  Cantons  Aargau  liegt.  Basel  selbst  ist  jiiiigeren 
Ursprungs.  Nur  eine  sichere  Erwahnung  findet  sich  aus  alter 
Zeit,  bei  Ammianus  Marcellinus  (XXX,  3,  1),  der  uns  meldet, 
dass  Valentianus  IL  374  in  der  Nahe  von  Basilia  ein  Castell  ge- 
baut  habe,  mit  dem  Namen  Robur  i.  e.  munimentum,  wie  man 
fruher  deutete.  Diese  Erklarung  ist  aber  falsch ;  denn  Robur  ist 
nicht  der  Name  des  Forts,  sondern  der  bei  den  gaUischen 
Landesbewohnern  ubliche,  und  daher  wohl  urspriingliche,  Name 
der  Stadt  selbst,  diese  ist  dann  von  den  Romern  Basilia 
zee  Baaileia  Konigsburg  —  (fiaoikevg  hiess  auch  der  romische 
Kaiser)  genannt  worden.  —  Augst  oder  Raurica  ist  von  L  Mu- 
natius  Plancus  44  v.  Chr.  gegriindet,  wie  aus  der  Grabschrift 
von  Gaeta  hervorgeht.  Dass  diese  Stadt  in  den  ersten  Jahr- 
hunderten  unserer  Zeitrechnung  zu  bedeutender  Bliithe  sich  ent- 
wickelte,  zeigen  uns  noch  heute  die  leider  von  Tag  zu  Tag  mehr 
verschwindenden  Ruinen.  (Basel  in  der  romischen  Zeit 
KL  Schr.  Bd.  2,  S.  391-406  —  [1857]).  —  Aus  diesem  Grande 
waren  die  romischen  Alterthiimer  in  Basel  selbst  seltener,  den- 
noch  wurden  durch  die  Abgrabungen,  welche  im  Winter  1860 
zum  Zweck  einer  Strassencorrection  hinter  dem  Munster  vorge- 
nommen  wurden,  nicht  unerhebliche  romische  Ueberreste  zu  Tage 
gefordert.  (Romische  Alterthiimer  in  Basel  [1861].  EL  Schr. 
Bd.  II.,  S.  407— 411.) 

Eine  unglaubliche  Ausdauer  hat  Vischer  namentlich  auf  cla$ 
stiidtische     Miinzcabinet    verwendet    und    endlich    ausser    vielen 


*)  Daher  seine  Freudo ,  einen  Kopf  des  Apollo  von  Belvedere  im  Anf* 
trage  eines  Freundes  als  Geschenk  far  das  Museum  und  fihnlich  den  dtf 
farnesischen  Herakles  orworben  zu  haben,  Repliken  weltberfthmter  Werke, 
deren  Ankauf  noch  kurz  vorher  alle  Sachverstandigen  in  Berlin  als  fir  die 
Sammlangen  der  konigl.  Museen  hdchst  wttnschenswerth  erklart  hatten.  (& 
Schr.   Bd.  n^  S.  311—323.) 


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Viscker,  Kleine  Schriften.  211 

romischen  und  celtischen  iiber  zwei  Tausend  griechische  Miinzen 
zusammengebracht,  bestimmt  und  geordnet.  Vergl.  die  Aufsatze: 
Eine  romische  Niederlassung  in  Frick,  celtische  Miinzen 
aus  Nunningen,  und  eine  Miinze  des  Orgetorix  (1852). 
(Kl.  Schr.  Bd.  IL,  S.  464—488.)  a)  Das  bei  Frick  im  Canton 
Aargau  bei  dem  graben  eines  Kellers  in  der  Tiefe  von  vier  Fuss 
aufgefundene  Gemauer  gehort  vielleicht  zu  den  Grundmauern  eines 
ehemaJigen  Wohnhauses  an  der  grossen  Heerstrasse  von  Augusta 
Rauracorum  (Rauricum -Augst)  nacb  Vindonissa  (Windisch)  iiber 
den  Mons  Vocetius  (Bozberg).  Nach  den  mitausgegrabenen 
Miinzen  wird  als  Zeit  der  Zerstorung  die  Zeit  zwischen  354  bis 
357  n.  Chr.  ermittelt,  bei  einenx  Einfalle  der  Alemannen  fand 
die  Einascherung  des  Gebaudes  statt.  (Dazu  zwei  Tafeln  Ab- 
bildungen  von  Bronzegerathen  und  Miinzen.)  b)  17  silberne 
Quinare,  auf  der  einen  Seite  ein  behelmter  Kopf,  auf  der  andern 
ein  nach  links  laufendes  Pferd  mit  Gurt  und  Ziigel,  11 — 14  Milli- 
meter im  Durchmesser,  zum  Theil  sehr  schlecht  gepragt.  Am 
Interessantesten  ist  c)  die  Miinze  des  Orgetorix.  Fundort  niclit 
bekannt.  Ein  silberner  Quinar  von  12  Millimeter  Durchmesser, 
und,  wie  die  vorher  erwahnten,  zu  klein,  um  den  ganzen  Stempel 
aufzunehmen.  Der  Avers  zeigt  einen  unbedeckten  rechts  go- 
wandten  Kopf,  mit  Perlrand.  Rechts  von  dem  Kopfe  liest  man 
in  lateinischer  Schrift:  EDV.  Hinter  dem  V  fehlt  der  Raum 
fur  weitere  Buchstaben.  Der  Revers  zeigt  die  Beine  und  den 
grossern  Theil  des  Leibes  einfs  Raubthieres,  das  nach  Rechts 
schreitet,  wie  es  scheint  eines  Baren.  Der  obere  Theil  des 
RUckens,  Hals  und  Kopf,  und  das  Hintertheil  fehlen  aus  Mangel 
an  Platz.  Unter  dem  Striche  liest  man  GET.  Vor  dem  C  und 
nach  dem  T  fehlt  der  Raum  fur  weitere  Buchstaben  (Abbildungen 
der  Miinzen  sind  beigegeben).  Die  Umschrift  des  Averses  er- 
ganzt  Vischer  EDVIS  i.  e.  Aeduis  und  die  des  Reverses  ORCE- 
TORIX,  erklart  sie  fur  eine  Miinze  des  bekannten  helvetischen 
Hauptlings  (60  v.  Chr.),  und  bezieht  den  Namen  Aeduis  auf  die 
Yerbindung,  in  die  jener  mit  dem  Aeduer  Dumnorix  getreten 
war.  —  —  Romische  Miinzen  des  dritten  Jahr- 
hunderts,  gefunden  bei  Reichenstein  in  der  Nahe 
von  Basel  im  November  1851  (eine  Tafel  Ab- 
bildungen) —  Kl.  Schr.  Bd.  II.,  S.  489  —  565.  —  807 
Kaisermunzen,  die  nach  Zeit,  Silbergehalt,  Grosse  und  Schwere 
bestimmt  werden.  —  Ueber  die  Heimat  der  vielen  griechischen 
Miinzen  im  baseler  Museum  erhalten  wir  keine  weitere  Auskunft. 
Schliesslich  verdienen  noch  erwahnt  zu  werden  die  „Drei 
Grabhiigel  in  der  Hardt  bei  Basel"  (1842  —  mit  drei 
Tafeln  Abbildungen  —  Kl.  Schr.  Bd.  2,  S.  566—586)  von  un- 
bestimmter  Zeit  und  nicht  bestimmbarem  Volke,  einigen  Anhalt 
erhalt  man  nur  durch  die  darin  gefundenen  Leisten-  und  Hohl- 
ziegel,  die  erst  durch  die  Romer  bei  den  Volkern  jener  Gegen- 
den  in  Gebrauch  gekommen  sind.  Ausser  Scherben  von  Thon- 
geschirr    fanden    sich    in   dem   ersten    und   dritten   Grabe   ver- 

14* 

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212  Vischor,  Kleine  Schriften. 

schiedene  Gegenstande  aus  Eisen,  uamentlich  auch  einige  wenige 
Ueberreste  von  WafFen,  nur  im  dritten  Glasperlen,  Bern- 
stein n.  a.,  in  alien  bronzene  Ringo  und  Haftnadeln  (fibulae) 
und  Ringe  aus  Holz,  haufig  Stucke  romischer  Ziegel,  in  alien 
ferner  Ueberreste  von  unverbrannt  begrabenen  Korpern,  in  alien 
vielfache  Spnren  von  dabei  angewandtem  Feuer,  sei  es  nun  zum 
Leichenmahle  oder  zum  Leichenbrande.  Alles  dies,  noch  mehr 
aber  die  Gestalt  der  Graber  und  die  Form  und  Art  der  Bronze- 
gegenstande  erinnert  lebhaft  an  die  Funde  in  den  neuerdings  in 
ganz  Norddeutschland  in  so  grosser  Menge  geoflheten  Hiinen- 
grabern,  ja  sogar  an  die  bekannten  Ausgrabungen  Schliemanns 
auf  dem  Grunde  des  alten  Troja,  so  dass  man  fur  jene  alte  Zeit 
eine  Gemeinsamkeit  der  Sitten  und  Gebrauche  von  den  Kusten 
des  Mittelmeers  bis  zur  Nord-  und  Ostsee  voraussetzen  darf. 
(Vergl.  auch  Ludwig  von  Sybel,  Ueber  Schliemann's  Troja,  S.  24. 
25.)  In  etwas  anderer  Weise  sucht  ein  neuerer  Forscher  ans 
dem  Vorkommen  solcher  Bronzegegenstande  —  die  romischen 
und  griechischen  Mtinzen  sprechen  fur  sich  selbst  —  die  alten 
Handelswege  zu  bestimmen  von  den  Alpen  und  der  Donau  bis 
zu  den  Mundungen  der  Oder  und  der  Weichsel  (v.  Sadowski, 
die  Handelsstrassen  der  Griechen  und  Romer  durch  das  Fluss- 
gebiet  des  Dniepr  und  Niemen  an  die  Gestade  des  Baltischen 
Meeres.  Aus  dem  Polnischen  von  Albin  Kohn.  Jena  1877  — 
S.  94  IF.). 

IX.  Eine  besondere  Sorgfalfscheint  Vischer  auf  die  Samm- 
lung  und  Beschreibung  „antiker  Schleudergeschosse" 
(Kl.  Schr.,  S.  7—9,  S.  240-258,  besonders  aber  S.  259—284) 
verwendet  zu  haben.  Diese  Schleuderkugeln  ( gland  es,  poll- 
pdideg  Xen.  Anab.  Ill,  3,  17,  Polyb.  XXVII,  11,  oder  fiolvpdaivai 
Appian.  Mithr.  33),  von  mandeiformiger  Gestalt  (Spitzkugeln), 
waren  gewohnlich  von  Blei,  das  durch  sein  Gewicht  sich  am 
Besten  dazu  eignete,  seltener  von  gebrannter  Erde1).  Sehr 
haufig  tragen  sie  kleine  Inschriften.  Diese  enthalten  entweder 
einen  Namen  meistens  im  Genetiv,  des  betreffenden  Volks,  Fiirsten, 
Foldherrn,  Magistrats,  oder  auch  des  Truppenkorpers,  der  Legion 
und  dergl.,  oder  auch  kleine  Spriiche,  Wiinsche  des  Schleuderers, 
oder  Anreden  an  den,  der  getroffen  wird,  meist  spottender,  hn- 
moristischer  Art.  Sie  haben  Schrift  auf  beiden  Seiten,  oder 
nui*  auf  einer,  oder  auf  der  einen  Seite  nur  ein  Monogramm, 
oder  sie  waren  auch  ganz  glatt.  (Die  Vischer  besass  oder  zu 
sehen  bekam,  hat  er  alle  abgebildet  beigegeben.)  So  befand 
sich   etwa   auf  der   einen   Seite   ein   Blitz,   Dreizack,    Stierkopt 


J)  Thoncrne  Caes.  B.  G.  V.,  43  als  Brandgoschosse,  bisher  nor  in  Si- 
cilien  gefunden.  Sie  sind  in  der  Kegel  von  der  Grosse  eines  Hnhnereis  und 
tragen  auf  der  einen  Seite  ein  aufgedrficktes  Wappen,  auf  der  andern  eine 
Inschrift.  Die  bedeutende  Grosse  erklart  sich  aus  dem  relativ  geringen  Ge- 
wichte  des  Materials  (a.  a.  0.,  S.  244).  —  Die  absolute  Zweckmassigkeit  d«r 
Form  wird  aus  der  Dynamik  nachgewiesen  von  Semper,  Ueber  die  bleiernen 
Scbleudergeschosse  der  Alten.    Frankfurt  1859. 


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Vischer,  Kloine  Schriften.  213 

Skorpion,  oder  eine  Schlange,  oder  dem  entsprechend  die  Worte  : 
Keqavyog,  Ni/.t],  ^ilfia,  Nixy,  Ni^rj  <diog  oder  MareQcw,  TQwydliov 
(Knackmandel),  und  auf  der  andern  stand :  Aa$&,  Je!;ai,  2&oaiy 
(Dalve,  aqiv  (aQelv),  el  oxdvov  „mache  dir  gut  Quartier".  Feri 
Roma,  was  Mommsen  lesen  will:  Feri  Pomp.  i.  e.  Pompeium, 
und  vielleicht  mit  Vischer  zu  lesen  ist:  Feri  Romanos  (ital.  Ge~ 
schoss),  Gegenstiick:  Feri  Picentes;  —  Servi  peristis. 

Alle  vorgefundenen  Inschriften  sind  von  Vischer  zusamnien- 
gestellt  a.  a.  0.,  S.  282 — 284.  Zuweilen  sind  die  Schleuder- 
kugeln  in  der  Nahe  des  einen  Endes  durchbohrt,  wohl  nicht  zu 
dem  Zwecke,  urn  sie  an  eine  Schnur  gefasst  zu  tragen,  sondern 
urn  kleine  Zettelchen  hineinzustecken ,  durch  die  man  ver- 
ratherische  Mittheilungen  an  die  Feinde  kommen  liess.  (a.  a.  0. 
S.  9.)  Ueber  Grosse  und  Schwere  d.  S.  S.  277  ff.,  die  ein- 
schlagigo  Litteratur  S.  280  fl*.. 

Mit  den  oben  erwahnten  Stimmtafelchen  fiir  Wahlen,  die 
bei  Styra  auf  Euboia  gefunden  sind,  kann  man  vergleichen  das 
„Richterliche  Bronzegerath".  (Kl.  Schr.  Bd.  2,  S.  284 
— 290.)  Jahrlich  wurden  aus  jeder  der  zehn  Phylen  sechs- 
hundert  Richter  erloost.  Diese  sechstausend  wurden  wieder 
durch  das  Loos,  ohne  Riicksicht  auf  die  Phylen,  in  zehn  Ab- 
theilungen  von  je  funfhundert  Mitgliedern  getheilt.  Es  blieben 
also  tausend  lib  rig,  die  wahrscheinlich  als  Ersatzmanner  ver- 
wendet  wurden.  Jeder  Geschworene  erhielt  nun,  nachdem  er 
einer  Abtheilung  zugeloost  war,  ein  Tafelchen  (ucvaxiov),  welches 
durch  einen  der  ersten  zehn  Bustaben  des  Alphabets  bezeichnet 
war  und  seinen  Namen  nebst  dem  seiner  Gemeinde  (seines 
Demos)  enthielt.  Solcher  Tafelchen  sind  uns  eine  Anzahl 
erhalten.  Es  sind  langliche  schmale  Bronzeblattchen,  gewohnlich 
etwa  m  0,10  lang,  m  0,02  breit  Links  nach  oben  zu  ist  meist 
die  Nummer  der  Abtheilung  {u4 — K)  in  einem  runden  oder  vier- 
eckigen  Stempel  angebracht,  der  Buchstabe  dann  erhoht.  Seltener 
ist  dieser  eingegraben,  was  sehr  natiirlich,  da  ja  jahrlich  mit 
jedem  Buchstaben  wenigstens  funfhundert  Stiick  zu  zeichnen 
waren.  Unter  der  Zahl  der  Abtheilung  findet  sich  oft  ein  runder 
Stempel  mit  der  Eule,  rechts  am  Ende  ein  zweiter  Stempel  mit 
dem  Gorgonenhaupt.  Ueber  die  genauere  Bedeutung  der  ver- 
schiedenen  Stempel,  die  im  Allgemeinen  als  amtliche  Beglaubigung 
dienten,  ist  man  noch  keineswegs  im  Klaren.  Der  Name  des 
Geschworenen  ist  immer  eingegraben,  und  zwar  in  der. ersten 
Linie  der  eigene  Name,  und,  wenn  dor  Name  des  Vaters  beige- 
iugt  ist,  meist  auch  dieser,  und  zwar  regelmassig  abgekiirzt.  — 
Auch  vou  den  Tafelchen,  die  bei  der  Abstimmung  der  Richter 
gebraucht  wurden,  haben  sich  einige  Exemplare  erhalten.  Wenn 
namlich  die  Parteien  und  ihre  Beistande  (ovvrjyoQoi)  vor  dem 
Gerichtshofe  gesprochen  hatten,  wurde  abgestimmt,  einmal  oder 
zweimal,  je  nachdem  es  £in  dyatv  dxl^iijiog  oder  Tiprpog  war, 
d.  h.  gleich  mit  dem  „schuldigu  auch  die  Strafe  bestimmt  war, 
oder  fur   diese   noch   eine  zweite  Verhandlung  erfordert  wurde. 


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214  Vischer,  Kleine  Schrifteo. 

Hierbei  war  die  geheime  Abstimmung  ("tQvfidrjv  rp^cpi^ea^ai) 
Kegel.  Es  wurden  zwei  Urnen  aufgestellt,  und  der  Richter  er- 
bielt  zwei  Stimmsteine.  Anfangs  sollen  dies  schwarze  und  weiase 
Mii8cheln  oder  Steinchen  gewesen  sein,  aber  bald  wurden  diese 
durch  eheme  Tafelchen  ersetzt.  Von  letztern  nun  war  dasjenige, 
welches  „schuldigu  bedeutete,  durchbohrt  (iprjcpog  xe^qvnriniv^ 
oder  diatExqvnriiiivrj\  das  andere  undurchbohrt  (ipfjcpoq  arqrjiog 
oder  rtXrjQrjg).  Von  bestimmten  Beamten  wurden  dieselben,  wenn 
abge8timmt  werden  soilte,  den  Richtern  ausgetheilt,  und  zwar 
vor  den  Augen  der  Parteien,  damit  kein  Betrug  stattfinden  konne. 
Das  entscheidende  {tyrfflog  %VQta)  legte  dann  der  Richter  in  die 
giltige  Urne  (yuidog  oder  yuadiayiog  nvqiog),  das  andere  in  das 
zweite  ungultige  Gefass  (xadog  anvQog),  welches  somit  zur  Con- 
trolle  dienen  konnte.  Solcher  Stimmtafelchen  waren  Vischer 
drei  bekannt,  zwei  hatte  er  1862  in  der  Sammlung  der  Ar- 
chaologischen  Gesellschaft  zu  Athen  gesehen  (das  eine  durch- 
bohrt, das  andere  nicht),  ein  gleiches  hatte  er  selbst  aus  Athen 
erhalten  (ein  nicht  durchbohrtes).  Das  letztere  ist  eine  bronzene 
Scheibe  von  m  0,60  Durchmesser  mit  einer  Axe  in  der.Mitte, 
die  m  0,0375  Lange  hat  und  auf  jeder  Seite  der  Scheibe  etwa 
m  0,015  vorsteht  (ctvMoKog  Aristoteles  bei  Harpokration).  Bei 
der  Abgabe  der  Stimme  wurde  diese  Axe  zwischen  den  Daumen 
und  einen  Finger  gefasst,  so  dass  Niemand  sehen  konnte,  ob  sie 
durchbohrt  war  oder  nicht,  und  das  Tafelchen  durch  die  enge 
kreuzformige  Oeffnung  im  Deckel  der  Urne  hinabgelassen.  So 
wurde  das  Geheimniss  vollkomnien  gewahrt,  obwohl  man  sah, 
wie  die  Stimme  abgegeben  wurde.  Auf  der  Scheibe  steht  nun 
im  Kreise:  WHWOSJHMOZIA  (Oeffentliches  Stimmtafelchen). 
Es  scheint,  dass  auch  die  Stimmtafelchen  noch  ausserdem  nach 
den  Abtheilungen  bezeichnet  waren. 

X.  Von  dem  iibrigen  epigraphischen  Material,  welches 
Vischer  mit  so  grosser  Liebe  zusammengebracht  und  zu  ent- 
ziffern  gesucht  hat,  diirfte  sich  nur  der  geringste  Theil  ohne 
Weiteres  fur  historische  Zwecke  verwenden  lassen,  so  interessant 
sie  auch  fur  den  Philologen  sincL  Der  Grundstock  wurde  von 
Vischer  selbst  im  Fruhling  1853  auf  seiner  ersten  Reise  in 
Griechenland  wahrend  etwa  drei  Monate  gesammelt  (Epi- 
graphische  und  archaologi sche  Beitrage  aus 
Griechenland.  August  Boeckh  dem  Meister  auf 
dem  -Gebiete  der  griechischen  Epigraphik  ge- 
widmet.  Basel,  Schweighauser  1855.  Kl.  Schr. 
Bd.  2,  S.  1  —  103),  wobei  er  theils  durch  Mangel  an  Zeit 
(S.  43.  59.  76),  theils  durch  die  brennendste  Mittagshitze  (S.  44), 
einmal  auch  durch  einen  breiten  Wassergraben  (S.  17),  mehrfacb 
bei  ziemlich  hoch  eingemauerten  Steiuen  durch  das  Fehlen  einer 
Leiter  (S.  60.  73)  behindert  und  beim  genauen  Copiren  der  In- 
schriften  gestort  wurde.  Sichereres  erlangte  er  durch  die  da- 
mals  angeknupften  Verbindungen  mit  Woodhouse  (S.  4),  v.Velsen 
(S.  64),   Rusopulos  (S.  116)  u.  a.    Der  Inhalt   der  Inschriften, 

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Vischer,  Kleine  Schriften.  215 

die  im  zweiten  Bande  der  Kleinen  Schriften  enthalten  sind,  er- 
giebt  eine  Menge  Grabinschriften  (meist  %cuqe  mit  dem  Namen 
im  Vocativ),  Proxeniedecrete,  Ehreninschriften,  Beamtenverzeich* 
nisse,  Ziegelstempel  mit  den  Namen  der  Prytanen,  Stempel  auf 
den  Thongefassen  von  Knidos  und  Rhodos,  und  Vischer  ent- 
wickelt  bei  ihrer  Deutung  oft  einen  bewundernswerthen  Scharf- 
sinn,  wie  er  z.  B.  eine  bisher  nicht  entrathselte  Stelle  aus  einem 
Tributverzeichnisse  der  athenischen  Bundesgenossen :  ONAP- 
XEIIIITPE2  liest:  wv  aq%u  nlyorfi  (ein  karischer  Dynast) 
(Epigraphisches  1847.  KL  Schr.  II,  S.  236—238),  und  in 
acht  bis  dahin  unverstandlichen  Triimmern  von  Ziegelinschriften 
die  Theile  von  (iibrigens  schon  bekannten)  vier  Hexametern  ent- 
deckte,  die  er  liber  dem  Eingange  zn  einer  Kirche  fiand  und  von 
dort  abschrieb.  Der  Inhalt  ist,  dass  Kaiser  Jovianus  sich  riihmt 
nach  der  Zerstorung  der  hellenischen  Heiligthiimer  diese  Kirche 
erbaut  zu  haben  (363  n.  Chr.)  (KL  Schr.  II,  S.  167.  168).  Im 
ADgemeinen  aber  diirfte  Vischer  zu  weit  gehen,  wenn  er  auf 
ziemlich  dunkele  Erwahnungen  in  recht  liickenhaften  Inschriften 
sogleich  Schlusse  baut,  um  bisher  noch  unbekannte  Staatsein- 
richtungen  oder  Obrigkeiten  festzustellen  (z.  B.  iydorfe  S.  26. 
7tediav6(.toi  S.  33.  TtaidiaoKKOQog  S.  38).  Nacpe  v,ai  ^6fivaaJ 
cmioreivl  Die  langsten  und  bedeutendsten  Inschriften,  die  er 
uns  mittheilt,  sind  eine  kretische  und  eine  lokrische.  Die  erstere 
(Eine  kretische  Inschrift  [1856].  KL  Schr.  II,  S.  104— 
115  mit  Facsimile)  besagt,  dass  hundert  und  achtzig  Agelen- 
mitglieder  den  Eid  geleistet  haben,  niemals  den  Lyttiern  wohl- 
wollend  zu  sein,  sondern  ihnen  nach  Kraften  Boses  zu  thun,  da- 
gegen  Treue  und  Freundschaft  zu  halten  gegen  die  Drerier  und 
Knosier  (etwa  um  220  v.  Chr.),  die  andere  (Lokrische  In- 
schrift von  Naupaktos  aus  der  Sammlung  Wood- 
house  nach  der  Originalausgabe  von  J.  N.  Oikono- 
mides  —  mit  Facsimile  [1871].  KL  Schr.  Bd.  2,  S.  172—235): 
Der  Hypoknemidische  Lokrer,  der  an  der  Epoikie  Theil  nimmt 
und  dadurch  Naupaktier  wird,  soil  in  die  vollstandige  Gemein- 
schaft  der  leqa  nai  boia  der  Stadt  aufgenommen  werden,  —  mit 
vielerlei  Nebenbestimmungen.  —  Vischer  zeigt,  dass  unter  den 
Hypoknemidischen  Lokrern  nicht  mit  E.  M.  p.  360  (twv  Ao- 
X(>c5v  oi  pav  *E7tutvi]iJildioi9  o\  de  <Y7tOY.vt](tldioi  ovo\io%owai  and 
Kvrjiiidog  %ov  OQOvg)  die  Opuntier  zu  verstehen  seien,  sondern 
dass  die  Historiker  des  funften  und  vierten  Jahrhunderts,  Hero- 
dot,  Thukydides  und  Xenophon,  an  der  Ostkiiste  gegeniiber 
Euboia  zwischen  Boiotien  und  den  Thermopylen  nur  einen 
Zweig  des  lokrischen  Volkes  kennen,  den  sie  nach  der  Haupt- 
stadt   als   den  Opuntischen  bezeichnen.    Dieselben  wiirden  auch 

Ho lo i  genannt,  im  Gegensatz  zu  den  ^Eaniqiot  oder  'OCokcci.  cf. 
Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Biinden  oder 
Centralisation  und  Foderationim  altenGriechen- 
land    (KL  Schr.   Bd.  1,   S.  308—381)   wegen  der  Aoqqoi   zoi 

Ynoxvanldioi  (S.  331)  —  und   iiberhaupt  ist   in   den  Zusatzen 

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216  ViBcher,  Kleine  Schriften. 

zu  dieser  Schrift  das,  ausgedelinte  seitdcm  (1849)  erschienene  epi- 
graphische  Material  ausgiebig  benutzt.  Aber  auch  fur  die  Abhand- 
lungen:  Kim  on  (Bd.  1,  S.  1—52  [1846]),  Alkibiades  und 
Lysandros  (Kl.  Schr.  Bd.  1,  S.  87—152  [1845]),  DieOli- 
garchischeParteiunddieHetairieninAthen(a.a0.t 
S.  153 — 204  [1836])  lagen  dem  Herausgeber  Handexemplare  mit 
reichlichen  Nachtragen  und  Berichtigungen  vor.  Alles  neu  Hinzuge- 
kommene  ist  von  ihm  durch  eckige  Klammern  bemerkbar  gemacht 

XI.  Schliesslich  will  ich  noch  die  beiden  litterarhistorischen 
Abhandlungen :  Ueber  die  Benutzung  der  alten  Ko- 
modie als'geschichtlicher  Quelle  (KL  Schr.  Bd.  1, 
S.  459—485  [1840])  und  Ueber  das  Historische  in  den 
Reden  des  Thukydides  (a.  a.  0.,  S.  415—458  [1839]) 
kurz  beriihren.  Die  erstere  Schrift  resumirt  Vischer  selbst  dahin, 
dass  fiir  die  Beurtheilung  der  einzelnen  Charactere  und  fur  Aus- 
mittlung  einzelner  Thatsachen  die  Komodie  fur  eine  im  Ganzen 
unlautere  Quelle  zu  erklaren  sei,  welche  nur  durch  Verbmdung 
mit  andern  Nachrichten  und  auch  da  nicht  immer  gelautert 
werden  kann  (die  Angriffe  auf  Demagogen  und  Feldherrn  ver- 
gleicht  er  mit  der  Sprache  der  „Oppositionsorgane  in  den  Landeni, 
welche  Pressfreiheit  haben").  .  Da  aber  der  Boden  der  Komodie 
der  der  Wirklichkeit  sei,  da  die  allgemeinen  Zustande  immer  so 
weit  dieser  entsprechend  geschildert  werden  mussten,  dass  die 
Zuschauer  sich  darin  fanden,  so  sei  die  Komodie  fiir  Sitten,  Ge- 
brauche  und  Einrichtungen  aller  Art  eine  wahre  geschichtlicbe 
Fundgrube.  Den  Hergang  in  den  Volksversammlungen,  das  Treiben 
der  Gerichtshofe  und  der  Tarteien,  die  Erziehung  des  athenischen 
Knaben,  die  Beschaftigungen  und  Vergniigungen  des  Jiinglings. 
die  Bediirfnisse  und  Geniisse  des  Volks,  die  Anordnung  und  den 
Character  mancher  Feste,  mit  einem  Worte,  das  innere  Leben 
Athens  lerne  man  aus  Aristophanes  und  aus  der  alten  Komodie 
uberhaupt  besser  erkennen,  als  aus  den  Historikern.  cf.  Miiller- 
Striibing,  Aristophanes  und  die  historische  Kritik.     Leipzig  1873. 

In  Bezug  auf  Thukydides  schliesst  er  sich  im  Allgemeinen 
den  Ansichten  Roschers  und  Poppo's  an.  In  der  oben  genanuten 
Schrift  aber  vertheidigt  er  denselben,  der  Jahrtausende  hindurch 
als  ein  „rerum  gestarum  pronunciator  sincerus  et  grandis",  als 
ein  „rerum  explicator  prudens,  severus  et  gravis"  gegolten,  gegen 
die  Vorwiirfe  der  Parteilichkeit  und  der  Unwahrhaftigkeit.  Zu- 
nachst  hatte  Adolf  Schmidt  in  seiner  Recension  dea 
Brucknerschen  Werkes  iiber  Philipp,  Amynta»T 
Sohn,  Konig  von  Macedonien  (Zimmerm.  Zeitschr.  ffir 
Alterth.  W.  1837.  N.  94,  S.  763)  behauptet,  Theopomp  sei 
trotz  seiner  krassen  Parteilichkeit  wiirdiger,  der  Geschichte 
Philipps  zu  Grunde  gelegt  zu  werden,  als  Thukydides  der  des 
peloponnesischen  Krieges.  Eine  grobkornige  Liige  werde  den 
gesunden  Forscher  nie  in  Versuchung  fuhren,  und  vorausgesetzt, 
dass  bei  Thukydides  und  Theopomp  das  rein  factische  nicht  ge- 
rade  umgedreht  sei,  mussten  die  krassen  Schattirungen  jederzeit 

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Vischer,  Kleine  Schriften.  217 

dem  Historiker  willkommener  sein,  als  die  zarteu,  unmerklich  in 
einander  iibergehenden.  Wir  konnten  also  von  Thukydides  etwa 
erfahren,  wie  viel  Schiffe  in  einer  Seeschlacht  einander  gegeniiber 
gtanden,  aber  den  politischen  Zustand,  den  wir  bis  dahin  mit 
Meisterhand  von  ihm  gezeichnet  glaubten,  sei  keiner  mehr  so 
thoricht,  aus  ihm  kennen  lernen  zu  wollen.  —  Den  Beweis  fiir 
so  gewagte  Behauptnngen  war  A.  Schmidt  daraals  sohuldig  ge- 
blieben,  und  Vischer  konnte  nicht  ahnen,  dass  jener  nach  bei- 
nahe  einem  Menschenalter  in  einem  sehr  umfangreich  angelegten 
Buche  mit  sehr  zuversichtlichem  Tone  und  wieder  fast  ohne  einen 
andern  Beweisgrund  als  den  der  durch  vieljahriges  Studium  er- 
langten  Ueberzeugung  (die  Belege  werden  im  zweiten  Bande 
verheissen)  als  Hauptquelle  fiir  das  Zeitalter  des  Perikles  mit 
Hintansetznng  des  Thukydides  den  liigenhaften  Stesimbrotos  er- 
klaren  wtirde  (vergl.  iiber  die  ganzliche  Unzuverlassigkeit  des 
Stesimbrotos  Vischer,  Kl.  Sehr.  Bd.  1,  S.  6.  10.  26.  38): 
Adolf  Schmidt,  Das  Perikleische  Zeitalter.  Dar- 
stellung  und  Forschungen.  I.  Darstellung  mit 
vier  kritischen  Anhangen.  Jena.  Dufft  1877.  Be- 
urtheilt  und  widerlegt  in  v.  Sybels  Historischer  Zeitschrift  1878, 
Heft  2,  S.  209—226  von  Arnold  S  chafer  in  dem  Aufsatze: 
Aus  den  Zeiten  des  Kimon  und  Perikles. 

Noch  weiter  gehe  Ogienski,  Pericles  et  Plato,  inquisitio 
historica  etphilologica,Breslau  1837.  Pericles  sei  nach  seiner 
Ansicht  ein  gemeiner  Routinier  gewesen,  Thukydides  kein  wahrer 
Geschichtsschreiber,  sondern  ein  parteiischer  Memoirenverfasser, 
wie  es  deren  in  Frankreich  so  viele  gebe.  Er  wird  sodann  ein 
characterloser,  durch  unsteten  Ehrgeiz  von  einem  Berufe  in  den 
andern  geworfener  Mensch,  ohne  Sinn  fiir  Recht  und  Sitte,  fur 
Glaube  und  Religion,  ein  Verrather  und  Feigling  genannt.  In 
wegwerfender  Manier  wird  dann  der  von  Kriiger  als  unumstoss- 
lich  bewiesene  Umstand  abgewiesen,  dass  Thukydides  sein  Werk 
erst  nach  Beendigung  des  Krieges  ausgearbeitet  habe.  Ogienski 
iibergeht  die  Angabe  der  Pamphila,  dass  Thukydides  zu  Anfang 
des  Krieges  kein  Jiingling  mehr  gewesen  sei,  und  folgt  der  ihm 
bequemeren  Angabe  des  Markellinos.  In  der  Stelle  des  Diog. 
Laert.  II,  57,  wo  es  von  Xenophon  heisst :  keyerai  d\  oil  %al  vd 
Qovxvdidov  ftifilia  hxv&avovra  vtpeleod-ai  dwd/devog  avtog 
dg  do^av  rjyayev,  iibersetzt  er  falsch  Xav&dvovra  prae  timore 
celata  (statt  „noch  nicht  ins  Publikum  gekommen").  Endlich 
schliesst  er  in  sehr  naiver  Weise  mit  den  Worten:  Qui  hoc  de 
Thucydide  iudicium  indignum  putat,  ex  eo  quaerimus,  quo  iure 
liberalius  et  honestius  sibi  postulet,  qui  ipse  de  natura  humana 
illiberaliter  et  inhoneste  iudicat.  Eine  "Widerlegung  desselben 
zu  untemehmen,  halt  Vischer  fur  verlorene  Zeit  und  Miihe. 

Weit  besonnener  ist  Pfauin  der  Schrift:  Meditationes  cri- 
ticae  de  orationibus  Thucydideis,  Quedlinburg  und 
Leipzig  1836.  Die  Reden,  welche  Thukydides  seiner  Geschichte 
eingeflochten  habe,  seien  nicht  nur  frei  behandelt,   sondern  zum 


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218  Vischer,  Kleine  Schriften. 

grossen  Theile  auch  ohne  alio  historische  Basis,  vom  Redner  nur 
erfunden.  Diese  Behauptung  ist  noch  nie  mit  soldier  Bestimmtheit 
hingestellt.  Zwar  sage  Dionysios  bereits,  Perikles  habe  im  pelo- 
ponnesischen  Kriege  keine  Leichenrede  gehalten.  Heilmann  in 
den  Kritischen  Gedanken  von  dem  Charakter  und  der  Schreibart 
des  Thukydides,  S.  25:  „So  sind  die  eingeschalteten  Reden  beim 
Thukydides,  wie  es  scheint,  grossentheils  za  diesem  Ende  er- 
funden,  wenigstens  sehr  vortheilhaft  genutzet  worden."  Aehn- 
lich  Meierotto,  Memoire  sur  Thuoydide,  S.  518—538,  und  Ulrici 
„Charakteristik  der  alten  Historiographie"  spricht  von  laDgen, 
oft  rein  erdichteten  Reden  des  Thukydides  und  von  seiner  Ge- 
wohnheit,  Reden  nach  Belieben  einzuschalten.  Aber  Niemand 
bat  vor  Pfau  diese  Meinung  planmassig  aus  dem  Historiker  aelbst 
zu  erweisen  gesucht.  Thukydides  sagt  namlich  I,  22:  Kal  o<ta 
uev  Xoyq)  el/cov  Huaoxoi,  -jj  fxellovxeg  7toleprjoet,v  ^  h>  avtij) 
rjdrj  ovteg,  %aXsTtdv  xijv  aKQipeiav  avxfjv  xwv  Xe%&£vxw  dw- 
livrjfioveiocci  tjv  i/nol  xe  wv  avxog  rj%ovaa  '/ml  xolg  alkfih 
7to&ev  ifxol  dnayyiXXovaiv  wg  <P  av  idoxovv  ifiol  ?xa- 
oxoi  TtBQi  x&v  del  7taQ0VTU)v  xd  diovxa  jidXiax'  eimh 
ixo/xivcp  ox i  iyyvxaxa  xrjg  £vfi7td(jr]g  yvci^irjg  xwv  dXy&as 
Xe%&ivxiov  ovzcog  eiQTjxai.  Zu  dieser  Stelle  sagt  Poppo  ganz 
richtig:  Hinc  condones  tales  fecit,  quales,  ut  ipse  quidem  iudi- 
cabat,  si  habitae  essent,  singulis  locis  atque  temporibus  maxime 
consentaneae  fuissent.  Noluit  tamen  eas,  ut  ab  aliis  historicis 
factum  est,  prorsus  confingere,  sed  etiam  hie,  quantum  fieri  pot- 
«rat,  veritatis  studiosus,  quum  verba  ipsa  oratorum  reddere 
neque  posset  et  fortassis  interdum  etiam  nolle t,  certe  univemm 
sententiam  et  argumentum  orationum  vere  habitarum  quam 
maxime  servavit.  Dieser  Auffassung  ist  Pfau  eutgegengetreten, 
er  unterscheidet  to:  dXrj&iog  Xe%d-ivxa  (orationes  revera  habitae) 
und  ovx,  aXrrdxog  Xex&e'vxa  (frei  erfundene  L  e.  tag  av  Ho- 
kovv  avxqi  enaaxoi  neqi  xwv  del  na^ovxwv  xd  deovxa  pa- 
Xiox1  eifteiv).  MdXiaxa  ubersetzt  er  mit  „immerhin,  meinet- 
wegen",  was  es  nicht  bedeuten  kann,  sondern  es  ist  entweder 
zu  xd  diovxa  zu  Ziehen:  „Das  Passendste"  oder  zu  dem  Ge- 
danken: xd  diovxa  elrtelv  wpotissimum":  „Wie  ich  glaubte,  cUws 
Jegliche  am  Ehesten  passend  gesprochen  haben  wiirden".  Also 
hat  Thukydides,  von  der  Unmoglichkeit  iiberzeugt,  die  Reden 
wortlich  wiederzugeben,  nur  so  weit,  als  es  moglich  war,  den 
Hauptpunkt  derselben  zu  Grunde  gelegt  und  auf  dieser  Basis 
dann  den  Redner  so  sprechen  lassen,  wie  es  ihm  angemessen 
schien.  Er  hat  also  die  wirklichen  Reden  gewissermassen 
idealisirt.  Dieses  Ergebniss  erweist  Vischer  in  einer  langern 
Auseinandersetzung  an  den  einzelnen  Gattungen  der  Reden  and 
kommt  zu  dem  Resultate:  Wir  haben  auch  nicht  bei  einer  ein- 
sigen  Rede  Ursache,  sie  als  rein  erfunden  anzunehmen,  sondern 
alle  stehen  auf  historischem  Boden.  Zugleich  aber  weichen  sie 
alle  in  der  Form  von  den  wirklich  gehaltenen  ab,  denen  ut 
stufenweise  naher  oder  ferner  stehen :  am  Nachsten  ohne  Zweifel 


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Vischer,  Kleine  Schrifteu.  219 

die  des  Perikles,  weiter  schon  die  iibrigen  Reden  athenischer  Staats- 
manner,  noch  weiter  die  Gesandtschaftsreden ;  unter  diesen  wieder 
die  naher,  welche  einzelnen  Personen  gehoren,  als  die,  welche  ganzen 
Gesandtschaften  zugeschrieben  sind.  VergLLangreuter,  numora- 
tiones  Thucydideae  revera  habitae  sint,  an  exipsa  scrip- 
toris  mente  emanaverint,  quaeritur.  Cell.  1853.  C.  Tiesler, 
iiber  die  Reden  des  Thukydides,  Posen  1854.  4.  H.  Stein- 
berg, BeitragezurWiirdigungderThuc.  Re  den.  Berlin  1870. 
XII.  Seit  den  ungliicklicben  Wirren  und  Kampfen  der  vier- 
ziger  Jahre  war  Vischer  das  offentliche  Leben  verleidet.  Er 
sohreibt  (1851),  mehr  als  je  werde  es  ihm  klar,  wie  in  gewissen 
Zeiten  des  Alter thums  die  edelsten  Manner  dem  Staatsleben  den 
Rucken  wandten  und  in  der  Philosophie  und  anderer  Wissen- 
scbaft  Trost  und  Befriedigung  suchten,  solche  Manner  hat  man 
oft  falsch  beurtheilt,  wir  leben  in  Zeiten,  sie  zu  verstehen.  (Kl. 
Schr.  Bd.  2,  S.  XXXVII.)  Dessen  ungeachtet  trat  er  iiberall 
hervor,  wo  es  zu  handeln  gait,  und  bewies  stets  den  Muth  seiner 
Ueberzeugung,  besonders  auch  als  seiner  Vaterstadt,  zu  Gunsten 
einer  neu  zu  begiiindenden  eidgenossischen  Centraluniversitat, 
die  Hochschule  genommen  werden  sollte,  wodurch  Basel  eine 
blosse  Handels-  und  Fabrikstadt,  ein  schweizerisches  St.  Etienne 
oder  Miihlhausen  geworden  ware  (a.  a.  0.,  S.  XXXV).  Seine 
Vaterstadt  Basel,  die  Universitat  Basel  und  deren  Sammlungen, 
8  e  i  n  Heim  und  s  e  i  n  e  n  schonen  Vischerischen  *Garten  konnte 
er  nie  genug  riihmen  (a.  a.  0.,  S.  XIX).  Jedoch  reichte  sein 
Blick  auch  iiber  die  Ringmauern  hinaus  und  erfasste  mit  Freiheit 
die  Weltverhaltnisse.  Seit  seiner  ersten  Reise  nach  Griechenland 
interessirte  ihn  lebhaft  die  orientalische  Frage.  Das  wahre 
Interesse  der  westlichen  Machte  erblickte  er  darin  (1853):  ein 
moglichst  stark  es  christliches  Reich  siidlich  der  Donau  bis  nach 
Griechenland  hinab  zu  begriinden,  was  freilich  bei  dem  vor- 
handenen  Stoff  eine  schwere  Aufgabe  sei,  an  der  man  zu  ver- 
zweifeln  scheine.  Den  Versuch  aber,  die  turkische  Ruine  dadurch 
vor  ganzlichem  Einsturz  zu  bewahren,  dass  die  Russen  von  Con- 
stantinopel  fern  gehalten  wiirden,  sah  er  als  eine  blosse  Negation 
an,  die  auf  die  Dauer  zu  Nichts  fiihren  werde.  Solle  aber  Etwas 
geschehen,  so  miisse  man  grossartig  handeln  und  nicht  Staaten 
hinstellen,  denen  man,  wie  dem  armen  Hellas,  zum  Voraus  keine 
Lebensfahigkeit  gebe  (a.  a.  0.,  S.  XLI).  —  Ueber  den  deutsch- 
franzosischen  Conflict  urtheilte  er  (1870):  Ein  athenischer  Ge* 
sandter  habe  einst  den  Lakedamoniern,  die  alle  moglichen  Ver- 
sicherungen  anboten,  gesagt:  er  werde  nur  dann  ihnen  glauben, 
wenn  sie  bewiesen,  dass,  auch  wenn  sie  wollten,  sie  nichts  Boses 
mehr  thun  konnten;  denn  dass  sie  es  immer  wollen  wiirden,  das 
wisse  er  ganz  sicher.  Gerade  so  sei  es  mit  den  Franzosen.  Daher 
sich  denn  seiner  Meinung  nach  nur  iiber  die  Zweckmassigkeit, 
nicht  aber  iiber  die  Rechtmassigkeit  der  von  Deutschland  er- 
strebten  Mittel,  urn  Frankreich  das  Konnen  zu  benehmen,  streiten 
lasse    (a.    a.    0.    XLIII).    —   —   Nicht   ohne   Besorgniss   nahm 


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220  Programmenachau. 

Vischer  nach  dem  Frieden  eine  Reihe  bedenklicher  Symptome 
in  Deutschland  wahr,  die  ihn  daran  zweifeln  liessen,  dass  es  mit 
dem  grossen  deutschen  Reiche  so  vortrefflich  stehe  (1873).  Nicht 
das  kleinste  war,  seiner  Ansicht  nach,  der  krasse  Materialism^ 
der  sich  besonders  in  den  hochsten  geistigen  Regionen  kund  gebe. 
Was  soil  man  dazu  sagen,  schreibt  er,  wenn  man  hort,  dass  eine 
der  ersten  wissenschaftlichen  Celebritaten,  eingeladen  in  einer 
fromden  Stadt  einige  Vorlesungen  zu  halten,  darauf  nur  ein- 
gehen  will,  wenn  man  ihm  fiir  jede  Vorlesung  1000,  sage  tausend, 
Thaler  garantirt!    gerade  wie  eine  Tanzerin  (a.  a.  O.  XLIV). 

Solche,  die  Vischer  ferner  standen,  scheuten  ihn  nicht  selten 
wegen  seiner  geistigen  Scharfe  und  stcten  Kampfbcreitschaft; 
man  hielt  ihn  fiir  einen  „Verstandesmenschenu,  und  doch  hatte 
er  viel  Gemiith  und  ein  treues,  gutes  Herz  (a.  a.  0.  XLIV). 

In  den  letzten  Jaliren  seines  Lebens  trug  er  sich  mit  dem 
Gedanken,  die  Herausgabe  seiner  „Kleinen  gesammelten  Schriften* 
vorzubereiten.  An  der  Ausfiihrung  dieses  Vorhabens  hinderten 
ihn  seine  angestrengte  Thatigkeit  als  Leiter  des  Baslerischen 
Erziehungswesens,  spater  seine  langwierige  Krankheit  und  der  Tod 
(Gelzer.  V.) 
Colberg.  Dr.  A.  Winckler. 

XXXXVI. 

Programmenscliau. 
Mittelalter. 

1)  Gymnasium  zuBochum  1877/78.  Carl  Pottgieaser; 
Die  Einfiihrung  des  Christenthums  bei  den  Volkeri* 
germanischer  Abstammung.     Bochum  1878. 

Diese  Arbeit  bietet  in  lesbarer  Form  nichts  Neues. 

2)  Realschule  I.  0.  zu  Tarnowitz.  Ostern  1878. 
Ueber  die  Reichstheilungen  dor  Sohno  Chlodovechsl. 
und  Chlothars  I.  Vom  ordentl.  Lehrer  Dr.  Franz 
Urbich. 

Es  ist  schon  sehr  schwer  zu  bestimmen,  welches  die  Greiwen 
von  dem  Reiche  Chlodovechs  I.  gewesen  sind.  Als  Nordgreioe 
nimmt  der  Verf.  den  Rhein  an;  im  Osten  reichte  seine 
Herrschaft  iiber  denselben  hinaus,  doch  ist  kaum  anzugeben,  wie 
weit  sie  sich  dahin  ausdehnte.  Im  Siidosten  und  Siiden  ist  die 
Grenze  schwankend. 

Wenn  uns  hierbei  schon  die  Queilen  im  Stiche  lassen,  w 
auch  bei  der  Theilung  des  Reiches  unter  seine  vier  Sohne;  wir 
konnen  nicht  einmal  mit  Bestimmtheit  angeben,  ob  wirklich  das 
Land  oder  nur  die  Einkiinfte  getheilt  sind,  nur  das  Eine  ist  bei 
den  beiden  Erbtheilungen  von  511  und  561  ersichtlich,  dass  die 
Grosse  der  Loose  nach  dem  Alter  abgestuft  wurde.  Auch  ist  w 
bemerken,  dass  sich  die  Anzahl  der  Theilreiche  nach  der  Zahl 
der  erbenden  Sohne  richtete,  es  erhielt  aber  doch  jedes  Reid 
einen  moglichst  einheitlichen  Character  und  einon  auf  nationals 


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Programmenschau.  221 

Grundlage    beruhendea    Hauptbestandtheil.      Dies    beweist    der 
Verf.  durch  die  Detailuntersuchung. 

3)  Gymnasium  zu  Fulda.  Ostern  1878.  Die  Grtin- 
dung  Fuldas.     Von  Oberlehrer  Jakob  Gegenbaur. 

Ein  lesbarer  popularer  Vortrag  iiber  das  Thema,  ohne  dass 
wesentlich  Neues  geboten  wtirde, 

4)  Konigliches  Gymnasium  zu  Arnsberg.  Ostern  1878. 
Historischer  Werth  des  Poeta  Saxo  fur  die  Geschichte 
Carls  des  Grossen.  Vom  Gymnasial-Lehrer  Dr.  Hubert 
Brie  den. 

Zuerst  giebt  der  Verf.  kurz  den  Inhalt  des  Werkes  an, 
daun  die  Urtheile,  welche  iiber  den  Werth  desselben  gefallt  sind. 

Darauf  untersucht  der  Verf.,  wie  der  poeta  seine  Quellen 
benutzt  hat,  und  weist  nach,  dass  er  die  Annalen  Einhards  nicht 
genau  wiedergiebt.  Diesen  folgt  er  bis  zum  Ende  des  Jahres  801. 
Die  Zusatze,  die  er  gemacht  hat,  sind  bisweilen  recht  hiibsch, 
haben  aber  keinen  historischen  Werth. 

Vom  J.  802  an  dient  eine  Halberstadter  Chronik  dem  poeta 
als  Quelle,  die  nur  sparliche,  oft  den  Reichsannalen  wider- 
sprechende  Mittheilungen  darbot.  Das  fiinfte  Buch  beruht  auf  der 
vita  Caroli.  Die  Zusatze,  welche  der  Dichter  zu  seinen  Quellen 
liefert,  beschranken  sich  fast  nur  auf  Schilderungen  von  Orten 
und  Gebauden  oder  geben  seinen  Empfindungen  Ausdruck;  sie 
sind  daher  von  keinem  Werthe  fur  die  Geschichte.  Die  wenigen 
Nachrichten,  welche  der  Poet  mittheilt  und  die  er  nicht  in  uns 
bekannten  Quellen  vorfand,  sind  von  geringer  Bedeutung.  Die 
Mittheiluxgen  iiber  den  sog.  Frieden  von  Selz,  der  von  den  besten  "~- 
Oeschichtsschreibern  aus  guten  Griinden  verworfen  wird,  sind  in- 
8ofern  nicht  ohne  historischen  Werth,  als  sie  eine  Reihe  von 
Angaben  enthalten,  die  den  Zustand  Sachsens,  wie  er  nach  dem 
Kriege  eintrat,  im  Ganzen  richtig  darstellen. 

5)  Hohere  Biirgerschule  zu  Pillau.  Ostern  1878.  Das 
Verhaltniss  des  deutschen  Konigthums  zum  sachsi- 
schen  Herzogthum  im  zehnten  Jahrhundert.  Vom 
Lehrer  Preiss. 

Das  Resultat  seiner  Untersuchung  giebt  der  Verf.  in  folgen- 
den  Satzen: 

1)  Bei  dem  Streite  Konig  Konrads  mit  dem  sachsischen 
Herzoge  Heinrich  handelte  es  sich  nicht  um  die  Abtretung 
einzelner  thiiringischer  Landstriche,  sondern  um  eine  Einschrankung 
der  herzoglichen  Machtvollkommenheit  iiberhaupt  und  aller  Wahr- 
scheinlichkeit  nach  der  Freiheit  in  den  kirchlichen  Angelegenheiten 
des  Landes. 

2)  Der  Billunger  Hermann  war  nur  Markgraf.  Die  ihm  von 
Zeit  zu  Zeit  iibertragene  herzogliche  Gewalt  iiber  Sachsen  tragt 
den  Character  der  Stellvertretung;  doch  blieb  ihm  der  Titel 
ernes  dux 

3)  Erst  seit  dem  Jahre  986  ist  mit  historischer  Gewissheit 
ein  sachsischer  Herzog  als  Vertreter  des  Stammes  nachzuweisen. 

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222  Programmenschau. 

4)  Die  Grundlage  fiir  das  neue  Herzogthum  ist  in  der 
ehrenvollen  Auszeichnung  zu  suchen,  welche  die  StellvertretaBg 
des  Konigs  dem  Hause  der  Billunger  bringen  musste. 

6)  Gymnasium  und  hohere  Biirgerschule  zu  "Wesel 
Ostern  1878.  Beitrage  zur  Geschichte  Bruno's  L  von 
Coin  vom  Gymnasiallehrer  Carl  Martin. 

Der  Verf.  weiss  recht  wohl,  dass  er  nach  den  ausge- 
zeichneten  Arbeiten,  welche  schon  iiber  Bruno  erschienen  sind, 
nicht  viel  Neues  bringen  kann;  er  versucht  das  auch  gar  nicht^ 
sondern  will  nur  die  kirchlich-theologisclie  Stellung  und  Denk- 
weise  Bruno's  etwas  bestimmter  darlegen,  als  das  bisher  ge- 
schehen  ist.  Er  fasst  demnach  alle  die  Ziige  in  ein  Bild  zu- 
sammen,  die  wir  in  den  Geschichtswerken  zerstreut  finden. 

7)  Realschule  zu  Vegesack.  Ostern  1878.  Zur 
Characteristik  Adalberts  von  Bremen  vom  Director 
Dr.  Ebeling. 

Der  Verf.  will  nichts  Neues  geben,  sondern  nur  eine  Zn- 
sammenstellung  des  Bekannten,  damit  der  grosse  Erzbischof 
fernerhin  richtiger  beurtheilt  werde  als  es  bisher  meist  geschehen 
ist  und  geschieht.  Es  ware  zu  wtinschen  gewesen,  dass  das 
Thema  etwas  eingehender  behandelt  ware.  Da  das  schone  Buch 
von  Dehio  wohl  nicht  in  viele  Hande  gekommen  ist,  so  war  es 
ein  gliicklicher  Gedanke,  in  einer  Programmarbeit  die  neuen  An- 
schauungen  weiter  zu  verbreiten,  doch  —  wie  gesagt  —  ver* 
missen  wir  an  dieser  Arbeit  die  Ausfiihrlichkeit. 

8)  Hohere  Biirgerschule  zu  Biedenkopf.  Ostern  1878. 
Burchard  U.  von  Halberstadt,  der  Fiihrer  der  Sachsen 
in  den  Kriegen  gegen  Heinrich  IV.  von  dem  ordentL 
Lehrer  Dr.  Otto  Wackermann. 

In  der  Vorbemerkung  bespricht  der  Verf.  das  Verhaltniss 
seiner  Arbeit  zq  denen  seiner  Vorganger.  Die  eigentliche  Ab- 
handlung  beginnt  er  mit  der  Darlegung  der  Gesichtspuncte, 
welche  uns  leiten  miissen,  wenn  wir  die  Kampfe  der  Sachsen 
gegen  Heinrich  IV.  richtig  beurtheilen  wollen.  Unter  den  Gegnern 
Heinrichs  IV.  treten  drei  Geistliche  hervor,  die  nahe  verwandt 
waren,  namlich  Anno  v.  Coin,  Wezel  v.  Magdeburg  und  Burchard 
v.  Halberstadt,  doch  ist  von  ihnen  sicherlich  der  letztere  der 
erbittertste  und  gefahrlichste  Feind  des  Konigs.  Burchard  hies, 
ehe  er  Bischof  von  Halberstadt  wurde  und  den  Namen  seines 
Vorgangers  annahm,  Bucco,  und  ist  unter  diesem  Namen  noch 
im  Kinderreim  bekannt.  Er  stammte  aus  der  vollfreien  aber 
nicht  sehr  angesehenen  schwabischen  Familie  derer  von  Stenss- 
lingen.  Sein  Geburtsjahr  ist  1028.  Als  sein  Oheim  Anno  1056 
Erzbischof  von  Coin  wurde,  erhielt  er  die  bevorzugte  Stelle  eines 
Propstes  zu  Goslar;  er  war  also  in  Sachsen  eigentlich  em 
Fremdling.  Von  der  Hofkirche  zu  Goslar  wurden  unter  Hein- 
rich HI.  und  Heinrich  IV.  viele  bedeutende  Bisthiimer  besetet 
So  wurde  auch  Burchard  von  hier  aus  im  J.  1060  zum  Bischof 
von  Halberstadt  berufen,  wobei  sein  Oheim  Anno  gewiss  thaMge 

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-'*3*r. 


Programmen8chau.  223 

Hiilfe  gcleistet  hat.  Um  seine  Diocesanen  zu  gewinnen,  hat  er 
fiir  sein  Bisthum  alles  nur  Mogliche  gethan;  so  hat  er  um  Ge- 
ringeres  zu  iibergehen  die  Kloster  zu  Ilsenburg  und  auf  dem 
liny  gestiftet.  Ersteres  trug  besonders  mit  zur  Verbreitung  der 
Cluniacensischen  Ideen  in  Norddeutschland  bei. 

Der  Verf.  schildert  dann,  wie  Burehard  allmahlich  in  seiner 
Stellung  zur  bittersten  Feindschaft  gegen  Heinrich  IV.  gefiihrt 
wurde  und  dabei  einen  Heifer  an  seinein  Oheim  Wezel  von 
Magdeburg  fand.  Natiirlich  schloss  er  sich  an  Gregor  VII. 
an.  Der  Verf.  erzahlt  die  Theilnahme  Burchards  an  den 
Kampfen  gegen  Heinrich,  des  Bischofs  Gefangenschaft  und  Flucht, 
seinen  Antheil  an  der  Erhebung  Hermanns  von  Luxemburg,  er 
schildert  die  Zeit  seines  grossten  Einflusses,  zeigt,  wie  derselbe 
zu  schwinden  begann  und  wie  er  endlich  im  J.  1088  bei  einer 
Emporung  der  Burger  in  (Joslar  schwer  verwundet  wUrde. 
Man  brachte  ihn  von  da  in  das  Kloster  zu  Usenburg,  wo  der 
gewaltige  Mann  nach  wenigen  Tagen  starb. 

Der  Verf.  entrollt  in  sehr  lesbarem  Deutsch  ein  interessantes 
Lebensbild.  Er  war  sich  wohl  bewusst,  dass  er  nicht  viel  Un- 
bekanntes  bringen  wiirde;  er  wollte  das  auch  nicht;  aber  das, 
was  er  erstrebte,  das  hat  er  erreicht. 

9)  Gymnasium  zu  Ciistrin.  Ostern  1878.  Siegfried 
von  Eppenstein,  Erzbischof  von  Mainz.  (Erster  Theil.) 
Von  Hugo  Donniges. 

Mehrere  Osterprogramme  behandeln  die  Zeit  Heinrichs  IV.; 
zu  diesen  Arbeiten  gehort  auch  die  vorliegende.  Der  erste  Ab- 
schnitt  derselben,  die  Einleitung,  bespricht  die  allgemeinen  politi- 
schen  und  kirchlichen  Verbal tnisse  beim  Tode  Heinrichs  HI.; 
der  zweite  Abschnitt  die  ersten  Regierungsjahre  Heinrichs  IV. 
Bis  S.  13  giebt  der  Verf.  in  ganz  gewandter  Darstellung  nur 
Bekanntes,  erst  da  geht  er  auf  das  Thema  ein.  Er  erzahlt,  wie 
der  Mainzer  Erzbischof,  einem  Zuge  der  Zeit  folgend,  gegen  die 
Privilegien  der  Abtei  Fulda  aufgetreten  sei.  Diese  Abtei  hatte 
namlich  wie  viele  andere  bedeutende  Kloster  sich  der  Gewalt 
des  zustandigen  Erzbischofes  durch  papstliche  Gnade  zu  ent- 
ziehen  versucht.  Dass  der  Papst  solche  Gesuche  begunstigte,  ist 
leicht  erklarlich,  da  ihm  daran  lag,  die  Macht  der  selbstandigen 
Biechofe  zu  brechen.  Dieser  Zwist  zwischen  Mainz  und  Fulda 
schien  ein  Ende  finden  zu  sollen,  als  Siegfried  von  Eppenstein, 
Abt  von  Fulda,  im  J.  1060  Erzbischof  von  Mainz  wurde.  Doch 
geschah  das  nicht,  da  der  neue  Erzbischof  keine  Anspruche  seines 
Stiftes  aufgab.  Erst  im  J.  1073  wurde  diese  Angelegenheit  be- 
endet. 

Im  dritten  Abschnitte  erfahren  wir,  dass  Siegfried  sich  mit 
Anno  v.  Coin  verbindet  und  dabei  betheiligt  war,  als  man  Hein- 
rich IV.  seiner  Mutter  raubte.  Anfangs  theilte  Anno  mit  Sieg- 
fried die  Herrschaft,  dann  aber  verdrangte  er  ihn  und  Siegfried 
wurde  so  in  den  Schatten  gestellt,  dass  der  Papst  zweien  seiner 
Suffragane  das  Pallium  verlieh,   es  ihm  aber  vorenthielt    Auch 


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224  Programmenscnau. 

Adalbert  liess  nach  dem  Sturze  Anno's  den  schwachen  Siegfried 
am  Regiment  nicht  Antheil  nehmen.     Das  bewog  den  Erzbischof 
im  J.  1064  sich  auf  eine  Wallfahrt  ins  heilige  Land  zu  begeben. 
Damit  endet  die  Abhandlung. 

10)  Hohere  Biirgerschule  zu  Duderstadt.  Ostern 
1878.  Urkundenbuch  des  Klosters  Teistungenburg 
im  Eichsfelde.  Erster  Theil.  Die  Urkunden  bis  zum 
J.  1320.    Bearbeitet  von  Dr.  Julius  Jaeger. 

Dies  Cistercienserinnen-Kloster  lag  im  Kreise  Worbis  zwischen 
Stadt  Worbis  und  Duderstadt.  Es  war  von  der  Regierung  des 
Konigreichs  Westfalen  1809  aufgehoben  und  wurden  Giiter  und 
Gebaude  verkauft.  Das  Archiv  verblieb  bis  1870  im  Kloster, 
kam  dann  aber  in's  Staats  -Archiv  nach  Magdeburg.  76  Ur- 
kunden werden  mitgetheilt,  welche  meist  Schenkungen  enthalten. 

11)  Liidenscheid.  Hohere  Biirgerschule.  Ostern  1878. 
Die  Wahl  Heinrich  Raspe's  am  22.  Mai  1246  von 
Dr.  Friedrich  Reuss. 

Es  wurde  dem  Papst  Innocenz  IV.  schwer,  einen  geeigneten 
Gandidaten  fur  die  Kaiserkrone  gegen  den  Staufen  Friedrich  E 
herauszufinden,  und  es  gelang  erst  nach  manchen  Unterhandlungen 
den  Landgrafen  Heinrich  Raspe  von  Thiiringen  zu  bewegen, 
diese  Rolle  zu  spielen.  Der  Papst  sandte  in  dieser  AngelegenLeit 
Philipp,  den  Erwahlten  von  Ferrara,  nach  Deutschland,  der  die 
Wahl  eifrig  betrieb.  Diese  fand  bei  Wiirzburg  in  Veithochheim 
statt.  Die  Zeugen,  die  in  der  von  Falke  cod.  trad.  Corb.  p.  404 
edirten  Urkunde  genannt  werden,  lassen  auf  eine  Falschung 
schliessen. 

In  dem  zweiten  Theile  der  Arbeit  weist  der  Verf.  nach, 
dass  der  Papst  dabei  eine  Niederlage  erlitten  hat,  indem  weder 
die  Mehrzahl   der  Fiirsten   noch  der  Stac^te  fur  H.  Raspe  war. 

12)  Realschule  I.  0.  zu  Halle  Ostern  1878.  Zur 
Kritik  von  Johann  von  Victring's  „Liber  certamm 
historiarum".     Erster  Theil.     Von  Dr.  Mahrenholtz. 

Eirier  der  bedeutendsten  Historiker  des  spateren  Mittelalters 
ist  der  Abt  Johann  von  Victring.  Von  seinem  Leben  wissen  wir 
nicht  viel,  doch  steht  fest,  dass  er  1311  Abt  in  Victring  wurde 
und  mit  vielen  bedeutenden  Mannern  verkehrte.  Sein  Geschichts- 
werk,  welches  die  Jahre  1212 — 1343  umfasst,  beweist  uns  das. 

Wenn  nun  auch  unser  Abt  in  kirchlichen  Dingen  manche 
freiere  Richtung  anerkennt,  so  entscheidet  er  sich  zuletzt  doch 
immer  fiir  den  Papst,  ebenso  streitet  er  trotz  aller  VTerehrong 
fur  Haus  Habsburg  stets  fiir  die  Kirche,  sobald  etwa  ein  Conflict 
zwischen  Staat  und  Kirche  eintritt.  Dann  geht  der  Verf  auf 
die  Einzelheiten  der  Chronik  ein. 

13)  Realschule  1.0.  in Harburg.  Osternl878.  Tolomeo 
von  Lucca.     Von  Dr.  Dietrich  Konig. 

Zuerst  bespricht  der  Verf.  die  neue  Ausgabe  des  Tolomeo 
von  Minutoli,  deren  Vorrede  knaher  characterisirt  wird.  Der 
erate   Theil    derselben   behandelt   T.'s    aussere  Lebensschicksak 


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Programmenschau.  225 

(1236 — 1327).    Dann   werden  die  Werke  dieses  Mannes  durch- 

gesprochen. 

14)Kaiser-Wilhelm-GymnasiumzuC61n.  Osternl878. 
Mittheilungen  aus  Acten  der  Universitat  Coin.  Die 
Aufzeichnungen  der  erstenMatrikel(1388 — 1425)  iiber 
die  Eroffnung  der  Universitat  und  iiber  das  erste 
Studienjahr  (22.  Dec.  1388  bis  5.  Febr.  1390)  vom 
Director  Dr.  Wilhelm  Schmitz. 

Nach   einer  kurzen  Einleitung   folgt  der  Abdruck  der  Ma- 

trikel. 

15)  Progymnasiumzu  Schlawe.  Osternl878.  Einiges 
zur  Geschichte  der  Stadt  Schlawe  bis  zu  ihrer  Be- 
strafung  durch  Herzog  Bogislaw  X.  wegen  der  Ent- 
hauptung  Borchards  von  Winterfeld  im  J.  1485  mit 
26  Urkunden  aus  den  Jahren  1412  —  1486.  Theil  4. 
Vom  Rector  Dr.  Johannes  Becker. 

Die  Stadt  Schlawe  besitzt  aus  der  Zeit  von  1411 — 1486 
26  Urkunden.  Sie  sind  im  Anschluss  an  die  frtiher  veroffent- 
lichten  mit  den  Nummern  44 — 69  bezeichnet  worden.  Ihrem 
Inhalte  nach  sind  sie  in  mehrere  Gruppen  zu  theilen: 

No.  52,  61,  64  enthalten  Bestatigungen  der  der  Stadt  ver- 
Hehenen  Privilegien. 
„     44  und  47  enthalten  Stadtebtindnisse. 
„     48,  53,  54,  55—58,  62,  63  enthalten  Urfehdebriefe. 
„     45,  46,  49,   50   berichten   von  Vicarienstiftungen  und 

sind  meist  zugleich  Schuldbriefe. 
„     51,   59   und   60,   65   enthalten   Nachrichten   iiber   das 
Johanniterhaus  und  iiber  Hospitaler.     Auch  diese  sind 
meist  Schuldbriefe. 
„     66 — 69  beziehen  sich  auf  die  Enthauptung  des  Herzog- 
lichen  Lehnsmannes  Borchard  Winterfeld. 
"Weshalb  die  Stadt  gegen  diesen  Herrn  so  streng  verfahren 
ist,  ist  nicht  bekannt;  das  aber  steht  fest,  dass  Herzog  Bogislaw  X. 
diese  That  der  Burger  benutzte,   um  das  ubermuthige  Schlawe 
zu  beugen.     Er  nahm  ihnen  namlich  ihr  bis  dahin  vollig  unab- 
hangiges  Stadtgericht. 

16)  Gymnasium  zu  Eutin.  Ostern  1878.  Einige 
Abschnitte  aus  Cogelius  „Utinisches  Bischofsge- 
dachtniss"  vom  Director  Pausch. 

Der  Verf.  dieses  Werkes  Fr.  Cogelius  war  seit  1656  Lehrer 
an  der  Eutiner  Schule  und  zahlte  zu  den  Dichtern  jener  Zeit. 
Er  war  unter  dem  Namen  „der  Scheue"  Mitglied  der  frucht- 
bringenden  Gresellschaft.  Dieses  Werk  des  Cogelius  ist  unge- 
dmckt.  Es  werden  daraus  folgende  Abschnitte  mitgetheilt: 
Anderer  Theil.  Der  I.  Haupt-Satz.  Von  Ursprung  des 
Bistuhms,  und  dem  ersten  Bischoffe  zu  Liibeck.  Dritter  Theil. 
Der  I.  Haupt-Satz.  Von  der  Evangelischen  Lehranderung.  Aus 
dem  „H.  Haupt-Satz".  Der  IH.  Haupt-Satz.  Von  dreyen 
Bischoffen  die  im  Bistuhm  nicht  bestetigt  seyn.     Der  IV.  Haupt- 

Mitthcllnngcn  a.  d.  hlstor.  LiUeratur.    VU.  15 

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226  Die  Geschichtschreiber  der  deutschen  Vorzeit. 

Satz.  Von  zweyen  umb  Uthin  woll  verdienten  Bischoffen.  Der 
VI.  Haupt-Satz.  Vom  HE.  unter  den  Hertzogen  als  Bischoff 
seit  der  Evangelischen  Lehrzeit. 

Berlin.  Foss. 

xxxxvn. 

Die  Geschichtschreiber  der  deutschen  Vorzeit  in  deutscher  Be- 
arbeitung  herausgegeben  von  G.  H.  Pertz,  J.  Grimm, 
K.  Lachmann,  L.  Banke,  K.  Bitter.  Fortgesetzt  ion 
W.  Watte nbach.     Leipzig,  Franz  Duncker. 

Lieferung  6.  Paulus  Diaconus  und  die  iibrigen  Geschicht- 
schreiber der  Langobarden.  Uebersetzt  von  Dr.  Otto  Abel 
Zweite  Auflage  bearbeitet  von  Dr.  Beinhard  Jaeobi. 
8°.     (XXXII  u.  259  S.)     1878.     2,80  M. 

Lieferung '12  u.  16.  Zehn  Biicher  frankischer  Ge- 
schichte  vom  Bischof  Gregorius  von  Tours.  Uebersetzt 
von  Wilhelm  v.  Giesebrecht.  2  Bande.  Zweite  Auflage. 
8°.     (XXXXVHI,  368  u.  VI,  362  S.)     1878.     7,20  M. 

Lieferung  54.  Ekkehart's  IV.  Casus  Sancti  Galli 
nebst  Proben  aus  den  iibrigen  lateinisch  geschriebenen  Ab- 
theilungen  der  St.  Galler  Klosterchronik.  Uebersetzt  von 
G.  Meyer  von  Knonau.  8°.  (XXXXTTI  u.  283  S.)  1878. 
4  M. 

Lieferung  55.  Leben  des  heiligen  Severin  von  Eugip- 
pius.  Uebersetzt  von  Dr.  Karl  Rodenberg.  8.  (76  8.) 
1878.     1  M. 

Ebenso  wie  die  Monumenta  Germaniae  historica  ist  auch 
das  neben  denselben  begriindete  Unternehmen  der  „  Geschicht- 
schreiber der  deutschen  Vorzeit",  welches  die  wichtigeren  Werke 
unsrer  mittelalterlichen  Geschichtsschreibung  in  deutschen  Ueber- 
setzungen  auch  einem  grosseren  Leserkreise  zuganglich  zu  machen 
bestimipt  ist,  nach  einem  bedauerlichen  langeren  Stillstande 
wieder  neu  in  Angriff  genommen  worden.  Die  Leitung  desselben 
hat  jetzt  W.  Wattenbach  ubernommen,  derselbe  erklErt  fur  die 
Fortfuhrung  des  Unternehmens  nach  dem  urspriinglichen  Plane 
sorgen  und  die  Ausfuhrung  der  Uebersetzungen  uberwachen  zu 
wollen,  auch  die  Verlagshandlung  verspricht  ihrerseits  nichts 
verabsaumen  zu  wollen,  was  dem  raschen  Fortgang  des  Unter- 
nehmens forderlich  sein  kann,  und  das  gleichzeitige  Erscheinen 
von  funf  Lieferungen  zu  Ende  des  vorigen  Jahres  beweist,  dass 
in  der  That  auch  hier  riistig  an  die  Arbeit  gegangen  worden 
ist.  Von  denselben  enthalten  die  drei  ersten  neue  Auf lagen  von 
schon  friiher  erschienenen  Arbeiten,  von  den  Uebersetzungen  der 
Langobardengeschichte  des  Paulus  diaconus  und  von  Gregor's 
von  Tours  frankischer  Geschichte.  Die  neue  Bearbeitung  der 
friiher  1849  von  0.  Abel  herausgegebenen  Uebersetzung  des 
Paulus  diaconus  hat  B.  Jaeobi  ubernommen,  welcher  schon  durch 
seine  Arbeit  iiber  die  Quellen  des  Paulus  diaconus  (Halle  1877) 
seine  genaue  Bekanntschaft  mit  diesem  Chronisten  bekundet  hat 


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Die  Gescbichtscbreiber  der  deutachen  Vorzeit.  227 

Derselbe  erklart  hier  in   der  VoiTede,   dass   er  den  Grundsatz 
befolgt  habe,   die  Uebersetzung  Abel's   sowie   dessen  Einleitung 
und  die   als   Anhang   hinzugefugten  Abhandlungen   iiber  Wan- 
derungen,   Christenthum    und   Erbfolge    bei    den    Langobarden 
moglichst  unverandert  zu   belassen,   nur,   wo   die  Uebersetzung 
allzu  frei  erschien  und  wo  die  neue  Ausgabe  von  Waitz  in  den 
Monumenta  einen  verbesserten  Text  darbot,  sind  Berichtigungen 
erfolgt,  ferner  sind  fiir  die  Einleitung  und  die  erklarenden  An- 
raerkungen    die    seitdem   erschienenen   neuen   Forschungen,    be- 
sonders   die  Arbeiten   von  Waitz   und  Dahn   sowie   die  eigenen 
Untersuchungen  des  Herausgebers  verwerthet  worden.     So  zeigt 
denn   die   Einleitung,   namentlich   die   Darstellung   der  Lebens- 
geschichte   des   Paulus   und   die  Bemerkungen  iiber   die   beiden 
wichtigsten  Quellen  desselben,  die  Chronik  des  Bischofs  Secundus 
von  Trient  und   die  Geschichte  von   der  Herkunft   der  Lango- 
barden. manche  Veranderungen.     Ebenso  wie  in  der  ersten  Auf- 
lage  folgen  auch  hier  auf  Paulus  selbst  noch  einige  andere  lango- 
bardische  Geschichtsquellen,  namlich  jene  Sclirift  iiber  die  Her- 
kunft  der  Langobarden   (in   der   ersten  Auflage  irrthiimlich  als 
das  Vorwort  zu   dem   Gesetzbuch  Konig   Rothari's  bezeichnet), 
ferner  Ausziige   aus   dem  Leben   der  Papste,    aus   der  Chronik 
von  Novalese,   aus   dem  Leben   der   hh.  Amelius   und  Amicus, 
aus  der  Chronik  von  Salerno  und  aus  de^  des  Monches  Benedict 
vom  Berge  Soracte,  aus  der  Legende  von  der  h.  Julia  und  aus 
den  Briefen  der  Papste. 

Die  1851  erschienene  Uebersetzung  von  Gregor's  von  Tours 
frankisclier  Geschichte  war  von  W.  Giesebrecht  verfasst,  und  eben- 
deraelbe  Gelehrte  hat  auch  die  jetzt  vorliegende  zweite  Auflage 
besorgt.  Derselbe  erklart  in  der  Einleitung,  dass  er  zu  einer 
durchgreifenden  Umarbeitung  nicht  Zeit  habe  finden  konnen  und 
dass  daher  diese  neue  Ausgabe  nur  als  ein  revidirter  Abdruck 
der  ersten  anzusehen  sei.  Doch  hat  auch  er  fiir  die  Einleitung 
und  fiir  die  Anmerkungen  die  neueren  Eorschungen,  namentlich 
fur  die  Verfassungsgeschichte  neben  Waitz  die  "Werke  von  Both 
und  Sohm,  fiir  die  kritischen  Fragen  Monod,  fiir  die  geographi- 
schen  Verhaltnisse  Jacobs  und  Lougnon  verwerthet;  eine  neue 
Ausgabe  Gregor's  ist  bisher  nicht  erschienen,  doch  wird  eine 
solche  auf  Grund  der  Vorarbeiten  Bethmann's  jetzt  von  W.  Arndt 
fiir  die  Monumenta  vorbereitet,  und  dieser  Gelehrte  hat,  wie 
friiher  bei  der  ersten  Auflage  Bethmann,  dem  Verf.  bei  der 
Durchsicht  der  Uebersetzung  Beistand  geleistet.  Von  den  zwei 
Banden,  welche  die  Arbeit  einnimmt,  enthalt  der  erste  die  aus- 
fdhrliche  Einleitung,  welche  einige  Verbesserungen  und  Zusatze 
erhalten  hat,  und  die  Uebersetzung  der  ersten  6  Biicher,  der 
zweite  Band  enthalt  die  letzten  Biicher  7—10  und  den  hier 
auch  unverandert  wiederholten  Anhang  iiber  das  Schlusscapitel, 
in  welchem  nachgewiesen  wird,  dass  auch  dieses  von  Gregor 
selbst  verfasst  ist,  ferner  einzelne  Stiicke  aus  Fredegar  und  der 
Chronik  der  Frankenkonige,  endlich  ein  Register. 

15* 


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228  Die  Geschichtschreiber  tier  deutschen  Vorzeit. 

Die  beiden  letzten  Lieferungen  enthalten  ganz  neue  Arbeiten, 
die  54  die  Uebersetzung  der  in  dem  ursprttnglichen  Plan 
nicht  beriicksicbtigten  Casus  S.  Galli  Ekkehart's  IV.  toii 
G.  Meyer  von  Knonau.  Dieselbe  beruht  auf  der  neuen  Ausgabe 
der  verschiedenen  Theile  der  S.  Gallischen  Klosterchronik,  welche 
der  Verf.  selbst  in  den  letzten  Jahren  (1870 — 79)  in  den  rMit- 
theilungen  zur  vaterlandischen  Geschichte"  des  historischen 
Vereins  von  S.  Gallen  (Heft  XII— XVII)  veroffentlicht  hat. 
In  einer  langeren  Einleitung  stellt  derselbe  die  Resultate  thals 
seiner  eigenen  Untersuchungen,  theils  der  Forschungen  anderer 
Gelehrten  iib^r  diese  Chronik  zusammen.  Er  bespricht  zunachst 
den  ersten  von  Ratpert  bald  nach  883  verfassten  Theil  derselben, 
welcher  die  Gescbichte  des  Klosters  von  seinen  Anfangen  an 
bis  zum  Jahre  £83  fiihrt,  dann  behandelt  er  die  Arbeit  Ekke- 
hart's,  welcher  um  die  Mitte  des  11.  Jahrhunderts  diese  Geschichte 
bis  zum  Jahre  971  fortgesetzt  und  uns  darin  ein  reiches  und 
lebendiges  Bild  des  Lebens  in  dem  Booster  in  der  von  ihm  ge- 
priesenen  guten  alten  Zeit  vorgefuhrt  hat.  Er  weist  darauf  bin, 
welche  grossen  Mangel  dieses  Werk  als  Geschichtsquelle  in  Folge 
von  Pliichtigkeit  und  Parteileidenschaft  zeigt,  trotzdem  aber  will 
er  Ekkehart  den  Ruhm  eines  von  wahrer  dichterischer  Kraft 
erfullten  Darstellers  nicht  schmalern.  Er  bespricht  dann  die 
spateren  sechs  Portsetzungen  der  Klosterchronik,  von  denen  die 
letzte,  von  Conradus  de  Pabaria  um  die  Mitte  des  13.  Jahr- 
hunderts verfasst  und  bis  1232  reichend,  insbesondere  die  aussere 
Geschichte  von  S.  Gallen  unter  Philipp  von  Schwaben,  Otto  IV. 
und  Friedrich  II.  eingehend  und  auf  Grund  guter  Kenntniss 
darstellt.  Die  Uebersetzung  giebt  zunachst  die  Chronik  Ekke- 
hart's  vollstandig  wieder,  daran  schliessen  sich  zwei  Beilagen. 
von  denen  die  erste  den  in  einer  Handschrift  des  Klosters  ent- 
haltenen  Bericht  iiber  einen  Besuch  des  Bischofs  Adalbero  von 
Augsburg  in  8.  Gallen  908,  die  zweite  Ausziige  aus  der  c.  1000 
von  dem  S.  Gallischen  Monche  Hartmann  geschriebenen  Lebens- 
beschreibung  der  h.  Wiborada  enthalt.  Darauf  folgen  dann 
als  Anhang  Proben  aus  den  iibrigen  lateinisch  geschriebenen 
Abtheilungen  der  S.  Galler  Klosterchronik,  den  Schluss  bildet 
auch  hier  ein  Register. 

Lieferung  55  enthalt  die  Uebersetzung  des  von  Eugippins 
verfassten  Lebens  des  h.  Severinus  von  K.  Rodenberg  auf  Grand 
der  neuen  von  Sauppe  in  den  Monumenta  veroflFentlichten  Aus- 
gabe. Auch  hier  ist  eine  Einleitung  vorausgeschickt,  in  welcher 
der  Verf.,  wie  er  selbst  angiebt,  auf  Grund  von  Muchar^  Das 
romische  Noricum,  von  Pallmann's  Geschichte  der  Volker- 
wanderung  und  von  Rettberg's  Kirchengeschichte  Deutschlands 
zunachst  die  Zustande  der  romischen  Donauprovinzen  in  der 
Kaiserzeit  und  dann  in  den  Stiirmen  der  Volkerwanderung 
schildert  und  darauf  einen  kurzen  Abriss  des  Lebens  des  Heiligen 
selbst,  welcher  in  der  zweiten  Halfte  des  5.  Jahrhunderts,  gerade 
inmitten  der  hochsten  Barbarennoth  in  Ufernoricum  gewirkt  hat, 


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Beyer,  Der  Limes  Saxoniae  Karls  d.  Grossen,  229 

sowie  seines  Biographen  giebt,  eines  Schiilers  desselben,  welcher 
c.  511  die  kleine  aber  an  intpressanten  Nachrichten  reiche  Schrift 
verfasst  hat.  Wir  machen  bei  dieser  Gelegenheit  auf  eine  in  dem 
letzten  Jahrgange  der  Sitzungsbericlite  der  Wiener  Akademie 
erschienene  Abhandlung  Biidinger's  iiber  denselben  Eugippius 
aufmerksam,  welche  auch  durch  das  Erscheinen  der  neuen  Sauppe- 
schen  Ausgabe  veranlasst  worden  ist. 
Berlin.  F.  Hirsch. 

xxxxvin. 

Beyer,  W.  G.,   Der  Limes  Saxoniae  Karls  des  Grossen.    Hit 

drei  autographischen  Zeicbnungen.     gr.  4.     (34  S.)    Parchim 

1877.  H.  Wehdemann.  1,50  M. 
Herr  B.  hatte  im  J.  1872  in  den  Jahrbb.  f.  Mecklen- 
burgische  Geschiclite  eine  Abhandlung  iiber  die  Hauptgottheiten 
der  Wenden  veroffentlicht,  in  welcher  er  die  Ansicht  aufstellte, 
das  westlich  vom  Ploner  See  gelegene  Swentifeld,  d.  h.  „Heiliges 
Land",  habe  zu  dem  Heiligthume  des  in  Plon  verehrten  Gottes 
Podaga x)  gehort.  Das  wiirde  aber  nur  dann  moglich  sein,  wenn 
die  alte  Grenze  zwischen  den  Slawen  und  den  nordelbischen 
Sachsen,  d.  h.  der  von  Karl  d.  Gr.  angelegte  Limes  Saxonicus 
nicht,  wie  man  bisher  meist  annahm,  am  Ploner  See  selbst, 
sondern  in  einiger  Entfernung  westlich  von  diesem  entlang  ging. 
Id  der  erwahnten  Abhandlung  hatte  Herr  B.  fiir  diesen  Punct 
den  Beweis  nicht  erbracht,  jetzt  holt  er  ihn  beim  Anlasse  von 
Lischs  fiinfzigjahrigem  Dienstjubilaum  nach.  Er  wird  gefuhrt 
durch  topographische  Interpretation  der  Stelle  Adams  von 
Bremen,,  II  56 b,  wo  der  Zug  des  Limes  angegeben  wird,  wie  er 
„von  Karl  d.  Gr.  und  den  iibrigen  Kaisern  vorgeschrieben  war" ; 
in  einer  Einleitung  jedoch  bespricht  der  Vf.  die  Griindung  des 
Limes  selbst  und  die  Quelle,  die  Adam  bei  seinen  genauen  An- 
gaben  vermuthlich  zu  Grunde  lag.  —  Als  Jahr  der  Errichtung 
des  Limes  sucht  Herr  B.  aus  den  allgemeinen  politischen  Ver- 
haltnissen  jener  Gegenden  heraus  das  J.  811  wahrscheinlich  zu 
machen:  als  die  Quelle  Adams  sei  wohl  eine  alter e  Urkunde  an- 
zusehen,  von  der  er  vielleicht  nur  die  Einleitung  fortliess,  sonst 
aber  den  vollen  Wortlaut  gab. 

Die  eigentliche  Abhandlung  zerfallt  in  drei  Theile:  im  ersten 
wird  der  Grenzzug  von  der  Elbe  an  bis  Wesenberg  verfolgt,  im 
zweiten  der  mittlere  Theil  bis  Blunken  an  der  oberen  Trave, 
im  dritten  der  Verlauf  des  Limes  bis  zur  Miindung  der  Swentine 
ins  Meer. 

Ueber  den  Gang  des  ersten  Theils  der  Grenze  ist  man  im 
Wesentlichen  einig  und  der  Vf.  begriindet  nur  genauer  die  Re- 
sultate  seiner  zahlreichen  Vorganger,  die  S.  6.  Anm.  vollstandig 
aufgefiihrt  sind:  herangezogen  ist  dabei  fiir  das  Stuck  zwischen 
der  Billequelle  und  Wesenberg  eine  noch  nicht  benutzte  Urkunde 


2)  Den  Helmold  mit  Saturn  identificirt 

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230  Thaer,  Verordnung  KarU  d.  Grossen  otc. 

Heinrichs  d.  Lowen  von  1167,  in  welcher  die  Grenze  zwischen 
den  Bisthiimern  Ratzeburg  und  laibeck  bestimmt  wird.  Von 
dem  Liudwinestein  glaubt  der  Vf.  den  ersten  Bestandtheil  noch 
in  dem  Namen  des  Dofes  Labenz  und  dem  des  LabenzerSees 
=  Lovenze  fortlebend  zu  erkennen.  (Liudwin  =  Leodwin,  Lo- 
win.)  Das  Auffallende  der  Grenze,  dass  sie  nicht  der  Stecknitz 
folgt  und  von  dieser  nach  der  ganz  nahen  Trave  uberspringt 
erklart  Herr  B.  daher,  dass  Karl  d.  Gr.  den  Slawen  nicht  ein 
Gebiet  wieder  nehmen  wollte,  welches  er  ihnen  zur  Belohnung 
fiir  ihre  Hiilfe  gegen  die  Sachsen  erst  kurz  vorher  (799)  ange- 
wiesen  hatte. 

Fiir  die  weitere  Bestimmung  der  Grenze  von  Wesenberg 
aus  ist  ein  Irrthum  Lappenbergs  verhangnissvoll  geworden,  der 
den  Limes  nicht  der  uralten  Grenze  der  Sachsen  und  Slawen, 
der  Trave,  folgen  liess,  sondern  ihn  mitten  durch  das  osthch 
von  ihr  gelegene  Wagrien  fuhrte.  Hier  will  der  Vf.  fiir  das 
„Bisnezeu  Adams  mit  leichter  Emendation  „Birnezeu  (d.  h. 
Barnitz)  lesen,  ebenso  fiir  Horbinstenon  Horbistevon,  das  den 
Namen  des  heutigen  Dorfes  Benstaven  enthalte. 

Bei  Feststellung  des  dritten  Theiles  der  Grenze  sucht  Herr 
B.  nachzuweisen,  dass  die  bisherige  Interpretation,  welche  den 
Limes  am  Westufer  des  Ploner  Sees  entlang  gehen  lasst,  dem 
„Orientalis  campus  Swentifeld"  Adams  nicht  geniigend  Rech- 
nung  getragen  habe,  sowie  sie  auch  die  Grenze  da  thalwarts 
binabsteigen  lasst,  wo  sie  nach  Adam  bergan  geht  (sursum  pro- 
currens).  Dies  beriicksichtigend  fiihrt  der  Vf.  die  Grenze  von 
der  Trave  ablenkend  durch  das  Thai  der  heutigen  Brandsaa 
hinauf  iiber  den  jetzigen  Hof  Kulen  in  die  Barmbeck,  diese 
hinab  in  die  Swentine  und  endlich  langs  derselben  ins  Meer.  Dabei 
ist  die  Agrimesau  Adams  mit  der  Brandsau,  das  „stagnum 
Colse"  mit  dem  Hofe  Kulen  identificirt,  bei  dem  ehemak  eiu 
See  gewesen  zu  sein  scheine.  —  Eine  Kartenskizze,  die  in  drei 
Sectionen  beigegeben  ist,  orientirt  iiber  die  Topographie  der  in 
Betracht  kommenden  Gegend;  auf  welchen  Quellen  die  Skizie 
beruhe,  was  man  doch  wissen  mochte,  um  bei  Priifung  des  Be- 
weises  iiberall  festen  Boden  unter  den  Fiissen  zu  haben,  giebt 
der  Vf.  leider  nicht  an. 
Berlin.  Edm.  Meyer. 

XXXXIX. 
Thaer,  A.,  Verordnung  Karls  d.  Grossen  fiber  die  Kaiserlichea 
Guter  Oder  Hofe.  (Capitulare  C.  M.  de  villis  vel  curtis  im- 
perialibus.)  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Landwirthschaft. 
8.  (20  S.)  Separatabdruck  aus  Ftthling's  „Landwirthschaftlicher 
Zeitung".    XXVIL     1878.     4.  (April-)  Heft. 

Karls  d.  Gr.  beruhmtes  Capitulare  de  villis  et  curtis  im- 
perialibus  wurde  bekanntlich  zum  ersten  Male  1647  von  Conring 
nach  der  einzigen  Handschrift  herausgegeben,  die  damals  in 
Helmstedt  war,  jetzt  in  Wolfenbiittel  ist.     Seitdem  wurde  es  in 

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Von  Inama-Sternegg,  Dio  Auabildung  der  Grundherrschafteii  etc.     231 

Deutschland  mannigfach  behandelt  und  selbstverstandlich  von 
Pertz  in  den  Monumenten  (Leges  I,  181)1)  eine  zuverlassige 
Ausgabe  veranstaltet.  So  sehr  man  aber  auch  diese  deutschen 
Forschungen  anerkennen  muss,  so  sind  sie  doch  iiberholt  durch 
den  Commentar,  den  der  verdienstvolle  und  kenntnissreiche 
Herausgeber  des  Polyptychon  Irminonis,  Guerard,  1853  geliefert 
hat. 2)  Nach  ihm  hat  man  in  Deutschland  sich  nicht  weiter  mit 
dem  Capitulare  beschaftigt;  es  ist  daher  ein  ganz  zeitgemasser 
Gedanke,  auf  Grund  s&mmtlicher  bisheriger  Forschungen  eine 
deutsche  Uebersetzung  mit  kurzem  Commentar  zu  geben.  Der 
Anlass  dazu  ist  urn  so  mehr  vorhanden,  als  das  Capitulare  von  all- 
gemeinem  Interesse  ist,  seine  Lecture  aber  selbst  fiir  den,  welcher 
des  mittelalterlichen  Lateins  einigermassen  machtig  ist,  erhebliche 
Schwierigkeiten  bietet,  ein  Leser  also,  dem  nur  das  klassische 
Latein  zu  Gebote  steht,  gar  nicht  damit  zurecht  kommt.  —  Die 
Uebersetzung  ist  nicht  ohne  Sachkenntniss  und  Selbstandigkeit 
des  Urtheils  gemacht;  dass  man  nicht  in  alien  Stellen  dem  Vf. 
bei  seiner  Entscheidung  eines  controversen  Punctes  beistimmt. 
ist  fur  ihn  bei  der  Schwierigkeit  des  Textes  kein  Vorwurf! 
Wesentliche  Fortschritte  hat  die  Erklarung  durch  ihn  nicht  ge- 
macht, was  man  vielleicht  hatte  erwarten  konnen,  da  Herr  Th. 
bekanntlich  Lehrer  der  Agricultur  ist.  —  Eine  Uebersicht  des 
ganzen  Wirthschaftssystems,  wie  es  in  dem  Capitulare  vorliegt, 
beschliesst  die  Abhandlung;  iibrigens  ist  der  Vf.  geneigt,  Anton 
Recht  zu  geben,  der  das  Capitulare  ursprttnglich  schon  mit  §  63 
will  abschliessen  lassen  und  die  weitern  §§  64—70  fiir  spatere 
Zusatze  halt.  Hinsichtlich  des  Jahres,  in  welchem  das  Capitulare 
erlassen  ist,  —  Conring,  Baluze,  Gu6rard  setzen  es  vor  800, 
Juni  4,  Pertz  im  J.  812  —  will  Herr  Th.  lieber  das  spatere 
Jahr  812  annehmen,  da  800  die  Verwaltung  der  Gttter,  besonders 
in  Deutschland,  wohl  noch  nicht  so  geregelt  gewesen  sein  werde, 
wie  es  die  Berichte  iiber  den  Zustand  der  Hofgiiter  voraussetzen 
liessen,  auf  Grund  deren  das  Capitulare  erlassen  sei. 
Berlin.  Edm.  Meyer. 

L. 
Von  Inama-Sternegg,  Karl  Theodor,  Die  Ausbildung  der  grossen 
Srundherrschaften  In  Deutschland  w&hrend  der  Karolingerzeit. 

(Staats-  und  socialwissenschaftliche  Forschungen,  herausgeg. 
v.  Gustav  Schmoller  I.  Band,  1.  Heft.)  gr.  8.  (VI,  118  S.) 
Leipzig  1878,  Duncker  und  Humblot.     3,20  M. 

Die  Abhandlung,  mit  welcher  Schmoller  seine  verdienstliche 
Sammlung  von  staats-  und  socialwissenschafthchen  Forschungen 
eroffhet,  stellt  sich  die  ebenso  anziehende  wie  schwierige  Aufgabe, 
die  Entstehung  und  Entwicklung  der  grossen  Grundherrschaften 


5)  Die  Litteratur  ist  in  der  Einleitung  bei  Pertz  ungenau  angegeben, 
so  dass  z.  8.  bei  Anton  die  Angabe  des  Bandes  fehlt. 

')  Explication  dn  capitulaire  de  villis.    Paris  1853.    Didot. 


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232     V°n  Inama-Sternegg,  Die  Ansbildung  der  Grundherrschaften  etc. 

in  Deutschland  im  karolingischen  Zeitalter,  welche  bisher  haupt- 
sachlich  mit  Rucksicht  auf  ihre  rechtliche  und  verfassungsge- 
schichtliche  Seite  Gegenstand  wissenschaftlicher  Erforschung 
gewesen  sind,  Tom  socialpolitischen  und  nationalokonomischen 
Standpunkt  aus  zu  betrachten.  Sie  zerfallt  in  vier  Abschnitte, 
von  denen  der  erste  die  Bedeutung  der  Markgenossenschaft  far 
die  sociale  Organisation  und  die  Volkswirthschaft  vor  der  Aus- 
bildung  der  grossen  Grundherrschaften  darstellt,  der  zweite 
statisti8che  Notizen  iiber  die  Vertheilung  des  Grundbesitzes  in 
Deutschland  besonders  im  8.  und  9.  Jahrhundert  zusammenstellt, 
der  dritte  die  Ursachen  der  Ausbreitung  grosser  Grundherr- 
schaften in  der  Karolingerzeit,  der  vierte  endlich  die  sociat 
politische  Wirksamkeit  derselben  untersucht.  So  anregend  und 
geistvoll  fast  durchweg  die  Ausfiihrungen  Inama-Sternegg's  sind, 
und  so  sehr  man  den  Fleiss  und  Scharfsinn  anerkennen  muss, 
mit  dem  ein  sprodes  und  unergiebiges  Material  fur  die  Zwecke 
nationalokonomisch  -  historischer  Forschung  ausgebeutet  ist,  so 
wird  man  doch  gegen  die  Resultate,  zu  denen  der  Verfasser  ge- 
langt,  und  namentlich  gegen  die  Allgemeinheit,  in  der  dieselben  vid- 
fach  gefasst  werden,  bisweilen  schwere  Bedenken  nicht  unterdriicken 
konnen.  Fiir  die  statistischen  Zusammenstellungen  des  zweiten 
Abschnittes  konnten  wesentlich  nur  die  Traditionsurkunden  der 
grossen  Stifter  verwandt  werden;  und  diese  reichen  doch  nicht 
aus,  um  die  vergleichenden  Urtheile,  die  der  Verfasser  zieht,  zu 
rechtfertigen ;  dass  z.  B.  yon  dem  Grundbesitz  der  alamannischen 
Herzoge  in  den  kirchlichen  Doctimenten  weniger  oft  die  Rede 
ist,  als  von  dem  der  bairischen,  berechtigt  schwerlich  zu  dem 
von  Inama  gezogenen  Schlusse,  dass  ihr  Grundbesitz  weniger 
bedeutend  gewesen  sei,  als  der  der  letzteren;  auch  vielfache  andere 
Momente  konnen  dazu  beigetragen  haben.  Voile  Zustimmung 
verdient  der  Grundgedanke  des  dritten  Abschnittes,  dass  die 
Veranderungen,  welche  sich  in  den  Verhaltnissen  des  Grund- 
besitzes im  8.  und  9.  Jahrhundert  vollzogen  haben,  nicht  allein 
auf  die  verfassungsrechtlichen  Institute  der  Immunitat,  des 
Beneficial wesens,  der  Vassallitat  zuriickzufuhren  sind,  sondern 
vielmehr  in  socialen  Erscheinungen  ihre  eigentliche  Ursache 
haben  und  namentlich  durch  die  sich  immer  klarer  heraus- 
stellende  okonomische  Ueberlegenheit  der  Grossgrundbesitzer 
iiber  den  isolirten  Betrieb  der  kleinen  Wirthschaften  hervorge- 
rufen  sind.  Im  vierten  Abschnitt  dagegen  scheint  Inama-Sternegg 
doch  etwas  zu  weit  zu  gehen,  wenn  er  den  wirthschaftlichen 
Fortschritt,  der  unverkennbar  im  9.  and  10.  Jahrhundert  ge- 
macht  worden  ist,  vorzugsweise  auf  Rechnung  des  Allgemeiner- 
werdens  des  Grossgrundbesitzes  schreibt;  es  bediirfte  doch  noch 
der  Untersuchung,  ob  die  Gegenden,  in  welchen  der  Grossgrund- 
besitz  nicht  zur  vollen  Herrschaft  gelangt  ist,  wie  z.  B.  West- 
falen,  Holstein,  der  Bheingau  denn  wirklich  wirthschafUich 
zuriickgeblieben  sind,  was  der  Fall  sein  miisste,  wenn  Inama's 
Ansicht  richtig  ware.     Und  wenn  der  Verfasser  weiter  annimmt, 


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Grerdes,  Die  Bischofswahlen  in  Deutschland  etc.  233 

dass  die  kleineren  Preien,  die  durch  Zwang  und  Noth  unter  Auf- 
gabe  ihrer  Freiheit  in  grundherrlichen  Verband  getreten  sind, 
wirthschaftlich  gefordert  seien,  so  mag  man  das  fur  die  Ver- 
haltnisse  der  geistlichen  Grundherrschaften,  iiber  die  wir  fast 
allein  genauer  unterrichtet  sind,  wohl  zugeben.  Dass  aber  auch 
die  weltlichen  Herren  durchweg  ihre  Grundholden  mit  so  ein- 
sichtiger  Schonung  behandelt  haben,  dass  sich  „schliesslich  doch 
jeder  im  herrschaftlichen  Verbande  geschiitzt  und  gefordert  sahw, 
(S.  88)  das  zu  bezweifeln  hat  man  doch  alle  Veranlassung ;  die 
Klagen  iiber  Bedriickung  der  „armen  Leute"  durch  ihre  Grund- 
herrn  treten  fur  ein  solches  Urtheil  doch  schon  zu  friih  und  zu 
allgemein  auf. 
Berlin.  H.  Bresslau. 

LI. 
Gerdes,  Dr.  Heinrich,  Die  Bischofswahlen  in  Deutschland  unter 
Otto  dent  Grossen   in  den  Jahren  953  bis  973.    8.    (VII, 

72  S.)  Gottingen  1878.  R.  Peppmuller.  1,60  M. 
Wahrend  des  ganzen  Mittelalters,  insbesondere  aber  in  der 
Zeit  der  grossen  deutschen  Kaiserdynastien  von  den  Karolingern 
bis  zu  den  Staufern  gehorten  die  Bischofe  zu  den  wichtigsten 
und  einflussreichsten  Fursten  des  deutschen  Reiches;  die  be- 
deutungsvollsten  Ereignisse  sind  von  ihnen  ausgegangen  und  oft- 
mals  haben  sie  den  Geschicken  unseres  Vaterlandes  eine  nicht 
selten  verhangnissvolle  Wendung  gegeben.  "Waitz,  Giesebrecht  u.  a. 
haben  in  ihren  grossen  Werken  auf  diese  in  das  Staatsleben 
oft  so  machtig  eingreifenden  Manner  gebiihrend  Biicksicht  ge- 
nommen,  wahrend  Spezialuntersuchungen  iiber  dieselben  nicht  in 
besonders  grosser  Zahl  vorliegen ;  einen  kleinen  berucksichtigungs- 
wiirdigen  Beitrag  hierzu  hat  der  Verf.  der  obengenannten  Schrift 
geliefert.  Er  geht  von  der  richtigen  Bemerkung  aus,  dass  das 
mannigfach  wechselnde  Verhaltniss  zwischen  Staat  und  Kirche 
im  Mittelalter  sich  am  leichtesten  an  dem  Einfluss  erkennen 
lasst,  den  die  Herrscher  bei  der  Besetzung  der  hoheren  geist- 
lichen Aemter,  namentlich  der  Bisthumer  iibten,  und  unternimmt 
es  dann,  das  Verfahren  darzustellen,  das  in  den  letzten  20  Jahren 
der  Bregierung  Otto  I.  bei  der  Besetzung  der  Bisthumer  be- 
obachtet  wurde.  „Diese  Zeit  ist  desshalb  fur  die  Geschichte  der 
Bischofswahlen  von  besonderer  Wichtigkeit,  weil  in  derselben 
die  enge  Verbindung  und  eigenartige  Wechselbeziehung  zwischen 
Staat  und  Kirche  begriindet  wurde,  welche  das  mittelalterliche 
Kaiserthum  kennzeichnet."  —  Der  Verf.  stellt  hierauf,  nachdem 
er  einen  BHpk  auf  die  Vorgange  bei  den  Bischofswahlen  von  den 
altesten  Zeiten  bis  ins  zehnte  Jahrhundert  geworfen,  zwei  Fragen 
auf:  1)  was  fur  Manner  wurden  wahrend  der  Zeit  von  953  bis 
973  zu  Bischofen  erwahlt?  und  2)  welches  Verfahren  wurde  bei 
ihrer  Wahl  und  Einsetzung  beobachtet? 

Zur  Beantwortung  der  ersten  Frage  geht  er  der  Reihe  nach 
alle  jene  Manner  durch,   es   sind  ihrer  42,  welche  von  953  bis 

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234  Gerdes,  Die  Bischofswahlen  in  Deutschland  etc. 

973  zu  Bischofen  in  Deutschland  ernannt  warden,  und  bringt 
iiber  jeden  derselben  aus  den  Quellen  geschopfte  biographische 
Daten;  die  zweite  Frage  gibt  dem  Verf.  Veranlassung ,  den 
ganzen  Wahlact,  von  der  Vorwahl  an  bis  zur  Einsetzung  des 
gewahlten  Bischofes  in  sein  Bisthum  quellenmassig  darzustellen. 
AU  Resultat  seiner  Untersuchungen  ergibt  sich  folgendee. 
„Otto  I.  war  im  Anfang  seiner  Regierung  der  hoheren  Geistlich- 
keit  wenig  geneigt,  ebenso  wenig  diese  ihm.  Einige  hervor- 
ragende  Bischofe  nahmen  sogar  in  den  beiden  grossen  hmem 
Kampfen  gegen  ihn  Partei.  Im  Verlaufe  seiner  Regierung  hat 
aber  Otto  mehrfach  seine  Politik  geandert.  Zuerst  wollte  er 
die  Herzoge  wieder  in  die  Stellung  von  abhangigen  Reich* 
beamten  herabdrttcken.  Nachdem  sich  dieses  als  unmoglich  er- 
wiesen,  machte  er  den  Versuch,  die  Herzogsgewalt  durch  Ver- 
leihung  an  seine  nachsten  Verwandten  aufs  engste  mit  dem 
Konigthum  zu  verbinden.  Auch  diese  Massregel  bereitete  ihm 
und  dem  Reiche  die  schwersten  Verwickelungen.  Gleichsam  als 
letztes  Auskunftsmittel  fasste  er  nun  den  Plan,  fortan  das  Reich 
mit  Hiilfe  der  hoheren  Geistlichkeit  zu  regieren.  Unter  den 
Bischofen  hatte  er  sich  mittlerweile  manchen  treuen  Anhanger 
erworben ;  durch  eigene  Lebenserfahrungen  und  durch  den  Em- 
fluss  seiner  nachsten  Angehorigen  hatte  sich  seine  Stellung  zur 
Kirche  aUmahlich  freundlicher  gestaltet;  die  ganze  Zeitrichtang 
wendete  sich  immer  mehr  religiosen  Bestrebungen  zu.  Aus 
diesen  Momenten  zusammen  erklart  sich  Otto's  neues  pohtisches 
System.  Dadurch  wurde  in  Deutschland  die  neue  folgenschwere 
Veranderung  angebahnt,  dass  sich  die  Bischofe  aus  Seelsorgem 
allmahlich  in  Reichsfursten  umwandelten.  Die  Bischofswahlen 
in  den  letzten  20  Jahren  der  Regierung  Otto's  geschahen  daher 
nach  ganz  anderen  Gesichtspuncten  als  friiher."  —  Er  wahlte 
die  Bischofe  meist  entweder  aus  seinem  eigenen  Hause  oder  aos 
anderen  fiirstlichen  Hausern,  welche  ihm  sehr  ergeben  und  zum 
Theil  erst  durch  ihn  zu  ihrer  Stellung  erhoben  worden  waren; 
Sachsen  und  Thuringer  wurden  vor  anderen  bevorzugt,  wefl 
dieBe  dem  sachsischen  Konigthum  am  treuesten  anhingen  und 
dasselbe  den  machtigen  particularen  Gewalten  gegeniiber  am 
besten  vertraten ;  sowie  Otto  fur  die  Germanisirung  der  slavischen 
Grenzgebiete  im  Osten  des  Reiches  wirkte,  so  setzte  sein  Bruder 
Erzbischof  Bruno  von  Koln  in  den  westlichen  Theilen  Lothringens 
sachsische  Bischofe  ein,  damit  sie  der  dortigen  deutschen  Be- 
volkerung  als  Stiitze  dienen  und  in  ihr  das  Bewusstsein  der 
Zugehorigkeit  zum  Reiche  erhalten  sollten.  Die  meisten  von 
Otto  eingesetzten  gehorten  der  strengeren  kirchlichen  Richtong 
an,  forderten  das  Monchswesen,  reformirten  das  kirchliche 
Leben  und  besassen  auch  ein  fur  die  damalige  Zeit  hohes  Ma# 
von  Bildung.  So  befolgte  Otto  bei  der  Erwahlung  der  Bischofe 
ein  sorgfaltig  erwogenes  System,  wodurch  er  die  Interessen  der 
Kirche  und  des  Reiches  in  gleicher  Weise  zu  beriicksichtigen 
versuchte. 


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Martin,  Boitrage  zur  Geschichte  Bruno's  I.  von  Koln.  235 

Was  die  Wahl  und  Einsetzung  der  Bischofe  betrifft,  so  hielt 
sich  Otto,  soweit  die  ausseren  Formen  in  Betracht  kamen,  an 
die  Bestimmimgen  des  kanonischen  Rechtes,  da  aber  diese  sehr 
onbe8timmt  und  vieldeutig  sind,  so  war  dem  koniglichen  Ein- 
flusse  der  weiteste  Spielraum  gestattet  und  nur  solche  Manner 
wurden  zu  Bischofen  erhoben,  welche  befahigt  und  geneigt  waren, 
in  der  eigenthiimlichen  DoppelsteUung  des  damaligen  bischof- 
lichen  Amtes  neben  der  Kirche  in  gleicher  Weise  dem  Konige 
und  dem  Reiche  zu  dienen.  —  „Otto  I.  hat  in  der  fruheren 
Zeit  seiner  Regierung  auf  der  einen  Seite  die  weltliche  Macht 
der  Bischofe  durcli  Verleihung  von  Giitern  und  Rechten  unaus- 
gesetzt  erhoht;  er  hat  aber  auf  der  andern  Seite  ihre  geistliche 
Amtsgewalt  wesentlich  eingeschrankt ,  indem  er  die  grossen 
Abteien  fast  sammtlich  ihrem  Einflusse  entzog;  er  hat  endlich, 
um  ein  Gleichgewicht  der  Krafte  herzustellen,  den  von  alter  Zeit 
her  bestehenden  Gegensatz  zwischen  Bisthiimern,  Herzogthiimern 
und  den  Abteien  eher  gescharft  als  gemildert.  Die  Bischofe 
dienten  unter  ihm  als  Gegengewicht  gegen  die  Herzogthiimer." 
Die  von  ihm  eingeschlagene  kirchliche  Politik  blieb  im  deutschen 
Reiche  wahrend  des  ganzen  Mittelalters  heiTschend,  behielt  aber 
ihre  Bedeutung  nur  so  lange,  als  den  Konigen  die  Besetzung  der 
bischof  lichen  Stiihle  zustand ;  Otto  hatte  stets  nur  ihm  ergebene 
Manner  auf  dieselben  berufen,  aber  er  hat,  „wie  die  meisten 
seiner  INachfolger,  versaumt,  die  Liicke,  welche  zwischen  den 
kanonis  chen  Vorschriften  und  dem  praktischen  Bedurfnisse  seiner 
Regierung  bestand,  durch  klare  gesetzliche  Bestimmungen  zu 
Gunsteti  des  Konigthums  auszufullen.  So  blieb  das  Recht  viel- 
deutig, und  die  Besetzung  der  Bisthiimer  gestaltete  sich  fiir  die 
Zukunft  zu  einer  Streitfrage,  in  welcher  die  grossen  Gegensatze 
zwischan  Staat  und  Kirche  im  Mittelalter  zuerst  zum  Bewusst- 
sein  und  Ausdruck  gelangten." 
Gra.z  in  Steiermark.  Dr.  Franz  Ilwof. 

LH. 
Martin,  Karl,  Beitrftge  zur  Geschichte  Bruno's  I.  von  Koln. 

Inaugural-Dissertation.     8.     (31  S.)    Jena  1878.    A.  Neuen- 

hahn.    0,60  M. 

Die  vorliegende  Dissertation  handelt  vornemlich  von  der 
kirchlich  -  theologischen  Stellung  und  von  der  Denkweise  des 
Bruders  Kaiser  Otto  I.,  des  beriihmten  Erzbischofes  Bruno  von 
Koln,  und  von  seiner  Auffassung  des  Verhaltnisses  von  Kirche 
und  Staat.  Der  Verfasser  spricht  zuerst  von  der  hervorragen- 
den  Bildung  und  Gelehrsandceit,  welche  Bruno  besass,  hoch 
besonders  mit  Riicksicht  auf  die  Zeit,  in  welcher  er  lebte,  von 
seinen  Bestrebungen ,  geistiges  Leben  und  wissenschaftliche 
Thatigkeit  allenthalben,  wohin  sein  Einfluss  reichte,  zu  fordern 
xmd  zu  verbreiten,  Wissenschaft  und  Prommigkeit  zu  vereinigen 
und  die  eine  auf  die  andere  zuriickwirken  zu  lassen.  Bruno 
gehorte   den  Priestern   der   strengeren  kirchlichen  Richtung  an, 

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236    Querner,  Zur  Frage  nach  der  Glaubwiirdigkeit  Lamberts  von  Herafeld. 

welche  kurz  nachher  unter  Otto  II.  und  III.  und  unter  HeinricliIL 
und  III.  in  der  Kirche  die  herrschende  wurde  und  eigentiich 
den  Grund  zu  dem  Siege  legte,  welchen  von  Heinrich  IV.  und 
Gregor  VII.  an  die  kirchliche  Gewalt  iiber  die  weltliche  errang. 
Er  war  daher  auch  ein  eifriger  Reformator  des  Klosterwesens. 
Eigenthiimlich  ist  Bruno's  Verhaltniss  zu  Rom ;  in  seinem  Leben 
spielt  das  Papstthum  kaum  eine  Rolle,  nur  einmal  trat  er  mit 
dem  Papste  in  Verbindung,  unmittelbar  nach  seiner  Wahl  zum 
Erzbischofe,  als  er  den  Abt  Hadamar  von  Pulda  nach  Bom 
sandte,  um  die  Anerkennung  seiner  "Wurde  zu  erlangen.  Sonst 
kummerte  sich  Bruno  kaum  um  den  Papst;  die  Griinde  dieser 
eigenthiimlichen  Erscheinung  sucht  Martin  einerseits  in  den  da- 
mals  arg  zerriitteten  Verhaltnissen  in  Rom,  anderseits  darin, 
dass  das  kirchliche  Ideal  Bruno's  nicht  die  unter  dem  romischen 
Primat  eng  zusammengefasste  Kirche  war,  sondern  dass  der 
kirchliche  Schwerpunct  fiir  ihn  nicht  in  Rom,  sondern  in  Deutsch- 
land   lag.     „Er   sah   den  Papst    als  Oberhaupt  der  Kirche  an 

und  erwies  ihm bei  Gelegenheit  die  ihm  zukommende  Ehre, 

allein  es  ist  doch  nur  eine  Art  Ehren-Prasidium,  was  er  ihm 
zuerkennt,  im  Wesentlichen  fiihlte  er,  wie  auch  die  iibrigen 
Bischofe  Deutschlands,  sich  ihm  gleichstehend."  — 

In  seinem  Verhaltnisse  zum  Staate  waron  fiir  Bruno  seine 
innige  Liebe  zum  Vaterlande  und  seine  unbedingte  treue  Ergeben- 
heit  gegen  den  Konig  stets  massgebend.  Dem  Plane  Otto's, 
Reich  und  Kirche  enge  zu  verbinden,  stimmte  Bruno  vollig  zu 
und  er  wirkte  redlich  mit,  denselben  der  Vollendung  entgegen- 
zuflihren.  Martin  tritt  daher  auch  der  Ansicht  Giesebrechts 
entgegen,  dass  Bruno,  sowie  Wilhelm  von  Mainz,  aus  dem  Bunde 
von  Kirche  und  Staat  eine  Verweltlichung  der  ersteren  und  eine 
bedenkliche  Abhangigkeit  derselben  vom  Staate  gefiirchtet  hatte. 
Glanzende  Verdienste  um  das  Vaterland  erwarb  sich  Bruno  zur 
Zeit  des  Aufstandes  Ludolfs  und  Konrads  gegen  Otto,  in 
welchem  er  seine  unerschiitterliche  Treue  gegen  Konig  und  Reich 
bewies  und  durch  seine  Thatkraft  und  staatsmannische  Weisheit 
wesentlich  zur  Rettung  Deutschlands  beitrug. 

Graz  in  Steiermark.  Dr.  Franz  Ilwof. 


Lin. 

Querner,  Carl,  Zur  Frage  nach  der  Glaubwiirdigkeit  Lamberts 
von  Hersfeld.  Inaugural-Dissertation.  8.  (45  S.)  Bern  1878. 
R.  Jennies  Antiquariat.     1,50  M. 

Das  hohe  Lob,  welches  Stenzel  (Gesch.  der  frank.  Kaiser. 
II.  S.  102)  Lambert  spendet,  indem  er  an  ihm  das  wahrhaft  kind- 
lich  fromme  Gemtit,  seinen  aufgeklarten  Geist  und  vor  aJlem  die 
seltene,  in  ihrer  Art  fast  einzige  Unparteilichkeit  ruhmt,  findet 
jetzt  keinen  Widerhall  mehr,  seitdem  Ranke  erklart  hat:  ,?sein 
Buch  ist  mit  dazu  angelegt,  um  die  Wahl  eines  Gegenkonigs  ta 
rechtfertigen'-,  und  seitdem  Floto  (Kaiser  Heinrich  IV.  wri 
seine  Zeit.    L    S.  10)   sich   ausserte :    ?,Lambert  ist  um  so  vor- 

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Wenck,  Die  Entstehung  der  Keinhardsbrunner  Geschichtsbticher.     237 

sichtiger  anzuhoren,  je  glatter  der  kopiose  Strom  seiner  Rede 
fliesst.  Er  berichtet  in  seiner  zuversichtlichen  pragmatischen 
Weise  ebenso  Ereignisse,  die  er  selbst  in  der  N&he  gesehen,  — 
wie  auch  nie  geschehene  Dinge,  die  er  sich  erdacht  oder  etwa 
von  einem  in  Hersfeld  vorkommenden  Pilger,  im  benachbarteu 
Fulda  oder  in  Siegburg  von  den  Monchen  gehCrt  haben  mag." 
Seitdem  ist  die  Glaubwiirdigkeit  Lamberts  mehrfach  Gegenstand 
der  Untersuchung  gewesen.  Delbriick  (Ueber  die  Glaubwiirdig- 
keit  Lamberts  v.  Hersfeld)  fand,  dass  Lambert  nicht  iiber, 
sondern  zwischen  den  Parteien  stehe  und  dass  ihm  deshalb  eine 
objektive  Geschichtschreibung  unmoglich  gewesen  sei.  Seine 
Untersiichung  gipfelt  in  dem  kritischen  Grundsatze  (S.  75): 
Lamberts  Glaubwiirdigkeit  ist  in  jeder  Nachricht,  die  in  irgend 
einer  Beziehung  zu  seiner  Tendenz  steht,  von  vorne  herein  in 
Zweifel  zu  ziehen  und  bei  jeder  positiven  Beschuldigung  Konig 
Heinrichs  nicht  vorauszusetzen,  sondern  zu  erweisen.  Denselben 
Standpunkt  nimmt  Lindner  ein  (Anno  II.  der  Heilige.  S.  5). 
Gemassigter  urtheilen  Giesebrecht  und  Wattenbach.  Mehr  auf 
die  Seite  Lamberts  stellt  sich  Lefarth  (Lampert  von  Hersfeld, 
«in  Beitrag  zu  seiner  Kritik) ;  er  halt  ihu  fur  unparteiisch.  Der 
Verf.  vorliegender  Dissertation  hat  sich  zur  Aufgabe  gestellt, 
„zu  untersuchen,  in  wie  weit  die  absprechenden  Urteile  der  ver- 
schiedenen  Kritiker  gerechtfertigt  sind",  und  hofft,  die  Angriffe 
auf  Lamberts  Glaubwiirdigkeit  so  weit  zupickzuweisen,  dass  man 
im  wesentlichen  dem  Urteile  Wattenbachs  und  Giesebrechts 
beistimmen  musse.  Die  Schrift  ist  keine  zusammenhangende 
Darstellung,  sondern  schliesst  sich  wesentlich  in  ihrem  Gange 
der  Delbriickschen  Untersuchung  an ;  sie  greiffc  eine  B^ihe  von 
Beschuldigungen  der  Kritiker  heraus  und  sucht  diese  einzeln 
zu  widerlegen.  Der  Verf.  erkennt  das  schon  in  hohem  Grade 
an  Lambert  an,  „dass  er  auch  seine  Gegner  reden  lasst". 
Daraus,  dass  Lambert  auch  einiges  Giinstige  von  Heinrich  IV. 
erzahlt  und  einiges  Ungiinstige  von  den  Gegnern  des  Konigs, 
schliesst  er,  dass  Lamberts  Buch  keine  Parteischrift  sei. 
Lichterfelde.  Volkmar. 

LIV. 

Wenck,  Carl,  Die  Entstehung  der  Reinhardsbrunner  Geschichts- 

bOcher.     Im  Anhang:   Eine  Reinhardsbrunner  Chronik   des 

XIII.   Jahrh.   und   Schedels    Exzerpte   nach   der  Mtinchener 

Handschrift.     8.     (VI,    115  S.)    Halle  1878.     M.  Niemeyer. 

3,60  M. 

Als  Zeugnisse  Reinhardsbrunner  Historiographie  sind,  abge- 

sehen   von   den  spateren  Geschichten  Thliringischer  Landgrafen, 

bekannt  die  von  Wegele   1854   im  I.  Bde.   der   Thuringischen 

Geschichtsquellen  herausgegebenen  Annales  Reinhardsbrunnenses, 

einige  Handschriften,  nemlich  die  Miinchener,  die  Wallersteinsche 

und   die  Wiener;   letztere,   bekannt  unter  dem  Titel  Chronicon 

Thuringicum   Viennense,    ward   zum   Theil    1870   veroffentlicht 

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238     Wenck,  Die  Entatehung  der  Roinhardsbrunner  Gesckichtstmcher. 

unter  dem  Namen  Annales  Reinhardsbrunnenses  in  den  Ge- 
schichtsquellen  der  Provinz  Sachsen,  I,  201—214.  Dies  ChroiL 
Thur.  V.  stellte  man  n  e  b  e  n  die  Wegele'schen  Annalen  (A.  R), 
und  nach  0.  Posse  (Die  Reinhardsbrunner  Geschichtsbiicher, 
Leip#.  1872)  hieng  keine  der  erhaltenen  Formen  der  Reinhards- 
brunner  Geschichtsbiicher  von  A.  R.  ab,  sondern  giengen  alle 
in  letzter  Instanz  auf  eine  Urkompilation  zuriick.  Als  eine  be- 
sondere  Quelle  sah  man  noch  an  das  „Leben  des  Landgrafen 
Ludwig  des  Heiligen",  dessen  deutsche  Uebersetzung  aus  dem 
Anfange  des  14.  Jahrh.  von  H.  Riickert  veroffentlicht  wurde. 
Posse  unterschied  zwei  Handschriftenklassen :  1)  a  mit  fa6t  voll- 
standiger  vita  Ludovici;  zu  ihr  gehorten  A.  R.  und  A.  breres 
Landgraviorum.  2)  a  mit  gekurzter  vita  Lud. ;  zu  ihr  gehorten 
das  Chron.  Thur.  V.  u.  der  Cod  Mon.  Von  der  Wallerstem- 
schen  Handschr.  hatte  Posse  noch  nicht  handeln  konnen.  Kirch- 
heff  nahm  dagegen  an,  dass  der  Kompilator  der  A.  R.  zu  Yor- 
lagen  hatte  1)  Historien  seines  Klosters,  welche  die  vita  ge- 
kiirzt  enthielten;  2)  die  vita  selbst.  Beides,  Posse's  CFnter- 
scheidung  und  Kirchhoffs  Ansicht,  verwirft  Wenck.  Der  Gang 
der  Unter8uchung  ist  folgender :  I.  Riickert  hielt  die  deutsche 
Lebensbeschreibung  Ludwigs  fur  eine  Uebersetzung  der  latein. 
vita.  Eine  spatere  Redaktion  dieser  1228  von  Bertold  vert 
vita  sollte  Dietrich  von  Apolda  im  Leben  der  hi.  Elisabeth  (1289) 
benutzt,  eine  zweite  dem  Kompilator  der  ReinhardsbruDner 
Chronik  und  dem  Uebersetzer  vorgelegen  haben.  Wo  Dietrichs 
Erzahlung  ausfiihrlicher  sei,  habe  er  andere  Quellen  benutzt 
Nach  Wenck  jedoch  hat  erne  latein.  vita  Ludovici  gar  nicht 
existirt  und  nicht  sie,  sondern  Dietrichs  vita  der  hi.  Elisabeth 
ist  die  Quelle  fur  die  Reinhardsbrunner  Kompilation  gewesen; 
aus  Dietrich  ist  auch  de  dictis  quattuor  ancillarum  in  A.  B. 
iibergegangen.  Bald  nachdem  1292  ein  verheerendes  Feuer  die 
sammtlichen  Klostergebaude  von  Reinhardsbrunn  zerstort  hatte, 
begniigte  sich  (1293)  ein  Reinhardsbrunner  Monch  in  die  Lebens- 
beschreibung der  hi.  Elisabeth  von  Dietrich  Geschichten  vom 
hi.  Landgrafen  Ludwig,  welche  man  sich  im  Kloster  erzahlte, 
und  einen  Bericht  iiber  die  Wunder  an  seinem  Grabe  einzu- 
flechten.  Eine  vita  Ludovici  entstand  nicht  Die  Reinhards- 
brunner Zusatze  zu  der  Lebensbeschreibung  Elisabeths  and 
ziemlich  vollstandig  bekannt;  es  sind  die  Varianten  und  Er- 
ganzungen  zu  der  Ausgabe  des  Canisius  aus  zwei  Altzellischen 
Handschriften  bei  Mencke  Scriptores  II.  p.  1987—2006.  Ans 
dieser  Reinhardsbrunner  Bearbeitung  stammt  auch  eine  Wiener, 
Erlanger  und  Jenaer  Handschrift.  In  dieser  iiberarbeiieten 
Gestalt  ist  Dietrichs  vita  in  die  grosse  Reinhardsbrunner  Kom- 
pilation (A.  R.^  aufgenommen.  IE.  Von  einem  spateren  Kom- 
pilator sind  Auizeichnungen  eines  Augenzeugen  iiber  die  politischen 
Vorgange  zur  Zeit  Ludwigs,  insbesondere  seine  Kriegsziige,  m& 
den  aus  der  vita  Dietrichs  entlehnten  Stiicken  zu  einem  Ganzen 
verschmolzen.      Diese    Aufzeichnungen    hatten    die    Form  von 


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Wenck,  Die  Entstehung  der  Reinhardsbrunner  Geschichtsbiicher.     239 

Annalen  und  ihr  Verfasser  ist  der  Kaplan  Bertold.     Diese  Annalen 
Bertolds  sind  nur  so  weit  erhalten,  als  sie  sich  mit  dem  Eigen- 
thom  Dietrichs  vereinigen  liessen,  und  mogen  zu  ihrem  Nachtheil 
vielfach  verandert  sein.     Der  nunmehr  noch  iibrig  bleibende  Rest 
sind  originale  Reinhardsbrunner  Aufzeichnungen,   aber  nicht  von 
der  Hand  Bertolds.     Die   Annalen,   welche   Bertold    1227    oder 
1228  und  wahrscheinlich   in  Reinhardsbrunn   anfgezeichnet  hat, 
erstrecken  sich   iiber   die   Jahre    1218 — 1227.     Die   Benennung 
vita  Ludovici  ist  zu  venneiden.    III.    Der  Rest  originaJer  Rein- 
hardsbrunner  Annalen    nach    1227,    1231 — 1307   ist   erst    circa 
1315  von  dem  letzten  selbstandigen  Reinhardsbrunner  Geschichts- 
schreiber  niedergeschrieben  worden.     Hochst  wahrscheinlich  ist, 
dass  alle  diese  drei  Arbeiten  von  einem  und  demselben  Reinhards- 
brunner  Monch   ausgefiihrt   sind.     So   schuf  er   ein  Werk,   das 
einer  Chronik   von  Reinhardsbrunn   ahnlich  sah.  —  Wann  aber 
ist  in   den    erhaltenen  Rezensionen  die  grosse  Einschaltung  aus 
fremden  Quellen,   besonders   dem  Chron.  Sampetrinum  und   der 
Chron.  Minor   erfolgt?    In   alien   unseren  latein.  Texten  ist  die 
Vermischung  bereits  vor  sich  gegangen.     Wie  aber  ist  es  in  der 
deutschen    Lebensbeschreibung  Ludwigs?     IV.    Um    die   nahere 
Uebereinstimmung   der  Peterschronik  und  der  Reinhardsbrunner 
Kompilation   zu   erklaren,    nahm   Wegele   als   Quelle   der   A.  R. 
neben  der  Chron.  Minor  das  Chron.  Sampetr.  an.     Nach  Wenck 
haben  die  Monche  von  St.  Peter  zunachst  den  Abschnitt  1208  bis 
1215   ausgeschrieben.    Unabhangig  von   einander   konnen  A.  R. 
und  Sampetr.    eine  Quelle  nicht  benutzt  haben.    Auch  die  An- 
nahme    eines   verlorenen    grosseren    Chron.  Samp,    kann   nichts 
helfen.     Diese    Reinhardsbrunner.  Annalen   sind   in    sehr   spater 
Zeit  in    die  Peterschronik   aufgenommen  worden;  denn  die  drei 
Erfurter  Chroniken,  welche  im  15.  und  im  Anfang  des  16.  Jahrh. 
aus  der  Peterschronik  gespeist  sind,  zeigen  noch  keine  Spur  von 
dieser  Einschaltung  und  beweisen  zugleich  fur  die  Jahre  1208  bis 
1215    eine   Liicke   in   der   Erfurter   Geschichtsschreibung.     Dem 
Uebersetzer   der  deutschen  Lebensbeschreibung  Ludwigs  lag  die 
Chronik  nooh  ohne  Einschaltung  vor.    Die  Uebersetzung  ist  circa 
1330  entstanden  und  der  Schulmeister  Friedrich  Kodiz  ist  wahr- 
scheinlich identisch  mit  dem  Abt  Friedrich  von  1335.     Yor  der 
Uebersetzung   war   aber   bereits   eine  schlimme  Veranderung  an 
den  Geschichtsbuchern  geschehen;   denn  es  sind  eine  Reihe  von 
Stiicken   in   die  Uebersetzung   aufgenommen,   die  nicht  von  dem 
einfachen  Annalisten   bis    1307   verfasst  sein   konnen.     Ein  Stil- 
kiinstler   hatte    seine   Thatigkeit   geiibt.     Dies   erhellt  aus  einer 
kleinen    Chronik   Reinhardsbrunner  Ursprungs,   aus   der   Schrift 
^de   ortu   principum    Thuringiae".     (Gudenus  Cod.  dipl.  Mogun- 
tinus  II,  598—603.)    V.     Diese  Schrift  ist  der  Niederschlag  der 
Tradition,   wie  sie  sich  bis  zu  Anfang  des  13.  Jahrh.  festgestellt 
hatte.     Ihre   erste  Abfassung  fallt  zwischen  1195—1212;   einen 
Zusatz    hat    sie   erfahren   zwischen   1234  und    1241.     VI.     Den 
Annalen  zur  Geschichte  Heinrichs  VI.  hat  Posse  Reinhardsbrunner 


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240     Wenck,  Die  Entstehung  der  Beinhardsbruimer  Geschichtsbucher. 

Ursprung  abgesprochen  und  die  Uebereinstimmung  dieser  Partie 
(1170 — 1208)  mit  dem  Chron.  Sampetr.  aus  einer  verlorenen 
Quelle  erklart.  Wenck  spricht  diese  Quelle,  die  nicht  verloren, 
sondern  nur  stilistisch  iiberarbeitet  ist.  Reinhardsbrunn  zn  und 
nimmt  gleichzeitige  Abfassung  an;  nur  trat  1198  ein  Wechsel 
des  Verfassers  ein.  VII.  Die  Aufzeichnungen  dieser  beiden 
Annalisten  sind  aber  nur  in  stark  iiberarbeiteter  Gestalt  erhalten. 
—  Urn  circa  1330  sind  dann  unter  Hinzunahme  fremder  QueUen, 
besonders  Ekkehards  Weltchronik,  der  Peterschronik,  der  Chron 
Minor  die  Reinhardsbrunner  Geschichtsbiicher  bis  1307  zusammen- 
geschrieben  worden.  Dann  hat  endlich  ein  letzter  Kompilator 
diese  Geschichtsbiicher  durch  umfangreiche  Auszuge  aus  der 
Peterschronik  bis  1337  fortgefiihrt  und  Klosternachrichten  hin- 
zugefugt.  Urn  die  Mitte  des  14.  Jahrh.  ward  das  Werk  fertig. 
Nun  kommen  die  Excerptoren;  ihre  Arbeiten  sind  uns  erhalten. 
VIII.  Nur  die  Hannoversche  Handschrift  kann  ein  annahernd 
vollstandiges  und  richtiges  Bild  von  der  Gestalt  der  Reinhards- 
brunner Geschichtsbiicher  geben.  Die  Miinchener  Handschrift 
ist  weder  die  wichtigste  noch  die  treuste.  Zur  Rekonstruktion 
der  R.  Geschichtsbiicher  bieten  die  Schedelschen  Excerpte  mehr 
oder  minder  bedeutende  Beitrage.  Die  Wiener,  Breslauer  und 
die  Wallersteinsche  Handschrift  geben  einen  gekiirzten  Text; 
sie  und  Schedels  Excerpte  schopften  aus  einer  gemeinsamen 
Vorlage,  welche  die  A.  R.  in  stark  gekiirzter  Gestalt  wieder 
geben.  Diese  verkiirzte  Reinhardsbrunner  Chronik  stammt  nicht 
aus  Erfurt,  sondern  aus  dem  Eisenacher  Dominikanerkloster.  — 
Die  letzte  Arbeit  der  Reinhardsbrunner  Monche  sind  die  Annates 
breves  de  landgraviis  Thuringie,  die  bei  Lebzeiten  Friedricfo 
des  Strengen  entstanden.  IX.  Fiir  die  Rekonstruktion  der 
Reinhardsbrunner  Geschichtsbiicher  werden  die  ferneren  Arbeiten 
der  Eisenacher  Dominikaner  herangezogen ;  das  sind  die  beiden 
Landgrafengeschichten :  die  Histor.  Pistoriana  bei  Pistor. — Strove 
I,  1296 — 1365  und  die  Histor.  Eccardiana  bei  Eccard,  Hist 
Geneal.  p.  351 — 468.  Die  Kompilation  der  Eisenacher  Domini- 
kaner ist  nach  Meissen  gekommen  und  dort  weiter  verarbeitet 
worden.  Das  Werk  des  Sifridus  presbyter  ist  jedoch  der  Meiss- 
nischen  Geschichtschreibung  abzusprechen ;  es  ist  thuring.  Ur- 
sprungs  bis  1304;  nur  die  Fortsetzung  bis  1307  ist  in  Meissen 
geschrieben.  —  Das  „  Chron.  terrae  Misnensis  sive  Thomannm 
Lipsicum"  aus  der  zweiten  Halfte  des  15.  Jahrh.  ist  bervorge- 
gangen  aus  einer  Verschmelzung  thuring.  und  meissnischer  Ge- 
schichtschreibung. 

Die  Beilagen  dieser  Untersuchungen  geben  1)  eine  Analyse 
des  deutschen  Lebens  Ludwigs  des  Heiligen;  sprechen  2)  uber 
eine  verlorene  Handschrift  der  Magdeburg  -  Reinhardsbrunner 
Chronik  und  des  Conradus  Halberstadensis ;  geben  3)  einen 
Abdruck  von  de  ortu  principum  Thuringie  und  4)  den  im  Titel 
erwahnten  Anhang. 

Lichterfelde.  Volkmar. 


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Bausch,  Die  staatsrechtliche  Stellung  Mittel-Italicn3  unter  Heinrich  VI.  241 

LV. 
Rausch,  Karl,  Die  staatsrechtliche  Stellung  Mitteli  tali  ens  unter 
Heinrich  VI.    gr.  8°.     (87  S.)    Wien  1878.    A.  Holder.    2  M. 

Die  vorliegende  Abhandlung,  ein  Separatabdruck  aus  dem 
Jahresberichte  1877/78  der  offentlichen  Oberrealschule  in  der 
Josefstadt  zu  Wien,  kann  nicht  den  Anspruch  machen,  erhebliche 
neue  Resultate  zu  bringen.  Die  staatsrechtlichen  Verhaltnisse 
Mittelitaliens  sind  im  Hinblick  auf  die  nach  dom  Tode  Hein- 
richs  VI.  versuchten  Recuperationen  von  Ficker  in  ganz  neuer 
nnd  grundlegender  Weise  dargestellt  worden,  auch  Toeche  und 
Winkelmann  haben,  der  erstere  die  Ereignisse  unter  Heinrich  VI. 
selbst,  der  letztere,  in  engem  Anschlusse  an  Ficker,  die  Um- 
wandlungen  nach  dem  Tode  des  Kaisers  auf  das  genaueste  er- 
ortert,  zuletzt  haben  dann  noch  Prinz  und  Mayr  in  ^  ihren 
Monographien  iiber  Markward  von  Anweiler,  einen  der  haupt- 
sachlichsten  Trager  der  staufischen  Politik  in  Italien,  dieselben 
Verhaltnisse  behandelt.  Die  Schrift  von  Prinz  scheint  dem  Verf. 
unbekannt  geblieben  zu  sein,  von  den  anderen  hat  er  den  aus- 
giebigsten  Gebrauch  gemacht,  und  wenn  er  auch  selbstandig  das 
reiche,  namentlich  urkundliche  Quellenmaterial  durchforscht  hat, 
so  hat  er  doch  in  der  Hauptsache  die  von  jenen  gewonnenen 
Resultate  angenommen  und  wiederholt.  Sein  Verdienst  ist  das, 
was  in  jenen  umfassenderen  Werken  an  verschiedenen  Stellen 
zerstreut  war,  in  iibersichtlicher  Weise  zusammengestellt  und 
auch  durch  manche  kleine  Erganzungen  vervollstandigt  zu  haben. 
Doch  fehlt  es  in  der  Arbeit  nicht  an  einzelnen  Versehen  (S.  47 
wird  angegeben,  Heinrich  VI.  sei22.  September  1197  in  Palermo 
gestorben,  wahrend  dieses  in  Wirklichkeit  am  28.  September  zu 
Messina  geschehen  ist),  ferner  scheint  uns  der  Verf.  in  manchen 
seiner  Behauptungen  zu  kiihn  zu  sein.  Wenn  Heinrich  1191  der 
Stadt  Benevent  einige  Abgaben  fur  ihre  Giiter  im  Konigreich 
Sicilien  erlasst,  so  ist  daraus  schwerlich  gleich  mit  dem  Verf. 
(S.  33)  zu  schliessen,  dass  die  Stadt  als  zum  Reiche  gehorig 
betrachtet  worden  sei,  iiberhaupt  sucht  derselbe  in  alien  Ur- 
kunden  politische  Motive,  welche  wohl  manchen  einfachen  Schutz-, 
Bestatigungs-  oder  SchenkungSurkunden  fiir  geistliche  Stifter 
fern  liegen. 

Die  Abhandlung  zeriallt  in  5  Capitel.  Das  erste  behandelt 
die  Verfiigungen  Heinrichs  VI.  in  Mittelitalien  wahrend  seiner 
ersten  Anwesenheit  daselbst  als  Statthalter  seines  Vaters  1186 
und  1187.  Der  Verf.  zeigt,  dass  sich  schon  hier  die  Grund- 
ziige  der  spateren  Politik  Heinrichs  vorfinden,  er  betrachtet 
ganz  Mittelitalien  als  Reichsland  und  sucht  es  als  solches  durch 
dauernde  Institutionen,  durch  Einsetzung  von  Reichsbeamten  und 
Unterstiitzung  der  reichsunmittelbaren  und  reichsfreundlichen 
Gewalten  zu  sichern.  In  der  Romagna  wird  durch  ihn  1187 
Graf  Heinrich  als  Reichsbeamter  eingesetzt,  neben  dem  noch  als 
Herzog  von  Ravenna  Conrad  von  Liitzelhard  erscheint,  in  der 
Mark  Ancona*  bleibt  der  schon  von  Friedrich  I.  1184  eingesetzte 

Mitthcilungen  a.  d.  histor.  Litterntnr.    VU.  16 


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242  Rausch,  Die  staaisrechtliche  Stellung  Mittel-Italiens  uuter  Heinrieh  VL 

Conrad  von  Lutzelhard  an  dor  Spitze,  ebenso  in  Spoleto  Conrad 
von  Urslirigen ;  in  Tuscien  zeigt  sich  vor  Allem  die  neue  organi- 
satorische  Tbatigkeit  des  Konigs,  hier  begiinstigt  er  entgcgen 
der  drohenden  Ausbxeitung  der  Stadteherrschaft  die  dieser  fcind- 
lichen  oder  concurrirenden  Elemente,  die  Adligen,  Bischofe, 
Kloster  und  andere  geistliche  Stifter,  dagegen  weist  er,  wie 
schon  Friedrich  begonnen  hatte,  die  Uebergriffe  der  grosseren 
Stadte  zuriicjk,  wie  vorher  Florenz,  Lucca,  Arezzo,  so  werden 
jetzt  auoh  dem  bezwiiugenen  Siena  die  Grafschaftsrechte  entzogen, 
auch  hier  ferner  wird  1187  fur  das  ganze  Gebiet  Anselm  von 
Kunigsberg  als  Reichsbeamter  eingesotzt.  Auch  das  papstliche 
Patrimonium  kommt  durch  den  Feldzug  von  1186  ganz  in  Heinrichs 
Gewalt,  Barone  und  Stadte  miissen  ihm  huldigen. 

Wahrend  seines  zweiten  Aufenthaltes  in  Mittelitalien  1191 
und  1192,  vor  und  nach  seiner  Kaiserkronung  und  seinem  ersten 
ungliicklichen  Feldzuge  gegen  das  sicilische  Reich,  trifft  Heinrieh 
manche  Veranderungen,  von  denen  Cap.  2  handelt.  In  der  Ro- 
magna  wird  an  Stelle  Heinrichs  Conrad  von  Lutzelhard  zran 
Markgrafen  ernannt,  neben  dem  dann.  aber  wieder  noch  em 
Lantricus  als  comes  Romaniae  erscheint,  auch  in  der  Mark 
Ancona  wird  ein  neuer  Markgraf  Gotebald  eingesetzt,  ebenso  in 
Tuscien,  dessen  Verwaltung  jetzt  auch  an  Conrad  von  Lutzelhard 
ubertragen  wird;  hier  wird  ferner  Pisa  zum  Lohn  fur  seine 
Treue  mit  neuen  grossen  Privilegien  ausgestattet.  Das  papstliche 
Patrimonium  wird  jetzt  auf  Grund  der  der  Kaiserkronung  Hein- 
richs vorangegangenen  Abmachungen  in  der  Ausdehnung  von 
Orvieto  bis  Terracina  dem  Papste  zuriickgegeben. 

Nach  der  Eroberung  des  sicilischen  Reiches,  in  den  leizten 
Jahren  von  Heinrichs  Regierung  (Cap.  3),  wird  diese  Organisation 
noch  weiter  durchgefuhrt,  Tuscien  wird  1195  an  den  Brader 
des  Kaisers,  Philipp,  ubertragen,  Ravenna,  Romagna  und  Ancona 
werden  in  der  Hand  Markwards  von  Anweiler  vereinigt,  der  1197 
auch  die  sicilische  Grafschaft  Molise  erhalt  und  so  zusammen 
mit  Conr.  von  Urslingen,  welcher  in  Spoleto  bleibt,  das  papst- 
liche Patrimonium  von  alien  Seiten  einschliesst.  Zugleich  fahrt 
d«r  Kaiser  fort,  durch  Begunstigung  und  Hebung  von  Adel  and 
Geistlichkeit  namentlich  in  Tuscien  der  Ausbreitung  der  Macht 
der  Stadte  entgegenzuarbeiten.  Wenn  freilich  der  Verf.  ram 
Schluss  hier  behauptet,  dass  so  die  Organisation  Mittelitalieos 
als  Reichsland  vollstandig  durchgefuhrt  und  auf  sichere  Grund- 
lage  gestellt  sei,  so  ist  dieses  eine  arge  Uebertreibung;  der  jahe 
Umsturz  dieser  ganzen  Ordnung  nach  dem  Tode  des  Kaisers 
zeigt,  dass  dieselbe  keineswegs  fest  begrundet  war. 

Das  4.  Capitel  schildert  den  Character  der  Reichsbeamtungen 
in  Mittelitalien.  Die  Hauptsache  ist,  dass  dieselben  nicht  lehen- 
weise  ubertragen  werden,  sondern  dass  ihre  Trager  wirkhche 
Beamte  mit  eingeschrankten  Befugnissen  sind,  sammtlich  Deutsche, 
mit  Ausnahme  Philipps  von  Tuscien  kaiserliche  MinisterialeD, 
ferner,  dass,  abgesehen  von  einzelnen  Fallen,  wo  gewissen  Adligen, 

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Zenmer,  Die  deutschen  Stfidtesteuem,  insbes.  die  stadt.  Reichssteuern  etc.  243 

Bischofen  oder  Stadten  besondere  Vorrechte  verliehen  werden, 
die  einzelnen  Gebiete  und  Stadte  von  Grafen  oder  Nuntien,  welche 
jenen  hoheren  Beamten  untergeordnet  sind,  regiert  werden. 

Das  5.  Capitel  endlich  behandelt  den  Ausgang  der  Reichs- 
beamtungen  in  Mittelitalien  nach  Heinricbs  Tode,  den  Sturz  der 
ganzen  yon  diesem  dort  begriindeten  Ordnung  durch  die 
nationalen  Eleniente  und  das  mit  diesen  verbiindete  Papsttbum. 
Der  Verf.  folgt  hier  im  iibrigen  durchaus  Winkelmann;  urn  so 
auffallender  ist  es,  dass  er,  ohne  eine  genauere  Begriindung  fur 
neithig  zu  erachten,  in  der  Darstellung  der  Entwickelung  der 
Verhaltnisse  in  Tuscien  von  demselben  abweicht,  er  behauptet 
(S.  61),  der  tuscische  Bund  hatte  sich  wirklich  der  papstlichen 
Hoheit  unterworfen. 

Als  Beilagen  sind  der  Arbeit  Regesten,  der  verschiedenen 
Reichsbeamten  in  Mittelitalien  unter  Heinrich  VI.,  namentlich 
Philipps  als  Herzog  von  Tuscien,  Markwards  von  Anweiler, 
Conrads  von  Urslingen  und  Conrads  von  Liitzelhard  hinzu- 
geffigt. 
Berlin.  F.  Hirsch. 

LVI. 
Zeumer,  Carl,  Die  deutschen  Stadtesteuern,  insbesondere  die 
stadtischen  Reichssteuern  im  12.  und  13.  Jahrhundert.  (Staats- 
und   socialwissenschaftl.  Forschungen,   herausgeg.   von   Gustav 
Schmoller  I,  2.)  gr.  8.    (VIII,  162  S.)   Leipzig  1878.    Duncker 
und  Humblot.     4  M. 
Die  Schrift,  iiber  deren  wicbtigste  Ergebnisse  die  folgenden 
Zeilen  eine  kurze  Uebersicht  geben  sollen,  fullt  eine  wesentliche 
Liicke  in   unserer   an  wirklicb  brauchbaren  Monographien  noch 
so  sehr    armen    verfassungsgeschicbtlichen   Litteratur   aus;    ibr 
Verfasser,    ein  Schiller  von  K.  W.  Nitzsch,  hat  sich  durch  diese 
fleissige    und    scharfsinnige   Erstlingsarbeit    iri  vortheilhaftester 
Weise    eingefuhrt    und    seine    Befahigung  fiir   derartige   ebenso 
feine  wie  scbwierige  Untersuchungen  zur  Geniige  erwiesen. 

Unter  Stadtesteuern  verstehfc  der  Verfasser,  einem  schon  im 
Mittelalter  aufkommenden  Sprachgebrauch  gemass,  keineswegs 
sammtliche  in  den  Stadten  zu  entrichtenden  Abgaben,  sondern 
nur  die  von  den  Stadtgemeinden  als  solchen  dem  Konige  oder 
einem  anderen  Herrn  gezahlten  direkten  Steuern.  Vorzugsweise 
als  Beden  (precariae,  petitiones)  werden  diese  Abgaben  bezeichnet; 
aber  auch  andere  Benennungen  (stiura,  collecta,  exactio,  stipen- 
dium,  pensio,  data,  tallia;  gescoz,  gewerf,  consagittatio)  kommen 
gleichbedeutend  vor  (das  in  Flandern  begegnende  Wort  Kerbe 
=  tallia,  incisura,  zusammenhangend  mit  Kerbholz,  ist  Zeumer 
entgangen).  Solche  Beden  sind  aber  keineswegs  auf  die  Stadte 
beschrankt,  sondern  friiher  als  hier  schon  auf  dem  Lande  nach- 
weisbar.  (I.)  Die  landlichen  Steuern  und  Beden  haben 
sich  zuerst  in  den  Immunitatsbezirken  zu  geregelten  Formen 
und   zu  einem   anerkannten  Institut  herangebildet.     Sie  werden 

16* 

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244  Zeumer,  Die  deut3chen  Stadteateueni,  insbes.  die  stadt.  Reicks3teaera  etc. 

hier  vorzugsweise  von  den  Vogten  erhoben,  und  aller  Widerstand, 
den  die  Kircheh  gegen  die  Bedeforderungen  ihrerVogte  geleistet 
liaben,  hat  nur  den  Erfolg  gehabt,  dass  die  Erhebung  der  Beden 
vieler  Orten  geregelt,  vor  Ausartung  geschiitzt  und  unter  Kon- 
trolle  gestellt  wurde.  Neben  den  Vogtbeden  kommen  dann  Beden 
der  Immunitatsherren  selbst  seit  dein  Eude  des  12.  Jahrhunderts 
immer  haufiger  vor;  in  den  weltlichen  Territorien  dagegen 
finden  sich  die  ersteron  natiirlich  nicht,  wahrend  Beden  der 
Landesherren  —  entsprechend  auch  Beden  des  Konigs  in  den 
ihm  unmittelbar  untergebenen  Gebieten  —  ebenfalls  sehr  vielfach 
als  ordentliclie  Lasten  nachweisbar  sind.  Die  Art  der  Erliebung 
dieser  Beden  war  auf  dein  Lande  eine  sehr  verschiedene :  bis- 
weilen  wurden  den  Gemeinden  als  solchen  ein  fur  allemal  fest- 
stehende  oder  auch  in  ihrer  Hohe  schwankende  Gesainmtsteuern 
auferlegt,  an  anderen  Orten  aber  wurden  die  Beden  direkt  von 
den  einzelnen  Steuerpflichtigen,  sei  es  nach  fixirten,  sei  es  nacli 
variirenden  Ansatzen  erhoben.  Neben  dieseu  ordentlichen,  regel- 
massig  wiederkehrenden  Jahresbeden  wurden  auch  ausserordent- 
liche  Steuern  fur  ausserordentliche  Bediirfnissfalle  (rzwingende 
Noth")  von  den  Landesherren  oder  dem  Kaiser  erhoben. 
(II.)  Die  Steuerpflicht  der  Stadte  unterscheidet  sich 
nun  principiell  nicht  von  der  allgemeinen  Verpflichtung  zu 
Steuern  und  Beden,  von  der  nur  einzelne  Stadte  durch  besoudere 
Privilegien  eximirt  wurden;  nur  war  wenigstens  im  13.  Jahr- 
hundert  in  der  grossen  Mehrzahl  der  steuerpflichtigen  Sidte 
der  fur  diese  giinstigste,  weil  eine  unabhangige  Finanzver- 
waltung  ermoglichende  Modus  der  Gesammtbesteuerung  durch- 
gefuhrt,  d.  h.  die  Stadtgemeinde  zahlte  als  solche  die  Steuer. 
die  Art  der  Aufbringung  war  ihr  iiberlassen.  Fast  rogelmassig 
wurde  die  Steuer  jahrlich  gezahlt;  ihre  Hohe  ein-  fur  allemal 
zu  bestimmen  musste  das  natiirliche  Streben  aller  Stadte  sein, 
das  im  Laufe  des  13.  Jahrh.  vielfach  verwirklicht  wurde.  Die 
Zahlungstermine  waren  verschieden,  der  gewohnlichste  spater 
11.  November  (Martini).  Neben  diesen  „gewohnlichen  Steuern'' 
begegnen  ausserordentliche  Abgaben  fur  den  Hofdienst  und  die 
Heerfahrt  des  Konigs  (Hof-  und  Heersteuern)  und  andere  ausser- 
ordentliche Zwecke.  Die  gewohnliche  Steuer  wurde  dem  Stadt- 
herren  (Konig  oder  Landesfurst),  in  Stadten  geistlicher  Fiirsta 
auch  dem  Vogt  gezahlt,  die  ausserordentlichen  Steuern  sind 
vorzugsweise  in  den  grosseren  Stadten  geistlicher  oder  weltlicher 
Fiirsten  nachzuweisen.  (III.)  DerUrsprung  dergewohn- 
lichen  Steuern  ist  auf  dem  Lande  wie  in  den  Stadten 
wesentlich  der  gleiche.  Sie  hangen  nicht  mit  dem  Grundzms 
zusammen,  wie  Fichard  und  Jager  angenommen  haben,  und 
lassen  sich  nicht  mit  Eichhorn  aus  dem  Recht  des  Landesherrn. 
eine  Entschadigung  fiir  die  Lasten  des  Reichsdienstes  oder  die 
Landesvertheidigung  zu  fordern,  erklaren:  alle  Beden  vielmebr 
sind  urspriinglich  rein  private  Unterstiitzungen  im  Falle  eines 
privaten  Geldbediirfnisses  des  Herrn ;  es  sind  freiwillige  LeistungeD 


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Zeumer,  Die  deutsehen  Stadtesteuern,  insbes.  die  stfidt.  Keiehssteuern  etc.  245 

(daher  Bede,  precaria,  petitio),  die  spater  zur  Pflicht  wurden. 
Die  Hof-  und  Heersteuern  dagegen,  welche  neben  und  aiisser 
der  gewohnlichen  Steuer  erhoben  werden,  gehen  znm  Theil  auf 
bestimmte  altere  Verpflichtungen  zu  Naturalleistungen  u.  s.  w. 
zuriick.  Nur  in  einzelnen  Fallen,  so  z.  B.  in  Muhlhausen,  ist 
auch  die  ordentliche  Steuer  nicht  von  Haus  aus  allein  eine  Bede 
gewesen,  sondern  aus  verschiedenartigen  Verpflichtungen  hervor- 
gegangen.  (IV.)  Die  Aufbringung  der  Stadtesteuern 
und  ihr  Verhaltniss  zum  stadtischen  Haushaltwar 
Eatiirlich  nicht  iiberall  gleichmassig  geregelt.  Im  Lauf  des 
13.  Jahrhunderts  ging  in  den  meisten  Orten  die  Verwaltung  der 
Steuer  von  den  Beamten  der  Stadtherren  (bischoflichen  Mi- 
nisterialen,  Burggrafen,  Vogten)  auf  Burger  und  Rath  iiber,  ein 
Entwicklungsgang,  der  sich  besonders  deutlich  z.  B.  in  Regens- 
burg  verfolgen  lasst.  Ueber  die  Art  der  Aufbringung  der  Steuer 
—  meistens  durch  direkte  Umlage  —  besitzen  wir  die  aus- 
iiihrlichsten  Angaben  aus  Augsburg.  Hier  wurde  eine  allgemeine 
Vermogenssteuer  erhoben;  den  Procentsatz  des  Vermogens,  der 
im  einzelnen  Jahre  einzufordern  war,  setzte  der  Rath  fest ;  dann 
wurde  zur  Ausfiihrung  des  Steuergeschafts  eine  Commission  des 
Raths  erwahlt,  vor  welcher  die  einzelnen  Burger  auf  ihren  Eid 
ihr  Vermogen  selbst  einschatzten ;  im  Fall  einer  vermutheten  zu 
niedrigen  Einschiitzung  hatte  die  Commission  das  Recht,  die 
ganze  Habe  des  Contribuablen  fur  den  Einschatzungspreis  zu 
iibernehmen ;  das  ganze  Verfahren  war  mit  alien  Garantieen  der 
Geheimhaltung  umgeben.  Einen  ahnlichen  Modus  kann  man  in 
vielen  anderen  Stadten  nachweisen.  Beitragspflichtig  war  in 
erster  Linie  natiirlich  die  gesammte  Burgerschaft ,  bisweilen 
wurde  die  Pflicht  auf  alle  Einwohner  ausgedehnt.  Exception 
nahm  die  Geistlichkeit  in  Anspruch,  nicht  nur  fur  ihre  Personen, 
sondern  auch  fur  ihre  Giiter,  vielfach  auch  fur  die  auf  denselben 
aDgesessenen  Leute.  Ueber  dieso  Pratension  kam  es  zu  vielfachen 
Conflicten  zwischen  den  Stadten  und  dem  Clerus,  da  die  Grenz- 
linie  zwischen  Burgerschaft  und  geistlichem  Hofrecht  schwer  zu 
bestimmen  war;  im  allgemeinen  gait  der  Grundsatz,  dass  Theil- 
nahme  am  kaufmannischen  Handel  und  Freiheit  vom  taglichen 
Dienst  zur  Steuerzahlung  verbanden ;  und  an  vielen  Orten  wurde 
es  ausserdem  durchgesetzt,  dass  bei  ferneren  Ueber tragungen 
biirgerlichen  und  daher  steuerpfliohtigen  Gutes  in  die  tote  Hand 
die  Verpflichtung  zur  Steuerzahlung  nicht  aufgehoben  wurde. 
Neben  den  directen  Vermogenssteuern  wurden  in  vielen  Stadten 
noch  Zolle  und  Ungelder,  indirecte  Verkehrs-  und  Consumptions- 
steuern,  erhoben:  fur  die  Aufbringung  der  Stadtesteuern  in 
unserem  Sinne  des  Wortes  wurde  aber  ihr  Ertrag  in  der  Regel 
nicht  verwendet,  wahrend  andererseits  sehr  haufig  ein  etwaiger 
Ueberschuss  des  Ertrages  der  directen  Abgabe  iiber  die  von 
der  Stadtgemeinde  zu  zahlende  Stadtesteuer  zu  anderweitigen 
Zwecken  des  stadtischen  Haushalts  verwandt  werden  konnte. 
(V.)   Das   Reich  hatte    ein   unmittelbares   Interesse   zunachst 


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246  Zeumer,  Die  doutscheu  Stadtesteuern,  insbes.  die  stadt.  Reiehsateuem  etc. 

nur  an  den  Stadtesteuern,  insoweit  sie  direct  dem  Konig, 
sei  es  als  Stadtherrn,  sei  es  als  Yogt  in  der  Stadt  eines  geist- 
lichen  Herrn,  zuflossen,  oder  aber  insoweit  sie  dem  Fiirsten  als 
Hof-  und  Heersteuern  zum  Behuf  des  Reichsdienstes  entrichtet 
wurden.  Eine  historische  Uebersicht  iiber  das  Verbalten  der 
einzelnen  Herrscber  zu  den  Stadtesteuern  hat  daber  wesentlich 
diese  beiden  Punkte  ins  Auge  zu  fassen.  Bis  gegen  das  Elide 
des  13.  Jahrb.  kommen  ordentliche  Stadtesteuern  an  das  Reich 
in  den  Quellen  nicht  vor,  wabrend  in  den  Bischofsstadten  ausser- 
ordentiiche  Hof-  und  Heersteuern  an  die  Bischofe  gezablt  wurden. 
Nachdem  von  den  letzten  Saliern  das  Bestreben  der  Stadte,  sicb 
durcb  directe  Leistungen  ans  Reich  von  ibren  Biscbofen  zu 
emancipiren,  vielfaoh  unterstiitzt  war,  hielten  die  ersten  Staufer 
urn  so  entschiedener  an  der  Erfullung  der  Yerpflichtungen  der 
Stadte  gegen  ihre  Herren  fest  Erst  wabrend  des  Thromtreites 
zwiscben  Otto  und  Pbilipp  tritt  das  gleicbe  Bestreben  der  Stadte 
wieder  mebr  hervor.  Auch  unter  Friedrich  II.  dauert  dasselbe 
fort :  seine  schwankende,  lavirende  Politik  gegen  die  Stadte  fuhrt 
ibn  doch,  nachdem  sein  Versuch,  mit  einem  Scblage  die  landes- 
herrliche  Gewalt  in  den  Stadten  wieder  herzustellen,  sich  als 
undurchfuhrbar  erwiesen  hatte,  gegen  Ende  seiner  Regierung 
dahin,  die  Selbstandigkeit  der  stadtischen  Gomeinden  moglichst 
zu  begiinstigen.  Unter  den  scbwachen  Konigen  des  Interregnums 
wucbs  die  Macht  der  Stadte  mebr  und  mehr.  Rudolf  von  Habs- 
burg  fand  in  ihnen  wohlgeschonte  Steuerkrafte,  die  er  mit  aller 
Energie  bestrebt  war  dem  Reich  dienstbar  zu  machen.  Er  er- 
hob  zunachst  von  alien  koniglicben  Stadten,  auch  denen,  die 
bisher  davon  frei  gewesen  waren,  und  von  einzelnen  Bischofc- 
stadten,  die  sich  dessen  nicht  erwehren  konnten,  (so  Augsburg, 
das  deshalb  spater  Reichs-  und  nicht  Freistadt  war  J  feste 
Jahressteuern;  er  beanspruchteferner  zuerst  von  all  en  Stadten,  aucb 
den  Bischofsstadten,  ja  auch  denen  weltlicher  Fiirsten,  fur  ausser- 
ordentliche  Bediirfiiisse  ausserordentliche  Leistungen;  die  ersten 
allgemeinen  Stadtesteuern  sind  unter  ihm  aus- 
geschrieben  worden.  Sein  anfanglicher  Versuch,  dabei  die  einzelnen 
Burger  direct  heranzuziehen,  mislang  zwar;  als  er  aber  darauf 
verzichtete  und  sich  nun  an  die  auf  Stadtetagen  zusammen- 
tretenden  Communen  als  solche  wandte,  erhielt  er  von  ihnen 
sehr  um£angreiche  Bewilligungen.  Der  Nutzen,  den  das  Reich 
aus  diesen  bedeutenden  Abgaben  hatte  Ziehen  konnen,  ging  ibm 
freilich  zum  grossen  Theil  durch  die  unglaublich  schlechte  ^e^ 
waJtung  der  Reichsfinanzen  wieder  verloren. 

Wir  schliessen  hier  unseren  Auszug  aus  dem  inhaltreichen 
Buche  Zeumers.  Der  kurze  Vorblick,  den  der  Ver&sser  noch 
auf  die  Geschichte  der  Stadtesteuern  in  den  nachsten  Jahr- 
hunderten  wirft,  soil  den  Gegenstand  nicht  erschopfen;  eine 
weitere  Behandlung  desselben,  wie  sie  in  Aussicht  gestellt  wird» 
wird  sehr  willkommen  sein.  Dass  wir  gegen  manche  Einzel* 
heiten   der  Darstellung  Zeumers  Bedenken  haben,   die  niiher  w 


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Hegel,  Ueber  den  historischeti  Werth  der  filtered  D ante -C onimeii tare.     247 

erortern  der  Zweck  dieser  Zeitschrift  verbietet,  hindert  uns  nicht, 
dem  Buch  iin  ganzen  als  einer  der  besten  Arbeiten  auf  dem  noch 
so  sehr  vernachlassigten  Gebiet  der  niittelalterlichen  Finanz- 
geschiehte  unsere  voile  Anerkennung  zu  zollen.  Fiir  seinen  Plan 
einer  Fortsetzung  mochten  wir  ibn  nur  noch  auf  eine  De- 
duction8Scbrift  von  1733  hinweisen:  Pro  memoria,  die  eigentliche 
Beschaffenheit  der  an  Ihro  Rom.  Kaiserl.  Majestat  von  der  Reichs- 
Statt  Scbweinfurt  alljahrlich  in  100  fl.  Gemeiner  Rheinischer 
W&hrung  zu  praestiren  seyenden  Reichs-Statt-Steuer  betreffend, 
aus  der  bei  Moser  17,  476  ff.  Mittbeilungen  gemacht  werden, 
und  die  wenigstens  fiir  die  Anschauungen  der  spateren  Zeit  liber 
diese  Steuer  Aufschluss  giebt. 
Berlin.  H.  Bresslau. 

LYIL 
Hegel,  C,  Ueber  den  historischeti  Worth  der  alteren  Dante- 
Commentare.      Mit     einem    Anhang    zur    Dino-Frage.     8°. 
(115  S.)     Leipzig  1878.     S.  Hirzel.     2,80  M. 

Der  Verf.  behandelt  in  der  vorliegenden  Schrift  die  ver- 
schiedenen  alteren,  durcb  den  Druck  bekannt  gemachten  Dante- 
Commontare,  im  Ganzen  15,  von  den  altesten,  noch  bei  Lebzeiten 
des  Dichters  im  Anfange  des  14.  Jahrhunderts  geschriebenen 
(Chiose  anonime  und  Comento  alia  cantica  del  Inferno)  an  bis 
zu  den  in  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  von  Vellutello  und 
Varchi  verfassten,  hauptsachlich  mit  Riicksicht  auf  ihren  histori- 
schen  Werth,  d.  h.  auf  die  Quellen,  welche  sie  fiir  ihre  histori- 
schen  Bemerkungen  benutzt  haben,  und  auf  ihr  Abhiingigkeits- 
verhaltniss  unter  einander.  Referent  erlaubt  sich  das  Resultat 
dieser  Untersuchungen  mit  den  Worten,  in  welche  der  Verf. 
selbst  (S.  91  f.)  dasselbe  zusammengefasst  hat,  anzugeben. 

„Abgesehen  von  der  alten  Geschichte  und  Mythologie,  deren 
Kenntniss  sie  aus ,  den  romischen  Autoren  oder  von  diesen  ab- 
geleiteten  Compilationen  des  Mittelalters  schopften,  waren  die 
ersten  Grlossatoren  und  Commentatoren  des  Dante  bis  Mitte  des 
14.  Jahrhunderts,  welche  noch  nicht  die  vortreffliche  Chronik 
des  Giovanni  Villani  besassen,  fiir  die  italienische  und  Zeit- 
geschichte  des  Dichters  theils  auf  mundliche  Tradition,  der  sie 
noch  nahe  standen,  theils  auf  dieselben  historischen  Quellen  an- 
gewiesen,  welche  auch  Villani  benutzt  hat:  als  solche  erkannten 
wir  die  Schrift  iiber  den  Ursprung  von  Florenz  (De  origine 
civitatis)  in  den  altesten  Glossen  zum  Inferno  (von  Selmi  herausg.) 
und  dem  ihnen  verwandten  Auonimo  (von  Lord  Vernon),  sowie 
auch  in  dem  ersten  vollstandigen  Commentar  des  Jacopo  della 
Lana;  sodann  auch  die  von  Scheffer-Boichorst  nachgewiesene 
Quelle  der  Gesta  Florentinorum  in  dem  Commentar  des  Ottimo. 
Die  Benutzung  der  Chronik  von  Villani  unterscheidet  die  spateren 
Commentare  nach  Mitte  des  14.  Jahrh.  von  den  friiheren:  wir 
fanden  sie  zuerst  in  dem  Commentar  des  Bocaccio,  nachher  noch 
mehr  in   dem  des  Benvenuto  da  Imola  und  dem  s.  g.  Anonimo 


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'248     Hegel,  TJeber  den  historisehen  Werth  der  alteren  Dante-Commentare. 

Fiorentino.  Doch  bat  von  ihr  der  Pisaner  Buti  nur  in  seinem  dritten 
Theil,  der  Mailander  Guiniforte  gar  -keinen  Gebrauch  gemacht 
Selbst  der  Florentiner  Landino  hat  sich  ofter  bloss  an  Benvenuto 
von  Imola  statt  an  Villani,  dessen  Quelle,  gehalten;  daneben hater 
aber  auch  die  angeblich  im  J.  1200  verfasste  Chronik  des  Ricor- 
dano  Malespini,  den  er  Perdano  Malespini  nennt,  an  einigen  Stellen 
ausgeschrieben  und  damit  zuerst,  soviel  bekannt,  deren  Yor- 
handensein  zugleich  mit  der  Anerkennung  ihrer  Echtheit  von 
Seiten  der  Akademiker  zn  Florenz  bezeugt.  Endlich  ist  Vellutello 
ganz  besonders  wieder  auf  Villani  zuriickgegangen,  woneben  er 
gelegentlich  noch  einige  bekannte  Chroniken  hinzugezogen  hat.'4 
In  einem  Anhange:  ,,Zur  Dino-Frage"  hat  der  Verf.  noch 
einmal  im  Gegensatz  gegen  Scheffer-Boichorst  und  Faufani 
(s.  unsere  Besprechung  der  £riiher  gewechselten  Streitschriften 
in  dieser  Zeitschrift,  Jahrg.  4,  S.  143  ff.)  die  Frage  nach  der 
Echtheit  der  angeblichen  Chronik  des  Dino  Compagni  erorteit 
Die  Veranlassung  dazu  hat  ihm  der  Umstand  geboten,  dass, 
worauf  zuerst  Scheffer  -  Boichorst  auftnerksam  gemacht  hat, 
wahrend  die  Prioritat  der  Entdeckung  sich  der  Vertheidiger 
Dino's  IsicL  del  Lungo  zuschreibt,  in  einem  dieser  Dante-Com- 
mentare,  dem  sogen.  Anonimo  Fiorentino  aus  dem  Anfange  dea 
15.  Jahrh.,  eine  Verwandtschaft,  sogar  wortliche  Uebereinstimmuiig 
mit  Dino  hervortritt.  Scheffer-B.  hat  dieses  Verhaltniss  so  er- 
klart,  dass  auch  dieser  Dante-Commentar  von  dem  Falscher  des 
Dino  fur  seine  Zwecke  ausgeschrieben  sei,  und  er  hat  darin  einen 
neuen  Beweis  fur  die  Unechtheit  der  Chronik  gefunden,  wahrend 
del  Lungo  umgekehrt  behauptet,  der  Anonimo  habe  Dino  aus- 
geschrieben, und  daran  die  Folgerung  kniipft,  jener  sei  also  schon 
zu  Anfang  des  15.  Jahrh.  bekannt  gewesen,  also  sei  die  Annahme 
der  Falschung  der  Chronik  im  16.  oder  17.  Jahrh.  hinfallig. 
Hegel  untersucht  nun  genau  die  Stellen,  in  welchen  jene  Ueber- 
einstimmung  zwischen  Dino  und  dem  Anonimo  hervortritt,  und 
zeigt,  dass  in  der  That  nicht  Dino  den  letzteren,  sondern  dieser 
jenen  oder  vielmehr  die  urspriingliche  Quelle  des  heutigen  Dino 
ausgeschrieben  hat.  Er  zeigt  ferner,  dass  gerade  eine  derjenigen 
Stellen  Dino's,  welche  von  Scheffer-B.  am  meisten  angefochten, 
als  ein  blosses  verleumderisches  Phantasiestiick  bezeichnet  worden 
war,  durch  eine  kurze  Bemerkung  Dante's  und  durch  die  daran 
angekniipften  Nachrichten  seiner  Commentatoren ,  ausser  des 
Anonimo  auch  des  alteren  Ottimo,  in  der  Hauptsache  als  richtig 
beglaubigt  wird.  Er  wiederholt  dann  noch  einmal  die  schon  in 
seiner  fruheren  Schrift  aufgestellte  Ansicht,  dass  die  Chronik 
des  Dino  nicht  eine  vollstandige  Falschung  sei,  sondern  dass 
derselben  ein  echter  Kern  von  Denkwiirdigkeiten  jenes  floren- 
tinischen  Staatsmanns  zu  Grunde  liege,  welcher  aber  spater  sehr 
ungeschickt  iiberarbeitet  sei  und  so  in  der  jetzt  uns  vorliegenden 
Chronik  durch  allerhand  Anachronismen,  Missverstandnisse  und 
falsche,  geradezu  erftindene  Nachrichten  entstellt  sei. 

Berlin.  F.  Hirsch. 


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«F? 


Nerger,  Die  Goldene  Bulle  Bach  ihrem  Ursprungo  u.  reichsrechtl.  Inhalt.    249 

LVHL 
Merger,  Emil,  Die  Goldene  Bulle  nach  ihrem  Ursprunge  und 

reich8rechtlichen     Inhalt.      Inaugural  -  Dissertation,     gr.     8. 

(52  S.)   Prenzlau  1877.    (Gottingen,  Vandenhoeck  u.  Ruprecht.) 

1  M. 
Die  Goldene  Bulle,  welche  seit  dem  XV.  Jh.  in  zahlreichen 
Ausgaben  und  Uebersetzungen  verbreitet  war  und  in  den  all- 
gemeinen  Werken  iiber  das  Jus  publicum  Sacri  Romani  Imperii 
sowie  in  besonderen  Schriften  immer  von  neuem  commentirt 
wurde,  horte  mit  der  Auflosung  des  alten  Reichs  auch  fur  die 
Historiker  auf,  Gegenstand  eingehender  Untersuchungen  zu  sein : 
werden  doch  auch  heute  noch  die  grossen  Verdienste,  welche 
sich  die  Publicisten  des  XVII.  und  XVIII.  Jh.  um  die  Bearbeitung  der 
deutschen  Geschichte  erworben  haben,  keineswegs  genugend  ge- 
wurdigt.1)  Dem  gegeniiber  ist  es  eine  bemerkenswerthe  That- 
sache,  dass  in  letzter  Zeit  zwei  Specialabhandlungen  iiber  die 
Goldene  Bulle  erschienen  sind:  die  erste  von  Detto  (Programm 
des  Gymnasiums  in  Wittstock  1872),  sodann  die  oben  angefiihrte 
Dissertation  von  Nerger. 

Beides  sind  Arbeiten,  die  nicht  ohne  Sorgfalt  gemacht  sind 
(besonders  die  von  Detto),  aber  dass  sie  tief  in  den  Stoff  ein- 
gedrungen  waren,  konnte  man  nicht  sagen:  wollte  man  auch 
nur  das  Material,  welches  von  Ludwig  und  Olenschliiger  geboten 
wird,  kritisch  und  dem  Stande  unserer  jetzigen  Forschung  ent- 
sprechend  verarbeiten,  so  waren  ganz  andere  Abhandlungen  als 
die  beiden  genannten  denkbar,  welche  denjenigen,  dem  die 
Goldene  Bulle  und  ihre  Zeit  ferner  liegt,  nur  eben  orientiren. 
Allerdings  hat  Detto  das  Verdienst,  nachgewiesen  zu  haben,  an 
welchen  Tagen  die  vier  ersten  Satzungen  der  Gr.  B.  vermuthlich 
zu  Stande  gekommen  sind,  und  Hr.  Nerger  hat  nach  gleicher 
Methode2)  fUr  die  fiinfte  den  7.  Januar  und  fur  die  Metzer  den 
11.  December  bestimmt ;  auch  hat  Hr.  N.  einige  Puncte  richtiger 
als  Detto,  wie  er  z.  B.  S.  13  die  Ungenauigkeit  des  Plothoschen 
Mscr.  scharfer  betont  und  S.  29  die  Annahme  eines  zweiten 
feierlichen  Einzuges  in  Metz,  den  der  Kaiser  am  23.  December 
gehalten  hatte,  mit  Recht  zuruckweist;  ebenso  soil  nicht  ge- 
leugnet  werden,  dass  die  allgemeinen  historischen  Verhaltnisse, 
unter  deren  Einflus  die  G.  B.  entstand,  von  Hrn.  Nerger  ein- 
gehender dargelegt  sind,  als  es  von  Haberlin  und  Pelzel  ge- 
schehen  war:  dennoch  hatten  sich  Gesichtspuncte,  wie  sie  z.  B. 
Friedjung  in  seinem  Karl  IV.  aufstellt,  doch  unschwer  dargeboten. 
—  Die  Arbeit  zerfallt  in  drei  Theile :  im  ersten  (S.  1  —34)  wird 
die  Entstehung  der  G.  B.  im  Zusammenhang  der  Ereignisse  dar- 
gethan;  der  zweite  behandelt  den  Verfasser  der  G.  B.,  als 
welchen  der  Vf.  den  damaligen  Kanzler  Karls,  Johann  von  Neumarkt 


J)  Jetzt  ffingt  man  an  sie  mehr  zu  wtirdigen,  s.  Lorenz,  G.-Q.  II,  S.  308. 
*)  Es  muss  auffallen,  dass  Hr.  N.  bei  der  Zeitbestimmong  der  ersten 
vier  Satzungen  Detto  nich!  citirt,  den  er  doch  sonst  sehr  wohl  kennt. 


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250    Nerger,  Dio  Goldene  Bullo  nach  ihrem  Ursprunge  u.  reichsrechtL  Inhrit 

(de  Novoforo),  ansehen  will,  der  insbesondere  seit  des  Kaisers 
Zug  nach  Italien  stets  in  dessen  Umgebung  war;  was  wir 
iiber  ihn  wissen,  wird  S.  35 — 37  zusammengestellt.  Der  dritte 
Theil  endlich  giebt  eine  Uebersicht  iiber  den  Inhalt  der  6.  B. 

Ueber  einige  Puncte,  welche  im  ersten  Theil  behandelt 
werden,  haben  wir  schon  gesprochen;  sonst  ist  uns  hier  acf- 
gefallen,  dass  der  Vf.  der  Meinung  ist,  das  Erzschenkenamt  sei 
vor  Friedrich  I.  im  Besitze  Baierns  gewesen?  das  ist  eine  An- 
sicht,  zu  welcher  die  Publicisten  des  alten  Reichs  nur  durch 
falsche  Riickschliisse  gekommen  waren  und  die  niemand  mehr 
theilt.  —  Bei  dem,  was  der  Vf.  S.  10  f.  iiber  den  Streit  zwischen 
Wilhelm  von  Braunschweig-Liineburg  und  den  Sachsen  sagt,  hatte 
er,  wenn  er  fur  das  rechtswidrige  Verfahren  des  Kaisers  kein 
Wort  der  MissbilKgung  hat,  die  Bemerkungen  beriicksichtigeu 
sollen,  welche  der  im  deutschen  Staatsrecht  sehr  competent 
Haberlin  Umst.  T.  Reichs-Hist.  Ill,  748  ff.,  macht.1) 

Was  den  zweiten  Theil  anbetrifft,  so  darf  man  von  eineni 
Vorfasser  der  G.  B.  in  dem  Sinne,  wie  es  der  Vf.  thut,  nicht 
sprechen.  Hier  hatte  Detto  schon  die  Sache  richtiger  getroffen, 
wenn  er  kurz  sagt,  die  Gesetze  seien  in  der  Kauzlei  stilisirt 
worden.  Ebenso  fasst  es  Friedjung  S.  87,  der  mit  Recht  her- 
vorhebt,  dass  dem  Kaiser  dazu  ein  zahlreiches  und  wohlgeschultes 
Personal  zu  Gebote  stand.  Hier  hatte  der  Vf.  sioh  die  Aufgabe 
stellen  konnen,  nachzuforschen,  wie  iiberhaupt  in  jener  Zeit  auf 
den  Reichstagen  verhandelt  wurde. 2)  —  Die  Aufzeichnung  dessen, 
woriiber  man  sich  vereinigt  hatte,  machte  vielleicht  nicht  so  viel 
Mtthe  als  es  scheinen  konnte,  da  die  Gegenstande  meist  schon 
mannigfach  in  Urkunden  behandelt  waren.  Z.  B.  hebt  Friedjung 
S.  84  hervor,  dass  das  Gesetz  iiber  die  Pfahlburger  (G.  B.  c.  16) 
nur  die  Wiederholung  einer  Constitution  v.  1354  ist,  und  bis 
c.  7  ist  offenbar  die  sogen.  Prager  Goldene  Bulle  vom  6.  Octo- 
ber 1355  benutzt.  Hr.  N.  halt  das  freilich  nicht  fur  wahr- 
scheinlich  und  meint,  die  Prager  G.  B.  beruhe  vielniehr  auf  dem 
bereits  fiir  den  Nurnberger  Reichstag  ausgearbeiteten  Entwarfe 
des  Reichsgesetzes ;  aber  Griinde  bringt  er  nicht  vor. 

Im  dritten  Theile  werden  an  die  Uebersicht  des  Inhalts  der 
einzelnen   Capitol   mitunter   erlauternde  Bemerkungen   geknupft, 

*j  Auch  Pelzel  billigt  das  Verfahren  dea  Kaisers,  aber  trotz  der  grossen 
Verdienste,  die  er  urn  die  Geschichte  Karls  IV.  bat,  ist  or  doch  zu  sehr  Partei 
und  hatte  bei  weitem  nicht  die  grundlichen  Kenntnisse  des  deutschen  Staats- 
rechts,  welche  Haberlin  auszeichnen.  Havemann,  (Jesch.  d.  Lande  BrauR- 
echweig-Luneburg  I8  S.  464,  auf  den  sich  Nerger  beruft,  steilt  sich  auf  Seiten 
des  Braunschweigers,  freilich  auch,  ohne  das  Yerfahren  Karls  zu  kenn- 
zeichnen. 

s)  Schwerlich  wird  in  den  eigentlichen  officiellen  Sitzungen  der  Scbwer- 
punct  der  Verhandlungen  gelegen  haben;  diese  werden  vielmehr  nur  dazn 
gedient  haben,  demjenigen,  woriiber  man  sich  vorher  durch  mauiiigfach* 
Besprechungen  geeinigt  hatte ,  eine  formliche  Anerkennung  zu  geben.  So 
war  es  bei  der  Konigswahl  —  vergl.  meine  Bemerkungen  in  dies  er  Zschr.  Ill 
S.  147  ff.  —  und  bei  dem  Berliner  Congross  des  Jahres  1878.  Die  Hauptsacben 
wurden  vor  den  Sitzungen  erledigt. 


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Merger,  Die  Goldoue  Bulle-  nach  ihrfera  Ursprungo  u.  reiclisrechtl.  Inhalt.    251 

ohne  d&ss  jedodh  genugend  hervortrate,  wie  viele  Puncte  den 
Auslegern  die  grossten  Schwierigkeiten  gemacht  haben  und  auch 
immer  machen  werden.  Wenn  der  Vf.  wie  viele  andere  nicht 
bemerkt,  dass  die  Goldene  Bulle,  wie  alle  Gesetze  des  Mittel- 
alters,  wesentlich  anders  zu  beurtheilen  und  zu  commentiren  ist 
als  es  jetzt  mit  unseren  Gesetzen  geschehen  kann,  so  ist  ihni 
das  allerdings  nicht  so  sehr  iibel  zu  nehmen.  —  Ob  er  erkannt 
hat,  dass  Karl  IV.  das.Privilegium  de  non  appellando  fur  Bohmen 
und  dessen  Pertinenzen  obne  alle  Einschranku ng  gab, 
sodas8  aucb  nicht  einmal  im  Falle  verweigerter  Justiz  Berufung 
an  den  Kaiser  eingelegt  werden  konnte,  ist  nicht  deutlich  zu 
ersehen,  und  doch  wurde  gerade  in  diesem  Puncte  das  Recht, 
welches  Karl  IV.  durch  G.  B.  c.  10,  3  erlangte,  Reichslande 
in  Bohmen  incorporiren  zu  diirfen,  so  iiberaus  wichtig:  ein 
Recht,  dessen  fUr  Deutschland  hochst  nachtheilige  Wirkung 
Pelzel  S.  970  vergeblich  herabzumindern  bemiiht  ist. 

Die  Frage,  welche  Absicht  denn  Karl  bei  Erlass  der  G.  B. 
gehabt  habe,  unterzieht  Hr.  N.  keiner  Erorterung,  weil  er,  wie 
l)etto  ohne  Weiteres  annimmt,  der  Kaiser  habe  dem  Reiche  in 
der  That  eine  Wohlthat  erweisen  wollen.  Gegen  diese  Ansicht 
kann  Ref.  an  diesem  Orte  seinen  Protest  nicht  zuriickhalten, 
zumal  neuerdings  auch  Lindner  (Gesch.  d.  D.  R.  unter  Wenzel 
S.  12)  und  Friedjung  a.  a.  0.  den  Kaiser  zu  „retten"  suchen. 
Ret  muss  dabei  bleiben,  dass  Karl  IV.  ausserordentlich  treffend 
durch  den  bekannten  Ausspruch  Maximilians  gekennzeichnet  ist. 
Man  muss  bedenken,  dass  Maximilian  Karl  IV.  nicht  bloss  zeit- 
lich  viel  naher  steht,  um  ihn  besser  beurtheilen  zu  konnen  als 
wir,  sondern  auch  in  Denk-  und  Anschauungsweise.  Muss  doch 
auch  Lindner  S.  13  zugestehen,  dass  die  deutsche  Krone  dem 
Kaiser  nur  Mittel  war,  seinen  Familienbesitz  zu  vermehren. 
Einen  andern  Standpunct  hat  Karl  dem  Reiche  gegeniiber  auch 
in  der  G.  B.  nicht  eingenommen,  und  wenn  Lindner  diesen  ge- 
rechtfertigt  findet,  so  bedauert  Ret,  hier  anderer  Ansicht  zu 
sein.  —  Wenn  aber  Lindner  meint,  Karl  habe  nach  und  nach 
mit  einer  grosseren  Planmassigkeit  alle  kleineren  Gebiete  ab- 
sorbiren  wTollen,  um  der  grenzenlosen  Zersplitterung  ein  Ende 
zu  machen,  so  fragt  man  sich  doch  unwillkiirlich,  ob  das  im 
Ernst  gesagt  sei;  es  erinnert  zu  sehr  an  die  politischen  Be- 
strebungen  unserer  Zeit.  —  Karl  IV.  verfolgte  immer  sehr  reale 
und  handgreifliche  Ziele:  wenn  er  Ordnung  liebte  und  anstrebte, 
so  geschah  es  nur,  um  in  seinem  Interesse  mit  den  Dingen  besser 
fertig  werden  zu  konnen.  So  enthalten  die  Majestas  Carolina 
und  der  Ordo  judicii  terrae,  welche  er  in  Bohmen  einzufuhren 
suchte,  allerdings  bemerkenswerthe  Fortschritte ,  aber  worauf 
laufen  sie  ?m  wesentlichen  hmaus  ?  nur  auf  die  gesetzliche  Sicher- 
stellung  der  Koniglichen  Rechte,  die  auf  eine  solide  fi- 
nanz'ielle  Basis  gestellt  werden  soil  ten,  wie  Friedjung 
ausfiihrt!  Und  was  ist  nun  in  der  G.  B.  so  iiberaus  auffallend? 
Die  Bevorzugung  Bohmens,  das  dem  Reiche  gegepiiber  Rechte 


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252  TViegand.    Bellum  Waltherianum. 

erhalt,  ohne  eine  einzige  Pflicht  zu  iibernehmen!  DieseMehnmg 
Bohmens  konnte  aber  nur  erlangt  werden  durch  Zugestandnisse 
weitgehender  Rechte  an  die  Kurfiirsten  und  andere  Grosse:  in 
diese  Kategorie  wird  namentlich  das  Gesetz  iiber  die  Pfahlbiirger 
gehoren,  welche  den  Fiirsten,  deren  Macht  sie  sich  zu  entziehen 
suchten,  ein  Dorn  im  Auge  waren.  Auch  gewahrte  die  Auswahl 
unter  den  verschiedenen  Linien  des  Wittelsbachschen  Hauses, 
die  urn  die  Kurstimmen  der  Pfalz  und  Brandenburgs  stritten, 
sowie  unter  den  Wettinern  dem  Kaiser  nur  ein  Mittel,  sich 
miicbtige  Freunde  zu  erwerben.  Insbesondere  hat  Karl  IV.  damals 
sicberlich  noch  nicht  die  Hoffnung  auf  mannliche  Nachkommen 
aufgegeben  gehabt,  die  ihm  freilich  erst  1361  erfullt  wurde: 
begte  er  aber  den  Wunsch,  dass  einmal  ein  Sohn  von  ihm,  der 
Erbe  des  machtigen  und  reichen  Konigreichs  Bohmen,  ihm  audi 
auf  dem  deutschen  Throne  nachfolgen  solle,  wie  konnte  er  ihm 
den  Weg  besser  ebnen,  als  wenn  er  einerseits  die  Wahl  an  feste 
Normen  band,  die  den  Anlass  zum  Biirgerkriego  ausschlossen, 
andrerseits  den  Einfluss  des  Papsts  audi  schon  fiir  die  Zeit  des 
Interregnums  fern  hielt  ?  Wurde  doch  ausdriicklich  in  der  G.  B. 
noch  bestimmt,  dass  der  Konig  von  Bohmen  sich  selbst  zum 
deutschen  Konig  wahlen  diirfe.  Lindner  freilich  S.  12  bezweifelt, 
dass  Karl  bei  Erlass  der  G.  B.  gohofft  habe,  seinem  Geschlecht 
den  deutschen  Thron  zu  erhalten,  weil  die  Bestimmungen  der- 
selben  auf  den  weiteren  Bestand  des  Wahlreiches  bereclinet 
seien ;  aber  den  deutschen  Kurfiirsten  das  Wahlrecht  zu  nehmen, 
daran  konnte  doch  Karl  IV.  unmoglich  denken,  und  dass  in 
seinen  Bestrebungen  nach  der  Geburt  Wenzels  eine  ganz  be- 
sondere  Energie  zu  Tage  tritt,  hebt  er  S.  14  auch  selbst  hervor. 
Berlin.  Edm.  Meyer. 

LIX. 
Wiegand,  Wilhelm.    Bellum  Waltherianum.   (Studien  zur  elsassi- 
schen    Geschichte    und    Geschichtschreibung    im    Mittelalter.) 
Strassburger    Habilitationsschrift.      gr.    8.     (94    S.)     Strass- 
burg  1878.     Carl  Triibner.     2  M. 

Wieder  hat  die  bedeutendste  Episode  der  mittelalterlichen 
Geschichte  Strassburgs  einen  Bearbeiter  angezogen!  Derselbe 
ist  aber  mit  sehr  vermehrtem  urkundlichem  Material  aus  dem 
Strassburger  Stadt-  und  Bezirksarchiv,  aus  den  Archiven  vod 
Colmar  und  Metz  an  die  Arbeit  herangegangen ,  und  seine 
Studie  hat  daher  auch  zu  neuen  Ergebnissen  gefuhrt.  Die 
musterhafte  Methode,  der  ergebnissreiche  Gang,  endlich  auch  die 
schone  Darstellung  und  Sprache  befriedigen  die  Erwartungen, 
welche  die  Bezeichnung  Habilitationsschrift  erregt.  Eine  solche 
Schrift  hatto  nicht  nothig,  sich  das  Existenzrecht  durch  den 
Nachweis  einer  Liicke  in  der  Litteratur  gewissermassen  erst  zn 
erobern,  me  es  in  der  Einleitung  geschieht,  durch  eine  kune 
kritische  Sichtuug  der  Litteratur  iiber  das  bellum  Waltheriannm 
(Mon.  Germ.  XVII),   sofern   sie   hinter  der   Schreckensteinischen 


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Wiegand.    Bellum  Waltherianum.  253 

Monographic  iiber  Walther  von  Geroldseck  (1857)  liegt.  —  Der 
Herr  Verf.  verfolgt  nun  einen  doppelten  Zweck:  I.  giebt  er  ,.eine 
Eutwicklungsgeschichte  der  chronikalischen  Ueberlieferung" ; 
II.  eine  positive  Darstellung  des  Waltherschen  Kriegs,  bei  der 
er  zwar  mehr  als  seine  Vorganger  Richer's  chronicon  Senoniense 
heranzieht,  aber  immer  noch  nicht  in  dem  Masse,  wie  icb  glaube, 
dass  es  hierfiir  in  Contribution  zu  setzon  ware.     (s.  u.) 

Durch  die  Untersuchung  iiber  die  verschiedenen  laden  der 
Ueberlieferung  ini  13.  und  den  folgenden  Jabrhunderten  wird 
unsre  Einsicht  iiber  das  von  Hegel  und  Lorenz  erreichte  Niveau 
nichi,  unwesentlich  hinausgeftihrt,  und  die  momentane  Hohe  der 
Forschung  ist  vorerst  in  ibr  erreicht.  Darum,  ohne  ausfuhrlicher 
ins  Einzelne  eingehen  zu  konnen,  miissen  die  gewonnenen  Re- 
sultate  binreichend  bezeichnet  werden.  Die  Relation  in  Ellen- 
hardt  codex,  kurz  als  bellum  Waltherianum  bezeichnet,  liegt 
alien  spateren  Strassburger  Berichten  zu  Grunde,  und  dessen 
direkte  Benutzung  schliesst  erst  mit  Wimpheling,  vor  Hedio  ab. 
Auf  „Ellenh."  zuriick  geht  die  (verbrannte)  latein.  Chronik 
Konigshovens ,  von  der  uns  Strobels  Abdruck  wenigstens  die 
Episode  des  Waltherschen  Kriegs  erhalten  hat.  Der  Nachweis 
fiir  diese  Ableitung  wird  schlagend  aus  dem  sprachlichen  Ausdruck 
Konigsh/s  erbracht,  welcher  an  vielen  Stellen  eine  sklavische 
Ausnutzung  von  „Ellenh."  verrath.  Aber  dies  bellum  existirte 
offenbar,  wie  schon  Jaffe  erkannte,  in  mehreren  Redactionen. 
Da  hat  nun  Dr.  Wiegand  treffend  festgestellt,  auf  welcher  von 
ihnen  Konigsh.  (lat.)  fusse.  Der  Closener  stimmt  namlich  in 
vielen  Punkten  (meistens  allerdings  sprachlicher  und  unter- 
geordneter  Natur)  mit  lat.  Konigsh.  gerade,  wo  dieser  vom  bellum 
abweicht,  wahrend  die  deutsche  Chronik  Konigsh.'s  sich 
wortlich  an  Closener  anlehnt.  Bei  dem  fliichtigen  Epitomator 
Konigshoven  ist  aber  die  Unwahrscheinlichkeit  erdriickend,  dass 
er  den  „Ellenhard"  und  den  Closener  beide  zugleich  vor  sich 
gehabt  und  ineinandergewirkt  habe.  Vielmehr  ist  anzunehmen, 
da  unser  „Ellenh."  ohnehin  interpolirt  ist,  dass  ein  alterer  Text 
des  bellum  existirte,  als  der  jetzt  in  den  Monumenten  vorfind- 
liche,  und  dass  diese  „vielfach  abweichende  Redaction"  dem 
Closener  wie  dem  lat.  Konigsh.  zu  Grunde  liege:  —  ein  ebenso 
sicheres  wie  gliickliches  Ergebniss.  —  So  umsichtig  und  spiir- 
sinnig  die  folgende  Auseinandersetzung  iiber  den  Verfasser 
des  bellum  einherschreitet,  so  ist  ihr  Ertrag  dennoch  negativ: 
»Der  Verfasser,  welcher  in  Ellenhards  Auftrag  das  bellum  schrieb, 
ist  unbekannt."  Gottfried  von  Ensmingen  kann  es  nicht  wol 
sein,  weil  er  seiner  litterarischen  Gepflogenheit  nach  sich  ge- 
nannt  haben  wiirde;  noch  weniger  ist  der  vielbeanspruchte 
Carmeliter  Petrus  annehmlich.  Denn  Wiegand  weist  aus  urkund- 
lichem  Funde  nach,  dass  Carmeliter  efst  anno  1316  in  Strass- 
burg  Eingang  fanden,  wahrend  Closeners  friiheste  Redaction  aus 
1290  stammt  und  ihrerseits  bereits  das  fertige  bellum  voraus- 
8etzt.    Nur  formell  fehlt  vielleicht  insofern  der  trefflichen  Unter- 

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254  Wiegand.    Bellum  Waltherianuni. 

suchung  iiber  den  Autor  ein  gewisser  Abschluss,  als  sie  bezielt^ 
dass  derselbe  „ein  Epigone"  sei,  wofur  man  sich  das  Beweis- 
material,  iiber  das  ganze  Buch  hiu  zerstreut,  zusammensnchen 
muss  (bes.  S.  50  und  bei  den  spiiteren  Fehlern  gegen  die 
Chronologie). 

Floss  bei  den  genannten  Schriftstellern  der  Strom  der  un- 
mittelbttren  Strassburger  Ueberlieferung ,  so  enthalt  das 
wenig  benutzte  chron.  Senon.  (Ricb.)  mittelbar  die  Strass- 
burger Tradition.  Denn  Richer  war  in  Strassburg  erzogen,  zeigt 
sich  selbst  iiber  geringfiigige  Vorgange  im  Elsass  wolunterrichtet 
(dafiir  verweise  ich  auf  lib.  V,  cap.  1  und  2 1),  so  dass  Wiegand 
sogar  die  Frage  aufwirft,  ob  vielleicht  Richer  und  Wimphe- 
ling  gemeinsam  aus  einer  verlornen  Quelle,  etwa  einer  Chronik 
der  Strassb.  Dominikaner  geschopft  haben  mochten.  Denn  Wimphe- 
]ing  beniitze  den  Richer  nicht  furs  bellum,  und  doch  stimme  er 
allein  merkwiirdig  mit  ihm  bez.  des  Baus  des  ersten  Dominikaner- 
klosters  in  Strassburg. 

Allein  es  lasst  sich  nach  meiner  Ansicht  geradezu  der  Be- 
weis  fuhren,  dass  dem  Richer  schriftliche  Quellen,  nicht 
wie  "Wiegand  S.  8  wieder  meint,  miindliche,  iiber  unsren  Krieg  zn 
Gebote  standen.  Seine  Wiedergabe  deutscher  Namen  ist  namlich 
keineswegs  aus  „walscher  Aussprache"  (Wgd.)  erklarlich,  sondern 
verrath  eine  verstandnisslose  Umschreibung  schlechtgeschriebener 
und  schlechtgelesener  fremder  Wortbilder.  Greifen  wir  dafiir 
in  das  chronicon  hinein :  Strahelerh  fur  Straheleck ;  Geroh(e)feke 
fur  Gerolzeck;  Havalo  fiir  Hanave;  Dakvestein  fur  Dahstein; 
Lietstemberch  fur  Liehtenberg  u.  a.  Ich  denke,  dies  iiberzeugt 
'•yollig,  dass  hier  von  einem  Franzosen  deutscho  Namen  falsch 
abgeschrieben,  nicht  in  franzos.  Aussprache  urn- 
geschrieben  wurden.1)  Ganz  anders  is^s  bei  „Werseborchu 
(Wiirzburg),  wo  Richer  meist  selbst  verweilte,  ganz  anders  mit 
deutschen  Namen  aus  der  Niihe,  die  er  g  e  h  o  r  t  hatte,  wie  Salm, 
Mulnehuse  u.  a.  Forner  schliesst  Richer  fur  elsass.  Angelegen- 
heiten  mit  Walthers  Tode  ab ;  nennt  nicht  einmal  den  neuen 
Bischof,  der  spatestens  fiinf  Wochen  hernach  gewahlt  wurde. 
Dennoch  aber  reicht  Richers  Werk  im  Uebrigen,  wie  Wiegand  gegen 
Wattenbach  (Deutschl.  Geschqu.  V,  §.  16  Schluss)  bewiesen, 
bis  1265.  Ist  diese  Abgrenzung  nicht  am  besten  erklart,  wenn 
er  eine  schriftliche  Quelle  benutzte,  die  sofort  nach  Walthers 
Tode  ihm  zukam  ?  Die  Schlussworte  sed  quia  cum  haec  scribe- 
remus  konnten  sehr  wohl  dieser  Quelle  entnommen  sein,  einer 
Quelle,  deren  Kiirzung  durch  Walther  das  zweimalige  bellum 
indixit  (cap.  13  und  15)  —  Erwahnung  des  Waffenstillstands 
fiel  weg !  —  der  in  cap.  15  sichtbare,  jetzt  unerklarliche  Doppel- 
bericht   (in  exercitum  furore   irruentes  —  captivos  in  civitatem 


J)   Ein   besonders    einleuchtendes  Beispiel,  wenn  Richer  von  Begkinefl 
sagt:  quae  in  Alemannia  Kuherin  appellantur,  statt  Ruhorin  (reuerin)! 


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Wiegand.    Bellum  Waltherianum.  255 

transmiserunt ;    und   wieder   irruentes  in   aciem  —  captivos  de- 
duxerunt)  und  Andres  wahrscheinlich  macht. 

Ferner  aussert  Wiegand,  der  Bericht  des  Richer  lasse  keinen 
Zweifel  dariiber,  auf  wessen  Seite  er  stehe,  er  meint  aber,  auf 
der  bischoflichen.  Jedoch  hat  die  einzige  angefiihrte  Stelle 
(„scandaluin")  eine  engere  Beziehung,  und  Richers  Bericht  ist 
durchhaucht  von  Sympathie  fiir  die  Stadter  (Argentinenses  con- 
siderantes,  Deum  in  hoc  conflictu  sibi  favere),  von  Antipathic 
fur  den  Bischof.  (Seine  Unversohnlichkeit  beim  Ausbruch;  turn 
enorme  factum  cp.  14;  Richer  hat  von  alien  Quellen  bei  beiden 
Hauptaffairen  die  hochsten  Verlustangaben.)  Es  ist  nicht  dieses 
Orts,  das  ferner  aus  dem  wahrhaft  begeisterten  Schlachtbericht 
und  aus  der  bittern  Bemerkung  iiber  Walthers  Tod  naher  zu 
begrunden:  Gott  habe  den  nutzlosen  Verwiistungen  des  Elsass 
ein  Ziel  setzen  wollen. *)  Ohnehin  ist  es  wahrscheinlich,  dass 
man  in  der  DiOcese  Toul  mehr  mit  dem  Metzer  als  mit  dem 
lange  verfeindeten  Strassburger  Bischof  fuhlte. 

Auch  iiber  den  Verlauf  des  Kriegs,  den  die  Schrift  sodann 
schildert,  wird  durch  manche  urkundliche  Entdeckung  neues 
Licht  verbreitet,  besonders  zur  Datenfixirung  viel  gethan. 
Wollten  wir  hier  aber  auch  das  Belangreichste  nur  mittheilen, 
wir  miissten  den  verstatteten  Raum  weit  iiberschreiten.  Hervor- 
gehoben  sei  aber,  dass  die  Entstehung  des  Kriegs  auf  all- 
gemeinere  und  tieferliegende  Griinde  zuruckgefiihrt  wird,  derselbe 
auch  weniger  Walthern,  als  seinem  Vorganger  auf  die  Rechnung 
gesetzt  wird.  "Wiirdig  schliessen  das  Ganze  die  scharfsinnige 
Sclilussdeduction  iiber  die  Zahl  der  Stetmeister  (vier  bereits 
1261,  spatestens  1262)  und  der  urkundliche  Nachweis,  dass  die 
hocherregte  Zeit  eine  d  e  u  t  s  c  h  geschriebeno  politische  Litteratur 
entstehen  liess,  die  drei  Viertheile  der  uns  erhaltenen  Urkunden 
zum  bellum  befasst;  und  zwar  wird  beiderseits  deutsch  ge- 
schrieben  und  geurkundet,  des  Bischofs  wichtigstes  Manifest 
schlug  zuerst  den .  demagogischen  Ton  an,  redete  zuerst  deutsch 
zum  niederen  Volk. 

Von  Druckfehlern  fiel  mir  auf,  dass  S.  64  das  richtige  Jahr 
1261  als  „falsch;*bezetehnet  wird;  soltschatz  statt  solschatz  — 
ersteres  legt  eine  falsche  Ableitung  nahe;  Sybilla,  wie  allerdings 
die  Quelle  schreibt ;  Tartarenwuth ;  endlich  steht  S.  83  das  sehr 
fragliche  Wege  ohne  Erklarung,   es   wird  Wage  (Wangen)   sein. 

Strassburg  im  Elsass.  Dr.  Schadel. 


')  Die  vollkommen  sinnlosen  Worte  in  cap.  XV  sed  cum  fortuna  in 
tantis  malitiis  partibus  afrideret  schlago  ich  vor  zu  lesen:  in  tantis  maliB 
iis  partibus  arrideret 


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256  Hansische  Gescbiehtsblatter. 

LX. 
Kolbe,   Wilh.,  Marburg  im  Mittelalter,  mit  einer  Ansicht  von 
Marburg  nach  einem  Merian'schen  Stich  von  1646.    8.    (37  S.) 
Marburg  1879.    Elwert'sche  Univ.-Buchh.     0,80  M. 

Die  frisch  geschriebene  Abhandlung  schildert  nach  archi- 
valischen  Quellen  Entstehung  und  Entwickelung  Marburgs. 
Markburg  oder  Margburg,  deren  Existenz  zwar  erst  c.  1120—30 
urkundlicb  belegt  werden  kann,  ist  hochstwahrscheinlich  durcli 
Herzog  Otto  von  Nordheim  1073  gegen  Heinrich  IV.  angelegt 
worden.  Der  undurchdringliche  Sumpfwald  im  Lahnthal,  welcher 
friihere  Ansiedelung  ausschloss,  schiitzte  die  neue "  Burg  treff- 
lich.  Den  Namen  hat  dieselbe  entweder  von  deni  nahen,  sich 
in  die  Lahn  ergiessenden  Marbach  erhalten,  oder  als  Markort 
zwischen  Hessen-  und  Oberlahngau.  Einer  der  altesten  Burg- 
mannen  war  der  Ketzerrichter  Conrad  von  Marburg,  einer  der 
geistig  bedeutendsten  Manner  seiner  Zeit,  der  die  Erhebung  des 
Fleckens  zum  Range  einer  Stadt  (16.  April  1227)  bewirkte.  Er 
veranlasste  auch  die  Uebersiedelung  Elisabeths  dorthin,  der 
jungen  Wittwe  Ludwigs  VI.  von  Thuringen  und  Hessen. 

Damit  begann  fiir  Marburg  eine  neue,  glanzende  Zeit.  Denn 
als  die '  fromme  Fiirstin  am  19.  Nov.  1231  starb  und  schon  am 
27.  Mai  1235  heilig  gesprochen  wurde,  stromten  hohe  und  niedre, 
reiche  und  arme  Pilger  zahlreich  nach  Marburg.  Als  1236  die 
Gebeine  der  Heiligen  aus  dem  Franciscushospital  in  die  zu  ihrer 
Ehre  gegriindete,  schone  Elisabethkirche  iibergefuhrt  wurden, 
waren  so  viele  Menschen  zusammengestromt,  dass  sie  sich,  wie 
der  Chronist  sagt,  verwunderten,  denn  so  viele  habe  man  seit 
Jahrhunderten  nicht  beisammen  gesehen.  Kaiser  Friedrich  tt. 
dessen  Hand  sie  ausgeschlagen  hatte,  schmiickte  das  Haupt  der 
Heiligen,  indem  er  sprach:  „Da  mir  nicht  vergonnt  war,  Elisabeth 
im  Leben  zur  Kaiserin  kronen  zu  diirfen,  will  ich  sie  jetzt  mit 
der  Krone  ehren  als  eine  ewige  Konigin  im  Reiche  Gottes." 
Weltliche  und  geistliche  Fiirsten  ehrten  die  Stadt  mit  zahlreicheD 
Privilegien.  So  gestattete  Martin  V.  1424,  dass  sie  die  Auf- 
hebung  des  Bannes  nicht  erst  loszukaufen  brauchte,  ja  sie  erhielt 
die  Vergunst  des  „goldenen  Jahres",  d.  h.  eine  Wallfahrt  nach 
Marburg  war  so  gut,  wie  eine  nach  Rom.  Am  Spieltage,  dem 
Sonntag  nach  Fronleichnam  ward  die  Passion,  wie  noch  heute 
in  Ober-Ammergau,  aufgefuhrt. 

Berlin.  Lie.  Dr.  Friedr.  Kirchner. 


LXI. 
Hansische  Geschichtsblatter.  Herausgegeben  vom  Verein  fur 
hansische   Geschichte.    Band  II.     (Jahrgang   1876.)    Mit 
1    Portrait,     gr.    8.     (VI,    276    u.    LX    S.)     Leipzig    1878. 
Duncker  u.  Humblot.     7,20  M. 

In  diesem  2.  Bande  der  hansischen  Geschichtsblatter*  heraus- 
gegeben von  Hanselmann,  Koppmann  und  Mantels,  liegtder 
Jahrgang    1876    vor.     Der   erste    Aufsatz    dieses    inhaltreichen 


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Hansische  Goschichtsblfitter.  257 

Bandes,  von  Leonhard  Ennen,  beschaftigt  sich  mit  dem  han- 
8i8chen  Syndikus  Heiurich  Sudermaiin  aus  Koln.  Um  die 
Mitte  des  16.  Jahrhunderts  ist  die  Mittagshohe  der  hansischen 
Macht  voriiber,  innerer  Verfall  und  Unfriede,  aussere  Be- 
driickungen  und  Feindseligkeiten  erschiittern  die  Grundlage  des 
stolzen  Baues,  mit  dem  Auf kommen  der  andern  nordischen  Machte 
und  der  Verrirtgerung  des  Verkehrsgebietes  siakt  die  politische 
Macht  der  Hanse  wie  ihre  commercielle  Bliithe  dahin.  Der 
Bund  erwarmte  sich  nicht  fiir  den  romantischen  Traum  eines 
Georg  Wullenweber,  der  die  erstere  wieder  beleben  will ;  Wullen- 
weber  fallt  unter  der  Hand  des  Henkers.  Eine  Reihe  hansiseher 
Stadte  ist  in  ihrer  Bedeutung  gesunken  und  ihrer  politischen 
Selbstandigkeit  verlustig  gegangen,  in  den  Stadten  selbst  ent- 
zweit  der  neue  Glaube  die  Burger.  Das  Gesammtinteresse 
schwindet,  der  Einzelvortheil  iiberwuchert  dasselbe  und 
so  lockern  sich  allmahlich  alle  Bande.  Der  Hanse  fehlt  die 
gegenseitig  fiir  einander  haftende  Gemeinschaft,  ihr  streng 
conservativer  Geist  versaumt  es,  sich  zu  rechter  Zeit  von 
den  alten  Traditionen  loszusagen  und  die  neuen  Elemente 
des  Weltverkehrs  zur  Umformung  ihres  ganzen  Handels- 
systems  zu  benutzen,  die  Handelsherrschaft  liber  die  Ost-  und 
Nordsee  auch  auf  das  Weltmeer,  dessen  Producte  sie  den  mittel- 
deutschen  Stadten  iiberliess,  auszudehnen.  Die  Austritts- 
erklarungen  mehren  sich,  die  Beitrage  fliessen  immer  sparlicher, 
statt  des  Hansetages  ruft  man  in  wichtigen  Sachen  das  Reichs- 
kammergericht  oder  den  Kaiser  an.  Den  drohenden  Ruin  ab- 
zuwenden  und  das  hansische  Leben  wieder  aufzufrischen,  dazu  war 
Heiurich  Sudermann  wie  geschaffeh.  In  ihm  paarte  sich 
klarer  kaufmannischer  Blick  mit  tiefer  juristischer  Bildung,  um- 
fassende  Kenntniss  der  Geschichte  und  der  Freiheiten  der  Hanse 
mit  grossem  politischen  Scharfeinne.  Wenn  er  trotzdem  seine  Auf- 
gabe  nicht  loste,  so  ist  dies  nicht  seine,  sondern  die  Schuld  der 
Verhaltnisse,  die  machtiger  waren  als  die  eminente  Kraft  und 
Energie  dieses  hansischen  Syndikus.  Einer  vermogenden  Kauf- 
mannsfamilie  in  Koln  entstammend  liess  sich  Sudermann  nach 
grosseren  Reisen  in  seiner  Vaterstadt  als  Advocat  nieder,  um 
1556  dauernd  als  Syndikus  in  die  Dienste  dor  Hanse  zu  treten. 
Im  Gegensatze  zu  Wullenweber  fasste  er  in  dieser  Stellung  den 
Plan,  die  Hanse  zu  einem  handelspolitischen  Gemeinwesen  zu 
reorganisiren,  dessen  Aufgabe  nur  die  Forderung  und  Hebung 
der  merkantilen  Interessen,  nicht  die  Erringung  politischer  Macht- 
stellung  sein  sollte.  Die  alten  Privilegien  der  Hanse  unverletzt 
zu  erhalten,  neue  zu  erwerben,  den  absterbenden  Contoren  neues 
Leben  einzuhauchen,  die  Hanse  von  den  Stadten  zu  saubern, 
die,  ohne  zu  ihr  zu  gehoren,  doch  in  fremden  Landern  die  Privi- 
legien derselben  benutzten,  das  war  die  Arbeit  seines  Lebens. 
Deshalb  ist  er  auf  den  Drittelstagen  immer  der  Hauptwortfiihrer, 
auf  den  allgemeinen  Hansetagen  imponirt  er  durch  seine  grosse 
Sachkenntniss  und  Geschaftsgewandtheit,  fiir  auswartigc  Missionen 

MtttheUuugen  n.  d.  histor.  Litteratur.     VII.  17 

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258  Hansische  (xescliicktsbl&tter. 

wird  er  als  Gesandter  verwendet,  Denkschriften  und  Rechts- 
deduktionen  holt  man  hauptsachlich  von  ihm  ein.  Seine  Haupt- 
sorge  aber  gilt  den  Contoren  von  Brugge  und  London,  weil 
diese  die  Stiitzen  des  ganzen  hansischen  Handels  und  die  Lehr- 
hauser  fiir  den  angehenden  Kaufmann  sind.  Sudermanns  rast- 
losen  Bemiihungen  war  es  zu  danken,  dass  der  Sitz  des  Coutors 
von  dem  alternden  Brugge  weg  nach  dem  neu  aufbluhenden 
Antwerpen  verlegt  ward,  freilich  zu  einer  Zeit,  wo  in  Folge  der 
Klimpfe  zwischen  den  Niederlandern  und  Spaniem  ein  lalunender 
Druck  auf  dem  Handel  lag,  und  die  Gefahren,  die  von  Seiten 
Englands  den  hansischen  Handel  geradezu  zu  vernichten  drohten, 
indem  Elisabeth  Waaren  aus  England  auszufiihren  verbot,  die 
Einfuhrzolle  erhohte  etc.,  zwar  nicht  abgewendet,  obgleich  sich 
sogar  der  Kaiser  zu  Gunsten  der  Hanse  verwendet  hatte  und  auf 
Beschluss  des  Reichstags  1582  sogar  jede  HandelsverbinduDg 
roit  England  eingestellt  worden  war,  aber  doch  etwas  gemildert 
wurden.  Dem  Antwerpener  Contor  verschaffte  Sudermann 
wahrend  des  Aufstandes  der  Niederlander  Neutralitat.  Aber 
wie  schlecht  lohnte  man  seine  Dienste!  Den  seit  seiner 
Bestallung  riickstandigen  Lohn  und  die  fiir  Reisen  etc.  ver- 
wendeten  Auslagen  enthielt  man  ihm  vor  und  schliesslich  bot 
man  ihm  fur  all  das  einen  Vergleich  an,  wonach  er  nicht  einmal 
baares  Geld,  sondern  eine  Schuldverschreibung  auf  4000  Thlr. 
erhalten  sollte.  Und  Sudermann  nahm  ihn  in  edler  Selbstver- 
leugnung  an.  Sein  Gehalt,  der  von  da  ab  jahrlich  200  Thlr. 
betragen  sollte,  blieb  auch  in  Zukunft  aus,  1589  schuldete  man 
ihm  mehr  als  23,000  Thlr.  Mit  bitterem  Schmerze  musste  er 
den  allmahlichen  Niedergang  der  Hanse  sehen,  deren  Wieder- 
erweckung  die  Kraft  seines  Lebens  gewidmet  war.  Im  Alter 
von  71  Jahren  starb  er  in  Liibeck;  in  seinem  Nachlasse  fand 
sich  das  quellenmassige  Material  zu  einer  Geschichte  des  Hanse- 
bundes  vor,  chronicon  hanseaticum  et  extractus  privilegiorom. 
Sein  Bild  ziert  diesen  2.  Band  der  Geschichtsblatter.  Dazu 
noch  5  Beilagen. 

Seite  61 — 93  bespricht  Dietrich  Schafer  die  lubeckiscbe 
Chronik  des  Hans  Reckemann.  Die  Handschrift  derselben 
wird  in  der  Hamburger  Stadtbibliothek  aufbewahrt;  der  Abdm(i 
der  Chronik  vom  Jahre  1619  ist  ganz  unbrauchbar.  Die  Chronik 
ist  in  den  Jahren  1537 — 1562  entstanden.  Reckemann  ist  Com- 
pilator,  er  hat  —  und  dies  ist  das  Werthvollste  vom  Ganzen  — 
gleichzeitige  Aktenstiicke,  Briefe,  Lieder,  Berichte  gesammelt 
und  sie  theils  selbst  abgeschrieben,  theils  Abschriften  resp.  eigne 
Arbeiten  Andrer  mit  eingeheftet,  besonders  solche  von  Gerd 
Korffmaker.  Er  folgt  von  Anfang  an  dem  Hermann  Bonnie 
als  Hauptquelle,  dem  er  sogar  den  Titel  und  die  Eintheilung  in 
3  Bucher  entlehnt.  Historisch  werthvoll  in  den  Tbeilen,  die 
nicht  von  Reckemann  selbst  herriihren,  sind  nur  die  Abschnitte 
iiber  Marcus  Meyer  und  Marten  Pechelin,  ferner  die  Nacbrichten 
iiber  die  Jahre  1539 — 1549,  die  originaler  Natur  sind.    In  W&* 

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Hansische  liesehichtsblatter.  259 

2.  Abschnitte  publicirt  Schafer  die  Erzahlung  Kortfniakers  vom 
Ende  des  gewaltigen  Seeraubers  Pechelin;  derselben  geht  eine 
dber  die  in  damaliger  Zeit  entstandene  Seerauberei  (hervorgerufen 
durch  die  mit  lubischer  Hilfe  bewirkte  Vertreibung  Christians  II. 
von  Danemark  durch  Friedrich  von  Schleswig-Holstein)  infor- 
mirende  Einleitung  voraus. 

Ueber  das  Alter  niederdeutscher  Rechtsauf- 
zeichnungen  betitelt  sich  der  3.  grossere  Aufsatz,  von  Ferd. 
Frensdorff.  Derselbe  zerfallt  in  3  Theile,  von  denen  der 
erste  die  sjchon  oft  ventilirte  Frage  nach  dem  Alter  des  Sachsen- 
spiegels  behandelt.  Eine  gute  Uebersicht  der  bisher  gewonnenen 
Resultate  leitet  dieselbe  ein.  Die  Vermuthung  Fickers,  der  als 
Anfangspunkt  fur  das  Alter  des  Sachsenspiegels  1224  hinstellt, 
wird  dadurch  hinfallig,  dass  der  Feuertod  als  Strafe  fur  Ketzerei 
in  Deutschland  nicht  erst  seit  1224,  sondern  nach  neueren 
Forschungen  schon  im  12.  Jahrhundert  erscheint;  zudem  gilt 
der  bekannte  Erlass  Friedrichs  II.  voin  Jahre  1224,  der  nicht 
schlechthin  den  Feuertod  droht,  sondern  dem  Richter  die  Wahl 
zwischen  dieser  Strafe  und  Zungenausreissen  lasst  und  den 
Sohnen  der  Ketzer  das  Erbrecht  entzieht,  fur  die  Lombardei, 
nicht  fur  Deutschland;  denn  ein  hofgerichtliches  Urtheil  Hein- 
richs  VII.  vom  Jahre  1231  bestimmt:  quod  heredes  condempnati 
bonis  ejus  deberent  hereditariis  ac  patrimonio  gaudere.  Fiir  die 
Entstehungszeit  des  Sachsenspiegels  geht  demnach  Fr.  mit  Ho- 
ineyer  bis  auf  1198  zuriick,  weil  erst  seitdem  in  Bohmen  wieder 
der  Konigstitel  gefuhrt  wurde,  unter  dem  der  Sachsenspiegel 
den  Fiirsten  dieses  Landes  kennt.  Erscheint  dies  Datum  zu 
-weit  vom  Endtermin  entfernt,  so  muss  man  sich  an  die  urkund- 
lich  beglaubigte  Lebenszeit  des  Eike  von  Repgow  halten.  Am 
fruhesten  wird  derselbe  1209,  am  spatesten  1233  erwahnt.  „Ein 
so  aus  der  Erfiihrung  erwachsenes  Werk  wie  der  Sachsenspiegel 
wird  man  richtiger  den  altereu  als  den  jiingeren  Jahren  des 
Yerfassers  zuschreiben,  und  deshalb  lieber  gegen  1233  vor- 
als  gegen  1209  zuriickschieben/' 

Eine  andere  Frage  ist  die,  in  welchem  Dialect  der  Sachsen- 
spiegel abgefasst  ist.  Urspriinglich  ist  derselbe  in  lateinischer 
Keimprosa  geschrieben  —  dies  geht  aus  der  Reimvorrede  hervor 
—  und  dann  erst  in  das  Deutsche  frei  iibertragen;  nach  den 
Handschriften  kann  man  nicht  entscheiden,  ob  zuerst  in's  Mittel- 
oder  Niederdeutsche,  da  die  Zahl  derselben  in  beiden  Dialecten 
fast  dieselbe  ist.  Fr.  beweist  nun,  dass  er  erst  niederdeutsch 
abgefasst  wurde,  weil  erstlich  am  Stammsitze  Eike's  von  Repgow 
im  13.  Jahrh.  niederdeutsch  gesprochen  wurde  (jetzt  bekanntlich 
mitteldeutsch)  und  dann  weil  die  von  einem  Verwandten  Eike's, 
einem  Repgow,  verfasste  sachsische  Weltchronik  ebenfalls  in 
niederdeutschem  Dialecte  geschrieben  ist  Demnach  sind  die 
niederdeutschen  Handschriften  wie  die  altesten,  so  auch  die  ur- 
spriinglichsten,  die  oberdeutschen  die  iibertragenen. 

Im  zweiten  Abschnitte  bespricht  Fr.  die  eine  2weite  Kategorie 

17* 

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260  Hansische  Geschichtsbliitter. 

von  Reclitsquellen  bildenden  Statute,  unter  denen  besondew  die 
Stadtrechte  eine  hervorragende  Stellung  einnehmen.  Das  Brann- 
scliweigische  Stadtrecht,  das  in  deutscher  Sprache  abgefasste 
sogenannte  privilegium  Ottonianum,  welches  die  bisher  als  die 
altesten  Stadtrechte  angesehenen  Liibecker  und  Hamburger 
Statuten  und  den  von  Fr.  als  alteste  deutsche  Handschrift  er- 
wiesenen  Elbinger  Codex  (ohngefahr  1260 — 1270)  urn  etwa 
40  Jahre  an  Alter  uberragen  soil,  und  dessen  Ursprung  in  das 
Jahr  1227  gesetzt  wird,  kann  nach  Fr.  in  dieser  Zeit  nicht  ent- 
standen  sein,  da,  abgesehen  von  andern  Griinden,  um  dieselbe 
Zeit  erst  die  jura  et  Ubertates  Indaginis,  die  Statuten  des  Hagen, 
des  Weichbildes  der  Stadt  Braunschweig,  entstanden  sind  und 
Stellen  aus  denselben  in  jenem  benutzt  sind.  Fr.  verlegt  des- 
halb  die  Entstehung  des  priv.  Ott.  in  die  Zeit  von  1250—1265. 
Die  Helmstadter  Urkunde,  welche  ebenfalls  den  Anspruch  macht, 
ein  deutsches  Stadtrecht  aus  der  ersten  Halfte  des  13.  Jahrh. 
zu  sein,  erweist  sich  als  eine  aus  dem  Ende  des  14.  oder  Anfang 
des  15.  Jahrh.  stammende,  nach  einem  lateinischen  Originate 
hergestellte  Abschrift,  das  nicht  dem  Jahre  1247  augehort, 
sondern  eine  spate  Zusammenstellung  verschiedenartiger  Be- 
stimmungen  iiber  Rechte  und  Pflichten  der  Stadt  und  des 
Abtes  ist. 

Der  3.  Abschnitt  handelt  von  den  Urkunden  und  Stadt- 
buchern.  Eingehender  beschaftigt  sich  hier  Fr.  mit  der  so- 
genannten  Liibecker  Rathswahlordnung  Heinrichs  des  Lowen;  er 
beweist,  dass  sie  kein  Privilegium  dieses  Fiirsten  ist,  sondern 
ein  aus  der  stadtischen  Autonomie  erwachsenes  Statut,  und  setzt 
ihre  Entstehung  in  den  beiden  letzten  Jahrzehnten  des  13.  Jahr- 
hunderts  an. 

Das  Gesammtresultat  der  Fr.'schen  Forschung  ist  demnach: 
erst  das  13.  Jahrh.  hat  niederdeutsche  Rechtsaufzeichnungen  auf- 
zuweisen.  Die  friihesten  sind  die  Rechtsbiicher  (im  technischen 
Sinne  des  Worts),  deren  al testes  um  1230  hervortritt.  Es  folgen 
nach  der  Mitte  des  Jahrh.  die  Stadtrechte;  die  jiingsten  sind 
die  Urkunden  und  Stadtbucher. 

Der  4.  Aufeatz  dieses  Bandes  enthalt  eine  Darstellung  der 
^Opposition  Groningens  gegen  die  Politik  MaximiliansL 
in  Westfriesland  von  Heinrich  Ulmann".  Es  ist  ein  nicht 
unwichtiger  Beitrag  zu  den  centrifugaien  Bestrebungen,  welche 
am  Ende  des  15.  und  Anfang  des  16.  Jahrh.  die  Politik  der 
Kaiser  von  alien  Seiten  her  zu  darchkreuzen  suchten. 

Kleine  Mittheilungen  bringen  Julius  Harttung, 
Dietrich  Schafer,  Karl  Koppmann  und  August  Wetzel. 
Ersterer  macht  uns  mit  einer  Stelle  „aus  einer  Schrift 
Dietrichs  von  Nieheim",  privilegia  aut  jura  imperii  (in  dem 
seltenen  Sammelwerke  Schards '  de  jurisdictione  imperii  enthalten) 
bekannt,  welchp  fur  die  Verwickelung  der  Hanse  mit  Konig 
Waldemar  Attorda^  interessant  ist.  In  „geographische 
Mi8oellen"  .erkjart   Schafer    die   im  1.  Bande  des  H.  U.  ror- 

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Hanaische  Geschichtsbliitter.  261 

kommenden  Namen:  1)  Hogge,  in  welchem  Hohlbaum  Houck  am 
Kanal  von  Zwin  nach  Damme  in  Ostflandern  sieht,  fiir  Huy  oberhalb 
Luttich  an  der  Maas.  2)  Genus,  het  Geiu,  Genemuiden  nicht 
wie  Hohlbaum  und  Koppmann  fur  Genemuiden  in  Overyssel, 
sondern  fiir  het  Gein  oder  Oudegein  bei  Utrecht.  3)  Senomanum 
in  Nr.  201  fiir  Sanctonum,  wie  wol  auch  dort  zu  lesen  sein 
wird,  also  fiir  das  jetzige  Saintes  an  der  Charente,  und  apud 
sanctum  Johannem  fur  St.  Jean  de  Mont  an  der  Kiiste  der 
Vendee.  4)  Wladislavia  Nr.  328  ist  nicht  Wladislaw  bei  Kalisch, 
sondern  Alt- Wladislaw,  das  jetzige  Wloclawek  bei  Thorn.  Ju- 
venis  Wladislavia  ist  Inowraclaw  (Jung-Breslau).  5)  Herewerde 
Nr.  5  ist  nicht  Herwen  und  Aerdt  in  Geldern,  sondern  Heere- 
warden  zwischen  Thiel  und  Saltbommel.  6)  Lurche  Nr.  464 
nicht  Lorik  bei  Neuss,  sondern  Lorik  nordwestlich  von  Wijk  bij 
Duurstede.  7)  Zu  den  Vermuthungen  iiber  Wisclemburg  Nr.  390 
fiigt  S.  noch  hinzu  die  alte  Weseborg,  Visborg  auf  Samsoe  und 
die   Wesborg     am   Marsager-Fjord    an    der    Ostkiiste   Jutlands. 

8)  Noda  Nr.  18.  53.  820  nicht  Neude  bei  Rhenen  am  Leek, 
sondern   westwarts   von  Bodengraven   in  der  Niihe  der  Nordsee. 

9)  Hjalm  Nr.  1097 — 99  nicht  Halmstad  in  Halland,  sondern  die 
kleine  Insel  Hjelm  vor  der  Halbinsel  Ebeltoft  an  der  Ostkiiste 
Jutlands.  Endlich  10)  Gellen,  Gelant,  Gellende,  Jellen,  Jellant  etc. 
nicht  die  Meerenge  zwischen  Rugen  und  Pommern,  sondern  der 
siidlichste  Theil  der  Insel  Hiddensee. 

In  Bezug  auf  letzteres  kommt  Koppmann  in  „Geland"  zu 
einem  andern  Resultat;  Koppmann  versteht  namlicli  darunter 
die  ganze  Insel  Hiddensee.  Letzteres  scheint  mir  das  Wahr- 
scheinlicbere. 

In  „neue  Druckfragmente  des  chronicon  Slavicum" 
endlich  beweist  Wetzel,  dass  die  von  ihm  im  stadtischen  Archive 
zu  Crempe  in  Holstein  aufgefundnen,  in  2  Blattern  bestehenden 
gedruckten  Fragmente  des  chronicon  Slavicum,  von  welchem  be- 
kanntlich  keine  Handschriften,  sondern  nur  edit,  princip.  des 
lateinischen  und  niederdeutschen  Textes  existiren,  und  zwar  des 
er8teren  nur  in  dem  einzigen  Exemplar  in  der  Liibecker  Stadt- 
bibliothek,  mit  den  2  ersten  der  fragmenta  Lubicensia  identisch 
3ind  und  vor  dem  20.  November  1488  gedruckt  sein  miissen. 
We  Annahme  Deecke's  und  Laspeyres',  dass  die  liib.  Fragmente 
einem  von  der  ed.  princ.  verschiedenen  Drucke  angehoren,  er- 
weist  sich  als  falsch;  einen  zweiten  alten  Druck  hat  es  nicht 
gegeben.  Die  Cremper  Fragmente  sind  Abziige  eines  ersten 
Satzes  der  ed.  princ;  wegen  der  in  demselben  enthaltenen  vielen 
Druckfehler  musste  ein  neuer  Satz  gemacht  werden,  wie  er  jetzt 
ia  der  ed.  princ.  vorliegt.  Mit  Dr.  Hasse  (Zeitschr.  fur  Schl. 
H.  Lauenb.  Gesoh.  B.  7)  nimmt  Wetzel  als  Zeit  des  Druckes 
das  Jahr  1486  an. 

Seite  185 — 276  enthalten  Recensionen  von  E.  Forstemann 
fiber  Karl  Koppmann:  das  Seebuch;  von  Dietrich  Schafer 
iiber  C.  F.  Allen:    de  tre   nordiske  rigers  historic  under 

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262  Koppmann,  Kammereirechnuugen  der  Stadt  Hamburg. 

Hans,  Christiern  den  anden,  Frederik  den  forste, 
Gustav  Vasa,  Grevefeiden  1497—1536;  von  Karl  Kopp- 
mann iiber  Dr.  Otto  Beneke:  dat  Slechtbok.  Ge- 
schlechtsregister  der  Hamburger  Familie  Moller  (vom 
Hirsch);  von  eben  demselben  iiber  Dr.  Otto  Riidiger:  altere 
Hamburgische  und  hansestadtische  Handwerks-Ge- 
sellendokumente;  iiber  D.  R.  Ehmck  und  W.  von  Bippen: 
Bremisches  Urkundenbuch,  Band  II;  iiber  August  Jugler: 
Aus  Hannovers  Vorzeit;  von  Leonhard  Ennen  iiber:  die 
Chroniken  der  deutschen  Stadte  vom  14.  bis  ins 
16.  Jahrhundert,  B.  13  und  14.  Die  Chroniken  der 
niederrheinischen  Stadte,  Coin,  2.  und  3.  Band;  von 
G.  von  der  Ropp  iiber  J.  Nanninga  Uitterdijk:  Register 
van  Charters  en  Bescheiden  in  het  oude  Archief  van 
Kampen;  von  Wilhelm  Mantels  iiber  Dr.  P.  Hasse:  Kieler 
Stadtbuch  aus  den  Jahren  1264  — 1289,  und  iiber:  Ur- 
kundenbuch  der  Stadt  Liibeck,  5.  Theil. 

Den  Recensionen  schliessen  sich  Nachrichten  vom  hansischen 
Geschichtsvereine  an  und  Berichte  iiber  die  6.  Jahresversamm- 
lung  des  hansischen  Geschichtsvereines  zu  Coin  und  Dietrich 
Schafers  iiber  die  Vorarbeiten  2ur  Herausgabe  der  3.  Abtheilung 
der  Hanserecesse.  Ein  dankenswerthes  Register  bildet  den 
Schluss  des  Bandes.  Ausstattung  wie  gewohnlich  bei  den  im 
Verlage  von  Duncker  und  Humblot  erscheinenden  Werken  vor- 
ziiglich. 

Plauen  im  Vogtlande.  William  Fischer. 


LXH. 

Koppmann,   Karl,    Kammereirechnungen    der  Stadt    Hamburg. 

Herausgegeben  vom  Verein  fiir  Hamburgische  Ge- 
schichte.  3Bande.  gr.  8°.  (CXH,  494;  VIH,  464  u.  CXLVI, 
640.)    Hamburg  1869—1878.    Hermann  Gruning.     24  M. 

•  Durch  Beendigung  dieses  3  starke  Bande  umfassenden 
Werkes  hat  Karl  Koppmann  seinen  Verdiensten  um  die  han- 
sische  Geschichtsforschung  ein  neues  zugesellt.  Neun  Jahre. 
innerhalb  deren  das  Werk  erschienen,  sind  ein  langer  Zeitraum, 
und  wer  sich  mit  der  Specialgeschichte  von  Hamburg  beschaftigt 
hatte  wol  oft  einen  etwas  rascheren  Fortgang  des  Unternehmens 
gewiinscht.  allein  wer  die  colossale  Arbeit  und  Miihe  kennt,  die 
ein  solches  erfordert,  und  andrerseits  weiss,  dass  der  Verfasser 
auch  auf  anderweitigem  Felde  riistig  gewirkt  und  geschaffen  hat, 
der  wird  demselben  aufrichtig  dankbar  sein,  dass  nun  endlich 
das  langersehnte  Werk  ganz  vorliegt.  Seit  man  der 
Erforschung  der  Geschichte  des  mittelalterlichen  Stadtewesens 
naher  getreteu  ist,  hat  man  mehr  und  mehr  die  Einsicht  er- 
langt7  dass  das  anscheinend  todte  Zahlenwerk  der  Kammerei- 
rechnungen  eine   ungeahnte  Fiille  von  lebendigen  PerspektiTen 


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Lossias .  Jflrgen  u.  Johan  Uexkiill  im  Getriebe  d.  livlandischen  Hof  loute.  263 

in  das  innere  stadtische  Getriebe  unsrer  Altvordern  oroffnet. 
Nicht  alien  Stadten  von  der  annahernden  Bedeutung  Hamburgs 
hat  das  Gliick  gerade  so  gelachelt,  wie  der  alten  Handelsstadt 
an  der  Elbe,  die  ihre  Kammereirechnungen  von  1350 — 1500  in 
ununterbrochener  Reihenfolge  hat  conserviren  konnen.  Wir  haben 
bier  in  Zahlen  die  anderthalbhundertjahrige  Entwicklung  einer 
der  bedeutendsten  Stadte  des  Nordens  vor  uns.  Einen  Abriss 
des  Werkes  fiir  diese  Blatter  zu  geben  ist  bei  der  ungeheuren 
Masse  des  Stoffs  ganz  unmoglich ;  wer  sich  aber  mit  der  mittel- 
alterlichen  Geschicbte  Hamburgs  im  engern  wie  weitern  Sinne 
beschaftigt,  wird  an  dieser  neu  aufgeschlossenen  und  nutzbar 
gemachten  Quelle  nicht  voriibergehen  konnen.  Besonders  der 
Gcschichte  des  Finanzwesens  und  der  Verwaltung,  der  Ver- 
fassung,  der  Innungen,  des  Bauwesens,  des  Miinzwesens,  des 
Realgewerberechts ,  des  Steuerwesens  etc.,  der  Topographie 
Hamburgs  werden  diese  Kammereirechnungen  zu  Gute  kommen. 
Eine  fast  ebenso  reiche  Ernte  von  diesem  reichen  Felde,  wie 
dem  Spezialhistoriker,  wird  dem,  der  sich  iiberhaupt  mit  mittel- 
alterlicher  Stadtegeschichte  beschaftigt,  und  dem  Culturhistoriker 
in  den  Schooss  fallen;  selbstverstandlich  wird  auch  der  politische 
und  der  hansische  Geschichtsforscher  nicht  leer  ausgehen,  sogar 
der  Sprachforscher  wird  aus  den  zwar  der  Hauptsache  nach 
lateinisch  geschriebenen,  doch  hin  und  wieder  auch  nieder- 
deutschen  Text  bietenden  Rechnungen  manches  edle  Metall  heben 
konnen.  Fiir  solche,  die  einen  raschen  Ueberblick  uber  das  in 
den  3  Banden  Gebotene  haben  wollen,  hat  Koppmann  in  B.  1 
und  HI  eine  mit  grossem  Fleisse  gearbeitete  ubersichtliche  Zu- 
sammenstellung  mit  begleitenden  Literaturnachweisen  und  nothig 
erscheinenden  Erklarungen  der  lateinischen  Namen  etc.  gegeben, 
Plauen  im  Vogtlande.  William  Fischer. 


Lxni. 

Lassius,  Johannes,  Jurgen  und  Johan  Uexkull  im  Getriebe  der 
livlandischen    Hofleute.     A.  u.  d.  T.:    „Drei  Bilder   aus  dem 
Livlandischen   Adelsleben    des  16.  Jahrhunderts.     II.  Bd.u     8. 
(192  S.)     Leipzig  1878.     Duncker  u.  Humblot.     4  M. 
Die    Periode   des   Untergangs    der  Selbstandigkeit   des   liv- 
landischen Ordensstaates  zeigt  wenig  erhebende  Momente;    der 
nackteste    Egoismus    beseelt    die  Gesammtheit  des  livlandischen 
Adels  und  jeder   sucht  aus  dem  Schiffbruch  moglichst  viel  fiir 
sich   zu    erraffen.     Patriotismus   kennt   dieser   von   den  Lastern 
seiner  Zeit   angefressene  Adel   nicht,   politische   und   moralische 
Versumpfung    ist  bei  ihm  eingerissen,  apres  nous  le  deluge  ist 
seine  Devise.     Eine  ehrenwerthe  Ausnahme  unter  diesen  erbarm- 
lichen  Leuten  macht  Johan  Uexkull.     Lossius  schildert  die  patrio- 
tischen  Bemiihungen  desselben  und  man  kann  nicht  leugnen,  dass 
diese  Gestalt  einen  wohlthuenden  Contrast  zu  dem  UbrigenAdel 
bildet;    Jurgen    tritt    neben    Johan    nur    wenig    hervor.      Das 


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264     Janssen,  Gosch.  d.  deutschen  Volkes  seit  dem  Ausgang  d.  Mittelalters. 

Material    zu    dieser   Arbeit   bot  hauptsachlich   das   Uexkiilkche 
Familienarchiv  zu  Fickel. 

Ah    Beitrag   zur    Geschichte    des    Untergangs   livlandischer 
Selbstandigkeit   und   als  Sittenbild   damaliger  Zeit   verdient  die 
Schrift  immerhin  Beachtung. 
Plauen  im  Vogtlandc.  William  Fischer. 

LXIV. 
Janssen,  Johannes,   Geschichte  des  deutschen  Volkes  seit  dem 
Ausgang  des  Mittelalters.    1.  Band.    II.  Abtheilung  (Liefe- 
ruug     4-6)       gr.     8.       (XVIII    u.     S.     265—615.)      Frei- 
burg i.  Br.  1878.     Herder'sche  Verlagsbuchhandlung.     3,90  M. 

Von  dem  auf  sechs  Bande  berechneten  Werke  ist  die  erste 
Abthlg.  des  1.  Bandes  im  4.  Heft  des  5.  Jahrgangs  dieser  Mit- 
theilungen  besprochen  worden,  und  es  kommen,  was  den  all- 
gemeinen  Standpunkt  des  VerfaBsers,  seine  spezifisch  katholische 
Auffassung  der  Ereignisse  anlangt,  die  dort  hervorgehobnen 
Bedenken  wieder  zu  Tage :  iiberall,  wo  die  Konfession  unbetheiligfc 
ist,  erhebt  sich  der  Darsteller  auf  Grund  ausserordentlicher  Be- 
lesenheit  und  zum  grossen  Theil  selbstandiger  Forschung  zu 
lichtvoller  Darstellung ;  da  aber,  wo  die  konfessionelle  Auffassung 
auch  nur  in  Frage  kommt,  wird  ein  Herabziehen  der  gegneriscben 
Auffassung  nicht  unterlassen,  wenn  es  auch  gar  nicht  in  den 
Rahmen  der  ubrigen  Erzahlung  passt. 

Die  vorliegenden  drei  Hefte  umfassen  im  3.  und  4.  Boch 
Deutschlands  wirthschaftliche,  rechtliche  und  politische  Zustande 
beim  Ausgang  des  Mittelalters  und  sind  mit  einem  den  Ge- 
brauch  erleichternden  Personenregister  ausgestattet.  Das  3.  Buch 
^Volkswirthschaft"  enthalt  drei  Unterabtheilungen :  a.  das 
landwirthschaftliche,  b.  das  gewerbliche  Arbeitsleben,  c.  den 
Handel  und  die  Kapitalwirthschaft. 

Nachdem  zum  Anschluss  an  die  Bluthe  der  deutschen 
Wissenschaft  und  Kunst  die  der  Volkswirthschaft  in  Parallele 
gestellt  ist,  wird  liber  Besitzvertheilung  und  Anbau  von  Grand 
und  Boden,  iiber  die  Formen  der  bauerlichen  Ansiedlungen, 
iiber  Feld-  und  Waldgemeinschaft,  iiber  Forstwirthschaft  eine 
Fiille  zum  Theil  noch  nicht  veroffentlichter  Details  beigebracbt. 
Wenn  auch  der  Hauptsache  nach  dieselben  Resultate  von  Spezial- 
for8chern  gefunden  sind,  so  von  Maurer  Dorfverfassung,  Grimm 
Recht8alterthiimer,  Roscher  Ackerbau,  so  macht  doch  das  ge- 
schickte  Hereinziehen  der  Originalcitate  selbst  die  bekannteren 
Erscheinungen  interessant.  In  ahnlicher  Weise  wird  der  Grnnd- 
besitz  und  das  landliche  Wirthschaften  in  den  kleineren  Stadten 
beschrieben,  und  iiber  die  Preise  der  Friichte  und  des  Viebes 
einige  Daten  beigebracht,  die  bisher  nicht  aUgemein  bekannt 
waren,  und  welche  iiber  die  ausserordentlich  viel  grossere  Wohl- 
habenheit  auch  der  bauerlichen  Bevolkerung  vor  dem  16.  Jahrh. 
einen  Zweifel  nicht  aufkommen  lassen. 

Selbst  fiir  die  Bauernkiiche  wurden  ahnliche  beschrankende 


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JanweD,  Gesch.  d.  deutschen  Volkes  seit  dem  Ausgang  d.  Mittelalters.     265 

Bestimmungen  nothig,  wie  sie  sonst  nur  flir  die  Stadte  erlassen 
wurden.  Verdiente  der  Tagelohner  auch  nur  wochentlich  6  bis 
8  Groschen,  so  konnte  er  dafiir  in  Leipzig  Rock,  Hose,  Juppe 
und  Kugel  (Hut)  davon  bezahlen.  Es  entsprach  also  der  ver- 
haltnissmassig  gut  bezahlten  Arbeit  Massigkeit  der  Preise.  Aber 
unmittelbar  darauf  wird  iiber  die  entschwundene  gute,  wohlfeile 
Zeit  geklagt,  da  der  tagliche  Arbeitslohn  nur  urn  etwa  6  Pfennige 
holier  wurde,  dagegen  der  Preis  des  Roggens  von  6  Groschen 
4  Pfennigen  per  Scheffel  auf  24  Groschen  stieg. 

Die  zweite  Unterabtheilung,  das  gewerbliche  Arbeitsleben, 
ftihrt  dos8en  Entstehen  auf  das  Verdienst  der  Kloster  und 
Bischofe  zuriick,  zeigt  die  Entwicklung  der  Ziinfte  und  die 
Bliithe  des  ziinftigen  Handwerks,  zeigt,  wie  die  Innungen  nicht 
nur  Genossenschaften  zum  Zweck  und  Schutz  des  Erwerbes 
waren,  sondern  urspriinglich  „Briiderschaften"  oder  „innige 
Vereine,  deren  Genossen  alle  briiderliche  Liebe  und  Treue  als 
eine  wahre,  rechtmassige  Gemaine  nach  eines  jeden  Vermogen 
theilen".  Der  Verfasser  fuhrt  dann  aus  der  Verbindung  der 
Arbeit  mit  der  Religion  und  Kirche  fur  jede  Zunft  den  Charakter 
einer  „religiosen  Korperschaft"  her,  vermag  aber  dafiir  kaum 
anderes  anzufuhren,  als  Kriegk,  Maurer,  Henne,  Scherr  etc.  fur 
ihre  zum  Theil  entgegengesetzte  Auffassung  geltend  gemacht 
haben. 

Interessant  ist  die  Ausfuhrung  iiber  die  Stellung  der  Ge- 
sellen  und  ihre  Standesehre,  deren  Wahrung  zu  Arbeitsein- 
stellungen,  den  modernen  Strike's  in  zah  konsequenter  Weise 
die  Veranlassung  bot,  so  dass  z.  B.  1495  zu  Kolmar  die  Backer- 
gesellen  zehn  Jahre  lang  die  Arbeit  in  Verruf  erklarten,  und 
erst  1505  eine  die  Gesellen  befriedigende  Entscheidung  gefallt 
wnrde.  Im  Jahre  1475  haben  sogar  die  Blechschmiedegesellen 
durch  den  Verruf  den  sie  iiber  die  Meister  in  Niirnberg  aus- 
spraohen,  durchgesetzt,  dass  das  Gewerk  der  Blechschmiede, 
eines  der  altesten  und  angesehensten  hi  der  Stadt,  so  herunter- 
kam,  dass  aus  demselben  kein  Mitglied  mehr  zum  Rathe  gezogen 
werden   konnte   und  allmalig  dort  das  ganze  Handwerk  einging. 

Ueber  die  giinstige  materielle  Stellung  der  gewerblichen 
Lohnarbeiter,  iiber  die  Ergiebigkeit  des  Bergbau's,  den  Reich- 
thum  an  Gold  und  Silber  in  Deutschland  ist  bei  Fischer,  Gesch. 
des  Handels,  Achenbach  in  der  Ztschrft.  fur  Bergrecht  u.  A. 
ebenso  ausfuhrlich  gehandelt,  wenn  auch  nicht  so  iibersichtlich 
zu8ammeuge8tellt  worden.  —  Die  dritte  Abtheilung  umfasst  den 
Handel  imd  die  Kapitalwirthschaft,  und  nimmt  der  Verfasser  fiir 
die  gesonderten  kaufmannischen  Innungen  dieselbe  hohe  Auf- 
fassung in  ihren  religios  sittlichen  Zwecken,  der  Verpflichtung 
gogenseitiger  Unterstiitzung  der  Mitglieder,  in  Anspruch;  ein 
Anspruch,  der  allgemein  vielleicht  far  friihere  Zeiten,  aber  nicht 
fiir  das  15.  Jahrhundert  zugestanden  werden  kann.  In  hoherera 
Sinne  aber  als  fiir  die  Stellung  der  kaufmannischen  Genossen- 
8chaften  im  Mutterlande  passt  diese  Auffassung  fur  die  Gesammt- 

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266     Janssen,  Gesch.  d.  deutschen  Volkes  seit  dem  Ausgang  d.  MittelaltcR. 

vereine  deutscher  Kaufleute  im  Ausland,  ndie  gemaine  deutsche 
Hanse",  deren  Einrichtungen  wie  in  London,  besonders  aber  in 
Bergen,  eine  vollstandige  Erziehung  ihrer  Mitglieder  im  Auge 
naben. 

Mit  besonderer  Vorliebe  Yerweilt  Herr  Janssen  bei  der 
Scbilderung  der  damaligen  Machtstellung  Deutschlands  als  Mittel- 
punkt  des  Welthandels,  hebt  aber  auch  aus  vielen  handschrift- 
lichen  Belegen  die  iible  Wirkung  des  schnell  gewonnenen 
Reichthums  hervor,  Luxus,  Ueppigkeit,  Wucher  etc.  unter  ge- 
schickter  Hereinziehung  von  Ausspriichen  der  Sittenrichter  ihrer 
Zeit,  Brant's  und  Geiler's  von  Kaisersberg.  Darnach  erbringt 
der  Verf.  in  breiter  Ausfuhrlichkeit  den  Nachweis,  dass  diese 
Ausschreitungen  in  direktem  Gegensatz  zu  der  kirchlichen 
Volkswirthschaftslehre  standen,  eine  Wahrheit,  die  auch  der 
Gegner  der  katholiscben  Lehre  ebenso  wenig  bezweifelt,  als 
die  nicbt  von  dem  Verf.  gezogne  Consequenz,  dass  die  lutherische 
Reformation  unnothig  gewesen  sei,  wenn  die  Misbrauche  in 
der  Kirche  nicbt  die  Oberhand  iiber  die  reine  Lehre  ge- 
wonnen  hatten.  Weniger  gliickt  Herrn  Janssen  die  Entkraftung 
von  Ranke's  Behauptung,  Eck  habe  in  einer  Disputation  zu  Bo- 
logna den  Wucher  vertheidigt:  eine  Beriicksichtigung  des  1.  Bandes 
von  Scheurls  Briefbuch  hatte  die  lange  Auseinandersetzung  un- 
nothig gemacht.  Ebenso  wenig  leuchtet  dem  unbefangnen  Leser 
die  Richtigkeit  des  Satzes  ein,  „der  Abfall  von  den  kirchlichen 
Grundsatzen  verschuldete  den  Ruin  der  arbeitenden  Menschen: 
er  schuf  das  Proletariat  der  neueren  Zeit." 

Das  4.  Buch  schildert  „das  Reich  und  dessen  Stellung  nach 
Aussen"  in  vier  Unterabtheilungen.  Die  erste  derselben  „Ver- 
fassung  und  Recht"  fiihrt  die  allmalige  Entstehung  beider  unter 
Beniitzung  der  Rechtsquellen  geschickt  durch,  weiss  aber  auch 
ebenso  geschickt  durch  Interpretation  kirchlicher  Urkunden  vie 
der  Bulle  Unam  sanctam  des  Papstes  Bonifacius  VIII.  die  gegen 
den  modernen  Staat  geriehtete  Spitze  derselben  abzubrechen. 
Im  grossen  und  ganzen  stiitzt  sich  hierbei  der  Verf.  auf  die 
Ausluhrungen  Pickers  in  seinem  deutschen  Konigthum  und 
Kaiserthum. 

Die  schadliche  Wirksamkeit  der  Einfiihrung  des  romischen 
Rechts  wird  in  der  zweiten  Abtheilung  des  4.  Buchs  in  patrio- 
tischer  Weise  betrachtet,  dabei  aber  die  ReformvorschlSge  des 
schon  friiher  hervorgehobnen  NikoL  v.  Cues  zu  hocb  veranschlagt 

Die  dritte  Unterabtheilung  „auswartige  Verhaltnisse  und 
Reichseinheitsversuche"  unter  Maximilian  I.  ist  in  ihrer  Dar- 
stellung,  wie  schon  die  vorige,  vielfach  aus  bisher  nicht  ver- 
offentlichtem  handschriftlichen  Material  erbaut,  einem  Material 
welches  haufig  Parteischriften  entnommen,  erst  durch  Mit- 
beniitzung  der  gegnerischen  Auffassung  von  einseitigen  zu  objectiv 
richtigen  Resultaten  fuhren  kann.  Bei  der  SchMerung  Maxi- 
milians ware  Herr  J.  unter  Benutzung  der  Forschungen  Kliipfeb 
zu   einem    weniger  glanzenden  Bilde  gekommen.     Die  Schuld  an 


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v.  Zwiedineck-Siidcnhorst,  Ueber  den  Versuch  ciner  Translation  etc.    267 

dem  Misgliicken  von  dieses  letzten  Ritters  Reformversuchen  wird 
allzu  ausschliesslich  auf  die  engherzige  und  sondersiichtige  Politik 
der  Fiirsten  und  Reichsstadte  gewalzt  und  dabei  unberiicksichtigt 
gelassen,  dass  eben  dieser  Fiirsten  und  Reichsstadte  Misstrauen 
durch  Maximilians  nicht  weniger  egoistisches  Verfahren  gerecht- 
fertigt  ward.  Richtiger  geschildert  wird  im  Gegensatz  zu  der 
poetischen,  durch  Goethe  allgemein  gemachten  Auffassung  Gotz 
v.  Berlichingens  Verhaltniss  zur  Reichsgewalt ,  dagegen  ist 
Sickingen  allzu  einseitig  als  Strassenrauber  ohne  edlere  Plane 
und  als  Verrather  am  Reich  skizzirt.  Ebenso  wird  bei  dem 
vierten  Abschnitt  des  4.  Buchs  „Gebahren  des  Fiirstenthums  bei 
der  neuen  Konigswahl"  den  politischen  Verhaltnissen,  die  zur 
Wahl  Karls  V.  drangten,  weniger  Rechnung  getragen,  als  ein 
so  wichtiger  Geschichtsabschnitt  es  verlangt,  und  es  werden 
mehr  personliche  Motive  in  den  Vordergrund  gestellt,  besonders 
ungiinstige  seitens  der  brandenburgischen  Fiirsten,  wie  Albrecht 
Achilla,  Joachims  I.  und  Albrechts  von  Mainz,  wahrend  diese 
doch  nicht  mehr  und  nicht  weniger  ihr  Specialinteresse  im  Auge 
hatten  als  alle  andern  damaligen  Reichsstande  und  besonders 
die  Habsburger  selbst.  Dagegen  wird  die  Wahl  Karls  V.,  des 
Spaniers,  „auf  die  Anhanglichkeit  des  Volkes  (!)  an  das  habs- 
burgische  Haus"  zuriickgefiibrt. 

Schliesslich  wird  in  einem  Riickblick  und  Uebergang  eine 
Umschau  gehalten  iiber  das  geistige,  politische,  rechtliche  und 
wirthschaftlich  -  sociale  Leben:  es  wird  zwar  richtig  „auf  die 
grossen  Gegensatze  im  Leben  des  Volkes  auf  religios  kirchlichem 
Gebiet"  hingewiesen,  die  Verweltlichung  des  Klerus  eingeraumt, 
die  Untergrabung  der  kirchlichen  Autoritat  durch  die  gebildeteren 
Humanisten  zugegeben,  trotz  alledem  aber  die  Behauptung  er- 
hoben,  „es  stehe  die  Kirche  in  Deutschland  (unmittelbar  vor  der 
Reformation)  in  voller  Lebenskraft,  es  bewahre  sich  glanzend 
der  christkatholische  Sinn  und  die  fromme  Andacht  in  alien 
Standen  des  Volkes,  in  den  Familien  und  Genossenschaften". 

Konr.  Schottmuller. 


LXV/ 
v.  Zwiedineck-Slidenhorst,  Dr.  H.,  Ueber  den  Versuch  einer 
Translation  des  deutschen  Ordens  an  die  ungarische  Grenze. 

(Aus  „Archiv   f.  ostr.  Gesch.")     Lex.  8.    (43   S.)    Wien    1878. 

C.  Gerold's  Sohn.  0,60  M. 
Herr  Zw.-S.  ist  zu  der  vorliegenden  Abhandlung,  die  aus 
dem  Arch.  f.  ostr.  Gesch.  LVI,  2  separat  abgedruckt  ist,  ver- 
anlasst  worden  durch  eine  umfangreichere  Arbeit,  die  er  iiber 
das  Vertheidigungswesen  Innerostreichs  und  Ungarns  gegen  die 
Tiirken  im  XVI.  Jh.  vor  hat :  denn  die  grosse  Gefahr,  in  welcher 
die  ostreichischen  Lander  damals  unausgesetzt  vor  dem  kuhnen 
FeiDde  schwebten,  liess  auch  den  Gedanken  auftauchen,  den 
deutschen  Ritterorden  wieder  seiner  urspriinglichen  Bestimmung 
,  zuruckjsugeben ,    indem   man   ihn   zum   Wachter   der   ungarisch- 

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268     v«  Zwiedineck-Siidenhorst,  Ueber  den  Versuch  einer  Translation  etc 

ostreichischen  Grenze  machte.  Dieser  Plan,  den  Kaiser  Maxi- 
milian II.  fasste  und  noch  am  18.  Sept.  1576  dem  Reichstage 
zu  Regensburg  —  seinem  letzten  —  vorlegte,  war  zwar  nicht 
ganz  unbekannt,  da  Venator,  Histor.  Bericht  von  Marianisch- 
teutschen  Ritter- Orden  S.  468  ff.  und  Valvasor,  Ehre  des 
Herzogtbums  Krain  lib.  XII  c.  48,  einiges  iiber  ihn  mittheilen, 
aber  ibre  Nachrichten  sind  doch  sehr  diirftig  oder  geradezu  un- 
richtig.  Hr.  Zw.-S.  hat  dagegen  das  Archiv  des  bekanntlich  in 
Oestreich  noch  heutzutage  fortbestehenden  Deutschen  Ordens  und 
das  steirische  Landesarchiv  benutzen  konnen  und  ist  somit  im 
Stande,  die  eingehendsten  Details  iiber  Entstehen  des  Plans  und 
sein  Schicksal  vor  dem  Reich  und  in  dem  Orden  selbst  zu  geben. 
Nach  dem,  was  der  Verf.  S.  41  ff.  iiber  die  Anerbieten  mittheilt, 
die  in  den  J.  1627  und  1662  der  Orden  selbst  hinsichtlich  der 
Vertheidigung  der  Grenze  gegen  die  Tiirken  machte,  geht  hervor, 
dass  der  Gedanke  des  Kaisers  keineswegs  phantastisch  war,  wie 
denn  auch  der  Reichstag  seine  Ausfiihrung  empfahl  und  der 
einsichtigste  aller  Ordenscomthure,  Johann  y.  Cobenzl,  sich  dafiir 
aussprach,  indem  er  in  cinem  se^r  interessanten,  fast  vollstandig 
mitgetheilten  Gutachten  alle  Moglichkeiten  griindlich  erwog  und 
eingehende  Vorschlage  zur  praktischen  Durchfiihrung  des  Plans 
machte.  Allein  dem  Orden  war  der  ritterliche  Geist,  welcher 
als  der  dem  Orden  gebiihrende  im  XVII.  Jh.  wieder  deutlich  an- 
erkannt  wird,  ganzlich  abhanden  gekommen:  nach  vielen  Ver- 
suchen,  die  definitive  Beschlussfassung  beim  Reichstage  hinaus- 
zuschieben,  und  nach  anderweitigen  Intriguen  lehnte  das  Ordens- 
capitel  den  Vorschlag  mit  Riicksicht  auf  das  geschmalerte  Ver- 
mogen  des  Ordens,  der  iibrigens  zum  Schutz  der  septentrionalen 
Grenzen  gestiftet  sei,  am  15.  April  1578  ab,  indem  er  vielmehr 
die  Riicker8tattung  der  ihm  verloren  gegangenen  Lander  Lievlaiwi 
und  Preussen  so  wie  anderer  eingezogener  Besitzungen  verlangte: 
erhalte  er  diese  zuriick,  so  werde  er  vielleicht  die  Mittel  haben, 
etwas  zur  Bekampfung  der  Tiirken  beizutragen.  —  Nach  dieser 
Ablehnung  liess  Rudolf  II.  das  Project  fallen :  dass  spater  die  obeii 
erwahnten  Anerbieten  des  Ordens  selbst  nicht  zur  Ausfiihrung 
kamen,  hatte  fur  1627  seinen  Grund  in  den  deutschen  Kriegs- 
verhaltnisson,  fiir  1662  in  dem  bevorstehenden  Frieden.  —  Zum 
Schluss  sei  noch  iiber  das  Gutachten  Cobenzls  bemerkt,  dass  es 
ganz  den  milden  Geist  Maximilians  II.  athmet  und  auf  gegen- 
seitige  Toleranz  der  Religionsparteien  dringt:  Cobenzl  will  auch 
Protestanten  in  den  Orden  aufgenommen  haben  und  diesen  in 
manchen  Puncten  reformirt  sehen.  —  Uebrigens  ist  dieser 
Cobenzl,  den  Ferdinand  II.  erst  adelte  und  dem  Orden  octroyirte, 
urn  ihm  eine  eintragliche  Stelle  zu  verschaffen,  doch  wohl  der 
Ahnherr  der  noch  heut  in  Oestreich  bluhenden  Familie,  die  dem 
Kaiserstaate  zwei  Staatsmanner  gab,  insbesondere  den,  der  den 
Frieden  zu  Campo  Formio  und  den  zu  Luneville  schloss.  — 
S.  17  erklart  der  Verf.  Widerspill  =  Knotenpunct.  Es  bedeutet 
aber   nach   mittelhoch deutschen  Analogien   nur  „Gegensatxw,  . 

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Morel-Patio,  L'Espagne  au  XVI »  et  au  XVII«  siecle.  269 

in  dem  vorliegenden  Zusammenhange  „gegensatzliche  Lage",  wie 
S.  18  „in  Mitterspil"  =  „in  der  Mitte"  vorkommt. 

Die  kleine  Schrift  sei  der  Lecture  bestens  empfohlen. 
Berlin.  Edm.  Meyer. 

LXVI. 
Kirchner,  Dr.,  Elsass  im  Jahre  1648.  Ein  Beitrag  zur  Terri- 
torialgeschichte.  (Programm  der  Stadt.  Realsclnde  I.  0.  zu 
Duisburg  1878.)  Elsass  imJahrel64 8.  Entworfen  von 
Dr.  M.  Kirchner.  Duisburg,  in  Commission  bei  Raske.  (Karte 
1:320,000.) 
Die  Programmabhandlung  ist  im  wesentlichen  die  Erlauterung 
zu  der  Karte  des  Verfassers.  Mit  ungemeinem  Fleisse  hat  der- 
selbe  nicht  nur  die  gesammte  einschlagende  Literatur  erschopfend 
benutzt,  sondern  auch  ein  hochst  wichtiges  Manuscript  der 
Strassburger  Universitats  -  Bibliothek  „Memoires  sur  l'estat 
<T  Alsace",  welches  auf  Befehl  von  Charles  Colbert,  marquis  de 
Croissy,  Intendant  des  Elsasses  unter  Mazarin  abgefasst  wurde, 
zur  Verfiigung  gehabt.  Der  erste  Theil  der  Abhandlung  giebt 
eine  historische  Einleitung  und  zeigt  den  geographischen  Zustand 
des  Elsasses  unmittelbar  vor  dem  westphalischen  Frieden,  der 
zweite  zahlt  die  Gebiete  auf,  welche  auf  Grund  desselben  an 
Frankreich  abgetreten  sind.  Zum  ersten  Theile  gehort  die  Haupt- 
karte,  zum  zweiten  die  Nebenkarte  im  Massstabe  von  1:1,600,000. 
Obwohl  Frankreich  schon  eine  Reihe  von  Jahren  fast  das  ganze 
Elsass  besetzt  hatte,  so  hat  der  Verfasser  doch  absichtlich  das 
Jahr  1648  gewahlt,  weil  erst  nach  der  Ratification  des  Friedens 
dieser  Besitz  rechtlich  anerkannt  wurde.  Die  Karte  ist  auf  der 
topograpliischen  Grundlage  der  franzosischen  Generalstabskarte 
(1 :  80,00  0)  construirt  und  zeigt  in  tadellosem  Buntdruck  47  ver- 
schiedene  Territorien,  sowie  die  Namen  sammtlicher  selbstandiger 
Orte  nach  deutscher  Schreibung.  Das  Flussgebiet  ist  vollstandig 
aufgenommen,  dagegen  das  Gebirge  der  grosseren  Deutlichkeit 
wegen  mit  Recht  fortgelassen.  Mit  welcher  Sorgfalt  der  Ver- 
fesser  bei  der  Construction  dieser  ungemein  schwierigen  karto- 
graphischen  Darstellung  verfuhr,  ergiebt  sich  aus  seiner  eigenen 
Darlegung  (Abh.  51—2)  iiber  die  von  ihm  hierbei  befolgten 
Principien,  und  wir  begrussen  daher  dieselbe  als  eine  hochst 
schatzenswerte  Bereicherung  der  historischen  Goographie  des 
Reichslandes. 

Berlin.  Ernst  Fischer. 

LXVII. 
Morel-Fatio,  Alfred,   L'Espagne  au  XVI"  et  au  XVII-  siecle. 

Documents    historiques    et    litteraires.    gr.    8.     (XI,    696    S.) 

Heilbronn  1878.     Henninger  fibres.    20  M. 

Die  innere  Geschichte  Spaniens  im  sechzehnten  und  sieb- 
zehnten  Jahrhundert  ist  trotz  der  mannichfachen  iiber  diesen 
Zeitraum  veroflfentlichten  Arbeiteh  noch  wenig  bekannt.    Wahrend 

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270  Morel-Fatio,  L'Espagne  au  XVI©  et  aa  XVII«  siecle. 

man  die  diplomatischen  niid  militarischen  Ereiguisse,  die  Spanien 
in  diesen  wichtigsten  beiden  Jahrhunderten  seines  nationalen 
Daseins  betroffen  haben,  fast  erschopfend  behandelt  hat,  ist  das 
innere,  so  zu  sagen  intime,  Leben  des  Volkes  wahrend  derselben 
theils  nur  oberflachlich,  theils  doch  nur  bruchstiickweise  dar- 
gestellt  worden.  Diesen  Mangel  abstellen  zu  helfen,  ist  das  Eel 
der  vorliegenden  Sammlung.  Nicht  ihn  ganzlich  abzustellen; 
denn  die  Publikation  des  Herrn  Morel-Fatio  ist  keineswegs,  wie 
ibr  Titel  vermuthen  lassen  konnte,  eine  systematische  BeleuchtuDg 
der  Kulturgeschichte  Spaniens  in  der  auf  dem  Titel  genannten 
Epoche,  sondern  lediglich  eine  etwas  zufallig  an  einander  ge- 
fiigte  Reihe  von  Aktenstiicken  zu  diesem  Zwecke.  Aber  in  dieser 
Einschrankung  hat  der  Herr  Herausgober  der  historischen  Wissen- 
schaft  einen  wichtigen  und  dankenswerthen  Dienst  geleistet.  Es 
ist  in  der  That  eine  Fulle  von  Belehrung,  die  er  uns  hier  er- 
schliesst,  beruhend  auf  zuverlassigen  und  unabsichtlichen  Zeug* 
nissen,  hochst  werthvoll  fur  jeden,  der  sich  mit  der  innern  Ge- 
schichte  der  Pyrenaenhalbinsel  zu  beschaftigen  haben  wird. 
Freilich  sind,  wie  wir  sehen  werden,  nicht  alle  Bestandtheile  des 
stattlichen  Bandes  von  gleichem  Werthe,  allein  es  ist  doch  wemg 
darunter,  was  man  ganz  ausscheiden  mochte.  Die  eigenen  Zc- 
thaten  des  Herausgebers  sind  sehr  schatzenswerth.  Trefflich 
und  mit  grosser  Sachkenntniss  geschriebene  Einleitungen  zu  jedem 
der  Schriftstucke  machen  uns  mit  dem  Zusammenhange,  in  den 
die  letztern  gehoren,  bekannt,  klaren  iiber  deren  wissenschaft- 
liche  Bedeutung  auf  und  schildern  ihre  Provenienz.  Sehr  dankens- 
werth  sind  ferner  die  zahlreichen  Anmerkungen  des  Herausgebers, 
die  nicht  allein  zwar  knappe,  aber  —  mit  geringen  Ausnahmen 
—  zuverlassige  •  Auskunft  iiber  die  in  den  Texten  erwalmten 
Personlichkeiten  geben,  sondern  auch  den  Forscher  auf  die 
wichtigsten  Werke  iiber  die  dort  behandelten  Gegenstande  hiD- 
weisen.  Dem  Danke  fur  den  Herausgeber  miissen  wir  iibrigeiis 
auch  den  fur  die  Verleger  hinzufugen,  die  es  gewagt  haben,  in 
der  jetzt  fur  den  Buchhandel  so  ungiinstigen  Zeit  ein  Spezial- 
werk  von  nicht  unbedeutendem  Umfange  in  so  schoner  Aus- 
stattung  dem  gelehrten  Publikum  vorzulegen. 

Die  Aktenstiicke  sind  zum  grdssten  Theile  den  Bibliotheksi 
und  dem  Nationalarchive  in  Paris  entlehnt.  Dazu  kommwi 
einzelne  Beitrage  aus  der  Bibliothek  von  Madrid,  dem  Archie 
von  Simancas,  der  herzoglichen  Bibliothek  in  Wolfenbiittel  etc. 
Es  wundert  uns,  dass  der  Herr  Herausgeber  die  Reichthumer 
des  pariser  Nationalarchives,  in  das  bekanntlich  ein  grosser  Theil 
des  Archivs  von  Simancas  iibergesiedelt  ist,  nicht  ausgiebiger 
benutzt,  und  ebenso,  dass  er  das  briisseler  konigliche  ArchiY  und 
die  dortige  Bibliotheque  de  Bourgogne  nicht  in  den  Kreis  seiner 
Forschungen  gezogen  hat.  Es  steht  ihm  hier  fiir  seine  Aufgabe 
noch  reiches  Material  zu  Gebote. 

Die  Wiedergabe  der  Texte  lasst  an  Korrektheit  wenig  z« 
wiinschen   iibrig,    aber   die  Methode   derselben  kann  Ref.  ni^W 

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Morel-Fatio,  LTEspagne  au  XVIe  et  au  XVIIe  siecle.  271 

ganz  billigen.  Der  Herausgeber  reproducirt  die  Texte  genau 
nach  ihrer,  im  16.  und  17.  Jahrbundert  so  willkiirlichen  Ortho- 
graphie;  allein  die  Interpunktionszeichen  und  Accente  setzt  er 
nach  modernem  Gebrauche.  Dies  scbeint  uns  unkonsequent. 
Entweder  man  traut  dem  Leser  so  viele  linguistiscbe  und  palao- 
graphische  Kenntnisse  zu,  um  die  Schreibweise  jener  Jahrhunderte 
zu  versteben ;  oder  nicht.  Im  ersten  Falle  miisste  man  gar  keine 
Veranderungen  mit  dem  Texte  vornehmen,  im  zweiten  ihn  in 
der  aussern  Form  ganz  modernisiren.  Aber  die  Schreibweise, 
me  sie  dem  Herausgeber  beliebt,  ist  ein  Zwitterding,  das  weder 
von  der  damaligen  nocb  von  der  beutigen  Orthographic  ein  Bild 
giebt  und  den  Leser  verwirrt. 

Das  erste  Aktenstiick  des  Bandes  ist  eine  „Denkschrift, 
welche  Inigo  Lopez  des  Mendoza  Marques  von  Mondejar  dem 
Konige  Philipp  II.  uberreichte".  Unter  alien  Episoden  der  langen 
Kegierung  Philipp  II.  ist  der  Aufstand  der  Morisken  im  Konig- 
reiche  Granada  in  den  Jahren  1569  bis  1571  ohne  Zweifel  eine 
der  wichtigsten  und  zugleich  bekanntesten.  Wir  besitzen  dariiber 
ausfuhrliche  Werke  von  Zeitgcnossen,  sowie  die  Korrespondenz,  die 
Don  Juan  &' Austria  iiber  seine  Feldziige  gegen  die  Aufstandischen 
mit  dem  Konige  und  den  Ministern  fuhrte.  Der  Marques  von 
Mondejar  wurde  bekanntlich  bald  nach  dem  Ausbruche  desAuf- 
ruhres  durch  die  klerikale  Hoipartei  von  seinem  Posten  als 
Generalkapitan  des  Konigreiches  Granada  entfernt,  weil  er  zu 
milde  und  schonend  mit  den  unglucklichen  Morisken  umgegangen 
war.  Es  ist  immer  interessant,  die  Selbstrechtfertigung  eines  so 
hervorragenden  und  edlen  Mannes  vor  Augen  zu  haben,  wenn 
auch  unsere  historische  Kenntniss  nicht  gerade  viel  durch  das 
eilfertig  entworfene,  mit  zahlreichen  Fehlern  und  Liicken  be- 
haftete  Aktenstiick  gewinnt.  Dasselbe  wurde,  wie  der  Heraus- 
geber iiberzeugend  nachweist,  in  dem  Zeitraume  von  Ende  April 
bis  zum  Juli  1570  dem  Konige  iiberreicht. 

Weitere  Beitrage  zur  Geschichte  des  grossen  und  wichtigen 
Hauses  Mondejar  sind  als  Anhange  diesem  Dokumente  an- 
gereiht. 

Bedeutsamer  ist  die  zweite  Nummer:  Briefe  Don  Juan 
d' Austria's  an  zwei  Freunde  in  den  Jahren  1576,  1577  und 
1578.  Obwohl  nur  Kopien  des  vorigen  Jahrhunderts  ent- 
nommen,  tragen  diese  Briefe  doch  den  Stempel  der  Echtheit  an 
sich:  der  Styl  ist  der  Don  Juan's,  alle  in  jenen  erwahnten  Um- 
stande  stimmen  auf  das  genaueste  mit  dem  iiberein,  was  man 
sonst  von  dem  Leben  des  heldenmuthigen  Kaisersohnes  und  seiner 
beiden  Korrespondenten  weiss;  endlich  wird  in  dem  Buche  des 
spanischen  Gelehrten  Muro  iiber  die  Prinzessin  Eboli  eine  Stelle 
aus  dem  ersten  der  auch  hier  wiedergegebenen  Briefe  gleich- 
lautend  nach  dem  Original  citirt,  das  sich  im  Besitze  eines 
spanischen  Privaten  befindet.  Mit  grossem  Scharfsinn  und  ge- 
wohnter  Belesenheit  hat  der  Herausgeber  die  Personlichkeit  der 
beiden  Korrespondenten   Don   Juan's   eruirt.    Bei   der  Nennung 

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272  Morel-Fatio,  L'Espagne  au  XVI*  et  au  XVII0  siecle. 

der  schon  veroffentlichten  Sammlungen  von  Briefeu  des  letztern 
hat  er  iibrigens  die  in  der  Coleccion  de  documentos  ineditos 
torn.  III.  iibersehen.  Die  hier  veroffentlichten  Briefe  Don  Juan's 
sind  von  dem  hochsten  Interesse.  Sie  zeigen  uns  denselben  als 
einen  feinen,  liebenswiirdigen,  geistvollen  und  scharfblickenden 
Fiirsten,  ebenso  begabt  als  Staatsmann  wie  als  Feldherr,  aber 
leidend  unter  der  Macht  der  widrigsten  Verhaltnisse  sowie  der 
Langsamkeit  und  Missgunst  seines  koniglichen  Bruders.  Von 
Beginn  an  halt  er  einen  gewaltsamen  Kampf  gegen  die  Nieder- 
lander  fiir  aussichtslos.  „Ich  hoffe  sehnlichst  zu  Gott",  schreibt 
er  am  9.  Dez.  1576  an  D.  Rodrigo  de  Mendoza,  „dass  wir  nicht 
bis  zum  aussersten  Bruche  kommen  werden,  selbst  wenn  wir 
ausser  unserm  Anerbieten,  namlich  dass  die  spaaischen  Truppen 
die  Niederlande  verlassen,  noch  etwas  mehr  concediren  miissen*. 
Und  in  einem  Briefe  vom  19.  Febr.  1577  an  denselben:  „Wenn 
wir  es  auf  die  Waffen  ankommen  liessen,  so  wiirde  das  Beste, 
was  uns  zustossen  konnte,  der  ganzliche  und  ewige  Ruin  dieses 
Landes  sein,  und  das  Schlimmste  —  Gott  weiss  es  und  die  Leute 
errathen  es,  indem  sie  die  Noth  und  die  Mangelhaftigkeit  unserer 
Verhaltnisse  wahrnehmen."  Nach  kraftigen  Verwiinschungen 
gegon  den  Prinzen  von  Oranien,  „diesen  Teufelskerl  (brujazo)", 
und  seine  Freunde,  die  er  „verabscheut  als  riesige  Schurken 
(grandisimos  bellacos)",  beklagt  er  auf  das  bitterste  seine  gegen- 
wartige  Lage.  So  heisst  es  auch  in  einem  ferneren  Briefe  an 
denselben  Freund  (p.  120),  dass  er  „in  verzweifelter  Stimmung 
lebe"  und  „mit  Neid  auf  diejenigen,  die  vergniigt  sindtf.  fe 
war  das  Missverhaltniss  zwisohen  den  ihm  gesteckten  Aufgaben 
und  den  ihm  gewahrten  Mitteln,  welches  den  hochsinnigen  Mann 
niederbeugte  und  aufrieb.  Diese  triibe  Stimmung  verwandelte 
sich  bei  ihm  in  verzweifelten  Kummer  bei  der  Nachricht  von  der 
rathselhaften  Ermordung  seines  treu  ergebenen  Sekretars 
Escobedo,  den  er  nach  Madrid  gesandt.  „M6ge  Gott  ihn  in  den 
Himmel  aufnehmen  und  mir  ja  entdecken,  wer  ihn  todteteu 
(p.  133)  Und  dabei  die  Aussicht,  das  mit  unsaglicher  An- 
strengung,  Geistesarbeit  und  Ausdauer  Gewonnene  aus  Mangel 
an  Geld  und  Soldaten  wieder  einzubiissen,  selbst  dabei  Schmacb 
und  Schande  zu  erleben!  „Se.  Majestat  erhalt  mich  in  so  trub- 
seliger  Lage,  wie  es  kein  Christ  jemals  verdienen  kann,  aucl 
wenn  er  von  den  Schlechten  ware,  wie  sie  jetzt  gebrauchlick 
sind."  (p.  134.)  Alles,  was  er  meint,  wagt  er  seinem  Freunde 
nicht  zu  sagen,  und  verweist  ihn  deshalb  an  einen  Vertraoten, 
den  er  nach  Spanien  schickt.  —  So  sieht  man  Don  Juan  dem 
tragisohen  Untergange  sich  nahern.  Dabei  erhalten  wir  Einblick* 
in  das  unglaublich  liederliche  Treiben  des  spanischen  Adels,  die 
vom  kulturhistorischen  Standpunkte  aus  sehr  iuteressaut  siud. 

Unter  den  drei  dieser  Briefsammlung  angehangten  Akten- 
stiicken  zur  Geschichte  Don  Juan's  ist  das  wichtigste  das  erste, 
eine  Erganzung  zu  der  geheimen  Instruktion,  die  er  bei  seiner 
Abreiso  nach  den  Niederlanden  von  dem  Konige  erhielt. 


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Morel-Fatio,  L'Espagne  an  XVI*  et  au  XVE>  sibcle.  273 

In  die  letzten  Jahre  der  Regierung  Philipp  II.  fuhrt  uns 
Nr.  Ill  der  Sammlung:  „Beschreibung  der  Reise  des  papstlichen 
Auditors  Camillo  Borghese  nach  Spanien,  1594."  Papst 
Clemens  VIII.  satidte  damals  den  Auditor  der  papstlichen  Eammer 
Borghese  —  der  elf  Jahre  spater  als  Paul  V.  selbst  den  papst- 
lichen Thron  besteigen  sollte  —  an  Philipp  II.,  angeblich  urn 
ihn  zu  einer  betrachtlichen  Unterstiitzung  des  Kaisers  gegen  die 
Tiirken,  in  Wahrheit,  urn  ihn  zu  einem  versohnlichen  Auftreten 
gegen  Heinrich  IV.  von  Frankreich  zu  veranlassen,  der  sich 
damals  eifrigst  um  seine  Befreiung  von  der  papstlichen  Ex- 
kommunikation  bewarb.  Die  hier  veroffentlichte ,  schon  von 
Gachard  erwahnte  Relation,  herriihrend  von  einem  Geistlichen 
im  Gefolge  des  Auditors,  enthalt  durchaus  keine  politischen 
Angaben,  ist  aber  um  so  interessanter  als  genaue  Schilderung 
einer  Reise  im  damaligen  Spanien.  Das  Bild,  welches  der  ver- 
wohnte  Italiener  von  den  Gasthofen  und  Heerstrassen  der  Halb- 
insel,  von  Madrid  und  seinen  Bewohnern  entwirft,  ist  durchaus 
kein  schmeichelhaftes :  schlechte  Beschaffenheit  der  Gasthofe  und 
der  Wege,  in  der  Hauptstadt  unendlicher  Schmutz  in  den  Gassen 
und  Hausern,  Aermlichkeit  des  Lebens  und  Verwahrlosung  der 
Sitten  bei  roher,  barbarischer  Pracht  der  Aeusserlichkeiten, 
endlich  Langsamkeit  und  Faulheit  in  alien  Geschaften.  Es  sind 
dies  genau  die  Eindrucke,  die  jeder  Fremde  —  Franzosen  und 
Englander  ebenso  gut  wie  die  Italiener  —  bei  einem  Aufenthalte 
in  Spanien  empfingen.  Alleiii  mit  Recht  bemerkt  der  Heraus- 
geber, dass  diese  Auslander  nur  eben  die  Aussenseite  eines  der 
occidentalischen  Kultur  fern  geriickten  Volkes  kennen  lernten, 
iiicht  aber  das  vorziigliche  mustergiiltige  Leben  des  Spaniers  im 
Hause  und  in  der  Familie.  Freilich  musste  es  den  Fremden 
beschwerlich  sein,  obwohl  als  papstliche  Gesandte  in  jeder  Weise 
bevorzugt,  zur  Reise  von  Barcelona  bis  Madrid  21  Tage  zu  ge- 
brauchen,  dabei  wegen  des  schlechten  Zustandes  der  Strassen 
oft  zu  Fusse  gehen,  des  Abends  sich  hungrig  auf  ein  Strohlager 
werfen  zu  miissen;  oder  auch  die  argsten  Unreinlichkeiten  auf 
den  Kopf  zu  erhalten,  die  man  in  Madrid  ungescheut  aus  den 
Fenstern  auf  die  Gassen  schiittete,  und  die  sich  in  den  letztern 
derart  anhauften,  dass  es  fast  unmoglich  war,  dieselben  zu  Fuss  zu 
durchschreiten ! 

Verschiedene  statistische  Zugaben  hat  der  Geistliche  seiner 
Erzahlung  beigefugt.  Die  oft  sehr  verunstalteten  Namen  der 
koniglichen  Rathe  hatte  der  Herausgeber  zum  Theile  wohl  noch 
weiter  berichtigen  konnen  nach  dem  ihm  ja  auch  bekannten 
Buche  Cabrera's:  Relaciones  de  las  cosas  succedidas  en  la  corte 
de  Espana  1599 — 1614,  dem  ein  ausfiihrliches  Namenregister 
angeschlossen  ist. 

Die  Anhange,  die  der  Herr  Herausgeber  selbst  diesem  Do- 
kumente  folgen  lasst,  enthalten  die  Instruktion,  die  der  Papst 
seinem  Gesandten  mitgab;  eine  Uebersicht  der  Arbeitstheilung 
unter    den   zahlreichen    Contejos   und   Beamten   der   spanischen 

MitthcUungen  a.  d.  hlstor.  Litteratur.    VU.  18 

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274  Morel-Fatio,  L'Espagne  au  XVI«  et  au  XVH<>  siecle. 

Centralregierung ;  das  Budget  eines  Anneecorps  von  etwa 
20,000  M.,  entworfen  fur  den  Herzog  von  Alba,  sehr  interessante 
Aufschlusse  iiber  die  Oekonomie  eines  spanischen  Heeres  ein- 
schliessend,  allerdings  durch  zahlreiche  Fehler  verunstaltet; 
endlich  ein  Itinerar  fur  Spanien  und  Portugal,  begleitet  von 
praktischen  Rathschlagen  fiir  den  Reisenden. 

Bei  weitem  weniger  wichtig,  eigentlich  dasjenige  Stuck,  das 
einer  Veroffentlichung  kaum  werth  war,  ist  Nr.  IV,  eine  Samm- 
lung  von  Briefen  von  Antonio  Perez,  wahrend  seiner  Verbannung 
in  Frankreich  und  England  geschrieben.  Es  sind  nur  Bettel- 
briefe  an  Heinrich  IV.,  den  Connetable  Montmorency  und  dessen 
Sekretare,  bisweilen  gewiirzt  mit  geheimen  Nachrichten  iiber  die 
spanische  Politik  und  Kriegfuhrung,  aber  Nachricbten,  die  jeder 
Bedeutung  entbehren:  Das  einzige  hervorragendere  Dokument, 
die  Copia  del  Assiento  de  Sa.  Md  con  A.  Perez,  enero  1597 
(p.  274  if.),  ist  schon  bekannt  (vgl.  u.  A.  Lafuente,  Historia 
general  de  Espana,  2.  ed.,  VII  501;  Mignet,  Antonio  Perez, 
p.  369  f.)  Richtig  im  AUgemeinen  ist,  was  der  Herausgeber  ?on 
den  Milderungsgriinden  fiir  die  moraliscbe  Beurtheilung  des 
Antonio  Perez  sagt  (p.  263) ;  indessen  so  ganz  bar  war  man 
damals  doch  nicbt  des  Nationalgefiihles,  dass  Perez  von  dem 
Vorwurfe  eines  bewussten  Verrathes  vollig  loszusprechen  ware, 
so  sehr  er  sich  auch  den  Anschein  eines  Martyrers  zu  geben 
sucbte. 

Eine  ausfuhrliche  Einleitung  ist  den  Ursachen  des  Stones 
des  Perez  in  Madrid  gewidmet.  Uebereinstimmend  mit  Caneias 
del  Castillo,  scbliesst  sich  der  Herausgeber,  wenn  auch  in  ge- 
massigterer  Form,  der  neuerdings  bestrittenen  Ansicht  Mignefs 
an,  dass  Philipp  II.  unerwiderte  Liebe  zu  der  Prinzessin  too 
Eboli,  die  vielmehr  den  Perez  vorgezogen,  der  Hauptgrund  ffir 
den  Hass  des  Eonigs  gegen  beide  gewesen  sei. 

Nachdem  nur  einige  der  Briefe  Perez*  die  Regierungffleit 
Philipp  III.  eben  streifen,  luhrt  uns  Nr.  V.,  „Bericht  iiber  die 
Feldziige  in  der  Rheinpfalz  in  den  Jahren  1620  und  1621  Ton 
Don  Francesco  de  Ibarra",  sogleich  an  das  Ende  dieser  und  an 
den  Beginn  der  folgenden  Regierung.  Philipp  III.  und  IV.  nahmen 
das  von  Karl  V.  begrundete  System  der  Identitat  der  Interessen 
beider  Zweige  des  erlauchten  Erzhauses  Oesterreich  sehr  erast; 
zum  nicht  geringen  Schaden  fiir  Spanien,  das  so  stets  von  neuem 
in  ortlich  weit  entfernte  und  seinen  eigenen  Zielen  vollig  fremde 
Kampfe  gezogen  wurde,  aber  zum  grossen  Vortheile  der  ka- 
tholischen  Religion,  welche  ihren  Sieg  in  der  grossern  Halfte 
Deutschlands,  in  Ungarn  und  Polen  schliesslich  doch  nur  dieser 
spanischen  Politik  und  ihren  Machtmitteln  zu  danken  hat. 

Der  Verfasser  der  vorliegenden  Schrift  hat  dieselbe  offenbar 
fur  das  grosse  Publikum  bestimmt.  Sie  ist  in  gewandtem  Style 
abgefasst,  mit  studirten  literarischen  und  kiinstlerisch  ausgefeilten 
Wendungen;  vor  allem  finden  sich  darin  ausgefiihrte  geographiscke 
Schilderungen  und  politische  Erorterungen,  die,  fiir  den  Augen- 

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■"*»*> 


Morel-Fatio,  I/Espagne  au  XVI«  et  au  XVII*  siecle.  275 

zeugen  und  Kenner  iiberfliissig,  nur  der  Lesewelt  gewidmet  sein 
konnen.  Um  so  weniger  darf  es  als  eine  Uebereilung  betrachtet 
werden,  wenn  der  Verf.  der  betreffenden  Schrift  ausdriicklich 
bemerkt,  er  wolle  seinen  Namen  verschweigen,  und  Griinde  dafiir 
angiebt.  Trotzdem  ist  die  Schrift  von  andrer  Hand  als  der  des 
Kopisten  mit  dem  Namen  des  Francisco  de  Ibarra  bezeichnet, 
eines  vornehmen  Cavaliers,  der  in  jenen  beiden  Feldziigen  sich 
als  Kapitan  der  schweren  Kavallerie  auszeichnete  und  schon  ein 
Jahr  darauf  (1622)  in  der  Schlacht  bei  Fleurus  als  Oberst 
(maestre  de  campo)  einen  riihmlicben  Tod  fand.  Die  Voll- 
endung  der  Schrift  muss  also  in  die  Zeit  der  Winterquartiere 
imAnfang  des  Jahres  1622  fallen;  das  letzte  erwahnte  Ereigniss 
ist  vom  23.  Dezember  1621  datirt.  Dass  der  Verfasser  in  dieser 
kurzen  Zeit  seine  Meinung  so  vollstandig  geandert  und  seinen 
Namen  auf  den  Titel  eines  soeben  vollendeten  Werkes,  in  dem 
er  anonym  bleiben  zu  wollen  erklart,  gesetzt  haben  sollte,  ist 
durchaus  nicht  glaublich.  Es  bleibt  also  nur  die  Moglichkeit, 
dass  ein  anderer  die  Bezeichnung  des  Autors  hinzugesetzt  hat. 
Ob  dies  ein  Freund  war,  der  es  wissen  konnte,  oder  ein  Fremder, 
der  nur  eine  Muthmassung  hegte  —  wer  will  das  jetzt  ent- 
scheiden?  Wir  konnen  deshalb  dem  Herausgeber  nicht  zu- 
gestehen,  dass  die  Frage  der  Autorschaft  Ibarra's  zu  dessen 
Gunsten  entschieden  sei,  sondern  nur  einraumen,  dass  nichts 
derselben  widerspricht. 

Wer  nun  auch  der  Verfasser  sei:  wir  haben  es  hier  mit 
einer  sehr  bemerkenswerthen  Schrift  zu  thun.  Obwohl  von  ka- 
tholischem  und  habsburgischem  Standpunkte  ausgehend,  ist  sie 
doch  mit  lobenswerthem  Streben  nach  Unparteilichkeit  abgefitsst, 
mit  lebhaftem  Verstandniss  fiir  die  geographischen,  militarischen 
and  politischen  Verhaltnisse.  Diese  Vorziige  leuchteten  schon 
gleichzeitig  einem  Biographen  Philipp  III.,  Matias  de  Novoa, 
derart  ein,  dass  er  die  Guerra  del  Palatinado  fast  wortlich  in 
sein  Werk  ubertrug,  selbstverstandlich  ohne  seine  Quelle  zu 
nennen  (Col.  de  docum.  ined.  t.  LXI);  wie  alle  leichtsinnige 
Plagiatoren,  macht  er  dabei  traurige  Fehler. 

Vortreflflich  ist  gleich  zu  Anfang  des  Originalwerkchens  die 
Schilderung  der  Rheinpfalz,  deren  bliihenden  Zustand  der  Ver- 
fasser nicht  laut  genug  preisen  kann.  Freilich  darf  man  es  dem 
wackern  Kapitan  nicht  verargen,  wenn  er  dabei  einmal  den  Papst 
Johann  III.  anstatt  Johann  XXIIL  als  von  dem  konstanzer  Kon- 
zile  abgesetzt  und  in  Mannheim  gefangen  gehalten  erwahnt 
(p.  343) ;  es  ist  ein  kleines  Versehen  des  Herausgebers,  diesen 
Fehler  nicht  in  einer  Anmerkung  verbessert  zu  haben..  Bei 
Heidelberg  beklagt  der  Verfasser,  dass  „das  Schwert  der  Wissen- 
schaften  in  die  Hknde  der  Wuth  und  Blindheit  der  Gottlosigkeit 
und  Ketzerei  gegeben  ist,  die  geistvolle  aber  zugleich  verderbliche 
Manner  hervorbrachten." 

Die  Schilderungen  der  auftretenden  Personlichkeiten  sind 
mit  vielem  Scharfsinn  und  grosser  Kunst  entworfen.    Merkwiirdig 

18* 

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276  Morel-Fatio,  L'Espagne  au  XYI«  et  au  XVII*  siecle. 

ist  die  Lehre,  die  der  Verf.  aus  den  Leiden  der  Pfalz  in  diesem 
Kriege  zieht,  und  die  der  Spanier  noch  heute  nach  mehr  als 
250  Jahren  fur  viele  Deutsche  wiederholen  konnte  (p.  393): 
Die  Pfalzer  miissten  erkennen,  um  wie  viel  gliicklicher  die  Volker 
sind,  welche  Gott  zu  Gliedern  grosser  Monarchien  machte, 
deren  Vertheidigung  auf  einem  um  so  viel  solidern  Grunde  be- 
ruht;  ihr  Schutzherr,  die  gemeinsamen  Krafte  benutzend,  lasst 
sie  nicht  so  leichten  Zufallen  ausgesetzt,  wie  jene  Unterthanen 
sind,  deren  Fiirsten  entweder,  weil  sie  sich  mit  einer  geringen 
Macht  begnugen,  keine  haben  um  sie  zu  vertheidigen  oder,  in 
der  Hoffnung  sie  zu  erweitern,  es  mit  ungeniigenden  Kraften 
versuchen  zu  grosster  Gefahr  ihrer  Untergebenen." 

Der  wohi  unterrichtete  Verfasser  bemerkt  (p.  405),  dass 
Spinola  bald  den  Plan  fasste,  die  reiche  und  fur  die  habs- 
burgische  Politik  so  wohlgelegene  Pfalz  fur  Spanien  dauernd  fest- 
zuhalten :  ein  Gliick  fur  Deutschland,  dass  Philipp  III.  thorichter 
Hochmuth  den  Krieg  mit  den  Hollanders  nach  Ablauf  des  zwolf- 
jahrigen  WaflFenstillstandes ,  wieder  begann,  und  deshalb  die 
spanischen  Regimenter  zum  grossten  Theile  aus  dem  erwahnten 
Lande  herauszog  (p.  406).  Vergebens  versuchte  Spinola  einen  Auf- 
schub  dieses  Entschlusses  herbeizufuhren,  bis  die  Pfalz  vollig  unter- 
worfen  sei.  Dadurch  kam  sie  wenigstens  in  die  Hande  liguistischer 
und  kaiserlicher  Truppen. 

Mit  Recht  bezeichnet  der  Verfasser  den  Frieden,  den  die 
Union  am  12.  April  1621  zu  Mainz  mit  den  Spaniern  abschlofc, 
als  einen  grossen  Sieg  der  letztern.  Es  ist  interessant,  seis 
Urtheil  dariiber  zu  lesen  (p.  415),  das  zugleich  die  harteste  Ver- 
dammung  der  Kopflosigkeit  und  Feigheit  der  Unirten  enthalt 
obwohl  der  Verf.  in  seiner  ruhigen  Weise  vermeidet,  dieselbe 
oflfen  auszusprechen.  —  Der  Herausgeber  hat  diesem  wichtigen 
Buche  einige  einschlagende  Aktenstiicke  aus  dem  Archive  tod 
Simancas  angehangt,  die  in  der  That  mehrere  Angaben  desselben 
dokumentarisch  vollstandig  bestatigen. 

Kiirzer  konnen  wir  uns  iiber  die  letzten  beiden  Nummern 
aussprechen,  die  mit  der  Geschichte  als  solcher  weniger  zu  thun 
haben.  Nr.  VI.  enthalt  den  Wiederabdruck  einer  Gedichtsamm- 
lung,  eines  Cancionero  general,  den  Est&ban  G.  de  N4gera  im 
Jahre  1554  erscheinen  liess,  und  von  dem  nur  noch  ein  einzige9 
Exemplar  vorhanden  ist.  Die  Gedichte,  die  darin  enthaiten, 
sind  hochstens  als  mittelmassig  zu  bezeichnen  und  nur  insofem 
merkwiirdig,  als  sie  den  Uebergang  von  der  alten  nationalen  w 
der  toskanischen  Schule  der  spanischen  Dichtkunst  illustriren- 
Der  Herausgeber  hat  seinen  Abdruck  mit  zahlreichen  linguistischen 
und  literarhistorischen  Anmerkungen  versehen;  indessen  da  ihmi 
wie  er  selbst  sagt,  zur  Controllirung  des  sehr  nachlassigen  Text^ 
des  Originaldruckes  die  in  Spanien  noch  vorhandenen  hand- 
schriftlichen  Gedichtsammlungen  derselben  Zeit  nicht  zn  Gebote 
standen,  hatte  er  vielleicht  besser  gethan,  diesen  Abdruck  ube^ 
haupt  zu  unterlassen. 


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Saran,  Die  Schwed.  Invasion  in  Kursachsen  u.  d.  Friede  z.  Altranstadt.  277 

Nr.  VII  enthalt  die  „Burleske  Akademie",  welche  von  den 
spanischen  Hofpoeten  im  Jahre  1637  bei  Gelegenheit  der  Feste 
veranstaltet  wurde,  die  man  zu  Ehren  der  Erwahlung  Ferdinands  III. 
zmn  romischen  Konige  veranstaltete.  Der  poetische  Werth  dieser 
Gedichte  ist  ein  geringfiigiger.  Es  handelte  sich  darum,  iiber 
einen  gegebenen  Gegenstand  Verse  zu  improvisiren,  deren  Form 
und  Zahl  genau  bestimmt  waren :  also  eine  Sache  der  Geschick- 
lichkeit,  nicht  der  Kunst.  Auch  hier  hat  der  Herausgeber  von 
den  vorhandenen  Manuskripten  nur  eines  zu  seiner  Verfugung 
gehabt,  doch  macht  sich  bei  dessen  Korrektheit  hier  dieser 
Mangel  weniger  bemerkbar.  Die  komischen  und  satyrischen  Ge- 
dichte dieser  kleinen  Sammlung,  zum  Theil  recht  witziger  Natur, 
werfen  allerdings  auf  die  moralischen  und  sozialen  Zustande  des 
Hofes  und  der  kleinen  Schriftstellerrepublik  im  damaligen  Spanien 
ein  erwiinschtes  Licht.  Ueberflussig  zu  erwahnen,  dass  der 
Herausgeber  auch  hier  seine  gewissenhaften  Noten  hinzugefugt  hat. 

Endlich  giebt  derselbe  noch  eine  Reihe  von  „Zusatzen  und 
Berichtigungen^  zu  alien  Stiicken  seines  Buches;  und  ein  genauer 
Namenindex  erhoht  dessen  Brauchbarkeit  fur  den  Geschichts- 
forscher. 

So  scheiden  wir  denn  von  dem  Werke  des  Herrn  Morel- 
Fatio  mit  lebhaftem  Danke  fur  dessen  fleissige  und  einsichtige 
Bemiihungen,  und  hoffen,  dass  er  mit  jenem  einen  geniigenden 
Anklang  finde,  um  demselben  baldigst  eine  weitere  Sammlung  fur  den 
gleichen  Zweck  folgen  lassen  zu  konnen.  Nur  wiinschte  Referent 
dann  eine  genauere  Bestimmung  des  Zieles  und  eine  grossere 
ortliche  Ausdehnung  der  Forschungen. 

Briissel.  M.  Philippson. 

LXVIII. 
Saran,  Gustav,  Die  Schwedische  Invasion  in  Kursachsen  und 

der  Friede  zu  Altranstadt.    Vortrag,  gehalten  im  thiiringisch- 

sachsischen  Geschichts-  und  Alterthums-Verein  zu  Halle  a.  S. 

8°.     (32  S.)    Halle    1878.     Buchhandlung    des  Waisenhauses. 

0,36  M. 

Nach  einer  kurzen  Skizzirung  der  allgemeinen  politischen 
Lago  am  Anfange  des  18.  Jahrhunderts  beschreibt  der  Verfasser 
den  Einmarsch  Karls  XII.  in  Sachsen,  fiir  den  nach  seiner  Mei- 
nung  die  Schlacht  von  Fraustadt  am  14.  Februar  1706  den 
eigentlichen  Ausschlag  gegeben  hat,  wahrend  v.  Noorden  wol 
richtiger  den  Einfall  August  II.  in  Litthauen  und  die  Riick- 
eroberung  Grodnos  fiir  das  entscheidende  Moment  erklart.  Weiter 
werden  der  Aufenthalt  des  Konigs  in  Sachsen,  vielleicht  mit 
zu  geringer  Betonung  der  furchtbaren  Lasten,  die  er  dem  un- 
gliicklichen  Lande  aufbiirdete,  die  Verhandlungen ,  die  zum 
Altranstadter  Frieden  fuhrten,  die  weitern  Vorgange,  die  den 
Namen  des  kleinen  Dorfes  bei  Leipzig  zu  einem  weltgeschicht- 
lichen  gemacht  haben,  behandelt.  Dor  Vortrag,  der  die  Horer 
jedenfalls   sehr   angesprochen   hat,    theilt   nur  mit  so  manchem 


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278  Droysen,  Friedr.  d.  Gr.  n.  Maria  Theresia  nach  dem  Dresdener  Eriedea. 

andem  Vortrage  den  Fehler,  dass  er  gedruckt  worden  ist.  Denn 
neues  finden  wir  nicht  darin,  etwa  mit  Ausnahme  einiger  Notizen 
aus  den  Kirchenbuchern  verschiedener  Dorfer.  Uebrigens  and 
wir  vollig  damit  einverstanden,  wenn  der  milde  Zweck,  welchem 
dem  Titelblatt  zufolge  der  Ertrag  des  Schriftchens  dienen  soil 
zur  Rechtfertigung  angefuhrt  wird. 

Dresden.  Dr.  H.  Ermisch. 

LXIX. 
Droysen,  Joh.  Gust,  Friedrich  der  Grosse  und  Maria  Theresia 

nach  dem  Dresdener  Frieden.    8°.    (118  S.)    Berlin  1878. 

E.  S.  Mittler  u.  Sohn. 

Der  Verf  schildert  in  der  vorliegenden  Schrift,  dem  Separat- 
abdruck  einer  in  der  Zeitschrift  fur  Preussische  Geschichte 
erschienenen  Abhandlung,  auf  Grund  seines  reichen  urkundlichen 
Materials,  namentlicb  der  Akten  des  berliner  Archives,  das  Ver- 
haltniss  zwischen  Preussen  und  Oesterreich  in  dem  ersten  Jahre 
nach  dem  Dresdener  Frieden  1746.  Er  tritt  darin  ebenso  der 
herkommlichen  preussischen  Auffassung  entgegen,  als  ob  Friedrich 
nach  jenem  Frieden  sich  soviel  wie  moglich  von  den  europaischen 
Verwickelungen  zuriickgezogen  und  sein  Hauptinteresse  der 
inneren  Politik  zugewandt  habe,  wie  der  dieser  entgegengesetzten 
osterreichischen,  als  ob  er  auch  nach  dem  Frieden  bestandig  in- 
triguirt  und  machinirt  habe,  um  im  Triiben  zu  fischen  und  wo- 
moglich  durch  neuen  Landerraub  seine  Macht  zu  vergrossero. 
Er  zeigt,  dass  Friedrich  allerdings  den  Frieden  zu  erhalten  ge- 
wiinscht  und  sich  nur  bemiiht  hat,  die  durch  den  ersten  schlesi- 
schen  Krieg  erworbcne  Machtstellung  zu  behaupten,  dass  ihm 
aber  diese  friedliche  Politik  sehr  schwer  gemacht  worden  ist 
durch  das  feindliche  Verhalten  Oesterreichs,  welches  auch  nach 
jenem  Frieden  sich  fortgesetzt  bemiiht  hat,  Preussen  von  jener 
Machthohe  wieder  herabzudrangen,  dass  diese  feindlichen  Machi- 
nationen  Oesterreichs  fortgesetzt  die  Aufmerksamkeit  und  Sorge 
des  Konigs  in  Spannung  erhalten  haben,  und  dass  es  ihm  nur 
durch  eine  ebenso  kluge  und  vorsichtige  wie  kraftvolle  Haltung 
gelungen  ist,  sich  von  neuen  kriegerischen  Verwickelungen  fern 
zu  halten.  Ein  erster  einleitender  Abschnitt:  „Das  preussische 
und  das  osterreichische  System"  schildert  in  kurzen  Strichen 
das  bisherige  Verhalten  beider  Machte  und  die  von  ihnen  ver- 
folgten  Ziele,  in  drei  weiteren  Abschnitten  werden  dann  die- 
jenigen  Verhaltnisse  behandelt,  in  denen  in  der  nachsten  Zeit 
die  feindselige  Haltung  Oesterreichs  gegen  Preussen  besonders 
zu  Tage  tritt:  der  Abschluss  der  Allianz  mit  Russland,  die 
Versuche,  das  deutsche  Reich  zur  Theilnahme  an  dem  Kriege 
gegen  Frankreich  zu  treiben  und  die  Vereitelung  der  in  Dresden 
fur  den  Frieden  ausbedungenen  Reichsgarantie.  In  dem  ersten 
derselben:  „Die  Allianz  vom  2.  Juni  1746"  wird  hauptsachlich 
auf  Grund  der  Berichte  des  preussischen  Gesandten  in  Peters- 
burg, Mardefeld,  gezeigt,  wie  die  urspriinglich  preussenfreundliche 


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Droysen,  Friedr.  d.  Gr.  u.  Maria  Theresia  nach  dem  Dresdener  Frieden.  279 

Kaiserin  Elisabeth  allmahlich  durch  die  Partei  des  Kanzlers 
Bestuscheff,  sowie  durch  die  im  Bunde  mit  derselben  wirkenden 
Gesandten  von  Oesterreich,  Sachsen  und  England  zu  einer 
preussenfeindlichen  Politik  gedrangt  worden  ist,  wie  sie  schon 
in  der  letzten  Zeit  des  zweiten  schlesischen  Krieges  zum  mili- 
tarischen  Einschreiten  gegen  Preussen  entschlossen  gewesen  ist, 
Avie  dann  auch  nach  dem  Dresdener  Frieden  die  Unterhandlungen 
mit  Oesterreich  fortgesetzt  werden  und  in  dem  Allianzvertrage 
beider  Machte  vom  2.  Juni  1746  ihren  Abschluss  finden,  in 
dessen  geheimen  Artikeln  festgesetzt  wird,  falls  Oesterreich,  oder 
Russland  oder  Polen  von  Preussen  angegriffen  werden  sollten, 
so  sollte  das  Recht  Maria  Theresia  s  auf  Schlesien  wieder  in 
Kraft  treten.  Friedrich  hatte  von  diesem  Abkommen  keine 
nahere  Kunde,  aber  er  wurde  in  Besorgniss  gehalten  durch  die 
offenkundigen  Riistungen  in  Russland,  durch  das  Verbleiben  der 
osterreichischen  Truppen  in  Bohinen  und  durch  die  bedenkliche 
Haltung  Englands,  wo  der  Konig  und  seine  hannoverschen  Minister 
zunachst  heimlich  der  preussenfreundlichen  und  auf  Herstellung 
des  allgemeinen  Friedens  zielenden  Politik  des  englischen  Mini- 
steriums  entgegenarbeiten ,  dann  im  Februar  1746  dieses  Mini- 
sterium  entlassen  und  in  Lord  Granville  der  Hauptvertreter  der 
«benso  gegen  Preussen  wie  gegen  Frankreich  feindlichen  Politik 
an  die  Spitze  der  Regierung  berufen  wird.  Zwar  wird  die  un- 
mittelbare  Gefahr  fur  Preussen  dadurch  beseitigt,  dass  Konig 
Georg  durch  die  Haltung  des  Parlamentes  genothigt  wird,  schon 
nach  zwei  Tagen  Granville  zu  entlassen  und  auf s  Neue  die 
Pelhams  in  das  Ministerium  zu  berufen.  In  Folge  dessen  werden 
auch  die  russischen  Truppenbewegungen  eingestellt,  doch  bleiben 
die  Truppen  dort  noch  immer  in  der  Nahe  der  preussischen 
Grenze,  in  Liefland,  und  Russland  und  Oesterreich  suchen  auch 
Polen  zum  Anschluss  an  ihre  AUianz  zu  bewegen. 

Der  nachste  Abschnitt:  „Die  Reichsneutralitat"  behandelt 
die  Versuche  Oesterreichs  schon  vor  und  dann  nach  dem  Dresdener 
Frieden  das  Reich  zur  Theilnahme  an  dem  Kriege  gegen  Frank- 
reich zu  veranlassen.  Im  December  1745  hat  es  wirkhch  durch- 
gesetzt,  dass  der  Reichstag  die  Ausriistung  einer  Reichsarmee 
beschliesst,  die  nachste  Zeit  nach  dem  Friedensschlusse ,  ehe 
Preussen  und  Kurpfalz  ihre.  Gesandten  wieder  zum  Reichstage 
geschiokt  haben,  sucht  es  dann  dazu  auszunutzen,  urn  die  wirk- 
liche  Aufstellung  einer  solchen  Armee  an  der  Grenze  zu  Stande 
zu  bringen,  in  der  Hoffnung,  dass  sich  dann  leicht  Geiegenheit 
finden  werde,  diese  mit  in  den  Krieg  gegen  Frankreich  hinein- 
zuziehen.  Doch  erbittert  Oesterreich  selbst  die  meisten  Reichs- 
stande  durch  seine  Truppenansammlungen  im  Reiche  und  durch 
die  Einquartirungslast,  welche  es  denselben  aufbiirdet,  so  wird 
die  Sache  verzogert,  bis  Friedrich  Geiegenheit  erhalt  einzugreifen. 
Sein  Gesandter  Pollmann  triflft  im  Februar  1746  in  Regensburg  ein 
und  verstandigt  sich  bald  mit  den  Gesandten  anderer  Stande, 
der  Antrag,  welchen  dann  Preussen  stellt,  die  beschlossene  Reichs- 


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280  Droysen,  Friedr.  d.  Gr.  u.  Maria  Theresia  nach  dem  Dresdener  Frieden. 

armee  nicht  aufeustellen  und  auch  Oesterreich  aufzufordern,  seine 
Truppen  aus  dem  Reiche  zu  entfernen,  hat  dann  zur  Folge,  dags 
Oesterreich  vorlaufig  hier  seine  Plane  aufgiebt  und  jetzt  die  in 
den  vorderen  Reichskreisen  aufgestellten  Truppen  nach  Italien  fort- 
sendet. 

Der  letzte  Abschnitt :  „Die  Reichsgarantie"  steltt  die  directen 
Beziehungen  zwischen  dem  ostefrreichischen  und  dem  preussischen 
Hofe  in  den  nachsten  Monaten  nach  dem  Friedensschlusse  dar. 
Friedrich  hat  im  Marz  1746  seinen  fruheren  Residenten  inWien, 
v.  Grave,  dorthin  zuriickgeschickt  und  lasst  demselben  im  Juni 
den  Grafen  Heinrich  Podewils  als  seinen  Gesandten  folgen. 
Schon  Grave  erhielt  den  Auftrag,  die  im  Dresdener  Frieden  ans- 
bedungene  Reichsgarantie  fur  diesen  Frieden  zu  betreiben. 
Ailein  von  osterreichischer  Seite  wurde  die  Sache  nicht  in  An- 
griff  genommen,  im  Gegentheil  arbeiteten  die  kaiserlichen  Agenten 
im  Reich  bei  den  verschiedenen  Standen  dagegen,  von  Wien  her 
wurden  die  abenteuerlichsten,  verleumderischen  Geriichte  fiber 
ehrgeizige  Plane  Preussens  verbreit^t,  die  Absendung  des  fur 
Berlin  bestimmten  neuen  osterreichischen  Gesandten,  GrafBernes, 
wurde  immer  langer  aufgeschoben ,  in  einer  Erwiderung  auf 
jene  preussische  Forderung  verlangte  Oesterreich  von  Preussen 
im  directen  Gegensatz  gegen  die  Dresdener  Abmachungen  voile 
Garantie  der  pragmatischen  Sanction.  Friedrich  in  seiner  Ant- 
wort  verweigerte  dieselbe;  er  hielt  anfangs  die  Absichten  Oester- 
reichs  nicht  fur  so  gefahrlich,  als  sie  den  Ajischein  hatten,  doch 
machten  ihn  die  Nachrichten  von  russisch-osterreichisch-sachsi- 
schen  Intriguen  auf  dem  polnischen  Reichstage,  von  Truppen- 
bewegungen  in  Oesterreich  selbst  und  von  der  feindseligen  Hal- 
tung  Russlands  besorgter,  auch  er  nahm  jetzt  eine  schroffere 
Haltung  an,  ein  in  Berlin  entdeckter  russischer  Spion,  der 
Danziger  Ferber,  wurde  hingerichtet;  als  im  October  endb'ch 
Graf  Bernes  in  Berlin  eintraf,  wurde  ihm  der  kiihlste  Emp&ng 
zu  Theil,  erst  nach  4  Wochen  wurde  ihm  die  Antrittsaudienz  bei 
dem  Konige  bewilligt. 

Die  Spannung  zwischen  beiden  Machten  hat  sich  dann  ra 
Ende  des  Jahres  noch  gesteigert:  Maria  Theresia  hoffte  fur  das 
nachste  Jahr  auf  Kosten  der  Seemachte  30,000  Mann  russischer 
Hiilfstruppen  fur  den  Krieg  gegen  Frankreich  zu  gewinnen,  so 
diese  Macht  zum  Frieden  zu  zwingen  und  dann  mit  Hiilfe  der 
Russen  auch  im  Reich  gegen  Preussen  vorzugehen.  Sie  liess  in 
einer  Denkschrift  an  Preussen  die  Forderung  erneuern,  dieses 
sollte  die  Garantie  des  Gesammtbestandes  der  osterreichischen 
Monarchic  iibernehmen,  sie  verlangte  fur  die  Beforderung  der 
Reichsgarantie  des  Dresdener  Friedens  diejenige  dor  Reichs- 
garantie der  Gesammtlande  Oesterreichs,  Forderungen,  die  natiir- 
lich  von  preussischer  Seite  auf  das  entschiedenste  zuriickgewiesen 
wurden. 

Der  Verf.  bricht  hier  seine  Darstellung  mit  dem  Hinweis 
darauf  ab,  dass  diese  von  der  Kaiserin  hauptsachlich  unter  dem 


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v.  Schlozer,  General  Graf  Chasot.  281 

Einflusse  ihres  Ministers  Bartenstein  durchgefuhrte  Politik  keines- 
wegs  von  alien  ihren  Rathgebern,  auch  nicht  von  ihrem  Gemahl, 
dem  Kaiser,  gebilligt  worden  ist. 

In  einem  ersten  Excurse  werden  Ausziige  aus  den  Depeschen 
des  osterreichischen  Gesiandten  in  London,  v.  Wasner,  mitgetheilt, 
welche  interessante  Nachrichten  iiber  die  Vorgange  am  Hofe 
Konig  Georgs  in  der  Zeit  der  Ministerkrisis  enthalten  nnd  welche 
namentlich  zeigen,  dass  auch  der  Prinz  von  Wales  der  ent- 
schieden  preussenfeindlichen  Eichtung  angehort  hat.  Ein  zweiter 
Excurs  enthalt  Nachtrage  zu  einem  friiheren  Aufsatze  des 
Vert  iiber  geschriebene  Zeitungen,  welche  aus  den  hier  benutzten 
Archivalien  gesammelt  sind. 

Berlin.  F.  Hirsch. 

LXX. 
von  Schlozer,   Kurt,  General  Graf  Chasot.     Zur  Geschichte 
Fried  richs  des  Grossen  und  seiner  Zeit.     2.  umgearbeitete  und 
vermehrte   Auflage.     gr.    8.    (VIII,    240    S.)     Berlin     1878. 
W.  Hertz.     4  M. 

„Hatte  Rheinsberg  seinen  Chronisten  gehabt,  der  gleich  dem 
Marquis  Dangeau  in  Versailles  sich  Zeit  genommen  hatte,  von 
jedem  Tage  die  Eindriicke  und  Ereignisse  und  die  cursirenden 
Anecdoten  aufzuzeichnen"  —  wer  bedauerte  nicht  wie  der  Herr 
Verfasser  des  vor  uns  liegenden  anziehenden  Lebfensbildes  (S.  49) 
die  bekannte  Lucke  in  dem  Quellenmaterial  fiir  die  neuere 
deutsche  Geschichte,  das  Fehlen  einer  Memoirenliteratur.  Wie 
lebenswahr  und  plastisch  treten  uns  aus  den  englisohen  und  fran- 
zosischen  Memoiren  die  Figuren  der  Handelnden  entgegen,  in  wie 
achemenhaften  Umrissen  verschwimmen  dagegen  hier  alle  nicht  im 
ersten  Vordergrund  stehenden  Personlichkeiten.  Um  so  dankens- 
werther  ist  bei  diesem  Zustande  der  Ueberlieferung  eine  histori- 
sche  Arbeit  wie  der  biographische  Essai,  der  uns  jetzt  in  zweiter 
Auflage  geboten  wird.  Mit  grosser  Umsicht  und  Belesenheit 
tragt  sich  der  Verfasser,  der  auf  dem  Gebiete  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  zu  Hause  ist,  aus  Fragmenten  Chasotscher  Me- 
moiren und  aus  den  Briefen  seines  Helden,  aus  dem  preussischen 
Staatsarchiv  und  dem  Regimentsarchiv  zu  Pasewalk,  aus  liibecker 
Chroniken  und  der  gedruckten  Literatur  das  Material  zusanimen, 
das  er  mit  Kritik  und  Geschmack  zu  einem  farbenreichen 
Lebensbilde  zu  verarbeiten  versteht.  Die  wechselnden  Schick- 
sale  eines  charakteristischen  Vertreters  des  Rheinsberger  Kreises 
—  „Der  Matador  meiner  Jugend"  heisst  Chasot  dem  grossen 
Friedrich  —  des  heldenkiihnen  Reiters  von  Hohenfriedberg  und 
nachmaligen  liibecker  Stadtcommandanten  erhalten  ihren  wirkungs- 
vollen  Hintergrund  durch  die  Erzahlung  der  grossen  Zeitereig- 
nisse,  mit  denen  sie  eng  verflochten  sind.  Sehr  im  Interesse  der 
gefalligen  und  durchsichtigen  Darstellung,  die  alle  Werke  des 
Verfassers  auszeichnet,  sind  die  in  dieselbe  aufgenommenen  Mit- 
theilungen   aus  franzosischen  Quellen  in  der  zweiten  Auflage  ins 


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282       y.  Helfert.    Joachim  Murat,  seine  letzten  Kampfe  und  sein  Ende. 

Deutsche  iibertragen  worden.  Aus  der  Zahl  der  sonstigen 
Aenderungen  heben  wir  die  Berichtigung  in  Betreff  des  Sterbe- 
ortes  Chasots  hervor  (S.  216).  Zu  dem  interessanten  Excure 
„Chasot  und  das  Feldjagercorps"  (S.  218  ff.)  sei  es  mir  verstattet, 
auf  eine  im  Geh.  Staatsarchiv  befindliche  Cabinetsordre  Fried- 
ricbs  des  Grossen  vom  18.  Februar  1741  auftnerksam  zu  machen, 
durch  die  der  Konig  dem  Generallieutenant  y.  Dossow  mittheilt, 
dass  er  gesonnen  sei,  „in  der  Schlesie  eine  Freicompagnie  von 
150  Mann  zu   errichten  und   solche   dem  Major  Ponceletzu 

conferiren" „Es    wird    solcbe   in   alien   Stiicken  dergestalt 

gehalten  und  gebraucbet  werden,  als  die  welche  Mein  Herr  Vater 
vor  seinem  Ableben  unter  dem  Poncelet  hat  errichten  wollen" 
nur  soil  die  Compagnie  „anstatt  der  weissgraulichen  Monduru 
griine  mit  rothen  Aufschlagen  bekommen,  der  Konig  erwartet 
Poncelet,  der  bei  Dossow's  Regiment  in  Wesel  stand,  bis  Ende 
Marz.  Vielleicht  also  erhielt  Chasot  nur  ein  interimistisches 
Kommando  bis  zum  Eintreffen  des  schon  von  Friedrich  Wilhehn  L 
fur  die  neue  Truppe  in  Aussicht  genommenen  Kommandeurs;  dies 
wiirde  zugleich  seinen  sonst  auffallenden  baldigen  Uebertritt  zu 
einer  andern  Waffe,  den  Pasewalker  Dragonern,  erklaren. 
Berlin.  Reinhold  Koser. 

LXXI. 
v.  Helfert,  Frhr.    Joachim  Murat,  seine  letzten  Kampfe  wrf 

8ein  Ende.     Mit  Beniitzung  von  Schriftstiicken  des  K.  K.  Hans-, 

Hof-   und    Staats-Archivs.    gr.    8.    (X,    244.)    Wien    1878. 

Manz'sche  k.  k.  Hof-Verlags-  und  Universitats  -  Buchhandlung. 

4  M. 

Das  vorliegende  Buch  des  fur  Erforschung  der  osterreichi- 
sche'ii  Geschichte  mit  unermiidlichem  Fleisse  thatigen  Freiherrn 
von  Helfert  bildet  die  Fortsetzung  zu  seinem  kurz  vorher  er- 
schienenen  Werke:  Konigin  Karolina  von  Neapel  und  Sicilkn. 
(Wien  1878,  Braumiiller.)  Wenn  das  eben  genannte  Werk, 
welches  eigentlich  eine  Geschichte  Neapels  und  Siciliens  in  der 
Zeit  der  firanzosischen  Revolution  und  Napoleons  ist,  mit  dem 
Tode  der  Konigin  Karolina  am  8.  September  1814  abschliesst, 
so  hat  Helfert  offenbar  und  mit  Recht  das  Bediirfhiss  empfundeB, 
auch  die  Schicksale  ihres  Gegners,  des  Konigs  Joachim,  bis  zu 
seinem  tragischen  Ende  zu  erzahlen.  Mit  einer  umfassenden 
und  sorgfaltigen  Benutzung  auch  der  entlegensten  gedrudctai 
Hiilfsmittel  verbindet  Helfert  eine  treffliche  Kenntniss  der  ihm 
durch  langjahriges  Studium  vertrauten  Acten  des  Wiener  Staatr 
archivs.  Leider  beschrankt  er  sich  ein  wenig  zu  angstUch  anf 
Murat,  seine  Politik  und  seine  letzten  Schicksale,  wahrend  jedem 
Leser  bei  dieser  Gelegenheit  ein  Mehreres  iiber  Oesterreich  xud 
dessen  italienische  Politik  hochst  willkommen  ware.  Das  hiibsch 
ausgestattete,  mit  chronologischer  Uebersicht  und  Index  versehene 
Buch  zerfallt  in  zwei  fast  gleiche  Theile:  der  erste  enthalt  <fe 
Darstellung  der  Schicksale  Murats,   dem   sich  als  zweiter  Theil 


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v.  Helfert.    Joachim  Murat,  seine  letzteti  K&nipfe  und  sein  Ende.      283 

eine  reiche  Auswahl  sehr  unterrichtender  Actenstiicke  anschliesst. 
Unter  diesen  sind  ohne  Frage  die  wichtigsten  einige  Erlasse  von 
Metternich,  deren  Lecture,  wie  AUes  was  dieser  bedeutende  Mann 
geschrieben,  gleichmassig  ein  Genuss  fur  den  Politiker  wie  fur 
den  Historiker  ist. 

Schon  im  Fruhjahr  1813  hatte  Konig  Joachim  sich  mit  dem 
Gedanken  getragen,  sich  von  Napoleon  loszureissen,  urn  im  An- 
schluss an  die  sich  vorbereitende  Coalition  das  Konigreich  Neapel 
fiir  seine  Dynastie  zu  erhalten.  Er  konnte  sich  nicht  verhehlen, 
dass,  wenn  er  an  der  Seite  Napoleons  an  dem  grossen-  Kampfe 
Theil  nehme,  das  Fortbestehen  seines  Konigreichs  unter  alien 
Umstanden  mehr  als  zweifelhaft  werde :  unterlag  Napoleon,  so 
war  die  Restauration  der  Bourbonen  in  Neapel  unausbleiblich, 
aber  selbst  wenn  er  siegte,  so  hatte  Neapel  nichts  Besseres  zu 
hoffen  als  gleich  Holland  dem  Grand -Empire  einverleibt  zu 
werden.  In  diesen  Erwagungen  hat  Joachim  schon  damals  in 
Wien  mit  Metternich  durch  Fiirst  Cariati,  mit  Lord  Bentinck, 
dem  Commandanten  der  Englander  in  Sicilien,  durch  Sir  Robert 
Jones  und  den  Herzog  von  Campo-Chiaro  Unterhandlungen  an- 
gekniipft,  die  freilich  vorlaufig  zu  keinem  bestimmten  Ergebniss 
fiihrten,  aber  doch  die  Moglichkeit  einer  Verstandigung  in  Aus- 
sicht  stellten. 

Als  nun  bei  Leipzig  die  grosse  Armee  Napoleons  zertriimmert 
war,  verliess  Joachim  seinen  Schwager,  wie  er  ihm  versicherte, 
urn  neue  Truppen  in  Neapel  auszuheben,  in  Wahrheit  mit  dem 
festen  Entschlusse,  das  „sinkende  Schiff  Napoleons  zu  verlassen 
und  im  Schlepptau  Oesterreichs  und  Englands  den  bergenden 
Hafen  zu  gewinnen".  Auf  der  Reise  durch  Italien  in  sein 
Konigreich  kam  er  mit  einflussreichen  Personen,  mit  hohen 
Officieren,  in  Beriihrung,  in  deren  Kreise  damals  zuerst  der  Ge- 
danke  einer  Einigung  Italiens  aufkeimte;  es  wurde  ihnen  nicht 
schwer,  den  hochstrebenden  und  phantastischen  Konig  mit  dem 
Traume  zu  erfullen,  der  Befreier  und  Einiger  Italiens  zu  werden. 
Gleich  nach  seiner  Ankunft  in  Neapel  schickte  er  einen  Beamten 
des  auswartigen  Amtes,  Mario  Schinina,  (nach  andern  Berichten 
den  Marquis  St.  Elie)1)  abermals  an  Lord  Bentinck  und  that 
gleichzeitig  den  ersten  offenen  Schritt  des  Abfalls  von  Napoleon, 
indem  er  sich  durch  ein  Decret  vom  11.  November  1813  von 
der  Continentalsperre  lossagte.  Die  Unterhandlungen  mit  Lord 
Bentinck  scheiterten  abermals,  dagegen  fuhrten  die  Verhandlungen 
mit  Oesterreich  diesmal  schnell  zum  Ziele. 

Im  Anfeng  Januar  1814  war,   vom  Hauptquartier  der  Ver- 

x)  Die  SsteiTeichiachen  Berichte  neunen  den  Unterh&ndler  Schinina. 
,Jrgendwo",  sagt  Helfert  (Konigin  Karolina  S.  527),  „fand  ich  den  Marquese 
St.  Elie  genannt".  In  der  That  wird  St.  Elie  erwahnt  in  der  officiellen 
Darlegung  der  neapolitanischen  Politik,  die  Campo-Chiaro  am  27.  Octo- 
ber 1814  wfihrend  des  Wiener  Congresses  den  Vertretern  der  Grossmachte 
mittheilte.  (Memoire  historique  sur  la  conduite  politique  et  militaire  de 
S.  M.  le  roi  de  Naples  depuis  la  bataille  de  Leipzig  jusqu'a  la  paix  de  Paris 
da  30  mai  1814.) 


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284      v-  Helfert.    Joachim  Murat,  seine  letzten  Kfimpfe  and  sein  Ende. 

biindeten  entsendet,  Graf  Neipperg  in  Neapel  erschienen,  um 
endlich  mit  Konig  Joachim  zu  einem  Abschluss  zu  gelangen. 
Nach  kurzen  Berathungen  und  Verhandlungen  wurde  am  8.  Januar 
ein  vorlaufiger,  am  11.  Januar  em  definitiver  Vertrag  vereinbart, 
nach  welchem  Oesterreich  und  Neapel  sich  ihre  Besitzungen  in 
Italien  garantirten,  Joachim  auf  Sicilien  verzichtete,  dafiir  aber 
eine  Vergrosserung  von  400,000  Seelen  (man  dachte  an  Theile 
des  Kirchenstaates)  erlangen  sollte.  Oesterreich  verpflichtete 
sich  60,000  Mann,  Neapel  30,000  Mann  auf  den  itaUenischen 
Kriegsschauplatz  zu  send  en,  iiber  welche,  wenn  er  selbst  ins 
Feld  zoge,  Konig  Joachim,  im  andern  Falle  ein  osterreichischer 
General  den  gemeinschaftlichen  Oberbefehl  fiihren  sollte.  Ueber- 
dies  versprach  Oesterreich  seine  guten  Dienste,  um  die  An- 
erkennung  Joachims  von  den  Verbundeten  und  den  Verzicht  Konig 
Ferdinands  von  Sicilien  auf  Neapel  zu  erreichen.  Am  23.  Januar 
setzte  sich  Konig  Joachim  selbst  an  der  Spitze  seines  Heeres 
nach  Nord-Italien  in  Bewegung.  Der  Feldzug  verlief  auch  hier. 
wie  man  weiss,  fur  die  Verbundeten  siegreich,  wiewohl  ihre  Ein- 
tracht  hier  nicht  grosser  war  als  auf  den  andren  Schauplatzen 
des  grossen  Krieges.  Konig  Joachim  kampfte  doch  nur  mit 
halbem  Herzen  gegen  seine  alten  Waffenbriider ;  die  Verbundeten 
ihrerseits  zeigten  ihm  Zuriickhaltung  und  selbst  Abneigung.  Wie 
das  die  gegenseitige  Stellung  einmal  unvermeidlich  machte,  Yer- 
mehrte  das  Misstrauen  des  einen  Theiles  immer  wieder  das  des 
andren.  Metternich  schrieb  von  Chaumont :  der  Kbnig  von  Neapel 
dient  durch  seine  Haltung  der  Sache  des  Kaisers  der  Franzosen 
besser,  als  wenn  er  entschieden  gegen  uns  Partei  ergriffen  hatte. 
Murat  dagegen  klagte  iiber  das  Verhalten  Russlands  und 
Preussens,  die  den  Vertrag  vom  11.  Januar  nur  unter  gewissen 
Modificationen  annehmen  wollten,  iiber  die  Hartnackigkeit  des 
Lord  Bentinck,  der  in  Toscana  gelandet  war,  iiber  Unbotmassg- 
keit  osterreichischer  Offiziere.  Die  Wendung  der  Dinge  vollends, 
welche  in  Frankreich  durch  die  Entthronung  Napoleons  und  die 
Wiederherstellung  der  Bourbonen  eintrat,  brachte  ihn  in  die 
grosste  Aufregung.  Er  sprach  sein  Bedauern  aus,  dass  man 
Marie  Louise  und  den  Konig  von  Rom  geopfert  habe,  undweis- 
sagte  den  baldigen  Sturz  der  Bourbonen.  Da  er  sehr  wohl 
empfand,  wie  sein  eigener  Thron  dadurch  ins  Schwanken  gerathen, 
so  suchte  er  sich  um  so  fester  an  Oesterreich  anzuschliessen, 
indem  er  ihm  seine  Unterstiitzung  in  einem  etwa  ausbrechenden 
Kriege  mit  Russland  anbot. 

So  war  seine  Stellung  nach  aussen  unsicher,  wahrend  seine 
Herrschaft  im  Innern  durch  die  Anhanger  des  alten  Regimes 
sowohl  ^wie  durch  die  Freunde  der  italienischen  Einheit  und 
durch  das  Verlangen  nach  einer  constitutionellen  Verfassung 
bedroht  wurde.  Auch  die  Rolle,  welche  Neapel  und  seine  Ver- 
treter  auf  dem  Congresse  zu  Wien  spielten,  diente  keineswegs 
dazu,  den  Konig  Joachim  zu  beruhigen  oder  seine  Stellung  zo 
befestigen.     Seine   Gesandten   wurden    von    den    Sitzungen   des 

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t.  Helfert.    Joachim  Murat,  seine  letzten  K&mpfe  und  seiu  Ende.      285 

Congresses  ausgeschlossen  und  selbst  gesellschaftlich  zuriick- 
gesetzt,  indessen  die  Vertreter  Konig  Ferdinands  von  Sicilien 
sich  aller  Aufmerksamkeit  zu  erfreuen  hatten.  Das  wirkte  denn 
wieder  auf  Joachim  zuriick  und  vergrosserte  die  allgemeine 
Spannung.  Mit  seinem  Nachbar,  dem  Papst,  konnte  er  zu  keiner 
Verstandigung  gelangen;  bei  den  Verbiindeten  beriihrte  es  un- 
angenehm,  dass  er,  im  bewussten  Gegensatz  zu  ihrer  eigenen 
gemessenen  und  abwehrenden  Haltung,  recht  geflissentlich  sein 
Streben  zur  Schau  trug,  den  Wiinschen  und  Neigungen  der 
Neapolitaner  und  anderer  Italiener  entgegenzukommen.  Metter- 
nich  hielt  es  fur  nothwendig,  ihn  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
dass  man  sich  nicht  selten  Verlegenheiten  schaffe,  wenn  man 
denselben  mit  zu  ungeduldiger  Hand  zu  begegnen  suche.  Ruhe 
sei  die  einzige  Haltung,  die  den  wahrpn  Lateressen  des  Eonigs 
«ntspreche. 

In  dieser  Stimmung,  beunruhigt  wie  er  war  durch  die  immer 
bedenklicber  lautenden  Nachrichten  aus  Wien,  erhielt  Konig 
Joachim  am  4.  Marz  1815  die  Kunde  von  der  Flucht  Napoleons 
von  Elba.  Bald  folgten  die  Nachrichten  von  seiner  gliicklichen 
Landung  in  Frankreich,  von  der  begeisterten  Aufhahme  durch 
die  Bevolkerung , ,  dem  Uebertritt  der  koniglichen  Truppen. 
Joachim  gerieth  in  eine  brennende  Aufregung.  Er  zweifelte  nicht, 
dass  Napoleon  zuletzt  die  Oberhand  behalten  werde;  er  glaubte 
mit  dem  Sterne  Napoleons  auch  seinen  eigenen  wieder  aufgehen 
za  sehen.  Seine  Gattin,  deren  kiihler  und  verstandiger  Geist 
sonst  sein  auf brausendes  Gemiith  besanftigt,  lag  in  Folge  der 
Aufregungen  dieser  Tage  krank  darnieder;  an  ihrer  Stelle  ge- 
wann  die  Prinzessin  von  Wales,  die  sich  damals  in  Neapel  auf- 
hielt  und  fur  Joachim  schwarmte,  Einfluss  auf  ihn.  Sie  sprach 
ihm  von  den  zahlreichen  Anhangern,  die  er  uberall  in  Italien 
babe;  Napoleon  habe  mit  einer  Hand  voll  Leuten  Frankreich 
erobert,  er  besitze  eine  schone  Armee  von  80,000  Mann,  wie 
konne  er  nur  Zuschauer  der  grossen  Ereignisse  bleiben? 

Nach  kurzen  Schwankungen  —  denn  es  fehlte  auch  nicht 
an  Mannern,  die  den  Anschluss  an  Napoleon  widerriethen  — 
versammelte  Konig  Joachim  am  14.  Marz  seinen  Staatsrath,  urn 
ihm  die  bevorstehende  Waflfenerhebung  anzukiindigen.  Trotz  des 
glanzenden  Gemaldes,  das  er  hier  von  seinen  eigenen  Streit- 
kraften  und  der  Unterstiitzung  der  Italiener  entwarf,  wurde  er 
dennoch  gebeten,  erst  Nachrichten  aus  England  und  Oesterreich 
abzuwarten.  Aber  es  zeigte  sich  unmoglich,  die  iiberstromende 
Ungeduld  und  Unruhe  des  Konigs  durch  bedachtigen  Rath  in 
Schranken  zu  halten.  An  Napoleon  sandte  er  den  Grafen 
Beaufremont  mit  der  Versicherung,  dass  der  Kaiser  auf  ihn  zahlen 
konne;  er  selbst  brach  am  17.  Marz  zur  Armee  auf.  Anfangs 
schien  das  Gliick  dem  Konig  zu  lacheln.  In  zwei  Abtheilungen, 
westlich  und  ostlich  vom  Appennin,  drang  das  neapolitanische 
Heer  siegreich  gegen  Norden  vor,  die  schwachen  Schaaren  der 
-Oesterreicher  vor   sich  hertreibend.     Die    Marken   Fermo   und 

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286       v-  Helfert.    Joachim  Murat,  seine  letzten  Kampfe  und  sein  Endo. 

Ancona,  Gubbio,  Pesaro  und  Urbino  wurden  erobert  und  dem 
neapolitaniscben  Konigreiche  einverleibt.  Bologna,'  Ferrara, 
Modena  wurden  ebenfalla  eingenommen.  Damit  aber  hatte 
Joachim  das  Ende  seiner  Siege  erreicht.  Vergebens  versuchte 
er  am  7.  und  8.  April  die  den  Briickenkopf  von  Occhiobello 
besetzt  haltenden  Oesterreicher  in  wiederholten  Angriffen  zu  ver- 
drangen;  alle  seine  Stiirme  wurden  zuriickgewiesen.  Die  Unter- 
stiitzung,  die  er  sich  von  den  Italienern  versprochen  hatte,  blieb 
aus ;  von  der  alten  italienischen  Armee  traten  nur  etwa  400  Mann 
unter  seine  Fahnen ;  dagegen  schlossen  sich  toskanische  und 
modenesische  Regimenter  den  Oesterreichern  an.  Dem  Vor- 
marsch  des  Konigs  war  Halt  geboten,  und  gleichzeitig  bedrohten 
in  sein  em  Riicken  die  Englander  die  neapolitanische  Kiiste. 

Inzwischen  hatten  die  Oesterreicher  ihre  Truppen  zusammen- 
gezogen  und  gingen  am  10.  und  11.  April  unter  Bianchi  ihrer* 
seits  zum  Angriff  iiber.  Konig  Joachim,  uberall  zuriickgedrangt, 
musste  nach  einander  Modena,  Reggio,  Bologna  raumen.  Nach- 
dem  er  vergeblich  gesucht  hatte,  das  Vorrucken  des  oster- 
reichischen  Heeres  durch  Unterhandlungen  aufzuhalten,  kam  es 
am  2.  und  3.*  Mai  bei  Tolentino  zu  einem  Treffen,  in  welchem 
das  neapolitanische  Heer  vollstandig  geschlagen  und  fast  auf- 
gelost  wurde.  Die  Truppen  entliefen  haufenweise  in  ihre  Heimath; 
eine  Brigade  kiindigte  ihrem  General  in  aller  Form  den  Gehor- 
sam  auf,  nur  eine  einzige  Legion  —  so  hiessen  die  neapolitanischen 
Corps  —  erreichte  in  einem  leidlichen  Zustande  Neapel.  Mit 
bittrem  Schmerze  sah  der  Konig  die  schono  Armee,  die  seine 
Freude  und  sein  Stolz  gewesen  war,  vor  seinen  Augen  zer- 
schmelzen ;  er  verbarg  die  Thranen  nicht,  die  seine  Wange  hinab- 
rollten.  Dem  allgemeinen  Ablall  gegeniiber,  der  sich  bei  der 
Armee  wie  im  Innern  seines  Konigreichs  zeigte,  machte  er  noch 
einen  letzten  Versuch,  durch  Verleihung  einer  Verfassung  die 
Anhanglichkeit  seiner  Unterthanen  zu  erhalten.  Er  beauftragte 
den  Staatsrath  Colletta  (den  bekannten  Historiker)  und  den 
Minister  Zurlo  mit  der  Ausarbeitung  einer  Verfassung,  doch 
empfahl  er  ihnen  noch  ausdriicklich,  mit  den  Bewilligungen  an 
das  Volk  nicht  allzu  freigebig  zu  sein. 

Gleichzeitig  aber  waren  auch  schon  die  Oesterreicher  in 
4  Colonnen  iiber  die  neapolitanische  Grenze  gegangen  und  eine 
englische  Flotte  vor  Neapel  erschienen,  welche  die  Stadt  in 
Triimmer  zti  schiessen  drohte,  wenn  die  Forts  nicht  iibergeben 
wurden.  Vor  alien  diesen  Gefahren  verliessen  die  noch  in  Neapel 
weilenden  Mitglieder  der  Familie  Bonaparte  die  Stadt,  und  am 
26.  Mai  wurde  zu  Casa  Lanza  zwischen  Bianchi  und  einigen 
neapolitanischen  Generalen,  deren  ganzes  Heer  sich  nur  noch 
auf  9000  Mann  belief,  eine  Convention  abgeschlossen,  nach  welcher 
Neapel,  Capua  und  Reggio  von  den  Neapolitanern  geraumt 
wurden.  Auf  die  Nachricht  hievon,  noch  am  selbigen  Tage,  ver- 
liess  Joachim  mit  wenigen  Begleitern  Neapel,  und  Hess  sich  nack 
Ischia  hiniiberschiffen,  von  wo  ihn  ein  Handelsschiff  nach  Frank" 

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v.  Helfort.    Joachim  Marat,  seine  let z ton  K&mpfe  und  sein  Ende.       287 

reich  fuhrte.  Seine  ungliickliche  Gattin,  die  vor  dem  Pobel  auf 
ein  englisches  Schiff  gefliichtet  war,  horte  von  hier  aus  das  Lauten 
der  Glocken,  den  Donner  der  Kanonen  und  all  das  festliche  Ge- 
prange,  welches  den  Einzug  des  Prinzen  Leopold  von  Sicilien 
begleitete.  Sie  begab  sich  spater,  auf  Grund  eines  Abkomraens 
mit  der  osterreichischen  Regierung,  in  Begleitung  ihrer  Kinder 
nach  Triest 

Murat  hatte  ein  Landhaus  in  der  Nahe  von  Toulon  zu  seinem 
Aufenthalt  gewahlt.  Er  lebte  hier  ruhig,  bis  die  Niederlage 
Napoleons  und  die  Ruckkehr  der  Bourbonen  seine  Lage  bedenk- 
lich  machte.  Es  wurde  ein  Preis  auf  seinen  Kopf  gesetzt,  und, 
urn  die  Verrather  anzureizen,  ausgesprengt,  dass  er  grosse  Schatze 
mit  sich  fiihre.  Nach  vielen  Abenteuern  und  Gefahren  —  er 
musste  einmal  2  Tage  und  2  Nachte  ohne  Nahrung  umherirren> 
dann  sich  langere  Zeit  in  einem  Loche  verborgen  halten  —  ge- 
lang  es  ihm  endlich,  auf  einem  Schiflfe  nach  Corsica  zu  ent- 
kommen,  wo  er  in  dem  Stadtchen  Yescovato  eine  Zuflucht  fand. 
Hier  fehlte  es  bald  nicht  an  herzustromenden  Soldaten,  selbst 
nicht  an  niederen  und  hoheren  Offizieren,  welche  herbei  kamen, 
theils  urn  nur  ihre  Neugierde  zu  befriedigen,  theils  um  dem  ge- 
stiirzten  Monarchen  ihre  Theilnahme  zu  bezeigen;  viele  unter 
ihnen  verblieben  bei  Murat  und  bildeten  eine  Art  Leibgarde  um 
ihn.  Inmitten  dieser  abenteuerlichen  Umgebung  reifte  allmahlich 
in  Murat  der  Entschluss,  den  Bourbonen  sein  Konigreich  wieder 
zu  entreissen.  Er  redete  sich  ein,  dass  er,  den  die  Zweideutig- 
keit  seiner  Haltung  und  die  Unmoglichkeit  seiner  Stellung  ge- 
8tiirzt  hatte,  nur  in  Folge  ungliicklichor  Zufalle,  durch  Verrath, 
Ausstreuung  falscher  Geriichte,  unterlegen  sei ;  er  zweifelte  keinen 
Augenblick,  dass  seine  Unterthanen,  „ seine  Kinder",  ihn  ebenso 
freundlich  aufiiehmen  wiirden,  wie  Napoleon  von  den  seinigen 
aufgenommen  sei.  Am  23,  September  hielt  er  einen  feierlichen 
Einzug  in  Ajaccio,  unter  freudiger  Betheiligung  des  Volkes,  die 
ihn  in  alien  seinen  Ulusionen  nur  bestarkte.  Er  war  trunken  vor 
Freude  und  Siegesgefiihl ,  taub  gegen  alle  Einwendungen  und 
Vernunftgriinde ;  er  rief  damals  aus:  „so  sei  es  denn,  ich  will 
leben  oder  sterben  inmitten  meines  Volkes.  Ich  will  nach  Neapel, 
versaumen  wir  keinen  Augenblick,  uns  dort  einzufinden."  Am 
28.  September,  wenige  Stunden,  bevor  er  die  Insel  verliess,  erhielt 
er  durch  den  Obersten  Maceroni  das  Anerbieten  der  osterreichi- 
schen Regierung,  unter  ihrem  Schutze  sich  in  Triest  nieder- 
zulassen.  Murat  lehnte  es  ab ;  wenn  die  Corsen,  meinte  er,  mich 
so  aufgenommen  haben,  wie  wird  das  erst  bei  den  Neapolitanern 
sein,  die  ich  stets  mit  Wohlthaten  iiberschiittet  habe.  Er  war 
nicht  mehr  zu  halten,  der  Boden  brannte  ihm  unter  den  Fiissen. 
In  der  Nacht  zum  29.  lichtete  er  die  Anker;  mit  einer  kleinen 
Flottille  von  wenigen  Schiffen,  begleitet  von  etwa  250  Mann, 
segelte  er  nach  Neapel,  um  sein  verlorenes  Konigreich  wieder 
zu  erobern. 

An  der  Kiiste  Calabriens  liegt  Pizzo,   damals  ein  Ort  von 


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288       v-  Helfert    Joachim  Murat,  seine  letzten  Kfimpfe .  and  sein  Eade. 

8000  Einwohnern,  auf  einem  Hiigel,  zu  dem  vom  Strande  her 
ein  etwas  steiler  Fusspfad  aufsteigt,  der  durch  Pizzo  hindturcb 
nach  Monteleone  fiihrt.  Hier  landete  Murat  an  einem  Sonntage, 
zwischen  11  und  12  Uhr  Vormittags;  seine  Schiffe  hatten  sicb 
auf  der  Fahrt  zerstreut,  es  folgten  ihm  nur  noch  29  Mann. 
Die  Aufnahme,  auf  die  er  gerechnet  hatte,  fand  er  nicht;  das 
Yolk  lief  herbei,  aber  mehr  neugierig  und  erstaunt,  als  theil- 
nahm8voll,  und  schloss  sich  ihm  nicht  an.  Als  die  erste  Ueber- 
raschung  voriiber  war,  auf  dem  Wege  nach  Monteleone,  wo  man 
ihm  auf  mehr  Anhanger  Hoflhung  gemacht  hatte,  wurde  er  an- 
gegriffen.  Er  erkannte  jetzt,  dass  Alles  verloren  sei.  In  rascher 
Flucht,  den  Abhang  des  Hiigels  hinunter,  stiirzte  Murat  mit 
seinen  Begleitern  nach  dem  Strande.  Indem  sie  hier  ein  Boot 
zu  losen  suchten,  urn  zu  ihrem  Schiffe  zu  gelangen,  wurden  sie 
von  den  Verfolgern  ereilt,  und  nach  kurzem  Widerstande  gab 
sich  Murat  gefangen. 

Schon  am  12.  October  Abends  kam  ein  Eilbote  von  Neapel 
mit  dem  Befehle  des  Konigs  Ferdinand,  iiber  den  mit  den  Waffec 
Ergriffenen  durch  ein  Kriegsgericht  aburtheilen  zu  lassen.  Als 
Murat  am  13.  Morgens  davon  in  Kenntniss  gesetzt  wurde,  sah 
er,  was  ihn  erwartete;  „weh  mir,"  rief  eraus,  „ich  bin  verloren: 
das  Kriegsgericht  ist  der  Tod!"  Er  verschmahte  es,  vor  den 
Richtern,  die  seine  Unterthanen  seien,  sich  zu  vertheidigen  oder 
vertheidigen  zu  lassen.  Man  horte  ihn  von  der  Erschiessung 
des  Herzogs  Enghien  sprechen,  die  Konig  Ferdinand  jetzt  durch 
eine  andere  Tragodie  wett  machen  wolle;  unter  Anrufen  Gottes 
stellte  er  alien  und  jeden  Antheil  daran  in  Abrede.  Um  5  Ok 
Nachmittag8  wurde  das  Urtheil  iiber  ihn  gesprochen;  es  lautete 
auf  Tod  wegen  Attentats  gegen  die  bestehende  Regierung  mA 
Aufreizung  zum  Biirgerkrieg  und  bewaffneten  Aufetand;  nach  den 
Gesetzen,  die  einst  Konig  Joachim  gegeben,  wurde  jetzt  General 
Murat  zum  Tode  verurtheilt.  Eine  halbe  Stunde  darauf,  nach- 
dem  er  in  nihrenden  Briefen  von  seiner  Gattin  und  seinen 
Kindern  Abschied  genommen,  ist  er  erschossen  worden. 

Paul   Bailleu. 


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LXXII. 
Duncker,  Max,  Geschichte  des  Alterthums.  Zweiter  Band.  Fiinfte 

verbesserte   Auflage.     gr.  8°.     (XIII,  606  S.)     Leipzig,   1878. 

Duncker  &  Humblot.  11,20  M. 
Auch  der  vorliegende  zweite  Band  von  Duncker's  Geschichte 
des  Alterthums  zeigt  ebenso  wie  der  erste  (s.  unsre  Anzeige 
desselben  in  Jahrgang  6  dieser  Zeitschrift,  S.  193  f.)  in  der 
neuen  funften  Auflage  mannichiache  Veranderungen  und  Ver- 
besserungen.  Dieselben  sind  zum  Theil  formeller  Art,  die  aussere 
Anordnung  ist  mehrfach  verandert,  einige  grossere  Abschnitte 
9ind  getheilt  worden,  so  dass  das  dritte  Buch  statt  10  jetzt 
13,  das  vierte  statt  12  jetzt  18  Abschnitte  enthalt;  auch  die 
Aufeinanderfolgo  derselben  ist  in  diesem  letzten  Buche  eine 
andere  geworden,  namentlich  ist  die  friiher  an  den  Schluss  ge- 
stellte  Geschichte  Aegyptens  jetzt  in  drei  verschiedenen  Ab- 
schpitten  (3,  13  und  16)  zwischen  den  anderen  eingeschaltet 
worden.  Auch  innerhalb  der  einzelnen  Abschnitte  ist  der  Stoff 
mehrfach  anders  geordnet  worden.  Sachlich  sind  in  der  Haupt- 
sache  unverandert  geblieben  im  dritten  Buche  die  Abschnitte 
4—10,  welche  die  judische  Geschichte  bis  zur  Mitte  des  9.  Jahr- 
hunderts  behandeln,  (hinzugefugt  ist  hier  nur  S.  100  ft  die  Dar- 
stellung  des  Verhaltnisses  Sauls  zu  Samuel,  S.  107  der  Bericht 
der  alteren  Relation  iiber  die  Hinrichtung  der  mit  David  ver- 
bundenen  Priester  durch  Saul,  ferner  S.  192  f.  eine  langere  An- 
nierkung,  in  welched  die  Einwande  gegen  die  Identificirung  des 
in  assyrischen  Inschriften  genannten  Konigs  von  Damascus  und  des 
Achabbu  mit  Benhadad  von  Damascus  und  dessen  Zeitgenossen 
Konig  Ahab  von  Israel  zuriickgewiesen  werden)  dagegen  haben 
hier  Bereicherungen  erfahren  gleich  die  beiden  ersten  Abschnitte 
ndie  Sage  von  Ninos  und  Semiramis"  und  „die  Anfange  des 
assyrischen  Reiches".  In  dem  ersteren  wird  jetzt  (S.  5.  15),  K. 
Jacoby  folgend,  Diodors  Bericht  nicht  aus  Ktesias  selbst,  sondern 
aus  der  Bearbeitung  desselben  durch  Kleitarchos  abgeleitet,  fur 
den  zweiten  hat  der  Verf.  jetzt  ebenso  wie  nachher  fur  die  an- 
deren, die  spatere  assyrische  Geschichte  behandelnden  Abschnitte 
die  in  Smith's  Discoveries  herausgegebenen  Inschriften  verwerthet. 
Fur  Abschnitt  3  „Seefahrt  und  Colonisation  der  Phonikier" 
haben  dem  Verf.  die  Ausgrabungen  in  Thera,  Melos,  Hissarlik 
und  Mykenae  neue  Ausbeute  gewahrt  (S.  56—58),  die  dort  ge- 
fundenen  Gerathe  und  Schmucksachen  sind  seiner  Ausicht  nach 
durch  die  Phonikier  dorthin  gebracht  worden,  die  Graber  in 
Mykenae  selbst  aber  sind  nicht  phonikisch,  die  Bestattung  der 
Todten  dort  mit  ihren  Riistuugen  weist  auf  karische  Sitte  hin ;  der 
Verf.  vermuthet  daher,  dass  Karer  von  den  westlichen  Kykladen 
aus  sich  auch  an  der  Kiiste  von  Argos  festgesetzt  haben.  Der 
Zeitpunkt  der  Colonisation  von  Kypern  durch  die  Phonikier  wird 
jetzt  (S.  43)  auf  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  angesetzt,  fur 
die  Bestimmung  der  Zeit  ihrer  Ansiedlung  im  agaischen  Meere 
wird   (S.  60)   auf  die   zu   Hissarlik   gefundenen   Thonlinsen    mit 

Mittheilungcn  a.  d.  hlitor.  Litteratur.    VIL  19 

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290  Duucker,  Geschichte  des  Alterthums. 

kyprischen  Schriftzeichen  hingewiesen.  Auch  die  spiiteren  die  pho- 
nikische  Geschichte  behandelnden  Abschnitte  enthalten  Zusatze, 
S.  216  ff.  wird  die  Baukunst  und  die  sonstige  Kunstthatigkeit 
der  Phonikier  auf  Grund  der  in  neuester  Zeit  theils  in  Phoni- 
kien  selbst,  theils  in  Mykenae  und  in  Spata,  bei  Marathon,  ge- 
machten  Entdeckungen  eingehender  dargestellt,  S.  232  werden  die 
an  den  beiden  letzteren  Orten  sowie  in  etruskischen  Grabern  ge- 
fundenen  babylonischen  und  agyptischen  Fabrikate  als  Beweise 
fur  den  ausgedehnten  Handelsverkehr  der  Phonikier  aufgefiihrt 
In  Abschnitt  13  „die  Erhebung  Assyriens"  wird  S.  243  nach 
Smith  unter  den  Bauten  Konig  Assurnasirpals  auch  em  Palast 
in  Niniveh  genannt,  ferner  wird  hier  (S.  254)  auf  zwei  von  Oppert 
und  Menant  in  den  Documents  juridiques  herausgegebene  Pri?at- 
urkunden  aus  der  Regierungszeit  Konig  Bin-Nirars  (c.  800)  hin- 
gewiesen, denen  Notizen  in  phonikischen  Buchstaben  beigefiigt  sind 
und  welche  zeigen,  dassman,  obwohl  man  dort  die  Buchstaben- 
schrift  schon  kannte,  dennoch  die  Keilschrift  beibehalten  hat. 

Im  vierten  Buche  enthalten  die  Abschnitte  iiber  die  spatere 
assyrische,  ebenso  auch  die  iiber  die  jiidische  Geschichte,  uber 
die  Volker  des  Nordens,  iiber  das  babylonische  und  iiber  das 
lydische  Reich  sachliche  Aenderungen  und  Zusatze  nur  wenig, 
ich  weise  nur  darauf  hin,  dass  (S.  349  f.)  jetzt  die  Einnahme 
von  Babylon  durch  Sanherib  auf  694,  statt  friiher  689,  fest- 
gesetzt,  dass  ferner  die  friiher  von  dem  Verf.  zuriickgewiesene 
Hypothese,  die  Sky  then,  welche  c.  630  Medien  und  ganz  Vorder- 
asien  iiberflutheten,  seien  nicht  Skoloten  vom  schwarzen  Meere, 
sondern  Saken  von  jenseits  des  caspischen  Meeres  her  gewesen, 
jetzt  (S.  467)  doch  von  ihm  angenommen  ist,  dass  er  (S.  477  i) 
die  Richtigkeit  der  Interpretation  assyrischer  Inschriften  darck 
Smith,  wonach  diese  sich  auf  den  letzten  Konig  von  Assyrien, 
Assur-idil-ili,  auf  einen  Vorganger  desselben  Bel-zakir-iskun  und 
auf  Kyaxares  von  Medien  beziehen  sollen,  bezweifelt ,  dass  jetzt 
(S.  536  ff.)  vollstandiger  die  verschiedenen  Angaben  der  Altea  uber 
die  Topographie  von  Babylon  zusammengestellt  und  auf  die  IV 
wahrscheinlichkeiten  in  dem  Berichte  Herodots  hingewiesen,  endlich 
dass  in  einer  langeren  Anmerkung  (S.  571  ff.)  die  Chronologie 
der  lydischen  Konige  genauer  begriindet  wird.  Am  meisten  be- 
reichert  erscheint  der  erste  Abschnitt  (3)  iiber  Aegypto 
und  zwar  hauptsachlich  durch  die  Benutzung  von  Brugsch's  Ge- 
schichte Aegyptens  unter  den  Pharaonen.  Wir  finden  bier 
(S.  297  ff.)  jetzt  genauere  Angaben  iiber  die  Zeit  der  letzten 
Ramessiden,  iiber  die  machtige  Stellung,  welche  damals  die 
thebanischen  Oberpriester  eingenommen  haben,  ferner  iiber  die 
diesen  folgenden  Dynastien  von  Tanis  und  Bubastis,  deren  Be- 
gierungszeit  jetzt  1074—960  und  960—780  angesetzt  wird,  die 
semitische  Abkunft  der  letzteren  Dynastie  wird  anerkannt,  da- 
gegen  die  Hypothese  von  Brugsch,  dass  es  assyrische  Konige  g^ 
wesen,  dass  schon  damals  Aegypten  von  den  Assyrern  unterworfen 
sei,   zuriickgewiesen.     Zum   Theil  neu  sind   dann  die  Angaben 


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Kuhn,  Ueber  die  Entatehung  der  Stadte  der  Alten.  291 

(S.  305  f.)  iiber  die  Auflosung  Aegyptens  in  eine  Anzahl  von 
einzelnen  Fiirstenthiimern,  welche  der  Eroberung  durch  die 
Aethiopen  vorangeht,  S.  312  f.  wird  die  Chronologie  der  athio- 
pischen  Konige  Aegyptens  in  einer  langeren  Anmerkung  genauer 
untersucht,  neu  sind  auch  die  Angaben  (S.  315  f.)  iiber  die 
Bau ten  Tirhaka's  in  Nubien.  Auch  Abschnitt  13  „Aegypten 
unter  Psammetich  und  Necho"  enthalt  manche  Erweiterangen, 
(S.  456)  Einzelnheiten  aus  dem  Befreiungskampfe  Psammeticlis 
gegen  die  assyrische  Herrschaft,  S.  457  iiber  seine  Ge- 
mahlin,  S.  489  Betrachtungen  iiber  die  Kampfe  Psammeticlis 
in  Syrien.  S.  492  wird  gezeigt,  dass  die  Angaben  Herodots  und 
Diodors  iiber  die  Zahl  der  nach  Aethiopien  auswandernden 
agyptischen  Krieger  (240000  und  200000)  iibertrieben  sein 
miissen;  die  ausfiihrliche  Darstellung  des  Feldzuges  Necho's 
nach  Asien  findet  sich  jetzt  hier  (S.  496  ff.),  wahrend  sie  friiher 
in  dem  den  Untergang  des  Reiches  Juda  behandelnden  Ab- 
schnitte  enthalten  war.  Abschnitt  16  ,.Aegypten  unter  den 
letzten  Pharaonen"  ist  in  der  Hauptsache  unverandert  geblieben, 
kleinere  Zusatze  finden  sich  S.  560  f.  (Folgerungen  aus  den  In- 
schriften  griechischer  und  phonikischer  Soldner  unter  Psamme- 
tich II.  zu  Abu  Simbel),  S.  564  f.  (genauerer  Nachweis  der  Un- 
wahrscheinlichkeit  der  Nachrichten  Herodots  iiber  Siege  Konig 
Hophra's  in  Syrien),  S.  567  (die  Namen  der  agyptischen  Frauen 
des  Amasis).  —  Eine  nicht  geringe  Zahl  von  Druckfehlern  ist 
uns  in  diesem  Bande  aufgefallen. 

Berlin.  F.  Hirsch. 

LXXIII. 
Kuhn,  Dr.  Emil,   Ueber  die  Entstehung  der  Stadte  der  Alten. 
Komenverfassung  und  Synoikismos.     gr.  8.     (VI,  454  S.) 
Leipzig,  1878.     B.  G.  Teubner.     10  M. 
Der   gelehrte  Verf.    hat  in   dem   vorliegenden   Werke   eine 
Arbeit  geliefert,  die  auf  eingehenden  Studien  beruht  und  daher, 
falls  sie  genau  beurtheilt  werden   soil,    eine   eigene  Abhandlung 
nothig   macht.     Eine    solche    wird    schwerlich   in    der   nachsten 
Zeit  gefertigt  werden  und   werden   demnach  Berichtigungen   im 
Einzelnen   und  Ganzen   erst   erfolgen  konnen,   nachdem  Detail- 
arbeiten  erschienen  sind. 

Der  Verf.  macht  zunachst  auf  die  Verschiedenheit  aufmerk- 
sam,  welche  zwischen  dem  Begriffe  der  Stadt  im  Alterthume 
und  in  der  Neuzeit  stattfindet. 

Im  Alterthum  beruhte  der  Begriff  einer  Stadt  auf  der  Ver- 
kniipfung  von  Stadt  und  Land  zu  einem  einzigen,  den  Gegensatz 
derselben  ausschliessenden  Organismus.  Urspriinglich  wohnten 
die  Volker  des  Alterthums  in  Gauen  getheilt,  doch  leben  die 
andern  alten  Volker  meist  alle  in  geschlossenen  Ortschaften 
(connexis  et  cohaerentibus  aedificiis),  nur  bei  den  Germanen 
war  der  Wohnsitz  eines  Jeden  von  dem  des  Andern  getrennt. 
Die  Alten  fassten  als  die  Substanz  des  Staates  die  Gesammtheit 

19* 

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292  Kuhn,  Ueber  die  Entstehung  der  Stadte  der  Alten. 

der  Grundeigenthiimer  auf.     Ihre  Stadte  enthielten  zugleich  den 
Begriff  der  Gemeinde  und  des  Staates  in  sich. 

Die  Entwickelung  der  Stadte  soil  zunachst  fur  Griechenland 
nachgewiesen  werden.  Zur  Zeit  Homers  gab  es  wenig  Stadte, 
nur  Athe'n,  Theben  und  einige  andere  konnen  als  damals  vor- 
handene  Stadte  nach  den  Begriffen  der  spateren  Zeit  betrachtet 
werden.  Die  Mebrzahl  der  Orte,  die  Homer  Stadte  nennt, 
dtirften  als  blosse  Burgen  aufzufassen  sein.  Zu  Thucydides'  Zeit 
lasst  sicb  der  Unterschied  zwischen  yxifirj  und  rtoXiq  so  feststellen, 
dass  erstere  Orte  politisch  zu  einem  Ganzen  verbunden  sind, 
nichts  destoweniger  raumlich  abgesondert  fiir  sich  bestanden. 

Die  Spartiaten  und  die  meisten  Hellenischen  Stamme  waren 
anfangs  in  mehrere  Ortschaften  aufgelost  und  getrennt  und 
wurden  erst  spater  in  einen  Ort  vereinigt.  Zunachst  untersucht 
der  Verf.  die  Verhaltnisse ,  welche  bei  den  Volkern  des  Pelo- 
ponnes  stattgefundeu  haben.  Wir  heben  als  wichtig  "hervor 
das,  was  der  Autor  iiber  Arkadien  und  Achaja  mittheilt.  Er 
schliesst  seine  Betrachtung  iiber  das  erste  Volk  mit  den  Worten: 
„Die  Geschichte  keines  anderen  Volkes,  als  die  der  Griechen, 
und  unter  diesen  wieder  der  Arkader  insbesondere,  belegt  wohl 
mit  bedeutenderen  Ziigen.,  dass  der  Grad  der  politischen  Ent- 
wickelung eines  Volkes  auf  dem  Principe  der  Centralisation,  der 
Unterordnung  der  Theile  unter  das  Ganze  beruhe,  hing^en 
Schwache,  politische  Unmiindigkeit,  wie  gesammte  Entwickelung 
durch  den  Gegensatz  beider  nothwendig  bedingt  seien.  Denn 
keinem  anderen  Grunde,  als  dem  Mangel  der  Centralisation  und 
der  auf  Einen  Zweck  gerichteten  ortlichen  Leitung  kann  es 
zugeschrieben  werden,  dass  die  Mantineier,  ungeachtet  dies 
bios  fiinf  Komen  zahlten,  jene  (die  Arkader)  ihrer  Herrschaft 
zu  unterwerfen  im  Stande  waren." 

Durch  die  Untersuchungen  des  Verf.  erhalt  der  Leser  ein 
lebendiges  Bild  namentlich  von  dem  Leben  und  Treiben  der 
Staaten,  welche  in  der  Geschichte  nur  voriibergehend  betrachtet 
werden.  Er  entwirrt,  so  viel  das  moglich  ist,  die  verschiedene 
Bedeutung  der  Landes-  und  Gaunamen  zu  verschiedenen  Zeiten 
und  weist  dabei  nach,  welche  Anlange  zu  grosseren  Gremein- 
schaften  gemacht  und  wrieder  untergegangen  sind. 

Vom  Peloponnes  geht  der  Autor  zum  nordlichen  Griechen- 
land und  zwar  zum  alten  Attika  iiber.  Da  sind  nun  sehr  schwie- 
rige  Aufgaben  zu  losen,  zunachst  die  Feststellung  der  Theile 
des  Landes,  die  Trittyes,  die  Demen;  die  Eintheilung  des  Volkes 
nach  Phylen,  Phratrien  und  Geschlechtern  etc.  Als  Resultat 
findet  der  Verf.,  dass  urspriinglich  die  Volker  des  nordhchen 
Griechenlands  ebenso  wie  die  Peloponnesischen  in  eine  bestimmt^ 
Anzahl  von  selbstandigen  Orten  oder  Theilen  xonoi,  x^Qah  !**& 
getheilt  waren.  Was  Strabon  von  denen  des  Peloponnes  te- 
merkt:  sie  hatten  Verbindungen  von  Demen  dargestellt,  aus 
welchen  in  der  Folge  die  bekannten  Stadte  zusammengezogen 
seien,  wiirde  auf  Erstere  ebenfalls  Anwendung  finden. 

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Kuhn,  Ueber  die  Entstehung  der  St&dte  der  Alten.  293 

Nach  Attika  wird  Akarnanien,  dann  Aetolien  behandelt.  Wir 
^rfahren ,  dass  Thermon  nicht  eine  Stadt  gewesen  %  sei.  Von 
ganz  Nordgriechenland  meint  Kuhn,  dass  die  Kleinheit  seiner 
Staaten,  der  Umstand,  dass  seine  Bewohner  in  zerstreuten 
Flecken  wohnten  und  keine  bedeutenden  Stadte  besassen,  die 
Ursache  gewesen  sei,  dass  es  bis  auf  die  Makedonische  Periode 
in  einem  Zustande  sich  selbst  geniigender  Abgeschlossenheit  and 
landschaftlicher  Beschrankung  verharrte.  Gleich  dem  siidwest- 
lichen  Arkadien  und  Aetolien  waren  auch  Doris  und  das  ostliche 
Lokris  in  kleine  Stadtchen  getheilt.  Inschriften  bezeugen,  dass, 
wie  unbedeutend  immer,  jedes  dieser  Stadtchen  ein  fur  sich  bestehen- 
des  Gemeinwesen  mit  einer  Bule,  einem  Demos,  Archonten  etc. 
darstellte.  Einen  im  Vergleich  mit  dem  geschilderten  wesentlich 
verschiedenen  Anblick  gewahrten  diese  Landschaften  in  der  Zeit 
der  romisch-makedonischen  Kriege.  Das  bringt  den  Verf.  auf 
den  Aetolischen  Bund,  dessen  Verhaltnisse  er  zwar  eingehend, 
aber  doch  so  behandelt,  dass  die  Fulle  der  Hypothesen  den 
Leser  bedenklich  macht.  Zuletzt  bespricht  der  Verf.  Epirus. 
Der  Name  bedeutet  nicht  bei  alien  Schriftstellern  dasselbe.  Der 
Verf.  weist  14  Volker  als  epirotische  nach  und  zeigt,  dass  auch 
sie  in  alter  Zeit  Komenverfassung  gehabt  haben. 

Im  2.  Theile  behandelt  der  Autor  die  Entstehung  der 
Stadte.  In  den  meisten  Landern  der  alten  Welt,  so  meint  er, 
sind  im  allmaligen  Verlaufe  der  Zeit  Stadte  an  die  Stelle  der 
Volker  getreten.  Diese  Stadte  sind  im  "Wesentlichen  nichts 
anderes  als  die  friiheren  Volker ,  nur  anders  organisirt.  Diese 
Umwandelung  beruht  auf  dem  Principe  der  Concentration,  welche 
meist  durch  eine  Massregel  bewirkt  wurde,  die  man  awoi^iaf-iog 
nannte.  Nicht  immer  werden  sammtliche  Bewohner  eines  Landes 
an  einen  einzigen  Ort  zusammengefiihrt,  doch  werden  stets  alle 
offentlichen  Angelegenheiten  des  betreffenden  Landes  dort  con- 
centrirt.  So  ist  Attika  in  Athen  begriffen.  Somit  ist  der  Be- 
griff  „  Stadt u  im  Alterthum  ein  anderer  als  in  der  Neuzeit.  Eine 
Stadt  des  Alterthums  entspricht  einem  Schweizercanton.  Die 
Organisation,  welche  Stadt  und  Umlande  verbindet,  bezeichnet 
bei  den  Alten  das  Wesen  einer  Stadt.  Meist  ist  eine  Stadt  das 
Product  einer  planmassigen  Anordnung. 

Diese  Entwickelung  stellt  der  Vert  in  diesem  Theile  dar. 

Die  von  der  Natur  in  Griechenland  abgegrenzten  Gebiete 
werden  zunachst  durch  eine  gemeinsame  Gottesverehrung  zu- 
sammengehalten,  dann  durch  den  ovvoiKiOfiog,  welcher  am  plan- 
vollsten  in  Griechenland  durchgefiihrt  ist.  Das  alteste  und  be- 
deutendste  Beispiel  des  Synoikismos  bietet  die  Landschaft  Attika 
und  die  Stadt  Athen  dar.  Hier  ist  die  Concentration  der  kleinen 
Reiche  beschrankt  zu  denken  auf  Rathe  und  Beamten,  iiber- 
haupt  auf  regimentsfahige  Personen,  so  wie  deren  Familien  und 
Angehorigen  —  um  es  kurz  zu  sagen  —  auf  diejenigen,  welche 
^twas  zu  bedeuten  batten,  wv  Tig  eavl  /.at  koyog,  quorum  aliqua 

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294  Kuhn,  Ueber  die  Entstehung  der  Stadto  der  Alten. 

ratio  est.  So  hat  man  das  zu  verstehen,  was  vom  Theseus  be- 
richtet  wird. 

Viele  athenische  Burger  wohnen  auch  spater  noch  in  den 
Demen  und  stehen  unter  eigenen  Beam  ten,  welche  aher  nie 
Staats-,  sondern  nur  communale  Geschiifte  besorgen.  Ware  das 
nicht  der  Fall  gewesen,  so  hatten  die  Athener  ihre  Aecker  nicht 
bestellen  konnen.  Auch  waren  die  Hauptorte  dieser  Demen  oft 
befestigt,  damit  sie  Schutz  im  Kriege  gewahrten. 

Die  Ausdrticke  dr^iog  und  xw^  werden  deshalb  oft  gleich- 
bedeutend  gebraucht.  Nur  ist  nicht  immer  anzunehmen,  dass 
die  Einwohner  der  Demen  wie  in  Attika  Burger  der  noXiq  waren, 
sie  konnen  auch  Unterthanen  sein,  also  nicht  die  vollen  staate- 
biirgerlichen  Rechte  haben.  Das  findet  z.  B.  in  den  so  genannten 
Stadten  der  Eleutherolakonen  statt,  welche  von  spartanischen 
Perioken  bewohnt  werden. 

Anders  als  in  Sparta  gestaltete  sich  das  Loos  der  Perioken 
in  Argos,  dessen  Verhaltnisse  nicht  so  klar  liegen  wie  die 
Sparta's;  doch  ist  wahrscheinlich,  dass  Argos  die  meisten  kleinen 
Stadte  seines  Gebietes  durch  den  Synoikismos  in  sich  auf- 
gesogen  hat. 

Im  J.  408  n.  Chr.  entstand  als  neue  Stadt  aus  3  Stadten 
durch  den  Synoikismos  Rhodus,  welches  fruher  nicht  genannt 
wird.  Die  politischen  Beamten  wohnten  fortan  in  Rhodus,  aber 
in  den  3  alten  Stadten  blieben  die  Heiligthiimer  und  die  Priester, 
welche  sie  verwalteten. 

Dann  behandelt  der  Verf.  die  Entstehung  von  Kos,  Megalo- 
polis und  Messene.  Von  diesen  drei  Griindungen  ist  die 
interessanteste  die  der  Stadt  Messene.  Epaminondas  bezweckte 
damit  nicht  eigentlich  einen  Synoikismos,  er  wollte  vielmehr  die 
Ueberreste  eines  Volkes  vereinen,  welches,  aus  seiner  Heimat 
vertrieben,  in  alien  Weltgegenden  zerstreut  lebte. 

Nach  der  Darlegung  dieser  Verhaltnisse  fuhrt  uns  der  Verf 
nach  Klein- Asi en  und  zwar  zunachst  nach  Karien ,  wo  er  uns 
die  Griindung  von  Halicarnassus  erzahlt.  Mausolus  vereinte 
sechs  Stadte  in  dieser  Neugriindung. 

Von  dort  begleiten  wir  ihn  an  den  Siidrand  des  Pontus, 
wo  die  Konigin  Amastris  eine  nach  ihrem  Namen  benannte  Stadt 
entstehen  Hess.  Neben  dieser  erwuchsen  eine  Reihe  anderer 
Griechenstadte,  welche  durch  Fiirsten  eingerichtet  wurden. 

Darauf  wendet  sich  der  Verf.  nach  Chalcidice  und  behan- 
delt die  hochst  wichtigen  Verhaltnisse  von  Olynth,  die  eigentlich 
nicht  in  diese  Betrachtung  hinein  gehoren,  da  dort  kein  Synoi- 
kismos stattgefunden  hat. 

In  dem  Streben,  durch  strenge  Unterordnung  der  Theile 
einen  einigen  Staat  zu  begriinden,  zeigten  sich  die  Makedonischen 
Konige  den  Hellenischen  Staaten  uberlegen.  Die  eroberten  Land- 
schaften  ihrem  Reiche  dauernd  einzuverleiben,  aus  verschiedenen 
Stammen  und  Nationen  ein  einiges  Volk  und  Reich  zu  gestalten, 
das  betrachteten   diese   Herren  als   die   Aufgabe  ihrer  Politifc 

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Monunrenta  Germaniae  historica  etc.  295 

Deshalb  fiihrten  sie  oft  die  unbotmassige  Bevolkerung  eines 
Landes  in  entlegenere  Gegenden  und  setzten  an  ihre  Stelle  neue 
Einwohner  aus  Landern,  die  ihrer  Herrschaft  gewohnt  waren. 
So  grlindeten  sie  denn  auch  neue  Stadte,  vor  allem  Thessalonike, 
Cassandrea  und  Demetrias.  Besonders  wichtig  ist  das,  was  Lysi- 
machos  gethan  hat. 

Darnach  bespricht  der  Verf.  die  romischen  Stadtegriindungen 
in  Asien  und  in  Gallien. 

Berlin.  R.  Foss. 

LXXIV. 
Monumenta  Germaniae  historica  inde  ab  anno  quingentesimo 
usque  ad  annum  millesimum  et  quingentesimum.  Edidit  so- 
cietas  aperiendis  fontibus  rerum  germanicarum  medii  aevi. 
Auctorum  antiquissimorum  Tomus  II:  Eutropi 
breviarium  ab  urbe  condita  cum  versionibus 
graecis  et  PauliLandolfique  additamentis  re- 
censuit  et  annotavit  H.  Droysen.  gr.  4.  (LXXII,  430  S.) 
Berolini  apud  Weidmannos  1879.  16  M. 
Dasselbe  Tomi  III  pars  prior:  Victoria  Vitensis 
historia  persecutionis  africanae  provinciae 
sub  Geiserico  et  Hunirico  regibus  Wandalorum 
recensuit  C  a  r  o  1  u  s  H  a  1  m.  (X,  90  S.)  Berolini  apud  Weid- 
mannos 1879.     3  M. 

Wieder  sind  gleichzeitig  zwei  neue  Abtheilungen  der  Auctores 
antiquissimi  erschienen.  Die  erstere,  Tomus  II,  ein  sehr  statt- 
licher  Band,  enthalt,  von  H.  Droysen  herausgegeben,  das  Bre- 
viarium des  Eutropius  und  die  sich  daran  anschliessende  spatere 
Litteratur ,  Uebersetzungen ,  Bearbeitungen  und  Fortsetzungen. 
Natiirlich  muss  es  auffallen  in  einer  Sammlung  von  Quellen  zur 
deutschen  mittelalterlichen  Geschichte  die  c.  375  verfasste 
romische  Geschichte  des  Eutropius  zu  erblicken  und  noch  mehr 
muss  es  befremden,  in  der  Vorrede  kein  Wort  der  Rechtfertigung 
und  Erklarung  desswegen  zu  finden,  (der  Herausgeber  beruft 
sich  nur  auf  den  Befehl,  welchen  er  von  der  Direction  em- 
pfangen  habe),  doch  uberzeugt  man  sich  bald,  dass  es  allerdings 
sehr  richtig  gewesen  ist,  bis  auf  Eutropius  zuriickzugehen ,  da 
die  mittelalterlichen  Bearbeiter  der  Historia  romana,  Paulus 
diaconus  und  Landolfus  Sagax,  welche  fur  diese  Ausgabe  eigent- 
lich  in  Betracht  kamen,  erst  dann  ihre  richtige  Wiirdigung  er- 
haJten,  wenn  man  sie  an  der  Hand  der  Grundlage,  aut  welcher 
sie  beruhen,  namlich  des  Eutropius,  betrachtet.  Weniger  leicht, 
diinkt  uns,  lassen  sich  triftige  Griinde  fiir  die  Aufnahme  der 
sachlich  ganz  werthlosen  griechischen  Uebersetzungen ,  zu  denen 
jeno  mittelalterlichen  Autoren  gar  kein  Verhaltniss  gehabt  haben, 
entdecken.  •  Die  umfangreiche  Vorrede  handelt  in  einem  ersten 
Capitel  von  dem  Breviarium  des  Eutropius.  Es  wird  zunachst 
das  Wenige  zusammengestellt ,  was  wir  iiber  den  Verfasser 
wis8en  (er  hat  Julian  auf  seinem  Feldzuge  gegen  die  Perser  363 


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296  Monumenta  Germaniae  historica  etc. 

begleitet,  ist  unter  Valens  magister  memoriae  gewesen  und  hat 
ab  solcher  zu  der  Rangclasse  der  clarissimi  gehort,  er  hat  diesem 
Kaiser  sein  Werk  gewidmet),  dann  werden  die  Handschriften 
besprochen.  Dieselben  werden  in  drei  Classen  gesondert  und 
unter  diesen  der  ersten  (A  reprasentirt  durch  die  Codd.  Gothanus 
und  Fuldensis)  und  dritten  (C,  Cod.  Vaticanus  und  die  von 
Paulus  benutzte  Handschrift)  der  Vorrang  vor  der  zweiten  (B, 
Codd.  Bertinianus  und  Leydensis)  zugesprochen,  auf  einen  Codex 
dieser  letzteren  Classen  werden  die  in  zwei  Handschriften  er- 
haltenen  Excerpte  zuriickgefuhrt ,  als  Princip  wird  hingestellt, 
dass  der  Consensus  von  A  und  C  gegen  B  die  bessere  Lesart 
ergebe,  doch  bemerkt  der  Herausgeber,  dass  in  der  Ausgabe 
selbst  dieses  Princip  nicht  ganz  consequent  durchgefiihrt  worden 
ist.  Es  werden  dann  die  griechischen  Uebersetzungen  des  Bre- 
viarium  besprochen,  die  eine  vollstandig  erhaltene  von  Paeanius  ist 
sehr  bald  nach  diesem  selbst  c.  380  angefertigt  worden,  sie  verkiirzt 
oft  das  Original,  enthalt  aber  auch  Zusatze,  theils  nur  Erkla- 
rungen  lateinischer  Ausclrucke,  theils  einige  sachliche  Einschal- 
tungen  aus  Dio  Cassius.  Von  einer  zweiten  griechischen  Ueber- 
setzung  von  Capito  Lycius  sind  nur  Fragmente  in  den  Frag- 
menten  des  Johannes  Antiochenus,  welcher  dieselbe  benutzt  hat, 
erhalten.  Es  werden  zum  Schluss  diejenigen  spateren  Autoren 
aufgefuhrt,  welche  Eutropius  benutzt  haben:  Hieronymus,  Orosins, 
Victor  epitome  de  vita  et  moribus  imperatorum,  Cassiodor:  von 
Festus,  dem  Zeitgenossen  des  Eutropius,  wird  nachgewiesen,  dass 
er  fur  die  Geschichte  der  Ereignisse  im  Orient  von  Trajan  bis 
Diocletian  nicht  diesen  selbst,  sondern  dass  beide  eine  gemera- 
schaftliche  Quelle  benutzt  haben. 

Das  zweite  Capitel  handelt  von  der  Historia  romana  da 
Paulus.  Dieselbe  ist  zwischen  763  und  774  abgefesst ,  die  sehr 
zahlreichen  Handschriften  zerfallen  in  zwei  Classen,  von  denen 
die  der  einen  durch  eine  Liicke  im  15.  Buche  kenntlich  and, 
die  der  zweiten  enthalten  schon  Interpolationen  aus  LandolL 
Der  Herausgeber  hat  von  beiden  Classen  je  drei,  die  besten. 
Handschriften  benutzt.  Neben  der  Erweiterung  durch  Landoli 
giebt  es  auch  verschiedene  verkiirzte  Bearbeitungen  des  Paulus, 
welche  aber  ganz  werthlos  sind. 

Das  dritte  Capitel  handelt  von  den  Quellen  des  Eutropins 
und  Paulus.  Von  Eutropius  geht  der  erste  Theil,  die  Geschichte 
der  romischen  Eepublik,  auf  Livius  zuriick,  doch  liegt  nicht  dieser 
selbst,  sondern  eine  Epitome  zu  Grande,  es  finden  sich  auch 
manche  Abweichungen  von  Livius,  namentlich  in  den  chrono- 
logischen  Angaben.  Der  zweite  Theil,  die  Geschichte  der  Kaiser 
bis  Nerva,  beruht  fast  ganz  auf  Sueton,  woher  die  unbedeuten- 
den  Zusatze  hier  entnommen  sind,  ist  nicht  ersichtlich;  der  dritte 
Theil,  die  Geschichte  der  spateren  Kaiser  bis  Valens,  zeigt  viel- 
fache  Uebereinstimmung  mit  den  Scriptores  historiae  augustae, 
dieselbe  beruht  auch    hier  auf  der  Benutzung   gleicher  Quellea. 

Paulus  ist  in  den  ersten  10  Buchern  Eutropius  meist  wort- 
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Monumenta  Gormaniae  historica  etc.  297 

lioh  gefolgt,  hat  aber  iii  dessen  Erzahlung  Stellen  aus  Orosius, 
Hieronymus,  Jordanis  und  von  Buch  7  an  aus  der  Epitome  de 
vita  et  moribus  imperatorum,  dazu  einige  Notizen  aus  Solinus  und 
Frontinus,  auch  meist  wortlich,  eingeschoben,  vorangeschickt  hat 
gt  eine  Urgeschichte  Italiens,  fiir  welche  er  dieselbe  Quelle  wie 
Hieronymus,  eine  Geschichte  vom  Ursprunge  des  romischen 
Volkes  benutzt  hat.  Die  letzten  6  Biicher  sind  eine  Fortsetzung 
des  Eutropius,  von  ihnen  sind  11,  12  und  die  zwei  ersten  Car 
pitel  von  13  auch  ganz  nach  bekannten  Quellen  gearbeitet;  zu 
Gruude  gelegt  ist  Orosius  und  derselbe  ist  erganzt  durch  Notizen 
aus  der  Epitome,  Hieronymus,  Jordanis,  einem  Kirchenschrift- 
steller,  dazu  aus  einem  nicht  erhaltenen  Buche  iiber  die  Ge- 
schichte der  Gothen.  Fiir  das  13.  Buch  ist  Hauptquelle  die 
Chronik  Prospers,  aber  in  vollstandigerer  Gestalt  als  die  erhaltene, 
wie  aus  der  Uebereinstimmung  mit  anderen  aus  derselben  ab- 
gfeleiteten  Quellen  nachgewiesen  wird,  dazu  kommen  Excerpte  aus 
Beda  und  Jordanis.  Die  drei  letzten  Biicher  14—16  enthalten 
auch  einzelne  Excerpte  aus  Beda,  Jordanis,  Prosper  und  lsidor, 
der  Haupttheil  aber  beruht  auf  verlorenen  Quellen.  Die  be- 
treffenden  Stellen  zeigen  nahe  Verwandtscbaft  mit  Jordanis' 
Getica  und  dem  Liber  pontificalis,  doch  hat  Paulus  oft  mehr 
als  diese  und  der  Herausgeber  vermuthet  daher,  dass  er  ent- 
weder  neben  diesen  Quellen  noch  andere  benutzt  hat,  oder  dags 
ihm  vollstandigere  Redactionen  derselben  vorgelegen  haben. 

Das  4.  Capitel  handelt  von  Landolfus  Sagax,  der  ebenso 
den  Paulus  wie  dieser  den  Eutropius  vervollstandigt  und  fort- 
gesetzt  hat.  Der  Verfasser  scheint  ein  Langobarde  gewesen  zu 
sein  und  urn  das  Jahr  1000  gelebt  zu  haben.  Seine  Quellen 
sind  fur  die  ersten  7  Biicher  dieselben,  welche  schon  Paulus  zur 
Erganzung  des  Eutropius  herangezogen  hatte:  Orosius,  die  Ur- 
geschichte der  Romer  und  Hieronymus,  dazu  dann  Nepotianus, 
ein  Epitomator  des  Valerius  Maximus,  aus  dem  er  eine  Anzahl 
von  Anekdoten  entnommen  hat,  fiir  die  spateren  11  Biicher  auch 
Orosius,  Hieronymus,  die  epitome  Victors,  die  Kirchengeschichte 
des  Rufinus,  die  Historia  tripartita,  Beda,  Jordanis'  Getica, 
Paulus'  Geschichte  der  Langobarden,  hauptsachlich  aber  die 
lateinische  Uebersetzung  der  Chronographie  des  Theophanes 
von  Anastasius.  Diese  ist  dann  auch  die  Hauptquelle  fiir  die 
letzten  8  Biicher,  welche  eine  Fortsetzung  zu  Paulus  bis  zu 
Kaiser  Leo  dem  Armenier  (813)  bilden.  Nur  sehr  weniges  ist 
dort  aus  unbekannten  Quellen  hinzugefiigt,  aus  der  wichtigsten 
tmter  diesen  Stellen  iiber  die  Herstellung  des  zerstorten  Neapel 
durch  Belisar,  welche  eine  genaue  Kenntniss  der  Umgegend 
von  Neapel  verrath,  vermuthet  der  Herausgeber,  dass  Landolf 
in  Campanien,  vielleicht  in  Neapel  selbst  gelebt  habe.  Der  Aus- 
gabe  ist  nur  eine.  Handschrift,  der  Codex  Palatino-Vaticanus, 
welchen  der  Herausgeber  fur  die  Originalhandschrift  halt, 
die  Landolf  entweder  selbst  geschrieben  oder  doch  corrigirt 
habe,  zu  Grunde  gelegt.     Ein  Appendix  zu  der  Vorrede  handelt 

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298  Monument*  Germaniae  historica  etc. 

yon  den  auf  Eutropius  und  zwar  theils  auf  die  Uebersetzung  des 
Paeanius,  theils  auf  die  des  Capito  zuriickgehenden  Stellen  in 
der  Excerptensammlung  des  Maximus  Planudes. 

Der  Vorrede  sind  an  einigen  Stellen  Bemerkungen  toii 
Mommsen,  dem  Director  dieser  Abtheilung  der  Monumenta,  hinzu- 
gefugt,  dieselben  en  thai  ten  theils  Erganzungen,  theils  aber  tod 
denen  des  Herausgebers  abweichende  Meinungen  und  zwar  iiber 
Punkte  von  hervorragender  Wichtigkeit ,  hauptsachlich  iiber  das 
Verhaltniss  der  verschiedenen  Handschriften  des  Eutropius  und 
auch  des  Paulus  zu  einander.  Mommsen  sondert  (S.  XIV)  die 
Handschriften  des  ersteren  nicht  in  3,  sondern  in  2  Classen;  nach 
ihm  gehen  A  und  C  auf  eine  urspriingliche  Handschrift,  B  und 
Paeanius  auf  eine  zweite  zuriick  und  er  will  bei  abweichender 
Lesart  den  Consensus  von  A  B  gegen  C  und  von  B  C  gegen  A 
entscheiden  lassen.  In  Betreff  des  Paulus  will  er  (S.  XXXII) 
nur  die  Handschriften,  welche  die  Liicke  in  Buch  15  enthalten, 
als  echte  Handschriften  desselben  gel  ten  lassen,  die  Ausfiillung 
dieser  Liicke,  welche  sich  in  den  anderen  findet,  stammt  seiner 
Behauptung  nach  von  Landolf  her,  die  Handschriften  also. 
welche  dieselbe  enthalten,  sind  aus  diesem  interpolirt.  Auch  die 
Vermuthung  Droysens  in  Betreff  der  Herkunft  Landolfs  aus  Cam- 
panien  weist  Mommsen  zuriick  (S.  LXVII),  da  jene  Angaben, 
welche  auf  eine  genaue  Kenntniss  der  Umgegend  von  Xeapel 
hindeuten,  nicht  von  Landolf  selbst  herriihren  konnten,  sondern 
auch  einer  verlorenen  Quelle  entnommen  sein  miissten.  Man 
wird  fragen  diirfen,  ob  es  nicht  moglich  gewesen  wiire,  das 
Herausgeber  und  Direction  sich  vorher  iiber  diese  Punkte  ver- 
standigt  hatten,  und  ob  es  so  nicht  hatte  vermieden  werden 
konnen,  das  Werk  mit  solchen  Dissonanzen  dem  Publicum  dar- 
zubieten. 

Die  Ausgabe  selbst  ist  folgendermassen  eingerichtet.  Zneist 
kommt  das  Breviarium  des  Eutropius,  dem  lateinischen  Original- 
text  ist  auf  der  nebenstehenden  Seite  immer  die  griechiscbc 
Uebersetzung  des  Paeanius  gegeniibergestellt,  unter  dem  Text  des 
Eutropius  sind  die  Zusatze  des  Paulus,  unter  dem  des  Paeanius 
die  Fragmente  der  zweiten  griechischen  Uebersetzung  des  Capito 
aufgefiihrt.  Bei  Eutropius  werden  unten,  hinter  den  Varianten* 
zu  den  einzelnen  Capiteln  die  Quellen,  welche  zu  Grunde 
liegen,  angefuhrt,  bei  Paulus  sind  dieselben  am  Rande  angemerkt, 
Dann  folgen  aJs  Fortsetzung  des  Eutropius  die  letzten  6  Bucher  der 
Historia  romana  des  Paulus,  auch  hier  sind  bei  den  aus  bekannten 
Quellen  entlehnten  Stellen  diese  Quellen  am  Rande  angemerkt, 
wahrend  bei  denjenigen,  welche  auf  verlorene  Quellen  zuriick- 
gehen,  die  ahnlichen  Nachrichten  der  verwandten  Chronisten 
unten  angefuhrt  werden.  Darauf  folgt  Landolfus  Sagax  und 
zwar  nur  die  Zusatze  desselben  zu  Paulus,  auch  aus  der  Fort- 
setzung, den  Biichern  19 — 26,  sind  nur  die  wenigen  Stellen  ab- 
gedruckt,  welche  nicht  Anastasius  entnommen  sind.  Ein  Appendix 
enthalt  als  Probe  einige  Stellen  aus  den  verklirzten  Bearbeitungen 

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Monumenta  Germaniae  historica  etc.  299 

* 
des  Paulus,  ferner  den  Auszug  aus  der  Langobardengeschichte 
desselben,  welcher  in  einigen  Handschriften  der  Historia  romana 
als  17.  Buch  hinzugefiigt  ist.  Den  Schluss  bilden  ein  Namen- 
register,  eine  vergleichende  Tabelle  der  Seiten  dieser  und  der 
Muratorischen  Ausgabe,  endlich  Addenda  et  Corrigenda. 

Den  Text  des  Eutropius  mit  kritischem  Apparat  und  einem 
hinten  angefugten  Namenregister  hat  der  Herausgeber  schon  im 
vorigen  Jahre  in  demselben  Verlage  erscheinen  lassen. 

Das  zweite  Heft,  welches  die  erste  Abtheilung  des  dritten 
Bandes  bildet,  enth&lt  die  im  Jahre  488  von  Victor,  Bischof 
von  Vita  in  der  Provinz  Byzacium,  verfasste  Historia  persecutionis 
africanae  provinciae  sub  Geiserico  et  Hunirico  regibus  Wandalo- 
rum ,  herausgegeben  von  C.  Halm.  Derselbe  hat  sich  auch  hier, 
ebenso  wie  in  seiner  Ausgabe  des  Salvianus  darauf  beschrankt 
in  der  Vorrede  von  den  von  ihm  benutzten  Handschriften  zu 
sprechen ,  iiber  das  Werk  selbst  und  seinen  Verfasser  findet  sich 
kein  Wort.  Wir  erfahren,  dass  er  von  den  zahlreichen  Hand- 
schriften 5  benutzt  hat,  eine  vortreffliche  aus  Laon  aus  dem 
9.  Jahrhundert,  welche  aber  nur  die  in  die  Geschichte  aufgenommene 
Vertheidigungsschrift  der  catholischen  Bischofe  an  Konig  Hunirich, 
sowie  eine  Notitia  provinciarum  et  civitatum  Africae  enthalt, 
ferner  eine  Bamberger,  eine  Wiener  und  eine  Berliner,  welche 
einer  Familie  angehoren,  und  eine  Brusseler,  welche  die  zweite 
Familie  reprasentirt.  Die  Vergleichung  mit  jener  Laoner  Hand- 
schrift  hat  gezeigt,  dass  die  anderen  Handschriften  alle  sehr 
fehlerhaft  sind,  zahlreiche  Liicken  und  Fehler,  die  der  zweiten 
Familie  auch  Interpolationen  enthalten,  daher  fehlt  es  fur  die 
Herstellung  des  Textes  an  einer  festen  Grundlage  und  hat  der 
Herausgeber  oft  nach  eigenem  Ermessen  zwischen  den  einander 
entgegenstehenden  Lesarten  entscheiden  miissen.  Herangezogen  hat 
derselbe  auch  die  den  iibrigen  friiheren  Herausgebern  unbekannt 
gebliebene  Editio  princeps  des  Jean  Petit  von  c.  1500,  haupt- 
sachlich  desshalb,  weil  Lorichius,  freilich  ohne  dieses  zu  erwah- 
nen,  dieselbe  fur  seine  Ausgabe  (Coin  1537)  benutzt  hat  und 
weil  durch  seine  Vermittelung  viele  falschen  Lesarten  derselben 
in  die  spateren  Ausgaben  iibergegangen  sind.  Dem  Text  der 
Historia,  in  deren  zweites  Buch  das  von  den  catholischen  Bi- 
schofen  dem  Konige  Hunirich  iiberreichte  Glaubensbekenntniss 
aufgenommen  ist,  folgt  eine  in  alien  Handschriften  dieser  an- 
gehangte  kurze  Passio  beatissimorum  martyruni,  qui  apud  Car- 
thaginem  passi  sunt  sub  rege  Hunirico,  sodann  aus  dem  Codex 
Laudunensis  die  Notitia  provinciarum  et  civitatum  Africae,  ein 
Verzeichniss  der  auf  der  Synode  zu  Carthago  versammelten  afri- 
kanischen  Bischofe.  Dankenswerth  sind  die  verschiedenen  dieser 
Ausgabe  beigefugten  Indices,  ein  geographischer,  ein  Namen-  und 
Sachregister,  endlich  ein  Index  verborum  et  locutionum,  in 
welchem  auch  manche  schwierige  Stellen  erklart  werden. 

Berlin.  F.  Hirsch. 


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300  Waitz,  Deutsche  Verfassungsgeschichte. 

LXXV. 
Waitz,  Georg,  Deutsche  Verfassungsgeschichte.   8.  Band.  (Die 

deutsche  Reichsverfassung  von  der  Mitte  des  neunten  bis  zur 
Mitte  des  zwolften  Jahrhunderts.  4.  Band.)  gr.  8°.  (Y1L 
550  S.)     Kiel,  1878.     Ernst  Homann.     13  M. 

Mit  dem  vorliegenden  Bande  erhalt  die  dritte  Hauptabthei- 
lung  von  Waitz's  deutscher  Verfassungsgeschichte :  „Die  deutsche 
Reichsverfassung  von  der  Mitte  des  neunten  bis  zur  Mitte  des 
zwolften  Jahrhunderts"  ihren  Abschluss.  Nachdem  in  Band  5, 
mit  welchem  dieselbe  begonnen,  die  Ausbildung  des  deutschen 
Reiches,  die  Verbindung  mit  dem  Kaiserthum,  das  Reich  und 
seine  Theile  und  das  Volk  und  seine  Stande,  in  Band  6  das 
Lehnwesen,  das  Konigthum,  der  Hof,  die  Reichsregierung  und 
die  Reichsversammlung,  ferner  Recht  und  Gewalt  im  Reich,  in 
Band  7  die  verschiedenen  Classen  der  Fiirsten,  Grafen,  Burg-, 
Land-  und  Markgrafen.,  Herzoge  und  Pfalzgrafen,  die  hohere 
Geistlichkeit,  ferner  die  Fiirstenthiimer  und  die  Stadte  behandelt 
waren,  werden  in  diesem  das  Gerichtswesen,  das  Heerwesen,  das 
Finanzwesen  und  zum  Schluss  als  Resultat  der  vorhergehenden 
einzelnen  Abschnitte  die  Gegensatze  im  Reich  und  die  Umbildung 
der  Verfassung  dargestellt.  Leider  scheint  hiermit  der  Verf. 
diese  Arbeit  uberhaupt  abschliessen  zu  wollen;  in  einer  kurzen 
Notiz  am  Schlusse  bemerkt  er,  den  weiteren  Verlauf  der  deutschen 
Ver£a8sungsgeschichte  unter  den  neuen  seit  der  Mitte  des  zwolften 
Jahrhunderts  in  Wirksamkeit  tretenden  Einfliissen  zu  begleiteo, 
miisse  anderen  Darstellungen  iiberlassen  bleiben.  Es  kann  hier 
nicht  unsere  Aufgabe  sein,  die  allgemein  anerkannten  Vorziige 
dieses  Werkes,  die  umfassende  und  tiefe  Kenntniss  des  gewaltigec 
Quellenmaterials ,  namentlich  auch  der  Urkunden,  die  ruhige 
Besonnenheit  des  Urtheils,  die  Klarheit  und  Pracision  der  Dar- 
stellung  des  weiteren  auszufiihren,  wir  beschranken  uns  daraaf, 
die  wichtigeren  in  diesem  Bande  niedergelegten  Resultate  vor- 
zufiihren. 

Abschmtt  13  handelt  von  dem  Gerichtswesen.  Die  Organi- 
sation der  verschiedenen  Gerichte  ist  eine  im  wesentlichen  gleich- 
artige ;  jedes  Gericht,  auch  das  an  Andere  ubertragene,  ist  ein 
oflfentliches,  die  Gerichtsgewalt,  der  Bann,  geht  immer  auf  den 
Konig  zuriick,  an  jedem  Gericht  nehmen  Volksgenossen  Theil 
In  dem  Konigsgericht  ist  der  Vorsitzende  immer  der  Konig  selbst 
Ort  und  Zeit  wechseln,  fur  wichtigere  Sachen  werden  gewohnhcii 
Reichs-  oder  Hoftage  gewahlt.  Urtheiler  sind  solche,  welcic* 
am  Hofe  leben  oder  dort  sich  eingefunden  haben,  gewohnlid 
Stammes-  und  Standesgenossen  des  Beklagten.  Die  Competed 
ist  unbegrenzt,  besonders  haufig  kommen  vor:  Streitigleiten 
geistlicher  Stifter  unter  einander  und  mit  Weltlichen,  Lehnsachec 
und  die  verschiedensten  Criminalsachen.  Der  Klager  erhartet 
seine  Anklage  meist  durch  Zweikampf,  andere  Gottesurtheile 
kommen  selten  vor.  Die  Entscheidung  wird  durch  die  Urtheto 
gefallt,  von  einem  Recht  des  Konigs,  dieses  Urtheil  zu  verwerfen, 


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Waitz,  Deutsche  Yerfassungsgeschichto.  301 

ist  nicht  die  Rede,  aber  er  iibt  oft  entscheidenden  Einfluss  auf 
dasselbe.  Die  Verhandlungen  sind  oft  ungeordnet,  das  Konigs- 
gericbt  ist  nicht  an  das  formale  Recht  gebunden,  darf  der  Billig- 
keit  Raum  geben,  aber  oft  auch  findet  sich  Missbrauch,  Partei- 
lichkeit,  Bestechung.  Der  Konig  verkiindet  und  vollzieht  das 
Urtheil,  so  ist  seiner  Gewalt  und  Gnade  weiter  Spielraum 
gelassen. 

Auch  der  Herzog  hat  eine  Gerichtsgewalt  fur  den  Umfang 
seines  Herzogthums,  doch  ist  iiber  dieses  herzogliche  Gericht 
wenig  bekannt,  seine  Competenz  scheint  weder  gegen  das  des 
Konigs  noch  gegen  das  des  Grafen  bestimmt  abgegrenzt  gewesen 
zu  sein. 

Das  ordentliche  Gericht  ist  nach  wie  vor  das  grafliche,  das 
echte  Ding,  es  wird  drei  Mai  im  Jahre  abgehalten,  durch  den 
Grafen  oder  dessen  Stellvertreter ,  es  dauert  gewohnlich  drei 
Tage  und  findet  meist  zu  festbestimmter  Zeit  statt,  doch  giebt 
es  innerhalb  derselben  Grafschaft  mehrere  Dingstatten.  Urtheiler 
sind  hier  die  Schoffen,  vollfreie,  angesehene  Manner,  wahrscheinlich 
auf  Lebenszeit  ernannt,  die  Zahl  ist  wechselnd.  Auch  hier  ist 
die  Competenz  nicht  bestimmt  zu  erkennen;  in  den  bekannten 
Fallen  sind  besonders  schwere  Verbrechen,  Streit  iiber  Freiheit 
tind  Eigen  und  Bestatigung  von  Landiibertragungen  Gegenstande 
der  Verhandlungen.  In  den  eximirten  Bezirken  halt  an  Stelle 
des  Grafen  der  Vogt,  bisweilen  auch  der  Immunitatsherr  selbst 
Gericht,  spater  entstehen  dort  fiir  die  besser  gestellten  Classen 
der  abhangigen  Leute  Gerichte,  in  denen  durch  Standesgenossen 
das  Recht  gefunden  wird,  Lehn-  und  Hofgerichte.  Auch  der 
Schultheiss,  der  Ortsvorsteher  auf  koniglichen  oder  herrschaft- 
lichen  Giitern,  halt  Gericht,  sowohl  in  den  Stadten,  als  auch  auf 
dem  Lande,  aber  mit  beschrankter  Befugniss;  besondere  Bedeutung 
erhalt  seine  Stellung  in  den  Stadten. 

Das  Gerichtsverfahren  ist  nur  sehr  ungeniigend  bekannt, 
als  Beweismittel  dienen  Eid  mit  Eideshelfern ,  Gottesurtheile, 
Zweikampf,  auch  einfacher  Eid  und  Zeugen,  gegen  Verbrecher 
niederen  Standes  wird  Tortur*  angewendet,  die  Vollstreckung  des 
Urtheils  hat  der  Richter. 

Das  Ergebniss  ist:  das  Recht  wird  nicht  gleichmassig  ge- 
handhabt,  die  Gerichtsgewalt  wird  oft  missbrauchlich  ausgebeutet 
zur  Bedriickung  und  zur  Bildung  selbstandiger  Herrschaft,  zur 
Gewinnung  herrschaftlicher,  fiirstlicher  Stellung. 

Fiir  den  14.  Abschnitt  „das  Heerwesen"  hat  der  Verf.  erst 
nachtraglich  noch  die  1877  erschienene  Schrift  von  Baltzer  „Zur 
Geschichte  des  deutschen  Kriegswesens  in  der  Zeit  von  den 
letzten  Karolingern  bis  auf  Kaiser  Friedrich  II.",  wie  er  selbst 
sagt,  „nicht  ohne  Nutzen"  verglichen,  doch  ist  er  auf  die  Fragen 
der  militarischen  Technik,  welche  dort  vorziiglich  behandelt 
werden,  weniger  speciell  eingegangen  und  beschiiftigt  sich  vor- 
nehmlich  mit  der  Kriegsverfassung. 

Krieg8zuge    in    die   Feme    werden    meist   auf   allgemeinen 


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302  Waitz,  Deutsche  Verfassuugsgeschichte. 

Reichsversammlungen  beschlossen,  die  Zustimniung  der  Fiirsten 
erfolgt  hier,  spater  meist  in  Form  eidlicher  Verpflichtung,  darauf 
wird  durch  den  Konig  das  Anfgebot  erlassen.  Fiir  dasselbe 
giebt  es  keinen  festen  Termin,  Ziige  nach  Italien  werden  meist 
im  Herbst  unternommen,  auch  der  Ort  der  Versammlung  wird 
jedesmal  besonders  festgestellt.  Das  Aufgebot  ergeht  jetzt  nicht 
an  die  Einzelnen,  welche  die  Heeresfolge  leisten,  sondern  an  die 
hoheren  Gewalten,  welche  die  Mauuschaften  stellen  und  fuhren. 
Ein  allgemeines  Landesaufgebot  erfolgt  nur  in  Zeiten  besonderer 
Noth,  bei  gewohnlichen  Heerfahrten  ergeht  das  Aufgebot  nur  an 
die,  welche  von  dem  Reiche  Aemter  oder  Giiter  zu  Lehen  haben; 
diese  haben  niit  ihrer  Mannschaft,  meist  Reitern,  zu  erscheinen 
Dieser  Rossdienst  wird  von  denen  geleistet,  welche  durch  Grund- 
besitz  und  Waffenubung  dazu  befahigt  sind,  von  den  Vasallen 
und  Ministerialen ;  wie  die  weltlichen  sind  auch  die  geistlichen 
Grossen  verpflichtet,  eine  solche  Streitmacht  zu  stellen,  fuhren 
sie  oft  personlich  ins  Feld.  Jeder  stellt  ein  bestimmtes  Con- 
tingent, ein  aus  der  Zeit  Ottos  II.  erhaltener  Anschlag,  welcher 
jedoch  nicht  das  ganze  Reich  beriicksichtigt,  zahlt  c.  2000  Reiter, 
von  denen  die  Geistlichen  fast  zwei,  die  Weltlichen  nur  ein 
Drittel  aufzubringen  haben.  Fiir  das  Ende  der  Periode,  miter 
Heinrich  V.,  kann  als  Durchschnittssatz  30,000  Ritter,  im  Ganzen 
also,  da  jeder  von  diesen  meist  mehrere  Schildknappen  mit  sich 
fuhrt,  c.  100,000  Mann  gelten,  doch  sind  natiirlich  oft  aucije 
nach  Bedurfhiss  kleinere  Heere  ins  Feld  gefuhrt  worden.  Den 
Fiirsten  bleibt  es  iiberlassen  ihr  Contingent  aus  den  durch  Lenn- 
besitz  zum  Kriegsdienst  Verpflichteten  auszuwahlen,  wer  der  Anf- 
forderung  nicht  Folge  leistet,  wird  mit  Verlust  des  Lehns  oder 
Busse  bestraft.  Nicht  selten  wird  der  Dienst  abgekauft,  dagegen 
ist  voile  Befreiung  davon  sehr  selten,  haufig  aber  einzelne  Ver- 
giinstigungen  sowohl  von  Seiten  des  Konigs  als  auch  der  Fureten- 
Abhangige  Leute,  welche  nicht  in  den  Krieg  ziehen,  sind  da&r 
zu  Leistungen  an  Wagen,  Vieh,  Lebensmitteln  u.  s.  w.  verpflichtet, 
auch  die  alte  Heersteuer,  wenn  mehrere  zusammen  einen  Mann 
zu  stellen  haben,  hat  sich  noch  erhalten. 

Der  Kriegsdienst  ist  sehr  kostspielig,  da  der  einzelne  nicht 
nur  fiir  die  Riistung,  sondern  auch  fiir  den  Unterhalt  zu  sorgen 
hat,  von  Rechtswegen  auf  dem  Marsch  nur  Wasser,  Holz  and 
Viehfutter  genommen  werden  darf,  daher  liegt  er  nur  den  durch 
Landbesitz  Begiiterten  ob,  doch  findet  sich  auch  schon  Sold- 
zahlung,  zuerst  in  Italien,  in  Deutschland  zuerst  in  Lothringen, 
bald  aber  auch  in  den  anderen  Landestheilen ,  namentlich 
Heinrich  IV.  hat  auf  diese  Weise  seine  Streitmacht  zu  vermehren 
gesucht,  auch  die  Fiirsten  erhalten  Verleihungen  theils  als  Be- 
lohnung  fiir  geleisteten  Dienst,  theils  um  sie  zur  Leistung  ge- 
neigter  zu  machen. 

Eine  bestimmte  Zeitdauer  fiir  den  Kriegsdienst  ist  gewohn- 
lich  nicht  festgesetzt,  dariiber  entscheidet  der  Konig,  er  entlasst 
das  Heer,  befehligt  es  auch  gewohnlich  in  Person,   doch  werden 


4     Waitz,  Deutsche  Vorfassungsgeschichte.  303 

Grenzkriege  meist  den  einzelnen  Herzogen  und  Markgrafen  iiber- 
lassen.  Unter  deni  Konige  befehligen  die  Herzoge  oder  als  deren 
Stellvertreter  Grafen  die  den  grossen  Stanimen  entsprechenden 
Hauptabtheilungen  des  Heeres,  innerhalb  derselben  werden  die 
einzelnen  Contingente  von  ihren  Fiirsten  oder  deren  Stellvertretern 
befehligt. 

In  dem  Kriegswesen  jener  Zeit  spielen  Befestigungen  eine 
wichtige  Rolle;  zu  Anfang  wenig  zahlreicb  werden  sie  in  der 
Zeit  der  Normannen-  und  Ungarnkriege  vermebrt.  Heinrich  I. 
sorgt  fiir  Befestigung  und  Besetzung  wichtigerer  Wohnplatze, 
unter  semen  Nacbfolgern  gebt  das  fort,  so  werden  namentlich 
Bischofsstadte  und  Kloster  befestigt,  Grenzfestuugen  und  Be- 
festigungen in  den  Passen  angelegt,  ferner  vermebrt  sicb  immer 
inebr  die  Zahl  der  Burgen,  welcbe  besonders  in  den  inneren 
Kriegen  und  Febden  dienen;  aucb  die  Konige  legen  solche  an 
und  suchen  darin  eine  Stiitze  ibrer  Macbt,  die  Besatzung  der- 
selben bilden  Ministerial  en ,  die  in  mancben  Fallen  in  dem  zu- 
gehorigen  District  ansassig  sind.  Besondere  Vertheidigungs- 
anstalten  sind  fiir  die  Marken  eingerichtet.  In  den  Stadten  ist 
die  Bewacbung  und  Vertheidigung  der  Befestigungen  oft  an  die 
einzelnen  Classen  der  Bewohner,  oft  aucb  der  Umwobner  ver- 
tbeilt.  —  Eine  Flotte  giebt  es  nicht,  Scbiflfe  werden  nur  fiir 
den  Transport  verwendet. 

Der  Verf.  bemerkt  zum  Scbluss,  dass  das  Heerwesen  sebr 
erheblicbe  Mangel  zeige,  es  fehlt  an  taktiscber  Ausbildung,  das 
Heer  ist  ferner  fiir  den  Konig  nicht  mebr  ein  sicberes  Mittel 
zur  Erhaltung  von  Einheit  und  Frieden,  es  ist  eine  aristokratische 
Institution  geworden  und  ist  oft  dem  Recht  und  der  Macbt  des 
Reiches  gefabrlicb. 

Der  sehr  umfangreiche  15.  Abschnitt  handelt  von  dem 
FiBanzwesen.  Aucb  dieses  zeigt  grosse  Mangel,  die  offentlichen 
Ausgaben  und  Einnahmen  sind  von  den  privaten  des  Konigs  und 
der  Fiirsten  nicbt  gescbieden,  es  fehlt  an  einer  geordneten  Ver- 
waltung  derselben,  die  Leitung  liegt  dem  Kammerer  ob,  docb 
fehlen  Nacbrichten  iiber  die  Rechte  und  Pflichten  desselben 
(aucb  in  den  einzelnen  Territorien  fiuden  sich  in  ahnlicher 
Stellung  Kammerer  und  Vicedomini),  ebenso  hat  e§  an  umfassen- 
den  Aufzeichnungen  iiber  die  koniglicben  Besitzungen  und  Ein- 
nahmen gefehlt,  daher  ist  eine  Berechnung  der  Emnabmen  und 
Ausgaben  ganz  unmoglicb. 

Die  Ausgaben  des  Konigs  erstrecken  sich  auf  zwei  Haupt- 
gebiete,  auf  den  Hof halt  und  auf  Geschenke  der  verschiedensten 
Art.  Der  Hofhalt  verursacht  dem  Konige  nur  geringe  Kosten, 
denn  die  Grossen,  welcbe  sich  dort  einfinden,  haben  meist  selbst 
fiir  ihren  und  ihrer  Begleiter  Unterhalt  zu  sorgen,  ferner  wird 
ein  bedeutender  Theil  der  Bediirfnisse  des  Hofes  durch  die 
geistlicben  Stifter  und  weltlichen  Grossen,  bei  denen  sich  der- 
selbe  auf  bait,  aufgebracht,  endlich  haben  auch  die  koniglichen 
Hofe    bestimmte   Lieferungen    an    denselben  zu  machen.     Der 


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304  Waitz,  Deutsche  Verfassungsgeschichte.    t 

grtfsste  Theil  der  Einkiinfte  wird  verbraucht  zu  Geschenken,  theils 
an  fremde  Fiirsten,  die  aber  meist  von  diesen  erwiedert  werden,  an 
den  Papst,  die  Cardinale  und  die  romischen  Grossen  bei  Gelegen- 
heit  der  Kaiserkronung,  theils  an  die  Fiirsten  bei  der  Erhebung 
eines  neuen  Konigs,  auch  sonst  zu  Belohnungen  oder  um  sie  zu 
gewinnen,  an  Kirchen  und  Kloster,  den  Hauptaufwand  erfordera 
spater  die  Geschenke  an  diejenigen,  welche  den  Heerdienst  leisten, 
an  Vasallen,  Ministerialen  und  an  die  Fiirsten. 

Quellen  des  Einkommens  sind  1)  der  konigliche  Grundbesitz. 
Trotz  aller  Vergabungen  ist  derselbe  doch  noch  sehr  bedeutend, 
es  wird  jetzt,  namentlich  nach  dem  Aussterben  des  frankischen 
Konigshauses  zwischen  Reichs-  und  Hausgut  unterschieden;  zu 
dem  ersteren  gehoren  auch  die  reicbsunmittelbaren  Kloster,  docli 
gewahren  diese  kein  regebnassiges  Einkommen.  Der  konigliche 
Grundbesitz  vermehrt  sich  durch  Schenkungen,  Rechte  an  die 
Giiter  erblos  Verstorbener,  aucb  an  den  Nachlass  von  Geistlichen, 
doch  ist  das  allgemeine  Spolienrecht  erst  durch  Friedrich  L 
beansprucht  worden,  durch  Confiscationen  wegen  Yerbrecben 
und  durch  Eroberungen ,  ferner  steht  im  Reiche  selbst  das  un- 
bebaute  Land  zur  Verfiigung  des  Konigs.  Ebendiesem  gehort 
das  Forstrecht,  er  ertheilt  an  andere  den  Wildbann ,  auch  der 
Fischereibann  erscheint  bisweilen  als  Recht  des  Konigs.  Allmab- 
lich  bildet  sich  auch  die  Auffassung  von  dem  Recht  desselben 
an  den  Schatzen  des  Bodens,  Bergwerken  und  Salinen,  doch 
bezieht  er  meist  nur  einen  Theil  des  Ertrages  und  oft  sind  auch 
diese  Bergwerke  ganz  im  Besitze  von  Privaten.  Ein  Bannrecht 
iibt  der  Konig  auch  in  Bezug  auf  gewerbliche  Anlagen :  Miihlen, 
Backereien,  Brauereien,  auch  Weinlese,  Weinverkauf  u.  a. 

Eine  zweite  Quelle  des  Einkommens  sind  Zolle.  Diese 
werden  auch  jetzt  nur  von  Kaufleuten  bei  Kauf  und  Verkauf, 
auf  Markt  oder  Schiff  bezahlt,  theils  bestimmte  Procente  rom 
Umsatz,  theils  feste  Summen.  Am  wichtigsten  sind  Flussolki 
welche  theils  nach  den  Waaren,  theils  nach  der  Herkunft  der 
Steuernden  bestimmt  werden,  ferner  Briicken-  und  Fahrgeld, 
doch  sind  bei  der  Freigebigkeit,  mit  welcher  die  Konige  hieruber 
verfugt  haben,  viele  dieser  Zolle  an  die  Fiirsten  gekommeu, 
oder  es  sind  zahlreiche  Exemtionen,  namentlich  an  geistliche 
Stifter  und  an  Bewohner  der  Stadte  gewahrt  worden. 

Dem  Konige  gebuhrt  auch  urspriinglich  das  Miinzrecht  und 
die  aus  diesem  zu  gewinnenden  Einnahmen,  doch  ist  schon  seit 
den  letzten  Karolingern  dieses  mehrfach  zunachst  an  geistliche 
Stifter,  dann  auch  an  weltliche  Grosse  verliehen  worden.  Seit 
dem  Anfang  des  10.  Jahrhunderts  finden  sich  Miinzen  mit  den 
Namen  von  Herzogen  und  Bischofen,  auch  Klostern  und  einzelnen 
Grafen  wird  das  Recht  der  Miinzpragung  verliehen,  daneben 
lassen  aber  auch  die  Konige  selbst  pragen,  so  giebt  es  zahlreiche 
Miinzstatten.  In  dem  Geprage  ist  dem  Belieben  der  Stempel- 
schneider  grosse  Freiheit  gelassen,  dasselbe  ist  oft  sehr  nach- 
lassig.     Die  verschiedenen  Miinzen  haben  in  Deutschland   selbst 

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Waitz,  Deutsche  Verfassungsgeschichte.  305 

nur  einen  beschrankten  Unilaufskreis.  Wirklich  gepragt  werden 
nur  ganze  und  halbe  Silberdenaro ,  gerechnet  wird  auch  nach 
dem  Gewicht  (es  werden  unterschieden  konigliches  und  colnisches 
Pfund;  seit  Anfang  des  11.  Jahrhunderts  wird  nach  angelsachsi- 
schem  Vorbild  auch  die  Rechnung  nach  Mark  [meist  =  1  oder 
Va  Pfund]  gebrauchlich).  Gold  wird  nur  gewogen  oder  es 
werden  byzantinische  Goldmiinzen  verwendet.  Die  Miinze  wird 
oft  geandert,  hauptsiichlich  um  aus  der  neuen  Priigung  Vortheil 
zu  ziehen,  dies  fuhrt  zu  vielen  Missbrauchen. 

Weitere  Einnahmequellen  fur  den  Konig  sind  die  Tribute 
unterworfener  Lander  (Bohmen,  die  nordlichen  slavischen  Volker, 
zeitweise  auch  Polen  und  Ungarn),  auch  Geldzahlungen  Besiegter 
nach  gliicklichen  Kriegen;  auch  aus  Italien  haben  die  Kaiser 
bedeutende  Summen,  theils  als  regelmassige  Leistungen,  theils 
als  ausserordentliche  Darbringungen  gezogen,  auch  die  Fiirsten 
des  Reiches  liefern  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  Geschenke, 
von  den  alten  regelmassigen  Jahresgeschenken  aber  haben  sich 
nur  einzelne  Reste  bei  Bisthumern  und  Klostern  erhalten.  Ver- 
mischung  hoheitlicher  und  privatrechtlicher  Anspriiche  scheint 
vorzuliegen  bei  dem  Schweinezins  in  Thiiringen,  dem  Zehnten 
in  Friesland,  auch  bei  den  Forderungen,  die  Heinrich  IV.  in 
Sachsen  und  Schwaben  erhebt  und  welche  dort  so  heftige  Oppo- 
sition erregen. 

Oeffentliche  Steuern  kommen  in  diesor  Zeit  nicht  vor,  wohl 
aber  fordern  in  den  einzelnen  Territorien  die  Herren  von  ihren 
abhiingigen  Leu  ten  ausserordentliche  Beihiilfe,  Beden.  Heinrich  V. 
hat  allerdings  den  Versuch  gemacht,  den  Fiirsten  eine  allgemeine 
Steuer  aufzuerlegen ,  aber  ohne  Erfolg,  nur  ausserordentliche 
Beihiilfen  haben  die  Konige  namentlich  von  geistlichen  Stiftern 
und  Stadten  erlangt.  Eine  wichtige  Einnahmequelle  endlich 
bilden  fur  den  Konig  die  Zahlungen  fur  Erlangung  von  Bis- 
thumern und  Abteien,  ferner  bei  Verleihung  von  weltlichen 
Aemtern  und  Lehen,  Privilegien  und  anderen  Begiinstigungen, 
auch,  oft  missbrauchlich,  bei  der  Rechtspflege. 

Schon  unter  Heinrich  III.  hat  sich  eine  Erschopfung  der 
Mittel  des  Konigthums  bemerkbar  gemacht,  die  nutzbaren  Rechte 
sind  mehr  und  mehr  an  die  Fiirsten  iibergegangen ,  diesen  hat 
die  Mehrzahl  der  Landbauern  zu  zinsen  und  es  wird  geklagt 
ttber  den  Druck,  welchen  sie  erleiden.  Doch  findet  sich  sonst 
noch  keine  Spur,  dass  Wohlstand  und  Cultur  abgenommen  hatten ; 
im  Gegentheil  zeugen  das  Aufbliihen  der  Stadte,  das  glanzende 
Treiben  des  Ritterthums,  die  zahlreichen  geistlichen  Stiftungen, 
die  prachtigen  Bauten  von  bedeutenden  materiellen  Kraften. 

In  dem  letzten  16.  Abschnitte,  „die  Gegensatzo  im  Reich 
und  die  Umbildung  der  Verfassung",  schilclert  der  Verf.  zunachst 
die  verschiedenen  Versuche,  welche  von  Seiten  des  Konigthums 
gemacht  worden  sind,  um  die  Einheit  des  Reiches  gegeniiber 
den  immer  selbstandiger  gewordenen  Gewalten  zu  sichern.  Otto  I. 
und  seine  Nachfolger  suchen  die  herzogliche  Macht  niederzuhalten 

Mittheilangen  a.  d.  histor.  Littoratur.    VU.  20 

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306  Waitz,  Deutsche  Verfaesungsgeschichte. 

durch  haufigen  Wechsel,  Uebertragung  an  Verwandte,  ferner 
durch  Begiinstigung  der  anderen  Gewalten,  namentlich  der 
Biscbofe,  welche  dem  Reichsinteresse  dienstbar  gemacht  und  auf 
deren  Einsetzung  entscheidender  Einfluss  geiibt  wird.  Conrad  II. 
hat  durchgreifendere  Mittel,  strenges  Einschreiten  gegen  wider- 
setzliche  Fiirsten,  Sicherung  des  koniglichen  Besitzes,  Verfugung 
iiber  die  geistlichen  Stifter,  Begiinstigung  der  niederen  Vasallen 
angewendet.  Aber  Heinrich  III.  hat  diese  realen  Bestrebungen 
nicht  weiter  verfolgt,  seine  Verbindung  mit  der  Kirche  wird  der 
Ausgangspunkt  fiir  andere,  dem  Kaiserthum  feindliche  Bestre- 
bungen, in  Rom  und  auch  unter  den  deutschen  Bischofen  bildet 
sich  Opposition,  die  Macht  der  Fiirsten  bleibt  ungeschwacht. 
Heinrichs  IV.  Unmundigkeit  fiihrt  dann  zur  Herrschaft  der  Fiirsten 
und  zur  Emancipation  der  Kirche.  Zur  Regierung  gelangt  ver- 
sucht  Heinrich  durch  verschiedene  Mittel  die  Macht  der  Fiirsten 
niederzuhalten,  aber  seine  gewaltsamen  Massregeln  emporen  wie 
dieso  so  auch  das  Volk,  die  Htilfe,  welche  er  bei  den  Ministe- 
rialen  und  Stadten  sucht,  erweist  sich  als  unzureichend ,  dazu 
kommt  dann  der  Angriff  durch  Gregor  VII.,  dessen  ForderuDg 
der  Aufgabe  der  Investitur  erschiittert  die  konigliche  Macht  in 
ihrem  Fundamente,  denn  dadurch  wiirden  die  geistlichen  Fiirsten 
eine  ahnliche  Unabhangigkeit  wio  die  weltlichen  durch  die  Erblich- 
keit  erlangt  haben.  Mit  dem  Papste  verbiindet  sich  die  Mehrzahl  der 
Fiirsten,  aber  auch  der  Kaiser  vertritt  ein  Princip,  auch  um  ihn 
schaaren  sich  Anhanger  und  er  halt  mannhaft  aus,  in  der  Investitar- 
frage  giebt  er  nicht  nach  und  hinterlasst  das  Recht  ungeschmalert 
seinem  Nachfolger.  Unter  diesem  erfolgt  dann  endlich  eine  Aus- 
gleichung,  nachdem  das  Bundniss  der  Fiirsten  mit  dem  Papst- 
thum  sich  gelost  hat;  im  Wormser  Concordat  behauptet  der 
Kaiser  im  Wesentlichen  seine  Rechte.  Spater  sind  auf  beiden 
Seiten  Versuche  gemacht  worden,  sich  den  dort  aufgerichteten 
Schranken  zu  entziehen,  Lothar  hat  an  den  koniglichen  Rechten 
festgehalten,  Conrad  III.  hat  sich  schwankend  und  unsicher  ge- 
zeigt,  Friedrich  I.  ist  dann  energisch  fur  die  Rechte  des  Reiches 
eingetreten.  Die  Folgen  des  langen  Streites  aber  sind,  dass  die 
romi8che  Kirche  von  dem  kaiserlichen  Einflusse  frei  geworden 
ist,  dass  das  Reich  seine  Anspriiche  auf  Oberhoheit  iiber  die 
Nachbarstaaten  im  Norden  und  Osten  hat  aufgeben  miissen, 
dass  im  Innern  die  Fiirsten  ihre  Bestrebungen  durchgesetxt 
haben,  ihr  factischer  Besitz  und  ein  ausgedehntes  Erbrecht  ist 
ihnen  bestatigt  worden,  schon  haben  sich  die  grossen  fiirstlichen 
Herrschaften  der  Welfen,  Staufer,  in  Thuringen,  Oesterreicli, 
Lothringen  gebildet,  ebenso  selbstandig  und  trotzig  sind  auch 
die  geistlichen  Fiirsten,  auch  die  kleineren  Gewalten  sind  unbot- 
massig,  Ordnung  und  Frieden  sind  gestort,  fiir  den  Heerdienst 
ist  jetzt  auch  personliche  Verpflichtung ,  Belohnung  nothwendig 
geworden ,  die  Einnahmequellen  des  Konigthums  sind  stark  ge- 
mindert.  Trotzdem  bleiben  dem  Konigthum  noch  grosse  Anf- 
gaben  und  auch  bedeutende  Mittel ,   es   kommt   nur  darauf  M. 

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Kopertz,  Quellen  und  fieitrfige  zur  Geschichte  von  M.-Gladbach.       307 

dass  dasselbe  das  Gewordene  anerkennt  und  die  selbstandigen 
Gewalten  zu  vereinigen  und  sick  unterzuordnen  versteht.  Alle 
Gewalt  gilt  doch  als  von  ihm  abgeleitet,  seine  Einkiinfte  sind 
noch  immer  betrachtlich,  es  behauptet  die  oberste  Gerichtsgewalt, 
auch  die  Pflicht  der  Fursten  zum  Heerdienst,  das  ausgebildete 
Lehnwesen  hat  den  Vortheil,  dass  sich  festere  Rechtsformen 
gestaltet  haben.  Dazu  kommt  die  Verbindung  mit  dem  romischen 
Kaiserthum,  sie  erweckt  die  Erinnerung  an  das  alte  romische 
Kaiserthum,  an  dessen  weltumfassende  Ideen,  aber  daneben  auch 
an  andere  rationellere  Grundsatze  von  Regierung  und  Verwaltung. 
Dem  Bande  sind  zunachst  Nachtrage  zu  den  4  letzten 
Banden,  sodann  ein  auch  diese  sammtlich  umfassendes  Wort- 
register  angehangt. 
Berlin.  F.  Hirsch. 

LXXVI. 
Ropertz,   Peter,   Quellen    und  Beitrage    zur  Geschichte    der 

Benediktiner-Abtei   des   hi.   Vitus   in   M.-Gladbach.     gr.   8. 

(VIII,  378  S.)  M.-Gladbach,  1877.  (Bonn,  M.  Lempertz.)  3  M. 
Eine  Zusammenstellung  aller  iiber  die  Geschichte  der  Bene- 
diktinerabtei  Miinchen-  Gladbach  vorhandenen  Quellen.  Unter 
den  77  Urkunden,  die  uns  mitgetheilt  werden,  sind  nur  5  bisher 
noch  nicht  gedruckt  gewesen;  sonst  enthalt  das  Buch  noch  un- 
gedrucktes:  1)  Petri  Sybenii  abbatis  de  monasterio  sancti  Viti 
in  Gladbach,  aus  dem  17.  Jahrhundert;  2)  Cornelius  Kirchrath 
series  abbatum  etc.  1798;  3)  Modus  sepulturae  defuncti  abbatis 
Petri  a  Bocholtz  aus  dem  Jahre  1573 ,  Verfiasscr  unbekannt. 
Nachdem  Eckertz  und  Nover  schon  1853  die  Geschichte  der 
Benediktinerabtei  geschrieben  haben,  hat  die  Arbeit  keine  andre 
Bedeutung  in  Anspruch  zu  nehmen  als  die  eines  Sammelwerkes 
ohne  grossen  Belang.  Von  den  Beilagen  ist  noch  die  lesens- 
wiirdigste  „Baugeschichtliches  iiber  die  Miinsterkirche  und  die 
Klostergebaude",  die  interessanteste  „Der  Reliquionschatz  der 
Abteiu.  Aus  letzterem  Aafsatz  erfahren  wir  z.  B.,  dass,  als 
1867  die  friiher  ubliche  Heiligthumsfahrt  in  Gladbach  wieder 
ein^erichtet  ward,  vom  9. — 18.  August,  jeden  Tag  vom  friihen 
Morgen  bis  zum  spaten  Abend  die  frommen  Glaubigen  ....  in 
doppelter  Reihe  an  den  Heiligthiimern  zur  Verehrung  voriiber- 
zogen.  „Schon  am  ersten  Sonntage  betrug  nach  einer  miissigen 
Schatzung  die  Zahl  dieser  Verehrer  iiber  25000"  etc.  etc.  etc. 
Gladbach  hat  ubrigens  einige  recht  interessante  Reliquien,  z.  B. 
Manna  (NB.  fur  die  Gelehrten,  die  unter  einander  noch  nicht 
einig  sind,  was  darunter  eigentlich  zu  verstehen,  sehr  beachtens- 
werthl),  blutigen  Schweiss  Christi,  Blut  Christi,  ein  Stuck  vom 
Stabe,  mit  welchem  Moses  die  Israeliten  durchs  rothe  Meer 
fiihrte,  ein  Stiick  von  der  Arche  Noahs. 

Plan  en  im  Vogtlande.  William  Fischer. 


20* 

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308    v«  BuDge,  Die  Stadt  Kiga  im  dreizehnten  und  vierzehnten  JahrhunderL 

lxxvh. 

v.  Bunge,  Dr.  F.  G.  Die  Stadt  Riga  im  dreizehnten  und  vier- 
zehnten  Jahrhundert.  Geschichte,  Verfassung  und  Rechts- 
ZUStand.  gr.  8°.  (XVI,  403  S.)  Leipzig,  1878.  Duncker  und 
Humblot.     8,80  M. 

Nach  kurzer  Frist  schon  wieder  ein   neues  Werk   von   dem 
unermudlichen  Dr.  v.  Bunge,    das  sich  wiirdig  seinen  Vorlaufem 
anschliesst.     In  der  Einleitung  giebt  B.  die   von   ihm   benutzten 
Quellen  an:    die  Chronik  Heinrichs  von  Lettlaud,    unter   dessen 
Augen   Riga    entstand,    die   Diinamiinder   Annalen,    die  Chronik 
Hermanns  von  Wartberge,  Urkunden  und  Stadtbiicher,  die  altera 
Stadtrechte,  Burspraken  und  andre  Rechtsquellen ;  die  gesammte 
sonstige  Literatur  iiber  Riga  findet  der  sich  dafiir  Interessirende 
in    dem   ganz   vorziiglichen  Werke  E.  Winkelmanns:   bibliotheca 
Livoniae  historica,  S.  196  ff.     Von  den  2  Theilen,  in  welche  das 
Werk  zerfallt,  diirfte  fur  die  Leser  der  „Mittheilungen"  nur  der 
erste,    welcher  die  aussere  Geschichte,   die  Verfassung  und  Ver- 
waltung  der  Stadt  Riga  enthalt,  als  beachtenswerth  in  Betracht 
kommen;    denn    der    zweite    beschaftigt    sich    mit    der   Rechts- 
geschichte,  dem  Privatrechte,  Strafrechte  und  gerichtlichen  Ver- 
fahren.     Des  1.  Theiles  1.  Abschnitt  enthalt  die  ausseren  Schick- 
sale  der  Stadt  bis  zum  Jahre  1330.  Der  Schopfer  des  livlandischen 
Staatswesens,  Bischof  Albert  L,   ist  auch  der  Griinder  von  Riga. 
Im  Jahre  1200  legte  er  an  der  Mundung  der  Riga  in  die  Duna, 
weil   diese  Stelle   einen   guten  Platz   fur   einen  Hafen   bot,    den 
Grund  zur  spatern  Stadt;   bereits  1201    siedelte   er   selbst   und 
das  Domcapitel  in   den   befestigten  Ort   iiber   und   damit   ward 
Riga  Sitz  der  Regierung.   Um  Ansiedler  herbeizuziehen,  bewilligte 
er   dem    Orte   Freiheiten    in  Be2ug   auf  Handel    und  Gewerbe. 
Obgleich  Curen  nnd  Letten  den  jungen  Platz  mehnnals  angriffen, 
bliihte  derselbe  doch  rasch  auf;  er  ward  einerseits  der  Sammel- 
punkt  fur  die  deutschen  Pilger  und  Kreuzfahrer,  welche  Livland 
weiter  erobern  und  bekehren  wollten,  andrerseits  der  Stapelplatz 
fur    den   deutschen   und    russischen  Handel.     1225   erhielt  Riga 
das   Stadt-   oder  Weichbildrecht ,    1226   einen  Rath,    1231  vom 
Bischof  Nikolaus  ein  Drittel  der  unterworfenen  Lander,  weil  die 
Burger  an  der  Eroberung  derselben  nicht  unwesentlichen  Antheil 
genommen  hatten,   namlich   von  Oesel,  Curland  und  Semgallen, 
zu  Lehen.     Wahrend    es   aber   diese  Besitzungen  im  Laufe   der 
Zeit  wieder  verlor,  entfaltete  sich  um  so  machtiger  sein  Handel 
und   mehrten   sich    seine   Privilegien  in   fremden  Landern,   be- 
sonders   seitdem   es   sich   dem   grossen    norddeutschen  Handel s- 
vereine    des    „gemeinen    deutschen    Kaufmanns",    aus    dem   der 
hansische   Stadtebund   hervorging,    angeschlossen   hatte.     Schon 
1282   ward    es  Mitglied   des   letzteren   durch    ein  Biindniss   mit 
Liibeck  und  den  Deutschen  in  Wisby   zum  Schutze   des  Handeb 
auf  der  Ostsee.     Bis  zum  Jahre  1237  stand   die  Stadt   zu   dem 
Orden   der  Schwertbriider   in   ziemlich   gutem  Verhaltnisse ;   als 
aber  derselbe  in  dem  selbigen  Jahre  in  den  deutschen  Ritterorden 


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v.  Bange,  Die  Stadt  Riga  im.  dreizehnten  und  vierzehnten  Jahrhundert.     309 

aufgegangen  war,  begannen  zwischen  letzterem,  der  nach  der 
Mitherrschaft  ttber  die  wichtige  Stadt  strebte,  und  dem  die 
Stadt  besitzenden  Bischofe,  der  1253  zum  Erzbischofe  erhoben 
wurde,  Reibereien.  1274  wusste  der  Orden  vom  Kaiser  Rudolf 
ein  Schreiben  an  die  Burger  zu  erwirken,  welches  die  Hand- 
habung  der  weltlichen  Gerichtsbarkeit  dem  livlandischen  Ordens- 
meister  iibertrug.  1297  brach  in  Folge  des  Baues  einer  Briicke 
iiber  die  Riga  zwischen  Riga  und  dem  Orden  eine  Fehde  aus, 
die  mit  langeren  oder  kiirzeren  Unterbrechungen  bis  1330 
dauerte.  In  diesem  Kampfe  verband  sich  die  Stadt  mit  den 
alten  Feinden  des  Ordens,  den  heidnischen  Litthauern,  der 
Orden,  der  in  der  Nahe  der  Stadt  2  wichtige  Befestigungen, 
Neuermiihlen  und  Bertholdsmuhle ,  anlegte  und  auch  noch  das 
Kloster  Diinamiinde  durch  Kauf  erwarb,  mit  den  Bischofen  von 
Oesel  und  Dorpat  ui*d  den  koniglich  danischen  Vasallen  Estlands. 
Nachdem  sich  die  Stadt  1329  dem  Orden  auf  Gnade  und  Un- 
gnade  ergeben,  schloss  sie  mit  dem  Ordensmeister  Eberhard  von 
Monhcim  unter  giinstigen  Bedingungen  Frieden  1330,  Riga  unter- 
warf  sich  dem  Orden.  Der  Kaiser  verlieh  zugleich  dem  Orden 
die  voile  Landeshoheit  iiber  die  Stadt,  deren  Gebiet  und  Be- 
wohner.  Damit  beginnt  eine  neue  Periode  der  Geschichte  Rigas, 
die  abseits  der  Aufgabe  dieses  Buches  liegt. 

Aus  dem  2.  Abschnitte,  der  sich  *mit  der  Verfassung  der 
Stadt  beschaftigt,  referire  ich  nur  Folgendes.  Riga  ist  eine 
iiberwiegend  deutsche  Stadt,  die  Deutschen,  meist  aus  Westfalen 
und  Niedersachsen  stammend,  sind  die  herrschende  Classe.  Die 
Zahl  der  andern  Nationalitaten,  der  eingeborenen  Liven  und 
Selen,  der  Russen  und  Litthauer,  ist  verschwindend  klein.  Der 
Landesherr  ist  anfangs  der  Bischof.  Die  obrigkeitliche  Gewalt 
iibt  zum  Teil  sein  Beamter,  der  Vogt  oder  Richter,  advocatus 
seu  judex  civitatis,  aus ;  seit  1226  aber  wahlt  die  Biirgerschaft 
denselben  selbst,  wahrend  dem  Bischofe  nur  das  Recht  vor- 
behalten  ist,  denselben  mit  dem  Gerichtsbanne  zu  beleihen. 
Schliesslich  bleibt  dem  Bischofe  nur  dies  Recht,  da  die  ganze 
Verwaltung  des  Stadtwesens  auf  den  Rath  ubergeht,  und 
noch  das  Miinzrecht  und  auch  dieses  endlich  nur  in  der  Be- 
schrankung,  dass  er  auf  die  von  der  Stadt  gepragten  Miinzen 
sein  Zeichen  setzt  Trotzdem  bleibt  der  Bischof  der  Landesherr 
und  Riga  eine  landesherrliche  Stadt. 

Seit  1226  hat  Riga  einen  aus  12  Mitgliedern  bestehenden, 
das  erste  Mai  von  der  Gesammtheit  der  Burger  gewahlten  Rath, 
der  nach  dem  Beispiele  von  Hamburg  und  Liibeck  jahrlich 
wechselte,  so  dass  der  alte  Rath  jedesmal  den  fiir  das  nachst- 
folgende  Jahr  wahlte  und  der  neue  noch  4  Mitglieder  cooptirte ;  der 
sitzende  Rath  bestand  demnach  jedesmal  aus  16  Gliedern.  Ueber 
die  sogenannte  passive  Wahlfahigkeit  hat  sich  gar  keine  Nach- 
richt  erhalten,  jedenfalls  konnte  aber  jeder  ansassige  Burger, 
der  kein  Handwerk  betrieb,  in  den  Rath  gewahlt  werden.  In 
den  Handen  des  keiner  hohern  Obrigkeit  untergeordneten  Rathes 


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310     v>  Bunge,  Die  Stadt  Riga  im  dreizehnten  und  vierzelintcn  Jahrbundert 

liegt  die  gauze  Regierung  der  Stadt,  derselbe  vertritt  die  Stadt 
nach  aussen,  er  ist  autonom  und  erlasst  Willkiiren,  Stadtrechte 
und  Burspraken,  er  iibt  die  Gerichtsbarkeit  aus  und  ist  Oberhof 
fur  die  mit  Rigischem  Rechte  bewidmeten  Stadte,  er  erteilt  das 
Burgerrecht,  verwaltet  das  Stadt  vermogen,  sorgt  fur  die  Sicher- 
heit  und  Ordnung  der  Stadt  etc.  Besondre  Wiirden  des  Rathee 
bilden  die  2  Biirgermeister,  proconsules,  der  Vogt  oder  Stadt- 
richter  (c£  oben),  die  2  Kammerer ,  deneu  die  Verwaltung  des 
Stadtvermogens,  die  Erhebung  der  Einkiinfte  und  Steuern  oblagt 
die  2  Beisitzer  beirn  Gericbte  des  Vogtes,  2  Landvogte,  denen 
die  Erbebung  der  Einkiinfte  der  Stadt  aus  der  Stadtmark  und 
die  Verwaltung  der  letzteren  iibertragen  war. 

Die  Einwohnerschaft  Rigas  bestand  aus  Freien  und  Unfreien, 
jedocb  hatte  der  Geburtsstand  keinen  Einfluss  auf  die  offentliche 
Stellung,  vielmehr  hing  diese  von  der  Gewinnung  des  Biirger- 
rechts  ab.  Nur  der  Burger  ist  vollberechtigtes  Mitglied  der 
Stadtgemeinde,  den  Biirgern  stehen  gegeniiber  die  Fremden  oder 
Gaste,  geschieden  in  Pilger  und  Kaufleute,  die  Ritterburtigen, 
Ordensbriider  und  Geistlichen,  die  freien  Knechte  oder  Dienst- 
boten,  die  eingebornen  Landbewohner  der  Stadtmark  und  endlich 
die  eigenen  Leute.  Eine  organische  Vertretung  der  Gemeinde, 
Vorstande,  hat  es  offenbar  zu  dieser  Zeit  noch  nicht  gegeben. 
Briiderschaften ,  Gilden*,  Compagnien  kommen  dem  Zuge  des 
Mittelalters  nacb  genossenschaftlicher  Vereinigung  gemass  auch 
in  Riga  schon  friih  vor,  jegliche  politische  Zwecke  aber  liegen 
denselben  fern.     Die  Oberaufsicht  iiber  sie  fuhrt  der  Rath. 

Die  Fremden,  der  Zahl  nach  den  Biirgern  bedeutend  iiber- 
legen,  wurden  als  Schiitzlinge  angesehn,  hatten  aber  im  Ganzen 
gleiches  Recht  mit  den  Biirgern.  Die  Pilger  erhielten  friih  eine 
corporative  Verfassung  mit  eigenen  Vorstanden,  sie  hatten  sogar 
einen  eigenen  Vogt,  der  vom  Rathe  den  Gerichtsbann  erhielt. 
Alle  Bewohner  der  Stadt  und  ihres  Gebietes  waren ,  wohl  .mit 
wenigen  Ausnahmen,  freien  Standes.  Die  Nichtbiirger  wareu 
nicht  Mitglieder  der  Stadtgemeinde,  ihre  personlichen  Rechte 
blieben  unangetastet.  Was  die  Kriegsverfassung  anlangt,  so  ist 
der  Burger  nur  zur  personlichen  Beteiligung  an  der  Bewachong 
und  Vertheidigung  der  Stadt  verpflichtet,  nicht  aber  zur  Teil- 
nahme  an  den  Angriffskriegen,  „Reisen,  Heerfahrten" ;  aUmahlich 
aber  ward  es  Sitte,  dass  die  Burger  auch  zum  Ordensheere  eine 
bewaffnete  Schaar  stellten  und  an  entfernteren  „Reisen"  teil- 
nahmen.  Jeder  Burger  riistete  sich  selbst  aus,  die  dienenden 
Knechte  erhielten  ihre  Riistungen  von  der  Stadt.  Das  Aufgebot 
erfolgte  durch  den  Rath,  Anfiihrer  sind  die  Rathsherren.  Diese 
Wehrverfassung  erprobte  sich  besonders  in  den  sechsziger  Jahren 
des  14.  Jahrhunderts,  als  Riga  lebhaften  Anteil  an  den  Seekriegen 
der  Hanse  gegen  Danemark  und  die  Vitalienbriider  nahm. 

Aus  dem*  3.  Abschnitte :  „die  Stadtverwaltung"  iibergeheidi 
die  einzelnen  Capitel,  die  Polizeiverwaltung ,  Finanzverwaltungr 
den  Gewerbebetrieb  iiberhaupt  und  die  Handwerke  insbesondere 

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v.  Bunge,  Die  Stadt  Riga  im  droizehnten  und  vierzehnteii  Jahrhundert.     31 1 

die  offentlichen  und  gemeinniitzigen  Gebaude  und  Anstalten, 
Kirchen,  Schulen,  Stiftungen,  urn  die  wichtigsten  Punkte  aus 
dem  Capitel  „der  Handel",  unter  Weglassung  der  betreffenden 
Abschnitte  iiber  Handelsprivilegien,  Miinzwesen  und  Maasse  und 
Gewichte  vorzufuhren.  Riga  ist  bekanntlich  eines  der  altesten 
und  bedeutendsten  Mitglieder  der  Hanse  und  die  Geschichte 
seines  Handels  deshalb  eng  mit  der  jenes  grossen  Bundes  ver- 
flochten.  Bunge  beschriinkt  sich  darauf,  die  wichtigsten  der 
Diinastadt  eigenthiimlichen  Verhaltnisse  zu  scbildern.  Riga  hat 
jedenfalls  den  schon  zu  An  fang  des  14.  Jahrh.  entstandenen  be- 
sonderen  Bund  der  livlandischen  Stadte  ins  Leben  gerufen  und 
erhielt  den  Vorsitz  bei  den  Tagen  derselben.  Anfanglich  pros- 
perirte  Rigas  Handel  besonders  nach  Russland  und  zwar  nach 
Smolensk  und  Nowgorod ,  ja  es  scheint  in  Smolensk  sogar  ein 
deutscher  Handelshof,  der  von  dem  Rigischen  Rathe  abhangig  war, 
bestanden  zu  haben  und  selbst  mit  dem  noch  hinter  Moskau  ge- 
legenen  Susdalj  stand  Riga  in  Verkehr.  Der  Handel  an  der 
Diina  entlang,  besonders  nach  Polozk  und  Witebsk,  war  aus- 
schliesslich  in  den  Handen  der  Diinastadt.  Bis  zum  15.  Jahrh. 
beherrschte  es  auch  den  Handel  in  Litthauen.  Nicht  so  durch- 
greifend  war  sein  Handelsverkehr  nach  dem  Westen  hin.  Wahrend 
es  die  vorhin  erwahnten  Miirkte  allein  beherrschte,  theilte  es 
sich  hier  mit  den  andern  Hansestadten  an  der  Ostsee,  besonders 
mit  Wisby  und  Liibeck,  in  den  Handel.  Im  13.  und  14.  Jahrh. 
ist  Rigas  Handel  vorzugsweise  Transithandel,  es  vermittelt  den 
Austausch  der  Producte  Russlands  und  Litthauens  mit  denen 
des  westlichen  Europa.  Ausgefiihrt  wurden  Holz,  Pottasche, 
Getreide,  Hanf,  Flachs,  Wachs,  Honig,  Pelze,  Talg,  Speck;  ein- 
gefuhrt  Tuche,  Leinwand,  Salz,  Eisen,  Pferde,  Safran,  Schwefel, 
Edelmetalle,  Wein,  Heringe.  Unmittelbarer  Tauschhandel  fand 
fast  gar  nicht  statt,  alle  Waaren  wurden  entweder  baar  bezahlt 
oder  „auf  Borg"  gekauft  oder  endlich,  bei  Lieferungskaufen,  die 
Zahlung  dem  Liefernden  voraus  geleistet.  Wenn  auch  den 
Hansischen  jeder  Credithandel  mit  ausserhansischen  Kaufleuten, 
besonders  mit  Russen,  untersagt  war,  so  kehrten  sich  doch  Riga 
und  die  livlandischen  Stadte  nicht  daran.  Ebenso  war  Commis- 
sions- und  Gesellschaftshandel  mit  Ausserhansischen  verboten. 
Unter  Wedderlegginge ,  contrapositio ,  versteht  Bunge  einen 
dauernden,  auf  alle  oder  doch  mehrere  Handelsgeschafte  der 
Compagnons  geschlossenen  Gesellschaftsvertrag,  zum  Unterschiede 
von  Vereinigungen  zweier  oder  mehrerer  Personen  behufs  Unter- 
nehmung  eines  einzelnen,  namentlich  eines  Creditgeschafts.  Eine 
solche  Vereinigung  wurde  gewohnlich  von  Creditnehmern  ge- 
schlossen  und  hatte  offenbar  den  Zweck,  dem  Creditgeber  eine 
grossere  Sicherheit  zu  gewahren.  „Zahlungsanweisungen"  kommen 
in  Riga  bereits  am  Ende  des  13.  Jahrh.  vor,  das  Ausstellen  der 
Anweisung  heisst  „uberweisenu  oder  „iiberschreibenu.  Das  Ge- 
8chaft  wird  als  ein  Geldkauf  aufgefasst  und  heisst  „Geld  iiber- 
kaufen". 


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312    Bachmann,  Bohmen  und  seine  Nachbarlander  unter  Georg  von  Podiebrad. 

Schliesslich  mochten  wir  audi  das  ausserlich  vorziiglich 
ausgestattete  Werk  alien  denen,  welche  sich  mit  mittelalterlicheT 
Stadte-,  Cultur-  und  Rechtsgeschichte  beschaftigen ,  dringend 
empfehlen.  Die  Geschichte  der  deutschen  Stadt  Riga,  die  iir 
deutsches  Geprage  bis  auf  den  heutigon  Tag  beibehalten  hat 
und  die  Fahne  des  Deutschthums  in  den  sie  umbrandenden  und 
umwerbenden  Wogen  des  Slaventhums  wacker  aufrecht  halt, 
konnte  nach  C.  E.  Napiersky:  kurze  Uebersicht  der  alteren 
Geschichte  der  Stadt  Riga,  von  1200  —  1581,  keinen  bessern 
Chronisten  finden  als  den  Verfasser  des  besprocbenen  Werkes. 
Eine  Fortfiihrung  desselben  bis  zum  Untergang  der  livischen 
Freiheit  in  demselben  Sinne,  wie  hier,  diirfte  alien,  die  Interesse 
an  der  Geschichte  dieser  deutschen  Stadt  im  fernen  Nordosten 
haben,  eine  willkommene  Gabo  soin. 

Plauen  im  Vogtlande.  William  Fischer. 

LXXVHI. 
Bachmann,  A.,  Bohmen  und  seine  Nachbarlander  unter  Georg 
von  Podiebrad  1458—1461  und  des  Konigs  Bewerbung  um 
die  deutsche  Krone.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Versuche 
einer  Reichsreform  im  15.  Jahrh.  Zum  Theil  nach  un- 
gedruckten  Quellen.  gr.  8.  (XII,  309  S.)  Prag,  1878. 
J.  G.  Calve's  Buchhdlg.     6  K 

Die  Geschichte  des  deutschen  Reiches  in  der  zweiten  Halfte 
des  XV.  Jahrhunderts,  resp.  die  Geschichte  K.  Friedrichs  III.  ist 
zum  guten  Theil  eine  Geschichte  der  Konige  Georg  Podiebrad 
von  Bohmen  und  Matthias  Corvinus  von  Ungarn.  Nicht  in  Wien 
oder  in  den  Stadten,  welche  Schauplatz  der  Reichstage  sind, 
sondern  in  Prag  und  Eger,  dann  in  Ofen  und  Presburg  sind  die 
Ausgangspunkte  der  Reichspolitik  zu  suchen:  ohne  vorgangige 
Kenntniss  der  Geschichte  beider  Lander  ist  die  Darstellung  der 
Reichsgeschichte  unmoglich,  ja  die  Geschichte  Bohmens,  nachher 
Ungarns,  ist  beinahe  Geschichte  des  deutschen  Reiches.  Mit 
Recht  nennt  daher  B.  sein  Buch  „Beitrag  zur  Geschichte  der 
Versuche  einer  Reichsreform  im  XV.  Jahrhunderte".  Seit  dem 
Sommer  1459,  fiihrt  der  Verf.  aus,  ist  G.  Podiebrads  Vorlangen, 
romischer  Konig  zu  werden,  der  Mittelpunkt  der  bohmischen 
Politik.  „AUo  Vorkommnisse  in  Bohmen  und  im  Reiche  wirken 
darauf  mittelbar  oder  unmittelbar  zurtick,  wahrend  andrerseifcs 
die  Entwicklung  der  inneren  Verbal tnisse  Bohmens,  wie  seine 
Stellung  zu  den  Nachbarstaaten  und  zur  Kirche  im  wesentlichen 
von  dort  aus  bestimmt  wirdu.  Durch  eine  Fiille  bisher  un- 
gedruckten  und  unbenutzten  Materiales,  das  zum  Theil  aus  der 
Egerer  Stadtbibliothek  stammt,  war  der  Verfasser  des  vorliegen- 
den  Werkes,  welches  vielleicht  die  beste  unter  den  neuesten 
Monographien  iiber  die  Geschichte  dieser  Zeit  ist,  vorziigl'ch  im 
Stande,  diesen  Wechselbeziehungen  nachzugehen  und  die  einzelnen 
Phascn  der  bohmischen  Aktion,  streng  von  einander  geschieden, 
zur  Darstellung  zu  bringen,   Vier  Hauptabschnitte  der  Entwicklung 


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Bachmann,  Btfhmen  und  seine  Nachbarliinder  unter  Georg  von  Podiebrad.  313 

sind  zu  unterscheiden.  In  den  beiden  ersten  Kapiteln  (S.  1 — 66) 
gelangt  B.  bis  zu  dem  Momente,  wo  zum  ersten  Mai  in  Georgs 
Seele  das  Konigsproject  angeregt  wurde ;  ein  urn  so  passenderer 
Abschluss,  als  die  Entdeckung,  dass  Martin  Mair  schon  am  Be- 
ginn  d.  J.  1459  dem  Bohmenkonig  die  erste  Offerte  gemacht, 
ein  Verdienst  des  Verfassers  ist.  Verfolgen  wir  in  der  Kiirze 
das  erste  Stadium  der  Entwicklung  von  Georgs  Thronbesteigung 
an.  Nachdem  in  Georgs  Erwahlung  Utraquismus  und  Wahl- 
freiheit  zum  Siege  gelangt,  zwingt  G.  durch  raschen  Einfall  in 
Oestreioh  den  Kaiser  seinen  Widerstand  aufzugeben :  es  geschieht 
durch  das  Abkommen  vom  3.  October  1458.  Noch  aber  ist  die 
Gegnerscliaft  der  deutschen  Fiirsten  zu  beseitigen,  speciell 
Sachsens,  der  selbst  Ansp niche  erhoben.  Mit  Ausnahme  des 
Bischofis  von  Wiirzburg  sind  alle  Fiirsten  dem  Konige  abgeneigt. 
Stadte,  wie  Niirnberg  warten  vorsichtig  ab,  oder  verhalten  sich 
misstrauisch,  wie  das  wichtige  Eger.  Georg  sucht  nach  Freunden ; 
so  bemiiht  er  sich  den  Markgrafen  Albrecht  Achilles  und  damit 
dessen  Bruder  zu  gewinnen,  indem  er  ersterem  Mittheilung  von 
einem  Bundniss  macht,  das  brand enburgische  und  Hansestadte 
ihm  angetragen.  Aber  die  Verhaltnisse  im  Reich  verhindern, 
dass  Sachsen  seine  Anspriiche  mit  Erfolg  geltend  machen  kann, 
gestatten  Georg,  im'Frieden  sein  Konigthum  zu  sichern.  Dies 
hangt  mit  der  Entstehung  der  sog.  wittelsbachischen  Partei  zu- 
sammen,  welche  Markgraf  Albrechts  Plane,  die  Befugnisse  seines 
Landgerichts  zu  erweitern,  hervorrufen. 

Einen  Augenblick  freilich  scheint  es,  als  werde  eine  Coalition 
der  markgraflichen  und  wittelsbachischen  Partei  sich  gegen  den 
Konig  wenden.  B.  nimmt  namlich,  was  Kluckhohn  nur  ver- 
muthungsweise  ausspricht,  als  sicher  an,  dass  nach  dem 
Zug  gegen  Donauworth  die  bairischen  Riistungen  dem  Bohmen- 
konig gegolten  batten.  Er  meint,  —  abweichend  von  Kl.  — 
die  Gegenforderung  Albrechts  fur  seinen  „Gesellendienstw  bei 
dem  Donauworther  Handel  sei  keineswegs  Nachgiebigkeit  in 
Sachen  des  Landgerichts  gewesen,  sondern  militarische  Aktion 
gegen  Bohmen  im  Interesse  der  sachsischen  Erbanspriiche.  Dem- 
gemass  beurtheilt  er  auch  die  Furstenversammlungen  zu  Aschaflfen- 
burg  unci  Heidelberg  (um  Weihnachten  1458)  nicht  als  Parteitage, 
welche  den  Zweck  haben,  sich  zu  gegenseitiger  Befehdung  zu 
organisiren,  sondern  als  Versuche,  einen  Ausgleich  in  jenem  Sinne 
herbeizufuhren.  Erst  nach  dem  Scheitern  dieses  Versuches  habe 
Markgraf  Albrecht,  um  den  Wittelsbachern  Terrain  abzugewinnen, 
einseitig  den  Anschluss  an  Bohmen  erstrebt.  In  diesem  Zu- 
sammenhange  findet  auch  der  vermeintliche  „ Reichstag"  von 
Esslingen  seine  Erklarung.  Schon  Kluckhohn  hatte  in  einem 
besouderen  Excurse  (S.  366  und  367)  gezeigt,  dass  der  angeb- 
liche  Reichstag  nur  eine  Fiirstenversammlung  im  wittelsbachischen 
Interesse  gewesen:  B.  findet  die  Veranlassung  zu  diesem  Partei- 
tag  darin,  dass  vorher  Markgraf  Albrecht  in  Wunsiedel  Sachsen 
mit  Bohmen  auszugleichen  und  Beziehungen   mit  Bohmen  anzu- 

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314  Bachmann,  Bohmen  und  seine  Nachbarlander  unter  Georg  Ton  Podiebr&d. 

kniipfen  bemiiht  war.  In  der  Hoffnung,  Georg  far  sich  zu  ge- 
winnen,  bricht  Albrecht  im  Marz  1459  vollstandig  mit  der 
Gegenpartei,  die  aber  gleichfalls  auf  bohmische  Unterstiitzung 
speculirt.  So  begeben  siob  die  Haupter  beider  Parteien,  Mark- 
graf  Albrecht  und  der  Pfalzgraf  nach  Eger  „wo  zum  erstenmale 
ein  Staatswesen  sich  die  allgemeine  Anerkennung  erringt,  das 
im  Gegensatze  zu  der  alten  Kirche  und  der  alten  Legitimist 
denn  doch  den  Kampf  um  religiose  Freiheit  und  das  Reeht 
politischer  Selbstbestimmung  als  die  Basis  seines  Bestandes 
erkennen  lasst".  Georgs  Beitritt  zu  dieser  oder  jener  Partei 
war  fur  das  Reich  entscheidend.  „Statt  durch  Opfer  die  Aner- 
kennung seines  neuen  Konig-  und  Kurfiirstenthums  zu  erlangeu, 
trat  er  sofort  in  eine  derartig  gebietende  Stellung  im  Reichc 
ein,  dass  sie  auch  nicht  einmal  eine  Discussion  iiber  Anerkennung 
Oder  nicht  Anerkennung  zuliess."  Schlau  benutzt  Georg  die 
Lage :  schliesst  mit  dem  Pfalzgrafen  ewiges  Freundschaftsbundniss, 
mit  dem  sachsischen  Hause,  nach  billiger  Abfindung  der  Erban- 
spruche,  ein  Doppelverlobniss.  Dann  tritt  Martin  Mair  —  vom 
Verf.  als  Egoist,  der  fur  all  seine  Reformplane  nicht  entfernt 
den  Namen  eines  Patrioton  verdient,  trefflich  gezeichnet  —  mit 
seinem  Erbieten  an  den  Konig.  Nachdem  Martin  Mair  in  friiherer 
Zeit  die  Candidaturen  des  Burgunders,  des  Herzogs  Albrecht, 
des  Pfalzgrafen  gefdrdert,  bietet  er  dem  Konige  von  Bohmen  die 
Krone  an.  Dass  dies  schon  jetzt  geschehen,  beweist  B.  S.  65 
und  66,  namentlich  mit  Beriicksichtigung  der  Politik  Georgs  im 
Sommer  1459.  Noch  lehnte  Georg  das  Project  seiner  Erhebung 
ab,  „als  eine  Sache,  davon  kein  Nutzen,  sondern  allein  grosser 
Unwille  entstehen  wiirde",  aber  dennoch  ward  von  diesem  Augen- 
blick  an  die  bohmische  Politik  „von  dem  Gedanken  der  Er- 
werbung  der  deutschen  Krone  nicht  bios  beeinflusst,  sondern 
thatsachlich  geleitet." 

Der  Inhalt  des  umfangreichen  dritten  Capitels,  —  betiteit: 
„Die  Zeit  der  Vorbereitung"  —  zerfallt  in  drei  Gruppen :  es  war 
die  Stellung  Georgs  zum  Papst,  zum  Kaiser  zu  schildern:  seine 
Position  zu  den  beiden  Parteien  im  Reich  des  weitern  darzulegea 

Papst  Pius  II.,  dem  nichts  so  sehr  am  Herzen  liegt,  als  der 
Wunsch,  die  Christenheit  gegen  die  Tiirken  zu  fuhren,  dem  eine 
bohmische  Gesandtschaft  im  Namen  des  Konigs  und  seiner  Familie 
Obedienz  leistet,  ist  dem  Bohmenkonige  geneigt ;  zum  Mantuaner 
Congress  ladet  er  ihn  als  „seinen  geliebtesten  Sohn  Georg11  em. 
Denn  dieser,  der  den  Uneingeweihten  als  Ketzerfurst  gilt,  hat 
vor  seiner  Kronung  den  katholischen  Baronen  freie  Religions 
iibung  versprochen  und  in  einem  geheimen  Eide  zugesagt,  audi 
das  Volk  zum  Katholieismus  zuriickzufuhren ;  nur  hatte  er  nach- 
sichtiges  Warten  von  romisoher  Seite  verlangt,  bis  er  auf  seinem 
Throne  sicher  sitze.  —  Die  Begrundung  dieser  Ansicht  ist  in 
desselben  Verfassers  Schrift:  „Ein  Jahr  bohmischer  Geschichtea 
(Archiv  £  Oestr.  Gesch.  LIV.  Bd.)  enthalten.  Unserm  Vert  ist 
Georg   weder   der  Vertreter    des   kirchlichen  Reformgedankens, 


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Bachmann,  B&hmen  und  seine  Naclibarliinder  unter  Georg  von  Podiebrad.  315 

noch  auch  nur  ein  strengglaubiger  Utraquist.  Dass  die  Gesandt- 
schaft,  welche  im  Nameu  Georgs  die  Obedienz  zu  leisten  hatte, 
gar  die  Bestatigung  der  Compaktaten  nachsuchen  sollte,  —  wie 
das  bohmische  Volk  wobl  glauben  mochte,  halt  B.  fiir  eine  ent- 
schieden  irrige  Annahme.  Trotz  verschiedener  gegentheiliger 
Nachrichtcn  zweifelt  Pius  nicht  an  Georgs  Gesinnungen  und  weist 
auch  die  Breslauer,  die  in  ihm  doch  nur  den  Ketzer  sehen,  zu 
ihrer  Verwunderung  zum  Gehorsam  an.  Von  Breslau  abgesehen, 
geben  die  Schlesier,  obendrein  von  den  Sachsen  im  Stich  gelassen> 
ihre  Opposition  auf. 

Dadurch,  dass  der  Kaiser  den  Konig  Matthias  zu  verdrangen 
sucht,  —  am  17.  Febr.  1459  lasst  sich  Friedrich  wahlen,  — 
wird  er  genothigt,  an  Georg  einen  Heifer  zu  erwerben.  Der 
Papst,  dem  seiner  Kreuzzugsplane  halber  der  Zwisohenfall  sehr 
unerwiinscht  kommt,  nimmt  dem  Ungarnkonig  gegeniiber  eine  . 
zweideutige  Haltung  ein,  der  apostolische  Legat  in  Ungarn, 
Johann  Carvajal  glaubt  h\  dem  Bohinen  den  geeignetsten  Ver- 
mittler  zu  erkennen.  Der  Kaiser  unternahm  die  lleise  nach 
Briinn,  wo  er  dem  Konige  alle  Rechte  und  Privilegien  Bohinens 
bestatigte,  nachdem  er  ihn  feierlich  belehnt  hatte.  In  den 
Punktationen  vom  2. — 6.  August  wurdeu  die  Verpflichtungen  des 
Konigs,  —  bewaffnete  Hilfe  gegen  Ungarn  —  und  seine  Anspriiche 
an  den  Kaiser  festgestellt.  Nicht  die  grossen  Geldverheissungen 
lockten  Georg,  sondern  das  Versprechen  Friedrichs  „das  Reich 
nnd  seine  Lande  nach  des  Konigs  Rathe  zu  regieren  und  sogar 
seinen  Hof,  d.  i.  wohl  sein  Hofgericht  und  die  Kanzlei  fiir  das 
Reich  im  Einverstandnisse  mit  dem  Konige  zu  besetzen."  Wahrend 
Palacky  meinte,  dass  Georg  seine  Forderungen  hier  allmahlich 
erhohte,  weil  er  sich  so  precaren  Verpflichtungen  wieder  zu  ent- 
ziehen  wiinschte,  zweifelt  B.  nicht  daran,  dass  Georg  es  mit 
seinen  Versprechungen  ehrlich  gemeint.  Der  Schiedsspruch 
zwischen  Matthias  und  Friedrich  war  bedeutungslos.  Endlich 
S.  115 — 130  wird  gezeigt,  wie  Markgraf  Albrecht  Achilles  den 
Donauworther  Handel  zu  weiterer  Theilung  und  Schwachung  der 
wittelsbachischen  Partei  auszunutzen  sucht,  auch  wirklich  den 
Herzog  Ludwig  diipirt,  aber  nicht  verhindern  kann,  dass  die 
Wittelsbacher  sich  mit  Bohmen  einen,  dessen  Einfluss  auch  hier 
entscheidend  ist.  „Die  feste  Einung  mit  Wittelsbach-Landshut 
bezeichnet  nun  den  Uebergang  zu  einer  positiven  Politik  in 
Deutschland,  aus  der  als  Grundgedanke  bald  das  Streben  des 
Konigs  nach  Erlangung  der  romischen  Konigskrone  hervortritt." 
Auf  den  Tagen  zu  Taus  und  Pilsen,  auf  welchem  letzteren  der 
Pfalzgraf  personlich  erscheint,  in  seinem  Gefolge  der  gewandte 
M.  Mair,  wird  das  Biindniss  perfekt.  Vergeblich  bemuht  sich 
Markgraf  Albrecht  noch  einmal,  den  Konig  fiir  sich  zu  gewinnen  ; 
Georg  will  seine  Stellung  liber  den  Parteien  einnehmen.  Mit 
dem  Projecte  einer  Miinzreform  „lenkte  er  dann  in  die  Bahn  der 
Reichsreformbewegung  einM,  welche  zu  leiten  und  auszunutzen 
er  beabsichtigte.  —  In  diesem  Abschnitte  wurden  namentlich  die 

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316  Bachmann,  Bohmen  and  seine  Nachbarlander  unter  Georg  von  Podiebrai 

von  Stockheim  gesammelten  Archivalien  trefflich  verwerthet;  auf 
die  Politik  des  Markgrafen  Albrecht  und  das  diplomatische 
Talent  des  Herzogs  Ludwig  f  allt  ein  helles  Licht ;  ob  aber  der 
letztere  in  der  Weise  diipirt  worden  ist,  wie  B.  es  darstellt, 
wag©  ich  dock  zu  bezweifeln.  In  diesen  Zusammenhang  gehort 
auch  der  bisher  unbekannte  Ulmer  Tag  vom  Juli  1459,  den  R 
aus  Stockheims  Sammlung  herausgefunden  hat.  (S.  133,) 

Das  IV.  Capitel  behandelt  den  „Versuch  Konig  Georgs, 
romischer  Konig  zu  werden  im  Einverstandnisse  mit  K.  Friedricn* 
Auf  dem  Egerer  Hochzeitsfest  liess  sich  Georg  durch  Martin 
Mair  vollstandig  gewinnen.  Jetzt  gait  es,  die  Mittel  zur  Aus- 
fiihrung  des  Projectes  zu  linden.  An  ideale  Mittel,  an  erne 
wirkliche  Reform  des  Reiches  denken  weder  der  Konig  nocli  sein 
Berather,  die  beide  lediglich  nach  Ehre  und  Gewinn  diirsten; 
man  speculirt  nur  auf  die  Selbstsucht  der  anderen  Fiirsten ;  wie 
sie  zu  erkaufen  sind,  ist  die  Frage.  B.  schildert  erst  die  Mai- 
lander  Belehnungs  -  Angelegenheit ,  welche  nach  Martin  Main 
schlauem  Rath  in  diesem  Sinne  ausgebeutet  werden  sollte,  dann 
den  Mantuaner  Congress,  auf  dem  Pius  mit  seiner  Kreuzzugsidee 
vollig  isolirt  erscheint.  An  die  Reichstage,  welche  nach  dem 
Congresse  gehalten  werden  sollten,  kniipft  Mair  zuniichst  des 
Konigs  Hoffnungen.  Aber  Georg  fand  eine  bessere  Gelegenlieit, 
seino  Absichten  zu  verwirklichen,  indem  er  nach  einigen  Bedenken 
sich  zum  Anwalt  der  aufruhrerischen  ostreichischen  Staude  macht. 
Die  glanzende  Gesandtschaft,  welche  er  im  Marz  1460  an  Fried- 
rich  schickte,  hatt§  —  nach  B.'s  Ausfiihrungon  —  die  Bitte 
auszusprechen,  der  Kaiser  moge  zu  der  Erhebung  Georgs  auf 
den  romischen  Konigsthron  seine  Zustimmung  geben.  Der  Kaiser 
war  entschlossen,  das  nie  zu  thun,  aber  im  Hinblick  auf  seine 
bedenkliche  Lage  gab  er  diesmal  nur  eine  ausweichende  Antwort 
Auf  den  letzten  Seiten  dieses  Capitels  findet  sich  eine  pradse 
Darlegung  der  Missstande,  welche  die  ostreichische  Landsehaft 
mit  aufriihrerischer  Gesinnung  erfiillten;  gegen  G.  Voigt  fuhrtB. 
den  Nachweis,  dass  der  Kaiser  das  Hauptiibel,  die  Miinzrer- 
schlechterung,  urspriinglich  n  i  c  h  t  selbst  verschuldet  habe. 

Capitel  V.  „  Konig  Georgs  Bemiihungen  um  d.  r.  Konigs- 
krone  bis  zu  seiner  zweiten  Abweisung  durch  den  Kaiser".  Der 
Niirnberger  Reichstag,  durch  welchen  die  Curie  ihr  Kreuzzugs- 
project  realisiren  wollte  und  der  auch  Georgs  egoistischen  Planen 
Vorschub  leisten  sollte,  scheiterte  an  der  Parteiung  im  Reici. 
Georgs  Stellung  verschlechterte  sich  nach  drei  Seiten :  der  Kaiser 
war  ihm  wegen  jener  Einmischung,  die  er  entschieden  zuriickwies, 
entfremdet;  Matthias,  der  des  Bohmen  zweideutiges  Spiel  zu 
durchschauen  begann,  ward  ihm  feind;  endlich  ward  auch  der 
Papst  unwillig  wegen  der  verzogerten  Erfullung  seiner  gegen  die 
Kirche  ubernommenen  Verpflichtungen.  Dagegen  nahm  der  im 
J.  1460  gefuhrte  Kampf  der  wittelsbachischen  und  brandenbnr- 
gischen  Partei  eine  fur  den  Bohmenkonig  ausserst  giinstige 
Wendung.     Markgraf  Albrecht  ward  vollstandig  iiberwaltigt,  der 


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Bachmann,  Bohmeu  und  seine  Nachbarlander  unter  Goorg  von  Podiebrad.  317 

Konig,  dessen  Sympathien  von  vornherein  auf  bairischer  Seite 
wareD,  schloss  mit  Herzog  Ludwig  einen  Vertrag,  der  ihn  zum 
Schiedsrichter  in  diesem  Streite  machte ;  ein  Trutz-  und  Schutz- 
biindniss,  in  dem  nicht  einmal  der  Kaiser  ausgenommen  wurde. 
Auch  Herzog  Albrecht  von  Oestreich  trat  dem  neuen  Bunde  bei. 
Der  Gedanke  aber,  iiberhaupt  ohne  den  Kaiser  die  romische 
Konigswiirde  zu  erlangen,  kniipft  sich  an  den  Verlauf  des  kaiser- 
lichen  Tages  zu  Wien.  Die  Anmassung  des  Cardinals  Bessarion, 
welcher  ohne  Riicksicht  auf  die  deutschen  Reichsstande  die  fur 
den  Tiirkenzug  nothigen  Massnahm^n  decretiren  zu  konnen  meinte 
und  auch  den  Kaiser  dazu  geneigt  fend,  schuf  gegen  Papst  und 
Kaiser  eine  oppositionelle  Bewegung,  auf  welche  Georg  nunmehr 
seine  HoflFnungen  setzte. 

Capitel  VI.  „Konig  Georgs  Versuch  romischer  Konig  zu 
werden  mit  Hilfe  der  deutschen  Fiirsten".  Der  Verf.  beginnt 
mit  einer  Schilderung  der  kirchlichen  Opposition,  die  sich  nach 
dem  Wiener  Tage  auch  gegen  den  Kaiser  wandte.  Diese  und 
die  schwere  Niederlage  der  brandenburgischen  Partei  schienen 
Georgs  Emporkommen  zu  begiinstigen.  Gegen  den  Vorwurf  nun> 
Georg  habe  sich  nicht  entschlossen  und  riickhaltslos  auf  die 
Reformpartei  gestiitzt,  macht  B.  iiberzeugende  Einwendungen,  in 
denen  das  Wesen  dieser  Zeit  treflflich  charakterisirt  wird.  (S  216.) 
Richtig  sagt  er:  „Das  Konigthum  Podiebrads,  an  sich  in  der 
"Weise  unmoglich,  blieb  ein  Unding,  auch  wenn  es  zur  Thatsache 
wurde."  Gleichwohl  nahm  die  Sache  ihren  Fortgang.  Auf  der 
einen  Seite  deckte  sich  der  Konig  Georg  durch  einen  Freund- 
schaftsvertrag  mit  Casimir  von  Polen,  durch  ein  Familienbundniss 
mit  Matthias  den  Riicken;  im  Reiche  waren  Martin  Mair  und 
Herzog  Ludwig  thatig,  dieser  seit  den  Vertragen  vom  8.  October 
1460  ganz  im  Dienste  des  Konigs.  Bei  der  Besprechung  dieser 
Vertrage  vertheidigt  B.  gegen  Palacky  die  unbedingte  Glaub- 
wiirdigkeit  der  Erlbachischen  Aussagen  —  in  den  nach  ihm  ge- 
nannten  Inquisitionsakten,  von  denen  die  bez.  Vertrage  einen  Theil 
bilden.  Auch  betont  B.,  dass  eine  formliche  Beseitigung  des 
Kaisers  in  Aussicht  genommen  war,  wiederholt  heisst  es  von 
ihm:  „Herr  Friedrich,  Herzog  zu  Oesterreich,  der  sich  nennt 
Romischer  Kaiser,  dieweil  er  in  Regierung  des  heil.  R  Reiches 
gewesen  ist."  Wie  Ludwig,  ja  noch  mehr  wird  der  Pfalzgraf 
durch  personliche  Vortheile  fiir  die  Unterstiitzung  des  bohmi- 
schen  Planes  gewonnen ;  der  einzige,  dem  es  daneben  auch  wirk- 
lich  urn  die  Reichsreform  zu  thun  ist,  ist  Diether  von  Mainz. 
Dieser  stellt  ausserdem  zwei  unausfiihrbare  Bedingungen:  1)  Georg 
miisse  sich  offen  zur  romischen  Lehre  bekennen ;  2)  Brandenburgs 
und  Sachsens  Stimmen  fiir  das  Project  gewinnen.  An  der  zweiten 
Forderung  scheiterte  thatsachlich  das  Project:  der  Egerer  Tag 
vom  Anfang  d.  J.  1461  vernichtete  Georgs  Hoffnungen.  Bis  zu 
welchem  Grade  die  Ehrlichkeit  oder  Zweideutigkeit  des  Mark- 
grafen  Albrecht  ging,  von  dessen  Rath  sein  Bruder  Friedrich 
abhangig  war,   ist   schwer   zu  beurtheilen:   B/s  Urtheil  S.   249 

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318  Bachmann,  Bohmen  und  seine  Nachbarlander  unter  Georg  von  Podiebrai 

erscheint  mir  nicht  ganz  zutreffend.  Es  war  naturlich,  dass 
Albrecht  auf  Georg  Riicksicht  nehmen  musste,  da  von  ihm  der 
Schiedsspruch  in  seinem  Streite  mit  Herzog  Ludwig  abhing;  yoU- 
standige  Kenntniss  von  Georgs  Planen  konnte  er  nur  erhalten, 
wenn  er  ihn  hoffen  liess;  aber  es  ist  klar,  dass  er  die  Absicht 
des  Konigs  nicht  mehr  unterstiitzen  konnte,  sowie  er  sah,  dass 
die  wittelsbachische  Partei  sich  langst  die  Fruchte  des  Unter- 
nehmens  gesichert  hatte,  dessen  Gedeihen  in  letzter  Linie  denn 
doch  von  ihm  abhing.  Richtig  dagegen  urtheilt  B.  S.  264  „Die 
Verheissungen  waren  fur  die  Markgrafen,  die  jederzeit  so  .eat- 
schieden  das  Verlangen  trugen,  sich  „weiten"  zu  lassen,  sicher- 
lich  gross,  aber  noch  grosser  die  Konsequenz  in  ihren  politischen 
Ueberzeugungen."  Jedenfalls  ist  die  pracise  Darstellung  dieser 
Vorgange  seitens  des  Verfassers  sehr  dankenswerth. 

Capitel  VII.  (S.  269—309.)  „K6nig  Georgs  Plan,  romischer 
Konig  zu  werden  mit  Beihilfe  des  Papstes."  Schon  im  voran- 
gehenden  Capitel  weist  B.  darauf  hin  —  bei  Besprechung  des 
Bamberger  Tages  —  dass  die  Absichten  Georgs  und  der  kirch- 
lichen  Reformpartei,  die  Diether  von  Mainz  vertritt,  eigentlich 
auseinandergingen.  Auf  jenem  Tage  hatte  der  Mainzer  den 
Streit  mit  der  Curie  hauptsachlich  betrieben,  Georgs  Erwahlung 
ware  fur  ihn  hochstens  ein  Mittel  zum  Zweck  gewesen.  Jetzt 
wo  Georgs  Hoffnungen  in  Eger  so  gut  wie  gescheitert  ware*, 
setzte  Diether  zu  Niirnberg  seine  Bestrebungen  fort.  Allerdings 
machte  auch  Georg  hier  seiue  letzten  Versuche.  Das  Quellen- 
material  fiir  die  Geschichte  des  Niirnbei^er  Tages  ist  ungeniigend: 
doch  ersieht  man,  dass  das  Resultat  der  Verhandlungen  ein 
Compromiss  ist.  Markgraf  Albrecht,  schon  um  sich  zu  decken, 
nahert  sich  der  kirchlichen  Reformpartei  soweit,  dass  er  mit 
seinen  Briidern  der  mainzischen  Appellation  an  die  Curie  rIfl 
causa  annate"  beitritt ;  dafiir  lasst  die  Reformpartei  die  Candi- 
datur  des  Bohmenkonigs  fallen.  So  erklart  B.  trefflich  die  mo- 
mentane  Schwenkung,  die  der  Markgraf  in  der  kirchlichen  Frage 
macht.  (S.  273.)  Dagegen  ist  es  mir  unbegreiflich,  wieB.  trotz 
der  vorangegangenen  Darstellung  auch  nur  entfernt  daran  glauben 
kann,  Markgraf  Albrecht  habe  Georg  gegeniiber  die  Verpflichtung 
iibernommen,  ihm  die  Stimmen  Sachsens  und  Brandenburgs  zn 
verschaflFen.  Als  gewiegter  Diplomat  hat  er  Aussichten  eroffnet, 
die  er  je  nach  den  Umstanden  verwirklichen  konnte  oder  nicht: 
aus  diplomatischen  Riicksichten,  nicht  aus  „Schuldbewusstseintt 
hat  er  den  Groll,  den  er  iiber  Martin  Mairs  unverschamte  In- 
discretionen  empfinden  musste,  gegen  Herrn  Hase  von  Hasenburg 
verbissen.  Erbittert  iiber  die  Abweisung  durch  die  Fiirsten, 
fasst  Georg  nunmehr  den  Plan,  mit  Hilfe  des  Papstes  den  romi- 
schen  Konigsthron  zu  gewinnen:  einen  Plan,  der  unglaublici 
ware,  wenn  Georg  wirklich  der  Vorkampfer  und  dann  Martrrer 
des  Husitismus  gewesen  ware,  als  welchen  ihn  Palacky,  Droysen 
und  Jordan  betrachten.  Aber  des  Konigs  religiose  Ueberzeugong 
„trat  stets  und  iiberall  unbedingt  zuriick  vor  den  AnfordenmgeB 

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Wenzelburger,  Gesckickte  der  Niederlande.  319 

seiner  Politik  und  seiner  personliohen  Plane".  Auch  an  „der 
Reform  und  Besserung  des  Reiches,  an  der  Erringung  der  er- 
sehnten  Freiheiten  fur  die  deutsche  Kirche"  war  ihm  nichts 
gelegen.  Der  Beweis  fur  diese  Ansicht  ist  eben  die  „Unterrich- 
tung  des  Hand  els  an  den  Papst",  —  ein  Entwurf ,  der  niemals 
in  Pius'  II.  Hande  gelangte,  dennoch  aber  ein  Dokument  ersten 
Ranges.  Fur  die  Hiilfe  des  Papstes  gedachte  Georg  mit  der 
Katholisirung  Bohmens  zu  zahlen:  eine  religiose  Verfolgung,  die 
im  Marz  und  April  1461  stattfand,  konnte  als  Vorzeichen  der 
kirchlichen  Reaktion  gelten;  am  Griindonnerstage  predigte  der 
Bischof  von  Breslau  auf  dem  Prager  Schlosse,  —  Georg  hatte 
sich  kluglich  nach  Kuttenberg  begeben,  —  gegen  den  Kelch,  d. 
h.  gegen  die  letzte  Errungenschaft ,  welche  aus  den  Tagen  des 
Husitismus  noch  iibrig  war.  Da  zeigte  es  sich  aber,  dass  die 
nationale  Tradition  machtiger  war,  als  Konig  Georg.  Solch  ein 
Sturm  der  Entriistung  brach  los,  dass  nicht  allein  des  Konigs 
stolzer  Plan  zusammenbrach,  vielmehr  gait  es  jetzt  sein  eigenes 
Konigthum  zu  retten,  zu  retten  durch  riickhaltlose  Anerkennung 
des  Utraquismus.  —  Mit  einem  klaren  Ueberblicke  schliesst  der 
Verf.  das  letzte  Capitel  seines  Werkes,  das  als  eine  wesentliche 
Bereicherung  der  historischen  Wissenschaft  sorgfaltige  Beachtung 
verdient. 

Da  der  Verf.  ein  Druckfehlerverzeichniss  beigefiigt  hat,  er- 
lauben  wir  uns  einige  Erganzungen:  S.  11  Wiirtzburg,  S.  83, 
Z.  2  v.  u.  1549  st.  1459,  S.  91,  Z.  11  durchsaus,  S.  162,  Z.  13 
Besserion  st.  Bessarion,  S.  254,  unten  am  Rand  — 29.  Marz  st. 
29.  December,  S.  259  Stellungen  st.  Stallungen.  Ein  kleines 
Versehen  ist  S.  15  zu  berichtigen:  Albrechts  zweite  Gemahlin 
ist  nicht  Katharina,  sondern  Anna  von  Sachsen. 

Berlin.  Willy  Boehm. 

LXXIX. 

Wenzelburger,  K.  Ch.,  Geschichte  der  Niederlande.  Erster  Band. 

[Geschichte  der  europaischen   Staaten,   herausgegeben  von   A. 

L.  H.  Heeren,  F.  A.  Uokert  und  W.  v,  Giesebrecht.  Lieferung  40, 

Abth.  2].    gr.  8.    (817  S.)    Gotha  1879.  F.  A.  Perthes.  15  M. 

Obiges  Buch  verdankt  sein  Entstehen  der  Absicht,  eine  Neu- 

bearbeitung  des  Werkes  von  Kampen  zu  liefern;   doch   hat   der 

Verfasser,  statt  einer  Neubearbeitung,   einen  vollstandigen  Neu- 

bau  geliefert,  wozu  er  selbst  keine  eigentlichen  neuen  Quellenstudien 

gemacht,  sondern  nur  die  bis  jetzt  zuganglichen  Quellen  benutzt  hat. 

Zuerst  musste  sich  ihm  bei  seiner  Arbeit  die  Frage  aufdrangen, 

wie  diese  Geschichte  zu  bearbeiten  sei,  ob  er  namlich,   wie  van 

Kampen,  Belgien  g  a  n  z  mit  berucksichtigen  solle,  oder  nur  die  nord- 

liohen  Niederlande,  jene  Provinzen,  welche  nachher  die  Republik 

bildeten.     Die  meisten  niederlindischen  Schriftsteller  beachteten 

durchgangig,  bei  einer  Darstellung  der  Geschichte  ihres  Landes, 

die  8iidlichen  Provinzen  sehr  wenig.     Dr.  Wenzelburger  hat  sehr 

richtig  sein  Material   von   einem   allgemeinern  Standpunkte   aus 


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320  Wenzelburger,  Geschichte  der  Niederlande. 

betrachtet,  unci,  ohne  van  Kampens  Plan  zu  folgen,  Brabant 
und  Flandern,  deren  Geschichte  in  diejenige  der  nordlichen 
Niederlande  vielfach  eingreift,  nicht  ausser  Acht  gelassen.  Ein 
anderer  Vorzug  seines  Werkes  best  eh  t  darin,  dass  er  von  der 
sehr  unsichern  altepen  Geschichte  der  Niederlande  fast  gar  keine 
Notiz  nimmt  und  auch  der  romischen  Zeit  einen  viel  geringeren 
Platz  als  sein  Vorganger  einraumt,  ohne  dadurch  das  Haupt- 
moment  aus  dieser  Periode,  den  Aufstand  des  Claudius  Civilis, 
weniger  zur  Geltung  zu  bringen.  Das  erste  Buch  seines  Werkes 
(S.  1 — 100)  behandelt  die  Romische  und  Frankisch-Sachsisehe 
Zeit,  das  Lehnsystem,  die  Einfiihrung  des  Christenthums,  den 
Untergang  der  Karolinger  mit  den  Einfallen  der  Diinen  und 
Normannen.  Dessen  viertes  und  letztes  Kapitel  ist  den  geo- 
graphischen  Verhaltnissen  und  Veranderungen  im  Mittelalter 
gewidmet.  Bilderdyk  und  in  letzterer  Zeit  Dr.  Winne,  Professor 
an  der  Universitat  zu  Utrecht,  haben  sich  ausfuhrlich  mit  der 
Frage,  wie  das  Lehnwesen  entstanden  sei,  beschaftigt.  Letzterer 
folgte  dabei  den  Vorstellungen  von  Waitz,  „Deutsche  Verfassungs- 
geschichte"  und  Roth,  „Feudalitat  und  Unterthanenverband". 
Seiner  Darstellung  bleibt  auch  Dr.  Wenzelburger  meistens  ge- 
treu,  und  lasst  das  Lehnwesen  sich  allmahlich  entwickeln  aus 
dem  „Beneficiumu  und  der  ,,Commendatio".  Als  einen  Vorzug  des 
Systems  riihmt  er  die  Vereinigung  der  zerstreuten  und  cen- 
trifugalen  Krafte  der  Stamme  und  Individuen  zu  einem  Ganzen, 
wahrend  seine  Nachtheile  sich  zeigen  in  der  Beforderung  der 
Grundgebiets-Zerstiickelung  und  der  Beschrankung  der  liirstlichen 
Gewalt.  Ein  anderes  gewichtiges  Moment  aus  der  frankischen 
Periode  ist  die  Einfiihrung  des  Christenthums.  (S.  32—39.) 
Politisch  diente  sie  dem  frankischen  Staatszweck,  fur  die  Coltur 
war  sie  ein  Segen,  besonders  da  sie  der  rohen  Gewalt  der 
herrschenden  Klassen  entgegentrat  und  die  Thatigkeit  der 
Kloster  auch  in  materieller  Hinsicht  Gutes  leistete.  Daneben 
trug  die  Kirche  aber  zur  extensiven  und  intensiven  Befestigung 
der  Leibeigenschaft  viel  bei.  Bei  der  Beschreibung  der  Hinder- 
nisse,  welche  der  Einfiihrung  des  Christenthums  in  Friesland  im 
Wege  standen ,  hebt  der  Verfasser  die  eigenartige  Gestalt  des 
Friesenfiirsten  Radbad  I.  hervor,  so  wie  auch  die  Sonderstellung 
der  Friesen  gegeniiber  der  frankischen  Bevolkerung  und  dem 
Lehnwesen  iiberhaupt,  welches  noch  bestehen  blieb,  nachdem 
das  Christenthum  und  die  frankische  Herrschaft  zu  gleicher  Zeit 
in  ihrem  Lande  eingefuhrt  waren  (S.  39 — 47).  Die  aussere 
Gestalt  des  Landes  in  dieser  Periode,  die  Wege  und  Deiche,  der 
Verkehr  im  Innern  und  mit  dem  Auslande  werden  nicht  ohne 
Beachtung  gelassen  (S.  50 — 55). 

Bei  der  Auflosung  des  Frankischen  Reiches  wird  erortert, 
zu  welchem  Theile  desselben  die  Niederlande  nach  dem  Vertrage 
von  Verdun  gehoren,  und  den  Einfallen  der  Normannen  ein 
bedeutender  Platz  eingeraumt,  mit  Beniitzung  der  ausgezeich- 
neten  Monographie  des  Dr.  van  Bolhuis  iiber  diesen  Gegen- 


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v.-- ' 


Wenzolburger,  Geschichte  der  Niederlande.  321 

stand.  Nebst  der  Ermordung  des  grausamen  Normannen  Gott- 
fried und  der  furchtbaren  Niederlage  an  der  Dyle  schreibt  der 
Verfasser  das  Ende  der  Normannenplage  den  Ottonen  und  der 
Einfuhrung  des  Christenthums  in  den  skandinavischen  Landern  zu. 
Als  Folgen  jener  Einfalle  hebt  er  hervor,  dass  sie  den  grossen 
Lehnsmann  vom  Konig  unabhangig  machten  und  die  Zahl  der 
Freien  sehr  erheblich  verringerten,  wahrend  andererseits  mit 
ihren  Ziigen  das  Aufbliihen  der  Stadte,  der  Schiffahrt  und  des 
Handels  in  den  Niederlanden  befdrdert  ward.  Der  hierauf  fol- 
genden  breiten  Darstellung  der  geographischen  Verhaltnisse 
dieses  Zeitraums  (S.  77 — 100)  ist  das  vortreffliche  Werk  van 
den  Bergh's  „Handboek  der  Mittelnederlandsche  Geographic" 
hauptsachlich  zu  Grunde  gelegt. 

Das  zweite  Buch  (S.  103 — 243)  ist  den  Grafen  aus  dem 
hollandischen,  hennegauischen  und  bairischen  Hause  gewidmet. 
Von  Dick  III,  dem  eigentlichen  Stifter  der  Grafschaft  Holland, 
meint  der  Verfasser,  dass  die  geistlichen  Chronisten  ihn  zu  un- 
giinstig  beurtheilt  haben  mochten  wegen  eines  Streites  mit  den 
Bischofen;  dass  auch  seine  Nachfolger  mit  Utrecht  stritten,  sei 
die  Ursache , '  dass  sie  im  Investiturstreite  auf  Seite  des  Papstes 
gestanden  hatten;  waren  doch  die  Utrechter  Bischofe  durch- 
gangig  Anhanger  des  Kaisers.  Von  den  Grafen  aus  dem 
hollandischen  Hause  werden  noch  hervorgehoben:  Wilhelm  H. 
und  Floris  V.  (S.  123—135).  Die  Entstehung  des  Complotts, 
dem  dieser  zum  Opfer  fiel,  schreibt  der  Verfasser  Eduard  I.  von 
England  zu.  Er  ist  iibrigens  nicht  blind  fur  die  Fehler  dieses  Grafen, 
sein  wildes  Leben  und  seine  Krankung  der  adeligen  Rechte.  Der 
kraftigen  Regierung  des  ungliicklichen  seelandischen  EdlenWol- 
fert  von  Buselen  lasst  der  Verfasser  Recht  widerfahren.  Am 
Ende  dieses  Kapitels  bespricht  er  die  Aenderung  in  der  Stellung 
der  Grafen.  Durch  Losung  des  Lehnsverbandes  wurden  die 
Grafen  selbststandige  Territorialherren,  wozu  die  Zerbrockelung 
des  Herzogthums  Nieder-Lothringen ,  die  geographische  Lage 
Hollands  und  die  gleichzeitigen  Zustande  in  Deutschland  und 
Italien  mitwirkten.  Demzufolge  wird  die  Frage  erortert,  ob 
Holland  im  staatsrechtlichen  Sinne  ein  Lehn  des  Deutschen 
Reiches  gewesen  sei  oder  nicht.  Mit  Wynne  verneint  der  Ver- 
fasser diese  Frage,  weil  das  Lehnsverhaltniss  faktisch  so  wenig 
zur  Geltung  kam. 

Das  Emporbliihen  der  Stadte  bildet  den  StofF  des  zweiten 
Kapitels  (S.  143—194).  Zur  grosseren  Unabhangigkeit  der 
Unterthanen  von  ihren  Landesherren  fiihrte  sowohl  die  Ent- 
wickelung  der  Rechtspflege,  die  allmahlich  in  den  Stadten  durch 
die  von  den  Biirgern  gewahlten  Schoffen  stattfand,  als  das  da- 
malige  Finanzwesen.  Urspriinglich  bestand  das  Einkommen  der 
Grafen  aus  dem  Ertrag  ihres  Grundbesitzes  und  aus  Zollen,  nebst 
den  alljahrlich  durch  die  Unterthanen  dargebrachten  Geschenken 
in  Naturalien.     Diese  Einkiinfte  reichten  aber  bald  nicht  mehr  hin, 

MittheUnogen  ft.  d.  hlator.  Littermtur.    VU.  21 

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322  Wenzelburger,  Gescliichte  der  Niederlande. 

und  bei  der  Rechtsuberzeugung,  dass  kein  freier  Mann  gezwungen 
werden  konne,  ohne  seinen  freien  Willen  einen  Theil  seines 
Eigenthumes  abzutreten,  hatte  der  Landesherr  mit  dem  guten 
Willen  seiner  Unterthanen  zu  rechnen.  So  bekamen  die  landes- 
herrliohen  Forderungen  den  Namen  „Beden",  d.  L  Bitten,  die 
sich  bald  regelniassig  wiederholten,  und  denen  die  Grafen  nach- 
her  den  Charakter  von  verpflichteten  Abgaben  beizulegen  suchtea 
Besonders  von  den  Stadten  erwarteten  die  Landesherren  „Bedeuu, 
und  beforderten  daher  ihr  Entstehen,  das  noch  nebenbei  zur 
Verminderung  des  Ansehens  des  Adels  beitrug.  Das  Entstehen 
der  Stadte  war  daher  in  den  nordlichen  Niederlanden  ein  fried- 
liches ;  es  wird,  nebst  der  Organisation  der  Stadte,  niiher  vom 
Verfasser  entwickelt  (S.  147 — 157).  Ihre  Recbtsinstitutionen, 
ihren  Haushalt,  die  Ziinfte  und  Stapelrechte  bespricht  er 
S.  157 — 175.  In  ihrem  Zunftwesen  und  ihrer  Handelspolitik 
unterscheiden  sich  die  niederlandischen  Stadte  wesentlich  von 
den  auslandischen.  Eine  Menge  von  Handwerken  gehorten  gar 
nicht  zum  Zunftverband  und  konnten  also  ungehindert  von  jedem 
Fremden  ausgeubt  werden.  Die  Zahl  der  Zunftmitglieder  war 
keine  beschrankte,  und  die  Bedingungen,  unter  welcben  man 
aufgenommen  wurde,  in  der  Regel  leicht  zu  erfiillen.  Daneben 
schlugen  die  Stadte  eine  vollkommene  FreihandelspoUtik  ein 
und  suchten  die  Fremden  durch  mancherlei  Begiinstigungen  in 
die  niederlandischen  Hafen  zu  locken.  Anfangs  theilweise  znr 
Hansa  gehorend,  geriethen  sie  nachher  mit  ihr  in  Feindschaft 
Die  materielle  Kraft  des  Burgerstandes  weckte  das  Selbstgefuli! 
desselben,  und  er  vertheidigte  energisch  seine  Rechte  dem  Adel 
gegeniiber,  der  noch  immer  roh  blieb  und  die  unter  ihfl 
stehende  Landbevolkerung  schlecht  behandelte. 

Am  Schluss  dieses  Kapitels  weist  der  Verfasser  auf  die 
kolonisatorische  Thatigkeit  der  Niederlande  im  Nordosten  Deuteci- 
lands  (S.  191—194)  hin. 

Das  dritte  Kapitel  beginnt  mit  dem  hennegauischen  Haase, 
wobei  Wilhelm  III.  besonders  erwahnt  wird  (S.  200 — 206).  Bei 
dem  Tode  seines  kinderlosen  Nachfolgers  musste  die  Frage  ent- 
schieden  werden,  ob  Holland  ein  Mannslehen  oder  ein  feudum 
promiscuum  sei.  Griinde  fur  Beides  zieht  der  Verfasser  in  Be- 
trachtung.  Nachdem  Kaiser  Ludwig  sich  fur  Letzteres  entschiedeo, 
entsteht  der  Streit  zwischen  den  Hoek'schen  und  Kabeljau'schen.  Vor 
dessen  Behandlung  schildert  der  Verf.  die  Zustande  der  damaligen 
Gesellschaft.  Neben  bedeutenden  Adelsgeschlechtern  steht  der 
unbegiiterte  Adel,  stolz  auf  seine  Vorrechte,  und  voll  Verachtog 
fur  die  Standesgenossen,  die  sich  dem  Biirgerthum  anschliessen. 
In  den  Stadten  vertheidigen  die  alten  regierenden  Geschlechtersicli 
gegen  die  ihnen  an  Zahl  iiberlegenen  neuen  Burger,  die  Antheil 
an  der  Regierung  verlangen.  So  ist  der  Kampfl  der  jetzt  ent- 
steht, seinen  Ursachen  nach  ein  socialer.  Veranlassung  da^ 
geben  nach  dem  Verfasser  noch  Margaretha  und  Willem,  indfiffl 
sie  einige  Adelsgeschlechter  begiinstigen,  andere  verletzen  (S.  210 


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Wenzelburger,  Geschichte  der  Niederlande.  323 

• 

—  220).  Erorterungen  iiber  den  Namen,  Charakter  und  Zu- 
sammenhang  des  Streites  mit  europaischen  Fragen  gibt  der 
Verfasser  (S.  220—226). 

Im  dritten  Buche  (S.  245 — 403)  wird  zuerst  die  Geschichte 
Flanderns  und  Brabants  kurz  dargestellt.  Das  Hauptmoment  in 
Flandern  ist,  wie  in  Holland,  das  Emporkommen  der  stadtischen 
Macht.  In  Flandern  aber  wird  diese  bestritten  von  den  Grafen, 
was  der  Verfasser  deren  Verbindung  mit  Frankreich  zuschreibt, 
wo  dieselben  am  Hofe  eine  Stiitze  finden;  auch  gegenseitige 
Handelseifersucht  der  reichen  Stadte  kommt  den  Grafen  oft  zu 
Hiilfe.  Flanderns  Theilnahme  unter  Jacob  van  Artevelde  an 
deai  lOOjahrigen  engl.-franz.  Kriege  wird  besonders  hervor- 
gehoben.  Der  Verfasser  fuhrt  an,  dass  die  Stadte  Frankreich 
nicht  nur  abhold  sein,  sondern  ihres  Handels  wegen  auch  mit 
England  in  gutem  Einvernehmen  bleiben  mussten.    Zuletzt  (S.  256 

—  264)  stellt  der  Verfasser  die  traurigen  Folgen  der  Ochlokratie 
fur  Flandern  und  seine  Stadte  dar.  Auch  in  Brabant  ist  Streit- 
zwischen  Adel  und  Stadten.  Herzog  Johann  II.  sucht  dem  Un- 
heil  abzuhelfen  durch  die  Charta  von  Cortemberg  (1312),  die  Grund- 
lage  der  brabantischen  Staatsverfassung.  Nach  seinem  Tode 
streiten  in  den  Stadten  die  Burger  gegen  die  oligarchischen 
Begierungen.  Seine  Enkelin  Johanna  bringt  durch  ihre  Be- 
miihuDgen,  Heirathen  zu  stiften,  Brabant  und  Flandern  in  den  Besitz 
des  burgunditchen  Hauses  und  gibt  diesem  auch  ein  Anrecht 
auf  Hennegau  und  Holland, 

Im  dritten  Kapitel  wendet  sich  dann  der  Verfasser  wieder 
nach  Holland,  zu  den  Hoek'schen  und  Kabeljau'schen  unter 
Jacoba  von  Bajern.  Was  hier  seine  Arbeit  giinstig  von  andern 
Geschichten  der  Niederlande  unterscheidet,  ist  die  Betonung  der 
europaischen  Interessen,  die  in  dieser  Periode  mit  der  hollan- 
dischen  Geschichte  verflochten  sind.  „Der  englisch-franz.  Krieg 
erhalt  seinen  massgebenden  Charakter  durch  die  sich  um  Hol- 
lands Schicksal  drehende  Politik,  und  fiir  Deutschland  gilt  die 
Lebensfrage,  ob  die  Niederlande  ein  franzosisches  Ausfallsthor 
gegen  das  morsche  Deutsche  Reich  werden  sollen."  Feindlich 
treten  gegen  Jacoba  auf  ihr  Oheim  Johann  von  Baiern,  zu  dem 
sich  die  Kabeljau'schen  schlagen,  und  Kaiser  Sigismund,  der  ihr 
die  Belehnung  vorenthalt  Die  junge  Grafin  muss  den  Kiirzeren 
Ziehen,  weil  ihr  schwacher  Mann,  Johann  IV.  von  Brabant,  ihr 
fast  gar  nicht  zur  Seite  steht;  dabei  werden  auch  noch  ernste 
Beschwerden  gegen  ihre  Heirath  erhoben.  Ein  anderer  Haupt- 
spieler  ist  Philipp  von  Burgund,  der  sich  mit  eigenniitzigen 
Absichten  zum  Vermittler  'aufwirft.  Fortwahrende  Krankungen 
am  brabantischen  Hofe  zwingen  Jacoba,  sich  zu  ihren  treuen 
Hennegauern  zu  begeben;  in  Holland  werden  ihre  Anhanger 
verfolgt,  in  Brabant  siegt  die  Demokratie  und  todtet  Jacoba's 
Feinde;  sie  selbst  aber  hat  ihre  Ehe  mit  dem  Brabanter  fiir 
ungultig  erklart  und  sich  nach  England  begeben  (S.  275 — 299). 

Das  vierte  Kapitel  zeigt  uns  erst  Jacoba's  Walten  in  England 

21* 

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324  Wenzelburger,  Geachichto  der  Niederlande. 

• 

und  fiihrt  Humphrey  von  Glocester  ein,  dem  Philipp  von  Burgund 
energisch  entgegentritt.  Der  machtige  Burgunder  benutzt  seinen 
Einflus8  beim  papstlichen  Stuhle  und  besonders  in  der  englischen 
Politik,  um  erst  Jacoba's  Vermahlung  mit  Humphrey  zu  hinter- 
treiben,  und,  als  diese  doch  1422  stattfindet,  zu  verhindern, 
dass  Humphrey  von  Staatswegen  in  England  gegen  Jacoba's 
Feinde  unterstiitzt  wird.  Johann  von  Baiern  aber  zeigt  sich 
dem  Burgunder  dankbar,  indem  er  ihn  zu  seinem  Erben  ernennt, 
und  stirbt  vergiftet.  Jacoba's  Unschuld  an  seinem  Tode  ist  dem 
Verfasser  unzweifelhaft ;  den  grdssten  Vortheil  davon  hat  Philipp 
von  Burgund,  der  auch  den  mit  Jacoba  nach  Hennegau  ge- 
kommenen  Humphrey  durch  Waffengewalt  und  Unterhandlungen 
dazu  bringt,  nach  England  zuriickzukehren,  wahrend  die  Hoek- 
schen  sich  erheben  und  Schoonhoven  nehmen  (Episode  von 
Albrecht  Beiling  S.  310 — 311).  Humphrey  stellt  sich  nicht  zum 
Zweikampf,  den  er  Philipp  geboten,  und  opfert  Jacoba  met 
neuen  Geliebten  und  der  englischen  Politik :  nachher  erklart  der 
Papst  ihre  Ehe  mit  Humphrey  fur  eine  unerlaubte.  Die  un- 
gliickliche  Fiirstin  iibergibt  dann  Mons,  rettet  sich  aber  nach 
Holland,  wo  sie  sich,  mit  wahrem  Heldenmuthe  durch  die  Hoek- 
schen  unterstiitzt,  bis  1428  gegen  des  Burgunders  Uebermacht 
vertheidigt.  Die  Nachricht  von  Humphrey's  Heirath  mit  Eleonore 
Cobham  bricht  ihre  Widerstandskraft  (S.  311—329). 

Die  Fehler  Jacoba's  hebt  der  Verfasser  hervor,  ohne  aber 
die  ungliickliche  Fiirstin  zu  schmahen,  wie  Bilderdyk  seiner  Zeit 
gethan.  Die  ausgezeichnete  Monographic  Loher's  „ Jacoba  tod 
Baiern  u.  ihre  Zeitu  hat  er  selbstverstandlich  zu  der  ausfiihi- 
lichen  Darstellung  ihrer  Geschichte  nicht  unbenutzt  gelassea. 
doch  auch  Fruin  und  andere  Geschichtskenner  beachtet. 

Im  funften  Kapitel  (S.  329—378)  wird  die  burgundiscke 
Herrschaft  in  den  Niederlanden  behandelt.  Ausser  den  gewohn- 
lich  erwahnten  Thatsachen  bespricht  der  Verfasser  PhiKpps 
Verwickelungen  mit  dem  Kaiser  Sigismund  und  den  Englandem 
nach  Bedford's  Tode,  die  Demuthigung  der  flandrischen  StadW 
(S.  349  —  355)  und  sein  Streben  nach  der  Konigskrone.  Bei 
Erwahnung  Karl's  des  Kuhnen  bezeichnet  er  als  die  Urheber 
seiner  Schweizerkriege  die  Schweizer  selbst.  Bei  rinem  be- 
strittenen  Ereignisse  aus  Maria's  Regierung,  dem  Tode  ihrer 
Rathe  Hugonet  und  d'Imbercourt,  folgt  der  Verfasser  *  der  neueren 
Darstellung,  nach  welcher  Maria  erst  versprach,  sich  heimlid 
mit  ihnen  nach  dem  franzosischen  Hofe  zu  begeben,  nachher 
aber  ihr  Vorhaben  bereute,  und,  nach  Verhaftung  obengenannter 
Manner,  selbst  einen  Gerichtshof  ernannte,  den  sie  aber  mr 
Milde  gegen  ihre  friiheren  lUlthe  zu  stimmen  suchte.  Anziehed 
ist  noch  die  Schilderung  des  Culturlebens  wahrend  dieser  Hen* 
schaft,  die  Rolle  des  Adels  und  des  Klerus  (S.  354—365)  nd 
die  Stellung  der  Gemeinden,  die  dem  Streben  nach  absolnttf 
Macht  der  machtigen  Burgunder  entgegentreten  konnten.  U» 
sie  in  ein  grosseres  AbhangigkeitsverhEltniss  zu  bringen,  wt&* 

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Wenzelburger,  Geschichte  der  Niedorlande.  325 

eine  Umgestaltung  des  Bestehenden  auf  jilristischem  und  finan- 
ziellem  Gebiet  erstrebt.  Das  alte  germanische  Rechtsprincip, 
class  e8  keinen  Richter  gibt,  wo  kein  Klager  ist,  weicht  dem 
auf  dem  Romischen  Rechte  beruhenden  inquisitorischen  Verfahren, 
welches  friiher  schonbeiden„stillenWahrheiten"(S.  163 — 164) 
yersucht  war.  So  entsteht  ein  besonderer  rich  terlicher  Stand  und  bald 
ein  graflicher  Gerichtshof,  zuerst  in  Flandern,  der  als  hochste  Instanz 
gilt.  Philipp  derGute  errichtet  1455  den  grossenRath,  die 
hochste  Behorde  im  gesammten  burgundischen  Reiche,  und  ver- 
bindet  damit  auch  den  Zweck,  den  Citationen  seiner  Unter- 
thanen  vor  das  Pariser  Parlament  ein  Ende  zu  machen.  Karl 
der  Kiihne  ga.}>  ihm  einen  festen  Sitz  in  Mecheln ;  sein  Tod  war 
auch  das  Ende  des  Rathes.  Die  Rechnungskammeru  sollen 
Einheit  ins  Finanzwesen  bringen  (S.  366 — 374). 

Das  sechste  Kapitel,  die  Herrschaft  des  Hauses  Oesterreich 
bis  1515,  fangt  an  mit  der  ersten  Regentschaft  Maximilian's. 
Dieselbe  wird  erschwert  durch  die  Franzosen,  die  Flamander 
und  den  neu  entbrannten  Streit  der  Hoek'schen  und  Kabeljau'- 
schen.  Dass  die  Flamander  sich  gegen  Max  mit  den  friiher 
immer  feindlichen  Franzosen  verbinden,  schreibt  der  Verfasser 
dem  gliihenden  Hasse  gegen  das  burgundische  Haus  zu,  als  dessen 
Rechtsnachfolger  Max  betrachtet  wird,  und  ihrem  Streben  nach 
Trennung  von  den  walschen  Theilen,  durch  deren  Verbindung 
mit  Frankreich.  Um  gegen  das  meuterische  Flandern  die  Hande 
frei  zu  haben,  schliesst  Max  mit  Ludwig  XL  den  Frieden  von 
Atrecht  (Utrecht  im  Texte  ist  wohl  ein  Druckfehler).  Das  wich- 
tigste  Ereigniss,  Maximilian's  Gefangennahme  in,  Brugge  und 
deren  Folgen,  erzahlt  der  Verfasser  (S.  383—389). 

Von  Philipp  dem  Schonen  erwahnt  er  besonders  den  grossen 
Handelsvertrag  mit  England  und  die  Folgen  seiner  Heirath. 
Uebrigens  waren  damals  die  Niederlande  ruhig,  wozu  Maximilian's 
zweite  Regentschaft  wieder  einen  Contrast  bildet  (S.  389 — 396).  Der 
Zustand  des  Landes  unter  den  ersten  osterreichischen  Fiirsten 
unterscheidet  ^ich  von  demjenigen  unter  den  Burgundern  durch 
eine  auffallende  Abnahme  des  Wohlstandes  in  Folge  der  vielen 
Fehden.  Den  besten  Beleg  dafiir  geben  die  Vermdgens-EnquSten, 
welche  behufs  der  Besteuerung  1494  und  1514  gehalten  werden. 
Auch  hatte  die  Centralgewalt  unter  diesen  Fiirsten  viel  gelitten. 

Das  vierte  Brch  beginnt  mit  der  Gelderschen  Geschichte, 
welche  dem  Vorbericht  zufolge  der  Verfasser  ausfiihrlicher  als 
gewohnlich  behandelt.  Besonders  ist  dies  der  Fall  mit  Reinald  L 
und  II.  (S.  410 — 418)  und  der  Geschichte  des  Streites  zwischen 
Heckerens  und  Bronkhorsten  (S.  420 — 436).  Der  Tod  des  jungen 
Herzogs  Eduard  wird  einem  fanatischen  Heckeren  zugeschrieben, 
wahrend  der  Parteistreit  selbst  mit  dem  engl.-franz.  Kriege  in 
Verbindung  gebracht  w^rd.  Als  Hauptcharakter  jenes  Kampfes 
nennt  der  Verfasser  den  Streit  um  den  Machtbesitz  zwischen 
zwei  verschiedenen  Adelsparteien.  Erst  bei  dem  kinderlosen 
Tode  des  dritten  Reinald  bekommen  die  Heckerens  Wahlverwandt- 

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326  Wenzelburger,  Geachichte  der  Nioderlande. 

schaft  mit  den  Hoekschen,  da  sie  gegen  Julich  die  Rechte 
Mathildens,  der  alteren  Schwester  Reinald's,  vertheidigen.  Wie 
aber  die  Bronkhorsteu  auf  diplomatischem  und  Kriegsgebiet 
siegreich  bleiben,  erzahlt  der  Verfasser  (S.  438—443).  Unter 
dem  Jiilich'schen  Hause  wird  besonders  erwahnt  der  Streit 
Herzog  Willem's  mitj  Brabant  und  Fraukreich  (S.  443—452), 
Reinald's  IV.  Auftreten  in  den  Arkd'scnon  Kriegen  (S.  455—459) 
und  die  1418  gebaltene  Standeversammlung ,  der  es  Arnold 
von  Egmond  zu  danken  hatte,  dass  er  Geldern  nach  dem  kinder- 
losen  Tode  Reinald's  erbielt.  Am  Ende  des  Kapitels  bespricht 
der  Verfasser  die  Bannereien. 

Acbtung  vor  dem  letzten  Willen  Reinald's,  Furcht  vor 
Fehden  und  Rucksicht  auf  die  eigne  Macht  brachten  die  Stande 
dazu,  das  Haus  Egmond  zu  wahlen.  Kaiser  Sigismund  nimmt 
Arnold's  Geschenke  an,  gibt  aber  Geldern  dem  Herzog  von  Juliet 
und  Berg,  der  ihn  durch  noch  reichere  Geschenke  gewonnen 
hat.  So  wird  der  junge  Herzog  von  Geldern  in  eineu  Streit 
mit  Julich,  dazu  noch  mit  Utrecht  und  nachher.  mit  seinen 
eigenen  Stadten  wegen  Schulden  und  PrivilegienverletzungeD 
verwickelt.  Arnold's  Sohn  Adolf  und  seine  Mutter  Katharina 
stehen  an  der  Spitze  der  Unzufriedenen ,  welche  Philipp  von 
Burgund  noch  aufwiegelt  (S.  464 — 479).  Karl  von  Burgund  da- 
gegen  ist  der  Bewegung  zuwider,  nimmt  Adolf  gefangen  und 
lasst  sich  zuletzt  Geldern  verpfanden;  jetzt  werden  die  Stadte 
zur  Unterwerfung  gezwungen  uod  ihre  Rechte  missachtet.  Hire 
Hoffnung,  nach  Karl's  Tode  Adolf  als  Herzog  zu  sehen,  verstelt 
dessen  Ende,  doch  sein  Sohn  Karl,  aus  franzosischer  Haft  befitit, 
macht  den  Habsburgern  Geldern  streitig  (S.  479 — 492). 

Das  vierte  Kapitel  behandelt  dessen  merkwiirdige  Regierung, 
es  schildert  zuerst  die  diistere  Zukunft  Gelderns  bei  seineni 
Regierungsantritt  und  die  Nothwendigkeit  fur  den  EgmoiwH 
fremde  Hiilfe  zu  suchen,  welche  er  in  Fraukreich  findet.  Ke 
Schwierigkeiten  betreffen  seinen  Streit  mit  Maximilian  und  desseo 
Verbundeten  und  mit  seinen  eignen  Unterthanen  (S.  493—501) 

Bald  darauf  macht  ihm  Philipp  der  Schone  Geldern  streitig. 
mit  diesem  schliesst  Karl  denRozendalerVertrag,  den  erjedocher* 
muthigt  durch  die  Unterstiitzung  Konig  Ludwig's  XII.,  nich t  halt;  naci 
Philipp's  friihem  Tode  ergreift  er  sogar  die  Offensive,  und,  <li 
die  andern  niederlandischen  Staaten  Unterstiitzung  gegen  Gel- 
dern verweigern,  „weil  der  Geldersche  Krieg  sie  nichts  angehe. 
und  eine  Angelegenheit  sei,  welche  allein  das  Haus  Burgflfld 
betreffe,"  wird  Karl  von  Geldern  in  den  Frieden  von  Kameryfe 
mit  einbegriffen  (S.  501 — 511).  Auch  diesen  halt  er  nicht,  be- 
droht  Utrecht  und  wird  endlich  durch  Maximilian  als  Herzog 
anerkannt  (S.  511—520). 

Die  weiteren  Ergebnisse  aus  Karl's  Regienmg  fiihren  u® 
nach  Friesland  und  Groningen,  deren  Geschichte  der  Verfasser 
dann  behandelt.  Das  friesische  Mittelalter  zeugt  von  dem  Frei- 
heitssinn  dieses  Volkes,  wozu  der  Streit,  den  es  mit  den  Wogw 


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Wenzelburger,  Geschiclite  dor  Niedorlande.  327 

fuhrte,  noch  beitrug ;  es  bekundet  aber  auch,  dass  seine  Freiheit 
zahlreiche  innere  Unruhen  nicht  ausschloss.  Diese  concentriren 
sich  nachher  urn  die  Parteinahmen  „Schieringer"  und  „Vetkooperu. 
Die  letzte  Ursacbe  ibres  Streites  sucht  der  Verfasser  in  der 
gegenseitigen  Eifersucht  verschiedener  Geschlechter  und  behan- 
delt  dessen  Hauptmomente  bis  zum  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
(S.  525 — 532).  In  dieser  Zeit  weiss  Maximilian's  Feldherr  Albrecht 
von  Sachsen  sich  Frieslands  zn  bemachtigen;  Groningen  wider- 
steht  ihm  und  seinem  Sohne  Gteorg  und  ergibt  sich  zuletzt  dem 
Grafen  Edzard  von  Ost-Friesland,  der  gegen  den  macht  igeu 
sachsischen  Herzog  sich  an  Karl  von  Geldern  wendet.  Dieser 
macht  sich  mit  grosser  Vorsicht  und  nicht  ohne  Treulosigkeit 
selbst  zum  Herm  yon  Groningen,  und  strebt  dann  nach  der  Er- 
werbung  Frieslands;  Georg  verzweifelt  an  der  Moglichkeit, 
ihin  daseelbe  zu  entringen  und  verzichtet  auf  dieses  Land  zu 
Gunsten  Karl's  von  Habsburg.  Es  dauert  aber  noch  ein  Jahr- 
zehnt,  ehe  dieser,  dann  Kaiser  geworden,  Friesland  den  Gelder- 
schen  entreissen  kann,  die  schnell  nach  einander  Groningen  und 
auch  das  Oberstift  an  ihn  verlieren.  Wie  bei  diesen  Ereignissen 
Herzog  Karl,  stets  mit  Frankreich  verbunden,  seine  Sache  in 
den  Niederlanden  zu  fordern  sucht,  wie  er  die  Wirren  in  Utrecht 
zu  seinen  Zwecken  benutzen  will,  doch  zuletzt  mit  dem  Kaiser 
1528  in  Gorinchem  Frieden  schliessen  muss,  erortert  der 
Verfasser  vorziiglich  (S.  541—563). 

Der  letzte  Theil  des  Kapitels  behandelt  die  weitere  Ge- 
schichte  Gelderns  bis  zu  dessen  Unterwerfung  unter  Karl  V.  Be- 
sonders  lasst  der  Verfasser  den  Hass  des  Geldrischen  Herzogs 
gegen  Oesterreich,  der  ihn  an  Frankreich  kettete,  hervortreten. 
S.  570 — 572  gibt  er  eine  Skizze  seines  Characters  und  wirft 
ihm,  mit  Anerkennung  seiner  grossen  intellektuellen  Vorziige, 
Treulosigkeit,  Intoleranz  und  Herrschsucht  vor.  Er  ist  aber  der 
Ansicht,  dass  seine  Regierung  fur  die  folgende  Zeit  gute  Fruchte 
getragen  hat.  Wilhelm  von  Jiilich,  durch  die  Stande  als  Karl's 
Nachfolger  anerkannt,  muss  sein  neues  Land  schon  1543  dem 
Kaiser  abtreten* 

Das  funfte  Buch  (S.  581 — 645)  vertheilt  der  Verfasser  in  zwei 
Kapitel,  das  erste  die  politische  Geschichte  des  Stiftes  Utrecht,  das 
zweite  die  kirchlichen  Verhaltnisse  betreffend.  Im  ersten  gibt  er  die 
Ursachen  der  Vergrosserung  des  weltlichenGebietes  imStift  an,  worin 
die  bischofliche  Macht  aber  beschrankt  bleibt,  wahrend  trotz  des 
Wormser  Concordats  weltliche  Elemente  die  Besetzung  des  Bischof- 
stuhles  beherrschen,  bald  die  Patriziergeschlechter  und  die  Stadte, 
bald  die  benachbarten  Fiirsten,  besonders  die  von  Holland  und 
Geldern.  Aus  der  langen  Namenreihe  der  Utrechter  Bischofe 
hebt  er  hervor:  Johann  Tan  Arkel,  Mehrer  der  bischoflichen 
Macht  und  Gegner  der  Herrschaft  Hollands  iiber  das  Bis- 
thum. 

Seit  dem  Ende  des  14.  Jahrhunderts  iiben  die  Vorgange 
in  Holland  grossen   Einfluss  auf  das  Stift   aus.    Lichtenberger 


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328  Wenzelburger,  Geschichte  der  Niederlande. 

und  Lockhorsten  heissen  hier  die  Parteien,  erstere Hoek'sch, 
die  andere  Kabeljau'sch  gesinnt.  Zur  Zeit  Jacoba's  iat  das  yon 
den  Lichtenbergern  beherrschte  UtrechtJ  die  Stiitze  ihres 
Wider8tandes  gegen  Johann  und  Philipp ,  bis  letzterer 
die  Wahl  seines  Bastardsohnes  zum  Bischof  durchsetzt  Vor 
diesem  werden  noch  behandelt  Friedrich  von  Blankenheim  und 
Rudolf  von  Diepholt  (S.  589—594).  Wie  David  von  Burgund 
gegen  den  Hoek'schen  Candidaten,  Gysbrecht  von  Buderode,  Bischof 
wird  und  seinen  Sitz  durch  fremde  Hiilfe  (Burgund,  Max)  be- 
hauptet,  erortert  der  Verfasser  S.  594 — 599.  Bei  David  riigt 
er  sein  weltliches  Leben  und  seine  steten  Handel,  lobt  aber 
seinen  Sinn  fur  Aufklarung  und  Wissenschaften.  Die  Macht 
seiner  Nachfolger  wird  stark  durch  Geldern  beeintrachtigt :  schon 
der  dritte,  Heinrich  von  Baiern,  sieht  sich  gezwungen,  die  welt- 
liche  Herrschaft  dem  Habsburger  Karl  abzutreten.  Der  Ver- 
fasser behandelt  dann  die  Macht  des  Kapitels,  besonders  des 
Domkapitels  und  das  Verhaltniss  Utrechts  zu  Koln  und  Bonn 
(S.  604—609). 

Das  zweite,  sehr  lesenswerthe  Kapitel  ist  dem  kirchlichen 
Leben  vor  der  Reformation  gewidmet.  In  Anbetracht  kommen 
hier  GeertGroote  (Gerardus  Magnus),  erst  reicher  Kanoniker, 
dann  Ascet,  ausgezeichnet  im  Predigeramt,  wozu  ihm  aber  die 
Erlaubniss  durch  den  Bischof  von  Utrecht  entzogen  wird.  Nach- 
her  stiftet  er  mit  dem  Kanoniker  Florens  Radewynszoon 
die  Bruderschaft  „des  gemeinsamen  Lebens".  Sein  Ideal  dabei 
ist  Absonderung  von  der  Welt,  jedoch  freiwillig  und  temporor 
und  mit  Arbeit  verbunden.  So  entstanden  die  Fraterhauser,  lie 
ihr  Errichter  den  Monchen  ein  Aerger ;  sie  fanden  einen  Bait 
an  dem  Windesheimer  Kloster  (S.  619—629).  Ihre  Wirksamkeit 
und  Einfluss  werden  gut  vom  Verfasser  behandelt.  Ihre  fin- 
richtung  bringt  ihn  von  selbst  zu  den  andern  Klostern,  tod 
welchen  er  kein  schmeichelhaftes  Bild  entwirft,  daneben  aber 
den  tief  religiosen  Sinn  des  Volkes  hervorhebt  und  Beispide 
davon  gibt  Als  Hauptgebrechenrdes  Klerus  bezeichnet  er  Geldgier 
und  Unzucht.  Beispiele  von  beiden  werden  (S.  632 — 639)  an- 
gefuhrt.  Reformatorische  Thatigkeit  entwickelt  im  Anfang  des 
12.  Jahrhunderts  ein  Laie  auf  Walcheren,  Tanchelm,  nackher 
Geert  Grote,  und  in  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  ein  einfacher 
Burger,  Epo  von  Haarlem,  welch  letzterer  auf  dogmatisches  Ge- 
biet  trat,  doch  seine  Meinungen  widerriefc  Dagegen  ward  ein 
andrer  Haretiker,  Hermann  van  Ryswyk,  verbrannt. 

Im  sechsten  und  letzten  Buche  (S.  647—817)  werden  die 
Niederlande  unter  Karl  V.  behandelt.  Dessen  erstes  Kapitel 
enthalt  die  Hauptereignisse  seiner  Regierung  und  die  sich  daran 
suaschliessenden  Begebenheiten  in  den  Niederlanden ;  es  umfesst 
so  theilweise  die  Weltgeschichte  jener  Zeit.  Karl's  Statt- 
halterinnen  in  den  Niederlanden,  seine  Tante  Margaretha  von 
Oesterreich  und  nach  1530  seine  Schwester  Maria  von  Ungam, 
ihatten  einen  schweren*  Stand,  besonders  Letztere,  der  Christian  A 


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Wenzelburger,  Geschichte  der  Niederlande.  329 

von  Danemark,  und  mehr  noch  Karl  von  Geldern,  empfindliche 
Verlegenheiten  bereiteten.  Von  den  Stadten  that  dies  besonders 
Gent.  1537  verweigerte  dieses,  fiir  den  Krieg  mit  Frankreich 
eeinen  Antheil  an  einer  Summe  von  400,000  Gulden  zu  bezahlen, 
welche  Flandern  fiir  seinen  Theil  beitragen  musste.  Den  hieraus 
entstandenen  Aufruhr,  worin  die  ziigellose  Demokratie  trium- 
phirte  und  das  sogenannte  „Kalbsfellu  (eine  Verordnung  Karl's, 
um  das  Uebergewicht  der  Stadte  in  ihrem  Gebiete  aufzuheben) 
zerriss,  sowie  auch  die  strenge  Busse,  welche  der  aufriihrerischen 
Stadt  aufgelegt  wurde,  beschreibt  der  Verfasser  (S.  660—672). 
Er  meint,  die  Stadt  sei  bei  der  Geldweigerung  in  ihrem 
Rechte  gewesen,  nach  dem  staatsrechtlichen  Princip,  dass  bei 
Geldbewilligungen  jede  Stadt  und  jedes  Mitglied  der  Staaten- 
versammlung  nur  durch  eigne  Abstimmung,  keineswegs  durch  die 
der  Mehrheit  gebunden  war.  Die  Zerreissung  des  „Kalbsfellsu 
sei  aber  eine  Majestatsverletzung  gewesen,  welche  Karl  um  so 
mehr  zu  strafen  geneigt  war,  als  er  nach  einem  centralisirenden 
Despotismus  im  Geiste  der  Zeit  strebte.  Bei  den  Kriegen  des 
Kaisers  mit  Franz  I.  erwahnt  der  Verfasser  besonders  die  grossen 
Opfer  der  Niederlande  und  Maria's  Thatigkeit. 

Merkwiirdig  ist  noch  die  definitive  Regelung  des  Vorhalt- 
nisses  der  Niederlande  zum  Deutschen  Reiche.  Geldern  und 
das  Stift  Utrecht  gehorten  zum  westfalischen,  die  andern  Niederlande 
zum  burgundischen  Kreise,  doch  gegen  die  Ansichten  der  Reichs- 
atande  weigerten  sie  sich,  zu  den  Reichslasten  beizutragen.  Bei 
einer  derartigen  Weigerung  Utrechts  wandten  sich  die  Reichs- 
stande  an  den  Kaiser,  dessen  landesherrliche  Interessen  es  ihm 
aber  rathlich  machten,  sich  seine  Einkunfte  aus  den  Nieder- 
landen  nicht  schmalern  zu  lassen.  Vigluis  von  Aytta  wusste 
als  Bevollmachtigter  einige  Jahre  einen  definitiven  Beschluss 
iiber  die  Frage,  ob  die  Niederlande  dem  Reiche  gegeniiber  Ver- 
pflichtungen  hatten  oder  nicht,  hinzuhalten,  und  erst  1548 
wurde  das  beiderseitige  Verhaltniss  durch  Beschluss  des  Kaisers 
festgestellt.  Ihm  zufolge  standen  die  Niederlande  unter  dem 
Schutze  des  Kaisers  und  des  h.  r.  Reiches,  vorbehaltlich 
ihrer  Privilegien  und  Freiheiten,  und  mussten  zwei- 
mal  so  viel  an  Geld  und  Mannschaften  leisten  als  ein  Kurfiirst, 
zu.  einem  Tiirkenkriege  aber  dreimal  so  viel.  Holland  zeigte 
sich  Anfangs  sehr  widerspanstig  gegen  diesen  Vertrag.  Er  lasst 
die  verschiedenartigste  Deutung  zu,  und  diese  Dehnbarkeit  der 
Interpretation  lag,  nach  des  Verfassers  Meinung,  hochst  wahr- 
scheinlich  im  Sinne  des  Kaisers  selbst. 

Fiir  die  Interessen  seines  Hauses  sorgte  dieser,  indem  er  seinem 
Sohne  den  vollstandigen  Besitz  der  Niederlande  sicherte,  vermittels 
der  pragmatischen  Sanction,  welche  1549  durch  die  Staatenversamm- 
luBg  genehmigt  wurde.  Diesem  Sohne  wollte  er  auch  die  kaiser- 
liche  Gewalt  zuwenden ;  iiber  die  Unterhandlungen,  welche  zu  diesem 
Zwecke  vergebens  mit  Ferdinand  und  dessen  Sohne  Max  gefuhrt 
wurden,  gibt  der  Verfasser  (S.  686 — 688)  Aufklarung.   Bald  darauf 

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330  Wenzelburger,  Geschichte  der  Niaderlande. 

lenkten  der  Aufstand  des  Kurfiirsten  Moritz  von  Sachsen  mid 
dessen  Biindniss  mit  Frankreich  des  Kaisers  Gedanken  in  andere 
Bahnen.  Ob  in  den  Folgen  dieses  fur  seine  Plane  so  verhang- 
nissvollen  Ereignisses  eine  Hauptursache  seiner  Abdankung  ge- 
sucht  wcrden  muss,  bezweifelt  der  Verfasser,  weil  Karl  schon 
vor  1549  sich  mit  einem  solchen  Plane  getragen  babe, 
wozu  der  massgebende  Grund  seine  Gesundheit  war:  diese  unter- 
grub  er  selbst  durch  unmassiges  Essen  und  Trinken.  Wider- 
stand  bei  den  niederlandischen  Provinzen  konnte  sein  Plan  nach 
der  pragmatischen  Sanction  nicht  finden :  nur  weigerten  einzelne, 
ihre  Deputirten  dem  Abdankungsakte  beiwohnen  zu  lassen,  weil 
Philipp  verpfliehtet  sei,  selbst  in  die  Provinzen  zu  kommen,  urn 
den  Huldiguhgseid  entgegen  zu  nehmen.  Ein  Versuch,  sich  mit 
seinem  Bruder  Ferdinand  vor  der  Abdankung  zu  versohnen, 
scheiterte.  Die  Feierlichkeit  selbst  wird  beschrieben  S.  698—703. 
Anch  seine  Schwester  Maria  legte  ihre  Wurde,  welche  sie  glan- 
zend  erfiillt,  nieder.  Geldnoth  bielt  den  Kaiser  noch  eine  Zeit 
lang  in  den  Nioderlanden  zuriick,  wo  er  dann  auch  die  anderen 
Staaten  seinem  Sohne  abtrat,  zuletzt  die  Grafschaft  Burgund, 
um  gegen  diese  Feindseligkeiten  seitens  Frankreich  zu  vermeideu. 
Von  seinem  Aufenthalte  im  Kloster  wird  bemerkt,  dass  er  kein 
der  Welt  und  deren  Ereignissen  ganz  entfremdotes  Leben  fuhrte. 
Die  Frage,  ob  er  noch  bei  Lebzeiten  sein  LeichenbegangBiss 
habe  feiern  lassen,  wird  nicht  beriihrt.  Nach  seinem  Tode  er- 
kliirte  sich  Maria,  seinen  Bemiihungen  wahrend  des  letzten  Lebens- 
jahres  entsprechend,  zur  Uebernahme  der  Regentschaft  in  den 
Niederlanden  bereit,  starb  aber  bald  darauf. 

Die  Reformatoren  und  Wiedertaufer  fiillen  das  ganze  folgende 
Kapitel;  gewohnlich  werden  beide  nicht  sehr  weitlaufig  besprochen, 
so  dass  auch  in  dieser  Hinsicht  das  Werk  Dr.  Wenzelburgers 
eine  wesentliche  Verbesserung  ist.  Die  ersten  Anfange  der  Bo- 
formation  sind  mit  Sorgfalt  bearbeitet.  Dabei  wird  auch  srf 
den  Charakter  der  ersten  Anhanger  derselben  gewiesen;  wohl 
tragen  sie  gewohnlich  den  Namen  „Luytrianer"  in  Wirklichkeit 
waren  sie  aber  mehr  Zwinglianer,  daher  spater  mehr  der  Ge- 
branch  des  Wortes  „Sacramentarissenu,  und  zur  Zeit  der  Wieder- 
taufer „Evangelischen".  Durch  Erasmus  leistet  die  Renaissance, 
besonders  in  den  Niederlanden,  der  Reformation  Vorschub.  Dessen 
Leben  wird  erzahlt  S.  714 — 721.  Bei  dem  Einfluss  der  Huma- 
nisten'  waren  die  unter  dem  Volke  verbreiteten  Biicher  zu  er- 
wahnen.  Die  ersten  Humanisten  bleiben  aber  der  bestehenden 
•Kirche  treu;  erst  spatere  (Heinrich  von  Ziitphen,  Canirivus) 
erheben  sich  gegen  einzelne  Religionslehren.  Besonders  Ant- 
werpen  ubt  in  diesem  Sinne  Einfluss  aus.  Anfangs  bleibt  die 
Regierung  unthatig;  seit  den  zwanziger  Jahren  aber  schreiten 
Karl  V.  nnd  Karl  von  Geldern  durch  scharfe  Plakate  ein.  AIs 
Ketzerrichter  fimgirt  Frangois  van  der  Hulst,  delegirt  vom  Kaiser, 
der  fiir  sich  die  Inquisition  in  Anspruch  nimmt,  nm  den  Klerus 
zu   verhindern,   in   das  Gebiet   der   weltlichen  Gericbtsbarkeit 


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Wenzelburger,  Geschichte  der  Niederlandc.  331 

hinein  zu  greifen,  und  ihm  die  confiscirten  Giiter  der  Ver- 
urtheilten  zu  entziehen;  auch  benimmt  er  dadurch  Eberhard 
von  der  Mark,  Bischof  von  Liittich  und  Bundesgenosse  des  fran- 
zosischen  Konigs,  die  Moglichkeit,  Generalinquisitor  zu  werden. 
Die  Macht  des  Inquisitors  beschrankt  Karl  durch  die  Vcrfugung, 
dass  jener  ohne  den  Rath  und  die  Genehmigung  des  Priisidenten 
des  grossen  kaiserlichen  Rathes  von  Mecheln  wedor  ein  Urtheil 
sprechen,  noch  Gnade  verleihen  diirfe.  In  der  Ausiibung  seines 
Amtes  findet  er  viel  "Widerstand  bei  den  Geistlichen  und  Stadt- 
magistraten,  wovon  der  Verfasser  S.  735 — 741  die  Grunde  an- 
gibt;  ferner  tragt  van  der  Hulst  durch  sein  Betragen  selbst 
zuni  Misslingen  bei  und  muss  abgesetzt  werden  (S.  741 — 744). 
Jetzt  werden  drei  geistliche  Inquisitoren  ernannt,  und  der  Ver- 
fasser theilt  S.  744 — 747  die  Griinde  dieses  Umschlags  in  Karls 
Gesinnung  mit.  Nach  seiner  Meinung  wird  Karl  von  Geldern 
durch  seinen  despotischen  Charakter  und  Eigennutz  zur  Ver- 
folgung  getrieben.  Die  Schicksale  der  Reformatoren  werden 
S.- 752—762  irzahlt. 

Wahrend  wegen  der  Strenge  der  Regierung  die  Reformatoren 
sich  der  Oeffentlichkeit  entziehen,  treten  im  Gegentheile  die 
Wiedertaufer  offen  hervor.  Besonders  in  Amsterdam  treten 
sie  auf.  Zwischen  dieser  Stadt  und  Minister  besteht  eine 
Wechselwirkung.  Auch  hier  treten  sie  aggressiv  auf,  und  selbst 
die  Nacktlaufer  zeigen  sich  (S.  766 — 778).  Am  bekanntesten  ist 
ibr  Anschlag  auf  Amsterdam  (S.  778—780),  nach  welchem  die 
Wiedertauferei  grausam  verfolgt  wird.  Dieses  und  der 
Fall  Ministers  leitet  die  Sekte  in  andere  friedlichero 
Bahnen. 

Zum  Schluss  des  Kapitels  behandelt  der  Verfasser  die  wich- 
tige  Frage,  ob  der  Kaiser  als  Landesherr  befugt  war,  ohne 
Zustimmung  der  Stande  jene  Plakate  zu  erlassen.  Er  bejaht 
diese  Frage,  da  es  sich  hier  urn  ein  Majestatsverbrechen  kirchlich- 
religioser  Natur  der  weltlichen  Gewalt  gegeniiber  handelte.  Darum 
sei  auch  die  Gesetzmassigkeit  der  Plakate  nicht  angefochten 
worden.  Nur  bei  ihrer  Ausfiihrung  konnte  das  Privilegium  „de 
non  evocando"  angerufen  werden. 

Die  innere  Verwaltung  und  der  Zustand  der  Bevolkerung 
beschaftigen  den  Verfasser  im  dritten  Kapitel  (S.  790  —  814). 
Beachtenswerth  sind  hier  seine  Bemerkungen  iiber  Karl's  Willkur 
bei  der  Besteuerung,  die  das  Recht  der  Unterthanen,  ohne  ihren 
"Willen  nicht  besteuert  werden  zu  konnen,  nur  dem  Namen  nach 
bestehen  liess,  seine  Auseinandersetzung  von  Karl's  Streben  nach 
Centralisation  in  der  Regierung  und  Vermehrung  seiner  Macht- 
befugnisse  durch  die  Reorganisation  der  Gerichtshofe,  die  Auf- 
hebung  der  Immunitat  des  Adels  und  der  Geistlichkeit.  Zuletzt 
betrachtet  er  Karl  in  seinem  wirthschfrftlichen  Streben,  und 
endet  den  ersten  Band  seines  Werkes  mit  der  Beschreibung  des 
Wohlstandes  in  den  Niederlanden  wahrend  dieser  Regierung. 

Seine  Geschichte  ist  in  den  Niederlanden  gut  aufgenommen 

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332  Programmenschau  1878. 

worden  und  hat  das  Vertrauen  wach  gerufen,  dass  der  Verfasser 
durch  die  Fortsetzung  seiner  Arbeit  die  gunstige  Meinung,  welche 
man  von  ihm  hegt,  bestatigen  werde. 
Maastricht.  M.  Riitten. 

IX. 

Programmenschau  1878. 

Neue  Zeit. 

1)  Realgymnasium  zu  Eisenach.  Osternl878. 
Eberhardv.  cLThann.   Von  Professor  Dr.  Schmidt. 

E.  v.  d.  Thann  ist  1495  zu  Vacha  geboren ;  er  war  6  Jahre 
lang  Luthers  Schiiler  zu  Wittenberg,  besuchte  aber  ausserdem 
noch  andere  Universitaten.  1527  ernannte  ihn  Johann  der  Be- 
standige  zum  kursachsischen  Rathe  und  1528  zum  Amtmann  auf 
der  Wartburg.  Er  war  mit  Justus  Menius  befreundet,  der  1529 
der  erste  lutherische  Superintendent  in  Eisenach  wurde.  Zu- 
nachst  hatten  beide  Manner  viel  mit  den  Wiedertaufern  zu  thun. 
Spater  wurde  Thann  Amtshauptmann  zu  Konigsberg  in  Franken 
und  1545  Hofrichter  und  Gebeimer  Rath. 

Bei  Gelegenheit  des  Interims  kam  er  in  Weiterungen  mit 
Menius  wegen  der  Lehre  von  den  guten  Werken.  Menius  wurde 
angeklagt,  ein  Anhanger  Majors  zu  sein,  wurde  aber  1556  zu 
Eisenach  vollstandig  freigesprochen.  Ihm  war  jedoch  der  Aufent- 
halt  in  Gotha  so  verleidet,  dass  er  eine  Stelle  in  Leipzig  an- 
nahm.  Dieser  majoristische  Streit  spann  sich  weiter ;  namentlich 
wurde  Jena  ein  Mittelpunct  der  theologischen  Zankereien,  da 
die  dortigen  Theologen  im  Interesse  ihrer  Dynastie  gegen  die 
kursachsischen  auftraten.  Der  Hauptzelot  war  Flaccius.  Da 
dieser  zu  intolerant  wurde,  trat  unter  den  Jenenser  Professoren 
eine  Spaltung  ein,  welche  auch  auf  die  Sohne  Johann  Friedrichs 
einwirkte.  Seit  1560  bekannten  sich  Johann  Friedrich  d.  M. 
und  sein  Kanzler  Briick  zu  der  Ansicht  der  gemassigten  Pro- 
fessoren und  Johann  Wilhelm  und  v.  d.  Thann  zu  der  des  Flao- 
cius.  Bei  dieser  Partei  blieb  er  bis  zu  seinem  im  Jahre  1574 
erfolgten  Tode. 

2)  Realschule  zu  Weimar.  Ostern  1878.  Zu- 
stande  wahrend  des  30jahr.  Kriegs  und  unmittel- 
bar  nach  demselben  im  alten  Fiirstenthum  Wei- 
mar.    Von  Professor  Dr.  Kius. 

Sieben  Prinzen  des  weimarschen  Fiirstenhauses  waren  auf 
protestantischer  Seite  lebhafb  am  Kriege  betheiligt  und  ihnen 
gelang  es  im  ersten  Decennium  des  Krieges,  das  Land  vor  Aus- 
plunderung  zu  bewahren,  wie  denn  auch  die  Stadt  Weimar  wah- 
rend des  ganzen  Krieges  nioht  eingeaschert  und  gepliindert  ist. 
Seit  1636  beginnen  fur  die  Thiiringerlande  die  furchtbaxen 
Zeiten ,  seitdem  die  Fiirsten  dem  Prager  Frieden  *  beigetreten 
waren.    Der  Verfasser  belegt  die  Abnahme  der  Bevolkerung  und 


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Programmenschau  1878.  333 

des  bebauten   Ackerlandes   mit   Zahlen,   die   er    den  amtlichen 

Registern  entnommen  hat ;  doch  bemerkt  er  dabei,  dass  in  diesem 

Landchen   durch   den  Krieg   kein  Dorf  ganzlich   vom  Erdboden 
vertilgt  worden  ist. 

3)  Lu  is  e  ns  tad  tische  8  Gymnasium  zu  Berlin.  Ostern 
1878.  Des  Mansfelders  Tod.  Ein  kritischer  Bei- 
trag  zur  Geschichte  des  dreissigjahrigen  Krie- 
ges.     Von  Dr.  Ernst  Fischer. 

Der  Verfasser  untersucht  zum  erstenmale  die  Berichte  iiber 
den  Tod  des  Mansfelders  und  widerlegt  an  der  Hand  der 
Quellen  die  landlaufigen  Darstellungen  desselben.  Er  weist 
nach,  dass  derselbe  zu  Ratona,  wohl  dem  heutigen  Rakowitza 
foei  Serajewo  in  Bosnien  im  November  1626  gestorben  sei.  Dort 
hat  er  kurz  vor  seinem  Tode  am  19./29.  November  ein  Testament 
in  ftanzosischer  Sprache  und  zwar  in  aller  Eile  gemacht,  da  er 
schon  das  Nahen  des  Todes  spiirte.  Er  war  dahin  gekommen 
in  stattlioher  Begleitung  von  60  Getahrten.  Die  Bestimmungen 
des  Testamentes  zeigen  uns  Mansfeld  durchaus  nicht  als  einen 
xeuigen  Sunder,  der  seiner  Gewissensbisse  wegen  sich  zum 
Katholicismus  bekehrt  hat.  Sein  Christenthum  bekennt  er  zwar 
in  dem  Schriftstucke  und  damit  fallt  die  Nachricht,  dass  er  als 
Muhamedaner  gestorben  sei,  doch  kann  man  seinen  confessionellen 
Standpunct  aus  den  Worten  nicht  klar  stellen.  Drei  Gedanken 
treten  deutlich  hervor:  er  wiinscht  ferneren  Kampf  gegen  das 
habsburgisch-papistische  System,  er  zeigt  eine  zarte  Fursorge 
fur  seine  Eriegsgenossen  und  wiinscht,  dass  seine  eigene  Ehre 
bis  ins  Kleinste  aufrecht  erhalten  werde.  Die  Arbeit  enthalt 
somit  eine  Rettung  und  Reinigung  des  grossen  Grafen,  aber  geht 
dabei  nicht  von  subjectivem  Meinen  und  Wahnen  aus,  sondern 
beruht  auf  guten  Studien  und  eingehender  Kritik. 

4)  Gymnasium  zu  Neustettin.  Ostern  1878. 
Beitrage  zur  pommerschen  Geschichte  vom 
Director   Dr.   Fl.   Lehman.  ♦ 

Es  wird  nach  den  Acten  iiber  den  Einfall  der  Schweden 
in  Pommern  im  J.  1627  und  iiber  den  der  Danen  im  J.  1628 
berichtet.  Wir  ersehen  aus  den  Angaben,  wie  elend  es  mit  der 
Rriegsmacht  Herzog  Bogislaws  XIV.  und  mit  dem  standischen 
Aufgebot  bestellt  war,  und  erfahren  das  Bekannte  von  den  Pliin- 
derungen  der  Soldateska. 

5)  Realschule  zu  Offenbach  am  Main.  Ostern 
1878.  Tilly,  ein  Charakterbild  aus  den  Zeiten 
des   30jahr.  Krieges   von  H.  Maul. 

Die  Arbeit  giebt  eine  Uebersicht  iiber  das  Leben  und  die 
Thaten  Tilly's  nach  den  bedeutenderen  Schriften,  welche  iene 
Epoche  behandeln.  Der  Verfasser  benutzt  keine  gleichzeitigen 
Quellen,  sondern  nur  secundare  Schriften,  und  auch  diese  ohne 
eigentlich  Kritik  zu  iiben. 


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334  Programmenachau  1878. 

6)  Realschule  zu  Duisburg  a.  Rh.  Ostern  1878. 
Elsass  im  Jahre  1648.  Ein  Beitrag  zur  Terri- 
torialgeschichte,   VomOberlehrerDr.  Kirchner. 

Die  Arbeit  enthalt  Bausteine  und  bedarf  noch  der  Aus- 
fuhrung.  In  der  Einleitung  bespricht  der  Verfasser  die  Con- 
struction einer  Charte,  welche  jedoch  der  Abhandlung  nicht 
beigegeben  ist*),  dann  giebt  er  die  Quellen  an,  darauf  die  Grenzen 
und  die  Eintheilung  des  Elsass  im  J.  1648.  Es  folgt  eine  kurze, 
fragmentarische  Geschichte  des  Landes  von  diesem  Jahre  und 
dann  eine  Aufzahlung  der  Territorien  und  Ortschaften  in  be- 
sagter  Zeit. 

7)  Gymnasium  zu  Konigshutte.  Ostern  1878. 
UeberdieTheilnahme  brandenburgischerTrup- 
pen  an  der  Fahrt  Wilhelms  von  Oranien  nach 
England.     Vom   Director   Dr.  Brock. 

Die  Abhandlung  beginnt  mit  einer  kurzen  historischen  Dar- 
stellung  der  Zeitverhaltnisse  von  1688,  welche  nach  den  be- 
kannten  Quellen  bearbeitet  ist.  Dann  wird  nachgewiesen,  wie 
die  Berichte  iiber  die  Thatigkeit  der  brandenburgischen  Truppen 
in  dem  Kriege  von  1688 — 97  sehr  sparlich  fliessen  und  wie 
namentlich  die  iiber  die  Theilnahme  derselben  an  der  Expedition 
nach  England  sehr  ungenau  sind.  Die  Nachrichten  werden  zu- 
sammengestellt  und  genau  untersucht.  Daraus  ergiebt  sich,  dass 
allerdings  Brandenburger  an  der  Boyne  mitgefochten  haben,  dass 
aber  der  grosste  Theil  des  Hulfscorps  in  Holland  verwendet 
worden  ist. 

8)  Gymnasium  zu  Ratibor.  Ostern  1878.  Zur 
Geschichte  der  politischen  Theorien  in  der 
zweiten  Half  te  des  si  ebzehnten  Jahrhun  derts. 
Von   Dr.  Paul  Schone,   Oberlehrer. 

Die  Einleitung  charakterisirt  in  grossen  Ziigen  die  Kampfe 
und  Wirren,  welche  den  Zustand  des  Reiches  im  J,  1648  be- 
dingten.  Der  Verfasser  meint,  dass  in  dieser  Zeit  der  Patrio- 
tismuB  im.  Reiche  nicht  ganz  erstorben  war,  man  war  vielmehr 
in  den  biirgerlichen  Kreisen  unzweifelhaft  deutsch  und  reichs- 
patriotisch  gesinnt.  Das  bezeugen  zahlreiche  Flugschriften,  wie 
das  Buch  des  Philipp  Boguslaus  Chemnitz,  das  1640  unter  dem 
Namen  des  Hippolithus  a  Lapide  erschien.  Der  Verfasser  be- 
nutzt  bei  der  Besprechung  die  Arbeit  Webers  im  zweiten  Hefte 
der  historischen  Zeitschrift  von  1878.  Durch  dieses  Buch  ist 
Pufendorf  herausgefordert  worden.  Ausserdem  hebt  der  Ver- 
fasser noch  zwei  andere  Bucher  hervor:  Christophori  Forstneri 
epistola  sive  judicium  de  moderno  Imperii  statiL  Montpelgardi 
1670  und  Tractatus  juris  publici  de  vera  et  varia  ratione  status  Ger- 
maniaemodernae.  Autore  JoLWolfgango  Textore.  Altdorfi  a.  1667. 

Besonders  eingehend  wird  Pufendorf  behandelt^  dessen  Gegner 
auch  charakterisirt  werden. 


*)  Sie  ist  sp&ter  nachgofolgt    S.  Heft  3,  S.  269.  (d.  Red.) 

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Dobel,  Memmingen  im  Reformationszeitalter.  335 

9)  RealBchule  in  Frankenberg  in  Sachsen.  1878. 

Zur   Geschichte   des   Handwerks   der  Lein-   and 

Zeugweber  in  Frankenberg  von  Dr.  Alfred  Mat- 

tig-Sammler,  Realschuldirector. 

Im  J.  1357  gaben  die  Meissner  Markgrafen  Friedrich  und 
Balthasar  mebreren  Biirgern  die  Erlaubniss,  in  Chemnitz  eine 
Bleiche  einzurichten ,  auf  der  alle  Stadte  im  Umkreis  von 
10  Meilen  bleichen  mussten.  So  lange  dieser  Bleichzwang  be- 
stand,  kam  die  Handelsweberei  der  Stadte  nicht  in  Aufschwung, 
erst  urn  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  loste  sich  dieser  Zwang 
und  nun  erhob  sich  auch  in  Frankenberg  das  Gewerbe  der 
Weber.  Der  Schriftsteller  entwirft  dann  anf  Grund  der  alten 
Innungsordnungen  ein  lebendiges  Culturbiid,  in  welchem  er  die 
Laufbahn  eines  armen  Jungen  schildert,  der  vom  Weberlehrling 
sich  bis  zum  wohlhabenden  Meister  hindurcharbeitet. 

Berlin.  Foss. 

X. 
Dobel,  Friedrich,  Memmingen  im  Reformationszeitalter  nach 

handschriftlichenundgleichzeitigenQuellen.  5  Theile.  gr.  8.  (84; 

87 ;  80 ;  107  u.  60  S.)  Augsburg  1877—78.  Lampart  &  Co.  8  M. 
Unter  den  Stadten  Siiddeutschlands,  welche  friihzeitig  for- 
dernd  fiir  das  Reformationswerk  eingetreten  sind,  nimmt  Mem- 
mingen einen  nicht  unbedeutenden  Platz  ein.  Es  geniesst  dabei 
noch  den  Vorzug,  dass  es  seine  Geschichte  zum  Theil  auf  ein 
umfassendes  Urkunden-Material  stiitzen  kann.  Dieses  ist  friiher 
wohl  schon  mehrfach  und  meist  im  Dienste  sehr  entgegengesetzter 
Parteitendenzen  benutzt  worden;  eine  objective  Darstellung  der 
einschlagenden  Episode  auf  der  alleinigen  Grundlage  der  Quellen 
war  bisher  noch  nicht  ermoglicht  worden.  Der  Verfasser  hat 
in  loblicher  Weise  den  Grundsatz  in  den  Vordergrund  gestellt, 
„sein  eigenes  Urtheil  so  wenig  als  moglich  hervortreten,  vielmehr 
die  Urkunden  und  Akten  aus  jener  Zeit  durch  wortliche  oder 
auszugsweise  Mittheilung  selbst  reden  zu  lassen;u  er  hat  ihn 
auch  bewahrt  und  thatsachlich  eine  personliche  Zuriickhaltung 
bewiesen,  die  an  manchen  Stellen  als  zu  streng  erscheint.  — 
Der    Verfasser    hat    seine    Arbeit    in    5   Abtheilungen    zerlegt. 

1)  Chr.    Schappeler,    der    erste   Reformator   von   Memmingen. 

2)  Das  Reformationswerk  zu  Memmingen  unter  dem  Drucke 
des  schwabischen  Bundes.  3)  Hans  Ehinger  als  Abgeordneter 
von  Memmingen  auf  dem  Reichstage  zu  Speier  und  Abgeordneter 
der  protestirenden  Stande  an  Kaiser  Carl  V.  1529.  4)  Hans 
Ehinger  als  Abgeordneter  von  Memmingen  auf  dem  Reichstage 
zu  Augsburg  1530.  5)  Das  Reformationswerk  zu  Memmingen 
von  dessen  Eintritt  in  den  Schmalkaldischen  Bund  bis  zum 
Niirnberger  Religionsfrieden  1531 — 32. 

Die  erste  Abtheilung  sowie  die  vierte  enthalten  unbedingt 
die  wichtigsten  und  werthvollsten  Beitrage,  welche  auch  fur  die 
allgemeine  Geschichte  der  grossen  geistigen  Bewegung  von  nicht 


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336  Dobel,  Memmingen  im  Reformaticmszeitalter. 

zu  unterschatzender  Bedeutung  sind.  In  jenem  ist  es  vor  Allem 
die  Bauernbewegung,  welche  unser  Interesse  in  besonderem  Masse 
erweckt:  einmal,  weil  sie  im  Memminger  Stadtgebiet  einen  Yer- 
lauf  nimmt,  welcher  durch  seine  Ruhe  nnd  Gesetzlichkeit  in 
starkem  Contrast  zn  den  Erscheinnngen  an  anderen  Orten  steht, 
sodann,  weil  dieser  befriedigende  Verlauf  dem  Einfloss  des  Mannes 
zu  verdanken  war,  der  durch  die  Abfassung  der  Bauernartikel 
die  drohende  Revolution  in  legale  Bahnen  lenkte,  namlich 
Christoph  Schappelers.  Es  ist  durch  den  Verfasser  sehr  wahr- 
scheinlich  gemacht,  dass  wir  in  jenem  geistvollen  and  gewandten 
Prediger  allerdings  den  Verfasser  der  12  Artikel  besitzen.  — 
Die  zweite  Abtheilung  zeigt  nur  das  Verhalten  des  schwabischen 
Bundes  gegeniiber  den  Reformbestrebungen  im  Bundesgebieta 
Gerade  an  dem  Verhalten  desselben  gegen  Memmingen  offenhart 
sich  die  riicksichtslose  Gewalt,  mit  welcher  der  Bund  gegen  aHe 
Neuerungsversuche  auf  dem  religiosen  wie  socialen  Gebiete  ver- 
ging. Das  muthige  Verhalten  der  stadtischen  Obrigkeit  in  Yer- 
bindung  mit  der  besonnenen  Biirgerschaft  ermoglichte  es,  dennoch 
bei  der  neuen  Lehre  zu  bleiben  und  damit  sich  einen  Vorzng 
zu  sichern,  den  in  jener  wildbewegten  Zeit  zu  erhalten  nicht 
viele  Stadtgemeinden  im  Stande  waren.  Es  ist  dabei  besondera 
zu  betonen,  dass  Memmingen  dem  Ausgangspunkte  des  Banern- 
aufstandes  sehr  nahe  lag  und,  fast  nur  auf  sich  angewiesen, 
ohne  Schutz  gegen  Uebermacht  und  Gewalt  fast  allein  in  sich 
die  Mittel  fand,  der  drohenden  Vernichtung  einer  glucklicben 
reichsstadtischen  Existenz  zu  entgehen. 

Der  dritte  Theil  enthalt  zunachst  eine  kurze  Biographic  des 
Mannes,  welcher  Memmingen  auf  dem  Reichstage  zu  Speier  1529 
zu  vertreten  abgeordnet  war,  des  Hans  Ehinger.  Er  hatte  sich, 
ohne  eine  hohere  Schule  besucht  zu  haben,  dem  Kaufinamw 
stande  gewidmet  „und  war,  theils  in  eigenen  Handelsgeschafte 
theils  als  Faktor  des  Kaufhauses  Bartholomae  Welser  zu  Augs- 
burg viel  auf  Reisen  oder  verweilte  auf  dem  Schlosse  Gostenatt 
an  der  ostlichen  Giinz,  das  sammt  dem  dazugehorigen  Dorfe  in 
seinem  Besitze  war".  1526  und  1527  Mitglied  des  Rathes,  1528 
und  1529  Grosszunftmeister ,  1530  und  1531  abermals  Raths- 
mitglied,  war  er  schon  seiner  ausseren  Stellung  nach  und  wogen 
seiner  mannigfeltigen  Verbindungen,  ganz  besonders  aber  wegen 
seines  ausgepragten  religiosen  Standpunktes,  vortreflflich  geeignet, 
Memmingen  unter  den  damaligen  Verhaltnissen  zu  vertreten. 
So  finden  wir  ihn  auch  1530  auf  dem  Reichstage  von  Augsbwff 
und  1531  zu  dem  Speierschen  Reichstage  abgeordnet,  welcher 
nicht  zu  Stande  kam.  —  Sein  Bruder  Ullrich  E.  war  kaiser- 
licher  Rath,  seine  Verwandten  Thomas  und  Ambrosias  Blaurer 
waren  die  Freunde  und  Beforderer  der  Reformation  in  Schwaben ; 
unter  seinen  Freunden  galten  Jakob  Sturm  und  Matth.  Pferrer, 
die  Abgeordneten  von  Strassburg,  am  meisten;  in  Verbindnng 
mit  alien  diesen  und  ausgezeichnet  durch  das  Wohiwollen  der 
evangelischen  Fiirsten,  besonders  des  Kurfursten  von  Sachsen  m>d 

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Dobel,  Memmingen  im  Reformationazeitalter.  337 

des  Landgrafen  von  Hessen,  gelingt  ihm  nianches,  was  ein  an- 
derer  nicht  so  leicht  zu  Stande  gebracht  hatte.  Das  Werth- 
vollste,  was  wir  von  seiner  Hand  besitzen,  sind  seine  Briefe  vom 
Reichstage  zu  Speier  und  von  seiner  Gesandtschaftreise  an  den 
kaiserlichen  Hof  1529.  Einzelne  von  diesen  sind  von  Kliipfel  in 
den  „Urkunden  zur  Geschichte  des  schwabischen  Bundes.  Biblio- 
thek  des  litterarischen  Vereins  in  Stuttgart.  Bd.  31"  im  Aus- 
ztige  veroffentlicht  worden.  Dobel  giebt,  weil  er  mit  Recht  in 
ihnen  Documente  schatzt,  welche  fiir  die  Zeitgeschichte  ein  Inter- 
esse  haben ,  alle  15  in  genauem  Abdruck  S.  39  —  80.  Sie.  sind 
im  besten  Schwatnsch  verfasst  und  so  fiir  den  Norddeutschen 
nicht  immer  leicht  zu  verstehen,  indessen  doch  immer  noch  be- 
quemer  zu  lesen  aJs  z.  B.  die  Schriften  Zwinglis.  Der  Heraus- 
geher  hat  sich  ein  Verdienst  dadurch  erworben,  dass  er  die 
originale  Schreibart,  wie  es  scheint,  durchaus  unverandert  bei- 
behalten  hat.  Der  Leser  gewinnt  dadurch  an  personlichem  Inter- 
esse  fiir  den  Schreiber ,  welches,  durch  die  naiven  und  doch  so 
wahren  Beobachtungen  desselben,  die  nicht  selten  hochst  treffend 
Personen  und  Verhaltnisse  beurtheilen,  nur  erhoht  wird.  Das- 
selbe  gilt  auch  von  den  3  letzten  Briefen,  von  denen  der  erste 
aus  Lyon,  der  zweite  und  dritte  aus  „plesantza"  (Piacenza)  datirt 
ist.  Dorthin  war  er  mit  den  Gesandten  der  iibrigen  protestiren- 
den  Stande  gesandt  worden,  um  beim  Kaiser  personlich  die  Recht- 
fertigung  derselben  zu  fiihren. 

Wie  schon  oben  erwahnt  worden  ist,  wurde  Hans  Ehinger 
auch  zum  Augsburger  Reichstag  1530  vom  Rathe  von  Memmingen 
abgeordnet.  Man  darf  nicht  erwarten,  in  den  Briefen,  welche 
er  von  der  Reichstagsversamralung  aus  in  die  Heimath  sandte, 
viel  neues  zu  finden.  Indessen  bieten  die  47  Briefe  des  4.  Theiles, 
welche  sammtlich  von  Augsburg  datirt  sind  and  sich  tiber  die 
Zeit  vom  1  Juni  bis  20.  Novbr.  1530  erstrecken,  so  viele  indi- 
viduelle  Beobachtungen  und  Erfahrungen  des  Verf.,  dass  sie  als 
sehr  erwiinschte  Erganzung  der  uns  schon  sonst  bekannten  Nach- 
richten  von  diesem  wichtigen  Reichstage  zu  betrachten  sind.  Vor 
Allem  enthalten  sie  die  wiederholte  Bestatigung  der  sehr  hoch 
gestiegenen  Spannung  zwischen  dem  Kaiser  und  den  Evangelischen, 
iiberhaupt  zwischen  Alt-  und  Neuglaubigen,  die  diesen  Reichstag 
charakterisirt;  aber  auch  so  manches  Wort  iiber  die  Uneinig- 
keit  der  Protestirenden.  Ehinger  trifft  doch  sehr  scharf  das, 
-was  die  Hauptursache  der  Uneinigkeit  bildete,  wenn  er  im  4. 
Briefe  vom  26.  Juni  pag.  32  sagt:  „Es  jst  kain  fierst  oder  rich- 
statt,  do  man  das  gotzwortt  und  haillig  E(vangelium)  [nicht] 
bredigt,  Es  jst  inn  dienlich.  Wann  alain  die  spalltung  des  sacra- 
mentz  nit  wer,  und  das  habend  sy  danocht  (in  der  Confessio 
Angustana)  auch  gantz  beschaidenlich  gehallten.  Wann  mans 
zu  schmalgkaldo  allso  fiergehallten  hett,  so  werind 
wier  nit  von  ainander  zertrennt;  sy  hettend  jetz- 
undt  gern  merRichstett  zujnnen."  Auch  die  Verhand- 
lungen,   welche  unter  den  Abgeordneten  der  4  Reichsstadte,  die 

Mittheilungon  a.  d.  histor.  Litteratur.    VII.  22 

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338  Dobel,  Memmingen  im  Roformationszeitalter. 

nicht  die  Conf.  Aug.  unterschrieben  hatten,  statt  fanden,  werden 
sehr  eingehend  mitgetheilt,  ebenso  die  Umstande,  unter  denen 
am  8.  Juli  die  Uebergabe  der  Confessio  Tetrapolitana  erfolgte. 
AUes  deutet  darauf  hin ,  wie  man  katholischerseits  —  gewiss 
auf  Ecks  Betrieb  —  den  Evangelischen  durch  methodische 
Riicksiclitslosigkeit  zu  imponiren  und  sie  durch  Mittel  der 
Macht  und  der  Intriguen  aus  ihrer  im  Grund  doch  dominirenden 
Stellung  heraus  zu  drangen  beflissen  war.  Um  so  erfreulicher 
ist  es  zu  sehen,  class  die  Evangelischen  fest  auf  ihrem  Stand- 
punkte  beharren,  und  besonders  die  Bevftlkerung  der  Reichs- 
stkdte  kein  Bedenken  tragt,  auch  ernsteren  Gefahren  um  des 
Glaubens  willen  zu  begegnen.  Auch  Memmingen  gewahrt  hiefiir 
Beweise.  Die  Biirgerschaft,  welche  aus  12  Ziinften  bestand  nnd 
812  Burger  umfasste,  scheute  sich  nicht,  den  der  Religion 
ungiinstigen  Augsburger  Reichstagsabschied  mit  751  Stimmen 
abzulehnen,  obgleich  sie  wohl  wusste,  dass  ihr  bei  ihrer  Macht- 
losigkeit  sehr  schwere  Bedrangniss  daraus  erwachsen  konnte.  — 
Der  5.  Theil  zeigt,  wie  von  Seiten  der  Feinde  der  Stadt 
sehr  ernstlich  darauf  hingearbeitet  wurde,  mit  Hilfe  der  kaiser- 
lichen  Regierung  und  unter  Benutzung  der  religiosen  Zerwurf- 
nisse  iiber  die  Biirgerschaft  die  Gefahr  einer  kaiserlichen  Acht- 
erklarung  zu  bringen.  Die  Vertreter  des  Katholicismus,  unter 
ihnen  der  Stadtschreiber  Ludwig  Vogelmann,  eine  durch  Energie 
wie  durch  Ueberzeugungstreue  hervorragende  Personhchkeit, 
benutzten  ihren  ganzen  Einfluss  innerhalb  und  ausserhalb  der 
Stadt,  um  womoglich  alle  refonnatorischen  Aenderungen  in 
derselben  riickgangig  zu  machen.  Die  innigen  Verbindunge^ 
in  denen  Vogelmann  mit  dem  benachbarten  katholischen  Klerus, 
besonders  mit  dem  Bischof  von  Salzburg  und  dem  von  Augs- 
burg stand ,  in  dessen  Dienste  er  nach  seinem  Weggange  von 
Memmingen  getreten  war ,  gewahrten  seinen  Bestrebungen  eine 
Unterstiitzung ,  welche  fiir  die  Stadt  gefahrlich  wurde,  als 
Vogelmann  begann,  durch  Denunciationen  des  Rathes  bei  der 
Reichsregierung  und  unter  dem  Schutze  derselben  in  der  Stadt 
zum  Widerstande  gegen  die  neugeschaffenen  Ordnungen  seinea 
Anhang  aufzureizen.  Der  Rath  fand  kein  anderes  Mittel,  aeh 
der  aufriihreri8chen  Thatigkeit  des  durch  kaiserliches  Geleit 
geschiitzten  Agitators  zu  erwehren,  als  ihn  festnehmen  und  ihm 
den  Prozess  machen  zu  lassen.  V.  wurde  des  Vertragsbruches 
iiberfiihrt  und  hingerichtet.  Er  starb  aufgeopfert  von  denen, 
die  ihn  alsWerkzeug  benutzt  hatten;  es  ward  ihm  nicht  einmal 
die  Genugthuung,  dass  die  kaiserliche  Regierung  seine  Ver- 
theidigung  oder  seine  Rechtfertigung  iibernahm.  Erst  nach 
dieser  Katastrophe  durfte  die  Stadt  sich  einer  ruhigeren  Ent- 
wickelung  ihrer  neugeschaffenen  religiosen  Ordnungen  erfreuen. 
Eine  weitere  Ausdehnung  erhielten  dieselben  durch  den 
Eintritt  der  Stadt  in  den  Schmalkaldischen  Bund.  Was  von 
katholischem  Wesen  bisher  noch  bestanden  hatte,  wurde  mm 
abgethan ,  Bucer  und  Oekolampadius ,   auf  Blaurers  Empfehlnng 

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Lenz,  Die  Schlacht  bei  Muhlberg.  339 

eingeladen,  begannen  am  3.  Juli,  gleichwie  zuvor  in  Ulm  ge- 
schehen  war,  mit  Unterstiitzung  des  Biirgermeisters  Eberhard 
Zangmaister  und  sechs  Burger  eine  Visitation  im  Stadtgebiete, 
die  die  allmahliche  Ueberleitung  sammtlicher  Angehorigen  der 
Stadt  auch  in  den  Dorfern  zur  neuen  Lehre  bewirkte.  Im 
Friihjahr  1532  folgte  die  Einsetzung  der  geist lichen  und 
weltlichen  Zuchtherrn.  Dieselbe  entspracb  der  Ordnung 
der  reformirten  Kircbe.  „Die  Kirchenpfleger",  wie  man  die 
geistlichen  Zuchtherrn  auch  nannte,  hatten  das  Amt,  das 
kirchliche  und  sittliche  Leben  zu  uberwachen  und  Kirohenzucht 
zu  iiben.  Es  sollten  hierzu  durch  Biirgermeister,  Rath  und  Ge- 
meinde  „sieben  fromme,  gottesfiirchtige ,  eifrige  und  tapfere 
Manner"  aus  dem  taglichen  Rath,  aus  den  Eilfern  und  aus  der 
ganzen  Gemeinde  gewahlt  und  ihnen  zwei  Prediger  behufo  Ver- 
hangung  des  kleinen  oder  grossen  Bannes  oder  Wiederauf hebung 
desselben  beigeordnet  werden.  Die  Amtsfunktion  wahrte  zwei 
Jahre.  —  Neben  diesen  Kirchenpflegern  standen  die  weltlichen 
Zuchtherrn,  auch  „Warnungsherrnu  genannt ,  in  gleicher 
Weise  erwahlt  wie  die  Kirchenpfleger.  Sie  hatten  solche,  welche 
sick  gegen  Zucht  und  gute  Sitte  verfehlten,  auszukundschaften 
und  zu  yerwarnen,  dder  dem  Rathe  zur  Zurechtweisung  anzu- 
zeigen,  und,  wenn  dies  nicht  Yerfinge  und  es  zu  offentlichem 
Aergerniss  kame,  Geld-  oder  Freiheitsstrafen  zu  verhangen  oder 
beim  Rathe  den  Strafantrag  zu  stellen.  Zu  ihrer  Competenz 
gehorte  auch  die  Beilegung  ehelicher  Streitigkeiten ,  selbst  die 
Ehescheidung ;  sie  hiessen  deshalb  auch  die  Chorrichter. 

Am  3.  April  1532  erklarte  Memmingen  gleich  den  iibrigen  ober- 
schwabischen  Stadten  zu  Schweinfurt  seine  Zustimmung  zur 
Augsburgischen  Confession,  ohne  die  Conf.  Tetrapolitana  darum 
aufzugeben.  1536  trat  es  mit  der  Annahme  der  Wittenberger 
Concordia  vollig  zum  lutherischen  Bekenntniss  iiber  und  1577 
liess  es  sogar  durch  seine  Geistlichen  die  Concordienformel 
xinterzeichnen.  —  Der  Anhang  zum  5.  Bande  enthalt  die 
^Ordnung  der  Kirchenpfleger  hie  zu  Memmingen  1532." 
Berlin.  Prof.  Dr.  Brecher. 


LXXXH. 

Lenz,  Max.  Die  Schlacht  bei  Muhlberg.  Mit  neuen  Quellen. 
gr.  8  (148  S.)    Gotha  1879.  F.  A.  Perthes.    3  M. 

Die  LAbtheilungdes  Buches  (S.l — 61)  enthalt  neue  Quellen  zur 
Geschichte  der  Schlacht.  Die  ersten  beziehen  sich  auf  eine  inter- 
essante  Episode  derselben,  namlich  auf  die  durch  Herzog  Moritz 
veranlasste  Sendung  des  landgraflich-hessischen  Gesandten  Ler- 
seiier  an  den  Kurfiirsten  Johann  Friedrich,  die  den  Zweck  ver- 
folgte,  den  Kurfiirsten  durch  den  Hinweis  auf  die  Uebermacht 
des  kaiserlichen  Heeres  und  durch  das  Versprechen  freundschaft- 
licher  Vermittelung  zur  bedingungslosen  Ergebung  an  den  Kaiser 
zu  bestimmen.  Schon  Georg  Voigt  hat  in  der  Darstellung  der 
Schlacht  bei  Muhlberg  am  Schlusse  seines  Buches  iiber  Moritz 

22* 


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340  Lenz,  Die  Schlacht  bei  Miililberg. 

von  Sachsen  diese  Episode  gebuhrend  gewiirdigt;  er  schildert  sie 
vorzugsweise  nach  zwei  von  Moritz  nach  dem  Kriege  aufgesetzten 
Rechtfertigungsschriften  und  der  an  Herzog  Albrecht  von  Preussea 
gerichteten  Relation  eines  kurfurstl-sachsischen  Obersten,  den 
Voigt  mit  dem  Rittmeister  Wolf  Goldacker  fur  identisch  halt,  in  dem 
der  Verf.  aber  einen  aus  Preussen  stammenden  Offizier  Namens 
Wolf  Creutz  erkennt.  Die  betreflenden  in  den  Archiven  von 
Dresden  resp.  Konigsberg  befindlichen  Actenstiicke  werden  bier 
vollstandig  in  der  Fassung  der  Originale  mitgetheilt ;  sie  werden 
in  den  Hintergrund  gedrangt  durch  den  Bericht  des  Lersener 
selbst,  den  der  Verf.  aus  dem  hessischen  Staatsarchiv  zu  Marburg 
bier  zum  Abdruck  bringt.  Dieser  Bericht  ist  nur  ein  Bruchstiick 
aus  der  monatelangen  Correspondenz  zwiscben  Lersener  und  dem 
Landgrafen  Philipp ,  welche  der  Verf.  in  nicbt  zu  langer  Frist 
zu  einer  eingebenden  Darstellung  der  Verhandlungen  zwischen 
Philipp  und  Moritz  resp.  dem  Kaiser  zu  verwerthen  gedenkt 
Ebenfalls  aus  dem  hessischen  Archiv  sind  entnommen  ein  Brief 
des  Herzogs  Moritz  an  Philipp  iiber  den  Sieg  bei  Muhlberg  nebs; 
der  Antwort  auf  denselben. 

Es  folgen  zwei  aus  dem  Strassburger  Stadtarchiv  entnom- 
mene  Relationen  iiber  die  Schlacht.  Die  eine  besteht  aus  einem 
am  28.  April  1547  zu  Borna  geschriebenen  Brief  des  Dr.  Lndwig 
Gremp  an  einen  Strassburger  Freund,  in  dem  der  Verf.  rich  ant 
einen  Augenzeugen  des  Kampfes  als  Gewahrsmann  beruft.  Wich- 
tiger  ist  der  zweite,  wie  es  scheint,  von  einem  Theilnehmer  zwiscben 
dem  3ten  und  12 ten  Mai  niedergeschriebene  Bericht;  der 
Verfasser,  von  Lenz  in  der  folgenden  Darstellung  als  Strassburger 
Anonymus  citirt,  scheint  auf  Seite  der  Kaiserlichen  gefochten  a 
haben;  er  zeigt  militarisches  Interesse  und  Urtheil  und  emeis 
sich  im  ganzen  als  ein  sehr  zuverlassiger  Berichters tatter.  Dw 
Verfasser  weist  nach,  dass  Hans  Baumann  in  seinem  bisher  iiber 
Verdienst  geschatzten  Opus  iiber  die  Miihlberger  Schlacht  last 
nichts  gethan  als  den  Str.  Anon,  ausgeschrieben ,  verkiirzt,  um- 
geformt,  bisweilen  auch  missverstanden  hat.  Den  Beschluss  macht 
ein  aus  dem  Dresdener  Archiv  mitgetheilter  Bericht  eines  Banern 
Georg  Dorn  aus  Blumberg  bei  Muhlberg,  den  derselbe  am  Ta£? 
nach  der  Schlacht  vor  dem  Amtmann  der  Stadt  Hain  iiber  * 
erlebten  Schreckensscenen  zu  Protokoll  gegeben  hat  und  der  ft 
seiner  Treuherzigkeit  fur  den  Leser  einen  unanfechtbaren  Bewe? 
liefert  fur  die  barbarische  Kriegfuhrung  des  kaiserlichen  Heett 
insbesondere  der  in  demselben  befindlichen  Spanier. 

Die  II.  Abtheilung  (S.  62  —  90)  enthalt  eine  Kritik  der  b€* 
reits   gedruckten  Quellen.     Unter   den   gleichzeitigen  Brief-  uul- 
ZeitungS8chreibern  erscheinen,  von  Wolf  Creutz  und  Lersener  a^ 
gesehen,  die  auf  kaiserlicher  Seite  stehenden  im  AUgemeinen 
zuverlassiger  als  die  der  Partei  des  Besiegten  angehorenden.   Fi 
ziemlich    werthlos  und  nur  mit  Misstrauen  benutzbar  halt  Vei 
gegen  Voigt  den  anonymen  Bericht  bei  Lanz,  Korrespondenz  di 
Kaisers  Carl  V.  II.,  561,  sowie  den  sogenannten  Ciistriner  BericW 


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Lenz,  Die  Schlacht  bei  Miihlberg.  341 

als  Gewahrsmann  ersten  Ranges  erscheint  ihm  Don  Guzmann, 
eiu  Augenzeuge  der  Schlacht,  in  seinem  Briefe  an  den  spanischen 
Hofchronisten  Pedro  Mexia.  Unter  den  Historikern  gebiihrt  nach 
Zeit  und  Werth  Avila  der  Yorrang,  nur  dass  in  seinem  Werke 
der  Humanist  und  Hofling  zu  sehr  hervortritt.  Weniger  iiber- 
schwanglich  sind  die  Commentarien  des  Kaisers  selbst,  doch 
stellt  auch  der  Kaiser  iiberall  seine  Person  in  den  Mittelpunkt 
der  Ereignisse.  Godoi  und  Faleti  sind  schon  von  Voigt  im  All- 
gemeinen  rich  tig  charakterisirt ;  ersterer  liefert  kurze,  klare 
und  sachgemasse  Commentarien,  letzterer  einen  nor  wenig  brauch- 
bare  Originalnotizen  enthaltenden  historischen  Roman.  Ein 
Mittelding  zwischen  Zoitung  und  Geschichtsschreibung  sind  die 
llelationen  der  Yenetianer  Contarini  und  Mocenigo.  Die  deutschen 
Geschichtsschreiber  der  Schlacht,  Sleidan,  Hans  Christoph  v. 
Bernstein,  Simon  Stenius  und  Arnold,  verdienen  kaum  genannt 
zu  werden. 

Die   III.  Abtheilung   (S.  91  — 148)   enthalt   die  zusammen- 
hiingende  Darstellung  des  Verlaufes  der  Schlacht,    aus  der  Ref. 
im  Folgenden  das  Wichtigste  heraushebt.     Bei  seinem  Aufbruch 
aus  dem  Lager  von  Leisnig  richtet  der  Kaiser  den  Marsch  gegen 
die    Mitte   des   Elblaufes   zwischen   Meissen   und    Miihlberg;    er 
erhalt   am   22.  April   durch   eine  Recognoscirung  die  Nachricht, 
dass  der  Kurfiirst  bei  Meissen  in  einem  befestigten  Lager  stehe; 
am   23.  (einem  Ruhetage)   erfahrt   er,   dass  der  Feind  von  dort 
aufjgebrochen   sei   und   sich   bei  Miihlberg   festsetze.     Damit  der 
Kurfiirst  nicht  nach  Wittenberg  entkomme,    setzt  der  Kaiser  in 
einem   Kriegsrathe   die   Anordnung   eines  Nachtmarsches   durch. 
Der  Bruckenpark    wird    vorausgeschickt ;    den   24.  um   1    Uhr 
Morgens   bricht   das   aus  6300  Reitern   und   circa  23000  Mann 
Fussvolk   bestehende  Heer  auf,   um   den  Elbpass  bei  Miihlberg 
zu    forciren.     Die    Strecke    vom   Lagerplatz   bis    an    die  Elbe 
wird  auf  2  —  3  Meilen  angegeben ;   etwa  zwischen  8  und  9  Uhr 
Morgens     erreicht    das    Heer    die    Elbe    bei    Schirmenitz    und 
Pausnitz,  ungefahr  eine  halbe  Stunde  oberhalb  Miihlberg.     Von 
hier   aus   unternimmt  Alba   einen  Recognoscirungsritt ,   wahrend 
die    Fiirsten    friihstiicken     und    ihre   Riistungen    anlegen.      Es 
kommt   zwischen   9   und  10  Uhr  bei  Schirmenitz  zu  einem  Ge- 
plankel  zwischen  200  spanischen  Hakenschiitzen  und  30  auf  dem 
jenseitigen   Ufer   befindlichen  Reitern.     In    Schirmenitz   erbietet 
sich  ein  Bauer  dem  Kaiser  gegeniiber,  eine  bei  Miihlberg  durch 
die    Elbe    fiihrende    Furt    anzugeben;    durch    ihn    oder    einen 
der    von   Alba    bei    der   Recognoscirung   requirirten   Landleute 
wird   spater   dem  genannten  Oberkommandeur  die  Furt  gezeigt. 
Inzwischen   hort  der  Kurfiirst  in  Miihlberg  die  Sonntagspredigt, 
slIs  Reiter  von  der  Wache  die  Meldung  bringen,  sie  hatten  drei 
grosse  Geschwader  jenseit   des   Flusses   gesehen  und   trommeln 
gehdrt.    Man   ist  im  kurfurstlichen  Lager  durch  den  Anmarsch 
des  Feindes  vollig  iiberrascht,  weil  ein  dichter  Nebel,  der  etwa 
xxm  10  Uhr  sinkt  (Voigt  nimmt  an  um  12  Uhr)  bisher  die  Urn- 
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342  I*nz,  Die  Schlacht  bei  Mfihlberg. 

schau  verhindert  hatte.  Die  Stellung  des  Kurfiirsten  war  vor- 
trefflich;  Stadt  und  Schloss  Miihlberg  hielten  seine  Truppen 
besetzt;  das  an  sich  schon  hohere  Ufer  der  Elbe  kronte  ein 
Damm,  der  den  Schiitzen  Deckung  bot  und  das  gegeniiberliegende 
Ufer  vollig  beherrschte;  hinter  demselben  lag  des  Kurfiirsten 
Zelt.  Eine  solche  Position  konnte  wohl  bis  zum  Abend  gehalten 
werden,  wenn  der  Kurfiirst,  wie  Creutz  angiebt,  auch  nur  3000 
Mann  Fussvolk,  1000  Reiter  und  21  Geschiitze  bei  sich  hatte. 
Bei  dem  Kampfe  an  der  Elbe  sind  zwei  Hauptmomente  za 
unterscheiden ,  der  Kampf  urn  die  Bote  und  der  Kampf  urn  die 
Furt.  Die  Hauptmasse  des  kaiserlichen  Heeres  bleibt  vorlau^ 
bei  Schirmenitz  in  Reserve.  Etwa  urn  10  Uhr  gehen  1O00 
spanische  Hakenschiitzen  gegen  Miihlberg  vor,  6  Stuck  Geschiitze 
werden  gut  gedeckt  in  das  Ufergebiisch  placirt,  von  den  Haken- 
schiitzen stiirzen  sich  viele  in  den  Strom  und  eroffnen  ein 
heftiges  Feuer  auf  die  an  dem  andern  Ufer  befindlichen  Bote. 
Die  kurfurstlichen  Arkebusiere  versuchen,  wahrend  die  Hanpt- 
masse  des  Heeres  bereits  die  Riickzugsbewegung  beginnt,  die 
Schiffbriicke  in  Sicherheit  zu  bringen ;  daran  verhindert  durch 
das  lebhafte  Feuer  der  Kaiserlichen ,  die  unter  den  Augen  des 
inzwischen  eingetroffenen  Kaisers  mit  ausserster  Bravour  Hmpfen, 
versuchen  sie  vergeblich  die  Bote  zu  verbrennen.  Zehn  bis 
zwolf  Spanier  durchschwimmen  den  Fluss  und  bemachtigen  ach 
derselben,  wahrend  die  Arkebusiere  sich  zuriickziehen.  Jetzt  er- 
halt  die  Reiterei  von  Alba  den  Befehl  zum  Vorrucken;  die 
Furt  wird  gliicklich  aufgefunden  und  von  der  Reiterei  vm 
Uebergange  benutzt;  kurfiirstliche  Schutzenreiter  machen  von 
der  Stadt  aus  einen  Vorstoss  gegen  die  ersten  100  HuBaren. 
die  das  rechte  Ufer  erreicht  haben ,  und  drangen  sie  in  den 
Fluss  zuriick ;  dann  miissen  auch  sie  der  sich  jetzt  entwickelnden 
Uebermacht  weichen,  der  Elbiibergang  ist  gewonnen. 

Die  durch  Mittheilungen  von  Gefengenen  erhaltene  Geviss- 
heit  von  der  geringen  Streitmacht  des  Kurfiirsten  bestimm^ 
endlich  den  Kaiser  auf  Andringen  Albas  zu  dem  Entsehte, 
den  Feind  mit  den  Reitern  zu  verfolgen ;  er  selbst  setzt  durct 
die  Furt,  um  trotz  der  Abmahnung  Albas  personlich  an  der 
Verfolgung  theilzunehmen ,  wahrend  das  Fussvolk  mit  Hiilfe 
der  eiligst  zusammengefahrenen  Schiffbriicke  den  Strom  iiber 
schreitet.  Die  Verfolgung  beginnt  um  die  Mittagszeit,  no 
1  Uhr.  Die  kaiserliche  Reiterei  riickt  vor  in  zwei  Treffen,  das 
erste,  die  leichten  Reiter,  unter  Alba,  das  zweite,  meist  schwer? 
Cavallerie,  unter  personlicher  Fuhrung  des  Kaisers ;  zwei  Leg^ 
hinter  Miihlberg  erreichen  die  Kaiserlicheu  die  feindliche  Nach- 
hut ,  da  der  Riickzug  durch  Terrainhindernisse  autgehalten  war 
Durch  das  sich  entspinnende  Feuergefecht  hindurch  reitet 
Lersener  zum  Kurfiirsten,  der  nicht  Stand  halt,  sondern  to 
Schutze  des  vorliegenden  Waldes  und  der  Nacht  davonzukommefl 
hofft.  Jetzt  gelangt  der  Kaiser  mit  seinen  Geschwadern  i» 
scharfem  Trabe  aus  dem  zweiten  Treffen  mit  Halbrechts  in  die 


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Head,  Le  tigre  de  1560.  343 

Verlangerung  des  ersten  Treffens;  Alba  reitet  in  die  Feuerlinie, 
welche  sich  nunmehr  dicht  vor  dem  Walde  befindet,  und  fasst 
alle  anderen  Geschwader  zu  einem  entscheidenden  Angriff  zu- 
8ammen;  es  ist  zwischen  6  und  7  Uhr  Abends,  drei  Meilen 
hinter  Muhlberg.  Die  sachsischen  Befehlshaber  beschliessen, 
vor  dem  Walde  dem  Feinde  mit  den  Reitern  den  Kopf  zu 
bieten,  urn  dem  Fussvolk,  dem  Tross  und  der  Artillerie  den 
Riickzug  durch  den  Wald  zu  sichern;  indessen  die  sachsischen 
Reiter,  dem  Willen  ihrer  Fiihrer  nicht  mehr  gehorchend,  lassen 
sich  verleiten  zu  einer  unbesonnenen  Offensive.  Sie  werfen  die 
ersten  feindlichen  Reiterhaufen  auf  das  Gros  zuruck;  als  sie 
aber  wenden  wollen,  macht  Alba  mit  dem  gesammten  Vorder- 
treffen  einen  kraftigen  Vorstoss,  der  ihren  Ruckzug  in  regellose 
Flucht  verwandelt.  Vergebens  sind  alle  Ermahnungen  der 
Fiihrer;  in  wilder  Verwirrung  stiirzen  die  Sachsen  durch  den 
Wald,  verfolgt  von  den  Kaiserlichen ,  welche  500  Reiter  und 
2000  Fussknechte  niedermetzeln ;  viele  werden  gefangen,  nur 
ein  geringer  Theil  rettet  sich  durch  die  Flucht  nach  Wittenberg. 
Der  Kurfurst  bleibt  in  Folge  seiner  Schwertalligkeit  auf  der 
Flucht  zuruck,  wird  von  den  Seinen  verlassen  und  fallt  nach 
tapferer  Gegenwehr  in  die  Hande  der  Feinde.  Seine  Ueber- 
winder  bringen  ihn  zum  Herzog  Alba;  dieser  fuhrt  ihn  vor 
den  Kaiser,  welcher  mit  seinem  Gefolge  mitten  im  Walde  Halt 
gemacht  hat.  Der  Kurfurst  wird  von  dem  Kaiser  in  der  be- 
kannten  barschen  Weise  abgefertigt  und  Spaniern  zur  Bewachung 
iibergeben;  seine  Haltung  nothigte  selbst  den  Fremden  Be- 
wunderung  ab. 

Den  Schluss  bildet  eine  Reflexion  iiber  die  Ursachen  der 
fur  den  Protestantismus  so  verhangnissvollen  Niederlage.  Der 
Verf.  findet  sie  mit  Recht  veranlasst  durch  grobe  militarische 
Fehler,  wie  Zersplitterung  des  Heeres  durch  Detachirungen,  Un- 
kenntniss  der  Bewegungen  des  Feindes,  uberhastige  Aufgabe  der 
vortrefflichen  Defensivposition  von  Muhlberg,  Zerfahrenheit  der 
Fiihrer  und  Disciplinlosigkeit  der  Untergebenen  bei  dem  Riiek- 
zugsgefecht. 

Ref.    schliesst    mit    dem   Wunsche,    dass    die    vorstehende 
Skizzirung  des  Inhaltes  dazu  beitragen  moge,  dem  von  besonnener 
Kritik  der  Quellen  zeugenden,  im  Detail  manches  Neue  bietenden 
Werke  die  Beachtung  zu  verschaffen,  welche  es  verdient. 
Berlin.  Dr.  R.  Rodenwaldt. 


LXXXIIL 
Read,  Ch.     Le  tigre   de  1560   reproduit  pour  la  premiere 
fois    en    fac-simile    d'aprds    Tunique   exemplaire  connu.     8°. 
(152  S.)    Paris  1875.     Academie  des  Bibliophiles. 

Die  „epistre  envoyee  au  Tigre  de  la  France"  ist  die  kiihnste 
und  bedeutendste  Streitschrifb,  welche  die  verfolgten  Reformirten 
dem  Cardinal  von  Lothringen  entgegenschleuderten ,  ein  furcht- 
barer  Wuthschrei   der  Gequalten.     Deren  Veranlassung  war  die 


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344  Read.  Le  tigre  de  1560. 

blutige  Rache  der  Guisen  fur  die  Verschworung  yob  Amboise, 
1560.  Das  Pamphlet  ward  sogleicli  unterdriickt ,  wer  es  besass 
oder  verbreitete,  getodtet.  Dennoch  fand  sich  1834  ein  einzig 
Exemplar  „de  ce  veritable  phenix" ;  die  Bibliophilen  bewundern 
sein  Schicksal:  1868  wurden  1400  Frks.  fur  die  7  Blattchen 
Papier  gegeben!  Wie  gespannt  war  man  auf  einen  Abdruck,  da 
der  erste  Besitzer  es  eifersiiclitig  in  seinem  Biicherharem  gehiitet, 
und  nur  durch  ein  Wunder  die  „epistre"  dem  Stadthausbrand 
in  Paris  (1871)  entgangen  war;  noch  Ariste  Vigaiet  (les  theories 
politiques  liberates)  eitiert  1879  nur  das  aus  dem  Dokument 
was  er  bei  Dareste  (essai  sur  Frangois  Hotman)  geiunden. 

Die  1400  Frks.  waren  ubrigens  weggeworfenes  Geld;  denn 
in  der  Bibliothek  des  im  Oktober  1878  verstorbenen  Professor 
Baum  entdeckte  und  erwarb  der  hiesige  Oberbibliothekar ,  Hen 
Professor  Barack,  ein  zweites  identisches  Exemplar,  von  dessen 
Dasein  sein  bisheriger  Eigenthiimer  selbst  nicht  wol  unterrichtet 
gewesen  sein  kann. 

Wir  wenden  uns  zu  der  kritischen  Arbeit  welche  Herr  Read 
seiner  Reproduction  beigefugt  hat.  Nach  einer  bibliographischen 
Einleitung  gibt  er  einen  typographisch  rectifieirten  Abdruck 
(setzt  z.  B.  dessein  f.  desseing,  guerroyeur  £  guerroier,  lasst  aber 
evesche,  desja,  comparoistre) ,  sodann  einen  bis  auf  den  Ipunfct 
getreuen.  Dann  folgt  ein  ins  Jahr  1561  (besser  1560  s.  u.)  ge- 
setztes  poetisches  Stiick  mit  Noten  von  Ed.  Tricotel  (Der  „Yere- 
tiger")  und  endlich  allerlei  historische,  literarische  und  biblio- 
graph.  Noten  zum  Ganzen.  Hier  finden  auch  die  Ansichten 
iiber  Verfasser,  Drucker,  Verhaltniss  zu  Cicero's  Catiliaarieu 
ihren  Platz. 

Ueber  den  Tigre  selbst,  iiber  diese  wenigen  Zeilen  gliihender 
Rede,  mit  denen  sich  in  der  Geschichte  der  Satyre  und  der 
Beredsamkeit  wenig  vergleicht,  kann  ich  hier  nicht  sprechen: 
der  Inhalt  ist  jetzt  fur  Jedermann  zuganglich  —  nur  will  ich  er- 
wahnen,  dass  Read  sich  die  Miihe  hatte  nehmen  sollen,  die 
Parallelen  bei  Cicero  vollstandiger  zusammenzutragen.  Schon 
Brantome  bemerkte  die  Aehnlichkeit,  und  das  ,jusques  a  quand 
sera-ce"  entspricht  freilich  dem  quousque  tandem  deutlich  genug; 
aber  der  Schluss  des  Tigers  ist  gleich  dem  Ciceronischen  quam- 
quam  quid  loquar — exilium  cogites;  ebenso  vergl.  si  tu  le  nies, 
je  te  convaincrai:  convincam  si  negas;  und  et  tu  vis  encore:  hie 
tamen  vivitl  vivit?  — 

Diese  Aehnlichkeit  hat  nur  geholfen,  die  Franzosen  in  ihrer 
irrigen  Ansicht  iiber  den  Verf.  des  Tiger  zu  bestarken.  Der 
bekannte  grand  ciceronien,  Franz  Hotman,  der  deutsch-freund- 
liche  Italienerf eind ,  der  grdsste  Jurist  unter  den  Reformirtea, 
der  Nebenbuhler  des  Cujas  —  dieser  wird  in  Frankreich  nnr 
umsomehr  allgemein  dafiir  gehalten;  eine  Ansicht,  die  man 
wenigstens  als  unbegriindet,  besser  noch  als  gewagt,  a$~ 
sehen  muss.  Aber  leider  gelten  auch  fur  das  heutige  Frank- 
reich  Darestes  Worte   wie   vor   300   Jahren:   „remarquons,  en 


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Kead,  Le  tigre  de  1560.  345 

passant,  que  tous  les  auteurs  catholiques  se  copient  entre  eux; 
on  peut  en  dire  autant  des  auteurs  protestants."  Wahrend  aber 
Dareste  selbst  noch  zweifelnd  gesagt  iiber  den  Verf.  „on  ne  le 
saura  jamais  avec  certitude/4  folgen  Haag  und  Viguiet  unselbst- 
standig  dem  Nodier,  wie  dieser  dem  Bayle,  und  Bayle  dem 
Balduin  —  und  Balduin  dem  Johann  Sturm.  Denn  was  die 
Sussere  Bezeugung  angeht,  so  stiitzt  man  sich  seit  Bayle  uberall 
auf  die  Worte  von  Hotmans  Todfeind,  des  Prof.  Franz  Balduin, 
der  1562  in  der  responsio  altera  ad  Calvinum  schrieb :  Hotmanus 

—  Tygrim  peperit,  und  der  sich  am  1.  Nov.  1563  noch  einmal 
fur  alle  seine  Angriffe  auf  Hotman  ausdriicklich  auf  Johann 
Sturms  Zeugniss  beruft.  (Bibliotheque  de  l'ecole  des  chartes, 
3.  serie,  5,  1854).  Und  ebenso  wie  Baudouin  ist  die  1562  er- 
schienene  religionis  et  regis  —  defensio  prima,  ad  senatum 
populumque  Parisiensem"  ganz  und  gar  von  Sturm  abhangig, 
der  Anfong  1561,  also  bald  nach  Erscheinen  des  (der  beiden  s.  u.) 
Tiger  geschrieben  hatte.  Aber  Sturm  sagt  ausdriicklich  nur: 
„ex  hoc  genere  tygris  immanis  ilia  bellica,  quam  tu  hie  (Argen- 
torati!)  divulgari  curasti":  divulgare,  was  mehrmals  im  selben 
Brief  vom  Ausstreuen  boser  Geriichte  gebraucht  wird,  niemals 
aber  die  Abfassung  involvirt.  Sturm  hatte  sicherlich  in  seiner 
damaligen  furchtbaren  Gereiztheit  gegen  Hotman  scripsisti  ge- 
setzt,  wenn  er  es  hatte  thun  konnen.  Leider  hat  sich  Sturm, 
wie  auch  sein  Zeitgenosse  Hubert  Languet  beklagte,  durch  jenen 
Brief  entsetzlich  blossgestellt ,  und  sein  Charakterbild  empfangt 
von  daher  die  fatalsten  Schatten.  Balduin  aber  hat  entweder 
Sturms  Worte  falsch  interpretirt ,  oder  absichtlich  sie  falsch 
gedeutet ,  wie  er  ja  auch  den  Unsinn  nicht  scheute ,  einen  Hot- 
man  des  Atheismus  anzuklagen. 

Auch  aus  einem  andern  Grund  kann  Hotman  den  Tiger 
nicht  geschrieben  haben:  am  15.  Marz  eklatirte  die  conjuratio 
Ambosiana,  am  23.  Juni  1560  wurde  der  Buchdrucker  L'hommet 
(L'homme)  festgenommen ,  weil  er  das  Pasquill  feilgehalten  (die 
Anklage  sagte  „gedruckt",  woran  auch  aus  andern  Griinden  mit 
Taillandier  festzuhalten  ist).  Was  muss  nun  nicht  Alles  zwischen 
beide  Data  fallen,  so  dass  man  gliicklich  sein  wird,  die  paar  Wochen 
zu  ersparen,  welche  die  Annahme  eines  auswarts  lebenden  Autors 

—  Hotman  war  danlals  in  Strassburg  —  ausserdem  noch  verlan- 
gen  wiirde. 

Ueberdies  war  auch  Hotman  durchaus  nicht,  wie  fast  alle 
Franzosen  frischweg  behaupten,  der  einzige  unter  den  damaligen 
reform.  Schriftstellern,  der  eine  so  tragische  Eloquenz  hatte  ent- 
falten  konnen.  Seine  Briefe  sind  pikant,  knapp,  geistreich,  aber 
seine  sonstigen  Schriften  neigen  zur  Breite,  in  hoherem  Grade 
als  wir  das  in  der  Legende  du  Cardinal  de  Lorraine,  bei  La 
Planche,  bei  Beza,  und  sonst  finden.  Und  noch  ein  entscheiden- 
derer  Umstand:  Msr.  Tricotel  hat  bei  Bead  den  „Verstigeru 
abgedruckt  und  sagt  dariiber:  „ie  Tygre  en  vers  n'est  autre 
chose  que  la  traduction  ou  plutot  la  paraphrase  rimee  de  TEpistre 

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-*r> 


346     Bresslau  und  Isaac  sohn,  Der  Fall  zweier  preossischer  Minister. 

etc.  —  une  simple  traduction."  Nichts  ist  aber  weniger  wahr  als 
das  I  Vor  Allem  nennt  der  kiihnere  Verstiger  iiberall  Namen, 
und  dann  ist  v.  149 — 311  mit  Ausnahme  von  zweimal  drei  Zeilen 
ein  vollkommenes  Einschiebsel,  eingekerbt  in  die  iibrigen  Zeilenr 
welche  mot  a  mot  dem  Prosatiger  entsprechen.  Von  360  Versen 
sind  also  etwa  160  keine  Version! 

Ich  muss  mich  kurz  fassen:  was  wir  in  dieser  —  fur  die 
Franzosen  nicht  vorhandenen  —  Zuthat  lcsen,  nicht  minder  wie 
der  Inhalt  des  Prosatigers,  findet  sich  nach  Form  und  In- 
halt  wieder  vor  Allem  in  der  Unterredung  zwischen  La  Planche 
und  Katliarina  von  Medici,  von  welcher  die  Untersuchung  ans- 
zugehen  hat ,  ob  man  nun  dem  La  Planche  oder  dem  ziemlich 
abweichenden  De  Thou  folge;  findet  sich  in  der  duplication 
et  remonstrance ",  welche  die  Protestanten  dem  Konig  Anton  in 
Nerac  iiberreicht  haben  sollen  (Conde,  mem,  Ausgabe  Dubosc  1, 490); 
findet  sich  vor  Allem  in  der  (S.  345  u.)  citirten  legende:  lanter 
Schriftstiicke,  die  erweislich  aus  La  Planches  Feder  geflossen  sincL 
Wahrscheinlich  diirfen  wir  auch  die  complainte  au  peuple 
Frangois  und  das  advertissement  au  p.  Fr.  hierher  beziehen, 
Ueberhaupt  ist  jede  Zeile  des  Tigers  ein  Extrakt  der  histoire 
de  l'etat  etc.  von  La  Planche,  und  hier  walten  nicht  nur  all- 
gemeine  Aehnlichkeiten  wie  mit  jedem  antiguisischen  Schriftstiici, 
sondern  die  Reihenfolge  und  die  Form  der  Gedanken  ist  vid- 
fach  dieselbe. 

Bedenkt  man,  dass  La  Planche  der  anerkannte  offizielle  Yer- 
treter  der  Staatshugenotten  (homme  politique  plustost  que 
religieux  nennt  er  sich  selbst)  war,  und  dass  er  von  einer 
wahren  Guisomanie  beseelt  erscheint ,  endlich  wie  klug  er  Tom 
Tygre  spricht,  und  doch  wie  unterrichtet  —  nur  seine  histoire 
und  die  legende  (von  ihm)  nennen  den  L'hommet  wirklich  als 
D  r  u  c  k  e  r  —  so  ist  er's  in  erster  Linie,  den  man  als  Verfoffler 
des  Tigers  vermuthen  darf. 

Auch  finde  ich  keinen  Grund  zu  bezweifeln,  dass  der  Vers- 
tiger von  demselben  Verf.  stammt ;  er  miisste  jedenfalls  zwischen 
der  Gefangennahme  der  Bourbonen  in  Orleans  (30.  Oktbr.  1560)r 
Tigre  v.  176  —  und  der  Erhebung  Antons  zum  General- 
lieutenant  (12.  Dez.)  und  dem  ganzen  damaligen  Umschwung 
veroffentlicht  sein,  also  im  November  1560.  — 

Strassburg.  Dr.  L.  SchiideL 

LXXXIV. 
Bresslau,  Harry  und  Siegfried  Isaacsohn.  Der  Fall  zweier 
preU88J8Chen  Minister,  des  Ober-Prasidenten  E.  v.  Dankelmann 
1697  und  des  Grosskanzlers  C.  J.  W.  v.  Fiirst  1779.  Studien 
zur  brandenburgisch  -  preussischen  Geschichte.  Berlin,  1878. 
Weidmannsche  Buchhandlung.     2  M. 

Der  Verf.  der  ersteren  Abhandlung  will  keineswegs  ein  ganz 
neues  Bild  von  den  Vorgangen  geben,  wohl  aber  —  gestiitzt  sat 
die  Berichte  der  hannoverschen  Diplomaten  Bten  und  du  Cm 


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Bresslau  mid  Isaacsohn,  Der  Fall  zweier  preussischer  Minister.     347 

sowie  auf  Aufzeichnungen  des  Berliner  Hausarchivs  und  die 
Memoiren  des  Grafen  Podewils  —  manche  Einzelheiten  praciser 
bestimmen  und  die  der  Katastrophe  vorausgehenden  Ereignisse 
genauer  verfolgen.  Er  weist  zunachst  darauf  hin,  dass  Dankel- 
mann  bereits  1691  wegen  einer  „Creatur  der  Kurfiirstin"  (des 
Frl.  v.  Krosigk)  zu  derselben  in  Opposition  gerieth,  so  dass 
Sophie  Charlotte  stets  seine  Gegnerin  blieb,  umsomehr  als  sie 
—  wie  Leibnitz  angiebt  —  eine  Zeit  lang  ohne  alien  Einfluss 
war  und  Dankelmann  ihr  nicht  nur  die  Gelder  zu  ihrem  Hof- 
staate  sehr  knapp  bemass,  sondern  ihr  sogar,  angeblich  wegen 
iiberhaufter  Geschafte,  nicht  einmal  seine  Aufwartung  machte. 
Dieser  Gegensatz  wurde  verscharft  dadurch,  dass  die  Kurfiirstin 
bei  der  Wahl  eines  Informators  fur  ihren  Sohn  mit  ihrer  An- 
sicht  gegen  Dankelmanns  Einfluss  nicht  durchdrang:  wahrend 
sie  durchaus  der  damals  herrschenden  franzosischen  Richtung 
huldigte,  hatte  der  Informator  (Kramer)  eine  scharfe  Abhandlung 
gegen  die  Nachaffung  franzosischer  Sitten  und  die  Ueberschatzung 
der  franzosischen  Litteratur  geschrieben.  War  so  Dankelmann 
mit  der  Kurfiirstin  vollstandig  zerfallen,  so  verdarb  er  es  mit 
dem  Kurfiirsten,  indem  er  auch  ihm  vielfach  die  Mittel  zu  Fest- 
lichkeiten  etc.  vorenthielt,  wahrend  zugleich  seine  eigene  Hand- 
habung  der  Finanzen  keine  geschickte  und  gliickliche  war,  wie 
selbst  seine  Freunde  zugaben.  Ueberhaupt  trat  er  dem  Fursten, 
seinem  friiheren  Schiiler,  zu  selbstandig  und  zu  sehr  „en  peda- 
gogue" gegeniiber,  um  denselben  nicht  zu  verletzen.  Dazu  kam, 
dass  er  in  den  „chimarischen  Planen  wegen  der  Konigswiirde 
vollstandig  contradicirte"  und  sich  ohne  Zweifel  dadurch  den 
Kurfiirsten  entfremdete.  Den  letzten  Stoss  gab  dann  der  Miss- 
erfolg  zu  Ryswik,  die  krankende  Behandlung  der  branden- 
burgischen  Gesandten  eben  daselbst,  die  Versagung  der  ausseren 
Ehren,  auf  die  damals  so  viel  Werth  gelegt  wurde  u.  s.  w.; 
kein  Wunder  also,  dass  der  Kurfurst  Dankelmann  schliesslich  fallen 
liess.  Ueber  die  Einzelheiten  des  Sturzes  ist  Naheres  in  der 
Abhandlung  selbst  nachzulesen;  wir  bemerken  hier  nur,  dass 
die  dargeBtellten  Ereignisse  die  auch  sonst  bekannten  Zustjande 
des  damaligen  brandenburgischen  Hofes,  wie  die  Unzuverlassigkeit 
und  den  Wankelmuth  des  Kurfiirsten,  die  Lust  am  Intriguiren 
bei  sammtlichen  einflussreichen  Personen,  das  Eingreifen  fremder 
Machte  u.  s.  w.  sattsam  illustriren. 

In  ganz  andere  Verhaltnisse  versetzt  uns  die  zweite  Ab- 
handlung, welche  den  Sturz  des  Grosskanzlers  v.  Ftirst  bespricht, 
indem  sie  denselben  „historisch  oder  vielmehr  psychologisch"  zu 
erklaren  sucht,  da  ja  die  Stellung  dieses  hochgestellten  und  ver- 
dienten  Beamten  zur  Arnoldschen  Angelegenheit  eine  so  feme  und 
neutrale  war,  dass  sein  plotzlicher  und  jaher  Fall  Wunder  nehmen 
muss.  Der  Verfasser  weist  nun  nach,  wie  es  Fiirst  an  der 
nothigen  Energie  und  Rucksichtslosigkeit  sowie  an  aller  Initiative 
gefehlt  habe,  so  dass  in  Folge  dessen  der  Konig  ihm  einerseits 
Saumseligkeit ,   Verschleppung  von  Processen   und   allzu   grosse 

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348  Lehmann,  Preusaen  mid  die  katholische  Kireke  seit  1640. 

Milde  gegen  angesehene  Personen  vorwarf ,  andererseits  es  ihm 
iibel  nahm,  dass  er  keine  Reform- Vorschlage  ausarbeitete,  son- 
dern  nur  die  von  anderer  Seite  (vom  Freihern  v.  Carmer)  ein- 
gereichten  zweimal  ablebnte,  wahrend  Friedrich  Reformen  fur 
ausserst  notbwendig  erachtete,  da  „die  Justiz  wieder  anfange 
einzuschlafen".  In  dieser  Anschauung  wurde  der  Konig  durch 
mancherlei  Klagen  bestarkt,  die  ibm  zu  Ohren  kamen;  eben 
darauf  bin  scbien  der  seit  1773  scbwebende  Arnoldscbe  Process 
zu  weisen.  Dazu  kam,  dass  das  Kammergericbt  einfacb  das  erste 
Erkenntniss  bestatigte,  obne  iiber  die  Griinde  seiner  Entscheidung 
dem  Konige,  der  die  Sache  schon  durcb  den  Oberst  v.  Heuking 
batte  untersucben  lassen,  Bericht  einzusenden  oder  auch  nur 
ihm  das  Erkenntniss  mitzutheilen,  und  dass  sogar  auf  des  Konigs 
sohriftlicbe  Frage,  warum  man  so  erkannt  habe,  der  President 
v.  Kebeur  —  zwar  richtig,  aber  wenig  angemessen  —  antwortete: 
es  sei  so  erkannt,  und  das  miisse  dem  Konige  geniigen!  Fiirst 
macbte  nach  des  Verfassers  Ansicht  einen  doppelten  Fehler: 
zuerst,  als  Friedrich  erneuete  Untersucbungen  verlangte,  hielt 
er  sich  vollkommen  passiv,  wahrend  er  die  Sache  hatte  selbst 
vornebmen  und  den  Konig  dariiber  aufklaren  miissen,  um  dessen 
aus  Misstrauen  gegen  die  Justiz  hervorgegangene  Anschauungen 
zu  rectificiren;  nachher  aber,  als  die  Mitglioder  des  Gerichts 
wegen  ihres  Sprucbs  vorgefordert  burden  und  er  —  der  dabei 
nicht  personlich  betheiligt  war  —  sich  hatte  passiv  verhalten 
sollen,  mischte  er  sich  unaufgefordert  mit  einer  nebensachlichen 
Bemerkung  ein,  so  dass  nun  der  Grimm  des  Konigs  und  sein 
lange  verhaltener  Unwille  iiber  des  Grosskanzlers  mannigfache 
Versaumnisse  sich  gegen  denselben  entlud.  Seine  Entfernung 
war  ohne  Zweifel  liingst  beschlossene  Sache  und  —  da  er  zu 
den  geplanten  Reformen  nicht  die  Hand  bieten  wollte  —  gerecht- 
fertigt :  iiber  die  harte  und  plotzliche  Art,  in  der  sie  stattfand, 
ist.wohl  weiter  keine  Bemerkung  nothig,  doch  erklart  sich  das 
Vorgehen  des  Konigs  durch  die  angegebenen  Umstande  hinlanglich, 
so  dass  es  nicht  mehr  so  unmotivirt  und  unbegreiflich  erscheint, 
als  das  friiher  der  Fall  war.  Dr.  F.  Voigt 

LXXXV. 
Lehmann,  Max,  Preussen  und  die  katholische  Kirche  seit  1640. 

Nach  den  Acten  des  Geh.  Staats-Archivs.     Th.  I.  Von  1640  bis 

1740.     Veranlasst  und  unterstutzt  durch  die  Konigl.  Archiv- 

Verwaltung.  Lex.  8.  (XIV.  916  S.).  Leipzig  1878.  S.  Hirzel.  15  E 

Mit   dem   im  Titel  genannten  Werke   wird   eine  Serie  von 

historischen  Publikationen   eroffnet,    die,  auf  Betrieb    und   mit 

Unterstutzung     der    Direktion    der    Preussischen    Staatsarchive 

unternommen,  dazu  bestimmt  sind,  den  Urkunden-Schatz  dieser 

Archive  der  gelehrten  Welt   sei  es  im  Original,   sei  es,  wo  der 

Stoff  zu  sehr  anwachst,  im  Begest  oder  aber  in  Bearbeitungen  zu 

unterbreiten.     Der   von  dem  Direktor  der  Staats- Archive ,  Geh. 

Bath  v.  Sybel,   dem  1.  Bande  des  Lehmannschen  Works  voran- 


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Lehmann,  Preussen  und  die  katholische  Kirche  seit  1640.         349 

geschickte  Prospekt  gibt  Auskunft  iiber  den  Umfang  und  die 
Art  dieser  Publikationen  und  eroffnet  die  Aussicht,  dass  hier 
nach  10 — 15  Jahren  ein  mannichfach  auseinandergehendes,  doch 
durch  Eine  grosse  und  richtige  Idee  zusammengehaltenes  Ganze 
vorliegen  wird,  das  dazu  dienen  wird ,  der  Forschung  unseres 
Jahrhunderts  auf  dem  Gebiete  vaterlandischer  Gescbichte  eine 
eben  so  sichere  wie  umfassende  Unterlage  zu  bieten.  Die  Pu- 
blikationen werden  sich,  nach  dem  Prospekt,  vom  friihesten  Mittel- 
alter  bis  in  die  neueste  Zeit,  in  lokaler  Beziehung  von  den 
Gebieten  an  der  russisch-polnischen  Grenze  bis  zur  Mosel  und 
Maas,  in  sachlicher  iiber  das  gesammte  Gebiet  der  Geschichte 
und  ihrer  Hiilfswissenschaften  erstrecken  und  somit  nicht  nur 
fur  den  Geschichtsforscher  und  Darsteller,  sondern  auch  fur  deu 
praktischen  Staatsmann,  den  Verwaltungsbeamten  und  den  Juristen 
den  Punkt  bilden,  auf  den  sie,  ein  jeder  in  seiner  Art  und  nach 
seinen  Zielen,  unablassig  werden  zuriickkommen  miissen.  Ungern 
und  nur  im  Bewusstsein  an  einem  andern  Ort  eingehender  auf 
die  Bedeutung  des  grossartigen  Unternehmens  schon  in  nachster 
Zeit  zuriickkommen  zu  diirfen,  versagt  es  sich  Referent,  hier  auf 
Einzelheiten  einzugehen. 

Wenden  wir  uns  zu  der  ersten  hier  vorliegenden  Publikatiou, 
Band  1.  des  auf  3  Bande  berechneten  Lehmann'schen  "Werks,  so 
konnen  wir  dasselbe  nicht  kiirzer  charakterisiren ,  als  der  Ver- 
fasser  es  selbst  in  seiner  Einleitung  mit  den  Worten  thut:  Das 
Werk  enthalt  eine  Sammlung  von  Urkunden  und  eine  aus  diesen 
geschopfte  Darstellung.  Fiir  diese  wurde  auch  das  gedruckte 
Material  verwerthet.  Die  vollstandige  Wiedergabe  bereits  ver- 
offentlichter  Documente  erschien,  wenn  dieselben  sich  in  leicht 
zuganglichen  Schriften  befanden,  nicht  erforderlich;  in  diesem 
Fa  He  wurden  aber  die  fur  die  Beweisfuhrung  entscheidenden 
Stellen  in  die  Anmerkungen  aufgenommen.  Sagen  wir  gleich  hier, 
ehe  wir  auf  Gliederung  und  Inhalt  des  Bandes  eingehen,  dass 
es  dem  Verfasser  gelungen  ist,  die  aus  den  Urkunden  geschopfte 
Darstellung  so  knapp  und  pracis  und  doch  so  anschaulich  und 
iibersichtlich  zu  gestalten,  dass  sie  in  jeder  Beziehung  seinen 
Mitarbeitern  und  Nachfolgern  als  Vorbild  gelten  kann. 

Auf  diese  Art  wird  auch  dem,  der  sich  in  kurzer  Zeit  iiber 
alle  wesentlichen  Punkte  der  Entwickelung  der  kirchlichen  Dinge 
in  Preussen  unterrichten  will,  die  beste  Gelegenheit  dazu  ge- 
boten.  Das  Bild  dieser  Entwickelung,  wie  es  hier  an  der  Hand 
der  Urkunden  gezeichnet  wird,  diirfte  von  der  spateren  Dar- 
stellung kaum  mehr  in  einem  wesentlichen  Punkte  geandert 
werden. 

Der  Band  zerfallt  in  zwei  Biicher:  B.  I.  Bis  zum  Tode 
des  grossen  Kurfiirsten,  B.  II.  Die  beiden  ersten 
K  6  n  i  g  e ,  jedes  Buch  wieder  in  zwei  Abschnitte  und  einen 
Urkundentheil.  Der  crste  Abschnitt  des  ersten  Buches:  Bis 
zum  Regierungsantritt  des  gr.  Kurfiirsten  besteht 
aus  6  Paragraphen:    1.  Brandenburg  und  die  Hohenzollern  vor 


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350  Lehmann,  Preussen  und  die  katholische  Kirche  aeit  1640. 

der  Reformation,  2.  die  Reformation  in  Brandenburg,  3.  Ueber- 
tritt  des  Herrscherhauses  zum  Calvinismus,  4.  Entwickelung  der 
kirchliclien  Verhaltnisse  in  den  Landern  der  jiilich-klevischen 
Erbschaft,  5.  Untergang  und  Erneuerung  der  romischen  Kirche 
in  Preussen,  6.  Stillstand.  Der  zweite  Abschnitt:  der  grosse 
Kurfiirst  zahlt  9  Paragraphen:  1.  Personliche  Ueberzeugung 
des  Kurfursten,  2.  der  westtalische  Friede,  3.  und  4.  Kleve,  Mark, 
Ravensberg,  5.  Magdeburg,  Halberstadt,  Minden,  6.  Brandenburg, 
Pommern,  7.  Preussen,  Lauenburg,  Btttow,  Draheim,  8.  Die  drei 
letzten  Jahre  des  gr.  Kurfursten,  9.  Ergebniss.  Dazu  ein  Ur- 
kundentheil  von  311  Urkunden  und  Regesten. 

Der  erste  Abschnitt  des  2.  Buches  behandelt  Friedrich  I. 
in  4  Paragraphen:  1.  Gesinnung  des  Herrschers.  Das  erste 
Jahrzehnt  seiner  Regierung.  2.  Die  Krone.  3.  Lingen.  Re- 
pressalien  zu  Gunsten  auswartiger  Protestanten.  4.  Weitere  Er- 
werbungen.  Freundliche  und  feindliche  Beriihrungen  mit  der 
romischen  Kirche;  der  zweite  Friedrich  Wilhelm  I  in 
6  Paragraphen:  1.  Seine  Gesinnung.  2.  Geldern,  Lingen  und 
den  Kampf  fur  die  pfalzer  Protestanten.  3.  Die  Ruckwirkung 
des  Blutbads  von  Thorn,  Vicariat  des  Abts  von  Huisburg.  4  Vi- 
cariat  des  Abts  von  Neu-Zelle.  5.  Letzte  Jahre.  6.  Schluss. 
Dazu  ein  Urkundentheil,  der  die  Nummern  312 — 998  enthalt. 

Man  konnte  vielleicht  mit  dem  Verf  dariiber  rechten,  dass 
er  anscheinend  iiber  den  Rahmen  des  ihm  gesteckten  Ziels  hin- 
aus-,  und  zu  weit  znriickgehe,  wenn  er  seine  Darstellung  mit  dem 
Beginn  der  Hohenzollern  anhebt  und  bei  der  Entwickelung  der 
Reformation,  dem  Uebertritt  der  Dynastie  zum  Calvinismus  und 
ihrer  Stellung  zu  den  Lutheranern  langere  Zeit  verweilt.  Doch 
mit  vollem  Rechte  wiirde  er  uns  das  entgegnen ,  was  wir  jetzt 
aus  seiner  Darstellung  jener  ersten  Zeiten  herauslesen:  dass  sich 
in  dieser  Dynastie  und  in  dem  Staate,  den  sie  schuf,  schon  im 
16.  Jahrhundert  eine  ganz  bestimmte  und  unterschiedliche,  nicht 
nur  politische,  sondern  auch  religiose  Anschauung  heraus- 
bildete,  die  in  ihren  wesentlichsten  Punkten  im  Lauf  der 
Jahrhunderte  unverandert  geblieben  ist,  und,  mochte  auch  der 
Eine  und  Andere  warmer  fur  die  Ausbreitung  seines  personlichen 
Bekenntnisses  empfinden,  doch  stets  zwei  Punkte  voranstellte: 
die  voile  Autoritat  des  in  der  Person  des  Fiirsten  verkorperten 
Staates  iiber  alle  Unterthanen  ungeachtet  ihres  Bekenntnisses 
neben  der  eben  so  ganzlichen  und  unbeeintrachtigten  Glaubens- 
freiheit  des  Individuums.  „Die  Souveranitat  des  Staates  gegenuber 
der  Kirche",  spricht  dies  L.  (S.  439)  aus,  „soweit  sie  Rechts- 
anstalt  war,  stand  ebenso  fest  wie  die  „„Freiheit"u  der  letz- 
teren,  insofern  sieHeilsanstalt  war.  Noch  immer  (urn  1740) 
war  der  Staat  der  Hohenzollern  weit  iiberwiegend  von  Prote- 
stanten bevolkert;  noch  immer  trat  die  ^ntschieden  prote* 
stantische  Gesinnung  der  Herrscher  in  dem  Bestreben  zu  Tage, 
eine  weitere  raumliche  Ausbreitung  des  romischen  Bekenntnisses 
zu  hindern".     Also  gegenuber  den  Uebergriffen  und  Vergewalti- 

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Lehmann,  Preussen  und  die  katholische  Kircho  seit  1640.         351 

4jungen  des  kaiserlichen  Hofes,  der  Pfelz-Neuburger ,  der  Curie 
und  ihrer  Nuntien  in  Deutschland  sebr  entschiedene  Retorsions- 
massregeln,  die  den  Papst  zu  Rom  (gelegentlich  des  Einmarsches 
kgl  preussischer  Truppen  1708  in  sein  Gebiet)  mehr  als  einmal 
zittern  machten.  Gegen  den  sich  unter  allerhand  Verhiillungen 
einschleichenden  Jesuitismus  und  die  Proselytenmacherei  die 
scharfsten  Verordnungen ,  dabei  aber  der  Schutz  jedes  einzelnen 
im  Staatsverband  befindlichen  Katholiken  in  seinen  religiosen, 
genau  so  wie  in  seinen  staatlichen  Rechten.  Und  mehr  noch,  aus 
jenem  lautern  Prinzip  der  Toleranz  heraus  die  Befreiung  der 
Katholiken,  da  wo  ihres  Bleibens  nach  den  Bestimmungen  des 
westfalischen  Friedens  nicht  gewesen  ware,  von  den  beschwer- 
lichsten  Fesseln.  Die  Freiheit  zur  Ausiibung  ihres  Cults,  zur 
Befolgung  aller  durch  ihre  Kirche  ihnen  vorgeschriebenen  Gebote 
und  Verpflichtungen.  Freilich  fiihrte  das  Vorhandensein  einer 
fast  ausschliesslich  katholischen  Bevolkerung  in  Geldern,  in  Lingen, 
von  Monchs-  und  Nonnenklostern  dort  und  in  Minden  und  Halber- 
stadt  bei  der  Anmassung  der  Curie  und  ihrer  Legaten,  iiber  alle 
katholischen  Unterthanen  Preussens  in  dem  weitgedehnten  Ge- 
biet des  Kirchenrechts  nicht  nur  unbedingt  erkennen,  sondern 
ihre  Erkenntnisse  auch  selbstandig  vollstrecken  zu  lassen,  mit 
Nothwendigkeit  zu  Conflikten  mit  der  weltlichen  Gewalt,  die  seit 
den  Zeiten  Friedrichs  des  III  ihr  jus  circa  sacra  fast  genau  wie 
gb  heute  noch  gilt  festgestellt  hatte  und  viel  lieber  bereit  war, 
ihre  katholischen  Unterthanen  noch  ferner  in  geistlichen  Dingen 
unter  der  Kontrolle  auswartiger  Diocesanbischofe,  (so  derer  von 
Utrecht,  Miinster,  Osnabruck,  Hildesheim)  zu  belaesen,  als  den  ex- 
orbitanten  Forderungen  des  Papstes  auf  Bestellung  eines  nur  von 
ihm  abhangigen  Legaten  fur  Brandenburg-Preussen  nachzugeben. 
Der  Kampf  um  diesen  Punkt,  das  Abhangigkeitsverhaltniss  des 
von  Friedrich  I.  wie  seinem  Nachfolger  erstrebten  „Generabikarsu 
von  dem  Konige  resp.  dem  Papst  wahrte  fast  die  ganze  Zeit 
vom  Anfeng  des  Jahrhunderts  bis  1740,  um  zuletzt  ohne  irgend 
welchen  Erfolg  zu  enden.  Denn  lieber  verzichteten  die  Konige 
auf  die  Bestellung  eines  Boamten,  der  statt  ein  Weihbischof  zu 
sein,  ein  Werkzeug  in  der  Hand  der  Curie,  der  Mittelpunkt  aller 
Machinationen  gegen  die  Kirchenpolitik  des  Staats  geworden 
ware;  und  sie  konnten  dies  um  so  eher  thun,  als  mit  jedem 
Jahrzehnt  mehr  die  Macht  und  das  Ansehen  des  autokratischen 
Konigthums  in  Preussen  stieg,  die  des  Papstes  in  Europa  abnahm, 
sis  die  Katholiken  selbst  jetzt  wie  funfeig  Jahre  vorher  aner- 
kannten,  dass  dieser  protestantische  Staat  ihnen  alle  die  Freiheit 
gewahre,  auf  die  sie  fuglicherweise  Anspruch  tmachen  konnten. 
Diese  Lage  anderte  sich  mit  dem  Augenblick,  wo  durch  den 
ersten  schlesischen  Krieg  eine  grosse  reiche  katholische  Provinz 
mit  dem  Lande  vereinigt  wurde,  deren  Hinzutritt  das  Verhaltniss 
der  Katholiken  zu  den  Evangelischen  von  vorher  1 :  24  auf  8 :  24 
oder  1:3  brachte,  einer  Provinz,  die  in  geistlicher  Beziehung 
unter   der  Leitung   des  Bischofs   von  Breslau   stand  und  gerade 

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352         Stadelmann,  Friedrich  Wilhelm  I.  in  seiner  Thatigkeit  etc. 

in  den  ersten  Zeiten  mit  doppelter  Vorsicht  behandelt  gein 
wo  lite.  Die  Entwickelung  dieser  Frage  zur  Zeit  Friedrichs  des 
Grossen  ist  dem  2.  Bande  des  Werkes  vorbehalten,  dessen  Er- 
scheinen  nach  hoffentlich  nicht  gar  zu  langer  Frist  wird  be- 
grii88t  werden  konnen. 

Berlin.  _____  Dr.  Isaacsohn. 

LXXXV. 
Stadelmann,  Rud.,  Kgl.  Oeconomie-Rath,  Friedrich  Wilhelm  I.  in 
seiner  Thatigkeit  fUr  die  Landeskultur  Preussens.    Publi- 
cationen  aus   den  KgL  Preussischen  Staatsarchiven.    Band  II 
Lex.  8.  (X,  388).     Leipzig  1878,  S.  HirzeL     9  M. 

Wenn  Ref.  die  Lehmann'sohe  Publikation  eben  als  muster- 
giiltig  bezeichnet  hat,  so  wiirde  Verf.  des  im  Titel  genannten 
Werks  wol  daran  gethan  haben,  mit  seiner  Publikation  zu  warten, 
bis  er  Art  und  Methode  jener  ersten  griindlich  studiert  hatte, 
um  sie  in  seiner  eigenen  gleichfalls  anzuwenden.  Da  die  „Mit- 
theilungen"  nicht  der  Kritik,  sondern  nur  der  Berichterstattung 
gewidmet  sind,  so  geniige  es  hier  vorweg  zu  bemerken,  dass 
Sy8temlo8igkeit  und  der  Mangel  an  stiUstischer  Gewandtheit 
St.'s  Buch  zu  einer  beschwerlichen  Lecture  gestalten.  Daneben 
ist  freilich  anerkennend  hervorzuheben ,  dass  es  dem  Vert  ge- 
lungen  ist,  eine  Reihe  von  Urkunden  und  Akten  zusammenzu- 
bringen ,  die,  obgleich  sie  die  Riesenthatigkeit  Fr.  Wilhelm's  des 
Ersten  auf  dem  Gebiet  der  Landeskulturgesetzgebung  bei  weitem 
nicht  erschopfen,  dennoch  dem  Laien  wenigstens  einen  Einblick 
in  diese  Thatigkeit  gewahren  werden. 

Die  Halfte  des  Bands  etwa  entfallt  auf  die  Darstellung,  die 
Halfte  auf  die  Urkunden;  doch  sind  auch  jener  Halfte  fort- 
laufend  urkundliche,  oft  sehr  ausfuhrliche  Anmerkungen  als  Beleg- 
stellen  beigegeben,  die  zum  Theil  in  dem  Urkunden- Abschnitt 
sich  in  ihren  Zusammenhangen  noch  einmal  finden  und  soweit 
fuglich  fortbleiben  konnten. 

Die  Darstellung  umfasst  20  Abschnitte,  die  Domanenwesen, 
gutsherrlich-bauerliche  Verhaltnisse,  Landesmelioration  im  weite- 
sten  Sinn  des  Worts,  Handel-  und  Gewerbegesetzgebung  wenigstens 
skizzenweise,  Gartenbau,  Seidenbau,  Baumzucht,  Pferdezucht  und 
die  landwirthschaftliche  Statistik  behandeln.  Daran  schliessen  sich 
neunzig  Aktenstiicke,  Berichte,  Mandate,  Instructionen,  Protocolle 
und  Vertrage,  deren  erste  noch  in  die  Zeit  Friedrichs  L,  die 
Jahre  1700 — 1713,  zuriickreichen ,  und  deren  letztes  aus  dem 
Sommer  1739  datirt.  Sie  alle  sind  ein  Beweis  von  der  uner- 
miidlichen  Thatigkeit  und  Sorgfalt  des  Konigs  fur  die  Wieder- 
aufnahme  des  durch  Krieg,  Pest,  Elementarunfalle  und  Miss- 
wirthschaft  heruntergekommenen  Landes,  wie  gleichzeitig  von 
der  rauhen,  jeden  Widorspruch  ausschliessenden  Energie,  mit 
der  er  das  einmal  fur  gut  Befundene  durchzufiihren  gewohnt 
war.  Den  Hauptnachdruck  legte  er  auf  die  Bevolkerung  der 
verodeten  Provinzen,  Preussen,  Pommern,  der  Neumark,  darch 


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Stadelniann,  Friedrich  Wilhelm  I.  in  seiner  Th&tigkeit  et€.         353 

Kolonisten  und  selbstandige  Bauern.  Tausende  von  s.  g.  wiisten 
Flecken,  die  im  Laufe  des  17.  Jahrhunderts  von  den  adligen 
Vasallen  eingezogen  waren,  wurden  wieder  an  Bauern  ausgethan, 
ebenso  in  den  Aemtern  tausende  von  Bauern,  theils  auf  Vor- 
werken,  theils  in  Rodungen,  theils  in  wiisten  Dorfern  angesetzt, 
iiberall  die  Leistungen  des  Bauern  zu  seinen  Einkiinften  in  ein 
moglichst  gerechtes  und  festes  Verhaltniss  gesetzt.  Schon  1724, 
eilf  Jahre  nach  seinem  Regierungsantritt ,  4  Jahre  nach  dem 
Stockholmer  Frieden,  kann  er  iiber  Pommern  an  Leopold  von 
Dessau  schreiben:  „Im  platten  Lande  in  Vorpommern  siehet  es 
gut  aus  Die  Leute  und  Edelleute  klagen  nicht.  Alles  wird 
aufgebaut.  In  meinen  dortigen  Aemtern  habe  9  wiiste  Bauera- 
hofe  noch,  die  jetzt  in  vollem  Umbau  sind;  also  in  Zeit  von 
etlichen  Monaten  da  nichts  mehr  wiiste  habe".  Bekanntlich 
gelang  es  ihm  in  der  doppelten  Zeit,  das  1713  einer  Einode 
gleichende  Ostpreussen,  vornamlich  dessen  ostliche  Halfte, 
Litthauen,  wieder  zu  einem  bliihenden,  auch  fur  den  Fiscus  ein- 
traglichen  Lande  zu  gestalten.  Als  eine  Probe  fiir  die  Art,  seine 
Reformma8sregeln  anzukiindigen  und  durchzufuhren  wie  fur  die 
Schatzung  des  Individuums ,  zumal  des  Bauern,  mag  hier  eine 
Stelle  aus  einem  Erlass  des  Konigs  von  1738  dienen,  (S.  80.) 
der  den  Pachtern  und  deren  Schreibern  untersagt,  die  Amts- 
unterthanen  bei  ihren  Hofediensten  mit  Peitschen-  oder  Stock- 
schlagen  anzutreiben  und  iibel  zu  traktiren.  Der  Erlass  ist  an 
alle  Kriegs-  und  Domanen-Kammern  gerichtet,  excl.  der  Preussi- 
schen  und  Litthauischen,  „da  das  Volk  dort  noch  gar  zu  faul 
und  gottlos  ist".  „Wenn  wir  nun  aber  dergleichen  Barbarisches 
Wesen,"  heisst  es  dort,  „die  Unterthanen  mit  priigeln  oder 
peitschen  wie  das  Vieh  anzutreiben  absolut  nicht  haben,  noch 
ferner  gestattet  wissen  wollen;  also  ordnen  und  befehlen  Wir 
hierdurch  alles  Ernstes,  dass  —  von  nun  ab  und  sobald  diese 
Ordre  publiciret  seyn  wird,  kein  Pachter,  noch  deren  Schreibers 
die  Unterthanen  bei  denen  Hofdiensten  mit  Peitschen  und  Stock- 
schlagen  anzutreiben  sich  unterstehen,  sondern  falls  die  Unter- 
thanen alsdann  nicht  recht  arbeiten,  selbige  in  den  Stock  ge- 
spannet,  oder  ihnen  der  Spanische  Mantel  umgehenget,  auch  auf 
den  Fall,  dass  dieses  bey  einem  oder  dem  andern  nicht  verfangen 
wollte,  solche  auf  einige  Zeit  mit  Vestungs- Arbeit  bestrafet  wer- 
den  sollen.  Wofern  aber  nach  Publication  dieses  Verboths  ein 
Schreiber  derer  Beamten  oder  Pachter  sich  dennoch  unterstehen 
wiirde.  die  Leute  bei  dem  Hofdienst  mit  Peitschen  oder  Schlagen 
zu  tractiren  und  dariiber  geklaget  wird,  so  soil  solches  sofort 
von  Euch  unterth.  berichtet  und  dergl.  Schreiber  alsdann,  wenn 
er  es  schon  auf  Befehl  des  Pachters  gethan,  das  erstemal  auf 
6  Wochen  nach  einer  Vestung  in  die  Karre  gebracht,  das  Zweite- 
mal  aber  am  Leben  gestrafet  werden".  —  Ein  Erlass  der  ganz 
jenen  drakonischen  Geist  athmet,  der  riicksichtslos  auf  sein  Ziel 
losgeht  und  keinen  Unterschied  zwischen  Hoch  und  Niedrig,  Vor- 
nehm  und  Gering  macht,   der  stets  im  Ernst  ist  und  stets  die 

Mltthcllungen  a.  d.  hlator.  Litteratur.    VU.  23 

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354        Miscellaneen  zur  Gescliichto  Konig  Friedrichs  des  Grossen. 

Mittel  ergreift,  die  ihn  am  schnellsten  und  sichersten  zum  Ziele 
fiihren;  jenen  Geist,  den  Droysen  im  4.  Bande  seiner  Geschichte 
der  Preussischen  Politik  auf  eine  so  vorziigliche  Weise  wieder- 
zugeben  verstanden  hat. 

Berlin.  Isaacsohn. 

LXXXVII. 
Miscellaneen  zur  Geschichte  Konig  Friedrichs  des  Grossen. 

Herausgegeben  auf  Veranlassung  und  mit  Unterstiitzung  der 
Konigl.  Preussischen  Archiv-Verwaltung  gr.  8°.  (X,  490  S.) 
Berlin  1878.     E.  S.  Mittler  &  Sohn.     12  M. 

Auch  die  hier  im  Titel  genannte  Publication  fallt  in  den 
Bereich  der  von  der  KgL  Preussischen  Archiv-Verwaltung  an- 
geregten  Arbeiten.  Obgleich  der  Zeit  ihres  Erscheinens  nach 
die  erste  der  drei,  iiber  die  hier  referirt  wird,  behandeln  die 
darin  zusammengefassten  Arbeiten  doch  einen  spateren  Zeitraum 
als  jene  beiden,  das  Zeitalter  Friedrichs  des  Grossen,  weshalb 
wir  ihrer  erst  an  dritter  Stelle  gedenken. 

Es  sind  hier  drei  Arbeiten  verschiedener  Gattung  und  ver- 
schiedenartigen  Inhalts  vereint,  doch  alle  mit  einer  gemeinsamen 
Unterlage,  der  literarischen  Thatigkeit  Friedrichs  des  Grossen; 
weshalb  der  Titel  der  Publication  vielleicht  noch  genauer,  wenn- 
gleich  schwerfalliger  auch  hatte  gefesst  werden  konnen,  als: 
Miscellaneen  zur  Geschichte  Friedrichs  des  Grossen  als  Schrift- 
steller.  Sagen  wir  gleich  im  Voraus,  class  es  erst  auf  Grand 
dieser  Veroffentlichungen  moglich  sein  wird,  die  literariscbe 
Thatigkeit  des  Konigs  —  und,  wie  bekannt,  erstreckte  sich  die- 
selbe  ebenso  sehr  auf  die  Politik  im  weitesten  Sinne  des  Worts 
wie  auf  die  schonen  Wissenschaften  —  voll  zu  wiirdigen,  und 
wir  haben  das  hohe  Verdienst  der  Arbeiten  damit  gekennzeichnet 
In  der  ersten  der  drei  Arbeiten  gibt  Dr.  Leithauser  unter 
der  Kontrole  Sr.  K.  Hoheit  des  Kronprinzen ,  der  die  erste  An- 
regung  dazu  gab  und  die  Ausfuhrung  im  Einzelnen  in  all  ihren 
Stadien  uberwachte,  ein  Verzeichniss  sammtlicher  Aus- 
gaben  und  Uebersetzungen  der  Werke  Friedrichs 
des  Grossen,  Konigs  von  Preussen.  Die  zweite  bringt: 
Das  militarische  Testament  Friedrichs  des  Grosses. 
Herausgegeben  und  erlautert  von  v.  Taysen,  Major 
im  Grossen  Generalstabe.  Die  dritte  und  bei  weitem 
umfangreichste ,  mehr  als  die  Halfte  des  Bandes  fdllende  Publi- 
cation betitelt  sich:  Zur  Literarischen  Thatigkeit 
Friedrichs  des  Grossen.  Erorterungen  und  Akten- 
stiicke.  Von  Dr.  Max  Posner,  Assistenten  im  Geh. 
Staats-Archiv.  Leithausers  Verzeichniss  von  beilaufig  666 
Nummern  „setzt  sich  die  Aufgabe"  —  wir  lassen  den  Verfksser 
selbst  reden  —  „allen  denen,  die  sich  mit  der  Geschichte  des 
grossen  Konigs  und  dem  Studium  seiner  literarischen  Hinter- 
lassenschaft  beschaftigen,  ein  unentbehrliches  Hiilfsmitsel  dar- 
zubieten,  —  ein  mogHchst  vollstandiges,  systematisch  geordnet» 


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Miscellaneon  zur  Geschichte  Konig  Friedrichs  deg  Grossen.         355 

Verzeichni8S  der  sammtlichen  Ausgaben  und  Uebersetzungen, 
die  von  den  Werken  Friedrichs  des  Grossen  vorliegen.  Es  ist 
dabei  von  dem  Grundsatz  ausgegangen,  solche  Schriften,  die  nur 
in  den  Gesammtausgaben  der  „Oeuvresu  ihre  Stelle  gefunden 
haben,  auch  nur  bei  der  Inhaltsangabe  der  letzteren  zu  erwahnen, 
und  bei  denjenigen,  die  in  Biichern  anderer  Autoren  oder  in 
Sammelwerken  veroffentlicht  worden  sind,  sich  mit  dem  Hinweis 
auf  die  Stelle,  wo  der  erste  Abdruck  erfolgte,  zu  begniigen. 
Dagegen  richtete  sich  das  Bestreben  darauf,  von  alien  Dichtungen 
und  Prosaschriften  des  Konigs,  die  in  Separatausgaben  erschienen, 
moglichst  sammtliche  vorhandene  Drucke  aufzufiihren.  Nach 
demselben  Plane  durften  in  der  Abtheilung  der  Correspondenzen 
nur  die  grosseren  Briefsammlungen  aufgenommen  werden,  von 
denen  besondere  Ausgaben  veranstaltet  worden  sindu.  Dem- 
gemass  gliedert  sich  das  Verzeichniss  in  zwei  Theile.  Der  erste 
gibt  die  Gesammtausgaben,  im  Original,  im  Nachdruck,  im  Ex- 
cerpt und  in  Uebersetzungen;  der  zweite  Separatausgaben  ein- 
zelner  Werke.  Die  Gliederung  des  letzteren  boreitete  besondere 
Schwierigkeiten.  Der  Herausgeber  hat  sie  zu  umgehen  gesucht, 
indem  er  statt  der  systematischen,  aber  fur  den  Benutzer  viel- 
leicht  minder  praktischen  Gliederung  in  politische  und  belle- 
tristische  Schriften  als  Hauptabschnitte  mit  etlichen  Unter- 
abtheilungen  eilf  Abschnitte  gibt,  in  denen  dann  freilich  bald 
Dinge,  die  nur  lose  zusammengehoren,  wie  Philosophic  und  Staats- 
wissenschaft,  in  einen  Abschnitt  zusammengefasst  sind  (Abschn.  4), 
bald  solche,  die  sich  sehr  nahe  beriihren,  wie  die  Charak- 
teristiken  und  die  Lobreden  in  zweien  getrennt  sind.  Doch  darf 
diese  Ausstellung  nicht  zu  schwer  genomraen  werden,  da,  wie 
gesagt,  die  Brauchbarkeit  der  Zusammenstellung  dadurch  durch- 
aus  nicht  beeintrachtigt  wird,  zumal  die  Arbeit  mit  einem  alpha- 
betischen  Verzeichniss  sammtlicher  Schriften  schliesst,  das  jedem 
Benutzer  die  Orientirung  erleichtert. 

Unmittelbar  an  dies  Verzeichniss  sammtlicher  bisher  publi- 
cirter  Schriften  Friedrichs  schliesst  sich  die  Publication  eines 
Ineditums  oder  genauer  eines  Werks,  von  dem  bisher  nur  ein 
Fragment,  ohne  Wissen  und  gegen  den  Willen  des  koniglichen 
Autors,  veroiFentlicht  worden  war:  das  militarische  Testament 
des  Konigs  vom  Jahre  1768,  fur  dessen  Herausgabe  das  Publikum, 
in  erster  Reihe  der  militarische  Theil  desselben,  dem  Editor, 
Major  v.  T  ays  en,  nicht  dankbar  genug  sein  kann,  da  es  einen 
unschatzbaren  Beitrag  wie  zur  Geschichte  der  Kriegswissenschaft 
im  Allgemeinen,  so  zur  Erkenntniss  Friedrichs  des  Grossen  als 
Militar-Theoretiker  und  Strategen  im  besondern  bietet.  Man 
konnte  es  geradezu  als  die  Fixirung  der  in  den  drei  schlesischen 
Kriegen  gewonnenen  Erfahrungen  mit  der  speciellen  Nutzanwen- 
dung  fur  einen  eventuellen  Zukunftskrieg  mit  Oesterreich  be- 
zeichnen,  das,  wie  der  Konig  mit  Recht  voraussetzte,  den  Gedanken 
an  eine  Wiedereroberung  Sohlesiens  noch  Jahrzehnte  hindurch 
zur  Richtschnur   seiner  Politik   gegen  Preussen  machen   wiirde. 

23* 


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356         Mi8cellaneen  zur  Geschichte  Konig  Friedrichs  des  Grossen. 

Zugleich  entwickelt  das  Testament  —  was  sich  freilich  voraus- 
setzen  liess  —  des  Konigs  auf  unaufhorliche  Reformen  und 
Weiterbildung  des  Bestehenden  gerichtete  Bemiihungen,  es  zeigt 
ihn  uns,  gleich  seinem  Vater,  nur  in  noch  umfassenderem  und 
hoherem  Sinne,  als  den  Lehrmeister  seines  Heeres,  der  iiber  der 
Ausarbeitung  von  grossartigen  Kriegsplanen  doch  das  Einzelnste 
und  Geringste,  die  Ausbildung  des  gemeinen  Troupiers  naeh 
jeder  Richtung  hin,  die  Verbesserung  und  Instandhaltung  jedes 
einzelnen  Kriegsutensils  und  dergl.  nicht  vergisst.  Die  dem  Auf- 
satz,  der  urspriinglich  unter  dem  Titel  „Du  Militaire"  einen 
Abschnitt  des  „  Testament  Politique1*  bildete,  vorangeschickte 
Einleitung  des  Herausgebers  gibt  eine  gedrangte  Uebersicht  iiber 
den  InhaJt  und  einige  Daten  iiber  Zeit  und  Ort  der  Ab- 
fassung  desselben.  Ein  „Kommentaru  begleitet  die  Arbeit  des 
Konigs  Schritt  fiir  Schjitt  und  gibt  neben  einer  Erlauterung  des 
Technischen  in  den  Ausfuhrungen  des  Konigs,  oft  unter  Heran- 
ziehung  der  heutigen  Tags  angewandten  Grundsatze  und  Regeln 
und  ihrer  Vergleichung  mit  denen  Friedrichs,  auch  zum  Schluss 
ausfuhrliche  Angaben  iiber  die  einzelnen  vom  Konige  genannten 
militarischen  Fiihrer,  die  den,  der  in  der  Personalgeschichte  "der 
Preussischen  Armee  nicht  bewandert  ist,  in  dankenswerther  Weise 
orientiren. 

Die  dritte  Arbeit  Posner's,  wZur  literarischen  Thatigkeit 
Friedrichs  des  Grossen,  Erorterungen  und  Aktenstucke",  be9chaf- 
tigt  sich  mit  der  „Genesis  der  Histoire  de  mon  temps  und  der 
brandenburgischen  Denkwiirdigkeiten".  Diese  Arbeit,  die  erste 
grossere,  die  wir  dem  Verf.  verdanken,  bekundet  eine  so  hervor- 
ragende  Begabung  fiir  die  historisch-kritische  Forschung  mit  so 
gleichmassiger  Ausbildung  der  mannichfachen  hierfur  erforder- 
lichen  Anlagen,  dass  wir  ohne  Bedenken  dem  Autor,  falls  er 
diesem  seinem  Talent  so  sehr  gemassen  Theile  der  Forschung 
treu  bleibt,  eine  Reihe  glanzender  Erfolge  vorhersagen  konnen. 
Es  ist  das  erste  Mai,  dass  ein  grosseres,  genauer  zwei  Werke  des 
Konigs,  einer  Kritik  auf  ihre  Quellen  hin  unterzogen  worden 
sind.  Und  der  Erfolg  entspricht  der  darauf  verwandten  Muhe! 
Einmal  ergibt  sich  daraus  eine  staunenswerthe  Sorgfalt  des 
koniglichen  Autors  in  der  Sammlung  seines  Materials ,  das  sich 
zum  allergros8ten  Theil  als  archivalisch  erweist,  sei  es  dass  der 
Konig,  was  nur  zum  kleineren  Theil  geschah,  die  in  Betracht 
kommenden  Urkunden  und  Aktenstiicke  selbst  einsah,  oder  sich 
mit  den  fiir  ihn  vom  Minister  H.  Podewils,  dem  damals  jungen 
Hertzberg,  dem  Kriegsrath  Ilgen,  des  Ministers  Sohn,  u.  A.  ge- 
fertigten,  sehr  zuverlassigen  Ausziigen,  Bearbeitungen  und  Precis 
begniigte ;  daneben  eine  eben  so  hoch  zu  schatzende  Behutsam- 
keit  in  der  Verwendung  dieses  Materials,  das  auf  das  Genaueste 
gepriift,  auf  seinen  rechten  Sinn  hin  angesehen,  und  zu  noch 
genauerer  Feststellung  des  Thatbestandes  mit  allem  aufzutreiben- 
den  gedruckten  Material,  mit  den  miindlichen  Berichten  von 
Augenzeugen  und  Theilnehmern   an  den   darzustellenden  Dingen 


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Miscellaneen  zur  Geschichte  Konig  Friodrichs  des  Groasen.         357 

zusammengehalten,  verglichen  und  kontrolirt  wurde.  Nicht  min- 
der bewundern8werth  ist  die  Sorgfalt,  die  der  konigliche  Autor 
auf  das  Aeussere,  Form  und  Sty],  seiner  Arbeiten  verwendet. 
Er  begniigt  sich  nicht,  dieselben  wiederholentlich  umzuarbeiten 
und  stylistisch  zu  feilen,  bevor  er  sie  abschnittsweise  zunachst 
nur  dem  engen,  gewissermassen  privaten,  Kreise  seiner  Akademie 
der  Wissenschaften  durch  deren  Prasidenten  Maupertuis  vorlesen 
lasst,  er  beuutzt  gleich  auch  wieder  die  dabei  gemachten  Be- 
inerkungen  zu  erneueter  Besserung  der  eigenen  Arbeiten  im  er- 
wahnten  Sinn;  wie  es  denn  Maupertuis  in  den  Jahren  1743—50, 
d.  h.  bis  zum  Augenblick  der  Ankunft  Voltaires  in  Sans-Souci, 
vornehmlich  ist,  der  dem  Konig  auf  seine  zahllosen  Fragen  sehr 
wol  erwogene  und  meist  sehr  gliickliche  Bescheide  ertheilt,  der 
gewissermassen  zum  Mitarbeiter  an  den  beiden  oben  genannten 
Werken  nach  der  formellen  Seite  hin  wird.  Eben  so  be- 
deutsam,  wenn  nicht  noch  bedeutsamer,  ist  die  Einwirkung  Vol- 
taires hierauf.  Seine  Anmerkungen  zu  den  Memoires  pour  servir 
&  rhistoire  de  Brandebourg  (S.  263 — 282)  zeigen  ihn  uns  in 
seinem  besten  Lichte  als  einen  eben  so  kenntnissreichen  wie 
behutsam-kritischen  und  in  der  Form  vollendeten  Autor,  vor 
Allem  als  jeuen  vorurtheilslosesten  Schriftsteller  des  XVIII.  Jahr- 
hunderts,  der  als  der  Herold  des  Zeitalters  der  Aufklarung 
immerdar  gegolten  hat.  Ganz  zeigt  er  sich  hier  des  in  ihn  ge- 
setzten  Vertrauens  seines  koniglichen  Freundes  wiirdig,  den  er 
lobt,  wo  zu  loben  ist,  und  dies  an  den  bei  weitem  zahlreichsten 
Stellen,  dessen  zu  geringe  Vorsicht  in  sachlicher,  dessen  ofters 
dunkele,  bisweilen  unlogische,  auch  wol  unfranzosische  Ausdrucks- 
weise  der  gewissenhafte  Kritiker  indessen  ebenso  unbefangen 
und  frei,  eben  so  entschieden  und  bisweilen  selbst  etwas  ironisoh 
bemangelt.  Das  Ergebniss  der  Posnerschen  Arbeit,  die  Alles 
umfasst,  was  hier  in  Betracht  kommt,  Ort  und  Zeit  der  Re- 
daction dieser  Werke,  ihr  successives  Fortschreiten,  ihre  Vollen- 
dung,  ihre  Umarbeitung,  ihre  Quellen,  ihre  Handschriften,  man 
mochte  sagen  ihre  Geschichte  vom  Augenblick  der  Entstehung 
bis  auf  den  heutigen  Tag,  ist,  dass  die  Histoire  de  mon  temps 
fast  unmittelbar  nach  dem  ersten  schlesischen  Kriege  begonnen, 
im  Lauf  von  1742  beendet,  1746  gelegentlich  der  Ausarbeitung 
der  Fortsetzung  umgearbeitet  wurde.  Durch  eine  gliickliche 
Combination  gelangt  P.  gleichzeitig  dazu,  die  Zeit  des  Beginns 
und  der  Vollendung  der  Memoires  de  Brandebourg  genau  zu 
bestimmen,  deren  Abfassung  vom  Eonige  schon  friih  ins  Auge 
gefasst,  wie  sich  hier  aber  herausstellt,  erst  nach  der  Histoire 
de  mon  temps  in  die  Jahre  1746 — 50  fallt.  Ein  nicht  von 
vornherein  beabsichtigtes ,  aber  von  selbst  erfolgendes  weiteres 
Ergebniss  dieser  grundlegenden  Studie  ist  die  Klarlegung  der 
Mangelhaftigkeit  von  Preus8,  Edition  dieser  Werke  in  der  aka- 
demischen  Ausgabe  der  „Oeuvres  de  Frederic  le  Grand",  eine 
Ausgabe,  die  im  Vergleich  zu  fruheren  zur  Zeit  ihres  Erscheinens 
als  Zeichen  eines  unleugbaren  Fortschritts  freudig  begriisst  wer- 

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358  Kleindehmidt,  Die  Eltem  und  Geschwister  Napoleon's  I. 

den  konnte,  vor  den  Anforderungen  der  historischen  Kritik  des 
heutigen  Tages  indess  nicht  mehr  bestehen  kann.  Mit  grosser 
Befriedigung  hat  Ref.  daher  die  Nachricht  aufgenommen,  dass 
der  Herausgeber  dieser  „  Genesis"  sich  jetzt  auch  der  Arbeit 
einer  neuen  Edition  zunachst  der  „Histoire  de  mon  temps"  unter- 
zieht,  von  der  man,  nach  dieser  Leistung,  wol  hoffen  darf,  dass  sie 
sich  zu  einer  mnstergiiltigen,  des  Autors  und  Gegenstandes  wiir- 
digen  gestalten  wird. 

Berlin.  Isaacsohn. 

LXXXVIH. 
Kleinschmidt,  Dr.  Arthur.    Die   Eltern   und   Geschwister  Na- 
poleon's I.     gr.  8.     (IV,  340).     Berlin,   1878.     L.  Schleier- 
macher.    7  M. 

Das  Urtheil  iiber  das  obige  Werk  ist  bereits  gesprochen;  es 
ist  allseitig  und  nicht  mit  Unrecht  etwas  hart  ausgefaflen.  (VergL 
die  Besprechungen  im  Magazin  fiir  die  Literatur  des  Auslandes 
1878,  Nr.  48;  Literarisches  Centralblatt  1878,  Nr.  41;  Revue 
historique  8,  458).  Es  war  gewiss  eine  sehr  dankenswerthe 
Aufgabe,  eine  Geschichte  der  Bonapartes,  die  bisher  ganzlich 
fehlte,  dem  deutschen  Publicum  vorzulegen ;  und  die  Arbeit  von 
Kleinschmidt  wiirde  um  so  willkommener  gewesen  sein,  als  er  die 
Biographien  der  einzelnen  Glieder  des  Hauses  Bonaparte  bis  auf 
die  Gegenwart  fortgefuhrt  hat.  Andrerseits  sind  aber  die  Vor- 
wiirfe  gegen  Form  und  Inhalt  des  Buches  zu  wohl  begriindet, 
als  dass  man  sagen  konnte,  der  Verfasser  sei  seiner  hiibschen 
Aufgabe  gerecht  geworden.  Der  Stil  leidet  an  iiberflussigen 
Fremdworten,  ungesundem  Pathos  und  wunderlichen  Bildern. 
Ich  mache  in  letzterer  Hinsicht  nur  auf  die  dem  optischen  Ge- 
biet  entnommenen  aufmerksam:  im  Vorwort  versichert  Klein- 
schmidt, dass  sein  Buch  „die  Glieder  der  Familie  Bonaparte 
Revue  passiren  lasst  und  jedes  durch  den  Spiegel  genaa 
betrachtet";  S.  73  zeigt  Napoleon  Azanza  giinstigere  Aussichten 
„durch  ein  Teleskop";  S.  96  „beleuchtet  die  Einnahme  Maltas 
durch  Napoleon  den  Pfad,  den  Lucian  nach  Paris  einschlagt\ 
Dem  Inhalt  des  Buches  ist  es  sehr  verderblich  gewordeu,  dass 
K.  die  neuere  Kritik,  z.  B.  die  Untersuchuugen  von  Bohtlingkr  so 
gut  wie  unbeachtet  gelassen  hat.  Auch  an  ^Widerspriichen  fehlt 
es  nicht:  man  vergleiche,  was  S.  34  und  37  iiber  die  Anerken- 
nung  Josephs  als  Konig  von  Neapel,  S.  137  und  178  iiber  den 
Geburtstag  Ludwig  Bonapartes  gesagt  wird.  Ebenso  wenig  durfte 
K.  die  fabelhaften  Angaben  auf  S.  35  und  38  iibersehen,  nach 
welchen  Konig  Joseph  gewisse  Stiftungen  mit  jahrlichen  Rentes 
von  je  44  Millionen  Francs  und  100  Millionen  Ducaten  aus- 
gestattet  hat.  Mit  den  bonapartistischen  Ueberschwanglickkeiten 
des  Verfassers  mochte  ich  weniger  rechten:  sie  sind  nur  der 
Ausfluss  seiner  pathetischen  Schreibweise ;  so  sagt  er:  „Die 
Blume  der  Bonaparte  hatte  ausgebluht"  (S.  213),  d.  h.  Konigin 
Hortense  war  gestorben. 


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Wigger,  Geschichte  der  Familie  Blticher.  359 

Immerhin  wird  man  sich  des  Buches  zum  Nachschlagen  nicht 
ohne  Nutzen  bedienen  konnen;  eine  Stammtafel  wiirde  den  Ge- 
brauch  noch  wesentlich  erleichtert  haben. 

Berlin.  Bailleu. 

LXXXIX. 
Wigger,  Dr.  Friedrich  (Archivrath  in  Schwerin),  Geschichte  der 
Familie  Blticher.    II.  Band,  I.  Abtheilung,  mit  2  lithographirten 
Tafeln,  Lex.  8  (XIV,  600  S.)  Schwerin  1878,  Stillersche  Hof- 
buchhandlung.     10  M. 

Der  vor  9  Jahren  (1870)  erschienene  I  Band  der  Geschichte 
der  Bliicher'schen  Familie  umfasste  die  Entwickelung  des  Ge- 
-schlechtes  im  Mittelalter,  vom  Anfang  des  XIII  bis  zum  Anfange 
des  XVI  Jahrhunderts.  Aus  dem  deutschen  Stammhause  Bliicher 
als  der  gemeinsamen  Wurzel  waren  noch  im  XIII  Jahrhundert 
2  Stamme,  der  Wittenburger  und  Gadebuscher,  hervorgegangen, 
von  welchen  dieser  seinen  Hauptast  zwar  schon  friih  verlor,  aber 
in  einem  Nebenaste,  dem  pommerschen  Hause  Daberkow,  fort- 
bliihte  und  im  XVI  Jahrhundert  noch  einmal  neue  Kraft  ge- 
wann,  wahrend  der  Wittenburger,  der  im  Mittelalter  nach 
schneller  Entfaltung  manchen  Nebenzweig  einbiisste,  die  2  Haupt- 
aste ,  die  Hauser  Lehsen  und  Wuschow,  noch  zu  Anfang  des 
XVI  Jahrhunderts  auf  bliihen  sah.  Durch  Ewald  (f  um  1530—34), 
den  einzigen  Stammhalter  der  Linie  Lehsen,  verzweigte  sich  das 
Haus  sogar  in  zahlreicher  Nachkommenschaft  schnell  und  weit, 
und  auch  im  Hause  Waschow  werden  3  Briider  die  Stammvater  von 
ebenso  vielen  Linien,  von  denen  in  der  noch  nicht  veroffentlichten 
II  Abtheilung  des  II  Bandes  (Buch  VI— VIII)  die  Rede  sein  soil. 

Von  den  verwandtschaftlichen  Verhaltnissen  erhalten  wir 
etwa  folgendes  Bild:     (Siehe  Seite  360) 

Die  jiingsten  Sprossen  des  Bliicher'schen  Stammbaumes  bil- 
den  die  XXII.  Generation. 

Der  vorliegende  Band  enthalt  4  Biicher  (II — V).  Das  II  Buch 
(S.  1 — 89)  umfasst  die  Geschichte  der  pommerschen  Linie  der 
Hauser  Daberkow  und  Plathe  seit  dem  Anfange  des  XVI  Jahr- 
hunderts. Das  IH  Buch  (S.  89—180)  behandelt  die  Linie  Lehsen, 
d.  h.  die  Hauser  Lehsen,  Gross-Renzow,  Gorschendorf  und  Falken- 
burg,  das  IV  Buch  (S.  181 — 270)  die  Linie  Rosenow  in  ihrem 
danischen  wie  in  ihrem  deutschen  Zweige,  und  endlich  das  V  Buch 
(S.  273 — 600) ,  das  umfassendste  und  wichtigste ,  die  fiirstliche 
Linie  Bliicher  von  Wahlstatt.  * 

Die  biographischen  Skizzen  sind  sehr  ungleich  ausgefallen, 
da  dem  Verfasser  trotz  der  sorgfaltigsten  archivalischen  Nach- 
forschungen  und  trotz  des  ausgedehntesten  Briefwechsels  die 
gesainmelten  Materialien  oft  sehr  liickenhaft  blieben;  so  ist  es 
z.  B.  auffallig,  wie  unvollstandig  und  ungewiss  noch  die  Nach- 
richten  iiber  des  Feldmarschalls  Geschwister  sind.  Ueber  andere 
Personen  stromten  dagegen  die  Nachrichten  in  solcher  Fiille  zu, 
dass  die  Beschrankung  in  der  Auswahl  nicht  leicht  war. 


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360 


Wigger,  Geschichte  der  Familie  Bliicher. 


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Wigger,  Gesckickte  der  Familie  Blacker.  361 

Die  von  dem  Verfasser  befolgte  „  und  in  der  Vorrede  zum 
I  Bande  naher  erorterte  Methode  ist  eine  sachgemasse  und  zu- 
verlassige.  Was  die  Quellen  betrifft ,  so  sind ,  die  Geburts-, 
Copulations-  und  Todestage  den  Kirchenbiichern  und  andern 
zuverlassigen  Actenstiicken  entnommen,  die  Avancements  nach 
den  danischen  Militaretaten  und  den  Acten  der  Berliner  geheimen 
Kriegskanzlei,  sowie  nach  den  Archiven  in  Schwerin,  *)  Hannover 
und  Marburg  angegeben,  fiir  die  jiingeren  Generationen  auch 
die  Archive  der  verschiedenen  Hauser  benutzt.  Ein  Urkunden- 
anhang  (wie  beim  I  Bande)  hat  wegen  seiner  Umfanglichkeit 
nicht  gegeben  werden  konnen,  was  wir  mindestens  in  Bezug  auf 
den  Oberprasidenten  und  den  Feldmarschall  bedauern  miissen; 
er  bildet  aber  den  Grundstock  zu  einem  neuen  Bliicher'schen 
Familienarchiv,  bei  welchem  der  Historiker  sich  Raths  erholen 
kann.  Die  gegenwartig  bereits  vorhandenen  Hausarchive,  iiber 
die  sich  Wigger  in  der  Vorrede  des  I  Bandes  (S.  IV)  ausspricht, 
geben  nur  geringe  Ausbeute. 

Wie  wir  ferner  aus  dem  Vorworte  des  I  Bandes  ersehen, 
hat  der  Verfasser  auch  einige  altere  genealogische  Versuche  iiber 
dieses  alte  mecklenburgische  Adelsgeschlecht  benutzen  konnen, 
unter  denen  er  eine  Skizze  des  Rectors  Latomus  (f  1613),  die 
Manuscripte  J.  H.  von  Hoinckhusens  (c.  1740),  welche  sich  iiber 
den  ganzen  mecklenburgischen  Adel  verbreiten  und  von  seinem 
Neffen  Ltider  von  Pentz  (t  1782)  uberarbeitet  und  erganzt,  von 
Leopold  von  Bliicher  aber  bis  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts 
fortgesetzt  worden  sind,  fiir  die  pommersche  Linie  ausserdem 
die  genealogischen  Arbeiten  von  Elzow,  von  der  Osten  und  Stein- 
briick  nennt.  Sie  haben  eine  grosse  Menge  von  Personalien  und 
verwandtschaftlichen  Beziehungen  aufgezeichnet,  die,  zumal  wo 
die  Kirchenbiicher  fehlen,  oft  auf  anderem  Wege  nicht  mehr  zu 
ermitteln  sein  wiirden;  doch  ist  ihre  Bedeutung  dadurch  beein- 
trachtigt,  dass  sie  in  der  Regel  ihre  Quellen  nicht  nennen.  „Als 
daher  die  Reprasentanten  aller  gegenwartig  bliihenden  Zweige 
dieses  Geschlechts  —  so  berichtet  der  Verfasser  — ,  um  das  lebhaft 
empfundene  und  oft  geausserte  Verlangen  nach  einer  urkund- 
lichen  Familiengeschichte  befriedigt  zu  sehen,  mich  mit  der  Aus- 
fiihrung  dieser  Aufgabe  betrauten,  erschien  eine  Ueberarbeitung 
der  fruheren  Versuche  von  vorne  herein  unzureichend,  es  ward 
ein  Neubua  auf  neuer,  urkundlicher  Grundlage  nothwendig". 


*)  Das  Grossherzogliche  geheime  und  Hauptarchiv  zu  Schwerin  war  dem 
Vorfasser,  wie  er  S.  V  der  Vorrede  des  I  Bandes  darthut,  die  ergiebigste 
Fundgrube;  ihm  am  n&chsten  steht  das  bischoflick  ratzeburgische  Archiv  zu 
!Neu-Strelitz.  Zu  nennen  sind  ferner  die  in  Rostock  verwahrten  Urkunden 
aus  einem  Reickskammergerichtsproeess,  die  Stadtarckive  zu  Wismar,  Liibeck, 
Liineburg,  das  Konigl.  Provinzialarckiv  und  das  Leknarckiv  des  Appellations- 
gerickts  iu  Stettin.  Am  wenigsten  erfolgreick  sind  die  Nackforsckungen  iiber 
den  nack  Kurland  und  Livland  ausgewanderten  Zweig  des  Sukower  Hauses  der 
v.  Blilcker  geblieben.  Wigger  bittet  alle,  welcbe  iiber  die  v.  Blucker  in  Russ- 
land  weitere  Auskunft  zu  geben  vermogen,  um  Benackricktigung  (I  Band, 
Vorrede  S.  VI). 


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362  Wigger,  Geschichte  der  Familie  Blticher. 

Es  ist  natiirlich  nicht  moglich,  aus  diesera  umfassenden  und 
verdienstvollen  Werke  die  Geschichte  der  einzelnen  Hauser  und 
Linien  auch  nur  auszugsweise  hier  wiederzugeben,  so  allgemein 
interessant  auch  viele  einzelne  Mittheilungen  und  Ausfiihrungen 
sind.  Wieder  tritt  uns  vor  die  Augen  das  triibselige  Bild  der 
durch  den  30jahrigen  Krieg  angerichteten  Verwiistung  und  Yer- 
armung  (S.  106,  108,  112  u.  a.),  das  wenig  erfreuliche  Bild  der 
Bauernniederlegung  in  Mecklenburg  nach  1760*);  fast  am 
traurigsten  aber  wirkt  die  Erneuerung  des  Bildes  der  Verluste, 
welche  die  Rheinbundstruppen  in  dem  russischen  Feldzuge  Na- 
poleons 1812  erlitten.  Es  sind  da  (S.  252—53)  die  Kampfe 
aufgezahlt,  welche  die  wiirttembergischen  Chevau-legers,  bei  denen 
der  Major  Karl  und  der  Rittmeister  Friedrich  v.  Bliicher  dienten, 
zu  bestehen  hatten,  und  es  wird  in  Erinnerung  gebracht,  dass 
die  3  Regimenter  in  Moskau  nur  noch  900  Mann  zahlten,  von 
denen  nicht  mehr  als  400  kampffahig  waren;  aber  auf  dem 
Riickzug  war  der  Abgang  so  stark,  dass  2  Regimenter  nur  114 
Pferde  in  2  Ziigen  zahlten,  wahrend  einen  dritten  Zug  frciwillig 
dio  iiberzahligen  10  Lieutenants  bildeten,  und  von  Smolensk  "an 
horte  jeder  Regimentsverband  auf.  Die  Tragik  der  deutschen 
Reichsgeschichte  brachte  es  mit  sich,  dass  nicht  nur  in  den 
schlesischen  Kriegen,  sondern  auch  in  den  Napoleonischen  Kampfen 
die  v.  Bliicher  in  den  feindlichen  Armeen  einander  gegenuber 
standen,  wie  die  beiden  genannten  ihrem  Oheim,  unserem  Feld- 
marschall  Vorwarts.  Aber  nach  der  Bautzener  und  der  Denne- 
witzer  Schlacht  verliessen  beide,  deren  Bewunderung  fiir  Napoleon 
sich  schon  wahrend  des  russischen  Feldzuges  in  Hass  umge- 
wandelt  hatte,  das  franzosische  Heerlager,  obwol  ihnen  der 
franzosische  General  den  Tod  angedroht  hatte,  und  wahrend 
Friedrich  erst  1815  im  preussischen  Heere  gegen  Napoleon  mit- 
kampfen  konnte,  trat  Karl  bereits  im  December  1813  in 
preussische  Dienste,  wo  er  sich  zunachst  mit  einer  Rittmeister- 
stelle  begniigte,  von  seinem  Oheim  aber  mit  grosser  personlicher 
Giite  aufgenommen  und  im  Hauptquartier  verwandt  wurde,  so 
dass  er  damals  im  Gefuhle  seines  Gliicks  schreiben  konnte: 
„Endlich   bin   ich   am  Ziele  meiner  Hoffnungen,  und  eine  frohe 

*)  Vergl.  S.  147:  „Dies  thaten  damals  viele  seiner  Standesgenossen, 
manche,  weil  auch  sie,  unter  den  preussischen  Einquartierungen  und  Contri- 
butionen  verarmt,  selbst  nicht  die  Mittel  hatten,  ihre  gleichfalls  verarmteu 
Bauern  zu  unterstutzen,  viele  aber  auch,  weil  die  selbstfindige  grdssere  Hof- 
wirthschaffe  eintraglicher  war  als  die  Bearbeitung  des  Hoffeldes  durch  die 
Frohndienste  der  Bauern;  vielfach  kauften  auch  Guterspeculanten  Rittergnter, 
urn  dieselben  nach  Ausbeutung  der  Waldungen  und  Niederlegung  der  Bauern 
zu  hoheren  Preisen  wieder  zu  verkanfen.  Die  Rittergutsbesitzer  hie! ten  skh 
zu  solcher  Bauernlegung  bcrechtigt,  wenn  sie  nur  ihren  Leibeigenen  ein 
anderweitiges  Unterkommen  gewahrten;  die  Regierung  dagegen,  bestens  be- 
miibt  den  Bauernstand  zu  schiitzen,  erkannto  in  oinem  solchen  Vorgehen 
allemal  einen  Verstoss  gogen  einen  Paragraphen  des  landesgrundgesetzlichen 
Erbvergleichs,  den  sie  anders  auslegte  als  die  Ritter6chaft,  nnd  drang  dann 
durch  den  Fiscal  auf  die  Wiederherstellung  der  Bauern,  selbst  wenn  dieae, 
der  Frohndienste  mudo,  sie  nicht  begehrten". 


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Wigger,  Geschiehte  der  Familio  Bliicher.  363 

Zukunft  stellt  sich  meinen  Augen  dar.  Der  Sturm  des  Schieksals 
hat  rich  gelegt;  der  alte  Gott  lebt  noch,  er  hat  alles  wohl 
gemacht".  Und  als  er  im  Februar  1814  auf  dem  ungliicklichen 
Ruckzuge  der  schlesischen  Armee  nach  der  Marne  todtlich  ver- 
wundet  worden,  da  zeigt  er  sich  noch  auf  dem  Sterbelager  als 
achter  Bliicher.  „Der  Herrliche  —  so  schreibt  sein  Arzt  — , 
der  im  hochsten  Schmerz,  im  Todeskampfe  selbst,  nichts  als  das 
Vaterland  sah  und  dachte  und  dessen  Geist  mit  nichts  als  dem 
Ruhm  der  Armee,  selbst  noch  im  Sterben,  beschaftigt  war". 

Wie  wir  aber  im  vorigen  Jahrhundert  unsere  deutsche 
Literatur  und  deren  Vertreter  in  stetem,  regem  Wechselverkehr 
mit  Danemark  sehen,  so  bemerken  wir  auch,  dass  unser  Adel, 
unsere  Officierswelt  gleichfalls  in  die  lebhaftesten  Beziehungen 
zu  dem  danischen  Hofe  und  Staate  tritt,  und  da  (um  1740) 
gerade  in  Mecklenburg  sehr  geringe  Aussichten  fur  einen  Kriegs- 
mann  waren,  weil  die  kaiserliche  Commission,  welche  damals  die 
Regierung  fuhrte,  ein  holsteinisches  und  ein  schwarzburgisches 
Regiment  in  Sold  genommen  hatte,  so  suchten  mehrere  Bliicher 
ihr  Gliick  in  Danemark  und  noch  1848/49  kampfte  ein  Rittmeister 
(spaterer  Generalmajor)  Friedrich  v.  Bliicher  (1806 — 1871)  in 
dem  danischen  Heere  gegen  die  deutschen  Bundestruppen. 

Ueberblicken  wir  abei*  noch  oinmal  das  grosse  Familien- 
gemalde,  welches  von  dem  Verfasser  vor  unseren  Augen  entrollt 
ist,  dem  es  gelungen  „den  Entwickelungsgang  der  Familie 
unter  den  wechselnden  allgemeinen  Zeitverhaltnissen,  ihre  Schick- 
sale  in  guten  und  bosen  Tagen,  Bliithe,  Verfall  und  Wieder- 
erhebung  ihrer  einzelnen  Linien  darzustellen  und  in  kiirzeren 
oder  langeren  Lebensbeschreibungen  der  bedeutenderen  Person- 
lichkeiten  zu  veranschaulichen":  so  sehen  wir  zwar  auch  hier 
wie  in  der  Geschiehte  anderer  Geschlechter,  die  durch  bedeutende 
Manner  mit  der  vaterlandischen  Geschiehte  innig  verflochten  sind, 
ein  Auf-  und  Niederwogen  von  Generationen,  die  eifrig  sammeln, 
und  von  solchen ,  die  das  von  den  Vatern  eingeheimste  ver- 
schwenden;  aber  in  dem  ganzen  Geschlechte  offenbart  sich  doch 
eine  grosse  Lebenskraft,  korperliche  imd  geistige  Riistigkeit  und 
Ruhrigkeit,  Energie  und  Thatendrang,  froher  Muth  und  frisches 
Blut  auch  in  dem  hohen  Lebensalter,  das  viele  Bliicher  erreichen. 
Einnehmende  Personlichkeit  und  Gewandtheit,  Pflichttreue  und 
Zuverlassigkeit,  klare  Umsicht  und  kaltbliitige  Unerschrockenheit 
zeichnet  nicht  wenige  Bliicher  aus.  Ueberhaupt  treten  viele 
individuelle  Ziige,  die  in  dem  Feldmarschall  zu  einem  genialen 
Bilde  vereinigt  sind,  in  den  verschiedenen  Gliedern  der  vorher- 
gehenden  Geschlechter  mehr  oder  weniger  stark  hervor  und 
auch  in  den  Nebenlinien  kehren  sie  wieder.  So  zeigt  der 
preusaische  Major  Friedrich  v.  Bliicher  (1765 — 1822)  nicht  bios 
in  8einem  Aeussern,  wie  1813  allgemein  behauptet  wurde,  eine 
frappante  Aehnlichkeit  mit  seinem  entfernten  Vetter,  dem  Feld- 
marschall, sondern  er  gleicht  ihm  auch  in  vielen  Ziigen  seines 
Charakters,   wie   in   seiner  schnellen  Entschlossenheit  und  kalt- 

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364  Wigger,  Geschichte  der  Familie  Bliicher. 

bliitigen  Unerschrockenheit,  die  in  soldatischer  Pflichttreue  das 
ausserste  thut.  Auch  Major  Gustav  (1770 — 1854),  ein  Neffe  des 
Feldmarschalls ,  zeigt  mit  diesem  manche  innere  Familien- 
ahnlichkeit.  Er  1st  iins  iibrigens  noch  insofern  interessant,  als 
seine  Beziehungen  zu  Schill  und  die  in  Folge  dessen  mit  den 
franzosischen  und  westfalischen  Behonfen  gepflogenen  Verhand- 
lungen  (S.  164)  von  manchen  irrthiimlicher  Weise  auf  den  Feld- 
marschall  gedeutet  worden  gind. 

Ein  fesselndes  Culturbild  gewahrt  das  Leben  des  Oberst- 
lieutenants  Ulrich  Hans  (S.  181 — 198),  des  Stammvaters  der 
Linie  Rosenow  (1691 — 1758).  Als  namlich  der  Herzog  Karl 
Leopold  von  Mecklenburg  in  seinem  Kampfe  gegen  die  Ritter- 
schaft  1715  ein  kleines  Heer  begriindete,  da  trat  Ulrich  Hans 
in  das  Dragonerregiment  von  Vietinghoff,  in  welchem  er  Lieutenant 
und  spater  Rittmeister  wurde  und  unter  General  Schwerin,  dem 
spateren  preussischen  Helden,  den  unerquicklichen  Riickzug  vor 
den  Reichsexecutionstruppen  nach  Malchin  mitmachte,  bis  Czar 
Peter  die  6  mecklenburgischen  Regimenter  bis  auf  weiteres  d.  h. 
bis  zu  einem  Umschwunge  der  Dinge  zu  Gunsten  Karl  Leopolds 
in  Dienst  und  Sold  nahm.  Wahrend  nun  die  iibrigen  Officiere 
und  Mannschaften  in  hellen  Haufen  desertirten,  so  dass  die 
3  Reiterregimenter  in  Schwerin  a.  d.  Warthe  nur  noch  741 ,  die 
3  Infanterieregimenter  950  Mann  zahlten,  machte  Bliicher  aus  Treue 
gegen  den  Herzog  den  trostlosen  Zug  in  die  Ukraine  mit,  der 
(S.  183  ff.)  ausfuhrlich  erzahlt  ist.  Da  er  aber  ganz  in  die 
russische  Armee  einzutreten  sich  entschieden  weigerte,  so  blieb 
er  bis  1737  den  allerhartesten  Priifungen  unterworfen,  und  fast 
noch  unerfreulicher  wurde  seine  Lage,  als  er  nach  seiner  Riick- 
kehr  die  diplomatischen  Verhandlungen  fur  Karl  Leopold  zu 
fiihren  hatte. 

Mehr  interessirt  uns  aber  ein  uns  naher  stehendes  ZeitbQd, 
die  Darstellung  des  Lebens  und  Wirkens  des  Oberprasidenten 
Grafen  Konrad  v.  Bliicher-Altona  (1764 — 1845)  aus  der  danischen 
Linie  Rosenow,  dem  „seine  sehr  einnehmende  Personlichkeit,  sein 
lebhafter  und  eindringender  Verstand,  seine  geraden,  mitunter 
riicksichtslosen ,  aber  immer  trefFenden,  oft  originellen  Bemer- 
kungen,  heitere  Stimmung  und  umgangliches  Wesen"  iiberall 
Freunde  erwarben  und  die  Neider  entwj^neten.  Diese  fur  einen 
hochgestellten  Verwaltungsbeamten  nicht  hoch  genug  zu  schatzen- 
den  Gaben  brachte  er  ganz  besonders  unter  jenen  ausserordent- 
lich  schwierigen  und  triiben  Verhaltnissen  zur  Geltung,  als 
Altona  jeden  Augenblick  in  das  Schicksal  der  von  Davoust  heim- 
gesuchten  Nachbarstadt  Hamburg  hineingerissen  zu  werden  drohte. 
Die  gewaltigen  Anstrengungen  und  schweren  Kampfe,  die  er  zu 
bestehen  hatte,  die  ausserordentlich  verwickelten  und  verant- 
wortungsreichen  Verhandlungen,  die  er  fast  taglich  mit  den 
Befehlshabern  der  franzosischen  und  der  russischen  Truppen,  oft 
unter  der  grossten  personlichen  Gefahr,  zu  fiihren  hatte,  die 
grossen  Verdienste,    die   er  sich    durch  sein  ebenso  geschicktes 

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Wigger,  Geschichte  der  Familie  Bliicher.  365 

als  entschlos8enes  Verhalten  nicht  bios  um  Altona  und  Dane- 
mark,  sondern  auch  um  Hamburg  und  Deutschland  erworben 
hat,  die  mannigfaltigen  Beziehungen,  welche  er  zu  den  hervor- 
ragenden  Ereignissen  und  Mannern  seiner  Zeit,  insbesondere 
auch  zum  Feldmarschall ,  gehabt,  finden  in  dem  Bliicher'schen 
Familienbuche  eine  eingehende  und  ubersichtliche  Darstellung 
(S.  206—229). 

Durch  eine  ganz  besonders  ausfuhrliche  Darstellung  aber 
ist  mit  Recht  der  Feldmarschall  uber  alle  anderen  Bliicher 
hinausgehoben,  und  wir  haben  es  keinen  Augenblick  zu  bedauern, 
dass  gerade  hier  „die  Fiille  des  Stoffes  die  Oekonomie  des  ganzen 
Werkes  durchbrochen".  Denn  die  kurze  Lebensbeschreibung  von 
Ribbentrop  (1806)  ist  zu  wenig  reichhaltig  und  unvollstandig,  die 
von  Varnhagen  nicht  methodisch  gearbeitet,  veraltet  und  steter 
Nachpriifung  der  Quellen  bediirftig,  namentlich  in  Bezug  auf 
Bluchers  Jugendgeschichte,  und  Scherrs  dreibandige  Biographie, 
welche  den  Anspruch  auf  diplomatische  Zuverlassigkeit  wol  nicht 
erhebt,  ist  weit  mehr  ein  Zeitgemalde  als  ein  Lebensbild. 

Wie  nun  Wigger  (Vorw.  S.  V  ff.)  berichtet ,  erforderte  die 
Biographie  des  Feldmarschalls  die  umfanglichsten  Forschungen. 
Denn  die  Briefschaften,  welche  der  Fiirst  hinterlassen  und  welche 
Varnhagen  noch  bei  einander  gefunden  zu  haben  scheint,  sind 
durch  die  Schuld  eines  Beamten  zerstreut  und  nur  zum  Theil 
fur  das  Konigliche  Geheime  Staatsarchiv  in  Berlin  (aus  einem 
Antiquariat)  wiedergewonnen,  aus  welchem  die  meisten  der  dort 
aufbewahrten  Stiicke  aus  den  Correspondenzen  Bluchers  mit  den 
Konigen,  mit  Hardenberg,  Grote  u.  a.  dem  Verfasser  abschriftlich 
mitgetheilt  worden  sind.  Ebenso  ist  ihm  das  reiche  Archiv  des 
grossen  Generalstabs  in  Berlin  eroffhet  worden.  Das  Konigliche 
Hausarchiv  lieferte  nur  wenige  Beitrage.  Dagegen  bot  das 
Munster'sche  Archiv  sehr  willkommene  Actenstiicke.  Auch  Bluchers 
Briefe  an  Knesebeck  und  andere  wurden  Wigger  von  den  be- 
treffenden  Besitzern  bereitwillig  in  Abschriften  iiberlassen;  neben 
ihnen  fanden  die  bei  Dorow,  Varnhagen  u.  a.  schon  gedruckten 
Briefe  angemessene  Benutzung.  Die  grossto  Ausbeute  aber  fand 
der  Verfasser  in  den  Biographien  Steins  und  Gneisenaus  von  Pertz 
und  in  der  von  General-Lieutenant  v.  Colomb  herausgegebenen 
Sammlung  der  Briefe  Bluchers  an  seine  Frau  wahrend  der  Feld- 
ztige  von*  1813 — 15,  zu  denen  im  Jahrgang  1878  der  Colnischen 
Zeitung  noch  Nachtrage  gekommen  sind. 

Zur  Feststellung  der  Jugendgeschichte  des  Helden  haben 
u.  a.  von  Nettelbladts  und  von  Bohlens  Mittheilungen,  Marschall 
von  Sulicki8  Geschichte  des  siebenjahrigen  Krieges  in  den  Marken, 
v.  Schoenings  Geschichte  des  Bliicher'schen  Husarenregiments 
reichen  Stoff  und  manche  Berichtigung  geboten.  Fur  die  per- 
sonliche  Geschichte  Bluchers  von  1806  - 1809  ist  v.  Eisenharts 
Autobiographic  (1843)  und  fur  1813  die  Aufzeichnungen  Dr.  Bieskes 
von  hohem  Werthe  gewesen,  wahrend  fur  die  allgemeine  Ge- 
schichte  dieser  Zeit   hauptsachlich   Dunckers   Forschungen   und 


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366  Martin,  Das  Lcben  des  Prinzen  Albert,  Prinzgemahls  etc. 

v.  Rankes  Denkwiirdigkeiten  Hardenbergs  zu  Grunde  gelegt  wur- 
den.  Aus  der  iast  uniibersehbaren  Literatur  der  Befreiungskriege 
sind  vornehmlich  v.  Plotho,  v.  Muffling,  v.  Hopfher,  v.  Clausewitz, 
Pertz,  Bernhardi,  v.  Ollech,  v.  Aster,  Napoleon  (Correspondenz), 
Swederus,  v.  Thielen,  Koniger,  Chesney  Gewahrsmanner  gewesen, 
urn  die  Wechselwirkung  zwischen  Bluchers  Thatigkeit  und  den 
anderen  Kriegsereignissen  eingehend  und  getreu  darzustellen. 

Der  Kindheit  und  Jugend  des  Helden  (1742 — 1772)  sind  die 
Seiten  273 — 287  gewidmet,  seiner  Thatigkeit  als  Landmann 
(1773— -87)  S.  287—291,  seinen  Erlebnissen  und  Feldziigen  von 
1787—1806  S.  291—316,  den  Feldziigen  1806—7  S.  316—347, 
der  Zeit  von  1807—1812  S.  347—399,  dem  Feldzuge  1813—14 
S.  399—497  und  dem  von  1815  S.  497—557.  Die  letzten 
25  Seiten  schijdern  den  Lebensabend  des  greisen  Helden,  von 
dem  wir  wie  der  Verfasser  mit  Goethes  monumentalen  Worten 
Abschied  nahmen:        In  Harren  und  Krieg, 

In  Sturz  und  Sieg 

Bewusst  und  gross, 

So  riss  er  uns 

Vom  Feinde  los. 
Berlin.  TL   Bach. 

XC. 
Martin,  Theodore,  Das  Leben  des  Prinzen  Albert,  Prinzgemahls 

der  Konigin  von  England.    Uebersetzt  von  Emil  Lehmann. 

Band  1—3  gr.8.    (XVI,  521;  VIE,  599  u.  XV,  547  S).    Gotha 

1876-79,  Fr.  Andr.  Perthes.     33  M. 

Von  der  auf  Veranlassung  der  Konigin  Viktoria  von  Martin 
geschriebenen  Biographie  des  Prinzen  Albert  liegen  jetzt  die  bis 
1856  reichenden  drei  ersten  Bande  in  deutscher  Uebersetzung 
vor.  Das  Buch  schliesst  sich  an  die  friiher  von  General  Grey 
herausgegebenen  „Jugendjahre",  an  die  „Blatter  aus  einem  Tage- 
buche"  und  in  gewissem  Sinne  auch  an  Stockmars  „ Denkwiirdig- 
keiten" an.  Es  gestattet  einen  noch  tieferen  Einblick  als  diese 
Biicher  in  das  seltene  Verhaltniss  vollkommener  geistiger  Ueber- 
einstimmung,  das  sich  zwischen  dem  Prinzen  und  seiner  Gemahlin 
entwickelte,  es  wirft  voiles  Licht  auf  die  hervorragenden  Eigen- 
schaften  des  Geistes  und  des  Charakters,  die  den  Prinzen  aus- 
zeichneten,  auf  seine  unermiidliche  Thatigkeit,  sein  starkeS  Pflicht- 
gef iihl  und  sein  Taktgefuhl.  Ausserdem  findet  man  in  den  mit- 
getheilten  Briefen  und  in  den  Berichten  iiber  die  Thatigkeit  des 
Prinzen  eine  grosse  Zahl  intoressanter  Notizen  iiber  die  ver- 
schiedensten  Momente  englischer  und  europaischer  Politik. 

Vor  allem  sehen  wir,  wie  es  ihm  gelingt,  sich  die  thm 
anfangs  bestrittene  Stellung  zu  erringen,  so  dass  er  es  ist,  der 
—  allerding8  in  innigem  Einverstandniss  mit  der  Konigin  —  den 
constitutionellen  Einfluss  ausiibt,  welcher  den  wechselnden  Mini- 
sterien  gegeniiber  der  Krone  zukommt.  Er  selbst  zeichnet  die 
Aufgabe,   die  er  sich  gestellt  hat,   in  einem  vom  6.  April  1850 


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Martin,  Das  Leben  de9  Prinzen  Albert,  Prinzgemahls  etc.  367 

datirten,  an  den  Herzog  von  Wellington  gerichteten  Briefe,  in 
welchem  er  den  Vorschlag,  nach  dem  Tode  des  Herzogs  den 
Oberbefehl  iiber  die  Armee  zu  ubernehmen,  ablehnt,  dahin:  „dass 
er  seine  individuelle  Existenz  ganz  in  der  seiner  Frau  aufgehen 
lasse,  dass  er  keine  Macht  fur  und  durch  sich  selbst  erstrebe, 
keine  gesonderte  personliche  Verantwortlichkeit  vor  dem  Publi- 
kum  iibernehme,  sondern  seine  Stellung  ganz  und  gar  zu  einem 
Theile  der  ihrigen  mache,  jede  Liicke  ausfiille,  welche  sie  als 
Frau  naturgemass  in  der  Erfiillung  ihrer  koniglichen  Pflichten 
lassen  wiirde,  unaufhorlich  und  angstlich  jeden  Theil  der  dffent- 
lichen  Geschafte  uberwache,  um  im  Stande  zu  sein,  ihr  in  jedem 
Augenblicke,  bei  jeder  der  vielfachen  und  schwierigen  ihr  vor- 
gelegten  interaationalen ,  politischen,  socialen  oder  personlichen 
Fragen  und  Pflichten  Rath  zu  ertheilen  und  Beistand  zu  leisten." 
Bei  seiner  Bemuhung,  diese  Pflichten  zu  erfullen,  stand  der  Prinz 
im  lebhaftesten  politischen  Verkehr  mit  den  leitenden  Staats- 
mannern;  es  ist  bekannt,  dass  er  zu  Peel  in  ein  herzliches  Ver- 
haltniss  trat,  dagegen  mit  Palmerston  mehrfach  in  Conflikt  ge- 
rieth.  Fiir  Beides  giebt  unser  Buch  einige  neue  Belege,  von 
denen  die-  Mittheilungen ,  welche  sich  auf  die  Reibungen  mit 
Palmerston  beziehen,  deshalb  besonders  interessant  sind,  weil  sie 
es  ermoglichen,  das  im  Grossen  und  Ganzen  zwar  bekannte,  aber 
doch  nur  fiir  die  Momente,  wo  der  Conflikt  einen  akuten  Cha- 
rakter  annahm,  aufgeklarte  Verhaltniss  zwischon  dem  Prinzen 
und  dem  Minister  in  einigermassen  zusammenhangender  Ent- 
wickelung  zu  iiberblicken. 

Diese  Reibungen  scheinen  ihren  Ursprung  in  der  Art  zu 
haben,  wie  Palmerston  1848  und  in  den  nachstfolgenden  Jahren 
die  deutschen  Angelegenheiten  behandelte.  Unser  Buch  enthalt 
iiber  dieselben  im  1.  und  2.  Bande  eine  erhebliche  Anzahl  von 
Briefen  und  Memoranden,  in  denen  man  mit  Interesse  liest,  wie 
diese  Bewegung  sich  in  dem  Kopfe  eines  von  idealer  Gesinnung 
und  von  Liebe  zu  seinem  Geburtslande  erfullten  Fiirsten  spiegelt. 
Doch  stand  Prinz  Albert  der  deutschen  Entwickelung  damals  zu 
fern,  um  Einfluss  auf  dieselbe  iiben  zu  konnen.  Auch  haben  seine 
Ideen  iiber  die  Neugestaltung  Deutschlands  keinen  rechten  An- 
klang  gefiinden  weder  bei  seinem  Freunde  Stockmar,  noch  bei 
Konig  Friedrich  Wilhelm  IV.  und  am  wenigsten,  wie  es  scheint, 
bei  Lord  Palmerston,  der  die  deutsche  Frage  vorwiegend  nach 
den  Gesichtspunkten  des  merkantilen  englischen  Interesses  be- 
handelte und  die  deutschen  Einheitsbestrebungen  nicht  gem  sah, 
weil  er  von  ihnen  eine  Starkung  und  Ausdehnung  des  Zollvereins 
fiirchtete.  Seitdem  bildete  sich  zwischen  dem  Prinzen  und  dem 
Minister  ein  Gegensatz,  der  durch  die  Behandlung  der  schleswig- 
holsteinschen  Aigelegenheit  noch  verscharft  wurde.  Vergebens 
suchte  der  Prinz  zu  beweisen,  dass  die  Elbherzogthumer  natur- 
gemass zu.Deutschland  gehorten,  er  vermochte  damit,  wie  er 
25.  August  1850  an  Stockmar  schrieb,  keinen  Eindruck  zu 
machen.    „Die  Idee  fixe  ist,  Deutschland  wolle  nur  Holstein  mit 

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368  Martin,  Das  Leben  des  Prinzen  Albert,  Prinzgemahls  eta. 

Sclileswig  von  Danemark  losreissen,  urn  e8  selbst  zu  incorporiren 
und  dann  vom  englischen  ins  preussische  Handelssystem  zu 
Ziehen". 

In  Folge  dieses  Gegensatzes  machte  der  Prinz  einigemal 
den  Versuch,  Palmerston  von  den  auswartigen  Angelegenheiten 
zu  entfernen,  indem  er  namentlich  dann  einsetzte,  wenn  das 
eigenmachtige  Verfahren  des  Ministers,  wenn  die  Geringschatzung, 
mit  der  er  in  alien  Angelegenheiten  seines  Ressorts  die  Collegen, 
die  Rucksichtslosigkeit ,  mit  der  er  gelegentlich  die  fremden 
Machte  und  ihre  Vertreter  behandelte,  Aufeehen  und  Anstoss 
erregten. 

Einer  der  bezeichnendsten  Falle  dieser  Art  ist  der 
Pacifico-Streit ,  bei  dem  Palmerston  in  unnothiger  Weise  nicht 
nur  das  schwache  Griechenland ,  sondern  auch  Frankreich  und 
Russland  bruskirte,  so  dass  ersteres  sogar  seinen  Gesandten  ab- 
rief.  Auf  die  Mittheilung  hiervon  schrieb  der  Prinz  namens  der 
Konigin  an  den  Premierminister  Lord  Russel  (15.  Mai  1850): 
„Es  iiberrascht  uns  nicht,  dass  die  sehr  reizbare  franzosische  Regie- 
rung  die  Art  und  Weise  Lord  Palmefstons  nicht  mit  derselbenNach- 
sicht  und  demselben  Gleichmuth  hinnimmt  wie  seine  Collegen".  Doch 
gelang  es  ihm  nicht,  Palmerston  von  seinen  Collegen  zu  trennen; 
Russel  und  die  anderen  Minister  traten  mit  Warme  fur  ihn  ein  und 
auch  das  Unterhaus  erklarte  sich  nach  jener  viertagigen  Debatte 
fiir  ihn,  in  der  Palmerston  durch  die  beriihmte  fiinfstiindige  Rede 
selbst  die  Gegner  zur  Bewunderung  hinriss.  Mit  seiner  geistigen 
Ueberlegenheit ,  der  Frische  und  Kraft  seiner  Rede,  vor  allem 
durch  den  nationalen  Zug  seiner  Politik,  durch  sein  stokes 
civis  Romanus  sum  hatte  er  nicht  nur  die  Mehrheit  des  Unter- 
hauses  sondern  auch  der  Nation  hinter  sich. 

Ebenso  hatte  die  osterreichische  Regierung  mehrmals 
gerechte  Ursache  sich  durch  die  Formen  verletzt  zu  fuhlen,  die  der 
Minister  ihr  gegeniiber  anzuwenden  fur  gut  fand,  namentlich  in 
Betreff  der  Erklarungen  iiber  die  Vorkommnisse  bei  Haynaus 
und  bei  Kossuths  Anwesenheit  in  London  (1850  bez.  1851).  Die 
Vertheidiger  des  Ministers  meinten  allerdings,  dass  dies  stolze 
Auftreten  gegen  die  festlandischen  Souverane  dem  britischen 
Nationalstolz  entspreche.  Mit  Recht  konnte  hierauf  die  Konigin, 
welche  das  Verhalten  des  Ministers  entschieden  missbilligte ,  in 
einem  Schreiben  an  Lord  Russel  erwiedern  (21  Nov.  1851): 
„Es  handelt  sich  nicht  darum,  ob  die  Konigin  dem  Kaiser  von 
Oesterreich  gefallt  oder  nicht,  sondern  darum,  ob  sie  ihm  ge- 
rechten  Grund  zur  Kiage  gegeben  hat  oder  nicht.  Und  wenn 
das  der  Fall  ist,  so  kann  sie  nicht  glauben,  dass  das  ihre  Po- 
pularitat  bei  ihrem  Volke  vermehren  werde." 

Schon  vor  den  hier  erwahnten  Zwistigkeiten  hatte  sich  die 
Konigin  (bez.  in  ihrem  Namen  der  Prinz)  zu  wiederholten  Malen 
beschwert,  dass  ihr  die  Depeschen  nicht  regelmassig  oder  nicht 
rechtzeitig  zugestellt,  dass  die  mit  dem  Cabinet  und  mit  ihr 
vereinbarten  Verhaltungslinien   nicht  beobachtet   wiirden.     „Die 


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Martin,  Das  Leben  dee  Frinzen  Albert/  Prinzgemahls  etc.  369 

Eonigin  hat  ein  Recht,  schreibt  der  Prinz  (2.  April  50),  von 
Lord  Palmerston  als  Minister  zu  verlangen,  dass  sie  mit  dem 
ganzen  Endzweck  und  der  Tendenz  der  Politik,  zu  welcher  ihre 
Zustimmung  verlangt  wird,  bekannt  gemacht  werde  und  dass, 
nachdem  sie  diese  Zustimmung  ertheilt  hat,  diese  Politik  nicht 
willkiirlich  geandert  werde ,  dass  wichtige  Schritte  ihr  nicht 
verborgen  bleiben  und  dass  ihr  Name  nicht  ohne  ihre  Sanktion 
gebraucht  werde".  Die  weiteren  Verhandlungen  fuhrten  dahin, 
dass  die  Eonigin  in  einem  vom  12.  August  1850  datirten  Memoir 
die  constitutionellen  Vorschriften  zusammenstellte,  deren  Beach- 
tung  sie  von  ihrem  Minister  des  Auswartigen  verlangte,  indem 
sie  ausdriicklich  und  wiederholt  die  Androhung  der  Entlassung 
hinzufiigte.  Dadurch  sah  sich  Palmerston  allerdings  veranlasst, 
schriftlich  und  mundlich  zu  erklaren,  dass  er  nicht  verfehlen 
werde,  diese  Anweisungen  zu  befolgen.  Er  hat  sich  dann  freilich 
wenig  darum  bekiimmert  und  ist  ruhig  seinen  Weg  weiter  ge- 
gangen.  So  lange  Russel  ihn  unterstiitzte ,  die  ganze  liberate 
Partei  also  hinter  ihm  stand,  belt  er  es  bei  seiner  Popularitat 
nicht  fur  nothig,  viel  Rucksicht  auf  die  Gegenwirkung  des  Hofes 
zu  nehmen. 

Die  rasche  Anerkennung  des  franzosischen  Staatsstreiches, 
entgegen  dem  Beschlusse  des  Cabinets  und  dem  ausdriicklichen 
Wunsche  der  Eonigin,  musste  dieselbe  aufe  neue  schwer  ver- 
letzen.  Sie  gab  ihrer  Entriistung  unverhohlen  Ausdruck,  indem 
sie  auf  die  erste  Kunde  davon  an  Lord  Russel  u.  a.  schrieb: 
„  Weiss  Lord  John  etwas  von  der  angeblichen  Billigung,  welche, 
wenn  sie  wahr  ware,  die  Ehrlichkeit  und  Wurde  der  Regierung 
der  Eonigin  in  den  Augen  der  Welt  abermals  blosstellen  wiirde?" 
Unter  diesen  Umstanden  entschloss  sich  Russel  zum  Bruche  mit 
seinem  langjahrigen  Bundesgenossen  und  Collegen.  Martin  giebt 
dariiber  einige  neue  Schriftstiicke ,  durch  welche  die  Mitthei- 
ltingen  in  Ashley's  „Life  of  Palmerston"*)  nicht  unwosentlich  er- 
ganzt  werden.  In  den  letzteren  wird  Palmerstons  ausfiihrliche 
Vertheidigung  abgedruckt,  die  Antwort  Russels  (17.  Dezemb.  51) 
nur  kurz  angedeutet.  Es  heisst  in  derselben  u.  a.:  „So  sehr  ich 
mit  der  von  Ihnen  vertretenen  auswartigen  Politik  iiberein- 
8timme,  und  so  sehr  ich  die  Energie  und  Geschicklichkeit,  mit 
welcher  dieselbe  zur  Ausfiihrung  gebracht  wird,  bewundere,  so 
kann  ich  doch  nicht  umhin  zu  beobachten,  dass  haufig  wieder- 
kehrende  Missyerstandnisse,  stets  sich  wiederholende  Verletzungen 
der  Vorsicht  und  der  Schicklichkeit  die  Wirkungen,  welche  die 
Folge  einer  gesunden  Politik  und  einer  geschickten  Verwaltung 
hatten  sein  miissen,  vereitelt  haben.  Ich  sehe  mich  daher  zu 
meinem  grossten  Bedauern  genothigt,  zu  dem  Schlusse  zu  ge- 
langen,  dass  die  Leitung  der  auswartigen  Angelegenheiten  nicht 
ferner  zum  Vortheil  des  Landes  in  Ihren  Handen  bleiben  kannu. 

Der  Prinz  war  einigermassen  erstaunt,  dass  der  Streit  dies- 


*)  London  1876. 

Mlttheilungen  a.  d.  hUtor.  Litteratur.    VU.  24 

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370         Martin,  Das  Leben  dea  Prinzen  Albert,  Prinzgemahls  etc. 

mal  zu  solchem  Resultate  fiihrte.  Mit  bitterer  Ironie  schreibt 
er  (20.  Dezemb.  1851)  an  Russel:  „Sie  werden  sich  leicht  vor- 
Btellen  konnen,  dass  die  Nachricht  von  dem  plotzlichen  Ausgange 
Hirer  Different  mit  Lord  Palmerston  uns  sehr  iiberrascht  hat, 
da  wir  gewohnt  waren,  solche  Differenzen  damit  enden  zu  sehen, 
dass  er  seine  Sachen  durchsetzte,  und  die  Vertheidigung  der- 
selben  &einen  Collegen  und  den  Misscredit  der  Konigin  iiberliess." 

Palmerston  musste  also  zuriicktreten ,  auch  das  Unterhaus 
liess  ihn  im  Stich.  Aber  freilich  hatte  das  Ministerium  Russel 
sich  damit  selbst  den  Todesstoss  gegeben  und  musste  sehr  bald 
resigniren.  Ein  Torycabinet  vermochte  sich  nicht  zu  halten  und 
dem  im  Dezember  1852  von  Aberdeen  gebildeten  Coalitions- 
ministerium  gehorte  Palmerston  wieder  an.  Er  musste  sich  in- 
des  mit  dem  Ministerium  des  Innern  begniigen  und  seine  Do- 
mane,  die  auswartigen  Angelegenheiten ,  anderen  Handen  iiber- 
lassen.  Doch  gewann  er  bald  wieder  den  Einfluss  auf  dieselben, 
zu  dem  ihn  sein  politischer  Scharfblick  und  sein  uberlegenes 
Geschick  in  ihrer  Behandlung  berechtigten. 

Die  orientalische  Verwickelung  fiihrte  dann  zu  einer  neuen 
Krisis.  Vom  Beginn  derselben  an  arbeitete  Palmerston  im  Ein- 
veretandniss  mit  Napoleon  auf  ein  energisches  Auftreten  bin, 
wahrend  Aberdeen  eine  friedliche  Losung  herbeizufiihren  suchte. 
Der  Prinz  war  unzufrieden  mit  dem  schwankenden  Auftreten 
Aberdeens,  noch  weniger  aber  mit  den  Zielen  Palmerstons  ein- 
verstanden.  Seine  Ansichten  gehen  in  der  Hauptsache  darauf 
hinaus:  England  darf  nicht  zugeben,  dass  der  Bosporus  russisch 
wird  und  muss,  um  dies  zu  yerhindern,  nothigenfalls  zu  den 
Waflfen  greifen;  der  Krieg  ist  dann  aber  nicht  im  turkischen, 
sondern  im  europaischen  Interesse  zu  fiihren  und  deshalb  darf 
England  keine  Verpflichtungen  gegen  die  Tiirkei  ubernehmen; 
England  hat  gar  kein  Interesse  an  der  Integritat  des  turkischen 
Reiches,  weit  eher  an  der  Herstellung  geordneter  Zustande 
innerhaJb  desselben.  Es  wiirde  zu  weit  fiihren  und  den  Zwecken 
dieser  Zeitschrift  nicht  entsprechen,  diese  Ansichten  aus  den  von 
Martin  veroffentlichten  Briefen  des  Prinzen  im  Einzelnen  zu  be- 
grunden  und  darnach  zu  entwickeln,  welche  Stellung  der  Prinz 
in  den  verschiedenen  Stadien  der  Verhandlungen  einnahm.  Ich 
hebe  deshalb  nur  eine  Stelle  aus  dem  Memorandum  heraus,  das 
der  Prinz  am  21.  Oktober  1853  der  Erwagung  des  Cabinets 
unterbreitete.  „Man  wird  sagen,  dass  England  und  Europa,  ganz 
abgesehen  von  alien  turkischen  Erwagungen,  ein  starkes  Interesse 
daran  haben,  Constantinopel  und  das  tiirkische  Gebiet  nicht 
Russland  in  die  Hande  fallen  zu  sehen,  und  dass  sie  aussersten 
Falls  sogar  Krieg  fiihren  miissten,  um  einem  solchen  Umsturz 
des  Gleichgewichts  der  Macht  vorzubeugen.  Das  muss  zugegeben 
werden,  und  ein  solcher  Krieg  kann  recht  und  weise  sein.  Aber 
das  wiirde  ein  nicht  fur  die  Aufrechterhaltung  der  Integritat 
des  ottomanischen  Reiches,  sondern  lediglich  fiir  die  Interessen 
der  civilisirten  europaischen  Machte  gefuhrter  Krieg  sein.     Der- 


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Martin,  Das  Leben  des  Prinzen  Albert,  Prinzgemahls  etc.  371 

selbe  sollte  unabhangig  von  Verpflichtungen  gegen  die  Tiirkei 
gefiihrt  werden  und  wird  wahrscheinlich  in  dem  Frieden,  welcher 
der  Zweck  dieses  Krieges  sein  muss,  daza  fiihren,  dass  Anord- 
nungen  erwirkt  werden,  welche  mehr  die  wohlverstandenen 
Interessen  Europas,  des  Christenthums ,  der  Freiheit  und  der 
Civilisation,  als  die  Wiederauferlegung  des  Joches  der  unwissen- 
den,  barbarischen  und  despotischen  Muselmanner  auf  den  frucht- 
barsten  und  begiinstigtsten  Theil  Europas  fdrdern." 

Aberdeen,  Clarendon  als  Minister  der  auswartigen  An- 
gelegenheiten  und  einige  andere  Minister  erklarten  sich  mit 
den  von  dem  Prinzen  dargelegten  Ansicbten  einverstanden, 
Palmerston  aber  spottete  iiber  die  Idee,  dass  man  von  dem 
Sultan  eine  andere  Behandlung  seiner  christlichen  Unterthanen 
verlangen  solle.  Fiir  ihn  handelte  es  sich  im  Gegentheil  gerade 
darum,  die  Integritat  des  tiirkischen  Reiches  sicherzustellen; 
jede  andere  Politik  musste  nach  seiner  Meinung  friiher  oder 
spater  dabin  fiibren,  die  tiirkischen  Lander  unter  russische  Herr- 
schaft  zu  bringen. 

Mitten  unter  diesen  Verhandlungen  erklarte  Palmerston 
plotzlich  am  15.  Dezember  seinen  Austritt  aus  dem  Cabinet, 
formell  wegen  seines  Widerspruchs  gegen  Lord  Russels  Reform- 
bill.  Sofort  machte  sich  natiirlich  die  Ansicht  geltend,  dass  es 
Zwistigkeiten  in  der  orientalischen  Frage  seien ,  um  derenwillen 
er  ausscheide,  eine  Ansicht,  die  von  Bunsen  (Bunsens  Leben  von 
Nippold,  III,  p.  316.)  bereits  in  einem  Briefe  vom  15.  Dezember, 
die  seitdem  von  alien  Historikern,  welche  sich  mit  dieser  Sache 
befasst  haben,  ausgesprochen  ist.  Der  Prinz  dagegen  und  Pal- 
merston*) stellen  auch  in  vertrauten  Briefen  die  Reformfrage  in 
den  Vordergrund.  Nach  diesen  Zeugnissen  muss  wohl  zugegeben 
werden,  dass  die  Reformbill  nicht  bios  zum  Vorwande  diente. 
In  der  That  stand  Palmerston  als  Minister  des  Innera  zu  dieser 
Frage  in  sehr  naher  Beziehung.  Er  hatte  sich  wiederholt  gegen 
die  Principien  der  Bill  erklart  und  man  konnte  weder  von  ihm 
verlangen,  dass  er  seinen  ganzen  Einfluss  auf biete,  um  sie  durch- 
zubringen,  noch  erlaubte  es  ihm  seine  Stellung,  sich  dabei  passiv 
zu  verhalten.  So  langte  er  nur  Minister  des  Innern  war,  hatte  er 
alle  Veranlassung  auf  seinen  Ansichfcen  in  der  Reformfrage  zu 
bestehen.  Die  Sache  lag  aber  ganz  anders,  wenn  man  auf  seine 
Wunsche  in  der  orientalischen  Frage  einging  und  ihm  damit 
einen  grosseren  Einfluss  als  bisher  und  noch  glanzendere  Aus- 
sichten  fur  die  Zukunft  gewahrte.  •Denn  Palmerston  war  oflfenbar, 
wenn  er  es  auch  in  seinen  Briefen  bestreitet,  nicht  nur  der 
Reform  wegen  ausgeschieden.  Mit  grossem  Geschick  hatte  er 
den  rechten  Augenblick  benutzt,  um  das  seit  Jahrzehnten  an- 
gestrebte  Ziel  zu  erreichen  und  sich  zum  Herrn  der  Lage  zu 
machen.  Die  offentliche  Meinung,  die  schon  durch  die  Kata- 
strophe    von    Sinope    erregt    war,    gerieth    durch   Palmerstons 


*)  Ashley  II,  p.  19. 

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372  Martin,  Das  Leben  des  Prinzen  Albert,  Prinzgemahla  etc. 

Austritt  und  durch  die  Agitation  seiner  Freunde  in  stiir- 
mische  Bewegung;  es  war  unzweifelhaft,  dass  das  Coalitions- 
ministerium  sich  nicht  behaupten  konnte,  wenn  das  fahigste  und 
popularste  seiner  Mitglieder  sich  der  Opposition  anschloss.  Die 
Regierung  sah  sich  also  genothigt  nachzugeben  und  die  von 
Palmerston  und  dem  Kaiser  Napoleon  gewiinschten  Massregeln 
gegen  Russland  zu  beschliessen*).  Palmerston  liess  nunmehr  seine 
Bedenken  gegen  die  Reformbill  fallen  und  trat  wieder  in  das 
Ministerium  ein.  Auch  die  Konigin  gab  jetzt  ihre  Zustimmung 
zu  diesem  Beschlusse,  indem  sie  dabei  erklarte,  sie  glaube  die- 
selbe  unter  den  obwaltenden  Umstanden  nicht  yersagen  zu  konnen, 
obwohl  sie  voraussehe,  dass  dieser  Beschluss  zur  Kriegserklarong 
fiihren  werde,  eine  Voraussicht,  die  sich  sehr  bald  bewahrheitete. 
Dennoch  blieb  der  Konigin  und  dem  Prinzen,  wenn  sie  ihrem 
bisherigen  Princip  constitutioneller  Regierung,  das  Regiment  im 
Einverstandniss  mit  den  Wiinschen  der  Nation  zu  fiihren,  treu 
bleiben  wollten,  nichts  iibrig  als  sich  zu  fugen  und  den  mach- 
tigen,  von  den  Sympathien  der  Bevolkerung  unterstiitzten  Staats- 
mann  gewahren  zu  lassen.  Denn  die  leidenschaftliche  Erregung 
der  offentlichen  Meinung,  welche  durch  Palmerstons  Riicktritt 
hervorgerufen  war,  richtete  sich  weniger  gegen  seine  Collegen 
als  gegen  den  Hof,  und  voraehmlich  gegen  den  Fremden,  der  an 
der  Spitze  desselben  stand  und  sich,  wie  man  behauptete,  auf 
unconstitutionelle  Weise  in  die  Geschafte  mische.  Wochenlang 
waren  die  Zeitungen,  die  Verhandlungen  der  Meetings  voll  von 
den  gehassigsten  Anklagen  gegen  den  Prinzen  und  von  den 
abenteuerlichsten  Behauptungen  iiber  die  angebliche  koburgische 
Verschworung.  Diesen  Kampf  hat  der  Prinz  schliesslich  siegreich 
bestanden.  Alle  Anklagen,  alle  Verlaumdungen  erwiesen  rich 
als  grundlos,  und  die  parlamentarische  Verhandlung  hat  sogar 
viel  dazu  beigetragen,  die  Stellung  des  Prinzen  zu  befestigen.  In 
der  orientalischen  Frage  aber  hatte  er  nachgeben  miissen.  Der 
von  ihm  bekampfte  Minister  hatte  jetzt  grosseren  Einfluss  als 
vorher,  er  ist  bald  darauf  an  die  Spitze  der  Regierung  getreten, 
hat  nach  seinen  Ansichten  den  Krieg  for  die  Integritat  der 
Tiirkei  gefiihrt  und  schliesslich  durchgesetzt,  dass  dieselbe  feier- 
lichst  von  Europa  proklamirt  wurde,  Mit  dem  Augenblicke,  wo 
der  Krieg  nicht  mehr  zu  vermeiden  war,  scheint  der  Prinz  seine 
Opposition  gegen  Palmerston  aufgegeben  zu  haben.  Als  patri- 
otischer  Staatsmann  richtete  er  nunmehr  seine  ganze  Kraft  darauf, 
dass  der  Krieg  energisch  gefiihrt  werde  und  dass  die  Ziele,  welche 
die  britische  Politik  sich  gesteckt  hatte,  erreicht  wiirden.  In 
diesen  Beziehungen  hat  er  Palmerstons  Bestrebungen  warm  unter- 
8tiitzt  und  sich  zugleich  bemiiht,  den  franzosischen  Bundes- 
genossen  von  weitergehenden  Planen  auf  eine  Umgestaltung  der 
Karte  von  Europa,  die   der  Kaiser  mehrmals,   namentlich    zur 


*)  Vergl.  dariiber:   Ashley   1.  c.   Kinglake,   Expedition   of  the   Crimea. 
I,  p.  881,  und  den  Aufsatz  im  Dezemberheft  der  dentschen  Rundschau. 


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Martin,  Das  Leben  des  Prinzen  Albert,  Prinzgemahla  etc.         373 

Zeit  des  Pariser  Congresses  hervortreten  liess,  zuriickzuhalten, 
Der  dritte  Band  des  Werkes,  der  sicli  vornehmlich  mit  der 
diplomati8chen  Geschichte  des  Krimkrieges  und  mit  den  mili- 
tarischen  Organisationen  in  England,  an  denen  der  Prinz  hervor- 
ragenden  Antheil  hatte,  beschSftigt ,  giebt  dafiir  zahlreiche  Be- 
weise.  Er  enthalt  viel  interessantes  neues  Material  namentlich 
in  Betreff  der  Beziehungen  zu  Oesterreich  und  zu  Preussen. 
Friedrich  Wilhelm  IV.  versuchte  es  mehrmals  in  ausfiihrlichen 
Briefen  an  die  Konigin  nnd  den  Prinzen,  die  von  ihm  befolgte 
Politik  zu  erklaren.  Ich  muss  es  umsomehr  vermeiden ,  dieselbe 
hier  klar  zu  stellen,  als  das  in  dieser  Beziehung  von  Martin 
mitgetheilte  neue  Material  in  dem  erwahnten  Aufsatze  der 
deutschen  Rundschau  bereits  verwerthet  worden  ist,  und  citire 
deshalb  nur  eine  Stelle  aus  einem  Antwortschreiben  der  Konigin 
als  Zeichen  des  Freimuthes  und  der  Offenheit,  welehe  die  koniglicfae 
Familie  in  England  dieser  Politik  gegenuber  bewies.  Als  die 
Konigin  im  Mai  1854  von  der  Entlassung  Bunsens  und  Bonins 
und  von  der  Abreise  des  Prinzen  von  Preussen  Kenntniss  er- 
halten  hatte,  schrieb  sie  u.  a.:  „...Nur  eines  drangt  mich  mein 
Herz  Ihnen  auszusprechen ,  class  die  Manner,  mit  welchen  Sie 
gebrochen  haben,  treue,  wahrhafte  und  Ihnen  mit  warmster 
Anhanglichkeit  ergebene  Diener  waren,  auch  durch  die  Freiheit 
und  Independenz  der  Seele,  mit  welchen  sie  gegen  Ew.  Majestat 
ihre  Meinungen  geltend  machten,  gerade  einen  untriiglichen  Be- 
weis  gegeben  haben,  dass  sie  nicht  ihre  eigenen  personlichen 
Vortheile  und  die  Gunst  ihres  Herrn,  sondern  dessen  wahre 
Interessen  und  Wohlfahrt  allein  im  Auge  hatten,  und  wenn 
gerade  solche  Manner,  und  darunter  selbst  ein  liebender  Bruder, 
ein  durch  und  durch  edler  und  ritterlicher  Ftirst,  der  Nachste 
am  Throne,  in  einer  schweren  Krisis  von  Ihnen  zu  wenden  sich 
gezwungen  sehen,  so  ist  dies  ein  schweres  Zeichen,  welches  wohl 
Ew.  Majestat  Anlass  geben  konnte,  mit  sich  zu  Rathe  zu  gehen 
und  mit  angstlicher  Sorgfalt  zu  priifen,  ob  nicht  vielleicht  der 
verborgene  Grand  vergangener  und  zukiinftiger  Uebel  in  den 
Ansichten  Ew.  Majestat  selbst  liegen  konnte." 

Martins  Biographic  beschaftigt  sich  natiirlich  nicht  allein 
mit  den  politischen  Fragen,  die  ich  hier  beriihrt  habe.  Auch 
iiber  die  Familienverhaltnisse  des  Prinzen,  iiber  die  Weltaus- 
stellung  von  1851,  die  der  Prinz  in  das  Leben  gerufen  und  ge- 
leitet  hat,  iiber  viele  Fragen  des  wirthschaftlichen  und  des 
geistigen  Lebens,  bei  denen  er  anregend  oder  leitend  thatig  war, 
werden  eingehende  und  interessante  Mittheilungen  von  dem  Bio- 
graphen  gegeben,  der  sich  uberall  auf  authentische,  fur  andere 
unzugangliche  Quellen  stiitzen  konnte. 

Steglitz,  7.  Dezember  1878.  Paul  Goldschmidt. 


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374  Hensel,  Die  Familie  Mendelssohn. 

xcr. 

Hensel,  S.,  Die  Familie  Mendelssohn  1729—1847.  Nach  Briefen 
und  Tagebiichern.  Mit  8  Portraits  nach  Zeichnungen  von 
Prof.  W.  Hensel.  3Bande.  gr.  8.  (XIH,  427;  VII,  283  und  VII, 
261  S.)    Berlin  1879,  B.  Behr's  Buchhandlung. 

Wenn  wir  in  diesen  Blattern  des  vorliegenden  Baches,  ob- 
wohl  dasselbe  durchaus  nicht  den  Anspruch  erhebt,  ein  Geschichts- 
werk  zu  sein,  gedenken,  so  glauben  wir  dieses  damit  rechtfertigen 
zu  konnen,  dass  dasselbe  doch  auch  historisch  und  zwar 
als  Geschichtsquelle  von  Bedeutung  ist.  Fast  ganz  auf  Fa- 
milienpapieren ,  Briefen  und  Tagebiichern,  beruhend  und  zum 
grossen  Theil  dieselben  wiedergebend,  schildert  uns  dasselbe  das 
Leben  einer  Familie ,  welche  in  der  ersten  Halfte  dieses  Jahr- 
hunderts  in  Berlin  eine  grosse  Rolle  gespielt  hat,  welche  damals 
der  Mittelpunkt  der  wahrhaft  gebildeten  Kreise  der  preussischen 
Hauptstadt  gewesen  ist.  Mit  der  Familie  selbst  fiihrt  uns  das 
Buch  auch  diesen  weiteren  Kreis,  das  Leben  und  Treiben  in 
demselben  vor,  in  welchem  freilich  (charakteristisch  f iir  die  Zeit) 
kiin8tlerische  und  litterarische  Interessen  die  politischen  fast 
ganz  in  den  Hintergrund  drangen.  Wir  gestehen  das  Buch  mit 
grossem  Vergniigen  gelesen  zu  haben  und  auch  wir  danken  dem 
Verf.,  dass  er  dasselbe,  welches  urspriinglich  nur  fiir  die  Familie 
geschrieben  war,  veroffentlicht  hat.  Es  fiihrt  uns  eine  Reihe 
von  bedeutenden  und  anziehenden  Personlichkeiten  vor,  welche 
sich  ebenso  durch  Talent  und  durch  Tiichtigkeit,  wie  durch 
Adel  der  Gesinnung  und  durch  Liebenswiirdigkeit  auszeichnen, 
und  ein  Familienleben,  wie  es  inniger  und  harmonischer  nicht 
gedacht  werden  kann.  Der  erste  Band  behandelt  die  Zeit  von 
1729  bis  1835,  er  beginnt  mit  einer  Biographie  des  Philosophen 
Moses  Mendelssohn,  in  welcher  namentlich  das  reformatorische 
Wirken  desselben  auf  seine  Glaubensgenossen,  die  Einfiihrung 
der  Juden  in  die  gebildete  Gesellschaft,  hervorgehoben  wird.  Es 
folgen  dann  kurze  Abschnitte  iiber  den  altesten  Sohn  desselben, 
Joseph  Mendelssohn,  und  dessen  zwei  Schwestern,  Dorothea,  welche 
als  Geliebte,  Gattin  und  Mitarbeiterin  Friedrich  Schlegel's  be- 
kannt  geworden  ist,  und  Henriette,  die  langere  Zeit  als  Er- 
zieherin  der  einzigen  Tochter  des  napoleonischen  Generals 
Sebastiani  in  dessen  Hause  gelebt  hat  und  deren  Briefe  manche 
interessante  Einblicke  auch  in  das  pariser  Leben  in  den  beiden 
ersten  Decennien  dieses  Jahrhunderts  gewahren.  Der  Haupttheil 
des  Bandes  fiihrt  uns  die  Familie  des  jiingeren  Bruders  Alexander 
Mendelssohn  vor,  diesen  selbst,  seine  Gattin,  ihre  Kinder,  anter 
denen  Felix  und  seine  nicht  weniger  begabten  und  gebildeten 
Schwestern  Fanny  und  Rebecka  am  meisten  hervortreten,  ferner 
die  beiden  Gatten  derselben,  den  Maler  Hensel,  den  Vater  des 
Verfassers,  und  den  Mathematiker  Dirichlet,  dazu  dann  aber  auch 
den  weiteren  Freundeskreis,  welcher  sich  urn  dieselben  bildet; 
er  schliesst  mit  dem  Tode  des  Vaters  im  Jahre  1835,  dem  ersten 
schweren  Stoss,  welchen  dieses  wahrhaft  gliickliche  Familienleben 


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BuUe,  Geschiclite  der  Jahre  1871—1877.  375 

erleidet.  Hauptquellen  des  Verf.  sind  hier  die  Briefe  und  Tage- 
biicher  seiner  Mutter,  von  denen  ein  grosser  Theil  theils  voll- 
gtandig,  theils  in  Ausziigen  mitgetheilt  wird;  von  den  schon 
friiher  veroffentlichten  Briefen  Felix's  werden  nur  einzelne  hier 
wiederholt,  dafiir  aber  wird  eine  nicht  geringe  Zahl  von  bisher 
ungedruckten  neu  hinzugefiigt.  Mit  besonderer  Ausfiihrlichkeit 
wird  die  erste  Reise  Felix's  nach  England  1829  behandelt, 
wahrend  die  italienische  Reise  im  folgenden  Jahre,  von  welcher 
die  „Reisebriefeu  ein  so  schones  and  lebhaftes  Bild  geben,  hier 
nor  ganz  kurz  beriihrt  wird*  Der  zweite  Band  reicht  bis  zum 
Tode  der  Mutter  1843;  ein  en  grossen  Theil  desselben  nehmen 
die  Briefe  ein,  welche  Fanny  Hensel  von  einer  italienischen  Reise 
aus  1839  und  1840  in  die  Heimath  geschrieben  hat;  der  dritte 
Band  endlich  schliesst  mit  dem  Jahre  1847,  in  welchem  bald 
nacheinander  Fanny  und  Felix  starben ;  auch  hier  wieder  bildet 
den  grossten  Theil  die  Corresponded  zwischen  Rebecka,  welche 
mit  ihrem  Gatten  und  ihren  Kindern  1843  und  1844  Italien 
besucht,  und  Fanny,  sowie  die  Briefe  der  letzteren  von  ihrer 
zweiten  italienischen  Reise  1845  aus.  Dem  schon  ausgestatteten 
Werke  sind  8  Portrats  beigegeben,  photographische  Nachbil- 
dungen  von  Zeichnungen  des  Vaters  des  Verfassers. 

Berlin.  F.  Hirsch. 

xcn. 

Bulle,  Constantly  Geschichte  der  Jahre  1871—1877.  (In  2  Bdn.) 
II.  Band*  Das  iibrige  Europa.  Mit  Namen-  und  Sachregister 
zu  Band  I  u.  II.  gr.  8.  (4,  331  S.).  Leipzig  1878.  Duncker 
&  Humblot  5  M. 
In  Bezug  auf  die  Tendenz  des  Buches  und  die  Art  der 
Behandlung  des  Stoffes  verweist  Referent  auf  seine  Anzeige  des 
I.  Bandes  des  vorliegenden  Werkes  in  dieser  Zeitschrift  VII 
p.  79 — 81.  Es  ist  schon  dort  hervorgehoben  worden,  wie  misslich 
es  ist,  wenn  ein  Geschichtsschreiber ,  der  mit  den  Ereignissen 
gleichen  Schritt  zu  halten  sucht,  im  voraus  den  Endpunkt  eines 
bestimmten  Jahres  als  Abschluss  eines  als  Ganzes  zu  behandeln- 
den  Zeitraums  festsetzt.  Auch  der  Verf.  verschliesst  sich  dieser 
Erwagung  nicht;  er  gesteht  (p.  176),  dass  er  in  Folge  dessen 
bei  mehr  als  einem  Staate  die  Erzahlung  der  betreffenden  Er- 
eignisse  an  einem  Punkte  habe  abbrechen  miissen,  der  kaum 
nothdiirftig  einen  gewissen  ausserlichen  Abschluss  gestattete. 
Ganz  besonders  f  iihlbar  ist  ihm  dieser  Uebelstand  bei  der  orien- 
talischen  Frage  geworden;  hier  ist  es  ihm  unerlasslich  erschienen, 
nicht  bios  andeutungsweise  und  mit  kurzer  Angabe  der  Facta 
in  das  Jahr  1878  hinuberzugreifen ,  sondern  die  geschichtliche 
Darstellung  selbst  bis  zum  Abschluss  des  Vertrages  von  Berlin 
weiterzufiihren.  Jeder  Leser  des  Buches  wird  dem  beipflichten 
und  dem  Verf.  Dank  wissen,  dass  er  sich  in  diesem  Punkte  ohne 
iibertriebene  Engherzigkeit  der  Fessel,  die  in  dem  gewahlten 
Titel  lag,  entledigt  hat. 


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376  v«  S61ti,  Das  deutsche  Volk  und  Reich. 

Ungefahr  die  erste  Halfte  des  Buches  (S.  1—175)  enthalt 
die  Geschichte  der  Lander:  Oesterreich-Ungarn,  Schweiz,  Italien, 
Spanien  und  Portugal,  Grossbritannien ,  Holland  und  Belgien, 
Danemark,  Schweden  und  Norwegen.  Als  besonders  eingehend 
ist  daraus  hervorzuheben  die  Darstellung  der  auf  den  Ausgleich 
von  1868  folgenden  Verfassungskampfe  in  Oesterreich  und  Ungarn 
(S.  1 — 45),  der  spanischen  Wirren  von  der  Wahl  Amadeo's  bis 
zur  Beendigung  des  Carlistenkrieges  (S.  84 — 132),  sowie  der 
englischen  Verhaltnisse  in  den  letzten  Jahren  des  Ministeriums 
Gladstone  und  dem  Anfange  der  Disraelischen  Aera  (S.  131 — 152). 
Die  ganze  zweite  Halfte  (S.  176 — 299)  wird  eingenonunen  von 
der  an  die  Geschichte  Russlands  und  der  Tiirkei  angekniipften 
Darstellung  der  orientalischen  Wirren,  die  bis  zur  Beendigung 
des  Berliner  Congresses  (13.  Juli  1878)  fortgefiihrt  wird.  Die 
Schilderung  des  Verlaufes  der  diplomatischen  Yerhandlungen 
sowie  des  Krieges  selbst  zeigt  die  scbon  frtther  anerkannten 
Vorziige,  nur  soheint  der  Verf,  einem  grosseren  Leserkreis  gegen- 
iiber  in  Bezug  auf  das  miiitarische  Detail  des  Guten  etwas  zu 
viel  zu  thun. 

Entlegenere  Kreise  von  Ereignissen,  die  sicb  in  fremden 
Erdtheilen  vollzogen  haben,  sind,  wie  der  Ver£  in  der  Schluss- 
betracbtung  S.  310  bemerkt,  ausgescblossen  geblieben,  da  es 
nicbt  tbunlicb  erscbien,  aucb  ihnen  schon  nacb  so  kurzer  Zeit  eine 
zusammenfassende  Behandlung  zu  widmen.  Der  Vert  stellt  eine 
zusaxnmenfassende  Behandlung  der  iiberseeischen  Yerhaltnisse  in 
Aussicht  in  einer  spateren  Fortsetzung  dieses  Werkes,  in  Bezug 
auf  welches  nur  der  eine  Wunsch  erlaubt  sei,  dass  sie  sich  der 
Entwickelung  der  Ereignisse  nicht  so  dicht  an  die  Fersen 
heften  moge. 

Berlin.  R.  Rodenwaldt 

XCHI. 
von  Soltl,  Dr.  Job.  Mich.,  Das  deutsche  Volk  und  Reich  in  fort- 
ochreitender  Entwickelung   von  den  friihesten  Zeiten  bis  auf 
die  Gegenwart     3  Bde.  gr.  8.  (VIH,  290;  VIII,  301;  IV,  322  &). 
Eiberfeld  1877/78.    E.  LoU.     10  M. 

Der  Herr  Verfasser,  einer  der  Senioren  der  deutschen 
Geschichtsforschung,  begleitet  sein  W«rk  mit  dem  Wunsche  in 
(lib  Oeffentlichkeit:  „M6ge  dieses  Buch  ein  wahres  Yolksbuch 
werden  und  dazu  beitragen,  die  deutschen  Stamme,  indem  sie 
die  Gegenwart  mit  der  Vergangenheit  vergleichen,  immer  inniger 
mit  einander  zu  verbinden  und  veranlassen,  auf  der  Bahn  frei- 
sinniger  politischer  und  wahrhaft  religioser  Entwickelung  fort- 
zustreben.4*  Ueberall  begegnen  wir  einer  gehobenen  patriotischen 
Auf£a«8ung:  „Kaum  diirfte  Einer  der  nachfolgenden  Geschichts- 
schreiber",  sagt  eine  andere  Stelle  des  Vorworts ,  „so  gliicklich 
sein,  einen  ahnlichen  Abschluss  fiir  sein  Werk  zu  linden,  als  mir 
die  Vorsehung  gewahrte,  der  ich  die  endlicho  Gestaltung  des 
wahrhaft  deutschen  Kaiserreiches  erlebte  und  mit  der  Erzahlung 

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v.  SSltl,  Das  deuteche  Volk  und  Reich.  377 

dieser  einzigen,  grossartigen ,  segenverheissenden  Griindung 
schliesse."  Die  warme  Freude  des  Verfassers  an  den  grossen 
Ergebnissen  der  neuen  deutschen  Geschichte  spricht  urn  so  mehr 
an,  ab  er  auf  die  Wege,  die  zu  dem  jetzt  erreichten  Ziele 
fuhrten,  wohl  nicht  mit  denselben  ungetheilten  Empfindungen 
zuruckschaut.  Er  gehort  nicht  zu  den  Bewunderern  der  preussi- 
schen  Geschichte  und  der  preussischen  Traditionen;  sein  Urtheil 
iiber  den  Begriinder  der  preussischen  Grossmachtsstellung  ist 
^iskalt  (III,  118);  nicht  eben  wohlwollend  sind  Bemerkungen 
wie  die  HI,  97:  „Von  da  an  griindete  sich  der  Bund  mit  jenem 
damals  noch  halbbarbarischen  Land  (Russland)  und  seinen  asi- 
atischen  Sitten,  der  bis  auf  unsere  Tage  beinahe  ununterbrochen 
zur  sichtbaren  Vergrosserung  Preussens  nach  aussen  fortdauert" ; 
und  eine  gewisse  Reserve  liegt  doch  auch  in  der  Stelle  III,  283 
(anlasslich  des  Ausbruchs  des  Krieges  von  1866):  „Seit  Friedrich 
dem  Grossen  war  in  Allen  (Preussen),  besonders  durch  die 
Schriftsteller,  der  Gedanke  lebendig,  Preussen  miisse  an  Deutsch- 
lands  Spitze  stehen."  Ohne  je  direct  auszusprechen  —  die  Dar- 
stellung  ist  iiberhaupt  „objectivu  —  beklagt  es  der  Verfasser 
offenbar,  dass  die  deutschen  Stamme  nicht  nebeneinander,  in 
gleicher  Kraft  und  gleichem  Fortschreiten ,  die  gemeinsamen, 
unter  sich  gleichstehenden,  gleiches  leistenden  Trager  der  deutschen 
Geschichte  und  deutschen  Einheit  wurden  oder  blieben.  „Das 
deutsche  Reich  war  damals",  so  sagt  er  von  dem  beginnenden 
zehnten  Jahrhundert,  (I,  111)  „ein  Bund  der  fiinf  deutschen 
Volker,  deren  jedes  mit  seinem  Herzoge  seine  inneren  Angelegen- 
heiten  unabhangig  von  anderen  besorgte,  alle  miteinander  aber 
erkannten  den  Herzog  von  Sachsen  als  ihren  gemeinsamen  Konig 
an.  Dieses  Yerhaltniss  schien  dem  Wesen  der  einzelnen  Volker 
und  der  Erfahrung  zu  Folge  das  naturgemasste  und  erspriess- 
lichste  und  blieb  im  Bewusstsein  des  Volkes  lebendig".  Soltl 
verurtheilt  die  Tendenzen  des  sachsischen  Konigthums,  die  zur 
Auflosung  der  alten  StammesherzogthtLmer  fuhrten  (I,  127),  und 
so  scheint  er  denn  auch  wieder  in  der  Darstellung  der  neueren 
Geschichte  sich,  nicht  iiberall  der  Anwandlung  erwehren  zu  kon- 
nen,  Deutschland,  das  ideale  Deutschland,  im  Lager  der  Mittel- 
staaten  zu  suchen  und  die  Bedeutungslosigkeit  der  letzteren  neben 
den  beiden  rivaJisirenden  Grossmachten  zu  bedauern.  Eine  Nei- 
gung,  die  namentlich  in  dem  Abschnitt  iiber  die  schleswig-hol- 
steinische  Verwickelung  von  1863  und  1864  durchblickt.  Man 
mag  nun  iiber  die  Berechtigung  der  Stammesgewalten  im  Mittel- 
alter  im  Gegensatz  zu  dem  Kaiserthum  urtheilen  wie  man  will, 
so  wiirde  doch  fiir  die  Neuzeit,  wo  Deutschland  von  centralisirten 
Nachbarstaaten  eingeschlossen ,  ein  deutscher  Staatenbund  von 
fiinf  oder  vier  gleichstarken  Machten  nichts  anders  bedeuten  als 
das  „Sy8tem  der  Reguli",  mit  dem  in  den  vierziger  Jahren  des 
vorigen  Jahrhunderts  das  Frankreich  des  Cardinals  Fleury  durch 
eine  gleiohmassige  Vertheilung  der  osterreichischen  Landermasse 
unter  Preussen,  Baiem,  Sachsen  und  die  Erbtochter  des  letzten 

24* 

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378  v-  Soltl,  Das  dcutsche  Volk  und  Reich. 

Habsburgers  uns  so  gern  begliickt  hatte,  jenes  System,  das 
in  dem  Rheinbund  neben  einem  Kleinpreussen  und  einem 
Kleinosterreich  seine  zeitweilige  Verwirkliohung  fand  mid  1866 
in  dem  Project  eines  siiddeutschen  Bondes  zwischen  dem  nord- 
deutschen  und  Oesterreich  an  seine  Auferstehung  dachte.  Aber, 
wie  vorangestellt ,  der  Herr  Verfasser  ist  einsichtig  und  hoch- 
herzig  genug,  sich  trotz  friiherer  Sympathien  und  vielleicht 
Antipathien  ganz  und  freudig  auf  den  Boden  der  neugeschaffenen 
Thatsachen  zu  stellen  und  die  Einheit  Deutschlands  unter  preussi- 
scher  Fiihrung  auf  das  warmste  zu  begnissen.  Gelte  uns  deshalb 
sein  Buch  als  ein  Ausdruck  der  Gesinnungen  aller  der  Kreise  in 
des  Verfassers  engerem  Vaterlande,  die  mit  Aufrichtigkeit  und  Hin- 
gebung  sicb  in  die  neuen  Verhaltnisse  hineinzuleben  bemiiht  sind. 

Wenn  der  Verfasser  ein  populares  Werk  schreiben  wollte, 
so  sollte  seiner  Absicht  nach  doch  auch  die  wissenschaftlich- 
kritische  Grundlage  nicht  fehlen.  Durch  jahrelange  Vorarbeiten 
hat  er  sich,  so  sagt  das  Vorwort,  fur  seine  Darstellung  „Vieles 
aus  dem  reichen  Quellenschatze  zu  eigen  gemacht,  den  die  treff- 
liohsten  Geschichtskundigen  friiherer  und  der  jiingsten  Zeit  zu 
Tage  forderten".  Zu  bedauern  ist,  dass  die  kurzen  Belege  unter 
dem  Text,  die  auf  den  ersten  Bogen,  obgleich  auch  nur  ver- 
einzelt,  beigebracht  werden,  in  der  Folge  ganz  wegfallen.  Wie 
iedem  Werke  von  gleicher  Veranlagung  musste  auch  dem  vor- 
liegenden  die  doppelte  Schwierigkeit  entgegentreten:  eine  Auf- 
gabe  von  grosster  Ausdehnung  im  engen  Rahmen  zu  behandelnr 
und  dieselbe  nur  auf  die  eigenen  Krafte  angewiesen  zu  bewal- 
tigen.  Die  zweite  Schwierigkeit  wird  schiefe  Auffassungen  dieser 
oder  jener  Verhaltnisse  und  auch  einzelne  directe  Irrthiimer  nie 
vermeiden  lassen;  die  erste  fuhrt  leicht  zu  einer  ungleichmassigen 
raumlichen  Verthellung  des  Stoffes  und  fur  den  Leser  zu  Miss- 
verstandnissen  in  Folge  der  nicht  zu  umgehenden  Kiirze.  Irre- 
fiihrend  z.  B.  fur  die  in  die  umfangreiche  monographische  Literatur 
nicht  initiirten  Leser  —  und  an  diese  richtet  sich  das  Werk  — 
ist,  was  der  Verfasser  Bd.  II,  S.  29  in  wenigen  Zeilen  uber  die 
Entstehung  des  Kurfurstencollegiums  in  einer  nach  dem  Stande 
der  Forschung  doch  zu  grossen  Bestimmtheit  sagt.  Was  die 
raumliche  Behandlung  des  Stoffes  angeht,  so  sind  einer  Inhalts* 
angabe  des  Kibelungenliedes  iiber  fiinf  Seiten  gewidmet,  wahrend 
die  Erzeugnisse  der  neueren  Literatur  doch  nur  in  uber&us 
summarischer  Weise  behandelt  werden.  Wenn  die  Darstellung 
des  dreissigjahrigen  Krieges  in  der  Oekonomie  des  Ganzen  als 
zu  breit  angelegt  erscheint,  so  bedauern  wir  dies  nicht,  da 
ihr  die  von  dem  Verfasser  auf  diesem  Gebiete  angestellten 
archivalischen  Specialstudien  zu  Gute  kamen;  doch  hatten  wir 
die  Figur  des  Pater  Dominicus  in  der  Schlacht  bei  Prag  (H,  254) 
nach  den  beachtenswerthen  Argumenten  von  Brendel  (Schlacht 
bei  Prag  S.  47/48)  lieber  entbehrt* 

Berlin.  •  Reinhold  Koser. 


Druck  von  Oskar  Bonde  in  Altenbi 


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