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Mittheilungen
aus der
historischen Litteratur
herausgegeben von der
historischen Gesellschaft in Berlin
und in doron Auftrage redigirt
von
Dr. Ferdinand Hirsch.
VI. Jahrgang.
Berlin, 1878.
Vorlag von Rudolph Gaortuer.
Mohrcnatnusse 18/14.
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D-d
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Inhalts -Verzeichniss.
Seite
Baader, Streiflichter auf die Zeit der tie&ten Erniedrigong Deutsch-
lands (Zermelo) , 160
Baltzer, Zur Geschichte des deutschen Kriegswesons in der Zeit von
den letzten Karolingern bis auf Kaiser Friedrich II. (E. Fischer) 320
Beer, Zehn Jahre osterreichischer Politik. 1800—1810. (Koser) . . 249
Beitrage zur Eunde steiermarkischer Geschichtsquellen XIII.— XIV.
Jahrgang (Ilwof) 167
v. Bezold, Konig Sigmund und die Reichskriege gegen die Husiten.
HL Abtheihrog. (Bdhm) 204
Bohtlingk, Napoleon Bonaparte, seine Jugend und sein Emporkommen
bis zum 13. Vendemiaire (Bailleu) 245
v. d. Brftggen, Polen's Auflosung (Isaaosohn) 338
v. B tinge, Das Herzogthum Esthland unter denKdnigen vonDanemark
(W. Fischer) 179
Denkschrift Kurfurst Friedrichs EL von Brandenburg an Xaiser
Leopold I. fiber die Nothwendigkeit der Wiedererwerbung Strass-
burgs 1696 (Holtze) 45
Detloff, Der erste Eomerzng Kaiser Friedrichs L (Volkmar). . . . 122
Dohler, Die Antonine 69— 180 n. Chr. (W. Fischer) 194
Droysen, Geschichte des Hellenismus. I. Theil (Hirsch) 289
Duncker, Geschichte des Alterthums. I. Band. 5. Aufl. (Hirsch) . . 193
Ebeling, Zur Characteristik Adalberts von Bremen (K6nig) .... 319
Ebrard, Der erste Annahernngsversnch K5nig Wenzel's an den
Schwabisch-Kheinischen St&dtebund 1384—1385 (B5hm) .... 324
Ferk, Ueber Druidismns in Noricum (Edm. Meyer) 98
Freihold, Die Lebensgeschichte der Menschheit L Band (Kirchner) . 97
Friedonsburg, Lndwig IV. der Baier und Friedrich von Oesterreich,
von dem Vertrage zu Trausnitz bis zur Zusammenknnft in Inns-
bruck 1325-26 (Konig) 323
347320
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IV Ihhalts-Vorzeichniss.
Soltc
Gaodcke, Die Politik Oesterreichs in der Spanischon Erbfolgefragc
(Rodenwaldt) 149
Gfrbrer, Byzantinische Geschichten. IL u. ILL Band (Hirsch) ... 5
Girgensohn, Acten zur ^Geschichte dor Stadt Riga im Jahre 1562.
(W. Fischer) 330
Goecke, Das Grossherzogthum Berg unter Joachim Murat, Napoleon I.
und Louis Napoleon 1806—13 (Zermelo) 88
Hart tang, Norwegen und die deutschen SoestUdte bis zum Schlusse
des 13. Jahrhunderts (W. Fischer) 122
v. Holfert, Goschichto Oesterreichs v. Ausg. d. Wiener Oktober-Auf-
standes 1848. IV. Band. I. Theil. (W. Fischer) 351
Henckel-Donnersmarck, Briefe der Briider Friedriehs des Grossen
an meine Grosseltern (Holtze) 46
Her que t, Juan Fernandez de Heredia, Grossmeister des Johanniter-
ordens (Hirsch) 127
Hertzberg, Geschichte Griechenlands soit dem Absterben antikon
Lebens bis zur Gegenwart II. u. DX Theil (Brockerhof) . . . 272
Hillobrand, Geschichte Frankroichs 1830—71. Band I. (Voigt) . . 347
Hirsch, Jahrbucher des deutschen Reichs unter Heinrich IL Band HI.
(Bohm) 109
v. HSfler, Zur Kritik und Quellenkunde der ersten Regierungsjahre
Kaiser Karls V. (Foerster) 34
Hudomann, Geschichte des romischen Postwesens wahrond derKaiser-
zeit (Abraham) 301
Ilwof und Peters, Graz, Geschichte und Topographie der Stadt und
ihrer Umgebung (Brecher) 166
Isaacsohn, Geschichte des preuss. Boamtenthums (Hirsch) I. u. H. Band 230
Kastner, Das refundirte Bisthum Roval (W. Fischer) 185
v. Kalcjistein, GoBchichte des franzbsischenKSnigthums unter den ersten
Capetingem. L Band (Meyer) 314
v. Kraus, Zur Geschichte Oesterreichs unter Ferdinand L (Brecher) . 166
Krause, Ludwig, Fiirat zu Anhalt - Cothon und sein Land Tor und
wahrend des SOjahrigen.Kriegos (E. Fischer) 220
Lausch, Die Karnthenische Belehnungsfrage (Ilwof) 162
L o h m a n n , Knesebeck und Schdn. — Stein , Scharnhorst und Schbn (Bach) 254
Lindonschmitt, Schliemann's Ausgrabungen in Troja und Mykenae
(Hirsch) 289
Mannheimer, Die Judonverfolgungen in Speyer, Worms und Mainz
im Jahre 1096 (Krfiger) 107
Marii opiscopi Aventicensis chronicon edidit Wilh. Arndt (Hirsch) . . 201
Matthaei, Die Klosterpolitik Kaiser Heinrichs IL (Volkmar) . . . . 120
Mittheilungen a.dt Gebiete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands
XH. Band. 2. Heft (W. Fischer) 285
Mittheilungen des historischen Vereins fur Stoiormark. 24. u. 25. Heft
(Ilwof) 167
Monumonta Germaniae historica.
Scriptorum qui vernacula lingua usi sunt torn. H. (Hirsch) . . 31
Auctorum antiquissimorum torn. I. (Hirsch) . . 200
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InhaltB-Verzeichniss. V
Seito
Scriptores rerum langobardicarum et italicarnm saec. VI— IX.
(Hirscb) 807
Muhlbacher, Die streitige Papstwahl des Jahres HSlO (Bobm) ... 14
Oefele, Geschichte der Graf en Ton Andechs .(Edm. Meyer) .... 21
Otto, Geschichte dor Stadt Wiesbaden (Edm. Meyor) 282
Pauli, Lubeckische Zust&nde im Mittelalter. III. Theil. Recht und
Kultur (Kotelmann) . . . . 327
Poschel, Abhandlungen zur Erd- und V81kerkundo (Sch&del) . . . 287
Programmonschau. Alte Gescbicbte (Foss) 1
Programmenschau. Mittelalter (Foss) 100
Programmenschau. Neuzeit (Foss) 211
Prokesch-Osten, Mein Verh<niss zum Horzog von Reichstadt
(Bailleu) . . 270
t. Ranke, Denkwurdigkeiten des Staatskanzlers Fursten von Hardonberg
bis zum Jahre 1806 (Duncker) 48
v. Ranke, Die Osmanen und die spaniscbo Monarcbie im 16. und 17. Jahr-
hundert (Hirsch) 216
v. Ranke, Historiseh-biographische Studien (Hirsch) 331
v. Reumont, Geschichte Toskanas (Hirscb) 180
Reuter, Geschichte der Teligi8sen Aufklarung im Mittelalter. II. Band.
(Ropke) 24
Ritter, Briefe und Acten zur Geschichte des 80j&hrigen Krioges in den
Zeiten des vorwaltendon Einflussos der Wittelsbacber. HI. Band.
Der Jlilicber Erbfolgekrieg (E. !Fischor) 35
Rochholz, Die Aargauer Gessler in Urkunden von 1250 — 1513
(Foss) 20
Rosen, Die Balkan-Haiduken (Zekeli) 366
Rottmanner, Der Cardinal von Baiern (Koser) 245
v. Sadowski, Die Handelsstrassen der Griecben und Romer durch das
Flussgebiet der Oder, Weichsel, des Dniepr und Nieraon an die
Gestade des Baltischen Meeres (Pierson) 4
v. Sal pi us, Paul v. Fucbs, ein brandenburg-preuss. Staatsmann vor
200 Jahren (Holtze) 43
Sanerland, Die ImmunitSt von Mctz von ihren Anf&ngen bis zum
Ende des elften Jahrhunderts (Scbirmer) 317
Schmeidler, Geschichte des K5nigreichs Griechenland (Zermolo) . . 91
v. Schulte, Die Geschichte derQuellen und Litteratur des Kanonischen
Rechts (Holtze) 187
Schum, Vorstudien znr Diplomatik Kaiser Lothars III. (Bornhardi) . . 121
Schwicker, Geschichte des Temeser Banats (Zekeli) 170
Sick el, Ueber Kaiserurkunden in der Schweiz (Foss) 106
Smets, Geschichte der Osterreich.-ungarischen Monarchic. Lfrg. 1 — 12.
(E. Fischer) 92
Soltau, Der Verfasser der Chronik des Matthias von Neuenburg
(Konig) 202
Stern, Milton nnd seine Zeit I. Theil 1608—1649. 1. und 2. Buch.
(Braumann) 37
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YI Inhalts-Verzeichniss.
Seite
Urk unden und Acteiistiicke zur Geschichte des Kurfursten Friedrich
Wilhelm von Brandenburg. Band VII. (Isaacsohn) 223
Urkundenbuch des Bekeser Komitats. Herausgegeben von Haan und
Zsilinazky (Zekeli) 336
Wen z el, Kriegswesen und Hcerosorganisation der Romer (Schambach) 300
Wichert, Aus der Cones pondenz Herzog Albrechts von Preussen mit
dem Herzog Christopb von Wirtemberg (Holtze) 35
v. Zahn, Zur Geschichte Herzog Rudolfs IV. (Jlwof) 164
Zeitschrift der Gesellschaft for Schleswig-Holstein-Lauenburgischo
Geschichte. VII. Band (Holtze) 94
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Programmenschau 1877.
Alte Geschichte.
1) Die alt en ThraciervonHermannEben. Real-
schule IL 0. von Oberstein-Idar. Ostern. 1877.
Zunachst giebt der Verfasser den Inhalt einer Anzahl von
Werken an, welche iiber die Thracier handeln, dann entwickelt
er selbst einige Ansichten und Studien. Wir gehen auf diese
nicht naher ein, da dieselben zu keinem rechten Resultate fuhren,
sondern verweisen auf eine Abhandlung in Fleckeisens und Masius'
Jahrbiichern 1877, 4. Heft, S. 225—240, in welcher Alexander
Riese nachweist, dass weder Homer nooh Hesiod siidliche Thra-
cier kennt und dass erst seit Euripides von Sudthraciern die
Rede ist. Urspriinglich sind Nord thracier mit ihrem Dionysus-
Cultus von den Pieriern mit dem Apollon- und Musen-Cult voll-
gtandig getrennt. Zur Zeit des Pisistratus siedeln die Pierier
nach Thracien iiber und seit der Zeit werden erst die Culte in
Verbindung gebracht; seit der Zeit wird der alte Pierische
Musendichter Orpheus ein Dionysos-Dichter. Da auch in Theben
ein Dionysus-Cult bestand, so wurden die beiden Culte identifi-
cirt und ein Stamm der Sudthracier erdichtet. Man hielt aber
Orpheus stats fur einen Nordthracier.
2) Kritische Geschichte der Emporung des
Amyrtaeus und Inarus in Aegypten und des
Antheils, welchen die Athener an diesem Auf-
stande nahmen. Gymnasium zu Inowrazlaw.
Ostern 1877.
Die Abhandlung beginnt mit einem kurzen Ueberblick iiber
die aegyptische Geschichte, wie sie vor der Emporung des Amyr-
taeus und Inarus verlaufen ist. Aus der Natur des persischen
Staates, der die unterworfenen Stamme nicht harmonisch in sich
einfugte, sondern nur mechanisch mit sich verband, erklart der
Verfasser es fur natiirlich, dass fortdauernd in einem solchen
Reiche Aufstande ausbrechen mussten. Das trug sich auch in
Aegypten zu und zwar zuerst zur Zeit des Darius vor dem Be-
ginne der Perserkriege , dann vier Jahre nach der Schlacht bei
Marathon. Diese letzte Emporung unterdriickte Xerxes. Bei
der Nachricht von dem Tode dieses Herrschers und von den
Wirren, welche das Reich erfiillten, erhoben sich die Aegypter,
da sie seit der Beschwichtigung des zweiten Aufstandes schwer
bedriickt war en. An die Spitze stellte sich Inarus, ein Konig
der an Aegypten grenzenden Libyer, und ein Aegypter Amyr-
taeus. Die Politik der Athener nothigte sie diesen Emporern
zu helfen. Das vereinigte athenisch-persische Heer siegte bei
Mitttwaui^en a, d. btotor. Uttcratu* VL 1
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2 " ProgrammskBchaa 1877. Alte Geschichte.
Paprenris tmd belagerte Memphis, doch wurde diese Stadt von
den Verbundeten nicht erobert und Inarus zum Abzuge ge-
zwungen. Die Perser schlossen ihn dann auf der Nil-Insel
Prosopitis ein. Inarus musste sich ergeben und starb am Kreuze.
Trotzdem hielt sich in den Marschgegenden des Landes Amyrtaeus,
fiir den in dieser Zeit A then Nichts thun konnte. Endlich, als
Cimon gegen Persien zog, erhielt auch Amyrtaeu^Unterstiitzung,
aber nach Cimons Tode mussten die athenischen Schiffe heim-
kehren und die aegyptische Erhebung wurde nach 13jahrigem
Kampfe unterdriickt. Noch einmal erhob sich 413 ein Saite
Amyrtaeus nach 38jahriger Ruhe und befreite fur eine Zeit sein
Vaterland.
Die Arbeit schliesst mit einer Kritik der Quellen.
3) Critias von Athen. Historisch - kritische
Studie von Dr. Ernst L. Schleicher. Realschule
zu Wurzen. Ostern 1877.
In der Einleitung werden kurz die Quellen besprochen, dann
wird iiber die Familie, das Geburtsjahr und die Erziehung des
Critias gehandelt. Er ist zwischen 460 und 457 in Athen ge-
boren. Genauer kann man das Jahr nicht bestimmen, doch so
viel steht fest, dass er jiinger als Socrates und ein Altersgenosse
des Alcibiades gewesen ist. Er war ein Schiiler des Socrates
und stand demselben naher als Alcibiades, doch ist er nur von
der sophistischen Seite der Sokratischen Philosophie ergriffen
worden.
Bis zum Jahre 411 hat sich Critias vorwiegend litterarisch
beschaftigt. Als Dichter wird er nicht hochgeschatzt, wohl aber
als Prosaiker seiner rhetorischen Schriften wegen.
Wahrscheinlich war er ein Freund des Alcibiades und des-
wegen im Hermokopiden- Process angeklagt, er wurde jedoch
freigesprochen. Dass er an der Regierung der Vierhundert theil-
genommen hat, ist nicht wahrscheinlich. Was er eigentlich im
Jahre 411 gethan hat, konnen wir nicht bestimmen, doch steht
so viel fest, dass er seit dieser Zeit bis zum Jahre 406 ver-
bannt war. Nach der Schlacht bei Aegospotamoi trat er riick-
sichtslos zu der Partei der Oligarchen iiber und wurde bald
das Haupt der Dreissig. So consequent zeigte er sich, dass er
um des Principes wilien Alcibiades, Socrates und Theramenes
verfolgte. Critias fiel im Jahre 403 an der Spitze der Dreissig,
tapfer bei Munychia gegen Thrasybulos kampfend.
4) Dion der Syrakusaner. Ein historisch-kri-
tischerVersuchvonDr. Moritz Pfalz. Programm
des Gymnasiums zu Chemnitz. Ostern 1877.
Zuerst untersucht der Verfasser die Quellen und bespricht
ausfiihrlich und eingehend den Diodor, weniger genau den Plu-
tarch und Nepos. Diese Auseinandersetzung nimmt beinahe die
Halfte der Arbeit ein, dann folgt ein allgemeiner Theil, in wel-
chem der Verfasser 1) das damalige Syrakus recht hiibsch schil-
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Programmenschau 1877. Alto Geschichte. 3
dert und 2) den Hof Dionysius' L Die letzten 9 Seiten sind
dem Leben Dions gewidmet, welches natiirlich nur in der
knappsten Form behandelt wird. Die Arbeit beruht auf ein-
gehenden Studien und beweist, dass der Verfasser die einschla-
genden Werke tiichtig benutzt hat.
5) Ueber die Starke der romischen Legion und
die Ursache ihres allmahlichen Wachsens vom
GymnasiallehrerTheodorSteinwender. Marie n-
burger Gymnasium. Ostern 1877.
Die sehr sorgfaltig gefuhrte Untersuchung weist iiberzeugend
nach, dass die Starke der romischen Legion stets abhangig
war von der Zahl der Tribus und die Schwankungen in der
Zahlenangabe sich immer aus den Veranderungen in der Anzahl
der Tribus erklaren lassen.
Das Resultat der Untersuchung ist folgendes:
Von der Zeit des Servius bis zur Griindung der tribus
Crustumina giebt es 20 Tribus, 160 Centurien, die Gesammt-
Armee hat 16,000 Mann, das Feldheer 8000, die Legion
4000 Mann, jede Tribus stellt 200 Mann.
Von der Griindung der Crustumina bis zur Mitte des
4. Saculum v. Chr. sind 21 Trib. 168 Cent., 16,800 G.-Armee,
8400 Feldh., 4200 Legion, 200 Tribus-Contingent.
Von der Mitte des 4. Saculum bis 303: 25 Tribus,
200 Cent., 40,000 G.-Armee, 20,000 Feldheer, 5000 Legion,
200 Tr.-Cont.
Bis dahin ist AUes klar ; die folgenden Zahlen sind schwerer
zu erklaren und kann hier die Rechtfertigung natiirlich nicht
mit angefuhrt werden.
Tribus Feldheer Legion J^^
25
-»}
16,800 4,200 200 von 303—217 v. Chr.
20,800 5,200 200 von 217 bis Marius.
31 (35) 24,800 6,200 200 zur Zeit des Marius.
Dieser letzte Theil der Untersuchung wird wohl noch nicht
als abgeschlossen zu betrachten sein.
6) Tiberius und Tacitus, kritische Beleuch-
tung des Taciteischen Berichtes iiber die Re-
gierung Tibers bis zum Tode des Drusus von
Emil Wiesner, Gymnasial-Leh^er. Krotoschin.
Osterprogramm 1877.
Die Arbeit verspricht auf dem Titel mehr, als sie halt,
denn sie giebt nur eine Betra«htung der ersten 4 Jahre der
Tiberianischen Regierungszeit. Der Verfasser giebt nach einer
kurzen, etwas fragmentarischen Einleitung die Erzahlung dessen,
was in dem Jahre geschehen ist, und fiigt dann seine Kritik
hinzu. Aus dieser Kritik geht hervor, dass Tiberius besser ge-
wesen, als Tacitus ihn schildert.
Berlin. Foss.
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4 Sadowski, J. N. von, Dio Handelsstrassen der Griechen tind Romer.
Sadowski, J. N. von, Die Handelsstrassen der Griechen und Romer
durch das Flussgebiet der Oder, Weichsel, des Dniepr und
Kiemen an die Gestade des Baltischen Meeres. Eine yon
der Akademie der Wissenschaften zu Krakau preisgekronte
archaologische Studie. Aus dem Polnischen iibersetzt von
A. Kohn. Mit zwei Karten und drei lithographirten Tafeln.
gr. 8°. (VI, LHI, 210 S.) Jena, 1877. H. Costenoble.
7,20 Mark,
Von der Annahme ausgehend, dass schon im Alterthum
zwischen der Bernsteinkuste und den Volkern Siidosteuropas
direkte Handelsbeziehungen bestanden, kommt der Verfasser zur
Erorterung der Frage nach den Wegen dieses Handels. Er zeigt,
dass die Anzahl der Moglichkeiten hier sehr beschrankt werde,
wenn man folgende Bedingungen stelle:
1) Die physiographische Beschaffenheit des Bodens muss das
Betreten des Weges moglich machen;
2) es miissen auf dem Handelswege Gegenstande des Alter-
thums und zwar soiche entdeckt worden sein, welche das Volk,
von dem sie herriihren, unzweifelbaft kennzeicbnen und sowohl
die Epoche ihrer Entstehung, als auch die Zeit der Expedition,
durch welche sie an die Stelle gebracht worden sind, anzeigen;
3) es muss die Richtung dieses Weges mit den Angaben
der klassischen Schriftsteller iibereinstimmen und
4) miissen auch die okonomischen und Handelsbedingungen
des untersuchten Weges diesen als einen alterthiimlichen kenn-
zeichnen.
Demnach untersucht Sadowski die physiographischen Ver-
haltnisse des Landes zwischen Ostsee und Donau und wendet
sich dann zu einer kritischen Betrachtung der Angaben des
Plinius und Ptolemaus, sowie der archaologischen Funde auf dem
genannten Gebiete. Er gelangt zu dem Resultat, dass ein Haupt-
weg vom Jablunkapass iiber Kalisch, Znin, Osielsk, Czersk nach
der Weichselmundung ging, und er findet durch eine gewisse
Reduction der Ptolemaischen Grade, dass jene vier Ortschaften
mit den von Ptolemaus genannten Kaliata, Setidava, LioKavKallg
und 2novQyov identisch sind.
Dieses Ergebniss konnen wir annehmen , aber nur als Hypo-
these. Denn Sadowski's Beweisfuhrung ist keineswegs zwingend.
Wie er argumentirt, ist aus folgendem Beispiel zu ersehen. Im
Jahre 1832 hat ein Landmann auf dem Felde in der Nahe von
Schubin mit dem Pfluge 39 Stuck kleiner Silbermiinzen aus der
Erde gefordert. Diese Miinzen sind griechische, einige davon aus
Olbium, die andern aus Athen, Aegina, Cyzikus, welche Stadte
mit Olbium in Handelsverbindung standen. Ein Theil der Miinzen
ist vor dem Jahre 460, keine ist spater als im Jahre 431 v.Chr,
gepragt worden; eine stammt aus der Zeit von 460 bis 440.
Also, schliesst Sadowski, ist ungefahr um das Jahr 450 v. Chr.
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Gfrorer, Aug. Fr., Byzaiitinische Geschichten. 5
eine Handelsexpedition von Olbium in die Gegend von Schubin
gekommen! Als ob diese Miinzen nicht auch als Kriegsbeute
oder im Wege des Tauschhandels von Stamm zu Stamm hatten
dorthin gelangen konnen! Ganz abgesehen von der Moglichkeit,
class dieser kleine Schatz, ehe er bei Schubin vergraben wurde,
yielleicht manch Jahrhundert lang ganz wo anders lag. So ein
vereinzelter Miinzfund beweist gar wenig. Uebrigens ist es in
diesem Falle nicht einmal wahrscheinlich, dass Sadowski richtig
vermuthet. Denn wenn die Olbipoliten nach der Bernsteinkiiste,
d. L — auch nach des Verfassers Ansicht — nach Preussen,
wandern wollten, so sieht man nicht ein, warom sie den ungq-
heuern Umweg iiber Schubin machten.
Immerhin ist die Schrift lesenswerth, namentlich weil darin
die Nachrichten iiber archaologische Funde in Schlesien, Posen
und Preussen ziemlich vollstandig gesammelt sind. Der Ueber-
setzer, Herr Albin Kohn, verspricht noch andere Publikationen
der betreffenden polnischen und russischen Literatur der deutschen
Forschung zuganglich zu machen. Das ist gewiss ein verdienst-
Uches Unternehmen.
Berlin. P.
m.
Gfrorer, Aug. Fr., Byzantinische Geschichten. Aus seinem Nach-
lasse herausgegeben, erganzt und fortgesetzt von Dr. J. B.
Weiss. Bd. II, u. HI. 8°. (669 u. 872 S.) Graz 1873 u. 1877.
Verlag der Vereins-Buchdruckerei.
Das vorliegende Werk beruht urspriinglich auf Vorlesungen,
welche Gfrorer im letzten Jahre seiner akademischen Wirksam-
keit in Freiburg gehalten hat, welche aber, wie es scheint, von
ihm selbst schon ffir den Zweck der Veroffentlichung umgearbeitet
Bind. Es zeigt in Form und Inhalt die engste Verwandtschaft
mit den friiheren Arbeiten desselben Verfassers, namentlich mit
seinem colossalen Werke iiber Gregor VII. ; auch hier bewundern
wir die ausgebreitete Gelehrsamkeit des Verfassers, die Tiefe und
Scharfe seiner Auffassung, seine kiihne Combinationsgabe , seine
gewandte Dialektik, daneben aber finden wir denselben Mangel
einer griindlichen Quellenkritik , dieselbe Parteilichkeit des Ur-
theils, denselben Hang vermittelst willkiirlicher Interpretation
die Quellen und keeker, oft ganz grundloser Hypothesen das
Bild der Ereignisse so zu gestalten, wie es den eigenen vor-
gefassten Ideen des Verfassers entspricht. Werthvoll ist diese
Arbeit hauptsachlich dadurch, dass der Vert im Gegensatz gegen
die bisherigen, meistsehr oberfachlichenBehandlungen derbyzan-
tinischen Geschiehte zuerst den Versuch einer wirklich prag-
matischen Darstellung derselben gemacht, dass er sich bemiiht
hat, das wirkliche Leben und die treibenden Krafte in diesem
Staate zu ergriinden, dass er uns die Organisation und Verfassung
desselben, Finanzen, Militar- und Seewesen, das Verhaltniss
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6 Gfrorer, Aug. Fr., Byzantinische Geschichten.
zwischen Staat und Kirche, die Parteibewegungen im Inneren und
die auswartige Politik in grosserem und tieferem Zusammenhange
vorzuftihren sucht. Auch im Einzelnen finden wir manche griind-
liche Untersuchungen, manche wirklich werthvollen Resultate, da-
neben aber eine solche Fiille von ungegriindeten Behauptungen,
von einseitigen und ungerechten Urtheilen, von geradezu ver-
kehrten, die Wahrheit auf den Kopf stellenden Darstellungen,
dass fortgesetzt unser Zweifel oder unser Widerspruch heraus-
gefordert wird. Entsprechend der Aufgabe, welche dieser Zeit-
schrift gestellt ist, verzichten wir hier auf eine weiter ins Ein-
zelne gehende Kritik des Werkes und beschranken uns darauf,
den allgemeinen Gang der Darstellung und die wichtigsten Punkte
derselben vorzufiihren.
Von der zuletzt von ihm behandelten Geschichte Gregor VII.,
also von Italien aus, ist der Verf. zu der byzantinischen Ge-
schichte iibergegangen, er hat unterwegs gleichsam Stationen
gemacht, der ganze erste Band behandelt die Geschichte Venedigs
von seinem Entstehen an bis zum Jahre 1084, bis zu dem Zeit-
punkte, wo dieser inzwischen schon zu bedeutender See- und
Handelsmacht emporgekommene Staat durch seine Hiilfeleistung
in dem Kriege gegen Robert Guiscard das byzantinische Reich
vor dem drohenden Verderben rettet und in Folge dessen zu
demselben die Stellung erhalt, welche die Grundlage seines
spateren Einflusses und auch der dann eintretenden Conflicte ge-
worden ist. Auch in dem zweiten Bande bofindet sich der Verf.
noch, so zu sagen, unterwegs, der erste Theil desselben behan-
delt das Grenzgebiet zwischen Italien und Griechenland, das alte
Illyrien und Dalmatien, und enthalt eine Geschichte dieser Land-
schaften vom 7. Jahrhundert an bis zum Beginn der Kreuzzugs-
perioda Nach einer kurzen Uebersicht uber die Beschaffenheit
dieser Landschaften und iiber ihre Eintheilung erzahlt der Verf.
die Besetzung derselben zuerst im Anfange des 6. Jahrhunderts
durch die Avaren, dann in der Mitte des 7. durch die Kroaten
und durch die siidlich von diesen sieh ausbreitenden Serben.
Die ersteren, in 14 Gaue getheilt, erscheinen von vorne herein
unter einem gemeinschaftlichen Oberhaupt, Ban, wahrend die
letzteren langere Zeit in drei getrennte Stamme zerfallen. Er
erortert dann die Politik, welche Carl der Grosse und seine Nach-
folger diesen beiden Volkerschaften , sowie den benachbarten
Avaren und Bulgaren gegeniiber verfolgt haben, er erkennt in
der Vernichtung der Avaren und in der Begriindung einer Ober-
hoheit iiber die Kroaten einen Versuch dieser frankischen Kaiser,
ihre Herrschaft auch iiber das Ostreich auszubreiten. Mit dem
Verfalle der Carolingischen Macht hort die Abhangigkeit der
Kroatischen Fiirsten von derselben auf, dagegen beginnen bald
darauf (c. 860 — 880) von der entgegengesetzten Seite, von Con-
stantinopel her, Versuche, jene slavischen Volker in den Macht-
kreis des byzantinischen Reiches zu Ziehen. Gfrorer erkennt in
der gleichzeitigen Bekehrung der Bulgaren, der Siidserben und
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GfrSrer, Aug. Fr., Byzantinische Geschichten. 7
der Mahren von Constantinopel aus, in der von dort her be-
fbrderten Vereinigung ganz Dahnatiens, der Kroaten, Serben und
der romaoi8cb gebliebenen Kiistenstadte , unter der Herrsobaft
des kroatischen Herzogs Domagol, in der kirchlichen Trennung
des Landes von Rom, eine grosse byzantinische Staatsintrigue,
welche, von dem Patriarchen Photius geleitet, den Zweck gehabt
haben soil, einen Keil in die latinisch-germanische Welt, in das
Machtgebiet des Papstes zu treiben. Zu Anfang des 10. Jahrh.
soil nach Gfrorers, wie uns scheint ganz willkiirlicher, Annahme
unter Kaiser Romanus I. eine romisch gesinnte Partei in Con-
stantinopel zur Regierung gekommen sein, der Einwirkung der-
selben schreibt er den Umschwung zu, welcher damals in Dal-
matien eintritt, wo es allerdings Papst Johann X. gelingt, den
damaligen kroatischen Konig Tanpslav zu bewegen, wieder zu
der romischen Kirche zuruckzukehren und die slavische Liturgie
abzuschaffen. In der zweiten Halfte des 10. und der ersten des
11. Jahrhunderts zeigt sich ein Yerfall des kroatischen Reiches,
die Siidserben und auch die romanischen Stadte haben sich von
demselben wieder losgerissen, der ostliche Theil des Reiches,
das heutige Serbien, wird vom Kaiser Basilius II. nach der Ver-
nichtung des bulgarischen Reiches 1024 erobert, zugleich be-
ginnt auch die Bedrangniss von Norden her durch die Ungarn.
Um die Mitte des 11. Jahrh. dagegen beginnt ein neuer Auf-
schwung der kroatischen Macht, Konig Gresimir III. (c. 1052 bis
1073) erscheint als Herr auch des romanischen Dahnatiens,
unterstiitzt sowohl von dem byzantinischen Kaiserhofe als auch
von den Papsten Nicolaus II. und Alexander II. (Gfrorer will
hierin eine Nachwirkung der friiher zwischen Kaiser Constantin
Monomachus und Papst Leo IX. angekniipften Verbindung er-
kennen); unter ihm zeigt sich das Bestreben, Hof und Verfassung
zu latinisiren. Sein Nachfolger Slawizo, welcher dem entgegen
das Slaventhum herzustellen versucht, wird bald gestiirzt, und
die ausgebrochenen Wirren benutzt dann Papst GregorVIL, um
auch dort seinen Einfluss zu begriinden. Er erhebt 1076 einen
neuen Konig Zwonimir (Demetrius), lasst ihn durch seinen Legaten
kronen, laest sich aber dafiir von ihm Lehnseid und Tribut ver-
sprechen, er stutzt und fordert hinfort den neuen Konig, seine
Idee soil nach Gfrorer gewesen sein, ein machtiges Kroatenreich
als einstigen Erben des verfallenen Byzantinerreichs und als
Hort gegen den Islam zu grunden. Allein dieses kroatische
Reich verlallt sofort nach Zwonimirs Tode (1087), der nordliche
Theil desselben wird von den Ungarn, der siidliche (Dalmatian)
von den Venetianern occupirt, es erhalt sich zu Ende des
11. Jahrh. nur das siidserbische Reich, aber geschwacht durch
die Macht des Adels und durch Erbtheilung unter verschiedene
Zweige der Konigs&milie.
JDer Ver£. wendet sich jetzt der eigentlicheu byzantinischen
Geschichte zu; nach einer kurzen Schilderung der durch Diocle-
tian und Constantin den Grossen begriindeten Verfassung des
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8 Gfrorer, Aug. Fr., Byzantinische Geschichten.
spateren romischen Kaiserreibhs, nach einigen Betrachtungen iiber
die welthistorischen Folgen der Verlegung der Hauptstadt nach Con-
stantinopel und iiber den schon von Constantin begriindeten
Casaropapismus, welcher ihm, dem leidenschaftlichen Vertheidiger
des romischen Kirchensystems , als der argste aller Greuel er-
scheint, behandelt er in sehr eingehender und ausfiihrlicher
Weise Kaiser Justinian und die durch ihn geschaffene Organisation
des byzantinischen Reiches, namentlich die Steuerverhaltnisse.
Hauptquelle hierfur ist ihm die Geheimgeschichte Procops, eine
Schrift, der er, obwohl sie eine offenbare Schmahschrift ist, auch
in alien Einzelheiten unbedingt Vertrauen schenkt und deren
gehassiges, nur zum Theil gerechtfertigtes Urtheil iiber diesen
Kaiser und seine Regierungsweise er ohne Weiteres wiederholt,
natiirlich ist das Bild, welches er uns hier vorfiihrt, ein ganz
verzerrtes. Als besonderen Fehler rechnet er Justinian auch an,
dass er das Seewesen vernachlassigt habe, er sucht, freilich mit
sehr unzureichenden Griinden, nachzuweisen , dass auch die
folgenden Kaiser bis in die zweite Halfte des 9. Jahrhunderts
hinein keine eigentliche Staatsflotte gehabt hatten, dass eine
solche erst durch Basilius L und seine Nachfolger eingerichtet
und ausgebildet sei. Schliesslich macht er dann Justinian noch
verantwortlich fiir die spateren Fortschritte des Islam, er erklart
diesen fiir den Riickschlag gegen den Missbrauch, welchen Justinian
mit der Menschheit und der christlichen Religion getrieben habe.
Gemassigter ist das Urtheil des Verf. in dem folgenden Abschnitto
iiber den Bilderstreit , er erkennt an, dass Leos des Isauriers
Einschreiten gegen den abgottisch getriebenen Bilderdienst ur-
spriinglioh gerecht war, aber er beschuldigt ihn und seine Nach-
folger, im Verlaufe des Streites unter dem Aushangeschild der
Aufklarung die Kirche geknechtet zu haben, er erkennt in dem
Kampfe zwischen Kaiserthum und Orthodoxie einen Kampf von
GibeUinen und Welfen, die welfische Partei wird gebildet von
einem Theile des Clerus, namentlich Monchen, welche fur die
Freiheit der Kirche und ihre Unterordnung unter den Papst
streiten, und welche nach Gfrorers Meinung zugleich auch das
Volk gegen die Tyrannei der Regierung zu sichern suchen. Von
dieser Partei behauptet er dann, dass sie spater zeitweise
ans Ruder gekommen sei und dass sie den Versuch auch wich-
tiger staatlicher Reformen gemacht habe, er lasst, freilich ohne
irgend welchen AnhaJt in den Quellen, Basilius L und dann
Romanus I. durch sie auf den Thron erhoben werden, er erkennt
in dem Monche Polyeuct, dem Freunde des Romanus, das Haupt
dieser Partei; unter Constantin VII. zum Patriarchen erhoben,
soil derselbe schon unter diesem, dann unter Romanus II. Einspruch
gegen das unwiirdige Regiment der Hofleute erhoben , nach
Romanus II. Tode aber, immer als das Haupt dieser Partei, den
Versuch einer Verfassungsveranderung, der Uebertragung der
eigentlichen Regierungsgewalt an den Senat, gemacht haben. Aber
dieser Plan wird durch das Heer durchkreuzt, mit dessen Hiilfe
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Gfrorer, Aug. Fr., Byzantiniflche Geschichten. 9
macht fiich das Haupt der militarischen Aristokratie, Nicephorus
Phocas, zum Kaiser. Die Regierung desselben wird trotz seiner
glanzenden Kriegsthaten von Gfrorer hochst ungiinstig beurtheilt,
einmal wegen desdurch ihnverstarkten Steuerdruckes, andererseits
wegen seiner Massregeln gegen die Kirche. Dagegen riihmt er sehr
den Morder und Nachfolger des Nicephorus, Johannes Tzimisces,
wegen seiner gliicklichen kriegerischen Erfolge und besonders wegen
seiner kirchlichen Politik. Allerdings hat derselbe zu Anfang
seiner Regierung die kirchlichen Gesetze seines Vorgangers wider-
rufen und dem Patriarchen einen wesentlichen Antheil bei der
Besetzung der Bisthiimer eingeraumt, allein nachher hat er den
Nachfolger des Polyeuct, den Patriarchen Basilius, abgesetzt, und
urn diesen anscheinenden Eingriff in die Freiheit der Kirche zu
rechtfertigen , muss Gfrorer zu ganz absonderlichen Hypothesen
seine Zuflucht nehmen. Er bringt Basilius' Sturz in Verbindung
mit den damaligen Ereignissen in Rom, dem Sturze des der
deutschen Partei feindlichen Papstes Bonifaz, der Einsetzung
Benedict VIL (974), Tzimisces soil diesen letzteren nicht haben
anerkennen, der Patriarch aber an der Verbindung und Unter-
ordnung unter den romischen Stuhl haben festhalten wollen, und
so soil der Bruch zwischen beiden erfolgt sein. In den folgenden
heftigen Biirgerkriegen wahrend der friiheren Jahre Kaiser
Basilius II., den Emporungen des Bardas Phocas und Bardas
Scleras, will Gfrorer eine Erhebung einmal der militarischen
Aristokratie, andererseits jener ultramontanen Partei (als ihr
Haupt stellt er Scleras dar) gegen das unumschrankte Kaiser-
thum erkennen ; der Kaiser siegt gegen Phocas und versohnt
sich mit Scleras, in der willkurlichsten Weise deutet Gfrorer den
Umstand, dass er denselben darauf in den Kamjtf gegen die
Bulgaren mitnimmt so, dass er ihn als Mentor angenommen,
ihm die Vollmachten eingeraumt habe, welche die kirchliche
Partei fur ihn in Anspruch genommen habe. In dem letzten
Capitel des Bandes behandelt der Verf. in ausfiihrlicher und
lichtvoller Weise (namentlich den geographischen Verhaltnissen
werden eingehende Erorterungen gewidmet) die Kampfe des
Basilius gegen die Bulgaren, welche schliesslich 1018 zur voll-
standigen Vernichtung des Reiches derselben imd zur Wieder-
unterwerftmg der ganzen Balkanhalbinsel unter die byzantinische
Herrschaft fuhren.
Die ersten Capitel des dritten Bandes behandeln die Mass-
regeln Basilius IL , welche die Vernichtung oder wenigstens Be-
schrankung der Macht der hohen Aristokratie zum Ziele hatten.
Wir finden hier (auch spater Capitel 17 behandelt noch den-
selben Gegenstand) sehr lehrreiche Untersuchungen iiber den
Ur8prang und iiber die Entwickelung der Macht dieser Aristo-
kratie, ferner iiber die Politik, welche die verschiedenen Kaiser,
zuletzt Basilius II., derselben gegeniiber verfolgt haben. Jener
hohe Adel ist entstanden in Folge der militarischen Organisation,
welche im 9. Jahrhundert in Kleinasien eingefuhrt worden ist.
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10 Gfrorer, Aug. Fr., Byzantiniache Geschichten.
Gegeniiber den bestandigen Angriffen, welche von den benach-
barten arabischen Emiren von Tarsus und Malatia drohten, ist
dort in jenem Jahrhundert (ob unter Basilius L, wie Gfrorer
behauptet, muss zweifelhaft bleiben) eine Art Landwehr einge-
richtet worden, die Grenzprovinzen wurden militaiisch organi-
sirt, die Bevolkerung derselben zum Kriegsdienst herangezogen
und dafiir mit Landbesitz, bauerlichen Lehngiitern, ausgestattet
(in ahnlicher Weise gab es auch Ankerlehen fur die Mannschaft
der Flotte). Das Commando iiber diese Miliz erhielten Land-
edelleute der Gegend selbst ; aus diesen Officieren ist die spatere
militarische Aristokratie des byzantinischen Reiches, die Familien
der Phocas, Ducas, Curcuas, Scleroi, Argyroi, auch die Komnenen
hervorgegangen, und zwar in der Weise, dass einzelne jener
Landedelleute zu hoheren militarischen Stellungen emporstiegen,
diese dann dazu benutzten, urn die urspriinglich freien Lehn-
bauern zu ihren eigenen Erbunterthanen zu machen, auch sonst
sich auf Kosten der iibrigen landlichen Bevolkerung auszubreiten
und so bedeutende Giitercomplexe sich anzueignen. Gegen diese
Aristokratie, durch deren Usurpationen nicht nur die militarische
Organisation jener Grenzlande zerriittet wurde, sondern deren
Macht selbst der Krone gegeniiber gefahrlich zu werden anfing,
sind zuerst die Kaiser Romanus I. und Constantin VII. ein-
geschritten und haben durch strenge Edicte die bisherigen Usur-
pationen riickgangig zu machen und weiteren vorzubeugen gesucht
(dass wieder jene clericale Partei dabei die Hand im Spiele ge-
habt, dass ihr das Verdienst dieser Massregeln gebiihre , ist eine
ganz willkiirliche Annahme des Yerfassers), doch sind sie damit
nicht durchgedrungen und Kaiser Nicephorus Phocas , der selbst
aus jener militarischen Aristokratie stammte und die Interessen
derselben forderte, hat, wie Gfrorer sehr richtig zeigt, durch
seine Gesetze den eigentlichen Kern jener fruheren Edicte zer-
stort und dieselben in der Hauptsache fur den Adel unschadlich
gemacht. Allein Basilius II. hat den Kampf gegen denselben
aufs Neue aufgenommen, er hat durch das Erlassen neuer Edicte
und durch energische Ausfiihrung derselben einen Theil jener
grossen Familien geradezu vernichtet, freilich aber dabei, wie
Gfrorer bemerkt, weit mehr das Interessb der Staatskasse als daa
der unterdriickten Bauern verfolgt. Auf wenig sicherem Grrunde
beruht die folgende Darstellung der kirchlichen Politik des
Basilius , der Yerfasser sucht nachzuweisen , dass dieser
Kaiser mit der Geistlichkeit ein Uebereinkommen geschlossen
habe, durch welches er derselben gewisse Vortheile (Besetzung
der Metropolitenstuhle durch den Patriarchen, freie Verfiigung
der Bischofe iiber die«Einkiinfte ihrer Stifter). eingeraumt habe,
wofur jene aber auf den friiher von ihr erstrebten und zum
Theil auch behaupteten Einfluss auf die Staatsregierung ver-
zichtet, dem Kaiser die Ernennung der Patriarchen iiberlassen
und auch in ihrem Yerhaltniss zu der romischen Kirche sich
ganz als Werkzeug der kaiserlichen Politik habe gebrauchen
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Gfr&rer, Aug. Fr„ Byzantinische Geschichten. 11
lassen miissen. Es folgt nun bis zum Schluss des Bandes eine
metr zusammenhangende Geschichte der Zeit vom Tode Basi-
Iras IL (1025) bis zum Untergange des Romanus Diogenes (1072).
Besonders eingehend behandelt Gfrorer die Regierung des Kaisers
Constantin Monomachus (1042—1054). Dieselbe ist von Wichtig-
keit einmal daher, weil unter ihr der Kampf gegen die auf-
strebende Macht der Seldschucken beginnt, welcher schliesslich
fiir das byzantinische Reich eine so unheilvolle Wendung ge-
nommen hat. Schauplatz der ersten Kampfe zwischen beiden
Machten ist Armenien , und davon nimmt der Verf. Veranlassung,
sich in einer ausgedehnten Digression iiber die Verhaltnisse
dieses Landes zu verbreiten. Er schildert, gestiitzt auf St. Martin,
znnachst die Beschaffenheit und Eintheilung desselben, er giebt
dann eine Uebersicht iiber die friihere Geschichte desselben und
er behandelt dann ausfiihrlich die Politik, welche die byzantinische
Regierung demselben gegeniiber verfolgt hat. Armenien steht
seit der Mitte des 7. Jahrhunderts unter arabischer Hoheit, dort
herrschen zu Anfang arabische Statthalter, doch seit der Mitte
des 8. Jahrhunderts iiberlassen die Khalifen die Herrschaft dort
einheimischen Fiirsten aus dem Geschlechte der Pagratiden. Der
Pagratide Aschod erhalt 885 von dem Khalifen Mutamid die
Konigswiirde , doch sucht er und ebenso auch sein Nachfolger
Sempad gleichzeitig auch eine Annaherung an das byzantinische
Reich. Die Politik, welche Kaiser Leo VI. und dessen Nach-
folger verfolgen, urn den Arabern in Armenien entgegenzuarbeiten,
besteht darin, dass sie einzelne Grosse des Landes bewegen,
flmen ihre Gebiete abzutreten, wogegen sie sie mit hohen Wtirden
im byzantinischen Staatsdienste und mit anderwarts gelegenen
Landereien ausstatten. So wird einer^eits die byzantinische
Herrschaft fiber armenische Gebiete ausgebrettet und anderer-
seits treten im byzantinischen Reiche hohe Adelsfamilien arme-
nischer Herkunft (so die Taroniten und die Tornikier) hervor.
Im 10. Jahrhundert beginnt in Folge des Verfalles der arabischen
Macht und der unglucldichen Kampfe derselben gegen die Byzan-
tiner fur Armenien eine gluckliche Zeit, doch theilt sich dasselbe
in mehrere Herrschaften (ausser den verschiedenen Zweigen der
Pagratidischen Familie in Ani, Kars und Lori, giebt es noch
besondere Furstenhauser in Tovin und Waspuragan) und diese
Zersplitterung und die in Folge derselben ausbrechenden Zwistig-
keiten werden von der byzantinischen Politik ausgebeutet.
BaBiHus IL bemachtigt sich Iberiens und veranlasst den von den
Arabern bedrangten Fiirsten von Waspuragan, ihm sein Land
abzutreten und sich mit dem grossten Theile seines Volkes in
Cappadocien, tun Sebaste, anzusiedeln. Dieselbe Politik verfolgen
auch Baflilius' Nachfolger, Constantin Monomachus nothigt
•chliesslich den Oberkonig Kagig von Ani, ihm ebenfalls sein
Reich zu iiberlassen, und sich auch in Cappadocien, das dann
wegen der zahlreichen dort befindlichen armenischen Colonien
den Namen Klein - Armenien erhalt, niederzulassen. So steht
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12 Gfrfaer, Aug. Fr., Byzantinische Geschichten.
Armenien unter griechischer Herrschaft, als dort seit 1048 die
Einfalle der Seldschucken beginnen, Constantin Monomachus
kampft dort gegen Togrul-Beg, ihm gelingt es noch, das Land
zu behaupten. Ein zweiter wichtiger Punkt der Geschichte
dieses Kaisers sind die kirchlichen Verhaltnisse. Er erhebt im
Jahre 1043 Michael Cerularius zum Kaiser, doch muss derselbe
auf die von Basilius EL zugestandene Selbstverwaltung des Kirchen-
vermogens verzichten. Constantiii kniipft dann Verbindungen
mit dem Papstthum an, theils aus Griinden ausserer Politik,
urn namlich im Bunde mit demselben in Italien die Normannen,
welche den Rest der dortigen byzantinischen Besitzungen be-
drohen, zu bekampfen, theils aber auch, wie Gfrorer behauptet,
um gestiitzt auf dasselbe und auf die clericale Partei in seinem
eigenen Reiche die durch Auflehnung der Generale, des hohen
Clerus und der Beamtenhierarchie zerriittete Monarchie aufrecht
zu erhalten, er befiirdert daher den Versuch Papst Leo IX., die
byzantinische Kirche wieder der romischen zu unterwerfen. Aber
dieser Versuch scheitert an dem Widerstande des Patriarchen
und des hohen Clerus, welcher die Unterordnung unter Rom
nicht will, und in der hohen Aristokratie sowie in der Mit^
regentin des Kaisers, der Schwagerin desselben Theodora, seine
Stiitze findet. Eine papstliche Gesandtschaft erscheint zwar
1054 in Constantinopel , der widerspanstige Patriarch wird
von ihr gebannt, aber derselbe entziindet einen Volksauf-
stand, durch diesen wird der Kaiser zum Nachgeben be-
wogen und es erfolgt so die vollstandige Trennung der grie-
chischen von der romischen Kirche. Der Nachfolger Constantins
und der Theodora, Michael Stratioticus , welcher ebenfalls
das Kaiserthum von dem Einfluss der hohen Aristokratie
zu emancipiren sucht, wird bald durch eine Emporung
der hochadligen Generale gestiirzt und von diesen wird Isaac
Comnenus auf den Thrdn erhoben, auch dieser aber dankt schon
1059 ab, wie Gfrorer zu zeigen sucht, nicht freiwillig, sondern ge-
zwungen durch eben dieselbe aristokratische Partei, deren Inter-
essen er sich auch nicht hat hingeben wollen. Darauf soil
nach Gfrorer eine formliche Veranderung der Verfassung des
Reich es erfolgt, dasselbe soil in eine Wathlmonarchie verwandelt,
die Theilung der Herrschaft unter Mehrere festgesetzt, dem
Patriarchen eine schiedsrichterliche Stellung zwischen dem
Kaiserthum und dem Senate, den Uauptern der allmahlich neben
jener militarischen ausgebildeten Beamtenaristokratie, eingeraumt
worden sein. Der neue Kaiser Constantin Ducas ( — 1067) sieht
sich genothigt, das Mark des Landes dieser Aristokratie zu iiber-
lassen, daher gesteigerter Steuerdruck und doch Verfall des
Heerwesens, der schon friiher wiederaufgenommene Krieg gegen
die Seldschucken nimmt jetzt die ungiinstigste Wendung, 1064
erobert Alp-Arslan Ani, doch folgt auch jetzt noch der armenische
Fiirst von Kars dem friiher von seinen Landsleuten gegebenen
Beispiele, er tritt sein Gebiet an das byzantinische Reich ab und
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Gfrorer, Aug. Fr., Byzantinischo Geschichten. 13
erhalt ebenfalls Wohnsitze in Cappadocien. Constantin Ducas
hiiiferlasst bei seinem Tode die Krone seinem unmiindigen Sohne
Michael and ubertragt die Regentschaft fur denselben seiner
Gemahlin Eudocia, welche schworen muss, sich nicht wieder zu
vermahlen. Doch erkennt Eudocia bald bei der trostlosen Lage
des Reiches, der Zerriittung des Heerwesens, den Fortschritten
der Feinde (Alp-Arslan hat schon fast ganz Armenien und den
grossten Theil der byzantinischen Besitzungen in Mesopotamien
und Syrien erobert) die Nothwendigkeit, sich eine festere Stutze
zu suchen, sie vermahlt sich daher mit dem tapferen Krieger Romanus
Diogenes und erhebt denselben zum Mitkaiser. Der Regierung
dieses Romanus Diogenes widmet Gfrorer eine sehr ausfuhrliche
Darstellung, unter genauer Untersuchung auch der geographischen
Verhaltnisse schildert er die drei Feldzuge, welche derselbe
1068, 1069 und 1071 gegen Alp-Arslan unternommen hat. Die
Schuld an dem ungliicklichen Ausgange des letzteren, an der
Niederlage und Gefangennehmung des Kaisers, schreibt er dem
Verrathe einmal der von jeher demselben feindlichen Hofpartei,
andererseits der im Heere befindlichen Kleinarmenier zu. Ro-
manus Diogenes muss mit dem Sultan einen Vertrag unter schweren
Bedingungen abschliessen, er muss sich zur Zahlung eines hohen
Losegeldes und eines jahrlichen Tributes verpflichten und als
Unterpfand demselben Armenien und einen Theil von Kleinasien
uberlassen. Er erhalt darauf die Freiheit, inzwischen aber ist
in Constantinopel die Hofpartei ans Ruder gekommen, hat auch
Eudocia ins Kloster entfernt, durch sie findet Romanus Diogenes
1072 seinen Untergang; die Nichterfiillung des von ihm abge-
8chlo8senen Yertrages fiihrt dann dazu, dass Alp-Arslan den
grossten Theil von Kleinasien erobert, wahrend gleichzeitig die
kleinarmenischen Fiirsten die Gelegenheit benutzen, urn sich von
der byzantinischen Herrschaft loszureissen und auf Kosten der-
selben weiter auszudehnen. Den Umfang des den Griechen
gebliebenen Gebietes in den siidlichen und westlichen Kiistenland-
8chaften sucht Gfrorer mit Hiilfe des venetianischen Berichts
bei Dandolo und der Urkunde Kaiser Alexius I. fur Venedig
Tom Jahre 1084 festzustellen , er zeigt, dass damals in Klein-
asien eine Veranderung der Militarverfassung vorgenommen, dass
ein langs der gesammten Grenze sich hinziehender Militarbezirk
(Choma) eingerichtet worden ist, dass dieser Name aber spater
nach den gliicklicheren Kampfen unter Alexius auf eine kleine
Landschaft um den Gebirgsstock des Kadmus beschrankt worden
ist Gleichzeitig mit diesen grossen Verlusten im Osten gingen
dem byzantinischen Reiche auch seine letzten Besitzungen in
Ualien verloren, 1071 fiel dort Bari, bisher die Hauptstadt des
piechischen Apuliens, in die Hande des Normannenherzogs Robert
6m8card.
So weit reicht die Arbeit Gfrorers, der Herausgeber stellt
eine Fortsetzung in Aussicht, welche in einem vierten Bande
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14 Miihlbacher, Dr. E., Die streitige Papstwahl des Jahres 1130.
die Geschichte des byzantinischen Reiches in der Zeit der Kreuz-
ziige behandeln soil.
Berlin. F. Hirsch.
IV.
Muhlbacher, Dr. L, Die streitige Papstwahl des Jahres 1130.
gr.8°. (VII, 211 S.) Innsbruck, 1876. Wagner'sche Universitats-
Buchhandlung. 5,60 Mark.
Der Verfesser, ein Schiller Ficker's, dem auoh das Buch
gewidmet ist, hat sich der Aufgabe unterzogen, die Doppelwahl
des Jahres 1130 noch einmal genau zu untersuchen. Der letzten
auf den Gegenstand beziiglichen Arbeit — von Zopffel — wirft
er, iibrigens unter Anerkennung manches Verdienstlichen , in
erster Linie mangelhafte Kritik der Quellen vor: dann aber habe
Z. auch das Ereigniss allzu wenig im Zusammenhange mit dazu
gehorigen Vorgangen betrachtet und seine Darstellung von Ein-
seitigkeit nicht frei zu halten vennocht. Gleichwohl hat M. die
aus dem Stoff sich ergebende Gliederung Zopffefs beibehalten,
die Untersuchung aber weiter, als dieser erstreckt, namlich auch
noch bis auf die Anerkennung Innocenz' IL Ausserdem sind
drei Beilagen gegeben, deren erste „Ueber das Stimmenverhalt-
niss bei den Papstwahlen von 1059 — 1179" handelt, wahrend
die zweite sich iiber „Die Synode von Etampes" verbreitet. Zum
Schlusse folgt ein ausfuhrlicher Aufisatz: „Zur Kritik der Vita
Norberti C. 21". Obwohl vor dem Erscheinen des Miihlbacher'-
schen Buches Rosenmund's Arbeit „Die altesten Biographieen
des h. Norbert" theilweise dieselben Argumente fiir die Glaub-
wiirdigkeit des Cap. 21 gebracht hatte, konnte sich der Verf.
nicht uberzeugen, dass seine Untersuchung uberfliissig geworden
und hat sie demnach unverandert gegeben, nur dass in einigen
Anmerkungen nachtraglich auf Rosenmund verwiesen wurde.
M. geht nach den Grundsatzen der diplomatischen Kritik
zu Werke und behandelt daher zunachst (S. 1 — 20) die unmittel-
baren Quellen, dann (S. 31 — 40) die mittelbaren; die Quellen-
litteratur selbst ist eine sehr reiche.
Unter den Quellen der ersten Art kommen zuerst die
Manifeste der Papste und ihrer Wahler in Betracht. Die Berichte
beider Papste entstellen aus personlichen Interessen die Wahr-
heit, „bieten fur die Gesohichte der Wahl ausserst sparliche
Ausbeute und sind mehr geeignet, die beiden Nebenbuhler, ihre
Parteien und Kampfweise zu charakterisiren". Die Schreiben
der Wahler mussten auf die Thatsachen naher eingehen, aber
auch hier bestimmt der Zweck den Inhalt; sie entstellen beide
die Wahrheit , bringen aber immerhin einige neue Details. Auch
eine Kundgebung der Vornehmen und Magistrate von Rom vom
18. Mai liefert, wie die iibrigen Manifeste, fiir die Geschichte der
Wahl nur getingen Gewinn.
„Von desto grosserer Bedeutung ist ... . der Brief des
Digitized by VjOOQ IC
Mfihlbacher, Dr. E., Die etreitige Papstwahl des Jahres 1130. 15
romischen Clems und des Volkes an den Erzbischof Didacus
von Compostella. Zwar wurde das Schreiben im Auftrage
Anaclet's IL von einem seiner Anhanger verfasst, ist auch nicht
ohne Parteifarbung nnd verschweigt die entgegenstehenden That-
sachen, ist aber ruhig nnd leidenschaftslos gehalten nnd sucht
uberzeugungstreu , bestimmt nnd klar referirend, die kanonische
Wahl Anaclet's zu erweisen. Der Verfasser, Augenzeuge und
Theilnehmer der Wahl, ist, wie umstandlich gezeigt, der Cardinal-
priester Peter von Pisa. M. , welcher annimmt, Peter sei nicht
aus eigenniitzigen Griinden Anaclet's Anhanger gewesen, kommt
zu dem Resultat: „Handelte Peter damals nach seiner ehrlichen
Ueberzeugung, dann ist anch sein Bericht yon derselben dictirt,
dann gewinnt auch dieser urn so grossere, er gewinnt unbedingt
die grosste Glaubwiirdigkeit unter alien Parteikundgebnngen ; er
ist somit die erste Quelle iiber die Papstwahl von 1130." Von
Bedeutung ist auch der — gleichfalls dem Papste Anaclet
gunstige — offene Brief Peter's von Porto. Derselbe polemisirt
gegen ein Manifest der Gegner, allein nicht gegen das nns
erhaltene, sondern gegen ein Schriftstiick , das nicht auf una
gekommen. Spuren eines solchen, an sich ja sehr wahrschein-
Hchen Documentes werden nachgewiesen. G-anz unparteiisch ist
der Brief selbstverstandlich nicht.
Dasselbe gilt von der hervorragendsten abgeleiteten Quelle,
dem Briefe des Bischofs Hubert von Lucca an Norbert. Er war
gut informirt, bezweckt nicht, fur seine Partei — er ist Anhanger
Innocenz' IL — zu werben, will nur seinen Standpunkt dar-
thun. Er gesteht selbst Ordnungswidrigkeiten auf Seiten seiner
Partei zu, bringt iibrigens einige neue Nachrichten. Aber so
gross ist Hubert's Wahrheitsliebe denn doch nicht, dass er nicht
Unbequemes zu bemanteln und zu verschweigen bemiiht ware.
„Nicht geringes Interesse beansprucht auch ein Brief Walter's
von Ravenna an den Erzbischof Konrad von Salzburg." Die
Nachrichten Walter's sind erst aus zweiter Hand, seine Daten
durftig, aber beach tenswerth. Gleichwohl ist seine Wahrheits-
liebe nicht hoch anzuschlagen , wie sich in einem zweiten Brief
an Norbert zeigt; er wunscht durch Norbert's Einfluss auf
Lothar die deutschen Waffen fur Innocenz in Bewegung zu
setzen. Somit ist sein Schreiben fiir die Geschichte der Wahl
werthlos, werthvoll nur als Beitrag zur Taktik seiner Partei.
Was die Berichte der Geschichtschreiber betriflft, so lasst
nns die amtliche Darstellung der Papstgeschichte im Stich. Bei
den ubrigen Chronisten vermissen wir fast durchwegs genauere
und selbstandige Nachrichten; nur die Historiker Frankreichs
machen eine Ausnahme. Da beide Papste sich besonders urn
Frankreichs Anerkennung bemiihten, so wurde den franzosischen
Chronisten die Gelegenheit geboten, die Kundgebungen beider
Parteien zu benutzen. Unter den beziiglichen Relationen behauptet
die von Suger den ersten Platz. Er ist genau unterrichtet, be-
weist Wahrheitsliebe, strebt nach Unparteilichkeit. „Einen inter-
Digitized by VnOOQ IC
16 Muhlbacher, Dr. E., Die streitige Papfltwahl des Jahres 1130.
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essanten Bericht bietet auch das zweite Buch der Chronik von
Morigny." Da der Verfasser nur fur sein Kloster schrieb, konnte
seine Darstellung unbefangen sein und darf Glauben beanspruchen.
Er schopfte aus unmittelbaren Quellen. Die Darstellung bekundet
selbstandige Prufung der Parteikundgebungen , bringt iiber die
Wahl nichts wesentlich Neues, aber werthvolle Nachrichten iiber
die Familie der Pierleoni und die Jugend Anaclet's. In das
Gebiet der geschichtlichen Entstellung fuhrt uns schon der
Bericht Ernald's, des zweiten Biographen des h. Bernhard, der
um 1160 schrieb. 1st sein Bericht aber auch fur die Sache
selbst werthlos, so ist er um so werthvoller zur Charakterisirung
der Chronisten, wenn Parteinahme ihre Feder fuhrte. Aus dem
Schoosse der Reformpartei in Frankreich ging ein anderer
Wahlbericht hervor, der 1133 geschrieben ist. Nicht ganz ohne
Interesse sind die Nachrichten der Chronik des Andreasklosters
zu Chateau-Cambresis ; sie beruhen wesentlich auf Darstellungen
der anacletischen ParteL Der Carthauserprior Guigo tritt fUr
Innocenz ein, ebenso wenden sich die Gesta Pontificum Ceno-
manensium gegen Anaclet; Honorius von Autun und spatere
Chronisten geben einfoch das Factische.
Was die englischen Quellen angeht, so ist der Bericht Wil-
helm's von Malmesbury „nicht viel mehr als ein Auszug des
Briefes Peter's von Porto". Ordericus Vitalis schopfte nur aus
mundlicher Ueberlieferung, daher verschiedene Irrthiimer: andere
englische Quellen sind ausser den fiir einige chronologische
Daten wichtigen Annalen von Margan unbedeutend. Diirftig
sind die italienischen , am diirftigsten die deutschen Quellen.
Letzteren Umstand erklart der Verfasser daraus, dass im Gegen-
satz zu Frankreich die Doppelwahl von 1130 die Aufmerksam-
keit Deutschlands wenig fesselte. Parteischriften endlich der
gehassigsten Art sind der Brief des Manfred von Mantua an
Lothar und die Invective Arnulf s von Seez gegen Gerard von
Angouleme. Namentlich Potthast gegeniiber hebt der Verfasser
hervor, dass die letztgenannte Schrift nur geringen Inhalt an
historischer Wahrheit habe.
Von S. 59 an beginnt die Darstellung der WahL Cap. I
schildert die Parteien und Parteiungen in Rom. Hier streiten
seit 1116 die Frangipani und die Pierleoni um die Oberhand.
Heinrich V. gewann erstere, wahrend Papst Paschalis den letz-
teren hold war. Gegeniiber Gelasius II. blieben die Frangipani
Sieger, unter Calixt II. werden die Frangipani gedemuthigt.
Nach Calixt's Tode 1124 erfolgte eigentlich schon eine Doppel-
wahl: doch wurde die Irrung beseitigt, indem der Candidat odor
Erwahlte der Pierleoni zuriicktrat. Eine besondere Rolle spielt
bei dieser Wahl die Rivalitat der Cardinalpriester gegen die
durch das Wahldecret Nicolaus' II. bevorzugten Cardinalbischofe :
jene mochten die Wahl unter sich monopolisiren imd verbiin-
den sich 1124 mit den Pierleoni, die ein Familienglied in ihren
Reihen zahlten. Die Stellung der Partei ist 1130 im allgemeinen
MUhlbacher, Dr. E., Die streitige Papstwahl des Jahres 1130. 17
dieselbe, nur dass noch eine dritte, die Vermittlungspartei, auf-
tritt, gefiihrt von Peter von Pisa und dem Bischof von Porto.
An der Spitze der Cardinalbischofe steht diesmal kein Fran-
gipane, sondern der Kanzler Haimerich. Auch fuaf Cardinal-
priester halten zu ihm. Riicksichten auf den Kaiser bestimmen
Haimerich's Stellung nicht, hochstens Sorge urn das eigene
Interesse, da er unter einem Papst aus dem Hause der Pierleoni
das wichtige Kanzleramt kauin behalten konnte. Von den Car-
dinalpriestern bewirbt sich ein Pierleone, der Cardinal von
S. Calisto, um die Tiara. Sein offentliches Verhalten war bisber
kirchlich correct gewesen, personliche Eigenschaften enipfahlen
ihn, sein Privatleben erscheint nicht unantastbar, auch war er
Bestechungen nicht unzuganglich gewesen. Der Cardinal von
S. Calisto konnte iibrigens nicht auf die Stimmen sammtlicher
Cardinalpriester zahlen; sein Anhang bildet die Minderheit.- Das
zweite Capitel fiihrt uns zu den „Vorberathungen". Wahl-
besprechungen, die Haimerich unter dem Vorwande einer Noth-
lage bereits wahrend der letzten Lebenstage Honorius' angekniipft
wissen wollte, wurden von der Mittelpartei unter Hinweis auf
die kanonischen Vorschriften abgeschnitten. Dagegen wurde im
Schoosse der Mittelpartei hochst wahrscheinlich erwogen, wie
man den kirchlichen Frieden aufrecht erhalten konnte. Eine
lebhafte Bewegung, die in Folge der irrthiimlichen Nachricht
vom Tode des Papstes entstand, veraulasste die Cardinale wie-
derum zusammen zu treten, und dem friiheren Beschluss zuwider
erwahlten sie acht Vertrauensmanner , die sich iiber die Person
des eventuellen Nachfolgers einigen sollten. Mit Recht hebt der
Verfasser hervor, keinen Glauben verdiene die Nachricht Hu-
bert's von Lucca, es sei beschlossen worden, den anzuerkennen,
den «pars sanior" — nicht einmal die Majoritat! — der Ver-
trauensmanner erwahlt habe. Dass man sich zu den anfangs
verworfenen Vorberathungen bequemte, war eine miihsam er-
strittene Concession an Haimerich's ParteL Der Ausschuss wurde
nicht durch das Plenum gewahlt, sondern durch die 3 Gruppen
der Cardinal-Bischofe, -Priester und-Diakone; nur auf eine Stimine
konnte Pierleone sicher rechnen, die Mehrzahl staud dem Kanzler
zur Verfiigung. ^Damit ist die Niederlage des Cardinals von
S. Calisto entschieden, wenn auch seinen Gegnern der Siog noch
nicht gesichert."
Jetzt tritt auch der Candidat des Kanzlers in den Vorder-
grund, Gregor aus dem romischen Hause der Papareschi, durch
seinen unantastbaren Ruf empfohlen, aber nicht froi von Wankel-
muth. — Seine Wahl war trotz aller Vortheile, welche der
Kanzler noch vor Honorius' Tode errang , nicht gesichert : die
Entscheidung schien vielmehr in der Hand einer uninteressirten
Mittelpartei zu liegen, und wenn man dieser nicht durch eine
vollendete Thatsache zuvorkam, war es immerhin moglich, dass
man keinen der Partei-Candidaten, sondern eine dritte Person-
lichkeit wahlte. Honorius starb, wie der Verfasser nachweist,
MlUbeUaogcu a. d. histor. Litteratar. VI. 2
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18 Muhlbacher, Dr. E„ Die streitige Papstwahl des Jahres 1130.
in der Nacht vom 13. zum 14. Februar: urn seine Plane durch-
zusetzen, war es nothwendig, dass der Kanzler den Tod noch
verheimlichte ; keiner der Cardinale durfte das Zimmer des
Papstes betreten.
Nun waren aber die Cardinale der Mittelpartei, die in ge-
ringer Anzahl sich neben den Anhangern des Kanzlers noch be-
fanden, hochst misstrauisch geworden und setzten duroh, dass
bei Strafe des Bannes, wie schon in den Vorberathungen be-
stimmt, an die Wahlhandlung erst gegangen werde, nachdem der
Papst gebuhrend begraben und der Wahlausschuss , sowie das
Cardinalcollegium uberhaupt berufen sei. Da liess man plotz-
lich den Todten von Laien nach dem Kloster schaffen, senkte
ihn dort in ein gewohnliches Grab und schritt nun zur Wahl,
nachdem der Buchstabe des Eidschwures beobachtet war. El£
hochstens fiinfzehn Wahlberechtigte (kaum ein Drittel des Car-
dinalcollegiums) wahlen, gegen die allgemein giiltigen Vorschriften
und gegen die fur diesen Fall eidlich bekraftigten Verabredungen,
einstimmig den Cardinaldiakon Gregor von S. Angelo und rufen
ihn als Papst Innocenz II. aus. Mit derselben Hast geht alles
weitere vor sich. „Die Wahl Innocenz' II. ist eine ganz unkano-
nische."
Die Mittelpartei war vollstandig bei Seite geschoben; da sie
das Unrecht unmoglich gutheissen konnte, blieb ihr nichts iibrig,
als in das Lager der Pierleoni iiberzugehen. Diesen ward der
Sieg duroh die iibelangebrachte Voreiligkeit der Gegner erleich-
tert. Sie beriefen die Wahler nach S. Marco : die Mehrzahl der
Cardinale fand sich ein, auch viele vom Klerus und AdeL Alle
gesetzlichen Vorschriften wurden piinktlich beobachtet, die Wahl
Innocenz' als unkanonisch verdammt. Pierleone schlug als Can-
didaten den Bischof Peter von Porto vor, dieser bezeichnete
jenen als den wiirdigeren: einstimmig ward er gewahlt, unter
Zu8timmung von Volk und Klerus als Anaclet II. ausgerufen,
die Wahl auch durch Peter von Porto formell bestatigt. Damit
war indess auch diese Wahl keineswegs unantastbar. Eine zweite
Wahl konnte rechtmassig erst erfolgen , wenn die erste auf le-
galem Wege annullirt war; zudem war Innocenz nicht nur
friiher gewahlt, sondern auch friiher immantirt und inthronisirt.
Als Leo Frangipani die Wahl Anaclet's erfuhr, rief er seine
Anhanger auf: schon nothgedrungen musste Leo Pierleoni ebenso
verfahren. Am 15. Februar begannen die offenen Feindselig-
keiten. Die Pierleoni eroberten Lateran und Peterskirche; in
dieser ward Anaclet mit allem Pomp am 23. Februar consecrirt,
wahrend Innocenz IL an demselben Tage in Maria Nuova die
Weihe empfing.
Nun bemiihen sich beide Papste um die Anerkennung von
Seiten des Kaisers: Innocenz macht damit den Anfang, indem
er sich als Vertreter der kaiserlichen Interessen darstellt In
Rom gelangt Anaclet durch sein Geld und durch Verschwen-
dung des Kirchenschatzes zu unbedingter Gewalt; er erkauft
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selbst die Frangipani, und Innocenz muss nach Pisa fluchten.
Allein gorade durch seine Gewaltthatigkeiten schadet -Anaclet
seiner Sache. Beide Papste buhlen um Lothar's Gunst: dieser
litest Erkundigungen einziehen, vermeidet aber zunachst jede
offene Parteinahme. Anaclet, an der Anerkennung durch Lothar
zweifelnd, wirft sich dem antikaiserlichen Koger von Sicilien in
die Anne, erhebt dessen Lande zu einem Konigreich. Somit
wird er hier als apostolischer Papst anerkannt, hat aber auf
Deutschland verzichtet.
Innocenz war von Pisa nach Genua, von dort nach Frank-
reich gegangen. „Hier lag die kirchliche Entscheidung zwischen
beiden Papsten." Zwar hatte die franzosische Kirche, die Inno-
cenz schon vor seiner Flucht aus Rom zu einer Erklarung gegen
Anaclet hatte vermogen wollen, sich zuerst reservirt verhalten,
jetzt aber fiind Innocenz in Aries, dann in Cluny die ehren-
vollste Aufaahme. Die Synode von Etampes, die Ludwig VI. be-
rufen, erklarte nach peinlichster Abwagung aller einschlagiger
Bestimmungen ihn fur den rechtmassigen Papst. Zu Orleans
leistete der Konig die Huldigung, eine zweite Synode erneuerte
das Gehorsamsgelubde , eine dritte sprach iiber ' Anaclet den
Bann aus.
Nicht ohne Miihe ward Heinrich von England fur Innocenz
gewonnen, weniger Umstande machte Spanien. Zu heftigen Par-
teikampfen kam es in Aquitanien, dessen Herzog Wilhelm hart-
nackig an Anaclet festhielt. Endlich stimmte auch ihn der Abt
von Clairvaux um: nur Schottland beharrte bis zum Tode des
Gegenpapstes in seinem Widerstande gegen Innocenz. „Die kleine,
streng-reformatorische Partei konnte sich indess mit der Wahl
Innocenz' II. nie ganz aussohnen."
In Deutschland hatte Norbert eifrig fur Innocenz gewirkt,
und so erklarte im October 1130 eine Synode zu Wurzburg
diesen fur den rechtmassigen Papst. Als sich derselbe von
Frankreich nach Liittich begab, um mit Lothar eine Zusammen-
kunft zu haben, empfing ihn der Konig auf das ehrenvollste.
Auf das Ansuchen aber, zur Vertheidigung der Kirche einen
Romerzug zu machen, antwortete er mit der Riickforderung des
Investiturrechtes. Davon wollte der Papst nichts wissen, was
den Konig sehr aufbrachte: der Abt von Clairvaux stiftete auch
hier Frieden.
Von Liittich kehrte Innocenz nach Frankreich zuriick und
ging dann nach Ober-Italien , wo ihm die meisten Stadte ausser
Mailand sich anschlossen. Im Spatherbst langte Lothar in Ita-
lien an : nach einer Zusammenkunft mit Innocenz riickten beide
gegen Rom. Die Lage Anaclet's hatte sich inzwischen so ver-
8chlimmert, dass er sich zu Unterhandlungen bereit erklarte.
Obgleich Lothar nicht abgeneigt war, ein friedliches Abkommen
zu treflfen, drangten ihn die Bischofe und Cardinale, die um
Innocenz waren, zu entschiedeneren Schritten. Noch einmal wurden
die Unterhandlungen erneut und die Partei Innocenz' II. gab
2*
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20 Bochholz, E. L., Die Aargauer Gossler in Urkunden von 1250 bis 1518.
nach, dass Anaclet sich einem koniglichen Gerichte stelle. Dieser
schob die Ausfuhrung auf und ward in die Acht gethan, — die
Mittel zur Vollstreckung derselben aber fehlten. Am 30. April
zog Lothar in Kom ein, wurde von seinem Papste gekront, —
nicht einmal in der Peterskirche , die von den Pierleoni besetzt
war, und trat Mitte Juni den Ruckzug an.
Sofort erhoben sich die Anhanger Anaclet's, wiederum floh
Innocenz nach Pisa. Bernhard von Glairvaux gewann dagegen
Mailand far letzteren. Da Innocenz ausser in Rom und Unter-
Italien allgemein anerkannt wurde, bekiimmerte sich Lothar,
der 1136 nach Italien aufbrach, nicht weiter am den Zwist.
Bernhard von Clairvaux versuchte seine Ueberredungsgabe auch
an Roger von Sicilien, der aber einer offenen Erklarung durch
einen schlauen Kniff auswich. Als Anaclet bald darauf starb
und die Pierleoni im Einverstandniss mit Roger einen Gegen-
papst — Victor IV. — aufetellten, gewann Innocenz seine Wider-
sacher durch Geldzahlungen. Ein Nachspiel fand die Doppel-
wahl von 1130 auf dem Lateranconcil von 1139.
Ob es nothig war, — der Verfasser ist dieser Meinung —
in den Anmerkungen eine Ueberfiillo von detaillirten Daten und
Citaten abzulagern (so wird z. B. der Satz: „Die Romer, die
Curie so gut als die Menge, waren ein feiles Volk", durch etwa
20 Stellen belegt), lassen.wir dahin gestellt: jedenfalls zeugt
die Untersuchung von trefflicher Schule und ergiebt ein an-
nehmbares Resultat.
Berlin. Wy. Bm.
V.
Rochholz, E. L, Die Aargauer Gessler in Urkunden von 1250
bis 1513. 8. (XIV, 211 S.) Heilbronn 1877. Gebr. Henninger.
6 Mark.
Dieses Werk ist gewissermassen ein Supplement zu der
grosseren Arbeit des Verfassers: Tell in Geschichte und Sage,
die Referent im 3. Hefte des 5. Jahrganges der Mittheilungen
besprochen hat. Die vorliegende Schrift zerfallt in 2 Theile:
in ein Vorwort und in eine Sammlung von Urkunden. In dem
ersteren giebt der Verfasser die Resultate, welche or aus dem
sorgsamen Studium der 2. Halfte gewonnen hat. Die Ergebnisse
seiner Forschungen waren schon in grossen Ziigen in der vorhin
erwahnten Arbeit ausgesprochen. Es stellt sich demnach als
klar erwiesen heraus, dass niemals ein Gessler Landvogt in Uri
oder Schwyz gewesen sei und dass Tell und Gessler durchaus
nicht zusammengehoren. — Auch hat die Volkssage diese beiden
Namen nicht arglos mit einander verwoben, sondern absicht-
licher Betrug hat dieselben zusammengebracht und zwar gilt
dabei das Wort Lucians: Gauze Republiken liigen von Staats-
wegen und aus patriotischer Schuldigkeit. Nicht die Gessler
haben der Eidgenosseuschafl Unrecht gethan, sondern ihnen ist
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Oefele, Frhr. Edna., Geschichto dor Grafen von Andechs. 21
umgekehrt auf abscheuliche Weise von den biderben Schweizcrn
mitgespielt worden. Das Alles iuhrt das Vorwort in kurzen
und markigen Ziigen aus. Die meisten der mitgetheilten Ur-
kunden handeln von Kauf, Verkauf und Verpfandung von Giitern
und Rechten und zeigen, wie die Gessler im Aargau und spater
auch in Tirol angesessen und begiitert waren. Diese Schrift-
stiicke interessiren den, welcher mittelalterliches Leben kennen
lernen will, denn sie gewahren ihm eine Fiille culturhistorischer
Details. Er wird da belehrt iiber die angesessenen Familien,
iiber den Preis der liegenden Giiter und iiber ihre Ertragsfahig-
keit, iiber Rechtszustande und auch iiber politische Verhaltnisso.
Besonders interessant ist eine Urkunde vom 18. Juni 1410,
durch welche Ritter Hermann Gessler eine seiner Leibeigenen
und deren in ungenosssamer Ehe erzeugten vier Kinder dem
Kloster Reinau um 20 rheinische Gulden verkauft.
Bekanntlich durften eigentlich Leibeigene, selbst wenn sie
ritterlichen Standes waren, nicht ohne Erlaubniss ihres Grund-
herrn horige Frauen aus andern Bezirken ehelichen. Geschah
das, so folgten die Kinder der schlechteren Hand, d. h. sie ge-
horten dem Herrn der Mutter. Eine solche Ehe heisst eine
ungenosssame. So heisst es in der Urkunde:
Von der ungenossamy wegen, Als hainr. Stark von benken,
der dem gotzhus ze Rinow mit dem lib zugehort, sich elichen
veraint hett zu Elsbethen Moslinen von Slatt, die min recht
aigen gewesen ist: da etc.
Um nun alle Weiterungen zu vormeiden, verkauft Gessler
die Elsbeth mit ihren Kindern, die sie geboren hat und noch
gebaren wird, an das Gotteshaus zu Reinau.
Um den Werth des Goldes zu bestimmen , vergleiche man
unter Anderem damit S. 127 die Urkunde vom 20. Juni 1418,
durch welche die ganzo grosse Herrschaft Griiningen von den
Gesslern um 8000 Gulden an Zurich verkauft wird.
Dass diese Stadter viel weniger gut mit den Bauern um-
gingen, als die Ritter, beweisen die Klagen der Griininger gegen
Zurich, welche S. 164 sq. zu lesen sind.
Referent kann hier nur einige Andeutungen von dem reichon
Inhalte geben, der einer zusammenhangenden Bearbeitung wohl
werth ware und vielen Stoff zu farbigen Culturbildern bieten
wiirde.
Berlin. Foss.
VI.
Oefele, Frhr. Edm., Geschichte der Grafen von Andechs. gr. 8.
(VII, 249 S.) Innsbruck 1877. Wagner'sche Universitats-
buchhandlung. 7,60 Mk.
Als Referent das vorliegende Buch in die Hand nahm, hoffte
er, da ja die Grafen von Andechs am Ende des XII. und Anfang
des XHL Jahrhunderts es auf Grund ausgedehnter Besitzungen
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22 Oefele, Frhr. Edm., Geschichte der Grafen von Andecha.
zu hohem Glanz und Ansehen brachten, die allgemeine Ge-
schichte jener wichtigen Zeit hier in einem einzelnen Puncte
wiedergespiegelt zu sehen. Allein diese Hoffnung war eine triige-
rische. Denn Herr von Oefele hat sich nicht die Aufgabe ge-
stellt, die Geschichte der Grafen von Andechs mit der all-
gemeinen in Verbindung zu setzen und von ihr aus zu be-
leuchten; er hat sich vielmehr begniigt, die Nachrichten, die
irgendwie iiber das Geschlecht vorhanden sind, kritisch zu sichten
und zu registriren. Ja er wird so wenig durch hohere Gesichts-
puncte geleitet, dass er die Mitglieder der Familie, die in den
geistlichen Stand traten, und die verheiratheten Tochter nicht
beriicksichtigt : denn diese sowohl wie jene, fxihrt der Verfasser
in der Vorrede aus, seien aus dem Geschlecht herausgetreten.
Und doch scheint die Arbeit urspriinglich in einem anderen
Sinne unternommen. Denn sie ist die ganzliche Umarbeitung
einer Abhandlung, mit welcher der Verfasser im Jahre 1867 den
von der Miinchener Academie ausgeschriebenen Preis davontrug
iiber das Thema: „Geschichte der Grafen von Andechs. Urkund-
liche Feststellung der Genealogie und ihrer Besitzungen sowie
Aufhellung ihrer Thatigkeit im Deutschen Reich."
Letzterer Punct aber ist in der jetzigen Arbeit so gut wie ganz
ubergangen, wie denn iiberhaupt von den 249 Seiten, welche
das Buch enthalt, nur 28 auf die eigentliche Geschichte des
Geschlechts kommen, und von diesen geht noch ein nicht un-
bedeutender Theil fur sehr umfangreiche Anmerkungen verloren.
Sehr characteristisch ist denn auch der Anfang dieses Abschnitts:
„Immer der al teste des Geschlechts scheint die Grafschaft, zu
deren Hauptdingstatte er seine Hauptbesitzung — Diessen —
bestimmte, verwaltet zu haben; die andern u. s. w."
Man kann eine solche Auflassung nur bedauern; aber es
ist ja leider nicht selten der Fall, dass auch die berufensten
Autoren ihre Arbeiten nicht von dem Gesichtspuncte aus an-
greifen, welcher fur die Wissenschaft am erspriesslichsten ware.
Das Werk zerf allt in sechs Abschnitte : der erste behandelt
einige Quellen (die Aufzeichnungen des Stiftes Diessen und des
Klosters Tegernsee); der zweite giebt die Stammtafel und lasst
dieser die nothigen Nachweisungen folgen; der dritte enthalt
die sehr iibersichtliche Aufeahlung der Besitzungen und, in einem
(kurzen) Anhange, Nachrichten iiber die Verwaltung derselben
und den Hofstaat des Hauses; der vierte die Geschichte des
Geschlechts selbst; der fiinfte in 703 Nummern Regesten, und
der sechste endlich 24 noch ungedruckte Urkunden.
Aus dem vierten Abschnitte wollen wir Folgendes aus-
heben:
Das Geschlecht besass bald nach der Zeit, wo es uns zuerst ent-
gegentritt, (um 1000), zwei Grafschaften, die eine um den Ammer-
see mit dem Hauptorte Diessen, die andere an der Isar und
Loisach mit der Hauptdingstatte Wolfratshausen ; jedoch scheint
die Hauptgraf8chaft Diessen stets von dem Geschlechtsaltesten
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Oefele, Frhr. Edm., Geschichte der Grafen von Andechs. 23
verwaltet zu sein. Friih (urn 1045) erweiterte das Haus seine
Besitzungen nach SO, zuerst beim Aussterben der Grafen von
Ebersberg und dann einige Zeit darauf wiederum in derselben
Richtung, als ein anderes benachbartes , sonst nicht weiter be-
kanntes Grafengeschlecht erlosch. Auf kurze Zeit erwarb dann
die Wolfratshauser Linie die Grafschaft im Unterinn- nnd Pustor-
thale; ging sie auch bald wieder verloren (wie, ist nicht be-
kannt), so behielten sie hier doch nicht unbedeutenden Eigen-
besitz. Dnrch Heirath wurde eben diese Linie auch in Nieder-
Oestreich begiitert, aber sie starb schon 1157 ans. Die Diessener
Linie, die sich seit ungefahr 1132 Grafen von Andechs nannte
und inzwischen nach Franken gekommen war, wo sie von
Bamberg die Grafschaft im Rednitzgau mit der Dingstatte Plassen-
burg zu Lehen empfangen hatte, erhielt dadurch selbstverstand-
lich einen ansehnlichen Machtzuwachs ; aber der Zufall wollte
es, dass ihr gerade urn dieselbe Zeit auch noch andere Erb-
schaften zufielen: einmal die Grafschaften Scharding, Neuburg
nnd Wimberg (urn Inn und Donau), sodann Guter in Krain und
der karntnischen Mark. Ferner gelangte urn die gleiche Zeit
ein Glied der Familie auf den bischoflichen Stuhl von Brixen
und wendete nun seinem Geschlecht wieder die Grafechaft im
Unter-Innthal zu und ausserdem die Vogtei iiber Brixen selbst.
So besitzt das Haus Andechs sieben Grafschaften, und auf Grund
dieser Macht steht Graf Berthold IV. zu drei Kaisern, Lothar,
KonracHind FriedrichL, in naher Beziehung: schliesslich erhalt
er auch als unmittelbares Reichslehen die Markgrafschaft Istrien,
die einst seine Vorfahren miitterlicherseits inne gehabt hatten.
Zu dieser Machtfiille erlangte Bertholds gleichnamiger Sohn
den glanzenden, wenn auch leeren Titel eines Herzogs von Dal-
matien und Kroatien oder Meran: denn unter Meran ist hier
nicht das tyroler zu verstehen, wo die Andechser allerdings auch
begiitert waren, sondern eine Kiistenlandschaft Dalmatiens, die
im Mittelalter auch Maronia heisst und deren Namen, das slav.
more = mare enthaltend, nichts anders bedeutet als regio mari-
tima und noch heut in den Mori ak en fortlebt: Herr v. Oefele
meint, Friedrich I. habe durch die Verleihung des Titels die
Rechte in Erinnerung bringen wollen, die das deutsche Reich
auf jene Districte von Alters her hatte.
Dass die „Herzogeu von Meran nun auch dem Reichsfursten-
stande beigez^hlt werden wollten, ist erklarlich, und es gelang
ihnen auch, ihr Lehensverhaltniss zu den bairischen Herzogen
zu losen, welches jenem Streben entgegenstand. Noch hoher
stiegen sie jedoch, als 1208 Konig Philipp fur die erprobte
Treue des Geschlechts Otto dem VII. seine Nichte Beatrix gab und
mit dieser die Grafschaft Burgund und die Pfalzgrafenwiirde.
Aber damit hat das Haus Andechs seinen Hohepunct er-
reicht: gleich darauf gerathen Ottos VIL Briider Heinrich und
Ekbert — letzterer Bischof von Bamberg und Wirth des K6-
nigs — in den Verdacht, mit Otto von Wittelsbach zur Ermor-
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24 Renter, Hermann, Geschichte der religidsen Aufklarung im Mittelalter.
dung Philipps im Bunde gestanden zu haben, — wie der
Verfasser mit Winkelmann annimmt, ohne Grand. Dennoch
wurde Heinrich 1209 geachtet und aller Wiirden, Lehen und
Eigengiiter verlustig erklart. Spater erfolgte freilich seine Reha-
bilitirung, aber von den ihm genommenen Reichslehen, die an
den Herzog von Baiern gegeben waren, gab letzterer nur die
Grafschaft Wolfratshaiisen zuriick und auch diese nur als
Lehen.
Seinem 6ruder Otto aber brachte die Grafschaft Burgund
kein Gliick: er kommt hier nicht zu Ansehen und zerriittet
durch Kriege, die er deshalb fuhxt, seine Finanzen. Nun ver-
sucht sein Sohn Otto (VIII.) die Macht des Hauses dadurch
wieder zu heben, dass er dem Herzog von Baiern die Graf-
schaften Neuburg und Scharding mit Gewalt entreissen will,
aber er kampft so ungliickiich, dass er auch die Stammgraf-
schaft Diessen an den Herzog verliort, so dass ihm nur die fran-
kischen Besitzungen des Hauses bleiben: auf diesen stirbt er
1248. Ueber seinen Tod — er soil vergiftet oder nach einer
Volksiiberlieferung von einem seiner Leute erschlagen sein, dessen
Gattin er entehrt hatte — ist friiher vielfach gehandelt worden ;
nach dem Verfasser ist an jenen Geruchten nichts Wahres.
Dass im Uebrigen die Arbeit mit der Accuratesse ausgefuhrt
ist, die man fordern darf, braucht kaum bemerkt zu werden:
dafur biirgt der Name des Verfassers.
Berlin. Edm. Meyer.
VII.
Reuter, Hermann, Geschichte der religiosen Aufklarung im Mittel-
alter. 2. Band. 8 (XI, 391 S.). Berlin 1877. Wilh. Hertz. 8 Mk.
Der erste Band dieses Werkes erschien im Februar 1875
und ist im dritten Heft des 4. Jahrganges dieser Zeitschrift
naher besprochen. Der zweite behandelt auch in 4 Buchera
die Zeit vom Ende des 12. Jahrhunderts bis zum Ende des 13.
Dass Abalard , was am Schlusse des ersten Teiles gesagt
war, den Eindruck eines Aufklarers hinterlassen habe, bestatigt
der Verfasser zu Anfang des zweiten durch mehrfeche Daten
aus der Zeit nach Abalards Tode. Hier war man gewohnt,
alle Neuerungen der nachsten Decennien auf ihn zuriickzufiihren,
sogar mehr, als es zu billigen ist, und in ihm den Urvater der
dialektischen , gegen die Autoritat des Kirchenglaubens gleich-
giiltigen Wissenschaft zu sehen. Ebenso selbstandig wie Bern-
hard Sylvester mit seiner Schule zu Chartres neben Abalard
auftritt, ebenso frei halt er sich von den Satzungen und Dogmen
der Kirche, so dass sein Megakosmos und Mikrokosmos, ein um
1150 viel gelesenes Buch, ebenso gut einen Heiden zum Ver-
fasser haben konnte, wie diesen Gelehrten aus der Mitte eines
christlichon Volkes. Naher zur kirchlichen Lehre hielt sich der
Normanne Wilhelm von Conches, der vor ailem ein Christ, kein
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Beater, Hermann, Goschichto der religiosen Aufkl&rong im Mittelalter. 25
Akademiker sein wollte. Zwar brachte ihn seino „Philosophie
der Welt" bei den argwohnischen Kirchenmannern in den Ver-
dacht der Haresie, aber er hatte als alter Mann nicht den Mut,
seine Wissenschaft zu vertreten und zu verteidigen, sondern nahm
alle Lehren, welche sich in jenen Biichern als antikatholisch
gezeigt hatten, zurtick. Gilbert de la Porree dagegen wollte
alles Wissen durch den Glauben bedingt sein lassen, ging jedoch
in seiner Trinitatslehre mit so viel dialektischer Methode vor,
dass er als ein neuer Meister dieser Ricbtung nacb Abalard be-
griisst wurde. Der Adoptianismus und Nihilianismus (?), durch
die genannten Manner hervorgerufen, wurde wohl von einzelnen,
wie Gerhoh von Reichensberg , als bedenklich erkannt und, be-
kampft, von Walter von St. Victor in der gehassigsten Weise
verdammt, aber es kam am Schluss des 12. Jahrhunderts den
meisten zum Bewusstsein, dass sich mit der Dialektik der Auf-
klfirer eben alles beweisen lasso — fiir und wider die Kirche.
Das 13. Jahrhundert, sagt der Verfasser in seinen einlei-
tenden Worten auf Seite 20, war von den Spannungen und Con-
flikten der Wissenschaft und des Glaubens bewegt. Zu dieser
theoretischen Krisis kam cine socialo^ die sich in einer grossen
Ideehrevolution geltend machto. Die Kirche selbst trug durch
folgerechte Durchbildung des Katholischen zur Verbildung des
Christlichen bei. Die weitere Behandlung dieses Jahrhunderts
bringt Beuter unter die drei Gesichtspunkte :
A. Neue Motive der Steigerung der Aufklarung. Seite
21—56.
B. Ansatze und Neigungen der Aufklarung. Seite 56 — 123.
C. Phasen der Geschichte der tendenziosen Aufklarung.
Seite 123—304.
Bei den Motiven wird in geschicktcr Weise betont, dass
die katholische Kirche durch die Zaubermacht ihrer Wunder-
thaten die Naturgesetze und die Weltordnung ausser Kraft setzte,
und durch den Absolutismus der Papste, mit welchem sie Rechte
und Pflichten schufen und beseitigten, selbst von Eiden ent-
banden , das Sittengesetz aufhob. Das sittliche und politische
Bewusstsein wurde verstimmt, ja selbst Zweifel an der Realitat
des Sittlichen wachgerufen. Dazu kamen die Wirkungen, welche
die 8chlimmen Ausgange der Kreuzziige bereiteten. Die Anfangs-
begeisterung war erkaltet, die Misserfolge erschienen wie ein
Gottesgericht , durch welches der katholische Glaube selbst in
Frage gestellt wurde, das ganze Unternehmen gait nicht mchr
als religiose Leistung, sondern als Jagd nach Abenteuern in
eitler Weltlust. Eine derartige Erniichterung spiegelt sich auch
in der verschiedenen Art der Geschichtsschreibung hieriiber ab
und macht sich bis zur Gleichgultigkeit gegen das Christliche
geltend bei den nach dem Orient eingewanderten Christen und
deren Nachkommen. Personlicher Verkehr der Kreuzfahrer mit
den Saracenen liess diese mitsammt ihrer Religion meist in
besserem Lichte erscheinen, als man vorausgesetzt hatte, ein
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26 Reuter, Hermann, Geschichte der religiosen Auf kl&rung im Mittelalter.
Beweis, dass Sittlichkeit auch ausser und neben dem Christen-
tum moglich sei. Das gab Anlass zu einer verachtlichen Be-
urteilung des rein Christlichen und zur Verlaugnung Christi,
welche selbst bei den Templern Eingang fend und von ihnen
in die Christenheit des Abendlandes ubergeleitet wurde. Hier
wirkten nun die mancherlei haretischen Bestrebungen ibrerseits
aucb zersetzend, wie die Bewegungen der Katharer und Wal-
denser, denen sich die grossen Barone des sudlichen Frankreichs
nicht minder anschlossen als das niedere Volk. Die Reinheit
der neuen Secten in Lebre und Leben zog an, die Unlauterkeit
des Clerus erregte den tiefsten Abscheu, Urteile, welche durcb
die Verblendung der katholischen Apologeten nicht umgestossen,
eher befestigt wurden. Waffengewalt und Inquisition unter-
driickten wohl diesen vermeintlichen Unglauben teilweis, trugen
aber auch dazu bei, die Gedanken der Aufklarung durch Zer-
sprengen weiter zu verbreiten. Die negative Philosophie, welche
aus dem arabischen Spanien hervordrang, setzte an Stelle der
Autoritat die freie Forschung, an Stelle der Offenbarung die
Vernunft. So schon vom 8. Jahrhundert her die Mutaziliten,
deren Doctrinen zu Rationalismus und frivoler Religionsspotterei
fiihrten. Wissenschaftlich bedeutender war die philosophische
Spekulation, die im 11. Jahrhundert in Spanien hervortrat und
ihre Meister in Ibn Tofail und Averroes hatte. Die Aufklarung
dieser Manner wirkte erst nach ihrem Tode durch 3 Jahrhun-
derte im iibrigen Europa, und das urn so mehr, als sie wie eine
Art Geheimlehre auftrat; — Averroes will das Wissen dem
Philosophen, die Religion dem Volke vorbehaJten. — Wahrend
dieser als Patriarch des Unglaubens verworfen wurde, fand
Aristoteles als heidnischer Johannes der Taufer Gnade in den
Augen der Katholiken. Zu diesen Veranderungen auf geistigem
Gebiete kamen die socialen Umgestaltungen. Der Grosshandel
bliihte, der Seeverkehr nahm zu, weite Reisen in den Orient
mehrten sich, die Hansa entstand, das Geld an Stelle der Na-
turalvertauschung wirkte erleichternd , es entsteht ein Welt-
handel, der das Weltlich-Sittliche und das Religios - Kirchliche
zur bewussten Unterscheidung bringt.
Wo so viele Motive zur Aufklarung zusammenwirken, miissen
die Ansatze und Neigungen dazu bald zu Tage treten. Hiervon
spricht der zweite Teil unseres Werkes.
Die Troubadours, Schiitzlinge der Vornehmen, sehen diese
in den Albigenserkriegen und bei der Inquisition den Verfol-
gungen der Kirche preisgegeben und unterfiegen. Dadurch war
ihre eigene Existenz in Frage gestellt, und sie warfen sich des-
halb zu scharfen Polemikern gegen die Kirche auf, bei der sie
nur Ungerechtigkeit und Herrschsucht statt Liebe und Milde
erblickten. Auch in der deutschen Poesie dieser Zeit bemerkt
man skeptische und aufklarerische Ziige, weniger gegen die ka-
tholisohe Lehre selbst als gegen die Missstande in der Kirche
und unter ihren Leitern. Bei den travestirenden Gedichten der
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Beater, Hermann, Gesohichte der religiosen Anfkl&rnng im Mittelalter. 27
Dentechen, in welchen nicht blos8 die Carrikatur des Heiligen,
sondern das Heilige selbst verhohnt wird, bleibt es zweifelhaft,
ob dies von der damaligen Generation als Profanation empfunden
wnrde. Immerhin liegt darin ein Indifferentismus und eine Herab-
stimmung des schwarmerisch Religiosen. Neben dieser gelegent-
lichen Kritik legt Roger Bacon mit bewusster Reflexion den
Grand zu einer positiven kritischen Leistung. Er verwirft alle
Autoritat; zu den Quellen, zur Sache selbst sollen wir durch-
dringen, unser Wissen empirisch begriinden und methodisch aus-
bauen, das fiihrt zum eohten Realismus, daher ist die mit der
Mathematik verbundene Naturwissenschaft die hochste Wissen-
scbaft. Bacon ist aufs klarste iiberzeugt, dass die Welt ein
selbstandiges Ganzes ist, durch immanente Gesetze bestimmt,
nicht in jedem Augenblick durch unberechenbare Gewalten be-
stimmbar. Weiter sagt unser Philosoph: Das Wissen muss mit
Yorurteilen kampfen und so fortschreiten. Freilich fur die Theo-
logie fordert er ausdriicklich die Autoritat, in ihr ist der Glaube
das erste, sie soil sogar das bestimmende Element der Philo-
sophie sein. Die weiteren Ausfuhrungen in dieser Richtung er-
innGrn an Abalard, sind aber, wie Reuter meint, nicht als Plagiate
von diesem zu betrachten, sondern im Grande genommen auch
verschiedener Natur. In der Praxis blieb Bacon weit hinter
der Erwartung zuriick, er war zu sehr Idealist, deshalb konnte
seine Kritik die Scholastik nicht zersetzen, wie er beabsichtigte.
• Den Glauben der Kirche an die Offenbarung zu erhalten,
war der Beruf dieser Theologie. Aber da sie 1>ei dem Versuch,
alle moglichen Argumente zu ermitteln, selbst von aufklarerischen
Neigungen bewegt wurde, kam sie gerade zum Gegenteil, und
sie gab bei den Fragen iiber Wissen und Glauben, Vernunft
und Offenbarung Antworten bedenklichen Inhalts. Dies wird
bei Thomas von Aquino, Duns Scotus, Raymundus Lullus und
Wilhelm von Auvergne nachgewiesen. Von diesen glaubte Lullus
ein System christlicher Weltanschauung gefunden zu haben, das
auf der Welt universal werden miisste. Er versuchte seine neue
apologetische Kunst in vielen Controverspredigten mit Moslems
und Christen, denen er die Wahrheit der absoluten Religion
sowie ihre Geschichtlichkeit und ihren ubernatiirlichen Ursprung
zu beweisen sucht. Er ging dabei nicht mit der Androhung
von Gericht und Inquisition vor, wie Wilhelm von Auvergne,
sondern neben seiner gelehrten Methode stellte er auch eine
praktisch-populare auf, die jeder erlernen konnte. Diesen Zweck
erreichte er mit seiner ganzen scholastischen Kritik nicht, son-
dern machte eher an alter Religion irre.
So kommt der Verfasser zur Gesohichte der tendenziosen
Aufklarang selbst, vornehmlich in Frankreich und Italien.
Schon lange liebten es gebildete Franzosen, die bestehenden
Religionen mit einander zu vergleichen, namentlich auch nach
einem astrologischen Gesichtspunkt. Diese Partei der Natura-
listen setzte wohl das sittliche Gesetz zu einem Naturgesetze
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~» '
28 Renter, Hermann, Geschichto der religiosen Anfkl&rung im Mttelalter.
herab, liess aber dadurch ihr Handeln im allgemeinen be-
stimmen, wahrend die Indifferonten sich auch dieser Macht zu
entwinden suchten. Sie meinten, jeder Glaube sei wahr und
jeder Gott der rechte , wenn man ihn nur dafiir halte. Um
„Seinetwillen" soil man handeln, das ist die wahre Moral, das
kann aber jeder, welcher Volksreligion er immer angehort. Der
Verfasser erinnert hier an Lessings Parabel von den drei Ringen,
die auch am Schluss des ganzen Werkes mit Riicksicht auf ihre
Entstehung naher besprochen wird.
Genaueres erfahren wir weiterhin yon den Averroisten und
ihrem Hervortreten in Paris seit 1239, d. h. von dem Averrois-
mus einer freigeisterischen Partei innerhalb der katbolischen
Kirche Frankreichs. Diese Regnngen philosophischer Freidenker
konnten durch keine Gewaltmassregeln und keine Edicte zum
Schweigen gebracht werden. Vergebens war das gewaltsame
Vorgehen gegen die Pariser Scholaron im Jahre 1230, hervor-
gerufen durch den Pariser Bischof Wilhelm von Auvergne, ver-
gebens das Verbot averroistischer Satze vom Jahre 1240, ver-
gebens die Massregelung an Johann Brescain, vergebens endlich,
weil vielfach nur scheinbar und widerspruchsvoll, die genfein-
schaftliche Abmachung aller Docenten der Pariser Universitat,
weicho am 30. Marz 1271 in der Genovevakirche foierlich be-
schworen, dass sie speciell theologische Fragen nicht behandeln
und keine gegen den Glauben entscheiden wollten. Unter Lei-
tung des Bischofe Stephan setzte man 1277 alle verwerflichen
Lehrsatze, 219 an der Zahl, fest und verband damit das Verbot
einiger Biicher, aber dies war ohne sonderlichen Erfolg. Der
Averroismus stand und blieb in voller Blute, er betonte gegen
die Scholastik, der die Theologie iiber alles ging, die Philosophic
als die einzige Wissenschaft mit Ausschluss der Theologie. Die
Averroisten behaupteten, dass es fur den Philosophen eine be-
sondere Wahrheit gabe und iiberliessen „den Glaubigen" auch
die ihrige. Damit ist der Glaube gestiirzt, das Wissen geblieben.
Leicht setzten sie sich dann mit diesem Wissen iiber vermeint-
lich falsche Erklarungen und Ansichten der Theologen hinweg
und wussten selbst, um alle irdischen Freuden besser geniessen
zu konnen, eine bequeme Moral zu schaffen. Begiinstigt wurden
die Averroisten entschieden auch durch die Verhaltnisse Frank-
reichs unter der Regierung Philipps IV. von 1285 — 1314, durch
die selbstandige Stellung Frankreichs gegeniiber der Curie.
Weil die averroistischen Freidenker die katholische Reli-
gion zur Fabel herabgedruckt hatten, wollten die mystischen
Neologen sie durch ein „ewiges Evangelium" ersetzen.
Franciscus von Assisi grundete den Orden der Franciscaner
und erhob zur Regel desselben die Bettelarmut. Diese Regel
erhielt die Weihe der Kirche und wurde von alien Ordensmit-
gliedern mit der hochsten Ehrerbietung betrachtet. Sie gait
bei ihnen als ein neues Evangelium neben dem Evangelium
ChristL Das musste zu einem Conflikt fuhren und nach zwei
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Beuter, Hermann, Geschichte der religiosen Auf klarung im Mittelalter. 29
Richtungen hin zu Parteibildung auseinandergehen. Wenn
strenge Franciscaner sahen, dass die Idee ihrer Regel von der
absoluten Armut mit den realen Verhaltnissen der Welt unver-
einbar war , dann musste sich ihr Blick notgedrungen auf die
Zuknnft richten, von der sie durch' den Wandel der Dinge
bessere Bedingungen erwarteten. Das fiihrte zu einem apoka-
lyptischen Grubeln, welches durch den Abt Joachim von Fiore
in Calabrien eine befriedigende Fassung erhielt. Trotz der dtirf-
tigen Ueberlieferungen zeichnet uns der Verfasser ein treffliches
BOd dieses Mannes und seiner Ideen, fur die er auf der Appe-
ninenhalbinsel sehr empfangliche Gemiiter fand. Eigen war
diesem Ausleger eine iiberaus starke Geringschatzung des Buch-
stabens, die Biicher des N. Testamentes sind ihm nur die Kunde
von dem geschichtlichen Jesus, dies buchstabliche Evangelium
muss einem geistlichen „ewigen" Evangelium weichen, welches
der Geist als vollkommene Wahrheit kundmachen wird. Die
dermalige christliche Periode kann nur als Vorstufe gelten, von
welcher mit Notwendigkeit ein Fortschritt erfolgen muss, und
dieser wird in prophetischer Rede stets verkiindet. Die ueue
Gemeinde der Joachimiten fand vielen Anhang unter den Fran-
ciscanern, die bei ihren Zweifeln iiber die Regel endliche Auf-
klarung in dem ewigen Evangelium erwarteten. Die bestehende
Kirche sollte mit dem Jahre 1260 ihr Ende erreichen und dann
die neue Religion beginnen, welche keine ausseren Brauche an-
wendet, sondern alle Wahrheit klar schauen lasst.
Joachimiten und Averroisten kehrten sich also beide nicht
bloss gegen das katholische, sondern auch gegen das biblische
Evangelium, sie verbreiteten sich in Paris zu derselben Zeit.
Das neue Evangelium und die Regel, zur Franciscanerreligion
erhoben, beschworen 1255 eine papstliche Verordnung herauf,
nach welcher alle verdachtigen Papiere verbrannt werden sollten.
Doch diese Gewaltmassregel unterdnickte die Neuerer nicht,
ebensowenig beirrte dieselben das Ausbleiben der erwarteten Ka-
tastrophe 1260. Johann von Parma und Johann von Olivi waren
neue Lehrer diese* Idee. Weit fiber diese hinaus ging am Ende
des 12. Jahrhunderts Amalrich von Bena und seine Anhanger,
die Amalricaner. Nach ihrer Lehre ist jeder Christ verpflichtet
zu glauben, dass er ein Glied Christi sei. Dann aber trieben
sie mit Glauben, Wissen und Seligkeit ein sehr bedenkliches
Spiel und bildeten eine weit verzweigte Secte, von der, ein
Tell vom „Geiste" zu Propheten erkoren zu sein glaubte. Die
Inquisition informirte sich durch den Magister Radulf von Ne-
mours iiber die Lehren und Anhanger dieser Secte und bestrafte
1209 viele von ihnen.
Nahe verwandt mit dieser Richtung war die Lehre Ortliebs
von Strassburg und der Ortlibarier um 1212. Nach ihnen soil
man lediglich auf die Stimme des Geistes lauschen und ihr
folgen, d. h. doch eine Vernunftreligion an Stolle des geschicht-
lichen Christen turns der katholischen Kirche setzen. Den Schluss
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30 Renter, Hermann, Geschichte der religidsen Anfklarung im Mittelalter.
nach dieser Richtung hin machen endlich ah die Sturmgeister
der Aufklarung die Begharden und Beguinen. Sie waren vaga-
bondirende Bettler, die, uberall und nirgend zu Hause, jene ge-
priesene Armut der Franciscaner so sehr auf die Spitze trieben,
dass sie mit lautem Geschrei und unter Drohungen milde Gaben
erpressten. Sie briisteten sich mit der weitgebendsten Auf-
kiarung und verwarfen jeden Buchstaben, jeden Gott. Der wahre
Geistesfreie wird durch sich selbst selig, obne eine bestimmte
Religion zu baben.
Zur vollstandigen Losung seiner Aufgabe giebt Reuter im
letzten Bucbe eine Gbarakteristik der Ghibelliniscben Epocbe.
Wir erfabren interessante Aufschliisse Tiber die Charakterbildung
Friedrichs II. und seine ganzlich freie und bis zur Unchristlich-
keit sich steigernde Richtung. Die Wandelbarkeit , welche die
Curie in ihrem Handeln zeigte, diente dem Kaiser zum Vorbilde
fiir das eigene Handeln. Gemiit fehlte seinem Seelenleben, der
ausserordentliche Trieb des Wissens und des Ehrgeizes stimmte
allein dasselbe. Ein unbefangener Herzensglaube blieb dem
Jiingling fremd, auf dem Gebiete der Culturgeschichte war er
als Mann dieses hohen Standes in seiner Zeit ohne Gleichen.
Sein kritisch forschender Geist konnte keine Autoritat, am we-
nigsten die der katholischen Kirche, ertragen. So trat er in
den Kampf mit Gregor IX. und Innocenz IV., in dieser Stimmung
zweifelte er an der Rechtmassigkeit des Pont ficats, ja der bibli-
schen Ueberiieferung iiberhaupt. Er kam zu einer Selbstyer-
gotterung, der zu Liebe er die Einrichtung seines ganzen Hofes
traf. Dabei setzte er sein Griibeln uber schwierige Probleme
niemals aus und verschaffte sich Antwort in seinem wissen-
schaftlichen Briefwechsel mit aller Welt 1237 beginnt der viel-
fach erorterte Kirchenstreit , worin ihm schliesslich vorgeworfen
wurde, er verachte alle Religion. Das damals laut gewordene
Urteil: „Wir aber sehen, dass er in seinen Berichten in demti-
tiger und katholischer Weise sich aussert. Weder sagt er oflfent-
lich etwas Haretisches, noch ist er frech genug dergleichen zu
ertragen" halt Reuter noch jetzt als richtig* aufrecht und be-
spricht einige Anecdoten uber den Kaiser, die seinen Unglauben
beweisen konnten, in abwehrendem Sinne, selbst mit Heran-
ziehung der arabischen Geschichtsschreibung uber seinen Aufent-
halt in Palastina und seine dort gethanen Aeusserungen.
Die vielbesprochenen Worte Friedrichs von Jesus, Moses
und Muhamed als den drei Betriigern der Welt kann Reuter
zwar durch kritische Mittel nicht als echt erweisen, glaubt aber,
dass der Kaiser sie gesprochen, dagegen das Buch de tribus
impo8toribus nicht verfasst habe.
Friedrich II. gait den Glaubigen in Italien als der Anti-
christ, dessen Wiederkommen sie nach seinem Tode bestimmt
erwarteten. Der Verfasser findet diese Wiederkehr in dem wei-
teren Verlauf der italienischen Culturgeschichte.
Damit schliesst das inhaltsvolle, an schar&innigen Beobach-
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Moimmenta Germaniae historica. 31
tungen und Schliissen reiche Werk. Von S. 305 — 391 bilden
Queflen und Bewoise einen schatzenswerten Anhang.
Berlin. ' H. Ropke.
VIII.
Monumenta Germaniae historica inde ab anno Christi quingen-
tesimo usque ad annum millesimum et quingentesimum edidit
societas aperiendis fontibus rerum germanicarum medii aevi.
Scriptorum qui vernacula lingua uai sunt tomus II. (a. u. d. T.
Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbucher des Mittel-
alters, herausgegeben von der Gesellschaft fur altere deutsche
Geschichtskunde. Zweiter Band.). Hannover. Hahn'sche Buch-
handlung. 1877. (VI u. 709 S. in gr. 4°).
Der vorliegende Band eroffnet eine neue Serie innerhalb
der Abtheilung Scriptores der Monumenta Germaniae historica,
welche die in heimischer Sprache geschriebenen deutschen Chro-
niken vom 13. Jahrhundert an umfassen soil. Derselbe unter-
scheidet sich schon ausserlich von den friiheren Theilen dadurch,
dass an Stelle des unbehiilflichen Folio- das handlichere Quart-
format getreten ist, und dass auch die Einleitungen und An-
xnerkungen deutsch abgefasst sind; zu unserer Freude ersehen
wir aus dem Vorwort, dass die neue Direction der Monumenta
sich entschlossen hat, dieses Quartformat auch bei den weiteren
neuen Publicationen anzuwenden. Dass von dieser neuen Serie
der zweite Band zuerst herausgegeben ist, hat darin seinen
Grand, dass die Direction erst nachtraglich auch die Aufnahme
der Kaiserchronik beschlossen hat und dass dieser der erste
Band vorbehalten worden ist, dessen Erscheinen auch bald in
Aussicht steht. Der vorliegende zweite Band ist ganz von Herrn
L. Weiland bearbeitet worden und enthalt folgende Stiicke:
1) Die sachsische Weltchronik, friiher gewohnlich
als Sachsen- oder Repgow'sche Chronik bezeichnet, wichtig als
der erste, schon grossartige Versuch einer Darstellung der ge-
sammten^vaterlandischen Geschichte in heimischer Sprache. Die
Chronik, friiher schon von Eckard und dann von Massmann und
Schone herausgegeben, erscheint hier in Folge einer sorgfaltigen
kritischen Verwerthung des gesammten handschriftlichen Mate-
rial (24 Handschriften) in ganz neuer Gestalt. In der aus-
gedehnten Einleitung, welche der Herausgeber voranschickt, er-
ortert derselbe zunachst in eingehendster Weise das Verhaltniss
dieser Handschriften zu einander, er sondert dieselben in drei
Gruppen, eine kiirzere Recension A, eine mittlere B und die
weiteste Recension C, er zeigt, dass diese Recensionen sammt-
lich von dem Verfesser selbst herstammen, dass die kiirzeste
A die friiheste, die reichhaltigste C die spateste ist, dass alle
diese Texte wahrend der Jahre 1230 — 1251 abgefasst sind, dass
auch die Anhange, welche sich in alien Handschriften der Gruppe
C finden, von eben diesem Verfasser herriihren. Er untersucht
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32 Monumenta Germaniae historica.
ferner die Quellen des Werkes und zeigt, dass die Hauptmasse
desselben aus der Weltchronik Ekkehards von Aura, den Pohlder
Annalen, der im Original verlorenen, aber auch aus anderen ab-
geleiteten Quellen bekannten Chronik Alberts von Stade und
den ebenfalls verlorenen, aber auch von anderen Chroniken be-
nutzten Gesta der Erzbischofe Wichmann, Ludolf und Albrecht
von Magdeburg compilirt ist, in der Recension C sind dazu noch
die Kaiserchronik und eine Chronik des St. Michaelsklosters in
Liineburg benutzt. Der Verfasser hat diese Quellen in sehr
verschiedenartiger Weise verwerthet, er hat sie bald ausfuhr-
licher, bald kiirzer wiedergegeben, bis c. 1230 hangt seine Dar-
stellung ganzlich von denselben ab, nur der allerletzte Theil
enthalt eine selbstandige Geschichtserzahlung. Was den Ver-
fasser selbst anbetrifft, so wird gezeigt, dass er Geistlicher ge-
we8en ist, dass er in Sachsen, wahrscheinlich in der Magde-
burger Gegend, gelebt und dass er dem dort ansassigen Ge-
schlechte der Repgow angehort hat; der Herausgeber halt es
fur durchaus un wahrscheinlich , dass er mit Eike von Repgow,
dem Bearbeiter des Sachsenspiegels, identisch sei, in der Chronik
erscheint dieser Sachsenspiegel schon benutzt. Der Ausgabe ist
die Gothaische Handschrift 24, der wahrscheinlich originale Text
der Recension C zu Grunde gelegt, in der Variantenbehandlung
hat der Herausgeber sein Augenmerk darauf gerichtet, die sach-
lichen Abweichungen der verschiedenen Recensionen zur An-
schauung zu bringen, bei grosseren Verschiedenheiten sind die
einzelnen Texte neben einander gestellt.
Die Sachsische Weltchronik ist schnell weit verbreitet, noch
im 13. Jahrhundert auch in das Oberdeutsche iibersetzt und
dann an verschiedenen Orten fortgesetzt worden, solcher Fort-
setzungen werden hier sieben abgedruckt: 1) eine sachsische,
die Zeit von 1252—1273 behandelnd, 1273—1275 abgefasst,
eine originale Arbeit mit genauen und wichtigen Nachrichten,
friiher schon von Waitz veroffentlicht , 2) eine thiiringische,
1227 — 1353, in der Hauptsache eine verkurzte Uebersetzung des
Chronicon Sanpetrinum von Erfurt, doch mit eigenarjigen Zu-
satzen, 3) die erste bairische Fortsetzung, 1216 — 1314, c. 1314
geschrieben, eine Kaisergeschichte , wie sie sich im Munde des
Volkes erhalten hat, ein Gemisch von Geschichte, Sage und
Anecdote, nur der letzte Theil enthalt genaue und werth voile
Nachrichten iiber die Doppelwahl von 1314, 4) eine zweite bai-
rische Fortsetzung, 1315 — 1348, 5) eine dritte bairische, 1316
bis 1342, 6) eine kurze Fortsetzung des deutschen Martin von
Troppau, 1310—1347, 7) eine vierte bairische Fortsetzung,
1314—1454.
Das zweite in diesem Bande herausgegebene Werk ist des
Pfaffen Eberhard Reimchronik von Gandersheim,
welche schon friiher von Leukfeld, Leibniz und Haronberg ab-
gedruckt worden ist, hier aber in wesentlich verbesserter Ge-
stalt nach der WolfFenbiitteler Handschrift erscheint. Der Heraus-
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Montunenta Germaniae historica. 33
geber weist in der Einleitung nach, dass dieses historisch wie
poetisch hochst unbedeutende Werk im Jahre 1216 gesohrieben
and dass dasselbe in der Hauptsache nur eine Uebersetzung
einer aus dem Ende des 11. Jahrhunderts stammenden lateini-
schen Schrift de fundatione Gandersheimensis ecclesiae ist, einer
panegyristischen Geschichte der Griinder des Klosters, dann der
Kaiser Heinrich I. and Otto L, sowie weiterer das Kloster be-
treffender Ereignisse bis zum Jahre 1006, in der Hauptsache
aof Widukind, einem Katalog der Aebtissinnen und einigen Urkunden
des Klosters beruhend, der Dichter hat daran den Katalog der
Aebtissinnen und zum Schluss kurze Nachrichten iiber seine
eigene Zeit hinzugefiigt.
Einen wichtigen Theil des Bandes bildet dann 3) die
Braunschweigische Reimchr onik, welche schon friiher
von Gobler, Leibniz und Scheller, aber ganz ungeniigend heraus-
gegeben war, hier aber auf Grund einer von Lappenberg ent-
deckten Hamburger Handschrift zum ersten Male in ihrer ur-
sprunglichen Gestalt vorgefiihrt wird. Auch hier enthalt die
Emleitung genaue Untersuchungen iiber die Person des Ver-
fassers, iiber die Ab&ssungszeit und iiber die dem Werke zu
Grande liegenden Quellen. Der Verfasser ist ein wahrscheinlich
zum herzoglichen Hofhalt gehorender Geistlicher in Braun-
schweig gewesen, er hat seine Arbeit zwischen den Jahren 1279
und 1292 geschrieben, sein Zweck ist Verherrlichung des kurz
vorher verstorbenen welfischen Herzogs Albrechts des Grossen;
er zeigt eine nicht unbedeutende dichterische Begabung, der
historische Werth seiner Arbeit besteht darin, dass uns in der-
selben der Inhalt einiger verlorener Quellen erhalten ist. Ausser
bekannten Quellen najnlich, der Sachsischen Weltchronik, Martin
von Troppan, Eberhard von Gandersheim u. a., ferner kirch-
lichen Einzeichnungen aus S. Aegidien und S. Blasien zu Braun-
schweig und einigen Urkunden hat der Verfasser benutzt:
1) eine bis c. 1250 reichende braunschweigische Fiirstenchronik,
von der ein Auszug auch in der hier als Anhang abgedruckten
Chronica ducum de Brunswick und von Heinrich von Herford
benutzt ist, 2) eine sehr ausfuhrliche, gut unterrichtete und un-
parteiische, gleichzeitig wahrscheinlich in Hildesheim abgefasste
Reichsgeschichte von 1195—1209, 3) braunschweigische Auf-
zeichnungen iiber die Geschichte Herzog Albrechts von 1250 — 1279.
Es folgen noch einige weniger bedeutende Stiicke: 4) die
Chronik desStiftes S.Simon und Judas zuGoslar,
eine bis 1294 reichende diirftige Bearbeitung einer verloren ge-
gangenen reichhaltigeren lateinischen Chronik dieses Klosters,
einer 1286 — 1288 verfassten Kaisergeschichte, beruhend auf Ur-
kunden desselben, auf der Sachsischen Weltchronik, der Kaiser-
chronik und Sagen allgemeiner und localer Art. Als Anhang
ist noch eine kiirzere lateinische Bearbeitung derselben Vorlage,
welche ebenso wie die deutsche Chronik auch schon friiher von
Leibniz herausgegeben war, abgedruckt. 5) die Holstein-
MUtheUongwi a. d. bUtor. Llttentor. VI. 8
Digitized by VnOOQ IC
34 Hftfler, Dr. Const, von, Zwr Kritik und Quellenkunde etc.
scheReimchronik, in Wirklichkeit Bruchstiicke einer sol-
chen, die schon Lappenberg veroffentlicht hatte, namlich der
Anfeng 1199—1231, der Schluss, betreffend den Grafen Adolf
von Holstein nnd dessen Tod (1261), ferner ein kurzer Auazug
des Ganzen. Der Verfasser des Werkes, ein Hamburger Minorit,
hat dasselbe c. 1400 nach bekannten Quellen, den Annales
Ryenses, Albert yon Stade und der Sachsischen Weltchronik ge-
arbeitet.
Der Band enthait am Schluss ausser dem gewohulichen
Namenindex ein reichhaltiges , von Herrn Dr. Strauch bearbei-
tetes Glossar, in welchem der eigenthiimliohe Wortschatz der
hier herausgegebenen niederdeutschen Chroniken ausgebeutet
ist und welches so auch fur Sprachforscher eine wichtige Fund-
grube darbietet.
Berlin. F. Hirsch.
IX.
Hofler, Dr. Const von, Zur Kritik und Quellenkunde der ersten
Regierungsjahre K. Karls V. (Separatabdruck aus dem
XXV. Bande der Denkschriften d. kaiserl. Akad. d. Wissensch.)
Imp. 4 (84 S.). Wien 1876. C. Gerold's Sohn. 3 Mark.
Der Zweck der Schrift ist, jene gefahrliche Periode, wo die
Weltmacht Karls V. gleich im Beginne seiner Regierung durch
Aufruhr in fast alien Teilen derselben bedroht war, kritisch
zu beleuchten und durch Wiirdigung der Quellen einen festen
historischen Boden zu gewinnen. Sie beschaftigt sich fast allein
mit den Ereignissen in Gastilien und giebt so eine kritische Er-
ganzung zu des Ver&ssers Werk iiber den Aufetand der Comu-
nidades, das ich in dieser Zeitschrift (Band V, S. 233 flE.) aus-
fuhrlicher angezeigt habe.
Der erste Teil der klar und eindringlich geschriebenen
Abhandlung behandelt die Constitutions- und Unionsversuche in
der Zeit des Aufstandes der Comuneros; im Allgemeinen ein
kurzer Inhalt des ausfuhrlicheren Werkes dariiber, genauer aber
in der Mitteilung des Wortlautes von Verfassungsentwiirfen,
wie des von Avila und Torddsillas, und einiger Vermittlungs-
versuche (p. 1 — 14).
Darauf folgt eine Kritik der Schriftsteller iiber jenen Auf-
stand, von denen manche noch gar nicht veroffentlicht sind.
Einige wie Ulloa's vita dell invittissimo Imp. Carlo V., Antonio
Ferrer's del Rio Decadencia de Espana, Parte I, Bauer's Ha-
drian VL, Llorentes krit. Gesch. d. Inquisition erfahren eine be-
sonders scharfe Be- und Verurteilung (p. 14 — 44).
Ein dritter Teil handelt iiber die Briefe. und Urkunden-
sammlungen. Hier wird besonders Guevara in's rechte Licht
gestellt, den man wegen chronologischer Irrtiimer nur mit grosser
Reserve zu benutzen hat ; ahnlich verhalt es sidn mit den Briefon
des Petrus Martyr (p. 44—66).
Digitized by UOOQ IC
Wicbert, Th. F. A., Aus der Corresponded etc. — Bitter, Moriz, Brief© etc. 35
En vierter Teil behandelt das Conclave Adrians VI., des
letzten deutschen Papstes, besonders nach der wichtigsten Quelle
dariiber, nach Marin Sanuto, de successu rerum Italiae (p. 67 — 84).
Berlin. Paul Foerster.
X.
Wichert, Th. F. A., Aus der Correspondenz Herzog Albrechts
von Preussen mit dem Herzog Christoph von Wirtemberg.
Eine Festgabe zur vierhundertjahrigen Jubelfeier der Uni-
versitat Tubingen, gr. 8. (20 S.) Konigsberg i. Pr. 1877.
Der hier zum ersten Male bekannt gemachte Briefwechsel
(2 Briefe Albrechts, 3 Briefe Christophs) beschaftigt sich haupt-
sachlich mit den vergeblichen Versuchen Albrechts, den Tiibinger
Brenz fur seine Konigsberger Universitat und fur die Stelle eines
Bischofs von Samland, spater von Pomesanien zu gewinnen, dem-
nachst mit der gleichfalls erfolglos versuchten Berufung des Tii-
binger Theologen Jacob Andrea auf einen Lehrstuhl zu Konigs-
berg , "daneben mit den durch Osiander in Konigsberg hervor-
gerufenen theologischen Handeln.
F. Holtze.
XL
Ritter, Moriz, Briefe und Acten zur Geschichte dee dreissig-
j&hrigen Krieges in den Zeiten des vorwaltenden Einflusses
der Wittelsbacher. III. Band. Der Jiilicher Erbfolgekrieg.
gr. 8. (562 S.) Munchen 1877. M. Krieger'sche Buchhand-
lung. 10 Mark.
Von der umfassenden Urkundensammlung fur die Geschichte
des Hauses Wittelsbach zur Zeit des dreissigjahrigen Krieges,
deren erste Bande eine ausfiihrliche Besprechung in diesen
Blattern gefiinden haben (Jahrgang III, 92), ist nach einer Pause
▼on drei Jahren ein dritter Band erschienen, welcher die auf
den Julichschen Erbfolgekrieg des Jahres 1610 beziiglichen
Actenstucke giebt und durchaus in der umsichtigen und kriti-
schen Art seiner Vorganger gearbeitet ist. Wir finden vor alien
Drngen in annahernder Vollstandigkeit die Gesandteninstruc-
tionen, Protocolle und Abschiede der Unionstage zu Schwabisch-
Hall (Dec. 1609), Heidelberg (Marz 1610), Heilbronn (Jul. 1610),
sowie der zweiten Heidelberger Versammlung (Sep. 1610), in
sfcreng chronologischer Anordnung zum ersten Male vereinigt
und durch erlauternde Anmerkungen in Verbindung gesetzt. Von
hohem Interesse sind ferner die Berichte einer Reihe von Ab-
geordneten deutscher Fiirsten und Stadte an ihre heimischen
Behorden und die militarischen Relationen uber die kriegerisohen
Ereignisse, Werbungen, Truppendurchziige und Belagerungen,
welche nicht nur fur die politische Geschichte jener Epoche von
Bedeotung sind, sondern auch ein reiches Material fur volks-
wirtschaffiiche und kulturhistorische Studien des 17. Jahrhun-
3*
Digitized by UOOQ IC
36 Bitter, Moriz, Briefe und Acten znr Geachichte dos dreissigj&hrigen Kriegea.
derts iiberhaupt bieten. Die hochste Beachtung verdienen die
Briefe der franzosischen, spanischen und hollandischen Gesandten:
die Schreiben Aerssen's an Oldenbarnevelt, Boissise's und Ville-
roy's an Heinrich IV. von Frankreich und die Berichte des Car-
denas an Philipp III., welche bier zum ersten Male unter Ueber-
windung grosser, durch schlechte Schrift und verwickelte Satz-
bildung bereiteter Scbwierigkeiten nach der Sammlung des
Dr. Stieve wiedergegeben wurden. Die letzten 40 Seiten des
vorliegenden Bandes liefern Documente zum Jahre 1610, welche
sich auf die Verhandlungen Heinrich IV. mit den italienischen
Machten, zumal mit Savoyen, beziehen. Ausser den deutschen
Archiven zu Miinchen, Berlin, Stuttgart, Nurnberg, Bernburg und
Schlobitten gaben Paris (Bibl. nat. und Archives nat.) und der
Haag reiche Beitrage. Ein sorgfaltig gearbeitetes Actenverzeich-
niss und Namen- und Sachregister erleichtert wesentlich die
Benutzung.
Wunschenswert ware bei der weiteren Fortfuhrung des Unter-
nehmens eine grossere Beriicksichtigung der seit 1610 von Jahr
zu Jahr wachsenden Flugschriftenlitteratur, da der grosste Teil
der Verhandlungen im Reiche, wie der gewechselten Staats-
schriften, Deductionen und Apologien schon den Zeitgenossen
selbst durch den Druck bekannt gemacht wurde, sodass der
forschende Historiker oft mit Staunen Actenstucke eines Archives
in weit verbreiteten Flugschriften wieder findet, deren Text dami
freilich nicht seiten arg verstiimmelt, ja absichtlich verfiLlscht
erscheint. So hatte z. B. S. 391 wol kaum in der Anmerkung
die Notiz fehlen diirfen, dass Ernst von Mansfeld seinen Ueber-
tritt zur Union in einem als Broschiire veroffentlichten Recht-
fertigungsschreiben selbst erzahlt hat. Die Acta publica Lon-
dorpens noch als Urkundensammlung zu citiren, diirfte nach
der Untersuchung, welche der Verfasser dieser Zeilen dariiber
angestellt hat, kaum ratlich erscheinen. Die erste Ausgabe ist
nichts als eine Sammlung von Flugblattern , welche der Autor,
ein weggejagter Schulmeister , auf der Frankfurter Messe zu-
8ammenbrachte und ohne Kritik, ja oft rein sinnlos, in einer
Reihe von Quartanten vereinigte. Die am meisten verbreitete,
vierte Folioausgabe , welche 50 Jahre nach Londorpens Tode
von andern Handen besorgt wurde, enthalt nach den Vorreden
auch Actenstucke, welche aus Archiven iibernommen sein sollen,
doch sind dieselben nirgends besonders kenntlich gemacht. Es
diirfte nicht das geringste Verdienst der Miinchener historischen
Commission sein, wenn sie durch die Publication der „Briefe und
Acten" grade den Londorp iiberfliissig machte, indem sie die
dort gegebenen Documente nach den Originalien selbst genau
publicierte. Vielleicht wurden sich bei dieser Gelegenheit auch
interessante Seitenblicke fur die Kritik dieses, wie der iibrigen
weitBchichtigen Sammelwerke jener Epoche, des Theatrum Euro-
paeum, Khevenhullers u. s. w. , ohne bedeutende Schwierigkeit
ankniipfen lassen.
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Stem, Alfred, Milton und seine Zeit. 37
Mit diesen Bemerkungen soil iibrigens der Wert jener , fur
das Studium des dreissigjahrigen Krieges warhaft epochemachenden
Publication keineswegs beeintrachtigt werden, im Gegenteil —
auch der Verfasser dieser Zeilen ist von dem lebhaften Wunsche
erfullt, dass die folgenden Bande nicht wiederum so lange Zeit
anf sich warten lassen als der dritte , damit die jetzige Gene-
ration nicht aJlein noch den Abschluss des Unternehmens erlebt,
sondern auch in den Stand gesetzt wird, die reichen Schatze,
welche in demselben niedergelegt sind, in historischen Dar-
stellnngen verwerten zu konnen.
Berlin. Ernst Fischer.
xn.
Stern, Alfred, Milton und seine Zeit. I. Theil. 1608—1649.
1. u. 2. Buch. gr. 8. (XIV, 348 und X, 499 S. mit 1 Stahlst.)
Leipzig 1877, Duncker und Humblot. 16 Mark.
Der vorliegende Theil des Werks umfasst die Zeit von der
Geburt des Dichters (1608) bis zur Hinrichtung Karl's I. (Anf.
1649); der erste Band, der bis 1639 reicht, schildert die Jugend-
bildung des Dichters und seine friiheren poetischen Leistungen,
der zweite behandelt Milton's litterarische Parteinahme in dem
grossen Kampfe um Kirchen- und Staatsrecht. Der Verfasser
hat die gauze geistige Entwicklung Englands in der erste n
Halfte des 17. Jahrhunderts in den Kreis seiner Darstellung
hineingezogen und vor allem den kirchlichen Streit zwischen
Pralatenthum und Presbyterianismus und weiter zwischen den
verschiedenen Parteien genau verfolgt.
Die Familie des Dichters wird bis auf den Urgrossvater
zaruckgefiihrt , der in Oxfordshire ansassig war und sich zuin
katholischen Bekenntniss hielt. Der Vater des Dichters, John
Milton, nach welchem der Sohn den Vornamen erhielt, trat friih
zur reformirten Kirche liber und bildete sich in London zum
Notar aus ; es war ein Mann, der an den geistigen Bestrebungen
seines Volkes lebhaften Antheil nahm und der Musik ein beson-
deres Interesse widmete ; das Haus, das er bewohnte, lag in der
City von London. Der Wissensdurst des jungen Milton erhielt
von dem liebevollen Vater alle Hiilfsmittel an Biichern und
Unterricht; ein junger schottischer Theologe, der auch spator
noch mit seinem Zoglinge in brieflichem Verkehr blieb, leitete
die wissenschaftliche Vorbildung des Knaben, bis dersolbe im
Alter von etwa 12 Jahren in die St. Paulsschule aufgenommen
wnrde. Dieselbe hatte , wie auch sonst die Lateinschulen jener
Zeit, die klassischen Sprachen und die alte Litteratur als Haupt-
gegenstande des Unterrichts, doch wurden auch die Mathematik
tmd die Naturwissenschaften nicht ganz vernachlassigt , selbst
das Studium der Muttersprache fand schon eine gewisse Beriick-
sichtigung. Hier legte dor hochbegabte Knabe, der mit uner-
miidlichem Fleiss alles Wissenswerthe in sich aufiiahm, den Grund
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38 Stern, Alfred, Milton und seine Zeit.
zu den ausgedehnten ij>prach- und Litteraturkenntnissen, die das
Staunen seiner Zeitgenossen erweckten. Aus dieser Zeit sind
auch die ersten poetischen Versuche Milton's erhalten, die Ueber-
setzung einiger Psalmen in's Englische und eine lateinische Elegie
an seinen friiheren Lehrer.
Die Aufnahme Milton's auf der Universitat Cambridge (Febr.
1625), wo er dem Christ-College als Pensioner zugetheilt wurde,
giebt dem Verfasser Veranlassung zu einer Characteristik der
damaligen akademischen Einrichtungen in England. Das her-
kpmmliche 7jahrige Studium zerfiel in das Quadriennium , das
mit der Erlangung des Baccalaureats seinen AbschluBS erhielt,
und in das Trienuium, nach dessen Absolvirung der Magister-
grad ertheilt wurde. Den Unterricht erhielten die Studirenden
theilweise von den Tutors der einzelnen Colleges, theilweise in
Vorlesungen, die der ganzen Universitat gemeinschaftlich waren.
Der Ge8ammtcharacter der hier betriebenen Studien bestand
wesentlich in einer Verbindung von Philologie und Scholastik.
Nach dem urspriinglichen Lehrplan sollten in den ersten 4 Jahren
Rhetorik, Dialectik und Philosophic, in den folgenden 3 Jahren
Philosophic, Astronomie, Zeichnen und Griechisch getrieben
werden, die Betheiligung an lateinischen Disputationen wurde
besonders eingescharft. Erst nach diesem Septennium, das der
allgemem - humanistischen Bildung gewidmet war, folgten medi-
cinische, juristische, theologische Fachstudien.
Milton fiihlte sich weder von der scholastischen Weise des
Unterrichts noch von dem studentischen Treiben seiner Kame-
raden recht befriedigt und hielt mit sarcastischen Ausfallen
nicht zuriick, was ihn nicht nur im allgemeinen missliebig machte,
sondern vielleicht auch die Veranlassung zu einer zeitweiligen
Verweisung von der Universitat wurde; erst in der spateren
Zeit seiner akademischen Studien gelang es ihm, die Achtung
und Anerkennung seiner Mitstudirenden zu gewinnen. Die Dichter
des Alterthums hatten ihn schon in seiner Kindheit vorzugsweise
gefesselt, an ihnen sich selber zum Dichter zu bilden, scheint
auch auf der Universitat sein Hauptinteresse gewesen zu sein.
Wie er sich das Schone nur als das Gute vorstellen konnte,
sollte auch der Dichter der Lehrer der hochsten Wahrheiten
sein; das religiose Epos lehrhaften Characters erschien ihm als
die Krone der Poesie, die er selbst einmal zu erringen traumte.
Doch um dieser Aufgabe wiirdig zu sein, hielt er es nicht fur
ausreichend, seine dichterische Kraft an den Mustern des klassi-
schen Alterthums zu bilden und sich mit dem religiosen Geist
der hebraischen Poesie zu erfullen, der Dichter sollte das ganze
Wissen der Welt umfassen und von der Erforschung der ein-
zelnen Erscheinungen zu einer Erkenntniss der Gesetze durch-
gedrungen sein, durch welche jene qrklart werden. Wahrend
sich der Idealismus Milton's von der platonischen Philosophic
besonders angezogen fiihlte, wurde er in seiner Hinneigung zum
Studium der ReaLien durch seine Bekanntschaft mit dem Empi-
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Stem, Alfred, Milton and seine Zeit. 39
nanus Bacon's bestarkt. So zog er auch die Geographic der
fremden Lander, die Geschichte der Volker nnd Staaten, ihrer
Verfassung and Cultur, vor allem aber die Erkenntniss der
Natur nnd ihrer Krafte in den Kreis seiner Studien. In den
lateinischen Elegieen nnd in den rhetorischen Versnchen in la-
teinischer Sprache, die dieser Universitatszeit angehoren, tritt
besonders die philologische Gelehrsamkeit des jungen Autors
hervor, die wenigen englischen Gedichte dieser Periode sind re-
ligiosen Inhalts und zeigen das hohe Pathos, das ein Hauptzug
in dem Character Milton's blieb.
Als Milton mit der Erlangung des Magistergrades seine hu-
manistischen Studien abgeschlossen hatte, trat die Frage des
kiinftigen Berufs dringender an ihn heran. Seine Neigung fiir
den geistlichen Stand hatte sich friih entschieden, aber die
schwersten Bedenken traten dieser Wahl jetzt entgegen. Die
puritanische Richtung, der er mit ganzer Seele angehorte, war
der Gegenstand einer immer wachsenden Verfolgung, und die
39 Artikel der englischen Staatskirche zu beschworen, wie er es
vor Erlangung seiner akademischen Wiirden hatte thun mussen,
dazu konnte er sich jetzt im Gefiihl voller personlicher Verant-
wortlichkeit nicht mehr entschliessen ; ein andres Fachstudium
lockte ihn nicht. Der Grossherzigkeit seines Vaters, der ein
nicht unbedeutendes Vermogen erworben, hatte er es zu danken,
dass er sich unbekiimmert urn materiellen Erwerb ganz seinen
Studien widmen durfte. Auf der landlichen Besitzung in Horton,
einige Stunden westlich von London, auf die sich sein Vater zu-
ruckgezogen hatte, fand er eine Zufluchtsstatte , die ihm alio
Gemisse des Landlebens gewahrte, wahrend die geringe Ent-
femung der Hauptstadt ihm gestattete, den geistigen Austausch
mit Freunden fortzusetzen und die Entwicklung der offentlichen
Verhaltnisse aus der Nahe zu verfolgen.
Die Zeit in Horton von 1632 bis 1638 nennt Stern die
Lehrjahre des Dichters. Wahrend er seine alten philologischen
Studien vertiefte und in Plato und der Bibel die Erkenntniss
der gottlichen Gesetze suchte, wandte er der neueren Geschichte
immer grosseres Interesse zu und beschaftigte sich mit neueren
Sprachen; die italienische Litteratur scheint ihn besonders an-
gezogen zu haben, und Dante war der Dichter, in dem er sein
Ideal verwirklicht fand. Von den englischen Dichtern nennt
Milton selbst Edmund Spenser sein UrbUd, und Stern bezeichnet
Milton fiir diese Epoche seiner poetischen Thatigkeit als den
letzten Dichter der Renaissance. Denn die grosseren Dichtungen
Milton's aus diesen Jahren gehoren jener allegorisch-romantischen
Richtung an, welche noch immer die englische Literatur be-
herrschte. 'Ea sind 1' Allegro und il Penseroso, die Arcadier,
der Comus.
L'Allegro und il Penseroso sind Lebensbetrachtungen in
leichten Rhythmen, die in regelrechtem Aufbau wio Strophe und
Antistrophe einander gegeniibertreten. Die Arcadier sind das
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40 Stern, Alfred, Milton and seine Zeit.
Textbuch zu einem musikalischen Festspiel, das zu Ehren der
Grafin von Derby von ihren jungen Enkelkindern aufjgefuhrt
wurde. Ein ahnliches Werk von hoherer poetischer Bedeutung
und derselben Familie zu Ehren gedichtet ist der Comus, dessen
Name dem lateinischen Werke eines leydener Professors ent-
nommen ist, wahrend die Hauptmotive auf ein Schaferspiel John
Fletcher's zuriickgefuhrt werden. Comus, Sohn des Bacchus
und der Circe, der Gott der wiisten Sinneslust, stosst auf einem
naohtlichen Umzuge auf ein Madchen, das im Walde seine Briider
verloren hat. In Verkleidung naht er sich ihr, urn sie zu ver-
fiihren und lockt sie nach seinem Palaste. Der Kern des ganzen
Maskenspiels ist der Dialog zwischen Comus und der Jungfrau,
gleichsam ein Rechtsstreit zwischen Sinnenlust und Sittengosetz.
Als der Gott von neuem auf die Jungfrau eindringt, verjagen
ihn die Briider, vom Schafer Thyrsis auf die Spur der verlornen
Schwoster geleitet, und vereinigt gelangen die Geschwister zum
Schloss ihrer Eltern.
Die Sehnsucht nach den Heimstatten des klassischen Alter-
thums und der modernen Renaissance trieb ihn im Jahre 1638
nach Italien , wo er etwa 15 Monate verweilte. Mehr noch als
die Kunstdenkmaler fesselte ihn der Verkehr mit den Poeten
und Litteraten, die in Akademieen vereinigt eine rege Thatigkeit
cntfalteten und dem enthusiastischen Milton, dessen umfassende
Gelehrsamkeit sie anstaunten, mit Freuden den Zutritt zu ihren
Bestrebungen gewahrten. Die Beziehungen zu ihnen hat Milton
auch spater noch mit Liebe gepflegt, der Eindruck, den die per-
sonliche Begegnung mit Grotius und Galilei auf ihn gemacht,
ist in seinen spateren Schriften vielfach zu erkennen. Es war
Milton nicht vergonnt, aucji Griechenland zu besuchen, die Nach-
richten aus der Heimath, wo die Parteien sich immer schroffer
gegeniiber traten, riefen ihn zuriick. Er nahm seine Wohnung
jetzt in London und widmete einen Theil seiner Zeit dem Unter-
richt zweier Neffen, zu denen bald noch andere Zoglinge kamen.
Die zehn Jahre von 1639 bis 1649, welche das Thema des
2. Bandes bilden, sind fur die poetische Thatigkeit Milton's wenig
fruchtbar gewesen. Von den epischen und dramatischen Planen,
die ihn zunachst beschaftigten, riss ihn der Kampf der Parteien,
der mit der Berufung des langen Parlaments entbrannt war,
gewaltsam los. Neben der •Sicherung der Volksfreiheiten vor
der Willkiir der Krone war es die Frage der kiinftigen Kirchen-
verfassung Englands, die alle Gemiither beschaftigte. Pralatisten
wie Puritaner hielten an der Alleinberechtigung ihrer kirchlichen
Organisation fest und verlangten die Aufrechterhaltung , be-
ziehungsweise Durchfuhrung derselben fur das ganze Konigreich;
die radikaleren reformirten Secten hatten bis dahin kaum be-
gonnen mit eigenen Anspriichen hervorzutreten. Milton wurde
durch seine Ueberzeugung getrieben, entschieden fur den Puri-
tanismus Partei zu nehmen. 1641 erschien von ihm eine Schrift
in englischer Sprache, betitelt: „Ueber die Reformation in Be-
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Stern, Alfred, Milton und seine Zeit. 41
treff der Kirchenverfassung in England und die Ursachen, die
rie bis jetzt gehindert haben, in zwei Biichorn, geschrieben an
einen Freund". Aus der Bibel und den iibrigen altesten Ur-
kunden des Christenthums weist er nach, dass das Bisthum ur-
sprunglich ein Gemeindeamt gewesen, die Griinde derjenigen,
welche aus politischen Gesichtspunkten an der bischoflichen Ver-
fassnng festhielten, widerlegt er durch den Hinweis auf die
Opposition, die das Konigthum vielfach an den Bischofen ge-
Wden, und die auch in England zu fiirchten sei. Dagegen
stimme die freie Wahl der Geistlichen durch das Volk zu der
parlamentarischen Verfassung Englands. Im Fortgang der Po-
lemik veroffentlichte Milton im Sommer 1641 eine zweite Schrift:
„Ueber pralatisches Bisthum, und ob dasselbe aus den aposto-
lischen Zeiten hergeleitet werden kann" und gegen einen der
eifrigsten Vorkampfer des Bisthums richtete er „Bemerkungen
zu der Vertheidigung des Remonstranten gegen Smectymnuus".
1642 erschien von ihm eine 4. Flugschrift mit dem Titel: „Das
Wesen der Kirchenverfassung klargestellt gegen das Pralaten-
thumu und eine Schutzschrift gegen ein Pamphlet, betitelt „Eine
bescheidene Widerlegung der Bemerkungen zu der Vertheidigung
des Remonstranten gegen Smectymnuus".
Eine neue Wendung nahm die litterarische Thatigkeit Mil-
tons in Folge seiner hauslichen Schicksale. Er hatte sich 1643
mit der Tochter eines ihm befreundeten Gutsbesitzers verhei-
rathet. Aber zwischen den Ehegatten kniipfte sich kein engeres
Band der Zuneigung. Die junge, kaum dem Kindesalter ent-
wachsene Frau sehnte sich von der Seite des erasten mit wissen-
schaftlichen Arbeiten beschaftigten Mannes bald nach den Ver-
gniigungen des elterlichen Hauses und kehrte schon einen Monat
nach der Hochzeit dorthin zuriick. Erst nach zwei Ja&ren kam
es zu einer Wiedervereinigung der Gatten, ohne dass diese Ehe,
die 1652 durch den Tod der Fran getrennt wurde, das Herz
des Mannes befriedigt hatte. Die Frucht dieser haudichen Zer-
wurfiiisse war eine Reihe von Schriften, in denen Milton die
Frage von der Ehescheidung behandelt. Das sehnliche Ver-
langen, von einem Zwange gelost zu worden, der ihm alles haus-
liche Gliick fiir die Zukunft zu verschliessen schien, legte ihm
die Frage nach der Berechtigung der englischen Ehegesetzgebung
nahe, welche die Scheidubg nur aus biblischen Griinden ge-
stattete. Indem er seinen Fall zum Ausgaugspunkt einer all-
gemeinen Betrachtung macht, begriindet er die Forderung
einer Reform der Ehegesetzgebung mit der Auffassung der Ehe
ak einer geistigen Geraeinschaft. Wenn Unvertraglichkeit der
Gemiither das Wesen der Ehe aufhebe, sei die Trennung der-
selben ein Gebot der natiirlichen Freiheit und der Sittlichkeit.
Characteristisch fiir die Anschauung der Zeit und Milton's selbst
ist es, dass er seine eigentliche Beweisfiihrung auf die Bibel
stutzt und dass er das Wort Christi: „Wer sich von seinem
Weibe scheidet (es sei denn um Ehebruch), der macht, dass sie
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42 Stern, Alfred, Milton und seine Zeit.
die Ehe bricht" (vergl. Matth. 19, 9), mit der durch das mo-
saische Gesetz gewahrten Freiheit, die Frau zu verstossen, zu
vermitteln sucht.
Dieser Angriff auf eine Satzung der presbyterianischen
Kirche zog Milton Anfeindungen von Seiten der Partei zu, unter
deren Vorkampfer er bis dahin gerechnet worden war.
Die Wendung, welche der innere Kampf in England ge-
nommen hatte, trug noch mehr dazu bei , Milton auf die Seite
der kirchlichen Opposition zu treiben. Der Puritanismus war in
wenigen Jahren zu einer Macht geworden, welche dieselben An-
spriiche auf Alleinherrschaft erhob wie vorher die bischofliche
Kirche. Nachdem man die militarische Hiilfe der Schotten gegen
den Konig durch ein Bundniss gewonnen hatte, das England zu
einer Reformation der Religion „gemass dem Worte Gottes und
dem Muster der besten reformirten Kirchen" verpflichtete , ging
die vom Parlament ernannte Synode ernstlich daran, die neue
kirchliche Organisation von England und Irland festzustellen.
Dem Begriff einer Landeskirche mit ausgedehnter Strafgewalt
traten die Independenten mit der Forderung der kirchlichen
Gemeindeautonomie gegeniiber. Sie erklarten es fur eine Pflicht
der Obrigkeit, die Gewissensfreiheit zu schonen, und verlangten
wenigstens Toleranz fur diejenigen, die sich der Nationalkirche
nicht anschliessen wollten. Diese Richtung auf die Befreiung
des Individuums von beschrankenden Satzungen hatte Milton
schon in seinen Schriften iiber Ehescheidung eingeschlagen , in
gleichem Sinne wandte er sich 1644 gegen den Versuch der
herrschenden Partei, durch Wiedereinfiihrung der Censur die
Aeusserung abweichender Meinungen zu unterdriicken , mit der
Veroffentlichung einer Schrift fur die Pressfreiheit , der er den
Titel Areopagitica gab.
An der weiteren Durchfuhrung des Kampfes zwischen Pres-
byterianismus und der Sache der Independenten hat Milton
keinen hervorragenden Antheil genommen. Erst als der Sturz
des Konigs schon entschieden war, vertheidigte er in einer
Schrift iiber das Recht der KCnige und Obrigkeiten den Grund-
satz, „da8s es fur irgend Jemanden, der die Macht dazu hat, ge-
setzlich ist und zu alien Zeiten dafur gegolten hat, einen Ty-
rannen oder schlechten Konig zur Rechenschaft zu Ziehen, und
wenn er seiner Schuld uberfiihrt worden ist, ihn abzusetzen und
mit dem Tode zu strafen, sobald die ordentlichen Behorden dies
versaumt oder verweigert haben." Eine Belohnung fiir diese
Vertheidigung des Verfahrens gegen den Konig, welche kurz
nach der Hinrichtung desselben herauskam, erhielt Milton mit
der Ernennung zum Secretar des Staatsraths fiir die fremden
Sprachen.
Wahrend Stern an diesen kirchen- und socialpolitischen
Schriften Milton's die Begeisterung fiir Freiheit und Sittlich-
keit, den Reichthum an Gedanken und Kenntnissen hervorhebt,
weist er darauf hin, wie diese Werke von den Fe*hlern der Flug-
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Salpins, F. v., Paul von Fuchs, em brandenburg.-preussischer Staatsmann. 43
schriftenlitteratur jener Zeit nicht frei sind; unser Bild von dem
sittenstrengen Kampfer und Dulder fur Reinheit des Herzens
und Freiheit des Gewissens wird getriibt durch die Leichtfertig-
keit, mit der historische Facta zusammengestellt werden, durch
Willkiirlichkeit in der Interpretation der Autoritaten und vor
allem durch die personliche Verdachtigung seiner Gegner. Selbst
der Ruhm der Ueberzeugungstreue kann bei einem Manne nicht
unbestritten bleiben, der wenige Jahre, nachdem er die presby-
terianische Kirchenverfassung als die von den Aposteln angeordnete
nachgewiesen und eine strenge Kirchendisciplin fiir nothwendig er-
klart hatte, die Vertreter derselbenKirchenordnung mit denheftigsten
Schmahungen iiberhaufte, der die Freiheit des Gewissens vertheidigte
und doch den Eatholiken Toleranz versagte, der 1642 noch denKonig
als Statthalter Christi bezeichnete und 1649 sich zu der Behauptung
versteigt, das Yolk diirfe, so oft.es ihm gut diinke, den Konig
wahlen oder verwerfen, behalten oder absetzen, selbst wenn er
kein Tyrann ist. Auch an der Discussion iiber Unterrichts-
reform, die damals von Comenius angeregt wurde, hat sich
Milton 1644 mit einer kleinen Schrift betheiligt, die statt der
formaleii Bildung durch Grammatik und Logik einen durch An-
schauung unterstiitzten Unterricht in den Bealien verlangt. Die
Lecture der Elassiker soil, sobald die Elemente des Lateinischen
und Griechischen erlernt sind, vorzugsweise der Mittheilung von
Kenntnissen dienen. Characteristisch ist die Anordnung dieser
Lecture, nach der mit den Autoren iiber Ackerbau und Natur-
kunde begonnen werden soil, dann sollen Moral und Politik
folgen, und die formalen Disciplinen sollen den Abschluss bilden.
Berlin. Braumann.
xni.
Salpius, F. v./ Paul von Fuchs, ein brandenburgisch-preussischer
Staatsmann vor zweihundert Jahren. Biographischer Essay,
gr. 8. (X, 196 8.) Leipzig 1877. Duncker & Humblot. 4 M.
Paul Fuchs (vom Kaiser geadelt 1683, Reichsfreiherr seit
1702) wnrde 1640 zu Stettin geboren; er war der Sohn eines
evangelischen Predigers und entstammte einer ansehnhdien Pa-
milie, deren Mitglieder im stadtischen, wie im Staats-Dienst ein-
flussreiche Stellungen theils eingenommen hatten, theils noch
bekleideten. Auf deutschen und niederlandischen Universitaten
griindlich unterrichtet , durch grossere Reisen gebildet, machte
Fuchs schon 1661 sich als juristischer Schriftsteller bemerklich
und folgte im Jahre 1667, nachdem er einige Zeit als Advokat
beim Hof- und Kammergericht zu Berlin thatig gewesen war,
einem Rufe als Professor der Jurisprudenz an der Universitat
Duisburg. 1670 kehrte er nach Berlin zuruck, urn zun^chst als
Geheimsekretar bei der Person des Kurfiirsten, dann, allmahlich
aufsteigend im Staatsdienste, bis an sein Lebensende (1704) einer
der verdienstvollsten Mitarbeiter an der Aufrichtung des preussi-
schen Konigthums zu bleiben. Seine Hauptwirkungsfelder waren
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44 Salpius, F. v., Paul von Fuchs, ein brandenburg.-preussischer Staatemann.
die Kirchensachen , das standische, das Lehns- und das Post-
wGsen ; aber auch als Kriegssekretar, in der Domanenverwaltung,
der Steuergesetzgebung und namentlich im diplomatischen Dienste
durch Gesandtschaftsreisen war er von ungemeiner und meist
erfolgreicher Thatigkeit.
Dass nicht iiberall klar erhellt, wie weit diese Thatigkeit
die selbstandige , mit eigener Verantwortliohkeit geubte eines
leitenden Staatsmannes ist, hat verschiedene Griinde. Schon die
biographische Behandlung bringt es mit sich, dass der Gegen-
stand derselben stets in den Mittelpunkt des weiten Kreises
der Begebenheiten und der Geschafte geriickt wird, und somit
leicht sich der Schein erzeugt, als ob an eben dieser Stelle stets
auch der Schwerpunkt zu suchen sei. Je liebevoller der Ver-
fasser beim Sammeln den Spuren seines Helden nachgegangen
ist, je flei8siger und umsichtiger er sich fur ihn der besten
Hiilfsmittel und der reichsten, bisher zum Theil unbenutzten
Quellen bedient hat, desto mehr verblasst der An theil der
Manner, welche als Vorgesetzte und als Gleichgestellte mit Fuchs
an demsclben grossen Werke, das ihre, wie seine Lebensaufgabe
war, gearbeitet haben. Diese Ausstellung trifft den Verfasser
keineswegs; er geniigt seiner Pflicht, wenn er (wie namentlich
S. 67 und S. 99—104 geschieht) das Verhaltniss des Paul Fuchs
zu den iibrigen einflussreichen Rathen des grossen Kurfursten
und des ersten Konigs andeutet; aber der Leser diirfte doch
daran zu erinnern sein, dass er die Mitwirkung der anderen
nicht aus den Augen verliere, weil er vor sich stets nur den
einen bei der Arbeit sieht. — Dazu kommt, dass in Folge der
eigenthumlichen, nach unseren heutigen Begriffen unentwickelten
Gestaltung des damaligen Staatsdienstes , den der Verfasser
(S. 32, 41, 109) treffend charakterisirt, fest umgrenzte Geschafts-
kreise, innerhalb deren je ein Minister waltet, nicht vorhanden
waren, Bearbeitung und Ausfiihrung der Sachen vielmehr je nach
dem Befehle des Landesherrn oder nach anderen Umstanden
vertheilt wurde ; und mit Recht macht der Verfasser darauf auf-
merksam, dass gerade Fuchs, als Geheimsekretar seines Monar-
ches gewiss nicht selten nur seine scharfe und feine Feder ge-
liehen hat, wo er in den Akten als Autor erscheint.
Trotzdem ergiebt sich genug fur die richtige Wiirdigung
der staatsmannischen Leistungen unseres kurfurstlichen und ko-
niglichen Rathes. Er hat mit grossem Greschick und seltcner
Arbeitskraft im Sinne des grossen Kurfursten gewirkt, auf wel-
chem Gebiete auch immer er sich zu bewegen hatte. Dass er,
in erster Linie auf das Wachsthum Brandenburg-Preussens be-
dacht, dennoch den Faden des deutsch-nationalen Gedankens in
den Schlangenwindungen der Politik seines Zeitalters nie ver-
loren , hat er nicht in seinem amtlichen Berufe allein , sondern
auch durch seine Druckschriften („Sendschreibenu und „Zei-
tungen") bewiesen, in denen er Deutschland zur Wachsamkeit
und zum Handeln gegeniiber der von den Franzosen drohenden
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Denischrift Karl Friodrichs III. v. Brandeub. an Kaiser Leopold L etc. 45
Gefohr aufruft. Strassburg insbesondere lag ihm am Herzen;
und als Ludwig XIV. in den Vorverhandlungen, die zu dem
Bjswiker Frieden fuhrten, ein „raisonnables Aequivalent" fur
diese Reichsstadt anbot, drang er eifrig darauf, solche Vor-
Bchlage von der Hand zu weisen; denn es konne kein Aequiva-
lent in der Welt erfunden werden, welches dasjenige, was Strass-
burg fur das Reich bedeute, zu egaliren vermochte. In den
inneren Angelegenheiten ging sein unermiidliches Streben dahin,
die landesherrliche Gewalt von standischen und anderen Fesseln
zu befreien, die Landesrechtspflege von auswartigen Instanzen
unabhangig zu machen, den Frieden zwischen evangelischen und
katholischen Einwohnern zu wahren, die Union der Lutheraner
und der Reformirten anzubahnen; besonders lebhaft nahm er
sich der franzosischen Refugies an. Er half die Universitat
Halle griinden. Sein klarer Blick sah in Bezug auf das Zunft-
und Innungswesen weit uber den Gesichtskreis seiner Zeit. Sein
Name begegnet uns, vorziiglich in der Mark Brandenburg, auf
alien Feldern der Gesetzgebung; denn diese war meistentheils
eine Gelegenheitsgesetzgebung , die jedesmal an den einzelnen,
dag Bediirfhiss fiihlbar machenden Fall anknupfte. Nach alien
diesen Richtungen hin, so wie in Bezug auf die Verwaltungsgrund-
satze und auf das Geschaftsver&hren bei Staats-, standischen
und Kommunal - Behorden enthalt das vorliegende Buch viel
Lehrreiches.
Bei der grossen Sorgfalt, mit welcher dasselbe gearbeitet
iat, sind nur wenige Yerse'ien, auch diese nur Schreib- oder
Druckfehler, zu verzeichnen ; z. B. S. 3 1657 fur 1637, S. 12
unterweislich fur unverweislich; S. 59 stimmen die Zahlen
40,000 und 30,000 nicht mit einander; S. 113 steht Kurfiirst
fur Eonig.
Wenn, wie es den Anschein hat, wPaul Fuchs" die erste
historische Arbeit ist, welche der Verfasser veroffentlicht , so
werden die gewonnenen Erfolge ihm hoffentlich eine Aufforde-
rung sein, den eingeschlagenen Weg auch weiter zu verfolgen.
Berlin. F. Holtze,
XIV.
Denkschrift Kurfiirst Friedrichs III. von Brandenburg an Kaiser
Leopold I. uber die Nothwendlgkeit der Wiedererwerbung
Strassburgs. 1696. 8°. (22 S.) Strassburg 1877. R. Schultz
& O 50 Pf.
Als in den Vorverhandlungen, die 1697 zum Byswiker
Frieden fiihrten, Ludwig XTV. sich bereit erklarte, Freiburg und
Breisach an Oesterreich zuriickzugeben , falls dieses auf die
Herausgabe Strassburgs an das Reich verzichte, lag die Be-
furchtung nahe, dass Kaiser Leopold auf einen fur seine Haus-
macht so vortheilhaften Vorschlag eingehen und die damals nur
auf zwanzig Jahre an Frankreich iiberlassene Reichsstadt auf
immer von Deutschland abkommen lassen werde. Diese Besorg-
Digitized by VjOOQ IC
46 Henckel-Donnersmarck, Leo Amadeus Graf, Briefe etc.
niss veranlasste den Kurfiirsten Friedrich EI., am 28. Juli
(7. August) 1696 von Cleve aus, wo er sich gerade aufhielt,
ein Schreiben an den Kaiser zu rich ten, in welchem er mit
schlagenden Griinden und ergreifenden Worten die Nothwendig-
keit, Strassburg dem Reiche zu erhalten, entwickelt. Von diesem
bisher nicht veroffentlichten Schriftstiicke ist jiingst in Strass-
burg eine Abschrift gefunden worden, und die Gemeindeverwal-
tung der Stadt hat dasselbe, auf Pergament gedruckt mit Typen,
die den stattlichsten Druckformen des 17. Jahrhunderts geschickt
nachgebildet sind, dem Kaiser Wilhelm bei seiner ersten Kaiser-
reise durch den Elsass (Mai 1877) als eine sinnige Pestgabe
dargebracht. In den Buchhandel sind zwei Ausgaben der Denk-
schrift gekommen, — beide mit einem kurzen, von P. Ebrard
verfassten Nachweise des geschichtlichen Zusammenhangs , —
die eine I1/, Bogen in Quart (50 Pf.), die andre, nur in 250
Exemplaren auf hollandisches Papier abgezogen, 4 Bogen in
Folio mit bunter Einrahmung der Seiten und stilgemasser Schluss-
vignette (2 M.)
Berlin. P. Holt?e.
XV.
Henckel-Donnersmarck, Leo Amadeus Graf, Briefe der Briider
Friedrlchs des Grossen an melne Grosseltern. Mit Portrait
und Facsimile eines Briefes des Prinzen Heinrich von Preussen.
gr. 8. (120 S.) Berlin 1877. F. Schneider & Comp. 3,60 M.
In der Vorrede (36 Seiten) des glanzend ausgestatteten
Buches giebt der Verfasser Nachrichten uber seine Vorfahren.
Die schlesische Familie der Henckel war seit der Reformation
evangelisch und schied sich in eine Beuthensche und eine Tarno-
witz - Neudecker Linie; jene wurde im Anfang des 17. Jahr-
hunderts katholisch gemacht und zu ihren Ghinsten die andre
von der osterreichischen Regierung ihrer standesherrlichen Rechte
beraubt; eine Gewaltthat, deren Folgen erst Friedrich II. nach
dem zweiten schlesischen Kriege durch Wiedereinsetzung der
Tarnowitz - Neudecker Linie in die ihr entzogenen politischen
Rechte aufhob. Diesem Zweige der Familie gehort der Gross-
vater des Herausgebers an, Victor Amadeus, Adjutant des
Prinzen Heinruah im siebenjiihrigen Kriege, als General-Lieute-
nant 1793 verstorben. An ihn und an seine Gemahlin Ottilie,
geborne Grafin von Lepel, die bis zu ihrem Tode (1843) als
kraftgeniale Erscheinung eine Rolle am Hofe zu Weimar gespielt
hat, wohin sie nach dem Ableb^i ihres Gatten als Oberhof-
meisterin der Grossfiirstin Maria Paulowna gekommen war, sind
die vorliegenden Briefe gerichtet Als freundschaftliche Zu-
schriften bringen dieselben nichts Neues zur Staatsgeschichte ;
selbst an unserer Kenntniss von den Charakteren der drei
Bruder Fri^drichs II. andern sie nichts; aber sie verscharfen
die Ztige der Bilder, welche wir besitzen, und die Veroffent-
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Henckel-Donnersmarck, Leo Amadous Graf, Briefe etc. 47
lichung ist daher auch yon der Wissenschaft willkommen zu
Die Zahl der Briefe betragt im Ganzen 42. Unter ctiesen
rind 5 von dem Prinzen von Preussen (August Wilhelm) in den
Jahren 1756 — 1758 an den General geschrieben. Sie helfen die
romanhafte Ueberlieferung zerstoren, der Prinz sei an gebroche-
nem Herzen gestorben, trostlos liber die harte Behandlung, die
ihm Seitens seines koniglichen" Bruders widerfahren ; er schreibt
im Gegentheil, fttnf Wochen vor seinem Toc|e, ingrimmig, aber
mit kalter Ruhe: me void en retraite, dont je maccomode fort
bien; quelque foi je pense encore k la honte d'etre ainsi exile
et inutU, mais etant convincu, quil ny a pas de ma faute, je
m'en f.. . .
25 Briefe riihren vom Prinzen Heinrich her, 5 aus den
Jahren 1783 — 1792 an den General, 20 aus der Zeit von 1793
bis 1802 an dessen Wittwe. Jene attune* das Missvergniigen
fiber die vermeintliche Ungerechtigkeit des alternden Friedrich
und liber die des fridericianischen Geistes entbehrende Fiihrung
der Staatsgeschafte dureh den neuen Konig Priedrich Wil-
helm II. Mit Behagen erzahlt er 1791 , wie er den monumen-
talen Ausdruck seiner Opposition, das zu Ehren Priedrichs und
seines Heeres in Rheinsberg errichtete Denkmal, eingeweihfc habe ;
j'ai rappell& k Pesprit et au coeur tous les noms que j'ai pu
parler et dont le grand Frederic dans ses memoires
ne dit pas le mot, und Jedermann weiss, was die Punkte des
Originals zu bedeuten haben. — Heureusement , schreibt er in
demselben Jahre aus Rheinsberg, que j'ignore ici 1' existence de
Berlin, Potsdam, de Frederic Guillaume, du Roi Bischoffswerder,
du Roi Wollner et des soeures benyse en ThSologie, qu'on a
plantes k Berlin, qui doivent introduire la nouvelle doctrine, - mais
auxquels a tout moment on donne le pied au . . . — Im De-
zember 1792 kritisirt er mit gewohnter Scharfe die Campagne
in Prankreich und sagt die Polgen derselben fur den weiteren
Verlauf des Krieges voraus. In Bezug auf die personliche An-
wesenheit des Konigs bei der Armee am Rheine spottet er:
Placez un sac de lame derriere un bataillon, mettez y une c&str
ronne, et que ce soit sous le feu du canon ennemi, vous con-
viendrez que ce bataillon et moins encore Tarm6e , auront de
l'avantage pour avoir ce sac avec eux, faites en Implication.
Die iibrigen, an die Wittwe des Generals geschriebenen
20 Briefe des Prinzen Heinrich zeigen, mit wie zarter und un-
ermudlich thatkraftiger Fiirsorge er bis an sein Bode bemiilrt
ist, das Loos der Hinterbliebenen seines alten Adjutanten zu
verbessern, namentlich den jungen Sohn desselben durch eine
vorzugliche Erziehung fur eine angemessene Berufsstellung vor-
zubereiten. Wie das sonst wenig hervortretende Gemttthsleben
des Prinzen hier in der liebenswurdigsten Weise sich aussert,
so bildet in den 12 Briefen des Prinzen Ferdinand (1 von 1777
au den General, 11 aus den Jahren 1793—1803 an die Wittwe)
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48 Denkw&rdigkeiten Hardenbergs.
den sehonsten Theil des sonst wenig bedeutenden Inhalts die
wiederholte riihrende Klage des jiingsten Bruders urn den im
Jahre 1802 ihm durch den Tod entrissenen letzten Bruder, den
Prinzen Heinrich.
Berlin. F. Holtze.
XVI.
Ranke, Leop. v., Denkwiirdigkeiten des Staatskanzlers Fursten
von Hardenberg bis zum Jahre 1806. 4 Bande. gr. 8.
(XVI, 633; IX, 619; VH, 453 u. Anhang 108 S.) Leip-
zig 1877, Duncker & Humblot. 60 Mark.
Die lange erwarteten Denkwiirdigkeiten des Staatskanzlers
Fursten Hardenberg, von dem ersten Historiker Deutschlands
publicirt, sind endlich in unsern Handen. Eine fast iiberwai-
tigende Ftille bedeutsamen Materials stand dem Herausgeber zu
Gebote: in den Papieren der Familie, in Efordenberg's Auf-
zeichnungen aus friiherer Zeit, in seinen Tagebuchnotizen , in
einem umfangreichen Fragmente eigenhandiger Memoiren und
dessen urkundlichen Beilagen, in einer breiten, im Auftrage des
Staatskanzlers vom Legationsrath Scholl in franzosischer Sprache
ausgearbeiteten Darlegung der politischen Thatigkeit Harden-
berg's vom Jahre 1794 bis zum Jahre 1813, endlich in den
Akten der Staatsarchive von Hannover und Berlin. Form und
G-estalt, welche der Herausgeber diesem Material gegeben, sind
einigen Bedenken begegnet. Die Einen erwarteten eine auf
Grund aller jener Quellen von Ranke's Meisterhand gezeichnete
Biographie Hardenberg's, die Anderen eine wohlgeordnete Reihe-
folge der unmittelbaren Zeugnisse der politischen Thatigkeit
Hardenberg's, d. h. seiner eingreifenden und charakteristischen
Berichte, Gutachten, Denkschnften und Aufzeichnungen , durch
den Herausgeber verbunden und erlautert. Kanke hat weder
diese noch jene Behandlungsart gewahlt. Er giebt uns eine
Biographie Hardenberg's, jedoch nur bis zu dessen Eintritt in
den Dienst Preussens. Das Interesse an dem reichen Gewinn,
der der preussischen , der europaischen Geschichte aus den ihm
vorliegenden Dokumenten zuwachsen musste, war so iiberwiegend,
dass Banke vorzog, deren Ergebniase sofort mittelst einer zusammen-
fassenden Darstellung der gesammten Epoche von 1794 bis zu
den Jahren 1813 und 1814 zu lebendiger Anschauung zu bringen.
Der Hintergrund, auf welchem Hardenberg's Thatigkeit im
preussischen Staatsdienste sich zu bewegen und zu bewahren
hatte, kommt damit zu voller Beleuchtung; dieser Thatigkeit
selbst wird die gebotene besondere Beriicksichtigung zu Theil,
freilich aber kann dabei Hardenberg's Personlichkeit nicht immer
zu ihrem Recht gelangen. „Was man gewohnlich Denkwiirdig-
keiten nennt, tritt hier vor dem grossen Interesse des Staats
und der Welt zuriick und geht gleichsam in ihnen auf." Diese
Darstellung fullt den ersten und den letzten Band des Werkes
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Denkwurdigkeiten Hardenborgs. 49
(Bd. L und Bd. IV.), wahrend die beiden mittleren Bande (Bd. U.
und Bi IE.) die „eigenhandigen Memoiren" Hardenberg's ent-
Iialten, die Aufeeichnung , in welcher Hardenberg seine Erinne-
rungen aus den Jahren 1803—1807, die Rechtfertigung seiner
Massnahmen und seines Verhaltens wahrend seiner ersten Ver-
waltung des auswartigen Amts niedergelegt hat.
Es ist ein hochst anziehendes Bild der Jugendgeschichte
Hardenberg's und der damaligen Zustande Deutschlands, welches
uns der Eingang der „Denkwiirdigkeiten" entrollt. Der nachmalige
Staatskanzler gehort einem Ministerialengeschlecht an, welchemErz-
bischof Gebhard von Mainz im Jahre 1287 das Schloss auf dem
Hardenberge als Pfandbesitz iiberlassen hatte. Glieder dieses Ge-
schlechtes stehen noch im sechszehnten Jahrhundert im Dienst
des Erzbisthums, bis im Jahre 1571 der Uebertritt zur Augs-
burgischen Konfession erfolgt Der Versuch, den Mainz im dreissig-
jahrigen Kriege macht, den Hardenberg wieder zu gewinnen,
scbeitert an Gustav Adolph's Sieg bei Breitenfeld. Danach dienen
die Hardenberge dem Hause der Welfen. Karl August, des
Staatskanzlers Vater, focht mit den hannoverischen Truppen
miter Ferdinand von Braunschweig und stieg nach dem sieben-
jahrigen Kriege bis zum hannoverischen Feldmarschall auf. Dem
Sohne (geb. 1750), der schon im zwanzigsten Jahre seine Stu-
dien zu Gottingen und Leipzig im Recht, insbesondere im Reichs-
recht und der Volkswirthschaft, beendet hatte, gewahrten Stellung
und Ansehen der Familie die besten Aussichten zu raschem Auf-
steigen im Staatsdienst ; er wurde Auditor bei der Justizkanzlei
and bald bei der Kammer zu Hannover. Zu grossem Befremden
gereichte es der Familie, dass KSnig Georg HI. die zwei Jahre
nach Hardenberg's Eintritt fur ihn in Aussicht genommene Raths-
stelle verweigerte: der junge Auditor moge zunachst auf Reisen
weitere Ausbildung suchen. Diese fuhrten Hardenberg durch
Deutschland, Holland, England und Frankreich. Mit eigenen
Augen sab er die Ohnmacht des Reichskammergerichts ; er fand
Zutritt an den deutschen Hofen, lernte die leitenden Staats-
manner kennen und wurde mit Land und Leuten vertraut. Er
beobachtete lebhaft und gut, ohne, wie die „Denkwurdigkeiten" be-
merken, besonders tief zu sehen. Die frischen Stromungen, die
damals im deutschen Geistesleben zu fluthen begannen, die
ersten Niederschlage unserer jungen Litteratur liessen den Schiiler
Gellert's und Putter's nicht unberiihrt. Den erwachenden Ideen
der Reform trug er einen offenen und hochst empfanglichen
Sinn entgegen. Sein klarer Verstand, sein wohlwollendes Herz
haben ihn dann durch alle Phasen seines Lebens in dieser Rich-
tung festgehalten. Seine Sitten waren und blieben trotz oft
wiederholter guter Vorsatze die eines Cavaliers jener Tage. Wie
leicht erregbar sein Naturell war, er wurde dennoch zu festerer
Haltung und zu einer gesunderen Grundlage seines Lebens ge-
kommen sein , ware er stark genug gewesen , die Neigung , die
ihn zu der alteren Schwester Stein's ergriff, dem Willen seiner
HlUheUuntfeo a. d. histor. Litteratur. VI. 4
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50 Denkwfirdigkeiten Hardenbeigs.
Eltern gegeniiber zu behaupten. Unzweifelhaft hatte diese Ver-
bindung seiner Haltung eine Anlehnirog unschatzbaren Werthes,
seinem Leben einen sittlich strafferen Gang gegeben.
Von seiner Reise zuriickgekehrt, wurde der Auditor Harden-
berg Kammerrath und geheimer Kammerrath in Hannover. Die
Eltern gaben ihm eine Grafin Reventlow zur Fran. Sein Ehr-
geiz richtete sieh darauf, residirender Minister Hannovers in
England zu werden. Konig Georg personlich bekannt zu werden,
ging Hardenberg 1781 mit seiner Gattin nach England; das
Liebesverhaltniss , welches der Prinz von Wales mit ihr an-
kniipfte, zwang Hardenberg, Windsor und England schleunigst
zu verlassen. „Zur Rettung seiner Ehre" nahm er die Ver-
tretung Hannovers am Reichstage zu Regensburg in Anspruch.
Die Ablehnung des Konigs entschied ihn , den hannoverischen
Dienst zu verlassen, die Stellung ernes Mitglieds des Geheimen
Raths und Prasidenten der Klosterkammer, die ihm Herzog Karl
von Braunschweig bot, anzunehmen. Am 1. Mai 1782 in diese
Funktionen eingetreten, konnte er hier zuerst den Tendenzen der
Reform, die in ihm lebten, Raum schaffen. Er iibernahm die
Umgestaltung des Schulwesens nach den Grundsatzen J. H. Campe's,
der um dioselbe Zeit nach Braunschweig berufen wurde. Eine
Schulbehorde des Staats sollte fortan- das Unterrichtswesen tiber-
wachen und leiten ; die Universitat wollte er von Helmstadt nach
Wolfenbuttel verlegen und besser ausstatten. Die Reform schei-
terte an dem - hartnackigen Widerstande der Geistlichkeit und
der Landstande. Eine zweite Verheirathung Hardenbergs (1788)
— das Verhaiten seiner ersten Frau in Braunschweig hatte zur
Scheidung gefuhrt — verbesserte den Fehler der ersten Ehe
nicht; seine Beziehungen zum Hofe des Herzogs wurden getriibt;
auch weiterhin blieb ihm das Gliick des Hauses, der Segen treuer
Lebensgemeinschaft entzogen.
Noch Kammerrath in Hannover, hatte* sich Hardenberg
als der bairische Erbfolgekrieg zum Ausbruch kam, bemiiht,
dahin einzuwirken, dass sich Hannover zu reichsgesetzlichem
Eintreten fur Preussen gegen Joseph's Uebergriffe entschliesse.
In Braunschweig war er in der Lage, nicht nur fur den Ein-
tritt des Herzogthums sondern auch fur den Eintritt Hannovers
in den Fiirstenbund nachdriicklich wirken zu konnen. Der Freund
seiner Jugend Heinitz war in Preussen Minister. Hardenberg
kannte Hertzberg und verehrte ihn. Es traf sich, dass Karl
Alexander yon Bayreuth — seit 1769 auch Markgraf von Ans-
bach — einen preussischen Beamten zur Leitung seiner Ver-
waltung verlangte Hertzberg legte Gewicht darauf, den Schein
zu vermeiden, als ob Preussen die Markgrafschaften schon vor dem
Ableben Karl Alexander's einziehe. Er schlug Hardenberg vor.
Wahrend der Verhandlungen zu Reichenbach, im Hauptquartier
zu SchOnwalde genehmigte der Herzog von Braunschweig Har-
denberg's Austritt aus seinem Dienst, verfugte Friedrich Wil-
helm IL: Hardenberg bei eintretender Veranderung in den Mark-
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Denkwiirdigkeiten Hardenbergs. 51
grafechaften in seinen Dienst zu ubernehmen. Karl Alexander
ernannte Hardenberg zum dirigirenden Minister beider Fiirsten-
th&ner. Dieser indirekte preussische Dienst Hardenberg's ver-
wandelte sich schon im nachsten Jahre in den direkten; seit
dem Herbst des Jahres 1791 leitete er offen als Kabinetsminister
Friedrich Wilhelm's II. die Verwaltung der Fiirstenthiimer. Mit
seltener Geschicklichkeit verstand er es, die Hemmungen des
Kreis- und Reichsverbandes, in denen sich diese Lande befanden,
zu losen, die preussischen Einrichtungen mit den hier herge-
brachten Formen in Uebereinstimmung zu setzen, die Hulfs-
quellen dieser Gebiete zu entwickeln, deren wirthschaftliches
Leben zu kraftigen. Er gewann Erfolge, die noch heute in der
daakbaren Erinnerung jener Lande leben.
Die Denkwiirdigkeiten verlassen, zu diesem Punkte gelangt,
den Rahmen der Biographie, urn weitere Gesichtspunkte zu
nehmen. Es biesse Eulen nach Athen tragei*, die virtuose Gruppi-
rang der historischen Gemalde, die hier boginnen, die Charak-
teristik der handelnden Personen, die Schilderung der einander
bekSmpfenden Tendenzen jener Epoche anerkennend hervorheben
zn wollen. Ich beschranke mich darauf , die ursachliche Ver-
kettung der Ereignisse, wie ich deren Zusammenhang und Be-
grondung zu erkennen glaube, in kurzen Ziigen andeutend fest-
zugteUen. Mit bestem Recht heben die Denkwiirdigkeiten hervor,
welche Bedeutung der bevorstehende Anfall von Ansbach und
Bayreuth, die im Januar 1791 zuerst im Geheimen erfolgte Cession
der Markgrafechaften fur den gesammten Gang der damaligen Po-
litik Preussens gehabt hat. Der ersten Sendung Bischofewerder's
nach Wien im Februar 1791 ist diese Frage nicht fremd ge-
wesen, wenn sie die Sendung auch keineswegs hervorgerufen hat.
Die Wendung der preussischen Politik, die meist aus dieser An-
knupfung hergeleitet wird, bleibt in ihren Motiven vollig
mi8sverstanden , wenn man sie in hergebrachter Weise auf die
reaktionaren Tendenzen Friedrich Wilhelm's II. zuriickfiihrt.
Friedrich Wilhelm's Tendenzen dieser Art lagen auf dem Ge-
biete der Religion. Der Voltairianismus war seinem weichen
und glaubensbediirftigen Gemiith zuwider, er war von der Ver-
derbhchkeit dieser Richtung iiberzeugt; um ihr zu begegnen,
traf er die verkehrtesten Massregeln. Auf politischem Gebiet
hat er in den ersten Jahren seiner Regierung keinerlei Bedenken
gehabt, mit alien Elementen der Opposition und Revolution, in
Frankreich, in Belgien, in Ungarn, in Galizien, in Liittich, die
den Zwecken seiner Politik forderlich sein konnten, in Verbin-
iung zu treten; in den spateren Jahren derselben, gerade als
die Schreckensherrschaft in Frankreich auf dem Gipfel stand,
hat er seinem Staate das, freilich von seinem Vorfahr langst vor
ihm begounene , doch auch von ihm lebhaft geforderte Gesetz-
buch gegeben, das in seinen Grundgedanken den Stempel des
Liberalismus tragi- Jene Annaherung an Oesterreich hatte in
3»rem Ursprunge weit andere Zwecke als den des gemeinsamen
4*
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52 Donkvtfirdigkeiten Hardenbergs.
Kampfe8 gegen die Revolution, der ihr untergelegt wird. Fried-
rich Wilhelm hatte Oesterreich zu Reichenbach gezwungen, auf
alle Eroberungen, die es im Bunde mit Russland gegen die Pforte
gemacht hatte, zu verzichten. Indem er sich anschickte, im
Bundniss mit England, Russland mit gewaffneter Hand dieselbe
Entsagung aufzuerlegen , wurde man in Berlin inne, dass die
Konvention von Reichenbach nicht ausreiche, Oesterreich abzu-
halten, Russland zu Hiilfe zu kommen, wenn Russland von Preussen
angegriffen wurde. Nachdem man Oesterreich, freilich auf dessen
schwere Eosten, selbst vom Kriege gegen die Pforte frei ge-
macht, sah man sich zu dem Versuche genothigt, Oesterreich
von Russland zu trennen, sich wenigstens der Neutralitat Oester-
reichs zu versichern, um sich die Flanke fur den Krieg gegen
Russland zu decken. Das war der Grund jener ersten Sendung.
Sie scheiterte an Leopold's festem Entschlusse, die Allianz mit
Russland fcstzuhalten. Friedrich Wilhelm ging dennoch gegen
Russland vor. Aber im entscheidenden Moment, gerade als der
Konig im Begriff war, zu seiner zum Angriff auf Riga ver-
eammelten Armee abzugehen, versagte England in plotzlicher
Umkehr die Unterstiitzung durch seine Flotten. Als dann dem
Konige sogar Demonstrationen derselben nicht zu Hiilfe kommen
sollten, erklarte Friedrich Wilhelm: „es miide zu sein, sich die
Schelle von England anhangen zu lassen" (7. Juni 1791). „Neben
solchem Benehmen Englands", wie der Konig sich ausdriickt,
war es Leopold, der die Annaherung zwischen Oesterreich und
Preussen nun seiner Seits zu Stande brachte. Wie zuriickhal-
tend er bisher der Revolution in Frankreich, den Anliegen seiner
Schwester gegeniiber, geblieben — als er um die Mitte des Mai
Kunde von der Absicht Ludwig's erhielt, Paris zu verlassen und
seine Residenz an der belgischen Grenze zu nehmen, erkannte
er, dass es unmoglich sein werde, dem Gange der Ereignisse in
Frankreich noch langer unthatig zuzusehen. Hatte sich Preussen
ihm genahert, um nicht im Kriege gegen Russland von ihm in
die Flanke genommen zu werden, so musste er nunmehr sich
Sicherheit verschaffen, bei einer Intervention in Frankreich von
Preussen nicht gestdrt zu werden. Er war es nun, der Bereit-
willigkeit zur Verstandigung mit Preussen zeigte, die Absendung
eines Bevollmachtigten zu diesem Zwecke erbat, wenn er auch
noch zugleich Katharina versicherte, er halte an Russland feat
und verzogere den Abschluss des Friedens mit der Pforte noch
immer in ihrem Interesso. Bischofswerder's Instruktionen (vom
29. Mai) fur die neue Sendung an Leopold waren bestimmt
dahin gefasst, dass diese Annaherung an Oesterreich Russland
so weit imponiren solle, dass es auf den ihm nunmehr zu pro-
ponirenden modificirten status quo ante bellum mit der Pforte
Frieden schliesse, eventuell aber, dass Preussen der Neutralitat
OesteiTeichs in dem andernfalls unausweichlichen Kriege gegen
Russland sicher sei. Leopold war noch bei Bischofswerder's Au-
kunft (14. Juni) bedacht, sich beide Wege offen zu halten, d. h.
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*i*r
Denkwiirdigkeiten Hardenbergs. 53
entweder im Bundnjss mit Russland beharren oder aber zum
EinTerstandniss mit Preussen gelangen zu konnen. Die Kunde,
dass Ludwig am 20. Juni Paris unbedingt verlassen werde, be-
stimmte endlich seinen Entschluss. Er musste nun im Osten zu
Ende kommen, um gich freie Hand fur den Westen zu verschaffen,
and mit Preussen abzuschliessen suchen. Nacb Sistowa erging
sein Befehl, den Frieden mit der Pforte zu zeichnen (27. Juni),
raid Bischofswerder konnte in diesen letzten Junitagen nach
Berlin melden: Leopold wiinscbe mit dem Konige bei dem Kur-
fur8ten von Sacbsen zusammenzutreffen ; seine Gedanken fur die
franzosischen Angelegenheiten seien gemassigt und weise.
Die „Denkwiirdigkeiten" sehen in den Kriegen, die mit dem
Friihjahr 1792 anbeben, den Kampf der einander entgegen--
stehenden Ideen : „Die Principien regieren die Welt und die Ge-
schicke miissen sich erfullen". Gewiss, aber docb nicht obne
die Menschen, welche von ihnen beherrscbt werden, oder sie,
sei es benutzend, sei es fiibrend, beberrschen. Wie geneigt man
sero mag, den idealen Antrieben den breitesten Platz in mensch-
lichen Dingen zu gewahren, die realen Interessen sind auch in
jener Epocbe niemals vollstandig in die idealen aufgegangen.
Wohl gab es keinen scharferen Gegensatz als zwischen den Ge-
danken, die eben in Frankreich zur Herrschaft gelangten, und
den Ordnungen des alten Europa. Die Empfindung desselben
war naturgemass bei den Fiihrern der vorwaltenden Parteien
in Frankreich lebbaft und leidenschaftlich. Nicht bios gegen
das alte Frankreich, auch gegen das alte Europa richteten sich
vornehmlich die Brissotiner, welche dann die Jakobiner in diese
Bichtung mit sich fortrissen. Auf der Gegenseite war dies doch
bei weitem nicht in dem Masse der Fall. Am wenigsten in
Kaunitz' Absichten lag es, der Revolution den Krieg zu machen.
Friedrich Wilhelm war der Ausbruch der Revolution genehm
gewesen, weQ sie das Biindniss zwischen Frankreich und Oester-
reich, das so lange und so schwer auf Preussen gedriickt hatte,
zerris8. Erst die Scenen von Varennes, die Suspension und Ge-
fengenhaltung des Konigs bewirkten bei ihm eine Umstimmung.
Und doch bemerkt er, als er im Januar 1792 das Schreiben
Lndwig XVI. vom 3. December 1791 erhielt, welches Preussens
Mitwirkung zur Versammlung eines Kongresses erbittet, der auf
eine bewaffhete Macht gestiitzt, den Faktionen in Frankreich
Einhalt gebiote : „der Kongress werde Schwierigkeiten haben und
wenn es sich um Riistungen handele, wo werde er seine Ent-
schadigung dafiir finden?44
Auf die Erklarung von Pillnitz legen die nDenkwiirdigkeiten44
soviel Gewicht, dass sich der Eindruck ergiebt, als ob diese, die
wiederholt als „Provokation44 bezeichnet wird, den Krieg mit
Frankreich entziindet und Europa bis zum Jab re 1815 mit Blut
mia* Mord erfullt habe. Man kann davon absehen, dass die
herrschenden Parteien in Frankreich im Provociren weit voraus
waren, als jene Erklarung, die weder officiell mitgetheilt noch
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54 Denkwttrdigkeiten Hardenborgs.
welcher irgend wie Folge gegeben wurde, beschlossen ward, dass
die elsassischen Lehen Frankreich einverleibt waren und eine
uberaus thatige Propaganda in Belgien und am Rhein betrieben
wurde, fur welche der Herzog von Orleans nach den Beriohten
des preussisohen Gesandten Oberst Goltz 6 Millionen Livres her-
gegeben hatte. Immerhin stellte jene Erklarung, wenn auch
nicht die Herstellung des absoluten Thrones, so doch Mass-
nahmen gegen Frankreich in wenigstens feme Aussicht. Gewiss
war es richtig, dass man sich in Frankreich auf Gegenwehr vor-
bereitete, aber man konnte wohl vorbereitet una so ruhiger ab-
warten, ob jene Massnahmen sich verwirklichten. Die Thatsache
bleibt stehen, dass Frankreich den Krieg erklart hat, dass diese
Erklarung die Gegenseite ohne die geringste militarisohe Vor-
bereitung getroffen hat, dass noch vor der Kriegserklarung
der Einbruch der franzosischen Truppen in Belgien erfolgt ist.
Nicht die Erklarung von Pillnitz hat den Krieg entzundet.
Die Kaiserin Katharina, die Emigrirten und die Brissotiner haben
dessen Ausbruch herbeigefuhrt. Der Kaiserin von Russland war
das neue Bundniss Oesterreichs und Preussens hochst unbequem
und bedrohlich. Sobald es angebahnt war, eilte sie, auch lhren
Frieden mit der Pforte auf massige Bedingungen zu schliessen;
was ihr hier entging, dafur dachte sie sich in Polen zu ent-
schadigen, welches ihr durch die Gegenstellung Preussens in den
drei letzten Jahren vollstandig entrissen worden war. Um freie
Hand gegen Polen zu erlangen, mussten Oesterreieh und Preussen
im Westen beschaftigt werden. So trieb sie seit dem September
1791 Leopold wie Friedrich Wilhelm zum Kampfe gegen die
Revolution; bei dem Grafen Artois beglaubigte sie einen Ver-
treter Russlands; es waren vomehmlich die von ihr gewahrten
Geldmittel, welche die Emigranten in den Stand setzten, ihre
ebenso gerauschvollen als ohnmachtigen Riistungen in Trier und
Koblenz in Scene zu setzen. Diese sammt den Protesten der
Prinzen gegen die September verfassung, mit welcher die konsti-
tutionelle Partei die Revolution geschlossen hatte, gaben den
Brissotinern, die den Thron zu stiirzen gedachten, die erwiinsch-
testen Vorwande, die Errungenschaften der Revolution bedroht
zu zeigen, die beruhigten Leidenschaften wieder zu entziinden
und zum Kriege zu drangen, um den Konig als den Mitver-
schworenen der Prinzen, des Auslandes anklagen und entwurzeln
zu konnen. Um seine Treue gegen die Konstitution, seinen Gegen-
satz gegen die Emigration zu beweisen, greift nun Ludwig XVL
in der Wahl der Minister successiv weiter nach links bis zu den
Brissotinern selbst, die dann alsbald den Krieg mit dem Ueber-
fall Belgiens eroffnen.
Nach diesem Ueber&ll^als nun mit der Erhitzung der Leiden-
schaften durch den Krieg, wie die Brissotiner gehofft und ge-
wollt hatten, die Lage Konig Ludwigs taglich bedrangter wurde,
war es Friedrich Wilhelm's lebhafter Wunsch, den Konig und
die Konigin befreien zu konnen ; aber seine Minister hielten dar-
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Denkwurdigkeitoa Hardenberge. 55
auf, dass Preusson keinen Mann mehr als Oesterreich ins Feld
stelle, da Oesterreich der angegriffene Theil sei und diesem
imbedingt die Vorhand bleiben musse. Als Preussen seine
Trappen im Mai 1792 nach dem Rhein in Bewegung setzte,
liess Katharina ihre an der Donau entbehrlich gewordenen Ar-
meen in Polen einrucken. Der Vorschlag, den Preussen in Wien
machte, nunmehr ebenfalls Truppen, und zwar Oesterreicher und
Preussen in gleicher Zahl, in Polen einrucken zu lassen, wurde
dort zuriickgewiesen , worauf dann Friedrich Wilhelm erklarte,
dass er hiernach seinerseits Verstandigung mit Bussland iiber
die polnische Frage suchen werde.
Wie sehr der Gedanke der ,,Entschadigung" fur den Krieg,
den Frankreich begonnen hatte, Friedrich Wilhelm beschaftigte,
ist bereits angedeutet Die Entschliisse des osterreichischen
Kabinets waren vollkommen Yon Entschadigungsabsichten be-
herrscht. Als Gegengewahr fiir die noch nicht eingetretene Ver-
standigung Preussens mit Russland iiber die polnische Frage ver-
Iwigte Oesterreich Preussens Zustimmung zur Ausfuhrung des
Plans, den Konig Friedrich dem Kaiser Joseph vereitelt hatte,
zum Austausch Belgiens gegen Baiern. Die Zustimmung erfolgte
unter Vorbehalt des von Oesterreich zu erwirkenden Einverstand-
nisses des Hauses Zweibriicken. Baierns Gewinn gegen Belgien
schien jedoch in Wien noch nicht ausreichend. Vorlangst schon
h&tten Ausbach und Bayreuth dem Fiirsten Kaunitz schwere
Sorgen bereitet : „nach ihrem Anfall werde Oesterreich Preussen
nicht mehr gewachsen sein". Zu Hubertusburg hatte er sich
Yergebhch bemuht, der Vereinigung durch die Form der Sekundo-
genitur, die er als FriedensbecQngung beantragte, die Spitze ab-
zabrechen ; er hatte Joseph instruirt , zu Neisse hierauf zuriick-
zukommen; dieser Starkung Preussens ein ausreichendes Gegen-
gewicht im voraus zu geben, war fur Joseph ein wesentliches
Motiy gewesen, nach Kurfurst Maximilian Joseph's Tode die
Hand nach Baiern auszustrecken und dann dessen Eintausch
gegen Belgien zu versuchen. Nachdem Preussen jetzt diesem
Tausche zugestimmt, forderte Oesterreich in den letzten Juli-
tagen des Jahres 1792 am Vorabend des Einmarsches in Frank-
reich von Preussen neben Baiern noch die Abtretung beider
Markgrafechaften.
Unter solchen Verhandlungen begann der „Principienkriegu
gegen Frankreich. Der Zwist der Verbiindeten musste sich stei-
gem, als England auf Grund des Barrieretraktats dem Aus-
tausche Belgiens gegen Baiern widersprach und seine Unter-
stutzung von der Behauptung Belgiens durch Oesterreich ab-
hangig machte, wahrend der Vertrag, den Preussen und Russland
am 27. Januar 1793 iiber die gegenseitigen Erwerbungen in
Polen geschlossen, Wiens Eifersucht weckte, als Thugut der ge-
8chworenste Feind Preussens und der „monstr6sen Allianz mit
diesem Staate" die Leitung der Politik Oesterreichs ubernahm,
uad der Gang defc Krieges gegen Frankreich Thugut's Erwar-
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56 Denkwiirdigkeiten Hardenbergs.
tungen tauschte. Jener Jakobiner hatte Recht als er sagte:
„sio sind einander feindseliger als uns". Das Misslingon des
er8ton Feldzuges hat der Herzog von Braunschweig zu verant-
worten. Der Vertreter Russlands bei der preussischen Armee,
Alopeus, berichtet (5. September 1792) , der Herzog von Braun-
schweig habe ihm beim Einzuge in Verdun gesagt: „Wenn es
auch ausser Zweifel ist, dass wir in Paris einziehen, so leuchtet
es mir doch nicht ein, dass dieser Einzug die Missgeschicke
Frankreichs beendigen konne. Es ist nicht moglich, dort ein
starkes preussisches Heer zu lassen, und ohne bedeutende Streit-
krafte kann man die Bevolkerung dieses machtigen Staats nicht
im Zaum halten." Und nach dem Riickzuge aus der Cham-
pagne: „die Yorsicht des Herzogs ist etwas zu weit gegangen,
um nicht mehr zu sagen" (2. Oktober). Das Misslingen des
zweiten Feldzuges fallt Thugut und Pitt zur Last. Pitt wollte
Diinkirchen erobert wissen, Thugut die Picardie, dazu Elsass und
Lothringen, um das pfalzische Haus hierher setzen zu konnen.
Deshalb unterblieb, auch nach der Einnahme von Mainz, die
Vereinigung der preussischen Armee mit der osterreichischen,
die Cond6 und Valenciennes genommen hatte; von beiden Ober-
Befehlshabern verlangt, wiirde diese Vereinigung zu entschei-
denden Schlagen gefuhrt haben.
Die Entwickelung der Absichten, die Thugut 1794 Preussen
gegeniiber verfolgte, seiner Beharrlichkeit , dem preussisch-russi-
schen Vertrage die Zustimmung zu versagen, da Preussen die
Markgrafschaften weigere, des Eifers, mit dem er die Plane
Joseph's auf das gesammte Gebiet Venetiens wieder aufoahm,
gehort zu den lichtvollsten Partien der „Denkwiirdigkeiten".
Zu vollstandigem Ueberblick waren Thugut's Einwirkungen
auf den Reichstag zu Grodno zur Ermuthigung des Widerstandes
gegen Preussens Forderungen, sein Bemiihen, in Petersburg den
Antheil Preussens zu beschneiden, Oesterreich an der Theilung
Antbeil zu gewahren, hinzuzufiigen. Statt die Armee gegen die
vordringenden Jakobiner in Belgien zu vermehren, sammelte
Thugut in Bohmen Truppen gegen Preussen. In vollem Biind-
niss mit Oesterreich sieht sich Preussen von diesem Bundes-
genossen bedroht, Russlands ist Preussen keineswegs sicher;
dazu erheben sich unter Madalinski und Kosciuzko die Polen;
und der Schatz Friedrich's II. war nahezu aufgebraucht. Man
fand, dass das Reich, welches von Preussen vertheidigt wurde und
doch nicht Preussen selbst war, wenigstens Geld zu seiner Vertheidi-
gung beitragen miisse. Man miihte sich auch bei den zunachst
bedrohten Reichskreisen vergebens. Da bot England, um Preussens
Streitkrafte fiir die Vertheidigung Belgiens heranzuziehen , Sub-
sidien. Friedrich Wilhelm ging darauf ein, Haugwitz gestand
die Gegengewahr, die Mitwirkung zur Vertheidigung Belgiens zu,
ohne diese Bedingung in Berlin bestimmt genug geltend zu
machen. Mollendorf erklarte, die Pfalz den Franzosen nicht
uberlassen zu konnen und setzte sich dann, selbst um Trier zu
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Denkwurdigkeiten Hardenbergs. 57
retten, zn spat in Bewegung. England stellte nioht nur die
Subsidienzahlung ein, sogar die Zahlung der bereits falligen
Rudratande (3 Millionen Thaler) wurde verweigert. Mollendorf
hatte die Vertheidigung Belgiens auch von der Pfalz aus hochst
wirksam unterstiitzen koimen, wenn er sich nicht begniigt hatte,
hier Defcnsivschlachten zu schlagen, wenn er deni geworfenen
Feinde gefolgt ware, wenn er ihn festgehalten hatte. Gewiss hatte
Preussen grossere Anstrengungen machen konnen und gemacht,
wenn der Eifer Friedrich Wilhelm's gegen die Revolution so gross
gewesen ware, wie man gemeinhin annimmt, oder sein deutsches
Gefiihl so lebhaft, wie die „Denkwiirdigkeitenu wollen. Nach dem
Verlust der Anlehnung an England stand Preussen isolirt Frank-
reich, Oesterreich und Russland gegeniiber. Die Letzteren schlossen
im Januar 95 iiber die dritte Theilung Polens ab ; bei etwaigem
Widerstande sollte Preussen mit aller Macht angegriffen werden.
Um diesen Preis verpfliohtete sich Thugut, den Krieg gegen
Frankreich fortzusetzen ; nicht aus Abscheu gegen die Revolution
oder um das deutsche Reich zu vertheidigen. Er setzte, seine
neue Erwerbung in Polen zu verdienen, im Dienste Russlands,
das Oesterreich beschaftigt wissen wollte, um freie Hand in
Polen zu behalten, den Kampf gegen Frankreich fort , falls dann
von Frankreich genugsame Entschadigung nicht zu erlangen
ware, musste Katharina nach jenem Vertrage ihm auch Yenetien
zu nehmen gestatten; er kampfte weiter gegen Frankreich im
Dienste Englands, welches Belgien wieder erobert haben und
Frankreichs Krafte im Landkriege beschaftigt wissen wollte, um
semen Seekrieg erfolgreich durchfiihren zu konnen. Fur Preussen
gab es seitdem keine Wahl mehr als eine hochst energische
Politik gegen Ost und West unter Wiederaufnahme der Ver-
bindung mit England oder — Frieden mit Frankreich.
Nicht an der Starke der Vertheidigung Frankreichs, an
der Schwache ihres Angriffs ist die erste Koalition gescheitert.
Die Zwiespaltigkeit, die Elendigkeit ihrer Kriegfuhrung haben
die neue Armee Frankreichs erzogen und dessen Uebergewicht
herbeigefiihrt. Dies musste sich fuhlbar machen, sobaid ein
fihiger Kopf die nationalen Krafte Frankreichs, die riicksichtslos
in den Kampf getrieben wurden, zu organisiren verstand; es
musste iiberwaltigend werden, sobaid ein tahiger Feldherr aus
der Reihe der jungen Generale hervortrat. Die „Denkwiirdig-
keiten" werden mit der Angabe kaum im Recht sein, dass der
Konvent gerade im Friihjahr 1794 die „aussersten Anstrengungen
zur Vertheidigung gemacht habe". Die Entfernung aller vor-
maligen Edelleute aus der Armee war bereits nach Dumouriez'
Niederlagen bei Aldenhoven und Neerwinden dekretirt (seine
Auflehnung gegen den Konvent versuchte er nicht bevor, son-
dern nachdem er Belgien verloren hatte); die Verschmelzung
der Bataillone der Freiwilligen mit den Linientruppen hatte der
Konvent bereits Ende Februar 1793 beschlossen zugleich mit
der Aushebung von 300,000 Mann, und das Augustdekret der
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58 Denkwfirdigkeiten Hardenbergs.
sogenannten levee en masse bestimmte von vorn herein, class
die Altersklassen vom 18. bis zum 25. Jahre, „nicht Verheira-
thete oder Vittwer", zuerst „requirirtu werden sollten. Die
Fortschritte des Jahres 1794 bestehen darin, dass jene Ver-
schmelzung erst jetzt allmahlich zur Durchfuhrung gelangte,
dass Carnot die aus der Wahl der Truppen hervorgegangenen
unfahigen Offiziere zu Tausenden beseitigte. Richtig ist, dass
die alte Armee die Grundlage der neuen geblieben ist; das neue
Offizierkorps bestand seit 1794 aus den jungen Offizieren der
alten Armee, denen Emigration und Flucht der alteren die Bahn
geoffnet hatte, neben ihnen aus befahigten Unteroffizieren der
alten Armee und den militarised beanlagten Yolontairs, welche
nunmehr einverleibt waren. Nicht das Uebergewicht der fran-
zosischen Waffen bat die Schlacbt von Fleurus festgestellt —
der Feldzug von 1795 beweist das Gegentheil — wohl aber ist
durch die Okkupation Belgiens und den Gewinn Hollands, die
dieser Schlacbt folgten, das politische Uebergewicht Frankreicbs
entschieden worden.
Hardenberg war schon im Friihjahr 1794 der Meinung, dass
Frieden mit Frankreich zu schliessen sein werde. Da Entscha-
digung durch Abtretungen von Seiten Frankreichs nicht in's
Auge gefasst werden konne, werde man solche durch Sakulari-
sation geistlicher Furstenthiimer zu suchen haben. Doch stimmte
er nicht fur Frieden urn jeden Preis. Es war seine gewiss wohl-
begrundete Meinung, dass man die Allianz mit England nicht
aufgeben diirfe, dass man versuchen miisse, zu allgemeinem Frieden
zu kommen. Unter dem Eindruck von Nachrichten, welche die
friedliche Stimmung hervorhoben, die unter der Herrschaft des
Thermidori8mus Frankreich ergriffen habe (nicht die alten Mit-
glieder der Gironde waren es, die im December 94 wieder in
dem Konvent ihre Platze einnahmen, sondern jene 73, die gegen
den 2. Juni 1793 protestirt hatten), gelangte man endlich in
Berlin zu dem Entschhisse, dem Konvent Frieden fur Preussen
und Preussens Mediation fur den Reichsfrieden zu bieten. Als
bei ErofFnung der Verhandlungen klar wurde, dass der Konvent
nach dem linken Bbeinufer trachte, musste man auf der Stelle
abbrechen. „Hatte der Staat in seiner alten Energie bestanden,
so wiirdo man dies nimmermehr haben genehmigen diirfen", so
sagen mit vollem Recht die „Denkwiirdigkeitenu. Jetzt machte
vielmehr Alvensleben Eindruck, wenn er klaglichst ausfiihrte, dass
Preussen der ungeheuern Uebermacht Frankreichs nach Ver-
nichtung der englisch-hannoverischen Armee allein gegeniiber-
stehe, dass es von den beiden Kaiserhofen mit Knechtschaft be-
droht Werde, dass man kein Geld habe und kein Anlehen zu er-
langen vermoge ; nur bis zum Marz (1795) hin konne die Armee
erhalten werden. Die preussische Armee hatte keine Niederlago
erlitten. Der Rucktritt Preussens von der Koalition war ein
so immenser Vortheil fiir den Konvent, dass er sich mit dem
einfachen Frieden auf dem Stande vor dem Kriege begniigen
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Denkwurdigkeiten HardenbergB, 59
muaste und begniigt hatte; nur musste sich Preussen bereit
zeigen, andernfaUs deu Krieg fortzusetzen. Dass man sich ohne
diesen Entschluss von vorn herein den Bedingungen des Eon-
vents unterwarf , scbeint die Weisheit der Alvensleben nicbt ge-
ahnt zu haben, und Hardenberg, dem die Fiibrung der wei-
teren Unterhandlung zufiel, war bei entschieden besserem Willen,
bei fester Absicht, nur einen einfachen Frieden zu schliessen,
doch ohne die gewandte Sicherheit, die den fehlenden Entschluss
durch andeutende Fiktion desselben zu ersetzen verstand, was
dem General Goltz schwerlich misslungen ware. So endete Har~
denbergs Unterhandlung mit dem Zugestandniss eventueller Ab-
ketung der links - rheinischen Lande Preussens, fur den Fall,
dass bei der kiinftigen Pacifikation mit dem Reiche das linke
Rheinufer iiberhaupt abgetreten werden sollte ; bis dahin konnten
jene Gebiete yon den Truppen der Republik besetzt bleiben.
Hardenberg's Hoffnungen, dass Frankreich selbst auf das linke
Rhemufer verzichten, dass os zum Reichsfrieden die Hand bieten
werde, waren Hlusionen, die seinem damaligen Scharfblick nicht
zu besonderer Ehre gereichen.
Wenn die „Denkwiirdigkeitenu auf die umfassonde Stellung
hinweisen, welche Preussen durch diesen Frieden, durch den von
Hardenberg abgeschlossenen Domarkationsvertrag, durch Ueber-
nahme des Schutzes Hannovers, des nordlichen Deutschlands ge-
wonnen habe; wenn sie hervorheben, dass die deutsche Litteratur
im Schirm des Baseler Friedens und der norddeutschen Neutra-
list zur Reife und voller Entfaltung gediehen sei, so darf man
hier dem, was Preussen betrifft, dooh wohl nicht unbedingt bei-
pflichten. Gewiss war es geboten, Preussen nicht vollig zu iso^
liren und das Machtgebiet Preussens zu wahren. Nur hatte
diese Stellung durch Wiederaufhahme des Fiirstenbundes , durch
eine militarische und finanzielle Organisation in ganz anderer
Weise als es geschah, gefestigt werden mtissen. Durch eino
Politik dieser Art waren noch andere Fruchte als die des Geistes-
lebens unserer Nation gezeitigt worden ; es ware damit Kraft und
Zusammenhang gewonnen worden, Norddeutschland nachdruck-
lich nach alien Seiten hin zu vertheidigen. Wie eindringlich
die steigende Macht Frankreichs dazu mahnte , von cten Staats-
mannern jener Tage hat nicht einer auch nur den Gedanken
dazu erfasst , bevor es zu spat war. Nicht der Baseler Friede
und die Neutralitat Norddeutschlands, wohl aber die unterlassene
Ausbildung wie die schwachliche Vertretung dieses Systems haben
den Grund zur Katastrophe des Jahres 1806 gelegt. Wie an-
ders ware Preussens Stellung bei thatkraftiger Entwickelung
dieses Systems nach den Frieden von Campoformio und Liine-
rille gewesen!
Auf die Beschliisse, die der Konvent kurz vor seinem Scheiden
«n 1. Oktober 1795 iiber die Annexion der osterreichisohen
Niederlande und eines Theils des linken Rheinufers (nicht des
gesammten linken Rheinufers) gefasst hat, legen die „Denk-
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gO Denkwiirdigkeitcii Hardenberga.
wiirdigkeiten" , wie mir scheint, zu viel, auf den Staatsstreich,
durch den der Konvent dem Lande die Fortsetzung seiner Re-
gierung auferlegte, zu geringes Gewicht. Wenn bei jener De-
batte erwahnt wird, dass die Belgier friiherhin (zu Anfang des
Jahres 1793) mittelst Abstimmung die Vereinigung mit Frank-
reich gefordert hatten, so hatte, da die Rede des Girondisten
Lesage (dieser ist nicht nach Robespierre's Sturz sondern erst
am 8. Marz 1795 wieder eingetreten) hervorgehoben wird, doch
auch bemerkt werden miissen, was dieser mit nur zu gutem
Grunde zur Charakteristik jener durchweg mit offener Gewalt
erzwungenen Abstimmung angefuhrt hat. Praktische Bedeu-
tung hatten diese Beschliisse iiber Belgien hinaus um so weniger,
als die franzosischen Armeen am Mittelrhein gleich darauf iiber
den Rhein und aus der Pfalz zuriickgetrieben wurden. Dagegen
hatte ohne die Wahldekrete des Konvents vom August 1795,
ohne deren Durchsetzung mittelst des 13. Vendemiaire die mon-
archisch - konstitutionelle Riickstromung , die Frankreich seit
Robespierre's Sturz in immer steigendem Masse ergriffen hatte,
trotz des Todes des Dauphin, trotz der Thorheiten von Quiberon
das Ziel erreicht. Nicht aus Anhanglichkeit und Leidenschaft
fur die republikanische Staatsform, sondern um die Regierung
zu behaupten und dadurch ihre Handlungen aus der Schreckens-
zeit vor der Rechenschaft decken zu konnen, die jede anderc
als ihre eigene Regierung gefordert hatte, erliess die Mehrheit
des Konvents jene Dekrete; und indem sie, um dieselben durch-
zufuhren, die niedergeworfenen Terroristen zu ihrer Unterstiitzung
aufrief, kam der Mann zur Aktion, der mit Robespierre gefallen
war, gelang es dem General Bonaparte die royalistische Be-
wegung der Pariser Biirgerschaft niederzuschlagen und damit
den Thron fur sich selbst offen zu halten. Der Korse, dessen
militarischer Blick und Entschluss den Tag entschieden, hatte
doch nicht von jeher (I, 389) der franzosischen Partei seiner
Insel angehort. Wohl hatte sein Vater schliesslich Paoli ver-
lassen und damit des Sohnes Aufaahme in Brienne und der
Tochter in St. Cyr erkauft. Aber dieser Sohn gliihte noch in
den ersten#Jahren der Revolution fur Korstka's Losreissung von
Frankreich, er schrieb fiir seine Insel und schloss sich Paoli an,
bis ihm im Fruhjahr 1792 der Ausbruch des Krieges, verbunden
mit der Emigration der alten Offiziere, in Frankreich glanzen-
dere Aussichten zu eroflEhen schien. Seitdem hatte er sich dann
nicht nur zum Konvent gehalten, er hatte sich gegen die Giron-
disten zu den Jakobinern, insbesondere zu Robespierre und dessen
Bruder gehalten. Auch die Elemente und Gegensatze, die sich
am 18. Fructidor und am 18. Brumaire bekampften, lassen dio
„Denkwiirdigkeitenu , wie mir scheint, nicht deutlich genug er-
kennen. Seit dem Fruhjahr 1795, d. h. seit der definitivcn
Niederwerfung der Terroristen reinen Bluts, handelto es sich
um die Frage, ob die alten Konventualen , die von der rothen
zur blauen Republik iibergegangen waren, ihre Diktatur iiber
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Denkwiirdigkeiten Haidenbergs. 61
Frankreich gegen die grosse Mehrheit des Landes zu behaupten
vermochten oder nicht. Darin lag zugleich die Frage iiber Krieg
und Frieden beschlossen. Die Kompromittirten der Kevolution
branchten den Krieg, urn die Gewalt durch Ausnahmemassregeln
festhalten, die Staatskassen durch Kontributionen fiillen und die
Armee auf Kosten der Nachbarn erhalten zu konnen. Hierin
vielmehr als in dem Yerlangen naoh der Rheingrenze (I, 422)
lag der .wesentlichste Grand zur Feindseligkeit gegen Deutsch-
land, zur Fortsetzung des Krieges. Trotz aller Gewaitschritte,
welche die Zweidrittel - Mehrheit der Exkonventualen und das
Direktorium der Regiciden dem 13. Vendemiaire folgen liessen,
trotz der Hinausschiebung und Beeinflussung der Wahlen ge-
nngte, in Verbindung mit dem Dritttheil vom Oktober 95, der
Eintritt des neuen Dritttheils der Rathe im Friihjahr 97, sowohl
dem Rath der Alten als dem der Fiinfhundert eine monarchisch-
konstitutionelle Mehrheit zu geben. Die Aufrichtung des Thrones,
bevor er ihn besteigen konnte, zu hindern, gewahrte Napoleon
den drei Direktoren, die der Mehrheit nicht zu weichen ge-
dachten, Geldmittel und einen General, der seine Stelle vertrat,
d. h. die Mittel zur Wiederholung des 13. Vendemiaire am
18. Fractidor, der die Prasidenten der beiden Rathe sammt
alien Fiihrern der monarchischen Mehrheit nach Cayenne brachte.
Mehr als ein Mai und mit bestem Rechte hat es Bonaparte
selbst im Hinbliok auf den 13. Vendemiaire und den 18. Fruc-
tidor offen ausgesprochen : ohne ihn hatten die royalistischen
Tendenzen der Bourgeoisie die Oberhand gewonnen. Als dann
die Unfalle des Feldizuges von 1799, welche die Armee ihrer
Yernachlassigung durch das Direktorium zuschrieb, die Armee
gegen das Direktorium stellten, als die Royalisten einerseits,
andererseits die alten Terroristen das Haupt im Lande erhoben,
ersetzte Bonaparte am 18. Brumaire die Diktatur der Konven-
tualen vom Civil durch die Diktatur der KonventuaJen vom Mi-
litair, durch seine eigene Diktatur. Sie wurde acceptirt, weil
me alien Konventualen , terroristischer und thermidoristischer
Farbe, nicht nur Sicherheit fiir die Vergangenheit garantirte,
sondern auch diesen wie jenen, wenn sie sich der neuen Re-
gierong fiigten, die Stellung der herrschenden Klasse gewahrte,
weil sie die machtigen Interessen, welche die Revolution ge-
schaffen hatte, vor Allem das Interesse der Armee, die die Revo-
lution gebildet, unter ihren Schutz stellte. Und nicht nur von
den Interessirten, auch von* den Nichtinteressirten der Revolution
wurde der 18. Brumaire anerkannt, weil er eine fahige Regie-
rung an die Stelle einer unfahigen setzte. Es war das logische
Rewltat des Systems, welches der Konvent von seinem Zusammen-
tritt an befolgt hatte. Von vornherein hatte er gegen die Mehr-
heit des Landes regiert, indem er sich auf das Proletariat stiitzte.
Indem er mit dem Sturze Robespierre's zur blauen Republik
uberging, basirte er sich auf das Biirgerthum, welches nur so
lange zu ihm hielt, als es gait, die Terroristen zu ziigeln. Als
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62 Denfewfirdigkeiten Hardenbergs.
der Konvent nach deren Niederwerfiing den royalistischen Ten-
denzen des Burgerthums im Interesse seiner Selbsterhaltung ent-
gegentrat, blieb ihm keine Stiitze als die Armee, und eine Re-
gierung, die keine andere Stiitze als diese hatte, musste schliesslich
an die Armee selbst, d. h. an deren fahigsten General iibergehen.
Damit war dann zugleich nicht nur die Fortsetzung der Kriegs-
politik gegeben, sondern deren Steigerung. Nicht eine Monarchic
hat Napoleon gegriindet, sondern eine Diktatur, welche die alten
Revolutionars und das neue Frankreich vertrat, die Revolution
nur in8ofern, als seine Herrschaft die sociale Umformung anf-
recht hielt, die die Revolution hervorgebracht, nicht aber deren
auf Rechtsschutz , auf Kontrolle und Fiihrung der Regierung
durch das Volk gerichtete Tendenzen.
Die Worte Bonaparte's, die er zur Deckung des 18. Bru-
maire gesprochen hat: Wo sind die Millionen Italiens geblieben?
sind doch nicht fur baare Miinze zu nehmen. Die Millionen, die
er den Italienern abgenommen, waren bereits im Dezember 97
vollstandig verbraucht. Um die Geldmittel zur agyptischen Ex-
pedition zu beschaffen (die nicht den Franzosen, sondern ihm,
dem Manne des Mittelmeeres , dessen Blick der Umsturz Vene-
digs und die Besitznahme der jonischen Inseln scharfer auf den
Orient gelenkt, allein angehort) musste der Kirchenstaat in die
romische Republik verwandelt und die Schweiz iiberzogen werden;
die Schatze Roma und der Berner Kriegsschatz haben seine
Feldkasse fur Aegypten gefiillt.
Das Uebergewicht der Waffen des neuen Frankreich iiber
die des alten Europa war durch den jungen General, der die
Armee in Italien in den Jahren 1796 und 1797 fiihrte, ent-
schieden worden. Seine Erfolge von 1796 im Siiden der Alpen
hatten jedoch in denen des Erzherzogs Karl im Norden der
Alpen immer noch ein ansehnliches Gegengewicht gefunden. Die
friihzeitige Eroflnung des nachsten Feldzuges, den Aufbruch schon
im Marz des nachsten Jahres zum Zuge iiber die Alpen, um
Oesterreich zum Frieden zu schrecken und zugleich durch
das Angebot der reichsten Entschadigung zum Frieden zu
locken, unternahm Napoleon doch nicht, weil er besorgt
hatte, andern Falls vom Erzherzog Karl angegriflfen zu wer-
den, sondern um besserer Riistung Oesterreichs zuvorzukommen.
Auch in der Charakterisirung des Verhaltnisses der Pralimi-
narien von Leoben zum Frieden von Campoformio (I, 431)t
vermag ich den „Denkwiirdigkeitenlk nicht durchweg beizu-
stimmen. Dagegen trifft deren Bemerkung vollkommen zu, dass
Frankreichs Ueberlegenheit nach diesem Abschluss wesentlich
darauf beruhte, dass es Oesterreich und Preussen jedes durch
einen geheimen Vertrag gefesselt hielt und zwar durch Ver-
trage, die sie zugleich. in Widerspruch gegen einander brachten.
Preussen wollte die Erschiitterung des Reiches benutzen, um
ohne Krieg zu gewinnen, Oesterreich, um aus Misserfolgen im
Kriege grosse Vortheile zu Ziehen. Die Strafe dafiir konnte hier
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DenkwiircUgkeiten Hardenbergs. 63
wie dort urn so weniger ausbleiben, als Oesterreich und Preussen
statt sioh nun wenigstens uiiter einander fiber ihre Vortheile
za rergtandigen und dadurch Frankreichs Einfluss auf dem dies-
seitigen Rheinufer auszuschliessen , in blinder und eifersiichtiger
Ferihaltung ihres Gegensatzes durch Frankreich und Russland
za erlangen suchten, was sie einander selbst bei weitem sicherer
verschaffen konnten.
Die „Denkwurdigkeiten" lassen das Urtheil daruber offen,
ob Preussen wohl gethan haben wfirde, der Koalition von 1799
beixutreten. Die Interessen, die die drei grossen Machte ver-
fochten, seien doch ihre eigenen gewesen, fUr England die See-
herrschaft, fur Oesterreich die Entfernung der Franzosen aus
Italien, fur Russland die Erhaltung der bestehenden Zustande
im Orient. Die entgegengesetzte Meinung hat Haugwitz zU
Petershagen nachdrucklich vertreten. Kaum wird eine Koalition
gedacht werden konnen, in der nicht jede Macht ihr besonderes
Interesse im Auge hatte, es wird sich doch stets nur darum
handeln, ob die Erreichung dieses Sonderinteresses nioht zu-
nachst yon der Erringung eines gewissen gemeinsamen Ziel-
punktes abhangt, eben dessen, der die Koalition iiberhaupt zu-
sammenfuhrt Fiir Preussen war es noch besonders geboten,
seine westlichen Lande gegen die Stellung Frankreichs in Holland
zu sichern, eine Sicherung, die ohne Minderung der Uebermacht,
die Frankreich durch den Frieden von Campofonnio erlangt und
durch die kecken Grille fiber dessen Bestimmungen hinaus nach
der Schweiz , nach Rom , nach Piemont in bedrohlichster Weise
gegteigert hatte, unmoglich war. Wie Thugut die erste Koa-
lition durch seine Feindseligkeit gegen Preussen aus den Fugen
getrieben, hat er die zweite gesprengt. Seine blinde Landergier,
die unverkennbare Absicht, zu Mailand auoh Piemont und vom
Kirchenstaat wenigstens die Legationen fiir Oesterreich zu er-
werben, die russische Armee aus Italien zu entfernen und hier
freie Hand zu gewinnen; die Thorheit dsr Englander, den Ab-
marsch der osterreichischen Armee aus der Schweiz nach dem
Mittelrhein zur Unterstutzung ihres Angriffs auf Holland und
Belgien zu verlangen, ffihrte zu Unfallen der russischen Armeen,
die 8chwerlieh eingetreten waren, wenn die preussische Armee
am Niederrhein im Felde stand , und diese Unfalle fuhrten wie-
denim zum Riicktritt Pauls von der Koalition.
Gut orientirend und aufklarend handeln die „Denkwurdig-
keiten" von den Entschfidigungen , d. h. von der neuen Terri-
torial vertheilung , welche nach dem Frieden von Luneville in
Deatschland vorgenommen wurde. Treffend bezeichnen sie den
Gnmdfehler der damaligen preussischen Politik mit den Worten :
*Man hoffte Alles auf diplomatischem Wege zu erreichenl" Sie
findeu dann auch hier zuerst wieder Anlass, auf Hardenberg,
den sie seit Basel aus dem Auge verloren haben, zuruckzu-
kommen. Dem Chef der Verwaltung von Ansbach und Baireuth
lag naturgemass die Ausrundung. dieser Territorien, die Her-
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64 Denkwtirdigkeiten Hardeuberge.
stellung der Verbindung unter beiden am nachsten am Herzen,
am lebhaftesten Tertrat Hardenberg die Forderuug der fran-
kischen Bisthumer Bamberg, Wiirzbtirg, Eichstadt fur Preussen.
Ich hebe nur hervor, dass Bonaparte bereits am 24. April 1801
Preussen die Besitznahme Hannovers angoboten hat. Haugwitz
war zur Anoahme bereit, falls England im bevorstehenden Frieden
seine Zustimmung gebe.
Wie Bonaparte schon wenige Monate nach dem Frieden,
den er 1802 zu Amiens mit England geschlossen, durchblicken
lasst, in welchem Sinn er einen neuen Kampf gegen England zu
fuhren gedenke: es werde nicht nur ein Erieg Frankreichs, es
werde ein Krieg West- und Mitteleuropa's gegen England sein,
heben die „Denkwiirdigkeitenu bezeichnend hervor. Dass Napo-
leon dann selbst es war, der den Erieg wieder entziindete, dessen
Ausbruch ihm freilich friiher kamH als er es wiinschte, hatte da-
neben wohl bemerkt werden mtissen. Ausser Stande, England
auf dem Meere zu treffen, auf dem er vielmehr wiederum und
zwar sehr empfindlich zunachst in St. Domingo getroffen wurde,
griff es der erste Konsul in Deutschland an. Sass der zweite
Friedrich auf Preussens Thron, er hatte diesem Angriff im Bunde
mit England den aussersten Widerstand geleistet. Und nicht
nur das Bundniss Englands, sondern auch das Bundniss Buss-
lands ware fur Preussen damals zu haben gewesen. Indem
Friedrich Wilhelm III. die Besetzung Hannovers mitten im
Frieden des Reiches mit Frankreich geschehen liess, musste das
Ansehen seines Staats noch eine gute Strecke von dem System
der Demarkation weiter abwarts gleiten. Die Motive, welche
den Eaiser Alexander bestimmten, Friediich Wilhelm von vor-
gangiger Besetzung Hannovers abzurathen, sowohl durch seinen
Vertreter in Berlin als durch ein Schreiben an den Eonig selbst,
klaren auch die nDenkwurdigkeiten" nicht genugend auf. Nach
ihnen hatte Alexander noch zu fest an dem Einverstandniss mit
Frankreich gehalten. Aber Alexander lehnte den ihm angetra-
genen Schiedsspruch zwischen Frankreich und England doch von
vornherein ab und erklarte sich erst am 29. Juni 1803 dem
ersten Konsul zur Mediation bereit. Das Motiv konnte auch
das entgegengesetzte, von England in Petersburg an die Hand
gegebene gewesen sein. Lord Warrens hatte Befehl, in Peters-
burg gegen die preussische Okkupation Hannovers Protest einzu-
legen. Preussen an einer mogllchen Erwerbung Hannovers zu
hindern und es durch Zulassung der Festsetzung Frankreichs
zwischen seinen Provinzen in unlosbaren Gegensatz mit Frank-
reich zu bringen, waren Gedanken, die Lord Hawkesbury und
dem Grafen Miinster wohl nicht zu fern lagen. Hochst auf-
fallend bleibt die plotzliche Wendung, mit welcher Alexander
sehr bald nach jenem Rath noch vor Kunde der erfolgten Okku-
pation schon unter dem 18. Mai 1803 Preussen zu Gegenmass-
regeln auffordert. Es war zu spat. Haugwitz hatte noch Ende
April auf der Nothwendigkeit der vorgangigen Besetzung bestanden.
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Ranke, Leop. v., Denkwurdigkeiten Hardenbergs. 66
Diese Haltung, die Vorstellungen , die er am 2. und 3. Juni an
den Konig richtete: „dass die rechtzeitige Riistung, die er be-
antragt, die theuersten Interessen der Monarchie gerettet haben
wiirde, dass die Riistung aber auch gegenwartig nicht zu spat
sei, urn Preussen gegen die Folgen der Besitznahme Hannovers
2a decken"; den Eifer, mit dem Haugwitz auf das Biindniss,
welches Alexander unter dem 14. Juni 1803 anbieten liess zum
Zweck gemeinsamer Riistung, gemeinsamer Forderung der Rau-
mung Hannovers und gemeinsamer Besetzung dieses Landes, ein-
ging; den Ernst, mit dem er, nachdem Lombard mit leeren
Handen, nur an thorichten Einbildungen reicher, von Briissel
zuriickgekommen war, auf dem Abschluss dieser Konvention be-
stand, hatten die „Denkwiirdigkeitenu doch wohl nicht iiber-
gehen sollen. Ueber die Grtinde, die den Konig Haugwitz' An-
trage ablehnen liessen, giebt die Korrespondenz Friedrich Wilhelm's
mit dem Kaiser Alexander , aus welcher die ,,Denkwiirdigkeiten"
einige Stellen mittheilen, die ich erganze, Aufscbluss. Friedrich
Wilhelm scheute sich zu riisten, weil seine Riistung die Gegen-
riistang Frankreichs, die Verstarkung der Okkupationstruppen
herbeifiihren werde, er scheute den Bruch mit Frankreich, —
war aber andererseits entschlossen , die Anlehnung an Russland
onbedingt festzuhalten. Am 16. August 1803 sagte er dem Kaiser
Alexander, dass er nach den beruhigenden Erklarungen, welche
der erate Konsul gegeben (er hatte dem Konig unter dem 29. Juli
geschrieben: er werde niemals etwas unternehmen, was nicht in
seinem Rechte liege), eine Riistung nicht fur erforderlich halte,
und wies auf die Verschiedenheit seiner Stellung im Vergleich
mit der Stellung eines unangreifbaren Staates hin. Alexander
erwiderte: er wiinsche, dass sich Napoleon's Versprechungen nicht
triigerisch erwiesen, dass der Konig auf dem von ihm erwahlten
Wege Sicherheit finden moge (6. Oktober). Der Konig meinte:
anf Russlands Thron wiirde er ebenso sprechen ; der Unterschied
der Ansichten beruhe auf dem Unterschiede der Situation; er
babe in Paris die Raumung Hannovers und die Anerkennung
der Neutralitat Deutschlands fordern lassen gegen die Garantie
von Seiten Preussens, dass Frankreich wahrend der Dauer des
Krieges gegen England weder vom deutschen Reiche noch durch
deutsches Territorium hindurch angegriffen werde (16. November
1803). Diese Vorschlage wies Bonaparte zuriick, er bestand
auf dem Abschluss einer Allianz, die er bereits am 30. Mai 1803
angeboten hatte. Hierauf richtete Friedrich Wilhelm am 21.
Februar 1804 die Frage an Alexander: ob er in dem Fall,
dass Bonaparte, in der Hoffnung getauscht, Preussen an seine
Politik fesseln zu konnen, sich gegen Preussen wenden sollte,
auf Russlands und seiner Verbiindeten Hiilfe werde zahlen konnen.
Alexander antwortete am 15. Marz: der Konig wiirde besser
gethan haben, sich den Vorschlagen anzusohliessen, die er im
vorigen Sommer seinem Ministerium habe zugehen lassen. Er
denke noch ebenso wie damals. Durch Weichen sei bei Bona-
MmfaeUanKen a. d. hlstor. Llttcretur. VI. 5
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66 Ranke, Leop. v., Denkwtirdigkeiten Hardenbergs. -
parte nichts zu erreichen. Es gabe Falle, in denen die Rube
nur mit der Schwertspitze zu erkaufen sei Dass der erste
Konsul die ihm viel zu gunstigen Vorschlage des Konigs nicht
angenommen habe, halte er fur ein gliickliches Ereigniss. „Wenn
ich Eure Majestat fur die Vettheidigung und das Wohl ganz
Europa's engagirt sehe, so versichere ich gern, dass Sie mich
augenblicklich an Ihrer Seite wieder finden werden, und dass
Preussen nicht zu fiirchten haben wird, dass Russland es in
ehiem so edlen Kampfe allein lasst (g. St.-A.)."
Dies ist der Ursprung des geheimen Vertrages vom 24. Mai
1804 zwischen Preussen und Russland, der den Kriegsfall gegen
Frankreich auf den Angriff Frankreichs gegen Preussen wie auf
Uebergriffe Napoleon's iiber die gegenwartige Besetzung Hanno-
vers hinaus stellte. Sechs Wochen zuvor war Haugwitz, weil
ihm die Haltung des Konigs Frankreich gegeniiber nicht ent-
schieden genug war, weil ihm Lombard die Rustung vereitelt
hatte und ihn beim Konige bestandig kreuzte, zuriickgetreten, und
hatte die Leitung der auswartigen Angelegenheiten seinem Freunde
Hardenberg iiberlassen. Hardenberg's „Memoiren", die hier ein-
treten, fordern nun neben den „Denkwiirdigkeitenu Beachtung.
Mit welchem Unrecht diese „Memoirenu ihrem Verfasser das
Verdienst jenes Vertrages zuschreiben, bedarf nach dem, was
eben aus der Korrespondenz Alexander's und Friedrich Wilhelm's
augefuhrt ist, keiner Ausfiihrung. Hardenberg sah damals viel
weniger klar, auf welche Seite er den Staat, dessen Leitung ihm
anvertraut war, zu stellen habe, als Haugwitz. Er begnugte
sich durch Zusicherungen in Paris, dass Preussen jede Oefahr-
dung Frankreichs von Norddeutschland aus verhindern werde,
weitere Uebergriffe Napoleon's in diesen Gebieten und damit den
Kriegsfall der Konvention vom 24. Mai fernzuhalten. Wie stark
ihn Alexander, bei jedem thatsachlichen oder scheinbaren Ueber-
griff Napoleon's von Hannover aus, gegen Frankreich drangte, er
war unermiidlich, Vorfalle dieser Art durch Vorstellungen in
Paris zu mindern und den Zaren in Petersburg zu begutigen.
Einen Akt der Kraft glaubte er gegen Konig Gustav IV. von
Schweden vollziehen zu konnen. Als dieser, angeblich um sich
gegen die franzosischen Streitkrafte in Hannover zu decken, bei
Stralsund Truppen sammelte, drohte Hardenberg im December
1804 mit Besetzung Schwedisch-Pommerns. Da trat ihm Russ-
land sehr entschieden in den Weg. Alexander hatte schon im
Sommer 1803 die Raumung Hannovers und Neapels zu Paris
fordern lassen. Die beispiellose Verletzung des Volkerrechts
mitten im Frieden durch Entfiihrung des Herzogs von Enghien,
welcher dessen Ermordung auf dem Fusse folgte (Marz 1804),
steigerte den Gegensatz Russlands und Frankreichs zu tiefer Er-
bitterung. Die Weigerung, mit welcher Napoleon im Juli Alexan-
der's Anfrage, ob er die Bestimmungen des Vertrages vom 11. Ok-
tober 1801, der Grundlage der Beziehungen zwischen Frankreich
und Russland, zu erfullen bereit sei, erwiderte, fiihrte zum Ab-
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„ Ranke, Leop. v., Denkwtirdigkeiten Hardenbergg. 67
bruch der diplomatischen Verbindung zwischen Paris und Peters-
burg. Wenn Hardenberg aucb nicht wusste, dass Alexander
bereits im November 1804 mit Oesterreich abgeschlossen , wenn
er nicht wusste, dass Alexander im Monate darauf mit England
fiber ein Biindniss in Yerbandlung trat — die gesammte Lage
der Dinge sprach deutlich genug fur einen naben Ausbrucb des
Konflikts zwischen Russland und Frankreich. Trotzdem wies
Hardenberg die Antrage, welche Russland und Oesterreich im
Februar 1805 machten, urn zum Einverstandniss mit Preussen
zu gelangen, ab. Haugwitz meinte ebenfalls, dass die Vorschlage,
wie sie Alopeus (Alexander's Vertreter in Berlin) formulirt habe,
nicht einfach anzunehmen seien, da man die Yerbindungen Russ-
lands und Oesterreichs mit England und Schweden nicht kenne.
Aber man diirfe die Anlehnung an Russland und Oesterreich
nieht aufgeben und miisse zu diesem Zwecke die Verpflichtung
ubernehmen, ohne ihr Wissen und Willen in kein Verhaltniss
irgend einer Art zu treten. Damit werde die erste Grundlage
zu werthtollen Beziehungen gelegt werden, auf welchen eines Tages
ein System zur Erhaltung des Friedens des Kontinents errichtet
werden konne, ja dieselben wiirden die drei Hofe schon heute in
die Lage bringen, ihre Mittel zu iibersehen und sich vor dem
Einfluss Frankreichs zu sichern (27. Februar ; g. St.- A.). Harden-
berg wollte nicht einmal so weit gehen. Die hochst unverdient
gebotene Gunst der Lage, Preussen gegen die gewaltige Macht
des neuen Kaisers, demnachst auch Konigs von Italien, zu sichern
und damit zugleich die Moglichkeit, innerhalb der schiitzenden
ADianz der drei Ostmachte den iibereilten Kriegseifer Alexan-
der's zu massigen, liess er unbenutzt. Er meinte, die Differenzen
zwischen Frankreich und Russland durch seine Vermittelung
ausgleichen zu konnen. Aber jene Bedrohung Schwedens, die
Abweisung jener Antrage, seine vielgeschaftige Vermittelungs-
thatigkeit trugen ihm, obwohl er sich sofort bereit erklart hatte,
NoYosQtzoVs Sendung, der die Bedingungen Alexander's Napo-
leon iiberbringen sollte, zu unterstiitzen, ja diesen durch General
Zastrow begleiten zu lassen, in Petersburg nur den Verdacht
ein, dass Preussen in geheimem Einverstandniss mit Frankreich
flei, und zwar in dem Masse, dass selbst Alexander dem Plan
seines damaligen Ministers Gzartoryski Raum gab, den Krieg
gegen Frankreich mit dem Kriege gegen Preussen zu eroffnen.
Als diese Plane in Petersburg erwogen wurden, war Harden-
berg in der That gewillt, eine Allianz mit Frankreich abzu-
schliessen. Die Frage von Schwedisch - Pommern machte ihm
achwere Sorgen. Neben schwedischen konnten auch russische
Truppen hier gesammelt werden, von hier aus gegen die franzosischen
Truppen in Hannover vorbrechen, jedenfalls wurden letztere bei
dem ersten Anzeichen einer Aufstellung in Schwedisch-Pommern
verstarkt werden. Damit komme Russland dann in den Fall,
den casus foederis des Vertrages vom S4. Mai 1804 geltend zu
machen und Preussen zu nothigen, auch wider seinen Willen
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gg Ranke, Leop. v., Denkwtlrdigkeiten Hardenbergs.
dem Biindniss Oesterreichs und Russlands beizutreten. Und wenn
nun eine russisch - englische Landung an den Kusten Hannovers
erfolgte ? In dem einen wie in dem andern Falle war es vorbei
mit der Neutralitat Norddeutschlands, hatte Preussen den Krieg
mitten zwischen seinen Provinzen. Der Vertreter Frankreichs
in Berlin, Laforest, verlangte Mitte Juli zu wissen, ob Preussen
die franzosischen Truppen in Hannover und Hannover selbst
auch gegen eine Landung schiitzen werde. Hardenberg erwi-
derte, die Garantie Preussens beziehe sich nur darauf, class
Frankreich aus dem gesammten Landumfange, der Hannover
umgebe, nicht angegrififen werden diirfe; Frankreich habe ja
Hannover eben deshalb besetzt, urn dasselbe gegen Angriffe von
der See her zu vertheidigen; wenn Preussen Hannover auch
gegen diese schiitzen solle, dann miissten Preussens Truppen
Hannover besetzen. Das Thema wurde in mebreren Gesprachen
erortert (Laforest an Hardenberg ; 7. August). Hardenberg warf
hin, was bereits bei den friiheren Verhandlungen verlangt, aber
abgelehnt worden war: Napoleon moge Hannover Preussen in
Yerwahrung geben oder auch aJs Besitz iiberlassen; da Russ-
land sich vergrossert habe, Oesterreich durch das Gebiet Vene-
digs, durch Salzburg und Eichstadt vergrossert sei, erscheine
eine verhaltnissmassige Yergrosserung Preussens angemessen
(Lucchesini an Hardenberg, 29. Juli). Nach Lefebvre's Behaup-
tung (H, 99) hatte Hardenberg sogar angegeben, in welcher
Weise der Konig fur diesen Plan gewonnen werden konne.
Nichts konnte Napoleon erwiinschter sein, als diese Andeu-
tungen in dem Augenblicke, in dem er sich anschickte, das
Abenteuer des Uebergangs nach England mit dem Kriege gegen
Oesterreich und Russland zu vertauschen. Nicht als Depot, als
Eigenthum bot er Hannover auf der Stelle an. Was Preussen
sonst noch wiinsche an Yergrosserung und Ausrundung, an Ein-
fluss und Stellung im deutschen Eeiche, sei er weiter bereit, zu
gewahren: Braunschweig und Oldenburg, Hamburg und Bremen
sehe man als abhangig von Preussen an. Die Union zwischen
Frankreich und Preussen werde den Frieden des Kontinents er-
halten , die Herbeifiihrung des Friedens mit England beschleu-
nigen. „Selbst Opfer, so sagte Talleyrand, werde Napoleon nicht
scheuen, um Preussen dieser Union zu gewinnen, er werde seine
Plane auf Holland, die Schweiz, den Rest Italiens aufgeben.
Das sicherste, wenn nicht das einzige Mittel, den Ehrgeiz des
Kaisers aufeuhalten, bestehe darin, demselben durch Verpflich-
tungen zwischen Frankreich und Preussen Schranken zu ziehen.
Ein KontinentaJkrieg ohne festlandische Verbindungen werde
Napoleon Veranderungen treflFen lassen, welche nicht verhindert
zu haben, Preussen zu spat bereuen wiirde. Welche Stellung
Preussens! Indem es Europa den Frieden gebietet, erhalt es
sowohl eine reale als eine relative Yergrosserung seiner Macht,
erlangt es zugleich den Verzicht Napoleon's auf weitere Er-
werbungen. Der Norden Deutschlands steht unter seinem Schutz
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Ranke, Leop. v., Denkwiirdigkeiten Hardenbergs. 69
und der Norden Europas ist dem Uebergewicht Russlands nicht
mehr ausschliesslich iiberliefert (Lucchesini 12. Aug.)u. Harden-
berg nahm Talleyrand's Phrasen fur baare Miinze ; er schwelgte in
dem Gedanken der Gewinnung Hannovers, weiterer Erwerbungen.
Hannoyers Besitz gewahre Sicherheit, dass Preussen nicht wider
Wfllen in den Krieg gezogen werden konne. Erreiche man im
Abschluss mit Frankreich, dass Napoleon die Unabhangigkeit der
noch nicht annektirten Staaten Italiens anerkenne, ferner die
Unabhangigkeit der batavischen und cisalpiiiischen Republik, so
werde Oesterreich, hierdurch beruhigt, gewiss Frieden halten,
Alexander ohne Oesterreich auf den Krieg verzichten und Eng-
land ohne festlandische Allianz Napoleon die Hand zum Frieden
bieten. Demnach miisse die Mediation zwischen Russland und
Frankreich fortgesetzt, die Mediation zwischen Oesterreich und
Frankreich sofort angeboten werden. Alexander miisse vor-
gehalten werden, dass der grosste Theil der Zwecke, die er
durch den Krieg erreichen wolle, durch Unterhandlung erreicht
werden konnte, Napoleon aber durch alle schicklichen Mittel
abgehalten werden, Oesterreich anzugreifen. Kommo es trotzdem
nngliieklicher Weise zum Kriege, so sei derselbe an Frankreichs
Seite am wenigsten gefahrlich und werde Preussens Lage be-
tiachtlich verbessern. Er hatte Sachsen und Bohmen im Sinn
(Hardenberg an Haugwitz, 17. August, Protokoll vom 22. August;
Bemerkungen vom 1. September). Haugwitz sah etwas scharfer.
Er fand es doch sehr selbstverstandlich , dass Frankreich im
Moment des Ausbruchs des Kontinentalkriegs Preussens Allianz
suche, Preussen solle den gegenwartigen Stand in Italien garan-
tiren (die Vereinigung der Kronen Italiens und Frankreichs, die
Annexion Genua's und Parma's); gerade gegen diesen erhoben
rich Oesterreich und Russland, Preussen wiirde demnach mit
Unterzeichnung dieses Vertrages im Kriege gegen Russland und
Oesterreich sein, fur welchen keinerlei Vorbereitung getroffen
seL Hardenberg beharrte trotz der verletzenden Art, in wel-
cher Napoleon seine Verwendung fur den Kurfursten von Hessen
(in der Angelegenheit Taylor's) zuruckwies, trotzdem, dass die
Vorschlage fiir die Allianz, die Duroc nach Berlin brachte, ganz
andew lauteten als jene Redensarten Talleyrand's, dass sie Hannover
nur gegen Wesel und das rechtsrheinische Klove zugestanden,
auf seinem Gange, bis dor Konig ihn hemmte.
Wahrend man eben zur Abwehr des russischen Durch-
niarsches durch Preussen, den Kaiser Alexander seit Anfang Sep-
tember 1805 immer drohendor verlangte, riistete, warf Napo-
leon's kecke Verletzung des preussischen Gebiets durch den
Mar8ch durch Ansbach Preussen auf die Seite Russlands und
Oesterreichs. Indem Friedrich Wilhelm dem Kaiser Alexander
hiervon Mittheilung machte, fugt er hinzu: „Ich weiss nicht, ob
in Folge der ersten Massregeln, die ich ergriffen habe, der for-
melle Bruch (mit Frankreich) auf der Stelle erfolgen wird, odor
ob ich Zeit haben werde, dessen Zeitpunkt mit Eurer Majestat
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70 Ranke, Leop. v., Denkwiirdigkoiten Hardenbergs.
**&*rwm
zu vereinbaren (9. Oktober)." Auch Hardenberg war nunmehr
ernstlich gemeint, gegen Frankreich vorzugehen; doch liess er
es leider an Kraft und Entschiedenheit nur zu sehr fehlen. Statt
Preusseii entschlossen in den Krieg eintreten zu lassen, leitete
er dessen Aktion auf den Weg der bewaffneten Vermittelung,
d. h. der Verschiebung, der Unsicherheit , der Abhangigkeit von
dem Verhalten der kriegfuhrenden Theile, der Zwischenfalle.
Obwohl fast die Halfte der Armee bereits auf dem Kriegsfuss
stand, verlangte der Herzog von Braunschweig nach Unterzeich-
nung des Vertrages zwischen Preussen, Russland und Oester-
reich am 3. November noch 6 Wochen zur Bewerkstelligung des
Aufmarsches der preussiscben Armee. Hierauf gestiitzt, fiihrte
Graf Haugwitz, der die vereinbarten Bedingungen Napoleon vor-
legen sollte, aus, dass er nicht vor dem 24. November im fran-
zosischen Hauptquartier eintreffen diirfe, wenn seine Unterhand-
lung die unerlassliche Frist bis zum 13. Dezember ausfullen
solle. Wahrend nun Haugwitz moglichst spat abreiste und mog-
lichst langsam reiste, anderte sich die Kriegslage zu Ungunsten
Oesterreichs, was einerseits des Grafen natiirliche Vorsicht ver-
doppelte, andererseits Oesterreich zu dem schweren Fehler ver-
anlasste, eine Sonderverhandlung mit Napoleon iiber den Frieden
zu beginnen. Endlicb in Briinn angelangt und in Kenntniss
dieser Ankniipfiing hielt es Haugwitz fiir angezeigt, weder seine
Bedingungen vorzulegen noch von bewaffneter Mediation zu
sprechen, sondern nur hochst schiichtern die Annahme der Me-
diation Preussens zwischen den Kriegfuhrenden in Vorschlag zu
bringen (28. November), und sich sodann wegen angeblich be-
vorstehender Schlacht nach Wien an Talleyrand adressiren zu
lassen. Dennoch war die Besorgniss Napoleon's, der sich mit
unzureichenden Kraften weit vorgewagt hatte, vor dem Eintritt
Preussens in den Krieg so gross, dass er, nachdem ihm am Tage
nach seiner Unterredung mit Haugwitz der zweite Versuch, eine
Sonderverhandlung mit Russland anzukniipfen, fehlgeschlagen war,
Talleyrand am 30. November Befehl ertheilte : von der Forderung
der Abtretung Venetiens und Tirols (die Napoleon bereits ge-
stellt hatte) abzustehen, nur die Abtretung Verona's und der
Klause zu verlangen und hierauf hin schleunigst mit Stadion in
Wien abzuschliessen.
So gross die Fehler waren, die die Verbiindeten bis dahin
gemacht hatten, sie wurden vom Kaiser Alexander in Verbin-
dung mit der osterreichischen Heeresleitung uberboten. Obwohl
die Erzherzoge Karl und Johann mit 60 — 70,000 Mann in den
nachsten Tagen bei Raab eintreffen mussten, obwohl die Division
Essen (12,000 Mann) nur noch drei Marsche entfernt war, der
General Beningsen mit 45,000 Mann Breslau erreicht hatte uiid
die preussische Armee am 13. Dezember in Aktion treten musste,
wenn die Verhandlung bis dahin nicht zur Annahme jener Be-
dingungen .fiihrte , brach Alexander von Olmiitz auf, um Napo-
leon die Schlacht zu bieten, d. h. den Dienst zu leisten, der ihm
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Banke, Leop. v., Denfcwfirdigkeiten Hardenbergs. 71
am erwiinschtesten war. Dazu griff er am 2. December Na-
poleons StelluDg bei Briinn in einer Richtung an, die den Riick-
zng nach Schlesien, zu dem ihn Friedrich Wilhelm fiir den Fail
einer Niederlage aufgefordert hatte, wo 40,000 Preussen vor
Neisse zur Aufhahme bereit standen, unmoglich machte. Die
Schlacht ging verloren. Nun iiberbot Kaiser Franz seinerseits
den Fehler Alexander's, indem er personlich von Napoleon Waffen-
stillgtand erbat, der ihm selbstverstandlich nur unter Verzicht
auf das Biindniss mit Russland , unter der Bedingung des Riick-
zoges der russischen Armee durch Ungarn, und der Festsetzung,
dan wahrend des Stillstandes keine fremde Armee den Boden
Oesterreichs betreten dtirfe, am 6. Dezember gewahrt wurde.
Nach solcher Wendung der Dinge konnte Haugwitz auch seiner-
seits nicht zuriickbleiben. Preussen vor der Gefahr zu be-
wahren, dass Napoleon seinerseits mit Oesterreicb nicht nur
Fried en sondern auch Biindniss schliesse, urn sich auf Schlesien
zu sturzen, welches Haugwitz nicht hinlanglich geschiitzt glaubte,
liess er sich am 15. December in Wien einen Vertrag cftktiren,
der Preussen mit fliegenden Fahnen aus dem russisch-osterreichi-
schen Biindniss in das franzosische Lager hinuberfuhrte. Die
nDenkwiirdigkeiten" sagen (I, 593) : die Allianz Oesterreichs und
Frankreichs gegen Preussen sei in Aussicht getreten; thatsach-
lich hat diese Aussicht nur in den Vorspiegelungen bestanden,
die Talleyrand Haugwitz zu machen fiir gut fand, und in Pban-
tasiegebilden des Letzteren.
Es war Hardenberg's Meinung auch nach Austerlitz, dass
Preussen Norddeutschland behaupten, die Wiederbesetzung Hanno-
rers mit den Waffen verhindern miisse. Der Aufmarsch der
Annee an der Siidgrenze Preussens war vollendet; in ihren
Reihen standen 30,000 Sachsen und Hessen, im zweiten Treffen
60,000 Russen, 24,000 Engliinder, 12,000 Schweden. Konnte
Preussen jemals den Angriff Napoleon's in besserer Lage, ruhiger
nnd des Erfolgs gewisser erwarten? Aber Hardenberg fasste
aach jetzt die Frage nicht fest und oflFen an, wiederum hatte er
eine freundschaftliche Auseinandersetzung mit Napoleon in den
Yordergrund gestellt. Und als nun Haugwitz mit seinem Ver-
trage kam, hielt auch Hardenberg fiir sicherer, Hannover gegen
Abtretung alter preussischer Lande zu kaufen, als den Krieg zu
wagen. Nur bessere Bedingungen, grossere Erwerbungen miisse
man zu erlangen trachten, am besten durch eine offene Neutra-
litatskonvention und eine geheime Allianz mit Frankreich ; konno
man jedoch den Vertrag von Wien dadurch verbessern, dass
man der Ratifikation ein erlauterndes Memoire, das die nothigen
Vorbehalte pracis feststelle, beigebe, so widersetze er sich auch
diesem Wege nicht. Er kebrte zu seinen Gedanken vom Juli
und August zuriick, eine machtige Stellung fur Preussen in Nord-
deutschland durch Allianz mit Frankreich zu erwerben. So wenig
kannte er den Mann, mit dem er verhandelte, und dessen Ten-
denzen, dass er nach den Vorbehalten eingreifendster Art, unter
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72 Ranke, Leop. v., Denkwiirdigkeiten Hardenbergs.
denen die Ratifikation des Vertrags von Wien ertheilt war, die
ihn ungefahr in sein Gegentheil verkehrten, und in demselben
Augenblick, in welchem Napoleon seine Armee von der Donau
nach dem Main, an die Grenzen Preussens heranschob, die Ab-
rustung der Armee geschehen liess. Den Versuch, den seine
Memoiren machen, seine Betheiligung an diesem ebenso unbe-
greiflichen als letalen Fehler in Abrede zu stellen, habe ich an
anderem Orte als vollig misslungen nachgewiesen.
Wenn der Konig, nachdem er die Waifen aus der Hand
gelegt, den Vertrag von Paris annahm, so geschah dies, weil
alle seine Rathgeber den Krieg unter den vorhandenen Um-
standen fur unmoglich erklarten (auch Hardenberg hat dessen
Gefahren nur zu stark betont), weil dieser Vertrag, freilich gegen
die schwersten Opfer, wenigstens die franzosischo Okkupation
Hannovers beseitigte, dadurch die Verbindung zwischen den Pro-
vinzen herstellto und mit dieser die Moglichkeit der Vorberei-
tung zum Kriege gegen Frankreich gewahrte. Nur in diesem
Sinne unterwarf er sich einem Vertrage, der in seinen Augen
durch Tauschung crzwungen war, dem er die Spitze abzubrechen
in demselben Augenblick entschlossen war, in welchem er ihn
ratificirte. Der Vertrag von Paris sollte Preussen gegen Eng-
land und Russland an Frankreich binden. Der Konig hielt trotz
des Vertrages die Verbindung *mit Alexander fest. Haugwitz,
der sich seit dem Vertrage von Wien zum Vortreter des fran-
zosischen Systems gemacht hatte, ubergab er das Ministerhim
des Auswartigen. Er sollte die Politik Preussens ostensibel im
Sinne dieses Systems fiihren; neben ihm hatte Hardenberg in
tiefster Stille, und ohne dass Haugwitz darum wusste, die Ver-
bindung mit Russland zu unterhalten und die Verhandlung iiber
einen geheimen Vertrag mit Russland zum Abschluss zu bringen,
der den Vertrag von Paris paralysiren und Russland verpflichten
sollte, alle seine Streitkrafte fur die Aufrechterhaltung dor Un-
abhangigkeit Preussens zu verwenden. Ob Alexander diesen Ver-
trag vollzogen oder schliesslich zuriickgewiesen, wusste der Konig
nicht, wohl aber, dass Alexander's Vertreter am 20. Juli zu
Paris den Frieden zwischen Frankreich und Russland gezeichnot
habe, als er am 8. August 1806 beschloss, sein Land in Ver-
theidigungszustand zu setzen.
Die Tendenzen, welche Napoleon im Februar 1806 vona
Kriege gegen Preussen abstehen, ihn den Vertrag vom 15. Fe-
bruar an dessen Stelle setzen liessen, um einer Friedenshand-
lung mit England und Russland Raum und Boden zu geben,
hatten wohl eine scharfere Beleuchtung finden sollen, als die
„Denkwurdigkeiten" ihnen zu Theil werden lassen. Die Unter-
handlung, die Napoleon im Marz 1806 mit England und dadurch
auch mit dem diesem verbundeten Russland ankniipfte, hatte
nicht nur den Zweck, einen Waffenstillstand fur den Seekrieg
herbeizufuhren, sondern auch Oesterreich die Hiilfe Englands
und Russlands zu entziehen, falls Oesterreich sich, wie Napoleon
Banke, Leop. v., Denkwiirdigkeiten Hardenbergs. 73
voraussetzte und voraussetzen musste, der Bildung des Rhein-
bundes, die er eben betrieb , entgegenstelle. Er wusste, dass er
mit England nur urn den Preis Hannovers Frieden haben konne.
Wenn er dies Land trotzdem Preussen, in demselben Augen-
bMe, da er die Unterhandlung mit England begann, noch
einmal aufgedrungen hatte, so war dies in der doppelten Ab-
acht geschehen, zunachst durch Hiniiberziehung Preussens zu
Frankreich England dem Frieden geneigter zu machen, sodann
um Preussen , wenn es danach gegen Hannovers Zuriickstellung
die Waffen erhobe, isolirt und ohne Allianzen treffen zu konnen.
Erhob Preussen die Waffen zur Festhaltung Hannovers gegen
Frankreich, so hatte es am wenigsten von England Hiilfe zu er-
warten und nicht viel mebr von Russland, nachdem es zum firan-
zorischen System iibergegangen und Frankreich dann selbst mit
Russland zum Frieden gelangt war.
Die Rustung, welche Friedrich Wilhelm an jenem Tage be-
schloss, war nicht, wie Hopfner in seiner Geschichte des Krieges von
1806 und 1807 will, ein Akt der Verzweiflung, auch nicht eine
bewaflhetc Demonstration zur Wahrung seiner Rechte, die Na-
poleon zu Unterhandlungen bestimmen sollte (Denkwiirdigkeiten
IV, 8), endlich auch keine Aufwallung von Haugwitz, der einen
Krieg provocirte, den er eigentlich nicht wollte (IV, 100); diese
Rustung hatte ihren sehr zureichenden und wohlerwogenen Grund,
der aus dem Schreiben erhellt, welches der Konig, ehe die
Ordres an die Armee ergingen, an Kaiser Alexander gerichtet
hat. In diesem heisst es, er habe die fast gewisse Anzeige, dass
Napoleon Hannover an England zuriickgeben wolle, er suche die
norddeutschen Fiirsten von Preussen loszureissen und verstarke
seine Armee an Preussens Grenzen. „Wenn er mit London iiber
Hannover unterhandelt, dann will er mich verderben, dann will
er mir den Krieg machen, um mich nicht spater an der Spitze
einer starken Koalition zu sehen, und halt den Moment fur
giinstig, nachdem Sie Ihren Frieden geschlossen und dadurch
Tielleicht die Mittcl aus der Hand gegeben haben, mich zu unter-
stutzen." Um nicht iiberfallen zu werden, so fahrt der Konig
fort, treffe er Vorsichtsmassregeln , Alexander m6ge die russi-
schen Corps von den Grenzen nicht in das Innere zuriickziehen;
er schliesst mit der Frage: ob er auf Alexanders Hiilfe zahlen
konne (8. August). Im Sinne dieses Schreibens sind die Befehle
an die Truppen gedacht, die am 9. August ergingen und bei
Hopfner unvollstandig und vollig missverstanden mitgetheilt sind.
Es sind Massregeln gegen einen Ueberfall, den zu besorgen, ausser
allem anderen, in der Bereitstellung und Heranschiebung ansehn-
licher franzosischer Truppenkorper gegen die WestgrenzenPreussens
nur zu guter Grund vorhanden war. Die preussische Armee
soil rasch an der Elbe bei Magdeburg koncentrirt, wenigstens
Wer eine widerstandsfahige Macht gesammelt werden. Zu diesem
Ende sollen die Truppen aus Westfalen und Hannover auf Magde-
burg zuriickgehen, um hier mit den Magdeburgischen Truppen,
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74 Ranke, Leop. v., Denkwiirdigkeiten Hardenbergs.
dem Corps des General Kalkreuth, dag den Schweden in Lauen-
burg gegeniiberstand , den Garnisonen von Berlin und Potsdam
vereinigt zu werden. Zur Reserve dieser Elbarmee sind die west-
preussischen Truppen schleunigst mobil zu machen, die sodann
an die Oder vorzugehen und bei Kiistrin Stellun^ zu nehmen
haben. Ebenso sollen die schlesischen Truppen mobil gemacht
werden, urn danach gegen die rechte Flanke der zur Elbe vor-
gehenden franzosischen Armee zu operiren. Zugleich erging
Weisung, die koniglichen Kassen und Effekten aus dem West-
falischen, dem Hannoverschen, Hildesheimischen, dem Erfurtschen,
aus dem Eichsfeld und Bayreuth in moglichster Stille nach Magde-
burg zu schaffen.
Haugwitz' Vertrauen zu Napoleon's Freundschaft wankte
bereits seit dem Juni. Am 10. Juli hatte er dem Konige aus-
gefuhrt, dass eine festere Sprache gegen Frankreich angenommen
werden, 40,000 Mann bereit gehalten werden miissten, urn Sachsen
und Hessen, die Napoleon von Preussen loszureissen sucbe, zu
okkupiren. Am 18. Juli meint er dann wieder, Napoleon werde
Oesterreich. zum Kriege gegen Russland zwingen (er hatte den
Streit um Cattaro im Auge), er werde auch Preussen dazu auf-
fordern. Der Krieg in dieser Gemeinschaft konne nicht gefahr-
lich sein, und Frankreich sei doch allein im Stand e, die Abtretung
Hannovers von Seiten Englands herbeizufiihren. Vor alien Dingen
aber miisse Preussen endlich Ernst gegen Schweden machen und Her
einen Beweis seiner Starke geben. Der Konig dachte nicht daran,
auf Thorheiten einzugehen, die ihn unlosbar an Napoleon gebun-
den hatten. Der Biistung stimmte Haugwitz dann in dem Sinne
zu, dass damit eine festere Position gegen Frankreich gewonnen
werde. In seinem Immediatbericht vom 8. August fiihrt er aus,
dass eine vertrauliche Eroffnung an den Eurfursten von Sachsen
zu richten sein werde, seine Truppen mit dem aus Schlesien
heranziehenden Corps des Fiirsten Hohenlohe zu vereinigen; die-
selbe Auflforderung ware an Kurhessen zu richten , wenn der
dortige Vertreter Preussens glaube, dass es moglich sei, Kur-
hessen an der Seite Preussens zu halten. Mittheilung der Rustung
werde erst dann an Frankreich zu machen sein, wenn die Gar-
nison von Berlin marschire. Eine offene Darlegung der Griinde,
welche Preussens Rustung veranlassten , miisse Napoleon iiber-
zeugen, dass er an Preussen einen aufirichtigen, aber auch kraf-
tigen Alliirten habe.
Nach Ansicht der ^Denkwiirdigkeiten" (IV, 12. 13) ware
der Wunsch des Konigs auch nach der Rustung auf Erhaltung
des Friedens gerichtet gewesen. Ich vermag nicht, dem beizu-
pflichten. Friedrich Wilhelm's Schreiben an Alexander vom
6. September sagt: „Ich kann den Frieden nur noch unter zwoi
Bedingungen halten: dass die franzosischen Truppen uber den
Rhein zuriickgehen und dem norddeutschen Bunde kein Hinder-
niss in den Weg gelegt wird. Napoleon kenne ich zu sehr, um
zu glauben, dass er sich Gesetze vorschreiben lassen wird. Somit
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Banke, Leop. v., Denkwurdigkeiten Hardenbergs. 75
Mefl)t mir keine Wahl als der Krieg. Inzwischen hat mir
Bonaparte den Gefallen gethan, in keine Explikation iiber meine
Biistung einzutreten. So werde ich, wie es scheint, die Initiative
nchmen miissen, die entscheidenden Eroflfnungen zu thuu. Meine
Truppen marschiren von alien Seiten, den Augenblick derselben
zu beschleunigen."
Die Memoiren Hardenberg's geben ihr Urtheil iiber Haug-
witz' Leitung dahin ab , dass dieser, einmal in der franzosischen
Allianz, noch viel entschiedener mit Napoleon hatte gehen miissen,
als er gethan; nur dadurch hatte er verhindern konnen, in
Frankreichs Abhangigkeit zu fallen (III, 34 82). Weder dies
noch ein anderes Verfahren hatte die Lage gewendet, in welche
Hardenberg und Haugwitz in Fehlern wetteifernd den Staat ge-
bracht hatten. Sie war aJlein durch die Waffen zu wenden;
nur darum handelte es sich, diesem Kriege die zweckmassigste
Einleitung zu geben. Hier triffib der harte Tadel, den die „Me-
moiren" aussprechen, vollig zu; aber Hardenberg irrt dann
wieder weit ab, wenn er noch 1808 schreibt: Haugwitz hatte
zwar rusten, aber sodann eine Uebereinkunft mit Napoleon treffen
sollen (II, 168). In Napoleon's Sinn hatte allein er das Privi-
legium, geriistet zu sein; jeder andere Staat, der kiihn genug
war, zu riisten, hatte seinen Angriflf unzweifelhaft zu erwarten.
Und dazu konnte ihm der Erieg gegen Preussen nicht gelegener
kommen. Er hatte die grosse Armee gegen Oesterreich dispo-
nirt, er war daneben zugleich auf den Krieg gegen Preussen vor-
bereitet. Oesterreich verzichtete in demselben Augenblick auf
jeden Widerstand gegen die Vernichtung des deutschen Reichs,
gegen den Rheinbund, in welchem Preussen die Waffen erhob.
Napoleon hatte seine Armee nur gegen Preussen zu wenden und
mit den Corps, die er im Herzogthum Berg gegen Preussen be-
reit gestellt hatte, zu vereinigen. Das Schreiben Napoleon s an
Bertluer vom 17. August, das die „Denkwurdigkeitenu citiren, be-
fiehlt diesem nur, die Kriegsvorbereitungen gegen Oesterreich zu
sistiren (eben weil es am 9. August den Rheinbund anerkannt
hatte) und die Nachricht zu verbreiten, dass die Armee in
den ersten Tagen des September nach Frankreich zuruckkehren
werde ; die Ratifikation des OubriTschen Friedens sollte dadurch
in Petersburg gefordert werden. Wer wollte glauben, dass erst
das Ultimatum Preussens Napoleon zum Krieg bestimmt habe?
Wie hatte dieser Mann iiberhaupt auf einen Krieg verzichten
sollen, dazu auf einen Krieg, den er langst diplomatisch vorbe-
reitet hatte, auf den er auch militarisch vorbereitet war; und
wenn er nicht noch friiher als vier Wochen vor Uebergabe des
preussischen Ultimatums, in den ersten Septembertagen der
grossen Armee in Suddeutschland Marschbefehl gab, so geschah
dies, weil er in seiner Kriegsbereitschaft weit voraus war und
den dringendsten Grund hatte, mit Ertheilung dieser Befehle
nicht eher vorzugehen, als bis er wusste, ob Alexander den
Frieden Oubril's ratificirt oder nicht ratificirt habe.
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76 Ranke, Leop. v., Denkwurdigkeitcn Hardenbergs.
Haugwitz hatte sich bald tiborzeugt, dass der Krieg nicht
zu vermeidon sei, er hat. dies am 8. September in der Konferenz
der Generale laut Protokoll derselben orklart. Wenn nunmehr
er, der Urheber des Systomwechsels von 1805, der Vertreter der
Allianz mit Frankreich, rich gegen Napoleon wendete, so war Er
allerdings genothigt, um der Armee und dem Lande, den Hofen
von London, Wien und Petersburg Glauben an den Ernst dieser
Politik zu geben, baldmoglichst zum Angriff gegen Frankreich
vorzugehen. Er musste Preussen in den Angriffskrieg treiben,
so dringend die gesammte Lage gebot, den Angriff Napoleon
zuzuschieben und jene SteUung an der Elbe festzuhalten. Sah
er klar und war aufrich tiger Patriotisms in seinem Herzen, so
mochte er wohl, um Zeit fur Vollendung der Riistung zu ge-
winnen, um seinen Versicherungen in Paris, dass der Konig nur
der Besorgniss wegen, die das Land ergriffen, riiste und abzu-
riisten bereit sei, wenn er beruhigende Zuricherungen erhalte,
dort Glauben zu geben, im Amte bleiben bis die Riistung voll-
zogen war. Als das am 18. September erreicht war, musste er
seinen Platz einem Anderen uberlassen, der der Armee, dem
Lande und dem Auslande das Vertrauen einflosste, das zur gluck-
lichen Durchfuhrung eines so schweren Kampfes unentbehrlich'
war. Wenn der Konig den Eingaben der Prinzen, Steins, der
Generale Riichel und Phull die Entlassung von Haugwitz weigerte,
so geschah es nicht nur, weil er in diesem Verlangen einen Ein-
griff in seine Autoritat sah. Hatte der Konig doch selbst den
Vertragen, die Haugwitz in Wien und Paris geschlossen, seine
Unterschrift gegeben, und damit dessen Politik zu dor seinigen
gemacht. Als Kaiser Alexander ihn im Juni 1806 darauf auf-
merksam gemacht hatte, dass Haugwitz' blinde Vorliebe fiir
Napoleon die iibelsten Lagen herbeifiihren werde, erwiderte
Friedrich Wilhelm: „Sie thun Haugwitz Unrecht, er hat keine
Vorliebe fur Napoleon; er beurtheilt ihn, wie man ihn beur-
theilen muss. Er hat seiner Pflicht gemass und als guter Pa-
triot zu handeln gemeint; er hat die Umstande nicht andern
konnen und den Entschluss wahlen zu miissen geglaubt, der ihm
der weniger verderbliche zu sein schien (23. Juni 1806)." Jenen
Vorstellungen gegeniiber orinnerte sich der Konig, wie Haugwitz
im Juni 1799 auf den Beitritt zur Koalition gegen Frankreich
gedrungen, wie er 1803 Napoleon in Hannover vorauszukommen
gerathen, wie eifrig er damals die Riistung verlangt, wie be-
stimmt er dann am 22. August 1805 dem Biindniss mit Frank-
reich widersprochen hatte. Dazu kam endlich, dass sich der
Konig im Gange seiner Politik keineswegs von Haugwitz abhangig
fuhlte. Die Ankniipfung mit Russland war des Konigs Werk,
der Entschluss der Riistung sein Entschluss. Diesem hatte Haug-
witz in keiner Weise widersprochen, und ging jetzt geraden Weges
zum Kriege vor.
Im Januar 1806 konnte Preussen mindestens 250,000 Mann
dem Angriff Napoleon's entgegenstellen; im Oktober 1806 ver-
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Ilanke, Leop. v., Denkwurdigjjeiten Hardenbergs* 77
mochte es dem iibermachtigen Heere Napoleon's nur mit der
Halfte jener Streiterzahl zu begegnen. Nur eine vorsichtige und
zahe Defensive gewahrte Aussicht, soldier Uebermacht wider-
stehen zu konnen; man musste Zeit gewinnen, urn die Russen
herankommen zu lassen. Aber Haugwitz hatte Alles auf den
Angriffakrieg gestellt. Als sich nun wirklich noch eine giinstige
Aussicht fur die Offensive dadurch eroffnete, dass der Aufmarsch
der preussischen Armee vierzehn Tage friiher vollendet war als
der der franzosischen, vereitelte Haugwitz diese, indem er nun-
mehr darauf bestand, dass vor dem 8. Oktober nicht angegriffen
werde, da sein Ultimatum, erst am 1. Oktober iibergeben, vor
dem 8. Oktober nicht beantwortet sein konne. So wurde die
Armee in vorgeschobener Stellung vielmehr vom Feinde ange-
griffen. Nicht ein vom Herzog von Braunschweig angeordneter
Linksabmarsch sondern der Ruckmarsch an die Elbe, den viel-
mehr der linke Fliigel, bis die Unstrut uberschritten sei, decken
sollte, fiihrte zu der Doppel-Schlacht von Jena und Auerstadt,
Nachdem Fiirst Hohenlohe, dem die „Memoiren" ein hochst unver-
dientes Lob spenden, in hartnackigster Verblendung iiber die
Absichten Napoleon's, die Saalbriicken und den Hohenrand des
linken Ufers aufgegeben, war es unmoglich, sich auf der Hoch^
flache selbst gegen die dreifache Uebermacht zu behaupten, aber
man konnte sehr wohl einen geordneten Riickzug haben, wenn
General Riichel sich begnugt hatte, diesen zu decken. Bei
Auerstadt war es moglich, sich die Strasse zu offhen. Trotz
des Vortheils ihrer Stellung hatte der Kampf mit gleichen Kraften
Davoust's Truppen bis auf die letzte Reserve erschopft; der vierte
Mann lag ihm todt oder verwundet, als die beideu Divisionen
des zweiten preussischen Treffens herankamen. Sie wurden nicht
mehr verwendet. Die grobe Unachtsamkeit des Reserve-Corps
bei Halle, die verkehrte Richtung seines Riickzuges, die beispiel-
loseste Pflichtvergessenheit der Kommandanten von Magdeburg,
Kfistrin und Stettin, welche dies Festungs-Dreieck, das den letzten
Kern und Halt des Staates im siebenjahrigen Kriege gebildet,
dem Feinde iiberlieferten, entschied die Vernichtung der Ueber-
reete der Hauptarmee. Die Entschuldigungen , welche Harden-
berg (H, 2) diesen Uebergaben, Schandfiecken der preussischen
Geschichte, zu Theil werden lasst, waren im Interesse Harden-
berg,s besser ungeschrieben geblieben. Die betreffenden Zeilen,
welche der Herausgeber unterdriickt hat, haben wohl „die Friedens-
liebe des Konigs" auch fur diese Kapitulationen verantwortlich
gemacht. Wohl hatte der Konig unter dem ersten Eindrucke
der schweren Niederlagen Frieden gesucht. Aber als der Gegner
seine Bedingungen steigerte, als er den Yerzicht auf das russi-
sche Biindniss zur Bedingung des Waffcnstillstandes machte,
wahrend dessen iiber den Frieden verhandelt werden sollte,
folgte Friedrich Wilhelm, obwohl weit barter getroffen als Kaiser
Franz bei Ulm und Austerlitz, dessen Beispiel nicht Mit der
Mehrzahl der Generate, die der Konig am 20. November zu
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78 Ranke, Leop. v., Denkwiirdigkeiten Hardenbergs.
Osterode versammelte, stimmte Haugwitz fiir Annahme dee
Waffenstillstandes unter jener Bedingung. Der Konig lehnte
diesen Stillstand, den Lucchesini und Zastrow bereits gezeichnet
hatten, ab. Haugwitz erhielt am 23. November seme Ent-
la8sung ; wenige Tage spater Lombard. So begann jener Feld-
zug in Ostpreussen, in dem zum ersten Mai Napoleon's stiirmischen
Erfolgen Einhalt geschah, in welchem er seine erste unent-
schiedene Schlacht schlagen mnsste.
Die Bahnen der beiden Staatsmanner , die lange freundlich
neben einander gegangen waren, hatten sich definitiv getreflnt
Haugwitz war von besseren Anfangen und besseren Leistnngen
seit Ausgang des Jahres 1805 tiefer und tiefer in die Yer-
strickungen Napoleons gefallen ; er versucbte zu spat, diese Bande
zu zerreissen. Seine Umsicht, seine Mittel standen zu tief unter
dieser gewaltigen Aufgabe, am wenigsten besass er Muth und
Kraft zum Ausharren. Hardenberg ist sehr allmalig von un-
sicheren Anfangen aus, nacb vielfachen Schwankungen , durch
schwere Erfahrungen und erschiitternde Katastrophen gereift, zu
der Starke gelangt, die ihm dann einen der ersten Platze unter
den Rettern und Herstellern Preussens gegeben hat. Wahrend
des Sammers 1807 hatte er fest zur Verbindung mit Russland
gestanden. Die Illusion, die ihn seit 1794 bis zum Februar 1806
verfolgt und ihm trotz Allem immer wieder den Blick getrubt
hat, Preussen durch Frankreich heben zu konnen, war nun
endlich abgeworfen; dem Waffenstillstand hat er bestimmt und
nachdriicklich widersprochen. Es war ein grober Fehler, den
er oflFen eingesteht, dass er Zastrow zur interimistischen Leitung
des Auswartigen vorschlug, den er dann selbst dem Kaiser
Alexander aJs schlimmer als Haugwitz bezeichnen musste. Er
hatte diesen Fehler gut gemacht, indem er die Ablehnung des
Sonderfiriedens, zu dem Napoleon nach Eylau den Konig sowohl
durch Lockung. als durch Drohung zu bewegen suchte, nach-
driicklich unterstiitzte und danach, seit dem 14. April 1807,
selbst zur Leitung berufen, fiir die Fortfuhrung des Krieges,
fiir die Bereitstellung der dazu nothigen Geldmittel, fur die
Versorgung des russischen Heeres mit unermiidlichster Thatigkeit
wirkte. Zugleich fasste er die Regeneration des Staats in
grossem Sinn ins Auge und legte im Vertrage zu Bartenstein
(26. April 1807) den Grund zur Herstellung Preussens und
Deutschlands , zur Herstellung des europaischen Staatensystems,
zu der Koalition, die sechs Jahre danach den Sturz Napoleon's
herbeigefiihrt hat.
Die Schlacht von Friedland wurde duroh die strategische
Umgehung herbeigefiihrt, zu der Napoleon griff, dis er Bennigsen
trotz seiner Uebermacht durch den Angriff in der Fronte nicht
aus der Stellung bei Heilsberg zu drangen vermocht hatte.
Bennigsen war nicht angegriffen , sondern griff an , als er den
Parallelmarsch, den er neben der franzosischen Armee am andern
Ufer der Alle ausfiihrte, unterbrach, um iiber die Alio zu gehen
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Ranke, Leop. v., Denkwiirdigkeiten Hardenborgs. 79
und tier die Marschlinie der franzosischen Armee zu durchbrechen,
ein Versuch, der gelingen konnte, wenn er rascher gefiihrt wurde,
schadlos enden konnte, wenn er zogerad betrieben, rechtzeitig
abgebrochen wurde. Wenn Napoleon nach Friedland auf die
Forteetzung des Kriegs yerzichtete, so geschah dies deshalb,
weil er sich zum Angriff auf Russland selbst nicht stark genug
Shite. Aber indem er Alexander nicht nur Frieden sondern
auch Bundniss bot und beide schloss, bereitete er zngleich
semen Krieg gegen Russland dadurcb vor, dass er Danzig in
Besitz behielt und durch das Herzogthum Warschaxi den Grund
zur Wiederaufrichtung Polens legte. Wenn Alexander's Wider-
sprucb die Vereinigung dieses neuen Staates mit Schlesien und
Sachsen zu einem Ganzen hinderte, so war die Absicht Napoleon's
in diesem Vorschlage nur um so unverkennbarer hervorgetreten.
Dass er gewillt war, auf diese Kombination zuriickzukommen,
beweist das Verbleiben nach dem Frieden nicht von drei Armee-
corps, wie die Denkwiirdigkeiten sagen, in Preussen, sondern von
160,000 Mann der grossen Armee, abgesehen von den Corps
Bernadotte in Schwedisch-Pommern und Davoust in Warschau,
wie die Verhandlung des Winters 1807 zu 1808, in der sich
zeigte, dass Napoleon trotz aller Verheissungen zu Tilsit die
Moldau und Wallachei nur gegen Zustimmung Alexander's zur
Abreissung Schlesiens von Preussen zuzugestehen bereit war, •
endlich der sogenannte Raumungsvertrag Preussens vom 8. Sep-
tember 1808, der Napoleon zur Weichsellinie und Elblinie mit
den Oderfestungen auch die Linie der Oder in die Hand gab.
Alle diese Vorkehrungen und Massnahmen waren eben so sehr
gegen Russland als gegen Preussen gerichtet. Alexander liess
jenen Vertrag zu, er bestimmte den Konig, ihn zu ratificiren, er
gab sich in Erfurt dazu her, Oesterreich und Preussen zu hindern,
den Abmarsch der grossen Armee nach Spanien, die nationale
Erhebung Spaniens zu benutzen, sich auch ihrerseits mit ver-
einter Kraft gegen Napoleon zu wenden. Er beharrte darauf,
den Preis des einmal geschlossenen Biindnisses mit. Napoleon:
Finnland sammt der Moldau und Wallachei einzuernten, was
auch inzwischen geschehen moge. So stellte Art. 10 des Erfurter
Vertrages Russlands Unterstiitzung gegen Oesterreich fest, wenn
es zwischen Frankreich und Oesterreich zum Kriege komme.
Me Einladung, welche Alexander auf der Ruckreise von Erfurt
an Friedrich Wilhebn richtete, nach Petersburg zu kommen,
sollte dazu helfen, den Konig in dem gegenwartigen System
Russlands und von einer Erhebung gegen Frankreich zuriickzu-
halten. Stein war gegen diese Reise gewesen, nicht bios der
Koeten wegen, sondern des Eindrucks wegen, den Alexander's
Bathschlage auf den Konig ausiiben konnten. Der Konig nahm
die Einladung an, um seinerseits Alexander zum Einverstandniss
mit Oesterreich und Preussen hinuberzuziehen ; er kannte den
Vertrag von Erfurt nicht. Alexander blieb dem Konige gegen-
uber dabei, dass, wenn Oesterreich nicht durch Abmahnungen
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80 fianke, Leop. v., Denkwftrdiglceiten Hardenbergs.
vom Kriege gegen Frankreich zuriickzuhalten sei, er aach seinor-
seits die Waffen gegen dasselbe ergreifen werde. Auf das
dringendste rieth er dem Konige, sich den Umstanden zu fugen,
sich Frankreich ohne Riickhalt anzuschliessen ; dagegen werde
er sich angelegen sein lassen, Erleichterungen fur Preussen bei
Napoleon zu erwirken. Auf diese Intervention fur Preussen er-
widerte ihm Napoleon am 14. Februar 1809, dass er sich
Preussen giinstig zeigen werde, nwenn es sich den guten Lehren
gemass verhalte, die Alexander dem Konige und der Konigin er-
theilt habe". Als Prinz Wilhelm am 8. September 1808 jenen
Raumungsvertrag gezeichnet, hatte ihm Napoleon gesagt, dass er
nunmehr die baldigste Riickkehr des Konigs nach Berlin erwarte,
dass er diese als einen ersten Beweis des Vertrauens des Konigs
zu ihm ansehen werde. Noch in einer der letzten Unterredungen,
die zwischen dem Konige und Alexander in Petersburg statt-
fanden, setzte der Erstere auseinander, in welche Lage iha die
Residenz in Berlin, yon alien Seiten von fremden Truppen um-
geben (zwischen den franzosischen Besatzungen von Magdeburg
und Kiistrin, in der Nahe der westfalischen und sachsischen
Truppen), unausbleiblich bringen werde, dass er dort in voll-
standige Abhangigkeit von Frankreich gerathen miisse (Friedrich
Wilhelm an Alexander; g. St. -A.). Trotz Alexander und
Napoleon, welche hierin von dem sehr erklarlichen Drangen der
Berliner unterstiitzt wurden, blieb der Konig mit bestem Grunde
in Konigsberg.
Als nun der Krieg zwischen Frankreich und Oesterreich im
April 1809 zum Ausbruch kam, war Friedrich Wilhelm bereit,
Oesterreich zur Seite zu treten. Die Unfalle, die Erzherzog
Karl an der Donau in den letzten Apriltagen erlitt, hatten ihn
nicht zuriickgehalten , wenn Alexander das wiederholt erbetene
Versprechen gab, dass, falls Preussen die Waffen erhebe, es
wenigstens keinen Angriff von Russland zu besorgen haben werde.
Alexander Hess seine Truppen gegen Oesterreich an die Weichsel
vorgehen, vornehmlich urn die Armee des Erzherzogs Ferdinand
aus der Nahe Ostpreussens zu entfernen, und schrieb dem
Konige: „Ich habe bei der Lesung Ihres Schreibens gezittert,
ich sehe die verderblichen Folgen des Beschlusses voraus, den
Eure Majestat fassen zu miissen glauben. Sie werden Oesterreich
nicht retten, aber Ihren Untergang entscheiden und mir jedes
Mittel rauben, ihn zu hindernu (19. Mai 1809). Und dennoch
ware der Konig auch wohl noch nach dem Waffenstillstande von
Znaym eingetreten, wenn Knesebeck im Lager zu Dotis die
Ueberzeugung gewonnen hatte, dass es Oesterreich mit der
Fortsetzung des Krieges Ernst sei. Der Entschluss dazu war
jedoch nicht mehr vorhanden. Erzherzogs Karl's Kleinmuth
hatte selbst Stadion's Festigkeit iiberwunden.
Das Biindni8s mit Russland hatte Napoleon seinen Dienst
gethan; es hatte Oesterreich gehemmt und ihm den Krieg er-
schwert, es hatte Preussen auch nach dem Abmarsch der
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B&nke, Leop. v., Denkwfirdigkciten fiardenbergs. 81
grossen Armee in Schach gehalten, es hatte verhindert, dass
rich Oesterreich und Preussen , die nationalen Krafte Deutsch-
lands im Herbst des Jahres 1808, im Friihjahr 1809 geschlossen
gegen Bonaparte's Dominat erhoben. Als Napoleon den Frieden
Ton Wien am 14. Oktober 1809 zeichnete, war der Krieg gegen
fiossland bei ihm beschlossen. Hatte ihm doch Alexander selbst
geholfen, die deutschen Krafte nieder zu halten und zu zer-
triimmern, hatte er ihm doch durch diese Schwachung der
intermediaren Machte selbst den Weg nach Russland gebahnt
Schon in dem Friedenavertrage mit Oesterreich begann Napoleon
den Krieg gegen Russland, indem er dem Herzogthum Warschau
die polnischen Gebiete hinzufugte, die Oesterreich aus den beiden
letzten Theilungen davongetragen. Damit sagte er den Polen
wie dem Kaiser Alexander, dass zur Resurrektion Polens nur
noch die Gebiete fehlten, welche Russland in Besitz hatte. Die
Erfahrung von 1807 hatte Napoleon belehrt, dass der Krieg
gegen Russland sorgfaltig vorbereitet sein miisse, dass er nur
mit grossen Mitteln unternommen werden konne. Es handelte
sich darum, Frist fur diese Vorbereitung zu gewinnen, ohne
dass Alexander ihm zuvorkame, das Herzogthum Warschau
okkupire, die Weichselubergange in seine Hand bringe und
durch solches Vorgehen Preussen auf seine Seite ziehe. Indem
Napoleon, sobald der Friede zu Wien gezeichnet war, seine
Armee theilte, den grosseren Theii derselben, 100,000 Mann
nach Spanien schickte, urn dort den Krieg im nachsten Feldzuge
zu Ende zu bringen, den Ueberrest von 60,000 Mann unter
Davoust an die Niederelbe marschiren liess, Preussen zu be-
drohen, im Zaume zu halten und sich an der Niederelbe festzu-
setzen, liess er zugleich den Kaiser Alexander versichern, dass
er nicht an die Herstellung Polens denke, dass er vielmehr
Sorge tragen werde, den Namen Polens aus alien offentlichen
Akten verschwinden zu lassen. Was Alexander danach concedirt
wiasen wollte (Denkw. IV, 256) , war nichts , als was Napoleon
geboten hatte. Ebenfalls, urn Alexander nicht zu friih aufmerksam
zu machen , unterliess es Napoleon , mit offener Gewalt Genug-
thuung von Friedrich Wilhelm fur dessen Verhalten wahrend des
Krieges g^en Oesterreich zu fordern; er liess es bei dem Ver-
snche bewenden, ob ihm Schlesien durch Drohungen zu ent-
reissen sein mochte, Zugleich warb er zum Schein urn die
Schwester Alexander's. Diese Werbung sollte dem eben nieder-
geworfenen Oesterreich die intimste Allianz zwischen Frankreich
und Russland, die es erdriicken musste, in schreckende Aussicht
stellen. Napoleon erreichte, was er beabsichtigte ; zur Abwendung
»olcher Gefahr wurde ihm die Erzherzogin zur Gemahlin geboten.
Mit dieser Vermahlung schob er sich, indem er den alten
Kaiserstaat an sein System band, auch durch Oesterreich hin-
durch bis an die Grenze Russlands vor. Nun liess er die
Weichselplatze im Herzogthum Warschau befestigen, betrieb die
Verstarkung der polnischen Armee, traf Vorsorge fiir Erregung
MlttheUongen a. d. bUtor. Littentar. VL 6
Digitized by VnOOQ IC
82 Ranke. Leop. v., Denkwiirdigkeiten Hardenbergg.
der Polen gegen Russland und fur eine Volksbewaffhung aller
polnischen Gebiete, liess Sachsen und Westphalen ihre Kon-
tingente verst&rken und unbemerkt die Besatzungen in Danzig,
in den Oderfestungen zu ansehnlichen Truppenkorpern an-
wachsen. Des Konigs Jerome Krafte verstarkte er durch Ueber-
weisung Hannovers, den Thron seines Bruders in Holland be-
seitigte er, um Holland sammt Ostfriesland zu franzosischen
Departements zu machen.
Wie hatten ihm gegen Russland Erfolge fehlen konnen?
Preussen geknebelt und durch die Festungen der Weichsel,
Oder und Elbe in seiner Hand, Oesterreich erschopft, abhangig
und bekehrt. Dazu drangten nun weiter die Angriffe, die
Alexander, auf Grund seines Bundnisses mit Frankreich, gegen
Schweden und die Pforte gerichtet, diese beiden Nachbarn Buss-
lands in Nord und Slid auf Napoleon's Seite. Schweden erklarte
mit der Wahl Bernadotte's zum Thronfolger seinen Uebertritt
zum franzosischen System und suchte Anlehnung an Napoleon.
Die Erfolge, welche der russischen Armee im Sommer 1810 am
Balkan zuzufallen schienen, liessen die Pforte Napoleon's Hiilfe
suchen. Und der Feldzug dieses Jahres in Spanien entsprach
Napoleon's Erwartungen vollstandig. Lord Wellington war in
die Linien von Torres Vedras, die spanischen Armeen waren
nach Cadix zuriickgedrangt; nur diese Punkte und einige feste
Platze der Ostkuste waren nocli in den Handen der Spanier.
Der geeignete Moment fur den Losbruch schien Napoleon ge-
kommen; er vollzog im December 1810 die Vereinigung der
gesammten Nordkuste Deutschlands von der Ems bis zur Trave
mit Frankreich, um seine unmittelbare Herrschaft naher an
Bussland, bis zur Ostsee hin yorzuschieben. Diese Annexion
begriff auch das Besitzthum der jiingeren Linie des russischen
Kaiserhauses in sich. Napoleon musste darauf gefasst sein,
dass Alexander die oflfene Ermuthigung, die er der Pforte gegen
Russland zu Theil werden liess, den beispiellosen Akt jener
Annexion mit der Kriegserklarung , mit dem Vorrucken seiner
Armee in das Herzogthum Warschau beantworten werde. Er
war darauf vorbereitet. Davoust war ansehnlich verstarkt, ear
hatte Mecklenburg behufs besserer Durchfiihrung des Kontinental-
sjstems besetzt, um von hier aus durch Schwedisch-Pommern
der Besatzung Stettins die Hand zu reichen, von der Oder nach
der "Weichsel zu „fliegen", deren Uebergange und das Herzogthum
Warschau, durch die Sachsen und Westfalen, durch die polnischen
Truppen auf 150,000 Mann verstarkt, so lange zu vertheidigen,
bis Napoleon mit der in Holland und am Rhein bereit stehenden
zweiten Armee von ebenfalls 150,000 Mann herankomme.
Kaiser Alexander erwartete auch seinerseits den Ausbruch
des Krieges im Frtihling des Jahres 1811. Viel ernstlicher als
die Denkwiirdigkeiten (IV, 305) erkennen lassen, hatte er dar-
nach getrachtet, die polnischen Magnaten fur sich zu gewinnen.
Ware dies gelungen, so hatte er die Offensive genommen, so
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Banke, Leop. v., Denkwiirdigkeiten Hardenbergs. 83
ware er an die Weichsel vorgegangen, so hatte er versucht, die
Streitkrafte Preussens fiir sich zu verwerthen. Da der Versuch
fohlsehlug, beschloss er Ausgangs Mai 1811 den Angriff Napo-
leons in seinen Grenzen zu erwarten. Die Kunde, die Napoleon
hieriiber erlangte, schien diesem sicher genug, den Krieg bis
um nachsten Friihjahr zu vertagen, um sich des Erfolges durch
Heranziehung noch grosserer Streitkrafte, insbesondere seiner
Annee aus Italien, vollkommen zu versichern. Aber Alexander
konnte seinen Entschluss andern, Preussen konnte zu den Waffen
greifen, die Pforte in solche Bedrangniss gerathen, dass der
Eintritt in die Aktion unmittelbar nothwendig wurde. Solchen
Ereignissen auf der Stelle zu begegnen, wurde Davoust unab-
lassig verstarkt und angewiesen, jeden Augenblick bereit zu
sein, iiber Preussen herzufallen, um es niederzuwerfen ; aber
audi, wenn Preussen sich ruhig halte, an die Weichsel vorzu-
gehen, sobald ein russisches Bataillon die Grenze des Herzog-
thums Warschau uberschreite.
So die Absichten und der Gang, den Napoleon unbeirrt
verfolgte, seinen Krieg gegen Russland einzuleiten. Alexander
ist uber Napoleon's Absicht seit dem Friihjahr 1810 nicht einen
Augenblick in Zweifel gewesen, am wenigsten hat er noch im
Marz 1812 (Denkw. IV, 293) Friedenshoffhungen gehegt. Wohl
aber haben fast sammtliche Darsteller dieses Zusammenstosses,
franzosische und nicht franzosische , theils in-e geleitet durch
Napoleon's bis zum letzten Augenblick fortgesetzte Versicherungen
von dem Werthe, den er auf die Allianz mit Russland lege,
Ton der Moglichkeit, ja der Leichtigkeit , sich zu yerstandigen,
durch welche er seine Vorbereitungen deckte und seine
Drohungen unterbrach, theils beherrscht von der Tendenz,
Napoleon von der Schuld des Unternehmens, das den G-rund
zu seinem Sturze legte, frei zu sprechen, sich in Unter-
suchungen dariiber ergangen, ob die polnische Frage (Denkw. IV,
256) oder die Frage des Kontinentalsystems , der Zulassung
der neutralen Flagge in den russischen Hafen, ob die
osterreichische Heirath oder Oldenburg den Bruch herbei-
gefuhrt hatte, und den Zeitpunkt zu ermitteln versucht, in dem
Napoleon den Krieg ernstlich beschlossen habe (Denkw. II, 275.
294. 305. 309. 313). Napoleon's Korrespondenz gestattet dariiber
keinen Zweifel.
Es war jener Versuch Napoleon's, Schlesien von Preussen
2Q ei-pres8en, der Friedrich Wilhelm den Entschluss fassen liess,
Hardenberg im Friihjahre 1810 zur Leitung der Geschafte zu
berufen. Mit Gewalt war — wir sahen , aus welchem Grande
— damals gegen Preussen nicht vorzugehen ; so wollte Napoleon
sich mm wenigstens dessen Zahlungen sichern und da sein Ver-
treter in BerUn berichtete, dass Hardenberg's Talent Aussicht
dafiir gewahre, willigte er in dessen Berufung, schwerlich in der
Abacht, Preussen „einen geschickten und kraftigen Piloten zu
geben". Innerlich gereift, vereinigte Hardenberg nun mit der
6*
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>■ J A9^w
84 Ranke, Loop, v., Denkwttrdigkeiten Hardenbergs.
Leitung der ausw&rtigen auch die der inneren Politik. Mit ge-
schickter, wenn auch nicht mit so fester Hand wie Stein, nahm
er die seit dessen Riicktritt stockenden Reformen wieder au£
Die Verausserung der Klosterguter , sein neues Steuersystem
setzten ihn in den Stand, die Kontributionszahlungen regelmassig
zu leisten (aus den Berathungen der provisorischen National-
reprasentation , die er belief, gingen dann wesentKche Ver-
besserungen jenes Systems hervor) ; auf alien Gebieten der Ge-
setzgebung, im gesammten Leben des Staats machte sich die
Wirkung einer einheitlichen und folgerichtigen Leitung, die
Konsolidation der bis dahin unglaublich schwankenden Zustande
bemerkbar. Freilich mussten alle diese Fortschritte durch un-
bedingte Folgsamkeit gegen die Befehle von Paris erkauft werden
und die stetige Steigerung des Krieges, den Napoleon gegen den
Handel Englands, gegen den Handel der Neutralen, gegen die
Kolonialwaaren und die Manufakte Englands fiihrte, legte der
wirthschaftlichen Erholung des Landes jeden Augenblick neue
Hindernisse in den Weg.
Noch kein voiles Jahr stand Hardenberg an der Spitze der
Gesch&fte, als im Friihjahr 1811 der Krieg zwischen Frankreich
und Russland in drohende Aussicht trat. Hardenberg's Meinung
ging zunachst darauf, Vorbereitungen zu treffen, welche wenigstens
die Zusammenziehung der preussischen Truppen trotz der Oder-
und Weicliselfestungen , trotz der Nahe der Elbfestungen er-
moglichen sollten. Die Ungewissheit, ob es uberhaupt zum Kriege
kommen werde, die Erwagung, dass Preussen, wenn die Diffe-
renzen der beiden Bivale friedlich ausgeglichen wiirden, durch
den Anschluss an Russland in hochst yerderblicher Weise kom-
promittirt sein wiirde, der Hinblick auf Alexander's polnische
Plane, auf seine hartnackige Fortsetzung des B^rieges gegen die
Pforte, der ihn mit Oesterreich tiefer und tiefer verfeinde und
gegen Frankreich in schweren Nachtheil setze, die Erinnerung
an die schwankende, bald iibermassig selbstvertrauende , bald
verzagte Haltung, die Alexander 1805 und 1807 gezeigt, fiihrten
Hardenberg dann zu dem Rathe, es vorerst mit der Anlehnung
an Frankreich zu versuchen. Jedenfalls konne man Napoleon's
Absichten gegen Preussen nicht besser erkunden, als durch das
Anerbieten einer Allianz ; lehne er diese ab, so sei erwiesen, dass
er auf Preussens Vernichtung sinne. Als nun Napoleon, wie
dies seine Einleitung des Krieges gegen Russland verlangte, den
Mitte Mai gemachten Antragen auswich, nicht darum, weil
sie ihm nicht ausreichende Verfligung iiber Preussen gaben (dem
hatte er nachzuhelfen verstanden), sondern um seinen Plan in
Petersburg nicht vorzeitig erkennen zu lassen, war fur Harden-
berg der Beweis feindseligster Absichten erbracht. Seit den
ersten Tagen des Juli erklarte er Riistung und Abschluss mit
Russland fiir unerlasslich und hielt an dieser Ansicht auch dann
unerschtttterlich fest, als Scharnhorst, endlich in Petersburg zu-
gelassen, von hier Anfang November nur die Wiederholung des
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Ranke, Leop. v., Denkwtirdigkeiten Hardenbergs. 85
Widerspruchs zuriickbrachte , den Alexander dem Konige be-
reits Ende Mai zugerufen hatte: Preussen moge sich Frank-
reich in keinem Falle anschliessen ; Russland jedoch werde sich
in seinen Grenzen angreifen lassen. Hardenberg beharrte bei
seiner Ansicht, selbst dann, als Scharnhorst Anfang Januar 1812
anch aus Wien mit noch leereren Handen zuriickkam, und Gneisenau
in London nicht mehr als die Zusage und Absendung von 120 Ge-
sohiitzen und 50,000 Gewehren nach Colberg zu erlangen ver-
mocht hatte. Der Konig war anderer Meinung. Er beschloss,
unter diesen Umstanden auf Widerstand zu verzichten. Am
1. Februar 1812 sendete er den Oberst Knesebeck nach Peters-
burg, die Motive dieses Entschlusses Alexander zu entwickeln.
Da Knesebeck mit Ancillon hartnackig an der Einbildung fest-
hielt, dass Napoleon den Krieg im Grande nicht wolle, dass
Alexander ihn durch einige Nachgiebigkeit vermeiden konne,
gestattete der Konig Knesebeck zugleich den Versuch, Alexander
znr Vertagung eines Krieges zu bestimmen, den er jetzt nur
nnter sehr ungunstigen Umstanden fuhren konne. Wenn Knese-
beck in seinen im hohen Alter niedergeschriebenen Erinnerungen
in Petersburg das Gegentheil von dem gethan zu haben versichert,
was ihm oblag und was er dort um so loyaler und nachdruck-
licher ausgefuhrt hat, als sein Auftrag seiner Ueberzeugung ent-
sprach, so kann fur diese Alterstauschung billigerweise doch nur
der Aufeeichner verantwortlich gemacht werden, nicht die, denen
Pietat jeden Zweifel untersagte (Denkw. IV, 307).
Nicht „unter einer Art von Zwang" (Denkw. IV, 338), unter
dem denkbar starksten Zwang ist der Vertrag vom 24. Februar
1812 zwischen Preussen und Frankreich abgeschlossen worden.
Es ist Hardenberg's Verdienst, auch nach dem Abschluss dieses
Vertrages, als sich die franzosischen Heeresmassen durch Preussen
walzten, als Napoleon den Niemen uberschritt, als er bei Boro-
dino siegte und in Moskau einzog, die Hoffnung festgehalten zu
baben, dass dennoch eine Wendung eintreten konne, wenn
Alexander nur fest bleibe und sich nicht zum Frieden bestimmen
lawe. Er knupfte Ende September eine Unterhandlung mit
Metternich an, um fur eine Eventualitat dieser Art Einverstand-
fliss zwischen Preussen und Oesterreich herzustellen. Ende Ok-
tober sicher unterrichtet, dass Alexander fest bleiben werde, liess
Friedrich Wilhelm in Wien erklaren (28. Oktober 1812): „Falls
O^terreich ihn unterstiitze, werde er nicht zogern, das System
zn wechsein und alle Krafte zu dem Versuche zusammenzunehmen,
das fremde Joch abzuschiitteln." Nicht einen Augenblick hat
Friedrich Wilhelm, wie die Denkwiirdigkeiten (IV, 344. 345. 346)
wollen, in den letzten Decembertagen des Jahres 1812 gedacht
und gehofft: die Unabhangigkeit auf friedlichem Wege durch
Vereinbarung mit Oesterreich zu erlangen. Ancillon's Denkschrift
vom 24. December geht auf den Krieg : Oesterreich miisse die
Mediation nicht anbieten sondern deklariren, seine Truppen kon-
centriren und als Bedingung vorschreiben, dass Frankreich uber
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gg Ranke, Leop. v., Denkwurdigkeiten HardenbeTgs.
den Rhein zurtickweiche. Noch deutlicher sprechen die Beschliisse
der Konferenz vom 25. December und die eigene Aufeeichnung
des Konigs vom 28. December. Sie bezeichnet Knesebeck's Hoff-
nung, den Krieg am Rhein eroffnen zu konnen, als eine chima-
rische; um dahin zu gelangen, mii88ten noch einmal 300,000
Franzosen vernichtet sein ; aber sie hat nichts als den Krieg im
Auge, wenn sie ganz richtig ausfuhrt, dass Preussen, Oesterreich
und Russland in Norddeutschland gegen Frankreich am kraftig-
sten zusammenzuwirken vermocbten ; und wenn sie es schliesslich
fur das vortheilhafteste erklart, falls Napoleon im nachsten Feld-
zug wiederum offensiv verfahre, ihm in den Riicken zu fallen —
nicht Hardenberg (Denkw. IV, 364), sondern dem Konige ge-
hort dieser Gedanke — so ist dies nicht weniger der Krieg.
Dazu stimmen dann auch die Anordnungen, die in jenen Tagen
getroffen wurden, die Armee baldmoglichst auf die Starke von
90,000 Mann zu bringen, die Berufung Scharnhorst's nach Berlin
(3. Januar) wie die gesammte Knesebeck fur Wien ertheilte
Instruktion mit dem Zusatze, welchen diese am 3. Januar 1813
erhielt: der Konig werde sich flir Russland erklaren mussen,
wenn dieses die Weichsel iiberschritte ; es wilrde ein Vortheil
ersten Ranges sein, wenn Russland und Preussen die franzosischen
Waffen bis zur Elbe zuriickdrSngten. Man wollte in Berlin
Oesterreich vorwarts treiben, um durch dessen Vorgehen gegen
Frankreich zugleich eine zu grosse Abhangigkeit von Russland
zu vermeiden. Eine starke SteDung zwischen Russland und
Frankreich einzunehmen, wie die „Denkwiirdigkeiten (IT, 364)"
meinen, daran konnte in jenen Tagen auch nicht entfernt gedacht
werden. Nicht von der Konvention von Tauroggen konnte Graf
Henkel am 2. Januar 1813 Nachmittags Nachricht bringen (sie
wurde am 30. December geschlossen, die erste Kunde war erst
zwei Tage spater in Berlin , die Konvention selbst erst am
5. Januar), sondern nur von der Absicht York's, solche zu
schliessen. Sowohl der Konig als Hardenberg haben diesen
Wink auf der Stelle benutzt, um Murat wie St. Marsan anzu-
kiindigen, dass Macdonald das preussische Korps zwei Marsche
zuriickgelassen habe, um seinen Ruckzug zu bewerkstelligen ;
York werde unter solchen Umstanden die russischen Truppen
nicht mehr zu durchbrechen vermogen. Dass York diesen Ge-
sichtspunkt nicht festgehalten, dass er in dem Schreiben, in dem
er Macdonald den Abschluss der Konvention anzeigte, gesagt
hatte: wdass die Dnterhandlungen zwischen den kriegfiihrenden
Machten tiber die endhche Bestimmung seiner Truppen ent-
scheiden wiirdenu, stimmte nicht zu dem System des Konigs:
„unter dem Schein, fur Frankreich zu riisten, gegen Frank-
reich zu riisten, mittelst der Bestimmungen der mit Frankreich
geschlossenen Vertrage selbst (Raumung des Landes nach er-
folgter Erfiillung der Verpflichtungen, die Preussen in denselben
Ubernommen) von der franzosichen AUianz frei zu werden."
Napoleon musste auf jene Worte hin Verhandlungen zwischen
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Ranie, Leop. v., Denkwiirdigkeiten Hardenberga. 87
dem Konige und Alexander voraussetzen ; er konnte mit des
Konigs Gefangennahme antworten und damit die Aktion der
Staatsregierung, die Aktion des Staates selbst lahmen. Der
Konig beschloss, die Konvention York's Russland gegeniiber an-
zunehmen, Frankreich gegeniiber zu verleugnen, und die vorgeb-
liche Absetzung York's durch Major Natzmer's Sendung vielmehr
m eber Sendung an Kaiser Alexander zu benutzen , am iiber
dessen Absichten grossere Klarheit und Sicherheit zu gewinnen
ab aus Paulucci's Schreiben an York vom 22. December und
dessen Anlage zu entnehmen waren.
Nach den „Denkwurdigkeitena (IV, 350) hat York's That
einen unversohnlichen Zwiespalt zwischen der Politik Preussens
und Napoleon's hervorgerufen. Dies ist doch durch die That-
sache zu beschranken, dass Napoleon auch nach York's That
noch bis iiber die Mitte des Februar 1813 hinaus Preussen in
seinen Banden halten zu konnen glaubte. Freilich hat er nichts
gethan, diese Bande weniger driickend zu machen. Dazu ist
ihm auch nicht eine Anwandlung gekommen, wenn man nicht
jenes wundersame Anerbieten der Verschwagerung Murat's oder
Beauharnais' mit dem Hause Hohenzollern dafiir nehmen will.
Er verstand auch in dieser grossen Krisis nur, schwereren Dienst
zu verlangen: Verstarkung der preussischen Truppen, keinerlei
Verhandlung mit Russland wegen Respektirung der Neutralitat
Schlesiens, Abbruch der diplomatischen Verbindung mit Schwe-
den. Die Ruckzahlung der preussischen Vorschusse auch nur
zur HaJfte weigerte er, wie er die Raumung der Oderfestungen
geweigert hatte. Die Lieferungsvertrage fiir die Versorgung
dieser Festungen kassirte er. „Das Holz muss gefallt werden,
wo man es findet, man muss starke Requisitionen ausschreiben,
den taglichen Bedarf mUssen die Preussen liefern, und wenn die
Preussen nicht liefern, setzen sie uns in die Lage, von ihrem
Lande Besitz zu nehmen (Korr. 11., 27. Februar)." Das war
der unversohnliche Gegensatz.
Die „Denkwiirdigkeiten" schliessen mit einem Blick auf den
Peldzug des FriihjalJs 1813 und den Kongress zu Prag, mit
eiuigen Bemerkungen iiber die Umgrenzung Frankreichs durch
die Vertrage des Jahres 1814. Ich kann mir nicht versagen,
die vergleichende Charakteristik Hardenberg's imd Stein's, welche
die „Denkwiirdigkeitenu geben, in den Hauptziigen zu wiederholen.
nWie Hardenberg war auch Stein urspriinglich dazu bestimmt,
in den Reichsbehorden zu arbeiten. Wenn der Ruhm Friedrich's
in Hardenberg friihzeitig eine Hinneigung zu Preussen hervorrief,
bo war das bei Stein in noch hoherem Masse der Fall. Per-
Bimlich waren sie doch sehr verschieden; Hardenberg war keines-
weg8 korrekt in seinem Privatleben, Stein lebte in den von
seinen Altvorderen iiberkommenen sitUichen imd rehgiosen Be-
griffen. Er mochte nicht Alles besitzen, was zur Bildung des
Jahrhunderts gehorte; er war aber ein eigenthiimlicher Geist,
ws tiefen Wurzeln emporgewachsen. Durch und durch prak-
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88 Goecke, Dr. Rudolf, Das Grossherzogthum Berg unter Joachim Murat etc.
tisch zeigte er sich zugleich immer von IdeaJen erfullt. Auch
Hardenberg verlor nie die germanische Gesammtheit aus den
Augen, in Stein's Seele schlug noch mehr ein deutsches Herz.
die sittliche Macht des deutschen Gedankens wohnte in seiner
Seele. Wenn in den Augen der Nachwelt Stein als der grossere
erscheint, so riihrt das daher, dass er sich weniger auf den ge-
wohnten Bahnen bewegte and einen moralischen Schwung besass,
der Ehrfurcht erweckte. Von Hardenberg lasst sich das nicht
•agen? aber er hatte den Schwung des politischen Gedankens
und alle die unbeugsame Zahigkeit und Unverdrossenheit , die
dazu gehort, einen solchen zu realisiren. In Stein lebte der
Impuls urspriinglicher Gedanken und Gefiihle, in Hardenberg
mehr Empfanglichkeit fur die allgemeinen Tendenzen, welche
die Welt beherrschen, die er insofern theilte, als sie seiner an-
geborenen Sinnesweise, seinen Studien und seiner Lebenserfahrung
entsprachen. Sie begegneten einander in der Opposition gegen
die nicht mehr ausreichenden Pormen der Staatsverwaltung. Stein
hatte mehr aristokratische, Hardenberg mehr demokratische Sym-
pathien. Die kraftigsten Anregungen zu einer popularen Erhebung
gegen Napoleon riihren von Stein her. Aber ohne Hardenberg
waren sie nicht zum Ziele gelangt. Die ganze G-eschicklichkeit
eines geiibten Diplomaten gehorte dazu, dem preussischen Staate
fur seine Wiedererhebung Raum zu schaffen und dabei doch die
Peindseligkeit des ubermiithigen Gegners nicht vorzeitig zu er-
wecken (IV, 131. 450—453)." Max Duncker.
xvn.
Goecke, Dr. Rudolf, Das Grossherzogthum Berg unter Joachim
Murat , Napoleon I. und Louis Napoleon 1806 — 13. gr. 8.
(100 S.) Koln 1877. Du Mont - Schauberg'sche Buchhandl.
2,80 Mark.
Der Verfasser bietet uns einen dankensworthen Beitrag zur
Geschichte der franzosischen Fremdherrschaft auf dem rochten
Rheinufer, der sich auf die Acten des Dusseldorfer Staatsarchivs
8tiitzt, aber auch von einsichtiger und geschickter Verwerthung
des gedruckten Quellenmaterials zeugt, unter dem die Memoiren
des Grafen Beugnot, des kaiserlichen Regierungscommissars im
Grossherzogthum, besonders hervortreten. Neben den ausseren
Geschickon des Grossherzogthums behandelt er in
eingehender Weise die Regierung und Verwaltung
der Fremden, die Landesvertretung und die
Stimmung der Bevolkerung.
Die Schopfung des neuen Staates und die Uebertragung der
Souverainetat iiber denselben auf den Prinzen Joachka Murat
am 23. Marz 1806 geschahen auf Grundlage jenes famosen
Schonbrunner Tractats, durch den Preussen Gleve und Wesel
und Baiern das Herzogthum Berg an Napoleon abtraten. Dazu
kam noch Deutz und Konigswinter, Siegen und eine Reihe klei-
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Goecke, Dr. Badolf, Das Grossberzogthum Berg unter Joachim Murat etc. 89
neier Gebietstheile, die der Herzog von Nassau abtreten musste.
Der Versuch des neuen Grossherzogs, der Wesel an Frankreich
hatte abgeben miissen, noch die alten Reichsabteien Werden,
Essen, Elten, die erst 1805 aus Verwaltungsriicksichten mit Cleve
Yerbunden worden, dazu zu gewinnen, scheiterte zunaehst an dem
Widerstande der Truppen Bliicbers und brachte dem unvor-
sichtigen Sch wager die Lection aus Malmaison ein: „wenn er
die ihm durch den preussischen Commissar nicht ubergebenen
Gebiete occupiren wollte, hatte er mit solcher Macht dort er-
seheinen miissen, dass zwei Bataillone sie ihm nicht abnehmen
konnten." Eine Essen -Werden- El tensche Interimsverwaitungs-
Commission, die am 23. August eingesetzt worden, loste sich
nach Ausbruch des Krieges und Besetzung Essens durch hollan-
dische Truppen auf, bis am 31. October die formliche Vereinigung
der Stifter mit dem Grossherzogthum erfolgte. Im Marz 1808
wurde, „um der Prinzessin Caroline einen angenehmen Dienst zu
erweisen" und die Verdienste ihrcs Gemahls anzuerkennen, noch
ausserdem aus der Kriegsbeute die Grafschafb Mark, der preussi-
sche Antheil von Miinster, Tecklenburg, Lingen und Dortmund
dem Grossherzogthum einverleibt. Aber noch vor der Besitz-
ergreifung dieser Gebiete war Murat von Bayonne aus die Wahl
zwischen den Kronen von Neapel und Portugal angeboten worden;
am 7. August entband der Eonig beider Sicilien seine geliebten
nod getreuen Unterthanen ihres Eides, nachdem er schon am
19. Juli seinem bergischen Finanzminister von Bareges aus ein-
gescliarft hatte, ihm die Reveniien des Grossherzogthums bis zum
1. August zu reserviren. Der Kaiser, der sich zunaehst durch
Beagnot selbst in Diisseldorf hatte huldigen lassen, iibertrug am
3. Marz 1809 die Souverainetat uber Berg an den alteren Sohn
des KoDigB von Holland, den vierjahrigen Prinzen Napoleon
Lndwig, der niemals sein Land betreten hat. Damals hatte das
Grossherzogthum seine grosste Ausdehnuug von 306 Quadrat-
meflen; 1810 und 11 verlor es iiber 60 Quadratmeilen auf Kosten
nengegchaffener franzosischer Departements, erhielt aber 1811
noch einen kleinen Zuwachs durch Recklinghausen und einen
Thetl von Diilmen.
Fiir den Grossherzog Joachim, der nur ein paar Monate des
Jahres 1806 in seinem Lande zugebracht hat , leiteten die Ver-
waltung als Finanzminister Agar, der zum Grafen von Mosburg
erhobene Vetter desselben, (der zugleich als Staatssecretair die aus-
wartigen Angelegenheiten besorgte) und als Minister des Innern
zuerst der bureaukratische Fuchsius und dann der reprasentations-
fabigere Graf Nesselrode-Reichenstein. Seitdem im August 1808
Napoleon selbst die Regierung iibernommen, liefen, so lange das
Grossherzogthum bestand, alle Faden der Verwaltung desselben
in Paris zusammen. In Diisseldorf verfuhr der kaiserl. Commissar
Beugnot nach dem Princip, „moglichst langsam zu reformiren
rad das zu conserviren, was den Einwohnern schmeichelte, ohne
der Ordnung und den Geschaften zu schaden": aber seine Ab-
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90 Goecke, Dr. Rudolf, Das Grossherzogthum Berg unter Joachim Marat etc.
sichten wurden oft durchkreuzt durch den Minister-Staatssecretair
des Grossherzogthums in Paris — an&ngs Gaudin, dann Maret,
seit 1810 Roderer — und durch den AUgewaltigen selbst, von
dem es in den Momoiren des Diisseldorfer Commissars heisst:
„Ich glaubte ihn vor mir zu sehcn, wenn ich arbeitete, einge-
schlossen in meinem Cabinet." Fur die Finanzverwaltung blieb
auch nach der Zeit Joachims, der mit Domainenverkaufen ganz
riicksichtslos vorgegangen, die Ausbeutung der Steuerzahler der
leitende Gesichtspunkt; der Kaiser wies iiber 800,000 Frcs.
Rente jahrlich seinen Giinstlingen zu. Polizei und Postweaen
scheinen vorzugsweise dem Zweck gedient zu haben, die Gegner
Napoleons in Deutschland auszuspiiren und zu iiberwachen, so
dass der Yerf. das Grossherzogthum Berg als ein „Luginsland,
einen Stimmungsmesser des noch freien Tbeils Germaniens" be-
zeichnen konnte. Die Landesvertretung, fiir deren zeit-
gemasse Umgestaltung Joachim schon am 1. September 1806 den
ritterschaftlichen und stadtischen Deputirten der iibernommeBen
Gebiete einen Entwurf hatte vorlegen lassen, wies sich bald als
hohler Schein aus : als die Abgeordneten 1807 vom Etat 100,000
Thaler absetzen wollten, wurde ihnen dieser Uebergriff ver-
wiesen und der Landtag nie wieder berufen. Ein Collegium von
Hochstbesteuerten, das nach einem Erlass Napoleons vom Marz
1812 ihn ersetzen sollte und dessen Wahlmodus ein sehr ver-
wickelter war, ist nie in Wirksamkeit getreten, Doch wurde
das Land ungefragt mit Neuerungen nach franzosischem Muster
— heilsamen, uberfliissigen und schadlichen — genugsam be-
dacht. 1808 wurde die Leibeigenschaft , 1809 das Lehnsrecbt
aufgehoben, 1810 und 11 das franzosische Gesetzbuch eingefuhrt
Das franzosische Concordat wurde auch auf das Grossherzogthum
ausgedehnt; die Neuorganisirung des Schulwesens durch fiinf
Secundarschulen mit Franzosisoh als Hauptdisciplin und einer
Universitat in Diisseldorf kam nicht zu Stande. Schwer lastete
auf dem Lande die Conscription, die nach der Rheinbundsakte
5000, schon 1811 8180 Mann verlangte, und die Continental-
sperre.
Was die Stimmung der Bevolkerung betrifft, so ist zu unter-
scheiden zwischen der wKriecherei des officiellen Volkes und dem
beredten Schweigen der Masse", speciell in den fruher preussi-
schen Gebieten zwischen den Bewohnern der Grafschaft Mark,
die nach Beugnot Prussiens enrages blieben, und denen des
Bischofslandes Miinster, die froh waren, das streng-bureaukratische
„Ketzerregiment" los zu werden. In den Adressen und An-
sprachen der Prafecten, Maires, Geistlichen etc. an Napoleon,
die Goecke mittheilt, halt allerdings die Servilitat des Inhalts
durchgangig gleichen Schritt mit der Absurditat des Ausdrucks.
Doch wagte der Unterprafect von Lingen 1808 es auszusprechen,
dass die Gegenwart eine triibe sei, dass in der Marker Brust
ein deutsches Herz schlage und sie den Tag nicht vergessen
kSnnten, wo sie „von Friedrich Wilhelm geschieden, wie Kinder
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Schmeidler, Br. W. F., Geschichte des Konigreichs GriechenlancL 91
von ihrem Vater". Anfang 1813 forderte der Maire von Dtissel-
dorf den Gemeinderath noch zu patriotischen Opfern in einem
Berichte auf, in dem es heisst: „das Interesse der Menschheit
gebent, dass mit gefliigelter Eile und verdoppelter Kraft der er-
lanchte Monarch auf den Granzen des civilisirten Europens furcht-
barer als jemals wieder erscheine !" Aber gleich nach der Schlacht
bei Leipzig sturzten rasch alle napoleonischen Staatenschopfungen.
Beugnot half noch dem Exkonig Hieronymus bei seiner Flucht
durchs Bergische, dann verliess er selbst, nachdem er alle Boote,
den Inhalt des Arsenals und was ihm „Eigenthum des Prinzen"
schien, auf das linke Rheinufer gebracht, mit den Papieren des
Grossherzogthums das Land. Am 15. November war dasselbe
yollstandig in den Handen der AUiirten. Die vormals preussi-
schen Gebiete traten sofort wieder unter preussische Verwaltung,
wahrend die iibrigen von Stein vorlaufig als General-Grouverne-
ment des Niederrheins unter Justus Gruners Leitung gestellt
warden. Die Aufforderung des Letzteren „an die bergischen
Jiinglinge und Manner zum Kampf fiir Deutschlands Freiheit"
vom 29. November fand iiberall begeisterten Widerhall, und
auch an freiwilligen patriotischen Geldopfern blieb man im bis-
herigen Grossherzogthum nicht zuriick, trotzdem die Leere der
offentlichen Kassen, „aus denen die franzosische Regierung friiher
alles Geld mitgenommen hatte", eine ausserordentliche Kriegs-
steuer von drei Millionen Francs nothig machte.
Berlin. Th. Zermelo.
xvm.
Schmeidler, Dr. W. F., Geschichte des Kfinigreichs Griechenland.
Nebst einem Ruckblick auf die Vorgeschichte. gr. 8. (IV, 324 S.)
Heidelberg 1877. Carl Winter. 8 Mk.
Die Erwartung, ein auf Beherrschung des vollstandigen ein-
heimischen und fremden Quellenmaterials und zugleich auf eigener
Beobachtung und Erfahrung beruhendes Werk in diesem Buche
zu finden, wird schon durch die Einleitung enttauscht. Der
Verfesser, der nie in Griechenland gewesen zu sein scheint, fiihrt
erne Reihe wichtiger und unbedeutender Schriften iiber die grie-
diische Geschichte des 19. Jahrhunderts an, und darunter manche,
derwi Titel er nur bei Gervinus oder anderswo gefiinden und die
ihm „nicht weiter bekannt geworden". Von hellenisch geschrie-
benen nennt er nur einige, die Brandis in seinen wMittheilungen
fiber Griechenland" vom Jahre 1842 benutzt hat, und sagt von
den spateren nur, dass sie alle iiberholt sind durch die „ Ge-
schichte der griechischen Erhebung" von Trikupis. London 1853.
Die „Ruckblicke auf die Vorgeschichte44 und die folgenden
Ahschnitte, in denen die Entstehung des neuen Konigreiches,
Konig Otto und seine Regierung bis zur Einfiihrung der Ver-
fessung, die Verfassungskampfe , das constitutionelle Konigreich
und die Regierung des Konigs Georgios bis October 1876 be-
Digitized by UOOQ IC
92 Smeta, Moritz, Geschichte der osterreichisch-ungarischen Monarchic etc.
handelt wird, bringen nun mit mehr oder minder Sorgfalt ver-
arbeitete Auszuge aus jenen Gewahrsmannern , bei denen auch
die detaillirteste Schilderung im Einzelnen nicht fur den Mangel
fester Grundanschauungen entschadigen kann. Selbstandig ist
der Verfasser nur, wo er einmal seinen Fiihrern Zweifel und
Widerspruch entgegensetzt ; aber fast immer erscheinen seine
Einwendungen nur als Raisonnements eines verstandigen Zeitungs-
lesers, sie iiberzeugen nicht unmittelbar wie die Widerlegungen
des griindlichen Sachkenners. Eine klar zusammenfassende Dar-
stellung der Geschicke Griechenlands seit der Wahl Konig
Georgs ware gewiss dankenswerth , aber Fragen gerade von
historischem Interesse, wie etwa nach den Zusammenhangen
der heutigen politischen Parteien mit denen der Periode des Auf-
standes und der Regentschaft, nach den tiefer liegenden Griinden
der wechselnden Politik der Grossmachte gegeniiber der Regierung
des Konigreichs u. dgl. m. werden in unsrer Geschichte ebenso-
wenig aufgeworfen oder ebenso ungeniigend beantwortet wie in
den gewohnlichen Zeitungscorrespondenzen.
Das Kapitel iiber die neugriechische Litteratur grundet sich
auf Brandis' Mittheilungen und einen Aufsatz im Jahrgang 1853
des wAuslandesu7 enthalt also iiber die letzten 24 Jahre gar
mchts. — Eigenthiimlich klingt die Angabe, der Verfasser habe
„nicht in Erfahrung gebracht", ob das 1870 von Konig G-eorg
angekundigte Erinnerungsdenkmal an den Unabhangigkeitakrieg
bereits errichtet sei.
Der Stil ist nicht frei von Harten und Nachlassigkeiten.
Berlin. Th. Zermelo.
XIX.
Smet8, Moritz, Geschichte der osterreichisch-ungarischen Mon-
archic, das ist Entwicklung des osterr. Staatsgebildes von
seinen ersten AnfSngen bis zu seinem gegenwSrtigen Bestande.
gn ca. 16 Lfgn. k 60 Pf.) 1.— 12. Lfrg. gr/8. (S. 1—528.)
Wien, 1877. A. Hartleben.
Zu gleicher Zeit mit dem Handbuche der osterreichischen
Geschichte von Krones, dessen erste Lieferungen in diesen Blattern
besprochen wurden, erscheint ebenfalls lieferungsweise eine Ge-
schichte der osterreichisch-ungarischen Monarchic von Smets.
Der Verfasser wendet sich mit seiner Arbeit nicht an die G-e-
lehrten und verschmahet daher jeden wissenschaftlichen Apparat,
wie Quellennachweise, Anmerkungen kritischer Art oder litterari-
sche Einleitungen , wodurch Krones die Lecture seines Buches
dem sogenannten gebildeten Leser, fur welchen dasselbe in erster
Linie bestimmt sein sollte, in nicht unbedeutender Weise be-
schwerlich und lastig macht. Das neue Unternehmen nennt sich
sdbst ein „Volksbuch", bestimmt einen spezifisch osterreichischen
Patriotismus anzufachen und den Burgern des Kaiserstaates an
der Donau durch eine getreue Schilderung des Werdeprocesses
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Smets, Moritz, Geschichte der osterreichisch-ungarischen Monarchie etc. 93
ihres Heimatsreiches zu zeigen, dass „die Zukunft desselben, die
vielfech angezweifelte , eine gesicherte sei, und zu der Hoffnung
berechtige, dass jenes Staatswesen als eine Heimstatte der Bildung
imd Cultur, der Freiheit und des Rechtes erhalten bleibe und
den innem Prieden, den seit seiner Umwandlung in einen mo-
dernen Rechts- und Verfassungsstaat verloren gegangenen, zuriick-
erhalte, urn als europaischer Mittelstaat nach seiner geographischen
Lage befahigt zu sein, wohlthatig entscheidend in die Weltange-
legenheiten einzugreifen." In einer anziehenden Darstellung der
Eesultate aller neuesten Forschungen iiber die osterreichische
Geschichte will der Verfasser, „durch fliessenden Erzahlerton
fesselnd", den Leser bis zur Gegenwart, bis zur Erneuerung des
Ausgleiches zwischen Oesterreich und Ungarn geleiten. Ob ihm
die Erreichung seines Zieles auf diesem "Wege moglich sein, ob
seine Schilderungen in der That verhindern werden, dass der
Deutsch-Oesterreicher nach dem jungen Reiche der Hohenzollern
hiniiberschaut, dass der Slave nach Osten schielt, das wollen
wir der Zukunft iiberlassen, die ersten Lieferungen werden aber
nicht gerade allzuviel dazu beitragen, da sie yon Zeiten berichten,
welche noch kein Oesterreich kannten.
Das L Buch enthalt die „Vorgeschichte unserer heutigen
Monarchie" und berichtet I. „Von der vorromischen Zeit bis
zum Untergange der Romerherrschaft im Jahre 476". II. „Von
der Niederlassung verschiedener Volkerschaften bis zum Entstehen
nationaler und christlicher Reiche (476 bis Ende des 10. Jahr-
hunderts)." Wenn hier Smets auch nicht wie Krones, mit den
prahistorischen Zeiten Europas beginnend, Abschnitte voraus-
schickt, welche schliesslich die Geschichte eines jeden europaischen
Staates einleiten konnten, so erscheint doch hier die Sclulderung
der Romerkampfe und die iibrigens recht eingehende und hiibsch
geschriebene Darstellung der Volkerwanderung wenig am Platze
zu sein, wenn dieselbe nicht etwa durch die Rucksicht auf den
Leserkreis, welchen der Verfasser bei Abfassung seines Werkes
im Auge hatte, zu entschuldigen ist. Das II. Buch giebt die
„Geschichte Deutsch-Oesterreichs, Bohmens und Ungarns" (1001
bis 1526), also wesentlich deutsche Geschichte des Mittelalters ;
bis zur Darstellung der wirklich osterreichischen Gteschichte, deren
Beginn doch kaum vor 1526 gesetzt werden dtirfte, gelangen die
ereten Lieferungen nicht.
Selbstandige Resultate eigener Forschung will der Verfasser
nicht geben, mit yollem Rechte hat er alles Gewicht bei einem
• „Volksbucheu auf die formelle Seite, auf eine gute Darstellung,
verwandt, welche ja selbst oft von bedeutenden Historikern als
nebensachlich leider nur zu sehr vernachlassigt wird. Es ist hier
ein recht lobliches Streben anzuerkennen , einen markigen Stil
xu schreiben und die Muttersprache auch moghchst von fremden
Elementen frei zu halten, doch mischt der Verfasser in seinem
Eifer nicht selten Dialectisches ein, wodurch seine Schreibweise,
zumal bei dem Norddeutschen, Anstoss erregen diirfte. Wendungen
Digitized by UOOQ IC
94 Zeitschrift der Gesellachaft ftir Schleawig-Holstein-Lauenb. Geschichte.
wie S. 4: „nach Erhalt einer Besatzung . . wurde Segeste", S. 5
„die Steuerbeamten . . p f 1 o g e n vorzugehen", S. 12 „Legion, b e i -
benamst die blitzende", S. 30 „der Hinschied (fur das Hin-
scheiden) des Augustus " und ahnliche diirften kaum Nachahmung
finden. TJnd weshalb schreibt derselbe Autor wMonarchismusu,
der fur „romanisiren" gut deutsch „verromernu bildet?
Zum Schmuck des Werkes hat die Verlagsbuchhandlung „12
kiinstlerisch ausgefuhrte Geschichtsbilder" in Holzschnitt beige-
fiigt, welche die wichtigsten Momente „der osterreichischen Ge-
schichte" vergegenwartigen sollen. Fur ein wissenschaftliches
Werk sind Abbildungen dieser Art, bei denen der Phantasie
des Kiinstlers ein ungebiirlicher Spielraum gelassen werden
muss, grundsatzlich zu verwerfen. Es diirften einzig gute Holz-
stiche nach beglaubigten Originalportraits , Darstellungen noch
vorhandener Baureste, Waffen, Miinzen oder ahnlicher Alter-
tiimer, welche dem Leser auch wirklich eine Belehrung zu Theil
werden laasen, zu empfehlen sein.
Aber trotz dieser Ausstellungen halten wir die Smotsche
Arbeit in ihrer Weise fiir recht verdienstlich und mochten die-
selbe, zumal fiir Schiiler- und Volksbibliotheken, ab ein volks-
tiimlich geschriebenes, zusammenfassendes Werk mit gutem Ge-
wissen zur Anschaffiing empfehlen.
Berlin. Ernst Fischer.
XX.
Zeitschrift der Gesellschaft fiir Schleswig - Holstein - Laueiv-
burgische Geschichte. 7. Band. gr. 8. (IV, 359 u. 80 S.) Kiel
1877. Uniyersitate-Buchhandlung. 8 M.
S. 1— 19. P. Hasse, Die Schlacht bei Bornhoved. — Von
dieser Schlacht, welche endgxiltig die Grenze zwischen Danemark
und Deutschland von Elbe und Elde an die Eider zurucksehob,
die Selbstandigkeit der Grafschaft sicher stellte und die Unab-
hangigkeit der Reichsstadt Liibeck begriindete, wissen wir aus
glaubwiirdigen Quellen wenig mehr als die Namen der handelnden
Personen und die nackte Thatsache, dass die Danen geschlagen
wurden. Fast alle Einzelnheiten, mit denen sie spater dargestellt
worden ist, sind theils unverbiirgt, theils nachweislich erfundene
Ausschmiickungen.
S. 21 — 62. P. Hasse, Ueber die Chronistik des Liibecker
Bisthums. — Dieselbe ist alle Zeit, im Gegensatze gegen die
umfassenden im Auftrage des Liibecker Bathes niedergeschriebenen '
Aufzeichnungen , eine ungemein diirftige und beschrankte, nur
dem praktischen Bediirfhiss dienende geblieben. Im Einzelnen
werden auf ihre Entstehungszeiten und auf ihr Verhaltniss zu
einander gepriift: die alteren, mit dem Jahre 1259 beginneuden
Aufzeichnungen , — die Bischofschronik und das Chronicon
Slavicum, vor 1473, — die Fortsetzung Detmars, — die im
Anfang des 16. Jahrhunderts verfasste Fortsetzung der Bischofs-
Digitized by VjOOQ IC
Zeitschrift der Gesellachaft flir Schleswig-Holstein-Lauenb. Gesehichte. 95
chronik. Den Schluss bildet der Abdruck des Eutiner Fragmentes
einer im Uebrigen verlorenen Redaktion des Chronicon Slavicum.
S. 63 — 87. G. v. Buchwald, Zwei Fragmente yon Rends-
lrarger Stadtbuchern. — Nr. 1 neun kurze Notizen, 1286 — 1421,
aus Langebeks Annales Slesv. Hols. — Nr. 2 vierzig bisher un-
bekannte Urkunden, 1426—1486.
S. 89 — 116. P. Hasse, Zu Christian I. Reise im Jahre
1474. — Die Politik und die Personlichkeit Konig Christians I.
hat einen grossartigen Zug. Indem er danach trachtete, Schweden,
die freien Bauernstaaten von der Eider bis zur Ems und die
fast selbstandigen deutschen Seestadte seiner Herrschaft zu unter-
werfen, fielen seine Ziele mit denen der zeitgenossischen Fttrsten-
politik zusammen, die nicht sowohl auf Kosten anderer Fiirsten,
ak durch Bezwingung „ungehorsamer Unterthanen" und „herren-
loser" Gebiete die landesherrliche Gewalt zu vergrossern trachtete.
In dieser Richtung traf Christian namentlich auch mit dem
Neffen seiner Gemahlin, dem Kurfiirsten Albrecht Achilles von
Brandenburg, zusammen. Dieser hatte ihm schon vorgearbeitet,
ak Christian 1474 in Deutschland erschien; er war zugegen,
als der Kaiser im Februar zu Rotenburg a. T. mit dem Danen-
konig zusammenkam, ihn zum Herzog von Holstein und Stormarn
erhob und Ditmarschen diesem Herzogthum inkorporirte ; er
fiihrte Christians Sache im kaiserlichen Rathe und bereitete das
im Sommer abgeschlossene Biindniss des Kaisers mit dem Danen
vor, wahrend dieser personlich in Rom erfolgreiche Schritte that,
am die Geistlichkeit seiner Lande streng auf die Nationalitat zu
basiren und die Secularisation in Gang zu setzen. Dass ein
markischer Ritter alsbald die Insinuation der zu Gunsten der
Krone Danemark erlassenen kaiserlichen Briefe in Holstein u. s. w.
iibernahm, geschah auf Christians Wunsch, aber gegen Albrechts
R^i, der sich als richtig erwies, da das vorzeitige Verlauten
der danischen Absichten die Ditmarschen in den Stand setzte,
sich zur Abwehr der ihnen drohenden Vergewaltigung geniigend
vorzubereiten.
S. 117— 150. A. L. J. Micheken, Nachricht von den
Holsteinischen Aemtern (Rendsburg, Kiel, Plon, Segeberg,
Stmburg, Trittau, Oldenburg) und Amtmannern im 15. und 16.
Jahrhundert u. s. w.
S. 151—160. P. Pfotenhauer, Wilkur der Bauerschaft
von Mildstedt bei Husum. 1571.
S. 161—168. P. Pfotenhauer, Jacob Mors (ein ham-
Imrgischer, urn 1582 in Schleswig-Holstein beschaftigter Gold-
schmied und Kupferstecher). Ein Beitrag zur Kunstgeschichte
von Schleswig-Holstein.
S. 169 — 194. H. Ratjen, (Biographische Notizen ilber)
Johann Christian Fabricius, Professor (der Naturwissenschaften
und der Cameralia) in Kiel von 1775—1808, und Cacilie, geb.
Ambrosius, die Freundin Klopstocks, verheirathete Fabricius
1771, verwittwet von 1808—1820-
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96 Zeitechrift der Gesollschaft ftir Schleswig-Holstein-Lauenb. Geschichte.
S. 195 — 212. H. Jellinghaus, Drei mittelniederdeutsche
geistliche Gedichte.
S. 213— 234 R. Hansen, Dithmarsische Marchen (8), in
dithmarsischer Mundart aufgezeichnet.
S. 235—279. G. Hille, Actenstiicke aus dem Grossfiirst-
lichen Archiv zur Geschichte von Holstein-Gottorp. 1. Entwnrf
des Herren von Westphalen hetreflfend die (durch den Regierungs-
antritt des in Russland lehenden Grossfursten Peter erforderte)
Einrichtung der Regierung und Administration der Holsteinischen
Erbfurstenthiimer 1745. — 2. Gedanken des Ober-Kammerherrn
von Broctorff, wie dem Herzogthum Holstein Gross - Fiirstlichen
Antheils anfzuhelfen stehe. 1755. — 2a. Commissional - Schluss
der Stadt Kiel 1711 (die Besserung des stadtischen Finanzweaens
hetreflfend). — 2b. Promemoria des Ober-Kammerherrn von
Broctorff 1755. (Empfiehlt, wie auch in Nr. 2 geschieht, durch
Bevorzugung Kiels in den russischen Hafen einen Theil dee
norddeutschen Seehandels nach Russland von Liibeck und Ham-
burg abzuziehen).
S. 281—288. C. Schirren, Kleine Nachtrage zur Kritik
alterer Holsteinischer Geschichtsquellen.
S. 289—305. G. v. Buchwald, Notizen zu den Regesta
Diplomatica Historiae Danicae.
S. 307—318. C. E. Carstens, Wolfgang Ratichius (der be-
kannte Padagoge), geb. in Wilster 1571, gest. 1635 in Erfurt
S. 321 — 325. H. Handelmann, Zur Hochackerfrage. —
Verf. warnt vor einer Verwechselung der Spuren vorgeschicht-
lichen Ackerbaus mit den Resten im Mittelalter wiist gewordener
Ortschaften und Hufen.
S. 325—331. A. Wetzel, Nachrichten von der Stadt Crempe
aus den Jahren 1720 und 1793.
S. 331 f. Der Holsteinischen Bauern (gegen die „Moscowitera
parodirtes) Vater-Unser 1713.
S. 333—336. C. E. Carstens, Bende Bendsen. Friesischer
Grammatiker und Dichter. — Geb. zu Risum 1787, lebte als
Lehrer und Magnetiseur vorzugsweise in Arreskjobing auf Arroe,
wo er 1875 starb.
S. 336—346. E. Alberti, Uebersicht der die Herzog-
thiimer Schleswig, Holstein und Lauenburg betreffenden Litterat^ir
aus dem Jahr 1876.
S. 346 — 359. Litterarische Anzeigen und Nachrichten iil>er
die Gesellschaft.
Als Anhang ist beigegeben:
Repertorien zu Schleswig -Holsteinischen Urkunden - Samm-
lungen. Zweite Reihe. 1. (S. 1—16) Archiv des Klosters Preetz.
Verzeichnet von G. v. Buchwald. — 2. (S. 17—80) Archiv der
Stadt Crempe. Verzeichnet von A. Wetzel.
Druck ron Oskar Boode In Alteuburg.
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XXI.
Freibold, Friedr., Die Lebensgeschichte der Menschheit. Kultur-
geechichtliche Forschungen und Betrachtungen. Erster Band.
Das erste Leben der Menschheit oder die sinnliche Richtung.
gr. 8. (VII, 266 S.) Jena 1876, Herm. Costenoble. 4,50 M.
Burdach'8 Wort, dass das menschliche Geschlecht ein leben-
diges Ganzes sei und gleich dem Individuum seinen Lebenslauf
habe, der in der Idee begriindet sei, sucht Freihold in dem vor-
Hegenden gedankenreichen Werke durchzufiihren. Im Anschluss
an Herder und Bunsen giebt er eine philosophische Geschichte
dfifilndividuums „Menschheit", nachdem er von vornherein gegen
die landlaufige Bezeichnung : Alterthum, Mittelalter und Neuzeit
heftig polemisirt hat. Zwar haben Pascal und Baco von Ye-
rnlam die Idee der Entwickelung der Menschheit erfasst, aber
nicht durchgefuhrt ; dies habe zwar Herder in seinen beruhmten
nldeen" gethan, aber da er sich nur im Morgenlande und im
hellenischen Kunstideale heimisch fuhlte, habe er im Chaosgewirr
der Volkerwanderung den leitenden Ariadnefaden verloren. Auch
Leasing, Goethe, Rotteck, Ehrenfeuchter und Rohmer batten den
Gedanken gefasst, den Goethe so formulirt: „Die verniinftige
Welt ist als ein grosses unsterbliches Individuum zu betrachten,
das unaufhorlich das Nothwendige bewirkt und dadurch sich
sogar iiber das Zufallige zum Herrn macht." t
Als Eintheilungsprinzip fur die Geschichte der „Personu
Menschheit nimmt der Verfasser das Doppelleben derselben, wel-
ches sich namlich als sinnliche und geistige Gestaltung
dantelle. XJnser Band hat es mit der ersten zu thun. Jene
ttmfasst das „Alterthum", diese, die noch nicht abgeschlossen ist,
beginnt „mit Jesus Ghristus, dem geistigen Erneuerer der Mensch-
heit, oder genauer bestimmt mit dem Eintreten der Germanen
in die Weltgeschichte und deren Yerbindung mit dem, einen
neuen Lebenskeim in sich tragenden Chris tenth urn". Mit
dieser Eintheilung erklaren wir uns fur ganz einverstanden. So-
dann hebt Hr. Yerfasser hervor, dass nur die arischen und se-
mitischei) Volker als bildende Elemente der Weltgeschichte ge-
wirkt haben, in ihnen also spiele sich die Geschichte , d. h. der
Fort8chritt der Menschheit ab. Als die geistbegabtesten und
eines ununterbrochenen Fortschritts allein fahigen haben die
Ersteren sich bewiesen und in Folge dessen die Weltherrschaft
errungen. Doch sollen sie die andern Volker nicht knechten,
sondern zu sich heranbilden, durch Menschlichkeit und Gesittung
veredeln.
Demgemass fixirt Freihold zunachst, den alten Sagen ge-
ma88, als Urheimath des ganzen, vielleicht aus mehreren Stamm-
paaren hervorgegangenen Menschengeschlechts Asien und be-
trachtet dann als Theil I. das erste Leben der Menschheit, oder
die sinnliche Richtung. Hier unterscheidet er: l)Sauglings-
MiUheUungcn a. d. histor. Litteratnr. VI. 7
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98 Ferk, Franz, Ueber Druidismus etc.
undKindesalter: Urbewusstsein und Sprachbildung ; kultur-
geschichtlicher Ueberblick des Zei trauma; Bildung, Gesittung and
Religion. 2) Knabenalter: Volkerstromung von Osten nach
Westen; Aegypten; die Phoniken (sic). 3) Jugend: Die Grie-
chen. 4) Mannesalter: Die Romer. 5) Auf der Hohe
des Lebens: Das Weltreich und sein Verhangniss. 6) Aus
den Tiefen der Innenwelt: Die Religion nach ihrem
Ursprung und ihrer Entwickelung. 7) Das Volk Israel.
8) Greisenalter: Die Weltlage zur Zeit Jesu Christi; Jesus
Christus als Yolksmessias und Weltbeiland; Grundwesen und
Eigenart der Lehre und Offenbarung Jesu; seine weltgeschicht-
liche Bedeutung. 9) Tod und Uebergang zu neuem
Leben: Der Keim des neuen Lebens im absterbenden alten;
Todeskampf und Untergang.
Niemand wird das Ansprechende der Grundidee dieses Werkes
verkennen. Una Modernen liegt ja die Idee eines Fortschrittes
viel naher als den „Alten" (Hr. Freihold gestatte diesmal den
Ausdruck!). Aber wir tragen doch Bedenken, jene Idee, die
man wohl als geistreiche Bemerkung gelten lassen darf , auf die
grosse ganze Menschheit zu iibertragen. Die Gefahr, manches
Volk, manche Lebenserscheinung in das Prokrustesbett des
Schemas zu zwangen, liegt allzunahe, namentlich bei den un-
bekannteren Yolkern, wie Phoniciern, Aegyptern u. a. Im Ein-
zelnen aber ist Freihold's Buch gedankenvoll und anregend.
Ueberall zeigt er Nachdenken und Studium, wenn er auch viel-
leicht lieber nicht fortwahrend Herder und Bunsen, deren Genia-
litat auch wir sehr anerkennen, hatte citiren sollen. Auch kehren
gewisse Lieblingswendungen: „tiefwahr und schon", „tiefstu wieder.
Vom Sachlichen lassen wir Einzelnes, was etwa anzufechten ware,
hier beiseite.
Berlin. Friedr. Kirchner.
XXII.
Ferk, Franz, Ueber Druidismus in Noricum, mit ROcksicht auf
die Stellung der Geschichtsforschung zur Keltenfrage. Lex. 8.
(50 S. mit 2 Tafeln.) Graz 1877, Leuschner und Lubensky in
Commission. 2 M.
Herr F. giebt in dieser Abhandlung, wie er S. 39 selbst er-
klart, im Grunde nur einen vorlaufigen Ueberblick iiber die
Resultate seiner keltischen Forschungen in Noricum, die er in
andern Publicationen ausfiihrlicher begriinden will. Er ist
zu diesen Forschungen gefiihrt durcb den rathselhaften Bronce-
wagen, der 1851 von einem Bauer in dem Dorfe Stretweg bei
Judenburg in Steiermark gefunden wurde und de^sen Figuren,
von den ersten Erklarern Pratobevera J) und Math. Koch *) als
') MittheiL d. hut. Vereins fiir Steiermark. III.
') Ueber die ilteste Bevdlkerung Oesterreichs u.Bayerns. Leipz. 1856. S. 123.
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Perk, Franz, Ueber Druidiflmus *tc. 99
Droiden und Bardeu gedeutet, den Beweis dafur liefern sollten,
dass auch die Kelten Noricums Druiden gehabt hatten. Denn
diesen Stand von vornherein und als selbstverstandlich bei alien
kel&chen Volkern anzunehmen, geht deshalb nicht an, weil die
Kdten in Spanien vor der Zeit der Romerherrschaft von Druiden
nichts wussten. — Allein der Umstand, dass die Deutungen der
angefuhrten Gelehrten keinen Ausgangspunct boten, urn die an-
deren sjrmbolischen Zeichen des Judenburger Wagens zu erklaren,
hat Herrn F. einen neuen Weg einschlagen lassen. Das eigen-
thumliche Muster in der durchbrochenen Arbeit der Wagenplatte
erinnerte ihn namlich sofort an den Grundriss des viel be-
sprochenen Sonnentempels von Stonehenge l) und liess ihn an
dem Fandorte des Wagens nach einem ahnlichen megjjdithischen
Denkmal forschen. So will er in der That auf dem Falken-
beige bei Judenburg einen Druidencirkel aufgefunden haben,
dessen Steinsetzung dem Muster der Platte genau entspreche.
Dass nun dieses Monument ein keltischer Tempel sei, will er
baldigst in einer besonderen Abhandlung iiber den Judenburger
Wagen zeigen, und dass in diesem Tempel einst Druiden ge-
waltet haben, glaubt er aus den Volksiiberlieferungen jenes
Districts erweisen zu konnen, in deren Sagen und Marchen
eine nur mit Scheu genannte religiose Genossenschaft , Truinen
oder Truit'n und ahnlich genannt, eine bedeutende Kolle spielt:
ifl diesem Namen , meint der Vf. , lebe der Name der Druiden
fort; daher der Falkenberg, auf dem jener yon dem Vf. ent-
deckte Tempel liegt, noch Trunenberg neisse, sowie auch die
Erinnerung , dass auf ihm ehemals ein Trunentempel gestanden
babe, noch nicht erloschen sei. Der reiche Sagenschatz, den
der Vf. bei Judenburg aufgespiirt, soil Gegenstand einer zweiten
Veroffentlichung des Vfs. werden. — Es liegt auf der Hand, dass
sich ein Drtheil iiber die Resultate des Vfs. nicht eher wird ab-
geben lassen , als jene beiden Arbeiten erschienen sein werden :
akdann werden Sprachforscher und Mythologen die eine Seite
der Frage zu untersuchen haben ; der andere Punct, ob der ent-
itle Druidencirkel in der That das Muster der Platte triedetgiebt,
kann nur von der weiteren LocaJforschuug festgestellt werden.
finstweilen konnen wir nur sagen, dass sich der Vf, in den ein-
leitenden Bemerkungen iiber den ganzen Stand der Keltenfrage
keineswegs frei von Keltomanie halt, obwohl er mit den exacten
keltischen Forschungen wohl bekannt ist und selbst hervorhebt,
dasB Zeuss fiir sie erst eine sichere Grundlage geschaffen habe.
Ebengo erkennt er S. 15 an, dass die comparative prahistorische
Archaologie noch auf unsicherer Grundlage ruhe ; aber was soil
nan sagen, wenn er als eins seiner Resultate ankiindigt, dass
die Kelten einst in naher Beziehung zu den Semiten und den
*) Kinkel, Mosaik zur Kirastgeschicbte, erklart dies far ein Denkmal sas
jhns^cher Zeit> das zwischen 412—72 entstaaden sei — Herr F. erklfet,
Wi seiaen Bewaisfuhrungen ganz von Stonehenge abstrahiren zu konnen.
7*
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100 Programmenflchau. Mittolalter.
Aegyptern gestanden und in ihrer Nachbarschaft gesessen haben?
Oder wenn er die Ansicht ausspricht (S. 26), die Kelten batten
sich sfchon in ihrem Ursitze am Kaukasus getrennt, def eine
Tbeil des Volkes sei nach Westen gezogen, der andere dagegen
dem Laufe des Euphrat gefolgt und lange zwischen dem todten
Meere and dem NMelta geblieben, urn dann durch Afrika nach
Westeuropa zugelangen? So glaubt er denn mit Beziebung auf
die von Plutarch (Marius 19) erzahlte Begebenheit, jene beiden
Stamme der Kelten seien in den Ambronen und Ligurern bei
Aquae Sextiae zusammengetroffen und hatten nach vielhundert-
jahriger Trennung noch treu ihre Sprache und ihren urspriing-
lichen Namen bewahrt! (S. 27. Anm.) Da ist strengste Kritik
doch sehr von Nothen!
Berlin. Edm. Meyer.
XXIII.
Programmenschau. Mittelalter.
1) Gymnasium zu Warburg. Ostern 1877. Die
Wanderungen der Westfalen im Mittelalter vom Director
Dr. Adolf Hechelmann.
Die Arbeit enthalt eine niitzliche Zusammenstellung dee
Stoffes, ohne dass jedoch darin etwas Neues geboten wird.
2) Hohere Biirgerschule zu Eilenburg. Ostern
1877. Ueber den historischen Werth der Gedichte des Er-
moldus Nigellus (Fortsetzung). Yom ord. Lehrer Otto HenkeL
Die Untersuchung kann nicht aJs eine abschliessende be-
trachtet werden, sondern mehr als eine erste Orientirung iiber
diese Frage. Vielleicht wiirde eine Schlussarbeit die Rwultate
zusammenstellen^ welche der Autor glaubt gewonnen zu haben.
3)Friedrich-Wilhelmsschulezu Stettin. Ostern
1877. Die Theilungen im Keiche der Karolinger. 1. Theil
Von 768—843. Von Dr. Carl Friedrich Meyer.
Dies Programm enthalt eine lesbare und ubersichtliche Zu-
sammenstellung des Bekannten und Feststehenden.
4) Gymnasium zu Dresden - Neustadt. Ostern
1877. Die Anfange deutschen Lebens in Nieder - Oesterreich
wahrend des 9. Jahrhunderts. Vom Professor Dr. Otto
Kaemmel.
Eine sehr tiichtige und ernste Arbeit, welche ein noch un-
bebautes Feld durchackert. Was die Deutschen nach Osten hin
auf slavidchem Boden als Colonisten geleistet haben , ist zwar
schon friiher in grossen Umrissen dargestellt, aber bis jetzt im
Einzelnen noch nicht geniigend durchforscht worden. —
Zuerst wird kurz die Eroberung des Landes besprochen,
dann werden die Namen und die Grenzen angegeben. Es wird
nachgewiesen, dass zur Zeit der karolingischen Besitznahme noch
Ueberreste einer romanischen Bevolkerung vorhanden waren und
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Programmenschau. Mittelalter. 101
dass flchon eine slavische Einwanderung stattgefunden katte.
Dieee Einwanderer gehorten wahrscheinlich zum Stammo der
1, vielleicht im Norden der Donau auch zu dem der
Die Annahmen werden durch die Namen der Oert-
bewiesen. Wir finden da alte Bekannte wieder, so
deD Flussiiamen Zaucha, der an die markische Zauche , so den
KoBmitzberg , der an die vielen Golme und Gollenberge in
Pommern und in der Mark erinnert. Das Resultat der Unter-
sachmig ist folgendes:
Als die Franken die Ostmark eroberten, stellte sie sich
als ein dunnbevolkertes Land dar, bewohnt vielleicht noch von
romanischen Resten urn die sinkenden Triimmer antiker Ca-
stelle and von neu eingewanderten Slaven , die in der Kegel
entfemt von der grossen Romerstrasse , in den Thalern der
Nebenfliisse ihre Dorfer bauten und ein kargliches Dasein
fnrteten bei Fischfang, Viehzucht und diirftigem Ackerbau,
vielleicht auch hier und da das Erz der steierischen Berge
zu bearbeiten verstanden, als ein Wild- und Waldland, aus
dem wie Inseln die Lichtungen der Menschen hervorschimmerten,
durchrauscht von dem machtigen Strome, der, lange fast nur
ein Wallgraben, jetzt zuerst eine grosse Culturstrasse werden
sollte.
Nach dieser Darstellung wird die politische Organisation,
also die Eintheilung der Ostmark angegeben. Sie war mit dem
Tranngau verbunden und der umfassenden Amtsgewalt eines
Markgrafen unterstellt. Kirchlich gehorte sie zu Passau und
Salzburg.
Zuletzt wird die Besiedelung durch Deutsche besprochen
tmd gezeigt, wie die Verhaltnisse das Vorwiegen des Grossgrund-
bedtze8 bedingten. Der Vrf. giebt an der Hand der Urkunden
tod Westen nach Osten gehend die deutschen Niederlassungen an.
Die Deutschen hielten sich im Gegensatze zu den Slaven,
vdehe die Nahe der grossen Volkerstrasse scheuten, besonders
nate an der Donau ; sie nahmen siidwarts derselben mit Vor-
licbe die Mundungsgebiete der kleinen Nebenfliisse fur sich , be-
ffl'edelten namentUch das Tullner Feld, drangen nur an der
Traisen, an der Perschling und Tulln tiefer in das Land und
bauten gem ihr germanisches Bauernhaus im Schatten altromi-
scher Castelle. Jenseits des Wiener Waldes wagten sie so wenig
wie ihre slavischen Vorganger sich in die schutzlose Ebene hin-
AQ8, hielten sich vielmehr am Rande des Gebirges und am Ufer
der breitstromenden Donau und folgten auch hier mit Vorliebe
den Spuren des alten Herrenvolkes. Noch weniger sind sie
nordlich des Stromes in's Binnenland gedrungen, welches noch
das Baummeer des Nordwaldes in unermesslicher Ausdehnung
erffillte. Die hier gegriindeten Orte stehen offenbar an ZaU
und Bedeutung weit hinter denen siidlich der Donau zuriick.
Dies Land verloron die Deutschen durch die vernichtende
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102 .„«■., Pro^rammenschan. Mittelalter.
Niederlage des Jahres 907 an die Magyaren und erwarben es
erst wieder nach der glorreichen Schlacht auf dem Lechfelde.
5) Biirgerschulo zu Eisleben. Osternl877. Die
gauorbschaftliche Voigtei Dorla, Dorla und Langula vor dem
Hainich, vom ordentlichen Lehrer Dr. Herwig.
Diese Dorfer liegen bei Miihlhausen. Zunachst berichtet
der Vrf. iiber die Urkunden dieses kleinen Gebietes, dann er-
klart er den Namon Dorla, bespricht Ueberreste heidniscber Ge-
brauche und behandelt zuletzt das Geschichtliche.
6) Neustadt-Dresden. Realschule I. 0. Ostern
1877. Die Sachsenkriege Heinrichs IV. Nach den Quellen
dargestellt von Oberlebrer Dr. Fr. W. Gotthelf Winkler.
Die Arbeit soil fortgesetzt werden: Sie giebt in gewandter
Darstellung Bekanntes, nimmt jedoch entschieden Partei fiir Hein-.
rich IV. und stellt Heinrich III weniger hoch, als es gewohnlich
geschieht.
7) St adtgymnasium zu Halle a. S. Ostern 1877.
Ausbreitung der Hirschauer Regel durch die Kloster Deutsch-
lands. Von Dr. Paul Giseke.
Unter Heinrich III. waren die Bischofe die vorziiglichsten
Stiitzen der kaiserlichen Macht. Als nun Gregor VIL mit Hein-
rich IV. in Kampf gerieth, da musste er nach einem Gegen-
gewicht gegen die Bischofe suchen und er fand dies in den
Monchen. Besonders von dem Kloster Clugny aus waren jene
Ideen verbreitet worden, auf welche Gregor VH. sich stiitzte.
Die Cluniacenser machten nun Schwaben zum Mittelpuncte der
Bestrebungen , welche sie auf Deutschland richteten. Kloster
Hirschau und St. Blasien im Schwarzwalde wurden nach der
strengen Regel Clunys eingerichtet. In dem erstgenannten Kloster
stellte Abt Wilhelm die Regel fest, welche fortan in den refor-
mirten deutschen Stiftern gelten sollte. Von da aus verbreitete
sie sich iiber Ober- und Mitteldeutschland. Die reformirten
Kloster traten zu dem Mutterkloster in oin dreifaches Ver-
haltniss. Am engsten schlossen sich an dasselbe die Priorate
an, welche sich in vollstandigster Abhangigkeit befanden. Es
darf kein Prior ausser vom Mutterkloster eingesetzt werden,
kein Converse darf eintreten ausser mit dem WiUen des Abtes
und empfangt, wenn er Monch wird, Consecration und Benedic-
tion meist nur vom Abte, zu dem er sich in das Mutterkloster
begeben muss; alle grosseren Geschafte des Priorates, wie Ver-
tausch von Giitern, Ausgabe von Lehen liegen in seiner Hand.
Die Monche dieser Priorate werden als ganz der Congregation
des Mutterklosters zugehorig bctrachtet. Eine zweite Klasse
bilden diejenigen Kloster, welche ausser dem Abto des Mutter-
klosters noth einen eigenen Abt haben. Auch die Monche dieser
Stifter werden in Allem, sowohl im Leben als im Tode, be-
trachtet, als waren sie im Mutterkloster eingetreten. Jedoch ist
die Stellung dieser Kloster eine viel unabhangigere als die der
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Programmenschatu Mittelalter. 103
Priorate, indem ihr Abt in der Verwaltung der Giiter und
der inneren Verhaltnisse selbstandig ist. Dem Abt des Mutter-
klojtere ist er aber zum Gehorsam verpflichtet. In diesen
Klostern hatte der Abt von Hirschau noch einen sehr grossen
Enfhras auf die Abtwahl oder sogar das Recht, ihn ein-
ond abzusetzen, wenn die Briider auch einen Wunsch geltend
machen konnten, z. 8. in St Georgen, Petershausen , Usen-
hofen, Zwifalten. In letzterem Kloster wahlten nach dem
Tode Noggers die 3 Aebte von Blaubeuern, Hirschau und
Weingarten. Dass diese Kloster sich von der Bevormundung
frei zn machen suchten , zeigt das Streben der moisten , sich
Sdratzbriefe vom Stuhl Petri zu erwirken, in denen ihnen eine
frrie Abtwahl verbrieft wird. Die dritte Art der Hirschauer
Kloster sind diejenigen , welche nur die reformirte Kegel haben,
aber ausserlich in keinem Yerhaltniss zu Hirschau stehen. Der
Pnterschied zwischen diesen und den vorhergehenden Klostern
trat ausserlich dadurch hervor, dass ihre Monche keinen Zutritt
zum Capitel hatten, wenn sie nach dem Mutterkloster kamen,
wahrend es den Briidern jener gestattet war. —
Ausserdem sihd einzelne Kloster noch durch das Verhaltniss
der Fraternitat vereinigt, welche alle Theilnehmer an dem Ver-
dieiut der guten*Thaten, Gebete und Almosen, die in einem der
zugehorigen Kloster geschehen, Theil haben lasst. Stirbt ein
Monch, so wird fur das Heil seiner Seele in alien zu der Fra-
ternitat gehorigen Klostern eine Messo gelesen. Diese Monche
zeichneten sich durch ihre Tracht, ihr abgeharmtes Aus-
sehen und dadurch aus, dass sie die heidnischen Studien ver-
achteten und nur christliche Schriftsteller lasen.
Gregor VH. unterstiitzte die Monche in ihrem Ungehorsam
gegen die Bischofe und Fiirsten, welche nicht seiner Partei an-
gehorten.
Der Ftihrer dieser Congregation Wilhelm starb im Jahre
1091. Diese selbst behielt ihre Bedeutung bis zum Wormser
Cwioordat im Jahre 1122, dann verlor sie an Kraft und wurde
dnrci andere Orden, z. B. den der Pramonstratenser, ersetzt.
8) Williram, Abt zu Ebersberg in Oberbaiern.
Von Dr. Heinrich Reichau in Magdeburg. Es fehlt dieser
wi8senschaftlichen Beilage die Programmnummer, die Bezeich-
nung der Anstalt und das Datum.
Die Arbeit ist eine wesentlich litterarhistorische , denn sie
bandelt meist von den Schriften Willirams. Trotzdem aber wird
ae der Historiker mit Interesse lesen, da sie eine wenig be-
kannte, aus sparlichen Ueberreston schwer wiederherzustellende
Epoche der deutschen Geistesentwickelung beleuchtet. Williram
ist namlich einer von den Geistlichen, der in milder und ver-
sohnlicher Weise, ohne ascetisch zu sein, deutsche Bildung im
Anflehlus8 an die classische und ebenso eine Reform des Lebens
der Geistlichkeit im deutbch - nationalen Sinne befordern wilL
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104 Programmenschau. Mittelalter.
Diese geistige Stromung wurde leider durch die Hirschauer Con-
gregation beseitigt, von der soeben gesprochen ist.
9) Hohere Biirgerschule zu Freiburg i. Schle-
sien. Ostern 1877. Friedrich Barbarossa in seiner Be-
ziehung zu Polen. Thl. I. Von Dr. Gerhard Kriiger.
Die Nachrichten iiber die Beziehungen Friedrich Barba-
rossas zu Polen sind sehr durftig, weil die meisten Geschichts-
schreiber dieser Zeit dem westhchen Deutschland angehorten
und weder Interesse noch Verstandniss fur die slavischen Ver-
haltnisse batten. Und doch hat Friedrich B. zum letzten Mai
die polnischen Herzoge zu einer scheinbaren Anerkennung der
deutschen Oberlehnshoheit gezwungen und den Anlass zur Ger-
manisirung des damals noch ganz slavischen Schlesiens gegeben.
Friedrich benutzte einen Zwist der polnischen Fursten und
fiihrte im Sommer 1157 seinen Schiitzling, den vertriebenen
Polenfursten Wladislaw II., mit Heeresmacht nach Polen zuriick.
Diesen Zug bespricht der Vr£ und zeigt, class er eigentlich resul-
tatlos verlief.
10) Hohere Biirgerschule zu Lauenburg a.d. Elbe. J
Ostern 1877. Dr. Carl Giinther : Die Chronik der Magde- J
burger Erzbischofe. 2. Thl. 1142—1371. i
Die Einleitung stellt in kurzen Ziigen die wichtige Stellung j
dar, welche Magdeburg einnahm, doch fallt die Geschichte der
Stadt nicht ganz mit der des Erzbisthums zusammcu. Daraus
erklart es sich, dass zwei Chroniken entstanden sind : eine Mag-
deburger Schoppenchronik, welche niederdeutsch geschrieben ist,
und eine in lateinischer Sprache abgefiasste Chronik der Magde-
burger Erzbischofe. Diese ist von verschiedenen Autoren zu-
sammengestellt. Die vorliegende Abhandlung behandelt den Ab-
schnitt, welcher die Jahre 1142 — 1371 enthalt.
11) Gymnasium zu Brieg. Ostern 1877. Die Zu-
sammenkunft Kaiser Carls IV. und Carls V. von Frankreich
im Jahre 1378. Von Dr. Paul Scholz.
Bekanntlich standen die Luxemburger in gutem Einver-
nehmen mit den Valois. Der alte Kaiser Carl IV. machte sich
deswegen personlich nach Paris auf, um mit Carl V. in Sacheo
der Verheirathung Sigismunds zu verhandeln. Die Reise des
Kaisers, die Aufnahme desselben in Frankreich und die Ver-
handlungen werden nach den Angaben der Zeitgenossen hochst
interessant geschildert.
12) Progymnasium zu Schlawe. Ostern 1877.
Einiges zur Geschichte der Stadt Schlawe bis zur Zerstorung
des Schlosses Alt-Schlawe im Jahre 1402, mit 19 Urkunden
aus den Jahren 1358—1411. Thl. III. Vom Rector Dr. Jo-
hannes Becker.
Ein friiherer Theil dieser Arbeit ist von uns schon angezeigt
worden. — Schlawe wurde 1317 eine deutsche Stadt und erwarb
in den ersten 40 Jahren ihres Bestehens als solche etwas iiber
1 Quadratmeile Grundbesitz, auch bfachte sie mehrere landes-
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Programmenschau. Mittelalter. J05
herrliche Rechte an sich, doch gerieth sie in mancherlei Geld-
verlegenheiten.
Afle diese kleinen und engen Beziehungen haben nur Werth
far die SpeciaJgeschichte , doch wollen wir aus der Abhandlung
mid den Urkunden Einiges herausheben , was allgemein interes-
ant ist
Es ist bekannt, dass das altmarkische Geschlecht der Wedeli
als Pioniere der Civilisation in die Neumark und die Waldwusten
der Pommer8chen Seenplatte vordrang und dort grosse Be-
sitzungen erwarb. Diese Familie war im Jahre 1388 so
machtig, dass sie dem deutschen Orden genau so viel Truppen
stellen konnte, als die Stettiner Herzoge, namlich 100 voll-
gerustete Ritter und Knechte, ebenso viel Schutzen mit Panzern,
Esenhauben und Armbrusten versehen und 400 Pferde.
An die Thaten der Quitzows erinnert folgendor Vorgang.
Im Jahre 1388 nahm Eckard v. d. Walde den Herzog von Gel-
dern gefongen, obgleich dieser einen Kreuzzug nach Preussen
untemahm und liess ihn erst nach ernster Strafe frei.
Aus den Urkunden ersehen wir, dass Adel und Burger schon
Familiennamen fiihren, die Bauern noch nicht ; so uberlassen die
consoles civitatis Slaw honesto viro Johanni, nostro sculteto
in Beverdorp etc.
Von bekannten Familien treffen wir die: greven van Eversten,
heren tu Nowgarde, die van der Osten, die Glasenap, Rexin,
Below und die Natzemer. Ob die Familiennamen der Burger
schon ganz fest geblieben sind, scheint doch etwas zweifelhaft,
denn S. 15 Urk. 38 entsagt ein gewisser Vorguske (mid mynen
rechten erfhamen) aller Rache fur seihen getodteten Vaterbruder :
Symon Vensken.
Einige Namen von untergegangenen Adelsfemilien erinnern
lebhaft an slavische Orte in andern Gegenden, so kommt ein
CosBebode (Cossebauda bei Dresden) vor, so ein von Nemetzc
(Pesutscher), welches Wort im Familiennamen Niemetz, im Stadte-
namen Nimptsch immer den Deutschen bezeichnet, den der Slave
nicht versteht.
13) Gymnasium zu Diiren. Ostorn 1877. Konig
Wenzel und die romische Curie. 1. Theil von Dr. Franz Voiss.
Dass die Absetzung Wenzels durch sein Verhalten zur Curie
mit herbeigefuhrt ist, das ist bekannt und oft ausgesprochen ;
weniger bekannt ist es, dass das Streben der Wittelsbacher in
der Pfalz, die Krone zu erwerben, schon langere Zeit rege her-
vortrat, ehe es 1400 zu dem Resultate fiihrte, dass Ruprecht
gewahlt wurde. Der Verf. weist nun recht eingehend Jahr fur Jahr
nach, wie sich die Pfalzer zu den Papsten und wie sich Wenzel
zu beiden stellte. Ferner zeigt er , wie die Frage der Stadte-
bSndnis8e und des Landfriedens in jedem Jahre fast eine andere
Physiognomie zeigte: Bald neigt sich Wenzel zu den Stadten,
bald zu den Fiirsten in une<Uer, erbarmlicher Schwache. Diese
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106 Sickel, Prof. Dr. Th., Ueber Ksisenirknnden in der Schweiz.
Velleitaten des Kaisers weist er in belehrender Ausfuhrlichkeit
bis zum Jahre 1390 nach.
14) Gymnasium zu Salzwedel. Ostern 1877.
Die Politik der Hohenzollern bei den deutschen Kaiserwahlen
von Dr. Emil Walter.
Eine ganz niitzliche Arbeit, die auf fleissiger Benutzung der
besten secundaren Quellen beruht.
Berlin. Fobs.
XXIV.
Sickel , Prof. Dr. Th. , Ueber Kaieerurkunden In der Schweiz*
Ein Reisebericht. 8. (VII u. 103 S.) Zurich 1877, S. Hohr.
2,25 M.
Der rfihmlichst bekannte Verf. besuchte im Herbste des
Jahres 1876 von Wien aus eine Anzahl schweizerischer Archive
und Bibliotheken in der Absicht, das in ihnen befindliche Material
fur die Herausgabe der Kaiserurkunden von 911 — 1002 kennen
zu lernen und zu sammeln. Es gescbah das im Interesse der
Monumenta Germaniae. Der Bericht fiber seine Reise liegt una
in diesem Werkchen vor. Er hat denselben wesentlich zu dem
Zwecke veroffentlicht, damit die Geschichtsforscher in der Schweiz
angeregt wiirden, auch ihrerseits das Untemehmen zu fdrdern.
Zunachst erstattet der Verf. Bericht iiber das St. Galler Stifls-
archiv. Natfirlich konnen wir hier nicht alle Details der Unter-
suchung wiedergeben, sondern wollen nur einige wesentliche Re-
sultate hervorheben.
Um das Jahr 817 war^das Kloster des hi. Martin zu Tours
die Pflanzstatte fur die Kanzlei des Kaisers. Als man spater
die Kanzleien der Sohne Ludwigs d. F. bildete, lieferte dasselbe
Stift das untergeordnete Personal. Spater traten in der Kanzlei
Ludwigs des Deutschen Monche aus dem Kloster Weissenburg
an ihre Stelle. Mit Salomon folgte im Jahre 885 auf diese ein
Schiiler von St. Gallen. Das oberdeutsche Element blieb in der
Koniglichen Kanzlei bis auf Otto I. vorherrschend. Erst als 910
Ottos L Bruder, der beriihmte Coiner Bischof Bruno , Kanzler
wurde, da traten Lothringer in die Stellen der Dictatoren und
Scriptoren ein.
Darauf mustert der Verf. die Grundsatze, nach denen man
bisher die Echtheit der Diplome beurtheilt hat. Er kommt zu
dem Resultate, dass man falsche Annahmen gemacht und viel zu
viel Diplome fur unecht erklart hat. S. 7 u. 8. sq.
Darauf handelt der Verf. von dem St Galler Cantonai-
archiv, in dem er nur das 1838 einverleibte Pfavers'sche Kloster-
arohiv zu benutzen hatte. Das 3. Archiv ist das bisohofliohe
in Chur, dessen Schioksale sehr wechselvolle waren ; das 4. Archiv,
fiber welches berichtet wird, ist das von Kloster Disentis, das
5. das Staatsarchiv in Luzern, das 6. das in Bern, das 7. das
Cantonalarohiv in Lausanne. In diesem Berichte bemerken wir
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Mannhcimer, Moses, Die Judenverfolgungen in Speyer, Wonns etc. 107
als bewilders wichtig die Polemik gegen Stumpf (S. 65), welche
das Kanzleiwesen betrifft und mit jener oben erwahnten Aus-
einandersetzung (S. 7 u. 8 sq.) zusammengebort. Nr. 8 behandelt
dann das Cantonalarohiv in Schaffhausen, Nr. 9 das Archiv von
Hoeier Einsiedeln.
Der Verf. hat mehr als 80 Diplome angesehen and aus
dieser Umschau, wie er behauptet, Vieles gelernt, wodurch
frfihere Anschauungen berichtigt und verbessert worden sind.
Berlin. Fosb.
XXV.
iwwheimer, Moses, Die Judenverfolgungen in Speyer, Worms
und Mainz im Jahre 1096 wShrend des ersten Kreuzzuges. —
Aus einem in der Grossherzogl. Hofbibliothek zu Darmstadt
befindlichen alten hebraischeu Manuscripte iibertragen und mit
kistorisch-kritischen Anmerkungen begleitet. gr. 8. (32 S.)
Darmstadt 1877, Literarisch-artistische Anstalt. 0,50 M.
Die vorliegende Schrift lenkt unsere Aufinerksamkeit zuriick
aof eine Erscheinung ebenso schrecklicher als tiefbetrtibender
Art in der Vergangenheit , auf die Verfolgungen und Leiden,
welche die Juden einst von Seiten der Christen zu erdulden ge-
faabt haben. Dr. Graetz in seiner „Geschichte der Israeliten",
William Edward Hartpolo Lecky in seinem Werke: „Geschichte
des Ursprunges und Einflusses der Aufklarung in Europa" und
andere in der Brochure genannte Historiker haben die Unge-
rechtigkeiten und Qualen, denen diess Yolk fast in alien Landern,
seit Antiochus Epiphanes, von Heiden und Christen bis an das
Zeitalter der Reformation, die auch in dieser Beziehung eine
segensreiche Wandlung in den Anschauungen der Christen hervor-
brachte, ausgesetzt gewesen ist, im Einzelnen und im Allgemeinen
geschildert Es ist ja bekannt genug , welche Verfolgungen sie
im byzantinischen Reiche wahrend des 8. saec, insbesondere zur
Z«it des Faustrechts und des durch die Kreuzziige in Europa
aogefechten Fanatismus zu erdulden hatten, wie man Liigen von
ennordeten christlichen Knaben, Brunnenvergiftungen u. dgl.
wider sie ersann, um Raub und Mord an ihnen scheinbar zu
rechtfertigen. Die vorliegende Brochure erzahlt nun ausfuhrlich
die Grauel, welche in dem genannten Jahre insbesondere in den
3 rhemischen Stadten gegen sie ausgeiibt wurden, und von denen
bisher nfihere Details weniger bekannt waren, mit Ausnahme
einer einzigen Quelle, „Kouteros tatnu, Bench t uber die Leiden
des Jahres 1096" von Elieser b. Nathan Halevi aus Coin. Dieser
Berioht findet Bestatigung und Erweiterung durch das im Besitz
der Grossherzoglichen Hofbibliothek zu Darmstadt befindliche
hebraische Manuscript, welches Mannheimer, soweit es diese
Dinge behandelt, ubersetzt und mit erlauternden Anmerkungen
versehen hat
Es ist selbstverstandlich , class das Schriftohen , zuerst im
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108 Mannheimer, Moses, Die Judenverfolgungen in Speyer, Worms etc,
Mai 1876 in der Allg. Zeitung des Judentliums , herausgegeben
von Rabbinor Dr. L. Philippson in Bonn, erschienen, bei den
Geschichtsforschern iiberhaupt, namentlich aber in jiidisohen
Kreisen ein grosses Interesse erregte. In drastischen Zugen
wird uns berichtet, wie die „Irrenden" (so iibersetzt Mannheimer
das Wort D*tfnrtt „die herumirrenden , vagabondirenden , fanati-
sirten , in irrigen Ansiohten befangenen" Kreuzfahrer) iiberall in
den Stadten am Rhein, die sie durchzogen, die 0*?^? (Stadt-
bewohner , Stadter) gegen die Juden , und zwar namentlich in
den Stadten Speyer, Worms und Mainz aufreizten und entsetz-
licbe Grauelscenen herbeifuhrten, in denen Tausende von Juden,
Manner, Weiber und Kinder, mit Spiessen erstochen, oder, in
Hausern zusammengetrieben , zur Taufe gezwungen, im Weige-
rungsfalle verbrannt wurden, wie Andere, um sich selbst und
ihre Kinder vor der Zwangstaufe zu schutzen, lieber den Tod
wahlten.
Man kann diese Martergeschichten nicht lesen ohne tieien
Schmerz und hohe Entriistung. Wie konnte es doch gescheheD,
dass die Religion des Erlosers, der in seinem Evangelium der
Welt den Frieden bringen wollte, der in jedem Worte die Liebe,
die Versohnung predigte, solche Grauel hervorbrachte ? — Und
es ist auch sehr erklirlich, dass das Wachrufen dieser einst vod
Christen an Juden veriibten Schandthaten gerade in der gegen-
wartigen Zeit , deren Bestreben dahingeht , das Judenthum mit
seinem Monotheismus hoch zu heben fiber das vielfaoh angefein-
dete Christenthum , nicht nur in der jiidisohen Presse, sondern
auch vom christlichen, dem Judenthum holden und ihm sohmei-
chelnden Liberalismus fur seine Zwecke ausgebeutet werden wird.
Geht doch auch durch die ganze Darstellung so des alten Ver-
fassers jenes Manuscriptee wie seines neuen Uebersetzers unver-
kennbar das Streben hindurch, die Juden als Martyrer fur ihren
Glauben hinzustellen. Zwar wir verkennen die Glaubensstarke
und den todverachtenden Muth in solchem Martyrium nicht, and
sind entfernt davont ihm, soweit sichs gebiihrt, eine gewisse
Anerkennung zu zollen, abier wir konnen doch auch andere Gc-
danken, die sich uns dabei aufdrangen, nicht zuruckhalten.
Sind es denn allein die Juden gewesen, gegen die der Fana-
tismus in jenen rohen, barbarischen Zeiten sich wandte ? Haben
nicht auch Christen gegen Christen, Katholiken gegen evaoge-
lische Briider gleichen Glaubenshass und gleiche Grausamkeiten
in noch weit grosserem Umfang geiibt? Ist denn nicht die Ge-
schichte der Christenverfolgungen durch die heidnischen Kaiser
in den ersten christlichen Jahrhunderten, in den Zeiten vor und
nach der Reformation noch unendlioh reicher an Beeeugungen
eines begeisterungsvollen Heldenmuthes , einer Todesverachtung.
einer Standhaftigkeit unter den gratisamsten Foltern, einer Be-
kenntnissfreudigkeit , wo es sich um das Zeugniss fiir Christum
und das Festhalten an seinem Evangelium handelte, die ebenso-
sehr zur hochsten Bewunderung, wie zum tiefsten Schmerze uns
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ffiwch, Siegfr., Jahrbucher des Deutschen Reiches unter Heinrich II. 109
anffordert? Und was speciell die in unserer Brochure berich-
teteo Grauelscenen in den 3 rheinischen St&dten im Jahre 1096
betrifft , so tergesse man doch nicht, dass es wiiste and rohe
Pobelhaufen waren , von denen sie veriibt wiirden , wahrend die
Martyrer der evangelischen Kirche ihre Foltern, ihre Hinrich-
tangen, ihje Vertreibungen von Haus tmd Vaterland von den
hochstgestellten Personen, von Kaisern und Konigen, Papsten und
fiischofen haben erdulden miissen, und dass sie dieselben in acht-
christlicher Demuth erduldeten, nicht Martyrium suchend, oder
gar sich selber entleibend, oder ihre Kinder erwiirgend, wie von
Rabbi Meschullam (p. 18) oder von „zartlichen" Muttern (p. 25)
enahlt wird, oder den eigenen Tod durch tuckisch iiberraschen-
den Mord ihrer Feinde provocirend (p. 19), oder sich selbst unter
einander dahinschlachtend (p. 20). Man vergesse ferner nicht,
im der Verfasser des Manuscripts von den christlichen Geist-
lichen in Speyer (p. 14, 15) und Mainz (p. 20) berichtet, dass
diese den Juden Beistand geleistet haben gegen die rohen
Pobelhaufen , Vielen wirkliche Rettung bringend , bei Andern
wenigstens es versuchend.
Berlin. Dr. Krttger.
XXVI.
Hirtch , Siegfr., Jahrbucher des Deutschen Reiches unter
Heinrich II. Dritter Band. Herausgegeben und voll-
endet von Harry Bresslau. gr. 8. (X, 417 S.) Leipzig
1875, Dnncker und Humblot. 9 M.
Schon der Titel zeigt, dass wir es hier nicht mit dem Werk
eines Einzelnen zu thun haben: der Herausgeber und Vollender
der Hirsch'schen Jahrbucher berichtet ausserdem in der Vorrede,
daa8 vor ihm noch R Usinger und H. Pabst an dem Buche ge-
arbeitet. Diese Vorarbeiten gehorig zu benutzen war keine
leiehte Aufgabe — der Pietat. Von dem Herausgeber stammt
let Text von S. 141—306, die Excurse bis auf Nr. 2 und ein
sorgfiltiges Register fur sammtliche drei Bande. Br. sagt, er
tabe das Werk so zu gestalten gestrebt , wie es S. Hirsch ver-
mothlich selbst gestaltet haben wiirde, und hat demgemass an
der Form der Jahrbucher im ganzen festgehalten. Gewiss nicht
ohne Entsagung : denn wie niitzlich es auch sein mag, die Ereig-
nisse eines Jahres in streng chronologischer Folge bis in die
Ueinsten Details hinein kennen zu lernen, — wenn die Historio-
graphie wirklich eine Kunst ist, wie L. v. Ranke* der Urheber
der nJahrbucher" will, so besteht die Kunst hier nur darin, fiir
die auseinanderliegenden und verschiedenartigen Materien eine
Verknlipfiing zu finden. Von Ost nach West, von Slid nach
Nord, wieder zuriick und hin und her den Blick richten zu
imisgen, bald mit einer wichtigen Reichsangelegenheit nur sehr
'ntf2 — wegen spSrUchen Materials — bekannt gemacht zu
verden, bald iiber eine ziemlich gleichgiiltige Klostersache des
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110 Hirsch, Siegfr., Jahrbucher des Deutschen Reiches inter Heinrich II.
ausfiihrlichen belehrt zu warden, das ist nioht nach jedermsnns
Geschmack und wird nur dem Freude machen, der allein in
Genauigkeit und diplomatische Treue das Ideal der Geschichts-
schreibung setzt Das aber muss zugestanden warden > class Br.
als ein durchaus ebenbiirtiger neben S. Hirsch tritt, den er oft
genug, wenn auch mit sichtlicber Pietat, corrigirt. Dieselbe
Akribie zeigt sich — ja fast noch eine erhohtere — in dem
von Br. selbstandig gearbeiteten Theile des Buches, und wenn
an dem oder jenem Punkte noch speciellere Detailforscher sicker-
licb etwas auszusetzen finden werden, der in den Anmerkungen
und Excursen bewiesene Fleiss ist geradezu riihmlich.
Nur ungern unterzieht sich Ref. der miihseligen und weaig
dankbaren Aufgabe, grade den Gang eines solchen Jahrbuches
kurz anzudeuten: es soil dabei liber einige Excurse etwas am-
fiihrlicher gesprochen werden und iiber den Theil der Arbeit,
welcher nach der Erinnerung des Ref. am moisten, und nach
seiner Ansicht, grade mit Unrecht angegriffen worden ist.
Die Eigenart des Buches mehrerer Yerfasser zeigt sich too
ihrer iiblen Seite schon auf pag. 1. Hirsch sagt: „Das einzige
deutsche Geschaft, davou wir aus den Monaten des Romerzuges
Kunde haben, ruft uns gleich in den bekannten Gedankenkreis
zuriick. Es ist die Unterwerfung von Kloster Schwarzach in der
Ortenau unter das Bisthum Strassburg. Nicht der Erfolg der
Massregel macht dicemal ibfre Bedeutung was dieser
Schenkung Heinrichs Bedeutung giebt, ist vielmehr das Wort,
mit dem sie eingfeleitet wird." Dazu bemerkt Br. zunachst dass
dies Geschaft nicht das einzige aus diesem Zeitraume bekaante
ist, und erklart in einer zweiten Note die Schenkungsurkunde,
Stumpf Nr. 1590, aus der Hirsch folgert, fiir eine Falschung
Wir werden solche Inconvenienzen, wo sie von Belang sind, nod
mehrfach hervorheben miissen. Dann handelt H. zunachst von
Yerleihungen an Quedlinburg und der Beraubung Memlebena. In
dem Verfahren gegen diesen den Ottonen so theuren Ort, welchem
auch Heinrich H. in seinem ersten Regierungsjahr aile seine
Rechte und Besitzungen bestatigt hatte, findet H. die Gewahr,
„dass das sachsische Haus freilich noch da, aber seine wesent-
liche Epoche (?) voriiber" gewesen. Ebenso willkiirlich, wie mit
Memleben, verfuhr Heinrich mit Corvey ; auch gegen diese Abtei
„fuhrt er einen jener Schlage, wie sie grade den reichsten und
ehedem jneistverehrten klosterlichen Sitzen des Reiches zugedacht
waren". Ohne Zweifel war bei dem Vorgang bischofliche Eifer-
sucht — Meinwerk's im Spiel.
Der Vert wendet sich nun vermittelflt eines seiner kunst-
vollen oder kiinstlichen Uebergange zu den polnischen Dingen.
Der Bearbeiter befand sich hier wiederum in der Lage, mit dem
Texte semes Autors nicht ganz einverstanden zu sein, zumal seit
Abfassung desselben iiber einige der beriihrten Ereignisse
wiederholt gehandelt worden. Er erortert daher im ersten
Excurs die Ghronologie des Polenkrieges genauer. Die Aus-
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ffiracb, Siegfir., Jahrbflcher des Deutschen Reichea nnter Heiurich II. HI
lieferung Miecyslav's setzt H. — wie auch Pabst und Cohn —
in den April oder Mai des Jahres 1015; Br. entscheidet sich fur
1014, die Angabe der Quedlinburger Annaien, weil diese den
Vorgang in die Mitte zwischen zwei Ereignisse setzen, die ohne
Frage in das Jahr 1014 gehoren. Dem gegeniiber ist es denn
iikel, wenn wir S. 14 vom Jahr 1014 lesen: „Miecyslav ward
nicht freigegeben." Eine ahnliche Unzutraglichkeit ergiebt sich
S. 25. Wahrend H. es aus Heinrichs Regierungsprincipien er-
klaren will, dass Wiirzburg das Herzogthum Ostfranken erhalt,
weist Br. unterhalb des pietatvoll geschonten Textes darauf hin,
dass die altesten auf den Gegenstand beziiglichen Urkunden als
imecht betrachtet werden miissen. Von S. 28 an handelt der
Vert aosfiihrlicher iiber Poppo's von Trier Einsetznng und urtheilt
mit Berug auf die Bedingungen von Adalbero's Verzicht : „Fiir
den ganzen Gang dieser Regierung und fiir die Ansicht vom
dentechen Konigthum, wie sie sich seit Otto dem Grossen fest-
gestellt, kann nichts charakteristischer sein, als dass der Kaiser
auf die hohe Gunst, sein angestammtes Herzogthum unmittelbar
bei seiner Krone zu behaupten, verzichtete, wenn er nur ein Erz-
bisthum seines Reiches mit dem Mann seines Sinnes und seines
Vertranens besetzen konnte."
Im Jahre 1016 treten die burgundischen Dinge in den
Vordergrund, wahrend die umstandliche Behandlung von Graf
Wichmann8 Ermordung von untergeordneterer Wichtigkeit ist:
an dieser Untersuchung interessirt mehr der kritische Process,
als das Kesultat. Das Jahr 1017 zeigt uns den Konig im Kampfe
gegen Boleslav. Friedensverhandlungen werden angekniipft,
kommen aber nicht zum Abschluss. Eingefugt ist in den Anfang
dieses Capitols eine hiibsche Specialstudie iiber das rasche Auf-
bluhen Gfoslars. Ein Spiegelbild von der mannigfeltigen Regie-
rnngsthatigkeit eines deutschen Reichsoberhauptes gewahrt das
nkhste Capitel. Zuerst macht sich der Kaiser in Nimwegen die
Haimter der lothringischen Opposition geneigt, — nicht ohne
meriliche Opfer : die Unholde zweiten Ranges, wie Berthold von
Walbeck , miissen sich nun beugen. Dann zeigt sich der Kaiser
ebendaselbst in seiner geistlichen Wiirde, indem er den Grafen
Otto von Hammerstein wegen seiner unerlaubten Ehe excom-
nroniciren lasst und ihn fur das erste zur Unterwerfung zwingt.
Die Griindung von Kloster Kaufungen wird ausfiihrlich dargestellt
Wid giebt Br. Yeranlassung , eine kleine Specialarbeit iiber die
Kaufanger Urkunden als Excurs 3 anzuhangen. Angehende
Kplomatiker wird namentlich das iiber Stumpf, Urk. 1649, Ge-
^gte interessiren : wir haben hier nicht ein ganzlich erfundenes,
sondem nur interpolates Dokument. — Von Biirgel, wo sich
Graf Hammerstein demiithigt, geht es nach Burgund : eine Kirch-
weih zu Worms eroffnet, eine solche zu Basel schliesst den
ruhmlosen Feldzug. Die Baseler hielten den Heinrichstag nach-
°^ls in grossen Ehren, und dass die Stadt im Jahre 1501 sich
^ den feierlichen Schwur, mit dem es sich der Eidgenossenschaft
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112 Hirsch, Siegfr., Jahrbiicher des Deutschen Reiches unter Heinricb II.
einverleibte , grade diesen Tag erkor , giebt H. Veranlassung zu
der Apostrophe: „Wie seltsam erscheint auf den ersten Blick
diese Wahl, die grade das Andenken des Herrschers, durch den
man einst dem deutschen Reiche angeschlossen worden, fur den
Akt der Losung yon Kaiser und Reich anruft." Der folgende
Gegensatz ist leider nicht ganz verstandlich fur jemand, der
deutsch spricht. Bei einer nochmaligen Betrachtung der bur-
gundischen Angelegenheiten urtheilt H. mit Recht, dass dieselben
zu Heinrichs II. Zeit allmahlich in den Hintergrund treten, indem
die eigentliohe Entscheidung seinem Nachfolger iiberlassen bleibt.
Darauf folgt — die Anordnung des Stoffes ist eben in der An-
lage der Jahrbiicher begrfindet, gleichwohl aber nicht sehr zweck-
massig — die Fortsetzung des Berichtes fiber Boleslav, mit dem
schon am 30. Jan. 1018 zu Bautzen Friede geschlossen worden.
Mit Scharfe wird hervorgehoben , wie ungiinstig der Friede fur
Heinrich war, wie berechtigt Thietmar's Ausspruch, „der Friede
sei geschlossen worden, nicht wie es sich geziemt hatte, sondern
wie es damals angingu. Nach einer Besprechung von Boleslavs
Zug gegen Kiew und einem Bericht yon dem Liutizenaufetand
des Jahres 1018 folgt die Erz£hlung des Kampfes gegen Dietrich
yon Holland, der trotz Scepter und Erummstab die Grundlagen
zu einem machtigen Staate legt. Der Herzog Gottfried von
Niederlothringen wird „an dem Tage des Merwede-Waldes" be-
siegt und gefangen, Graf Dietrich bleibt im Besitz des grotferen
Theiles der occupirten Besitzthiimer und Gerechtsame. Den er-
wahnten Schlachttag, 29. Juli 1018, bezeichnet H. geradezu als
den Geburtstag der Gra&chaft Holland. Das Capitel schliesst
mit einer Uebersicht fiber die heryorragenden Todten des Jahres:
unter dieselben rechnet Br. auch, anscheinend im Einverstandniss
mit H , aber im Gegensatz zu Wilmans, Giesebrecht, Wattenbach
und Usinger, den Geschichtschreiber Thietmar. Das wichtigste
Ereigniss des Jahres 1019 ist die Emporung des Hauses Werla
und des jfingeren Billungers, des Grafen Thietmar, sonst ist dies
Jahr „an Ereignissen so leer , wie kaum eine andere Epoche in
Heinrichs ganzer Regierung". Mit der Notiz von der — schon
in das Jahr 1020 fallenden — Beruhigung der sachsischen Em-
porung schliesst das Hirsch 'sche Manuscript auf S. 118, und Br.
nimmt die von seinem Vorganger abgebrochene Darstellung der
italienischen Angelegenheiten seit dem Jahre 1014 auf. Seit
Schluss des II. Bandes ist das Quellenmaterial um ein wichtiges
Stfick erweitert worden, den Brief des Bischofs Leo von Vercelli
geschrieben gegen Ende des Jahres 1016 oder in den ersten
Tagen des folgenden Jahres. (Herausgeg. v. Studemund und
Dummler, Forschungen z. d. Gesch. VHI, 387 ff.) Auf Grund
desselben kommt Br. zunachst zu dem Resultat: „dass seit dem
Jahre 1015 die oberitalienischen Verhaltnisse sich durchaus un-
giinstig fur die deutsche Sache gestaltet hatten, und dass die
Auffassung Giesebrechts, als ob seit Heinrichs Romerzuge zu seinen
Lebzeiten die deutsche Herrschaft in Italien nicht mehr angefochten
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Hirscb, Siegfr., Jabrbficher dea Deutscben Keichea unter Heinrich IL H3
sei, wenigstens was den nordlichen Theil der Halbinsel betrifft,
nacb dem jetzigen Stande unserer Quellen nioht mehr haltbar
ist" Kaum besser standen zu Anfang des Jahres 1017 die
Dinge in Mittelitalien , auch in Rom selbst: Hauptquellen sind
bier zwei Schriften des Abtes Hugo von Farfa, „dessen Wechsel-
fille uns ein untruglicher Gradmesser sind fiir die sinkende oder
steigende Macbt Heinricbs und des seit 1014 eng mit ihm ver-
bundenen Papstes". Im Anfang des Jahres 1016 war Benedict
nach einem vollstandigen Siege iiber die Crescentier unbestrittener
Herr in Rom, er konnte nach aussen als Schirmherr Italiens auftreten,
indem er die Pisaner im Kampfe gegen die Saracenen auf Sardinien
erfolgreich unterstiitzte. Da tritt ein plotzlicher Umschlag ein:
die Crescentier kehren, wahrscheinlich in der zweiten Halfte des
Jahres 1016, zuriick und zwingen den Papst zu einem Vergleich,
dessen Spitze gegen Heinrich , seine Schutzbefohlenen und seine
Anhanger gerichtet ist. Heinrich, durch die polnischen Ange-
legenheiten in Ansprach genommen, konnte dem Hiilferuf Leo's
nicht Folge leisten, er musste sich darauf beschranken, Pilgrim,
den neu ernannten Kanzler von Italien , mit ausgedehnten Voli-
machten dahin zu senden. Ueber seine Thatigkeit schweigen die
Quellen fast ganz ; schwerlich konnte er mit Erfolg durchgreifen.
Fiir die nachsten Jahre haben wir wiederum nur sporadische Notizen
iiber die italienische Geschichte. Von Bedeutung ist im Jahre 1018
der Tod des greisen Arnulf von Mailand , als dessen Nachfolger
Aribert den hervorragendsten Erzstuhl Lombardiens einnahm;
ton noch grosserer Wichtigkeit ist das wahrscheinlich im No-
vember des nachsten Jahres erfolgte Hinscheiden des zuverlassigen
Arnold von Ravenna ; von seinem Nachfolger Heribert wissen wir
aber wenig mehr, als den Namen. In dem Herbst des Jahres
1019 finden sich in Strassburg die Fiihrer der deutschen Partei
in Italien ein; gewiss sind dort iiber die gegen die Feinde des
Kaisers und der Kirche zu ergreifenden Massregeln Berathungen
gepflogen worden, doch haben wir iiber dieselben keine Nach-
ncbten; die uns iiberlieferten Beschliisse der Strassburger
Ver8ammlung „sind nur civil- und criminalrechtlicher Natur, als
Capitula Heinricbs II. in die langobardische Gesetzsammlung des
Papienser Rechtsbuches aufgenommen". Wahrscheinlich ward
auf dem Strassburger Tago auch iiber die Neubesetzung des
Erzstuhles von Aquileja berathen: des Kaisers Wahl fiel auf
einen Deutschen, Poppo, aus bairischem Geschlechte und bewahrte
sich nachmals auf s treflflichste.
Die Geschicke Unteritaliens hatten sich seit Otto's II. Nieder-
lage unabhangig von denen der ubrigen Halbinsel gestaltet. Der
Hanptsitz der griechischen Provinz Italien (Apulien und Cala-
brien) ist Bari, in Sicilien herrschte seit 998 der Emir Gi&far,
der personlich zwar ftiedfertig, doch in hergebrachter Weise die
Kusten der Halbinsel befehden liess. Im Jahre 1002 schlossen
die Saracenen sogar Bari ein, das nur durch den Dogen Peter von
Venedig entsetzt vnirde. Da die Griechen das Land, welches
MilUwlluugen ». d. hlstor. Litterotur. VI. 8
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1
hE
AK.
114 Hirsch, Siegfr., Jahrbtichor des Deutschen Reiches unter Heinrieh
sie nicht geniigend zu schiitzen vermochten, mit schweren Ab-
gaben belasteten, machte sich der Wunsch nach Unabhangigkeit
geltend. Ismael oder Melus, ein Burger aus Bari, nebst seinem
Schwager Dattus begannen 1009 den Aufstand, vielleicht im
Bunde mit den Saracenen. Im Jahre 1011 nahmen die Grie-
chen Bari wieder ein, die Anfiihrer der Bewegung entkamen,
aber Melus' Frau und Sohn geriethen in Gefangenscbaft. Der
Papst, von seinem universalen Standpunkte aus das Interesse des
romischen Reiches vertretend, unterstutzte die antigriechische
Bewegung, raumte den Fiihrern ein sicheres Asyl, dann einen
Stiitzpunkt fur weitere Unternebmungen ein und verhutete so
das vollige Erloschen der Insurrection. Dann verschaffte er dem
Melus neue Hiilfe in den Normannen, welche eine gliickliche Ver-
kettung von Umstanden nach Unteritalien gefuhrt, und Melus
brach im Mai 1017 in das Gebiet der Griechen ein. Zuerst,
wenn auch nicht ganz ohne Scbwanken, war das Gliick den Auf-
standischen giinstig, bis im Jahre 1018 der einsichtsvolle Bojoannes
ankam. Zunachst bezwang er Trani, dann den mit den Nor-
mannen verbiindeten Melus — am Ofanto bei Canna — , Melus
entschloss sich, Heinrichs Hiilfe anzurufen, Bojoannos sicherte
sich durch geschickte Befestigungen die Errungenschaften seines
Sieges, die langobardischen Fiirsten, ausser Landulf von Benevent,
saumten nicht, sich dem Sieger unterzuordnen. So war diePo-
litik des Papstes in Unteritalien gescheitert ; er durfte nicht ab-
warten, bis die Griechen noch drohendere Fortschritte machten,
er musste die Hiilfe des Kaisers nachsuchen. Wie einst Papst
Stephan in das Frankenreich , anscheinend in Folge einer Eia-
ladung, gekommen war, als er Unterstutzung gegen die Lango-
barden erbitten wollte, erinnerte sich jetzt Benedict wiederholter
Einladungen des Kaisers; angeblich um der Bamberger Stiftung
die apostolische Weihe zu gewahren, entschloss er sich zum Zuge
iiber die Alpen.
Ausser vielen hochst genauen Noten dienen noch zwei Ex-
curse (4 und 5) der Klarlegung und Begriindung des Textes.
Der erste der beiden Excurse giebt zuvorderst Details „Zur
Chronologie des ersten apulischen Aufstandes und der Ankunft
der Normannen". Soweit es sich dabei um eine Widerlegung
von R. Wilmans handelt (gegen den sich schon Giesebrecht und
Ferd. Hirsch gewendet hatten), darf man dem Verf. wohl unbe-
dingt zustimmen, da auch Schulze (Progi%amm des Gymnasiums
zu Oldenburg 1872) auf anderem Wege zu den gleichen Ergeb-
nissen gelangt ist. Da Br. von dieser Schrift, die das Schicksal
violer Programme theilte, ganzlich unabhangig ist, haben wir
wohl eine sichere Gewahr fur die Richtigkeit der Resultate. Der
zweite Abschnitt desselbon Excurses: „Die Glaubwiirdigkeit der
Berichte iiber die erste Ankunft der Normannen in Italien" ist
namentlich gegen Ferd. Hirsch gerichtet, der den Bericht
des Amatus iiber die Ankunft der Normannen verwart Br.
widerlegt Hirschs chronologische Bedenken und seine Einwande
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Hirsch, Siegfr., Jakrbficher des Deutschen Reichea unter Hoinrich II. H5
gegen die innere Glaubwiirdigkeit des Amatus, stiitzt vielmehr
deasen Bericht durch andere Quellen, insbesondere durch Arnulf
yon Mailand I, 17 und Leo's Chronik. Der dritte Abschnitt
bebandelt „Die griechischen Feldherreu des Jahres 1017" , der
vierte die Schlachten des genannten Jahres. „Wenn alle An-
gaben," sagt Br., „iiber die unteritalischen Vorgange der Jahre
1017 bis 1020 an Unklarheit und Verworrenheit leiden, so geht
es ans doch am schlimmsten mit den Nachrichten uber die zwi-
schen Melus and den Normannen einer- und den Griechen an-
derereeits gelieferten Schlachten." Auch bier ist manches treffend
gegen Hirsch und Schulze bemerkt ; in das Detail einzugehen ist
bier unmoglich, Ref. nicht mit allem ganz einverstanden. Wenn
ach z. B. Br. bei dem Satze ; „fecit proelium cum MeL et vicit
Mel." dafur entscheidet, das zweite MeL sei als Object zu fassen,
„weil dies die naturlichere Wortstellung" sei, so kann Ref. diesen
Grand nicht acceptiren: jeder Schriftsteller jener Tage konnte
sehr wohl „vicit Mel." schreiben, auch wenn letzteres Wort Sub-
ject war. — Der Excurs 5 gilt der „Kritik der altfranzosischen
Uebersetzung der Normannengeschichte des Amatus von Monte
Caasino". Nachdem F. Hirsch schon in einer seiner Dissertation
beigegebenen These 1864 Amatus' Glaubwiirdigkeit angezweifelt
batte, kam er im Verlauf dieser Studien zu dem Resultat : „Amatus
ist kein . zuverlassiger Geschichtschreiber. Fiir friihere Zeitea
ist seine Kenntniss der Ereignisse ungleich; gate und schlechte
Nachrichten finden sich bunt durcheinander. Spater ist er zwar
Ton den Thatsachen im AUgemeinen gut, theilweise sogar sehr
augfiihrlich unterrichtet; allein Fliichtigkeit und Ungenauigkeit
auf der einen, Parteilichkeit und Verleumdungssucht auf der
andem Seite haben auch hier nachtheilig auf seine Erzahlung
eingewirkt." Br. im Besitz einer Collation wenigstens des ersten
Bnches der Ystoire de li Normant, geht diesen Dingen weiter
nach und macht sich zunachst an die Kritik der Ausgabe
Champollion-Figeacs, dem er seine Unfahigkeit zu der iiber-
w>mmenen Arbeit schlagend nachweist. Wie weit kann nun die
altfranzosische Uebersetzung des Amatus als gut und getreu be-
tachtet werden? Ausser der Ystoire de li Normant hat Ch.-F.
noch zwei andere von demselben Uebersetzer herriihrende Stiicke
berauggegeben , fiir welche der lateinische Urtext erhalten ist
Br. zeigt nun, dass der Uebersetzer bier nicht allein mit grosser
Sorgloaigkeit und Willkiir verfahrt, sondern auch nicht einmal
im Stande war, den ihm vorliegenden lateinischen Text richtig
zu verstehen und demgemass zu iibersetzen. Daraus lasst sich
schliessen, wie das Werk des Amatus verarbeitet sein mag.
Ansserdem fubrt eine genaue Vergleichung der von Amatus her-
ruhrenden Capiteluberschriften mit dem in den Capiteln wirklich
Enthalteneu zu der Erkenntniss, dass „willkurliche und, wie es
wbeint, principlose Verkiirzungen, oft von bedeutendem Umfange,
dann wieder einmal Zusatze aus eigener Kenntniss oder Un-
kenntniss das Werk des Monches von Monte Cassino entstellen".
8*
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116 Hirsch, Siegfr., Jahrbficher des Deutschen Reichcs miter Heinricb.IL
Kehren wir indess wieder zum Texte der „Jahrbiicher" zu-
riick. Am 14. April 1020 traf Benedict in der Nahe von Bam*
berg ein, in den ersten Tagen nach Ostern (17. April) fanden
Besprechungen statt, ohne Frage vornehmlich iiber die unter-
italischen Dinge; Heinrich billigte offenbar Benedicts Vorgehen,
indem er Melus zum Herzog von Apulien bestellte: doch schon
am 23. April raffte ihn der Tod dahin. Nachdem von den
Privilegien £ur Fulda und der Griindung des Klosters Goss durch
Aribo die Rede gewesen, bespricht Br. die vielberufene Urkunde,
durch welche Heinrich die Besitzungen und Rechte der romischen
Kirche bestatigte. Br. halt das Document, mit Ausnahme einer
Stelle, fur dem Inhalte nach echt, „wenngleich das Original, von
dem die uns erhaltenen Copien stammen, sicherlich eine Fal-
schung war". In der Beweisfuhrung folgt Br. Ficker, veranschlagt
aber den Werth der Bestatigungsurkunde selbst sehr gering;
er taxirt sie nicht viel hoher als eine wesenlose Formalitat,
die hochstens das gute Einverstandniss zwischen dem weltlichen
und dem geistlichen Haupte der Christenheit constatirt. Nach
dem Abschiede vom Papst wandte sich Heinrich gegen Balduin
von Flandern — weder von der Ursache, noch von den Ereig-
nissen des Feldzuges haben wir genauere Kenntniss — und ge-
gen den Grafen von Hammerstein, der sich bald nach seiner
Entsagung mit seiner vielgeliebten Irmgard wieder vereinigt
haben muss. Als gutliche Vorstellungen nichts fruchteten, be-
schloss Heinrich, den trotzigen Grafen mit Gewalt zu beugen : am
26. December 1020 fiel das feste Hammerstein; Otto nebst Gemahlin
erhielten zwar freien Abzug, wurden aber von Acht und Bann
nicht gelost. Von Hammerstein begiebt sich der Kaiser nach
Coin, um mit Heribert abzurechnen : indess versohnt er sich mit
dem Greis, der schon im Marz des Jahres 1021 stirbt. An seine
Stelle tritt Pilgrim, der Vorsteher der italienischen Kanzlei, von
dem im sechsten Excurs wahrscheinlich gemacht wird, da88 er
Aribo's Neffe gewesen. Auch der Lutticher Stubl wird neu be-
setzt: Durand, ein Mann aus horigem Geschlecht, aber von
aussergewohnlichen Gaben, ist der Erwahlte des Kaisers. Aribo,
der Stifter des Klosters Goss, tritt am 1. October 1021 an die
Stelle des am 17. August gestorbenen Erkanbald von Mainz.
Nachdem Heinrich im Juli d. J. noch einen Hoftag zu Nimwegen
abgehalten und die lothringischen Grossen zu dem bevorstehenden
Feldzuge gegen die Griechen in Unteritalien entboten, wandte er
sich nach Sachsen, um von Werben aus die slavischen Angelegen-
heiten zu ordnen, gemass einem Versprechen, das er vor drei
Jahren dem Bischof von Oldenburg gegeben. Auf dem Tage zu
Werben geben denn die slavischen Hauptlinge auch dem Kaiser
die weitgehendsten Versprechungen riicksichtlich der occupirten
Territorien und des dem Oldenburger verweigerten Jahreszinses,
brechen aber ihr Wort, sobald der Kaiser den Riicken ge-
wendet. Im Hinblick auf diesen Misserfolg kann sich Br. nieht
versagen, der oft erorterten Frage naher zu treten, ob es nicht
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ffirsch, Siegfr, Jahrbueher des Doutschen Boichos unter Heinrich II. H7
heilsamer gewesen ware, wenn sich das Kaiserthum statt der
italienischen Dinge die grosse Mission im Osten und Nordosten
hatte angelegen sein lassen. Selbstverstandlich wird diese Er-
wigung von Br. mit aller Reserve angestellt: seinem Urtheil
wird jeder, der nicht vorher fur die eine oder die entgegen-
gesetzte Ansicht eingenommen ist, ohne Zweifel beistinunen. —
Von Werben begab . sich Heinrich nach Sachsen : auf einem
Landtage der Sacbsenfiirsten zu Pfalz Allstedt durften Yerab-
redungen iiber die jenen obliegende Grenzwacht getroffen sein,
wahrend ein Aufgebot des sachsischen Heerbannes fiLr den italie-
nischen Feldzug nicht beabsichtigt wurde. In Augsburg sammelte
sich das starke Heer, in Verona stiess das italienische Aufgebot
ram Kaiser, der dann in Ravenna das Weihnachtsfest verlebte.
h Unteritalien hatten inzwischen die Griechen das letzte Boll-
weii des apulischen Aufetandes zertrummert ; Melus, der auf die
Inverletzlichkeit des papstlichen Gebietes gebaut, musste sich
dem Katepan Bojoannes ergeben und erlitt am 15. Juni 1021
in Bari die Strafe der Hochverrather. „So war von griechischer
Seite die Offensive ergriffen und das papstliche Gebiet verletzt."
Der Feldzug des Kaisers war nicht ohne Erfolge, doch blieb der
eigentliche Zweck des Kampfes, der Sturz der griechischen Herr-
sehaft in Unteritalien, unerfiillt: Heinrich begniigte sich, die
Autoritat des Eaiserthums in den ihm zustehenden Gebieten
wiederhergestellt zu haben, und wollte sein Heer nicht dem ver-
derblichen Klima aussetzen. Die langobardischen Fiirstenthiimer
waren wieder erobert und in Handen von Personlichkeiten, auf
deren Treue der Kaiser zahlen konnte; Rom war gegen die
drohenden Angriffe der Griechen gesichert, und alien weiteren
Eroberungsplanen des Bojoannes ein fiir allemal ein Riegel vor-
geschoben. Eine kurze Rast in Rom benutzte Heinrich, urn
Benedicts Ansehen wieder herzustellen ; auch scheint hier ein
Umschwung zu Gunsten des Kaisers . eingetreten zu sein. Yon
groester Bedeutung ist dann das auf dem Ruckzuge abgehaltene
Concil zu Pavia, welches uns die kirchenreformatorischen Plane
der Oberhaupter der Christenheit enthiillt. Wahrend 1019 zu
Godar bei synodaler Berathung der Frage, „welchem Stande
Gattin und Kinder eines Horigen, der Geistlicher geworden und
eine Freie geheirathet, anzugehoren batten," die Priesterehe
uberhaupt nicht als anstossig betrachtet worden war, wurde zu
Pavia Allen, die geistliche Weihen empfangen haben, bis zum
Sabdiaconu8 herab jede Gemeinschaft mit dem weiblichen Ge-
achlecht untersagt. Dass den Kaiser dabei in erster Linie der
Wonsch leitete, der Verarmung namentlich der bischoflichen
Kirchen vorzubeugen, ist keine Frage: Benedict fasste die Sache
wohl noch otwas tiefer und innerlicher auf Ob Benedict und
Heinrich den Plan einer vollstandigen Kirchenreform gefasst, ob
«vor aUem die Durchfiihrung der vollen Herrschaft des Papstes
iiber die Kirche im Sinne der pseudoisidorischen Decretalen das
Endziel der kiihnen Bestrebungen des Papstes gewesen", will Br.
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11 8 Hirsch, Siegfr., Jahrbticher des Deutechen Reiches unter Heinrich H.
nicht entscheiden. Damit faasgt aber eigeutlich wiser Endurtheil
iiber Heinrichs II. Regierungsthatigkeit zusammen. Denn, ist der
Kaiser wirklich im Fahrwasser der papstlichen Politik geweeen
oder hat er freiwillig zu Gunsten der Reinheit der Kirche auf
die Ausubung seiner weltlichen Oberherrschaft bei Bischofe-
wahlen u. s. w. zu verzichten auch nur im Sinne gehabt, so warn
das Urtheil iiber ihn weit ungtinstiger ausfallen, als wenn man
ihn so im allgemeinen mit kirchenreformatoriscben Planen be-
sehaftigt sein lasst Kann man dieee Frage wirklich nicht end*
gultig entscheiden, so lohnt es sich denn dooh, mit annahernder
Gewissheit das eine oder das andere zu erweisen. Ueber die
chronologische Bestimmung der Synode von Pavia wird in Ex-
curs 7 gehandelt. Gegen Giesebrecht, der dieselbe vom Jahre
1022 in das Jahr 1018 verlegt, ftihrt Br. aus, dass die friihere
Annahme die richtige sei. Durchschlagend erscheint dem Ret
von Br.'s Griinden besonders der letzte: Ginge die Synode von
Pavia der von Goslar (1019) vorauf, so wiirde man zweifellos in
einigen Punkten auf dort gefasste Beschliisse verwiesen haben;
dagegen war die Yersammlung zu Pavia an eine BeriicksichtigUBg
der Goslarer Provinzial-Synode nicht gebunden, und ist mithia
nicht aujBTallig, wenn in Pavia von den Goslarer Verhandlungen
nicht die Rede ist. Nach einer dankenswerthen Skizze Aribos
und Pilgrims wendet sich Br. zu der Reform in Lothringen, wo
durch den heiligen Richard von St. Vannes zu Verdun und
den hochgeboraen Monch Friedrich olugniacensische Ideen den
weitesten Spielraum erhalten. In das Jahr 1022 fallt auch nocfc
der Gandersheimer Streit, in dem Aribo von Mainz nachzugeben
genothigt wird. Finden wir dann den Mainzer KirchenffiirBteii
mit dem Kaiser auch im Einverstandniss, wo es sich von neuem
um die Sache des Grafen Otto von Hammerstoin handelt, so sehen
wir ihn doch in einem tiefinnerlichen Zwiespalt mit den kirchen-
politischen Ansichten und Absichten seines Herrn. Aribo, um es
kurz zu sagen, ist gegeniiber den universalistischen Tendenzen
des Kaisers der Vertroter einer national-deutschen Richtung: er
stellt sich dem allgemeinen Oberhaupt der Kirche als K&mpe
der Metropolitan-Autoritat gegeniiber und, was das bedeutendste
ist, er hat dabei die deutschen Bischofe auf seiner Seito. Die
Darlegung dieses Verhaltnisses ist ein hauptsachliches Verdienst
der Arbeit Br.'s und daran wird durch unverstandige Kritik
nichts geschmalert. Es liegt ja freilich nahe, in unserer kirchen-
politisch so erregton Zeit, bei einem Historiker, der in jenen
Tagen schon Ansatze zu einer Nationalkircho zu erkennen glaubt,
den Einfluss moderner Anschauungen und Bestrebungen zu ver-
muth en: wenn aber Ref. schon im Jahre 1865, zu einer Zeit,
da der Kampf gegen den Ultramontanismus ganz fern lag und
er selbst, den Vorschrifton der diplomatischen Schule gemass,
die wesentliche Yorstellung histonscher Thatsachen aus den
Quellen allein zu gewinnen bemiiht war, iiber Aribo mid die
Bedeutung des Schgonstadter Concils genau zu ders elben Ansicbt
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Hirach, Siegfir., Jahrbucher dee Deutschen Reich es unter Heinrich II. 119
gelangte, wie jetzt Br., so wird letzterem ohne Zweifel mit Un-
recht Schuld gegeben, er habo sich durch die Gegonwart den
Blick triiben lassen. Ueber die Synode zu Seligenstadt handelt
der Excurs 9. Hinsichtlich der Acta liegen zwei Texto von
terschiedener Ausdohnung vor: Br. entscheidet rich fur die kiirzere
Fassung der 20 Canones, auch die Vatik. Handschrift onthalt nur
diese. Gegen Hartzheim und Giesebrecht — denen auch Ref.
Miner Zeit folgte — im Eiuklange mit Gfrorer und Cohn, setzt
Br. die Synode in das Jahr 1023 (statt 1022), weil von den
chronologischen Angaben auf dasselbe zwei, die Anzahl der Konigs-
jahre und die anni incarnationis treffen. Abgesehen davon er-
halten die Canones 16 und 18 ibre eigenthiimlicho Bedeutung
nur, wenn man sie als durch die kurz vorher erfolgte Appellation
Irmgards vcranlasst denkt. Die Verdammung erfolgte aber un-
bestreitbar zu Pfingsten 1023: demgemass ist die Synode auf
den 13. August 1023 zu setzen — was Ref. nunmehr auch ac-
ceptirt. „Das8 grade im August 1023 der Kaiser mit den lothrin-
gischen Bischofen jene Zusammenkunft mit Robert von Frank-
reich zu Ivois hatte, wird man nicht gegen diese Annahme
geltend machen konnen; eher bestatigt der Umstand dieselbe,
dass keiner der zu Seligenstadt anwesenden Bischofe zu Ivois
odor in don nachsten Tagen nachher in des Kaisers Umgebung
naehweisbar ist." Der Papst erkannte Aribo das Pallium ab
— eine Strafe, iiber deren Bedeutung die Meinungen getheilt
Bind — der Mainzer dagegen berief ein Nationalconcil auf den
13. Mai 1024 nach Hochst, um den'Schlag abzuwehren: aus
einem vertrauton Brief an die Kaiserin Kunigunde ersehen wir,
dass Aribo die Sympathie derselben fiir sich und seine Sache
zu beritzen gewiss war. Nun ward freilich die Versammlung
kein Concil des gesammten deutschen Episcopats, aber der
Mainzer Sprengel war fast vollzahlig vertreten und mit einer
bewnndernswerthen Einmiithigkeit senden die Versammelten einen
machtvollen Brief nach Rom, „einen energischen Protest gegen
die beanspruchte AUgewalt des Papstes". Dem letzteren blieb
es erspart, zu diesen Dingen Stellung zu nehmen, da er in der
letzten Halfte des Mai oder der ersten des Juni verstarb. (Den
fiberlieferten Todestag (7. April), an dem schon Giesebrecht An-
8to8s genommen, verwirft Br. mit Recht.) Heinrich folgte ihm
bald. Schon im Anfange des Jahres hatte er Monate lang ge-
krankelt ; aus dem Marz 1024 stammt ein Edict iiber die Streitig-
keiten der Dienstmannen von Fulda und Hersfeld, dem Br. wohl
etwa8 zu viel Bedeutung beilegt, wenn er darin „einen Ansatz"
zu Landfriedensgesetzen findet ; die letzte italienische Regierungs-
handlung des Kaisers ist eine Urkunde fiir Monte Cassino vom
19. April. Vielleicht beabsichtigte er, von Goslar in Regierungs-
geschaften nach dem Westen des Reiches zu gehen, als ihn ein
neuer Anfall zu Grona auf das Krankenlager warf. „Hier
«t am 13. Juli 1024 der letzte Sprosse des sachsischen Kaiser-
bauses verschieden." Der Vcrf. schliesst seine Darstellung mit
120 Matthai, Georg, Die Klosterpolitik Kaiser Heinrichs II.
einem Resume tiber Heinrichs Charakter und Regierungsthatig-
keit; er schliesst sich im ganzen Giesebrecht an, welcher mit
Recht gegen die vorurtheilsvolle einseitige und doctrinare Auf-
fassung Heinrichs, als einer willenlosen monchischen Natur,
Widerspruch erhoben und an Stelle der Carricatur das getreue
Bild des Herrschers gesetzt habe.
Mit Rucksicht auf die kirchliche Parteibildung , welche sich
gegen Endo der Regierung Heinrichs H. vollzog, wird dann noch
die Frage, ob Conrad H. von Heinrich zum Nachfolger designirt
worden, in Excurs 10 in verneinendem Sinne entschieden. Die
Anhanger des Systems von Clugny sind die Gegner Conrads, und
obwohl vier Schriftsteller spaterer Zeit die designatio berichten,
kann die Nachricht nicht als haJtbar betrachtet werden. Wer
freilich Bresslau's Auseinandersetzung liber diese bereits zu
Heinrichs n. Zeit vollzogene Parteibildung nicht acceptirt, wird
sich vielleicht nicht bewogen fiihlen, auch in diesem Urtheil ihm
zu folgen. Endlich werden in Excurs 11 einige Bemerkungen
iiber die Sagen von Heinrich H. gemacht und die Tradition in
ihrer genetischen Entwioklung gezeigt. AUe diese Details werden
mit grosser Griindlichkeit erortert und es ist nur zu wiinschen,
dass die grade auf diesem Gebiete ziemlich zahen popularen
Bearbeiter deutscher Geschichte sich einmal die Miihe nehmen,
zwischen Historie und Sage die richtige Grenze zu ziehen. —
Vieles, was sich in ein pracises Referat nicht einfugen liess,
musste hier iibergangen werden ; ist auch eine eigentliche Kritik
von diesen Blattern principiell ausgeschlossen, so diirfen wir doch
mit unbedingtem Lobe unsern Bericht endigen.
Berlin. Willy Boehm*
XXVH.
MatthSi, Georg, Die Klosterpolitik Kaiser Heinrichs II. Ein
Beitrag zur Geschichte der Reichsabteien. Inaugural - Disser-
tation. Grunberg i. Schl. 1877.
Die Reichsabteien standen im IX. Jahrhundert in unbe-
dingter Abhangigkeit von der Krongewalt; im X. treten die
Eigenthumsrechte der Konige mehr und mehr zuriick, so dass
nur des Konigs Schutz und die Immunitat ihre Eigenthiimlich-
keiten sind; in der Mitte des XI. Jahrhunderts sind sie wieder
in die alte Abhangigkeit zuriickgekehrt. Auf dem Bundniss mit
den geistlichen Reichsfiirsten beruhte die Macht des Konigthums.
Gegen das Ende der Regierung Kaiser Ottos HI. begann dieser
Bund sich zu lockern ; diesen drohenden Bruch hat Kaiser Hein-
rich H. durch festes Eingreifen auf Kosten der Reichskirchen,
vor Allem der Reichsabteien, verhindert. Die vorliegende Arbeit
will den Nachweis versuchen, dass Kaiser Heinrich H. durch ein
systematisches Vorgehen die Reichsabteien in ihrem Streben
nach Selbstandigkeit gehemmt und ihre Entwicklung in wesent-
lich neue Bahnen geleitet habe. Um die Leistungsfahigkeit des
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Sebum, Wilhelm, Voratudion fcur Diplomatik Kaiser Lothars in. 121
Bostcrgutes fur den Dienst dcs Reichs zu steigern, traf Heinrich
erstens Massregeln gcgen die Wahlfreiheit der Congregationen und
gegen die immune SteUung des monchischen Pfriindongutes. Hierbei
gieng er jedoch nicht mit einer allgemeinen reformatorischen
Massregel vor, sondern wartete bei jeder einzelnen Rcichsabtei
auf einen geeigneten Zeitpunkt ; nach einander wurden Hersfeld,
Reichenau, Fulda, Corvei, Stablo, S. Maximin von der Reform
botroffen. Zweitens vereinigte Heinrich mehrere Abteien unter
eine Hand , urn auch hierdurch dem Reiche , wenn auch nur in-
direkt, einen Vortheil zu verschafFen. Auf diese Weise horten
17 Abteien, meist kleinere Kirchen, „verrottete Flecken," auf zu
existieren. Letzteren Gedanken hat namentlich Konrad IL weiter
entwickelt. — Excurs I. behandelt die Klostermatrikel von 817;
IL den Aufgebotsbrief Ottos II. ; III. das Verzeichnis der konigl.
Ptoervitien bei Bohmer f. III. p. 397 f.
Magdeburg. Chr. Volkmar.
XXVIII.
Schom, Wilhelm, Vorstudfen zur Diplomatik Kaiser Lothars III.
gr. 8. (36 S.) Halle 1874. Buchhandlung des Waiscn-
hanses. 1,50 M.
Der Verfasser, welcher die Urkunden Lothars in einem
groeseren Werke zu behandeln beabsichtigt , bietet in der vor-
liegenden Schrift ein Beispiel der Art und Weise, in welcher er
die Untersuchung zu fuhren gedenkt. Aus den Diplomen Lothars
hat er ungefahr 25 ausgewahlt, deren Fassung in irgend welcher
Beaehung Bedenken erregt, urn sich entweder fur ihre Echtheit
oder Unechtheit zu entscheiden, oder endlich auch das Urtheil
fiber sie furs Erste in der Schwebe zu lassen. Die Priifung der
einzelnen Stiicke ist mit grosser Sorgfalt und Sachkenntniss ge-
ffihrt, so dass man den Ergebnissen in den meisten Punkten
seine Zustimmung nicht versagen kann. Er beginnt die Reiho
ait St 3361, die auffallender Weise von Stumpf nicht beanstandet
^ obwohl bereits Lupus Cod. Dipl. Berg. I, 721 f. sie Lothar I.
zuschrieb. Schum verstarkt noch die Griinde fur diese Annahme.
Aoaser dieser erklart er noch eine Anzahl anderor Urkunden, die
Stumpf unangetastet lasst, fur unecht. So die beiden Fuldaer
Kplome St. 3250 und 3301 (S. 18—24) und eine Priifeninger
St. 3247 (S. 25) , wahrend er wieder andere , die von Stumpf
verdachtigt sind, wie St. 3258 und 3358, glaubt in Schutz nehmen
zu mii88en. In Betreff des Ersteren sind indess die Deductionen
des Ver&ssers nicht zwingend. Eine Anzahl Schweizer Urkunden
St 3230, 3308, 3309, 3359 bemuht sich der Verfasser gegen
Hidber's Zweifel zu rechtfertigen. Den Schluss bilden Be-
merkungen iiber zwei italienische Diplome, St. 3270 und 3349.
Berlin. Wilhelm Bernhardi.
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122 Detloff, Dr. Rob., Der erste Eomerzug etc. Harttung, Jul., Norwegen etc
XXIX.
Detlof, Dr. Robert, Der erste RSmerzug Kaiser Frfedrichs I.
1154, 1155. Ein Beitrag zur Reichsgeschichte. 8. Gottingen
1877, R. Peppmiiller. 1,60 M.
Diese Abhandlung, die sich durchweg auf die fur die Ge- !
schichte Friedrichs L wichtigen Quellen stiitzt, weicht von den j
bereits bekannten Darstellungen im Wesentlichen nicht ab. Diese J
und jene kleine Frage ist vielleicht vollstandiger mid genauer j
beantwortet. So folgert z. B. der Verfasser (S. 5) aus dem
Schweigen Ottos von Freisingen und aus einer kurzen Nachricht j
der Annales Laubienses, dass der Zug Friedrichs in das burgun- 1
dische Reich 1153 missgliickt sei. Auf S. 10 lasst dor Verf. \
Friedrich vom Lechfelde aus iiber Peiting, Ammergau, Parten- |
kirchen, Mittenwald und den Scharnitzpass das Innthal erreichen.
Auf S. 18 wird Casale (Stumpf , Die Reichskanzler 3703) nicht
fur Casale am Po, sondern fur tien Flecken Casale zwischen I
Cigliano und Caluso, in der Nahe der Dora BaJtea erklart. Nach :
S. 24 ist Tortona „wahrscheinlich" am 46. April eingenommen )
S. 26 f. wird eine wiederholte Gesandtschaft Anselms von Havel- j
berg nach Griechenland , nemlich 1153 und 1154, angenommen.
Nach S. 38 ist fur die Hinrichtung Arnolds von Brescia gleich
nach seiner Ergreifung wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden. Als
Griinde fur die Unterlassung des Zuges nach Apulien werden
(S. 43) ausser dem Widerstreben der Fiirsten und der Krauk-
heits- und Sterbefalle im Heere noch angegcben „die sich immer
machtiger erhebende Feindschaft in der Lombardei" und „die
Vorgange in Deutschland" — Der Abhandlung sind drei Ex-
kurse beigefugt. In dem ersten derselben wird gohandolt iiber
Stumpf, Die Reichskanzler 3649, 3665 und 3666, 3705, 3715,
3713, 3709. — Exkurs II. setzt die Abfassungszeit der Griindungs-
geschichte von Ebrach in Franken zwischen 1161 und 1167. —
Exkurs III. giebt einige Bemerkungen iiber die aus dem Kloster
Ottenbeuren stammenden Geschichtsquellen. Sickel hat nemlich
die altesten Urkunden in der Klostergeschichte fur spuria er-
klart, und der Verf. dehnt dies Urtheil auch auf die folgenden
Diplome bis zum Endo des 12. Jahrhunderts aus; die uber-
lieferte Form der Diplome sei als triigerisch und gefalscht zu
verwerfen.
Magdeburg. Chr. Volkmar.
XXX.
Harttuna , Julius , Norwegen und die deutschen Seestftdte bis
zum Schiusse des dreizebnten Jahrhunderts. 8. Berlin. 1877.
Wilhelm Hertz. 3 M.
Harttung'8 Schrift ist eine Frucht des hansischon Urkunden-
buches. Ihr Werth ist besonders darin zu suchen, dass Harttomg
zum ersten Male zeigt, wie die Geschichte des kleinen lose
gefugten Bundcs der wendischen Seestadte zu der des Nordeus
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HarttoDg, Julius, Norwegen und die deutechen Seestadte etc. 123
aotcbwillt and wie sioh die Rechte des deutechen Kaufinannes in
Norwegen entwickelt haben. Si© fusst hauptsachlioh auf der Ge-
•chichte Norwegens und legt die innern Beziehungen dieses und
der andern nordiachen Reiche zu jener Organisation der deutr
scken Seestadte dar, sie ist deshalb fur den hansischon wie fur den
nardischen Forscher gleich worthvoll. Es ist nieht unsre Sache,
bier auf Einzelnes einzugehen , iiber das man mit dem Verf.
rechten konnte; ioh beschranke mich darauf, kurz den Inhalt
der Sehrift wiederzugeben.
In knappen Ziigen schildert der Verf. zuerst Land und Volk
von Norwegen , seine Producte und die Yikingerziige mit ihren
Folgen. Unter diese gehort die Ankniipfang yon Handels-
baaehiingen besonders mit England und Danemark. Im 9. Jahr-
hmdert scheint Skiringssai am Skager Rak der erste nennens-
werfche Handelsplatz gowesen zu sein, seit dem 10. kam Tuns*
berg aaf. England brachte Norwegen das Christontbum , Kauf-
mann und Priester gingen auch hier zusammen. Dem Namen
flack gehorte Norwegen zum Erzbisthum Hamburg-Bremen, den
Hanpteinfluss iibte aber England aus, wie dies unter anderem auch
der englisch-normannische Stil der norwegisehen Kirchen zeigt,
von denen nur die an deutsche spatromanische Bauart erinnernde
zu Drontheim eine Ausnahme macht. Mit der Grundung der
Stadte Skiringssai, Tunsberg, Nidaros (Drontheim), der Fesiuiig
Borg, Oslo (an der Stelle des heutigen Christiania), Kongahella,
Bergen (aus dem friiheren Konigshofe AaJreksstadt) andert sioh
jedoch dies Verhaltniss. Bergen im eigentlichen Mittelpunkte
des Reiche gelegen ward Hauptstadt, Kronungsort, Bischofssitz,
Hsupthandelsplatz und geradezu Welthafen, welcher Fisohe, Pelze,
Felle, Daunen, Holz- und Fettwaaren aus- und Getreide, Ge-
Wake, namentlich Bier und Wein, und Industrieproduote ein-
fohrto. Den Umsatz vollfuhrten meist Inlander. 1217 schloss
Baton mit Heinrich III. von England den ersten Handelstractat,
der den beiderseitigen Unterthanen freien Handel in beiden
Uodern gestattete. Deutsche Kaufleuto treten zuerst unter
Koaig Sverrir in grosserer Anzahl auf. Da ihre Waaren fur
^LandnothwendigesBediirfhiss wurden, verstanden es dieselben,
bald ein Recht nach dem andern zu erwerben. Bremen und
Hamburg waren die ersten deutschen Stadte, welche mit Nor-
ton in Verbindung traton, ersteres besonders wegen des
Heringsfanges. Auch Hollands Handel mit Norwegen ist alt.
flmen folgten bald die Ostseestadte nach, alien voran Wisby,
die Zwischenstation fur die Waaren nach Curland, Livland, Est-
•and und Nowgorod, dann Liibeck, Wisbys liberlegener Rival,
Beitdem es reichstwmittelbar geworden und das danische Joch abge-
schuttelt batte, Rostock, Groifswald. Urn die Mitte des 13. Jahr-
taroderts stand der Handel mit Norwegen in voller Blttthe, doch fallt
gerade auch in diese Zeit die erste Verwicklung zwischen demselben
und den Deutschen, 1247, die 1250 damit endigte, dass Liibeck
von Hakon grosso Fr&hfeiten erhielt. Trotzdem war aber der
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124 Harttung, Julius, Norwegen und die deatachon Scest&dto etc
deutsche Kaufmann in Norwegen mehr beeintrachtigt als sonstwo;
denn er durfte dort weder nach eigenem Rechte leben, nodi
nordlich von Bergen fahren, noch des Winters Handel treiben.
Letzteres Yerbot war demselben besonders hinderlich und musste
selbstverstandlich zu Uebertretungen reizen. Bisher hatte Nor-
wegen nicht mit dem deutschen Reiche pactirt, sondem immer
nur einzelnen Stadten Privilegien verliehen. Dies lag an den
damaligen ungiinstigen Verhaltnissen des Reichs, es war die Zeit
des unseligen Zwischenreichs. Liibeck, die stolze Stadt an der
Trave, benutzte diesen giinstigen Umstand; seine vorzugliche Lage
hatte es bald in raschen Aufsohwung gebracht, vielen Nachbar-
stadten hatte es sein Recht aufgedrangt, es ward die Fiihrerin
einer Confederation, zu welcher Wismar, Rostock, Wolgast, Stral-
sund, Greifewald und die iibrigen wendischen Stadte gehorten.
Liibecks handelspolitischer Energie verdankte dieselbe 1278 em
Privileg von Erich von Danemark und eins von Magfius von Nor-
wegen, beide gemeingiiltig fur den deutschen Kaufmann und von
besonderer Wichtigkeit, weil durch dieselben den Deutschen eme
Sonderstellung gewahrt ward und andrerseits daraus erhellt,
wie machtig schon der Bund im Auslande war. Was dem Bunde
verbrieft war, liess sich Bremen 1279 allein ertheilen ; dies deutet
schon auf eine eigenartige Stellung Bremens hin und ist das
Vorspiel zu seinem demnachst eintretenden Yerhalten.
Unter Magnus Erlmgsson war Norwegen geradezu Lehens-
staat der Kirche geworden (of. das interessante Werk von Zorn:
Staat und Kirche von Norwegen). Nach einer Zeit der Reaction
dawider gab ihr Magnus Lagabatter durch zwei Concordate die
Souveranetat in alien sie betreffenden Dingen, wahrend er ant
der andern Seite die weltlichen Grossen in Abhangigkeit zn
bringen suchte. Erich der Priesterfeind dagegen warf der hohen
Geistlichkeit , dem danischen Reiche und den deutschen Eanf-
leuten den Fehdehandschuh hin; unter ihm siegte der Staat,
1287 unterwarf sich die Kirche, ohne class sich der Pabst an
diesen Streitigkeiten betheiligt hatte (weil er den Verlust dee
Saladinszehntens und des Peterspfennigs befiirchtete). Diese Ver-
haltnisse batten den Staat gewaltig erschuttert, und die alten
Leidenschaften der Normannen, kaum gebandigt, brachen wieder
hervor. Norwegen erdflhete durch das Edict vom 16. September
1282 einen Sturm gegen die deutschen Kaufleute. Liibeck und
Wisby hatten in Voraussicht dessen ein Bundniss zu gegen-
seitigem Schutze auf der Ostsee fur jeden deutschen Kaufinton
geschlossen und zu Danemark, das damals der Feind Norwegens
war, die besten Beziehungen unterhalten. Allein auf die Dauer
konnte dies Yerhaltniss Danemarks zu seinem natiirlichen Bundes-
genossen Norwegen nicht fortbestehen. Die Liibecker dehnten
deshalb den Befnedungsbund auch auf Riga aus und gaben ihrer
Politik eine neue Wendung. Es ward die bekannte pommerisch-
brandenburgische Fehde, welche die Ostseestadte in Mitleiden-
schaft gezogen und bedroht hatte, durch den lOjahrigen Rostocker
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Harttung, Julius, Norwegen und dio deutschen Seestadte etc. 125
Landfrieden 1283 zwischen dem Herzoge von Sachsen und den
ihm verwandten Fiirsten der wendischen Ostseegebiete einerseits,
andrerseits Liibeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald,
Stettin, Demmin, Anklam, denen sich bald noch mehr Fiirsten
anschlossen, zu Gunsten der Stadte beendet. Ein Sieg der
Stadte iiber die Fiirsten ! So war Liibeck das Bindeglied zweier
Vereinigungen geworden, des Rostocker' und des Seefriedens-
biindnisses, seine Stellung wurde immer macbtiger, seine Bedeutung
wucbs je mehr und mehr. (Die Ansicht Nitzsch's, Preuss.
Jahrb. XXXV, 116, dass Liibeck mit einem Schlage das deutsche
Fiintenthum hatte matt setzen wollen und andrerseits den Fiirsten
die einzige, abcr auch vollkommen zuverlassige Hilfe hatte bieten
kotmen, bestreitet Harttung ; ihm liegt die Grosse Liibecks nicht
in seinem Auftreten als freie Reichsstadt, sondern in seinem Auf-
gelen in dem Stadtebunde.) Dem gegeniiber gewann Brandenburg
die alte Verbiindete Liibecks, Hamburg , fur sich , ein deutliches
Zeichen, wie locker damals noch die Stadteeinungen waren. Kurz
darauf schloss Liibeck mit Erich Glipping von Danemark einen
Sektzvertrag auf 3 Jahre, dessen Spitze sich gegen Brandenburg
kehrte. Liibecks Bemiihungen gelang es endlich, zwischen den
Verbiindeten und den Brandenburgern den Frieden von Vierraden
1284 zu Stande zu bringen , aus welchem wiederum die Stadte
den einzigen Vortheil zogen.
Wahrend also auf diesem Gebiete die deutschen Kaufleute
gliicklich operirt hatten, gestalteten sich dagegen die Verhalt-
nisse in Norwegen drohender fiir sie. Sie hatten namlich viel-
feche Bedriickungen und Benachtheiligungen zu erdulden. Ob-
gleioh sie sich dagegen gewehrt hatten und Erich Priesterfeind
deshalb in seinem Verfahren eingelenkt hatte, brachen doch die
Norweger von Neuem wider die Deutschen los, alien voran Alf
Eriingason, der Urtypus eines norwegischen Freiherrn. Die von
iim auch an den danischen Kiisten ausgefiihrten Pliinderungen
tetrachtet Harttung wegen Alfs Stellung zur Konigin Mutter als
emen officiosen Krieg Norwegens gegen Danemark , urn dasselbe
den norwegischen Forderungen in Bezug auf die Ingeborgsche
Brbgchaftsfrage geneigt zu machen. Wollte sich Danemark nicht
%en, so musste es sich an den lubischen Bund anlehnen. Dies
geschah November 1284. Und nun verhing die erste Versamm-
long degselben zu Wismar die Handelssperre gegen Norwegen,
iun-68 auszuhungern, die zweite schloss Bremen, weil es sich von
den Verbiindeten losgesagt, vom Handelsverkehr mit ihnen aus,
das alteste Denkmal der lubisch-bremischen Eifersucht. Edward
Ton England, von beiden Seiten umbuhlt, blieb vor der Hand
neutral. Nachdem die Verbiindeten vergeblicb versucht hatten,
Schweden auf ihre Seite zu ziehen, beschlossen sie 1285, kriegs-
geriistete Schiffe gegen Norwegen, dessen einziger Bundesgenosso
Bremen war, auszusenden. Jedoch erwies sich der Bund im
Augenblicke der Entscheidung ohne alle Wirkungskraft, weil dio
Sonderinteressen der einzelnen Glieder das allgemeine iiberwogen.
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126 Harttwig, Julias, Norwegen and die deutschen Seest&dte etc.
Hamburg und Danemark betheiligten sioh nicht am Kampfe, in
Mecklenburg entzweite eine Fehde die Fiirsten, mit einem Worte,
der Landfriedensbund war zersprengi Trotzdem begannen die
Stadte den Karopfi der wesentlich defenaiver Natur sich auf Ab-
schneidung der Zufahr beschrankte; ja es ist nicht einmal klar,
ob man in Norwegen officiell einen Krieg anerkannt hat. Wegen
der Luge der Dinge in Danemark griff man jetzt in Norwegen zu einer
ganz neuen Politik, man suchte sich mit den 2 andern nordischen
Maehten gegen die Stadte zu verbinden. Diesen PlaSi vernichtete
jedoch der Bund, indem er Magnus Yon Schweden urn Vermitt-
lung des Friedens bat; dasselbe that auch Danemark, wahr-
scheinlich auf Veranlassung des Bundes. Zu Gullberg fanden
daraufhin die Praliminarverhandlungen statt, der Definitivfriede
ward in Kalmar abgegchlossen, jedoch nicht mit dem Bunde ab
goichem, sondern mit den einzelnen Stadten. Um mit in den
Friedensschluss aufgenommen zu werden, traten die westfalischen
Hud hollandischen Stadte mit dem Bunde in Verbindung. Die
Freiheiten des deutschen Kaufmannes wurderi durch denselben
wesentlich auf den status quo ante zuruokgefiihrt; der Auffassung
der Deutschen aber, dass sie auch iiber Bergen hinaus nordwarts
und auoh im Winter Handel treiben diirften, sollte bald von
Norwegen aus begegnet werden. Erich Glipping , der weder an
den Praliminarien noch an dem Vertrage theilgenommen hatte,
stand noch immer in feindlichem Verhaltnisse zu Norwegen, seine
Ennordung, welche unter heimlicher Mitwissenschaft Erichs von
Norwegen geschehen zu sein scheint, fuhrte eine vollige Umge-
staltung der Dinge herbei. AUes hing yon der Haltung der
Stadte ab, sie begannen eiligst Unterhandlungen mit Erich Men-
ved iiber die schwebenden Streitfragen, und so ward Danemark
trotz der Machinationen der Grossen und der Norweger nicht
aus den Fugen gesprengt. Die Streitfrage iiber die Entschadigung
einiger Stadte yon Seiten Norwegens ward auf 2 Tagen zu Tans-
berg giitlich im Interesse ersterer beigelegt. Doch gestalteten
sich die Beziehungen zwischen Norwegen und den deutschen See*
st&dten nicht inniger, die norwegische Seerauberei flammte aber*
mals empor; nur* Bremen erhielt 1292 neue Vergiinstigungen,
einerseits zum Dank fur sein Yerhalten im Seekriege, andrerseits
um es in den Irrungen, welche zwischen Norwegen und Kampen,
Stavern und den wendischen Seestadten von neuem schwebten,
auf seiner Seite zu haben. Diese wurden aber 1294 zu Tuns-
berg beigelegt Das $esultat dieser Yerhandlungen bildete die
Grundlage des zukiinftigen Verkehrs sowol zwischen Norwegen
und Deutschland als zwischen Bremen und den Seestadten; den
letzteren wurden so weitgreifende Privilegien verliehen, dass sie den
norwegischen Handler im Laufe der Zeit erdriicken mussten. Von
jetzt ab sind in Bergen Fremde und Einheimische gleich behan-
delt, beide leben friedlich nebeneinander. 1296 bewilligte Erich
Hamburg dieselben und noch grossere Vortheile. Das Verbalt-
niss Hamburgs zu Bremen blieb aber trotzdem freundlich, hin-
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Herquet, Karl, Juan Fernandez de Horedia etc. 127
gegen zu den iibrigen Seestadten ward es sehr kiihl. 1298 end-
Uch trog Erich den Stadten seine Schuld ab. Nach dessen Tode
1299 lebte sein Nachfolger Hakon zwar Anfangs mit den See-
stadten in Freundschaft , ihren Handel jedoch und ihren Ueber-
muth suchte er moglichst niederzudriicken , je mehr beide zu-
nahmen. 1315 namlich setzte er einen specialisirten Zolltarif
far Ausfuhrwaaren fest und stellte zugleioh die Deutschen mit
alien iibrigen Fremden auf eine Linie. Das hiess den deutschen
Handel vernichten. Wahrend die Deutschen friiher energisch zu
den Waffen gegriffen , thaten sie jetzt nichts dagegen, sie ver-
liessen sich auf die Zeit und auf ihre Unentbehrlichkeit. Und
in der That, 1317 hob Hakon seine Verordnung wieder auf* Im
2. Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts rerschwindet die gemeinsame
stadtische Politik, eine Periode der Abspannung folgt sowol in
Beutschland, wie im skandinavischen Norden. Um die Mitte des
14 Jahrhunderts jedoch arbeitet sich der Bund der Seestadte
wieder hervor und zwar als „deutsche Hanse", und um dieselbe
Zeit entstand in Bergen das sogenannte Contor, welches nach
and nach das ganze commercielle Lebon Norwegens in seine
Kreiae zog.
In einem Anhange theilt Harttung 2 Urkunden mit, die von
dem Herausgeber des hansischen Urkundenbuches ubersehen sind,
und Nachtrage fur Band I. desselben.
Plauen i. VogtL Dr. William Fischer.
XXXI.
Herquet, Karl, Juan Fernandez de Heredia, Grossmeister des
Johanniterordens. (1377—1396.) gr. 8. (VIII, 118 S.)
Miihlhausen i. Th. 1878. Adolf Foerster. 3 M.
Juan Fernandez de Heredia, der spate re Grossmeister des
Johanniterordens, dessen Geschichte in der vorliegenden Schrift
zwa ersten Mai im Zusammenhange auf Grund ausgedehnter
Qudlenstudien dargestellt wird, war der jiingere Sohn einer vor-
nehoen aragonischen Familie und ist um das Jahr 1310 geboren
wrden. 1332 ging er nach Rhodus Und wurde Johanniterritter,
er kehrte aber bald nach seinem Heimatlande zurttck, in welchem
der Orden reich begiitert war, wurde dort zunachst Inhaber
zweier Comraenden, erhielt danu c. 1344 die Castellanei von Am-
posta und damit das Ordenspriorat in Catalonien. Er hat hier
in der Heimat bald eine bedeutende Rolle gespielt , er kam an
den Hof Konig Peter IV. von Aragonien , erscheint schon 1339
ftls dessen rertrauter Rathgeber und wurde 1347 Kanzler von
Aragon. Er hat dann als treuer Anhanger des Konigs Theil
genommen an den Handeln und Kampfen, in welche derselbe
nut seinen jiingeren Briidern und mit einem Theile des Adels und
tier Stadte seines Landes, welche sich gegen ihn zu einer Union
weinigten, gerieth, welche schliesslich aber 1348 mit der Unter-
driickung des Aufstandes endigten. Zugleich ist er auch in ein
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128 Herquet,.Karl, Juan Fernandez de Heredia etc.
naheres Verhaltniss zu der papstlichen Curie getreten, 1345 ging
er nach Avignon, nahm dann an dem zwischen Frankreich
und England ausgebrochenen Kriego, und zwar auf franzosischer
Seite Theil, auch bei Crecy scheint er zugegen gewesen zu sein.
1353 finden wir Heredia, wahrscheinlich in Angelegenheiten des
Ordens, in Patras, dann wieder in Avignon, und zwar hier schon
in hoher Gunst bei Papst Innocenz VI., derselbe iibertrug ihm
ganz widerrechtlich und trotz der Gegenbemuhungen des Gross-
meisters aucb das reiche Ordenspriorat von St. Gillers; Heredia
ferner ist wahrscheinlich der eigentliche Urheber des Planes
gewesen, welchen der Papst damals verfolgt hat, dem Orden zur
Erwerbung des so gut wie herrenlosen und tief zerriitteten
Furstenthums Achaja zu verhelfen. 1356 nahm Heredia an der
Gesandtschaft Theil, welche der Papst unter dem Cardinal
Talleyrand zur Vermittlung des Friedens zwischen Frankreich
und England aussandte, dieselbe hatte keinen Erfolg, Heredia
aber blieb in dem franzosischen Lager und kampfte ganz wider-
rechtlich auch in der Sohlacht bei Mauportuis mit. Er wurde
dort gefengen, der erziirnte Schwarze Prinz wollte ihn anfanglich
hinrichten lassen, verschonte ihn aber doch in Folge einfluss-
reicher Verwendung und Heredia wurde dann ausgelost. Er
blieb in Avignon und die Gunst des Papstes schiitzte ihn auch
gegen die Ordensregierung, welche ihn wegen veruntreuter Gelder
zur Rechenschaft zu ziehen suchte. Von 1357—1373 ist Heredia
meist in Spanien gewesen und hat dort wieder in hervorragender
Weise Theil genommen zunachst an den Kampfen zwischen Peter
von Aragonien und Peter dem Grausamen von Castilien, dann
an dem in Castilien selbst zwischen diesem Konige und dessen
Halbbruder Heinrich von Trastamara ausbreohenden Kriege,
welcher nach mannichfaltigen Wechselfallen und nachdem von der
einen Seite Bertrand du Gnesclin mit seinen franzosischen
Soldnercompagnien , von der anderen Seite der Schwarze Prinz
daran Theil genommen hatten, endlich mit dem Untergange
Peters (1369) und dem Abschluss des Friedens zwischen Heinrich
und dem Konige Peter von Aragonien (1375) endigte. Zwischen-
ein war 1360 Heredia von dem Papste nach Avignon gerufen
worden, um diese Stadt gegen die sie bedrohenden Soldner-
compagnien zu schiitzen, auch 1373 kehrte er dorthin zuriick,
prasidirte dort 1373 und 1375 als Stellvertreter des Gross-
meisters den Ordensversammlungen , welche Streitigkeiten inner-
halb des Ordens selbst schlichten und Htilfssendungen nach dem
Orient vorbereiten sollten, 1376 befehligte er dann die Flotte,
auf welcher Papst Gregor XL nach Italien zuriickkehrte , bei
dem Einzuge in Rom trug er das Banner der Kirche. Er betrieb
dann dort 1377 die Riistungen zu einer Hiilfssendung nach Rhodus
und wurde in diesem Jahre, 'nachdem der Grossmeister Robert
de Julhiac gestorben war, von dem Convente ohne Zweifel haupt-
sachlich wegen seines intimen Verhaltnisses zu der papstlichen
Curie zu dessen Nachfolger gewahlt. Als solcher nahm er sofort
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Herquet, Karl, Juan Fernandez de Heredia etc. 129
die schon friiher begonnenen Verhandlungen wegen der Erwerbung
des Fiirstenthums Achaja fur den Orden wieder auf, er begab sich
zunachst nach Neapel und schloss dort mit der Konigin Johanna
and deren Gemal Otto von Braunschweig, welche dem Namen
nach Herren des Fiirstenthums waren, einen Vertrag ab , durch
welchen dasselbe gegen eine jahrliche Rente auf 5 Jahre dem
Johamritecprden iiberlassen wurde. Er ging dann selbst nach
Griechenland und zog dort gegen den mit den Tiirken verbiin-
deten albanesischen Hauptling Spata zu Felde, entries demselben
Lepanto, liess sich dann aber in einen Hinterhalt locken, wurde
gefangen, von Spata an die Tiirken ausgeliefert und erst 1381
aaagelost. Er ging jetzt nach Rhodus, dem Sitz der Ordens-
regjarung. Inzwischen hatte sich in Achaja die Navarresische
Compagnie festgesetzt, die Verhandlungen mit derselben wegen
Abtetung des Landes waren erfolglos, und so trat der Orden
seine Kechtsanspriiche auf dasselbe wieder an Johanna von Neapel
ab. Wahrend Heredias Gefangenschaft war aber auch die grosse
Kirchenspaltung ausgebrochen , und diese zog auch bald den
Orden in Mitleidenschaft. Heredia, der Convent in Rhodus und
der grosste Theil der Ordensritter im Abendlande erkannten den
arignonschen Papst Clemens VII., die meisten Italiener aber
und das bohmische Priorat Urban VI. an, dieser hat dann Heredia
abgesetzt und den Prior von Capua, Caraccioli, zum Grossmeister
erhoben, doch blieb der grosste Theil der Ordensritter auf He-
redias Seite. Durch diese Spaltung wurde die bedrohte Lage
des Ordens im Orient noch verschlimmert , auf Beschluss einer
Generalversammlung ging daher Heredia, begleitet von 4 Ordens-
procuratoren, nach dem Abendlande zuriick, um von dort Hiilfe
zu ferschaffen. Er begab sich nach Avignon, hat aber in jener
Hauptangelegenheit wenig ausgerichtet, er hat von dort aus auch
noch eimnal, aber wieder ohne Erfoig, Verhandlungen wegen
Achajas mit der Prateudentin Maria von Bourbon und den
Navarresen angekniipft und ist schliesslich ganz in Avignon ge-
Mieben. Trotz der Bedrangniss des Ordens lebte er selbst dort
ia gfinzenden Verhaltnissen und hat auch fur seine Familie (er
*ar, bevor er in deu Orden getreten war, zwei Mai verheiratet
gewesen und hatte 4 Kinder) auf das reichlichste gesorgt. Dort in
Arignon ist er 1396 hochbetagt gestorben. Er hat sich gerade in
jenen letzten Jahren auch mit schriftstellerischen Arbeiten be-
schaftigt und eine Grant cronica de Espanya, von der der erste
Theil (—711) und der dritte (1312—1344) erhaJten sind, ferner
eine Cronica de los Conquistadores und Flor de las ystorias de
0rientege8chrieben, alle diese Werke sindCompilationen, das letztere
ist dadurch besonders merkwiirdig, dass ihm eine, die erste spa-
niache, Uebersetzung des Reiseberichtes Marco Polos angehangt ist.
Von den 5 Beilagen, welche der Schrift beigegeben sind,
hehandelt die erste jene schriftstellerischen Werke Heredias, von
denen sich die Originalhandschriften in der Bibliothek des Her-
zop von Ossuna und im Escorial vorgefiinden haben und iiber
MittheUnngen a. d. histor. Ltttcrntur. VI. 9
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130 Beumont, Alfred v., Geschichte Toscana's.
welche der spanische Gelehrte Amador de los Rios genauere
Kunde gegeben hat. Die anderen stehen mit der Geschichle
Heredias in keinem unmittelbaren Zusammenhange. Die zweite
giebt nahere Nachrichten, meist aus archivalisohen Quellen ge-
schopft, iiber den deutschen Johanniterritter Hesso Schlegelholte,
welcher unter Heredia und unter dessen Nachfolger Philibert de
Nailhac eine hervorragende Stellung in dem Orden eingenommen
hat, in der dritten wird die Lage und die Zeit der Grundung
des St. Peterscastells festgestellt , einer festen Burg, welche der
Orden noch vor dem Verlust von Smyrna 1400 auf dem Fest-
lande, auf den Triimmern des alten Halicarnass, errichtet und
welche er bis zum Falle von Rhodus behauptet hat. Die Visi-
tation dieses Castells stand dem immer aus der deutschen Zunge
genommenen Grossbailli zu, und der Verf. lasst hier ein Verzeich-
niss der beglaubigten Trager dieser Wiirde und ihrer Stellrer-
treter folgen, der erste ist Johannes Schlegelholtz , ein Ver-
wandter jenes Hesso. Die vierte Beilage enthalt eine langere
Untersuchung iiber die Zerstorung des Mausoleums von Hali-
carnass, welche neuere Archaologen (Sainte-Croix und Kinkel)
dem Johanniterorden Schuld gegeben haben. Der Verf. weist
nach, dass der obere Theil dieses beriihmten Kunstwerks durch
ein Erdbeben herabgestiirzt sein muss und dass schon im 4. Jahr-
hundert dasselbe theilweise zerstort gewesen ist. Die fiinfte
Beilage endlich giebt eine Liste der urkundlich beglaubigten
Prioren des Johanniterordens in Deutschland und ihrer SteH-
yertreter (1207—1546).
Berlin. F. Hirsch.
XXXH.
Reumont, Alfred v., Geschichte Toscana's. Theil 1 und 2.
[Geschichte der europaischen Staaten. Herausgegeben Ton
H. A. L. Heeren, F. A. Ukert und W. v. Giesebrecht. Lief.
XXXVH, 2. Abth. XXXVffl, 1. Abth.] gr. 8. (XVHI, 654
und XIX, 681 S.) Gotha 1876/77, Fr. Andr. Perthes. 27 M.
Die neuere Geschichte Italiens hat in dem letzten Bande
des Leo'schen Werkes nur eine ganz summarische Behandlung
erfahren, die neue Redaction der ^Geschichte der europaischen
Staaten" hat daher die Veraniassung zu einer neuen eingehen-
deren Bearbeitung derselben gegeben und zwar in der Weise,
dass die Geschichte der einzelnen grosseren Staaten der Halb-
insel vom Beginn der Neuzeit an bis zum Aufgehen dieser Staaten
in den heutigen italienischen Einheitsstaat in gesonderter Dar-
stellung erscheinen soil. In dem vorliegenden Werke, der Ge-
schichte Toscana's von A. v. Reumont, begrussen wir den ersten
Theil dieser italienischen Staatengeschiohten. Es ist als ein
besonderer Gliicksfall zu bezeichnen, dass gerade dieser Verfasser
fiir die Bearbeitung desselben gewonnen worden ist. Denn wenn
Herr v. Reumont anerkannter Massen unter unseren Landsleuten
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Eeumont, Alfred v., Geschichte Toscan&'e, 131
der griindlichste Kenner der Geschichte Italians uberhaupt ist,
so ist dieses ganz besonders in Betreff der Geschichte Toscana's
der Fall, des Landes, in dem er lange Jahre gelebt und ge-
arbeitet, and wo er in Wahrheit sich eingebiirgert hat. Seine
Arbeit zeugt von dem griindlichsten Studium und der ausgebreitet-
sten Gelehrsamkeit , sie fiihrt uns in ausfuhrlicher Darstellung
nicht nur die ausseren Schicksale und die innere Verwaltung
des toscanischen Staates, sondern ebenso auch die okonomischen
und geseUschafUichen, litterarischen und kiinstlerischen Verhait-
nifl»e desselben wahrend dreier Jahrhunderte vor, man kann dreist
behaapten, dass ebenso wenig m$ irgend ein wichtigeres politi-
sches Ereigniss, so auch kem irgend wie bedeutendes Kunstwerk
oder tttterarisches Erzeugniss, in so fern ein solches auf toacani-
scbem Bod en entstanden ist, hier unberiicksichtigt geblieben ist.
Dabei ist diese Fiille des Details keineswegs ermiidend oder er*
droekend, denn immer fiihrt der Verfasser dasselbe in grosserem
und weiterem Zusammenhange an. Die Darstellung ist zwar
schmucklos, aber doch anziehend und lebendig, der Verfasser hat
sichtlich mit vieler Liebe sich dieser Arbeit hingegeben, iiberall
weht uns aus derselben ein soleher ertmrmender Hauch an. Ob
sein Urtheil iiberall ganz zutreffend ist, ob er nicht in Folge
nur zu natiirlicher Sympathien und Antipathien einzelne Per-
8onlichkeiten und Zustande etwas zu giinstig, andere (ich denke
namentlich an die Darstellung der revolutionaren Ereignisse
1848 und 1849) mit zu dunklen Farben geschildert hat, daruber
warden die Meinungen getheilt sein, jedenfalls aber tritt iiberall
8ein redliches Bestreben nach gerechter, objectiver Abwagung
hervor.
Der erste Band behandelt die Geschichte Toscana's unter
den Medici (1530 — 1737), innerhalb desselben zunachst ein erstes
Buch: „Die Griindung und Ausbildung der Mediceischeii Allgewalt"
(1530 — 1574). In dem ersten einleitenden CapiteL schildert der
Verfasser mit kurzen, aber scharfen Strichen die Hauptzuge der
alteren florentinisohen Geschichte von der Ausbildung der Demo-
kratie zu Ende des 13, Jahrhunderts bis zur Eroberung der
Stadt, in welcher 1527 noch einmal nach der Vertreibung der
Medici die republikanische Verfassung wiederhergestellt war,
durch das kaiserlich-papstliche Heer 1530. Das zweite Capitel
steBt das Ende der Republik dar. Durch die Capitulation vom
i August 1530 war den Florentinern die Erhaltung einer Art
von freiheitlicher Verfassung zugesagt worden, die Ordnung der
Beperungsform, aber unter Erhaltung der Freiheit, war der
Entscheidung Kaiser Carl V. vorbehalten, vorlaufig nur die Riick-
kehr der Verbannten und ailgemeine Amnestie festgesetzt worden.
Allein sofort nach der Uebergabe riss die mediceische Partei
d&s Regiment an sich, eine am 20. August eingesetzte Commis-
sion nahm eine Neuwahl der Magistrate vor, decretirte die Rtick-
berufung der Medici, begann die Verfolgung der Gegner, ernannte
am 17. Februar 1531 Alessandro de* Medici, den unechten Sohn
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132 fteumont, Alfred v., Geschichte Toscana'i.
Lorenzo's, des Herzogs von Urbino, des Enkels Lorenzo's dee
Prachtigen, zu ihrem Mitgliede und zum Vorsitzenden aller Magi-
strate. Im Juli 1531 zog dann Alessandro in Florenz ein, be-
gleitet von einem kaiserlichen Commissar, welcher die Entschei-
dung Carl V. iiberbrachte, danach sollte die Verfassung, wie sie
vor der Vertreibung der Medici bestanden, wiederhergestellt werdes,
Alessandro de' Medici und seinen Nachkommen erblich der Vor-
sitz in alien Behorden zustehen. AUein Papst Clemens VII. war
auch damit nicht zufrieden, er wiinscbte die Herrschafb seiner
Familie nocb mehr befestigt, auch den Namen und Schein einer
republikanischen Verfassung ih Florenz beseitigt zu sehen, er
brachte es dahin, dass eine neue Commission eingesetzt, und dan
durcb diese eine neue Verfassung festgestellt wurde, kraft deren
die alten republikanischen Aemter der Signoria und des Gonfa-
loniere abgeschafft und Alessandro zum erblichen Herzoge von
Florenz ernannt wurde. Am 1. Mai 1532 legte die Signoria ihr
Amt nieder und Alessandro wurde zum Herzog von Florenz
proclamirt. Das dritte Capitel bebandelt die kurze Regierung
dieses ersten mediceisohen Herzogs (1532 — 1537). Derselbe
zeigte sich zu Anfang wohlwollend und thatig, ergab sich aber
bald mehr und mehr einem ausschweifenden , ziigellosen Leben,
entfremdete sich auch die vornehmsten Vertrauten seines Oheims,
des Papstes, namentlich den machtigen Filippo Strozzi und dessen
Sohne, die er anfangs an sich gezogen hatte. Die Strozzi ver-
liessen Florenz und wurden bald die Haupter der zahlreichen
Verbannten und Unzufriedenen, welche von der Fremde aus den
Sturz der mediceischen Herrschaft betrieben. Durch den Tod
Clemens VII. und die Erhebung Paul III. auf den papstlichen
Thron (1534) verlor Alessandro seine machtigste Stiitze, jetzt
wurde Rom selbst der Sammelpunkt der florentinischen Ver-
bannten. Als Carl V. 1535 auf der Riickkehr von dem Zuge
nach Tunis in Neapel verweilte, erschienen bei ihm die floren-
tinischen Verbannten und fuhrten Klage iiber Alessandro , aber
auch dieser, von Carl eingeladen, fend sich dort ein, fiir ihn
fiihrte Franc Guicciardini das Wort, und es gelang ihm, sich
die Gunst Carls zu er h alten ^ er kehrte als Herrscher nach
Florenz zuriick und heirathete jetzt die ihm schon fruher ver-
lobte natiirliche Tochter des Kaisers, Margarethe. AUein er
setzte seinen wiisten Lebenswandel fort und wurde schliesslich
1537 von dem Genossen seiner Liiste, seinem Vetter Lorenzino,
ermordet.
Die folgenden 7 Capitel haben die Darstellung der Regie-
rung Cosimo I. (1537—1574) zum Gegenstande, der allerdings,
als der eigentliche Griinder des toscanischen Staates, einer so
eingehenden Berucksichtigung durchaus wiirdig ist. Nach Ales-
sandro's plotzlichem Tode tauchte in Florenz der Gedanke auf,
die Republik wiederherzustellen , allein derselbe kam nicht zur
Ausfiihrung, auf den Vorschlag Guicciardini's erwahlte der Senat
den nachsten Verwandten des gestorbenen Herzogs, Cosimo, unter
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Reumont, Alfred v., Geschichte Toscana's. 133
dem Titel ernes Signore und mit beschrankten Befugnissen zum
Herrccher. Cosimo, der Sohn Giovanni's de' Medici (mit dem
Beinamen delle bande nere), des einzigen Medici, welcher sich
kriegerischen Ruhm erworben hatte, kam so (Januar 1537) erst
18j£hrig zur Regierung. Er erwirkte die Bestatigung des Kai-
sers, musste sich aber eine spanische Besetzung in der Citadelle
Ton Florenz gefallen lassen , ein Onternebmen der Verbannten
gegen die Stadt im August 1537 missgliickte, zu Montemurlo
wnrden die Haupter dorselben gefangen, darauf die meisten hin-
gerichtet, Filippo Strozzi blieb in spanischer Gefangenschaft,
starb aber auch schon im nachsten Jahre. Cosimo hat darauf
teraeht, in engem Anschluss- an die kaiserlich-spaniscbe Politik
mramwhrankte Gewalt im Inneren und woitere Ausdehnung des
Gebietes seines Staates zu erretchen. Das erste gelanjj ihm bald,
er beseitigte die einflussreichen Manner, denen er seine Erhebung
rerdankte, namentlich Guicciardini, und er nahm dann eine Neu-
ordnung der Verfassung des Staates vor. Der Zugang zu den
Aemtern wurde jetzt alien Biirgern erst 'der Stadt, dann des
ganzen Staatsgebietes geoffnet, aber diese Behorden (die wich-
tigste die Pratica segreta) wurden nur Werkzeuge in der Hand
des Fureten, durch strenge Specialgesetze (die Legge Polverina
gegen die Rebellen), durch ein scharfes Polizei- und Spionirsystem
wusste derselbe Furcht zu erzeugen. Cosimo hat dann fiir wohl-
geordnete, bald reiche Finanzen gesorgt, er suchte den tief ge-
8nnkenen Wohlstand des Landes zu heben, er forderte Handel,
Industrie und Ackerbau, schuf sich aber auch eine Achtung ge-
bietende Kriegsmacht. Auch auf dem kirchlichen Gebiete wusste
er Ruhe zu erhalten, er iibte strenge Kirchen- und Sittenpolizei,
begann eine Reform der Kloster, aber er zog auch die Jesuiten
nach Florenz, duldete die Inquisition, suchte dieselbe jedoch von
der Staatsgewalt abhangig zu machen; diese Massregeln, dazu
die Anhanglichkeit des Volkes an die alte Kirche, bewirkten,
dass die reformatorischen Ideen, welche in einzelnen Mannern
Wurzeln schlugen, keine weitere Verbreitung fanden, dass jene
Manner (Ochino, Vermiglia, die Sozzini) auswandern mussten.
Weniger gliicklich war Cosimo zu Anfang mtt seinem Bestreben,
das Gebiet seines Staates zu vergrossern, trotz seines engen An-
Bchlusses an die spanische Politik gonnte ihm der Argwohn
Spaniens keine Erwerbungen, als Lohn fiir seine Bundesgenossen-
schaft im 4. Kriege Karl V. gegen Frankreich erlangte er nur,
dass 1543 Florenz selbst und die anderen noch von spanischen
Truppen besetzten Festungen des Landes von denselben geraumt
wurden. Auch Cosimo sah sich durch die spanische Politik
Carl V. gefahrdet, trat daher zeitweise mit Frankreich in Unter-
handlungen, doch fiihrten dieselben zu keinem Abschluss. An
dem 1552 durch Papst Paul IV. in Italien entziindeten Kriege
betheiligte er sich zu Anfang nicht, benutzte dann aber die Ge-
legenheit, um das benachbarte Siena, welches eine franzosische
Besatzung aufgenommen hatte und wo der jiingere Strozzi, das
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134 Reumont, Alfred v., Geschichte Toscana's.
Haupt der noch immer den Sturz der medioeischen Herrschaft
betreibenden florentinischen Verbannten, commandirte, anzu-
greifen. Nach gebeimer Verstandigung mit dem Kaiser begann
er im Januar 1554 den Krieg, nach langwieriger Belagerimg und
hartnackigen Kampfen musste Siena im April 1555 capituliren
und sich in den Schutz des Kaisers begeben. Cosimo trachtete
nun danaoh, Siena fur sich zu behalten, verlangte vom Kaiser
Erstattung der Kriegskosten , anfangs vergebens, aber in Folge
des Ausbruches des neuen Krieges in ItaJien 1556 erlangte er,
dass der neue Konig von Spanien, Philipp II., ihn mit Siena
und dem Gebiete dieser Stadt, ausgenommen die Kiistenstadte,
belehnte, der Friede von Chateau Cambresis 1559 sicherte ihm
die neue Erwerbung, welchc hinfort als ein besonderes Gebiet
eine cigene Verwaltung erhielfc Durch die Vereinigung des
sienesischen Landes mit Florenz ist der Staat Toscana begriindet
worden. Die nachsten Jahre waren fur Cosimo eine glucklicbe
Zeit, in Italien herrschte Frieden, auch im Inneren konnte er,
jetzt in gesicherter Stfellung, ein milderes Regiment fiihren, 1562
griindete er zum Schutz gegen Tiirken und Barbaresken den
St. Stephansorden. Allein bald wurde durch traurige Familien-
ereignisse dieses Gliick getrubt, Ende 1562 starben kurze Zeit
nach einander zwei Sohne des Herzogs und seine Gemahlin,
Cosimo, triibe gestimmt, iiberliess schon 1564 die Verwaltung an
den Erbprinzen Francesco, behielt sich selbst aber die oberrte
Leitung vor. Seine letzten Jahre verflossen unruhig, auf ihm
lastete das spanische Uebergewicht und er suchte gegen dasselbe
an den Papsten und an Frankreich eine Stiitze, dazu kamen
Familienzerwiirfnisse, veranlasst namentlich dadurch, dass Cosimo,
der sich nach dem Tode seiner Gemahlin in Liebesverhaltnisae
eingelassen hatte, sich schliesslich mit einer seiner Maitressen
noch eiumal verheirathete. Cosimo starb 21. April 1574. Der
Verfasser zeichnet seine Personlichkeit als Mensch und Herrscher
und schildert dann ausfiihrlich seine Stellung innerhalb des
geistigen Lebens seiner Zeit. Cosimo hat aus personlicher Nei-
gung, aus Familientradition und aus Politfk Wissenschaft und
Kunst eifrig begiinstigt, er hat litterarische Vereino gefordert,
die Akademie von Florenz zur Staatsanstalt erhoben und sie
auch zu einer Lehranstalt gemacht, die Universitiit von Pisa neu
gegriindet. Unter ihm erbliihte eine reiche historische Litteratur,
theils von unabhangigen Autoren, theils von solchen, die in seinem
Auftrage und fiir seine Zwecke geschrieben haben, unter ihm
lebten gleich bedeutend als Kunstler wie als Kunstschriftsteller
G. Vasari und B. Cellini. Ein besonderes Intoressfc hegte er
auch fur naturwissenschaftliche Studien, fernor fiir Chemie, Mi-
neralogie und Medizin, unter ihm wurden die botanischen Garten
in Pisa und Florenz angelegt, die Marmorbriiche des Landes
ausgebeutet. Er ferner Hess die Laurentianische Bibliothek in
Florenz vollenden, die dortige kostbare Handschriftensammluug
ordnen. Nicht minder eifrig forderte er die schonen Kiinste, die
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Reumonl, Alfred v., Geachichte Toacana'a. 135
Jamais unter dem lei tend en Einfluss Michel Angelo's noch eine
Nachblzithe feierten, 1562 wurde die von Cosimo gegriindete
EoBstakademie erofihet, Cosimo selbst lebte in regem Verkehr
mit den florentinischen , in Briefwechsel mit auswartigen Ktinst-
lern, so auch mit Michel Angelo, in seinem Residenzpalaste liess
er ein Kunstkabinet einrichten und sorgte eifrig fiir die Be-
reicherung desselben. Auch in okonomiseher Beziehung hat seine
lange Regierung sehr segensreiche Friichte gebracht , die Stadt
Florenz hat sich unter ihm von dem Ruin, in welohen sie die
Bdagenmg von 1530 gestiirzt, wieder erholt, 1562 zahlte sie
wieder 64,000 Einwohner, einzelne Industriezweige hoben sich
wieder, namentlich bluhte das Eunsthandwerk. Noch giinstiger
gestalteten sich die Verhaltnisse in dem Landgebiete, dessen
Bewohner, lriiher zur Zeit der Republik von der herrschenden
Stadt in druckender Abhangigkeit gehalten, jetzt Rechtsgleichheit
emrben, denen es dann zu gute kam, dass die Florentiner,
aoch die hoheren Stande, jetzt mehr als friiher sich mit der
Landwirthschaft beschaftigten, auch das neu gewonnene Sieneser-
land hat sich sofort der eifrigen Fiirsorge des Herrschers zu
crfreuen gehabt. So ersohoint Cosimo in der That als eine be-
deutende Personlichkeit. „ Cosimo hat ein Chaos vorgefunden:
er hat seinem Nachfolger einen gut geordneten Staat ubergeben.
Er hat Gewalt und List nicht gescheut, so um sich zu behaupten,
wie um sich zu vergrossern; aber er hat diesen Staat auf festes
Fundament, auf strenge Justiz, Gleichberechtigung, gute Finanzen,
aosreichende Kriegsmacht zu Land und See begrundet. Er hat
Gehorsam und Ordnung im Innern geschafft, die Anlasse alten
Uaders und somit alter Schwache ausgerottet, dem Auslande
gegeniiber eine geachtete, moglichst unabhangige Stellung erworben
und bewahrt. Das neuere Toscana ist sein Werku (S. 293), er
nhat Macchiavelli's Vorschriften fur die Griindung einer Monarchic
zur Ausfuhrung gebracht"
Das zweite Buch behandelt die Zeit der spateren Medici
(1574—1737). Das erste Capitel enthalt die Geschichte des
Nachfolgers Cosimo's, seines altesten Sohnes Francesco (1574 bis
1587). Derselbe war seinem Vater sehr unahnlich, von seiner
Mutter, der Tochter des Vicekonigs von Neapel, Pedro de Toledo,
tatte er das steife spanische Wesen geerbt; er erlangte die
Anerkennung des seinem Vater schon von dem Papste verUehenen
Titels eines Grossherzogs auch durch Kaiser Maximilian II. und
Spanien, nlachte sich aber dafiir zum gefiigigen Werkzeuge der
habsburgischen Politik und gerieth in Folge dessen in gespannte
Verhaltnisse sowohl zu Frankroich als auch zu den meisten
italienischen Staaten. Mit seinem Vater theilte er nur das In-
teresge fiir die Kunst, sonst wurde er je langer desto unzugang*
Ucher, sparsamer, unpopularer, desto abhangiger von Frauen
und Giin8tlingen. Seine Gemahlin Johanna von Oestreich ver-
^acUassigte er, nach ihrem Tode heirathete er seine Maitresse,
Bianca Capello, und diese iibte in seinen letzten Jahren auf ihn
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136 Renmont, Alfred v., Geschichte Tosc&na's.
den grossten Einfluss aus. Seiner ubrigen Familie entfremdete
er aich mehr und mehr, seine Briider lebten im Auslande, der
altere, Cardinal Ferdinand, meist in Rom, der jungere, Pietro,
in Spanien. Im September 1587 rief er Ferdinand zu sich tmd
sohnte sich mit demselben aus, aber bald darauf erkrankte er
und ebenso seine Gemahlin, am 19. October starb er selbst, am
folgenden Tage Bianca, ein Sohn, den ihm Johanna von Oestreich
geboren, war schon friiher gestorben, so war sein nachster Erbe
der Cardinal Ferdinand, derselbe eilte sofort nach Florenz, wurde
als Herrscher anerkannt und regierte hinfort als Grossherzog
(1587 — 1609). Ferdinand, der schon als Cardinal in Rom eine
glanzendc und einflussreiche Rolle gespielt hatte, zeigte sich
seinem Vorganger wiederum sehr unahnlich. Er war vornehm,
aber leutselig und freigebig, prachtliebend und doch selbst massig,
er war der erste mediceische Herrscher, der popular wurde. In
seiner auswartigen Politik suchte er sich der Abhangigkeit yon
Spanien zu entziehen, daher mischte er sich in die franztfsischen
Wirren ein und zwar in einer der spanischen Politik entgegen-
gesctzten Richtung, er heirathete die lothringische Prinzessin
Christine, sicherte Marseille gegen die Anschlage des mit Spanien
eng verbiindeten Herzogs von Savoyen durch Besetzung des
Castells If (die toscanische Besatzung ist dort 8 Jahre, 1590 bis
1598, geblieben), er bestarkte trotz des heftigsten Grolls
Philipp EL den Papst Sixtus IV. in seiner franzosischen Pohtik,
beforderte Heinrich IV. Uebertritt zur katholischen Kirche und
seine Aussobnung mit Papst Clemens VIII. Nach Phlilipp tt
Tode trat er zu dessen Sohne Philipp III. in ein besseres Ver-
haltniss, um so mehr, da er von Frankreich schlechten Dank
erndtete. Zwar vermahlte sich Heinrich IV. mit Ferdinands Nichte,
Maria Medici, der Tochter Francesco's, aber er iiberliess Saluzzo,
das Ferdinand bei seiner Vermahlung zugesagt war, an den
Herzog von Savoyen. Ferdinand hat dann seinen altesten Sohn,
den Erbprinzen Cosimo, mit einer ostreichischen Prinzessin ver-
mahlt und hinfort eine Stellung zwischen beiden Grossmachten
einzunehmen versucht, im ongen Anschluss an die Papste. In
seinen letzten Jahren hat die toscanische Marine, die Graleeren des
Grossherzogs im Verein mit denen des Stephansordens sich eifirig
und riihmlich an den Kampfen gegen die Tiirken und die Bar-
baresken betheiligt, doch ging daruber der levantische Handel
Toscana's zu Grunde. Das 3. Capitel schildert die inneren Zn-
stande des Landes wahrend der Regierungen Francesco's und
Ferdinand's. Die innore Politik beider Fursten ist eine ahnliche
gewesen, beide haben das Regierungssystem ihres Vaters in der
Hauptsache fortgefuhrt. In jenen Zoiten haben die Handels-
beziehungen von Florenz eine grosse Veranderung erfahren, die
Unsicherheit in den Niederlanden, in Frankreich und Deutschland
hat zur Folge gehabt, dass die alto Verbindung mit Brugge,
Lyon und den oberdeutschen Stadten aufhorte, dafiir hat anfangs
ein lebhafterer Verkehr mit Spanien und Portugal, nameutlich
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Reumont, Alfred v, Geschiehte Toscana's. 137
mit Lissabon , Ersatz geboten , doch auch dieser ist nicht von
Daner gewesen, unter Ferdinand warden dann Verbindungen mit
den Ostseehafen, namentlich mit Liibeck und Danzig, angekniipft
und bedeutende Getreideladungen von dort nach Livomo gefuhrt
Ferdinand hat den Anfang gemacht mit bedentenden Meliorationen,
welche dann anch seine Nachfolger bis in die neueste Zeit hinein
beschaftigt baben, unter ihm begannen die grossartigen Versucbe
m Austrocknung und Urbarmachung des Chianathals nnd der
Sieneser Maremmen, von denen indessen vorlaufig die ersteren
mv Ton theilweisem Erfolge, die letzteren, namentlich in Folge
einer verkehrten Zollpolitik, ganz vergeblich gewesen sind. Sein
Hauptwerk war die Forderung von Livorno, welche Stadt als
Hafen- nnd Handelsplatz ihm eigentlich ihre Griindnng verdankt;
er bante die innere Stadt, zog durch Gewahrung grosser Frei-
heiten eine zahlreiche Bevolkerung, namentlich auch Fremde
dorthin. Das unter Francesco sehr verwilderte Leben am Hofe
wnrde unter Ferdinand feiner und gesitteter. Derselbe Gross-
herzog wirkte auch fur eine bessere und gemassigtere Rechts-
pflege; in seiner kirchlichen Politik war or sehr rucksichtsvoll
and fiig8am gegen den Papst und die Geistlichkeit, doch erregte
schon bei ihm das grosse Anwachsen der Besitzungen der Kirche,*
namentlich der Jesuiten, Besorgnisse. — Die folgenden Capitel,
4—7, behandeln die Regierung der letzten vier mediceischen
Fureten. C!osimo II. (1609 — 1621) kam noch sehr jung zur
HeiTschaft und stand anfangs unter dem Einflusse seiner Mutter.
Wahrend seiner Regierung wurde auch Toscana mit in die
Wirren hineingezogen , welche die Ruhe Italiens storten, zuerst
drohte der Ausbruch eines neuen Krieges zwischen Frankreich
nnd Spanien, doch wurde derselbe durch die Ermordung Hein-
rich IV. verhindert, und Cosimo wirkte dann eifrig zur Aus-
whnung beider Machte mit. Dann folgten die Streitigkeiten,
welche nach dem Tode des Herzogs Francesco von Mantua zwi-
schen dessen Nachfolger Ferdinand und dem Herzoge von Savoyeii,
der Montferrat besetzt hatte, ausbrachen, an denen auch Spanien
sich betheiligte und Toscana zur Zahlung von Subsidien nothigte.
Auch Kaiser Ferdinand II. von Deutschland wurde von Cosimo
mit Geld und Truppen unterstiitzt, zu den tosoanischen Haupt-
lenten, welche 1619 nach Deutschland zogen, gehorte audi
Ottavio Piccolomini. Zugleich setzte der Stephansorden seine
nilimvolle aber wenig erspriessliche Thatigkeit in dem Seekriege
gegen die Tiirken fort. Cosimo suchte in Frankreich zwischen
Lndwig XIII. und dessen Mutter Maria Medici zu vermitteln,
doch ohne Erfolg, auch von Spanien erndtete er wenig Dank,
die Ert>8chaft der Appiani, Piombino und Elba, wurde ihm von
den Spaniern vorweggenommen. Cosimo's Nachfolger, sein altester
Sohn Ferdinand II., war bei seinem Regierungsantritt (1621) erst
11 Jahre alt, fur ihn fiihrten bis zum Jahre 1628 seine Mutter,
eine ostreichische Prinzessin, seine Grossmutter und ein Regent-
fichaftsrath von vier Mitgliedern die Geschafto. Die erste Hilfte
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138 Reumont, Alfred v., Geschichte Toscana's.
seiner langen Regierung (1621 — 1670) war auch erfullt von
kriegerischen Unruhen. Zuerst brach in Folge der Veltliner
Streitigkeiten der Krieg in Oberitalien ana. Die Hoffnung Fer-
dinands, welcber sich mit der Erbin des Hauses Rovere vermahlt
hatte, naoh dem Aussterben desselben wenigstens einen Theil des
Erbes zu erwerben, erfiillte sich nicht, Papst Urban VUL zog
das ganze Herzogthum Urbino und die andoren Besitzungen ein.
Dann folgte der Mantuanische Krieg (1628 — 1631), der Toscana
wieder zu Snbsidien und Anleihen an Spanien nothigte, dann
1641 — 1644 der Krieg zwischen Papst Urban VIII- und dem
Herzoge Odoardo Farnese von Parma, in welchem Ferdinand den
letzteren unterstutzte , dann nach Urban VIIL Tode und der
Erhebung Papst Innooenz IV. (1644) die barberinischen Handel,
in welche wieder Frankreich wie Spanien sich einmischten. Die
spateren Zeiten Ferdinands, von 1649 an, waren friedlich, er
wusste nach aussen hin eine geachtete Stellung einzunehmen, er
gewann 1650 Pontremoli, vermittelte 1664 den Streit zwischen
Papst Alexander VIII. und Ludwig XIV., auch in seinem Lande
war er popular, aber seine Familienverhaltnisse waren tief zer-
riittet. Ferdinand, heiter und lebenslustig , war seiner bigotten
Gemahlin entfremdet, iiberliess derselben aber die Erziehung des
Erbprinzen Cosimo. Dieser wurde 1661 mit der franzosischen
Prinzessin Margarethe Luise von Orleans vermahlt, aber audi
diese Ehe gestaltete sich zu einer hochst unglucklichen. Cosimo IE
ist dann seinem Vater gefolgt und hat auch eine sehr lange j
Regierung gefiihrt (1670 — 1723). Er war von seinem Vater sehr
verschieden, stei£ miirrisch, dabei prachtliebend, thatig, aber in-
consequent und willkiirlioh. Es gelang ihm nicht, nach aussen hin
eine einflussreiche Stellung einzunehmen, und im Inneren nahmen
die schon unter seinem Vorganger eingetretenen Missstande zu,
der Wohlstand des Landes war schon tief zerriittet Toscana
sah sich anfangs auch durch die Uebermacht Frankreichs be- .
droht, dann, seitdem (seit 1688) die Opposition gegen Lud-
wig XIV. sich gekraftigt hatte, suchte Cosimo zwischen beiden
Parteien zu laviren, auch im spanischen Erbfolgekriege suchte
cr sich neutral zu halten, wurde aber seit 1706 von Oestreich
zur Zahlung von Kriegssteuern genothigt. Schon unter ihm er-
offnete sich dann die Aussioht auf ein baldiges Aussterben seines
Hauses. Von seinen Sohnen hatte der Erbprinz Ferdinand, mit
einer bairischen Prinzessin vermahlt, keine Nachkommenschaft
und starb schon vor dem Vater 1713, der jiingere Sohn Johann
Grasto verheirathete sich 1697 mit der Prinzessin Anna Maria
von Saohsen-Lauenburg, er lebte anfangs mit derselben auf ihren
bohmischen Giitern, aber auch diese Ehe wurde eine hochst un-
gliickliche, auch aus ihr erwuohs keine Nachkommenschaft,
schliesslich verliess Johann Gasto seine Gemahlin und kehrte
nach Florenz zuriick. Auch Cosimo's Bruder, der friihere Car-
dinal Francesco Maria, starb 1711, ohne Kinder zu hinterlassen,
so blieb von der ganzen medioeischen Familie ausser Johann
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Renmont, Alfred v., Geschichfe Tosctna's. 139
Gasto nur dessen Schwester, die auch kinderlose, verwittwete
Kurfiirstin von der Pfalz, ubrig. In Folge dessen begannen sohon
bei Cosimo's Lebzeiten Projecte und Verhandlungen unter den
Qrossmachten wegen der Nachfolgo in Toscana, Cosimo suchte
dieselbe seiner Tochter und dem Lande selbstandiges Fortbestehen
zq sichern, aber dagegen waren sowobl Frankreich als auoh
Spanien und Oestreich, welches letztere damals den Anspruch auf
Lehiisabhangigkeit Toscana's vom Reiche erhob und dadorch
aaeh den Anlass zu einer grossen litterarischen, staatsrechtlichen
Fehde gab. Zwiscben diesen Machten kam die toscanische Erb-
folgefrage schon bei den Verhandlungen im Haag 1710, dann zu
Utreeht 1713 zur Sprache, 1718 einigte man sich dahin, dass
Toacana an den Bourbonen Don Carlos, den altesten Sohn Eonig
Philipp V. von Spanien und der Elisabeth Farnese fallen sollte.
Cosimo protestirte dagegen, inmitten der Verhandlungen starb
er. Dun folgte als der letzte Medici Johann Gasto (1723—1737),
nrspriinglich yob guten Anlagen, aber durch die Tyrannei seines
Vaters, durch seine ungliickliche Ehe und Ausschweifungen ver-
darben, bei seinem Begierungsantritt schon 52 Jahre alt; er war
wenig thatig, doch ging die Regiemngsmaschine unverandert fort.
Er selbst und das Land bleiben ohne Einfluss und Antheil an
der Ent8cheidung der Successionsfrage , welche in Folge ihrer
Verflechtung mit den allgemeinen europ&ischen Handeln noch
lange unerledigt bleibt. Durch den Wiener Vertrag 1731 wurde
von den Grossmaohten aufs Neue Don Carlos die Succession in
Toscana und Parma zuerkannt und schon jetzt die Besetzung
der festen Platze durch spanische Truppen bestimmt; in Folge
dessen landete der Infant selbst im December 1731 in Toscana
und wurden dort die spanischen Garnisonen aufgenommen. Doch
wurde dann eine Wandhing durch den polnischen Erbfolgekrieg
und durch den im Zusammenhange damit in Italien gefuhrten
Krieg der Franzosen und Spanier gegen die Oestreicher herbei-
gefiihri Durch den Wiener Frieden 1735, welcher Don Carlos
das Konigreich Neapel verschaffte, wurde die Nachfolge in Toscana
dem Schwiegersohne des Kaisers, Herzog Franz Stephan von
Lothringen, bestimmt. Januar 1737 iibertrug ein kaiserliches
Decret demselben Toscana als Reichslehen, ostreichische Truppen
losten die Bpanischen Garnisonen ab, im Juni traf der Bevoil-
machtigte Herzog Franz's, der Fiirst von Craon, in Florenz ein,
aa 9. Juli desselben Jahres starb Johann Gasto.
Die letzten drei Capitel schildern die inneren Zustande des
Landes unter diesen letzten mediceischen Fursten (1610 — 1737).
Die okonomische Lage Toscana's gostaltete sich damals theils in
Folge der ausseren Verhaltnisse , theils in Folge der verkehrten
Zoll- und Handelspolitik fortdauernd ungiinstiger, die Banken im
Axwlande gingen ein, die Gewerbthatigkeit im Innern, namentlich
die einst so bliihende Seiden- und Wollentuchfabrikation , lag
daaieder, auch der Ackerbau, namentlich in den Maremmen, war
vemachlissigt , vergeblich forderte schon 1737 ein einsichtiger
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140 Reumont, Alfred tm Geschichte Toscana's.
Nationalokonom als Heilmittel Abschaffung der Agrargesetzgebung,
Vereinfacbung der Abgaben und Freigebung des Handels. Nur
Livorno erfreute rich fortgesetzter Handelsbliithe. In den larch-
lichen Verbaltnissen zeigte sich die mediceische Regierung fort-
gesetzt sehr gefugig gegen die clericalen Anspruche, doch kam
es iiber Fragen der geistlichen Jurisdiction, der kirchlichen Im-
munitaten und in Folge des Uebergreifens der Inquisition in
Sittenpolizei und Censur zu wiederholten Conflicten. Die Kloster,
namentlich die Nonnenkloster , waren sehr zahlreich. Wissen-
schaft, Litteratur und Kunst haben auch von Seiten der spateren
Medici sich lebhafter Begiinstigung und Forderung zu erfreuen
gehabt. Namentlich wurden die mathematischen und die Natur-
wissenschaften gepflegt (duroh Ferdinand I. wurde 1598 Galilei
nach Pisa berufen, 1657 — 1667 wirkte die Aocademia del Gimento
fiir physicalische Untersuchungen), zugleich begann die Accademia
della Crusca ihre Arbeiten zum Zwecke der Feststellung und
Reinigung des Sprachschatzes , 1612 erschien die erste Ausgabe
des Vocabulars. Florenz und Pisa blieben Sammelplatze tiich-
tiger Gelehrten, doch sank zu Anfang des 18. Jahrhunderts audi
in Toscana die Litteratur in Folge von Pedanterie und Schwulst
In der Architectur sind zu Ende des 16. und in der ersten
Halfte des 17. Jahrhunderts noch treffliche Werko, namentlich
durch Buontalenti, entstanden: Portiken, Palaste, Villen, die
Galerie der Uffizien, wahrend die Kirchenbauten (die medi-
ceische Grabcapelle) zuriickstehen , grossere Ausartung zeigt die
Sculptur (Bologna und seine Schule), in der Malerei entstehen
zu Anfang durch Cigoli und seine Schule noch bedeutende, effect-
voile Arbeiten, erst Ende des 17. und Anfang des 18. Jahr-
hunderts sinkt auch diese ganz danieder, doch bliihen fortgesetzt
Kupferstich kunst und Stoinmosaik , mit Hiilfe der letzteren Kunst
erfolgt die verschwenderische Ausstattung der mediceischen Grab-
capelle. Fiir Kunstsammlungen herrscht grosser Eifer, neben den
ofifentlichen Museen der UHfizien und der Galerie des Palastee
Pitti, welche fortgesetzt bereichert wurden, entstanden zahlreiche
Privatsammlungen. Den Schluss der Darstellung bildet eine
Schilderung des Lebens des Hofes und der vornehmen Gesell-
schaft in Florenz, namentlich zu Ende des 16. Jahrhunderts, auf
Grund der Berichte von Montaigne, Wnuccini und des Fiirsten
Ludwig von Anhalt. Noch unter Cosimo III., wenigstens in seinen
friiheren Jahren, bewahrte der Florentiner Hof seinen glanzenden
Charakter, in seinen spateren Jahren wurde der Grossherzog
verstimmt und bigott, unter Johann Gasto begann zu Anfang ein
lustiges Lebon, spater wurde derselbe mehr und mehr unzugang-
lich, der Hof still und einsam.
Der erste Band enthalt drei werthvollc Beilagen: eine Zeit-
tafel, eine litterarische Notiz, worin zunachst das hauptsachliehste
altere, die Geschichte der Medici behandelnde Werk, die auf An-
regung des Grossherzogs Leopold I. 1781 erschienene Istoria
del granducato di Toscana sotto il governo della casa Medici
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Beumont, Alfred v., Geschichte Toscana' a. 141
von Galuzzo genauer charakterisirt und dann die zahlreichen
Einzelnarbeiten, welche der Verfasser benutzt hat, aufgezahlt
und kurz besprochen werden, endlich eine genealogiscbe Tafel
des medioeischen Hauses.
Der zweite Band behandelt die Geschichte Toscana's unter
dem Hause Lothringen-Habsburg (1737—1859), auch er zerfallt
in zwei Biicher, von denen das erste iiberschrieben : „Regent-
schaft und Reformen" die Zeit bis zur Entthronung der neuen
Dynastie in Folge der Revolutionsstiirme 1799 umfasst. Die
beiden ersten Gapitel haben die Regierung des ersten Gross-
herzogs Franz U. znm Gegenstande. Derselbe hat nor eininal,
im Jahre 1739, mit seiner Geinahlin Maria Theresia Toscana
Idesaeht, sonst hat er dem Lande fern gelebt und die Verwaltung
desselben einer Regentschaft iiberlassen, an deren Spitze zu An-
ting zwei Lothringer, der Fiirst von Craon und der Graf Riche-
court, in der letzten Zeit, von 1757 an, der Sstreichische Feld-
marachall Botta stand. Nur die Leitung der auswartigen An-
gelegenheiten hat Franz sich allein vorbehalten, so wird seit
1740, nachdem Franz deutscher Kaiser und Maria Theresia
< Herrin von Oestreich geworden ist, Toscana ganz an Oestreich
gebunden; in dem ostreichischen Erbfolgekriege ist es neutral
geblieben, im siebenjahrigen Kriege dagegen hat es ein Htilfe-
corpa nach Deutschland schicken miissen, welches dort fast ganz
wtergegangen ist, von c. 4000 Mann sind schliesslich nur 300
in die Heimat zuriickgekehrt. Toscana hat so unter Franz IL
nur eine innere Geschichte gehabt. Die Regentschaft, meist aus
Auslandern bestehend, ist im Lande sehr unbeliebt gewesen, doch
hat aie eine nicht unbedeutende Thatigkeit ent&Jtet, sie hat schon
den Grand zu der spateren Umgestadtung des Staatswesens ge-
legt. Sie fand dasselbe in tiefem Verfall und bemuhte sich, nach
Yerschiedenen Seiten hin Besserung zu schaffen ; zunachst auf dem
Gebiet der Finanzen. Dieselben befanden sich in sehr ungiinstigem
Zustande, der Staat war mit einer Schuld von 14 Millionen Scudi
bekwtet, auch das mediceische AUodialvermogen, welches durch einen
Vertrag mit der Erbin, der Kurfiirstin von der Pfalz, welche erst
1743 starb, gegen Uebernahme dieser Schuld an Franz iiberging, war
sehr zusammengeschmolzen. Die Massregeln freilich, welche dieneue
Regierung versuchte : Einfiihrung einer Einkommensteuer, Verpach-
tong der Staatseinkiinf ter Gestattung und Verpachtung des Lotto,
Herabsetzung der Zinsen der Staatsschuld waren gewaltsam und
doch wenig erfolgreich. Auch die Versuche, den Ackerbau, der
ebenso wie Handel und Industrie daniederlag, zu heben, halfen
wenig, da hartnackig an der alten verkehrten Zollpolitik fest-
gehalten wurde. Erspriesslicher waren die Neuerungen in Bezug
auf die Besitzverhaltnisse (Beschrankung der Fideicommisse,
Reform des Lehnwesens) und insbesondere die Massregeln gegen
die Kirche, 1751 erging ein Verbot aller weiteren Schenkungen
ail die todte Hand ohne besondere landesherrliche Genehmigung,
den Uebergriffen der Inquisition wurde ein Ziel gesetzt, schliesslich
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142 Reumont, Alfred v., Geschichte ToBcona'g.
durch einen Vertrag mit dem Papste das toscanische Inquisitioiw-
gericht ganz umgestaltet. Die Nachfolgefrage wurde 1763, zwei
Jahre vor Franz U. Tode entsohieden, Franz bestimmte damals,
bei Gelegenheit der Verabredung der Vennahhmg des ErzherzogB
Leopold mit der spanischen Prinzessin Marie Luise diesem seinem
zweiten Sohne Toscana als ostreichische Secundogenitur, Leopold
sollte gerade 1765 naob Abschluss der Vermahlung als General-
gouverneur dorthiq abgehen, als sein Vater starb. Die nachsten
vier Capitel beschaftigen sich mit der Regierung Leopold L
(1765 — 1791), welche hier, ahnlich wie im ersten Bande die
Cosimo I., den Mitielpunkt der Darstellung bildet. Leopold war,
wie Cosimo, erst 18 Jahre alt, als er die Regierung antra t, er
stand zu Anfang noch unter einer gewissen Bevormundung von
Seiten seiner Mutter Maria Thereaia, erst seit 1770 leitete er die
Regierung ganz selbstandig. Er fand zu Anfang traurige Zo-
stande vor: Theuerung, Seuchen, allgemeine Geldnoth, dazu
musste er seinem alteren Bruder Joseph den Inhalt der offent-
liehen Cassen, welchen dieser als zum Nachlass des Vaters gehorig
beanspruchte, abliefern und zunachst mit Hiilfe einer Anleihe die
dringendsten Bediirfiiisse des Staates bestreiten. Bald aber be*
gann er seine grosse reformatorische Thatigkeit, welche sich auf
die verschiedensten Gebiete der Staatsverwaltung erstreckte.
Zunachst wurde das Finanzwesen umgestaltet. Schon 1767 wurde
die Verpachtung der Staatseinkiinfte wieder abgeschafft , (km
erne Verminderung der Staatslasten durch theilweise Amorti-
sation der Staatsschuld. durchgefiihrt ; die Steuerverwaltung wurde
dadurch vereinfacht, dass alle die verschiedenen friiher auf dem
Grundbesitz lastenden Abgaben durch eine einheitliche Grand*
steuer ersetzt wurden. Hand in Hand damit ging eine allmahlich
durchgefiihrte Umgestaltung der friiher sehr manniohfaltigen
Gemeindeverfassung. Die verschiedenen alten Behorden wurden
sammtlieh abgeschafft , die Oberleitung einer Gemeindekammer
Ubertragen, innerhalb dek* einzelnen Gemeinden einem selbst-
gewahlten Magistrat und Generalrath, denen allerdings ein von
der Regierung bestellter Gemeindekanzler zur Seite trat, die
Verwaltung iiberlassen. Ebenso durchgreifend war die Reform
des Justizwesens. Das ganze Land wurde in neue Geriohtsbezirke
eingetheilt, in Florenz ein Obertribunal gegriindet, die Criminal-
gesetzgebung reformirt, den humanen Grundsatzen der Zeit ent-
sprechend die Todesstrafe, Tortnr und Giiterconfiscation abge-
schafft, das GefiUignisswesen gebessert. Die Polizei wurde von
der Justiz getrennt, an ihre Spitze ein President mit sehr aue-
gedehnten Befugnisseh gestellt. Leopold, selbst von argwohni-
schem Geiste, hat far die Polizei eine besondere Vorliebe gehegt,
er hat ein ausgedehntes Spionirsystem eingef&hrt, dagegen ver-
nachlassigte er ganzlich das Militarwesen , entliesfi ausser den
Besatzungen von Livorno und Portoferrajo sowie der Palastwacbe
alle Truppen, liess auch die Kriegsmarine eingehon und machte
so das Land wehrlos. Um so erspriesslicher war die refbnn&to-
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Beumont, Alfred v., Geschichte Toacana's. 143
riscbe Thatigkeit des Grossherzogs auf dem okonomischen Ge-
biete. Hier brach er mit alien fruhereu Traditionen ; ents£rechend
den Grundsatzen, welche 8ein vertrauter Minister Pompeo Neri
aussprach, dass nnr Freigebung des Verkehrs und andererseits
Steigerung and Vervollkommnung des Landbaues das Land zum
WoMstande fiihren konnten, hob er die meisten Verkehrs-
be9chrankangen auf, ebenso auch die meisten das Eigenthum
beschrankenden Reohte (Fideioommisse, Ruralservituten n. s. w.),
ferner die Zunftgerichtsbarkeit , Zunftbeschrankungen , Monopole
und HandelsprivSegien, begiinstigte er ferner bei dem Besitz der
todten Hand das Erbpachtsystem , wahrend im iibrigen das alte
Aparrecht , die den Verhaltnissen des Landes passende Meier-
wiiAschaft bestehen blieb. Mit besonderem Eifer nahm Leopold
die yon seinen mediceischen Vorgangern schon begonnenen
Laadesmeliorationen wieder auf, mit dem gunstigsten Erfolge
warden dieselben mit Hiilfe des Golmatensystems im Chianathale
dnrchgefiihrt , die dortigen Sumpflandschaften zu fruchtbaren,
bald sorgfaltig angebauten Acker- nnd Weidegefilden umgeschaffen,
wahrend die ahnlichen Arbeiten in den Maremmen in Folge der
dort zu tief eingewurzelten Schaden und verkehrter Massregeln
m der Hauptsaohe vergeblich blieben. Ein weiteres Feld fur
seine Reform thatigkeit boten Leopold die kirchlichen Verhaltnisse
dar. Die geistliche Jurisdiction wurde auf das engste einge-
schrankt, strengere Vorschriften in Betreff der Vorbildung der
Geistlichen, der Besetzung der Pfarren, der kirchlichen Disciplin
eriassen, ein grosser Theil der iibermassig zahlreichen Kloster,
auch die Jesuit encollegien, aufgehoben, ihreGKiter eingezogen nnd zur
Aufbe8serung der Pfarreien verwendet, auch die weitverbreiteten
Laienbruderschaften aufgehoben. So wohlgemeint und verstandig
alle diese kirchlichen Reformen an sich auch waren, so gewalt-
sam, willkiirlich und zugleich kleinlich ging man doch bei ihrer
Atwfuhrung vor, und sie erregten daher unter dem strong kirch-
lichen Volke grosse Missstimmung. Leopold forderte und be-
giinstigte den Episcopat, in der Absicht, ihn soviel wie moglich
von Rom abzulosen, und er fand auch bei einigen Bischofen,
namentlich bei dem Bischof Ricci yon Pistoja, eifrige Gehiilfen
und Werkzeuge seiner kirchlichen Politik. Leopold forderte
1785 die Bischofe zur Abhaltung von Provinzialsynoden auf,
namentlich um Air sie, die Bischofe selbst, die von dem romi-
schen Stuhle usurpirten Rechte wiederzugewinnen , und die Be-
8chliis8e der von Ricci geleiteten Synode von Pistoja waren auch
weitgehend genug, wurden freilich auch nachher vom Papste als
haretisch und schismatisch verdammt. Leopold beabsichtigte
auch die Berufung eines Nationalconcils, doch kam es 1787 nur
zu einer vorbereitenden Versammlung, und hier fand er bei der
Majoritat der Bischofe eine seinen Wiinschen so wenig geneigte
Stimmung, dass er dieselbe bald wieder auf loste.
So selbstandig Leopold auch im Inneren seines Staates
wirkte, 90 willig uberliess er sich doch in seiner allgemeinen
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144 Reumont, Alfred v., Geschichte Toacana's.
PoliUk dem ostreichischen Einflusse. Die anfitngliche Verstim-
mung gegeu seinen Bruder Joseph ist spater geschwunden und
Leopold hat sich alien Wiinschen desselben, namentlich in Bezug
auf seine Familie, gefiigt. Joseph bestimmte fur Leopolds alte-
sten Sohn Franz\ den einstigen Erben der ostreichischen Moil-
archie, den Erzieher, einen ostreichischen Officier, den Marchese
Manfredini , rief dann den Prinzen nach Wien , Leopold giag
sogar auf die seinen eigenen Wiinschen durchaus entgegenlaufende
Forderung Josephs ein und willigte in die unmittelbare Yer-
einigung Toscana's mit Oestreich, fiir den Fall, class der Kaiser
oder er selbst stiirbe. Doch mischte er sich absichtlich nicht in
die ostreichischen Verhaltnisse bei Josephs Lebzeiten ein, folgte
nicht dem Rufe desselben in seiner letzten Krankheit nach Wien
Am 20. Februar 1790 starb Joseph, am 3. Marz yerliess Leopold
Florenz, urn die Regierung der ostreichischen Staaten anzu-
treten. Die Verwaltung in Toscana iiberliess er zunachst einer
Regentschaft. Sofort nach seiner Abreise fiihrte der allgemeine
Unwille liber die kirchlichen Zustande zu Tumulten, welche sich
namentlich gegen den Bischof Ricci richteten, Leopold empfehl
anfangs Nachgiebigkeit , schritt dann aber auf das strengste ein
und Hess deutsche Truppen in Toscana einriicken, Am 23. Juli
1790 iiberliess er, entgegen der friiher mit Joseph getroffenen
Abmachung, Toscana seinem zweiten Sohne Ferdinand, und fiihrte
diesen selbst im nachsten Jahre nach Florenz, am 24. Juni 1791
trat der neue Grossherzog dort die Regierung an.
Leopold hat im Jahre 1790, nachdem er Toscana verlassen,
einen Rechenschaftsbericht iiber seine Reformen und seine finan-
zielle Verwaltung veroffentlicht, er hat sich auch schon mit der
Idee einer Neugestaltung des Staates auf verfassungsmassiger
Grundlage getragen, nach dem Berichte seines Vertrauten Giauni
soil er eine dreifache Representation des Volkes, durch commu-
nale, provinziale und durch eine allgemeine Landesversammlung
im Auge gehabt haben, und hiemit stimmen manche Aeusserungeo
Leopolds selbst, namentlich in seinem „Glaubensbekenntnissa,
einer ausfuhrlichen , an seine Schwester Marie Christine gerich-
teten Auseinandersetzung seiner politischen Grundsatze, dort
erklart er: „Ich glaube, dass der Souveran, wenn auch ein erb-
licher, nur ein Delegirter und Beauftragter des Volkes ist, fiir
welches er da ist; dass er ihm alle seine Sorge und Arbeit
widmen muss; dass jedes Land eines Grundgesetzes oder Ver-
trages zwischen Volk und Souveran bedarf, wodurch Autoritat
und Macht des Letzteren begrenzt werden; dass, wenn der
Souveran diesen Vertrag verletzt, er thatsachlich auf seine Stel-
lung verzichtet, die ihm nur unter dieser Bedingung zuerkannt
worden ist, und dass man ihm nicht mehr zu gehorchen ver-
pflichtet ist; dass die ausiibende Gewalt dem Souveran, die
gesetzgebende dem Volke und dessen Vertretern zusteht; dass
das Volk bei jedem Wechsel der Person des Souverans seiner
Autoritat neue Bedingungen vorschreiben kann."
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Beumont, Alfre4 v., Geschichte Toecanaa. 145
Der neue Grossherzog Ferdinand III., dessen erste Zeiten
(1791 — 1799) das achte Gapitel behandelt, stand unter dem
leitenden Einflusse seines Giinstlinges, jenes einst von Joseph nach
Florenz empfohlenen Manfredini, der in der Stellung eines Major-
domos des grossherzoglichen Hofhaltes auch die StaatsgeschSfte
gefuhrt hat. Im Inneren wurden manche der leopoldinischen
Massregein verandert, namentlich kara es zu einem Compromiss
mit der Kirche, in welchem dieser Goncessionen in Jurisdictions-
und Ehesachen gemacht warden , in seiner auswartigen Politik
emancipirte sich Ferdinand yon Oestreich ; 1792, nach dem Ausbruch
des Krieges gegen Frankreich, suchte er zuerst eine bewaffhete Neu-
tralist ganz Italiens zu Stande zu bringen, dann wenigstens sich selbst
waknl zu halten, dnrch die Drohungen Englands wurde er 1793
genothigt, sich der grossen Coalition gegen Frankreich anzu-
schJiessen, er trat aber schon 1795 von derselben zuriick und
schlois mit der franzosischen Bepublik einen Neutralitatsvertrag.
Doch war diese Politik sehr unpopular im Lande, and sie schiitzte
daaelbe nicht vor franzosischen Gewaltthaten, 1796 liess Bona-
parte Livorno occupiren , darauf warde die Stadt von den Eng-
Bndern blockirt, auch auf Elba und in den Maremmen* landeten
englische Truppen. 1797 erlangte Ferdinand glticklich die Rau-
nrong Livorno's sowie audi Elba's, aber die Lage des Gross-
herzogthums bKeb doch hochst unsicher, der Ausbruch des neuen
Krieges mit Oestreich 1799 entschied dann liber sein Sohicksal,
der Grossherzog und seine Familie musste das Land verlassen,
nnd dasselbe kam unter franzosische Verwaltung.
Das neunte Gapitel behandelt Litteratur und Kunst wahrend
der Epoche von 1737 — 1799, Auf beiden Gebieten zeigt sich
ein grosser Niedergang, die schonen Kiinste sind tief verMlen,
mter den Wissenschaften begiinstigt Leopold nur das rechts-
wissenschaftliche, historische und nationalokonomische Oebiet und
auf diesen entsteht allerdings eine Reihe von tiichtigen Arbeiten,
die Aecademia della Crusca lost er auf, doch sorgt er fur Ver*
mehrung der Bibliotheken und fur Bereicherung und Neuordnung
der Kunstsammlungen. Das Leben und die Gesellschaft der
vornehmen Kreise, welche das 10. Capitel schildert, sind zu An-
ting noch glanzend , obwohl der Reichthum der florentinischen
Aristokratie zum Theil schon zerriittet ist; Leopolds Hof war
einfach, er selbst wenig popular, seine Umgebung bildeten meist
Deutsche. Die vornehme Gesellschaft war unter ihm schon sehr
herabgekommen, doch wurde schon damals Florenz Sammelpunkt
neler Fremder, namentlich Englander, dazu kamen dann zuletzt
zahlreiche Fllicbtlinge, welche die revolutionaren Ereignisse aus
Frankreich und Oberitalien vertrieben hatten.
Das zweite Buch, betitelt: ^Revolution und Restauration",
behandelt die letzten 60 Jahre der toscanischen Geschichte
(1799—1859). Die ersten drei Capitel erzahlen die Schicksale
des Landes unter der franzosischen Herrschaft (1799 — 1814).
Toscana fugte sich ohne Widerstand der Besetzung durch die
Mittheilanfcn t d. hiitor. Litteratar. VI. 10
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*>*!
146 Reumont, Alfred v., Geschichto Toscana's.
Franzosen, aber die Zahl der wirklichen Freunde der neuen
Ordnung war nur gering, die grosse Mehrheit der Bevdlkerung
hasste dieselbe als eine Fremdherrschaft, wegen der Raubereien
der Franzosen und des Uebermuthes ihrer durch aie jetzt ana Ruder
gekoinmenen republikanischen Freunde, so kam es nach den ersien
Siegen der Oestreicher und Russen in Italien schon im Mai 1799 zu
einer Erhebung, welche von Arezzo ausging, im Juni raumtsn
die Franzosen das Land und dieses verfiel nun ganz anarchischen
Zustanden, aber 1800 nach der Scblacht bei Marengo zogen die
Franzosen wieder ein,. Arezzo wurde ersturmt und musste schwer
fur seinen Widerstand biissen. In Folge des Vertrages von
S. Udefonso kam dann Toscana als Konigreich Etrurien an den
Bourbonen Ludwig von Parma, den Schwiegersohn Konig Carl IV.
yon Spanien. Derselbe iibernahm dort im August 1801 die Re-
gierung, stand aber ganz unter franzosischer Bevormundung,
nach seinem Tode 1803 folgte ihm seine Gemahlin Marie Luise,
doch musste dieselbe 1807 in Folge des von Napoleon mit
Spanien zu Fontainebleau abgeschlossenen Vertrages das Land
an Frankreich abtreten und dasselbe wurde jetzt Provinz des
grossen napoleonischen Reiches. Es erfolgte eine vollstandige
Umgestaltang der Verwaltung nach franzosischem Muster, Ein-
fiihrung der Conscription, des Code Napoleon, vollstandige Anf-
hebung alter geistliehen Orden, auch des Stephansordens, im
Zusammenhange damit auch die Auf hebung der Staatssehuld, die
Inscriptionen zu Gunsten von Gemeinden und offentlichen An-
stalten wurden in franzosische Rente umgewandelt, die im Besitx
Ton Privaten befindlichen Schuldtitel durch Zuweisung yon Lan-
dereien (Klostergiitern und Domanen) abgelost. Toscana wurde
1809 als Grossherzogthum zu einer der Grosswiirden des Kaiser-
reiches erhoben und Napoleons Schwester, Elisa Baciochi, wurde
an die Spitze der Verwaltung gestellt Zwar blieb ihr nur der
aussere Schein, die wirkliche Regierung fiihrten die franzdoschen
Beamten , doch wusste sie durch kluge Vermittlung die Harteu
der neuen Zustande wenigstens theilweise zu mildern, Trotzdem
und trotz mancher wohlthatigen Einrichtungen blieb die franzo-
sische Herrschaft verhasst, mit Freuden begriisste daher das Land
den 1814 eintretenden Umschwung. Es wurde zuerst von eng-
lischen und neapolitanischen Truppen besetzt, schon im April
wurde dann die Riickkehr des alten Herrschers verkiindet, am
1. Mai iibernahm der Commissar desselben, Fiirst RospigHosi,
die Regierung , im September zog Ferdinand selbst wieder in
Florenz ein.
Das vierte Capitel schildert die spatere Regierung Ferdi-
nand III. (1814—1824). Durch die Wiener Schlussacte wurde
demselben die Herrschaft liber Toscana bestatigt, auch die ehe-
mals neapolitanischen Prasidien, ferner Elba und Piombino wurden
mit dem Grossherzogthum vereinigt und der Heimfall von Lucca,
welches die ehemalige Konigin von Etrurien, Marie Luise, erhieft,
in Aussicht gestellt. Ferdinand berief am die Spitze seines Mini-
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Beumont, Alfred v., Geschichte Toscana'fl. 147
steriums zwei tuchtige, schon unter seinem Vater erprobte
Manner: Fossombroni und Neri Corsini, unter ibrer Leitung
wurde die Bestauration in gemassigter Weise vorgenommen. Die
franzosische Verwaltung und Gerichtsverfassung wurden wieder
abgeschafft, docb einzelne Theile des franzosischen Recbtes bei-
behalten, die alte Gericbts- und Gemeindeverfassung wurde mit
einigen nicbt sehr gliicklicben Veranderungen wieder hergestellt.
And das kircbliche Jurisdictionswesen wurde nach den leopol-
dinischen Grundsatzen neu geordnet, durcb einen Vertrag mit
dem Papste 1815 wurde ein Tbeil der Kloster bergestellt und
nen dotirt, daiiir aber die Anerkennung der friiheren Verausse-
mngen der geistbcben Guter erlangt. Die anfanglioh traurigen
Qkonomischen Zustande besserten sich bald in Folge einer ver-
standigen Finanzpolitik , Bliithe und Woblstand kehrten allmah-
licb zuriick , grossartige Strassenbauten wurden unternommen,
die Bonificirang des Chianathais fortgesetzt. Toscana wusste
sch eine gewisse Selbstandigkeit auch Oestreioh gegeniiber zu
wahren, es blieb yon den revolutionaren Ereignissen 1820 und
1821 verschont und bot zablreichen Fluchtlingen aus anderen
italienischen Staaten ein Asyl. Die Gapitel 5—8 bebandeln die
Regienmg des letzten Grosfcherzogs Leopold II. (1824—1859).
Die ersten 20 Jabre desselben waxen fur Toscana gliickliche
Zeiten, der Grossherzog selbst war wohlwollend und eifrig thatig,
aber kleinlicb und unentschlossen , bis 1845 fuhrten die alten
Minister seines Vaters, Fossombroni und Corsini, die Regienmg
fort Der Organismus der Verwaltung blieb in der Hauptsache
der alte, auch die okonomiscben Grundsatze Leopold I. wurden
feetgehalten, Industrie und Handel wurden gefordert, die offent-
licben Arbeiten in grossartiger Weise fortgefiihrt, die Strassen-
bauten wurden erweritert, 1841 auob die erste Eisenbahn zwiscben
Livorno und Florenz begonnen, Livorno wurde erweitert, die
Zollfreiheit auch auf die Vorstadte ausgedehnt, die alten Be-
festigungen abgetragen, eine neue Ringmauer, neue Hafenbassins
angelegt, die Arbeiten im Cbianathal vollendet, seit 1828 auob
die bisher vergeblich versucbte Bonification der Maremmen wieder
aofgenommen und schliesslicb eben&lls unter Anwendung des
Colmatensystems zu dem glanzendsten Resultate gefubrt. 1847
erfolgte nach freiwilliger Abtretung von Seiten des Fiirsten Carl
Ludwig die Vereinigung Lucca's mit dem Grossherzogthum,
Leopold war popular, trotzdem bereitete sich seit 1845 ein Um-
schwung vor, bauptsachlicb veranlasst durch die revolutionaren
Bewegungen im iibrigen Italien; in Folge der Ereignisse von
1846 entstand auch in Toscana, namentlioh in Livorno, grosse
Aufregung, der Grossherzog bewilligte einzelne Reformen, unter-
bees ea aber, rechtzeitig die Forderung nach einer Reprasen-
tativveriassung zu erfiillen. Seine beiden alten Minister waren
1845 gestorben, ihre Nachfolger, Ridolfi und Serristori, ge-
laasaigte Liberals, waren ohne politische Erfahrung und ohne
Consequenz. Em erster Aufstand, Januar 1848, in Livorno wurde
10*
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148 Reumont, Alfred v., Gesckickte Toscana's.
unterdriickt, aber (torch die auswartigen Ereignisse wurde die
Erregung im Lande gesteigert, die Regierung liess sich von der
Bewegung mit fortziehen, schon im Februar 1848 erliess Leopold
eine Verfassung, der allgemeinen Volksstimme gehorchend be-
theiligte er sich dann am Kriege gegen Oestreich. Als dann
im Juli und August Pobelaufstande in Florenz und Livorno aus-
brachen, die letztere Stadt in die Q-ewalt der Banden gerieth,
suchte Leopold den Sturm dadurch zu beschwichtigen , class er
die beiden Hauptfuhrer der Bewegung, Guerazzi und Montanelli,
an die Spitze des Ministeriums berief. Aber die Folge da?on
war die Neubesetzung der Verwaltung mit Revolutionsmannern
und bald ein vollstandiger Pobelterrorismus. Grossherzog Leo-
pold entfernte sich daher Januar 1849 erst nach Siena , dann
nach Porto S. Stefano, endlich ausser Landes nach Gaeta, iiber-
liess aber dem Ministerium die Leitung der Geschafte. Allein
im Lande selbst erhob sich bald Opposition gegen das herr-
schende Pobelregiment, Guerazzi, im Marz zum Dictator erhoben,
wurde im April durch eine Erhebung der Biirgerschaft in Florenz
gestiirzt, allgemein war der Ruf nach Herstellung der Ordnung,
nur Livorno blieb in der Gewalt der Revolutionsmanner. Leo-
pold wurde zur Ruckkehr aufgefordert , trotzdem erfolgte dann
der Einmarsch der Oestreicher, diese nahmen Livorno und haben
die Stadt bis 1854 besetzt gehalten. Im Mai 1849 ernannte
Leopold ein neues Ministerium^ unter Baldasseroni, kehrte selbst
im Juli nach Florenz zuriick. Er selbst wie seine Minister haben
dann in den spateren Jahren durch eifrige Thatigkeit der Ver-
wirrung, welche die demokratische Regierung zuruckgelassen, ein
Ende zu machen gesucht; die Ordnung in der Verwaltung und
in den tief zerriitteten Finanzen wurde wiederhergestellt , die
offentlichen Arbeiten wieder aufgenommen, eine Milit&rmacht und
die Anfange einer Kriegsmarine wurden gegriindet. Trotzdem
blieb die Aufregung im Lande, genahrt durch die politiscbe
Haltung der Regierung, die Aufhebung der Verfassung, den
engen Anschluss an Oestreich, diese Missstimmung wurde ge-
schickt von den Leitern der italienischen Bewegung in Piemont
benutzt, und so kam es 1859 beim Ausbruch des Krieges zwi-
schen Oestreich und Sardinien zu der Erhebung in Florenz,
welche den Sturz Leopolds und dann 1860 den Anschluss an
Sardinien zur Folge hatte. Der Verfasser hegt fur diese Ent-
wickelung der Dinge wenig Sympathie, er erkennt in jenem Ver-
zicht auf die Selbstandigkeit nur ein Opfer, welches sich das
Land auferlegt habe. „Mit bewusstem und ausgesprochenem
Willen seiner damaligen Machthaber hat dies Land, zum Zweck
der Griindung eines grossen italischen Staates, Institutionen
in Frage gestellt und bald geopfert, denen es zu grossem Theil
seine Bliite verdankte, und die wol selbst liber ihren wahren
Werth hinaus als Palladien gepriesen worden waren, ohne Com-
pensation wie ohne Garantien, mit einer Generositat, die etwas
Schones hat, aber nicht in gleichem Maasse von staatsmannischem
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Gaedeke, Arnold, Die Politik Oesterreichs in der span. Erbfolgefrage. 149
Greiste zeugt." — Leopold hat bis 1869 auf seinen Besitzungen
in Bohmen gelebt, dann ist er nach Rom gegangen and ist dort
im Januar 1870 gestorben.
Das neunte Capitel enthalt eine sehr eingehende Darstellung
der Zustande von Wissenschaft, Litteratur und Kunst iimerhalb
dieser letzten Periode, das letzte, 10., schildert „Land und
Leute", namentlich die geselligen und wirthschaftlichen Zustande
unter der franzosischen Herrschaft, dann wahrend der Um-
walzungen von 1846 — 1849 und endlich wahrend der zweiten
Bestaurationsperiode.
Auch dieser Band enthalt als Beilagen eine Zeittafel und
eine Ktterarische Notiz , in welcher letzteren der Verfasser ahn-
M wie in dem ersten Theile genauer die beiden Hauptwerke,
welcle die Grundlage fiir seine Darstellung geliefert haben:
Mi's Storia civile della Toscana dal 1737 al 1848, und Baldas-
serom's Leopoldo II. , granduca di Toscana e i suoi tempi , be-
spricht und daran eine Aufzahlung und kiirzere Charakterisirung
der Specialschriften kniipft. Eine hochst werthvolle Beigabe
bildet das 74 Seiten fullende, beide Bande zusammen umfassende
er.
Berlin. F. Hirsch.
XXXIIL
Gaedeke , Arnold , Die Politik Oesterreichs in der spanischen
Erbfolgefrage. Mit Benutzung des K. E. Haus-, Hof- und
Staatsarchivs und des Grafl. Harrach'schen Familienarchivs.
Nebst Acten und Urkunden. 2 Bande gr. 8. (XXIV, 265,
160 und XV, 133, 204 S.) Leipzig 1877, Duncker & Hum-
blot 16 M.
Der Verf. beabsichtigt , wie er dies in der Vorrede aus-
,spricht, mit diesem Werke eine sehr fuhlbare Liicke in der diplo-
matischen Gteschichte der zweiten Halfte des 17. Jahrhunderts
aoszufullen. Den sehr verwickelten politischen Verhaltnissen
der letzten Jahrzehnte des genannten Jahrhunderts sind die
Historiker der Gegenwart von verschiedenen Seiten und Gesichts-
punkten her nahegetreten. Dass Ranke in seiner englischen und
franzosischen Geschichte auf die Politik der betreffenden Lander
den Hauptaccent legt, ist in der Natur der Sache begrtindet;
aber auch C. v. Noorden in seiner universeller angelegten Ge-
achichte des spanischen Erbfolgekrieges beschaftigt sich in wirk-
lich erschdpfender Weise nur mit der Politik der Seemachte und
ihrem durch handelspolitische Biicksichten bestimmten Eingreifen
in die Geschicke der dem Zerfall entgegengehenden spanischen
Gesammtmonarchie, wahrend er von der kaiserlichen Politik und
der Entwickelung der Dinge in Madrid bis zum Tode Carls IL
nur eine gedrangte Uebersicht giebt.
Eg war daher ein sehr gliicklicher Gedanke des Verf., durch
wnfa8Bende Studien in den Archiven zu Wien und Madrid und
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150 Gaedeke, Arnold, Die Politik Osterreichs in deT span. Erbfolgefrage.
durch Ausbeutung der damals noch nicht publicirten Correspo*
denz zwischen Harcourt and Ludwig XIV. sich in den Stand
zu setzen, die Politik des kaiserlichen Erzhauses einer eingehen-
den Erorterung zn unterziehen und iiber das verworrene Partei-
getriebe am Hofe zu Madrid, das schliesslich zu dem alle Welt
iiberraschenden Testamente Carls II. fiihrt, einiges Licht zu
verbreiten.
Dem ersten Theil der Aufgabe konnte der Verf. in er«
schopfender Weise gerecht werden; von einer umfassenden Be*
nutzung des ihm mit grosser Liberalitat eroffneten Haus-, Hof-
und Staatsarchivs zu Wien sowie des graft Harrach'schen
Familienarchivs zeugen ausser dem Werke selbst die mit ge-
schickter Hand ausgewahlten Acten und Urkunden. (In Bd. I.
Hispanica 1695 — 1699 ; Berichte aus Briissel und dem Haag
1696 und 1697 ; Briefe von Kaunitz an F. B. Harrach ; Anglica
und Hollandica 1698 — 1699; Briefwechsel zwischen Wiser und
Kinsky ; Handbillets Leopolds I. an Kinsky. In Bd. II. Anglica
und Hollandica 1699 und 1700; Hispanica 1699 und 1700;
Gallica 1699 und 1700; Oonferenzprotocolle 1699 und 1700.)
An der Ausbeutung der Archive von Paris und Maclrid
wurde der Verf. gehindert durch den Ausbruch des deutsch-
franzosischen Krieges von 1870/71. Die wichtige Corresponded
zwischen Harcourt und Ludwig XIV. wurde ihm zwar zugang-
lich durch die inzwischen erfolgte Publication von Hippeau, im
Uebrigen aber war der Verf. in Bezug auf die Vorg&nge in
Madrid, abgesehen von dem Material, was ihm die Berichte der
osterreicbischen und franzosischen Gesandten darboten, auf die
Benutzung vorhandener Werke, wie Lafaente, historia de Espana,
Havemann, Darstellungen aus der inneren Geschichte Spaniens
wahrend des 15., 16. und 17. Jahrhunderts , Weiss, L'Espagne
depuis le rSgne de Philipp II. und Kiinzel, Leben des Land-
grafen Georg von Hessen - Darmstadt angewiesen, sodass dem
kiinftigen Erforscher der spanischen Staatsarchive fur diese
Periode, insbesondere hinsichtlich der Amtsfuhrung der bedeu-
tenderen Minister Carls IL, noch eine nicht unerhebliche Nach-
lese iibrig bleibt. Mag aber auch Einzelnes in Zukunft durch
Publikationen aus genanntem Archiv in ein anderes Licht geriickt
werden, so darf dem Verf. doch das Verdienst nicht geschmalert
werden, mit dem ihm zu Gebote stehenden Material das Mog-
lidie geleistet und uns von der zerfahrenen Politik des kaiser-
lichen Erzhauses und der inneren Zerriittung und Zersetzung der
spanischen Monarchic, welche schliesslich die Auslieferung dieses
Landes an das Haus Bourbon zu einem Acte politischer Notb-
wendigkeit macht, ein so Wares Bild entworfen zu haben, dass
sein Werk in dieser Beziehung, wenigstens bis zu abschliessenden
archivalischen Forschungen, massgebend bleiben diirfte.
Aeusserlich zeigt das Werk eine gewisse Ungleichheit der
Behandlung. Dem I. Bande ist ein sehr detaillirtes Inhalts-
verzeichniss beigefiigt, dem II. nicht; der L Band enthfilfr ein
Digitized by VjOOQ IC
Owdeke, Arnold, Die Politlk Oesterreichs in der span. Erbfolgefrage. 151
Dnickfehlerverzeichniss , dem II. fehlt ein solches, obwohl recht
sinnentstellende Dnickfehler vorkommen. So ist zu lesen p. 22,
Anm. 2, Z. 10: „Entschuldigung" statt EntschSdigung ; p. 45,
Z. 21: „CarlIL" statt Carl I. ; p. 57, Z. 9 etwa: „dem Kaiser"
statt den Franzosen; p. 75, Z. 15: „allena statt allein. — Auf
einzelneBerichtigungen der bisherigen Anschauung durcb Gaedeke
ist bereits im Litterarischen Centralblatt von 1877 Nr. 29
(p. 945) aufmerksam gemachi Kef. halt das vorliegende Werk
fur wichtig genug, urn von den darin enthaltenen Untersuchungen
den Zusammenhang und die Resultate kurz zusammenfassend
Im 1. Capitel des I. Buches des I. Bandes wird behandelt
die Entstehung and Vorgeschichte der spanischen Erbfolgefrage
bis nun Abschluss der zweiten Coalition gegen Ludwig XIV.
1689. Eine gesetzliohe Begelung der erblichen Thronfolge in
Spanien hat bereits 1260 stattgefunden in Alfons' X. Gesetz-
bache „las siete partidas" , in welchem bestimmt wird , dass die
Sohne den Tochtern und diese wiederum sammtlichen anderu mann-
Kchen Verwandten vorgehen sollen; eine Abweichung von diesem Ge-
8etze soil nur mit Genehmigung der Cortes erfolgen dtirfen. Die erste
Verzichtleistung einer spanischen Infantin (Anna von Oesterreich)
wird daher auch von den Cortes bestatigt; bei der Vermalung
der Maria Theresia mit Ludwig XIV, wird dagegen die erfolgte
Verzichtleistung den Cortes garnicht zur Genehmigung vorgelegt,
Als nun Philipp IV. auch die Bedingungen des Heiratscontractes
in Bezug auf die Mitgift nicht innehalt, halt sich Ludwig XIV.,
nicht ohne einen Anschein von Recht , an jenen Verzicht nicht
gebunden. Durch den zwischen Leopold I. und Ludwig XTV.
am 19. Jan. 1668 zu Wien geschlossenen Theilungsvertrag , in
welchem der Kaiser sich mit Spanien, Indien, Mailand und Sar-
dinien begniigt, werden die Rechte des Hauses Bourbon seitens
des Kaisers wenigstens indirect anerkannt. Dieser auf einen
friihen Tod Carls II* berechnete Vertrag wird, als das Eintreten
des „grand cas" sich verzogert, zerrissen durch die Allianz des
Kaisers mit den Generalstaaten und Spanien gegen Ludwig 1673.
1675 Trird Carl II. grossjahrig. Seine von der Konigin-
Mntter geplante Verheiratung mit Maria Antonia, einziger Tochter
des Kaisers und der Margaretha Theresia, wird vereitelt durch
eine von Juan d' Austria, natiirlichem Sohne Philipps IV., ange-
zettelte Palastrevolution ; Juan vermittelt die Vermalung Carls
mit Marie Luise von Orleans und halt die Konigin - Mutter in
Toledo gefangen. Nach Juans Tode 1679 kehrt diese nach
Madrid zuruck; ihr und der osterreichischen Partei gegenttber
hat die junge Konigin einen schweren Stand; in Folge eines
schmahlichen, an die Unfruchtbarkeit der Konigin anknttpfenden
Processes werden die Pranzosen aus Spanien verwiesen, die
Konigin bleibt ohne politischen Einfluss.
1685 muss Maria Antonia bei ihrer Verheiratung mit dem
Kurfftrsten Max Emanuel von Baiern dem Kaiser gegeniiber auf
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152 Gaedeke, Arnold, Die Politik Oesterreichs in der span. Erbfolgefrage.
die Erbfolge in Spanien verzichten ; der Kurfiirst soil event nur
die spanisehen Niederlande erhalten. Die zum Zwecke der Be-
statigung des Heiratscontractes mit Carl II. in Madrid gefiihrten
(bisher unbekannten) Verhandlungen scheitern an dem Misstrauen
des Konigs und des damaligen Yalido Medina Celi; nur die
Heirat wird genehmigt, nicht auch die Verzichtleistung sanctionirt
In Spanien bildet sich eine einflussreiche bairische Partei, an
deren Spitze die Konigin - Mutter und der Minister Oropesa
stehen ; der kaiserliche Gesandte, Graf Mannsfeldt, sucht vergeb-
lich durch heimliches Intriguiren die Ernennung des Kurfursten
Max Emanuel zum Statthalter in den Niederlanden zu hinter-
treiben ; Carl II. beruft denselben zu dieser Stellung auf An-
dringen seiner Mutter gegen den Rat seines gesammten Cabinets
(Onno Klopp, „Fall des Hauses Stuart" IV, p. 185, behauptet
irrthiimlich, dass die Konigin - Mutter das kaiserliche Interesse
hierbei vertreten habe).
Dagegen verpflichten sich in dem Vertrage zwischen dem
Kaiser und den Seemachten von 1689 die letzteren durch einen
geheimen Artikel, einen jiingeren Sohn des Kaisers bei der
Succession in Spanien zu unterstiitzen. Auch der Tod der Marie
Luise und die Vermalung Carls II. mit Maria Anna von Pfalz-
Neuburg (Schwester der Kaiserin) flihrt eine Starkung der kaiser-
lichen Partei in Madrid herbei.
Im 2. Capitel schildert der Verf. die dem Byswijker Prieden
vorausgehenden verwickelten diplomatischen Verhandlungen Lud-
wigs mit den einzelnen Machten der gegen ihn kampfenden
Coalition im Jahre 1696. Um den drohenden Separatfrieden
Spaniens mit Frankreich zu hintertreiben , entschliesst sich der
Kaiser endlich zur Abberufung seines kranklichen und mit der
Konigin verfeindeten Gesandten in Madrid, des Grafen Wenzel
Lobkowitz, und zur Absendung eines ausserordentlichen Bot-
schafters in der Person des Grafen Ferd. Bonaventura von Harrach.
Man hat demselben (cf. Noorden) mit Unrecht vorgeworfen,
durch abstossende Manieren und schmutzigen Geiz der kaiser-
lichen Sache empfindlich geschadet zu haben ; wenn er auch den
Glauben Leopolds an Mirakel im Interesse des Erzhauses mehr
als gut war theilte, so wiirde auch eine grossere Energie und
Gewandtheit, als er sie besass, bei seiner Abhangigkeit von den
Instructionen seines Hofes kaum zum Ziele gefiihrt haben. Vor
seiner Abreise von Wien stirbt im Mai 1696 zu Madrid die
Konigin-Mutter , das Haupt der bairischen Partei. Der Kaiser
versaumt noch wahrend des Krieges rechtzeitig ein Hiilfscorps
nach Spanien zu senden und begniigt sich damit, zur Condolenz
und zur Sondirung der Gesinnung der Konigin den jungen
27jahrigen Grafen Louis Harrach seinem Vater nach Madrid
vorauszu8chicken.
Der Darstellung des weiteren Verlaufes der Dinge am spa-
nisehen Hofe schickt der Verfasser im 3. Capitel eine eingehende
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Gaedeke, Arnold, Die Politik Oesterreichs in der span. Erbfolgefrage. 153
Schilderung des Zustandes Spaniens unter Carl II. and des
Parteigetriebes am Madrider Hofe voraus.
Carl £L ist bisher, meist nach franzosischen Memoiren, mit
Unrecht als fast geistesschwach gesChildert worden; auch seine
wechselnde Gesundheit ist weniger in der Naturanlage als in
unregelmassiger Lebensweise und nnverniinftiger arztlicher Be-
kndlung begriindet. Seine geistigen Anlagen sind yon seiner
herrschsuchtigen Mutter absichtlich nicht durch die gehorige
&ziehung entwickelt worden. Nach dem Tode derselben gewinnt
seine zweite Gemalin einen allmachtigen Einfluss auf ihn. Maria
Anna ist leidenschaftlich und schwankend, hochfahrend gegen
die Spanier und zu Giinstlingswirthschaft geneigt; sie macht
durch ihr Auftreten indirect die osterreichische Sache im Lande
misdiebig. Sie wird vollstandig beherrscht von dem Grafen
Jfelgar und der mitgebrachten deutschen Umgebung (Grafin Ber-
iepsch, Beichtvater Gabriel Chiusa und Secretar Baron Heinrich
Wiser); durch Wiser wird ein vollendetes System von Stellen-
kanf und Bestechlichteit eingefuhrt, welches der Konigin den
Bass des gesammten Volkes zuzieht. Das Land gerath allmah-
lich in einen Zustand volliger Zerriittung ; der verarmte Adel,
unbekiimmert urn die Interessen des Staats, strebt nur nach
Stellen, Gnadenbezeugungen und Pensionen. Das Land ist ent-
volkert durch die Vertreibung der Dissidenten und Massen-
auswanderung nach den Colonien; unter Carl II, sinkt die Be-
▼olkerung (zur Zeit des Maurenreiches gegen 30 Millionen) auf
5,700000 herab, wovon ein Drittel Geistliche sind. Ebenso
sinken die Staatseinnahmen von 500 auf 30 Mill. Realen; trotz
der amerikanischen Silberflotten sind die koniglichen Kassen stets
leer, die Not dringt bis in den koniglichen Palast, trotzdem
man sich durch unsinnige Mittel, wie Miinzverschlechterung und
willkiirliche Steuererhohungen, zu helfen sucht. Der kiiegerische
6ei8t der Nation scheint erloschen zu sein ; die spanische Armee
im Norden des Beiches besteht vor dem Frieden von Ryswijk
nur aus 8000 Mann, die Seemacht geniigt kaum noch zur Es-
cortirung der Silberflotten. Erst ganz alLmahlich bildet sich im
Lande eine Reformpartei , die aber dem Kaiser abgeneigt ist,
weil sie von dem Hause Habsburg keine Aenderung des Regie-
rungssystems erwartet. Der dieser Partei angehorige Valido
Oropesa wird durch den Einfluss der Konigin vom Hofe ver-
oannt.
Das 4. Capitel schildert die Verhandiungen in Madrid bis
zum Abschlusse des Waffenstillstandes mit Frankreich. Im
Sept. 1696 bringt Porto Carrero, der Kardinal-Primas von To-
ledo, den schwer erkrankten Konig wahrend einer gleichzeitigen
Erkrankung der Konigin durch Gewissensangste zur TJnterzeich-
nung eines Testaments zu Gunsten des Kurprinzen von Baiern.
Die Majoritat des Staatsraths ist der Konigin feindlich gesinnt ;
trotzdem iibt letztere auf den Konig einen entscheidenden Ein-
aus. Ihr Vertrauter ist Graf Melgar, Almirante von
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154 Gaedeke, Arnold, Dio Politik Oesterreichs in der span. Erbfolgef»g«.
Castilien, ein Talent, aber kein Charakter, vom Volke gehasst
und verachtet. Mit ihm ist eng liirt des Konigs Beichtvater
Matilla, vom Volke el antichristo de Espafia genanni Der on-
eigenniitzigste Vorkampfer "der Interessen des Kaiserhauses ist
der Graf d'Aguilar; sein Hass gegen die Missregierung verhin-
dert aber eine enge Verbindung mit der Konigin. Eine ge-
schlo8sene osterreichische Partei existirt nicht ; fast alle Granden
treiben personliche Interessenpolitik. Die oppositionelle Granden-
partei (Montalto, Porto Carrero) vertritt aus Hass gegen die
Konigin und gegen Melgar die Rechte des bairischen Kurprinzen,
sie will keine Reformen, wohl aber Erhaltung der spanischen
Gesammtmonarchie. Bei den spateren Unterhandlungen zwischen
Porto Carrero und Ludwig XXV. spielt eine bedeutsame Bolfe
des ersteren Geheimsecretar Urraca. Ende 1696 existirt in
Spanien noch keine franzosische Partei* Bei der Gesinnung der
Granden findet der im October in Madrid anlangende Graf Louis
Harrach geringe Aussicbten fur den Erzherzog Carl Tor.
Der Separatfrieden Ludwigs mit dem Herzog von Savojen
erhoht die Kriegsgefahr fiir Spanien ; das schroffe Auftreten des
hollandischen Gesandten Schonenberg und dessen Ausweisung
aus Madrid hatte scbon frliher den Seemachten jeden diplomatic
8chen Einfluss auf den spaniscben Hof abgeschnitten und eine
tiefe Veretimmung zwischen den AUiirten herbeigefiihrt. Der
Kaiser verabsaumt die notwendige Verstarkung des kleinen
kaiserlichen Hiilfscorps (3 Regimenter unter dem Landgrafen
Georg von Hessen-Darmstadt) in Catalonien. So iiberwiegt in
Madrid die Friedenspartei ; offenes Entgegenkommen findet
Harrach nur bei der Konigin und bei Aguilar, Ludwig lasst
unter der Hand in Madrid sebr gunstige Friedensbedingungen
proponiren, wenn seinem Enkel die Erbfolge zugesichert werde.
In dieser Gefahr sendet der Kaiser endlich den alteren Harrach
(Mai 1697), ohne jedoch durcb Geld und Truppen seine Wiinscke
genugend zu unterstiitzen ; ware dies gescheben, so ware jeden-
fells die spanische Monarcbie den deutscben Habsburgern erhalteJ
worden. Kurz zuvor bat Carl II. auf Andringen der Konigin
oben erwahntes Testament zerrissen. Harrach kniipft mit HtLlfe
der Konigin geheime Unterhandlungen mit dem Konig an, der
schliesslich in die Hiniiberkunft des Erzherzogs Carl mit einem
Hiilfscorps von 10000 Mann nach Spanien wUligt; das beztig-
liche Schreiben des Konigs bringt der jiingere Harrach Ende
Juli nach Wien. Wahrend der lang hingezogenen Verhandlungen
iiber die Transport- und Erhaltungskosten des Hiilfscorps erobern
die Pranzosen Barcelona am 11. August; Spanien sieht sich zar
Abschliessung eines Waflfenstillstandes auf 3 Monate genotigt
Das 5. Capitel enthalt die diplomatischen Verhandlungen,
die zum Frieden von Byswijk fuhren. Die unentschlossene und
doppelziingige Politik des Wiener Hofes macht die Sendung des
Grafen Kaunitz nach Brussel zur giitlichen Auseinandersetzung
mit Max Emanuel erfolglos; auch die Seemachte lehnen eine
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Gaedeke, Arnold, Die Politik Oesterreichs^in der span. Erbfolgefrage. 155
Entecheidung der spaiischen Erbfolgefrage zu Gunsten des Kaisers
anlaselich der anzukniipfenden Friedensverhandlungen ab. Auf
dem im Mai 1697 eroffneten Friedenscongress zu Schloss Niew-
burg-Hausen bei Ryswijk halt der Kaiser mit libel angebrachter
ZaMgkeit an den alten Forderungen fest. Nach erfolgter Eini-
gmtg Ludwigs mit den Seemachten zeigt sick auch Spanien nach
dem Fall von Barcelona zum Frieden geneigt und der Kaiser
wird vollig isolirt. Derselbe sucht absichtlich auf Harrachs Rat
im Interesse der Yerhandlungen in Madrid den Congress in die
Lange zu ziehen. In Folge des Falls von Barcelona steigert
Lodwig seine Forderungen dem Kaiser gegeniiber, bietet dagegen
Spanien die Riickgabe sammtlicher Eroberungen. Die Seemachte
Wmea nunmehr den Transport kaiserlicher Tmppen nach Spanien
8b and schliessen zusammen mit Spanien im September Frieden ;
dasZogern des Kaisers, welches denselben schhesslich zu einem
Separatfrieden notigt, fiihrt den Verluat von Strassburg herbei. —
Das 1. Capitel des II. Buches schildert die Verhandlungen
des Kaiser6 mit den Seemachten nach dem Ryswijker Frieden.
Der Kaiser verabsaumt es, dem Wunsche Wilhelms UL zu ent-
sprechen und durch Vertrag dem Kurfiirsten von Baiern die
Niederlande zu uberlassen ; in Folge dessen zeigen die Seemachte
keine Lust, den geheimen Tractat von 1689 zu erneuern. Die
Sendung des Erzherzogs mit einem Hulfecorps nach Spanien
scheitert an der Unlust der Seem&chte, den Transport zu iiber-
nehmen und an der Weigerung des Kaisers, fur den Unterhalt
der Truppen zu sorgen.
Das 2. Capitel enthalt eine Darstellung der Thatigkeit des
alteren Harrach in Madrid. Dieser soil bei Carl II. durchsetzen:
1) ein Testament zu Gunsten des Erzherzogs , 2) Uebernahme
der Unterhaltungskosten fur das Hiilfscorps, 3) eine Armee-
Beorganisation. Es gelingt ihm zwar, die Ernennung desLand-
grafen Georg von Hessen-Darmstadt zum Vicekonig von Catalonien
durchzusetzen , abef er ist nicht im Stande, die Reduction der
kleinen spanischen Armee auf die Halfte zu verhindern. Der
Kaiser, zu zuversichtlich auf den Einfluss der Konigin bauend
und durch vaterliche Sorge beeinflusst, beschliesst gegen das
Votum der Ministerconfereuz, auf die Entsendung des Erzherzogs
nach Spanien zu verzichten, verweigert auch dennitiv die Unter-
haltunjpkosten fur das Hiilfscorps. Die Forderung des Kaisers,
dem Erzherzog die Statthalterschaft von Mailand zu ubertragen,
*ird auf Melgars Betrieb abgelehnt. Bei der Konigin discre-
ditirt sich Harrach durch den Plan, eine Reformjunta einzusetzen
and Oropesa zuriickzurufen. Ende 1697 wird Harrach krank;
er verhert an Einfluss, verfeindet sich mit der Grafin Berlepsch
durch Drohungen. Die Konigin will eine Heirat des romischen
Konigs Joseph mit ihrer Nichte, einer hessen - darmstadtischen
Prinzessin, zu Stande bringen ; durch Ablehnung dieses Heirats-
projectes vom kaiserUchen Hofe wird sic schwer gekrtokt.
Das 3. Capitel schildert den weiteren Verlauf der Dinge in
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156 Gaedeke, Arnold, Die Politik Oesterreichs in der span. ErbfolgBfrige.
Madrid. Im Februar 1698 erkrankt der Konig plotzlich. Porto
Carrero ersetzt den Beichtvater Matilla durck den ihm ergebenen
Dominikaner Froylan Diaz ; die Konigin entschliesst sich in ihrer
Bestiirzung zur Zuriickberufung Oropesas als Prasidenten einer
Regierungsjunta. Porto Carrero benutzt des Konigs Krankheit,
urn die Konigin bei ihm zu discreditiren ; nach erfolgter Ge-
nesting findet zwar eine Aussohnung start, aber Oropesas Sta-
lling befestigt sich. Harrach versaumt es, seinen Hof auf die
Verschiebung der Machtverhaltnisse in Madrid aufmerksam zu
machen. Die Konigin wird durch die Berlepsch der kaiserlichen
Sache vollig entfremdet. So findet der Marquis d'Harcourt, der
den 24. Februar in Madrid anlangt, einen giinstigen Boden ffir
seine Th&tigkeit. Er ist mehr Soldat als Diplomat, yon ge-
winnenden Manieren, verdankt seine Ernennung der Maintenon.
Er ist ein Gegner der Theilungspolitik, in seiner Correspondent
mit Ludwig XI V. zeigt er sich einseitig, angstlich und zugleich
oft zu sanguinisch. Es ist ein Irrthum, dass Harcourt grosse
Summen auf Bestechung verwandt habe, er hat nur 300000 PVancs
zu diesem Zwecke erhalten. Auch auf das letzte Testament
hat er keinen entscheidenden Einfluss ausgeiibt, da er bei Ab-
fassung desselben, worauf schon Ranke in seiner Franzosischen
Geschichte aufmerksam macht , gar nicht mehr in Spanien ist
Wichtig ist die Instruction, die Harcourt von Ludwig erhalt
Er soil mit Krieg drohen, falls der Erzherzog Aussicht habe,
Mailand zu erhalten, soil femer ein frtthzeitiges Testament ver-
hindern und falls der Konig dem Krankheitsajofall erliegt (Ranke
F. Or. IV, p. 90 iibersieht hier die beschrankende Bestimmung).
die sofortige Einberufung der Cortes beantragen. Harcourt wW
in Madrid sehr kiihl empfangen, muss zwei Monate auf die An-
trittsaudienz warten ; es gelingt ihm (ohne Bestechung) allmahlicb^
unzufriedene Grosse an sich zu Ziehen. Besonderes Entgegen-
kommen findet er bei der Geistlichkeit und einigen einflussreichen
Damen des Hofes , spater auch bei Porto Carrero. Ein Theil
der Oppositionspartei giebt die Sache des Kurprinzen auf und
wird fiir das firanzosische Interesse gewonnen. Als Ludwig mit
den Seemachten nnd dem Kaiser wegen eines Theilungsvertrages
verhandeln will, agitirt Harcourt dagegen. Nach der Riickkebr
des Hofes von Toledo kntipft Harcourt Beziehungen mit den
Yertrauten der Konigin an, halt sich aber in vorsichtiger Re-
serve; die Gerfichte iiber eine geplante Wiederverheiratung der
Konigin mit dem Dauphin nach Carls Tode sind unbegriindet
Seine Bemiihungen werden durchkreuzt durch den im Sept. 1698
zwischen Ludwig und den Seemachten abgeschlossenen ersten
Theilungstractat. Zu spat erbietet sich jetzt der Kaiser, die
Kosten fiir das Hiilfscorps zu iibernehmen. Am 9. October ver-
lasst Harrach, durch seinen Sohn ersetzt, Spanien ; seine Mission
ist in Folge der angstlichen Politik und der unzeitigen Sparsam-
keit des Kaisers vollig gescheitert; er iibernimmt in Wien an
Kinskys Stelle die Leitung der auswartigen Politik.
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Gttdeke, Arnold, Die Politik Oesterreichs in der span. Erbfolgefrage. 157
Das 4. Capital schildert zuriickblickend die Stellung Oester-
reichs zu dem ersten Theilungsvertrage. Eine Vereinbarung
zwischen den Seemachten und dem Kaiser im Marz 1698 war
verhindert worden dnrch die Abneigung des Kaisers, Baiern
angemessen zu entsch&digen. Als Ludwig in London durch
TiBard Theilungsvorschl&ge macht, unterzeichnen die Seemachte
nach langen Verhandlungen , wahrend welcher der kaiserliche
Gesandte Graf Auersperg mit Ausfliichten hingehalten wird, am
24 Sept 1698 den ersten Theilungsvertrag. Um vor dem Kaiser
den Vertrag geheim zu halten , werden zum Schein resultatlose
Verhandlungen in Wien weitergefuhrt. Der Graf Kinsky zeigt
den Warnungen von Auersperg und Goess gegeniiber eine unbe-
gmffiche Vertrauensseligkeit.
Das 5. Capital behandelt die in Spanien zu Gunsten des
Xnrprinzen fallende Entscheidung. Harcourt ist mit dem Thei-
lungsvertrage sehr unzufrieden ; bei der Nachricht von dem Ab- .
8chlu88 desselben fallen viele Granden von der franzosischen
Partei ab und beschliessen, die Candidatur des Kurprinzen zu
unterstiitzen ; so schliesslich auch Porto Carrero. Der Kurfiirst
gewinnt die Umgebung der Kdnigin durch Bestechung; so wird
mittelbar auch die Konigin gewonnen. Carl II., iiber den Thei-
lungsvertrag emport und durch Oropesa gedrangt, macht am
14. November 1698 ein Testament zu Gunsten des Kurprinzen,
was ohne die Einwirkung des Theilungsvertrages kaum geschehen
sein wtirde (Anders Ranke F. G. IV, p. 96). Jetzt erhalt Louis
Harrach vom Kaiser die Erlaubniss, offen gegen die Konigin zu
agitiren. Die Seemachte verhandeln vergebHch mit dem Kaiser,
urn denselben zur Annahme des Vertrages zu gewinnen. Ludwig
lasst am 18. Jan. 1699 durch Harcourt feierlich gegen das
Testament protestiren und halt den Seemachten gegeniiber an
dem Theilungsprojecte fest. Die Absicht des Kaisers, mit
Ludwig direct zu verhandeln, wird durchkreuzt durch den Tod
dea Kurprinzen.
Das 1. Capitel des II. Bandes enthalt die Verhandlungen
iiber den zweiten Theilungsvertrag. In Madrid wenden sich die
Konigin und die Grafin Berlepsch fiirs erste wieder reumiithig
der kaiserhchen Paxtei zu. Bei neuen Verhandlungen zwischen
Ludwig und Wilhehn lehnt ersterer es ab, den Kurfiirsten in
die Rechte seines Sohnes einzusetzen, will aber dem Erzherzoge
die Haupterbschaft iiberlassen.
Das 2. Capitel schildert die inzwischen erfolgten Verande-
rnngen am spanischen Hofe. In Folge des nunmehr vollstandig
bekannt gewordenen ersten Theilungsvertrages herrscht in Spa-
tien grosse Erbitterung, besonders gegen die Seemachte. Har-
court ist wieder sehr riihrig filr die Erwerbung der ganzen Erb-
sehaft; Ludwig warnt ihn vor bindenden Engagements, er soil
but den Konig von Abfassung eines neuen Testamentes zuriick-
taften. Die bairische Partei theilt sich. Oropesa arbeitet im
portugiesischen Interesse und sucht auch die Konigin dafiir zu
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158 Gaedeke, Arnold, Die Politik Oesterreiehs in dor apan. Erbfolg^fiige.
gewinnen, Melgar nahert sich dem franzosischen Gesandten. Das
Dr&ngen Harrachs auf Reformen und auf Entfernung der dent-
schen Camarilla entfremdet die Konigin wieder der kaiaerKchen
Sache. Sein Versuch, mit Leganez' Hiilfe eine nationale Partei
zu Gunsten des Erzherzogs zu bilden, seheitert, weil der Kaiser
sein Heer reducirt und keine geniigenden (ieldmittel nach Spa-
nien schickt. Porto Carrero geht, wobei Harcolirts Verdienst
gering ist, ins franzosische Lager iiber ; dieser Uebertritt iflt fur
die Znkunft entscheidend. In Polge eines durch Theurung ?er-
anlassten Volksaufstandes zu Madrid am 25. April 1699 wird
Oropesa verbannt ; die Geschafte gehen iiber auf Porto Carrero,
der auch die Verbannung von Melgar und Aguilar durchsetzt
Eine Krankheit des Konigs im Juni 1699 wird von den
Aerzten als (torch Zauberei hervorgerufen bezeichnet, die Grafin
Berlepsch wird der Theilnahme daran beschuldigt. Nach Ge-
nesung des Konigs und Entfernung des Beicbtvaters Froylan
Diaz gewinnt die Konigin ihren alien Einftuss wieder; mit der
kaiserlichen Partei ist sie jetzt vollstandig zerfallen. Harrach
betheiligt sich an nachtlichen Conferenzen der patriotischen Partei
welche gegen die Konigin und 'die Berlepsch agitirt und die
Successfcmsfrage im osterreichischen Interesse erledigen will ; die
Tragweite der Verhandlungen ist von Ranke I\ GK IV, p. 102.
der Harcourts Berichten folgt , wohl ilbersch&tzt. Haroourt ist
von dem Abschlusse des zweiten Theilungsvertrages empfindlkh
beriihrt, flirchtet vollige Aufloeung der franzosischen Partei *ad
reicht seine Demission ein, die aber vorllufig nicht angenommeo
wird; dann sucht er vergeMkh die Publikation des VertrageB
zu verhindern. Die Entrusting , die detselbe in Madrid erregt,
riohtet sich weniger gegen Frankreich als gegen England und fUhrt
zu dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu diesem
Reiche.
Das 3. Capitel schildert Oesterreichs Stelhmg zum zweitea
Theilungsvertrage. Zu Anfang 1699 wird die osterreicMscbe
Politik weaentlich gekr&ftigt durch den Frieden von Carlowitz.
Eine Folge davon ist tine selbstbewusstere Haltung des Wiener
Hofes, leider auch eine erhebliohe Reduction des Heeres. Der
Eraser versaumt es auch jetzt, den Kurf&rsten durch Ueberiassung
der l^iederlande fiir sich zu gewinnen. Durch den Tod des
Kurprinzen ist der habsburgische Glaube an Mirakel neu ge-
starkt. Der kaiserliche Hof glaubt nicht an den Abschluss eines
zweiten Theilungsvertrages seitens der Seem&chte und fordert
Erneuerung des geheimen Tractates von 1689. Mitte Juni werden
zu Wien die ersten Erfiffnungen iiber die Theilungsverhandlungen
gemacht; der Kaiser weist die Sache nicht vollig zuriick, sucbt
sie aber hinzuziehen. Dass die Verhandlungen fruchtlos bletben,
liegt in der Verschiedenheit der Interessen und in dem Mangel
an staatsm&nnischer Begabung bei dem bisher meist zu giinstig
beurtheilten Kaiser. Der Mirakelglaube , den der Kaiser mil
seinen Ministern theilt, wird fiir die spanische Erbfolgefrag*
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Gtedeke, Arnold, Die Politik Oesterreichs in der span. Erbfolgefrage. 159
verh&agnissvoll ; vergeblich dringt Kaunitz auf Vermehrung deB
Heeres und Unterstiitzung Spaniens durch Geld. Derselbe
Sfaatsmann , der einzige, der die Situation mit klarem Blicke
uberschaut, will fiir das Erzhaus nur Italien erwerben sowie
Baiern durch Vertauschung gegen die Niederlande. Mit Frankreick
wcrden im August 1699 die diplomatischen Beziehungen durch
die Sendung des jungen und unfahigen Grafen Philipp Sinzen-
dorf nach Paris wieder angekniipft. Der Protest Carls II. gegen
die Theilung sowie das Drangen des in Wien thatigen hollan-
discben Gesandten Hop auf Entscheidung veranlassen im October
den Abbruch der Verhandlungen mit den Seemachten auf
mehrere Wochea. Am 18. Mai 1700 wird der Tractat zwischen
Lading und den Seemachten unterzeichnet und dem Kaiser zum
Beitritt erne Bedenkzeit von 3 Monaten gelassen; der Vertrag
wird publicirt und in Spanien amtlich mitgetheilt. Ludwigs
gleichztitigs In8tructionen an Harcourt zeigen, dass er von vorne
herein nicht gesonnen ist den Vertrag zu halten. Bei der grossen
Aufregung in Madrid erhalt Hardcourt von Ludwig die Erlaub-
ws&7 Spanien , zu verlassea. Harrach drangt die Konigk mit
Erfolg zur Entlassung der BerlepseU, yerniag aber nicht die
Ernennung Leganez' zum Mitgliede des Staatsrathes durchzu-
setzen. Auf Porto Carreros Betrieb ersucht der Konig den
Pabst, auf Ludwig einzuwirken, damit er von dem Theilungsplan
Abstand n&hme. Carl II. scheint es zwar auf einen Krieg mit
Frankreich ankommen lassen zu wollen, aber im Staatsrath ist
die Majoritat fiir Frankreich, Auf Porto Carreros Betrieb holt
der Konig verschiedene Rechtsgutachten ein, die den Bourbons
giinstig tauten; schliesslich bestimmt der Cardinal - Primas den
Konig, die Entscheidung dem Pabste anheimzugeben. Der
Kaiser zogert immer noch mit den notigen R&stungen, obwohl
er den Beitritt zu dem Theilungsvertrage definitiv ablehnt. In
England herrscht im Yolke grosse Missstimmung tiber den Tractat.
Durch Truppenansammlungen an der Grenze schreckt Ludwig
den spanischen Hof von der Dui'chfiihrung der bereits einge-
leiteten Vertheidigungsmassregeln zuriick; der Wiener Hof lasst
rich von ihm bestimmen, nichts vor Carls Tode zu unternehmen,
und raubt dadufch der kaiserlichen Partei in Madrid alles Ver-
trauen auf Erfolg. Die Antwort des Pabstes lautet zu Gunsten
des Herzogs von Anjou. Als Carl Ende September erkrankt,
fordert Ludwig den Kaiser noch einmal vergeblich zum. Beitritt
zu dem Theilungstractate auf. Am 3. October unterzeichnet
Carl das dem Herzog Philipp von Anjou gunstige Testament
unter dem Drangen Porto Carreros und der Beichtvater; ver-
geblich sucht die Konigin ihn zur Vernichtung desselben zu be-
wegen. Nachdem Porto Carrero die alleinige Leitung der Ge-
schafte iibertragen ist, stirbt Carl am 1. November 1700.
Das 5. Capitel enthalt die Verhandlungen bis zum Ausbruch
des Krieges. Der Vert weist nach, dass Ludwig von vorne
herein die feste Absicht hat, den Theilungsvertrag zu brechen.
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160 Baader, Jos., Streiflichter auf d. Zeit d. tiefsten Eroiedr. Deutachl. etc.
Ludwig nimmt am 12. November die Krone fiir seinen Enkel
an, derselbe wird am 24. November zu Madrid feierlich zum
Konige proclamirt. Erst jetzt werden in Wien die notigen Kriegs-
rlistungen eingeleitet; Graf Wratislav wird im December nach
London geschickt, urn die Allianz von 1689 zu erneuern. In
England ist des Konigs Stimmung verzweifelt, das Volk bleibt
gleichgtiltig, das Parlament ist dem Kriege abgeneigt Erst
iibereilte Massregeln Ludwigs, wie die Besetzung der nieder-
landischen Festungen sowie von Mailand und Mantua durch
franzbsische Truppen, ferner die Begilnstigung des franzosischen
Handels in Spanien erzeugen in Holland und England eine
kriegerische Stimmung. Nach den erfolglosen Haager Conferenzen
zwischen Frankreich und Holland wird am 7. September die grease
Allianz zwischen dem Kaiser und den Seemachten untarzeichnet,
in welcher dem Kaiser Neapel und Sicilien zugesichert wird.
Berlin. R. Rodenwaldt.
XXXIV.
Baader, Jos., Streiflichter auf die Zelt der tiefsten Ernie-
drigung Deutschlands oder die Reichsstadt Nflrnberg in doa
Jahren 1801—6. gr. 8. (IH, 153 S.) Niirnberg 1878. A. Daiber.
3 M.
Aus Aktenstiicken des k. Kreisarchivs zu Niirnberg geschopft
und von dem Herausgeber mit einer orientirenden Einleitung umd
einigen Anmerkungen versehen, behandelt die kleine Schrift in
ihrem ersten Theile Niirnbergs erste Deputation
nach Paris im Jahrel801, deren Zweck, die Selbstandig-
keit der alten Reichsstadt durch die franzosischen Machthaber
garantiren zu lassen, wirklich erreicht wurde. Sie bringt in ihrem
zweiten die Berichte des Legationsrathes Wolt-
mann an Niirnberger Rathsmitglieder aus den
Jahren 1803 — 6, die ihren Ausgangspunkt in dessen ver-
geblichen Bemiihungen hatten, am Berliner Hofe einen Ausgleich
mit Preussen und Bayern anzubahnen, durch den die Stadt
wieder in den Besitz der ihr entrissenen Aemter kame. Neue
Thatsachen von Bedeutung diirften weder aus den Pariser noch
den Berliner Depeschen zu entnehmen sein, doch werfen sie
wirklich manches helle und grelle Streif licht auf den Spiegel, in
dem das deutsche Yolk noch heute zu seiner Beschamung und
Warming die Ziige schauen mag, die es am Anfange des Jahr-
hunderts trug. Die Niirnberger Deputirten, der Senator Tuchw
und der Marktadjunkt Kissling, waren sicher nicht die wiirde-
losesten unter den Agenten der kleineren und grosseren deutschen
Stande, die damals in den Vorzimmern des ersten Consuls und
seiner Creaturen um die jammerliche Existenz ihrer Auftraggeber
oder um die Erlaubnis zur Beraubung ihrer schwfi^heren Nach-
barn bettelten. ErgotzUch ist die Schilderung der mehr als
sparsamen Lebensweise, zu der die finanzielle Bedrangnis der
Vaterstadt die Herren Gesandten in Paris zwang; merkwiirdig
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Baader, Jo«., Streiflichtor auf d. Zeit d. tiefsten Erniedr. Doutachl. etc. 161
da9 „Memoire an den Kaiser von Russland" , an den sich zu
wenden, der osterreichische Gesandte Graf Cobenzel den Ntirn-
bergern selbst gerathen hatte. In diesem Schriftstiicke, das aus
den Handelsbeziehungen zwischen Russland und Niirnberg das
dringende Interesse darzulegen unternimmt , welches der Qross-
staat an der reichsunmittelbaren Selbstandigkeit der Stadt nehmen
mflsse, wird4dieselbe, „wie weltkundig seit mehreren Jahrhunderten,
so noch gegen wartig", mit Augsburg und Frankfurt in
Sfiddeutschland und im frankischen Kreise allein, eine „vor-
zSgliche Handelsstadt" genannt. Die commerzielle Beilage
der Petition stellt aber doch die Russen als die kliigeren Handels-
lente hin, wenn sie ausftihrt, dass den Niirnberger Kaufleuten
nicht selten ihre nach Russland gesandten Waaren verloren
gingen, wogegen bei Bestellungen auf russische Producte sogleich
die Bezahlung auf einem auswartigen Wechselplatz angewiesen
werden miisse.
Der Berliner Correspondent, der als Historiker bekannte
K. P. TVoltmann, der mit Niirnberg zugleich die Hansestadte
Hamburg und Bremen bei der preussischen Regierung vertrat,
richtete bios sein erstes Schreiben an „den hochweisen Rath der
Reichsstadt" , alle folgenden an einzelne Mitglieder desselben,
weil jeder Brief mit der ersteren Adresse „auf den Posten zu
grosses Aufsehen errege". Seine Berichte sind aus zwei ge-
trennten Perioden erhalten , von denen die erste die Zeit vom
Pebruar 1803 bis April 1804, die zweite die vom 27. April 1805
bis 20. Juni 1806 umfasst. Weil er bald erkennt , dass das
Interesse der Berliner Regierung an den besonderen Angelegen-
heiteu seiner Committenten ein ausserst geringes ist, zieht er in
seine Depeschen Alles hinein, was ihm von preussischer und
allgemeiner europaischer Politik zuganglich wird, von den vagen
Geriichten an, die durch die Strassen schwirren, bis zu diplo-
matischen Enthiillungen, die er einem vertrauten Freunde, wahr-
schemlich dem preussischen Legationsrathe Kiister, dankt, den
er aber in seinen spateren Briefen namentlich zu bezeichnen ver-
meidet. Wahrend des intercssanteren zweiten Zeitraumes der
Corresponded geleitet uns Woltmann als kiihler Tageschronist
dnrch alle Phasen der Einwirkungen, die das preussische Cabinet
durch den osterreichisch-russischen Krieg gegen Prankreich er-
litt In Hardenberg sieht er den eminenten Geist und grossen
Charakter, wogegen er von Haugwitz sagt, er flosse „durch die
ersten Eindrucke grosses Vertrauen auf sein besonderes Wohl-
wollen und seine Principien ein, das sich nicht ganz bewahrt".
Er berichtet nicht ohne Oenugthuung, dass dem letzteren die
Penster seines Palais mit kleinen Granaten eingeworfen worden,
wahrend ganze Regimenter in offentlichen Aufziigen Hardenberg
and General Rtichel bejauchzten „mit, der ausdriicklichen Er-
klarung, weil sie den Krieg gewollt batten". Dazwischen be-
schSftigen ihn auch zwei Uebergriffe Preussens gegen speciell
von ihin vertretene Reichsstadte , die milit&rische Besetzung
MitthcUangen «. d. hidtor. Litteratur. VI. 11
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162 Lausch, J. E., Die k&rnthonischo Bolohuungafrage.
^' J
Bremen8 im Februar und die dreier niirnbergischer Pflegeamier
im April 1806 : am 7. Juni kann er wenigstens die REumung
Bremens von den Preussen melden. Fiir die Reichsstadte weiss
er schon am 22. Marz keinen besseren Bath, als dass sie aich
schleunig „zu der Idee hergaben, dass sie unter einer unmittel-
baren Protection des franzosischen Kaiserthums stiinden". So
lange dieselbe nichts ah eine Garantie der gegenwartigen Unab-
hangigkeit sei — und schwerlich werde sie etwas anderes frtiher,
als bis der Zeitpunkt eintrate, wo alle Unabhiingdgkeit der deut-
schen Staaten aufhore — bleibe sie gewiss eine Wohlthat fur
die Reichsstadte. Nationale Bedenken gegen eine solche Com-
bination &ussert er nicht: er schreibt am 7. Juni, die Reichs-
stadte konnten bei jeder Aenderung des Reichsnexus nicht umhin,
sich immer mehr zu freien kosmopolitischen Punkten zu
bilden. An einen Krieg zwischen Preussen und Frankreich
denkt er damals nicht : dagegen berichtet er von Posttag zu
Posttag iiber die steigende und abnehmende WahrscheinUchkeit
eines preussischen Krieges mit England, der am 11. Juni wirk-
lich in London erklart wurde, und eines Krieges mit Schweden,
den trotz der Blokade Swinemiindes durch den tollen Konig
Gustav die Langmuth der preussischen Regierung noch immer in
der Schwebe hielt. Woltmann schliesst seine letzte Depesche
vom 20. Juni mit der Bemerkung: „Ueber Niirnberg hat Graf
Haugwitz heute Vortrag beim Konig" — offenbar ohne Ahnung
da von, dass nach drei Wochen schon die Rheinbundsakte Niirn-
bergs Selbstandigkeit vernichten mid wenige Monate spater der
Staat, mit dem er unterhandelte, den schwersten Kampf urns
Dasein wurde zu bestehen haben.
Berlin. Th. Zermelo.
XXXV.
Lausch, J. E., Die karnthenische Belehnungsfrage. Inaugural-
Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doctorwiirde
an der Georg - August - Universitat zu Gottingen. 8. (60 S.)
Gottingen 1877.
Nachdem Rudolph von Habsburg in zwei Kriegen seinea
Gegner Ottokar von Bohmen niedergeworfen und die osterreichisch-
deutschen Lander dem Reiche wieder zugebracht hatte, belehnte
er am 27. December 1282 auf einem feierlichen Hoftag zu
Augsburg seine Sohne Albrecht und Rudolph mit den erledigteu
Reichslandern ; mit Recht nennt Lausch diesen Act die Geburta-
stands des osterreichisch-habsburgischen Staatswesens. An diese
Belehnung kniipft sich die Streitfrage: War unter den Landern,
mit welchen Rudolph seine Sohne zu Augsburg belehnte, auch
Karnthen oder nicht? Denn die beiden diesen Punct betreffen-
den Urkunden widersprechen sich; in der grossen Belehnungs-
urkunde fiir Rudolphs Sohne vom 27. December 1282 wird
Karnthen nicht genannt, wahrend in dem Belehnungsbriefe fiir
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Lausch, J. E,, Die karnthenischo Belehmmgs frage. 163
(xraf Meinhard von Tyrol iiber Karnthen vom 1. Februar 1286
sich die Angabe Konig Rudolphs findet, dass er 1282 zu Augs-
burg seinen Sohnen nebst den andern Landern auch Karnthen
iibertragen habe und dass dieselben jetzt auf letzteres verzichtet
batten. — Mit der Untersuchung dieser Streitfrage beschaftigt
sich die vorliegende Schrift. Ihr Verfasser bespricht zuerst die
sammtlichen einschlagigen Quellenstellen in den Belehnungsbriefen
der Bischofe, in den kurfurstlichen Willebriefen und in den
Cbronisten, lasst sodann die hieruber ausgesprochenen Ansichten
der neueren Historiker, Lichnowsky, Stogmann, Chmel, Lorenz u. a.
Revue passiren, beurtheilt und bekampft sie theilweise, und
kommt schliesslich zu folgenden Ergebnissen: Rudolph belehnte
seine Sohne zu Augsburg am 27. December 1282 mit Karnthen
nicht, obwol er durch die kurfurstlichen Willebriefe hiezu be-
rechtigt gewesen ware ; er behielt sich die Verfugung iiber dieses
Reichsland offen; und als 1286 Meinhard wirklich Karnthen
erhielt, polite bei dieser Gelegenheit das Recht, welches Konig
Rudolph in Folge der kurfilrstlichen Willebriefe zustand, auch
dieses Land zu einem Besitzthum seines eigenen Hauses zu
machen, nachdrucklich betont werden : diess geschah in erhohtem
Grade durch die Behauptung, es habe der Konig von diesem
seinem Rechte friiher bereits wirklich Gebrauch gemacht. Dieser
Gresichtspunct enthielt gleichsam eine Vermittlung zwischen den
beiden Motiven, durch welche das Verhalten Rudolphs
in der karnthenischen Frage iiberhaupt bedingt wurde, dem
Wunsche namlich nach weiterer Ausdehnung der eigenen Haus-
macht, andererseits der nothwendigen Riicksichtsnahme auf Mein-
hard. Die Verleihung Karnthens an Letzteren erschien dann
nicht als eine durch zwingende politische und personliche Griinde
veranlasste Concession an einen wichtigen Verbundeten, sondern
als ein freies Geschenk der koniglichen Gnade. — Fur die Auf-
fassung ferner, als ob es eines Verzichtes auf Karnthen bedurft
hatte, konnte man habsburgischer Seits geltend machen, einmal
dass die Sohne Rudolphs durch die auch auf Karnthen lautenden
Willebriefe der Kurfiirsten in der That eine Anwartschaft auf
dieses Land erhalten hatten, sodann aber waren die Herzoge
doch auch realiter bei Entscheidxing der Frage: Wer wird der
kiinftige Landesherr von Karnthen werden? als Inhaber der
karnthenischen Kirchenlehen ein hochst bedeutendes Gewicht in
die Wagschale zu werfen im Stande, indem ein Aufgeben dieser
Besitzungen von ihnen natiirlich nui% zu Gunsten eines Mannes
erwartet werden konnte, der zu dem habsburgischen Hause in so
nahen und freundschaftlichen Beziehungen stand, wie dies eben
bei Meinhard der Fall war.u
„Die in dem Belehnungsbrief erwahnte Bitte der Herzoge
an Konig Rudolph, dass er Karnthen an Meinhard verleihen
moge, kann doch nur so aufgefasst werden, dass auf diese Weise
deutlich hervorgehoben werden soUte, Meinhard verdanke den
Beaitz des Landes nicht allein der Gnade des Konigs, sondern
11*
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164 Zahn, Josef v., Zur Qeschichte Herzog Rudolfs IV.
auch dem guten Willen der Sohne, welche zu GunBten des
Grafen ihren Anspriichen auf das Herzogthum entsagt hatten.
Indem der ganze Gnadenact der Verleihung auf eine Bitte der
Sohne zuriickgefiihrt wurde, war besonders der Umstand ins
Licht gerUckt, wie jener Verzicht eben lediglich im Interesse
Meinhards erfolgt, dass also dieser daflir den Sohnen anch zu
besonderem Danke verpflichtet sei ; dadnrch wurde nun der Graf
nicht nur so lange , als Rudolph lebte , sondern auch fur die
Zukunft an das habsburgische Haus gekettet, insoferne unter
diesen Umstanden Rudolphs Sohne, oder vielmehr Herzog Al-
brecht, sicher waren, in Meinhard einen zuverlassigen , das
Interesse des habsburgischen Hauses fordemden Nachbar und
Bundesgenossen zu besitzen." —
Irren wir nicht, so kann man diese Streitfrage durch Lauseh
ftir gelost betrachten , um so mehr , da er sich nicht auf die
Vergleichung , Richtigstellung und Erkliirung der Quellen be-
schrankt, sondern, wie die eben aus seiner Schrift citirten Stellen
beweisen, den Verlauf der ganzen Angelegenheit bis in ihre letzten
psychologischen Motive klarlegt.
Graz in Steiermark. Franz Ilwof.
XXXVI.
Zahn , Josef v. , Zur Geschichte Herzog Rudolfs IV. Aus dem
Archiv fur osteh-eich. Geschichte (LVL Bd., I. Halfte, S. 229 bis
256) besonders abgedruckt Wien 1877, C. GerofcPs Sohn.
Der Inhalt dieser interessanten Abhandlung betrifft die
Gefangennahme zweier venetianischen Gesandten auf osterreichi-
schem Boden, die Reise Herzog Rudolfs nach Venedig und die
glSnzendeAufnahme, welche derselbe daselbst fend. — Im Jahrel359
befand sich eine venetianische Gesandtschaft bei Kaiser Karl IV.
in Bohmen, einerseits um die Belehnung Venedigs mit dem
nach dem Prieden mit Ungarn (1358) behaupteten Treviso und
seiner Mark zu erwirken, und anderseits, um die Ranke des Herrn
von Padua, Pranz von Carrara, zu hintertreiben. Sie erreichte
ihren Zweck nicht, wurde abberufen, nur Celsi blieb zurttck,
Corner und Gradenigo traten die Rlickreise an. Als diese Mitte
Januar 1360 bei St. Veit in Karnthen voriiberzogen , wurden
sie von den Briidern Hermann und Nikolaus, den Schenken von
Osterwitz, angefallen, gefangen genommen und auf die Burg
Osterwitz abgefiihrt, obwol sie mit Schutzbriefen von Seite des
Herzogs und des Kaisers ausgenistet gewesen. Was die Ursache
dieser Gewaltthat war, ergibt sich aus den Quellen nicht; sie
gleicht einem Raubritterstiick , einer Stegreifreiterei , einer Fest-
nahme auf Losegeld, denn die Herren von Osterwitz stacken bei
den Juden tief in Schulden und man wfirc versucht, anzunehmen,
dass sie die Gelegenheit beniitzten, reiche venetianer Nobili ab-
zufangen, um hohes Losegeld von ihnen zu erpressen. „Dem
stehen aber manche Bedenken entgegen. Das sonst hie und da
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£ahn, Josef v., Zur Geschichte Herzog Rudolfs IV. 165
bluhende Raubritterwesen hat in Oesterreich nie sehr und nie
lange sicli geltend machen konnen. Wir miissten sonst aus Ur-
kunden oder Annalen unbedingt mehrfach Nachrichten iiber-
kommen baben. Jene aber, welche wir besitzen, sind so ver-
einzelt, dass, wenn man sie cum grano salis culturgeschichtlich
verwerten wollte, unsere Lande nach der Seite hin zu den
fciedlichsten gehort haben mussen. — Audi darf man die Stel-
lung der von Osterwitz als Landeswiirdentrager , als Schenken
von Karnthen, nicht ubersehen. Es ist doch bedenklich, M&nner,
welche in einer Reihe mit den Landeshauptleuten und den
TrSgern alles Rechtes im Lande, den Marschallen sich ordnen,
als Stegreifherren annehmen zu wollen." — Der Grand der That
der Herren von Osterwitz scheint Privatfeindschaft gewesen zu
sein, welche 1358 entstand, als die Venetianer in Istrien gegen
die Ungarn kampften, in deren Dienste die Schenken von Oster-
witz getreten waren. — Die Signoria von Venedig erfuhr bald
von diesem Vorfalle und schickte einen Boten an Herzog Rudolf
mit Beschwerden ttber diese Verletzung der Strassenfreiheit und
seines Geleitscheines. Herzog Rudolf versprach seine Hilfe zur
Befreiung, entgegnete aber, „es bediirfe zur Befreiung besonderer
Verhandltmg, denn die Schenke von Osterwitz seien freie
Leute und dem Herzogthume in Oesterreich nicht
unterworfen. Das letztere war allerdings der Fall, und
datirt von dieser Begebenheit, in Verbindung mit tiefer Ver-
6chuldung, die lehensmassige Stellung der bislang freien Leute
von Osterwitz." — Die Gesandten blieben daher auch vorlaufig,
und zwar zwei und zwanzig Monate, in Haft auf Osterwitz. —
Diese loste sich erst, als Rudolf durch die Angelegenheiten in
Friaul veranlasst wurde, Venedig zu besuchen; da erzwang er
von den Schenken die Freilassung der Venetianer und brachte
sie mit sich in die Inselstadt, als er dort, wo er wie ein Konig
mit dem grossten Pompe empfangen wurde, zum Besuche
(29. September 1361) erschien. Nach seiner Heimkehr wurde
die Angelegenheit mit den Osterwitzern ausgetragen. Rudolf
iibernahm die Judenschulden der Osterwitz im Betrage von
6000 Gidden, weil sie ihm die Gesandten bedingungslos ausge-
liefert hatten, zugleich verzichteten die Schenken aber auch auf
ihre Stellung als Freie, gaben dem Herzog ihre Veste Osterwitz
und alle ihre Giiter auf, nahmen sie von ihm zu Lehen und
schwuren ihm, getreu damit zu dienen, und Rudolf versprach,
ihre Krainer Giiter frei zu geben, und wenn nicht, sie dafur
schadlos zu h>lten. Sonach hatte der Streich an den Venetianern
die von Osterwitz urn ihre bevorrechtete Stellung gebracht.
Das meiste, was der Verf. in dieser Schrift bringt, ist neu,
so die Erzahlung von der Gefangennahme der Venetianer, der
Nachweis der exemten Stellung der Schenke von Osterwitz und des
Verlustes derselben ; in diesen Nachweisen, welche durch den Ab-
druck der betreflfenden 'Quellen im Anhange erhartet sind, liegt
der bedeutende Werth dieser kleinen Abhandlung, welche so
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166 Kraus, Victor v., ZwGesch.Oesterr. etc. Ilwof, Fr., u. K. F. Peters, Graz etc.
wie alles, was die Ssterreichische Geschichte dem Forschergeiste
Zahns verdankt, als eine wesentliche Bereichening unserer vater-
landischen Geschichtslitteratur zu bezeichnen ist
Graz. Franz Ilwof.
xxxvn.
Kraus , Victor v. , Zur Geschichte Oesterreichs unter Ferdi-
nand I. )5l9—22. gr. 8. (V, 114 u. Anhang XXXIII S.)
Wien 1873, Alfred Holder. 2,40 M.
Der Herr Verf. hat es sick zur Aufgabe gemacht, uns „ein
Bild st&ndischer Parteikampfe" aus den ersten Jahren der Re-
gierung Ferdinands I. zu geben. Er lehrt uns in dem ersten
Abschnitte „dic Keime und die Entwickelung einer allgemeinen
Bewegung in den niederosterreichischen Erblandern" (S. 10 — 47)
kennen und zeigt, wie nach fortgesetztem Kampfe der Stande
Oesterreichs unter der Enns (&. 47 — 59) endlich die Landes-
herrlichkeit einen vollstandigen Sieg iiber das standische Princip
davon trug (S. 59 — 84). Der Herr Verf. hat sich seine Aufgabe
keineswegs leicht gemacht, sondern an der Hand aller zug&ng-
lichen archivalischen Quellen, besonders auch unter Benutzung
der Handschriften-Abtheilung der kaiserl. Hof bibliothek in Wien,
eine sehr sorgfaltige Darstellung dieser interessanten und filr die
Beurtheilung der Regierungsweise Ferdinands I. wichtigen Kampfe
gegeben, Besonders werthvoll wird dieselbe durch die ange-
sctdossenen 4 Excurse, die 1) eine sehr gewissenhafte Kritik der
Quellen und Hilfsschriften der Periode 1519 — 1522, 2) ein Bruch-
stiick aus M. Siebenbiirgers Leben und seiner offentlichen Wirk-
samkeit, 3) die Verhandlungen auf dem Generallandtag zu Brack,
4) standische und landesfiirstliche Betrachtungen iiber die Vor-
falle nach dem Tode Matthias' beim Beginn des 30jahrigen
Krieges enthalten. Der Anhang enthalt Briefe und Actenstiicke
zur Periode 1519—22.
Berlin. Brecher.
xxxvm.
Ilwof, Fr., und Karl F. Peters, Graz, Geschichte und Topo-
graphic der Stadt und ihrer Umgebung. Mit einem Anhange
iiber Eisenerze, Braunkohlen, Braunkohlenflora, Mineralquellen
und Curorte in der Steiermark. (433 S.) Graz 1875.
Die vorliegende Festschrift verdankt ihre Entstehung der
Aufforderung der Geschaftsfuhrer dfcr 48. Versammlung der
deutschen Naturforscher und Aerzte an die Verfasser, fur die
Mitglieder der Versammlung eine Darstellung der historischen
und topographischen Verhaltnisse von Graz zu entwerfen. Indem
sich dieselben dieser Aufgabe unterzogen, haben sie nicht allein
die Theilnehmer der Naturforscherversammlung , sondern auch
alle diejenigen, welche sich fur Stadtgeschichte interessiren , zu
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Beitrage zur Kunde steierm&rkischer GescMchtsquellen. 167
Dank verpflichtet. Denn trotz der eng gesteckten Grenzen ist
es ihnen gelungen , ein iibersichtliches , flares und zuni Theil
sehr genaues Bild der historischen Entwicklung der Stadt Graz
ond ibrer gegenwartigen Lage mit Berucksichtigung alles wissens-
weifhen statistischen Materials zu entwerfen. Das dadurch ge-
gebene Beispiel verdient Nachahmung. Das grossere Publikum
wurde gewiss sehr dankbar sein, wenn es von den grosseren
Sfcadten Deutschlands ahnliche kurze und doch umfassende
Schilderungen erhielte. — S. 5 — 62 enth< eine von K. P. Peters
verfasste Abhandlung iiber den Boden von Graz, an welche sich
S. 63 — 246 die Geschichte der Stadt von ihren Anfangen bis
in die neueste Zeit anschliesst. Dieselbe ist von Franz Ilwof
gesclirieben und enthalt in knapper, gedrungener Form nicht
Moss die Ergebnisse aller der zahlreichen Untersuchungen , die
iiber die Geschichte der steierschen Hauptstadt angestellt sind,
sondern auch die der archivalischen Forschungen des auf diesem
Felde schon bewahrten Verfassers. Besonders werthvoll er-
scheinen die Abschnitte, welche „Rechtshistorisches und Volks-
wirthschaftliches" , S. 142 — 152, „Schulwesen ira Mittelalter,"
S.152 — 155, ^Reformation und Gegenreformation," S. 179 — 194,
behandeln. — Die Topographie der Stadt, ebenfalls von Fr. Ilwof
bearbeitet, bespricht die Lehranstalten, die Bibliothek der Uni-
versitat, die wissenschaftlichen Sammlungen, die Landes-Bilder-
gaDerie und Kupferstichsammlung , das Landes - Archiv , das
Landes-Zeughaus und die zahlreichen Spitaler, Vereine, Behor-
den etc. der Stadt und der Landschaft. Der Anhang handelt,
S. 339 — 430, von den Eisenerzen, der Braunkohle etc. und den
Mineralquellen und Curorten von Steiermark. — Der beigegebene
,jPlan von Grazu zeugt von Sorgfalt und Geschmack. —
Berlin. " Brecher.
XXXIX.
Beitrioe zur Kunde steiermarkischer Geschichtsquellen. Heraus-
gegeoen vom historischen Vereine fur Steiermark. 13. und 14.
Jahrgang. Graz 1876 und 1877. Leuschner und Lubensky.
Mittheilungen des historischen Vereins fur Steiermark. Heraus-
gegeben von dessen Ausschusse. 24. und 25. Heft. Graz 1876
und 1877. Leuschner und Lubensky.
Gretreu seinen Satzungen veroffentlicht der historische Verein
fiir Steiermark alljahrhch zwei Publikationen , die eine der Er-
forschung, die andere der Bearbeitung der Geschichte dieses
Landes gewidmet. Seit meiner letzten Anzeige dieser „Beitrage"
mid „Mittheilungenu in dieser Zeitschrift (V, 182—186) liegen
wieder je zwei Hefte derselben vor , iiber welche nunmehr hier
kurz Bericht erstattet werden soil. —
Der 13. Jahrgang der ersteren enthalt „Materialien und
kritische Bemerkungen zur Geschichte der ersten Bauemunruhen
in Steiermark und den angrenzenden Landern" von Dr. Franz
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168 Boitrage zur Kunde stoiermarkischer Geschichtsquellen,
Mayer ; sie betreffen vorwaltend den grossen Aufstand von 1515
und sind um so wertvoller, da die Quellen iiber dieses Ereigniss
nicbt sehr reichlich fliessen und durch die neu beigebrachten
Briefe mancbe Einzelheit dieser Vorgiinge erst richtig gestellt
werden kann, wodurch sich aucb das, was Zimmermann in seiner
Geschichte des grossen Bauernkrieges und nacb ibm Liliencron
im 3. Bande (S. 188) der bistorischen Volkslieder als Einleitung
zu dem dort abgedruckten Bauernlied iiber den Aufstand in
Innerosterreich im Jahre 1515 erzahlen, rectificirt — Wichner
berichtet „iiber einige Urbare aus dem 14. und 15. Jahrhundert
iga Admonter Archiv" und bringt Ausziige aus denselben, welche
reiche Beitrage zur Kulturgeschichte der Steiermark in den
letzten Jahrbunderten des Mittelalters darbieten; die alten Ad-
monter Urbare des 12. und 13. Jahrbunderts sind bei dem
grossen Brande des Stiftes vor zebn Jahren zu Grunde ge-
gangen. — Der dritte grossere Aufsatz dieses Heftes bringt
„Urkunden-Regesten" von Dr. Ferdinand Biscboff; es sind diess
223 Regesten von aus den Jahren 1345 bis 1533 stammenden
Urkunden, welche sich grosstentheils in einem im Schlossarchir
zu Hollenburg in Karnthen verwahrten Copialbuche befinden,
das 1528 von Sigmund von Dietrichstein angelegt wurde; sie
beziehen sich auch directe oder indirecte auf diesen Mann, den
treuen und klugen Bath Kaiser Maximilians L, und dessen Be-
sitzthum, also auf einen Mann, der durch geraume Zeit eine
hervorragende und einflussreiche Stellung in Steiermark einnahm;
es ist daher gerechtfertigt , dass diese Regesten, wenn viele von
ihnen auch nur Gtiter in Karnthen betreffen, gesammelt an diesem
Orte verofiFentlicht werden. — An kleineren Notizen finden wir
in diesem Hefte „Bannbestimmungenu ,aus dem 15. Jahrhundert
aus Unter8teiermark stammend, wie sie von Zeit zu Zeit von der
Kanzel herab vorgelesen wurden, um sie den Pfarrkindern wieder
ins Gedachtniss zu rufen ; sie stimmen mit den allgemein giltigen
der Kirche nur wenig zusammen und enthalten manches kultur-
historisch Interessante ; Prof. Schonbach fand sie in einer Hand-
8chrift der Grazer Universitatsbibliothek. — Und endlich weist
Kernstock nach, dass, was bisher nicht feststand, Almerich Bi-
schof von Lavant im Sommer 1267 starb, und sein Naohfolgte
Herbord im Herbst desselben Jahres gewahlt wurde. —
Mindestens ebenso wertvoll wie die Arbeiten des 13. Jahr-
ganges sind die des 14. — Ottokar Kernstock berichtet iiber
„Chronikalisches aus dem Stifte Vorau" dem 13. und 14. Jahr-
hunderte entstg,mmend. — Bischoff durchforschte im Auftrage
der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften nach Weisthiimern
suchend eine grosse Zahl von Archiven in Stadten, Markten,
Schlossern und Klostern der Steiermark und liefert in diesem
Hefte „Nachrichten iiber steiermarkische Archive", welche an sich
interessant, fur den spatei-en Forscher aber ungemein wertvoll und
belehrend sind. — Auf eine neue , bisher fast nicht beniitzte
Quelle der heimischen Geschichte macht E. Kummel aufinerksam:
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Mittheilungen des historischen Vereins fur Steiermark. 169
„Die landschaftlichen Ausgabenbiicher als Geschichtsquellen" ;
er eriautert ihre Anlage, bespricht ihren Inhalt und weist nach,
welche grosse Bedeutung diese Amtsbiicher, namentlich fur das
16. bis 18. Jabrhundert, als die iibrigen erganzende Geschichts-
quellen besitzen. Sie bieten autbentisches Material fiir die Ge-
schichte der Landeshaushaltung und der gesammten Finanz-
verhaltnisse der Steiermark, entbalteu wertvolle Angaben iiber
Preise und Lohne, sowie fur die Geschichte des Miinzwesens, ja,
haufig findet man in ihnen Angaben, die trotz ibrer fragmen-
tarischen Form fur die allgemeine Landesgescblcbte tbeils ganz
neae Aufschliisse, tbeils erwiinschte fielege fiir nur mangelhaft
bekannte Thatsachen gewahren. — Die letzte grossere Arbeit
dieses Heftes ist von J. v. Zahn : „Ueber Materialien zur inneren
Geschichte der Zunfte in Steiermark" , ein Forscbungsgebiet,
welches trotz seiner eminenten Wicbtigkeit fur die Kultur-
geschichte meines Erinnems Steiermark betreflfend bisher noch
nicht behandelt wurde, daher jetzt erst durch Zahn aufgesehlossen
wird, Der vorliegende erste Aufsatz dieser „Materialienu ent-
hiQt ein Verzeichniss der durch urkundliche Erwahnung oder
formbche Statuten bisher bekannt gewordenen Zunfte in Steier-
mark vom Jahre 1381, wo zum ersten Male eine Zunft, die
Bruderschaft der Zimmerleute in Judenburg, erscheint, bis zum
Jahre 1599 ; eingefuhrt wird dieses Verzeichniss durch eine
kurze, aber vortrefflich geschiiebene Einleitung iiber Zunftwesen
und Zunftordnungen. —
Das 24, Heft der „ Mittheilungen" enthalt nur einen, aber
dafiir umfangreichen und ausgezeichneten Aufsatz: wGeorg Mat-
thaeus Visclier und seine Wirksamkeit in Steiermark" von
J. von Zahn. Die innerosterreichischen Lande hatten im 17.
Jahrhunderte das Gliick, von aufopfernden und tuchtigen Greo-
und Topographen durchforscht zu werden, und die Arbeiten dieser
hochverdienstlichen Manner, Valvasor fiir Karnthen und Krain,
und Tiscber fur Steiermark (auch fiir Nieder- und Oberoster-
mch) miissen als Glanzpunkte der litterarischen und kiinst-
leriscben Thatigkeit der Alpenlander in jener Periode und als
wertvolle Hilfsmittel fiir die Erforschung und Darstellung wich-
tigerPartien des Geschichtslebens ihrer Zeit betrachtet werden. —
Vischer verdankt die Steiermark eine grosse Landkarte, das so-
genannte „Schl6sserbuch" , das ist die Abbildung von 499
Schlossern, Stadten, Markten, Klostern etc., eine grosse Abbil-
dung von Grraz, eine solche von Admont, zahlreicbe kleinere
Arbeiten, von denen besonders ein Gnmdriss und eine Ansicht
der steiermarki8ch - salzburgischen Grenzen am Pass Mandling
an der Enns und ein in Vogelperspective ausgefuhrter Abriss
der steiermarkisch-osterreichischen Grenzen am Semmering her-
Torzuheben sind. Die zwei letzteren Arbeiten Vischers wurden
erst von Zahn aufgefunden und hier zum ersten Male veroffent-
Hcht Die Bedeutung Vischers ruht nicht in seinen Werken
aUein, in der Ausdehnung, Zahl und im Umfange derselbeu,
Digitized by UOOQ IC
170 Sch wicker, Job. Heinr., Geschichte des Temeser Banats.
sondern nocli in dem Umstande, dass er in seiner Art und speziell
fiir Steiermark der erste gewesen and qb auch fur lange Jahre
geblieben ist. Zabns Arbeit fiber ihn ist erschopfend nnd er hat
sich ein besonderes Verdienst und den Dank aller Besitzer yon
Vischers Schlosserbuch dorch das vollstandige und alle ein-
schlagenden Punkte behandelnde Verzeichniss der Ortsbilder
dieses Werkes erworben, wodurch dasselbe nunmehr geordnet,
vervollstandigt und iiberhaupt erst recht nutzbringend gemacht
werden kann. —
Das 25. Heft der „Mittheilungenu beginnt mit einem
grosseren Aufsatze von Emil Kummel : „Zur Geschichte Herzog
Ernst des Eisernen (1406 — 1424),tt in welchem quellenmassig die
trube Zeit der Landertheilungen und Bruderzwiste unter den
habsburgischen Herzogen und die Thatigkeit Ernsts als Landes-
fiirst in Steiermark geschildert werden. Mehr nur lokalgeschicht-
licher Natur sind die Arbeiten von Kernstock : „Beitrage zur
Zeit- nnd Kulturgeschichte der Steiermark aus den Papieren
eines steirischen PraJaten", des Johann Benedict Perfall, Propst
des Chorherrnstiftes Vorau (1593 — 1615) und die des unter-
zeichneten Referenten: „Die Grundung des katholischen Vicariates
St Buprecht am Kulm in der evangelischen Ramsau (1748)u,
ein kleiner Beitrag zur Geschichte jener Versuche, welche wahrend
der theresianischen Regierung gemacht wurden, die seit der Re-
formation noch protestantischen Bewohner abgelegener Alpen-
thaler zu katholisiren. — Einen Beitrag zur Geschichte des
innerosterreichischen Kriegswesens im 16. Jahrhundert liefert
Dr. H. von Zwiedineck in dem Aufsatze: „Das steirische Auf-
gebot von 1565"; den Schluss des Heftes bildet die historisclie
Studie von R. Peinlich: „Der Brotpreis zu Graz und in Steier-
mark im 17. Jahrhunderte", eine umfangreiche, auf vollstandiger
Ausbeutung der einschlagigen Quellen beruhende Arbeit, welcbe
die hochwichtige Frage, die sie behandelt, auch vollkommen
erschopft.
Diesem Hefte liegt auch wieder eine Abtheilung des „Ge-
denkbuch des historischen Vereines fiir Steiermark" bei, welche
die Biographie des urn die Steiermark verdienten Arztes und
Topographen Dr. Mathias Macher, verfasst von dem unterzeich-
neton Berichterstatter, enthalt. —
Graz. Franz Ilwot
xxxx.
Schwicker, Joh. Heinr., Geschichte des Temeser Banats,
U. Ausg. gr. 8. (XVIH, 470 S.) Pest 1872, Ludwig
Aigner. 4 M.
Der Verfasser obiger Schrift beabsichtigt , „den Bewohnem
des Banats in mSglichst klaren Ziigen die Vergangenheit ihrer
Heimat zu zeichnen". Er sucht die Nothwendigkeit dieses seines
Unternehmens dadurch zu begriinden, dass „eine zusammen-
Digitized by VjOOQ IC |
Schwicker, Joh. Heinr., Goschichte des Temoser Banats. 171
hangende and *gemeinverstandliche Schilderung der historischen
Merkwiirdigkeiten des Temeser Banats bisher alien Freunden
desselben gefehlt habe, dass Franz Griselinis einziges derartiges
Werk bereits voDig veraltet und aus dem Buchhandel ver-
schwunden sei". Er versaumt zwar auch nicht darauf hinzu-
weiaen, dass die Neuzeit im Gebiete der ungarischen, wol auch
der oebenbiirgisohen Geschichte vortreffliche Arbeiten geliefert
babe, meint aber, dass deshalb doch nicht jedem Banater zugc-
mntket werden konne, aus der Menge derselben sich ein deut-
liches BUd der Vergangenheit seiner Heimat zu gestalten. Des-
halb hat der Verfasser zunachst die Angaben Griselinis nach Mog-
lichkeit gepriift, dann vornehmlich B&r&ny's : Torontal-V&rmqgye
hajdona nnd Temesv&r EmlGke sowie Baron von Czornigs Ethno-
graphic der osterreichischen Monarchie bei „seiner eigenen44 Arbeit
benutzt, ohne dass es, wie er selber sagt, in seinemSinne gelegen habe,
«mit seinem Werke die Geschichtswissenschaft an sich bereichern,
durch neue Aufechliisse and Beleuchtungen ihr Gebiet erweitern
zu woflen". Von diesem Gesictyspunkte aus ist denn auch das
ge8ammte Werk zu beurtheilen, indem wir dem Verfasser gerne
glauben, dass er, von offentlichen Bibliotheken entfernt, von
Btterarischen Hilfsmitteln im Banate abgeschnitten, ganz auf sich
angewiesen, fur manche historische Thatsache den Nachweis
nicht zu erbringen vennocht; wenn er gleichwol hin und wieder
in Horvaths, Majlaths und Szalays Werken seine wichtigsten
Quellen angibt, so ist andererseits nur zu bedauern, dass er so
manche andere Arbeit, vidleicht grundsatzlich , zu benutzen
unterlassen hat.
Nach der besonderen Versicherung des Verfassers war sein
Streben allein darauf gerichtet, „fern von jeder Tendenz die
Wahrheit nach bestem Wissen und Gewissen zu erreichen44 und
den Hergang zu entwickeln , wie nach den wiederholten miss-
glfickten Versuchen der verschiedenen Beherrscher der mittleren
Donaugegenden, daselbst einen grossen Staatenverein zu bilden,
ndie Magyaren zuletzt ein machtiges Reich begrttndet und Trager
der europaischen Civilisation , die Schutzmauer gegen das An-
drogen des asiatischen Barbarismus, der Hort des Christenthums
geworden41, und wie rGross-Oesterreicha oder „der osterreichische
Kaiserstaat, der geschichtlich gewordene Organismus mit der
ihm eigenthiimlichen Lebensfahigkeit im Laufe der Zeiten so
manche Erschiitterungen siegreich und neu gekraftigt durch-
genmgen im Interesse Europas und jedes einzelnen der verbun-
denen Lander, eine Gesammtheit der Belbstberechtigten, historisch-
poKtisch - individuellen Konigreiche und Lander44 ( — selbstver*
standlich in christlich-kathoUschem Geiste — ) ^darstelle44.
In der kurzen Einleitung (von S. 1 — 6) begrenzt er den
Landstrich, dessen Vergangenheit er in einer Reihe von Bildern
zu zeichnen untemommen: Im Westen durch das im leisen
Wmdhauch hin und her schwankende Schilfineer der im breiten
otxome langsam dahin fliessenden, fischreichen Theiss; — im
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172 Sch wicker, Joh. Heinr., Gsschichte des Temeser Ban&U.
Sttden durch die majestatische Donau, welche bald einem Meert
gleicht , von zahlreichen Schiffen befahren , bald aber auch too
Riesenfelsen eingeengt wird in wildschaumenden Wellen und lant
auf brodelnden Wirbeln ; — im Osten durch die wildromantische
ungarische Schweiz mit dem Felsenthale der Oserna und den writ-
gestreckten Auen des Almaschthales , wo in dunklen Eicbcn-
waldern betriebsame Feuerschlote raucken und des Ambos dumpfa
Drohnen gleich Donnerschlagen in den Bergen widerhallt and j
der Gebirge reicto Schatze zu Gute gemacht werden; — im
Norden endlich durch die aus Siebenbttrgen wild herausstrSmende,
allmahlich aber besanftigte Marosch, von frischen Weingelandea "
umsaumt und unendlich reich an historischen Erinnerungec,
deren noch sichtbare Zeugen zum Theil in alten Schlossern und
Burgen in den Wellen sich abspiegeln. Dazwischen erstreckt
sich, das ganze innere Land bedeckend, ins Unendliche ausgedehnt,
470 Quadratmeilen umfassend, die Kornkammer Oesterreichs, ;
die fruchtbare Ebene , auf der der sch were banater Weizen im ]
heissen Sonnenstrahle sich wiegt und hoch aufgerichtet der tor- \
kische Weizen seine nahrenden Kolben reift; seit jeher der j
Tummelplatz zahlreicher Volkerschaften, jetzt von l*/i Millioncn ,
Menschen bewohnt: an der Theiss vom melancholischen Serben.
im Gebirge von dem zur Romantik hinneigenden Rumanen and :
auf der fruchtbaren Ebene vom kulturtreibenden Deutschen: - ■,
zwischen denen alien in. buntem Gemisch noch Magyaren und Bui* j
garen, Zigeuner und Juden hausen.
Der Verfasser gliedert die Geschichte seiner Heimat in
3 Abschnitte:
Der 1. Abschnitt umfasst die Geschichte des Banats «
von der Urzeit bis zur tiirkischen Unterjochung im
Jahre 1552. (S. 7—172.)
Er schildert in kurzen, sehr allgemeinen Ziigen das Wogen
und Drangen der verschiedenen Volker des Alterthums, der
Dlyrier , Agathyrsen und Geten , stellt dann bei Begum der ,
eigentlichen VdLkerg&chichte die Dazier als ein klihnes, kampf*
bereites Volk dar, dessen Schwerte im weiten Umkreise tapfere
Volker unterliegen, das sich aber „lm Aufreiben der eigenen
Kraft gegen einen zwar alternden, aber noch machtigen Feind >
selbst verzehrt". Etwas linger weilt er bei der Schilderung der
Romerherrschaft in diesen Donaugebieten , wie sie begrundend
und aufbauend in Kultur und Wissenschaft , aber auch mi
Unterdriickung und Vernichtung des nationalen Wesens voile
170 Jahre lang dauert. Leider sind des Verfassers archao-
logische Erorterungen ziemlich mangelhaft und ungenau, den
heutigen Standpunkte der Wissenschaft wenigstens durchaus nicht
entsprechend. Ausfuhrlicher und etwas besser orientirt handelt
er von der Zeit der Volkerwanderung , den Gothen und Van-
dalen, den Hunnen und Gepiden, den Avaren und BulgareB,
obwol auch hierbei noch manche Irrthiimer unterlaufen. — En
lebhaftes Interesse zeigt er an der Ausbreitung des Christenthums
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Schwfcker, Joh. Heinr., Geschichte deB Temeser Bauats. 173
im alten Dazien und Pannonien und gedenkt der Bisthiimer
Siscia (jetzt Sissek), Sirmium (jetzt Mitrovitza) und Mursa
(jetet Essek) und der Verdienste des Methodius. Urn so ent-
riisteter wendet er sich gegen die bei ihrem Anstiirmen dem
Chrwtenthum und aller Kultur feindseligen Magyaren und er-
klart — auoh fiir die Gegen wart sehr wahr und bedeutungs-
toUI — die schnellen Fortschritte derselben bei der Eroberung
und Yergewaltigung des Landes aus dem thorichten Nationalhass
zwkben den Deutschen und den Slaven, welche vor Ankunft
der Magyaren diese Strecken bewohnten. Die Geschichte Arp&ds
und dessen Unterwerfung des Bulgarenherzogs Glad erz&hlt er
nach der traditionellen Darstellung des Anonymus regis Belae
notarws, rtihmt aber auch mit Meynert (Gesch. des osterr.
Kaiserstaates) „den streng und konsequent logisch gegliederten
Sprachbau der Magyaren4* und versteigt sich sogar zu der ziem-
&h paradoxen Annahme, dass „die Stammv&ter der gegenwartigen
Magyaren, die allgemein als wilde, rohe Krieger verschrienen
Hnnnen, in ihrem Vaterlande in Asien schon frtihzeitig Wissen-
schaften kannten und pflegten, dass die daheim gebliebenen fried-
lichen Gelehrten aber wahrscheinlich im blutigen Schlachten-
strome untergegangen , und dass eine gewiss urspriinglich vor-
handen gewesene „Runenschrift" der braven Szekler durch den
frommen Eifer christlicher Missionare im 10. Jahrhunderte ver-
schwonden sei". (vergl. S. 35.) —
Aus dem Zeitraume der Arp&den (von 894 — 1301) weiss
der Verfasser ftir seinen Landstrich wenig Erfreuliches zu be-
richten : es war die Zeit der Einbiirgerung und Entwickelung,
in der das friiher abenteuernde Volk die rohe Schale der Wild-
heit allm&hlich von sich abstreifte. Die Geschichte des Landes
wahrend dieser Periode bezieht sich meist nur auf innere Zu-
stande: einzelne Grosse breiteten ihre Unabhangigkeit sehr oft
so weit aus , dass sie in Emporung und Anarchie ausartete, bei
welcher Gelegenheit die Temeser Gegend als der ausserste Winkel
des Reiches gewohnlich die Zufluchtsstatte aller Aufrilhrerischen
jewesen zu sein scheint. Erst nach den Kreuzziigen und den
Mongoleneinfallen trat mit der Regierung des Hauses Anjou ein
rolliger Umschwung ein, Ungarn gelangte zu hoher politischer
Bedeutong im Kreise der europ&ischen Herrscher. Aber als
*>Ute die Strafe fur die ehemaligen Siinden des Volkes seinen
iVachkommen in zehnfachem Masse zu Theil werden, drohte schon
Qnter der Regierung seines bedeutendsten Konigs, Ludwig L,
die grosste Gefahr, welche je auf das Magyarenreich eingestUrmt:
das schwertgefibte, kampf- und beutelustige Barbarenvolk der
Osmanen wagte nach dem Sturze von Byzanz an den Ufern der
Donau und der Theiss die „Vormauer der Christenheit" zu
brechen. Ein schweres Ringen begann, in welchem die Helden-
gestalten eines Johann Hunyadi, Johannes Kapristanus, des
Konigs Mathias Corvinus, eines Paul Kinischy, Stefan
Loschontzy u. A. im Strahle ewigen Ruhnjes ergl&nzen und
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174 Schwicker, Job. Heiur., Goschichte des Temosor Banats.
Temesvar und Belgrad und mit ihnen meist das ganze Banat
yornehmlich den Schauplatz der blutigsteu Kriegsgrauel bildeten.
Bevor indess auf Moh&cs' Gefilden des Landes und Volkes Ver-
hangniss sich erfullte, eilte nach des grossen Corvinus Tode die
Zeit der hochsten Noth mit Riesenschritten an Ungarn heran,
wo zur ausseren Gefahr sich auch die innere Auf losung gesellte,
an die Stelle des kampf bereiten Patriotisms Parteiwirren und
egoistische Bestrebungen traten, der Adel verweichlichte, den
elenden Zustand des Bauernstandes ganz unertraglich machte und
damit die Schuld des blutigsten aller Bauernaufstande unter
Fuhrung des Szeklers Georg Dozsa, ja noch mehr der grausamea
und ungerechten Vergeltung dafiir durch reichstagliche Dekre-
tirung der Leibeigenschaft und ewigen Knechtschaft auf sich H
Bemerkenswerth erscheint uns hierbei die von B&rany in TemesTar
Emlekel. 26gebrachteNachricht, dass Martin Andr&ssy, der Abe
der heutigen Grafenfamilie gl. N. sich bei der Bekampfung und
Bewaltigung des Kurutzenheeres vor Temesvar 1514 durch Urn-
sicht und Tapferkeit grossen Ruhm erworben habe,
Der 2. Abschnitt behandelt die Geschichte des Banats
aJstiirkischenSandschaksvon 1552—1718. (S. 173—298.)
„In den Leichenhugeln von Mohacs hatte sich die Preihfiit
der Nation zur Ruhe gelegt und erst nach hundertjahrigem
Schlafe wachte sie wieder auf, dem Volke das schwere Jochvon
dem gebeugten Nacken zu entwinden." An die Stelle der all-
gemeinen Geschichte des Landes tritt nunmehr die territoriale 1
Historiographie ; nur mit dem benachbarten Siebenbiirgen theilt
das Banat flir geraume Zeit das gleiche traurige Geschick.
Wahrend dort Fursten aus einheimischen Adelsgeschlechtern, i
Z&polyas, Bathoris, Bocskays und Rak6tzys, durch Parteiumtriebe
auf sturmischen Landtagen auf den Fiirstenstuhl erhoben, um "
Gunst und den Schutz der Pforte buhlten — (wWir sind", sagte j
Bocskay , 1605 des Grossveziers Hand kussend , „wir sind des
Padischahs Diener und dienen ihm nicht wie mit Geld gekaufte
und Ubel behandelte Sklaven aus Furcht, sondern durch seine
Gnade ihm verbunden, von ganzem Herzen, mit Freude und
Liebe.") — oder insgeheim mit Habsburgs Ferdinand und seineu |
Nachfolgern Vertrage schlossen, die sie von vorn herein zu halten
nicht gesonnen waren , und auf der nicht hinter festen Burgee
deutscher Tapferkeit des Feindes sich erwehrenden Bevolkerung
mit unsaglichem Drucke lasteten, iibte im Banate der unuiii-
schrankte Despotismus und die barbarische Tollheit der tiirki-
schen Gewaltherrschaft grausame Strafen, Erpressungen und
Betriigereien ohne Scheu und machte das geangstete Volk feig-
herzig und charakterlos im vernichtenden GefUhle. seiner Skla-
verei. Rauberhorden streiften durch das Land und verscheuchten
im Vereine mit der Schreckensherrschaft des Halbmonds die*
jenigen Bewohner, welche ihr bewegliches Gut ins Nachbargebiet
zu retten vermochten. Die Grauel dieser Zeit erreichten in dem
von Emericb Tokolyi geleiteten Aufstande ihren Hohepunkt:
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Schwicker, Joli. Heinr., Goschichto des Temeser Banats. 175
vom Grossvezier Kara Mustafa in Essek zum Konige von der
Tiirken Gnade gekront, begleitete er diese 1683 zum Sturjne auf
Wien. Nach der glucklichen Abwehr desselben und dem sieg-
reichen Vordringen der Kaiserlichen in Ungarn stellte der
12. August 1687 bei Mohdcs dem vielgepruften Lande endlich
Erlosung in Aussicht. Der Tiirken Glucksstern sank und kaiser-
liche Feldherren, wie der Markgraf von Baden, der tapfere
Yefcerani, der Kurfiirst Friedrich August von Sachsen, kampften
unermiidet, obgleich noch immer mit wenig giinstigem Erfolg,
his endlich Prinz Eugen von Savoyen das Oberkommando erhielt
and am 11. Sept 1697 bei Zenta den herrlichsten Sieg des
17. Jahrhunderts erkampfte (vergl. Arneth: Prinz Eugen von
Saroyen, I. Bd., S. 94, 98—112). Die Frucht dieses Sieges,
der Friede von Karlowitz, setzte zwar den Kaiser in den Besitz
ron Siebenbiirgen und verschiedener fester Platze an der Marosch
and Theiss, aber das heutige Temeser Banat und Temesv&r selbst,
die Hauptstadt desselben, blieb in der Tiirken Gewalt. Es
kostete noch manchen blutigen Kampf und erst nach langwieriger
Belagerung gelang es unter schweren Opfern die Feste Temesvdr
zu erstiirmen und am 12. Oktober 1716 zu erobern. Als der
Besatzung und den in der Stadt wohnhaften Tiirken freier Abzug
nach Belgrad zugestanden wurde und Mustafa Pascha auch fiir
die ehemaligen ungarisehen Rebellen in turkischen Kriegsdiensten
die gleiche Vergiinstigung verlangte, setzte Eugen dem 8. Artikel
der Convention eigenhandig die charakteristischen Worte bei:
„la Canaglia pud andare dove vuoleu.
So war denn Temesvar nach 164jahriger Grewaltherrschaft
der Tiirken und mit ihm das ganze Banat wieder dem Scepter
des Hauses Oesterreich zugefallen. Um diesen Erfolg fiir den
Kaiser so nutzbringend als moglich zu machen, ersah sich der
Prinz unter seinen Generalen den Grafen Claudius Florimund
Mercy aus, der mit dem Oberkommando in dem neu gewonnenen
Lande auch die Eegierung desselben zu ubernehmen hatte, um
tor allem einen geordneten Kechtszustand im Lande herzustellen
und durch Beobachtung der strengsten Disciplin die Einwohner
fur sich zu gewinnen. — Die Tiirken waren aber noch im Besitz
von Belgrad und beunruhigten inFolge dessen noch fortwahrend
das Donau - und Savegebiet : es gait daher , von Pancsova aus
mit ausreichender Heeresmacht den Feind in Belgrad zu be-
lagem und nach Eroberung auch dieses \vichtigsten Postens iiber
dea Eisernen-Thorpass zuriickzudrangen. Beides gelang denn
auch der geistvollen Fiihrung des Prinzen Eugen, der starken
Besatzung Belgrads und der Annaherung eines gewaltigen Ent-
satzheeres ungeachtet, am 16. August und den darauf folgenden
Tagen des Jahres 1717, so dass der Friede zu Passarowitz vom
21. Juli 1718 endlich Belgrad mit dem nordlichen Theile von
Serbien, dann Temesv&r mit dem Banate und alles Land dies-
seit8 der Save dem Kaiser sicherte; worauf eine Kommission
von Grenzkommandanten zur Reguliiomg der Grenze zusammen-
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176 Schwicker, Job. Hoinr., Geschichte dea Temeser Banats.
trat, Graf Mercy aber noch weiterhin die Regierung desLandes
behielt.
Der 3. Abschnitt handelt von der Geschichte des Banats
tmter dem Hause Oesterreich: von 1718 — 1780.
(S. 299—425.)
Von der Zeit der Wiedereroberung datirt die geistige und
materielle Wiedergeburt des Banats und von da an hat es auch
eine fortlaufende ^pragmatische Geschichte". Da es erst seither
den Namen „Temeser Banat" fiihrt, sieht sich der Verfasser
veranlasst, die verschiedenen Bezeichnungen der Verwaltung und
Regierung dieses Landstrichs historisch zu entwickeln und mit
Schaffarik zu erlautern, dass der Titel Ban (Bajan) avarischen
Ursprungs sei und so viel als Herr, Fiirst, Herzog bedeute.
Nach Griselinis Vorgang schildert er nunmehr den wahrhaft
erbarmlichen Zustand des Landes unmittelbar nach der Yer-
treibung der Tiirken als entvolkert, versumpft und verpestet
durchschwarmt von qualenden, selbst todbringenden Insekten
(den Golubacser Miicken), von Raubthieren (Wolfen und B&ren)
und Raubvogeln. Von dem wusten Rauberleben der Rumanen
in den sudostlichen Gebirgsgegenden entwirft er ein wahrhaft haar-
straubendes Bild (S. 307) wie nicht minder von der Rohheit und
Unwissenheit ihrer Popen. (S. 308.)
Unter diesen Umstfinden bedurfte es allerdings eiiies schopfe-
rischen Geistes, um das von der Natur reich gesegnete, aber
durch der Menschen Wahn verwahrlosete Land der Kultur und
Civilisation wieder zu gewinnen. Graf Claudius Mercy, der neu
ernannte Gouverneur der Provinz, war gliicklicher Weise der
Mann dazu. Unter der andauemden wohlwollenden Leitung des
Prinzen Eugen und von der kaiserlichen Regierung in Wienr
wie es scheint, nicht behindert, ordnete er zuerst die raihtari-
schen Angelegenheiten des Landes, die Quartier- und Posten-
eintheilung, forderte (allerdings mit besonderer Begtlnstigung der
.Tesuiten) das gcsammte katholische Kirchenwesen durch die
Errichtung zahlreicher Kirchen und Parochien; ordnete sodann
die innere politische Verwaltung durch Eintheilung des Landes
in 11 Distrikte und durch Bestellung des von jeder Gemeinde
frei gewahlten Ortsrichters (Knes, Schultheiss) ; berief Kolonisten
aus den katholischen Theilen Deutschlands , sowie aus Italien
und Spanien, suchte den Ackerbau, Wein-, Obst-, Seiden- und
Bergbau und durch Errichtung einzelner Fabriken die Industrie
zu fordern. Zu diesem Zwecke dachte er alien Ernstes auch
an die Entwasserung des Landes durch ausgedehnte Kanak.
sowie an die Wiederherstellung der schon unter den Romero
beriihmten Thermen, der Herkulesbader von Mehadia.
Ein besonderes Augenmerk richtete Mercy auf die Be-
festigung und Verschonerung der Landeshauptstadt TemesvAr,
auf Erbauung von Kirchen und Errichtung von Schulen (ein
dreiklassiges Jesuitengymnasium und eine besonderB erwahnte
Trivialschule) , an denen es, wie Uberhaupt an mehr Licht und
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Schwicker, Job. Heinr., Geechichto dea Temeser Baiiats. 177
Aufklarung, wahrlich sehr noth that, denn die Flagellanten
trieben zu der Zeit ringsum ihr „frommesu Unwesen, und Zau-
berei und Hexenglauben stand noch 1728, sogar noch 1739, in
voller Bliite (S. 328). Aber zum grossten Ungluck fur das
Land und seine Bevolkerung ward Mercy nur zu friih aus all
semen Entwiirfen und Verbesserungen herausgerissen und in dem
Kriege zwischen Oesterreich, Frankreich und Spanien als Feld-
marschall mit dem Oberkommando des italienischen Heeres be-
traut, in welcher Stellung er am 29. Juni 1734 in der blutigen
Schlacht von Parma fiel. Ziemlich 2 Jahre spater, am 27. April
1736, starb auch der grosse Feldherr und einzige Tiirkenbezwinger
Prinz Eugen, dessen Tod sich nur zu bald als ein schmerzlicher,
ja unersetzlicher Verlust erwies, denn schon im Friihling 1737
hatte Karl VI. mit Russland ein Schutz- und Trutzbiindniss
gegen die Tiirken geschlossen, und es waren die Kaiserlichen
nnter dem Oberbefehle des Herzogs Franz von Lothringen und
dem Kommando der Generate Seckendorf, Khevenhuller, Hild-
burghausen und Schmettau anfangs, die Tiirken iiberraschend,
bi$ Nisch vorgedrungen, hatten sich aber von da aus nach Bos-
nien und Bulgarien zu sehr zerstreut , um den mit Uebermacht
vorriickenden Tiirken erfolgreichen Widerstand zu leisten. Eine
ganze Kette von Unglucksfallen brach iiber die kaiserliche Armee
herein, die Generale zogen sich auf Orsova und Mehadia zuriick
und bald standen die Tiirken wieder an den Grenzen des Banats,
dessen Bewohner panische Furcht ergriif , dass sie floheu und
fast 8ammtliche, durch Mercy geschaffene industrielle Unter-
nehmungen im Stiche liessen. Denn zu der Kriegsnoth gesellte
sich nodi die Pest, welche ganze 3 Jahre lang (von 1738 — 40)
schreckliche Leiden iiber das arme Land verhangte und den
sechsten Theil der Bevolkerung dahinraffte (S. 348—356). Or-
sova, Mehadia etc. fielen in die Hande der Tiirken; um sie zu-
riickzutreiben , mussten grosse Anstrengungen gemacht werden,
aber es fehlte an der richtigen Fiihrung, die blutige Schlacht
bei Krozka ging verloren, welche den Kaiserlichen allein 10,000
Todte und Verwundete kostete, und in Folge derselben auch
Belgrad, vornehmlich durch die Feigheit seines Kommandanten,
Baron von Succow, und durch die Kopflosigkeit, in der Graf
von Neipperg den fiir Oesterreich schmahlichen Frieden von
Belgrad in unglaublicher Eigenmachtigkeit und thorichter Ueber-
stiirzung schloss.
Im Oktober 1740 folgte Maria Theresia ihrem Vater Karl VL
Unter dem Generalkommando des von Belgrad her bekannten
Baron Succow begannen die neuen %Grenzregulirungen gegen
die Turkei ; unter Baron Engelshofen wurde der Anfang gemacht,
durch Kanale die stehenden Gewasser verschiedener Morast*
gegenden abzuziehen, und wurden Serben (Raitzen) und macedo-
nische Griechen aus tiirkischen Provinzen, sowie katholische
Paulichianer und Bulgaren aus der Walachei angesiedelt, be-
sonders aber der Bergbau durch Regelung der privatgewerk-
MiuheUttngen a. d. hiitor. Litteratur. VI. 12 ^
Digitized by VnOOQ IC
178 Schwicker, Joh. Heinr., Geschiolite des Temesor Banats.
schafUichen Verh<nisse gefdrdert. An die Stelle der bisher
rein militairischen Verwaltung tritt mit dem Jahre 1750 die
„5konomische und politische" Verfassung des Landes als „kame-
ralische (civile oder provinciate) k. k. Landesadministration41.
Derselben war die k. k. Hofkammer in Wien vorgesetzt, wabrend
fttr die Angelegenheiten der Serben die „Hof deputation in Ba-
naticis et Illyricis" errichtet wurde. (In den Jahren 1764—68
wurde die „banater Militairgrenzea von diesem „Provincialeu
wieder ausgeschieden und im Jahre 1773 in das walachische,
illyrische und deutsche Ansiedlungsregiment eingetheilt, das
Csaikisten-Bataillon speziell an dem Einflusse der Theiss in die
Donau angesiedelt.) Durch ein im Jahre 1763 erlassenes „Ko-
lonisirungspatent" und die im Jahre 1772 verfugte „Impopu-
lations-Hofinstruktion" bethatigte Maria Theresia ihre Sorgfalt,
nur Katholiken und nicht unirte Griechen im Lande anzusiedeln
und vor allem „die deutsche Impopulirungu aus Bohmen, Baiern
und den Rheinlanden betreiben zu lassen. Zu diesem Zwecke
erfloss schon im Jahre 1764 eine kaiserliche ^Resolution" : „in
jedem Dorfe einen Schulmeister von der deutschen Nation ...
mit monatlich 15 fl. zu besolden, um fur die Besserung des noch
roben Graniz - Volkes und fiir die Erziehung eigener Unter-
offizierstt Sorge zu tragen.
Damit in Verbindung gibt der Verfasser recht interessante
Nachrichten iiber die Grundsatze, welche die Regierung bei der
Errichtung der Schulen im Banat und in der k. k. Militairgrenze
geleitet haben. In deutschen Orten bestanden fast uberaU An-
stalten ffir die erste Jugendbildung von den Gemeinden aus*
aber die deutsche Bevolkerung befand sich noch immer in der
Minderzahl, den weitaus grosseren Theil der Provinz bewohnten
Walachen und Serben, bei denen die Entwickelung geregelter
Schulzustande sehr langsam vor sich ging. Im militairisch organi-
drten Tlieile des Landes solKe nun auf allerhochsten Befehl
wenigstens bei jeder Kompagnie eine deutsche katholische Trivial-
schule unterhalten werden: an Lehrbuchem sollte man nur den
Katechismus und die Evangelien gebrauchen; dabei drangte der
Hofkriegsrath in einem Erlasse von 1773, „die Granizer dahin
anzuleiten, dass sie ihre Kinder, welche sie dereinst zu Unter-
oder Oberoffizieren befordert zu sehen wiinschen, gleich anfangs
in die deutschen Schulen schicken, ohne ihnen vorgangig mit
dem weniger nothigen Unterrichte des illyrischen (serbischw und
walachischen) Lesens und Schreibens die Zeit verlieren zu
machen". Die Volksschule sollte um jeden Preis der deutschen
Sprache Eingang und Verbreitung verschaffen, und dadurch
hoffte man die anderen Sprachen allmahlich zu verdrangen, wol
gar schon in den nachsten Generationen absterben zu las9en.
Bezeichnete doch der Staatsrath FreiheiT von Gebler in einem
Gutachten die Satze als Richtschnur: „Der Staat muss darauf
arbeiten, nach und nach ein Volk zu werden; ich weiss, dass
gan^e und halbe Sacula dazu gehoren und dass am allerwenigsten
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Bange, Dr. Friedr. Georg v., Das Herzogthum Estland etc. 179
ein Zwang stattfindet; allein der Staat lebt ewig, das ist, liber
alle Menschenalter hinaus, und nach dieser Aussicbt, nicht fiir
seine eigene kurze Lebenszeit muss der FiirBt und der Staats-
diener denken und handeln." (Vergl. J. A. Frh. v. Helfert, die
Oesterreich. Volksscbule I. 169, 472, 483 u. s. w.) — Mit Recht
weist der Verfasser darauf hin, dass diese rein mechanische Be-
handlung des nationalen Wesens durch die verwerflichen Experi-
mente absolutistischer Staatskiinstler ihre Gefahrlichkeit fiir den
ruhigen Bestand des Staates bis in die neueste Zeit erwiesen
babe, und dass unter Aktenstossen und Dekreten der Staats-
amnipotenz sich der Boden stets gehohlt, das Volksbewusstsein
zwar eingeschiichtert, aber nicht vernichtet worden sei, vor allem
aber, dass dem Deutschthum an der mittleren und unteren Donau
durch ein so gewaltsanies Germanisiren der sohlechteste Dienst
erwiesen worden.
So gesundenund freimiithigen Ansichten gegeniiber ist der
Vert in konfessionellen Vorurtheilen leider urn so engberzigor
befangen, indem er sein ganzes Buch hindurch die katholiscfao
Kirche „als das einzig Unwandelbare auf Erden iiber alien
Wechsel der Jahrhunderte erhaben" glorifizirt, dagegen die
„schreckliche Glaubensspaltung" , „Luthers und Zwinglis After-
hrchen," „Galvins Irrlehre" bitter tadelt und natiirlich umsomehr
das „glorreiche Wirken des ungarischen Primas, Kardinals und
Antireformators Peter P&zm&n" in den Himmel zu erheben sich
bemiiht, „wodurch die machtigsten Familien Ungarns in den
Schoss ddr katholischen Kirche zuriUdcgefiihrt wurdon".
Die Geschichte des Banats schliesst der Verf. mit dem
Jahre 1779, d. i. „der Wiedereinverleibusg des Landes mit Un-
garn" und fiigt als Anhang noch einige ethnographisch-historisch-
staiistische Nachrichten von zum Theil mehr als lokalem Interesse
fiber die Volker bei, w«lche seit Oesterreichs Wiederbesitze das
Land bewohnen: Magyaren, Walachen, Serben, Bulgaren, Deutsche,
Zigeuner, Italiener, Franzosen, Spanier und Juden.
Berlin. Zekeli.
XXXXI.
Bimge, Dr. Friedrich Georg v., Das Herzogthum Eetland unter
den KMigen von DSnemark. gr. 8. (XV, 391 S.) Gotha
1877, Friedr. Andr. Perthes. 8 M.
Die alteste Geschichte der Colonisation Estlands bis zur
definitiven Begriindung der danischen Herrschaft haben bisher
G.v.Brevern, RUsinger, H. Hildebrand und R.Haus-
mann, iiber die Anfange der danischen Herrschaft hinaus auch
C. Schirren behandelt. Auf diesen Grundlagen weiterbauend
entwirft der um die baltische Geschichtsforschung vielfach ver-
diente Dr. von Bunge d*e Geschichte Estlands unter den K6-
nigen von Danemark bis zur Verausserung des Landos an den
deutschen Ritterorden und giebt ein Bild der politischen und
Digitized by UOOQ IC
180 Bunge, Dr. Friedr. Georg v., Das Herzogtlinm Estiand etc.
gesellschaftlichen Zustande desselben am Schlusse dieses Zeit-
raumes. Die Einleitung beschaftigt sich mit den Quellen der
Geschichte Estlands, Abschnitt I cnthalt die Uobersicht der po-
litischen Geschichte ; der Kern des Buches aber ist in Ab-
schnitt II die Darstellung der Verfassung Estlands unter den
Konigen von Danemark; ihr folgen in Abschnitt III, IV, V, VI
die der Laudesverwaltung, eine Uebersicht des Privatrechts, dea
CriminaJrechts und des gerichtlichen Verfahrens. Bei letzterer
hat sich der Verf. nur auf die Benutzung heimischer Quellen
beschrankt, woil er darin die eigentlichste Anfgabe des Particular-
historikers sieht. Mit grosser Bescheidenheit bezeichnet sich
Verf. deshalb nur als einen Karrner, der dem die ganze deutsche
Geschichte bearbeitenden Forscher Material zufuhrt. Man kann
aber nur wiinschen, dass es fur alle deutsche Provinzen solche
Karrner gebon mochte. Wohlthuende Klarheit der Darstel-
lung, besonnene Kritik, grosser Fleiss in Sammlung und Sichtung
des Materials machen das Werk zu einer unsrer besten Partikular-
geschichten.
Ich beschranke mich darauf, die Ergebnisse der Darstellung
der politischen Geschichte, der Landesverfassung und Landes-
yerwaltung kurz vorzufiihren, da die andern Gebiete, die Vert
behandelt , den Lesern dieser Mittheilungen doch -mehr oder
woniger fern liegen.
Nachdem der grosse Danenkonig Waldemat II, der das Ziel
verfolgte, die Ostsee in ihrer ganzen Ausdehnung zu einem dani-
schen Binnenmeere zu machen, 1227 die Niederlage bei Born-
hoved erlitten, ergriff der deutsche Ritterorden Besitz von
Estland, welches jener, einem Hilferufe Bischofis Albert von
Riga folgend, von 1219—1222 und zwar die nordlichen Theile,
Harrien , Wirland und Jerwen erobert hatte. Der Vertrag von
Stenby 1238 entschied iiber das Schicksal Estlands bis 1347,
Harrien und Wirland kamen unter die danische Herrschaft zn-
riick, Jerwen blieb dom deutschen Orden, mit welchem sich 1237
die Schwertbriider vereinigt hatten. Waldemar II. setzte einen
Prafecten iiber Estland und restituirte das Bisthum Reval
(cf. Kastner, das restituirto Bisthum Reval). Nach seinem Tode 1240
ward Estland von den Russen unter Alexander Newsky bedroht
Erich Plogpennig hatte mehrmals die Absicht, einen Rreuftzug
nach Estland zu unternehmen, er kam aber erst 1249
dazu (cf. Kastner, der dies bestreitet). Atif Abel 1250 — 1252
folgte Christof I., Waldemars jiingster Sohn; unter seiner Re-
gierung beginnen die bis 1270 dauernden Kampfe der Esten und
Russen um das Gebiet an der Narowa. Estlands politische Stel-
lung gegeniiber Danemark entwickelt sich seit Erich VI. Glipping
1259, zuerst unter der Vormundschaft der Mutter desselben, Mar-
garetha. 1266 erhielt letztere Estland zur freien Disposition auf
Lebenszeit, sie nannte sich seitdem domina Estoniae und gab
bis zu ihrem Tode 1282 der Stadt Reval, der Geistlichkeit, den
Klostern \ielfache Vergunstigungen , welche Erich grosstentheils
Digitized by VjOOQ IC
Bunge, Dr. Friedr. Georg vM Das Herzogthum Estland etc. 181
bestatigte. Unter ihr erstarkte der Stand der Vasallen, indem
flich dieselben, gestutzt durch einen aus ihrer Mitto eingesetzten
koniglichen Bath, zu einer Corporation zusammenschlossen.
1271 nahm Erich den Titel dux Estoniao an (cf. Kastner),
dadurch ward die Provinz zu einem Herzogthum erhoben und
Yollig unabhangig yon Danemark. Nach einem Kampfe mit den
Nowgorodern musste Estland 1270 seine Anspriiche auf das Ge-
biet jenseitg der Narowa aufgeben. 1303 belehnte Erich VIL
MenYed (seit 1289) seinen Bruder Christof auf 6 Jahre mit
Estland gegen das Versprechen, das Land vor feindlichen Ein-
fillen zu schiitzen. Dieser Schritt erregte die Unzufriedenheit
der eme Beschrankung ihrer Freiheit befurchtenden Vasallen, und
diese schlossen deshalb 1304 zu Dorpat mit dem livlandischen
Orden und den Bischofen und Vasallen der Stifte Dorpat und
Oesel ein Schutzbiindniss , direct gegen den Konig gerichtet, des
Inhalts, dass letztere ihnen beistehen sollten, wenn jemand es
wagen wurde, die Vasallen Estlands der Krone Danemark zu
entfremden. Sie besetzten sogar die koniglichen Schlosser, und
in Folge dessen scheint die Belehnung Christofs vem Konige
widerrufen worden zu sein. Die Macht und das Ansehn des
Konigs waren damit wesentlich erschuttert, die der Vasallen
gewachsen. Erich verdankt Estland die Aufzeichnung seines
altesten Lehnrechts, die Giiindung der Stadt Wesenberg, die
fiegelung des Schulwesens. Unter Christof II. 1320 — 26 und
1330—32 (1326—30 Waldemar III.) fiihrte Estland einen giin-
stigen Krieg gegen die Litthauer, die Vasallenschaft erlangte eine
immer grossere Selbstandigkeit. Christofs xmd seines Sohnes
Otto Versuche, Estland von der Krone Danemark zu trennen und
zu veraussern, stiessen bei derselben auf Widerstand. Da brach
in Folge zu grossen Drucks 1343 der grosse Estenaufctand wider
die Deutschen aus; aber vor RevaU das man belagerte, wurde
er vom deutschen Orden, wie in zwei andern Schlachten,
niedergeschlagen , 30 000 Esten waren gefallen und Estland
gelangte in den factischen Besitz des Ordens, der Ordens-
meister wurde von den Eathen und Vasallen zum Schutzherrn
auserkoren, wiewohl mit Vorbehalt der Rechte des Konigs von
Danemark. 1346 iiberliess Waldemar IV. das zerriittete Land dem
Orden als Eigenthum fiir die Summe von 19000 Mark reinen
Silbers Kolnischen Gewichts, im Ganzen kostete die Erwerbung
dem Orden 25 645 Mark = 1 057 856 Mark 25 Pfennig. Estland
ward eine Provinz des deutschen Ordensgebietes und vom Hoch-
meister Heinrich Dusmer 1347 dem livlSndischen Ordensmeister
zur Verwaltung ubergeben.
Unter Estland 1st im weitern Sinne der ganze vom Esten-
volke bewohnte Landstrich zu verstehn, der vom finnischen Meer-
busen ab siidwarts bis iiber den 58. ° nordl. Br. hinausreicht und
im Oaten von der Narowa und dem Peipussee begrenzt wird,
nebst den Inseln Oesel, Dago etc.; seit dem Frieden von Stenby
in* engern Sinne der nordostliche unter der Danenherrschaft ver-
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182 Bunge, Dr. Friedr. Georg v., Das Herzogthum EsUand «tc
bliebene Theil, die Laiidschaften Wirland und Harrien. Die
Esten trieben meist Ackerbau und Viehzucht, Fischerei und See-
raub. Nach der Eroberung durch Waldemar II. wanderten sehr
wenig Danen, dagegen viel Deutsche ein, vornehmlich aus Holstein
und Westfalen, und auch Schweden im nordwestlichen Harrien.
Estland war kein integrirender Theil des Danenreiches, sondern
ein selbstandiges Territorium, dessen Landesherr zwar der Konig
von Danemark war, der aber eben wegen jenes Verhaltnisses
seincm Titel zuerst den eines dominus, dann eines dux Estoniae
hinzufugte. Es nimmt durchaus eine Sonderstellung ein, es stand
nadi heutigem Begriff in Personalunion mit Danemark. Der
konigliche Statthalter oder Hauptmann residirte in Reval und
war fast stets Nationaldane ; er vertrat den Landesherrn voll-
standig, war aber seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in seiner
Amtsgewalt vielfach durch die Mitwirkung der Stande besohrankt.
Die Unterschiede in der Nationalist der Einwohner sind zu-
gleich eine wesentliche Grundlage des politischen und rechtlichen
Unterschieds unter denselben. Die Eingebornen verloren ihre
persBnliche Freiheit. Die Einwandrer theilen sich in Gremein-
freie und Hitter. Neben diesen drei Standen stehen die Berufis-
stande, die sich aus den beiden letztern recrutiren. Die Standee
verhaltniase stehen in sehr engem Zusammenhange mit dem
Besitze von Grund und Boden. Die Einwandrer ergriffen all-
mahlich Besitz vom Lande. Der Konig als Obereigenthiimer des
ganzen eroberten Landes vertheilte den Grundbesitz in der Form
von Lehen; der Gegenstand des Lehens beschrankte sich aiif
Leistungen der in dem Bereiche des verliehenen Grundstiicks
angesessenen Eingeborenen (urspriinglich der Zehnte der geern-
teten Fruchte), die dadurch zugleich Unterthanen des Beliehenen
wurden. Nach 1238 regelt Danemark diose Zustande definiti?.
Das Kataster der revalschen Diocese lehrt uns, wie es sich dieser
Pflicht entledigte; es verzeichnet in Harrien und Wirland 530
Grundstucke mit 5495 Haken, die unter 127 Besitzer vertheilt
sind, und zwar gehoren 111 Grundstucke mit 1061 Haken dem
Konige, 393 mit 4219 Haken Privatpersoncn , 26 mit 215 Cor-
porationen und Stiftungen. Der bei weitom grosste Theil des
Privatgrundbesitzes war also in der ersten Halfte des 13. Jahr-
hunderts meistens Lehnbesitz. Allmahlich legten sich die Va-
sallen im Bereiche ihrer Besitzun en Edelhofe an, alodia (Vor-
werke) (cf. w. unt.). Fiir die homines regis (belehnte Beamte),
gait das danische Lehnrecht, fiir die ubrigon das deutsche erb-
liche, wie es sich spater im Waldemar-Erichschen Lehnrecht
aufgezeichnet findet. Da die Verschiedenheit des Rechts zu
Reibungen fiihrte, iiberliess ihnen Christof L 1252 alle ihre Giiter zu
freiem Besitze. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts verschwinden
sie ganz aus den estlandischen Geschichtsquellen ; wahrscheinlich
gingen sie in den Vasallenstand iibor, wie dies in Deutschland
mit den Ministerialon geschah, deren Verhaltniss dem der danischeu
Konungsmaen analog ist. Alod in dem Sinne von freiem Eigenthum
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Bonge, Dr. Frfedr. Georg v., Daa Herzogthum Estland etc. 183
an Grund und Boden gab 68 also in Estland nicht. Die Unfreien
8md ionnlich Leibeigene, bis zum grossen Aufstande 1343 ihren
Herren den Zehnton von alien Naturerzeugnissen zu entrichten
und zu Frohndiensteu verpflichtet , von da ab vollig rechtlos.
Die Gemeinfreien setzten sich zusammen aus dem rreien Dienst-
gesinde der Ritterbiirtigen, aus deiyenigen koniglichen Beamten,
Gebtlichen und Biirgern, die nicht ritterbiirtig waren, und aus
den freien schwedischen Bauern, die sich am Ende des 13. Jahr-
hunderts in Estland niederliessen. Besondre Rechte hatten sie
nicht, besonderer politischer Rechte konnten sie durch den Ein-
tritt in einen Berufsstand theilhaftig werden. Der Ritterstand
worde in der Gestalt, wie er sich im 13. Jahrhundert im Abend-
lande ausgebildet hatte, als erblicher Stand nach Estland ver-
pflanzt Hier fallt er mit dem Vasallenstande zusammen, da nur
dieser Reiterdienste zu leisten hatte. Zu seinen besondern Reohten
gehorte die Fahigkeit, Lehnguter zu erwerben, Richter, Beisitzer
und Urtheilsmann ,in Manngerichten zu sein, wahrscheinlich auch
die Befreiung von aller Besteuerung. Forderungen von Leistungen
fur die Kirche von Seiten des Bischofs von Reval gaben den
Vaeallen die erste Veranlassung zu gemeinsamem Handeln 1259,
seitdem traten sie als geschlossene Corporation auf. Mit ihnen
vereinigen sich der Bischof von Reval und die koniglichen Rathe
(die seit 1282 erscheinen, aus den Yasallen vom Konig auf
Lebenszeit ernannt, Verwaltungsbehorde und hochste Grerichts-
instanz), 1284 zu einer Verbindung auf 3 Jahre, ihr Recht gegen
jedeu zu vertheidigen. 1306 nahmen sie sogar als „allgemeiner
Landtag44 die Regierung des Landes in ihre Hande, sie errangen
also in gewisser Beziehung landstandische Rechte. Am Ende des
14. Jahrhunderts traten Reval und die Geistlichkeit hinziu Wenn
auch damit noch nicht eine formlich organisirte landstandische
Verfassung geschaffen war, so lagen doch hierin die Keime der
landstandisdben Ver&ssung, aus denen sich spater im alten
Livenlande die drei Landstande entwickelten, Geistlichkeit, Ritter-
schaft, Stadte.
Die drei Stadte Reval, Wesenberg und Narva verdanken
ihren Ursprung ausschliesslich der Ansied&ung von Grewerbtreiben-
den und Handelsleuten unter dem Schutze der Burgmauern,
wahrend bekanntlich in Deutschland noch andre Faotoren bei
Stadtegrundungen massgebend waren. Die Verfassung Revals,
welches 1248 das Liibischo Recht erhielt, ward auch die der
beiden andern Stadte. Rath, Stadtbeamte, Stadtgemeinde, Ver-
waltung des Gemeindevormogens bildeten sich wesentlich nach
dem Muster der Verfassung Liibecks.
In kirchlicher Beziehung gehorte Estland zur Diocese Reval
nnd zu der erzbischoflichen Provinz Lund. Von den Grundsatzen
des kanonischen Rechts jener Zeit wich die kirchliche Verfassung
in mancher Hinsicht ab. Der Konig hatte das Wahl- und Prasen-
tationsrecht trotz wiederholten Widerspruchs des Pabstes. Der
Bischof war weder Landesherr noch mit der Furstenwurde
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184 Bunge, Dr. Friedr. Georg v., Das Hcrzogthum Estiand etc.
bekleidet, aber cr hatte Sitz und Stimmo auf den Reichstagen.
Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts schloss or sich den Vasallen
an gegen die Eingriffe der Regierung. Hier werden Bungea
Forschungen erganzt durcn das nachher zu bosprechende
Schriftchen von Dr. Kastner iiber das refundirte Bisthiun Re?al.
Die Landesverwaltung war uberaus einfach. Sie lag in den
Handen der homines regis, an deren Spitze der konigliche Haupt-
mann stand. Unter ihnen standen die Vogte, advocati, deren
Untergebene die officiales waren. Der Hauptmann, die Vogte
und auf den Lehngutern die Vasallen iibten die Gerichtsbarkeit
aus. Seit dem 14. Jahrtnmdert erscheinen auch judices, aber
nur fur Lehnsachen, und der judex vasallorum, Mannrichter.
Die Finanzverwaltung hatten der Hauptmann und die Vogte mit
in den Handen, die der Polizei die Vasallen in ihren Gebieteu,
die Vogte auf den Domanen, der Rath in der Stadt, und iiber
alien stand der Hauptmann.
Der 4. Abschnitt beschaftigt sich mit dem Privatrechte, das
ganz auf den Grundsatzen des deutschen Rechts jener Zeit be-
ruhte, der 5. endlich mit dem Criminalrechte, das sich aus dem
Liibischen, dem Rigisch-Revalschen , dem Livischen Bauerrecbte
und dem altesten Livischen Ritterrechte zusammensetzte.
Ein Anhang enthalt: „Das Alod in den Livl. Urk. des
13. und 14. Jahrhunderts" und eine „Liste der Gewalthaber in
dem Herzogthum Estiand". Im ersten Aufsatz weist Bunge nach,
dass das Wort alodium in Estiand eine ganz specifische Bedeu-
tung hatte. Alode sind danach solche landwirthschaftliche An-
lagen, deren nachster Zweck war, den Mittelpunkt des wirth-
schaftlichen Betriebs eines Landgutes zu bilden. Sie sind ge-
wissermassen entgegengesetzt den unci = Haken, zehntpflichtigen
Grundstiicken der Bauern, und bilden den Hof, curia, auf dem
der Gutsherr seinen Sitz hatte. Ihre Benennung haben sie wahr-
scheinlich wegen ihrer Befreiung von der Zehntenlast, es waren
aber keineswegs zu freiem Eigenthum besessne Giiter, son-
dern sie sind dem Lehnsnexus unterworfen und in Beziehung
auf Rechte und Pflichten den Lehngutern vollkommen gleich-
gestellt. Damit fallt also auch die Ansicht dahin, als ob die in
Estiand eingewanderten Deutschen und Danen von Alters her
freies Grundeigenthum besessen hatten.
Plauen i. Vogtlando.
Dr. William Fischer.
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Kastner. Dr. Gcorg, Das refundirte Bisthum Keval. 185
XXXXII.
Kastner, Dr. Georg, Das refundirte Bisthum Reval. Unter-
suchungen zur Geschichte vonHarrien und Wir-
land im 13. Jahrhundert. gr. 8. (80 S.) Gottingen
1876, Robert Peppmiiller. 1,80 M.
Nach v. Breverns und Schirrens bedeutenden Unter-
suchungen unternimmt es Kastner, die Urkunden and den liber census
Daniae, aus denen hauptsachlich die Geschichte der beiden Land-
schaften Harrien und Wirland geschopft werden muss, von neuem
der Kritik zu unterziehen, und kommt dabei zu dem Besultate,
dass sich einige von Schirrens Ansichten in wichtigen Punkten
nicht aufrecht erhalten lassen. Die Geschichte der Bischofe ist
ihm wenig mehr als der Faden, an den sich die einzelnen Unter-
suchungen anreihen , und nur auf diese , die in 5 Excursen bei-
gegeben sind, legt er Gewicht.
Nachdem durch den Vertrag von Stenby 1238 Waldemar dem II.
von Danemark die 1227 ihm entrissenen Landschaften Harrien
und Wirland von dem Christusbriiderorden (Schwertbriidor)
wieder zuriickgegeben worden waren, gingen die Danen auch
daran, die kirchlichen Verhaltnisse zu regeln, man begann die
beiden unter dem Erzbisthum Lund stehenden Bisthiimer Reval
und Wirland Hand in Hand mit dem Erzbischofe Uffo zu re-
stituiren. Zuerst ward Reval refundirt, der Bischofestuhl von
dem Konige mit dem Danen Thorkil besetzt unter Zustimmung
und Genebmigung *Uffos. Der Konig behielt sich und seinen
Nachfolgern ausdriicklich die Wahl und Presentation der Bischofe
vor, und zwar auch fur den Fall, dass ein Capitel an der Kathe-
drale entstiinde ; das Bisthum ward reichlich mit Land und Ein-
kiinften aus Zehnten dotirt. Erich verwandelte 1242 diese Quoten-
zahlung in ein Pactum und 1260 ertheilte Christof einer Ab-
andoning desselben seine Genehmigung. Dies ist besonders des-
halb wichtig, weil hier die estl&ndischen Yasallen zum ersten
Male dem Konige als geschlossene Masse gegeniibertreten , hier
ist also der Keim eines corporativen Zusammenschlusses zu suchen
(etobenSeite 183). 1253 loste der deutsche Ritterorden den in
Jerwen falligen Zehnten gegen einige Dorfer ab, ein Beispiel, das
auch auf den ubrigen Theil des Bisthums in der Folge wirkte.
Sodann erfahren wir Naheres uber die Rechte des Bisthums auf
dem flachen Lande und in Reval, uber den Zustand der Kirchen
auf dem Lande , uber das Patronatsrecht und das Klosterwesen.
Der Neubegriinder des Bisthums, Thorkil, dessen schopferische
Thatigkeit urn so mehr anzuerkennen ist, als sie Bleibendes ge-
achaffen, worauf die weitere Entwicklung fusste, und zwar auf
sehr schwierigem Boden — die Bevolkerung war ja erst seit
kurzem dem Christenthume gewonnen — starb 1260. Das Bis-
thum Wirland ist seit 1238 nie wieder besetzt worden, die Sorge
fiir dasselbe ward Thorkil mit iibertragen. Ob es definitiv durch
einen formlichen Beschluss der Diocese Reval zugetheilt wurde?
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186 K&stner, Dr. Goorg, Das refumlirto Bistham RevaL
Die zeitweilige Vereinigung scheint vielmehr durch usus eino
dauernde geworden zu sein. Nach dem Tode Thorkils entspann
sich ein Streit iiber die Wahl des Nachfolgors, da die Pralaten
das konigliche Wahlrecht Bicht anerkannten. Der Pabst Alexan-
der IV. stellte sich natiirlich auf die Seite der letzteren — denn
das Recht der Krone, iiber ein Bisthum zu vorfugen, war wol
damak schon ein Unicum — und kassirte die Wahl als gegen
das kanonische Recht verstossend, ernannte aber gleichwol den-
selben Trugot zum Bischofe, den vorher Margaretha dazu er-
koren. Trugot errichtete ein Domcapitel, welchem Margaretha
1277 da8 Wahlrecht verlieh. Die Bestatigung desselben erfolgtc
1283 durch ihren Sohn Erich Glipping, 1289 nochmals durch
Erich Menved. Durch den Vergleich des Bischofe Johann mit
den koniglichen Vasallen 1280 wurden die Einnahmequellen des
Bisthums fur lange Zeit geregelt, der Bischof wurde von der Will-
fahrigkcit der Grundherrn befreit, diese wurden die lastige Steuer
los. 1284 verlieh derselbe Bischof den Biirgern von Reval das
Synodalrecht von Liibeck und schloss mit den Vasallen des
Konigs ein Schutz- und Trutzbiindniss zur Sicherung ihrer alten
Rechte. Das dem Capitol verliehne Wahlrecht respectirte Erich
Menved selbst nicht. Als um 1298 eine Vacanz eintrat, nahm
er dasselbe wieder fur sich in Anspruch, nachdem auch das
Capitel erklart hatte — vielleioht gezwungen? — , dass es nie
das Recht gehabt hatte, den Bischof zu wahlen. Das Capitel
wahlte einen Domherrn, welcher das Wahlrecht des Konigs achten
zu wollen erklarte, der Konig auch ; aber Bonifacius VIII. ^rklarte
die Handlung des Konigs fur ungiiltig und der Konig fiigte sich.
In 5 Excursen erortert sodann der Herr Verfasser kritischc
Fragen. Der erste behandelt die beiden Urkunden Nr. 205 und
207 im LivL Urk.-B., welche beide nicht mehr im Originale
vorhanden sind. Urkunde 207 wird statt 1249 datirt vom
11. Oct. 1241; ihr Schwerpunkt ist darin zu suchen, dass sie
mehr fiir den Bischof als fiir den Prafecten bestimmt war. Fal-
schungen sind beide nicht.
Im 2. Excurs wird dem Bericht Huitfelds iiber den Zug
Konig Erichs nach Estland 1249 alle Glaubwiirdigkeit abge-
sprochen und der Zug selbst in das Gebiet der Sage verwiesen.
Excurs 3 weist nach, dass Dietrich von Minden, Bischof von
Wirland, nie in Wirland residirt habe, sondern nur Weih- und
Titularbischof, vom Pabste selbst, nicht von dem Erzbischofe
Albert von Preussen ernannt, gewesen sei, mid beleuchtet die
Machinationen Alberts in Betreff des Bisthums Wirland.
Der Titel „dux Estoniae" heisst der 4. Excurs. Margaretha
fiihrte den Titel domina Estoniae seit 1266, als sie Estland zum
Wittwensitz erhalten hatte, Erich den Titel dominus. Aus
dominus wird 1271 dux und fortan bleibt dieser Zusatz stehend
in den Urkunden und Erlassen fur estlandische Adressaten, als
ducatus wird Estland zum ersten Mai© 1289 bezeichnet. Die
Verbindung Estlands mit dem d&nischen Konigshause blieb be-
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Schulte, Joh. Friedrich yon, Die Geachichte der Quellen etc. 187
stehen, der danische Konig war auch Herrscher in Estlancf, aber
er fiihrt dcshalb einen eignen Titel ; die eigenthiimliche Stollung
Estlands innerhalb der danischen Monarchie fand also aucb im
Zusatztitel ihren Ausdruck (cf. obon S. 182). Die Erlasse Mar-
garethas scheinen auch nach 1266 erst durch die naehfolgende
Bestatigung des Konigs rechtskraftig geworden zu sein.
Der 5. Excurs endlich bringt neues Material „zur Interpre-
Utbii der Urkunden Nr. 165 mid 172 im Livl. Urk.-B."
Plauen i. Vogtlande.
Dr. William Fischer.
XXXXIH
Scholte, Joh. Friedrich von, Die Geschichte der Quellen und
Utteratur des Kanonischen Rechts von Gratian bis auf die
Gegenwart. [In 3 Banden.] I Band: Einleitung. — Die Ge-
schichte der Quellen und Litteratur yon Gratian bis auf Papst
Gregor IX. II. Band: Geschichte der Quellen und Litteratur
von Papst Gregor IX. bis zum Concil von Trient. gr. 8.
(Vm, 264 u. XVIII, 582 S.) Stuttgart 1875 u. 1877,
F. Enke. 28 M.
Nach einer ausfuhrlichen Einleitung fiber die Quellen, die
Schriftsteller, die Grundsatze der Behandlung und die kanonische
Jurisprudenz vor Gratian folgt im ersten Buch die Zeit bis 1234.
Die erste Abtheilung dieses Buchs handelt von den Rechtsquellen
und zwar zunachst yon den kirchlichen. — Nach kurzer Be-
trachtung derjenigen Sammlungen vor Gratian, die wohl alien
Glossatoren bekannt waren, namlich der collectio Dionysio-
Hadriana, der Hispana, des Pseudo-Isidor, der breviatio canonum
des Fulgentius, Ferrandus, Cresconius, des Dekrets des Bernhard,
des Dekrets und der Panormie des Ivo, ferner solcher Samm-
lnngen, die diesem oder jenem Glossator bekannt gewesen sein
miissen, wendet sich der Verfasser zum Dekret, weist die An-
sicht, Gratian sei Bischof gewesen, als irrig zuriidc und stelit
fur die Zeit der Abfassung den Zeitraum von 1139 — 1142 hin,
wahrend man sie sonst zwischen 1141 — 1150 liegend annimmt.
— Der Inhalt »des Dekrets, fur welches der Verfasser den Namen
„concordia discordantium canonum" als urspriinglich gegebenen
bogriindet, zerfallt in drei Theile; der erste enthalt die Dekre-
talen mit einer Einleitung iiber die Rechtsquellen, der zweite
behandelt 36 causae genannte Rechtsfragen iiber kanonische
Themata und der dritte umfasst den sogenannten tractatus de
consecratione. Die Rubriken in der Sammlung sind ganz sicher
von Gratian selbst, nicht von %einem Schiiler Paucapalea, wahrend
dessen und anderer Schiiler Mitwirkung filr die Paragraphirung
nicht ausgeschlossen ist. Es folgt eine Untersuchung iiber die
Sammlungen, die Gratian bei seiner Arbeit benutzt hat, dann
uber die Methode, die er dabei befolgte; er geht namlich nach
Art aller Scholastiker von einem positiven Satze aus und zieht
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188 Schulte, Joh. Friedrich von, Die Geschichte der Qaellen etc.
dessen logische Folgerangen; nach dem Grande der Entstehung
und dem Zweck der Satze fragt er nicht, sondorn zerlegt jeden
einzelnen in seine Theile, betont den Unterschied mit andeni
Stellen und bringt reiohes Quellenmaterial bei. Im zweiten Theile
werden RechtsfSlle (causae) untersucht und Rechtsfragen (quae-
stiones) zu ihrer Entscheidung erortert. Das Eintheilungsprincip
ist dem der Institutionen des corpus iuris verwandt, wie iiber-
haupt Gratian im hohen Masse Kenntnis des romischen Rechts
besessen hat. Nach einer Betrachtung iiber das Ansehen, die
Bearbeitung und die Ausgaben der Gratianschen Sammlung geht
der Verfasser zur Besprechung der Compilationen iiber. — Das
weltliche Recht ist zu jener Zeit dem geistlichen untergeordnet
und es wird in geistlichen Dingen nur in soweit von der Kirchc
als verbindlich angesehen, als weltliche Rechtsatze in den kirch-
lichen Rechtsammlungen recipirt sind, ja die Kirche dehnt ihre
Selbstandigkeit sogar dahin aus, dass sie ihren Interessen ent-
gegenlaufende weltliche Rechtsatze willkurlich verandert. Im
Dekret wird nun eine Einheit im Kirchenreoht angebahnt, des
Papstes gesetzgebende Macht iiber die Kirche im Principe an-
erkannt, und so entwickelt sich jene seit Gratian als eine cen-
tralisirende iiber den Partikularrechten, und zahlreiche Vorfechter
kampfen fSr diese Idee. Nach und nach streift diese Gesetz-
gebung der Curie alle Bande, die sie bis dahin mit der welt-
lichen verbunden, ab und tritt in einen fast feindlichen Gegen-
satz zu dieser, bekampft die Staatsidee und schweisst die Einzel-
kirchen der verschiedenen Nationen zu einer Universalkirche unter
dem Papste zusammen. Zuerst braucht man fur diese Entwicklung
das romische Recht, urn seine Anwendung nach Erstarkung des
kanonischen dem Clerus als iiberflussig zu verbieten. —
In der zweiten Abtheilung „Die Litteratur" werden zunachst
die Dekretisten: Paucapalea, Bandinellus, Omnibonus, Rufinug,
Albertus, Gandulphus, Stephan von Tournay, Faventinus, Bisiniano,
Sicardus, Cardinalis, Laborans, Hispanus, Huguccio und andere
behandelt, es folgen die Dekretalisten : Papiensis, Anglikus u. s. w.;
darauf wird die Methode in der Schule und in den Schriften
erortert und endlich eine Uebersicht der Schriften gegeben;
voran der zum Dekrete: Glosse, Summon, Excerpto u. s. w., dann
zu den Dekretalen: Glosse, Notabilien, Summen; zum Schluss der
Monographien : Einleitungen , systematische Schriften, Traktate,
Quaestionen, Casus, casuistische Schriften u. s. w. —
Als Anhang sind einige Vorreden zu bedeutenden kanoni-
schen Schriften abgedruckt, ein dem Bande beigegebenes aas-
fuhrliches Wortregister erleichtert im hohen Masse den Gebraucb
des Buches. —
Der Verfasser weicht im zweiten Bande in der ausseron
Ordnung des Stoffes darin von der im ersten befolgten ab,
dass er die Klassen der Quellen nicht gruppirt, da dies die
Mannigfaltigkeit der Schriften nicht gestattet, dagegen sind die
Schriftsteller fiir das forum internum und die reinen Juristen
Digitized by UOOQ IC
Schulte, Joh. Friedrich von, Die Geschlchto der Quellen etc. 189
gesondert, diese sind, da sie ein treues Bild der Gultur ihrer
Zeit geben, ja welche sie zum Theil selbst beeinflusst haben,
fur den Historiker besonders wichtig, ebenso der im dritten
Capitel der zweiten Abtheilung gegebene Ueberblick iiber die
Litteratur in der Epoche von Gregor IX. bis zum Tridentiner Concil
and iiber die gesammte kanonische Litteratur des Mittelalters. —
In der ersten, die Rechtsqnellen behandelnden , Abtheilung
ist das erste Capitel den Dekretalen Gregor IX. gewidmet und
darin nachgewiesen , wieweit der Compilator dieser Sammlung
Raymnnd von Pennaforte das ihm vorliegende Material benutzt
nnd wieweit er selbstandig gearbeitet hat; den Sohluss dieses
Gapitele bildet eine Uebersicht iiber die Handschriften und Aus-
gaben dieser Dekretalensammlung. Das zweite Capitel, die Ge-
setzgebung und die Sammlungen von 1234 — 1311 behandelnd,
zeigt den Papst auf der Hohestufe seiner legislativen Gewalt, der
Satz, dass er alle Rechte im Schreine seiner Brust habe, wird
praktisch durchgefuhrt ; 1245 wird die constitute Bomanae
ecdeeiae von Innocenz IV. publicirt und der Sammlung Gregors
eingefiigt, spater erlassen Alexander IV., Urban IV., Clemens IV.,
Gregor X. und Nicolaus III. ebenfalls Bechtsatze, die jedesmal
in einer Sammlung vereinigt, unter dem Titel: novae constitutions
oder novellae dem Dekrete Gregors angereiht werden ; daneben
entstehen zahlreiche Privatsammlungen. Den ganzen grossen, seit
1234 aufgespeicherten Stoff liess dann Papst Bonifez VIII* im
sogenannten liber sextus fur den Gebrauch verarbeiten, und der
Verfasser weist an dieser Stelle nach, wie das Drangen der
Papste nach Centralisation und der mangelnde officielle Cha-
rakter der Privatsammlungen seit 1234 diese Arbeit hervorriefi
betont die Aehnliohkeit dieser Sammlung mit der Gregorian'schen
in der ausseren Anordnung, beleuchtet die Quellen und die freie
legislative Thatigkeit bei ihrer Verarbeitung und den vorwiegend
dem romischen Rechte entlehnten, de „regulis iuris" benannten,
Schluss der Sammlung. Im Anschlusse behandelt der Verfasser
die von Johann XXII. 1317 nochmals publicirte Constitutionen-
Sammlung seines Vorgangers Clemens V., er zeigt, welch schwindel-
haftes Spiel beide Papste mit diesen Constitutionen treiben, da
sie deren politische Gefahrlichkeit im Kampf der Kirohe mit
Frankreich wohl erkennen. Das dritte Capitel behandelt die
Extravaganten-Sammlungen, d. h. Sammlungen derjenigen Dekre-
talen, die seit Abfassung des liber sextus erlassen und von
Clemens V. weder in seine Sammlung aufgenommen, noch audi
anfgehoben sind ; so gibt es von Privatcompilatoren veranstaltete
Znsammenstellungen der Extravaganten von Bonifaz YIIL, Bene-
dikt XL und Clemens V., deren Bestandtheilo vom Verfasser an-
gegeben werden. Die Extravaganten von Johann XXIL sind
ebenfajls, soweit sie nicht den Clementinen angefiigt sind, ge-
sammelt und von Universitatslehrern oommentirt worden. Doch
ist dieeO Sammlung der 20 Extravaganten von Johann XXII. die
letzte, welche allgemeine Verbreitung, wenn auch nicht mehr
Digitized by VjOOQ IC
190 Schulte, Joh. Friedrick von, Die Geschichte der Quellon etc.
allgemeine Anerkenntong gefunden hat. Der Grund hierzu liegt,
wie der Verfasser ausfuhrt, dariu, dass das kirchliche Dogma
die Wissenschaft, welche seit 1350 keinen vorherrschenden Ein-
heitspunkt, wie ehedem Bologna oder Paris, hat, ertodtet ; ferner
hinderi es die Uneinigkeit der Kircho in sich selbst und mit den
weltlichen Machten, dass eine Constitution zum allgemeinen
dauernden Ansehn gelangt Mit den schneidigsten Waffen der
Scholastik kampfen Wilhelm von Occam und Marsilius von Padua
gegen das Geriist papstlioher Macht an, das von gleich gelehrten
K&mpfern vertheictigt wird ; bis auf dem Costnitzer Roformconcile
der Gedanke, dass die Extravaganten nicht zum ius scriptua
gehoren, zum Siege durchdringt. Im Concordate mit der
deutschen Nation wird nur die constitute execrabilis und die
ad regimen modificatae, jene von Johann XXII., diese von Bene-
dikt XII., in Kraft gelassen oder gesetzt; doch behelfen sich die
Papste damit, fur ihre neuen Gesetze, wenigstens als Canzlei-
regeln, Geltung zu verlangen, „soweit sie nicht durch Concile,
Concordate und Papstgesetze derogirt seien". Gegen dieee Auf-
fa83ung, die nur der papstlichen Omnipotenz eine Hinterthure
offnen sollte, wendet sich der 23. Artikel des Baseler Concik,
und das Zuriickgehen auf die Bestimmungen der Costnitzer
Kirchenversammlung, das im Concordate zwischen Kaiser
Friedrioh III. und Papst Nicolaus Y. stattfindet, andert die
Bechtsanschauung in nichts. Seitdem wacht die allenthalben
erstarkende welUiche Macht eifrig dariiber, dass weder dem
vorhandenen kirchlichen Bechte eine zu weite Auslegung gegeben,
noch wohl gar Neues in dasselbe eingefugt wird. Dieser hieto-
risch hochbedeutenden Entwicklung folgt eine Betraohtung der
Extravaganten-Samraiungen, besonders der Ausgabe von Chap puis
von 1500. Das vierte Capitel behandelt die Sammlungen der
Curialpraxis, d h. der decisiones rotae Romanae und der regulae
cancelJariae Apostolicae ; endlich das flinfte Capitel das weltliche
Becht, also das Hiniibergreifen der kirchlichen Legislative in
weltliche Rechtsgebiete. —
Die zweite Abtheilung ist der Litteratur gewidmet, das erste
Capitel : „Die Sohriftsteller und ihre Werke" behandelt zunachst
die reinen Juristen (Glossatoren , Commentatoren , Mono-
graphisten u. s. w.)> von Vincentius Hispanus bis Roderigo de
Borgia, dann die Schrifteteller fur das forum internum von
Guilehnus Arvernus Parisiensis bis Silvester de Prierio, zahlt ihre
Schriften auf und kritisirt dieselben. — Im zweiten Capitel folgt
eine Schilderung des allgemeinen Charakters der wissenschaft-
lichen Behandhwg auf den Universitaten ; sind auf einer der-
selben mehrere Professoren des kanonischen Rechts, so liest em
Professor uber das Dekret und die Dekretalen Gregors DL, beide
Rechtsquellen werden libri ordinarii genannt und Yormittags
vorgetragen; der liber sextus und die Clementinen gehoren eben-
faUs zur Zahl der planmassigen Yorlesungen, werden jedoch als
libri extraordinarii am Nachmittago gelesen; nach der Berechtigung
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Schulte, Job. Friedrich von, Die Geschichte der Quellen etc. 191
iron, entweder beide Arten von Rechtsquellen , oder nur die
ausserordentliohen vortragen zu diirfen, scheidet man ordentliche
und ausserordentliche Professoren. Die erheblichen Vortheile,
die das Universitatsstudium mit der Moglichkeit mannigfachen
Gelderwerbs durch Biicherkopiren darbietet, Ziehen viele an,
ganz besonders vortheilhaft aber wird das Studium des kanoni-
schen Rechts , da die Curio es auf jede Weise begiinstigt , so
werden z. B. Pfriindeninhaber behufs dieses Studiams auf mehrere
Jahre von der Residenzpflicht befreit, auch diirfen personae
Htteratae mehrere Dignitaten und Curialbenefizien besitzen. Des-
halb drangen sich Geistliche in Amt und Wiirden zu den Uni-
versitaten, den jiingeren Sohnen adliger Geschlechter bietet der
theologische Doctorgrad oin treffliches Mittel, zu hohen und ein-
traglichen geistlichen Wiirden emporzusteigen. Die an die Curie
gelangenden Processe nehmen zu, responsa und consilia werden
rcich bezahlt; die Gunst des Papstes verleiht bewahrten Cano-
nisten oft genug den Cardinalshut oder doch den Bischo&stab.
Bald linden sich bei der allgemeinen Giiltigkeit und Bedeutung
des kanonischen Rechts auch Laien neben den Clerikern auf den
Lehrstiihlen dieses Rechts, besonders seit 1250, ebenso nehmen
an der schriftstellerischen Thatigkeit auf diesem Gebiete nicht
bloss Universitatslehrer, sondern bald auch weitere Kreise Theil.
la den Monchsorden, Domstiftern sorgen studirte Mitglieder fur
die Kenntnis des kanonischen Rechts, auch gehen viele Canonisten
au8 den Orden hervor, wenn sich auch die vollste Bliite der
kanonischen Rechtswissenschaft auf den Universitaten entfaltet,
auf denen alien sich eine grosse Gleiohformigkeit in der Be-
handlung des Stoffes herausbUdet. Dies liegt sowohl daran, dass
die Universitatslehrer haufig ihren Lehrstuhl von einer Universitat
an die andere versetzen, als auch in der gleichmassigen Vor-
bildung und der durch den Stoff bedingten allgemeinen Gleich-
heit des Lehrgegenstandes , der Sprache und der kirchlichen
Ideen. Die geschilderten Sammlungen sind der fertige, allgemein
anerkannte, fast nie kritisch beleuchtete Lehrstoflf ; von^ihmwird
das kirchliche Leben der Volker beeinflusst, die nationalen Eigen-
thumlichkeiten verwischen sich auf diesem Gebiete mehr und
mehr, die Besonderheiten der Diocesen gelten nur noch als die durch
papstliches Privileg gestatteten Ausnahmen von der allgemeinen
Kegel. So schwindet der historische Sinn, das Bewusstsein eigen-
thiimlicher Entwicklung dahin; die ausschliesslich lateinische
Sprache, die einerseits den Vorzug hat, dass sie ein Werk schnell
von Nation zu Nation gelangen lasst, nivellirt andrerseits durch
Ausbildung einer ganz bestimmten Form des Denkens und Dedu-
cirens das ganze Studium, von dem sie ausserdem die nicht
Bchnlmassig gelehrten strcng ausschliesst. So liegt die kanonische
Rechtswissenschaft bis zum Authoren des Gebrauches der latei-
nischen Sprache im Unterricht und bis zum Durchbruch der
Ideen der neueren Philosophic brach. Nach dieser Einleitung
betrachtet der Verfasser den Charakter der wissenschaftlichen
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192 Schulte, Joh. Friedrich von, Die Geschichte der Quellen etc.
;?^fl
Behandlung in den Schriften und fuhrt dabei aus, wie auch hier
die Auffassung der Rechtsbiicher als Gesetze, nicht als Quellen,
jede freie wissenschaftliche Auslegung hemmte; so verschwindet
die alte freie Glosse, umfangreiche Apparatus, Lecturae und Com-
mentare treten an ihre Stelle, ferner Summen, jedoch nur fiir
die Dekretalen Gregors, endlich seit Ende des XV. Jahrhunderts
Gompendien , dazu die ganze iibrige Litteratur an Repertories
Rechtslexiken u. s. w. Das dritte Capitel gibt eine Uebersicht
der Schriften, zunachst der rein juristischen , der allgemeinen
und der zu den Quellen, dann der kirchenpolitischen , d. h. der
durcb die Stroitigkeiten zwischen dem Papste und den Staateii
zur Vertheidigung des klerikalen und des staatlichen Standpunktes
bervorgerufenen, endlich der Litteratur fur das forum internum.
Ein viertes Capitel beschaftigt sich mit der Frage, in
welchem Verhaltnisse die einzelnen Nationen an der kanonisti-
schen Litteratur des Mittelalters , theils in Bezug auf die Lehr-
thatigkeit an den Universitaten , theils in Bezug auf schrift-
stellerische Arbeit, Antheil genommen haben. In einera Anhange
sind das Prooemium der novella in decretales und einige andere
fur die Kenntnis der kanonischen Rechtsquellen besonders wich-
tige Stellen abgedruckt, ferner der Katalog der Bucherverleiher fiir
kanonistisehe Werke in Bologna. Den Schluss des Bandes bilden
Nachtrage zum ersten und zweiten Bande, den dritten und
Schlussband des Werkes stellt der Verfasser fur Ende 1879 oder
Anfang 1880 in Aussicht. —
Berlin. F. W. E
Drwck von 0*kar Bondr in Allcnburg.
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'^rZ-.
XXXXIV.
Ouncker, Max, Geschichte ties Alterthums. Erster Band. FUufte
verbesserte Auflage. gr. 8°. (XVI, 493 S.) Leipzig 1878,
Duncker und Humblot. 9,60 M.
Die 1874 erschienene vierte Auflage des 1. und 2. Bandes
von Duncker's Geschichte des Alterthums ist in dieser Zeitschrift
(IH Jahrgang, S. 193 ff.) eingehend besprochen, es ist dort vor
AUem darauf hingewiesen worden, in wie ausgedehnter und er-
giebiger Weise der Verfasser die Ergebnisse der neueren For-
schungen verwerthet hat. Jetzt nach 3 Jahren liegt der erste Band
schon wieder in neuer, funfter Auflage vor. In der kurzen Vor-
rede, welche demselben vorangeschickt ist, vertheidigt sich
der Verf. gegen den Vorwurf , welcher (durch A. v. Gutschmid)
seiner Darstellung in der 4. Auflage gemacht worden ist, er
habe der assyrischen Forschung zu weit gehende Concessionen
gemacht. Er weist darauf hin, dass er keineswegs die kiihnen
und oft vagen Hypothesen gewisser Assyriologen , sondern nur
die Ergebnisse von Urkunden, deren Eutzifferung unbostritten
sei, aufgenommen habe, und er rechtfertigt dann noch speciell,
warum er die Dynastien des Berosos, den Bericht des Herodot
iiber die Befreiung der Meder und iiber die Dauer des medischen
Beiches, endlich die Zeitreihen der Konige von Juda und Israel
aufgegeben und sich an Stelle derselben an die chronologischen
Daten und die Nachrichten der assyrischen Urkunden gehalten
habe. Der Band ist in dieser Auflage schon ausserlich etwas
starker als in der vorhergehenden (er zahlt 68 Seiten mehr)
und sein innerer Gehalt zeigt, dass auch diese Auflage die Be-
zeichnung „verbesserte" durchaus verdient. Der Verf. hat ein-
mal auch hier wieder auf das sorgfaltigste die neuen Forschungen •
beriicksichtigt, auf Grund derselben seine Darstellung mehrfach
theils verandert, theils erweitert, andererseits aber erkonnt man
uberall die nachfeilende Hand, welche durch veranderte An-
ordnung und Gruppirung die Darstellung noch iibersichtlicher
und lichtvoller zu machen sich bemiiht hat. Mehrfach sind urn-
fangreichere Abschnitte der friiheren Auflage in mehrere kleinere
zerlegt, bei den meisten Voikern ist die Schilderung der Cultur-
verhaltnisse von der politischen Geschichte gesondert worden.
Nur solche Aenderungen formeller Art zeigen die spateren Ab-
schnitte, die Geschichte der Araber, der Hebraer und der Volker
Kleinasiens, dagegen hat die erste Halfte des Bandes, die Ge-
schichte der Aegypter und der Volker des Euphratgebietes auch
mehrfache sachliche Veranderungen , Erganzungen und Erweite-
ruugen, erfahren. Veranlassung zu solchen haben dem Verf. fur
die agyptische Geschichte Maspero's Histoire ancienne und
Brugsch's Geschichte Aegyptens unter den Pharaonen gegeben, ins-
besondere ist durch das letztere Werk die Kunde von den
agyptischen Denkmalen noch wesentlich bereichert worden. Auf
Grund desselben finden wir hier neue oder genauere Angaben
MlttheUnngen a. d. histor. Literatur. VI. 13
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194 Dohler, Dr. Eduard, Die Autonino. 69—180 nach ChristL
iiber die Denkmale der letzten Konige von Memphis und des in
Abydos residirenden Konigs Pepi (S. 76 f.), ferner der Konige
der 11. Dynastie (S. 34 f.), der 7 Konige Sebekhotep (S. 104 f.),
der Hyksoskonige (S. Ill), ferner eine ausgefiihrtere Schilderung
der Culturzustande Aegyptens, welche die altesten Denkmale
darstellen (S. 78 ff.), genauere Angaben iiber die agyptischen
Statthalter in Theben unter den Hyksoskonigen nnd iiber die
Nachwirkungen jener ersten Fremdherrschaft (S. 113 ff.), iiber
die Feldziige und Bauten Thutmoses' III. und seiner Nachfolger
(S. 119 ff.), nachber (S. 142 ff.) iiber die Kampfe Ramses' E
und (S. 150 f.) Meneptah's. Brugsch folgt der Verf. auch in der
Namenschreibung , statt Amenemha und Sesurtesen finden wir
hier Amenemhat und Usurtasen. Ausfiihrlicher als friiher wetst
er die Hypothese, welche die agyptische Cultur von Aethiopien
und mittelbar von Indien hat ableiten "wollen, zuriick (S. 7 ff.),
andererseits ist die noch in der 4. Auflage angefiihrte Vermuthung,
dass urspriinglich zwei Reiche in Ober- und Unteragypten neben-
einander bestanden haben und dass erst spater die Konige von
Theben auch Unteragypten an sich gebracht haben, hier ganz
fortgelassen. Fiir die Geschichte der Volker und Reiche im
Euphratgebiete haben dem Verf. hauptsachlich die Werke von
Menant Babylone und Smith Assyrian discoveries neue Ausbeute
gewahrt, ihnen entnommen sind namentlich die genaueren An-
gaben iiber die alten Reiche von Erech, Ur und Nipur (S. 242 ff.),
iiber die alten babylonischen Konige und ihre Kampfe mit den
Assyrern (S. 251 ff.). Zu den verschiedenen Berichten iiber die
babylonische Fluth ist hier (S. 234) auch eine Notiz aus Lucian
hinzugefiigt, die assyrische Inschrift uber diese Fluth ist jetzt
nach Smith Discoveries mit Emendationen Schrader's mitgetheili
Aus assyrischen Inschriften sind auch spater (S. 466 ff.) in den
Untersuchungen iiber die Kimmerier in Kleinasien Nachrichten
fiber die Kampfe assyrischer Konige mit jenem Volke hinzugefiigt
Berlin. F. Hirsch.
xxxxv.
Dohler, Dr. Eduard , Die Antonine. 69—180 nach ChristL (!)
Nach dem von der franzosischen Akademie gekronten Werke
des Grafen de Champagny deutsch bearbeitet. 2 Bande. gr. 8.
I. Bd.: Nervaund Trajanus. (XII, 255 S.); II. Bd.: Hadrianns
und Antoninus Pius. (XIV, 414 S.). Halle, 1876 und 1877.
Buchhandlung des Waisenhauses. 8 M.
Bei der Anzeige eines Buches geht man gewohnlich zuerst
auf den Inhalt ein, wenn man iiberhaupt in der Lage ist, an der
Form zu makeln. Ich sehe mich fiir diesmal genothigt, von
dieser Art und Weise der Besprechung bei dem vorliegenden
Werke abzuweichen, und werde zuerst von der Form des Werkes
sprechen, weil diese vor alien die Kritik herausfordert. Dasselbe
wird als eine Bearbeitung des Champagnyschen Werkes, nicht
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Dohler, Dr. Eduard, Die Antonino. 69—180 nach ChristL 195
als eine Uebersetzung angekiindigt. Wie es aber den Anschein
hat — Herr Dohler hat es namlich nicht fur nothwendig er-
achtet, rich iiber die Art und Weise seiner Bearbeitung auszu-
sprechen, und andrerseits liegt mir das Original nicht zur Ver-
gleichung vor — , so besteht dieselbe nur darin, dass einige
selbstandige Anmerkungen von keinem Belang, welche mit dem
TSamen „D6hler" bezeichnet sind, unter dem Texte hinzugefiigt
werden. Ob dies, zugegeben dass ich mich nicht ganz im Irrthume
befinde, ein Recht auf den Namen „Bearbeitung" giebt, ist billig
dem Urtheile des Lesers anheimzustellen. In jedem Falle kann
ich aber, auch ohne Einsicht in das Originalwerk genommen zu
haben, mit gutem Gewissen behaupten, dass der Graf Champagny
ob der Uebersetzungskunst eines deutschen Gelehrten, urn trivial
zu reden, die Hande iiber dem Kopfe zusammenschlagen muss.
Herr Dohler hat seit einigen Jahren den Dolmetscher mehrerer fran-
zosischen historischen Werke iiber das Alterthum gemaoht ; wenn
alle bisher gelieferten Uebersetzungen im Geiste der vorliegenden
gefertigt sind, dann sind sie alle sammt und sonders nichts werth ;
denn diese ist, mag das Urtheil auch hart klingen, es muss zur
Schande deutscher Wissenschaft gesagt werden, geradezu stiimper-
haft. Dass ein „Oberlehrer und Subrektor" eine solche Sudelei
dem deutschen gelehrten Publikum zu bieten wagt, ist geradezu
8chimpflich und verdient die scharfste Zurechtweisung im In-
teresse deutscher Wissenschaft, die dadurch im In- wie im Aus-
lande nur herabgesetzt werden kann. Wer einen Genuss von
dem Champagnyschen Werke haben will, wenn anders dasselbe
iiberhaupt im Stande ist, unsere deutschen Geschichtsschreiber
des Zeitalters der Antonine auszustechen , was ich mehr oder
weniger verneine, der mag das franzosische Original lesen ; denn
so lange die Dohlersche Bearbeitung nicht von Grund aus um-
gearbeitet ist, ist sie vollig ungeniessbar ; mit der Oedipusarbeit,
die Rathsel der Dohlerschen Sphinx zu losen und den Unsinn zu
rectificirea, den Champagny nicht geschrieben haben kann,
seine Zeit zu vergeuden, kann man niemandem im Ernst zu-
muthen. Ich greife aufs Gerathewohl einige Seiten heraus, um
mein Urtheil mit Beispielen zu bekraftigen; einige Seiten, denn
alle Uebersetzungsfehler , die man auch ohne Beihilfe des Ori-
ginals erkennen kann, zu controliren, dazu fehlt uns theils der
Raom, theils Zeit und Lust, es ist fast keine Seite in dem ganzen
Buche, die nicht welche enthielte.
I, 229 : Lassen wir den Neopaganismus des Einen, den Stoicis-
DML8 des Andern, dieRhetorik des Dritten bei Seite; .... was bleibt
dann? Die gemeinsame Idee von dem einen, hochsten, handelnden,
per8onlichen Gotte; die gemeinsame, mehr oder weniger auf-
gegebene Ueberzeugung von der Nichtigkeit der
Fabeln und der Nichtigkeit der Idole. 1,238: War
ias ChristenthtuQi den Gelehrten jener Zeit bekannt ? Sehr wahr-
scheinlich kannten es alle, wenigstens einige. I, 240:
Unter Vespasianus sehen wir, wahrend das Christenthum
13*
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196 Dohler, Dr. Eduard, Die Antonine. 69—180 nach ChristL
ungestor t e r predigt ...., sehenwir den Neo-Cynismus her-
vortreten, .... den kiihnen Prediger, der .... die Strenge
ausiibt, vor der Todesstrafe nicht zuruckschreckend.
240: Diese Arbeit, die Plutarchos das Heidenthum unter-
nehmen Hess . . . ., glich sie nicht unter bestimmten Ver-
haltnissen der Arbeit, die die Christen auf das Juden-
thum ausiibten? 240: Beriihrte die Philosophie nicht auch
das Christen thum in dem Punkte, dass, indem sie, von nun
an die rein speculativen Discussionen vermeidend, s i c h ganz und
gar mit der Moral beschaftigte ? 240: Die Philosophie wagte
sich auf den offentlichen Platz heraus. 241: Schien nicht, als
ob die ganze Welt von einem schlecht oder wol verstan-
denen Apostelamte beseelt, von einem Missionseifer ergriffen
zu sein? 241: Sie (die Philosophie) wandte sich an die
Klugen und nicht an die Menschen, an eine Schule und nicht
an die Welt. 243: Ohne Zweifei fiihrte der Christ durch
seinen gesunden Sinn . .. .leicht zu einemNichtszuriick,
was in den Orakeln das Werk menschlicher Betriigerei war.
244: Plutarchos seibst (sogar), der in seinem Heidenthum so
ganz versunken ist, hat geschienen es zu verdienen,
dass man etc. 245: . . . Worte, die Dante in den Mund
des zum Vergilius redenden Statius legt. II, 264
. . . iibertreffen alles, was man Greuel kennt. II, 157: Der
Fortschritt ist nur, wenn ich ohne Hindernis frei sein
kann. BE, 160: .... so schrieen die Steuerpflichtigen , die
vielleicht das Doppelte von dem, was der Kaiser
empfing, flirchterlich. II, 163: . . . in funfzehn Jahrhunderten
von jetzt etc. II, 257: ein Fischer bezeichnete die Taufe
(statt Fisch).
Der Inhalt des Werkes ist folgender. Der 1. Band behan-
delt die Regierungen des Nerva und des Trajanus. Die Ein-
leitung enthalt Betrachtungen iiber die Zeit der Flavier und
sucht nachzuweisen , in welcher Weise Rom unter diesem Herr-
schergeschlechte in geistiger und sittlicher Beziehung Fortschritte
gegeniiber der Period e eines Tiberius und eines Claudius gemacht
habe, und findet als Grund fur dieselben das Christenthum. Im
1. Buche werden sodann besprochen Capitel 1 die Regierung des
Nerva, 2 des Trajanus in Rom, 3 und 4 die Regierung desselben
in Italien und in den Provinzen, 5 der dacische Krieg, 6 die
Kunste und Wissenschaften, 7 die Verfolgung der Christen, 8 der
letzte Krieg des Trajanus. Das 9. Capitel, iiberschrieben Schluss
der Epoche des Trajanus, beschaftigt sich in § 1 mit der pytha-
goraischen Schule und ihrem Hauptvertreter Plutarchos, in § 2
mit der stoischen und Epiktetos, in § 3 mit der Erneuerung der
Ideen und^Dio Chrysostomos , in § 4 endlich mit dem Einflusse
des Christenthums. Im 2. Bande enthalten das 1. Capitel des
2. Buches die ersten Jahre der Regierung des Hadrianus (117 — 120),
das 2. die Reisen des Hadrianus (120—130), das 3. den Aufent-
halt desselben in Aegypten und Syrien, das 4. die letzten Jahre
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Dohler, Dr. Eduard, Dio Antonino. 69—180 nach Christi. 197
seiner Regierung (135 — 138), das 5. das Ende dieser Herrschaft
und die Milderung der Sklaverei und zwar in § 1 die Sklaverei
des Alterthums iiberhaupt (wobei Champagny ganz dem „ge-
lehrten Christen" Wallon folgt), in § 2 die Sklaverei zur Zeit
der Antonine, in § 3 der Einfluss des Christenthums auf die
Sklaverei. Antoninus Pius ist die Ueberschrift des 3. Buches,
dag in 4 Capiteln den Hohepunkt des romischen Reiches und
seine Macht, die Freiheiten desselben, die Ideen und die Gesetze
und Sitten bespricht. Im 4. Buche endlicb, betitelt die Kirche,
werden in 9 Capiteln abgehandelt die Einheit der Kirche , die
Wiedergeburt , die Kampfe, die Freiheit, die Hoflhungen, die
judische Haresie, die gnostischen Haresien, dio Kirche und die
Philosophic, die Kirche und ihre Macht.
Wenn ich mich darauf beschranke, das Inhaltsverzeichniss des
Werkes zu geben, so geschieht dies nicht grundlos. Ich sehe nam-
lich nicht, dass die Auffassung Champagnys von dieser nicht unwich-
tigen Epoche der romischen Kaisergeschichte eine wesentlich
neue ist, auch nicht, dass wir ihm eine hervorragende Darstellung
derselben zu verdanken haben, am allerwenigsten aber, dass er unsre
dentschen Werke, welche denselben Gegenstand behandeln, iiber-
troffen oder antiquirt hat. Die betreffenden Specialgeschichten
von Franko, Gregorovius und die aus der Biidingerschen
Schule hervorgegangenen Untersuchungen , die bekanntlich auf
tiichtigen kritischen Studien basiren, werden stets einen unbe-
strittenen Werth behalten, urn von andern Arbeiten ganz zu
schweigen; eine mehr populare sehr gute Gesammtdarstellung be-
sitzen wir in dem dreibandigen Werke des kiirzlich verstorbenen
trefilicheu Forbiger, und schliesslich ist Champagnys Buch, so-
weit es die kirchliche Geschichte behandelt, kaum zu vergleichen
mit unsern grossern protestantischen und katholischen Kirchen-
geschichten (in Bezug auf letztere denke ich besonders an
Mohler und Dollinger), Frankreich selbst hat tiber dieselbe Ma-
terie ein viel tiichtigeres Werk in der Geschichte der ersten
Jahrhunderte der christlichen Kirche von Pressense, iibersetzt
von Fabarius. Man sucht deshalb vergeblich nach einem Grunde,
der erklaren mochte, warum die Antonine in unsre Sprache iiber-
tragen wurden. Etwa weil die franzosische Akademie das Buch mit
einem Preise gekront hat ? Wenn Frankreich bisher noch keine
guten Werke iiber die Antonine besessen hat — ich gestelje hier
gern meino Unkenntniss der betreflfenden franzosischen Literatur
ein — , so mag man ihrem Urtheile gegeniiber nicht allzu rigoros
sein, in jedem Falle aber konnen wir aus diesem Buche eines
Franzosen nichts Neues lernen, so bereitwillig wir Deutschen ja
sonst sind, fremdes Verdienst neidlos anzuerkennen, und ich bin
nicht im mindesten im Zweifel, dass, wenn wir in Deutschland
ein der Akademie ahnliches Institut hatten, dasselbe dem Grafen
Champagny nicht den Lorbeer ertheilt haben wiirde.
Die franzosische Historiographie hat zu manchen Zeiten
mehr oder weniger der Phantasie freien Spielraum gelassen und
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198 Dohler, Dr. Eduard, Die Antonine. 69-480 nack Christ!
dami Gebaude construirt, die in Wirklichkeit nie vorhanden
gewesen sind, oder sie hat andrerseits — und einer der geist-
reichsten Manner des »neueren Frankreichs Prosper Merimee
spricht geradezu seine Vorliebe dafiir aus: je naime de Thistoire
que les anecdotes — dem Anekdotenkram gehuldigt, einer
Schwache des Nationalcharakters nachgebend. Wenn nun auch eine
neuere Schule, die besonders durch den treff lichen Monnier ver-
treten wird, mit dieser Art und Weise der Geschichtsschreibung
griindlich aufraumt und sich mehr und mehr den gesunden
Principien besonders der neuern deutschen Geschichtsforschuiig
zuwendet, so gehort Champagny nicht unter diese Manner (man
beachte z. B. bei der geringen Kenntniss der wenigen Quellen,
die wir iiber Hadrianus besitzen, die phantasievolle Schilderung
desselben bei Champagny), am allerwenigsten in dem Sinne, dass
das oberste Ziel der Geschichtsschreibung strenge Kritik der
Quellen und Objektivitat der Darstellung sein musse, dass der
Historiker nicht von der Zinne der Partei herab sprechen diirfe.
Champagny ist durch und durch Parteischriftsteller, in ihm tritt
uns der Ultramontanismus in seiner ganzen Nacktheit entgegen.
Alle Fortschritte, welche Rom im Zeitalter der Antonine erlebte,
sind nach ihm unter dem Einflusse des Christenthums entstanden,
die milde Regierung des Trajanus ist geradezu ein Ausfluss der
christlichen Ideen, das Christenthum hat den antlken Staat
wieder au%efrischt. Das klingt freilich alles recht hubsch und
fur einen „ Christen" im Sinne Champagnys recht erfreulich,
wenn nur nicht das Antoninische Zeitalter seine Humanitat den
Lehren der heidnischen Philosophenschulen , besonders denen
der Stoa , zu verdanken hatte , die neuerdings Bruno Bauer in
seinem jiingsten Werke: Christus und die Casaren, Berlin 1877,
(mag man auch seiner Beweisfuhrung nicht beistimmen konnen,
glanzend und packend sind seine Ausfiihrungen immerhin ge-
schrieben) geradezu als Quelle des Christenthums ansieht. Wahrend
Bauer die Ausbreitung des Glaubens an einen Gott mit dem
Zuge der ganzen Zeit in Zusammenhang bringt, der auf Con-
centration des Staates wie des Glaubens in einem Haupte hin-
drangte, steht selbstverstandlich Champagny auf dem Standpunkte
des verknochertsten Autoritatsglaubens. Champagny glaubt ferner,
dass PetniB in der That der erste Bischof von Rom und Rom
von ^lfang an die Hauptkirche des gesamten Christenthums ge-
wesen sei, I, 219 u. II, 218, cf. dagegen: Euseb. hist eccL 3,
2. 4. und Rufini praef. ad recognit. Clem. ; er stellt die Tradition
im Sinne des Tertullianus und des Irenaus der h. Schrift gleich
II, 210 — 212 ; der Katholicismus ist ihm die alleinseligmachende
Kirche II, 209 ; das ganze Gebaude der Hierarchie soil sich gleich-
zeitig mit der Entstehung des Christenthums gebildet haben und
PauluB soil ihr Stifter sein („der Bischof stellt Jesus Christus
darM) II, 204; die Dogmen sind durch directe Inspiration des
h. Geistes entstanden U, 219 ; „den ersten christlichen Nationen (?)
waren ganz besonders ubernatiirliche Gaben verliehen, ihre
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Dohler, Dr, Eduard, Die Antonine. 69—180 nach Cliristi. 199
Existenz nicht weniger als die des Christenthums war eiu
Wonder" II, 334; der Unterschied zwischen paulinischem und
petrinischem Christenthum hat nie existirt II, 222 ; Sibyll. VII, 357:
stztgl yaQ aicovwv (Aezavolag ijpav edwnev
avd(>doi 7tka£ofievoig diet %uqu)v itaq&svov ayvrjg.
soil das erste Zeugniss fiir den Glauben an die Intercession der
Maria sein, II, 357; die Verringerung der Suprematie des Fa-
milienvaters, des Herrn iiber den Sklaven, der freien Classe iiber
die dienende, der gotzendienerischen Culte (Hadrian schaffte die
Menschenopfer ab), die grossartigen Wohlthatigkeitsspenden des
Trajanus, alle diese Fortschritte verdankt Rom dem Christen-
thum, II, 40—45. I, 67 — 75. Dies eine kleine Aehrenlese aus
ultramontaner Wissenschaft! Man miisste ein Buch schreiben,
wenn man das schon so oft von unsern Historikern Widerlegte
von neuem widerlegen wollte; niitzen wiirde es freilich nichts.
Es sind die alten Pratentionen und Fictionen des starrsten Ka-
tholicismu8, die Champagny von neuem aufwarmt, und pikant
werden sie noch gemacht durch Seitenhiebe, die der ultramon-
tane Graf dem modernen Staate versetzt, z. B. durch die Lob-
preisung der Nichtintervention des Staats bei der Kindererziehung,
der Freiheit des Worts und, wenn man so sagen darf, der Presse
in Rom etc. Was soil man schliesslich von einem Gelehrten
halten, der noch nach Jahren von Erschaffung der Welt an
rechnet, I, 9; der aus religiosen Griinden allein „im Jahre
1520 (!) den Protestautismus zu Schmalkalden unter .WaflFen
stehenu lasst II, 332; der die Synagoge eine Nation nennt, II, 76;
der nach Zahns Werke die Briefe des Ignatius im Ernste noch
fur acht halt I, 147 ; der Hadrian als den Erfinder der Diplo-
matic ansieht (die Griinde dafiir sind wahrhaft klassisch) H,
12. 13; der die Regierung Hadrians fiir die Verwirklichung der
Phantasie von Tausend und eine Nacht halt H, 6 etc.? Aus
letzterem Ausdrucke ersieht man ausserdem auch schon zur
Geniige, dass Champagny seiner Phantasie mitunter sehr die
Ziigel schiessen lasst. Wer davon noch mehr haben will, der
lese z. B. die Schilderung der Agapen und des christlichen Hand-
werks II, 136 — 138 oder die der Riickkehr des Johannes aus
Pathmos nach Ephesus I, 129. Fiir eine Anzahl von Druck-
fehlern machen wir den Verfasser nicht verantwortlich.
Plauen im Vogtlande.
Dr. William Fischer.
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200 Monumenta Germaniae historica.
XXXXVI.
Monumenta Germaniae historica inde ab anno Ghristi quingen-
tesimo usque ad annum millesimum et quingentesimum. Edidit
societas aperiendis Fontibus rorum germanicarum medii aevi.
Auctorum antiquissimorum Tomi I pars prior:
Salviani Presbyteri Massilicnsis libri qui super-
sunt. Recensuit Carol us Halm. gr. 4. (VII, 176 S.)
Berlin 1877, Weidmann'sche Buchh. 5 M.
Dasselbe. TomilparsposterionEugippiiVitaSancti
Severini. Recensuit et adnotavit Hermannus Sauppe.
gr. 4. (XX, 36 S.) Berlin 1877, Weidmann'sche Buchh. 1,60 M.
Der vorliegende Band, dessen zwei Abtheilungen gesondert
aber gleichzeitig erschienen sind, bildet den Anfang der neuen
Abtheilung: Auctores antiquissimi, deren Herausgabe jetzt unter
Leitung Th. Mommsen's von einer grosseren Zahl von Gelehrten
in Angriff genommen ist. Auch fur diese Abtheilung wie fur die
deutschen Chroniken ist das bequeme Quartformat gewahlt
worden, als eine weitere Neuerung begriissen wir, dass hier die
einzelnen Werke in gesonderten Heften ausgegeben werden. Dass
die Vorreden wieder in lateinischer Sprache abgefasst sind,
kann bei der Natur dieser Quellen nicht befremden, von der
Beigabe von Anmerkungen scheint hier ganzlich Abstand ge-
nommen zu sein, wenigstens enthalten die beiden vorliegeuden
Theile solche nicht, dagegen sind dieselben hinten sowohl mit
einem Nameu- und Sachregister als auch mit einem Glossar
ausgestattet. Die Herausgabe dieser beiden Theile haben zwei
der namhaftesten Philologen, C. Halm und H. Sauppe, iiber-
nommen. Der erstere bietet uns in dem ersten Theile die
Schriften des Salvianus : 8 Biicher de gubernatione dei, 9 Briefe
und die unter dem Pseudonym Timotheus herausgegebene Schrift
ad ecclesiam, gewohnlich ad versus avaritiam genannt. Der Ver-
fasser, aus dem nordlichen Gallien gebxirtig, urspriinglich dem
weltlichen Stande angehorig, lebte spater als Presbyter zu
Massilia und stand im Verkehr mit den angesehensten Hauptern
der Kirche, er ist Ende des 5. Jahrhunderts gestorben. Seine
theologischen, moralisirenden Schriften sind auch als Geschichts-
quellen desshalb von Wichtigkeit, weil er in ihnen Schilderungen
der Sitten seiner Zeit und zwar sowohl der entarteten romischen
Bevolkerung Galliens und der benachbarten Provinzen, als auch
der in dieselben eingedrungenen deutschen Stamme, namentlich
der Gothen und der Vandalen, giebt. Die Handschriften, welche
fiir diese Ausgabe benutzt worden, sind dieselben, welche einzeln
auch schon den friiheren Herausgebern vorgelegen haben, dem
Text der Schrift de gubernatione dei liegt ein Pariser Codex
aus dem 10., de ecclesia auch ein Pariser Codex aus dem
11. Jahrhundert zu Grunde. Leider ist der Herausgeber von
der altbewahrten Sitte der Monumenta abgewichen, in den Vor-
reden don Leser iiber die Lebensverhaltnisse des Verfassers des
herauszugebenden Werkes, sowie iiber Character und Werth
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Marii episcopi Aventicensis chronicon. 201
dieses selbst zu unterrichten , seine Praefatio erinnert an die
traurigen Vorreden der bonner Ausgabe der Byzantiner, wolche
aoch nur iiber Codices einige Worte zu finden wissen.
Zum Gliick scheint diese Methode nicht allgemein und grund-
gatzlich fiir diese Abtheilung der Monumenta aufgestellt zu sein,
wenigstens eroflhet HL Sauppe in dem zweitea Hefte seine Aus-
gabe der Lebensbeschreibung des heiligen Severinus von Eu-
gippius mit einer langeren Vorrede, welche nach verschiedenen
Seiten hin erwiinschte Auskunft ertheilt. Er schildert zunachst
kurz die Zustande der ebemaligen romischen Provinz Noricum
in der zweiten Halfte des 5. Jahrhunderts , in der Zeit, wo
Severinus dort wirkte, und die Thatigkeit dieses Heiligen, er
stellt dann die Nachrichten zusammen, welche wir iiber den
VerfaBser der Lebensbeschreibung, Eugippius, einen Sch tiler des
Severinus und Abt des Klosters bei Neapel, nach welchem die
Gebeine des Heiligen gebracht worden waren, besitzen, er zahlt
dann einige spateren Autoren auf, welche diese Vita benutzt
haben, und er lasst endlich eine langero Besprechung der zahl-
reichen Handschriften derselben folgen. Nach dem Vorgange
Bethmann's, welcher urspriinglich die Herausgabe der Vita iiber-
nommen und umfangreiche handschriftliche Studien fur dieselbo
gemacht hatte, erkliirt auch er die italienischen Handschriften,
iiisbesondere die alteste derselben , eine lateranensische aus dem
10. Jahrhundert, fiir weit besser als die in den siiddeutschen
Klostern erhaltenen, er weist ferner eingehend nach, dass die
miinchener Handschriftten, welche Friedrich fur dio besten, den
urspriinglichen Text reprasentirenden , erklart hatte, durchaus
nicht dieses Lob verdienen und ebenfalls weit hinter den ita-
lienischen Handschriften zuruckstehen. Er selbst hat alle jene
schlechten Handschriften unberiicksichtigt gelassen, da, wie er
8ehr richtig bemerkt, durch Hinzufugung aller ihrer Varianten
iror die Uebersichtlichkeit erschwert worden ware, und ausser
jener lateranensischen nur noch eine vaticanische, eine mailander,
und ein Fragment einer alten miinchener Handschrift herange-
zogen. Der von ihm hergestellte Text weicht gerade von dem
der letzten friiheren Ausgaben, sowohl der Friedrich's , welcher
jeae miinchener Handschriften wiedergiebt, als auch der von
Kerschbaumer, welcher allerdings auch den Lateranensis , aber
sehr uncorrect, benutzt hat, wesentlich ab. Der Vita voran-
gestellt ist ein schon fruher von Ozanam herausgegebener Hym-
nu8 auf den Heiligen, welcher fast ganz auf dieser Vita beruht.
Berlin. F. Hirsch.
XXXXVH.
Marii episcopi Aventicensis chronicon edidit Wilhelmus
Arndt. 8°. (16 S.) Lipsiae 1878, apud Veit et socium. 1 M.
Die Chronik des Bischofs Marius von Avenchos (t 601), diirf-
tige, aber bei der Sparlichkeit der Quellen fur jene Zeit doch
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202 Soltau, W., Der Verfasser der Chronik des Matthias von Neaenburg.
interessante, an die Consularfasten angeknupfte Notizen iiber die
Zeit yon 455 bis 581, ist von Herrn W. Arndt schon einmal vor
einigen Jahren in seiner leipziger Habilitationsschrift neu heraus-
gegeben worden. Er hatte fur diese Ausgabe eine ihm von
Pertz mitgetheilte Collation der einzig erhaltenen, jetzt ini britti-
schen Museum befindlichen Handschrift benutzen konnen. Fur
den Gebrauch in dem leipziger historischen Seminar hat er jetzt
diese Ausgabe noch einmal wiederholt, dieser neue Abdruck ent-
halt einige Yerbesserungen und es sind demselben auch Testi-
monia iiber die Lebensverhaltnisse des Verfossers beigefiigt
worden. Die wichtigsten stammen aus dem Cartularium Lauso-
nense. Was die in Nummer 1 abgedruckten Notizen der Annaieg
Flaviniacenses iiber einige frankische Konige und einige ahnliche
in Nummer 2 aus den Ann. Latisonenses in diesem Zusammen-
hange bedeuten sollen, vermogen wir nicht zu erkennen.
Berlin. F. Hirsch.
XXXXVIII.
Soltau, Wilhelm, Der Verfasser der Chronik des Matthias
von Neuenburg. Programm des Gymnasiums zu Zabern.
1877.
Nach den Untersuchungen von Studer und Huber in den
Ausgaben der Chronik des Matthias von Neuenburg, eines bi-
schoflichen Beamten des Strassburger Bischofs Berthold von
Bucheck, sowie nach den Forschungen Hegels gait bislang
Matthias als der eigentliche Verfasser, nachdem man die Autor-
schaft des Albert von Strassburg, unter welchem Namen bereits
Cuspinian die Chronik Basel 1553 herausgegeben hatte , ver-
worfen und jenen als Abschreiber einer Handschrift bezeichnet
hatte. Damit waren aber innere Widerspriiche , ein volliger
Gegensatz in den politischen Anschauungen, welche der Chronist
Matthias als warmer Verehrer Kaiser Ludwigs zeigte, die aber
dem Beamten des Bischofs von Strassburg, eines Anhangers
Karl IV., unmoglich angehoren konnten, nicht aus der Welt
geschafft. Von diesem Gesichtspunkte aus hatte bereits im Jabre
1866 R. Hanncke in einer Konigsberger Dissertation den Matthias
von Neuenburg als Verfasser der Chronik verworfen; in Ueber-
einstimmung mit diesem negativen Resultat unternimmt es jetzt
Wilhelm Soltau, die Frage nach dem wahren Verfasser der
Chronik durch eine eingehende Kritik derselben zu beantworten.
In das Detail der Untersuchung einzugehen, ist hier nicht der
Ort: wir heben aus der scharfsinnigen und fleissigen Arbeit
Soltaus nur diejenigen Punkte hervor, welche nach unserer An-
sicht als sichore Ergebnisse seiner Forschung mitgetheilt werden
konnen :
1) Matthias von Neuenburg ist nicht der Verfasser der
Hauptchronik, sondern nur der Compilator.
2) Matthias ist nur der Ueberarbeiter einer bis 1350 reichenden
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Soltao, W., Der Verfasser dor Chronik des Matthias von Neuenburg. 203
alteren Chronik, welche er durch Abschnitte der von ihm ver-
fassten Biographic seines Bischofs Bertholds von Bucheck und
andere kleinere Zusatze erweitert.
3) Dieser Compilation fiigte Matthias werthvolle Nachrichten
bis mm Jahre 1355 an.
4) Die altere von Matthias benutzte Chronik ist urn 1350
ton einem Manne abgeschlossen, der wiederholt als kaiserlicher
Gesandter in Avignon wahrend der Jahre 1334 und 1344
thatig war.
5) Die Analyse der Quellen dieser alteren Chronik ergab
die Benntzung von Heinrich von Klingenbergs Chronik de prin-
cipibu8 habsburgensibus nnd alter Baseler Aufzeichnungen.
Unerwahnt haben wir gelassen, was der Verfasser nur ver-
muthungsweise geaussert hat oder nicht begriindet zu sein schien.
Daniber mogen einige Bemerkungen gestattet sein. Soltau ver-
nrathet als Verfasser der alteren Chronik, die bis 1350 reichte,
einen Secretar des Bamberger Propstes Marquard von Randeck,
als Verf. der Baseler Aufzeichnungen den Bitter Heinrich
Schorlin; die erste Hypothese hat einige Wahrscheinlichkeit fur
rich, die zweite Vermuthung scheint mir weniger annehmbar zu
sein, wenn man das Benehmen Schorlins in seinem Quartier zu
Niirnberg — Studer S. 20 — erwagt, da ihm nicht sonderlich daran
gelegen sein musste, zu erzahlen, wie er zu seiner Frau kam.
Sehr gut weist der Verf. auf die Verschiedenheit der Quellen je
nach dem Standpunkte der Berichterstatter hin; der Unterschied
in der Darstellung bei Cap. 33 und 34 ist nicht zu laugnen,
doch ware es immerhin moglich, dass der Schreiber des letzten
Capitels auch das erstere schrieb unter Zugrundelegung eines
Berichtes iiber die Schlacht bei Gollheim; bei Cap. 34 weisen
einige Anzeichen auf die Benntzung einer Martinschen Chronik
oder des Bernardus Guidonis hin. Unentschieden liess der Verf.
S. 14, ob auch Cap. 33 der Baseler Chronik zuzuschreiben sei;
es wiirde das von Wichtigkeit gewesen sein fur das Alter und
die Herkunft der durch die Chronik des Matthias iiberlieferten
Memorialver8e iiber den Tod Adolfs von Nassau, welche in dieser
Fassiing zuerst bei jenem auftreten. (Vergl. Oesterley in den
Forschungen z. deutschen Gesch. B. XVIII. S. 27 Nr. 66.)
Auf die sogenannten Continuationen der Chronik hat der
Verf. sich nicht weiter eingelassen ; es ware ihm sonst wohl nicht
entgangen, dass Matthias fur die Erzahlung der Kampfe, welche
in den Jahren 1350 bis 1356 zwischen den verbiindeten Schwei-
zem und Herzog Albrecht von Oesterreich stattfanden, dieselben
Schlachtberichte wie der Constanzer Domherr Heinrich von
Diessenhoven benutzte. Wir wollen diese Zeilen nicht schliessen,
ohne Soltau gegen einen von R. Hanncke gelegentlich einer Be-
sprechung seiner Arbeit in der Hist. Zeitschrift Neue Folge
B. HI. S. 323 dariiber erhobenen Vorwurf zu rechtfertigen, dass
ihni die Kenntniss der Chronik des Jacob von Mainz entgangen
sei Wenn es auch erwiesen ist, dass der Compilator dieser
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204 Bezold, Frz. v., Konig Sigmund und die Reichskriege gegen die Hraiten.
unter dem Namen des Jacob von Mainz bekannt gewordenon
Chronik den Cod. A. des Matthias eifrig excerpirte, was in aller
Welt hatte diese Thatsache fur die Ziele der Soltauschon Unter-
suchungen zu bedouten ? Was die zuletzt hingeworfene Bemerkung
Hannckes betrifft, dass „alle drei Namen Alb. Argentinensis, M.
von Neuenburg und Jacob von Mainz nur die Namen von Com-
pilatoren sind" und der eigentliche Chronist uns unbekannt ge-
blieben* sein sollte, so ist nach Soltaus Forschungon bei dem
ersten der drei diese Annahme nicht unmoglich, bei Matthias
von Neuenburg nur in gewissem Sinne richtig und bei Jacob
von Mainz eine offene Frage. So glaube ich denn, dass die
Ueberschrift der Berner Handschrift: Incipit Cronica composita
sive facta per Magistrum Matthiam de Niiwenburg . . . (Soltau
S. 22) nicht etwa tautologisch zu fassen ist, sondern dass der
Schreiber vielmehr ein Gestandniss ablegt, nicht zu wissen, ob
Matthias von Neuenburg nur der Compilator oder auch selbst-
standiger Vcrfasser der Chronik gewesen sei.
Bremen. Dietrich Konig.
XXXXIX.
Bezold, Frz. v., Konig Sigmund und die Reichskriege gegen
die Huslten. Dritte Abtheilung. Die Jahre 1428— 1431. gr.8.
(176 S.) Munchen 1877, Th. Ackermann. 3 M.
Der Verfasser nimmt seine sorgfaltige, auf genauer Durch-
forschung und moglichster Erweiterung des Quellenmaterials
beruhende Arbeit in dieser Abtheilung bei dem Februar d. J.
1428 wieder auf. Nach mehreren Raubzugen, vornehmlich nach
Schlesien, dachte selbst Procop auf friedlichen Ausgleich und
begab sich im April 1429 nach Pressburg zu einer Zusammen-
kunft mit K. Sigmund. Dieselbe hatte zur Folge, dass der, Prager
Landtag am 23. Mai iiber ein Abkommen zu verhandeln begann,
ein Abschluss wurde nicht erzielt, vom Konige aber weitere Be-
denkzeit bewilligt. Die Feindseligkeiten ruhten nicht ganz, aucb
rusteto Sigmund , der wegen seines Ausgleichsversuchs in iible
Nachrede kam, zu neuem Krieg. Zunachst ohne Aussicht. Das
Reich, aufgelost in eine Reihe von kleineren und grosseren Han-
deln, unter denen die Weinsberger Fehde eine Hauptrolle spielt,
interessirte sich ausserst wenig fur die bohmische Frage ; was die
inneren Angelegenheiten anbetrifft, namentlich den LandfricdeD,
fehlt es dem Konig an Consequent aus Mangel, wie man sagen
konnte, einer Regierungspartei : mit den Stadten, die doch allein
nichts thun konnen und selten etwas thun wollen, liebaugelt
Sigmund, mit den Kurfursten hat er eigentlich gar keine Ver-
bindung, mit dem HohenzoUern steht er noch auf gespanntem
Fu8se , die Fiirstentage , auf denen iiber Hiilfe und Hussengeld
verhandolt werden soil, sind schwach bosucht; einzelne Fiirsten
treffen gegen die Husiten die Vorkehrungen, die sie zum Schutze
ihrer Territorien fiir nothwendig halten. Dabei verbreitete siob
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Bexold, Frz. v., Konig Sigmund und die Reichskriege gegen die Husiten. 205
immer mehr das Geriicht, der Konig habe zum Nachtheil des
Reiches mit den Ketzern einen Separatfrieden abgeschlossen.
Endlich erlasst Sigmund am 18. December ein Ausschreiben,
durch welches ein Reichstag zum 19. Marz nach Nurnberg ein-
berufen wird : es sollte ein Zug gegen die Ketzer verabredet und
fiir die innere Organisation Deutschlands gesorgt werden.
Inzwischen war von husitischer Seite ein entscheidender Stoss
gegen Deutschland vorbereitet worden: es gait, durch gemein-
same Erfolge nach aussen der immer zunehmenden Zersetzung
des Husitismus vorzubeugen. Ein Zug der beiden Procope in
die Lausitz, zu Ende September 1429, war die Einleitung zu
grosseren Unternehmungen. Der Hauptstoss richtete sich gegen
Meissen, und die Husiten gelangten nach grasslichen Verheerungen
bis in die Nahe yon Magdeburg und Leipzig, obwohl ein ihnen
iiberlegenes deutsches Heer, von den Nachbarfiirsteu rechtzeitig
gesammelt, kampfbereit hinter der Mulde stand. Thiiringen war
bedroht, die Erfurter besonders glaubten sich in grosser Gefahr.
Die Bohmen theilten sich in fiinf Heere, wandten sich aber siid-
warts und warfen sich, Thiiringen verschonend, nach der Ein-
nahme von Plauen auf die frankischen Lande des Brand en-
burgers. Auf eine Invasion war man hier nioht vorbereitet, man
hatte sich nur angeschickt den Sachsen zu helfen. Die Gegen-
massregeln Niirnbergs und des Brandenburgers kamen zu spat:
dem andringenden Feind war namentlich die Funftheilung seiner
Streitmachte von Nutzen : „Die Ausdehnung ihrer Marschkolonnen
machte jede Ansammlung von Vertheidigungsmannschaften un-
moglich." Das Elend, welches dieser Einfall mitten im Winter
herbeifiihrte , war ausserordentlich : dazu die Greuelthaten der
Husiten — Schreckensscenen wie im dreissigjahrigen Krieg. Hof,
Baireuth, Kulmbach fielen in die Gewalt des Feindes: Bamberg
wurde durch den Abschluss des Waffenstillstandes vor einem
gleichen Geschick bewahrt: — die entgegenstehende Nachricht
beruht auf einer Verwechselung husitischer mit einheimischen
Excessen. Der Waffenstillstand von Zwernitz (am 6. Febr.), den
der Markgraf nach vorgangiger Besprechung mit seinen Nachbarn
einging, sicherte aber nur das Land und Stift Bamberg, gegen
Zahlung von 12000 Gulden; Wurzburg war nicht sicher, das
ebeu noch sehr zuversichtliche Nurnberg wurde recht klein-
miithig und auch wirklich gefahrdet. So verstanden sich auch
die Niirnberger zu Beheimstein zur Zahlung von 12000 Gulden
— eine verhaltnissmassig geringe Summe, selbst wenn man einige
Bestechungsgelder hinzurechnet : — iibrigens musste auch der
Markgraf 9000 Gulden zahlen, obwohl sein Oberland ganzlich
ruinirt war, und Pfalzgraf Johann 8000. Der Verf. weist nun
aber mit besonderem Nachdruck darauf hin, dass es den Hu-
siten keineswegs allein um Brandschatzungsgelder zu thun ge-
wesen, vielmehr trotz der gegentheiligen Versicherungen des
Markgrafen und der Nuraberger „die Christenheit verdingt"
worden sei. Der zweite Theil des Vertrages — den gleichzeitigen
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206 Bezold, Frz. v.,Konig Sigmund und die Beichskriege gegen die Hariten.
Historikern grossentheils nicht bekannt, von Aschbach und Wiir-
dinger ignorirt — besagte, dass man den Husiten am 23. April
zu Niirnberg einen giitlichen Tag zu verstatten hatte : der Mark-
graf sollte sich beim Papst, dem romischen Konig, den Kur-
fiirsten und Fiirsten fur das Zustandekommen des Friedenswerkes
bemiihen. Den Entwurf des beziiglichen Schreibens giebt B. aaf
S. 169 in Anhang II; Anh. Ill und IV erganzen unsere Kennt-
ni8S des Beheimsteiner Vertrages, dessen Wortlaut, gleieh dem
von Zwernitz, uns nicht erhalten ist. Der Geleitsbrief fur den
Niimberger Tag ist von grosster Bedeutung, nicht allein weil er
die Grundlage fiir den von 1432 wurde, den gleichfalls der
Markgraf vereinbart hat. „Der Beheimsteiner Vertrag geht zum
ersten Mai auf die Forderung eines ordentlichen Gehors im
Sinne der Husiten ein; wahrend die friiheren Verhandlungen
und Disputationen von katholischer Seite immer nur als Ge-
legenheiten zur Unterwerfnng dargeboten wurden, bleibt hier
die Mogiichkeit einer anderweitigen Auseinandersetzung , einer
Versohnungspolitik auch ohne vollige dogmatische Ueberein-
stimmung offen." Obwohl der Verf. betont, dass der Branden-
burger diesen Schritt nur unter dem furchtbarsten ausseren
Druck gethan, stimmt er doch mit Recht Droysen bei, „von all
den kiihnen Schritten im politischen Leben des Markgrafen sei
dieser Vertrag vielleicht der merkwiirdigste". Den angefugten
Tadel v. B's, „der Markgraf sei nachher fur das als richtig Er-
kannte nicht offen und grossartig eingetreten", unterschreiben
wir nicht: in welchem Moment hktte Friedrich wohl eine Be-
riicksichtigung seiner subjectiven Meinung durchsetzen konnec
oder sollen?
Nach dem Beheimsteiner Vertrag treten die Husiten beute-
beladen den Heimweg an; schnell erkaufte auch noch Eger den
Frieden, doch nicht schnell genug, um die Einascherung von
dreissig Dorfern der Umgebung zu verhiiten. So kehrten die
husitischen Krieger heim im vollen Bewusstsein ihrer Ueber-
legenheit; cechische Annalisten, welche von der wichtigsten
Friedensbedingung nichts wussten, machten wohl den Landsleuten
den Vorwurf, dass sie sich mit feilem Golde begniigt und den
Krieg nicht bis an den Rhein getragen hatten. Der Vert meint,
hochstens konne man Procop und die anderen Fiihrer darum
tadeln, „dass sie sich an dem Beheimsteiner Vertrag genugen
liessen, dessen Schicksal sie mit dem'Aufgeben ihrer dominirenden
Stellung selbst besiegelten"
Die nicht von der husitischen Invasion betroffenen Terri-
torien hatten sich 1430 mehr oder minder kriegsfertig gemacht,
und der Markgraf erntete geringen Dank, als er in ausserst
vorsichtigen Schreiben von seinem Abkommen, dessen Einzel-
heiten verhiillt wurden, Kenntniss gab. Er wurde verdachtigt
und angefeindet: ganz perfide ist die Notiz von Endres Tucher
iiber Friedrichs Abzug aus Baireuth: „er hatte sie vertrostet,
er woUe bei ihnen sterben und verderben; unterdessen floh der
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Bteold, Frz. v., Konig Sigmund und di^Reichskriege gegon die Husiten. 207
Mann ans der Stadt und liess Ehre und Gut und Weib und
Kinder." Friedrichs Versuche, den zweiten Theil des Vertrages
zur Ausfuhrung zu bringen, hatten nirgends Erfolg. Der Papst
wollte yon einer Disputation mit den Ketzern nichts wissen, die
Kirchenfiirsten Deutschlands fanden Vorwande zu ausweichenden
Antworten, ihre Opposition konnte nur durch ein allgemeines
Concil gebrochen werden: gerade darum suchte die Curie einen
friedKchen Yergleich zu hintertreiben. „Um so fester mussten
ffl'ch die Friedenshoffnungen in Deutschland an das Concil kniipfen,
denn es wurde von Jahr zu Jahr deutlicher, wie schlecht man
mit dem papstlichen System der Ausrottung, der Kreuzziige,
fuhr." Sigmund war natiirlich mit dem Brandenburger hochlichst
anzufrieden, kniipfte Separatverhandlungen mit den Bohmen an
und versagte dem Niirnberger Gehor seine Theilnahme. So fand
der Ausgleich auf katholischer Seite uniiberwindliche Hindemisse,
nnd die BShmen hatten mithin alle Veranlassung gehabt, ihre
Angriffspolitik wieder aufeunehmen. Ergaben sich die Husiten
nun zwar auch nicht trager Ruhe, so fehlte ihren Unterneh-
mungen doch die nothige Concentration, zumal nach dem gltick-
lichen Ausgang des sachsisch-frankischen Zuges sich die Streitig-
keiten der husitischen Secten erneuten: vergeblich suchte Procop
ihre zerstreuten Krafte wieder zu einem gemeinsamen Unter-
nehmen zu sammeln.
Der Niirnberger Tag kam im Marz nicht zu Stande, —
Sigmund war durch einen Einfall der Husiten in Ungarn auf-
gehalten worden, — auch die zweite, auf den 17. Mai ebendahin
berufene Versammlung war hochst unvollstandig , ihre Mass-
nahmen matt, da Fiirsten und St&dten andere Dinge weit mehr
am Herzen lagen. Die Stadte insbesondere suchten Fiihlung mit
den ritterschaftlichen Verbanden, welche gleich ihnen gegen die
steigende Fiirstengewalt sich zu sichern hatten. Sehr verspatet
traf Sigmund im Reich ein; erst am 25. August war er in
Straubing, wo er keineswegs eine stattliche Versammlung vor-
fand. Gleichwohl nahm man hier in Folge der Nachricht von
husitischen Truppenzusammenziehungen einen kriegerischen Aji-
lauf, an dem sich die Stadte aber nur ungern betheiligten. Auf
den Einzug des KSnigs in Niirnberg (am 13. September) folgte
wieder ein recht bedeutungsloser Reichstag, dessen Beschliisse
in der Husitenfrage je nach den aus Bohmen eintreffenden Nach-
nchten fortwahrend schwankten; zuletzt blieb es bei dem „tag-
Uchen Krieg", zu dessen Fiihrung Herr Heinrich Nothaft mit
den unbedeutenden Resten des Husitengeldes versehn wurde.
Daneben setzte Sigmund seine Intriguen mit den Stadten fort,
entschied aber dennoch in der Weinsberger Sache zu ihrem
NachtheiL Darauf zog der Konig anscheinend planlos ein Viertel-
jahr lang in den schwabischen Stadten umher und liess die
Niimberger Versammlung bis zum Februar 1431 warten. Man
^nn dies, meint der Verf., nur damit erklaren, dass Sigmund
seine Verhandlungen mit den Stadten und der Ritterschaft hier
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208 Bozold, Frz. v., Konig Sigmund und die Beichskriege gegen die HuBiten.
fortsetzen wollte: doch fiihrte das Markten der ersteren eine
ernste Verstimmung des Konigs herbei, dessen Reichspolitik nach
jener Reise ganzlich verandert erscheini Die wechselnden Be-
ziehungen Roms, Sigmunds, der Reichsfursten und der Bohmen
zu den Jagellonen machten, wie v. B. treffend bemerkt, die
husitische Frage zu einer Art von europaischer Verwicklung;
Sigmund enthielt sich hier jeder Einmischung im Gegensatz zum
Papst, der „die ganze husitische Frage in die Hande Wladyslaws
zu spielen suchte, urn damit dem romischen Konig und dem
Reich eine selbst&ndige Auseinandersetzung mit den Bohmen
unmoglich zu machen". Martin V. furchtete eben ein ConciL
Daher ist neben dem beriihmten Manifest der Jungfrau yob
Orleans und dem wirkungsvollen Rundschreiben Procops die
bedeutungsvollste Kundgebung des Jahres das am 8. November
in Rom geheimnissvoll angeschlagene Manifest, durch welches fur
den Marz des nachsten Jahres ein Concil verlangt wird. Die
Frage nach der Urheberschaft, — man vermuthete, dass dem
Brandenburger der grosste Antheil zufalle — entscheidet der
Vert nicht. Martin gab nach, stellte aber den Ereuzzug gegen
die Husiten in den Vordergrund, indem er den Cardinal Julian
Cesarini fur diesen Zweck zum Legaten des apostolischen Stuhls
mit den ausgedehntesten Vollmachten ernannte : erst drei Wochen
spater wurde derselbe Kirchenfurst zum Vorsitzenden des Con-
cils ernannt, mit der Befiigniss, dasselbe eventuell zu vertagen,
zu verlegen oder aufzulosen. Martin V. hatte durch die yor-
gangige Besiegung der Husiten dem Concil gern den Haupttheil
seiner Lebenskraft entzogen: sein am 20. Februar 1431 erfolgter
Tod ersparte ihm die Erkenntniss, dass der „weltliche Arm" den
Bohmen gegenuber machtlos sei.
Im Februar 1431 wurde der Niirnberger Tag erofihet, lang-
sam hatten sich die Stande und Gesandtschaften gesammelt,
aber dafur war die Betheiligung auch eine lebhafte. Der Reichstag
ist fur die Geschichte der Reichsverfassung von hochster Be-
deutung : einen Theil der fur die Zukunft nothwendigen Arbeiten
hat Droysen und nach ihm Weizsacker bereits geliefert in den
Forschungen XV, 397 — 354 „Der Strassburger Fascikel von 1431".
Hervorgehoben sei hier, dass zu dieser Zeit von einer Eintheilung
in drei Collegien noch nicht im entferntesten die Rede sein
kann: die Fiirsten treten in den Hintergrund neben den Knr-
fursten und Stadten, „welche nach der koniglichen Proposition
zu gemeinsamer Berathung zusammen kommen ; erst bei hervor-
tretender Meinungsverschiedenheit trennt sich die Reichsver-
sammlung in zwei selbstandig berathende Versammlungen. Die
Stellung Sigmunds zu den S^dten ist nunmehr geandert, sein
Verhalten gegen sie ist entschieden unfreundlich : lediglich die
hieraus entspringenden, nicht ungerechtfertigten Besorgnisse der
Stadte konnen die Saumseligkeit xind Unlust derselben ent-
schuldigen. Nachdem ein Zwolfer - Ausschuss aus Fiirsten and
Stadten erwahlt, ist man iiber die Nothwendigkeit eines Zuges
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Bfesold, Frz. v., Konig Sigmund and dio Reichskriege gegen die Husiten. 209
and eines Landfriedens bald einig , Streitigkeiten erheben sich
aber sofort uber die Hohe und den Modus der Hiilfeleistung.
Die Stadte wollen nicht den 25., sondern nur den 50. Mann
bewilligen: der Vorschlag der Fiirsten richtet sich mit Recht
auf taglichen Krieg und einen grossen Kreuzzug, die Stadte er-
klaren, nur eins von beiden tragen zu konnen, und wollen von
den Strafen, welche im fiirstlichen Entwurf den Saumigen ange-
droht werden und allerdings wesentlicb den Stadten gelten,
nichts wissen. Naclidem die Ankunft des papstlichen Legaten
Julian Cesarini (4. Marz) die Verbandlungen iiber die Hohe der
yon Fiirsten und Stadten zu stellenden Contingente auf einen
Angenblick unterbrochen , zeigt der Eonig bei Wiederaufhahme
der Berathungen plotzlich Vorliebe fur den Plan des taglichen
Krieges. Die Fiirsten, auf Pflicht und Gewissen befragt, treten
ebenso eifrig fur den Plan eines grossen Zuges ein : nach kurzem
Schwanken zu Gunsten der koniglichen Ansicht beharren sie auf
ihrer Meinung. Der Zug wird von den Fiirsten beschlossen,
und in einem koniglichen Ausschreiben vom 18. Marz die Sache
so hingestellt , als ob die Stadte bereits mitgeschlossen hatten
und vom Reichstag den Nachstgesessenen die Stellung des 25.
Mannes, den Entfernteren der 50. Mann auferlegt ware. In
Wirklichkeit war ein Abschluss nicht erzielt, da die Stadte die
Sache „hintersichbringena wollten. Eine authentische Ausgabe
der Aktenstiicke , die man als Reichstagsabschied bezeichnen
konnte, steht noch bevor: „von der Publikation eines Reichs-
tag8abschiedes von acht Hauptstiick^n im April 1431 (Asch-
bach HI, 358) kann nicht die Rede sein."
Die Ansicht, „dass zu Niirnberg einfach die Beschliisse von
1422 und 1427 zur Grundlage genommen seien", ist nach v. B's.
Auseinandersetzung unhaltbar. AUe Beschliisse bedeuten aber
keineswegs einen Fortschritt gegen friiher. Das Friedensgebot
Tom 14. Marz ist ganz ungeniigend, da es den Landfrieden nur
auf 20 Monate erstreckt; der Glefenanschlag ergiebt nur eine
au&erst massige Hiilfe und reflectirt auf auslandische Herren
ttud Landschaften „ die doch nichts leisten. Hinsichtlich der
Biichsen und des Zeugs ist der Ansatz niedriger, als der von
H27. In der Heeresordnung, welche freilich auch auf die tactische
Organisation eingeht, bleibt die Frage nach einer einheitlichen
Fuhrung offen : die Kriegsartikel zeigen keinen Fortschritt gegen-
uber den Bestimmungen von 1427. Die schlimmste Unordnung
aber musste der Kriegsplan zum Einmarsch in Bohmen hervor-
bringen, indem verschiedene Sammelorte und verschiedene
Stellangstermine angesetzt werden; iiber den Vereinigungspunkt
verlautet nichts.
Mit einem schrillen Missklang schloss der Reichstag, da
nund durch die goldene Bulle vom 25. Marz alle Einungen
Md Biindnis8e der Stadte , Bauern und armen Leute auf ewig
uatersagte, die Stadte aber auf ihre Einungs- und Vertheidigungs-
plane von 1429 zuriickgriffen. W^hrend die Beschliisse des
VlttbeUvDgen • d. hiitot Littcratar. VI. 14
Digitized by UOOQ IC
210 Bezold, Frz. v., Konig Sigmund und die Reichakriege gegen die Husiten,
Reichstages und die Kreuzbullen des neugewahlten Papstes
Eugen IV. durch Deutschland liefen, „brachte einerseits der auf-
richtige Friedenswunsch der Bohmen, andrerseits die Stellung
Polens und namentlich des Concils zur husitischen Frage noch
einmal einen denkwiirdigen Versuch des friedlichen Ausgleichs
zuwege".
v. B. weist nach, dass Sigmunds Verhandlungen mit den
Bohmen, deren weitsichtigste Fiihrer den Ausgleich wiinschea
mussten, keineswegs den Zweck hatten, Zeit fur die Veranstaltung
des Zuges zu gewinnen, sondern redlich gemeint waren : er hatte
sich die bohmische Frage gern vom Halse geschafft, urn ander-
weitige Politik, vor alien in Italien, zu treiben; die Zusammen-
kunft von Eger verlief resultatlos, weil die Husiten sich der
Bestimmung des Concils, was schriftgemass sei, nicht unterwerfen
mochten, und auch die Baseler die Verstandigung , soviel an
ihnen lag, hintertrieben. So versichert denn auch Sigmund nach-
mals in einem Manifest an alle Bohmen, er habe, der Noth-
wendigkeit gehorchend, gegen seine Neigung in den Kreuzzug
willigen miissen. Auch die personliche Theilnahme Julian Cesa-
rini's am BLreuzzuge erfolgte gegen den ausdriicklichen Wunsch
des Eonigs.
Es fehlte viel, dass das Reich sich fur die bevorstehende
Unternehmung begeistert hatte: die Fiirsten, welche dem Legaten
die besten Versprechungen gemacht, liessen es an der Ausfuhrung
gebrechen, das Friedeqsgebot vom 15. Marz wurde allenthalben
missachtet. Die Stadte verhielten sich vorsichtig, wie immer:
zwar beschafbigte sich der Speirer Stadtetag allein mit dem
Husitenkriege , aber hinsichtlich der Hohe ihrer Hiilfsleistung
kummerten sie sich urn den Reichstagsbeschluss so gut wie gar
nicht. Der auf dem Reichstag festgesetzte Termin wurde nicht
eingehalten, die Fiirsten zweifelten, ob man in Bohmen einriicken
solle; nur Cesarini blieb voll Eifer. „Vielleicht ware ohne die
vorwartsdrangende anfeuernde Gegenwart dieses Italieners, ohne
seinen unermiidlichen Enthusiasmus fur den Glaubenskampf der
deutschen Geschichte eine ihrer schmerzlic^ten Erinnerungen
erspart worden".
Das Heer, grosser als man nach den Abmachungen yon
Niirnberg erwarten durfte, — es zahlte mit dem Tross wohl aa
100000 Mann, — wagte den Bohmerwald erst am 1. August zu
iiberschreiten , nachdem sich die Husiten aus Proviantmangel
zuriickgezogen hatten ; die ostreichischen Streitkrafte blieben dem
eigentlichen Kriegsschauplatze fern, Schlesier und Lausitzer waren
gleichfiEdls anderweitig beschaftigt. „Der vortreflfliche und nahe-
liegende Gedanke eines gleichzeitigqp Vorstosses von Westen,
Norden und Siidosten, der die Grundlage jedes gemeinsamen
Feldzugsplanes bilden musste, kam also auch diesmal nicht zur
Ausfuhrung." Die Berichte iiber den Feldzug des Hauptheeres
sind liickenhaft und weichen theilweise von einander ab, dooh
vermag man die Hauptfehler zu iibersehen. Zuerst hielt man
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Programmenachau. Nenzeii 211
aich eine Woche nutzlos vor Tachau auf, dann verbrachte man,
die Richtung auf Pilsen verlassend und in drei Heereskorpern
nach Taus gewendet, mit furchtbaren Mordbrennereien die Zeit,
wahrend der sich die Husiten sammebi und zur Offensive iiber-
gehen konnten. Die Disciplin im Kreuzheere hatte sich in-
zwischen schon bedenklich gelockert. Die unsichere, angstliche
Baltnng des obersten Hauptmannes, als am Entscheidungstage,
dem 14. August , das ausserst starke husitische Heer heranzog,
oahm dem Reichsheere den letzten Rest von Festigkeit; die
Gotteskrieger hatten eigentlich nur noch die Aufgabe, die auf-
gelosten Schaaren vor sich herzujagen — „die Geretteten, welche
ach bei Cham sammelten, boten das elendeste und verachtlichste
Schauspiel dar, -schlimmer als die grosse Panik selbst".
In einem eigenthiimlichen Contrast zu dem niederschmettern-
den Ereigniss stehen die farblosen officiellen Berichte iiber das-
selbe. Die offentliche Meinung freilich war sehr erregt: Verrath
wurde namentlich dem Markgrafen Friedrich zur Last gelegt,
der allerdings auch in Bohmen als kein erklarter Feind des
Husitenthums gait. In Wahrheit war die Niederlage dadurch
herbeigefiihrt , dass der Unfahigkeit der Feldherrn die Zucht-
losigkeit der Massen entsprach, welche zudem nicht wussten,
wofur gie sterben sollten.
Mit der Niederlage von Taus endigt der zwolfjahrige Kampf
des Reiches gegen die bohmische Revolution. Sigmund bestellte
einen dreimonatlichen taglichen Krieg gegen die Husiten und zog
iiber die Alpen, um seine italienischen Plane auszufuhren. Mit
einer Uebersicht der deutsohen Verhaltnisse beim Ausgange des
Kampfes und einem Riickblick auf die triiben Erfahrungen, welche
Deutechland in dieser Periode zu machen Gelegenheit hatte,
sdihe8st der Verf. diese Abtheilung und damit auch sein Werk :
eine miihsame und verdienstvolle Arbeit, bei der nur, soweit wir
dies iibersehen konnen, allgemein bedauert worden ist, dass sie
aus irgend welchen ausseren Griinden in mehrere Theile zerlegt
werden musste, statt von vornherein eine Gesammtiibersicht der
behandelten Epoche zu ermoglichen.
Berlin. Willy Boehm.
L.
Frogrammenschan.
Neuzeit.
1) Gymnasium zu Coslin. Ostern 1877. Coslin
und die letzten Camminer Bischofe aus herzog-
lichem Stamme von Dr. Rudolf Hanncke.
In den Pommerschen hoheren Lehranstalten werden mit
groasem Eifer die mitteldeutschen Studien gepflegt und dieses
Stadium der deutschen Vorzeit scheint belebend auf die Er-
forschung der heimatlichen Geschichte eingewirkt zu haben.
Eine Menge Lehrer liefern Proben von ernster Beschaftigung mit
14*
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212 Programmenschan. Neuaeit.
der intere88anten Vorzeit ihrer Provinz. Zu diesen Beweisstiicken
gehort auch die vorliegende Arbeit. —
Das Camminer Bisthum war ein stattliches Fiirstenthum. Zn
ihm gehorte der sechste Theil der Pommerschen Kuste, an der es
sich von Cammin bis zum Gollenberge hin erstreckte. Zu ihm ge-
horten die Stadte Colberg, Cammin, Coslin, Bublitz nnd Corlin.
Gegen Ende des 15. scl. brachte es 40,000 Gulden Ein-
kiinfte. Was war natiirlicher, als dass in der Reformationszeit
sich die pommerschen Herzoge bemiihten, das luthensch gewordene
Bisthum jiingeren Sohnen zuzuwenden! Es gelang rhnen das
endlioh. Erasmus v. Manteuffel hatte die Reformation einfiihren
miis8en. Als er im J. 1544 starb, wurde Bartholomaeus Sua?e
erster evangelischer Bischof, dem der „gele Bischof" Martin
v. Weyher folgte. Unter beiden Regierungen zeigten sich fur
die Herzoge grosse Gefahren, einmal nach der Schlacht bei
Miihlberg die, dass ein katholischer Pralat das Bisthum erhalten
und dann die, dass unter einem evangelischen Bischof das Stift
reichsunmittelbar und eine unbequeme Enclave werden wurde.
Beiden Gefahren entging mqji durch die Einsetzung eines
pommerschen Herzogs Johann Friedrich. Diesem folgten im
Bisthum die Herzoge Casimir, Franz, Ulrich, Boguslav XTV. und
dessen Schwestersohn *, Ernst Boguslav, Herzog von Croy. Die
Zeit, in der diese Herrn regierten, namlich das Ende des 16.
und der Anfang des 17. scl. waren fur Pommern die gluck-
lichsten 40 Jahre. —
1556 erhielt also nach dem Tode Martins v. Weyher der
14jahrige Sohn Herzog Philipps, Johann Friedrich, das Bisthum. Er
machte Coslin zu seiner Residenz. Im J. 1574 ererbte er das
Herzogthum Stettin und iiberliess Cammin seinem Bruder Ca-
simir, der bis zum J. 1602 regierte. Das war ein wunderlicher
Herr, von dem der Verf. Mancherlei berichtet Da er im J. 1602
das Fiirstenthum Riigenwalde erhielt, schied er 1602 aus Cammin,
wo ihm sein Neffe Franz folgte. Dieser 2. Sohn des trefflicheE
Herzogs von Barth, Boguslavs XIII., hat am langsten dauemd
in Coslin geweilt. Er wurde 1618 Herzog von Stettin. Dim
succedirte im Bisthum sein jiingster Bruder Ulrich, der 1622 als
Bischof starb. Von all den zahlreichen Sprossen des Greifen-
stammes waren nur noch 2 iibrig, namlich Boguslav XIV. in
Stettin und in Wolgast Philipp Julius, beide kiuderlos. So
wurde Boguslav Bischof in Cammin und Philipp Julius sein Coad-
jutor mit 8000 Gulden jahrlicher Reveniien. Als 1637 mit Bo-
guslav XIV. der Stamm der alten Pommernherzoge erlosch,
folgte noch der Herzog von Croy.
2) Stadtische Real - Lehranstalt zu Stettin.
Ostern 1877. Die ersten 7Briefe des Augsburger
PatriciersPhiLHainhoferanden Herzog Philipp
von Pommern aus dem J. 1610. Herausgegeben
von Dr. Schlegel.
Der reiche und gebildete Augsburger Patricier Hainhofer
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Programmenschau. Neuzeit. 213
war bestallter Correspondent fur Heinrich IV. von Frankreich;
ebenso nach damaliger Sitte Berichterstatter fur eine Anzahl
dentscher Fxirstenhofe. Dies wurde er im J. 1610 auch fur
Herzog Philipp. Die hier mitgetheilten Briefe gewahren in-
teressante Blicke in das Treiben im Reiche, wo der Jiilichische
Erbfolgestreit beinahe ja schon zum Kriege fiihrte.
3) Progymnasium zu Norden. Ostern 1877. Der
Feldzug gegen Thomas Miinzer. Vom ord. Lehrer
A. Hoc he.
Zunachst "giebt der Verf. eine kurze Uebersicht von Mun-
zere Leben bis zum J. 1524, dann beleuchtef er seine Verbindung
mit Pfeiffer, welcher die Sache ubersturzte und zu frtih zum
Losschlagen drangte. Der Verf. schildert Philipps von Hessen
kriegerische Thatigkeit im Einzelnen und die Verzogerung, welche
durch die Krankheit Friedrichs d. W. von Sachsen und seine
allzugrosse Milde veranlasst wurde. Sobald dieser gestorben und
Bein Neffe znr Regierung gekommen war, schritt man ernsthafter
gegen die Bauern ein. Neu war dem Ret die Ansicht des Verf.
(S. 12), dass die Bauern ein Recht gehabt hatten, den Junker
Maternus von Gehofen, welchen die Fiirsten vor der Franken-
hausener Schlacht als Unterhandler geschickt hatten, wegen zu
fruhzeitiger Erneuerung der Feindseligkeiten niederzumachen.
Dann folgt die Darstellung der Schlacht bei Frankenhausen und
der Folgen derselben.
4) Realschule I. 0. in Magdeburg. Ostern 1877.
Die Gefangennehmung des Landgrafen Philipp
des Gros8miithigen. Vom Oberlehrer Johannes
Maenss.
Die einschlagende Litteratur ist mit Sorgfalt durohforscht
und aus der Forschung die friiher gewohnliche Ansicht etwas
modificirt. Ein absichtlioher Betrug ist von Carl V. nicht be-
gangen; allerdings bewegt er sich wie das so seine Art war,
zweideutigund unbestimmt; aber eine weit grossere Schuld, als man
das gewohnlich thut, muss man den Eurfursteti Moritz von Sachsen
und Joachim IL von Brandenburg zuschreiben. Fiir sie war die
Person Philipp's die Nebensache, ihnen lag vor AUem ^aran,
den BWeg zu beenden. Daher benahmen sie sich sehr zwei-
deutig. Besonders gilt das von dem Judas von Meissen.
5) Gymnasium zu Bonn. Ostern 1877. Zum
Briefwechsel des alteren Hieronymus Baum-
gartner. Vom Oberlehrer Dr. van Hout.
Der Verf weist in der Einleitung mit Recht darauf hin,
dass viele bedeutende Manner der Reformationszeit eingehender
Biographieen entbehren. Zu diesen gehoren Joachim Camerarius
nud Hieronymus Baumgartner, beide aus Niirnberg. Von ersterem
taben wir einen grossen litterarischen Nachlass, von letzterem
nur sehr wenig und dies Wenige zerstreut. Der Verf. giebt
zuerst eine kurze Uebersicht von Baumgartners Leben und dann
den Inhalt von 307 Briefen.
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214 Programmenschau. Neuzeit.
6) Friedrichsschule zu Marienwerder. Mich.
1876. Streit zwischen Venedig und Papst PaulV.
vonFr. Diehl.
Die Arbeit lehnt sich wesentlich an Rankes Darstellung im
2. Bde..der Fiirsten und Volker und bringt dann aus anderen
Werken eine Reihe von Details, so dass sie als eine Erganzung
zu des Meisters wundervoller Schilderung angesehen werden
kann. Interessant ist besonders die Sendung des Buiggrafen
Christoph v. Dohna nach Venedig, die in das J. 1608 faUt nnd
den Zweck hatte, Verbindungen anzukniipfen, die fur den Prote-
stantismus von Nutzen waren. Manches bat der Vert dm
Schlobittener Archiv entnommen.
7) Kloster in Magdeburg. Ostern 1877. Histo-
rische Tradition der Katastrophe der Stadt
Magdeburg imJ. 1631. VomOberlehrer Fried rich
Hiilsse.
Der. Verf. scheint S. 3 den neueren Forschungen zuzu-
stimmen, wenn dies auch mit etwas schwerem Herzon gescbieht
Er sagt an jener Stelle: „Wenn nun auch das Unrichtige und
Tendentiose dieses Handgriffes (namlich die Zerstorung der Stadt
dem Schwedenkonige zuzuschreiben) offen auf der Hand liegt und
man vielmehr zu der Ansicht gelangt ist, die Herbeifuhrung der
schrecklichen Katastrophe dem Zusammentreffen mannichfacher
und plotzlicher Zufalle zuzuschreiben, so ist es doch eine merk-
wiirdige Fiigung, dass durch die Forschungen des neuesten Bear-
beiters dieser Fragen (Wittich) grade diejenigen schon fast schuldig
der absichtlichen Zerstorung erwiesen werden, die so lange als
arme Opfer des katholischen Fanatismus gegolten haben." Aus
der Arbeit geht hervor, dass man in Magdeburg die alte prote-
stantische Tradition von der Grausamkeit Tillys trotz aller
Forschungen nicht aufgegeben habe und nicht aufgeben wolle.
Der Verf. sucht — und das ist fur eine Programmarbeit ein
richtig gewahlter Stoff — die Ansichten seiner speciellen Lands-
leute zu lantern, indem er sie mit dem Stande der Forschung
bekannt macht. Das wird ihm freilich nicht so leicht geliDgen,
doch mag er sich dabei trosten, indem er sich an die Moral
erinnert, welche Lichtwer in seiner hiibschen Erzahlung vom
kleinen Toffel uns darbietet. Er moge sich erinnern, dass sdion
vor 20 Jahren Riedel die Fabel vom Verkauf der Mark wider-
legt hat und dass weit verbreitete Lehrbucher sie dennoch fort
und fort iiberliefern. —
Die Arbeit enthatf eine Musterung der Berichte und Dar-
stellungen von jener Katastrophe und weist eingehend nach, wie
sich allmahlich die protestantischo und katholische Tradition
nach verschiedenen Richtungen hin ausgebildet hat.
8) Gymnasium zu Bautzen. Ostern 1877. Si Cy-
rans Bedeutung fur Port-royal vom Oberlehrer
Johannes Schonherr.
Diese Arbeit und die des verstorbenen David Miiller, welche
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Programmensehau. Neuzeit. 215
im Programm der Berliner Friedrich Werderschen Gewerbeschule
Tom Jahre 1867 iiber die petites ecoles von Port-Royal erschienen
ist, erganzen einander.
In dem vorliegenden Programm ist zunachst die Schwester
Angelica characterisirt und dann St. Cyran, dessen eigenthiim-
liche religiose Richtung und practische Befahigung geschickt auf-
gefasst ist.
9) Gymnasium und Realschule I. 0. zu Plauen.
/ Ostern 1877. Oberlehrer A. Fritsche: Zur Ge-
8chichte der Kampfe der Deutschen mit Frank-
reich in den Jahren 1673 u. 1674, insbesondere
die Theilnahme der kursachsischen Truppen
an denselben.
Diese Arbeit ist aus zwei Griinden sehr interessant ; einmal
deswegen, weil in ihr archivalische Quellen benutzt sind, und
dann weil sie Details aus jenem unglucklichen Kriege liefert, die
man anderswo nicht so leicht findet.
Nach einer kurzen Einleitung, in welcher die Ereignisse bis
zum Frieden zu Vossem besprochen sind, sehen wir im J. 1673
den sachsischen Kurfiirsten Jqhann Georg II. in Eger mit Leopold I.
zusammenkommen und ein Bundniss abschliessen. Dann werden
Montecuculis Ziige von Eger aus besprochen, durch welche er
Turenne in schwere Bedrangniss bracbte. Montecuculi tauschte
durch geschickte Manover den Franzosen und ging iiber den
Main. Warum er ihn bei Ochsenfiirt nicht ernstlicher ange-
griffen hat, als es geschehen ist, bleibt unerklart, doch gelang
es dem kaiserlichen Feldherrn, die Verbindung mit Holland zu
gewinnen und Turenne zu zwingen, nach Siiden auszuweichen.
Darauf nahm Montecuculi Bonn. Erst nach diesen Affairen im
November kamen die 4000 Sachsen zum kaiserlichen Heere;
aber der Kurprinz, der sie anfangs gefiihrt hatte, war schon
im Dezember zuriickgekehrt. Man erfahrt nicht recht, warum
das geschehen ist. Sollten die Strapazen die verwdhnten Herrn
abgeschreckt haben oder waren politische Grunde massgebend ? —
Elend war die Verpflegung, soweit sie vom Reich abhing, aber
ebenso elend die Soldzahlung und nun die Anfiihrung! Sehr
eingehend zeigt der Verf., wie schlecht Alles geleitet wurde.
Wir lesen mit Interesse die Kampfe in der Pfalz im J. 1674,
dieSchlacht bei Sinzheim, dann den RuckzugBeurnonvilles iiber den
Neckar und Main, zuletzt die Schilderung des Kampfes bei Seneffe.
Die Sachsen haben namentlich bei Sinzheim tapfer gefochten,
doch wurden sie Ende des J. 1674 von ihrem Herrn abberufen ;
weshalb — wird nicht so recht klar, wenn auch der Verf. einige
Muthmassungen iiber die Griindo am Schlusse seiner Arbeit ausspricht.
10) Kaiser-Wilhelms-Gymnasium zuHannover.
Ostern 1877. Die Selbstbiographie desMinisters
Andreas Gottlieb vonBernstorff, herausgegeben
von Dr. Adolf Kocher.
Dieser Bernstorff lebte Ende des 17. und Anfang des
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216 Ranke, Leopold v., Die Osmanen nnd die spanische Monarchic etc.
18. Jahrhunderts und stand allerdings inmitten von Begebenheiten,
welche schr interessant sind. Er kannte als hochgestellter Be-
amter genau die Streitigkeiten der Mitglieder des Weifenhauses,
er erlebte die Erhebung seines Herzogs zum Kurfursten, er er-
lebte ferner die Thronbesteigung Georgs I. ; aber von all diesen
interessanten Vorgangen bringt er diirftige Notizen. Man ver-
liert Nichts, wenn man dieselben ungelesen lasst.
11) Gymnasium zn Schleiz. Ostern 1877. Peter
der Grosse, seine Zeit und sein Streben, Dr.
Ernst Kuhne.
Diese Arbeit ist einem selbstandigen funfbandigen Werke
entnommen, das demnachst erscheinen wird. Die Probe ist ge-
wandt gesclirieben und giebt geschickt die Gesichtspunkte an,
yelche fur die Beurtheilung Peters wichtig sind.
12) Realschule zu Spremberg. Ostern 1877. Zur
Schlacht bei Hochstadt von Dr. Emil RohL
Die Arbeit beschrankt sich darauf, den einen Punct in's
Klare zu bringen, ob Eugen ausser durch den Vorstoss seines
ganzen Fliigels den Herzog von Marlborough, als derselbe bei
Oberglauheim hart bedrangt wurde, durch Detachirung von
Truppen direct unterstiitzt habe. Dies nimmt v. Noorden an,
Andere leugnen es. Der Vert stimmt nach angestellter Unter-
suchung den Letzteren bei.
Berlin. Foss.
LI.
Ranke, Leopold v., Die Osmanen und die spanische Monarchie
im 16. und 17. Jahrhundert. Vierte erweiterte Auflage des
Werkes: „Fiirsten und Volker von Sud-Europa". gr. 8.
(XVIII, 579 S.) Leipzig 1877, Duncker & Humblot 12 M.
Die vorliegende „erweiterte" Auflage des Rankeschen Werkes
„Fiirsten und Volker von Siid-Europa" unterscheidet rich von
den friiheren Auflagen nicht etwa. dadurch , dass die gesammte
Darstellung neu umgearbeitet , auf Grand neuerer Publicationen
und Forschungen erganzt und verandert ware, im Gegentheil der
Verfasser hat ahnlich wie in den spateren Auflagen seiner meisten
anderen Schriften auch hier es fur gut befunden, seine fruhere
Arbeit: die Vorrede, den ganzen Abschnitt iiber die Osmanen
und die Darstellung der inneren Zustande der spanischen Mon-
archie unter Carl V., Philipp II. und Philipp HI. fast unver-
andert zu wiederholen: „sie sollen als eine Arbeit des Jahres
1827, in welchem sie zuerst erschienen, angesehen werden". Die
Erweiterung besteht darin, dass er in einer Reihe von neuen
Abschnitten auch die auswartige Politik der spanischen Monarchie
unter Philipp II. und Philipp HI., sowie die Geschichte der Re-
gierung der beiden letzten habsburgischen Fiirsten, Philipp IV.
und Carl 1L, behandelt und ausserdem in einigen Beilagen Ausziige
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Bmlre, Leopold v., Die Osmanen und die spanische Monarchic etc. 217
aus Quellen und kritische Bemerkungen iiber solche mitgetheilt
hat Diese neu hinzugefiigten Abschnitte enthalten keinoswegs
lauter Neues, der Verf. wiederholt hier Vieles, was er in anderem
Zusammenhange schon in anderen Werken mitgetheilt hat, auch
bieten sie keineswegs eine ausgefuhrte, erschopfende Darstellung,
aber sie enthalten trefflich gezeichnete Uebersichten iiber die
spanische Politik des 16.nnd 17. Jahrhunderts, hier vom Standpunkte
der gpanischen Geschichte aus, und sie sind im Einzelnen reich
an interessanten Nachrichten und feinen Bemerkungen. Auch
hier stiitzt sich der Verf. hauptsachlich auf die venetianischen
Belationen, daneben aber hat er auch andere ahnliche italienische
Quellen, florentinische und lucchesische Gesandtschaftsberiohte,
sowie natiirlich auch spanische und niederlandische Quellen,
archivalische Publicationen und Geschichtsdarstellungen, benutzt.
Die 5 ersten Abschnitte behandeln die auswartige Politik
Philipp's II. nach ihren verschiedenen Richtungen hin. Der
eTste: „Die amerikanischen Colonien" schildert die weitere Aus-
breitung der spanischen Macht in dem neu entdeckten Erdtheile,
es wird hier besonders darauf hingewiesen, dass die Eroberung,
Christianisirung und Cultivirung in den schon friiher staatlich
organisirten Landschaften, in Peru und Mexico, verhaltnissmassig
schnell und leicht von Statten gegangen ist, wahrend die freien,
wilden Indianerstamme der spanischen Herrschaft und dem
Christenthum den hartnackigsten Widerstand entgegengesetzt
baben und jene daher nur sehr allmahlich und an einzelnen
Punkten vorgeschritten sind. Der zweite Abschnitt behandelt
die Kriege Fhilipp's II. gegen die Osmanen und die Moriskos und
macht besonders auf den engen Zusammenhang aufmerksam,
in welchem dieselben zu einan<Jer stehen. D^s 3. Capitel:
«Alba in den Niederlanden" schildert in kurzen Umrissen die
Veranlassung des Conflictes zwischen Philipp und den Nieder-
landen, das Schreckensregiment Alba's und die Ursachen der
schlieiselichen Misserfolge desselben. Das 4. Capitel: „Erwerbung
von Portugal" enthalt eine mehr detaillirte Schilderung der Zu-
stande dieses Landes unter den beiden letzten heimischen Ko-
nigen, Sebastian und Heinrich, und der Eroberung desselben
dnrch Philipp, der Verf. zeigt, dass trotz des nationalen Gegen-
satzes zwischen Portugiesen und Spaniern dieselbe Philipp er-
leichtert worden ist durch die Uneinigkeit unter den ersteren selbst,
durch die Feindschaft des Adels gegen den vom Volke zum Konig
erhobenen Pratendenten Don Antonio. Das 5. Capitel: „ Alexander
Farnese und die westeuropaischen Kriege Philipp's II." zeichnet
dann wieder in grossen Strichen die auf die Befestigung und
Aiwdehnung der spanisch-katholischen Macht gerichteten Unter-
nehmungen Philipp's in seinen letzten 20 Regierungsjahren,
deren Resultat aber schliesslich doch nur die Behauptung der
belgischen Provinzen ist. Auch das 6. Capitel: „Politik der
Zeiten Philipp's III." fiihrt uns die Ereignisse jener Zeiten in
ahnlichen jdlgemoinen Umrissen vor. Ranke zeigt, wie Spanien
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218 Ranks, Leopold v., Die Osmanen und die spanische Monarchie etc
nach der Beendigung des Krieges mit England und Holland, und
nachdem es nach dem Tode Heinrich's IV. auch mit Frankreich
in freundschaftliche Verbindung getreten war, noch einmal nach
aussen hin eine bedeutende Machtstellung eingenommen hat, wie
aber die namentlich durch die machtigen Governatoren der aus-
wartigen Provinzen im Gegensatz gegen die eigentlichen Leiter
der Regierung (Lerma, dann Uzeda und den Beichtvater Aliaga)
durchgesetzte Erneuerung der ehrgeizigen Plane Philipp's II., das
Eingreifen in die deutschen Handel, die Verbindung mit Kaiser
Ferdinand II. und der Liga, dazu die Erneuerung des Krieges
mit den Hollandern, neue verhangnissvolle Verwickelungen ver-
anlasst haben.
In seiner fruheren Arbeit hatte Ranke seine Darstellung
der inneren Verhaltnisse der spanischen Monarchie nur bis znm
Ende der Regierung Philipp's III. gefuhrt, in der neuen Auflage
giebt er in den 5 letzten Capiteln auch eine Uebersicht iiber
die Geschichte des Reiches unter den beiden letzten habsbur-
gischen Konigen, und zwar werden hier in unmittelbarer Ver-
bindung die inneren und die ausseren Verhaltnisse behandelt
Philipp IV. schildert der Vert als eine lebendigere Personlichkeit,
als sein Vater gewesen war, doch hat auch er nur formell die
Regierungsgeschafte besorgt, die eigentliche Leitung derselben
erhalt bald der Graf Olivarez. Derselbe ist eitel und ehrgeizig,
er will der erste Staatsmann Europas sein, er ist ganz erfiillt
von den Ideen der spanisch-katholischen Weltherrschaft und
sucht dieselben zur Durchfuhrung zu bringen, aber mit wenig
Gliick. Nach alien Seiten hin, mit Holland, Frankreich und
Schweden in Krieg verwickelt, verliert Spanien seine Macht-
stellung in ItaJien und in Deutschland, zugleich erleidet es in
den Niederlanden neue Verluste. Allerdings eroffhet Spanien
nach dem im Verein mit den Kaiserlichen erfochtenen Siege bei
Nordlingen und der durch denselben wiedereroffneten Verbindung
mit den Niederlanden fioch einmal die Offensive gegen Frank-
reich, und mehrere Jahre lang ringen beide Machte gegen ein-
ander in unentschiedenem Kampfe, aber endlich unterliegt doch
Spanien. In Folge der Besetzung Breisachs durch die Franzosen
wird die Verbindung zu Lande mit den Niederlanden durch-
brochen, durch die Seemacht der Franzosen und der Hollander
auch die Communication zur See mit Italien und den Colonien
gefahrdet. Dazu kommen, veranlasst durch die Reaction der
particularen Interessen gegen die centralisirenden Massregeln des
Ministers Olivarez, die Unruhen auf der pyrenaischen Halbinsel
selbst, die Erhebung von Catalonien, der Abfall von Portugal,
auch in Andalusien droht eine ahnliche Bewegung, der Herzog
von Medina Sidonia, von Portugal aus zur Emporung aufgereizt,
verlangt von dem Konige die Entlassung Olivarez' und Her-
stellung der verfassungsmassigen Rechte des Adels, aber er wird
von den anderen Granden im Stich gelassen und muss sich der
Gnade des Konigs unterwerfen. AUe diese ungliicklichen Ereignissc
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Btnke, Leopold v., Die Osmanoa und die Bpaniache Monarchic etc 219
fiihren schliesslich 1643 den Sturz des Ministers Olivarez und
einen Systemwechsel herbei. Der Nachfolger Olivarez', Don Luis
de Haro, giebt die aggressive Politik seines Vorgangers auf ; von
dem Kaiser im Stich gelassen, welcher ohne Riicksicht auf
Spanien den Westfalischen Frieden abgeschlossen hat, macht
aach er mit Holland Frieden. Der Kampf gegen Frankreich
dagegen wird fortgesetzt, und zeitweise kommen den Spaniern
die in Frankreich selbst ausbrechenden Unruhen zu Statten,
Catalonien und die verlorenen Gebiete in Italien werden wieder-
gewonnen, in den Niederlanden lange mit wechselndem Erfolge
gegen die Franzosen gefochten, aber endlich entscheidet die
Verbindung Englands unter Cromwell mit Frankreich doch den
Kampf zu Ungunsten Spaniens, dieses muss froh sein, 1659 unter
massigen Bedingungen den Pyrenaischen Frieden abzuschliessen,
auch der Versuch, nun das isolirte Portugal wieder zu unter-
werfen, gelingt nicht. Philipp IV. hinterlasst so bei seinem Tode
1665 das Reich in tief zerriittetem und geschwachtem Zustande.
Sein Sohn Carl II. ist damals ein vierjahriger Knabe, und fur
ihn erhalt seine Mutter Maria Anna von Oesterreich die Re-
gentschaft. Der Einfluss aber, welchen sie ihrem Beichtvater,
dem deutschen Jesuiten Nithard einraumt, erweckt die Oppo-
sition der Granden, durch diese, an ihrer Spitze der natiirliche
Sohn Philipp's IV., Don Johann, wird Nithard gestiirzt, als die
Konigin dann auf s neue einem Giinstling Valenzuela die Re-
gierung iiberlasst, rufen die Granden wieder Don Johann nach
Madrid, und dieser entfernt jetzt nicht nur den Giinstling, son-
dern auch die Konigin selbst. Wahrend dessen erleidet Spanien
aach nach aussen hin, in vergeblichem Widerstande gegen den
Ehrgeiz Ludwig's XTV. neue Verluste. In den spateren Zeiten
Carls IL ist bei der Schwache des Konigs die eigentliche Ge-
walt in den Handen der Granden, einzelne Haupter derselben,
zuewt Don Johann, dann der Herzog von Medina Celi, dann der
Graf Oropesa, erhalten nach einander die Leitung der Geschafte,
aber sie alle sind in ihrer auswartigen Politik gleich ungliicklich
nnd werden daher gesttirzt. Zuletzt ist es dann die Successions-
frage, welcho die ganze aussere und innere Politik Spaniens
bestinunt, der Verf. hat hiefiir schon die Arbeit Gaedeke's
benutzt, doch ist seine Darstellung dieser Verhaltnisse iiberaus
kurz und summarisch.
Von den 5 Beilagen enthalt die erste ausfuhrliche Ausziige
aus der bisher nicht publicirten, sehr interessanten Relation des
venetianischen Gesandten Matteo Zane iiber die Zustande in
Portugal unmittelbar vor der Occupation des Landes durch
Philipp n. (1579), die zweite Ausziige aus den Berichten floren-
tinischer und lucchesisoher Gesandten iiber die Verhaltnisse
Spaniens unter Philipp II. und Philipp IH In der dritten wird
aas einer c. 1640 verfassten, halb gedruckt, halb handschriftlich
orhaltenen Schrilt iiber die Colonialbesitzungen in America die
Besclirabung der Ueberreste alter Bauwerke mitgetheilt. Bei-
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220 Krause, Hofrath G., Ludwig, Ftirst zu Anhalt-Cothen etc.
lage 4 enthalt italienische Berichte iiber den Sturz des Ministers
Ottvarez, endlich Beilage 5 zunachst Ausziige aus der in ita-
lienischer Sprache erhaltenen Relation des franzosischen Ge-
sandten, des Erzbischofs von Embrun, (1667) iiber die Regent-
8chaft der Konigin Maria Anna, ferner kritische Bemerkungen
iiber die Memoiren der Madame d'Aulnoy, einer Franzosin,
welche die zweite Gemahlin Carl's II., Marie Luise von Orleans,
nach Spanien begleitete und die Zustande des dortigen Hofes
schildert, ihre Angaben erweisen sich wenigstens theilweise als
wenig zuverlassig.
Berlin. F. HirscL
LH.
Krause, Hofrath G., Ludwig, Furst zu Anhalt-CSthen, und sein
Land vor und w&hrend des dreissigjahrigen Krieges. Mit
Portrait und Facsimile des Fiirsten, einer Abbildung von Schloss
und Garten, nebst Plan der damaligen Stadt Cothen. I. Theil,
1579—1624. Nach den Quellen herausgegeben. gr. 8. (XIV,
329 S.) Neusalz 1877, P. Krause. 6 M.
Der Verfasser, ehemals Leiter des herz. Cothenschen Haas-
archives, fiigt den Publikationen zur Geschichte des Hauses An-
halt im 17. Jahrhundert mit seiner neuen Arbeit iiber Ludwig,
den Fiirsten von Anhalt-Cothen, eine hochst wiinschenswerte
Erganzung bei. Wie bei den friiheren Veroffentlichungen sieht
er von einer kunstgerechten Verarbeitung des Stoflfes ^Lnzhch
ab und reihet die Fragmente der Akten und iibrigen Schrift-
tiimer jener Epoche mit Beibehaltung der Rechtschreibung und
Interpunktation mosaikartig aneinander, „sodass kein fremdes
Element sich einmischt oder der Gebrauch unrichtiger Farben
storet". Es ist dieselbe Art erprobter historischer Darstellung>
der sich unter anderen auch Hofmann in seinem Leben Otto's
von Gerike bediente, und die dem Forscher wol die angenehmste
ist, da sie ihn von dem Wuste der weitschweifigen Curialien
befreit und dennoch den Wortlaut der Urkunden an den wich-
tigen Stellen iiberliefert.
Der 1. und 2. Abschnitt schildert den Familienkreis und die
Jugendjahre des Fiirsten Ludwig. Derselbe war der jiingste
Sohn aus der zweiten Ehe Joachim Ernst's von Anhalt (t 1586)
mit Eleonora, der Tochter des Herzogs Christof von Wiirtemberg.
Nach dem Tode ihres Gemahls widmete sich diese Fiirstin ganz
der Erziehung ihrer Kinder, bis sie dem Drangen ihrer Ver-
wandten nachgebend sich zum zweiten Male mit dem Landgrafen
Georg von Hessen - Darmstadt verheiratete. 1589 reiste die
brautliche Wittwe mit 5 Sohnen und 3 Tochtern zur Hochzeits-
feier in ihre neue Residenz. Unter den Kindern befand sich
auch der am 17. 'Juni 1579 zu Dessau geborene Ludwig. Die
angstliche Fursorge, dass er in der neuen Heimat nicht etwa
dem reformirten Bekenntnisse entfremdet werde, veranlasste jedoch
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Xrause, Hofrath G., Ludwig, F&rst zu Anhalt-C8then etc* 221
seinen Vormund, den altesten Bruder Johann Georg von Anhalt,
ihn bald nach Dessau zuriickzurufen und dem strenglutherischen
hessischen Hofe zu entziehen. Dort leiteten Ernst v. Kotschau
und M. Johann Starke seine Studien. Zum Abschluss derselben
unternahm er 1596, 17 Jahre alt, mit seinem, nur urn ein Jahr
alteren Bruder Johann Ernst eine Reise durch Niedersachsen
nach England, von welcher der Riickweg iiber Frankreich ein-
geschlagen wurde. Fast 50 Jahre spater hat der Fiirst auf
Grand seines Tagebuches die Abenteuer jenes ersten Ausfluges
in steifen Alexandrinern besungen, welche Becmann zuerst in
seinen Accessiones veroffentlichte, und der Verfasser in der vor-
liegenden Publikation einer genauen Durchsicht unterzieht.
1598 schloss sich eine Reise nach Italien an diese Fahrt in
den Nordwesten Europas. Christof von Lehndorf, der jenes
Land schon friiher gesehen, iibemahm die Pflichten eines Hof-
meisters ; ein des Zeichnens und anderer Eiinste kundiger Junker
von der Griin schloss sich der Gesellschaft an. Beide waren
reformirt und sprachen welsch und franzosisoh. Der Weg fiihrte
die jungen Herren iiber Strassburg zuerst in die Schweiz , von
dort nach Augsburg, Insbruck, iiber den Brenner in das „Trentou
und nach Venedig. In Ferrara wurde der Einzug des Pabstes
bewundert, zu Florenz trotz der „Wandlause" ein langerer Auf-
enthalt genommen. In der Residenz der Medicis bestand eine
kleine Colonie deutscher Junker, welche zu ihrer wissenschaft-
lichen oder musikalischen Ausbildung iiber die Alpen gekommen
waren. Ihnen schloss man sich an und unterhielt zu gleicher
Zeit freundschaftliche Beziehungen zum Grossherzoge und seinem
Hofe. Ebenso wurde ein langerer Ausflug nach Rom, Neapel,
Sieflien und Malta unternommen. Am 10. August 1600 wurde
Ludwig Mitglied der Accademia della Grusca. Im folgenden
Jahre verliess er Italien, reiste nach Ungarn, um seinen tapferen
Bruder Johann Ernst im Lager von Kanischa zu besuchen, und
kehrte iiber Pressburg, Wien und Prag in die Heimat zuriick.
In der bohmischen Hauptstadt hatte er bei Kaiser Rudolf U.
eine Audienz.
Der dritte Abschnitt handelt von den Erbteilungen der
anhaltinischen Fiirsten und den ersten Regierungsjahren Ludwigs
bis zum Ausbruch des dreissigjahrigen Krieges. Derselbe erhielt
1603 als seinen Auteil Cothen. Die Hauptstadt war in dem
traurigsten Zustande: die Stadtmauer an vielen Stellen einge-
fiJlen, mehrere Hauser armer Leute lagen in RuinenI Da auch
das Schloss unfertig, die ausgeAehnten Gartenanlagen erst pro-
jectirt waren und die wichtigsten Regierungsgeschafte noch in
den Handen des altesten Bruders ruhten, so begab sich der
First abennals auf Reisen nach Holland, England und Frank-
reich und kehrte erst 1604 nach Dessau zuriick. 1606 ver-
mahlte er sich mit Amona Amalia, des Grafen Arnold von
Bentheim-Tecklenburg Tochter, der jiingeren Schwester der Ge-
ttalin Fiirst Christians, einer ebenso frommen wie gelehrten
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222 Kranse, Hofrath G., Ludwig, Fiirst su Ankalt-CSthen etc.
Dame. Schloss und Stadt wurden auf Grand der in Italien ge- '
sammelten Kunstanschauungen ausgebaut und mit schonen Park-
anlagen umgeben. Der Calvinismus wurde streng durchgefuhrt,
allerorten wurden Gemalde und Bildhauerarbeit aus den Kirchen
entfernt und lutherische Ceremonien beseitigt, wo solche noch
unter dem Schutze der Edelleute sich erhalten hatten. Zur
Verteidigung des Fiirstentums vereinigten sich sammtliche Fiirsten
des Hauses Askanien zu einem „Landrettungswerk", einer Art
Landwehr. Als Muster diente hier in jeder Beziehung die Wehr-
verfassung der Ober-Pfalz. Als Grund dieser mit vielen Harten
verbundenen Massregel ist der Beitritt der anhaltinischen Fiirsten
zur Union zu nennen, deren eifrigster Sachwalter ja Christian
selbst war, der Rathgeber Friedrich V. von der Pfalz.
Der vierte Abschnitt gibt den Abdruck einer Reihe von
Verordnungen , Erlassen und Taxen, welche fur die Cultur-
geschichte des beginnenden siebzehnten Jahrhunderts von Wichtig-
keit sind. So bringt die Gasthofordnung strenge Zucht in das
Verkehrswesen nach dem Grundsatze : „Der Wirt soil des Gastes
Vater sein"; so gewahrt die „Cabinetsordnung von 1613" einen
Blick in das Getriebe des Geschaftsganges , und die „Taxa oder
Anschlag . . der Feylungen" berichtet iiber die Preise der Brauer,
wie der „vierzehn gefasten Innungen".
Ein wesentlich padagogisches Interesse bietet der fiinfte
Abschnitt : „Fiirst Ludwig als Reformator des Schulwesens in
Cothen". Nach den vom Verfasser entdeckten, auf Ratichins
beziiglichen Aktenstiicken soil das Hauptverdienst der neuen
Lehrinstitute und Lehrmethoden in Cothen nicht dem berufenen
Didaktikus, sondern dem Fiirsten Ludwig selbst zuzuschreiben sein.
Wenn sich der Verfasser dabei jedoch auf Massmanns Urtheil
beruft, welcher nach Durchsicht der Akten es aufgegeben habe,
dem niedersachsischen Padagogen ein Ehrendenkmal zu setzen
und sich dafiir dem Ulfilas zuwandte, so ist doch sehr zweifel-
haft, ob man deshalb diesen oder jenen mehr bemitleiden miisse
Fiir die politische Geschichte bietet dieser Abschnitt nichts be-
merkenswerthes.
Der sechste Abschnitt schildert unter Einfiigung einer Reihe
von Aktenstiicken die Aussohnungsversuche der anhaltinischen
Fiirsten beim Kaiser Ferdinand II. fiir den nach der Prager
Schlacht geachteten Fiirsten Christian I. und seinen gefangenen
Sohn Christian II. Ersterer lebte in Bremen, Schweden, zuletzt
in Flensburg und wurde in der Heimat als Senior des gesammten
Hauses sehr vermisst ; dem jiingeren war sein Aufenthalt in Neu-
stadt und Wien angewiesen. Der Kaiser erscheint in den Schil-
derungen desselben als ein personlich liebenswlirdiger, fast kind-
licher Character, welcher sich als willenloses Werkzeug von der
Curie und dem spanischen Gesandten zu allem gebrauchen liess.
Es sagte Christian selbst, „dass Ihre Mt. nicht so wild
waren, wie man Sie draussen machte." Am 9. Januar
1623 erhielt der junge Askanier die Freiheit und die Huld des
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UA. u. Aktenst. z. Gesch. d. Kurffirst. Friedr. Wilh. v. Brandenb. 223
Kaisers wieder, wahrend die Aussohnung seines Vaters erst im
folgenden Jahre erfolgte , so dass derselbe naoh vier sorgenvollen
Wintern der Verbannung erst am 5. Juli 1624 in seine Residenz
Bernburg einziehen konnte.
Am 15. Februar 1623 unterzeichneten die Fiirsten Augustus
und Ludwig zugleich im Namen der ubrigen Regenten einen
Becess, das „Defensions- Werk" betreffend, welcher die
Wehrkraft Anhalts organisiren sollte. Man stellte 2 Compagnien
Fnssyolk, jede zu 250 Mann, und eine Compagnie von 115 Reitern
aa£ Die Kosten jener beiden auf 3 Monate wurden auf 19157 fl.
berechnet, die fiir die Reiter auf 9619 fl. Ausser diesem gewor-
benen Volk wurden auch die Lehenmannen mit ibren zu stefienden
56 Ritterpferden aufgeboten. Als Kriegs^Commissarius fungirte
Heinrich yon Borstell. Zu gegenseitigem Schutze setzte man sich
ausserdem mit dem Administrator von Magdeburg in Verbindung.
Selbstrerstandlich entsprachen aber die geworbenen Mannscbaften
den gehegten Erwartungen so wenig und wurden bald den
eigenen Schutzlingen so lastig, dass man sie nach Ablauf der
dm Monate wieder „reducirte" ; der Rest der Mannscbaften
wurde noch im September 1623 entlassen.
Berlin. Ernst Fischer.
LHI.
Urkunden und Aktenstflcke zur Geschichte des Kurfursten
Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Band VII. Lex. 8.
Berlin 1877, Georg Reimer. 15 M.
Inhalt : Politische Verhandlungen Bd. IV. Herausgegeben
von Pro£ Dr. B. Erdmannsdorffer. (VII, 834 S.)
Der gleich den drei ersten Banden politischer Verhand-
von B. Erdmannsdorffer in Heidelberg herausge-
gebene vierte Band eroffnet einen neuen Abscbnitt in der poli-
tischen Geschichte Brandenburgs, die Zeit des nordischen Kriegs.
Ein fur nicht feme Zeit in Aussicht gestellter funfter soil diese
Zeit zum Abschluss bringen. Unmittelbar daran werden sich
die U. A. aus der Zeit von 1660 — 72 in drei Banden reihen
und damit die politischen Verhandlungen der zwei ersten Drittel
der Regierung des Grossen Kurfursten in grosster Vollstandigkeit
dem gelehrten Publikum vorliegen.
Die Behandlungsweise ist in diesem Bande dieselbe geblieben
wie bisher: regestenartige Zusammenfassung aller minder bedeut-
samen Stiicke, wortliche Mitteilung nur bei solchen, die, sei es
dem Inhalt nach, sei es des Autors halber, das allgemeinste In-
teresse in Anspruch nehmen , Verkniipfung der einzelnen Stiicke
durch zusammenfassende Notizen des Herausgebers , der in den
jedem Abschnitt vorausgeschickten Einleitungen in klarer und
gedr&ngter Form ein Resume der in ihnen sich kennzeichnenden
Politik giebt.
Der Band gliedert sich in sechs Abschnitte : I. Brandenburg
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224 Urk. *• Aktensl z. Gesch. d. Zarfurst. Friedr. Wilh. v. Braadent).
und die Niederlande wahrend des nordischen Krieg9 1655 — 1660;
II. Der nordische Krieg bis zum Vertrag von Konigsberg (17. Jan.
1656); IIL Das Marienburger Biindniss 25. Juni 1656; IV. Sen-
dung Dobrczenski's nach Prag , Juli bis Sept. 1656 ; V. Der
Reichsdeputationstag zu Frankfort 1654 — 1657 ; VI. Brandenburg
nnd England 1655 — 60; zum Schluss ein sorgfaltig gearbeitetes
Personenverzeichniss. Man sieht, dass die Akten in den Be-
ziehungen zu den beiden Seemaohten denen betreflfs der Krieg-
fiihrenden zeitlich vorausgreifend gleich bis zum Ende des nor-
dischen Eriegs reichen. Es ist dies urn so erwiinschter, als das
Jahr 1660 wenn nicht einen Umschwung, so doch eine neue
Wendung in der Stellung des Kurfursten zu jenen Landern be-
zeichnet. Betreflfs Polens und Schwedens war dasselbe Ver-
fahren bei der Fiille des vorhandeneg Materials nicht durch-
fuhrbar; der folgende Band wird uns hier erst die Verhandlungen
wahrend der aktiven Teilname Brandenburgs am Kriege (Juli
1656 bis Herbst 1659) und an der Friedensvermittlung bringen.
Lassen wir zunachst Abschn. I (Br. und die Niederlande) unbe-
rucksichtigt, und wenden wir uns den Verhandlungen mit Schwe-
den, Polen, dem Kaiser Anfang 1655 bis Mitte 1656 zu. Die
hier mitgeteilten Urkunden werden die Darstellung dieser Zeit
in Zukunft nicht wesentlich andern, da schon das was wir
besitzen, Droysen's Geschichte der Preuss. P. Ill, 2. und des*
Herausgebers Erdmannsdorffer Graf Waldeck, ebenaaf
dem Gros des hier Veroffentlichten beruhen. Das Verdienst der-
selben besteht vielmehr in erster Reihe daiin, uns mitten in das
Getriebe der in den bedenklichen Zeitlauften hin und herschwan-
kenden Politik Br/s so einzufuhren , dass wir dieselbe bis in die
innersten Beziehungen hinein durchschauen und so erst zu einer
vollig gerechten Wurdigung der auf den ersten Blick zweiden-
tigen Politik des Kurfiirsten gelangen. Als spiritus actor der
Politik dieser Jahre stellt sich mehr und mehr Graf Waldeck
heraus, der mit seiner Tendenz, Brandenburg auf Kosten des
von ihm schon damals als yerloren betrachteten Polen und im
Bunde mit Karl Gustav von Schweden zu vergrossern, zwar auf
die mehr oder minder entschiedene Opposition aller iibrigen
Geheimen Bathe stiess, dafiir aber einen Biickhalt am Kurfursten
selbst fand. Letzterer war, wie sich hier zur Evidenz ergiebt,
instinktiv geneigt, iiber die Defensiv - Linie hinaus die Conjunc-
turen der Zeit zur Machterweiterung seines HauBes sei es im
Westen (Julich-Berg) oder im Osten (Gross-Polen) zu benutz^L
Die Erkenntniss von der Bedeutung Waldecks hat den Heraus-
geber zu erneuter Durchsuchung des furstlich Waldeckschffli
Archivs zu Arolsen gefuhrt, dem wir schon so zalreiche wert-
volle Nachrichten verdanken ; und hauptsachlich aus Mitteilungen
aus dieser unerschopflichen Fundgrube wie aus denen des Geh.
Staats-Archivs zu Berlin setzen sich die beiden umfangreichsten
und wichtigsten Abschnitte des-Bandes, II und III, zusammen.
Die bisherige Darstellung kam zu einem durchaus richtigen
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Urfc n. Aktenst. z. Gesch. d. KurfiirBt. Friedr. Wiih. v. Brandenb. 225
Besnltat, wenn sie den Konigsberger Vertrag vom 17. Jan. 1656
mit seinen demiitigenden Bedingungen als eine politische und
handelspolitische Niederlage des Kurfursten bezeichnete. (Droysen
IE, 2, S. 177 — 181.) Auch der Herausgeber nennt diesen Ver-
trag eine solche und „um so mehr, als die brandenburgische
Politik, trotz aller augenfalligen Schwierigkeiten der Lage, mit
bewunderungswiirdigem Muthe gleich im Anfang der Ver-
wickelungen sich ziemlich woit gehende Ziele gesteckt hatte,
deiien es (Brandenburg) in dieser Krisis nachzustreben gedachte".
Doch erst an der Hand dieser Akten werden wir auch die
Schwierigkeiten gewahr, die dem Fiirsten aus der Isolirung
seiner politischen Stellung, dem Zwiespalt seiner Rathe, vor
AUem dem Mangel eines erprobten mUitarischen Leiters ent-
sprangen — Derfflinger, der bedeutendste, wurde als Organisator
in den Stammlanden zuriickgehalten — und die dann dazu
fuhrten, dass der Kurfurst selbst die Leitung seines Heeres wie
seiner Politik in die Hand zu nehmen beschloss. Wenn man
ganz Modemes mit dem der Geschichte Angehorigen vergleichen
darf, befand sich Fr. Wilhelm damals in einer Stellung zu
Schweden, wie etwa jetzt ein andrer Hohenzoller auf dem Thron
der Rumanen Russland gegeniiber; auch dem Verbundeten gegen-
uber gilt es da eigne Interessen zu behaupten, die mit einem
Zuge das Biindniss zur entschiedenen Gegnerschaft umwerfen
konnen.
Besonders erwahnen wir aus diesem Abschnitt die auf den
ernsten Konflikt zwischen Waldeck und Schwerin (Febr. 1655)
beziiglichen Stiicko (S. 330—336); die Sendung Bonins nach
Wien, Nov. 1655, zur Herstellung eines Schutz- und Trutzbiind-
nisses mit dem Kaiser, die ohne jeden positiven Erfolg bleibt
und Brandenburg in Schwedens Anne treibt (S. 424 ff.), wie
Bonins eingehende Schlussrelation, die ein vortreffliches Bild vom
Hof-, Civil- und Militarstaat des Kaiserhauses giebt (442 — 452) ;
sodann Waldecks Bericht d. Angerburg 12. Nov. 1655 (481 bis
484), der uns die Lage eines damaligen Heerluhrers zeigt, der
das Land schutzen soil, ohne den nahenden Feind wirklich anzu-
greifen ; endlich die schwedische Darstellung der Politik Branden-
burgs im J. 1655, (S. 507/8, 510/11), die darthut, wie das was
von dem einen Part als notwendige Sicherung betrachtet wird
von* dem andern als offen feindselige Haltung charakterisirt wird,
so dass die Ruptur unvermeidlich erschien, wenn Br. nicht auf
die wesentlichsten Bedingungen Karl Gustavs Jan. 1656 einging.
Auch die Darstellung der Politik in der ersten Halfte 1656
bis zum Marienburger Biindniss vom 25. Juni d. J., wie sie sich
in Droysen HI, 2, 181-— 197 und Erdmannsdorffer , Waldeck
363—384 findet, erhalt hier in Abschn. HL ihre vollste Be-
Btatigung. Nur auf einen Punkt iallt ein noch helleres Licht:
Brandenburgs Aggressiv-Politik auch nach Westen hin, sein ernst-
licher Plan, das bereits aufgebrachte zalreiche Heer von uber
20,000 Mann in den ersten Monaten d. J., wo Schwedens Kraft
MlUfaeiluogen a. d. hiitor. Litteratur. VI. 15
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226 Urk. «• Aktenst. z. Gesch. d. Kurfiirst. Friedr. Wilh. v. Brandenb.
allein zur Niederhaltung des polnischen Gegners zu genugen
schien, im Bunde mit Frankreich zur Rectificirung des rheinischen
Besitzstands, zur Vertreibung des alten Gegners zu Diisseldorf
aus Jiilich-Berg zu benutzen. Dem kiihlen Beobachter in der
Gegenwart mag es wol als ein Gliick erscheinen, dass die bran-
denburgisclie Politik, durch Schwedens Bedrangnisse nach dem
Osten zuriickgelenkt , aus den Umschlingungen des iiberlegenen
M a z a r i n gerettet wurde, der mit deutschen Truppen Frank-
reichs Ueberlegenheit iiber den Westen Deutschlands zu erwei-
tem beflisseii war. Wie machtig Karl Gustav damals erscheinen
mochte, immerhin war er ein Bundesgenosse , mit dem man als
mit einem Gleichen verhandeln, unter Umstanden ein Gegner,
mit dem man es wol aufhehmen konnte. Gegen Frankreich und
seine Verbiindeten konnte man damals nur Niederlagen erleiden,
mochte man ihm als Gegner oder als Verbiindeter entgegen-
treten. Die Akten ergeben iibrigens, dass des Kurfursten Politik
doch nicht so einseitig aggressiv war, wie sie erscheint. Das
untilgbare Misstrauen zwischen den beiden Partnern der Jiilich-
schen Erbschaft, die starken Werbungen des Neuburgers gaben
auch dem Kurfursten Anlass, auf seiner Hut zu sein. — Die
Verhandlungen iiber eine wirkliche Waffengemeinschaft zwischen
Schweden und Br. erfullen die Monate Mai und Juni 1656 ; auch
hier steht Waldeck der Mehrzal der Geh. Rathe gegeniiber;
auch hier deckt ihn der Kurfiirst, bis die entgegengesetzte
Stromung wahrend seiner Verhandlung mit dem schwedischen
Kanzler die Oberhand gewinnt. Auch jetzt kommt es fast un-
mittelbar vor dem Abschluss wieder zum Bruch, bis die Einsicht
in die Notwendigkeit der gegenseitigen Dnterstiitzung der Wage
zu Gunsten der Aktionspartei den Ausschlag giebt. „Die In-
8tructionen fur die wahrend der Monate Mai und Juni zu Frauen-
burg und Marienburg gefuhrten Unterhandlungen stellen die
Hauptpunkte der wirklichen Forderungen des Kurfursten fest:
die Souveranitat von Preussen und als Landerwerb Grosspolen
in seinen wichtigsten Theilen als Correspondenzlinie zwischen
den markischen und preussischen Landen; dass aber zugleich
auch der Plan eines Kampfes um Jiilich und Berg noch nicht
aufgegeben wurde, zeigt die Forderung, die noch hinzutrat: der
Verzicht Carl Gustav's, als pfalzisch-zweibriickenschen FamUien-
hauptes, auf die Erbanspriiche seines Hauses in den julich-
cleveschen Landen, und Unterstiitzung des Kurfursten zum bal-
digen Erwerb der gesammten Erbschaftslande. Der Gang der
Verhandlungen brachte es mit sich, dass der Kurfiirst auf diesen
letzten Punkt vorlaufig zu yerzichten sich veranlasst sah, ohne
darum das Unternehmen selbst aufzugeben; auch die Souveranitats-
frage trat zuerst noch zuruck; iiber die Theilungsfrage aber
einigte man sich. Auf Grund dieser Einigung traten Schweden
und Br, als Kampfgenossen neben einander, und mit dem Marien-
burger Biindniss beginnt eine neue Wendung in dem verschlun-
genen Gefiige dieser nordischen Kampfe."
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C5rL u. Aktenst. z. GeBch. d. Kurfiirst. Friedr. Wilh. v. Brandenb. 227
Die bemerkenswertesten der in diesem Abschn. III. mitge-
teilten Stiicke sind die Instruktion und Neben - Instruktion
fur Waldeck und Platen vom 1. resp. 2. Mai 1656 (S. 574—86),
die Berichte Waldecks aus Marienburg vom 19.— 22. Mai
(594 — 600), die zur Herabminderung der Brandenburg'schen
Forderungen btr. Julich-Bergs fiihrten (601/2 und 606); endlich
der vom 28. Mai (607 — 608) , worm W., an dem Erfolg seiner
Sendung bei den Machinationen seiner Gegner vorzweifelnd , um
seine Abberufang bittet. Diesem Wunsch wird seitens des Kurf.
nicht entsprochen. Grade die Wiederaufiiahme Polens ist fur
ihn ein Beweggrund zum Abschluss mit Schweden zu drangen,
der drei Wochen spater erfolgt.
Abschn. I. erlautert die Politik Hollands 1655—60 an der
Hand der trefflichen Berichte des brandenburgischen Gesandten
im Haag, des G. Baths Daniel Weiman, dem Copes und
M. Dog en als Residenten im Haag resp. in Amsterdam zur
Seite stehen. Zweck der Sendung W.'s ist der Abschluss der
Allianz mit den Staaten, die 27. Juli 1655 zu Stande kommt,
und, was noch schwieriger war, die Staaten zur Ausfiihrung der
bzgL Bestimmungen , der Unterstiitzung Br.'s gegen Schweden,
zu vermogen. Bekanntlich hatte die Sendung diesen Erfolg nur
in geringem Masse. Alles, wozu sich die Staaten entschlossen,
lief darauf hinaus, eine Flotte in den Sund zu schicken, die in
den entscheidenden Augenblicken in ihrer neutralen Stellung
verharrte, nicht einmal dem Kurfursten die Mittel gewahrte, den
1658 gegen Karl Gustav und zur Hilfe Danemarks begonnenen
Krieg durch Ueberfiihrung seiner Truppen auf die danischen
Inseln zu einem schnellen, siegreichen Abschluss zu bringen.
Leiter der damaligen staatischen Politik war der Raths-Pensio-
narius Johann de Witt, das Haupt der „Patrioten", der ein
Jahr vorher in der Acte van Seclusie gegen das Haus Oranien
das Meisterstuck seiner Politik abgelegt zu haben glaubte. Seine
politischen Maximen sind: Neutralitat um jeden Preis; die
Staaten die erhaltende Kraft der ^Balance" Europa's; Will-
fahrigkeit gegen den Protector Cromwell, der sich zur See iiber-
legen gezeigt, bis zur Grenze des Moglichen, und daher Be-
niitzung der AUianzen mit dem Brandenburger, dem Danen, dem
Bischof von Miinster zur Lahmung jeder Offensivthatigkeit der-
Belben. Trotz mannichfachen Widerspruchs konnte sich de Witt
zwei Jahrzehnte an der Spitze der Staaten behaupten, weil er
in der Tat Wiinsche und nachste Interessen der Mehrzal des
Volkes vertrat. „Dieses Volk", schildert sie Weimann in seinem
Bericht aus dem Haag vom 6. Marz 1656, „siehet nur auf die,
welche ihnen Schaden thun konnen. Wer sie haben will, muss
fiir ihnen zuweilen fliehen. Wer ihnen Ehre thut mit der Rechten,
muss zeigen, dass er mit der Linken ein anders thun kann.
Dire Begierde ist so schwerlich zu ersattigen, als ihrer viel ist,
die alle ohne Ende und ohne Schranken, ohne Vernunft und
ohne Erfahrung regieren. Sie sind beschwerliche Richter, wenn
15*
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228 Urk. u- Aktenat. z. Gescb. d. Kurfiirst. Friedr. Wilh. v. Brandenb.
man sie Meister machet, und vergessen gar zu leicht ihr
Thun an andern, wenn sie urtheilen sollen in Sachen, so an
ilinen geschelien." Und de Witt's in der Angst vor Cromwell
gipfelnde Politik geisselt er drei Jahre spater (Bericht vom
19. Mai 1659) mit wenigen treffenden Worten : „Die Seele seiner
(de Witt's) ganzen Intention bestund darinnen , dass er mir im
Vertrauen meldete, sie mussten der Zeit weichen und wiird
solches dem geraeinen Wesen nit viel schaden; es ware die
Hauptmaxime dieses Staats, solang es die ausserste Noth nicht
erforderte, miissten sie mit England niclit brechen ; die Zeit wird
Rosen bringen, die Tractaten wiirden langsam dahergehen, Dane-
mark bliebe inmittelst in seinem itzigen Zustande, Schweden
zehrte sich heimlich auf, Polen konnte ja inmittelst in Preussen
kraftig agiren und England zu solchen Revolutionen verfallen,
dass es dem Estat ohne Miihe sein wurde, die alte Concilia gegen
Schweden wiederum zur Hand zu nelimen und ohne Gefahr aus-
zufuhren ; ja, wenn auch Danemark particulatim tractiren miisste,
so ware solches fiir die gemeine Sache so nachdenklich nicht,
als dass dieser Staat mit England in die Haare gerathen und
durch ungliickliche Bataillen zu Grunde gerichtet werden mochtett.
Dass einem solchen Manne Brandenburgs aggressive Politik,
deren Verstandniss ihm unmoglich war, ein Dorn im Auge sein
musste, ist leicht zu ermessen. Daher machte er alle moglichen
Anstrengungen, es in die Linie zuriickzuweisen, die er ihm be-
stimmt hatte, im Gefolge der staatischen, -und als Schildknappe
jener Politik, die zum Haager Concert fuhrte. Und als der Kur-
fiirst derselben-, da sie ihn zu isoliren drohte, eifrig entgegen-
arbeitete, den KOnig von Danemark Sommer 1659 zum Aus-
harren ermunterte, scheute sich de Witt nicht, auf den Kur-
fiirsten personlich die Verantwortlichkeit Air das Scheitern der
schwebenden diinisch-schwedischen Verhandlungen zuriickzuwerfen.
Friedrich Wilhelm wusste indess, wie man einer so zweideutigen
Politik zu begegnen habe. „Es ist diese Beschuldigung", schreibt
er an Weimann aus seinem Feldlager bei Colding unterm 8. Juli
1659 in einem Brief, den dieser de Witt zeigen soil, „es ist diese
Beschuldigung so ausverschamt und unbegrundet , so verwegen es
ist, dass ein solcher Mensch sich von Unseren Actionibus der-
gestalt zu urtheilen unternehmen darf. Wir haben Uns nie
unterstanden, den Konig in Danemark zu bevormunden oder vor-
zuschreiben, wie er seine Sachen anstellen solle". Dass er ihm
treuen Beistand versprochen, entspreche auch der Staaten In-
teresse und Absicht, „dass Wir Uns aber mit dem de Witte,
nachdem sich derselbige von franzosischen , englischen und
schwedischen Ministris gegen des Staats wahrhaftes Intereese
umstellen lassen, conformiren, und seiner unbestandigen, hochst
schadlichen Consilien theilhaftig machen sollten, dazu lieben Wir
Unsere Ehre und Gewissen zu viel. Und wird er gewisslich der
erste nicht sein, der mit seinem Exempel beweisen wird, dass
man zwar in dem Staat nach der Natur solcher Republicq ein
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Urt u. Aktenst. z. Gesch. d. Kurfiirst. Friedr. Wilh. v. Brandenb. 229
Zeitlang solche schadliche Consilia fuhren, auch etzlicher Maassen
durchtreiben kann, bald aber in die Grube fallen muss, die man
Andern zu graben gedacht hat; wie Wir dann nimmermehr
glauben konnen, dass die gottliche Rache lange iiber solche scliad-
liche Leute ausbleiben werde".
Abschn. VI. (Br. und England 1655 — 60) bringt uns in der
Einleitung S. 705 — 712 einen eingehenden Bericht iiber die Be-
zieimngen des Kuriursten zu Carl Stuart, der von Fr. Wil-
helm gleich den meisten Fiirsten Europa's fortdauernd als einzig
legitimer Konig von England betrachtet und behandelt wurde,
ans den Jahren 1649 — 54. Das interessanteste daraus ist ein
Revers des von Carl als bevollmachtigter Minister nach Berlin
gesandten Grafen Rochester d. Coin a./Spr., 20. Oktober 1654,
welcher nach der Wiederherstellung des Konigs einen Bundes-
und Handelsvertrag in Aussicht stellt, der der brandenburgischon
Marine besonders auch den Handel nach Indien eroffnen soil;
ein Vertrag, wie er in etwas beschrankter Art am 26. Juli 1661
zu Stande kam.
Doch neben diesen geheimen Beziehungen zu Carl, notigten
die politischen Verhaltnisse den Kuriursten bald darauf , Herbst
1655, auch zu oiner officiellen Ankniipfung mit dem Protector,
der als Hort der evangelischen Interessen aufgerufen wurde, den
Kurfiirsten in seinem Kampf mit einer Flotte oder entsprechenden
Subsidien zu unterstiitzen. Leider war das Organ, dem diese
Botschaft anvertraut wurde, der bisherige brand. Resident in
Hamburg Joh. Fdr. Schletzer, ein ausserst zweifelhafter
Charakter, durchaus nicht geeignet, die Interessen Br.'s an dem
Hofe des sittenstrengen und scharfblickenden Protectors zu ver-
treten. Schletzer's hervorstechende Fehler, Eitelkeit, Genusssucht
und Tragheit, verwickelten ihn in bose Handel, die einen Augen-
bUck drohten, auch den Ruf seines Herrn zu triiben. In der
Sache selbst erreichte er nichts weiter als Versprechungen und
hofliche Worte. Wenn die Gesandtschaft so auch zu keinem
handgreiflichen Resultat fuhrt, so sind die hier mitgeteilten
Akten doch auch abgesehen von ihrem kulturhistorischen Intoresse
iur die Erkenntniss von Natur und Politik des Protectors von
nicht zu unterschatzendem Wert. Seine Audienzen, seine Schrei-
ben, seine Instruktionen offenbaren alle einen Genius, der eine
klare Politik mit ausserstem Freimut und ebenso grosser Vor-
sicht vertritt. Entschieden, fast als selbstverstandlich, nimmt er
die Stellung des Schutzers aller evangelischen Interessen Europa's
ein und behauptet dieselbe bei materiell doch ausserst bc-
schrankten Mitteln. Ein besonderes Licht fallt hier auf Crom-
well's Plan, 1657 die Krone vom Parlament anzunehmen, die
er indess im letzten Augenblick doch wieder zuriickweist
(S. 758—773). Die ganze Personlichkeit erscheint hier in einem
durchaus vorteilhaften Licht, einzig um das Wohl des von ihr
regierten Staates bemiiht.
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230 Isaacsohn, Dr. S., Gesebichte des Prenssischon Beamtenthums.
Wir schliessen dieso Anzeige mit dem Wunsch, dass der in
Aussicht gestellte baldige Abschluss der Akten aus der Zeit dee
nordischen Kriegs nicht zu lange auf sich warten lasse.
Berlin, Eude Februar 1878. S. Isaacsohn.
LIV,
Isaacsohn, Dr. S., Geschichte des Preussischen Beamtenthums
vom Anfiang des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart
I. Band. Das Beamtenthuin in der Mark Brandenburg 1415
bis 1604. IL Band. Das Preussische Beamtenthum des sieb-
zehnten Jahrhunderts. gr. 8°. (X und 291, XIV und 384 S.)
Berlin 1874. 1878. Puttkammer & Muhlbrecht 15. M.
Wahrend die eigentliche politischo Geschichte des branden-
burgisch-preussischen Staates in den bedeutondon Werken, welche
gerade in neuester Zeit erschienen sind, namentlich in Droysens
Geschichte der Preussischen Politik und in der neuen Bear-
beitung von Ranke's Preussischer Geschichte ebenso griindliche
wie geist- und lichtvolle Darstellungen erhalten hat, ist die Ge-
schichte der inneren Landesverwaltung , auf welcher, wie der
Verfasser des vorliegenden Werkes mit Recht hervorhebt, „nicht
in letzter Reihe der Machtaufechwung unseres Staates beruht",
bisher nur wenig beriicksichtigt wordcn. Es fehlt ebensowohl
fur die meisten Zweige derselben an geniigenden Specialstudien,
wie an einer allgemeinen , das gesammte Gebiet umfassenden
Bearbeitung. Urn so mehr Dank sind wir Herrn Isaacsohn dafiir
schuldig, dass er sich der miihevollen und wenigstens an-
scheinend weniger dankbaren Aufgabe unterzogen hat, diege
empfindliche Liicke in der Darstellung unsrer vaterlandischeu
Geschichte auszufiillen. Allerdings hat er bei dem Mangel an
geeigneten Yorarbeiten es nicht gewagt, eine zusammenfassende
Bearbeitung der brandenburgisch - preussischen Verwaltungs-
geschichte zu liefern, sondern er hat sich eigentlich nur vor-
gesetzt, eine Seite derselben, das preussische Beamtenthum, den
Trager dieser Verwaltung, in seiner allmahlichen Entwickelung
vorzufuhren, indessen hat er seine Studien viel weiter, iiber das
gesammte Gebiet hin ausgedehnt, und auch die Darstellung tritt
je weiter, desto mehr aus dem urspriinglichen enggezogenen
Rahmen heraus. Die Arbeit beruht auf einem sorgsamen und
griindlichen Studium. Obgleich fur die altere Zeit in den Ur-
kundenpublicationen, namentlich in denen von Riedel und
v. Raumer, ein grosser Theil des Quellenmaterials gedruckt vor-
lag, hat er dennoch auch fur diesen Zeitraum das berliner
Archiv durchforscht und in demselben zahlreiche wichtige, bisher
noch nicht verwerthete Materialien gefunden, fur die spatere
Zeit, wo solche Quellenpublicationen weit mehr fehlten, beruht
fast die gesammte Darstellung auf archivalischen Studien, und
zwar sind hier neben dem berliner Archiv auch die Provinzial-
archive der einzelnen allinahlich mit dem brandenburgischen
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■53T* v
Isaacaohn, Dr.- S., Goschichte des Preussischeu Boamtenthuma. 231
Staate vereinigten Landschaften ausgebeutet word en. Zahlreiche
Auszige aus diesen Archivalien sind in den fortlaufend den Text
begleitenden Anmerkungen mitgetheiit, in den Beilagen des
zweiten Bandes sind auch einige interessante Documente und
Briefe vollstandig publicirt worden. Nicht woniger sorgsam hat
der Ver£ auch die litterarischen Hiilfsmittel, welche ihm fiir seine
Zwecke Ausbeute gewahren konnten, benutzt, und er hat es
nicht unterlassen da, wo er Anderen Belehrung und Forderung
rerdankt, insbesondere fiir die altere Zeit Kiihns' Geschichte der
markischen Geriohtsverfassung , spater fiir die Geschichte des
Grossen Kurfursten den trefflichen Untersuchungen, welche sich
in den bisher erschienenen Theilen der Urkunden und Akten-
stucke zur Geschichte des Kurfiirsten Friedrich Wilhelm finden,
ferner den auch auf die Zeiten Friedrichs I. zuriickgehenden
Arbeiten von Schinoller iiber das preussische Stadtewesen unter
Friedrich Wilhelm I. gebuhrende Anerkennung zu zollen. Der
reiche Stoff ist iibersichtlich und zweckmassig geordnet, in der
Darstellung hat der Verf., der Natur seines Gegenstandes ent-
sprechend, auf besonderen Schmuck verzichtet, dieselbe ist ein-
fach, klar und ansprechend. Das ganze Werk soil nach dom
in der Vorrede des ersten Bandes aufgestellten Plane 4 Bande
umfassen, der erste beginnt mit dem Anfange des 15. Jahrhun-
derts, dem Eintritt der Hohenzollern in den Marken, und reicht
bis zum Jahre 1604, bis zur Begriindung des Geheimen Bathes.
Der zweite sollte nach jenem urspriinglichen Plane bis zum
Jahre 1723, der Bildung des General-Directoriums fuhren, doch
hat der Verf. vorgezogen, ihn schon mit dem Todo Konig Frie-
drichs L 1713 zu schliessen, ein dritter soil die Regierungen
Friedrich Wilhelms I., Friedrichs II. und Friedrich Wilhelms II.,
ein vierter die Zeiten des 19. Jahrhunderts seit den fundamen-
talen Umgestaitungen der Jahre 1808 — 1813 umfassen. Wir
versuchen im Folgenden, entsprechend der dieser Zeitschrift ge-
stellten Aufgabe, eine Uebersicht iiber den Gang der Darstellung
und iiber die hauptsachlichen Resultate derselben zu geben.
Der erste Band ist in der That, wie sein Titel besagt, eine
Geschichte des brandenburgischen Beamtenthums vom Anfange
des 15. Jahrhunderts bis zum Jahre 1604. Er zerfallt in 6
grossere Abschnitte, in denen nach einander die verschiedenen
Klassen yon Beamten in ihrer Entwickelung vorgefuhrt werden.
Der erste Abschnitt haudelt von dem Hofe des Markgrafen. Das
zu demselbeu gehorige Personal zerfallt in 2 Klassen, in die
eigentlichen Hofbeamten und in die grossere Zahl der Diener
im AUgemeinen. Von den Mitgliedern beider Klassen wird zu-
nachst im Allgemeinen bemerkt, dass ihre Thatigkeit nicht nur
auf einen ^bestimmten Amtszweig beschrankt gewesen ist, sondorn
dass sie "zur Berathung und Ausfiihrung der verschiedensten
Regierungsgeschafte herangezogen wurden. Bis zum Anfange des
16. Jahrhunderts wurden sie nur aus den Pralaten und Bittern
genommen, seit Joachim I. wurden auch burgerliche Rechts-
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232 Iaaacsohn, Dr. S.f Geschicht© des Preussischen Beamtenthmns.
gelehrto herangezogen. Sie haben privilegirte Gerichtsbarkeit
vor dom Markgrafen selbst oder dessen Stellvertreter , werden
durch formlichen Contract, meist auf iinbestimmte Zeit, mit
Kiindigungsfrist in Dienst genommon , sie beziehen meist kein
testes Geldgehalt, sondern sie erhalten einmal Unterhalt, Kleidung
iind Wohnung von dem Landesherren und werden andererseits
meist von demselben mit Grundbesitz oder Gefallen belehnt.
Der Verf. besprieht dann zunachst die eigentlichen hoben Hof-
beamten. Es sind dieses: der Hofmeister, der Wahrer von Her-
kommen und Anstand am Hofe (seit dem 15. Jahrhundert giebt
es neben einander einen Oberhof- und einen Hofmeister, von
denen nur der letztere seinen standigen Aufenthalt am Hofe
bat), der Kammermeister , der Verwalter der Einkiinfte des
Landesherren (seit Joachim I. wird eine besondere Kasse fur
die Landesverwaltung , die Hofrenthei, abgezweigt, und der
Kammermeister behalt nur die Verwaltung der Domanenein-
kiinfte und einzelner Regalien), der Hofmarschall (seit Mitte des
15. Jahrhunderts findet sich auch dieses Amt verdoppelt, ein
Oberhof- und ein Hofmarschall, von denen wieder nur der letztere
cin standig am Hofe befindlicher Beamter ist), ferner der Kanzler,
seit Anfang des 16. Jahrhunderts das hervorragendste Mitglied
des Hofhaltes, der vertraute Rathgeber des Fiirsten, sein be-
standiger Begleiter, sein Stellvertreter im Hofgericht, spater der
Vorsitzende des Kammergerichts, endlich der Kiichenmeister und
der Schenk(Oberkuchenmeister und Oberschenken finden sich
schon seit dem 14. Jahrhundert als Erblehen bestimmter Adels-
geschlechter). Der Verf. behandelt dann die kurfiirstlichen
Rathe und Hofgesinde, d. h. die unter den ersten Hohenzollern
ziemlich zahlreichen Personen, welche ohno bestimmte Amts-
functionen von den Kurfiirsten in Dienst genommen werden, uni
als allezeit dienstfertige Rathgeber und reisiges Gesinde den-
selben zu dienen. Sie zerfallen in zwei Klassen, in „wesentliohett
Rathe und Hofgesinde, welche sich bestandig am Hofo aufeu-
halten haben, und in solche „von Haus ausu, die nur einem bo-
stimmten Rufe zu folgen haben. Seit Joachim I. wird die Zahl
derselben kleiner, und werden einmal Juristen, andererseits er-
probte Kriegsleute in dieser Stellung in den Dienst des Kur-
fiirsten gezogen.
Der zweite Abschnitt behandelt die Landesbeamten, zunachst
diejenigen, welche im 14. Jahrhundert die wichtigste Rolle ge-
spielt hatten, die Vogte. In jenem Jahrhundert war die ganze
Mark in c. 30 Vogteien eingetheilt, in jeder derselben waltete
ein Vogt, welcher als Stellvertreter des Markgrafen alle Zweige
der Verwaltung unter seiner Oberleitung veroinigte. Schon zu
Anfang des 15. Jahrhunderts aber war diese Vogteiverfassung
sehr verandert durch die zahlreichen Exemtionen ; ein Theil der
Vogteien war ganz eingegangen, die anderen (c. 25) waren zu
Domanialbezirken zusammengeschrumpft , in denen die Vogte
hinfort als landesherrliche Anats- und Hauptleute walteten. Die
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Isaaeeohn, Dr. S., Gesohichte des Preussischen Beam ten thnms. 233
Functionen derselben sind theils polizeiUoh-jurisdictionelle (Auf-
rechthaltung von Friede und Ordnung, Schiedsgericht) , theils
militarische (Ausrfistung und Anfuhrung des Vogteiaufgebotes),
theils wirthschaftlich-finanzielle (Verwaltung der Domanen, Er-
hebimg der sonstigen landesherrlichen Einnahmen und Gefalle).
Der Vogt als der eigentliche Vermittler zwischen dem Landes-
herren und dessen unmittelbaren Unterthanen nahm eino an-
sehnliche Stellung ein, sein Einkommen setzte sich aus Natural-
hcfenmgen und baarem Gehalte zusammen, er wurde entweder
auf unbestimmte oder auf kurze Zoit, mit Kfindigungsfrist, ange-
stellt, doch waren manche Vogte Pfandinhaber ihrer Vogtei und
hatten so das Amt auf Lebenszeit oder gar erblich inne. Unter
Joachim I. hort die Vogteiverfassung ganz auf, an die Stelle der
Vogte treten fur die Verwaltung der Domanen Amtshauptleutc,
ihre jurisdictionellen Befugnisse gehen an den Hof- und Land-
richter fiber, nachdem fur die Reste mehrerer Vogteien zusammen
das Provinzialhof- und landgericht eingesetzt ist, die polizei-
lichen, militarischen und wirthschaftliohen Befugnisse werden hin-
fort von den Vorstehern der grosseren Landesbezirke, den Landes-
haoptleuten, versehen, die finanzielle Thatigkeit ist schon friiher
an einen Unterbeamten , den Kastner, iibergegangen. Der
Verf bespricht darauf die Unterbeamten des Vogts: Kastner,
Schosser, Zollner, Landreiter (das eigentliche Executivorgan) und
die Dorfechulzen der landesherrlichen Dorfer und Aemter, und
geht dann zu den hoheren Gewalten fiber, welche ursprfinglich
fiber den Vogten entstanden sind und auf welche dann der
grossere Theil der Befugnisse derselben iibergegangen ist, zuerst
zu der Landeshauptmannschaft. Dieselbe war in den unruhigen
Zeiten des 14. Jahrhunderts , und zwar zunachst in den am
meisten bedrohten Grenzprovinzen, entstanden, war spater aber
auch in den anderen Landestheilen eingeffihrt worden und zwar
so, dass der Inhaber der bedeutendsten Vogtei der Provinz die
Oberleitung dieser in ihrer Gesammtheit erhielt, im 15. Jahr-
hundert gab es so besondere Landeshauptleute in der Altmark,
Priegnitz, Mittelmark, Neumark und Uckermark. Der Geschafts-
bereich des Landeshauptmannes ist sehr ausgedehnt, er hand-
habt die Polizei, ferner hat er jurisdictionelle Befugnisse, er ist
der Vorsitzende in dem Quartalgericht seiner Provinz und fibt
zugleich als Vertreter des Landesherren die Gerichtsbarkeit fiber
die schlossgesessenen Geschlechter sowie eine ausgedehnte schiods-
richterliche Thatigkeit aus , endlich hat er die Controlle fiber die
gesammte Justizverwaltung in seiner Provinz. Er ist das mili-
tarische Oberhaupt derselben und hat endlich auch die Oberaufsicht
fiber die gesammte Finanzverwaltung. Das Amt ist also ein
einflussreicher Vertrauensposten , doch wird dasselbe in seiner
Selbstandigkeit beschrankt, einmal durch den Landesherren,
deggen Zustimmung bei wichtigeren Dingen der Landeshauptmann
oinzuholen hat, andererseits durch die Stiinde, welche auf ihren
Landtagen fiber Dinge aus der gesammten Amtsthatigkeit des-.
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234 Isaacsohn, Dr. S., Geschichte dos Preussiscken Beamtenthums.
selbon berathen, ausserordentliche Geldmittel bewilligen, rich
iiber Missbrauche beschweren und auch Einfluss auf die Be-
sotzung des Amtes gewinnen. Um die Mitte des 16. Jahrhun-
derts aber geht auch dieses Amt in den moisten Provinzen ein,
es erhalt sioh spater, aber auch nicht mehr regelmassig besetzt,
nur noch in der Alt- und Uckermark. Es folgt dann eine Be-
sprechung der der Controlle des Landeshauptmanns untergebenen
Provinzialbeamten, der Forst- und Jagd-, der Deich-, der Miinz-
beamten und der Geleitsleute. Feraer werden noch die ausser-
brdentlichen Beamten behandelt, welche in der Abwesenheit oder
wahrend der Minderjahrigkeit des Landesherren die Stellver-
tretung fiir denselben gefuhrt haben (theils einzelne obente
Hauptleute oder Statthalter, theils ein Regentschaftsrath mit
einem Statthalter an der Spitze), zum Schluss dann noch die
Behorden der Neumark, welche Landschaft, auch nach ihrer
Wiedervereinigung mit der Kurmark 1535, eine besondere Re-
gierung, bestehend aus einem Regierungscollegium , mit einem
Kanzler an der Spitze, und einer Amtskammer, behalten hai
Der dritte Abschnitt handelt yon den standischen Beamten,
zunachst von denen in den geistlichen Stiftern, auf den Besitz-
ungen des Adels und in den Stadten selbst. In den letzteren
wird, seitdem ihre Autonomic durch die ersten Hohenzollern
gebrochen ist, der Stadtrath nur aus den Goschlechtern besetit
und von dem Landesherren bestatigt, an seiner Spitze stehen
ein oder mehrere Biirgermeister , ihm untergestellt sind Unter-
beamte (der Stadtschreiber und die Stadtdiener). Dann aber
werden diejenigen standischen Collegien durchgenommen, welche
seit Joachim H die Verwaltung der von den Standen fiir
die Schuldentilgung bewilligten directen und indirecten Steuern
leiten, die Verordneten fiir den Stadtschoss, den Hufenschoss und
das Neue Biergeld.
Der vierte Abschnitt : „Die Justizbeamten" enthalt in seinem
ersten Theile eine Darstellung der markischen Gerichtsverfassung
des 15. Jahrhunderts. Damals wird die Gerichtsbarkeit in erster
Instanz ausgeiibt in den Dorf-, Stadt- und den Provinzialhof-
gerichten, die letzteren sind fiir alle Klagen gegen Ritterbiirtige,
gegen Pralaten und ganze Stadtgemeinden das zustandige Forum,
alle bestehen aus einem Vorsitzenden (dem Dorfsohulzen , dem
Stadtrichter und dem Hofrichter) und einer Anzahl den Parteien
ebenbiirtigen Beisitzern. Die zweite Instanz bilden fiir Bauem
die Landgerichte in den einzelnen Provinzen, bestehend aus einem
auf Lebenszeit gewahlten Landrichter und einer Anzahl von
Landschoffen (Dorfechulzen) ; allmahlich seit dem 15. Jahrhun-
dert (zuerst in der Uckermark) verschmilzt dieses Provinzialland-
mit dem Provinzialhofgericht entweder vollstandig, oder doch so,
dass beide Geriohte dieselben Beisitzer haben, aber noch in Com-
petenz und Zeit getrennt bleiben. Die zweite Instanz fiir Rechts-
sachen von Biirgerlichen und Ritterbiirtigen ist das Gericht in
des Markgrafen Kammer. Dieses verschmilzt daun seit der
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Iaaacsohn, Dr. S., Geschkhte des Preussischen Beamtenthums. 235
Verlegung der kurfurstlichen Residenz nach Coin a. Sp. (seit
c 1450) mit dem ebendaselbst tagenden mittelmarkischen Pro-
rinaalhofgeiicht. Unter Joachim I. erhalt dieses Gericht daun
1516 eine neue Organisation durch den Entwurf einer Kammer-
gerichtsordnung , welche 1540 auch durch die Stande formlich
anerkannt wird; allmahlich im Laufe des 16. Jahrhunderts
werden dann auch in den anderen Provinzen ahnliche hohere
Gerichtshofe eingerichtet : das altmarkische und das ucker-
miirldfche Quartalgericht und das nQumarkische Hof- und Kammev-
gericht.
Das Hof- und Kammergericht zu Coin a. Sp. ist hinfort das
Fonun fiir die Eximirten, ferner zweite Instanz fur Appellationeu
aus der Mittelmark, endlich dritte Instanz fur die Dorfgeriohte
dieser Proyinz und fur Appellationen aus den anderen Marken.
Vomtzender ist als Stellvertreter des Markgrafen der Kanzler,
das Gericht hat 12 Beisitzer (4 kurfiirstliche Rathe und 8 von
den Standen prasentirte und von dem Kurfiirsten bestatigte Per-
sonen), mindestens 2 derselben miissen Doctores juris sein. Ferner
sind diesem Gericht ein Generalfiskal und einige Procuratoren
und Anwalte beigegeben. Das alt- und das uckermarkisohe Quartal-
gericht bestehen aus dem Landeshauptmann als Vorsitzenden,
einem Hof- und Kammergerichtsrath und einigen Provinzial-
beamten und Vertretern der Stande als Beisitzenden, es ist erste
Instanz fur Adliche, sowie fiir ganze Stadt- und Dorfgemeinden,
und iibt zugleich eine mit dem Provinzialhof- und landgericht
concurrirende Gerichtsbarkeit in alien burgerlichen und pein-
lichen Sachen aus, die ohne formlichen Process zu entscheiden sind.
Der fiinfte Abschnitt handelt von den Beamten in der
Kirchen- und Schulverwaltung. Durch die Reformation ist der
Knrfurst das Haupt der Landeskirche geworden. Diese erhalt
ihre Organisation durch die Kirchenordnung von 1540, die
Durchfiihrung derselben geschieht vermittelst der seit 1573 stan-
digen Visitationen. An der Spitze der Kirchenverwaltung steht
der Generalsuperintendent, er hat den Vorsitz in dem aus geisk-
lichen und weltlichen Beamten zusammengesetzten Visitations-
collegium und zu Anfang (bis 1566) auch in dem geistlichen
Con8istorium, welchem die Entscheidung in Glaubens- und Ehe-
sachen, die Ausfuhrung der auf den Visitationen beschlossenen
Massregeln, und die Bestrafung kirchlicher Vergehen zusteht.
Innerhalb der einzelnen Gemeinden sind die Organe der Kirchen-
verwaltung: der Pfarrer, Kaplan (Hiilfsprediger), Kiister, ferner
die Kastenherren und Hospitalvorsteher (Gemeindebeamte fur die
Verwaltung des Kirchenvermogens). Die Oberaufsicht iiber alio
Kirchenbeamten eines grosseren Kreises fiihrt einer der Geist-
lichen desselben als Inspector. Angeschlossen ist eine kurze
Schilderung des Schulwesens und der Verhaltnisse der Landes-
universitat Frankfurt a. 0.
In dem letzten sechsten Abschnitt werden die Verfassung
und die Beamten der Landesvertheidigung besproehen. Das
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236 Isaacsohn, Dr. S., GeBchichte des Preussiachen Beamtenthums.
Kriegsheor besteht auch in Brandenburg aus der reisigen Lehns-
mannschaft und der Stadtmiliz, auch fur Artillerie und Train
haben die Stadte zu sorgen. Doch ist in Folge der langen
Friedenszeit im 16. Jahrhundert die ganze Kriegsverfassung ver-
faHen, 1588 zahlt das ganze Aufgebot nur c. 1700 Reiter und
2500 Fusssold&ten. Die Controlle iiber die reisige Mannschaft
iiben Musterherren, iiber die stadtischen Milizen Musterer (stan-
dige Beamte). Im 16. Jahrhundert werden in den Marken auch
die ersten Festungen nach dem neuen, dem Geschiitzwesen ent-
sprechenden System angelegt, zuerst durch Markgraf Hans in
der Noumark Ciistrin und Peiz, dann (1560) durch Joachim IL
Spandau, dazu kommt noch im Anfang des 17. Jahrhunderts
Driesen. Das Commando in diesen Festungen fiihrt ein Ober-
hauptmann und unter ihm ein Festungscommandant , sonstige
militarische Befehlshaber werden nur ausserordentlich bestellt.
Der zweite Band behandelt die Zeit von der Begrundung des
Geheimen Rathes bis zum Regierungsantritt Konig Friedrich Wil-
helms I. (1604—1713). Er ist in Anlage und Ausfiihrung von
dem ersten sehr verschieden. Der Verf. hat einmal, wie schon
bemerkt, hier seine Aufgabe weiter gefasst, er stellt nicht nur
das Beamtenthum, sondern auch mehr oder minder ausfiihrlich
die Verwaltung und die innere Politik des brandenburgisch-
preussischen Staates wahrend jenes Zeitraumes in ihrer Ent-
wickelung dar, er hat andererseits auf jene schematische Be-
handlung, die er in dem ersten Bande durchgefiihrt hat, ver-
zichtet, die unwichtigeren Kategorien des Beamtenthums , die
Hof- und ebenso die niederen Verwaltungsbeamten , werden nur
ganz beilaufig beriicksichtigt, vielmehr alles Gewicht auf die
Darstellung der Entwickelung der leitenden Staatsbehorden und
der Thatigkeit derselben gelegt, das allmahlich immer reichlicher
fliessende Material hat es dem Verf. auch ermoglicht, mehr das
personliche Element zur Geltung kommen zu lassen und durch
Eingehen auf die Lebensverhaltnisse und die Wirksamkeit der
bedeutenderen Manner zugleich der Darstellung mehr Leben und
Farbe zu verleihen. Der ganze Band ist in drei grossere Abschnitte
eingetheilt, der erste derselben umfasst die Zeit von 1604 bis
1640, bis zum Regierungsantritt e des Grossen Kurfursten. Inner-
halb desselben schildert ein einleitendes Gapitel zunachst die
Verfassung und Verwaltung der Marken zu Anfeng der Regierung
des Kurfiirsten Joachim Friedrich, vor allem die Machtstellung,
welche dort die Landstande sowohl gegeniiber der Landes-
regierung, der sie als mitbeschliessender und mitregierender
Factor zur Seite stehen, als auch ihren Unterthanen, den Bauern,
gegeniiber erlangt haben, welche ihnen so gut wie schutzlos zur
Ausbeutung iiberlassen sind. Zugleich wird in dieser Einleitung
auch kurz die Verfassung und Verwaltung der beiden Lander,
deren Anfall an Brandenburg schon unter Joachim Friedrich in
Aussicht steht, desHerzogthumsPreussenund der Jiilich-Cleveschen
Lande vorgefuhrt. Die Zustande in beiden sind denen der Mark
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Isaacsolin, Dr. S., Geschickte des Preussischon Beamtenthums. 237
sehr ahnlich. In Preussen ist die Regierung ebenso beschrankt
(lurch ihr Lehnsverhaltniss zu Polen wie durch die Macht der
Stande, doch ist die vorher ganz zerriittete Verwaltung schon
durcb den Curator Georg Friedrich von Anspach (1578 — 1603)
reformirt worden, durch ihn sind die verschiedenen Verwaltungs-
gebiete: Regierung, Rechtsprechung und Kammerverwaltung ge-
sondert, die Macht der Regimentsrathe beschrankt, die sehr com-
plicirte Verwaltung vereinfacht, die Kammerverwaltung geordnet,
die Einkiinfte vermehrt worden. Auch in den cleveschen
Landen war zuletzt die Landesregierung in grosse Abhangigkeit
von den Standen gerathen , an der Spitze derselben stand ein
Geheimer Rath, das Land war eingetheilt in Landdrosteien und
Aemter, Justiz und Verwaltung waren schon getrennt.
Das erste Capitel hat dann dieBegriindung des GeheimenRathes
zom Gegenstande. Gerade im Hinblick auf die neuen Aufgaben,
welche durch jene Anwartschaften dem Staate gestellt werden,
beruft Kurfurst Joachim Friedrich eine Anzahl seiner vertrauten
Rathe und zwei ^pgesehene Vertreter der neu zu erwerbenden
Lande zu einem geschlossenen Regierungscollegium und erlasst
fur dasselbe am 13. December 1604 die Geheimeraths-Ordnung,
welche die Grundlage auch fur die spatere Organisation desselben
geblieben ist. Der Verf. theilt dieselbe hier (S. 24—29) in
ihrem vollstandigen Wortlaute mit und kniipft daran Bemer-
kungen theils iiber die Personlichkeiten , aus welchen jene Be-
horde zusammengesetzt wird, theils iiber den sehr umfassenden
Wirkungskreis und auch iiber die Mangel in der Organisation der-
selben, namentlich weist er darauf hin, wie leicht durch einzelne
hervortretende Personlichkeiten die schlecht befestigte Collegialitat
erdriickt werden konnte.
Die nachsten vier Capitel schildern die Entwickelung, welche
die einzelnen Zweige der Verwaltung in dieser Periode erfalu'en
baben, zuniichst die Wehrverfassung. Nachdem die Noth des
dreissigjahrigen Krieges auch Brandenburg (zuerst 1626) zur
Anfetellung einer allerdings sehr geringfiigigen geworbenen Kriegs-
macht veranlasst hat, setzt Kurfurst Georg Wilhelm fur die
Witung derselben einen Kriegsrath ein, welcher an&ngs nur aus
Civilisten besteht, zu dem dann aber auch Kriegsobersten hinzu-
gezogen werden. Spater wird diese Behorde beseitigt durch
Schwarzenberg, welcher in der letzten Zeit Georg Wilhelms eine
Art von Dictatur ausiibt und auch das Kriegswesen seibstiindig
mit einigen ihm ganz ergebenen Unterbeamten leitet. Die
Kammerverwaltung, mit welcher sich das dritte Capitel be-
schaftigt, erfahrt dadurch eine erhebliche Veranderung, dass von
den beiden Behorden, welche dieselbe in den Marken leiten, der
Amt8kammer und der Hofrenthei, die erstere 1615 zu einem
Collegium umgewandelt wird, dessen President auch die Aufsicht
fiber den Hofstaat erhiilt. Doch veranlassen die Kriegsnoth und
& trotzdem gesteigerten Ausgaben des Hofhaltes grosse
ET8chi^fnng der Finanzen, dasselbe traurige Resultat hat auch
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238 Isaacsolin, Dr. S.t Geschichte dos Prcuasischen Beamtenthmbs,
die Kammerverwaltung in Preussen und auch in Geve-Mark,
wo zu jenen allgemeinon verderblichen Ursachen auch noch das
eigenniitzige Walten der Beamten (insbesondere in Preussen der
Regimentsrathe , in Cleve Schwarzenbergs) hinzukommt. Das
vierte Capitel besch&fiigt sich mit dem Gerichtswesen. Dasselbe
bleibt in den Marken in der Hauptsache unverandert, Versuche
zur Feststellung eines Landrechts scheitern an dem eigenniitzigen
Widerstreben sowohl der Stande aJs auch der Verwaltungs-
behorden. Die oberste Leitung der Justiz hat zu Anfang noch
der Kanzler, spater seit c. 1600 der diesem zur Seite stehende
Vicekanzler, welcher namentlich auch den Vorsitz im Kammer-
gericht und die Entscheidung der an den Kurfursten gehenden
Beschwerden crhalt In Preussen erfolgt 1620 auf Grundlage
der Vorarbeiten Markgraf Georg Friedrichs die Publicirung eines
Landrechts. Das funfte Capitel handelt von .den kirchlichen Ver-
haltnissen. Schon unter Kurfurst Joachim Friedrich und noch
mehr seit dem Bekenntnisswechsel Johann Sigismunds machte sich
am Hofe und im Bathe der Kurfursten eine gemassigte Richtung
geltend, welche die Gleichberechtigung der beiden protestan-
ti8chen Confessionen durchzufuhren suchte , welche aber , von
dem in der Kirche und im Lande herrschenden strengen Luther-
thum auf das heftigste angefeindet wurde. Der anfangliche
Versuch Johann Sigismunds, eine paritatisch besetzte oberste
Kirchenbehorde zu begriinden, scheiterte an dem Widerstande
der lutherischen Geistlichkeit, der dann 1614 nur aus reformirten
Rathen zusammengesetzte Kirchenrath gerieth in heftige Con-
flicte mit dem Consistorium und guig bald ein, endlich, 1634,
gclang es dann doch das Consistorium zu einem paritatisch be-
setzten Collegium umzuwandeln. In dem letzten sechsten Capitel
schildert der Verf. zunachst im Allgemeinen den Character des
Beamtenthums dieser Periode (die Schranken des Indigenats und
der Orthodoxie sind durchbrochen, auch fremde tiichtige Krafte
sind herangezogen , bei der- oftmaligen Abwesenheit der Kur-
fursten und der Schwache Georg Wilhelms hat das Beamten-
thum grossere Selbstandigkeit erlangt, aber zugleich machen
sich ehrgeiziges Hervortreten Einzelner, Parteiungen, Intriguen
und Cliquenwesen in demselben geltend),. und er geht dann
genauer auf die Lebensverhaltnisse der hervorragendsten Mit-
glieder desselben, namentlich Schwarzenbergs und der verschie-
denen Mitglieder der Familie v. Knesebeck ein.
Der zweite Abschnitt, der Haupttheil dieses Bandes, handelt
von dem Beamtenthum in dem Staate des Grossen Kurfursten.
Ein einleitendes Capitel enthalt wieder eine Darstellung der
friiheren Verfassung und zugleich auch der neuen Einrichtung
der zu Anfang der Regierung Friedrich Wilhelms mit dem Kur-
staate vereinigten neuen Proyinzen, zunachst des Herzogthums
Pommern, wo 1654 mit den Standen eine Regierungsform ver-
einbart wird, kraft deren dem standischen Element auch an den
Regierungsbehorden , namentlich dem geistlichen Consistorium
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Iaaacsohn, Dr. S., Geschichte des Preussischen Beamtenthums. 239
mid dem Hofgericht, der Appellinstanz , eia erheblicher Antheil
gelassen wird, dann der Grafschaft Ravensberg, wo der zu Anfang
1647 eingesetzte eigene Regierungsrath 1653 wiedor aufjgehoben,
zugleich aber als hochste Gerichtsinstanz ein oigenes ravens-
bergisches Appellationsgericht in Coin a. Sp. begrundet wird,
dann der Fiirstenthiimer Minden, Halberstadt und Magdeburg,
wdche alle eine eigene Regierungsbehorde unter einem Statt-
halter erhalten, wo aber ebenfalls den Standen ihre privilegirte
und einflussreiche Stellung gewahrt bleibt. Die drei1 ersten Ca-
pitel behandeln dann die Reform der Staatsverwaltung durch
den Grossen Kurfiirsten wahrend der Jahre 1640 — 1660. Der
Kurfurst beginnt damit, dass er die bisherigen leitenden Person-
lichkeiten, Schwarzenberg und seine Creaturen, entfernt, und
dass er die ganz unvollstandig besetzten Regierungsbehordon,
namentlich den Geheimen Rath, erganzt oder neu besetzt, vor
Allem wendet er seine Sorge den Finanzen zu, durch eine all-
gemeine Revision der Kammerverwaltung werden die Schaden
derselben aufgedeckt und es wird mit einzelnen Reformen be-
gonnen. Der Kurfurst bildet sich dann allmahlich einen neuen
Kreis von Rathen, denen er seine eigenen reformatorischen Ideen
einpflanzt, wahrend die alteren Rathe, die zu Anfang sein Ver-
trauen geniessen, aber dem alten Systeme anhangen (namentlich
der Kanzler v. Gotze und der die verschiedensten Aemter und
Warden in seiner Person vereinigende C. v. Burgsdorff), zuriick-
treten. In^den Jahren 1651 und 1652 (Capitel 2.) unternimmt
Friedrich Wilhelm hauptsachlich unter dem Einfluss des 1651
in den Geheimen Rath getretenen Grafen Waldeck durch-
greifendere Reformen. Er erlasst (4. December 1651) die neue
Geheimerathsordnung , durch welche zuerst eine Departements-
bildung innerhalb der hochsten Behorde eingefiihrt wird, alle
Geschafte werden in 19 Departements eingetheilt und jedes der-
selben einem vortragenden Rathe iibertragen, zugleich aber ver-
sncht der Kurfurst durch Einsetzung Blumenthals zum verant-
wortlichen Director des Geheimen Rathes dieser Behorde eine
einheitliche Leitung zu geben. Doch wird Blumenthal schon
1653 als Gesandter nach Regensburg geschickt und er erhalt in
den nachsten Jahren keinen Nachfolger. Gieichzeitig erfolgt eine
systematische Reform der Kammerverwaltung dadurch, dass die
biaherige Natural- in Geldwirthschaft verwandelt, zugleich die
Kassenverwaltung geordnet und durch Verringerung des Hofhalts
und der Beamten bedeutende Ersparnisse gemacht werden. Noch
weitergehende Reformvorschlage v. Pfiiels (gerechtere Feststellung
der Steuerquoten auf Grund statistischer Aufiiahmen, Heranziehen
auch der Ritterschaft, Uebergang der Steuerverwaltung von den
landstandischen an landesherrliche Behorden) und Waldecks
(Einfuhrung einer allgemeinen Verbrauchssteuer und Verpachtung
der Zolle) scheitern damals an dem gemeinsamen Widerstande
der Stande und der Mehrzahl der Rathe. Der Kurfiirst tiber-
^ragt 1656 die einheitliche Leitung der Finanzen an R. v. Canstein,
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240 Isaacsolm, Dr. S., Geschichte des Preussischen Beamtonthtuns.
ebenderselbe erhalt bald darauf auch das Commerz- und In-
du8triedepartement und wirkt auf beiden Gebieten far weitere
Reformen. Seit 1651 wird dann auch die Hebung von Wohl-
stand und Cultur in systematischer Weise in Angriff genommen:
durch Heranziehen von Colonisten, Begiinstigung der Industrie,
Auf hebung der meisten Staatsinonopolien; ein wichtiges For-
derungsmittel ist auch die Einrichtung der Post (seit 1654),
welche unter der Leitung von M. Mathias bald eine fiir jene
Zeit mustergiiltige Organisation erhalt und dem Staate auch
erhebliche Ueberschiisse einbringt. Der abschliessende Schritt
in dieser Reformthatigkeit ist die Ernennung Ottos von Schwerin
zum Oberprasidenten aller Behorden (1658). Das vierte Capitel
ist iiberschrieben : Beamtenthum und Stande. Der Verf. schildert
in demselben den Antheil, welchen das von dem Kurfursten
horangebildete Beamtenthum an den Kampfen desselben mit dec
Standen genommen hat, er zeigt aber auch, wie doch ein grosser
Theil auch der hochsten und dem Fursten vertrautesten Beamten
sich noch nicht von den Vorurtheilen ihres Standes frei gemacht
hat, wie, wenigstens zum Theil dadurch veranlasst, unter den
Rathen, namentlich zur Zeit Waideoks, Parteiung und Verbitterung
geherrscht und wie spater auch Schwerin, eifersiichtig auf seine
oberste Stellung, sich gegen andere Rathe ungerecht gezeigt hat
In den nachsten vier Capiteln wird dann die Entwickeiung der
einzelnen Verwaltungszweige , zunachst (Capifei 5.) die Organi-
sation des Heerwesens und die damit im Zusammenha#g stehende
Veranderung der Steuerverfassung, dargestellt, insbesondere die
Entstehung und Entwickeiung derjenigen Behorde, welche das
eigentliche Organ sowohl fiir die Heeres- als auch fur die
Steuerverwaltung wird, des , Kommissariats. In Brandenburg
finden sich seit den ersten Zeiten des dreissigjahrigen Krieges
zwei Arten von Kommissaren: Kriegskommissare, Intendantor-
beamto bei den Armeen, und Land- oder Kreiskommissare, stan-
dische Beamte, welche das Interesse des Landes bei Auf bringung
des Heeresunterhalts zu wahren haben. In der letzten Zeit
Georg Wilhelms und der ersten seines Nachfolgers bleiben nur
die letzteren bestehen, sie sorgen in den einzelnen Kreisen fur
die Verpflegung der fremden und eigenen Truppen und suchen die
Unterthanen gegen Excesse derselben zu schiitzen. Bei der Neu-
bildung des brandenburgischen Heeres (seit 1645) wird dann
fur die Heeresverwaltung das Kriegskommissariat wiederber-
gestellt, in jedem der drei Militarbezirke , in welche der Staat
eingetheilt wird, wird dem. Gouverneur ein Oberkommissar bei-
gegeben. Nach Beendigung des nordischen Krieges und Ein-
fiihrung des stehenden Heeres (1660) wird dann an die Spit#
der gesammten Heeresverwaltung ein General-Kriegskommissariat
als standige Behorde gestellt und diesem ebenfalls standige Ober-
kommissare in den einzelnen Landen (Kur-, Neumark, Pommem,
Cleve-Mark und Preussen) untergeordnet. An diese Kriegs-
kommissare geht dann abej auch nach langwierigen Verhandlung^J1
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Isaacsohn, Dr. S., Geschichto des Prcussischen Beamtentkums. 241
mitdenStanden die Verwaltung der Steuern, welche fiir dieErhaltung
desHeeres bestimmt sind, in den meisten Provinzen der Accise, iiber.
Erne Polge davon ist, dass das Beamtenpersonal vermehrt, dass in
einigen Provinzen (Cleve-Mark und Preussen) die Kriegskommissa-
riate schon collegialisch eingerichtet werden, andererseits aber, dass
dieSteuerverwaltungiiberhauptallmalilichmehrund mehrunter die
Leitung landesherrlicher Beamten kommt. Die urspriinglich nur
fir die Verwaltung der Accise in den einzelnen Stadten ein-
gesetzten Steuerkommissare erhalten die Controlle iiber die ge-
slmmte stadtische Finanzverwaltung und die Sorge fiir die
Hebung des Wohlstandes der Stadte. Ebenso wie in den Marken
wird diese Acciseverfassung wahrend der spateren Zeiten des
Grossen Kurfiirsten auch in den meisten anderen Provinzen,
zuletzt 1684 auch in Preussen eingefiihrt, nur in Cleve-Mark ist
dieselbe erst spater (1715) zur Durchfuhrung gekommen. Das
sechste Capitel enthalt sehr interessante Mittheilungen iiber den
aoswartigen Dienst unter dem Grossen Kurfiirsten, iiber die
verschiedenen Arten von diplomatischen Vertretern desselben im
Auslande, iiber Stellung und Auftreten derselben, iiber die Expe-
dition der diplomatischen Corresponded, iiber die Kosten dieser
diplomatischen Vertretung iiberhaupt und iiber die Besoldung
der verschiedenen Klassen von Gesandten. Das siebente Capitel
beschaftigt sich mit der Justizverfassung. Die Bemiihungen des
Kurfiirsten, den Hauptiibelstanden , welche sich in derselben
geltend machen, der TJnsicherheit der Competenz der verschie-
denen Gerichte und des Rechtes selbst, abzuhelfen, sind in den
Marken selbst in Polge des eigenniitzigen Widerstandes der
Stande in der Hauptsache erfolglos, nicht einmai die Sanctionirung
einer neuen Kimmergerichtsordnung kann er erreichen. Fiir
die Oberleitung der Justiz wird 1658 dem Geheimen Rathe
eine besondere Justizcommission, „der Geheime Rath zu den Ver-
horen", zugleich als Revisions- und Oberverwaltungsgericht zur
Seite gesetzt. In Preussen wird 1661 eine neue Gerichtsver-
^88ung (Hofgericht, Hofhalsgericht und Oberappellationsgericht)
mit den Standen vereinbart. In Cleve-Mark wird die Competenz
der Regierung und des Hofgerichts abgegrenzt und als dritte
Iiistanz eine Commission aus zwei Mitgliedern der Regierung und
ebensovielen Richtern des Hofgerichts eingesetzt, die in Angriff
genommene Reform der Gesetzgebung dagegen wird auch hier
durch die Stande verschleppt. Das achte Capitel endlich han-
delt von der Kirchenverwaltung. Dem Kurfiirsten gelingt es,
das Ziel, welches er und seine gleichgesinnten Berather ver-
folgen: Herstellung der Paritat fur die drei reichsrechtlich aner-
kamiten Confessionen und Toleranz fiir die anderen Secten in
der Hauptsache zu erreichen, er wahrt mit grosser Entschieden-
heit seine Rechte als summus episcopus, Einsetzung des Kirchen-
regiments und Controlle iiber die einzelnen Gemeinden. Das
Consistorium wird mit gemassigten Mannern besetzt, und so
^irken in demselben die lutherischen und reformirten Mitglieder
MttthoOttafca ft. d. htator. Litterator. VL 16
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242 Isaacsobn, Dr. S., Geschichto dea Preassiscben Beamtenthuma.
meist friedlich zusammen. Die Befiignisse des Consistorial-
prasidenten werden erheblich gesteigert, er wird auch Mitglied
des Geheimen Baths, erhalt die Ausfiihrung der in diesem tiber
kirchliche Angelegenheiten gefassten Beschliisse und wird so der
Leiter des gesammten Kirchenregiments.
Der dritte Hauptabschnitt behandelt das preussische Be-
amtenthum unter Friedrich HI./L (1688—1713). In einer
Einleitung wird zunachst die grosse Veranderung geschildert,
welche der Thronwechsel fiir die gesammte Staatsverwaltung
herbeifuhrt. Der neue Furst kiimmert sich wenig urn dieselft,
uberlasst sie seinen Rathen und Dienein, urn so mehr machen
sich jetzt unter diesen die bisher durch die Personlichkeit des
Grossen Kurfiirsten in Zaum gebaltenen Parteiungen und Intri-
guen geltend. Zum Gliick wird in der ersten Haifte der Be-
gierung Friedrichs in Eberhard Dankelmann ein tuchtiger und
erfabrener Mann an die Spitze der Verwaltung gestellt , der im
Verein mit gleichgesinnten und ebenfalls tuchtigen Mannern
(Grumbkow, Ludolf Dankelmann, Knyphausen) die Bestrebunga
des Grossen Kurfiirsten fortzusetzen sucht. Die Capital 1.— 4
schildern dann die Verwaltung in der Dankelmannschen Periode,
zunachst Capitel 1. die neue Organisation des Geheimen Baths.
Dankelmann, gleich bei dem Thronwechsel zum Mitgliede, 1695
als Oberprasident aller Collegien zum Director desselben ernannt,
befordert, schon um seine eigene verantwortliche Stellung zu er-
leichtern, die regulare Geschaftsbehandlung in demselben, er
hilft zugleich der mangelhaften Geschaftsvertheilung dadurch ab,
dass er ihn aus den einzelnen Departementschefs, und zwar nur
aus diesen , zusammensetzt , yon denen ein jeder fiir sein Fach
das B^ferat erhalt. Capitel 2. schildert dann die weitere Ent-
wickelung der Kammerverwaltung. Die Leitung derselben ist
von 1683 — 1698 in den Handen Dodos v. Knyphausen, durch
ihn wird zuerst die Aufstellung eines allgemeinen Etats durch-
gefiihrt, auf sein Betreiben wird ferner die Verwaltung verandert
durch Griindung des Hof kammercollegiums (1689), dessen Leitung
er selbst mit Dankelmann zusammen erh<. Die schon durch
den Grossen Kurfiirsten begonnene Verpachtung der Domanen
wird weiter fortgefiihrt, mannichfache andere Reformen ins
Werk gesetzt. Capitel 3. schildert die Heeresverwaltung , an
deren Spitze als Generalkommissar zuerst J. E. v. Grumbkow
(1679—1690) und dann der schon fruher demselben beigegebene
D. L. v. Dankelmann (1691 — 1709) stehen, auch sie wirken im
Sinne des Grossen Kurfiirsten weiter, namentlich wird durch
sie die Kommissariatseinrichtung auch in den mittleren Provinzen
eingefiihrt und das Generalkommissariat collegialisch organisirt.
Capitel 4. behandelt den Antheil, welchen das Beamtenthum,
namentlich Dankelmann selbst, und neben ihm Spanheim und
Fuchs, an den Culturbestrebungen dieser Zeit (Aufnahme der
Refugi6s, Gestaltung ihrer eigenthiimlichen Earchenverfessunft
Toleranz, Duldung auch freigeistiger Richtungen, Griindung der
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V
Isaacsohn, Dr. S., Geschichte des Preussischen Beamtenthums. 243
Umyersitat Halle) genommen hat. Im fiinften Capitel wird dann
der Sturz Dankelmanns und seiner Genossen besprochen. Die
Hauptursache desselben erkennt der Verf. in der in Folge des
franzosischen Krieges eingetretenen Finanzcalamitat , welche es
unmdglich macht, die immer holier gesteigerten Anspriiche des
Hofes zu befriedigen. Er beleuchtet dann naher das gegen
Dankelmann angewandte Verfahren und weist auf Grund einmal
der Vertheidigung Dankelmanns selbst , andererseits der Zeug-
nisse des Amtskammerraths Weise und des hannoverschen
Agenten Ducros nach, dass die gegen ihn erhobene Beschuldigung
ungetreuer und eigenniitziger Amtsfiihrung unbegriindet gewesen
ist Die nachsten drei Capitel enthalten die Geschichte der
Verwaltung in der spateren Zeit Friedrichs HL/L Der Sturz
Dankehnanns und seiner Genossen ist hauptsa chlich durch den
Einfluss der hohen Hofbeamten (Kolbe- Wartenberg und Wylich-
Lottum) unter Mitwirkung einiger ehrgeiziger Geheimen Rathe
(Puchs und.Chwalkowski) erfolgt, und eben diese erhalten nun
die Leitung der Geschafte, namentlich der Finanzverwaltung. Die
friihere Hof kammer wird durch ein General-Domanen-Pirectorium
ersetzt, dessen Geschafte factisch durch Chwalkowski versehen
werden und welches dann vor Allem den Bediirfnissen des Hofes zu
geniigen sucht. Dasselbe schenkt geneigtes Gehor den Vor-
schlagen des friiheren Kammerraths Luben, weicher durch Ein-
fiihrung der Erbpacht bei den Domanen sowohl augenblicklichen
bedeutenden Gewinn, als auch dauernde Vermehrung der Ein-
kunfte verhebst. Sein System wird zunachst versuchsweise in
der Altmark, dann trotz heftiger Opposition von Seiten eines
gro8sen Theiles der Beamten auch in anderen Landestheilen
zur Ausfuhrung gebracht, jene Opposition wird durch einen von
Lubens Gonnern, Wartenberg und Wittgenstein, veranlassten
umfas8enden Personenwechsel gebrochen, und Luben halt sich
bis 1711. Er veranlasst manche wirklich vortheilhaften Re-
formen, aber sein System zeigt auch viele Mangel, und schliesslich
erfolgt 1711 sein Sturz zusammen mit dem seiner Gonner
Wartenberg und Wittgenstein, deren ungerechte und unredliche
Staatsverwaltung aufgedeckt wird. Darauf wird das Knyphau-
sensche System wiederhergestellt, das Domanen-Directorium wird
abgeschafflb, die Leitung der Finanzen dem Haupturheber des
Sturze8 Wartenbergs, v. Kameke, als Hofkammerprasident iiber-
tragen, an Stelle der Erb- tritt wieder Zeitpacht, die erhohten
Steuern werden wieder herabgesetzt , die Kosten des Hof halts
vennindert. An der Spitze der Heeresverwaltung (Capitel 9.)
hat bis zu seinem Tode (1709) D. L. v. Dankeimann gestanden,
8ein Nachfolger wird W. Blaspeil, doch wird dann auf Grund
eines Entwurfes des dem Kronprinzen nahestehenden Generals
P. W. v. Grumbkow 1712 das Generalkommissariat collegialisch
organisirt, Grumbkow erhalt zunachst als Director desselben
erne Blaspeil coordinirte Stellung, wird dann 1713 bei dem
Thronwechsel dessen alleiniger Leiter. Gleich nach der Konigs-
16*
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244 Isaacsohn, Dr. S., Goacliichte des Preussischen Beamtenthums.
kronung Friedrichs I. war auf Bitte der bisherigen Kreis-
kommissare denselben der Titel von Landrathen gegeben worden,
dieselben erhalten neben der Sorge fur die gleichmassige Be-
lastung der Unterthanen bei der Steuererhebung auch die land-
liche Polizei, die Verwaltung der Kreiskasse und die Sorge fur
Hebung der Cultur in ihrem Bezirke und werden so die Mittel-
instanz zwischen den Anspriichen des Militarstaates und den
landlichen Interessen. Auch auf dem Gebiete der Justizver-
waltung (Capitel 8.) erfolgt eine bedeutende Neuerung. Nach-
dem der neue Konig das Privileg de non appellando fiir alle
seine Reichslande erhalten hat, griindet er 1703 ein Ober-
appellation8gericht zu Coin a. Sp. fiir alle Theile der Monarchic,
demselben wird ein Generalfiscal beigegeben, welcher zugleich
die Controlle iiber alle Fiscalprocesse und iiber alle Fiscal-
beamten erhalt. Neben dem Oberappellationsgericht bleibt auch
der Geheime Justizrath, aber aus denselben Mitgliedern wie
jener zusammengesetzt, bestehen als Gericht fiir die Eximirten,
ah Kronsyndicat und Vorbereitungsinstanz fiir die Gesetzgebung.
Versuche, welche auch in dieser Zeit von Seiten der Regierung
unternommen werden, um eine neue Gerichtsorganisation und
eine Codification des Rechtes zu Stande zu bringen, sind auch
von geringem Erfolg. Das letzte neunte Capitel enthalt sehr
interessante Mittheilungen iiber die materielle und sociale Stelltuig
des Beamtenthums unter dem Grossen Kurfiirsten und dessen
Nachfolger. Der Verf. weist zum Schluss darauf hin, dass unter
Friedrich I. allerdings ein Verfall des Beamtenthums, veranlasst
theils durch das Ueberwiegen hofischer Factionen iiber die
geordneten Organe der Staatsverwaltung , theils durch Mangel
in der Organisation selbst, zu Tage trete, dass aber doch die
Masse der Beamten sich frei von der Ansteckung durch den
Hof, tiichtig und pflichtgetreu erhalten habe.
Wie schon zu Anfang bemerkt worden ist, sind diesem
zweiten Bande einige Urkundenbeilagen beigegeben worden, sie
enthalten: 1) die neue Geheimeraths-Ordnung vom 4. December
1651 , 2) Ottos von Schwerin Bestallung zum Oberprasidenten
aller Collegien (30. August 1658), 3) das Patent Christophs
v. Sparr als Feldmarschall (26. Juni 1657), 4) die Correspon-
ded F. v. Jenas und C. v. Blumenthals mit dem Grossen Kur-
fiirsten und dessen Rathen, betrefFend den Rangstreit mit dem
Geheimen Rath B. v. Gladebeck (1675—1678). Beiden Banden
ist ein Register der in denselben vorkommenden Personennamen
beigegeben.
F. Hirsch.
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Kottmannor, Max, Der Cardinal von Baiern. 245
LV.
Rottmanner, Max, Der Cardinal von Baiern. Hit Documenten
aus den Jahren 1736—1740. gr. 8°. (108 S.) Mtinchen
1877. Ernst Stahl. 2 M.
Herzog Theodor in Baiern, der jiingste Bruder des Kur-
ffirsten und nachmaligen Kaisers Karl Albert, erwarb nachein-
ander 1719, 1727 und 1744 die Bisthiimer Regensburg, Freising
und Liittich, wurde 1746 zum Cardinal promovirt und starb
1763. Der Cardinal von Baiern wiirde kaum Anspruch darauf
haben, ausserhalb der Territorialgeschichte genannt zu werden,
wenn nicht seine von keinem Erfolg begleiteten Bemiihungen
um die Wahl zum Bischofe von Augsburg 1737 einen Zu-
sammenhang mit einer brennenden Frage der hohen Politik
jener Zeit hatten, der in der vorliegenden Schrift dargelegt wird.
Herzog Theodor bedurfte, da er bereits andere Bisthiimer inne
hatte, um in Augsburg gew&hlt zu werden, eines papstlichen
Indultes; einen solchen zu Grunsten eines dem wiener Hofe
ergebenen Candidaten zu hintertreiben , gelang den gewandten
Bemiihungen des Vertreters Kaiser Karls VI. in Rom, des
Grrafen Johann Ernst Harrach. Aus den diplomatischen Acten
des Gresandten, welche auf Umwegen in die munchener Bibliothek
gelangt sind und dort von Herrn Rottmanner benutzt sind,
erfahren wir, dass die Curie ihre Entscheidung in dieser Ange-
legenheit von der Haltung des wiener Hofes in der jiilich-berg-
schen Erbfolgefrage abhangig machte. Kaiser Karl hatte 1728
dem Konige von Preussen fUr dessen Garantie der pragmatischen
Sanction den Besitz von Berg nach dem Tode des letzten Pfalz-
neuburgers gegen die Anspriiche des Hauses Pfalzsulzbach
gewahrleistet: Cardinal Corsini forderte nun 1737 eine Erklarung
von dem Grafen Harrach, ob der Kaiser Pfalzsulzbach oder ob
er das haretische Preussen bei Erledigung der niederrheinischen
Herzogthiimer zu begunstigen gedenke ; im letzteren Falle werde
der Papst die Wittelsbacher durch Begunstigung der Bewerbung
Herzogs Theodor um Augsburg entschadigen. Was man in
Wien darauf that, ist bekannt. Am 13. Januar 1739 (nicht
wie Rottmanner S. 30 sagt (Tctober 1738) schlossen der wiener
Hof und Frankreich jene Convention von Versailles behufs Re-
gelung der jiilich-bergschen Frage, die dem Berliner Vertrage
von 1728 direct widersprach und die in der Vorgeschichte des
ersten schlesischen Eiieges eine so bedeutsame Rolle spielt.
Berlin. Reinhold Koser.
LVI.
Bohtlingk, Dr. Arthur, Napoleon Bonaparte, seine Jugend und
sein Emporkommen bis zum 13. Vendemiaire. gr. 8. (XX,
338 S.) Jena 1877. Ed. Frommann. 5 M.
Wie hat sich Napoleon I. entwickelt ? Wie bildete sich jene
Alles umfassende Intelligenz, die aus ihm den grossen Feldherrn,
* Digitized by VnOOQ IC
246 Bohtlingk, Dr. Arthur, Napoleon Bonaparte.
Staatsmann , Administrator und Gresetzgeber machte? Woher
kam jene eiserne Energie des Willens, vor der sich erst
Frankreich, dann Europa beugen musste? Wie entstand jene
einzige Verbindung von Erhabenem und Niedrigem, von Harte
nnd Grausamkeit, unter der ein Welttheil zu leiden hatte, und
von Weichheit und Liebenswiirdigkeit , von der uns unverwerf liche
Zeugen berichten? — Es ist vielleicht das grosste Problem der
neueren Greschichte, welches diese Fragen beriihren, ein Problem,
um so schwieriger zu losen, als wir uns einem in seltener "Weise
mangelhaften Quellenmateriale gegeniibersehen. Napoleon L
selbst hat es verstanden, seine Jugend mit einem fast mystischen
Nebel zu umhiillen; was er selbst mittheilt, verdunkelt mehr,
als dass es aufklart; sein Neffe, der durch die Anregung zui
Herausgabe der Correspondance de Napoleon Ier fur die Gre-
schichte seines grossen Vorgangers das meiste gethan hat, fand
es nicht in seinem Interess*, jenes Dunkel aufzuhellen; die
Correspondance beginnt erst mit der Belagerung von Toulon.
Neben den bekannten Denkwiirdigkeiten von Marmont und
Bourrienne sieht sich deshalb der Forscher noch heute fast
allein auf drei alte Quellen angewiesen: das Werk des Baron
C o s t o n , der hauptsachlich die Anfange der militarischen Lauf-
bahn Napoleons erforscht und dargestellt hat; das Werk
Nasi c as, der auf Corsika Urkunden und Erinnerungen zur
Jugendgeschichte Napoleons gesammelt hat ; endlich ein Aufsatz
Libris, dem eine Anzahl Papiere aus der Zeit von 1786 bis
1793 zur Verfugung standen, aus denen er interessante aber
recht fluchtige Ausziige mittheilt. *)
Bei der Diirftigkeit dieses Materials, dessen Werth durch
mangelnde Kritik und durch Parteinahme noch verringert-wird, hat
Arthur Bohtlingk sich eine uberaus schwierige Aufgabe
erwahlt, indem er es unternahm, zum ersten Male die Ent*
wicklungsgeschichte des jungen Napoleon zusammenhangend und
eingehend darzustellen. Ohne selbst unbekanntes Material bei-
bringen zu konnen, hat er mit sorgsamem Fleisse das vorhandene
gesammelt, mit glttcklicher Kombinationsgabe das oft weit aus-
einander Liegende verkniipft, und so eine Darstellung der An-
fange Napoleons gegeben, die zwar, wie natiirlich, nicht aller
Liicken, selbst nicht innerer Widerspriiche entbehrt, aber jeden-
falls bei weitem die beste ist, welche wir jetzt iiber diesen an-
ziehenden Gegenstand besitzen. So viel ich sehe, ist ihm nur
eine autobiographische Aufzeichnung Pozzo di Borgos entgangen,
aus der sich u. A. das Datum 'der Flucht Napoleons von Corsika
entnehmen lasst. (Vergl. Archiv der russischen hist. Gesellsch.
Bd. H, 158 flg.)
x) Libri behauptet, das „brevet de capitaino de Napoleon signe* par
Louis XVI, ot qui porte la date du 30 aout 17924* gesehen zu haben, und
Bohtlingk kniipft hieran mannichfache Vermuthungen. Die Angabe Libris muss
aber auf einem Versehen beruhen, da Ludwig XVI. bekanntlich mit dem
10. August von seinen Functionen suspendirt war.
Digitized by UOOQ IC
Bohtlingk, Dr. Arthur, Napoleon Bonaparte. 247
Die Grandlage, auf der sich Darstellung und Auffassung
Bohtlingks erheben, ist die zuerst von Libri freilich etwas zag-
haft ausgesprochene Ansicht, dass Napoleon in seinen Jugend-
jahren ein leidenschaftlicher corsischer Patriot gewesen, der die
Franzosen als die Unterdriicker seines Vaterlandes verabscheute
und der nichts sehnlicher wUnschte, als ein zweiter Paoli nnd
der Befreier seiner Heimath von der Fremdherrschaft zu werden.
Bohtlingk erblickt in dem jungen Napoleon gleichsam eine
„Personifikation des Corsenthums, wie es von Prankreich in
Fesseln geschlagen war". Gewiss ist, dass die patriotisclien
Antriebe, mit denen das ungltickliche Schicksal seiner vater-
landischen Insel ihn erfiillte, dem Wesen des jungen Napoleon
Schwung und Inhalt gegeben haben. Dieser Anschauung ent-
sprechend, widmet B. seine drei ersten Kapitel der Geschichte
Coreikas, dann erst erzahlt er das Wenige, was wir von der
Kindheit und Schulzeit Napoleons wissen. Er halt sich fern
von der Wiederhohing schlecht beglaubigter Anekdoten, und be-
schrankt sich darauf, so weit es unsre fragmentarische Ueber-
lieferung gestattet, mit grossem Scharfsinn die innere Bildung
und Entwicklung des Jiinglings zu schildern. Vortrefflich ge-
lungen ist in dieser Hinsicht der „Studienzeitu bezeichnete Ab-
schnitt, in welchem der Einfluss, den Rousseau auf das Gemiith,
Kaynal auf die Gesinnungen Napoleons gehabt haben, nachge-
wiesen wird. Mit dem Eintreten der franzosischen Revolution
verwandelt sich wie mit einem Schlage die Lauf bahn Napoleons,
die sich bisher in nichts von der eines untergeordneten Offiziers
unterscheidet. Mit den patriotischen Impulsen in ihm, die auch
ferner auf Corsika gerichtet bleiben, verbinden sich demokratische
Leidenschaften. Sein Leben, bisher mehr innerlich, wird nun
anch ausserlich ein sehr bewegtes. Gestachelt von seinem langst
erwachten Ehrgeiz, verzehrt von unruhigem Thatendrange , ist
er unaufhorlich unterwegs zwischen Prankreich und Corsika, wo
es ihm gelingt, bei der neuen Ordnung der Dinge sich eine
Stellung zu eningen, die doch seinen Ehrgeiz mehr reizt, als
befriedigt. 1st er damals wirklich und ernsiiich damit umge-
gangen, Corsika von Frankreich loszureissen und sich zum Herrn
der Insel zu "machen ? Ich gestehe , dass ich trotz der scharf-
sinnigen Erorterungen von Bohtlingk nicht ganz davon uberzeugt
bin. Wie schon von kompetentester Seite her bemerkt ist, ver-
fahrt Bohtlingk bei seinen Beweisen kriminalistischer als es fur
den Historiker gut ist. (Vergl. die Anzeige unseres Buches von
Sybel in der hist. Zeitschrift 39,344). Ich mochte hinzu-
fugen, dass er die bei den neueren Historikern, namentlich bei
Sybel und Lanfrey, vorherrschende Auffassung Napoleons zu
sehr auf die Spitze getrieben hat. Bei Bohtlingk noch mehr
als bei seinen Vorgangern, ist Napoleon bei seinem ersten Auf-
treten fertig und vollendet, so wie einst Minerva dem Haupte
Jupiters entsprang ; von einer eigentlichen Entwicklung ist keine
Hede. Bohtlingk sieht in Napoleon von vornherein den Mann
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248 Bohtlingk, Dr. Arthur, Napoleon Bonaparte.
des Calculs; er lasst den jungen Lieutenant mit derselben Ver-
schlagenheit handeln, wie etwa der Kaiser 1808 in Bayonne ge-
handelt hat; er sagt gradezu, man miisse voranssetzen , dass
auch seinen anscheinend geringfiigigsten Handlungen die ver-
wegensten Entwiirfe zu. Grunde liegen (S. 194). Dass er sich
in Polge dieser Voreingenommenheit in Widerspriiche verwickelt,
war kaum zu vermeiden. Wenn z. B. Libri ein Bittschreiben
Napoleons zu Gunsten des geachteten Paoli mittheilt und seinen
edlen und kiihnen Sinn ruhmt, da er sich hierdurch einer unver-
kennbaren Gefahr ausgesetzt habe, so halt dagegen Bohtlingk
jenes Schreiben nur fur ein Partei-Manover ; in den pathetischen
Satzen desselben, die uns freilich deklamatorisch erscheinen, der
Beredtsamkeit des Sudlanders aber eigen sind, erbhckt er nichts
als eitel Heuchelei (S. 259). Wenige Seiten aber nachdem er
die Kuhnheit und Gefahrlichkeit jenes Schreibens geleugnet,
erzahlt er selbst, dass in Folge desselben ein Verhaftsbefehl
gegen Napoleon erlassen sei (S. 265). Auch darin liegt viel-
leicht ein Widerspruch, dass Napoleon, wie Bohtlingk sehr schon
nachweist, bis zum 13. Vendemiaire, also selbst nach der Er-
oberung von Toulon, sein Augenmerk fast ausschliesslich auf
Corsika gerichtet hielt, dass er aber schon damals sich nur von
kiihler Berechnung habe leiten lassen; ware dem so, so konnte
es ihm nicht verborgen bleiben, dass das durch die Revolution
umgestalteto Prankreich seinen Talenten einen ganz anderen
Spielraum darbieten musste, als das kleine Corsika. Genug,
unsere so diirftigen Quellen gestatten uns kaum mehr mit
Sicherheit zu sagen, als dass Napoleon damals in unruhiger und
deshalb oft widerspruchsvoller und fehlgreifender Thatigkeit be-
strebt gewesen ist, sich zur Geltung zu bringen und irgendwie
und irgendwo eine hervorragende Stellung zu erringen. Auch dar-
iiber sind wir nicht vollkommen aufgeklart, woher jene Entzweiung
mit Paoli entstand, durch welche die Pamilie Bonaparte aus
Corsika vertrieben wurde. War es personlicher Hader, der den
politischen Gegensatz hervorrief, oder brach der Zwist aus,
weil die Bonapartes sich auf die Seite der Pranzosen schlugen?
Sehr schon sind die Bemerkungen Bohtlingks iiber die Polgen,
welche sich fiir Napoleon daraus ergaben, dass'er allmaMich
aufhorte Corse zu sein, ohne doch vollig Franzose zu werden.
Mit dem Vaterlande verlor er den letzten sittlichen Halt, der
seinem grenzenlosen Ehrgeiz vielleicht noch Mass und Ziel zu
setzen vermocht hatte. Immer ausschliesshcher gab er sich dem
Waffenhandwerk als solchem hin. Er sank dadurch vom Stand-
punkte eines Nationalhelden , der er einst hatte werden wollen,
immermehr zn demjenigen eines Truppenfiihrers , eines mittel-
alterlichen Condottiere herab (S. 268).
Wir begleiten dann Napoleon zur Belagerung von Toulon;
wir lernen in einem sehr interessanten Kapitel seine Beziehungen
zu den Mannern des Schreckens kennen, Beziehungen, die Urn
einen Augenblick mit in ihre Katastrophe verwickelten. Wir
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Beer, A., Zehn Jahre 5storreichischer Politik 1800—1810. 249
sehen ihn dann wieder unruhig und rastlos bemiiht, sich geltend
zu machen: er arbeitet eine militarische Denkschrift liber die
andere aus und drangt sich damit an Alle heran, die einigen
Einfluss besitzen. Endlich, am 13. Vendemiaire , ist sein Tag
gekommen: mit der Niederwerfung der Royalisten eroffnet er
sich jene Lauf bahn , die ihn auf den Kaiserthron Frankreichs
fuhren sollte. Bohtlingk glaubt, dass er von jenem Tage an
das Ziel fest im Auge behalten habe, dereinst tiber Frankreich
zu herrschen.
Nur auf dem Wege, den Bohtlingk, wenn auch nicht ohne
bisweilen abzuirren, betreten hat, wird es jedem folgenden For-
scher moglich sein, zum Verstandniss der Jugend- und Ent-
wicklungsgeschichte Napoleons zu gelangen.
Paul Bailleu.
LVII.
Beer, A., Zehn Jahre 6sterreichischer Politik 1800—1810.
gr. 8. (VII, 542 S.) Leipzig 1877. F. A. Brockhaus. 9 M.
Seitdem die Wiener Archive der historischen Forschung in
gastiichster "Weise ihre Pforten erschlossen haben, sind uns wohl
von keinem Gelehrten zahlreichere Spenden aus der Fiille ihrer
Schatze dargeboten worden, als von dem um die Geschichte
seines Vaterlandes hochverdienten Verfasser des vorKegenden
Baches, in welchera derselbe eine im Archiv fur osterr. Gesch.
Bd. 52 niedergelegte Studie erganzt und weiterfiihrt. Es ist
nicht eine Actenpublication mit einleitendem Commentar , wie
Beer's Werk iiber Friedrich den Grossen und van Swieten, was
wis gebracht wird , sondern es wird uns dieses Mai , vielleicht
nicht ganz im Sinne aller Leser des Buchs, nur eine Auswahl
aus dem reichen und vollstandig neuen Quellenmateriale des
Verfassers mitgetheilt, als Anhang zu einer umfassend angelegten
Daretellung. Dieselbe zerfallt in zwei Biicher, deren erstes den
Titel „Die Coalition von 1805 " fiihrt und die Zeit zwischen den
Friedensschliissen von Luneville und Pressburg oder die oster-
reichische Politik unter Graf Ludwig Cobenzl behandelt; das
zweite Buch „Die osterr. Politik unter Stadion" schliesst mit
dem Frieden von Wien ab.
Beiden Phasen der osterreichischen Politik ist gemeinsam
die anfanglich ausgesprochen friedliche Richtung ; sehr verschie-
dener Natur aber waren die Grande, welche 1804 und 1805,
und die, welche 1808 und 1809 den Kaiserhof diese Eichtung
aafgeben liessen.
Trotz aller bittern Erfahrungen, wie man sie noch bei den
erst am 26. Dez. 1802 zum Abschluss kommenden Verhand-
lungen wegen der territorialen Entschadigungen zu sammeln Ge-
legenheit hatte, war nach dem Frieden von Luneville Napoleon
ah Bandiger der Revolution den osterreichischen Staatsmannern
fast eine sympathische Personlichkeit. Von seinem Streben, sich
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250 Beer, A., Zehn Jahre oatorreichischer Politik 1800—1810.
dem Ersten Consul gefallig zu erweisen, komite Kaiser Franz
keinen vollstandigeren Beweis ablegen, als durch sein Verhalten
in der bekannten Ettenheimer Angelegenheit ; die besondere
Riicksicht, welche dieses Verhalten des Kaisers bestimmte, war
sein Wunsch, von Frankreich den osterreichischen Kaisertitel
anerkannt zu sehen, dessen Annahme er auf die ersten Nach-
richten von Napoleons Planen zur Herstellung der Monarchie in
Aussicht nahm. (Buch I, Cap. 1 und 2.) Man trug sich in
Wien mit dem Gedanken einer Verbindung sowohl mit Frank-
reich als mit Russland, als man, zuerst im October 1803, be-
stimmter im Januar 1804 (S. 68, 70) durch Antrage Russlands,
das seinerseits durch England geschoben wurde, vor die Wahl
zwischen der russischen und franzosischen Freundschaft gestellt
wurde. Zogernd, Schritt fur Schrittging man den Russen ent-
gegen, auch als am 4. November 1804 ein vorlaufiger Vertrag
zu Stande gekommen (S. 81), war man keineswegs entschieden.
Ein planvolles Handeln lag Cobenzl fern. Zu Anfang Februar
1805, so hat Gentz spater von ihm gesagt, mag er entdeckt
haben , dass er sich hineinnegotiirt hatte , dass es ihm schwer
sein wurde, wieder zuriickzugehen (S. 131). Der Beitritt Oester-
reichs zu dem englisch-russischen Vertrage vom 11. April 1805
wurde erst im Juli 1805 durch eine kategorische Note Russ-
lands (29. Juni, S. 99) erzielt. Obgleich sich damit Cobenzl
gegen seine Alliirten gebunden hatte, so ist dennoch nicht zu
zweifeln, dass er Mittel gefunden haben wiirde, sich seinen Ver-
pflichtungen zu entziehen, wenn Napoleon sich auch nur einiger-
massen gefugig gezeigt hatte.
In der Zeit nach 1806 dagegen war die friedliche Tendenz
der osterreichischen PoUtik von vornherein nur dictirt durdi die
Erkenntniss der absoluten Ohnmacht, in der man sich befand.
HStte der Staat Mittel zum Widerstande, schrieb Stadion an
Franz (26. April 1806, S. 218), so wiirde er es fur seine Pflicht
halten, die Abweisung der franzosischen Zudringlichkeit anzu-
rathen. Festes Auftreten sei aber bei der gegenwartigen Sach-
lage unmoglich. Und wenn Oesterreich in der orientalischen
Frage eine Verstandigung mit Frankreich und Russland behufs
Theilung der Tiirkei anzubahnen suchte , so geschah es nur, um
die Beute nicht den Verbundeten von Tilsit allein zufallen zu
lassen (S. 303—307).
Die Nachricht von Napoleons unerwartetem Vorgehen gegen
die spanischen Bourbonen war es dann, die im April 1808 dem
Grafen Stadion auf das Klarste die nunmehr einzuschlagende
Richtung wies. Der Kaiser habe in den spanischen Vorgangen
das Schicksal zu erkennen, welches jedem Hofe und jedem
gegenwartig regierenden Hause bevorstehe. Mit dem Gedanken
eines AngrifTskrieges sich vertraut machend, befiirwortete Stadion
eine Riistung im grossartigen Massstabe, fur deren Abschluss
er den Friihling des Jahres 1809 in Aussicht nahm (S. 308?
316, 338). Ueber seine Thatigkeit fiir die Organisation des
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Beer, A., Zehn Jahre faterreichischer Politik 1800—1810. 251
Wideretandes und uber die Schwierigkeiten, auf welche dieselbe
stiees, erhalten wir sehr anziehende Mittheilungen. Die meisten
osterreichischen Diplomaten haben immer nur die auswartigen
Beziehungen ins Auge gefasst, ohne den innern Verhaltnissen
eine genugende Aufmerksamkeit zu schenken. Stadion macht
hierin eine Ausnahme. Mit Nachdruck verlangte er wieder und
TOder einschneidende Reformen im Innern. Aber „bei dem
grossen Misstrauen in sich und sein eignes Urtheil war der
Kaiser ein Spielball der verschiedenen Ansichten, die ihm ent-
gegengebracht wurden" (S. 313). „Trotz aller militarischen
Vorbereitungen verkundete der sonstige Gang der Regierung
nicht, dass ein neuer Geist sie durchdringe" (S. 314). —
„Stadion dachte ernstlich an einen Volkskrieg im wahren Sinne
dw Wortes .... Was spater in Preussen zur Verwirklichung
iam, schwebte lebhaft dem Geiste des osterreichischen Ministers
schon einige Jahre friiher vor" (S. 342, vergl. auch S. 366).
Aber welch ein Abstand zwischen der Erfolglosigkeit der oster-
reichischen Reformbe8trebungen , von denen Beer uns berichtet,
nnd dem grossen Verjiingungsprozesse in Preussen, der die Er-
folge von 1813 vorbereitete. Mit unumvnindener Offenheit hebt
der Verf. selber in seiner Gesammtcharacteristik des Stadionschen
Systems (S. 212) diesen Gegensatz in der damaligen inneren
Entwickelung der beiden Staaten hervor. Selbst von Stadion,
dem Hauptvertreter des Reformgedankens, „liegt uns kein Acten-
stiick vor, aus dem sich annehmen liesse, dass er sich iiber die
unerlasslichen Reformen auf den verschiedenen Gebieten der
staatlichen Thatigkeit vollauf klar gewesen wareu.
Einen Bundesgenossen hatte Stadion fur seine Actionspolitik
an dem Botschafter in Paris. Graf Metternich beantwortete die
Ftage, ob Napoleon mit feindlichen Planen gegen Oesterreich
fiich trage, mit einem unbedingten Ja. Bei den entscheidenden
Berathungen der ersten Decembertage 1808 gab Metternich,
vie es scheint, den Ausschlag fiir den Krieg (S. 319, 339).
Eine ganz eigenthiimliche Rolle spielt in der Vorgeschichte des
Krieges von 1809 der franzosische Minister Talleyrand. In
Erfurt war er es, der Napoleons Absichten, Russland gegen
Oesterreich zu hetzen, zum Scheitern brachte (S. 329—332, 525),
and in der Folge treibt er die osterreichischen Staatsmanner
gradezu, sich von Napoleon nicht zuvorkommen zu lassen (S. 365).
Das Haupt der Friedenspartei in Wien war sowohl 1804
and 1805 als 1808 und 1809 der Erzherzog Karl. 1804 war
er fur die runde Ablehnung der russischen Vorschlage. „Es
wt nicht richtig,u meint Beer, „wie man bisher angenommen
hat, dass eine gewisse Scheu , sich mit dem gewaltigen Kriegs-
manne des Jahrhunderts zu messen, hierbei bestimmend war,
sondern die staatsmannische Ueberzeugung , dass Oesterreich
znnachst auf die Umformung seiner inneren Verhaltnisse seine
Thatigkeit concentriren solle." Die voriibergehende Richtung
ier Politik Stadions auf die Losung der orientalischen Frage
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252 Beer, A., Zehn Jahre osterreichischer Politik 1800—1810.
hatte seine entschiedene Billigung. „Der Prinz bewegte sich
in den Gedankenkreisen osterreichisch-orientalischer Politik mit
besonderer Vorliebe, aus manchen Aufzeichnungen geht unzwei-
deutig hervor, dass er in Bezug auf den Orient fur Oesterreich
eine Fuhrerrolle in Anspruch nahm, uberhaupt nur nach. dieser
Bichtung eine thatige Politik fiir entschieden geboten imd
gerechtfertigt hielt." — Gegen Stadions Drangen zum Kampfe
gegen Frankreich erhob er dann abermals seine Stimme und be-
stand darauf, nicht eher loszuschlagen, bis man vollstandig geriistet
sei. „Ich habe nicht fur den Krieg gestimmt," sagte er nach der ent-
scheidungsvollen Sitzung am 8. Februar 1809, „mogen jene die
Verantwortung iibernehmen, welche den Entschluss gefasst
haben." In der That war man im entscheidenden Augenblicke
weder finanziell noch militarisch vorbereitet. Nach der Schlacht
bei Wagram sprach sich der Erzherzog unbedingt fiir den Frie-
den aus, zu dem er schon nach den ersten unglucklichen Ge-
fechten an der oberen Donau gerathen hatte. Die kriegerischen
Stimmen erlangten noch fiir eine kurze Zeit das Uebergewicht,
nnd Karl zog sich vom Kriegsschauplatz zuriick. „So vieles
auch iiber die einzelnen Vorgange noch in Dunkel gehiillt ist,
mit Bestimmtheit kann ausgesprochen werden, dass der Riicktritt
kein freiwilliger war" (S. 72, 93, 305, 366, 423).
Aus den Capiteln, welche Oesterreichs Beziehungen zn
Preussen schildern, sei folgendes hervorgehoben. So wenig sich
nach dem Frieden von Liineville die osterreichischen Staats-
manner in den meisten Fragen von der traditionellen Auffassuog
entfernten beziiglich des Verhaltnisses zu Preussen, so brach sich
zeitweilig doch eine neue Bichtung Bahn (S. 107). Graf Metternich,
damals Gesandter in Berlin, befiirwortete den Anschluss an
Preussen. „ Schon das Zugestandniss , dass die geographischen
Grenzen Preussens vieles zu wunschen iibrig liessen, und dass
deshalb das Streben nach einer entsprechenderen Abrundung
des Gebiets ein gerechtfertigtes sei, verrath ein richtigeres Ver-
8tandniss der politischen Sachlage, als es bisher in der Wiener
Staatskanzlei zu finden war" (S. 109, vergl. S. 169 unten). Die
Versuche Russlands und Oesterreichs in Berlin Anfang 1805t
Preussen zum Beitritt zu der Coalition zu gewinnen, scheiterten
schon deshalb, weil man dem berechtigten Verlangen des letzteren,
in die Abmachungen Russlands mit Oesterreich und England
eingeweiht zu werden, nicht nachkommen konnte oder wollte
(S. 123). Urn Preussen zu gewinnen, sagte Friedrich Wilhelm HL
am 14. September zu dem Grafen Merveldt, hatte man sich von
vornherein iiber die Principien verstandigen miissen, bisher aber
hatten sich die Kaiserlichen Hofe bloss in Allgemeinheiten er-
gangen (S. 169). — Nach dem Frieden von Pressburg wiinschte
Graf Stadion „innigst die Anbahnung inniger Beziehungen zu
dem Nachbarstaate". Als er die Nachricht erhielt, dass Preussen
damit umgehe, die Fursten Norddeutschlands unter seiner Fiihrung
zu vereinigen, „sprach er unverhohlen seine Befiiedigung dariiber
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Beer, A., Zehn Jahre osterreichischer Politik 1800—1810. 253
aus, tmd bei einem Manne seines Schlags war dies keine. Phrase".
Verstimmend wirkte in Wien Hardenbergs Ersetzung durch
Haugwitz, „den bosen Genius des preussischen Staatswesens",
wie ihn Stadion nannte (S. 234 ff.). Wahrend des preussisch-
franzosischen Krieges hielt man sich in Wien, bei fortwahrenden
Verhandlungen mit beiden Theilen, an stride Neutralitat, die
Angaben franzosischer Schriftsteller von Allianzantragen , die
Oesterreich im Januar 1807 bei Napoleon gestellt habe, sind
onrichtig; die Antrage gingen vielmehr von Frankreich aus
(S. 268). Erst Anfang Mai kam man von dem Wabne zuriick,
eine glanzende Rolle als Vermittler spielen zu konnen, ohne
Partei ergreifen zu miissen (S. 285), und als man sich endlich
entschloss, bedingungsweise auf die Seite der Verbiindeten
zu treten, langte die Kunde von dem Tilsiter Waffenstillstande
in Wien an ; die Bemiihungen des Wiener Cabinets, den Friedens-
Terhandlungen einen allgemeinen Character aufzudrucken, waren
vergeblich (S. 287 , 290). — Ausfiihrlich werden S. 351 ff. die
zu keinem Resultate fiihrenden Verhandlungen der Jahre 1808
und 1809 wegen eines Bundes mit Preussen behandelt. „Wenn
man auch die Hiilfe desselben gering anschlug, so musste doch
die Antheilnahme hoch angeschlagen werden , weil dadurch fiir
die kampflustigen Elemente Nord- und Mitteldeutschlands ein
Mittelpunkt geschaffen wurde4* (S. 343). Bezeichnend ist, dass
man es in Wien erst im April 1808, d. h. nach jener scharfen
Wendung der osterreichischen Politik in Folge der Nachrichten
aus Spanien, fur erforderlich hielt, wenigstens einen Geschafts-
trager in Konigsberg zu accreditiren , urn die seit Tilsit ver-
nachlassigten Beziehungen wieder anzukniipfen. — Die Unthatig-
keit des Erzherzogs Karl nach dem Erfolge von Aspern, die oft
tart verurtheilt worden ist, hatte nach Beer S. 388 ihren guten
Grand, da man "die nach der Schlacht durch den Prinzen von
Oranien in bestimmte Aussicht gestellte Mitwirkung Preussens
abwarten wollte. Die Mittheilungen S. 394 iiber die in jene
Zeit fallende Sendung des Obersten Steigentesch nach Konigs-
berg weichen von der Darstellung bei Duncker, Preussen
^abrend der franz. Occup. (Abhandlungen zur preuss. Gesch.
306) erheblich ab, und in der Sendung Knesebecks in das oster-
reichische Hauptquartier (August 1809) will Beer S. 437 vor-
nehmlich den Zweck erkennen, dahin zu wirken, dass in dem
Friedenstractat zwischen Oesterreich und Frankreich eine der
Wiederbesetzung preussischer Gebiete durch die Franzosen vor-
beugende Bestimmung Aufhahme fande, wahrend nach Duncker
a. a. O. und Ranke, Hardenberg IV, 194 es doch in der That die
Absicht des preussischen Hofes war, auf Seiten Oesterreichs zu
teten, hatte nur Knesebeck die Ueberzeugung gewonnen, dass
Oesterreich den JLampf ernstlich fortsetzen wolle. —
Schwererwiegend vielleicht als die Zuriickdrangung Oester-
reiclis unter die Staaten zweiten Ranges, sagt Beer zum Schlusse
seines Werkes bef Wiirdigung der Folgen des Friedens von
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254 Lehmann, Max, Kneacbeck and Schoen.
1809, war der Wechsel, der sich in den Regierungskreisen vollzog,
der Riicktritt der beiden Manner, an deren Namen sich die
osterreichische Erhebung von 1809 kntipft. „Wenn uberhaupt,
konnte Oesterreich nur durch Manner wie Erzherzog Karl und
Stadion vor jener Richtung bewahrt werden, die es nach Her-
stellung des allgemeinen Friedens einschlug." Seinen Standpunkt
dieser Richtung gegeniiber lasst der Verf. u. A. auch in seinen
allgemeinen Bemerkungen iiber Character und Regierungsweise
des Kaiser Franz S. 213, 214 erkennen.
Nicht ganz frei von Anstossen ist die Form des Werkes, aus
dessen Inhalt wir einiges mitgetheilt haben. Das Streben, im Aus-
drucke abzuwechseln, darf nicht storend bemerkbar werden, wie
gleich auf den ersten Seiten, wo kurz nacheinander von den M a c h t-
habern an der Seine, den Staatsmannern an der Spree
und den Staatslenkern an der Newa die Rede ist. S. 446
lesen wir: „Ein eigenthiimlicher Vorfall bewirkte, was Bitten
und Ueberredungskunst nicht bewerkstelligt hatten". Bis-
weilen ist die Wahl des Ausdrucks geschmacklos oder unedeL
vergl. S. 123: Russland liess nichts von den Unterhandlungen
durchsickern ; S. 71 der ausgeheckte Gedanke; S. 183 die aus-
geheckten Plane; S. 30 die aufgewarmte Freundschaft ; 8. 31
einsacken; S. 78 kirre machen. Aus dem Bilde fallen die
schonen Traume, die S. 222 bersten , und der beschmutzte Lor-
beer, der S. 224 aufgefrischt wird. S. 14 steht die Jagd um
die (statt: nach der) Gunst, und S. 201: Kaiser Franz be-
8timmte den Fiirsten Liechtenstein mit der Fortfuhrung der
Verhandlungen. Missverstandlich ist, wenn S. 32 gesagt wird,
Metternich versuchte Talleyrand zur Sprache zu bringen;
gemeint ist: zum Sprechen. Als Beispiel falschen Satzbaues
notiren wir S. 211: Verstandig und fliichtig, fehlte es Franz
nicht an tuchtigen Eigenschaften. 8. 10 wird abgeneigt mit
zu construirt. S. 198 findet sich der Plural die Ungliicke, u. A. m.
Berlin. Reinhold Koser.
Lvm.
Lehmann, Max. Knesebeck und Schoen. Beitrfige zur Geschichte
der Freiheitekriege. gr. 8. (XIII, 347 S.) Leipzig 1875.
S. Hirzel. 7 M.
Lehmann, Max, Stein, Scharnhorst und Schoen. Eine Schutz-
SChrift. gr. 8. (V, 100 S.) Leipzig 1877. S. Hirzel. 2M.
Als ich vor 15 Jahren eine Biographic Th. G. v. Hippels
herausgab, konnte ich mit Fug und Recht aus J. Schmidts
Litteraturgeschichte das Wort citiren : „ Jetzt erst fangt man an?
die lebendigen Zeugnisse jener Tage zu sammeln und zu sichten.
Wenn es vollstandig geschehen sein wird, so dass jeder einzelce
Oharakter deutlich hervortritt, so werden wir eine Nationallitte-
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Lohmann, Max, Kncsebeck und Schoen. 255
ratnr besitzen, die zugleich als Quelle politischer Weisheit dienen
kannu. Seitdem ist der Geschichtsschreibung eine grosse Menge
reicher Quellen fur die Geschichte jener grossen Zeit der Samm-
lung und Erhebung Preussens zuganglich gemacht worden. Denn
einerseits haben die Staatsarchive ihre Thiiren den Forschern
geoffhet, andrerseits ist auch von manchen Familienarchiven der
Yerschluss hinweggenommen worden, so dass wir nicht nur ein
kkreres und wahreres Bild von jener Zeit im Allgemeinen er-
klten, sondern auch den Antheil jedes hervorragenden Mit-
kampfers und Mitarbeiters an jener Erhebung sicherer abmessen
konnen. Aber wir diirfen iuis auch nicht verhehlen, dass die
geachichtlich grossen Tage, die wir selbst eben durchlebt haben,
dass die grossen Staatsmanner und Heerfiihrer, welche wir vor
maeren Augen eben haben wirken und schaffen sehen, uns einen
neuen und hoheren Massstab zur Beurtheilung jener Zeiten und
Manner in die Hand gegeben, dass sich uns auf Schritt und
Tritt die Wahrheit des Schiller'schen Spruches aufdrangt: Ein
grosses Muster (weckt Nacheiferung und) giebt dem Urtheil
hohere Gesetze.
Es haben sich hervorragende Geschichtsforscher und Ge-
Bchichtsschreiber theils aus eigenem Antriebe, theils in Polge
besonderen Auftrages an die Darstellung des Lebens und Wir-
kens einzelner Manner aus der Zeit der Freiheitskriege gemacht ,
und so konnte erst neuerdings M. Duncker in unserer Zeitschrift
(VI. Jahrg. 1. H.) die von L. v. Ranke herausgegebenen Denk-
wiirdigkeiten des Staatskanzlers v. Hardenberg anzeigen.
Ein junger talentvoller und gut geschulter Historiker, Max
Lehmann, hat es unternommen, uns die lange entbehrte und be-
gehrte Biographie Scharnhorsts zu liefern. Aber in seinem Be-
streben, das Ganze zu einem einheitlichen Bilde zusammenzufugen,
Btorten ihm einige grelle Misstone die Harmonic „Der treue
Diener des preussischen Konigshauses sollte im Jahre 1812, als
Friedrich Wilhelm IH. das Bundniss mit Frankreich geschlossen
hatte, hunderte von Offizieren zum Austritt aus der Armee be-
wogen haben, um dadurch dem Konig die neue Alliance zu ver-
leiden; der unermiidliche Beformator des preussischen Heeres
sollte das Jahr darauf der Errichtung einer Landwehr wider-
Btrebt haben." Er ging sorgfaltig forschend auf die Quellen
zanick, aus denen diese zwei bedenklichen Nachrichten geflossen,
^ftd fand, dass die erste auf Knesebeck, die andere auf Schoen
zuriickzufuhren sei. Er priifte ihre Memoiren und fand das yon
der historischen Methode schon verkiindete Axiom bestatigt,
dass „es kaum eine unzuverlassigere Art der Ueberlieferung
giebt als Memoirenu, da es den Memoirenschreibern zumeist be-
gegnet, dass sie die friihere Zeit, die fruhere Thatigkeit zu sehr
in dem Lichte der spateren Zeit , der spateren gelauterten An-
8chanung8- und Handlungsweise betrachten, darstellen und fur
sich deuten ' oder dass unter anderen Eindriicken und Einfliissen
die Treue des Gedachtnisses sie verlasst. Das urkundliche Ma-
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256 Lehmann, Max, Knesebeck und Schoen.
terial der Staatsarchive bot Lehmann die besten und sicherstea
Mittel der Remedur.
Der erste Abschnitt seines Buches (S. 1 — 77) tragi den
Titel: Knesebeck, der russische Operationsplan
und die 300 preussischen Offiziere von 1812. Mai
Duncker hat bereits in seinen 2 Abhandlungen „Preus8en
wahrend der franzosischen Occupation" und „die Mission des
Obersten v. d. Knesebeck nach Petersburg" iy die gewichtigsten \
Argumente gegen die objective Glaubwiirdigkeit der Knesebeck*-
schen Memoiren geltend gemacht und Lehmann erkennt bereat- ..
willig an (S. 13), dass er hier nur Dunckers Spuren gefolgt set j
Es wird nachgewiesen, dass der in den Memoiren als eine j
Knesebeck'sche Idee hingestellte russische Riickzugsplan mil
seiner im preussischen Staatsarchiv aufbewahrten Denkschrift
vom 21. Januar 1812 durchaus im Widerspruche steht, da diese
das System der langen retrograden Linien entschieden verwirft.
Durch Herbeiziehung der archivalischen Urkunden sind noch vide
andre in's Einzelne gehende Widerspruche oder Mischungen von i
Wahrheit und Irrthum nachgewiesen, die ^ hier nicht alle wieder- i
gegeben werden konnen. Zumeist widerlegt der Knesebeck von ,
1812 den Knesebeck von 1846 selbst. Vergessen darf nicht j
werden, dass Gneisenau Knesebeck im Fruhjahr 1812 franzosisch
gesinnt nennt und noch 1813 von ihm sagt: „Dieser Mann hat
in Betreff Frankreichs eine fixe Idee im Kopfe , die nahe an ,
Narrheit grenzt ; er wird ewig fur Frankreich arbeiten". Aus allem j
geht hervor, dass Knesebeck iiberall fur die Erhaltung des Friedens \
gewirkt, nicht aber Kriegsplane ausgedacht und mitgetheilt hat ]
Mit dramatischer Lebendigkeit und Shakespeare'schem Scenen- \
wechsel zeigt uns M. L. den diplomatischen General bald in \
Berlin, bald in Petersburg und kommt zu demselben Resultat [
wie in der Besprechung der Knesebeck'schen Memoiren in a
v. Sybels historischer Zeitschrift (1876, IV, S. 433 ff.) : Die Denk- 5
schrift vom 21. Januar 1812 enthalt das Gegentheil des Buck-
zugsgedankens , von dem er geradezu den Untergang der Frei-
heit Europas erwartete. Also kann er ihn nicht kurz znvor
als einziges Mittel der Kettung fur diese Freiheit ersonnen und
zwischen dem 21. und 31. Januar dem Konig dargelegt haben.
Also kann er ihn nicht zwischen dem 17. Februar und 7. Marz
1812 in geheimer Mission nach Petersburg zum folgenreichen
Entschlusse Alexanders erhoben haben. Auch hat Alexander
iiberhaupt einen solchen Plan nicht von Anfang an verfolgt,
sondern schon an der Diina eine entscheidende Schlacht schlagen,
ja noch nach Smolensk zum Angriff schreiten wollen*).
x) Aus der Zeit Friedrichs d. Gr. und Friedrich Wilhelms IIL, Ab-
handlungon zur preussischen Geschichte S. 265—503 und S. 551—579.
a) M. Lehmann ist in der historischen Zeitschrift (1876, IV, S. 433 £)
bei der Besprechung von Knesebecks Memoiren noch einmal auf diewD
Gegenstand zurtlckgekommen und hat dort das hier erorterte z. Th. noch er-
gfinzt und naher begrflndet.
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Lehmann, Max, Knesebeck nnd Scboen. 257
Was nun die 300 Offiziere betrifft, so sehen wir, class bis
zu dem Erscheinen der „Erinnerungen" des Grafen Henckel von
Donnersmarck (1846) nnd der Bruchstiicke aus den hinterlassenen
Papieren Knesebecks (1850) bei alien Berichterstattern nur von
„einigenu, „mehrerenu preussischen Offizieren die Rede ist und
auch in spater erschienenen Memoiren hochstens von „vielenu
gesprochen wird, welche 1812 den Abschied genommen, urn gegen
Napoleon in russische Dienste zu treten, wahrend es bei Graf
Henckel (Knesebecks Schwager) heisst: „Als die Nachricht von der
franzosischen Alliance sich verbreitete, nahmen 300 Offiziere
ihren Abschied". Freilich fiigt er limitirend hinzu: „Die Zahl
mag wohl etwas ubertrieben sein, mir ist sie aber von glaub-
wiirdigen Mannern versichert worden". Aber Knesebeck sagt
mit voller bis in's Einzelne gehender Bestimmtheit : „Scharnhorst,
der seine Plane durch mich vereitelt sah, hatte noch ein Mittel
Tersucht: 300 Offiziere forderten auf einmal den Abschied. Der
Konig verfiigte: „K6nnen gehen!" Die Fruchtlosigkeit dieser
Massregel veranlasste ihn, sich zuriickzuziehen und nach Schlesien
zu gehen". Diese Nachricht ist mit erstaunlicher Schnelligkeit
in alle Darstellungen der Geschichte jener Zeit ubergegangen ;
aber sie entbehrt der historischen Wahrheit.
Der Austritt der 300 miisste zwischen dem 19. und 26. Marz
erfolgt sein. Nach Ausweis der Acten haben aber in diesem
Zeitraum nur 9 Offiziere der preussischen Armee den Abschied
erbalten. Und spater? — Vom 26. Marz bis 1. Juli haben 65
active und 43 auf Halbsold dienende Offiziere den Abschied er-
balten. Haben diese 108 alle die von Knesebeck oder die von
E. M. Arndt angefuhrten Motive getrieben? Von ihnen wurden
43 mit Pension verabschiedet; bei vielen ist lediglich Invaliditat
als Grund angefuhrt. Es bleiben im Ganzen 60, von denen an-
genommen werden konnte, sie seien vielleicht in russische Dienste
getreten. Oder wohin sonst? — Die Englander, Spanier und
Russen standen damals gegen Napoleon. Drei von den obigen
60 erscheinen wirklich in der „deutschen Legion" der Englander,
am auf spanischem Boden zu kampfen. Naher lag den trotzigen
Emigranten Russland. Der Herzog von Oldenburg warb hier
im Einverstandniss mit seinem Vetter Alexander durch Oberst
v. Arentsschild deutsche Offiziete, und Stein nahm dann den Ge-
danken der Bildung einer russisch-deutschen Legion mit Warme
auf. Aber in der Mitte des December 1812 zahlte sie erst
1500 Mann, durch erbarmungslose Disciplin zusammengehalten,
grossentheils Kriegsgefangene. In ihren Listen begegnen uns
einige der obigen 60 Namen : 2 Grafen Dohna, Hans v. Natzmer,
Giselbert und Wilhelm v. d. Horst, Major und 2 Lieutenants
▼. Tiedemann , Carl v. Clausewitz (ausser der Zahl jener 60, weil
eigenwilhg gehend), Alexander v. d. Goltz (ebenso), Ferdinand
v. Stiilpnagel, Friedrich v. Horn, Eugen v. By em, Alexander v.
Simolin, Schimmelpfennig v. d. Oye, v. Goertzen, Woldemar v.
Bannecken, Carl v. Perusser, Hans v. Briinnow, v. Schaper?
MittheiluMgcn a. d. hiator. Lltteratar. VI. 17
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258 Lehmann, Max, Knesebeck und Schoen.
"^W|
v. Funck; sie alio werden uns bei M. L. in ihrem Character
und in ihren Schicksalen lebendig geschildert. Prinz Ernst
v. Hessen Philippsthal trat unmittelbar in russische Dienste.
Andre preussische Offiziere, denen wir in der russischen Armee
begegnen, wie Ludwig Graf Chasot und Leopold v. Liitzow,
hat ten schon vor 1812 ihren Abschied genommen; ebenso Ernst
v. Pfuel (unser Ministerprasident 1848), Gustav v. Barnekow,
Carl v. Nostitz. Binige sind erst spater in russische Dienste
getreten wie Ernst Monhaupt. Erwahnt werden noch Wilhelm
v. Boeder, Carl Graf v. d. Groeben, Wilhelm v. Dorenberg, Leo-
pold Prinz v. Hessen Homburg. Es sind also nachweisbar nicht
300, sondern etwa 30 preussische Offiziere in russische Dienste
getreten.
Es werden nun im folgenden (S. 67 ff.) die Motive zu
diesem Schritt bei den einzelnen Gruppen erortert, urn das
ganze Phanomen in das richtige Licht zu stellen. Scharnhorst,
Gneisenau und Boyen beanspruchen neben jenen eine besondre
Beurtheilung ; als Haupter der Actionspartei wollten sie dieRe-
gierung Frankreich gegeniiber nicht compromittiren. Auszu-
sondern sind auch deren Verwandte, Gehilfen und Schiiler, wie
die Dohnas, Clausewitz, Groeben und Boeder. Aber alle brachten
Opfer fur eine Idee. „ Diese erste und einzige Emigration des
preussischen Adels ist besser als alles andere geeignet, Am
fundamentalen Unterschied zwischen unserem ersten Stande und
dem der Franzosen, den blinde Parteileidenschaft so oft iiber-
sehen hat, zu veranschaulichen ; der franzosische Adlige ging,
nachdem er umsonst die konigliche Autoritat gemisbraucht hatte,
um seine Standesvorrechte zu retten, der preussische, als er
glaubte, die Krone sei ihrem nationalen Berufe untreu geworden."
Schwieriger und yerwickelter ist die Losung der zweiten
Frage: „Schoen, der preussische Landtag und die
Landwehr von 1813" (S. 79—288). Als 1875 der erste
Band „aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von
Marienburg Theodor v. Schoen" erschienen war, sagte sich wol
jeder Unbefangene, dass diese Publication nicht mit dem Geschick
eines Historikers von Fach erfolgt sei, dass sie der Methode
ermangele und dass sie wol vielfachen Widerspruch erfahren
werde, so wichtig und dankenswerth dieselbe auch an und fur
sich zur Aufklarung eines bedeutungsvollen Abschnittes unserer
vaterlandischen Geschichte sei. Zuerst hat Maurenbrecher ra
den Grenzboten (1875 S. 161 ff.) seine Bedenken erhoben; dann
C. Reichard „im neuen Reich" (1875 S. 732 ff.). Wie diese hat
auch M. Lehmann seine Kritik vor dem Erscheinen der folgenden
3 Bande aus Schoens Nachlass geschrieben und vertiffentlicht.
Zu Gunsten Schoens ist nicht nur die Fortsetzung der Publi-
cation der Schoen'schen Familienpapiere erfolgt, sondern es ist
inzwischen auch ein Verehrer Schoens, welchem diese Papiere
zur Verfiigung standen, in einer langen Reihe von Artikeln in
dem Sonntagsblatte der Vossischen Zeitung fur Schoen und dessen
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Lehmann, Max, Knesebeck and Schoen. 259
Denkwurdigkeiten eingetreten und hat dies in umfassenderem,
aber auch heftigerera Masse gethan in einem besonderen Buche,
welches den Titel fuhrt: „Zu Schutz und Trutz am Grabe
Schoens, Bilder aus der Zeit der Schmach und der Erhebung
Preussens, von einem Ostpreussen," Berlin, Fr. Duncker 1876
(IIL lieferung bis S. 544).
Indem wir nach dieser kurzen bibliographischen Uebersicht
m Lehmanns Schrift zuriickkehren , der es als seine Aufgabe
betrachtet, das Uebermass des von und fur Schoen in Anspruch
genommenen abzuwehren, so ist die Losung dieser Aufgabe nicht
als eine leichte zu bezeichnen, da in der stiirmischen Zeit 1806
bis 1813 so viel von arcliivalischen Urkunden verloren gegangen
ist, an welchen die Zuverlassigkeit der reichlichen Memoiren-
htteratur abgewogen werden konnte. Die Zweifel an der Glaub-
wiirdigkeit des Erzahlers griindet M. L. auf folgende Umstande.
a) Die Schoen'schen Memoiren sind verhaltnissmassig spat ge-
schrieben. Die Autobiographic verlegt Reichard sogar erst in
die Jahre 1854/56. M. L. setzt als Anfangszeit derselben 1838
bis 1839. Immerhin war Schoen iiber die Mitte der Sechziger
hinaus, als er sich anschickte sein Leben aufzuzeichneu. Aber
diese Erklarung reicht nicht aus bei Darlegung der Hergange
auf dem Landtage 1813. b) Alles hat bei Schoen ein entschieden
provinziellBs Geprage; sein Provinzialstolz „verhartete sich zu
einer Gesinnung, die von Hochmuth nicht weit entfernt ist".
Mit Kant hatte Schoen nach M. L. die nivellirende Misachtung
der historischen Grundlage des Staats gemein und so auch des
preussischen Beamtenthums und des preussisohen Militar- oder
doch Offizierwesens. Es friibten also provinziale Neigung und
politische Abneigung seinen Blick.
Schoen ist grundverschieden von Stein, dessen Verdienste er
hoch stellt, den er aber in Bezug auf seine philosophische, litte-
rarische und politische Bildung sehr hart beurtheilt und dessen
Finanzoperationen er namentlich in Betreff der Emission von '
Papiergeld 1805 so scharf kritisirt, wahrend Stein* doch weise Mass-
baltung beobachtet hat, ebenso wie 1810, als von Hardenberg die-
8elbeFrage an ihn herangebracht wurde. Wie aber Stein hier nicht
unwi8senschafllich und unpolitisch verfuhr, so handelte er auch
nicht ohne Grundsatze, fuhrte nicht „kleinliche Streitigkeiten" nur
nach personlicher Neigung und Abneigung, als 1806 die Minister-
krise eintrat und er sich gegen die Kabinetsregierung wandte,
deren Beseitigung auch Hardenberg und Riichel verlangten.
Es folgt nun die Bauernemancipation (S. 104 ff.).
Das beriihmte Edict vom 9. October 1807, „den erleichterten
Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigenthums sowie die
personhchen Verhaltnisse der Landbewohner betreffend", wird
von Schoen Stein abgesprochen und auch Hardenberg so dar-
gestellt , als wiisste er nichts oder wollte er nichts wissen von
Menschenrechten , Hardenberg, der schon 1779 erklart, dass
nUahrong und Gewerbe durch Eigenthum und personliche Freiheit
17*
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260 Lehmann, Max, Knesebeck und Sclioen.
belebt wiirden", der in der Denkschrift vom 12. September 1807
die Grundsatze des Edicts vom 9. October schon so klar ent-
wickelt hatte. Die ganze Sachlage wird fast so dargestellt, als
hatte vor Schoen niemand in Preussen diesen Gedauken gehegt
und an seine Verwirklichung gedacht. Dem gegeniiber wird von
M. L. ausgefuhrt, wie die Sache historisch geworden , und dahin
zielende Bestrebungen namhaft gemacht, die bis in die Zeit des
ersten Konigs zuriickreichen. Schoen meint, Steins innere Richtung
sei gegen das Gesetz gewesen. M. L. zeigt, dass Stein als Ober-
prasident von Westfalen schon 1799 und 1801 die Freiheit des
bauerlichen Grundeigenthums , wie die Aufhebung der Dienste
und Abgaben, die den bauerlichen Gewerbfleiss unterdriickten,
entschieden vertreten, bis zu seinem Amtsantritte 1807 diesen
Gedanken treu festgehalten und, wo er nur konnte, praktiscfc
durchgefiihrt , aber auch spaterhin sich nur gegen die Harden-
berg'schen Ablosungsgesetze, niemals aber gegen den Inhalt der
Reform gewandt habe. Wenn auch die Acten iiber die Vor-
geschichte des Octoberedicts in auffallend verstiimmeltem Zu-
stande an das geh. Staatsarchiv gelangt sind und dadurch die
Controle sehr erschwert ist, so lasst sich doch der innere An-
theil, den Stein an dem Gesetz genommen, aus den 2 wichtigen
Modificationen erkennen, die er in dasselbe hineingebracht und
durch welche er 1) eine Verringerung des Bauerlandes unmoglich
gemacht, 2) aber das Gesetz von der Provinz Preussen auf den
ganzen Staat ausgedehnt hat. M. L. sucht nun psychologisch
zu entwickeln (S. 122 ff.), wie und warum die Anschauungen
und Urtheile Schoens, dessen Anerkennung fiir Steins Wirken
1810 noch als eine spontane erscheint, im Laufe der Zeiten sich
anderten.
Im Anschlusse an diese Entwickelung stellt er dar, wie
Schoen seit 1814 die Historiographie beeinflusst habe, wofiir
seine Schreiben an Arndt 1814, an Btilow 1819, an Joh. Voigt
1833, an Friccius 1838, an Gottschalk 1847, an Schlosser 1849,
an Varnhagen 1852 u. a. als Beweismittel ins Treffen gefuhrt
werden. Da wird von Schoen nicht nur Scharnhorst die Land-
wehridee und Landwehrverfassung ab- und dem Grafen Alexander
Dohna zugesprochen, sondern auch Steins Auftreten so dargestellt,
als habe erRusslandsAnnexionsgeliiste auf die Pro-
vinz Preussen begiinstigt und gefordert, Annexionsgeliiste, die
an massgebender Stelle iiberhaupt gar nicht vorhanden waren;
damit fallt allerdings ein Theil der Verdienste Schoens und des
preussischen Landtages von 1813. Wie Wittgenstein ausserte auch
Kutusoff (S. 145) bei Ueberschreitung der preussischen Grenze
(10 Tage vor Tauroggen) die freundschaftlichsten An- und Ab-
sichten und versprach der Occupation jede Harte zu nehmen.
Paulucci, fiir den die Tauroggener Convention nicht vor dem
10. Januar verbindlich wurde, verfuhr allerdings feindselig und
besetzte Memel ; aber er that dies durchaus nicht aus Preussen-
feindschaft, sondern aus Hass und Neid gegen Diebitsch und
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Lchmann, Max, Knesebeck und Schoen. 261
Wittgenstein. Schoen will bei Paulucci durch Schulz (S. 147)
energisch protestirt und Erhebung in Masse angedroht haben;
aber M. L. widerlegt dieses aus Schulz' Briefen. Erbitterung
und Wuth herrschte in Ostpreussen uberhaupt nur gegen die
Franzosen, wie Schoen damals selbst zugestand. Die strenge
Kriegszucht und das zutrauliche Benehmen der Russen gewann
ihnen Zuneigung. Die Einquartierung ward gut geregelt; den
preussischen Behorden, auch den Gensdarmen wurden dieselben
Befugnisse gegen die russischen wie gegen die preussischen Soldaten
zuerkannt1) (Vergl. die Beilagen bei M. L.) Freilich wollte auch
die machtige Partei der Altrussen das Land bis zur Weichsel ;
aber der Kaiser selbst war gegen Preussen aufrichtig und wohl
gesinnt (S. 158). Schon Duncker hat darauf hingewiesen , dass
Alexander ein ehrlicher Feind Napoleons war, dass er schon in
and nach der Zeit des Tilsiter Friedens fest entschlossen war,
Napoleon todtlich zu bekriegen, dass er nur die Zeit zum Los-
schlagen noch nicht fur gekommen, seine Russen noch nicht fur
wideretandsfahig genug* hielt (Peter d. Gr. gegen Carl XIL),
dass er aber auch entschieden nicht daran gedacht hat, die
Provinz Preussen den Hohenzollern zu nehmen. So war, was
Wittgenstein sagte (S. 144), Steins und Alexanders aufrichtige
Meinung. — Schoen will die Drohung, das Volk gegen die Russen
aufzubieten, auch gegen Stein ausgesprochen haben. Doch diese
Erzahlung halt die chronologische und historische Kritik nicht
aus (S. 160 — 163). Die Berufung der Landstande aber lag
durchaus im Geiste Steins und zwar gerade in der Provinz
Preussen, wo er 1808 den Kollmern die vollberechtigte Auf-
nahme in die Landschaft verschafft und uberhaupt manche Keime
der Verwandlung der standischen in eine representative Ver-
fassung gelegt hatte (S. 164 — 166), wahrend Schoen, wenigstens
nach seiner Erklarung vom 20. Juni 1808 zu urtheilen — eher
gegen als fur die Berufung der Stande sein musste.
Es folgt nun die Erorterung der Stein' schen Vollmacht
(S. 170), die schon so viel Staub aufgewirbolt hat. Das ganze
Schriftstiick tragt aber eine durchaus preussische Farbung, ent-
sprechend der Gesinnung Alexanders, und bezeichnet sich selbst
nur als fur ein kurzes Provisorium bestimmt. Alexander hebt
in dem Brief an den Konig vom 31. Januar 1813 ausdriicklich
hervor, dass Stein „einer der treuesten Unterthanen" des Konigs
sei, wahrend er gleichzeitig die Riickgabo Memels notificirt.
Wenn Schoen 1849 behauptete Stein Widerstand geloistet zu
haben, so widerlegt ihn sein eigener Bericht an den Staats-
kanzler vom 30. Januar 1813 (S. 173).
Es ist dann Yorks Stellung zur Provinz geschildert (S. 175),
die nach Verwerfung seiner Convention eine hochst peinliche war.
*) In der Biographie 0. v. Natzmors (Berlin 1876) ist S. 98 sogar mit-
getheilt, die ostpreu88ischen St&nde hatton den russischen Autorit&ten Truppon
ftr den Kampf gegen Franlcreieh angeboten.
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262 Lehmann, Max, Knesebeck und Schoen.
Da erscheint Stein zur gliicklichen Stunde in Konigsberg. Die
dortigen Vorgangc sind von Schoen wiederum in falschem Lichte
nnd Verlaufe dargestellt (S. 179 ff.) Schoen selbst ist minde-
stens hochst kiihl gegon den Landtag; denn er schreibt (S. 184)
an Hardenberg: „Ich fand zwar keino Veranlassung, die von dem
Landhofmeister v. Auerswald ausgeschriebene Versammlung in
Absicht der Provinz Litthauen polizeilich zu sistiren, aber audi
• fur mich keine Bcfugniss, mich in standische Angelegenheiten, die
nicht zu meinem officio gehoren, zu inischen". Ja Schoen ist mit
daran schuldig, dass Stein sich begniigte, auf die Idee eines
staatsrechtlich anerkannten Landtags zu verzichtcn, und die aus-
geschriebene Versammlung zu einer privaten Zusammenkunft
degradiren Hess ; aber auf letzterer bestand er. In das rechte
Fahrwassor wurden die Verhandlungen der Stando erst durch
die Vorlagen der hochsten Regierungsgewalt d. i. Steins gebrackt,
dessen Fiirsorgo fiir die Provinz in jcder seiner Massnahmen
hervortritt (S. 189), der auch entschiedcn nicht, wie Schoen
angiebt , eine Provinzialpapiergeldemission gefordert , sondern
damals die Idee eines Bundespapiergeldes verfolgto (S. 192) und
nur auf Annahmo des russischen Papiergeldes in der occupirten
Provinz drang (S. 194).
Den Behorden wie den Standen fehlto, wie damals in
Preussen natiirlich, jedo Spontaneitat , fiir alles erwartete man
Winke oder Befohle von oben. Nicht anders Schoen (S. 203).
Er lehnte den Vorsitz in der Standeversammlung ab, so dass,
da auch York sich weigerte, v. Brandt die Sitzung eroflnete
Eine Deputation ruft York herbci zur Verstandigung iiber die
Mittel zur Vertheidigung dos Vaterlandes. Nach Erledigung
gewisser Formalien iibernahm er dann selbst den Vorsitz, also
dem Wunsche Steins folgend, welcher ging, als er sah, dass die
Sache in guten Handen war, und nicht etwa auf das Drangen
Schoens. Von der Animositat gegen Kussland und dessen Be-
vollmachtigte, von der Schoen spricht, ist in der Versammlung
keine Spur: uberall zeigt man sich der Froundschaft zwischcn
Russland und Preussen freudig bewusst (S. 211).
„Nach Steins Abreise entwickelte Dohna das System der
Landwehr und des Landsturms ausfuhrlich. Der russische M^or
v. Clausewitz machte dabei nur den Concertmeister ; er entwarl
namlich den Schematismus fiir die einzelnen Waffengattungen
und die Eintheilungen in Compagnien, Bataillone und Brigaden."
So Schoen (S. 214). Aber aus den Protokollen ist ersichtlicht
dass von York der Entwurf eines Landwehrgesetzes der Ver-
sammlung vorgelegt ist, deren Ausschuss ihn unter Dohnas Vor-
sitz berieth. Dieser Entwurf entsprang aber aus der Initiative
Steins. Derselbe beauftragte Clausewitz, den liebsten und eifrigsten
Schiiler Scharnhorsts, welcher, da er schnell nach Pillau musste,
den fliichtigen Entwurf an Friedrich Dohna gab, durch den er
an Alexander Dohna gelangte. Auch abgesehen von Friedrich
Dohnas Zeugniss sprechen alle inneren Griinde fiir ClausewiU*
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Lchmann, Max, Knesebeck und Schoen. - 263
Urheberschaft *) (S. 216). Alexander Dohiia machte danach den
Entwurf zu einer Verordnung, und nachdem Stein und York ihn
mit Correcturen vei'sehen, wurde er vom Ausschusse mit wesent-
lichen Modificationen angenommen ; wahrend nainlich Clausewitz
einfeche Aushebung mit unbedingter Dienstpflicht gefordert hatte,
Hess der Ausschuss Stellvertretung zu. Indem M. L. (S. 218 ff.)
den Clausewitz'schen Entwurf und die Festsetzungen der Stande-
Yereammlung neben einander stellt, zeigt er klar die Einwirkung
jene8 auf das Zustandekommen des Landwehrgesetzes. Wir
meinen, dass die Landwehridee gleichsam in der Luft gelfcgen
and dass alle Antheil an ihrer Ausfiihrung haben; aber die
historische Akribie verlangt doch , da&s der Antheil jedes ein-
zeben an der Praxis der Idee festgestellt werde, so gut es eben
geht. Der specifisch ostpreussische Ursprung der Landwehr cr-
scheint danach ziemlich modificirt.
Die Prioritat des Landwehrgedankens gebiihrt Scharnhorst
in 8einem am 31. Juli 1807 dem Konige iiberreichten Plane
(S. 232 ff.), wie Hippel bezeugt, wahrond die Stande Preussens
1806 den Plan der Bewaffnung einos Landsturmes und einer
Miliz (Landwehr) entschiedon abgewiesen hatten trotz der Konig-
lichen Kabinetsordro (S. 237). Den Scharnhorst'schen „vor-
laufigen Entwurf der Verfassung der Provinzialtruppenu von
1807 hat Schoen misverstanden , da er seit Gervinus' Veroffent-
lichung 1846 nicht mehr zu ignoriren war. Hat er aber doch
solbst am 24. December 1807 (S. 251) ein officielles Gutachten
iiber Scharnhorsts Entwurf abgegeben, das erhalten ist. Schon
1808 nach der bosen Pariser Convention uberretchto Scharnhorst
dem Konige einen neuen Entwurf zur „Einrichtung einer National-
armeeut welcher mit jenem vorlaufigen Plane grosse Aehnlichkeit
hat Auch 1809 machte Scharnhorst Vorschlage zur Errichtung
einer Reservearmee und einer allgemeinen Miliz (S. 260). Aber
alle diese Plane werden durch den wachsamen Feind vereitelt.
Ein Bericht der Commission zur Einfiihrung der allgemeinen
Wehrpflicht vom 5. Februar 1810 zeigt wiederum, dass Scharn-
horst allgemeine Wehrpflicht und Landwehr als untrennbare
Dinge betrachtete. Unmittelbar auf den Krieg gerichtet sind
seine Entwiirfe aus dem Sommer 1811, sonst aber jenen fruheren
dwchaus ahnlich.
Wer kann noch behaupten, dass es bei Scharnhorst eines
fremden Impulses zur Erweckung des Landwehrgedankens be-
durfte? Hippel bestatigt, dass ihm 1813 Scharnhorsts Entwurf
zur Redaction und letzten Feile schon im Februar iibergeben
sei, ehe die ostpreussischen Entwurfe anlangten, deren Ab-
weichungen bei M. L. (S. 266 ff.) klar dargelegt werden. Scharn-
horst war gegen diese insofern eingenommen, als sic die Verwendung
!) Man vergleiche auch die Briefe von Carl v. Clausewitz an Mario v.
Clangewitz, mitgetheilt in der Zeitschrift fur preussische Geschichto (13 S. 273 ff.).
Dort sagt er (26. Marz 1813) von Knesebeck: „Er ist mein und Scharnhorsts
erkl&rter Foindu.
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264 Lehmann, Max, Knesebeck und Schoen.
der Landwehr auf das rechte Woichselufer beschrankt wisaen
wollten, was im Marz bereits jedem einsichtigen in der That
unzulassig erscheineu mussto. Scharnhorst drang iiberhaupt auf
innigere Verbindung der Landwehr mit der Linie und auf ihre
lebhaftere Kriegsverwendbarkeit. Ganz besonders aber verdross
ihn die ostpreussische Stellvertretung , da ihm die unbedingte
und personliche Dienstpflicht am Herzen lag. Um diese Frage
war iiberhaupt ein heftiger Streit (S. 273 ff.): die Militara
(Scharnhorst, Boyen, Hacke, Rauch) traten mit leidenschaftlicher
Innigkeit dafur ein, die hochsten Civilbeamten dagegen (besonders
Altenstein und Alexander Dohna) erhoben allerlei national-oko-
nomische Bedenken. Hier tritt also Scharnhorst nicht gegen
den Landwehrplan, sondern gegen dessen Deteriorirung au£
Die Schrift enthalt (S. 289 — 347) sehr schatzenswerthe
Beilagen aus dem geh. Staatsarchiv : 1) Auerswalds Entwurf fiir
eine neuo Organisation des ostpreussischen Landtags nebst den
Kritiken von Schoen und Stacgemann a. d. J. 1808; 2) einen
Brief Scharnhorsts liber don Austritt dor preussischen Offiziere
v. 1812; 3) Cap. Roeders Rechtfortigungsschrift wegen seines
Abschiedsgesuches v. 18. Marz 1812; 4) Berichte aus Ostpreussen
aus der Zeit der russischen Occupation im Winter 1812/13;
5) Berichte iiber die Memeler Angolegenhoit ; 6) Friedens- und
Freundschaftsbriefe Alexanders, Januar 1813; 7) Schoens Bericht
iiber des Zaren Ankunft und Steins Vollmacht v. 30. Januar
1813; 8) Acten der standischen Versammlung des 24. Januar
1813; 9) Actenstiicke, betreffend die Vorbereitung des Land-
tags und Steins Wirksamkeit; 10) die Verhandlungen des Land-
tagsausschusses v. 6. Februar 1813; 11) Bericht Schoens iiber
den Landtag v. 10. Februar 1813; 12) das Ausscheiden v. Grau-
denz' aus dem Landtage; 13) Correspondenz der beiden Grafen
Dohna iiber die ostpreussische Landwehr; 14) Boyens Brief iiber
Schoens Aufsatz zur Landwehrfrage v. 20. April 1813; 15)
Beymes Brief an Schoen iiber die Landwehrfrago und Scharn-
horst v. 21. Mai 1833.
Seit dem Erscheinen dieses Buches sind inzwischen 3 weitere
Bando „aus don Papieren des Ministers und Burggrafen von
Marienburg Theodor v. Schoen" herausgegeben worden und
eincstheils als Erklarung und Erganzung zu den Schoen'schen
Memoiren, anderntheils als Fehdeschrift gegen Max Lehmann
das oben schon erwabnte Buch : „Zu Schutz und Trutz am Grabe
Schoens, Bilder aus dor Zeit der Schmach und der Erhebung
Preussens, von einem Ostpreussen" (Berlin, Fr. Duncker, 1876).
Das fur den Historiker schatzenswertheste in diesem ausserst
breit (741 S.) angelegten Buche sind wol die Mittheilungen aas
ungedruckten Papieren Schoens, Auerswalds und Dohnas, die
Nebeneinanderstellung des Schoen'schen Concepts und der offi-
ciellen. Reinschrift des sog. politischen Testaments (S. 273 — 280),
sowie des Entwurfs der Landwehrordnung von Dohna und von
Clausewitz und cinige andre Beigaben. Es sind 14 verschiodeue
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Lehmann, Mai, Stein, Scharnhorst und Schoen. 265
Aufiatze oder Bilder. Auf eine 64 S. lange Einleitung folgt das
I. Bild: nDie Einfiihrung dos Papiergeldes in Preussen 1805/6",
dann „die erste Entlassung Steins 1806/7" uud „die Zuriick-
berufung Steins 1807"; ferner „der Ursprung des Edicts vom
9. October 1807" und „das politische Testament vom 24. No-
vember 1808"; die folgenden Abschnitte behandeln sehr aus-
fihrlicb die „Stein1sche Vollmacht" und die Verhaltnisse Ost-
preussens z. Z. der russischen Occupation, endlich den ost-
preossischen Landtag und die Entstehungsgeschichte der Land-
wehr. Auch der wohlwollende Recensent des Buches in der Vossi-
schen Zeitung muss eingestehen, dass man die breite, weit-
schweifige, der historischen Methode entbehrende Manier des
Verfassers „durch Geduld neutralisiren" muss (Sonntagsbeilage
Nr. 10 4 J. 1877).
Einer scharfen Kritik hat dieses Buch M. Lehmann in seiner
H. Schriftt „Stein, Scharnhorst und Schoen" unterworfen ; er glaubt
nm so entschiedener fur die in seiner ersten Schrift vertretene
Ansicht und Darstellung eintreten zu mtissen, weil er in der
Schutz- und Trutzschrift gegen sich ,jede Riicksicht der guten
Sitte bei Seite gesetzt" sieht und weil die quellenkritische Frage
zugleich zu einer psychologischen und cthischen geworden ist.
Ihm gilt als Grundsatz, dass die Diplomata den Fontcs vor-
gehen, dass die Beweiskraft einer Urkunde der Autoritat
auch des besten Quellenschriftstellers vorgeht. Methodische
Scharfe und Knappheit zeichnen ihn vortheilhaft vor seinem
Gegner aus.
In dem I. Capitel, in welchem er den Stand der Frage bo-
handelt , hebt M. L. hervor, wie Schoen, der alle in hervor-
ragender Stellung mitthatigen Manner jener grossen Zoit iiber-
lebt hat und der von den Epigonen, namentlich in seiner Heimats-
provinz, uberschwenglich verohrt worden, die Geschichtsschreibuug
lange Zeit beeinflusst hat und wie der Verfasser der Schutz-
wid Trutzschrift zumeist auch nur Schoen durch Schoen zu be-
weisen suche, wahrend ihm selbst das schwere Riistzeug dos
geheimen Staatsarchivs zu Gebote stand.
In dem II. Capitel „Stein und Schoon" zeigt er die
tiefe Abneigung, welche bei Schoen uberall gegen Stein zu Tage
tritt und ihn daher unfahig macht, Steins Thaten ehrlich und
ttnbefangen darzustellen und zu beurtheilen. Was wollen all-
gemein gehaltene Lobeserhebungen Steins bei Schoen bedouten,
wenn wir bei ihm Aeusserungen finden wie diese : „Stein fangt
an, Hardenberg zu loben. Es muss wieder ein Geldgeschaft vor
^in, vielleicht setzt Hardenberg ihm einige von den Domanen-
pfandbriefen am: etwas unklares ist jeden&lls dabei. Die ganze
Generation, aus der Stein ist, muss doch erst zu Grunde gehen,
^enn es besser werden soil. Kein Gedanke, keine Idee, keine
Treue, kein Glauben: Pfiffigkeit, mit etwas Kenntnis und Witz
gepaart, aber ohne Kopf, ohne Herzl" und: „Stein ist so
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266 Lehmann, Max, Stein, Scharnhorst und Schoen.
ungeordnet wie immec, ohne grossen Kopf und ohne Plan. Er ist
keiner grossen Leitung fahig"1).
Entsprechend dom in dem Trutzbuche oingeschlagenen Grange
behandelt M. L. zuerst das „Papiergold von 1805 und
1806". Stein soil nach Schoen den Papiergeldgedanken „bei-
nabe bis zur Verriicktheit" verfolgt haben. Mit Zuhilfenahme
des Archivs der Hauptverwaltung der Staatsschulden zeigt M. L.
Widerspriiche und Unrichtigkeiten in den Memoiren Schoens
und in dem diese erganzenden Trutzbuche. Am 24. September
1805 citirte der Konig Stein zur Besprechung wichtiger Finanz-
operationen. In der 3 Tage darauf von Stein eingereichten
Schrift ist von Papiergeld auch nicht mit einer Silbe die Redo.
Diese Frage wurdo erst in der Antwort des konigliehen Cabinets
vom 28. September angeregt, die Emission von Papiergeld
geradozu an die Stelle der von Stein vorgeschlagenen Steuer-
crhohung gesetzt Nachdem dio friiheren von Struensee ange-
regten Versuche zu Papiergeldemissionen besprochen sind, aus
denen hervorgeht, dass der Konig einen solchon Plan bereits
seit 1798 entschiedcn begiinstigte, wendet er sich zu Steins
Bericht vom 9. October 1805, in welchem er schweren Herzens
die Ausgabe von 5 Millionen Thlr. empfiehlt, wahrend in den
ihm zugefertigten Acten von 20 Millionen die Rede war und
Schulenburg, der Chef der Finanzcontrole, wieder das 4facbe der
von Stoin vorgeschlagenen Summe einsetzte. Eben diese Summe
hielt der Konig fiir nothwendig. Obwol der Konig (am 15. October)
schrieb : „Schliesslich mache Ich es Euch zur angelegentlichsten
Pflicht, nunmehr sowohl die Kreirung des Papiergeldes als die
Eroffnung offentlicher Anleihen eifrigst zu betreiben", zogerte
Steiri doch noch 7 Wochen. Am 2. December legt er sein Edict
vor, welches von Geist, grosser Vorsicht und Behutsamkeit durch-
haucht ist und nach welchem das Geld wahrend des Krieges
unrealisirbar , nach hergestelltem Frieden aber realisirbar seiD
sollte. Am 7. December erklarte der Konig sein vollstes Ein-
verstandniss mit Steins Plan. Im Genei'aldirectorium hatte auch
Schoen seine Meinung zu aussern. Und wio thut er es? Zu
unserer grossen Deberraschung stimmt er mit Stein in der For-
derung von Papiergeld uborein, er erklart sich auch mit ihm
fur 5 Millionen und betont nur noch mehr die ReaJisirbarkeit
Wo bloibt da der im Trutzbuche hingestellte unversohnKche
Gegensatz zwischen Stein und Schoen? In scharfen und klaren
Ziigen ist (S. 24) die Summe dieser Untersuchung gezogen.
Sodann behandelt M. L. „Steins Antheil an dem Harden-
berg'schen Finanzplan von 1810u. Schoen sagt: * „Im Jahre 1810
ertheilte Stein dem Staatskanzler, als dieser eben sein Amt an-
getreten hatte, unaufgefordert den Rath, Papiergeld machen zu
lassen. Er ging sogar soweit, Hardenberg gegen meinen, wie
Schoen sich ausdriickt, Esprit a systeme, vermoge dessen ich dem
*) Man vergleiche die Blumenleso auf S. 89—90 u. a. 0.
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Lehmann, Max, Stein, Scharnhorst und Schoen. 267
Papiergeld entgegen sei, zu warnen". M. L. weist aus den
Acten nach, dass Stein von Hardenberg der Plan einer Papier-
aosgabe Yon 16,093,210 Thlr. vorgelegt sei, dass er also sein
Gutachten und soinen Rath nicht unaufgefordert gegeben habe.
In Betreff der vermeintlichon Warnung vor Schoen wird auf
Steins Brief vom 2. August 1810 an Hardenberg hingewiesen,
in welchem es heisst : „Ich bin sehr erfreut, dass E. Exc. Herrn
?. Schoen wieder berufen und dadurch gezeigt habon , dass Sie
semen Talenten und Kenntnissen Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Ich hatte ihn dem Konig vor meinem Riicktritt zum Minister der
Finanzen vorgeschlagen und ich glaube, dass er sie mit Ueber-
sioht und Sachkenntniss verwaltet haben wiirde. Der Konig
furchtete seine Heftigkeit: — ich habe ihn niemals sich ver-
gessen oder iibereilen sehon. Er vereinigt mit einer griindlichen
Kenntnis der Grundsatze dor Finanzwissenschaft eine Klarheit
in seinen Entwiirfen, eine Leichtigkeit in arithmetischen Com-
binationen und eino Kenntnis unsers ehemaligen finanziellen
Systems, welche sehr nutzlich ist, wenn man neuern und andern
will. Sein esprit a systeme wird in diesem Each durch Zahlen
beschrankt und in seinen Grenzon gehalten".
Der nachste Abschnitt betrifft „S,teins ersten Riick-
tritt 1806—1807" und weist nach, dass es nicht „kleinliche
Streitigkeiten mit einem der Person des Konigs sehr nahe
stehenden Manneu (otwa Kockritz oder Beyme), sondern be-
deutungsvolle sachliche Differenzon warcn, welche zu Steins
Entlassung fuhrten. Am deutlichsten beweist dieses die bekannte
Cabinetsordre vom 3. Januar 1807 gegen den „widerspenstigen,
trotzigen , hartnackigen und ungehorsamen Staatsdiener" , in
welcher 4 entschcidende Griinde fur diesen Schritt des Konigs
angefuhrt sind.
Es folgt „das Edict vom 9. October 1807". Das
Trutzbuch behauptot nach Schoens Vorgang, Steins Zurtick-
berufung sei nur ein Nothbehelf gewesen; Schoen, der selbst
abgelehnt, habe ihn auf diesen Platz gestelltv „auf welchem er
sich mit Schoens Hilfe und solango er sich seinem Einflusse
hingab, seine schonsten Lorbeeren erworben habe". Hardenbergs
Denkschrift uber die Reform des preussischen Staats vom
12. September 1807 *) soil aus Schoens Anregung entsprungen
sein, der den erleuchtenden Funken in Hardenborgs und auch
*) Die ersten Mittheilangen aus dieser Denkschrift hat meines Wissens
Ft. Forster in seiner preussischen Geschichte (II, 207 ff.) gomacht, dem ein
85 Foiioseiten umfassendes eigenhandiges Manuscript Hardenbergs vorgclegen.
In meiner Biographic Hippels (S. 101 — 108) habe ich die Einleitung zu dieser
Denkschrift mitgetheilt nach einem 286 enge Quartseitcn umfassonden, von
unkondiger Hand gegehriebenem Manusoripte, das mein Grossvater v. Hippol aus
Hardenbergs Kanzlei erhalton hatte. Es stimmt mit den bei Forster abgo-
druckten Abschnitten nicht ftberein; aber auch nicht mit der von L. v. Ranke
in Hardenbergs Denkwfirdigkeiten (Bd. IV) als Anhang mitgetheilten Denk-
schriffe, welche nach Hardenbergs eigenhandigen Aufzeiohnungon mitgetheilt ist.
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268 Lehmann, Max, Stein, Scharnhorst and Schoen.
in des Konigs Seele geworfen1). „ Schoen hat dainals den Plan
entworfen, dessen Ausfuhrung nachher in Steins Hande gelegt
wurde." Da Schoen selbst iiber diese seine Urheberschaft
schweigt, so scheint es, als babe Ewald eine Liicke in dessen
Memoiren ausfiillen wollen. Die alteren Versuche einer Bauern-
emancipation sind bei Schoen nicht erwahnt, und nach dem Til-
siter Frieden brachte nicht Schoen, sondern Wilcken die Auf-
hebung der Erbunterthanigkeit zuerst wieder in Anregung. Dass
Stein dieser Massregel urspriinglich abhold gewesen, ist durch
Urkunden von 1801 — 1807 widerlegt. Er nimmt auch unum-
wnnden den Ruhm dieser Massregel fur sich in Anspruch. M. L.
bestatigt die zuerst von Preuss in seinem Nachtrag zur Geschichte
Friedrichs des Grossen gemachten Angaben und Feststellungen,
ohne Schoens Verdienste um die Vorbereitung des Gesetzes zu
bestreiten.
Er wendet sich dann zu dem „politischen Testa-
mente Steins" und beantwortet die von den Schoenianern
aufgeworfene Frage, ob er den Ideen desselben nur mit halbem
Herzen zugethan gewesen, und ob ihn nur der „altklassische
Sinn fur Nachruhm" zur Unterschrift vermocht habe, noch ein-
mal zu Gunsten Steins. In Schoens Tagebuch aus jener Zeit
ist von Steins Bedenken nicht mit einem Worte die Rede; ja er
baut auf ihn vor alien, wenn er am 5. December schreibt:
„ Stein fuhr ab, ich sah ihm nach. Er nimmt viel mit, die An-
hanglichkeit aller rechtlichen Menschen. Stein schickte seinen
beiliegenden Abschied. Er enthalt alles, und der grosse Mann
geht seiner wiirdig ab." Aus Steins Art zu arbeiten muss man
schliessen, dass er die allgemeine Direction gab und Schoen
beauftragte das Concept zu machen. Dass er dieses hier und
da modificirte und wirkliche Verbesserungen anbrachte, geht aus
den Divergenzen hervor, die bei Nebeneinanderstellung von Concept
und Testament in die Augen fallen; diese Correcturen zeigen
gerade den inneren und innigen Antheil, den Stein am Testa-
ment hat.
Es wird nun „der preussischo Landfag von 1813"
besprochen. Wenn die von M. L. in seinem ersten Buche mit-
getheilten und als Beweismittel verwendeten Briefe und Berichte
Schoens aus Gumbinnen als ostensible zu botrachten sind, wie
das Trutzbuch meint, so beweisen sic nur noch mehr Schoens
damalige Russenfreundlichkeit. Was die Vorfalle in Memel betrifft*
so ist das von Schoen behauptete Rencontre zwischen seinem
Commissarius Schulze und General Paulucci nicht gut moglich
gewesen, auch brief lich nicht. M. L. widerlegt sodann die
Argumente, welche das Trutzbuch zu Gunsten der Schoen schen
Memoirendarstellung in Betreflf der Ankunft Steins in Gumbinnen
und seiner Unterredung mit Schoen bringt. Was wSteins Voll-
*) Siehe die objective Darsteilung dieser Verhaltnisso in Hardenbergs
Denkwurdigkoiten Bd. IV S. 101 ff.
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Lehmann, Max, Stein, Sebarnhorst und Schoen. 269
macht" betrifft, so gibt M. L. zu bedenken, das 8 Preussen de
jure noch Russlands Feind war, als dessen Truppen in Ostpreussen
einriickten, Russland also dieses in seine vorlaufige Verwaltung zu
nehmen berechtigt war. Steins Zweck war nicht, dio Annexion vorzu-
bereiten, nicht Reformen in der Verwaltung oder Verfassung vor-
zunehmen, nicht die Bevolkerung aufzuwiegeln, sondern die Krafte,
welche das Land bis zur Weichsel fiir den nahe bevorstehenden
gemeinsamen Krieg gegen den gewaltig und schnell riistenden
Napoleon noch besass, schleunigst zu entbinden und nutzbar zu
machen. Auch wollte Stein den noch zaudernden Konig mit-
fortreis8en. Schoen verurtheilt also in seinem Sendschreiben an
Schlosser (1849) mit Unrecht diese Vollmacht, und seine Dar-
stellung entbehrt der Glaubwiirdigkeit. In Bezug auf das Zer-
wiirfhiss zwischen Stein und Auerswald weist M. L. nach, dass
Aoerswalds schwankendes Verhalten mehr daran schuld gewesen,
als Steins Heftigkeit oder gar seine moskowitische Gesinnung,
tod der alle seine Massnahmen das Gegentheil zeigen. Aehnliche
tendenziose Unrichtigkeiten und Ungenauigkeiten werden in Bezug
aof Schoens zweite Reise nach Konigsberg und die beriihmte
Unterredung nachgewiesen, welche am 4. Februar 1813 zwischen
Stein, York und Schoen stattfand und in welcher das Programm
fur die Landtagssitzung des folgenden Tages festgesetzt wurde.
Nicht minder gewinnt uns M. L. fur seine Ansicht, dass Stein
Konigsberg nicht verlassen, weil er von Schoen iiberzeugt worden,
dass seine „fernere Anwesenheit dem Fortgange der guten Sache
nur hinderlich" sei, sondern weil er seine Mission erfiillt sah,
weil er bereits diese gute Sache in den besten Gang gebracht
and fur sie nichts mehr zu besorgen hatte. Und so kommt
man zu dem Schlusse (S. 71): „Man schlage ein beliebiges Buch
iiber die Konigsberger Ereignisse d. J. 1813 auf. Was preisen
die nachlebenden Geschlechter ? Den Landtag — er war das
Werk Steins ; die ostpreussische Landwehr — sie entsprang der
Initiative Steins; die Eintracht der Provinz — sie wurde ge-
rettet durch das Eingreifen Steins." —
Das IIL Capitel tragt die Ueberschrift: „Scharnhorst
and Schoen". Am 7. Februar 1813 beschloss der Landtag
in Konigsberg ein Landwehrgesetz fur die Provinz ; am 17. Marz
1813 wurde ein solches in Breslau fur die ganze Monarchic
woffentlicht. Schoen sagt: Scharnhorst war ein grosser Linien-
soldat; unsere Landwehr hat er nicht geschaflfen; er war ein
Gegner der echten Landwehr, wie sie von den Ostpreussen be-
schlossen wurde; mit Miihe wurde er dazu gebracht, in die Er-
richtung der echten Landwehr zu willigen; das Gesetz vom
17. Marz ist nach dem des 7. Februar gemacht; Autor ist Graf
Alexander Dohna1). M. L. dagegen behauptet: das Gesetz vom
*) Aua einer Anmerkung S. 81 entnehmen wir die unerfreuliche Kunde,
<ks8 im Dohna' schen Familienarchiv die aus dem J. 1813 staminenden Papiere
des Grafen Alexander Dohna sich leider nicht finden, also wol iiberhaupt ver-
loren sind.
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270 Prokesch-Oaten, Mein Verhfiltniss zum Herzog von ItoichstadL
17. Marz ist vollig unabhangig von dem des 7. Februar ent-
standen; es tragt Scharnhorsts Namen mit Reoht; schon vor
demselben und vor dem ostpreussischen Gesetz hat der General
cine Reihe von Landwebrplanen entworfen ; er hat einen mittel-
baren Antheil auch an dem Gesetz des 7. Februar. Er veiv
theidigt diesen schon in seinem ersten Buche aufgestellten Satz
gegen das Trutzbuch, indem er aus der Gebriider Dohna Auf-
zeichnungen darthut, dass Alexander fiir seinen Entwurf den tor
Glausewitz benutzt hat, der wiederum auf Scharnhorst zuriiek-
zufiihren ist. Den selbstandigen Ursprung des Gesetzes vom
17. Marz leitet er aus den Aufzeichnungen Scharnhorsts, des
Autors, und Hippels, des Redactors dieses Gesetzes, her. Der
Konig hat beide Gesetze am 17. Marz unterschrieben und be-
stimmt, dass „nach und nach die Landwehr in Preussen die
Verfassung derer der ubrigen Provinzen erhalten solle". Auch
die Vorgeschichte des Landwehrgesetzes spricht zu Gunsten
Scharnhorsts, wie aus dessen alteren Landwehrplanen erwiesen
wird, deren es nicht weniger als 7 gibt. Gegen den ostpreussischen
Entwurf war Scharnhorst, wie M. L. schon in seinem ersten
Buche entwickelt, weil durch die dort zugelassene Stellvertretung
der Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht verletzt war.
Im IV. Capitel „Ergebnissu gibt M. L. zunachst ein
Lexikon der Beurtheilungen , bez. Verurtheilungen , welche die
yerdientesten Manner jener Zeit von Seiten Schoens erfahren,
und zieht daraus den Schluss, dass dieser keinen Beruf zum
Historiker gehabt ; denn „von den beiden grossen Eigenschaften,
welche den Historiker machen: Festigkeit der eigenen Ueber-
zeugung und Verstandnissfahigkeit fiir die Ueberzeugung anderer
war ihm die zweite ganzlich versagt".
Berlin. Th. Bach.
LIX.
Prokesch-Osten. Mein Verhaitniss zum Herzog von Reichstadt
Zwei Sendungen nach Italien. Selbstbiographische Aufsatze
aus dem Nachlass des Grafen Prokesch-Osten. gr. 8.
(VII, 240 S.) Stuttgart 1878. W. Spemann. 8 M.
Der vor einigen Jahren verstorbene Graf Prokesch - Osten,
bekannt durch seine langjahrige diplomatische Thatigkeit im Orient,
hatte gegen das Ende seiner Tage den Gedanken gefasst, die wich-
tigsten Momente seines ereignissreichen Lebens in einer langeren
Reihe von Monographien aufzuzeichnen und selbst herauszugeben.
Indessen der Tod trat dazwischen; nur drei Monographien war
es ihm noch vergonnt zum Drucke vorzubereiten ; herausgegeb«i
von dem Sohne des Verstorbenen liegen sie in einem vortrefiTich
ausgestatteten Bande vor uns, als der Anfang von Veroffent-
lichungen aus den mannigfaltigen Aufzeichnungen und Korrespon-
denzen des Grafen, die bei seinem vielbewegten Leben eine Reihe
der interessantesten Beitrage zur neueren und neuesten Geschichte
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Proteseh-Osten, Mein Yerh<niss zum Herzog von Reichstadt. 271
in Anssicht stellen. Der erste Aufsatz: „Meine Begegnung mit
dem Herzog von Reichstadt und mein Verhaltniss zu ihm. Aus
meinem Tagebuche 1830 — 1831", schildert die Beziehungen des
Grafen zu dem Sohne Napoleons I., Beziehungen, die seinem
Herzen und seiner Empfindung alle Ehre machen, aber freilich
die politische Einsicht gar sehr vermissen lassen , die ihn sonst
aoffidchnete. Er war im Jahre 1830 mit dem Prinzen bekannt
geirorden; bei dem ersten Zusammentreffen hatte er, wie er
sagt, „das Vorgefiihl , wie es den Jungling bei der ersten Be-
gegnung mit dem Madchen befallty dem er sein Herz geben
wird". In der That wurde ihr Verhaltniss bald das allerver-
tranlicliste. Der junge Prinz , der von sich selbst , seiner Be-
stimmung und seiner Zukunft die grosste Vorstellung hatte,
empfand ein lebhaftes Bediirfniss sich an Jemand anzuschliessen,
der aeinen schwarmerischen Vorstellungen mit Theilnahme ent-
gegenkam. Prokesch-Osten ging auf die Ideen und Empfindungen
des Prinzen mit der Neigung ein , wie sie ihm das ungliickliche
Schicksal des in innerer Unruhe sich sichtbar verzehrenden
Jimglings einflosste. Bald wollte er ihn zum Konig von Griechen-
land, bald zum Konig des wiederhergestellten Polens machen;
er war sehr ernstlich der Ansicht, „dass der Herzog von Reich-
stadt der zuletzt alien Kabineten und Volkern genehme Friedens-
fiiret sein werde". Der Aufsatz, der mit warmer, fast iiber-
stromender Empfindung geschrieben ist, giebt interessante Auf-
scbliisse uber die Umtriebe der bonapartischen Partei, die durch
die Juli-Revolution neue Anregungen und Hoffhungen empfangen
hatte. Gross und bedeutend erscheint in dem Gewirre der sich
kreuzenden und widersprechenden Bestrebungen jener Tage die
Person des Fiirsten Metternich: mit ebenso kluger als ruhiger
Umsicht waltete er daruber, dass der Prinz und sein junger
Freund sich nicht zu Unbesonnenheiten hinreissen liessen, die
sie ins Verderben stiirzen konnten.
In den andern beiden Aufsatzen tritt das personliche Ele-
ment, das dem ersten ein so anziehendes Geprage giebt, vor den
grossen Verhaltnissen der europaischen Politik in den Hinter-
gnrod* Sie betreffen zwei Sendungen des Grafen nach Italien,
die erste veranlasst durch die aufstandischen Bewegungen in den
papstlichen Legationen, die andere durch die Besetzung Anconas
Ton franzosischen Truppen. Den wesentlichen Inhalt der Auf-
zeichnungen bilden die, wie man weiss, stets vergeblichen Ver-
sache, res dissociabiles, die papstliche Herrschaft und eine gute
weltiiche Verwaltung mit einander zu vereinigen. Unter dem
ftrucke der allgemeinen europaischen Verbal tnisse , dem ent-
schiedenen Gegensatz der politischen Bestrebungen Frankreichs
and Oesterreichs , der erbitterten Feindseligkeit der papstlich
nnd demokratisch Gesinnten, mussten auch damals die Bemiihungen
fiir eine wirkliche Verbesserung der papstlichen Verwaltung
scheitern, um so mehr, da aus Hoffhungslosigkeit von vornherein
irar die Wenigsten so mit Ernst an der Sache arbeiteten , wie
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272 Hertzberg, G. F., Geschichte Griechenlands etc.
Graf Prokesch-Osten. Den Schluss des dritten Aufeatzes macht
eine sehr hiibsche Schilderung des gesellschaftlichen Lebens,
das durch das Zusammenwirken von Kunst und Schonheit im
Anfang der dreissiger Jahre zu Rom bliihte. Von den Briefen,
die* den Aufsatzen beigegeben sind, mochte icli ein Schreiben Ra-
detzkis hervorheben, welches folgende Stelle enthalt: „Gute
Truppen konnen nur jene sein, die kein anderes Princip als
Treue gegen ihren Monarchen, kein anderes Gesetz als seinen
Willen kennen".
Alle drei Aufsatze von Prokesch-Osten sind fast'mehr an-
ziehend durch die Art, wie er schreibt, als bedeutend durch das,
was er schreibt: eine edle und liebenswiirdige Personlichkeit
tritt uns darin entgegen.
Paul Bailleu.
LX.
Hertzberg, G. F., Geschichte Griechenlands seit dem Absterben
des antiken Lebens bis zur Gegenwart. 2. und 3. TheiL Gotha
1877/78, F. A. Perthes.
In halt: Zweiter Theil: Vom lateinischen Kreuzzuge bis
zur Vollendung der Osmanischen Eroberung 1204 — 1470.
gr. 8. (XVIII, 605 S.) 12 M. Dritter Theil: Von der Voll-
endung der Osmanischen Eroberung bis zur Erhebung der
Neugriechen gegen die Pforte 1470—1821. gr. 8. (XIII,
473 S.) 9,60 M.
Der Verfasser berichtet im Vorwort: „Der urspriinglich ent-
worfene Plan, die Geschichte Griechenlands vom lateinischen
Kreuzzuge bis zum Jahre 1821, oder doch bis zur franzosischen
Revolution, in Einem Bande zu erledigen, konnte bei der Fiille
des zu bewaltigenden Stoffes nicht festgehalten werden. So
kamen Herr Geheimrath v. Giesebrecht, die Verlagsbuchhandlung
und der Verfasser dahin uberein, fur die Geschichte der Griechen
unter der osmanischen Herrschaft einen besonderen Band vot-
zubehalten, der bis 1821 herabreichen soil". Der vorliegende
zweite Theil des Werkes umfasst demnach die Zeit vonr- latei-
nischen Kreuzzuge bis zur Vollendung der osmanischen Eroberung
(1204—1470). Ueber das Material, auf welchem er der Haupt-
sache nach beruht, erhalten wir in einer Note zu S. 10 genaueren
Aufschluss. Es ergibt sich aus ihr, dass dasselbe nicht durch
selbstandige Forschung gewonnen, sondern aus andern alteren
und neueren Schriften, besonders aber aus den epochemachenden
Arbeiten von Karl Hopf geschopft wurde. Verf. sagt : „ Wer jeto
nach Hopf dieses Zeitalter von 1204 zunachst bis zur Voll-
endung der osmanischen Eroberung historisch absolut neu und
selbstandig behandeln wollte, der miisste Hopfs Arbeiten i»
Wahrheit von Grund aus noch einmal unternehmen. In dieser
Lage bin ich nicht ... Ich musste daher mich darauf be-
schranken — um es mit grober und resignirter Ehrlichkeit
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Hertzberg, G. F., Geschichto Griochenlanda etc. 273
grade herauszusagen — diesen Theil in Gestalt einer Compi-
lation, dieses Wort iminerhin im besten Sinne aufgefasst, her-
zustellen, & h. langjahrige eigene Studien, dann die Benutzung
der verschiedenen andern vor und nacli Hopfe Hauptwerk in
Bezug auf Griechenlands Mittelalter erschienenen Werke, mit der
Ansnutzung des riesigen Hopfschen Materials zu verbinden . . . /
Ich habe dabei manche kleine Fehler, welche der ausgezeichnete
Forscher nicht immer zu vermeiden vermochte, stillschweigend zu
?erbes8ern mich bemiiht. Gruppirung und Gestaltung des histo-
rischen Stoffes ist eine vollig andere geworden; namentlich ist
auch die von Hopf nach dem Jahre 1261 zuriickgestellte Ge-
schichte des byzantinischen Reiches gebiihrendermassen in den
Yordergrund geriickt und im Zusammenhange des Systems,
welches ich bei dieser Arbeit zu Grunde legen zu miissen
glaubte, wesentlich als Rahmen fur die historische Darstellung
benutzt wordenu.
Wir haben die Darstellungs- und Ausdrucksweise des Verf.
nach ihren Vorzugen und Mangel n schon friiher, bei der Be-
sprechung des ersten Bandes charakterisirt und wollen, zumal
sie dieselbe geblieben ist, hier nicht langer dabei verweilen.
Da aach der verarbeitete Stoff gegeben ist und als bekannt
?orausgesetzt werden darf, so kann sich unser Bericht im
Wesentlichen damit begniigen, die Gliederung desselben anzu-
geben.
Von den beiden Buchern, in die der vorliegende Band zer-
fallt, geht das erste (S. 1—237) bis zur Eroberung des Herzog-
thums Athen durch die Katalonier, 1204 — 1311. Es ist seiner-
8eits wieder in drei Kapitel getheilt, von welchen das erste
(S. 3—89) mit dem Tode des Kaisers Heinrich von Romanien
(1216) schliesst, das zweite (S. 89 — 146) bis zur Wiedergewinnung
Lakoniens durch die Palaologen (1262) reicht, das dritte (S. 146
bis 237) den Ausgang des Buches hat. Jeder grossere Abschnitt
wird durch einleitende Betrachtungen eroffnet, welche die gegon-
wartige Lage der Dinge kurz charakterisiren und den Gang
3»rer weiteren Entwickelung in den Grundzugen im Voraus an-
.?eben. An sie schliesst sich in der Regol zuniichst die Geschichte
des (lateinischen, spater griechischen) Kaiserthums, der dann die
der iibrigen zahlreichen Staaten , welche sich im Laufe der Zeit
auf der Halbinsel, wie auf den Inseln und in Kleinasien heraus-
Wden, zu folgen pflegt. AUe diese grosseren und kleineren
Staaten sind bestandig in aussere oder innere Kriege verwickelt,
die dann auch den fast ausschliesslichen Inhalt der Erzahlung
abgeben. Es ist gewiss nicht leicht , die unauf horlichen , an
Wechselfallen reichen Kampfe, die sich auf einem so weiten
Raume abspielen und bald ohne nahern Zusammenhaug neben-
einander hergehen, bald sich mannigfach verschlingen und durch-
kreuzen, klar und ubersichtlich darzustellen. Verf. erreicht das
sum Theil dadurch, dass er die einzelnen Kapitel nochmals in
Meinere Abschnitte zerlegt, von welchen jeder eine gewisse
Mittheifangen a. d. hintor. Litteratur. VJ. 18
Digitized^ UOOQ IC
274 Hertzborg, G. F., Gesehichte Griechenlands etc.
Folge von zusammengehorigen Begebenheiten zu einem wenigstens
relativ abgeschlossenen Gaiizen vereiiiigt. Eine genaue Inhalts-
angabe dieser Unterabtheilungen wiirde nicht nur zu weit fiihren,
sondern auch uberflussig und ermiidend sein. Wir beschr'anken
uns daher auf die Hervorhebung der wichtigeren, in ihneu zur
Spracbe kommenden Punkte.
Kapitel 1 besteht aus fiinf Abschnitten. Der erste gibt
einen allgemeinen Ueberblick iiber die Lage der jGriechen und
Franken; der zweite berichtet iiber die Griindung des Kaiser-
thums Nicaa, die Kriege der Franken mit Laskaris und den Bul-
garen, die Eroberungen des Konigs Bonifkcius von Thessalonich;
der dritte behandelt die Thronbesteigung des Kaisers Heinrich
und seine Kampfe mit den Griechen von Nicaa; der vierte er-
zahlt den siegreichen Bulgarenkrieg dieses Fiirsten, erortert dann
seine Beziehungen zu den Lombarden in Makedonien und dem
griechischen Despotat von Epirus, und schliesst mit der Bildung
des Fiirstenthums Achaja durch Villebardouin ; der fiinfte be-
schaftigt sich zunachst mit der Politik und den Eroberungen
der Venetianer in Romanien, berichtet dann iiber die Griindung
des Herzogthums Naxos, wie iiber die Erweiterung und Befestigung
der frankischen Herrschaft in Morea und fUhrt die Reichs-
geschichte bis zum Tode Heinrichs fort.
Von den beiden Abschnitten des zweiten Kapitels schildert
der eine den fortschreitenden Verfall des frankischen Reiches
am Bosporus unter den Kaisern Peter , Robert und Balduin IL,
sowie die zunehmende Erstarkung des Kaiserthums Nicaa unter
Theodor Laskaris, Johannes III. Vatatzes und dem Palaologen
Michael VIII., dann auch die andauernden Kampfe um das Reich ?on
Thessalonich, welches der Reihe nach von den Epiroten, Bulgaren
und Rhomaern erobert wird. — Erfreulicher ist, was im zweiten
Abschnitt von dem bliihenden Zustande der frankischen Fiirsten-
thiimer Achaja und Athen berichtet wird. Doch kommt es auch
hier bald zu verderblichen Kriegen, die damit endigen, dass die
Palaologen, seit 1261 im Besitz von Konstantinopel, im sudlichen
Theile Moreas festen Fuss fassen.
An die Regierung Michaels VIIL , mit welcher das dritte
Kapitel beginnt, schliesst sich im zweiten Abschnitt die seines
Nachfolgers Andronikos II. Unter ihm nimmt in Kleinasien die
Macht der Osmanen einen bedeutenden Aufschwung, wahrend in
den griechischen Landschaften, namentlich in Epirus und Achaja,
die Angiovinen von Neapel ihre schon frtiher begriindete Herr-
schaft zu befestigen suchen. — Abschnitt 3 erzahlt die Heer-
fahrt der Katalonier, eines aus spanischen Abenteurern beste-
henden Soldnerhaufens, der seit 1302 im Dienste des Hofes von
Byzanz die Tiirken in Asien bekampft, dann, mit der kaiser-
lichen Regierung zerfallen, auf eigne Hand das Reich durchzieht
die frankische Ritterschaft in der Schlacht am Kephissos ver-
nichtet und sich des Herzogthums Athen bemachtigt (1311).
Verf. schliesst hier das erste Buch ab, weil er dem in Rede
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Hertzberg, G. P., Geschichte Griechenlands etc. 275
stehenden Ereigniss eine fiir den weiteren Verlauf der Begeben-
heiten entscheidende Wichtigkeit beimisst. „Die kataloniscbe
Katastrophe" , sagt er, „ist nach alien Seiten hin fur die Ge-
schichte der griechischen und der griechisch-frankischen Welt
bedentungsvoll geworden, und zwar ausnahmslos im zerstorenden
Sinne. Fiir die Rhomaer bedeutete sie das Misslingen des letzten
Vereuches, auf dem Wege des energischen Angriffes der tiir-
kischen Fluth Meister zu werden : auf dieser Seite bricbt nun
das Verderben immer unaufhaltsainer herein. Das frankische
Griechenland dagegen ist durch die Eroberung des Herzogtbums
Athen, an welche sich sehr bald die Interessen des Hauses
Aragon kniipfen, in einen Scbauplatz erbitterter Fehden zwischen
den franzosischen und den spaniscben Romanen verwandelt:
derart, class die Kraft zur Abwehr der griechischen wie der
t&rkischen Feinde immer mehr schwindet, und nur noch Venedig
die Defensive mit Erfolg zu fiihren vermag. Wahrend endlich
tou dem Norden der Donauhalbinsel her einerseits eine neue
SlaTenherrschaft iiber grosse Theile der griechischen Welt vor-
iibergehend sich ausbreitet; wahrend andererseits in dem epi-
rotischen Norden das albanesische Volk sich allmahlich anschickt,
die Ethnographic Griechenlands noch bunter als bisher zu ge-
stagen : so nimmt im Grossen die Lage des frankischen Griechen-
lands immer mehr die Wendung zum Schlimmstenu (S. 241).
Die mitgetheilte Stelle enthalt das Programm der Aus-
ffihrungen, welche im ersten Kapitel des zweiten Buches (S. 241
bis 315) gegeben werden. Dasselbe behandelt in drei Abschnitten
den Zeitraum von 1311 — 58, wo die Albanesen anfangen, selb-
standig aufzutreten. Nachdem zuvorderst der Ausgang des Hauses
Angelos und die Erhebung des Konigs Friedrich von Sicilien
znm Schutzherrn von Athen berichtet worden, finden die Kampfe
wn den Besitz Moreas und die inneren Zustande dieses Landes
eine eingehende Darstellung. Sodann erzahlt der zweite Ab-
schnitt die dynastischen Kampfe zwischen dem Kaiser Andro-
wkos II. und seinem gleichnamigen Enkel, ferner die Eroberung
^on Prusa und Nicaa durch die Osmanen , den Aufschwung der
serbischen Macht unter Stephan Duschan, endlich die weitere
Entwickelung der Verhaltnisse von Epirus, Athen, Achaja und
Kreta. Ebendamit beschaftigt sich auch der folgendedritte Abschnitt,
wiewohl hier Ereignisse von grosserer Bedeutung, der Biirger-
krieg zwischen Johannes V. undKantakuzenos (Kaiser Johannes VI),
die Erweiterung und spatere Auflosung des Serbenreiches und
die Erhebung der Albanesen im Vordergrunde stehen.
Das zweite Kapitel, welches die Geschichte Griechenlands
bis zum Jahre 1432 fortfuhrt (S. 315—464), vertheilt seineu
reichen Inhalt an sechs Abschnitte. Von diesen hat es der
erste vorzugsweise mit den Osmanen zu thun, die unter dem
Sultan Murad I. von ihrer neuen Hauptstadt Adrianopel aus
(seit 1361) immer weiter um sich greifen, nach einem Siege
tiber die Serben Makedonien erobern (1371), sich in Folge der
18*
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276 Hertzberg, G. F., Geachichto Griechenlands etc.
Kampfe der griechischen Gegenkaiser Andronikos IV. und Jo-
hannes V. den letztern tributpflichtig machen, endlich den Serben
die entscheidende Niederlage auf dem Amselfelde bei Kossova
beibringen (1389). — Ini zweiten Abscbnitt wendet sich die Er-
zahlung zu den niittel- und siidgrieehischen Landschaften, wo
uns eine bunte Reihe von ueuen Dynasten, die sich unauf horlich
bekampfen und verdrangen, entgegentritt. Eine dauernde Wirkung
hat die Ansiedlung der Albanesen in Morea; sie gibt denn auch
dem Verf. Anlass, bei diesem Volke etwas linger zu verweilen. —
Im folgenden Abschnitt kehrt er zu den Osmanen zuriick, die
unter ihrem Sultan Bajesid I. das bulgarische Reich vernichten
(1393), Thessalien annectiren und bis in den Peloponnes vor-
dringen, dann aber 1402 den Mongolen erliegen. — In Folge
dieser Katastrophe schliesst, wie der vierte Abschnitt ausfuhrt,
Sultan Suleiman I. mit Kaiser Manuel und den iibrigen Machten
der Balkanhalbinsel Vertrage ab. Auf griechischem Boden aber
dauem die Kampfe urn die einzelnen Landestheile ohne Unter-
brechung fort. Sie ruhen auch nicht, als nach der Herstellung
des osmanischen Reiches durch Muhamed I. (1413 — 21) die
Tiirken ihre Angriffspolitik wieder aufnehmen und verheerend
bis nach Attika vordringen. Verf.\ der im funften Abschnitt
diese Wendung der Dinge verfolgt, schildert dann die Zustande
im frankischen und griechischen Peloponnes, wie auf den Inseln.
— Von grosserer Bedeutung sind die Ereignisse, die uns der
sechste Abschnitt vorfuhrt. Sultan Murad II. (1421 — 51) be-
lagert 1422 Konstantinopel, lasst im folgenden Jahre den Pelo-
ponnes uberziehen und erobert 1430 Thessalonich und Epirus.
Um dieselbe Zeit gelingt es den Paiaologen, deren Herrschaft
am Bosporus nachgerade zu Ende geht, ganz Morea in ihre
Gewalt zu bringen.
Mit der Schilderung ihres dortigen Regiments beginnt das
dritte und letzte Kapitel (S. 464 — 605), in dessen erstem Ab-
schnitt der bis dahin fast unausgesetzt tobende Kriegslarm fur
eine Weile verstummt, um der ruhigen Betrachtung der inneren
Zustande Raum zu geben. Verf. erortert zunachst die ethno-
graphischen Verhaltnisse Moreas, wobei auch die Juden und
Zigeuner zur Sprache kommen, charakterisirt dann, mit Riick-
sicht auf die stattgehabten romanischen Einwirkungen , das
griechische Volksthum im Allgemeinen, wie das der Peloponnesier
ins Besondere, verbreitet sich ferner iiber die materielle Lage
der Halbinsel und den griechischen Handel, iiber das wissen-
schaftliche Leben in Konstantinopel und seine Beziehungen zu
Italien, iiber die altere volksthiimliche und die romantische
frankisch-griechische Dichtung, iiber die Philosophie und die
Schule Plethons und schliesst mit der Klosterwelt zu Pathmos
und auf dem Athos. — Der folgende zweite Abschnitt versetzt
uns wieder in die politiscben und kriegerischen Vorgange der
Zeit. Er berichtet von den Beziehungen und Fehden der Pa-
laologen in Morea, von den Unionsversuchen des kaiserlichen
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Hertzberg, G. F., Geschichte Griechenlaiids etc. 277
Hofes and dem Widerwillen, welchem sie bei den Griechen be-
gegneD, von der Erhebung Skanderbegs und dem Kampfe zwischen
ihim und Murad II. (1449). Den Abschluss bildet der letzte
Tiirkenkrieg, welcher 1452 von Muhamed II. gegen Konstantin XI.
eroffnet wird und im nachsten Jahre, nach dem Tode des Kaisers,
mit dem Falle der Hauptstadt eudigt. — Im dritten Abschnitt
erortert Verf. zunachst die Politik Muhameds II. gegeniiber den
Griechen unter osmanischer Herrschaft, geht dann auf die
griechische Hierarcbie iiber und stellt die Bedeutung der Kirche
fir die Erhaltung des griechischen Volkes ins Licht. Nachdem
er weiterhin der Auswandorung griechischer Qelehrter nach
Italien gedacht hat, erzahlt er den Aufstand der Albanesen im
Peloponnes, die Angriffe der Osmanen auf Chios, den Fall Athens
und die Eroberung Moreas (1460), der in den nachsten Jahren
die von Trapezunt und Lesbos folgt.
Das Verschwinden aller kleinern Staaten, die bisher noch
zwischen den Besitzungen der Pforte und Venedigs bestanden hatten,
be8chleunigt den Zusamm ens toss der beiden levantinischen Gross-
machte dieser Zeit. Abschnitt 4 und 5 berichten iiber die ersten Jahre
des unter ihnen 1463 entbrennendenKrieges, in welchem dieRepublik
obwohl mit Skanderbog und den Magyaren im Bunde und von den
aufetandischen Poloponnesiern unterstiitzt, sich bald auf die
Defensive beschrankt und im Jahre 1470 ihrer werthvollsten
griechischen Besitzung, Euboas, beraubt sieht. Mit der Eroberung
dieser Insel schliesst dor Verf. den vorliegenden Band ab, weil
sie ihm als Grenzpunkt weit geeigneter erscheint als die von
Konstantinopel oder Morea. Er sagt: „Mit dem Fall von
Negroponte ist die feste Stellung Venedigs, der letzten abend-
landischen Macht,- die in „Romanien" den Osmanen neben und
nach den sinkenden Griechen noch Stand gehalten, hier ent-
*urzelt, — zerbricht der Rahmen, den die stolze Republik der
Lagunen um die Trummer der durch die Osmanen erschutterten
Volkerwelt der Balkanhalbinsel gezogen hat, — sind die aus
der Zeit des lateinischen Kreuzzuges datirenden politischen
Schopfungen in Romanien der Hauptsache nach wieder ver-
nichtet — geht den Griechen der letzte Stiitzpunkt zu even-
tueller Erhebung gegen die Pforte verloren. Erst seit 1470 ist
der Sieg des Halbmondes iiber die griechische Welt fur Jabr-
hunderte unwiderruflich entschieden." (Vorwort).
Der obige Bericht war kaum vollendet, als dem Referenten
Weits der noch riickstandige dritte Theil des Werkes zuging.
Derselbe behandelt die Geschichte Griechenlands von der Voll-
eudung der osmanischen Eroberung bis zur Erhebung der Neu-
griechen gegen die Pforte (1470 — 1821), und zerfallt, wie sein
Vorganger, in zwei Bticher, deren Grenzscheide die franzosische
RcTolution von 1789 bildet. Das erste dieser Biicher aber ist
to drei Kapitel getheilt, die ihrerseits wieder aus mehreren Ab-
Bchnitten bestehen. — Kapitel 1 (S. 3 — 127) fiihrt nach der
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278 Hertzberg, G. F., Geschichte Griechenlands etc.
Ueber6chrift bis zur Eroberung von Morea durch die Venetians
1684, schliesst indess im Texte mit der Eroberung Kretas durch
die Osmanen ab (1669). Der ersto Abschnitt erzahit den weiteren
Verlauf des grossen Krieges, welcher 17 Jahre lang zwischen
der Pforte und Venedig gefiihrt und durch den fur die Republik
schmachvollen und verlustreichcn Frieden von 1479 beendigt
wurde. Weitere Eroberungen der Osmanen (von Leukadia,
Kephallene u. s. w.) folgen, doch erfahren sie unter Bajesid II
geit 1481 eine Unterbrochung, wahrend welcher Venedig die
Insel Cypcrn gewinnt. Zehn Jahre spater (1499) bricht, wie im
zweiten Abschnitt berichtet wird, ein neuer Krieg aus, der zui
Abtretung von Lepanto und Messenien fiihrt. Der 1503 ge-
schlossene Friede dauert auch unter Selim I., den Kampfe am
den Thron und mit den Persern in Anspruch nehmen, fort Erst
Soliman II. (1520 — 66), der iibrigens schon 1522 die Insel Rhodus
den Johannitern entreisst, nimmt 1537 den Kampf mit der Re-
publik wieder auf, die im Frieden von 1540 ihre letzten Be-
sitzungen in Morea verliert. An diese Erwerbung schliesst sich
die der Inseln des Archipels, zu deren Herzog ein jiidischer
Giinstling Selims II., Don Josef Nasi, ernannt wird (Abschnitt 3).
Auch Cypern fallt 1570 in die Hande der Osmanen, die dann
zwar im nachsten Jahre bei Lepanto eine entschiedene Nieder-
lage, aber keine wesentliche Beeintrachtigung ihrer Machtstellung
erfahren.
Der folgende vierte Abschnitt beschaftigt sich vorzugsweise
mit den Kampfen, die seit 1645 zwischen der Pforte und Venedig
um Kreta gefiihrt und erst 1669 durch die osmanische Eroberung
dieser Insel beendigt werden. Verf. lasst hier den Faden der
Erzahlung fallon, um uns in einer ausfiihrlichen und sehr inter-
essanten Schilderung mit der Lage der Griechen unter der tur-
kischen Herrschaft bekannt zu machen. Er bespricht zunachst
die Organisation der Verwaltung und das tiirkische Lehnssystem
in den griechischen Provinzen, erortert die Stellung und den
Wirkungskrois der die Centralregiorung vertretenden Beamten
und fiihrt die mannigfachen Abgaben auf, welche die Unter-
thanen in Gold (der Kopfsteuer), Friichten (dem Zehnten) und
Menschen (durch den Knabenzins) zu entrichten haben. Indem
er sich dann der griechischen Kirche zuwondet, hcbt er die
grosse Macht hervor, welche der hohere Klerus, vor Allem der Pa-
triarch, nicht nur in geistlichen, sondern auch in weltlichen Dingen,
namentlich in derRechtspflege, ausiibt, stellt auch die guten wie die
schlimmen Seiten dersclben und ihre Bedeutung fur die Erhal-
tung des griechischen Volksthums ins Licht. Weiterhin ver-
breitet er sich iiber die Stellung und Wirksamkeit der in Stambul
wohnenden Griechen, ins Besondere der Fanarioten, iiber die
griechischen Beamten im Dienste der Pforte, die Ausbreitung
des Klephtenthums und die Miliz der Armatolen, endlich iiber
die eigenthiimliche griechisohe Gemeindever&ssung mit ihron
Primaten. Er schliesst mit einigen Bemerkungen iiber die neu-
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Hertzberg, G. P., Geschichte Griecheulands etc. 279
griechische Sprache und Litteratur und einer kurzen Erorterung
der noch sehr vereinzelten Beziehungen Griechenlands zum
iibrigen Europa.
Von den drei Abschnitten des zweiten Kapitels (S. 128 bis
191), welches den Zeitraum von- 1669 — 1718 umfasst, behandelt
der erste den Krieg, welchen 1684 Venedig im Bunde mit
Oesterreich nnd Polen gegen die Pforte eroflhet, der zwoite die
Herrschaft der Republik tiber das in diesem Kriege gewonnene
nnd im Frieden von Karlowitz 1699 behauptete Morea, der
dritte den 1715 crneuerten Kampf urn die Halbinsel, die im
Fortgange desselben von den Osmanen wiedererobort und ihnen
durch den Frieden von Passarowitz 1718 zu dauerndem Besitze
abgetreten wird.
Im Eingange des dritten Kapitels (S. 191 — 264) schildert
Verf. die Zustande in Morea, welche sich fur die Griechen bei
der milderen und riicksichtsvolleren Behandlung, die ihnen die
osmanischo Regierung fortan zu Theil werden lasst, relativ giinstig
gestalten. Auch in Stambul gewinnt, wie weiterhin ausgefuhrt
wird, das Griechenthum an Macht und Einfluss; die Fanarioten,
unter welchen namentlich der Grossdragoman Alexander Mauro-
kordatos und sein Geschlecht hervortreten , gelangon selbst, als
Hospodare der Moldau und Wallachei, zu einer fiirstlichen
Stellung, machen sich auch durch die Grundung von hoheren
Lehranstalten urn die geistige Bildung ihrer Landsleute in hohem
Grade verdient. Im Folgenden wird der Gracisirung der Bui-
garen durch die Kirche sowie des Aufschwunges gedacht, den die
materielle Wohlfahrt der Griechen nimmt, dann die Lago der
Dinge auf den noch unter venetianischer Herrschaft stehenden
ionischen Inseln, auf Tinos, Chios und dem damals auf bliihenden
Hydra geschildert, endlich eine genauere Charakteristik der seit
1740 m feindlichen Gegensatz zu den Osmanen trotenden Arma-
tolen und Klephten gegoben, an welche sich dio der Sulioten urid
Mainoten anschliesst. — Dor zweite Abschnitt berichtet iiber
4ie von Russland, nach dem Ausbruch des Kriegos mit dor
Worte, veranlasste, aber sehr unzureichend unterstiitzte Erhebung
der Griechen im Jahre 1770 und ihre schlimmen Folgen, wie
ftr die nord- und mittelgriechischen Landschaften , so ganz be-
wnders fur Morea, dem auch der fur die Inselgriechen recht
wtheilhafte Friede von 1774 kaum zu Statten kommt. — Der
dritte Abschnitt erzahlt die Jugendgeschichte und das allmalige
Eniporkoinmen Alis, des Pascha von Janina, der, seit 1789 „domi-
nirender Machthaber in Thessalion, Epirus und Akamanien, fur
*e Griechen in Nord- und Mittelgriechcnland zur Zeit bereits
wmdestens ebenso wichtig ist wie der Sultan selbst a.
Wichtiger noch wird er und seine Herrschaft fur die ge-
sanunte weitere Zeit bis 1821, mit welcher sich das zweite Buch
beechaftigt (S. 265—473). Verf. bemerkt im Eingange desselben:
rEa ist keineswegs die Willkiir des Historikers , wenn wir dio
Geschichte der letzten Periode des griechischen Lebens unter
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280 Hertzberg, G. F., Geschichte Griechenlands etc.
osnianischer Herrschaft mit deni Ausgange des neunten Jahr-
zehuts des achtzehnten Jahrhunderts beginnen. In der That
treffen gerade in dieseni Momentc cine Reihe von Motiven zu-
samnien, welche in hochst intensiver Weise auf die vollstandige
aussero und innere Unigestaltung der Lage der griechischen
Nation eingewirkt haben. Der 1787 wieder ausgebrochene
tiirkiscb-russische Krieg, und die damit zusammenhangenden Un-
ruhen und Kampfo in Epirus und im agaischen Meere, wie audi
seine Folgen fur den griechischen Haudelsverkehr , wiirden una
noch nicht bestimmen konnen, gerade bier den Ausgangspunkt
einer neuen Epoche des griechischen Lebens zu erkennen. Wohl
aber ist es von hochstor Bedeutung auch fur Griechenland ge-
worden, dass gerade in diese Zeit der Beginn der franzosischen
Revolution fallt. Die Feuerfunken, das Flugfeuer der kolossalen
Bewegung in Frankreich, ziinden auch in Griechenland, iiberall
in der griechischen Welt, selbst bei den Klephten der Gebirge.
Die gros8en Kriege der Revolution und der Napoleonischen Zeit
beruhren auch den Westrand dor griechischen Welt, namlich
Epirus und die ionischeu Inscln. Der ungeheure europaische
Brand dieses Zeitalters kommt dem Aufschwunge des griechischen
Handels, der neuen griechischen Bildung und der griechischen
Freiheitsgluth in fiihlbarster Weise zu Statten. Dazu kommt
noch ein Anderos. Die humanitaren und reformatoriscben Ideen
des achtzehnten Jahrhunderts gelangen nun schliesslich auch
auf der Balkanhalbinsel zum Durchbruch. Diesmal sind es die
Osmanen selbst, der Sultan an der Spitze, welche diesen Weg
einschlagen, der dann doch nur den Griechen wirklich zum Vor-
theil gereichen sollte. Die Schwache aber des Centralregimentes
in Stambul ruft auf der Balkanhalbinsel und auf andoren Punkten
unter den Mohammedanern selbst Erscheinungen hervor, die an
die Loslosuug der persi3chen Satrapen des vierten Jahrhunderts
v. Chr. von dem Reiche der Achameniden und deren Fehden
unter einander erinnern. Unter diesen moderncn Satrapen aber
nimmt fur die Griechen wieder die wichtigste Stelle ein jener
Ali-Pascha von Janina, dessen wir zuletzt noch gedacht haben.
Und Ali ist es, der lange als der gefurchtetc Horr der Griechen
des Fostlandes auf die Armatolen don entschoidendsten Einfluss
au8iibt, zuletzt aber in seinem feindlichen Gegensatze zu der
Macht des Grossherrn selbst wider soin Wissen und Wollen
den Schleier ziehen hilft, hinter welchem sich die selbstandige
Erhebung der Griechen gegon die Pforte vorbereitet"
An diose allgemeino Betrachtung schliesst sich unmittelbar
der Bericht Uber die doch nur sporadischen Aufstande in Ru-
melien , die den neuen russisch-turkischen Krieg (von 1787—92)
begleiten, sowie iiber den siegreichon Kampf, wolchen als Nach-
spiol dieses Krioges die Sulioton gegen Ali Pascha zu bestehen
haben. — Es folgt im zweiten Abschnitt eine eingebende Dar-
stellung dor Reformpolitik Selims III., die bei den Osmanen
selbst vielfach auf Widerstand stosst und einzelne kiihne Macht-
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Hertzberg, G. F., Geschichte Griechenlands etc. 281
haber in Albanien und Bulgarien, hier besonders den Pascha
von Widdin, Paswan-Oglu, zu offenem Kampfo gegen die Central-
regieruiig treibt Sodann wird der gewaltigen revolutionaren
G&hrung gedacht, welche die Kunde von den Vorgangen in
Frankreich bei den Griechen hervorruft, fernor der Zustand der
ionischen Inseln unter der Herrschaft Venedigs geschildert und
ihr Uebergang in franzosischen Besitz (1797) bericbtet, endlich
uber die Beziehungen Bonapartes zu den Griechen iiberhaupt,
wie zu den Mainoten ins Besondere Aufechluss gegeben und
der Lebensgang „des ersten Martyrers der griechischen Freiheit",
des als Stifter der politischen Hetario und als Dicbter der
^griechischen Marseillaise" bekannten Rhigas ausfiihrlich erzahlt.
Der dritte Abschnitt fuhrt aus, wie die verbiindeten Russen
und Tiirken die ionischen Inseln erobern (1798 — 99), stellt die
Verfassung und die Geschichtc der neuen „Republik der sieben
Inseln" dar und schliesst mit dem Kriege Ali Paschas gegen die
Snlioten (1800 — 3), die nach langerm Widerstande uberwaltigt
und aus Epirus vertrieben werden. — Aus dem mannigfaltigen
Inhalte des vierten Absohnittes heben wir hervor den Aufstand
der Serben unter Kara Georg (seit 1804), den ira Jahre 1806
ausbrechenden Krieg der Pforte gegen Russland und England
und die damit zusammenhangenden Beweguugen unter den
Griechen, ferner die wiederholten, durch den Gegensatz der alt-
tiirki8chen und der Reformpartoi herbeigefuhrtcn Thronwechsel
inStambu], den spateren russisch-tiirkischen Krieg von 1809 — 12,
die erfolgreiche diplomatisch-militarische Thatigkeit Ali Paschas
und seine eigenthumliche Stellung zu den Griecheu, besonders
auch die interessante Charakteristik einzelnor hervorragender
Per8onlichkeiten , des Grafen Kapodistrias , der Hypsilanti, des
OdysjBeus, Kolettis u. s. w. — Im fiinften Abschnitt wirft Verf.
einen Blick auf „die seit 1789 entfaltete Bluthe griechischen
HandeU und griechischer Bildung, die uns zugleich die neue
Bedeutung der „nautischen Inseln" (Hydra, Spezzii, Psara) fur
Griechenland verstehen lehrt". Als vorzugswoise lorderlich fur
&* geistige Hebung der Nation betont or das Studium der
jungen Griechen im westlichen Europa, die fortgesetzto Griindung
von Akademien und Gymnasien, dann auch den neuen Aufschwung
der Litteratur, wie er weniger durch die Vertretcr der redenden
Kiinste, als durch die gelehrten Vorkampfer des Hellenismus
(Kora'is u. A.) vermittelt wird.
Wir kommen ziim zweiten und lotzten Kapitel (S. 400—473),
welches die, verhaltnissmassig kurze, aber fiir die unmittelbar
folgende national© Erhebung hochst bedeutsame Zoit von 1814
bis 21 zum Gegenstande hat. In diesen Jahren entsteht die
Hetarie der Philiken, welche sich die gewaltsame Befreiung
Griechenlands von der tiirkischen Herrschaft zur Aufgabe stellt.
Der erste Abschnitt gibt uber Ursprung und Zweck, Einrichtung
^nd Ausbreitung dieses Gehoimbundes genaue Auskunft. Soinen
bungen kommt, wie im zweiten Abschnitt, nach einem
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282 Otto, Fr., Geschichte der Stadt Wiesbaden.
Blick auf die seit 1815 unter dor Herrschaft Englands stehenden
ionischeu Inseln, entwickelt wird, die im Jahre 1820 zum offenen
Kriege fiihrende Spannung zwischen dor Pforte und Ali Pasoha
fordernd entgegen. Noch ist dieser Krieg nicht beendigt, als
im Fruhling 1821 die Hetarie, von Alexander Hypsilanti geleitet,
in Rumanien die Fahne des Aufetandes entfaltet, die dann gleich
nachher auch in Morea aufgepflanzt wird. Der dritte Abschnitt
berichtet iiber diese Anfango des grossen Freiheitskampfes, die
er bis zur Eroberung Kalamatas durch die Mainotten und der
gleichzeitigen Erhebung der Burger von Patra am 4. April,
„dem Geburtstage der griechischen Freiheit", verfolgt.
Rheydt. Brock erhof.
LXI.
Otto, Fr., Geschichte der Stadt Wiesbaden. 8. Wiesbaden 1877.
Julius Niedner. 2,50 M.
Die heissen Quellen des heutigen Wiosbadens, die schwerlich je
einem der Volker entgehen konnten, welcbe nordlich von der Main-
miindung sassen, mussten auch die Aufmerksamkeit der Romer in urn
so hoherem Grade erregen, als ja fur sie vorzugsweise in balneis salus
war; kein Wunder daber, wenn zu ihrer Zeit die Quellen bald
der Mittelpunkt einer Ansiedlung wurden. Urspriinglich bestand
diese, wie es scheint, in einem Castell, das auf einem vom Taunus
nach Siiden hin vorspringenden Bergzuge lag ; nicht lange danach
entstand jedoch am Fusse desselben eine stadtische Anlage, in
der sich ein mannigfaltiges und reiches Leben cntwickelte —
ein Leben, wie es der Ort das ganze Mittelalter hindurch nicht
gesehen hat. Aus dieser Zeit haben sich dann in und um Wies-
baden eine ganz bedeutende Anzahl von Alterthiimern aller Art
erhalten. Sie wurden aber zu einem grossen Theile erst in den
letzten 60 Jahren gefunden, und da sie auf die alteste Geschichte
der Stadt ein interessantos Licht werfen, eine Geschichte Wies-
badens aber zuletzt 1817 (von Ebhardt) versucht war, so war
es ein glucklicher Gedanke des Herrn Fr. Otto, die im September
1877 in Wiesbaden tagende Philologenversammlung mit obiger
Schrift zu begriissen, die zwar die Geschichte Wiesbadens bis in
die ncueste Zeit hinein behandelt, jedoch die alteste Zeit in unver-
kennbarer Weise und nicht mit Unrocht bevorzugt.
Dor Verfhat sich seiner nicht leichten Aufgabe mit Geschick
entledigt: wohl das gesammte vorhandene Material beherrschend —
auch ungedrucktes hat er in dem Archiv des Vereins fur nassauische
Geschichte benutzen konnen — , giebt er in einfacher, knapper
Darstellung eine meist sehr klarc Skizze der Geschichte Wies-
badens; nur selten ware eine grossere Precision wiinschens-
werth gewesen. So z. B. ist in der Besatzungsgeschichte (§ 4)
nicht mit voller Klarheit zu orkennen, worauf hin die Anwesen-
heit der Legio III. Augusta erst angenommen wird, um spater
S. 13 als zweifelhaft bezeichnet zu werden. Auch fur die andern
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Otte, Fr., Geschichte der Stadt Wiesbaden. 283
Truppen findet man das Beweismaterial erst an auderer Stelle
(S. 97). Ebenso hatte S. 67 f. noch deutlicher gesagt sein konnen,
dass die Darstellung der Verhaltnisse wahrend der frankischen Zeit
nor aaf Ruckschliissen beruht, und die Grundlagen der letzteren
hatten sich recht wohl mittheilen lassen, ohno den Umfang der
Schrift iiber Gebiihr zu vergrossern. Z. B. hatte wohl erwahnt
son konnen, dass der Gau Kiinigessundra erst im 9. Jh. genannt wird.
Das erwahnte Castell — sein Name war Mattiacum — war
455' breit nnd 500' lang, d. h. 13 lj% Morgen gross und fur
ca» 1100 Mann berechnet; es ist von der Legio XIV gemina
zwischen 17 v. Chr. und 35 n. Chr. , vielloicht schon untcr
Augustas erbaut und diente dann verschiedenen Legionen zum
Standquartier , bis endlich im J. 120 die XXII. dorthin verlegt
wurde, welche bis 235 daselbst blieb. Zwei Strassen verbanden
den Ort nrit Mainz, die eine 16 — 17' breit, mit einem Fusssteigo
ran 12 Vi' Breite zur Seite, das Castell, die andere die eigent-
liche Stadt. Eine eigene Verwaltung scheint Mattiacum nicht
besessen zu haben, es war eben nur MQitarstation und Badestadt:
fiber diese wird der Commandant des Castells die Aufsicht gefiihrt
haben, Sonst gehorte der Ort politisch zum Castellum Mattiacorum,
dem heutigen Castell bei Mainz. Denn Castell war die Haupt-
stadt der civitas Mattiacorum, die neben der civitas Taunensium
mit der Hauptstadt Novus vicus (Heddernheim) in jenen Gegenden
erwahnt wird. Die Umgegend von Mattiacum war nach den
vielen noch jetzt erhaltenen Fundamenten mit Villen und Ge-
hoften dicht besetzt, und friih, schon im 1. Jh., scheint auch das
Christenthum unter der Bevolkerung Anhang gefunden zu haben,
welches vermuthlich, wie so vielfach, zuerst durch die Legionen
dorthin gelangto.
Im J. 282 , nach Probus' Tode , verliessen die Romer das
rechte Rheinufer, dennoch ist in Mattiacum romisches Leben
noch nicht erloschen; ja trotz der alles verheerenden Pliinderungs-
ziige, die Julian nach der Schlacht bei Argentoratum von Mainz
aw unternahm (Amm. Marc. 17, 1), werden die Aquae Mattiacae
als Aufenthalt eines deutschen Konigs Macrian genannt, den
Valentinian dort zu iiberfallen suchto (Amm. 29, 4, 2). Dann
verechwindet Mattiacum allerdings fur mehrero Jahrhunderte,
nur Graber zeigen, dass vom 5. — 7. Jh. hier, allerdings nicht
auf dem Platze der alten Stadt, Ansiedlungen waren : denn das
Terrain der alten Romerstadt diente als Grabstatte. In diese
Zeit soil auch die Erbauung der Mauritiuskirche auf don Grund-
maaern eines romischen Gebaudes fallen.
Die Geschichte Wiesbadens im Mittelalter bietet wonig von
allgemeinerem Interesse: es hatte dieselben Schicksale wio alle
andem deutschen Stadte.
Mit ihrem jetzigen Namen (Wisibadun) wird sie zuerst von
Einhard erwahnt, der sie im J. 830 auf der Reise von Seligen-
stadt nach Aachen passirte und bemerkt, dass er zwei Jahre
frfiher schon einmal hindurchgekommen sei. Dor Namen ist
Digitized by VjOOQ IC
284 Otto, Fr-> Geschichte der Stadt Wiesbaden.
noch nicht geniigend erklart, doch ist der Vert geneigt, ihm die
Bedeutung Salzbad beizulegen. Der Gau, in dem Wiesbaden lag,
hiess Kiinigessundra, d. h. Konigssondergau, weil hier besonders
viel koniglicher Besitz war. Die mittelalterliche Stadt lehnte sich
an die heut noch zum Theil erlialtene Heidenmauer — eine unvoll-
endete Befestigung aus romischer Zeit — an. So lange sie nicht
in den Besitz der Gaugrafen iiberging, soheint sich in ihr nur
eiu koniglicher Frohnhof befunden zu haben ; erst die spateren
Grafen von Nassau, — zuerst (bis 1160) nannten sie sich nach
ihrer Burg Lurenburg an der Lahn — werden die sehr feste
Burg in der Stadt angelegt haben, als Wiesbaden endlich voll-
standig ihre Landstadt wurde. Die Reste dieser Burg standen
noch bis 1837, und aus den Jahren 1423—27 sind die Burg-
mannen bekannt.
Die Bewohner Wiesbadens, deren hochste Zahl von dem
Verf. auf etwa 1000 berechnet wird, lebten vorzugsweise von
Acker- und Weinbau: letzterer war weit ausgedehnter als jetzt
Selbstverstandlich fehlte das Kleingewerbe nicht; auch besass
die Stadt das Marktrecht. Daneben war aber doch schon die
Kurindustrie, der Hauptnahrungszweig des modernen Wiesbadens,
einigermassen entwickelt. Wir haben dariiber drei interessante
Zeugnisso: das orste aus dem Ende des 14. Jh. von Heinrich
von Langenstein (geb. 1325), eine Schilderung des Wiesbadener
Badelebens, welche mit der stimmt, die Aeneas Sylvius von dem
Treiben in Baden giebt. Das zweite ist ein Vertrag von 1423,
welcher vier Geistlichen des Praemonstratenserklosters Miinster-
Dneis in der Pfalz Stube, Kammer mit vier gut gehaltenen
Betten, Holz, Feuerung und ein Bad im Hause dafur zusichert, dass
der Abt des Klosters 15 fl. zum Bau eines Hauses gegeben hatte;
man scheint damals im Mai oder October gebadet zu haben. —
Das dritte Zeugniss findet sich in Hans Folzens Buch „eine gat
lehre von alien willtbaden". (Bibl. des litterar. Vereins in Stuttg.
30, 1249); es mag hier vollstandig stehen.
Ein bad bey montz, genant wissbaden,
dut den colerici bald scbaden:
den lust es jn zuo essen wert,
darmit den turst gar sor mert.
Kalt bos fliis und iibrigo feucht
es schnel verzert und gantz uss zticbt.
Wor sich nit ordnirn do kan
Dursts haiben, der lass bald dar fan.
Als ein Vergnugungsbad nennt Folz im Gegensatz zu Wies-
baden Ems. — Uebrigens besuchten mehrere Kaiser Wiesbaden, so
Otto I., Friedrich II., Adolf (mehrmals), Albrechtl., Ludwig d. Baier
(mehrmals), Ruprecht, Friedrich III. (zweimal) und Maximilian L
Dass auch Karl d. Gr. oft hier geweilt habe, ist nicht begriindet
In neuerer Zeit hat die Geschichte Wiesbadens noch weniger
Eigenthiimliches aufeaweisen als im Mittelalter. Die Fiirsten
von Nassau, die in Biberich residirten, thaten namentlich im
18. Jh. viel fur die Stadt, in welcher die Badeindustrie iminer
Digitized by VjOOQ IC
JOttheiL ans dem Gcbiete der Gescbicbte Liv-, Est- u. Kurlands. 285
noch zuriicktrat gegen die vorhingenannten Beschaftigungen
der Biirger: zum Acker- und Weinbau scheiut vielmehr noch
erne bedeutende Topffabrication hinzugetreten zu sein. Erst
1688 fing man seitens der Stadt an , fur die Unterhaltnng der
Badegaste zu sorgen. — Die Zahl der Badehauser ist von 1637
bis 1817 fast constant geblieben, allerdings wurden wahrend de9
30jahrigen Krieges 12 nicht benutzt. Bis gegen 1730 hatte
man noch Massenbader ; erst in diesem Jahre trennte man die
fiaume fiir die beiden Geschlechter. Eine merkwiirdige Mit-
theilung haben wir aus dem J. 1738 iiber die Badepraxis in
Wiesbaden in dem Buche des Franzosen Mervillieux1). Sie liest
sich besser im Urtext: La plupart des Bains de Wisbaden sont
commons pour les gens de chaque Cabaret, ou on loge; a peine
24 heures suffisent - elles pour donner assez de fraicheur a
lean C'est pour cette raison qu'on ne les change qu'une
fois le jour. lis ne sont point rafraichis pendant toute la journee
qu'il y a du monde ; si bien qu'il faut s' y baigner dans i'ordure,
qu'on y a depose le matin , tant celle qui $ort des corps par
transpiration, que par les Urines, que toute personne qui est
aux Bains lache et qu'il doit meme l&cher avant de sortir du
Bam, afin qu'il fasse du bien.
Uebrigens klagt er insbesondere iiber die Betten und das
Cngeziefer und bezeichnet auch die Gegend als unsicher. Es fanden
sich auch viele fremde Kaufleute ein, welche die Badegaste sehr
iibertheuerten. Vorzugsweise sei Wiesbaden an Festtagen be-
sucht und zwar von Mainzern. — Andere Besucher schildern die
Verpflegung als eine gute und riihmen die Einwohner als freund-
lich und entgegenkommend. Ein Luxusbad, wie Schwalbach,
war Wiesbaden damals noch nicht , obwohl ab und zu hohe
Herrschaften nach Wiesbaden kamen, wie Georg III. von Eng-
land und Joseph II.: die Beliebtheit, dessen es sich in der
bante volee heut erfreut, datirt wohl aus der Zeit nach den
Befreiungskriegen : wahrend dieser, als Ende 1813 das Haupt-
quartier der schlesischen Arraee vier Wochen hier war, hat
es auch der jetzige Kaiser kennen gelernt, der bekanntlich Wies-
baden eine grosse Anhanglichkeit bewahrt.
Berlin. Edm. Meyer.
LXII.
Mittbeilungen aus dem Gebiete der Geschlchte Liv-, Est- und
Kurlands, herausg. von der Greseilschaft fiir Geschichte und
Alterthumskunde der Ostsee-Provinzen Russlands. 12. Band.
2. Heft. gr. 8. (S. 221—396). Riga 1876, N. Kymmel. 3 M.
Die „Mittheilungenu bringen zuerst einen langeren
Aufeatz von G. Rathlef: Bemerkungen zur Chrono-
*) Amusements des Eaux de Schwalbach , des Bains de Wisbaden et de
Schlangenbad.
Digitized by UOOQ IC
286 Mittheil. aua dem Gebiete der Geschichte Liv-, Est- u, Kuri&nds.
logie derlivlandischenOrden8meisteriml3. Jahr-
bundert und iibor den angeblicheu Gebrauch der
Marienrechnung. In demselben rectificirt Rathlef einige
Angaben Bonnells in dessen Werke : Russisch-livlandische Chrono-
graphie, liber die livlandischen Orderismeister des 13. Jahr-
hunderts und weist dann in Anlehnung an die Bonnellschen
Untersuchungen ausfiihrlich nach, dass sowol in den ann&l.
Dunamund. als anch in der Diocese Riga die Rechnung nach
Marienjahren in der 2. Halfte des 13. Jahrhunderts ebensowenig
wie in Dorpat, Oesel und Kurland iiblich gewesen sei. Von
einigen Fallen abgesehen, fiir welche geniigende Erklarung bei-
zubringen ist, kann man in Livland im ganzen 13. Jahrhundert
den Gebrauch des Marienjahres nicht ein einziges Mai sicher
darthun, es ist demnach fiir jede livlandische Urkunde dieses
Jahrhunderts die Rechnung nach Wei h nach ts- resp. Januars-
jahren zu nehmen.
Dann folgen: Verbesserungen zu K. E. Napier sky's
russisch - livljyidischen Urkunden yon Hermann
Hildebrand.
Dr. Th. Schiemann bespricht „das piltensche
Archiv". Der Verfasser hat dieses bisher nicht geniigend
beachtete Archiv, das zu Mitau im kurlandischen Ritterhause
aufbewahrt wird, neu geordnet und ich mochte fast sagen, neu
entdeckt. Es umfasst dieses Archiv das alte piltensche Re-
gierungsarchiv von 1556 — 1817 mit Ausschluss derjenigen Sachen,
wolche in die bischotliche Zeit fallen. Wie wichtig d&sselbe fur
die Landesgeschichte von Pilten ist, liegt auf der Hand; die
Geschichte des Stiftes Pilten ausfiihrlich zu schreiben, wird jetzt
erst moglich sein. Schiemann zeichnet uns mit raschen Strichen
ein Bild derselben.
Der „Beitrag zur Geschichte der zweiten
schwedisch- livlandischen Universitat von Dr. Th.
Beise" veroflfentlicht zum ersten Male die Matrikel der 1690
in Dorpat wiedereroflheten , 1760 in Pemau eingegaogenen
zweiten livlandischen Universitat nach dem Originate der Dor-
pater Universitatsbibliothek. Sie ist fiir die Personenkunde,
Familien- und Gelehrtengeschichte Livlands hochst interessant
und fiir Deutschland insofern, als aus ihr hervorgeht, dass inner-
halb dieses Zeitraumes von 591 Studenten nicht weniger als
gegen 70 Deutsche, zumeist aus Sachsen und Preussen, an dieser
Universitat studirt haben ; besonders gross ist die Frequenz von
Finlandern und Nationalschweden , ein Umstand, der nicht anf-
f alien wird, wenn man weiss, dass diese Universitat einen vor-
zugsweise schwedischen Charakter gehabt hat.
Dr. W. von Gutzeit erzahlt „die Geschichte eines
Rechtsstreites um denBesitz eines livlandischen
Landgutes, Aahof-Neuermuhlen".
Dr. Hermann Hildebrand lasst „Zehn Urkunden
zur alteren livlandischen Geschichte ausPeters-
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Fesebel, Oscar, Abhandlungen zur Erd- und Volkerknude. 287
burg und Stockholm" abdrucken, welche, dem 13. Jahr-
hundert angehorig, theils rem kirchliche Verhaltnisse (2, 3, 5),
tbeils die des Bisthums Riga zu seinen Untorgebenen behandeln.
„Niflant" von Victor Diederichs betitelt sich der
folgende Aufsatz. Niflant kommt haufig fiir Livland vor, nicht
nor in der altesteu deutschen livlandischen Reimchronik, sondern
auch in Aufzeichnungen ausserhalb Livlands, z. B. in dem Kudrun-
liede, so dass diese Form in Deutschland sehr gelaufig gewesen
sein muss. Die Vertauschung des L mit dem N im Anlaut ist
willkiiriich und scheint aus oberdeutschen Mundarten zu stammen.
Auch die Formen Ifland, Eifland, Leifland und Einfland finden
sich, im Polnischen heisst es sogar Inflanty, im Lettischen
Wiplante.
In dem Aufsatze „ u b e r die angeblicheBelagerung
Riga's imJahre 1567" weist Prof. Dr. R. Hausmann nach,
dass diese BelagerungdurchKonigSigismund August, wie sieHenning,
Bossow und Renner erzahlen, gar nicht stattgefunden habe, und
zwar an der Hand des Vergleichs zwischen Sigismund August und
Riga, Mon. Liv. 4, c c c, ferner des Buches : Begangene irthiimbe
und fehler des lieflandischen Chronikenschreibers Balthasaris
Roussowens, als dessen Verfasser Berkholz Heinrich von Tiefen-
hausen erwiesen hat, und endlich des Aeltermannbuches, also droier
gntbeglaubigter von einander unabhangiger , aber untereinander
ubereinstimmender Zeugnisse. Zugleich ergiebt sich daraus die
Willkiir, mit der Renner den Russow ausschreibt, und fur die
Charakteristik Hennings das Resultat, dass er zwar von dem
?ernichtenden Vorwurfe der Falschung, nicht aber von dem der
Parteilichkeit freigesprochen werden kann.
Den Schluss bilden „Analecta historiae Livonicae"
von Prof Dr. E. Winkelmann.
Plauen i. Vogtlande. Dr. William Fischer.
LXIII.
tachel, Oscar, Abhandlungen zur Erd- und Volkerkunde. Heraus-
gegeben von J. Lowenberg. gr. 8. (X, 530 S.) Leipzig 1877,
Duncker und Humblot. 11 M.
Etwa vierzig Aufsatze, meist zur Geschichte der Geographie,
die sich aber zum Theil so nahe beriihren, dass sie sich inhalt-
tich fast wie Duplikate verhalten. Auch wiirde Aufsatz VI unter
Gruppe IV gehoren. —
Es gehen voraus Sagen iiber missgestaltete Geschopfe
(teratologische), als Fragmente zur Geschichte der wissenschaft-
lichen Irrthiimer. Zumeist schon von Ktesias her landlauiig,
bilden solche bis ins MittelaJter den popularsten Theil der Geo-
graphie. Bei manchen dieser Fabeln hat Peschel den Ursprung
nicht angedeutet, so bei den Skiapoden, die ihren Namen in
erster Linie gewiss dem Stande der tropischen Sonne verdankten.
Weitere Aufsatze handeln von fabelhaften Or ten: goldene
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~~'<*
288 Peschel, Oscar, Abhandlungen zur Erd- und YOlkerkunda.
Berge und goldene Inseln, Magnetberg, Kuppel von Arin (ein
idealer Nullmeridian) , werden immer in der Weise besprochen,
dass dcr meist nicht europaische (arabische) Ursprung und die
Entwicklung der Sage aufgozeigt wird.
In dem beriihmten Aufsatz iiber die Handelsgeschichte des
rothen Meeres (1855!) haben wir eine noch immer ansprechende
Skizze, und seben nach Verwirklichung des Suezkanals, dass die
Bedeutung desselben fur den Welthandel in der That eine nur
begrenzte ist, wie Peschel geweissagi
Mehrere Abhandlungen zeigen die Bedeutung der mittel-
alterlichen Missionen in Asien (und Nordafrika), neben M. Polos
Reisen lange die einzigen Quellen fur die Kunde des fernen
Orients. In die Geschichte der Geographic schlagen auch die
Aufsatze iiber die Geschichte des Compasses, worin die selbstan-
dige Erfindung desselben im Abendland plausibel gemacht wird,
iiber N. Conti's Reisen, Heinrich den Seefahrer, den Entdecker
Amerikas u. A.
Ein Complex weiterer Aufsatze beschaftigt sich mit
A. v. Humboldt und C. Ritter, Peschels Vorgangern und Lehrern.
Pescliel modifiziert darin Ritters Ansicht dahin, dass die Lander-
beschaffenheit gewisse Culturen wol erleichtern, nicht aber hervor-
rufen konne ; keineswegs aber „triigen die Volker nur die Livree
Hirer Erdtheile" (Humboldt). Peschel will auch nicht zugeben, i
dass Ritter vergleichende Erdkunde getrieben habe; diese habe }
erst er selber erfunden. Aber der Streit ist leicht zu schlichten:
Peschel vergieicht die Lander in Bezug auf ihre Entstehung,
also auf ihre Ursachen; aber ebensowol vergieicht sie auch t
Ritter, nur in Bezug auf die Folgen ihrer eigenthiimlichen Be- j
schaffenheit. Ritters Grundgedanken selbst spricht Peschel \
darum die wissenschafbliche Wahrheit ab, weil dabei das allge- t
mein giltige Gesetz: „gleiche Ursachen, gleiche Wirkungeri** -
nicht allenthalben durchfthrbar sei.
Die letzten Aufsatze betreffen die Darwinsche Frage, liegen
also dem Zweck dieser Zeitschrift ganz feme ; heutzutage wiirde
sie Peschel vermuthlich ohnehin anders schreiben gegeniiber der
iibei-sturzten Entwicklung, welche die Darwinsche Schule, in
Deutschland wenigstens, charakterisiert.
Strassburg. Dr. SchadeL
Dnick von OskAr Bonde in Altenbnrg.
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LXIV.
Undenschmitt, Heinrich, Schliemann's Ausgrabungen in Troja
and Mykenae. Yortrag gehalten im Vereine zur Erforschung
rheinischer Geschichte und Alterthiimer. 8. (38 S.) Mainz
1878. Victor v. Zabern. 1 M.
Die vorliegende kleine Schrift, urspriiiiglicli ein Vortrag,
kann alien denjenigen, welch e schnell, ohne sich in die weit-
schichtigen Publicationen Schliemanns selbst vertiefen zu wollen,
sich fiber die wissenschaftlichen Unternehmungen desselben und
deren Ergebnisse unterrichten wollen, auf das beste empfohlen
werden. Nach einem kurzen Ueberblick iiber die anderen grossen
antiquarischen Entdeckungen, welche das letzte Jahrhundetft ge-
biacht bat, schildert der Verf. zunachst das Vorleben Schfie-
maims und dann die beiden grossen Unternehmungen desselben,
welche von ihm mit gleicher Opferfreudigkeit wie Energie ins
Werk gesetzt, zu so interessanten Funden gefuhrt haben, die
Ausgrabungen in Troja und Mykenae. Er beschreibt zunachst
die Localitat der Landschaft Troas, schildert darauf die Schwierig-
keiten und Hindernisse, welche theils die Ignoranz und Habsucht
der tiirkischen Beamten, theils die natiirlichen Verhaltnisse dem
begeisterten und kiihnen Forscher entgegengestellt haben, und
berichtet dann iiber die Ergebnisse seiner Ausgrabungen in
Hissarlik, besonders iiber die zahlreichen Gefasse, Gerathschaften
und anderweitigen Erz^ugnisse der Kunst und Industrie ver-
achiedener Perioden, welche dort gefunden worden sind, er be-
schreibt endlich genauer den Hauptfund, den Schatz aus Gegen-
standen von Gold, Silber und Bronze, welchen noch zuletzt ein
glucklicher Zufall in Schliemanns Hande gebracht hat. Dann
folgt in ahnlicher Weise zunachst wieder eine Debersicht iiber
die Localitat des alten Mykenae, dann eine Beschreibung der von
Schliemann dort ausgefiihrten Arbeiten und seiner Entdeckungen,
endlich eine genauere Aufzahlung des grossen Schatzes von goldenen
Schmucksachen, Gefassen und anderen Gegenstanden, welchen er
wieder ganz zuletzt aus den Felsengrabern zu Tage gefordert
bat ©er Verf. schliesst mit dem Hinweis auf den hohen Werth
dieser Entdeckungen fiir die Beurtheilung der Bildungsanfange
des hellenischen Volkes und des Zusammenhanges derselben mit
der phonicischen und agyptischen Cultur, ein entscheidendes
Urtheil iiber die Deutung, welche Schliemann selbst denselben
gegeben hat, wird nicht ausgesprochen.
Berlin. F. Hirsch.
LXV.
Droysen, Job. Gust. Geschichte des Heilenismus. Erster Theil.
6eschichte Alexanders des Grossen. 2. Auflage. Halbband
1 und II 8. (X u. 400, 420 S.) Gotha 1877, F. A. Perthes.
Die Geschichte Alexanders des Grossen, mit welcher H. Droysen
im Jahre 1833 die Reihe seiner grosseren historischen Arbeiten
UUtheUnugen a. d. histor. Litterator. VI. 19
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290 Droysen, Joh. Gust, Geschichto des Hellenismus. I.
eroflhete, war ein Werk, welches schon damals das grosse Talent
seines Verfassers erkennen liess. Mit begeisterter Hingabe an
seinen Gegenstand, voll Bewunderung ebenso fiir das militarische
Genie wie auch fiir die politische Grosse Alexanders hatte er in
demselben in lebendiger und schwungvoller Darstellung die Thaten
und die Ideen desselben, den Character des Konigs, seiner Ge-
nossen und seiner Gegner geschildert; ohne genauere Rechen-
schaft iiber den Zustand der Ueberlieferang, iiber den Werth der
Quellen und das Verhaltniss derselben zu einander abzulegen,
hatte er doch mit kritischem Scharfsinn die besseren und zuver-
lassigeren unter diesen Quellen erkannt und dieselben seiner Dar-
stellung zu Grunde gelegt ; mit besonderer Sorgfalt hatte er die
geographischen Verhaltnisse behandelt, mit Hiilfe der Berichte
der Alten und neuerer Reisenden das Bild der Landschaften,
welche Alexander durchzogen und wo er seine Kampfe gefiihrt,
gezeichnet und dadurch den historischen Schilderungen Anschau-
Hchkeit und Naturwahrheit verliehen. Allerdings aber zeigte
dieses Buch auch manche Schwachen, wie sie Jugendarbeiten
gerade besonders talentvoller Schriftsteller anzuhaften ptlegen.
Bei dem ungestiimen Eifer, mit welchem er gearbeitet, hatte er
manche Fliichtigkeitsfehler und Irrthiimer, manche zwar zuver-
sichtlich vorgetragene aber wenig begriindete Behauptungen in
seine Darstellung einfliessen, in der Begeisterung fiir seinen
Helden hatte er sich zu manchen wenig bedachten und geradezu
ungerechten Urtheilen iiber Gegner desselben fortreissen lassen,
und gerade diese Schwachen sind damals von grimmigen Kritikern
hervorgekehrt und schonungslos gegeisselt worden. Jetzt, nacb
fast 45 Jahren, hat uns der Verfasser diese seine Jugendarbat
zusammen mit denFortsetzungen, welche er derselben bald nach-
her gegeben hatte, der Geschichte der Nachfolger Alexanders
und der Bildung des hellenischen Staatensystems , in neuer Be-
arbeitung vorgefiihrt. Der Titel: „Geschichte des Hellenismus",
welchen er friiher nur jenen Fortsetzungen gegeben hatte > ist
jetzt auch auf die Geschichte Alexanders ausgedehnt worden,
diese bildet jetzt den ersten Theil des Gesammtwerkes. Iter
bequemeren Benutzung und grosseren Handlichkeit wegen sind
die 3 Theile, welche friiher je einen sehr starken Band bildeten,
jeder in 2 Halbbande zerlegt worden, und die Perthes'sche Ver-
lagsbuchhandlung hat dafiir Sorge getragen, dass auch fan Druck
und der gesammten ausseren Ausstattung der Fortschritt der
Zeit zum Ausdruck gekommen ist. In der kurzen Vorrede zn
dem ersten Theile, der Geschichte Alexanders, auf welche wir
hier in dieser Anzeige uns vorlaufig beschranken, bemerkt der
Verf.: Die neue Ausgabe „ist nicht die blosse Wiederholung der
friiheren, noch will sie eine neue Arbeit sein oder die frubere
in dem weiten (Jmfang, den di^ Vorrede der Diadochen 1836 be-
zeichnet hatte, zu Ende fiihren", er erklart aber, dass der Ge-
danke, den er damals darlegen wollte, ihm auch heute nocb
richtig und sachgemass erscheine, rdie friihere Darstellung, so
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Droysen, Joh. Gust, Geachichte des Hellenismus. I. 291
weit es mir moglich war, berichtigend und erganzend, habe
ich denselben bestimmter auszupragen und sicherer zu begriinden
yenucht. Freilich das Bedenkliche und in gewissem Sinne
Triigerische, das die erzahlende Form der Darlegung so unzu-
langlich iiberlieferter Ereignisse hat, vermochte die neue Be-
arbeitung nicht zu beseitigen, wenn sie nicht diese Form selbst
aufgeben wollte. Es musste geniigen, theils in den Anmerkungen
das Maass der Sicherheit und Zulanglichkeit der Ueberlieferungen
anzudeuten, theils in besonderer Ausfuhrung einzelner wich tiger
Pimkte festzustellen, wie weit mit dem historischen Material, das
ubs noch vorliegt, zu kommen ist. Die Beilagen geben einige
solche Untersuchungen, andere habe ich anderweitig veroflfentlicht".
Mit diesen Worten wird der Character der neuen Bearbeitung
YoDkommen richtig geschildert. Der Verf. hat an dem Grund-
gedanien, von dem er friiher ausgegangen ist, festgehalten; ob-
wohl im Gegeiisatz gegen fast die gesammte Tradition des
Alterthums, ist er auch jetzt iiberzeugt, dass Alexander in be-
wusster Weise eine welthistorische Mission zu erfullen gesucht,
dass er von vorne herein nicht nur die Eroberung des Orients,
sondern auch eine Verschmelzung des orientalischen und griechischen
Wesens beabsichtigt hat und dass von diesem grossen Gedanken
seine einzelnen Massregeln, auch diejenigen, durch welche er den
macedonischen und hellenischen Geist so schwer verletzt hat, die .
Annahme orientalischer Sitten und persischen Hofceremoniells, aus-
gegangen sind. Er hat es verstanden, seinem Werke den Haupt-
reiz, welchen es friiher besass, die Jugendfrische, die lebhaite,
toh Begeisterung erfiillte Darstellung zu bewahren, er hat aber
anderereeit8 einmal verschiedene einzelne Irrthiimer und Ver-
sehen, welche ihm friiher nachgewiesen worden waren, berichtigt
und entsprechend dem jetzt genauer erkannten und durchforschten
Zustande der Ueberlieferung dieser gegeniiber eine vorsichtigere
Haltung eingenommen. Er hat ferner den Anmerkungen eine
weitere Ausdehnung gegeben, in ihnen jetzt fortlaufend reichlicher
wA genauer als friiher die Angaben des Textes begriindet,
«»dlieh hat er auf das sorgsamste die Arbeiten Anderer, welche
wairend jener langen Zwischenzeit erschienen sind, benutzt und
wrwerthet. Auf Grand derselben hat seine Darstellung nach
drei Seiten bin eine Erweiterung erfahren. Erstens ist das in-
zwischen neu gefundene Quellenmaterial, bestehend hauptsachlich
in Inschriften und Miinzen, ausgebeutet und daraus einige, wenn
ouch nicht sehr zahlreiche, neue Nachrichten und Anschauungen
gewonnen worden. Zweitens hat er jetzt ausfuhrlicher und
gnindlicher die friiher nur oberflachlich behandelten Ereignisse
ttnd Zustande in Griechenland sowohl vor als auch wahrend der
Regierung Alexanders dargestellt. Endlich hat er drittens die
Schilderung der geographischen Verhaltnisse, auf welche er, wie
bemerkt, schon friiher besondere Sorgfalt verwendet hatte, auf
Grnnd der reichen neueren Litteratur vervollstSndigt. Als An-
tang hat er diesem Theile zwei gai\z neue Abschnitte hinzuge-
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292 Droysen, Joh. Gust.,, Geschichte des Hellenisinus. 1.
fiigt, von denen der cine Bemerkungen iiber die Chronologie,
der andere iiber die verschiedenen Arten von Quellen, welche
der uns erhaltenen Ueberlieferung zu Grunde liegen, und iiber
die Glaubwiirdigkeit derselben enthalt. Wir begleiten im Folgen-
den die Darstellung des Verfassers, um im Einzelnen die
wichtigeren Veranderungen und Erweiterungen , welche diese
zweite Bearbeitung enthalt, namhaft zu machen.
Abweichend von der friiheren Eintheilung in 9 Capitel ist
jetzt die Geschichte Alexanders in 4 Biicher gesondert, welche
wieder in je 4 oder 3 Capitel zerfallen. Das erste Buch reidt
bis zum Aufbruche Alexanders nach Asien, also bis zum Jahie
334, und enthalt zunachst 2 einleitende Capitel. Das erste der-
selben giebt eine Uebersicht iiber den Gang der friiheren
griechischen und persischen Geschichte. Die Skizzirung der
griechischen Geschichte ist ausfiihrlicher als friiher, die Hanpt-
momente sind scharfer hervorgehoben, auch die friiher ausser
Acht gelassenen Ereignisse im griechischen Westen, in Unter-
Italien und Sicilien sind jetzt beriicksichtigt , abweichend gegen
friiher ist namentlich die mildere, gerechtere Beurtheilung des
Demosthenes (S. 33 f.). Das Resultat dieser Darlegung aber ist
dasselbe wie friiher: die Freiheit un<fr Kleinstaaterei Griechen-
lands hat sich iiberlebt, die von Konig Philipp eingerichtete
Bundesverfassung ist eine gliickliche, den Bediirfnissen der Nation
entsprechende, durch sie ist der Haupttheil derselben geeinigt,
innerer Frieden und gemeinsame Politik nach aussen verbiirgt,
den einzelnen Mitgliedern des Bundes bleibt ihre communale
Autonomie, aber die Militarhoheit und die Leitung der aus-
wartigen Politik sind an das Bundeshaupt, den machtigen Konfc
von Macedonien, iibertragen. Der Kampf gegen die Barbaren im
Osten, den schon Philipp beabsichtigt und vorbereitet, ist far
Griechenland selbst nothwendig, durch ihn erhalten die der
Heimat gefehrlichen Elemente Gelegenheit zu neuer wirkungs-
voller Thatigkeit. Weniger verandert ist die Uebersicht iiber
die persische Geschichte, etwas ausfiihrlicher wird nur die Organi-
sation des Reiche8 durch Darius I., dann der Zug des jiingeren
Cyrus und die Theilung Kleinasiens in eine grossere Zahl tod
Satrapien durch Artaxerxes II. behandelt, vorsichtiger als friiher
wird dann die Ueberlieferung iiber die Vorgange am Hofe unter
den letzten Konigen mitgetheilt. Das Resultat ist auch hier das
gleiche: das Perserreich ist verfallen in Folge der Erschlaffung
der Centralleitung und der grosseren Selbstandigkeit der Satrapien,
die ausseren Erfolge unter den letzten Konigen sind nur durch
diplomatische Kunst, durch Ausnutzung der Zerrissenheit Griechen-
lands erreicht worden, Darius III. ist eine edle Personlichkeit, aber
unfahig das zerriittete Reich gegen die jetzt geeinte Macbt
Griechenlands zu schiitzen. Das zweite Capitel, die Uebersicht
iiber die Geschichte Macedoniens bis zur Thronbesteigung Alexan-
ders, ist in seinem ersten Theile wesentlich umgeandert, die Dar-
stellung der alteren Geschichte ist auf Grund der neueren
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Droysen, Joh. Gust., Geschichte dea Hellenismue. I. 293
Forschungen berichtigt und erweitert. Zum Beweis fiir den
griechischen, pelasgischen Ursprung der Macedonier werden die
nenen sprachlichen Forschungen herangezogen, es werden die alt-
frankischen Sitten des Volkes, seine Verfassung geschildert, es
werden die Gefahren, welche dem Konigthum theils durch die
nicht fest geordnete Erbfolge, theils durch die*an jiingere Prinzen
rerliehenenoder den alten Furs ten gelassenen erblichenLehnsfursten-
tiamer drohten, hervorgehobcn, die folgende Darstellung der dyna-
stischen und genealogischen Verhaltnisse ist ganz neu auf Grund der
Angaben der griechischen Schrif tsteller, dann aber namentlich auch
der Miinzen und Inschrifben aufgebaut. Dagegen ist der zweite Theil,
dieDarstellung der Regierung Philipps II., wenig verandert, nur sind
die Angaben des Textes auch hier in den Noten reichlicher und
genaoer begriindet und einzelne Punkte theils hinzugefugt (S. 83
die Organisation des Nationalheeros, S. 89 Anm. die Verhaltnisse
der epirotischen Konigsfamilie), theils berichtigt (der Brief
Philipps an Aristoteles bei Gelegenheit der Geburt Alexanders
wird jetzt S. 92 Anm. 2 als Falschung bezeichnet, das Ende des
Morders Perdiccas S. 99 anders dargestellt, der Erlass der Steuern
durch Alexander bei seiner Thronbesteigung S. 101 auf diejenigen,
welche im Heere dienten, beschrankt). Das dritte Capitel, in
welchem die Ereignisse der zwei ersten Regierungsjahre Alexan-
ders, die Erneuerung des korinthischen Bundes, der Feldzug nach
Thracien, an die Donau und gegen die IUyrier, dann der zweite
Zng nach Griechenland, die Zerstorung von Theben und die
zweite Erneuerung des korinthischen Bundes dargestellt werden,
ist in der Hauptsache mit der fruheren Bearbeitung iiberein-
sthnmend geblieben, nur dass auch hier die Begriindung in den
Anmerkungen jetzt cine vollstandigere ist, namentlich sind fur die
griechischen Ereignisse die Inschriften verwerthet, und fiir die
Feldziige die geographischen Verhaltnisse naher erlautert. Von
Einzelnheiten fthren wir noch an die jetzt (S. Ill) hinzugefugte
Sotiz, dass Delios von Ephesos, von den asiatischen Griechen ge-
s^dt, Alexander zum Kriege gegen die Perser gedrangt habo,
die Nachrichten (S. 114) liber die Fortschritte des unter Par-
fflcnio nach Asien vorausgesandten Corps, die abweichende Be-
fechnung (S. 119 Anm. 3) der Starke des Heeres, mit welchem
Alexander nach Thracien auszog (ca. 20,000 Mann) , die genaueren
Angaben (S. 133 ff.) iiber den Antheil des Demosthenes an den
unruhigen Bewegungen in Griechenland, endlich die auf die
Analogic anderer griechischer Bundesvertrage gegriindete Ver-
mathung (S. 140 Anm. 2), dass das Urtheil gegen Theben auf
Grund eines Artikels der Bundesacte gef allt sei.
Das zweite Buch erzahlt den Feldzug Alexanders in Asien
bis zum Tode des Darius (330). Ein erstes Capitel innerhalb
desselben schildert zunachst die Vorbereitungen zum Kriege.
Der Anfang ist fast ganz neu. Der Verf. behandelt dort die
Frage, ob Alexander wie ein Abenteurer, oder ob er mit einem
festen Plane ausgezogcn sei, zum Beweise fiir das letztere weist
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294 Droyaen, Joh. Gust., Geachichte des Hellenismus. I.
er auf die von Alexander neu eingeffihrte Mfinzordnung tin,
durch welche im Gegonsatz gegen die von seinem Vater begriindete
Doppelwahrung zu der reinen Silberwahrung zuriickgokehrt wurde.
Er erkennt hierin eine Kriegserklarung gegen das persisehe
Mtinzsystem, zugloich vermuthet er, dass Alexander damit zu
Anfang eine gliickliche Finanzoperation gemacht habe. Auch die
Uebersicht fiber den Machtbereich Alexanders, fiber die seiner
Herrschaft unterworfenen Gebiete und die verschiedenartigen
Zustande in denselben, ist neu. Dagegen ist die folgeife
Schilderung der macedonischen Kriegsmacht im Grossen vA
Ganzen mit der in der ersten Auflage gegebenen iibereinstimmed
nur werden hier zum Schluss die Eigenthfimlichkeiten der Arm
Alexanders : verhaltnissmassig grosse Zahl der Reiterei und das
Vorhandensein eines wirklichen Officierstandes pracisirt, dam
wird darauf hingewiesen, dass der Reiterdienst bei den Griechen
und Macedoniern, da denselben Steigbfigel, Hufeisen und Sattel
unbekannt waren, cin ungleich schwierigerer gewesen ist, endM
wird hervorgehoben, dass erst Alexander die voile Offensivkraft
des macedonischen Heeres zu benutzen verstanden habe. Die
Schilderung der Zustande des persischcn Reiches ist Wiederholung
des in der ersten Auflage Gesagten, auch die Darstellung des
Feldzuges Alexanders in Kleinasien, der Schlacht am Granicus,
des Zuges langs der Wcstkfiste, der Belagerung von Halicaniass,
dann des Marsches durch Lycien, Pamphylien und PisidieB nach
Gordium stimmt mit der fruheren fiberein, nur ist (S. 220) eine
kurze Schilderung der Bundesverfassung von Lycien eingesehobeu,
dann (S. 225 ff.) die Lage einiger Ortschaften in Pamphylien uwJ
Pisidien genauer bestimmt. Neu ist wieder der Schluss te
Capitels, eine Darstellung der Organisation der Verwaltung ia
den neueroberten Landschaften. Der Verf. zeigt, dass dieselbe
von vorne herein auf dauernde Besitznahme berechnet war. Die
Satr^pie vrurde beibehalten, aber die Amtsbefugniss der Satrapea
eng umschrankt, ihnen selbstandige militarischo und Finanzbe-
horden zur Seite gestellt. Den bcstohenden organisirten Gemeinden
wurde ihre communale Selbstandigkeit gelassen, sio behielten
auch eigenes Mfinzrecht, nur einzelne von den griechischen Ge-
meinden Kleinasiens wurden in den korinthischen Bund anfge-
nommen, andere wurden zu eigenen Biindnissen vereinigt. Das
zweite Capitel schildert zunachst fibereinstimmcnd mit der friiheren
Bearbeitung die Vorgange auf persischer Seite, dio Unternehmungen
Memnons und die Rfistung des persischen Reichsaufgebotes, dann
ebenso den Marsch Alexanders von Gordium nach Cilicien und
die Schlacht bei Issus (S. 247 sind wieder die geographischen
Verhaltnisse des Marsches fiber den Taurus genauer festgestellt,
S. 267 ist eine Berechnung der Verluste macedonischer Seits
angestellt). Neu hinzugeffigt sind die Angaben (S. 271, 274)
fiber die gleichzeitigen Bewegungen in Griechenland und (S. 277)
fiber die Ordnung der Verhaltnisse in Cilicien. Die folgende
Erzahlung des Marsches durch Phoenicien, der Eroberung ron
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Droysen, Joh. Gust., Geschichte des Helleniamus. L 295
Tyros und Gaza , dann der Unterwerfung von Aegypten ent-
spricht ganz der friiheren Bearbeitung, neu eingeschoben sind
(8. 301 fF.) Angaben iiber die Organisation von Syrien und
Phoenicien. Ans den Miinzen der dortigen Stadte, von denen
eine verhaltnissmassig grosse Zahl durch den Fund von Saida
1863 bekannt geworden ist, erhellt, dass dieselben nicht wie die
Stadte in Kleinasien autonom geblieben sind, sie haben nur mit
Alexanders Typen Geld pragen diirfen, einzelne unter ihnen (Ake
nod Arados) datiren seit der Befreiung von der persischen Herr-
schaft durch Alexander eine neue Aera. Auch der Haupttheil
des dritten Capitels, die Schilderung der neuen Riistungen des
Darius, der Vernichtung des Restes der persischen Flotte im
igauschen Meere, des Zuges Alexanders nach Ammonium, dann
seines Marsches durch Mesopotamien , der Schlacht bei Gangamela,
der Einnahme von Susa und Babylon und des Zuges nach Persia,
stzmmt in der Hauptsache mit der friiheren Darstellung iiberein.
Neu sind die Betrachtungen (S. 320 ff.) iiber den Zweck des
Zuges nach Ammonium, der Verf. weist darauf hin, dass Alexander,
der aufgeklarte Schiiler des Aristoteles, dort eine ahnliche ver-
tiefte Gotteslehre, wio die von Brugsch publicirte Inschrift
Darras II. zeige, vorgefunden habe, er meint, dass die Priester des
Amnion in voller Ueberzeugung, gemass der tieferen Symbolik, in
welcher sie die alte Gotteslehre fassten, Alexander als den Sohn
des Gottes begriisst haben. Der Weg Alexanders von Gangamela
nach Babylon (S. 343 Anm. 1) , ferner sein Zug von Susa durch
die persischen Gebirge nach Persepolis (S. 343. 345) wird wieder
nach den neueren geographischen Forschungen genauer bestintmt,
doch hat der Verf. die Ergebnisse der Untersuchungen von Z oiling
nicht angenommen. Neu hinzugef iigt sind am Schluss (S. 362 ff.)
Betrachtungen iiber die Frage, warum Alexander erat oder schon
in Persepolis mit der Verbrennung des Konigspalastes symbolisch
die Vernichtung # der Achamenidenmacht habe declariren wollen.
Der Verf. vermuthet, dass Alexander nach der Schlacht bei
Gangamela bereit gewesen sei, mit Darius Frieden zu schliessen,
gich mit dom Besitz der westlichen Landschaften vom mittel-
landischen Meere bis zu den Bergen Irans zu begniigen, erst
weil Darius die erwarteten Friedensantrage nicht gemacht, habe
er sich entschlossen, die Achamenidenherrschaft vollstandig zu
veraichten. Im vierten Capitel wird Alexanders Marsch nach
Hedien, die Flucht des Darius, seine Ge&ngennehmung durch
Bessus, die Verfolgung Alexanders und Darius' Ermordung ganz
ahnlich wie in der ersten Ausgabe erzahlt, nur dass auch hier
die geographischen Verhaltnisse genauer dargestellt sind, S. 379
weist der Verf, darauf hin, dass durch die Ermordung des Darius
fur Alexander die Moglichkeit ernes Abschlusses seiner Eroberungs-
laufbahn abgeschnitten worden sei, dass er jetzt dem Usurpator
Bessus gegeniiber die Majestat des persischen Konigthums habe
rachon miissen. Umgearbeitet und genauer ausgefiihrt ist am
Schluss die Darstellung der Ereignisse in Griechonland , es wird
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296 Droysen, Joh. Gust, Geschichte des Hollenismus. L
jetzt auch hier das Endedes Konigs Alexander von Epirus inUnter-
italien berichtet, dann theils aus Inschriften, theils aus den Nach-
richten bei Curtius und Diodor der Zusammenhang zwischen
dem Aufstande in Thracien und den Unruhen in Griechenland
ermittelt, die Parteikampfe in Athen, dann die Erhebung des
Konigs Agis von Sparta und seine Niederlage und sein«Tod bei
Mantinea geschildert, endlich darauf hingewiesen, dass auch nach
dioser Katastrophe in Athen die Erbitterung iiber die mace-
donische Herrschaf t sich, freilich in sehr niohtigen Demonstration^
geaussert habe.
Das dritte Buch, mit wcjchem der zwoite Halbband begin^
erzahlt in 4 Capiteln den Zug Alexanders durch die nordlichea
iranischen Landschaften, seine Kampfe inBactrien und Sogdiana
und den indischen Feldzug (330 — 326). In dem ersten Capitel, der
Darstellung des Marsches durch die Provinzen Areia, Drangiana,
Arachosia und das Gebiet der Paropamisaden, sind , abgesehen you
der genaueren Fixirung der Localitaten in den Anmerkungen, nor
zwei Punkto zu orwahnen, von donen der eine hier eine veranderte
Bearbeitung erfahren hat, der andere neu hinzugefiigt worden ifit:
die Verschworung des Philotasunddie Veranderungen in dem Heer-
wesen. Was den ersten anbetrifft, so entwickelt der Verf. hierge-
nauer (S. 13 ft) das Motiv der Missstimmung der Macedonier gegen
ihren Konig, dessen Gedanken, durch eine Verschmelzung des orien-
talischen und griechischen Wesens sein Weltreich auf fester Basis
zu begriinden. Er zeigt, wie Alexander mit diesem Gedanken
iiber die Anschauungen seines Lehrers Aristo teles hinausgegangenist,
welcher nur die Hellenen fiir der besten Staatsform fahig nod
wiirdig erklart, die Barbaren dagegen wie Thiere und PflaeaoD
will behandeln lassen, cr zeigt aber auch, welche Schwierig-
keiten sich der Verwirklichung dieses Planes entgegengestellt
haben. Die Entdeckung der Verschworung des Philotas und
seinen Process erzahlt er dann wie in der ersten Auflage nach
den Berichten des Diodor, XJurtius und Plutarch, doch behandelt
er jetzt diese Ueberlieferung vorsichtiger, er lasst es dahingestellfc
(S. 21), ob diese Erzahlung der Wahrheit entspreche und ebenso
(S. 28), ob das Gericht iiber Philotas gerecht und die Ermordflng
Parmenios eine politische Nothwendigkeit gewesen set Neu hhtfth
gefiigt sind die Bemerkungen (S. 29 ft) iiber die Veranderungen
in der Formation der Armee, welche den doppelten Zweck gehabt
haben sollen, dieselbe fiir den weiteren Kampf noch beweglicher
zu machen und asiatische Truppen in sie aufzunehmen. Was
die Alexander so sehr verdachte Einf iihrung orientalischer Tracht
anbetrifft, so weist der Verf. darauf hin, dass vielleicht dabei
klimatische Riicksichten massgebend gewesen sind. In dem zweiten
Capitel, der Darstellung des Aufenthaltes Alexanders und seiner
Kampfe in Bactrien und Sogdiana, sind es einmal wieder die
geographischen Verhaltnisse, fiir welche fortlaufend die neueren
Forschungen verwerthet sind (S. 46 — 47 ist eine anschauliche
Schilderung der Landschaft Sogdiana in den Text eingeschaltet),
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Droysen, Joh. Gust., Geschiohte d«s Hellenismus. I. 297
dann wird neu (S. 44 f. und 82) die Organisation jener Gebiete
geschildert. Dieselben werden nicht unmittelbar mit dem Reiche
Alexanders vereinigt, sondern sie werden an Lehnsfiirsten ge-
geben und sollen ah Grenzmark des Reiches dienen. Abweichend,
wcnigrtens vorsichtiger als friihor, werden dann noch zwei Punkte
behaodelt: die Ermordung des Klitus und das Ende des Kalli-
sthenes, Was die erstere anbetrifft, so wiederholt zwar der Verf.
die Angaben der Quollen , bemerkt aber (S. 73), dass dieselben
aflicht genligen, den wirklichen Verlauf des Ereignisses, noch
weniger zwischen dem Morder und dem Ermordeten das Maass
der Schuld festzustellen". Auch Kallisthenes gegeniiber ist jetzt
das Urtheil des Verf. ruhiger und bedachtiger, nur mit einem:
*er soil gesagt haben" wird S. 88 die hochrniithige Aeusserung
deaelben, er sei zu Alexander gekommen, nicht urn sich Ruhm
2Q verschaffen, sondern um ihn beriihmt zu machen, angefiihrt,
diefriihere wenig begriindete, sehr ungiinstige CharacterschUderung
dea PhiloBophen ist ganz weggelassen, die Ueberlieferung iiber
die Veranlassung der Entzweiung zwischen demselben und dem
Konige wird wieder mit vorsichtiger Zuriickhaltung angefuhrt,
aach die Mitschuld des Kallisthenes an der Yerschworung des
Hermolaus wird jetzt nicht so bestimmt wie friiher behauptet.
Das dritte und vierte Capitel, die Schilderung des Feldzuges
Alexanders nach Indien, sind in der Hauptsache unverandert ge-
blieben, auch die schon friiher mit vieler Sorgfalt behandelten
geographischen Verhaltnisse haben hier nur wenige Berichtigungen
undAenderungen, namentlich durch Verwerthung der Forschungen
wn Lassen und Cunningham erfahren (s. S. 103 die kurze
Schilderung des Kabullands, dann die veranderten Angaben S. 123
iiber die Lage von T^xila, S. 152 iiber die Hauptstadt der
Mailer, S. 190 iiber das sogdische Alexandrien, S. 200 iiber
die Lage von Pattala).
In dem vierten Buche erzahlt das ersteOapitel ganz ahnlich
wie friiher den Marsch Alexanders durch Gedrosien, die Seefohrt
fosNearch, die Riickkehr Alexanders nach Persis, das Straf-
gericht iiber die ungetreuen Satrapen, die grosse Hochzeitsfeier
in Susa und die weitere, durch die Aufnahme zahlreicher, in-
zwischen ausgebildeter asiatischer Truppen veranlasste Ver-
anderung der Heeresorganisation. Auch der Anfang des zweiten
Capitels, die Schilderung des Soldatenaufruhrs in Opis und der
Heimkehr der Veteranen ist unverandert geblieben, dagegen ist
der spatere Theil dieses Capitels erheblich umgearbeitet worden.
Der Verf. behandelt hier einmal genauer als friiher die Verhalt-
ni»e in Griechenland, namentlich auf Grand der Untersuchungen
S chafer's die Parteiumtriebe in Athen, die harpalischen Pro-
®*Qi welche zu der Verurtheilung des Demosthenes und seiner
Audit aus Athen fiihren. Ebenso umgearbeitet und erweitert
i*t die folgende Darlegung der inneren Politik Alexanders. Der
Verf. hebt hier noch einmal den Gegensatz zwischen dem Konige
Bad Aristoteles hervor, auch Alexander sei Realist gewesen , aber er
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1 VV«5WT
298 Droysen, Joh. Gust., Geschichte des Hellenismus. L
sei nicht bei den friiher gegebenen Bedingungen stehen geblieben,
er hatte durcb seine Siege neue geschaffen, und er hatte nun
versucht diesen entspreohend hellenisohe und orientalische Guitar
zu veroinigen. Freilich sei dieses Friedenswerk die schwierigste
von alien seinen Unternehmungen gewesen, und es wird dann
auf eine dieser Schwierigkeiten, die Nothwendigkeit einer neuen
Regelung der BesitzverhSltnisse in Folge der Zuriickfiihriing der
Verbannten, der Colonisationen und neuen Stadtegriindungen, hija-
gewiesen. Aehnlicb wio in der ersten Auflage wird dann eiae
Reihe von Veranderungen angefiihrt, welche theils sofort, thfli
allmahlich durch die Tbaten Alexanders hervorgerufen word*
sind: Entfesselung der friiher todtgelegten Reichthiimer, Ad-
bebung des Systems der Naturallieferungen , Umgestaltung des
wirthschaftlichen Lebens, Aufschwung des Handels, Eroffnung
neuer Land- und Seewege, dann die Volkermischung und ibre
Folgen fiir Kunst, Wissenschaft und die sittlicben Zustande
der verschiedenen Nationen, endlich die Theokrasie. Das letzte,
dritte Capitel behandelt den Zug Alexanders nach Medien, dann
seinen Auf brueh nach Babylon , seinen dortigen Auf en t halt, seine
weiteren Plane und seinen Tod. Auch hier stimmt die Dar-
stellung in der Hauptsache mit der friiheren iiberein, fiir den
Marsch bach Medien sind wieder die neueren geographisohen
Forschungen yerwerthet worden, eingehender als friiher wird
(S. 317 S.) die schon durch Arrian angeregte Frage behandelt,
ob wirklich unter den Gesandtschaften fremder Volker, welche
zu Alexander auf seinem Zuge nach Babylon kamen, auch eine
romische sich befunden habe, der Verfasser sucht die WahrsoheiD-
lichkeit davon nachzuweisen. Genauer wird auch S. 303 ff. &
neue Formation des Heeres besprochen, yon welcher der Ved
vermuthet, dass sie „im Hinblick auf die Volker Italiens" ein-
gefiihrt sei. Das Ende Alexanders wird ganz wie in der ersten
Auflage nach den Fragmenten der yEqnjfi€^tdeg fiaoileioi, ohne
Beriicksichtigung der anderweitigen, wenig zuverlassigen Ueber-
lieferungen geschildert.
Von den zwei Beilagon, welche, wie schon beinerkt, jetet
neu der Geschichte Alexanders hmzugefugt sind, fuhrt die erete
die Deberschrift : „ Die Chronologie des Todes Alexanders. u Diese
Bezeichnung ist wenig genau, in Wirklichkeit zerfallt dies© Ah-
handlung in zwei verschiedene Theile. Die erste enthalt Unter*
suchungen iiber den macedonischen Kalender. Der Verf. weist
dort zuiAchst nach, dass diejenigen Stellen, namentlich bei
Plutarch , in denen neben den macedonischen auch die attischea
Monatsnamen genannt werden, auf welche Jdeler seine Unter-
suchungen iiber den macedonischen Kalender gegriindet hatte,
sammtlich unzuverlassiig sind, er macht dann den Versuch, den
Todestag Alexanders und die Zeit seiner Geburt und seines
Regierungsanfanges, welche uns in macedonischen Daten iiberr
liefert sind (28 Daisios und Anfang des Dios), genau zu berechnen,
er kommt abor nur zu dem Ergebniss, dass Alexanders Gehurt
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Drojsen, Joh. Gust., Qeschichte des Hellenismus. I. 299
ofid seine Thronbesteigung in die Zeit von October bis December
356 resp. 336 fallen mussen. Der zweite Theil beschaftigt sich
mit der Chronologic Diodors , es wird dort darauf .hingewiescn,
zu wie zahlrcichen Irrthiimern Diodor die Gleichstellung der
attischen Archonten- mit den romischen Consulnjahren, welche
letztere er noch dazu fur jene Zeit irrig mit dem 1. Januar be-
ginuen lasst, gefiihrt hat, es wird dann auch gleich noch an
einigen Beispielen nachgewiesen, dass der Text Diodors una
nicht in seiner urspriinglichen Gestalt, sondern iiberarbeitet nnd
rerkurzt vorliegt. Die zweite Beilage: „Die Materialien zur
Gachichte Alexanders" beschaftigt sich mit den Originalquellen,
aos welchen die uns vorliegenden spateren Schriftsteller geschopft
haben, ohne die andere Frage, welche der Gegenstand verschiedener
anderer Untersuchungen in neuorer Zeit gewesen ist, welchp von
jenen Originalquellen den einzelnen Autoren yorgelegen, und wie
ffl'e dieselben benutzt haben, zu erortern. Der Verf. sondert
diese Originalquellen in 4 Gruppen. Zu der ersten zahlt er
sokhe Publicationen, welche die Ereignisse selbst begleitet haben,
Darstellungen einzelner Abschnitte der Kriegfiihrung, bald nach-
hcr in rhetorischer Form abgefasst, welche die im macedonischen
flauptquartier herrschende Auflassung wiedergegeben haben und
aaf die Gestaltung der offentlichen Meinung in Griechenland be-
rechnet waren. Dazu werden namentlich die Darstellungen des
Kallisthenes gerechnet, der Yerf. sucht wahrscheinlich zu machen,
daw dieselben urspriinglich abschnittsweise herausgegeben und
erst spater zusammengestellt worden sind. Die zweite Gruppe
bilden Berichte an den Konig iiber einzelne Vorgange, dazu ge-
hort namentlich der des Nearch iiber sein Flottencommando, die
dritte Journale , fortlaufende Aufoeichnungen, theils iiber die Vor-
gange am Hofe (die 'Eqnjfieqideg ftaolleioi, yon Eumenes abgefasst),
theils iiber die militarischen Actionen, ahnlich auch die memoiren-
artigen Aufzeichnungen des Chares von Mitylene. Eine vierte
Gruppe endlich bilden die etwas spater, in der Zeit der Diadochen-
&mpfc, abgefassten Darstellungen, welche theils auf eben jenen
eraten Quellen, daneben aber auch auf eigenen Erinnerungen der
Verfasser und mundlicher Ueberlieferung beruhen, die Werke
des Kleitaroh, Ptolemaeus und Aristobul, alio drei werden
tier genauer characterisirt. Dazu kommen dann urkundliche
Quellen : Vertrage, Gesetzc, Rechenschaftsablegungen und ahnliche
theils staatliche, theils communale, theils private Actenstiicke,
von denen uns manche durch Inschriften erhalten sind, dann
Geschaftsjournale » endlich Briefe und Reden. Die beiden
ktzteren Arten werden hier in Bezug auf ihre Aechtheit genauer
gepriift. Von Briefen halt der Vert, nur diejenigen fur acht,
welche Arrian und Strabo als solche anfiihren, und die-
jenigen, welche Diodor dem Hieronymus von Kardia entnommen
hat Was die Reden anbetrifFt, so weist er nach, dass nicht
aur diejenigen, welche sich in den dor kleitarchischen Ueber-
lieferung folgenden Schriftstellen finden, sondern auch die
300 Wenzel, Max, Kriegswesen u. Heeresorganisation d. Bfimer.
von Arrian mitgetheilten nicht auf authentischer Ueberlieferung
beruhen, sondern freie historische Compositionen sind.
Berlin. F. Hirsch.
LXVI.
Wenzel, Max, Hauptmann und Compagnie-Chef im 2. hess. Inf-
Rgt. No. 82, Kriegswesen und Heeresorganisation der Romer.
Eine kriegsgeschichtliche Studie. gr. 8. (VIII, 124 S.) Berlin
und Leipzig 1877. Luckhardt'sche Buchhandlung. 2 M.
Eine Wiedergabe des Inhalts, wie sie im Plane der „Histori-
Bchen Mittheilungen" liegt, ist bei der Verworrenheit und Dispo-
sitionslosigkeit dor vorliegenden Studie nicht wohl moglich, und
eine kritische Bosprochung derselben liegt ausserhalb des Rahmens
der „Mittheilungentt. Uebrigens geniigen einige Proben des In-
halts zur Wiirdigung des Ganzen.
S. 8 heisst es : „Nach Verlauf dieser Dienstjahre trat, jedoch
noch nicht vollige Befreiung voni Kriegsdienste ein; entweder
wurden sie in die Colonieen gesandt — eYOcati — wo sie Land
erhielten und blieben" etc.
S. 9. „Diese Soldaten (nemlich die von Sulla mit „den
Schatzen und Giitern der Besiegten ausgestatteten") welche fast
alle in Italien begutert und angesessen waren, wurden bene-
ficiarii — Dotirte — genannt."
S. 25. „ Caesar berichtet, dass sie (nemlich die Barbaren)
jede Ausschmiickung durch Decken fur schimpflich hielten.tt
S. 41 wird die Entdeckung gemacht, dass die romischeo
Soldaten incl. Schild und Speer zwirnsfadendiinn gewesen seien,
denn die Manipelfront a 120 Mann mit je 1 ll2 Schritt Abstand
zwischen den Einzelnen wird auf 180 Schritt borechnet.
Ebendaselbst werden die 10 Manipeln der hastati — ein jeder
eine lange Linie bildend — hintereinander aufgestollt ; als zweites
Treffen folgen, ebenso originell geordnet, die 10 Manipeln der
principes.
S. 43 wird geschildert, wie sich erst die hinteren Hastaten-
manipeln nach vorn hindurchziehen und schliesslich das aufgeriickte
zweite Treffen (der principes) dieselbe Manipulation durch |die
Hastatenmanipeln hindurch vornimmt. In diesem Gekrabbel haben
die velites noch Zeit und Raum, sich durch die einzelnen Glieder
hindurchzuschlangeln , urn die Verwundeten zuriickzuschleppen,
event. Speere herbeizuholen etc.
S. 47 operiert Caesar mit velites.
S. 48 heisst eswortlich: „Die aus den Taktikern ge-
bildete griechische Armee bestand aus 16,000 Hopliten" etc
S. 57 wird die Zahl der „mannbaren" Burger zur Zeit des
zweiten punischen Krieges auf 137,000 Mann angegeben, wovon
100,000 dienen.
S. 58 heisst es: „Zu ihren Schlachtfoldern wahlten sie
Ebenen und nie scheinen sie sich aus Stellungen etwas gemacht
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Hndemann, Br. £. E., Geschichte des romisfchen Postwesens. 301
zq haben; and zwar aus zwei Griinden: einmal warden die
Schlachten mit blankeV Waffe im Handgemenge geschlagen, wo-
bei es sich hochstens darum handelte, dem Gegner die Sonne
und den Wind abzugewinnen" etc.
Von einem locus aequus, iniquus etc. weiss der Verf. also nichts.
Die Seiten 60 — 62 enthalten eine Menge willkiirlicher Mass-
angaben, die dafiir aber auch atif Centimeter und Millimeter
genao berechnet sind.
S. 66: „Die Republik dachte nur an Eroberungen; ihre
grossen stehenden Lager waren fast stets zum Angriff geeignet
und immer vor den grossen Stromen angelegt, um zwischen den
Legionen und dem Feinde kein Hinderniss zu lassen."
8. 69: „Doch die Liicke (namlich der testudo) wird wieder
geschlo8sen und auf das erste Schilddach ein zweites, ja auch
woU ein drittes gehoben und der Feind auf der Mauer sieht
die Anstiirmenden in gleicher Hohe mit sich." Bei einer etwa
noting werdenden zweiten Auflage rathen wir dem Herrn Verf.,
diese drei Etagen hohe Schildkrote doch gleich zu einem zehn
Stockwerke hohen Schildkroten - Belagerungs - Turm aus alten
Romero zu erweitern.
Anderes interessantes Detail wolle der launige Leser an Ort
and Stelle nachlesen. Zum Schluss noch die Bemerkung , dass
fat alle Citato ungenau oder falsch sind.
Miihlhausen i. Thiir.
Ot fried Schambach.
lxvh.
Hwtamann, Dr. E. E., Subrector a. D., Geschichte des rdmischen
Postwesens wShrend der Kaiserzeit. 8. (VIII, 211 S.)
Berl. 1875. S. Calvary & Co. 2 M.
Das romische Postwesen hat sich in den letzten Jahrzehnten
^r besonders vielseitigen Behandlung zu erfreuen gehabt.
Wahrend Friedlander in seiner Sittengeschichte Roms , von den
Jjjfiwn ausgehend, Strassenanlagen , Postverbindungen und Gast-
fctoser soweit zur Darstellung heranzieht, als sie nothig sind,
^ un8 das Bild des Reiselebens der damaligen Zeit im Gegen-
satz zur Gegenwart zu beleben und abzurunden, behandeln Roth-
schild1) und Hartmann2) sie im Zusammenhang der geschicht-
lichen Entwicklung der Post im allgemeinen und legen dem-
gemass besonderes Gewicht auf die Stellung der Beamten und
*&f die Organisation, Stephan 3) endlich geht in seiner kraftigen
und farbenreichen Schilderung, welche dieses StUck antiken Lebens
^ toller Korperlichkeit vor unserm geistigen Auge wiedererstehen
*) Arthur de Rothschild, Histoire d. L poate aux lettres. Paris 1873.
^uueme edition 1876, T. I, p. 34—82.
*) Eug. Hartmann, Entwickelungsgesch. d. Posten. Leipz. 1868, S. 25—122.
') Stephan, Ueber d. Verkehrsleben im Alterthum, in Banmers histor.
mchenbuch fftr 1868, S. 1—136.
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302 Hudemann, Dr. fi. E., Geschichte des r5mischen Postweaens.
lasst, auch ausfiihrlich auf die Bedeutung ein, welcbe die Post
der Kaiserzeit als Mittel und Zeichen des damaligen socialeii
Zustandes der Mittelmeerlander hat.
Das vorliegende Buch ist aus friiheren Studien und klei-
neren Arbeiten des Verf. hervorgegangen ; es schliesst sich am
nachsten an die Arbeiten Rothschilds und Hartmanns an, betont
aber noch mehr die antiquarische Seite. Ueberall auf den ersten
Quellen fussend, behaudelt der Verf. mit grosser Genauigkeit
die Namen und Ausdriicke, die Lasten und Berechtigungen, wekie
sich an das Postwesen der Kaiserzeit kniipfen, und bestirat
ihre Bedeutung in den verschiedenen Jahrhunderten , sowie &
Abanderungen , die sie durch die wechselnde Gesetzgebung dei
Kaiser erfiihren. Man kann ihm nicht das Lob versagen, dase
er den Stoff im wesentlichen vollstandig gesammelt und mit
Shilologischer Genauigkeit bearbeitet hat, so dass sein Werk
em Inhalte nach sich vorziiglich zum Nachschlage- und Hand-
buch fur dies Gebiet eignen wiirde. Um so mehr ist zu be-
dauern, dass demselben hierfiir jede aussere Handhabe feblt
Weder besitzt es Register, noch Inhaltsverzeichniss , und die
ganze Eintheilung besteht darin , dass auf den ersten 54 Seiten
eine historisch - chronologische Uebersicht vorausgeschickt wird,
worauf dann in ununterbrochenem , durch keine Kapitel-
eintheilung geregelten Fluss die ausfiihrliche Darstellung der
Einzelheiten folgt.
In der Einleitung erwahnt der Verf, die Einrichtungen im
Perserreiche und die Griinde, welche eine Entwicklung der Post
in Griechenland verhinderten , und geht dann zu den Keimen
eines geregelten Postwesens iiber, die bei den Romern bald inch
dem zweiten punischen Kriege heryortreten. Damals wurden
die Bundesgenossen zuerst zu bestimmten Leistungen an die
reisenden Beamten verpflichtet. In der Kaiserzeit wurden die*
Einrichtungen dann systematisch erweitert und ausgebaut, er-
wuchsen bald zu einer der schwersten Lasten der Provincial
und gingen in der Zeit der Volkerwanderung auch auf diejenigen
germanischen Staaten iiber, welche auf dem Boden des romischen
Reiches entstanden.
Auf den yortrefflichen romischen [Strassen fand schon lange
vor Augustus ein reger Brief- und Gepackverkehr statt. Er wurde
theils durch die Libertinen und Sklaven der Vornehmen ver-
mittelt, welche statores oder cursores genannt werden, theilfi
durch die „tabellarii" der Publicanen, die nicht nur fur ihre
Herren, sondern auch fur andre Private Briefe und Gepackstiicke
zur Besorgung iibernahmen. Nachdem Augustus die Lenkun?
des weiten Reiches in seiner Hand vereinigt hatte, wandte er
bekanntlich der Ausdehnung und Vervollstandigung des Strassen-
netzes ganz besondre Fursorge zu und benutzte dasselbe dann
sogleich zur Einrichtung einer Botenpost nach persischem Muster
In festen Abstanden wurden an den Strassen zuerst juvenes —
I
Hndemann, Dr. £. E., Geschichte des rdmiBchen Postwesens. 303
wohl Reiter — , darauf Wagen — vehicula — statioriirt, durch
die mit grosster Schnelligkeit Nachrichten und Befehle zwischen
Rom and den fernsten Grenzen des Reiches ausgetauscht werden
konnten. Daran schloss sich dann bald auch die Beforderung
wn Personen , zuerst , unter Augustas , nur von Mitgliedern des
Kaiserbauses , dann von Beaxnten und Andem, die im Staats-
dieast reisten , endlich auch von solchen , die durch besondre
Veigimgtigung das Recht zur Benutzung der Post erhalten hatten.
Trotz dieser Erweiterung der Rechte war und blieb aber die
romische Post bis zum Untergang des Reiches im wesentlichen
ein Machtmittel der Regierung , und der weitaus grosste Theil
der Unterthanen, namlich alle Provincialen und die romischen
Burger der unteren Klassen, konnten sich derselben zu keiner
Zeit bedienen. Nur die hoheren Stande , d. h. die Senatoren,
oaimen an den Vortheilen der Einrichtung bald mehr, bald
wenjger theil, dagegen lagen die Unterhaltungskosten mit be-
sondrer Schwere auf den Schultern der provincialen Guts-
besitzer und wurden schliesslich zu einer ganz unertraglichen
Last Denn immer grossere Anforderungen wurden an sie ge-
steDt} beforderte doch die Post unter Constantin nicht allein
Rekruten, Gelder, Pferde, Vorrathe, sondern auch ganze Ab-
tleilungen des Heeres von Gallien nach dem Orient, diente den
christlichen Bischofen bei ihren haufigen Synodalreisen und hatte
dann wieder fur die heidnischen Spiele Baren und andre wilde
Ttiere, sowie die Gaste nach Rom zu schaffen. Da ist es kein
Wunder, wenn sich immer von neuem Klagen erheben. Erleichte-
nmgen waren nur voriibergehend und meist nicht tiefgreifend.
Von Hadrian und Septimius Severus wird berichtet, dass sie die
Koeten auf den Fiscus iibernahmen, von Nerva, dass er wenigstens
in Italieu die Stellung von Fuhrwerken und Lastthieren erliess.
Ke letztere Massregel ward bereits von Trajan wieder auf-
gehoben, wahrend die erste schon durch ihre Wiederholung
^gt, wie wenig nachhaltig sie war. Auch lag es in der amt-
Mien und socialen Stellung der zum Fordern berechtigten Vor-
wkmen, dass sie in ihren Anspriichen trotz aller Gesetze un-
gestraft und ohne dass man Widerspruch wagte weit iiber das
ftchtliche Mass hinausgehen konnten. So wurden beispielsweise
°fr mehr Lastthiere verlangt, als sich im Reiseschein angegeben
fenden, Wagen und Thiere wurden aus Bequemlichkeit oder in
Folge augenblicklichen Bediirfaisses weiter mitgenommen, als
wlanbt war, ja es kam, wie aus einem Verbot hervorgeht, sogar
for, dass die gestellten Wagen verkauft wurden. Von Zeit zu
Zeit erschien dann ein Edict des Kaisers gegen die eingerissenen
■Kfcbrauche, namentlich gegen die allzu freigebige Ertheilung
?j>n Reisescheinen, schnell aber gerieth es in Vergessenheit und
J*l* war wieder ebenso, und arger wie zuvor. Trotz dieser
Uebektande iiberlebten die Einrichtungen das westroniisohe
jkicb selbst und bestanden, ganz in ihrer alten Weise, unter
^eodorich dem Grossen in den ihm unterworfenen Landern
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304 Hudemann, Dr. E. E., Geachichte des romiachen Postwesens.
und in sehr ahnlicher im Anschluss an die alten Stationen und
Strassen im Vandalen- und Frankenreiche.
Der Verf. wendet sich nun zur Einzeldarstellung und be-
handelt zuerst das Personal der Post. An der Spitze desselben
ist der praefectus praetorio zu nennen, welcher neben anderem
auch iiber den Postdienst — cursus publicus — die Oberleitung
hatte. Sein Stellvertreter war der praefectus urbi. Als es spater
mehrere praefecti praetorio gab, hatte jeder einzelne die Auf-
sicht iiber seinen Bezirk, doch traten jetzt zuweilen an ih»
Stelle die vicarii, rectores oder praesides provinciarum. Neko
andren Aufsichtsbeamten werden dann auch „praefecti vehio-
lorum" genannt Seit Constantin verschwindet die Beziehung dn
Postwesens zu den praefectis praetorio immer mehr > und der
„regendarius" , der bis dahin unter jenen gestanden und die
Ausfertigung der Reisescheine gehabt hatte, wird nun der eigent-
liche Leiter und steht in der Kangordnung und dem Instanzen-
zug unmittelbar zuerst unter dem magister aulae, dann unter
dem magister officiorum.
Die Unterbeamten zeriailen in reisende : Boten und Begleiter
der Poststiicke, und standige: Vorsteher und Personal der Sta-
tionen. Von den letzteren sind die wichtigsten die „mancipesa.
Dies waren anfangs ausgediente Krieger oder dergleichen, die
vom Staat besoldet werden; spater aber wurde das Amt meist
den Decurionen und Curialen des nachsten Municipiums iiber-
tragen, natiirlich ohne Besoldung, nur wo kein Municipium in
der Nahe war, dem man die Last aufbiirden konnte, blieben
besoldete Beamte. Dass diese Last im Laufe der Zeiten immer
driickender und harter wurde, ist schon erwahnt worden, doch
irrt der Vert, wenn er ihr allein die bekannte Erscheinung ai-
schreibt, dass Decurionen und Gutsbesitzer Heimat und Erbe
heimlich im Stich liessen, urn sich anderswo unter fremdeo
Namen niederzulassen : vielmehr ist sie nur eine unter den viete
Lasten und Steuern, welche im spateren Kaiserreich die Lip
der landbesitzenden Klasse zu einer unertraglichen machten, —
Die mancipes nun hatten die Verwaltung der Stationen und des
dazwischen liegenden Stiickes der Strasse; sie hatten die Baa-
lichkeiten in Stand zu halten, Thiere und Wagen zu stellen und
die Naturalli^ferungen an Lebensmittelu und Futter zu leisten.
Wahrend der Amtsdauer, welche fiinf Jahre betrug, durfte der
manceps sich bei schwerer Strafe nicht langer als 30 Tage von
seiner Stelle entfernen; nach Ablauf der fiinf Jahre sofite er
von jeder weiteren Verpflichtung frei sein, doch wird auch hier.
wie bei manchen andern Befreiungen, der Mangel an Leistungs-
fahigen zu widerrechtlicher Erneuerung gefuhrt haben. Unter
den mancipes standen „stationarii" — etwa Posthalter — , denen
im besondern die Sorge fur die Zugthiere oblag, ferner „stra-
tores44, Stallkneohte , nicht, wie Stephan meint, Stallmeister und
Stationsvorsteher , „mulionesu (Maulthiertreiber) , „apparitoresu
(Amt8diener), rhippocomi" (Pferdewarter), „carpentariiu (Wagen*
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Hndemann, Dr. E. E., Geachicbte des romischen Poatwesens. 305
meister) und „mulomedici" (Thierarzte). Von den letzteren be-
fand sich auf jeder Station einer, die Zahl der iibrigen war nach
der Grosse und Wichtigkeit der Platze verschieden , man rech-
nete einen mulio oder hippocomus anf je drei Thiere, welche
die Station halten musste ; sie waren Staatssklaven und durften
ihrer Station nicht entzogen werden. Von den Reisenden und
Courieren wurden sie haufig gehanselt und verspottet.
Zu den reisenden (circulirenden) Beamten gehorten die
PprosecutoresM (Postconducteure) , welche das staatliche Eigen-
thum, als: Geld, Proviant, Kleidungsstiicke , Pferde, auch Re-
kruten bei der Beforderung mit der Post begleiteten. Da sie
aof ihren Fuhrwerken oft Platz frei hatten, so pflegten sie diesen
aaHefeende, die keinen Postschein bekommen konnten, zu ver-
miethen und sie dann als „Begleiter" mitzunehmen. Die wich-
tigste Beamtenklasse aber sind die Staatsboten. Bei ihnen zeigt
sich recht deutlich die enge Verbindung , in welcher die ganze
Posteinrichtung mit der eigentlichen Regierung und Verwaltung,
ja sogar mit der Polizei stand. Im Anfang der Kaiserzeit waren
die sogenannten frumentarii *), welche bei Caesar noch als Fou-
riere und Proviantmeister erscheinen. Sie waren jetzt Couriere
des Imperator geworden und hatten die Befehle desselben mit
grrastmoglicher Schnelligkeit nach alien Theilen des Reichs zu
iiberbringen. Da sie nun durchaus zuverlassige und erprobte
Leute sein mussten,1 so war es bald nichts Ungewohnliches, ihnen
bei vielen Auftragen, besonders bei Verhaftungen, neben der Be-
iorderung auch die Ausfiihrung zu iibertragen, tfnd schhess-
lich gebrauchte man sie zu Polizeizwecken der verschiedensten
Art. Namentlich hatten sie iiber die Stimmung in den Pro-
rinzen zu berichten, Verbrecher aufzuspiiren, staatsgefahrliche
Plane zur Kenntniss des Herrschors zu bringen. Natiirlich waren
sie unbeliebt und scheinen auch den Einfluss , den sie besassen,
zn ErpressuDgen und andrer Willkur missbraucht zu haben.
Diocletian nahm mit ihrer Genossenschaft eine UmgestaJtung yor,
die irir nicht genauer kennen , unter Constantin trat dann an
tore Stelle das Corps der „agentes in rebus" , 1248 Mann stark
^ nach Dienst und Rang genau gegliedert. An der Spitze
dieser „scholaM stand ein princeps agentium, unter ihm duce-
narii, centenarii, biarchi, circitores, equites. Die Erklarung dieser
Namen, welche Rothschild I, 76 giebt, verwirft der Verf. mit
Recht, ohne eine eigene zu wagen; iiber ducenarius und cente-
narius, als allgemeine Bezeichnung hoherer Beamten nach ihrem
Gehalt f ist zu vergleichen Marqu. Staatsverw. I, 416. Danach
erecheint auch die Meinung Hudemann's zweifelhaft, dass jene
fcaf Namen nur Rangstufen bezeichneten , die Thatigkeit der-
selben sich nicht streng unterschied und ein regelmassiges
Avancement vom eques bis zum ducenarius stattfand; es ware
*) Nach Marquardt, Rom. Staatsverw. I, 218 f. vielmehr die „speculatore8",
doch acbeiiit Hudemanns Ansicht richtiger.
Mittheiluugen a. d. hUtor. Litteratnr. VI. 20
Digitized by UOOQ IC
306 Hudemann, Dr. E. E., Geschichte des romischen Postwesens.
wohl moglich, dass man zwischen hoheren Beamten, den beiden
ersten Klassen, und niederen, den drei letzten, zu unterscheiden
hatte , und dass jene nicht regelmassig aus den biarchi henror-
gingen, sondern mit den hoheren Beamten andrer Zweige zu-
sammen rangirten und aufriickten. — Die agentes hatten An-
spruch auf zwei Courierpferde — veredi — und im Nothfall auf
Extrapferde — paraveredi — , aber nicht auf die evectio ; nacb
15 — 20jahrigem Dienste bekamen sie Befreiung von der curb.
Neben dem Namen agentes kommen noch zwei andre ftir dim
Beamten vor : veredarii und curiosi, bei den griechischen Schift-
stellern auch der alte Name (pqov^twaqLoi. Bs werden gegei
sie dieselben Klagen iiber Willkiir, Erpressungsversuche, Bestech-
lichkeit erhoben wie gegen die frumentarii und Ammian. 16, 3, 11
sagt Kaiser Julian yon ihnen: „rapere, non accipere sciunt
agentes in rebus". —
Eine nicht unwichtige Erganzung zu diesem Capital iiber
die Postbeamten giebt 0. Hirschfeld, Unterss. auf d. Gebiete A
rom. Verwaltungsgesch. I, 100 ff. . Er stellt dort einige Titd
und Amtsbefugnisse aus der friiheren Kaiserzeit nach Inschriften
zusammen, yon denen besonders erwahnenswerth ein „abvehiculistt
ist, ein Freigelassener des Trajan.
Zur Benutzung der Post gehorte, wie schon gesagt, due
besondre Ermachtigung, welche diploma hiess. Diese Reisescheine
waren anfangs yon Pergament und, wie ihr Name anzeigt, zum
Zusammenfalten eingerichtet ; in spaterer Zeit scheinen sie haufig
die Form einer tessera gehabt zu haben, welche mit Wachs
iiberzogen war. Wie schon wahrend der Republik ahnliche An-
weisungen fur reisende Beamte vom Senat gegeben wurden, so
ertheilte sie auch jetzt der Senat, doch mussten sie nun vom
Kaiser unterschrieben werden und sein Siegel tragen. Den
Kaiser konnte der praefectus praetorio und seit Constantin der
magister officiorum vertreten. Die Scheine hatten einen lie-
stimmten Termin, nach dessen Ablauf sie erloschenj, ebenso yer-
loren sie ihre Giiltigkeit beim Tode eines Kaisers, wenn der
Nachfolger sie nicht ausdrucklich bestatigte, was meist generatim,
aber mit Einschrankungen gescliah.
Sie lauteten entweder auf „evectiow, d. h. Pferde, r^p.
Maulthiere und Fuhrwerk, oder auf „tractoriau, d. h. neben der
Beforderung auch auf Bekostigung, zwar auf jeder Station nur
fiir zwei , hochstens funf Tage, dafur aber auch im ausgedehn-
testen Masse, wie aus dem Formular einer tractoria, allerdings
erst aus dem siebenten Jahrhundert, hervorgeht.
Da iiber die Personen, welche Reisescheine erhielten, sowie
iiber die zuletzt iibermassig wachsende Benutzung der Post fiir
gewisse fiscalische Zwecke schon oben das Nothige gesagt ist,
so bleibt noch zu berichten, was der Verf. iiber die Stationen
und die Ausriistung derselben mit Wagen und Zugthieren bei-
bringt. Fiir den urspriinglichen Namen der Stationen halt er
im Gegensatz zu Rothschild nicht „positio", sondern „mansiow
•
Monuments Germaniao histories, 307
and unterscheidet mansio und „mutatio" fur die spatere Zeit
daim so, dass mansio eine Hauptstation mit Nachtquartier, mu-
tatio eine Zwischenstation zum Wechseln der Pferde gewesen
sei, worin ihm Marqu. I, 419 folgt, wahrend Rothschild auch
bier das Umgekehrte annimmt. „Statio", ebenfalls bei der Post
erst gpater gebraucht , heisst bei den Schriftstellern der ersten
Kaiseneit ein Ort, wo viele Menschen zusammenzukommen
pilegten, am Neuigkeiten auszutauschen, aus der Zusammenziehung
fob posita statio m poststatio leitet sich dann der Name der
Post her. Die mansiones lagen in bevolkerten Gegenden etwa
5 riimische Meilen, in oden 8—9 auseinander, zwischen zwei
manaones befanden sich 6 — 8 mutationes. (?) Wahrend auf den
Mutatkmen alles ge ringer war, fanden sich auf den Mansionen
prachtvolle kaiserliche Palaste, stattliohe Gebaude zum Ueber-
Mfiiten fiir andre Reisende, mit Sorgfalt ausgestattete Stallungen,
Sclrappen u. s. w. An Pferden hatten die einzelnen 40, beson-
dere wichtige sogar 80 vorrathig, daneben Maulthiere und Zug-
oehsen; fiir die Mutationen waren 20 Pferde vorgeschrieben.
Von den verlangten Vorrathen an Futter und dergl. horen wir,
das sie bei Inspectionen gewohnlich in recht mangelhaftem Zu-
staade vorgefanden wurden.
Unter den vielen verschiedenartigen Wagen, welche die
Homer kannten, wandte die Post hauptsachlich zwei Arten an:
1) fur die Schnellpost — cursus yelox — die „rhedaw ; sie war
rierradrig, erforderte zur Bespannung je nach dem Terrain
2-4 Pferde oder 8—10 Maulthiere und trug bis 1000 Pfund;
2) fir den Frachtverkehr — cursus clabularis — , auf den aber
anch ausgediente oder beurlaubte Soldaten angewiesen waren,
die „clabulau oder ^angaria", einen vierradrigen offenen Leiter-
*agen, der mit 4 — 8 Ochsen bespannt wurde und 1500 Pftmd
fragen konnte. Auf grosseren Stationen fanden sich indess auch
andre Fuhrwerke, z. B. carri, carpenta — Planwagen, die auch
w&boheren Beamten als Schlafwagen benutzt wurden — , end-
Mi birotae, leicht gebaut und von geringer Tragfahigkeit , fiir
solcfe, welohe mit wenigem Gepack besonders schnell vorwarts
ioamen wollten.
Berlin. Abraham.
LXVIII.
Hoiumenta Germaniae historica inde ab anno Christi quingen-
tesimo usque ad annum millesimum et quingentesimum edidit
societas aperiendis fontibus rerum germanicarum medii aevi.
Scriptores rerum langobardicarum et itali-
carum saec. VI— IX. gr. 4. (VIII, 636 S.) Hannoyerae
impensis bibliopolii Hahniani 1878. 20 M.
Schon Pertz hatte die Absicht gehabt, die fruheren Theile
der Monumenta, welche ja erst mit der karolingischen Zeit be-
Snmen, in der Weise zu erganzen, dass nachtraglich in einem
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308 Monumenta Germaniao historica.
oder mehreren Banden auch die Quellen fur die deutsche Ge-
schichte der alteren Zeit, von der Volkerwanderung an, heraua-
gegeben werden sollten , allein dieser Plan ist , so lange er das
Unternehmen leitete, nicht zur Ausfuhrung gekommen. Auch
nach dieser Seite hin hat aber jetzt die neue Direction der
Monumenta die eifrigste Thatigkeit entfaltet. Nach dem von ihr
aufgestellten Plane sollen einmal als besondere Abtheilung, unter
der Bezeichnung Auctores antiquissinii , die Quellenschriften fir
die Geschichte der Volkerwanderung herausgegeben werden. Die
Leitung dieser Abtheilung ist Th. Mommsen iibertragen worin,
und von ihr sind schon zu Ende des vorigen Jahres die beidet
ersten Theile, die Schriften des Salvianus von Halm und dk
Vita S. Severini von Eugippius von Sauppe herausgegeben, er-
schienen, welche wir in Heft 3 dieses Jahrganges der „Mit-
theilungen" (S. 200 f.) angezeigt haben. Daneben sollen in drei
Banden die Scriptores rerum merovingicarum , langobardicarum
und die Gesta pontificum romanorum erscheinen, und auch dies*
Reihe wird jetzt durch den vorliegenden Band eroflhet Der-
selbe ist fast ganz von Waitz, dem Leiter des ganzen grossen
wissenschaftlichen Unternehmens, bearbeitet. Wie schon der Titel
besagt, enthalt er nicht nur die Quellen fur die eigentliche Ge-
schichte der Langobarden und ihres italischen Reiches (bis
774) , sondern er geht zeitlich und ortlich weiter , er enthalt
auch die Quellen fur die Geschichte des nach dem Unteigange
des langobardischenKonigreiches in bald grosserer bald geringerer
Selbstandigkeit fortbestehenden Fiirstenthums Benevent mid der
allmahlich von demselben sich abzweigenden kleineren Fursteo-
thiimer in Unteritalien bis zum Ausgange des 9. Jahrhunderts,
ferner aber auch die Quellen fur die Geschichte von Ravenna,
Neapel und der anderen Ueberreste der griechischen Herrschaft
in Italien, welche sich von der langobardischen und dann and
wenigstens zum Theil von der frankischen Herrschaft unabhiiup?
behauptet haben. Dieser Band wird von alien denen, welAe
sich mit der Geschichte Italiens wahrend jener fruheren Zdto
des Mittelalters eingehender beschaftigen, mit der grossten Frende
begrusst werden, denn dieselbon finden hier einmal in einem
bequem zu handhabenden Quartbande ein umfangreiches Material
vereinigt, welches bisher in den verschiedenen Banden der Mura-
torischen Sammlung, der Acta Sanctorum und in anderen wm
Theil seltenen und schwer zu beschaffenden Sammelwerken
zerstreut war, andererseits aber ist dasselbe hier mit soviel
Grundlichkeit und Scharfsinn behandelt, ist auch auf die
Feststellung des Textes selbst der weniger bedeutenden Chro-
niken und Heiligengeschichten eine solche philologische Sorg<
und Kunst verwendet worden, dass diese Quellen hier gleichsam
in einem ganz neuen und zwar in ihrem echten und ursprung-
lichen Gewande erscheinen. Aus beiden Griinden, sowohl tun
das zusammengehorige Material vollstandig zusammenzustelien,
als auch um die gleiche kritische Methode auch auf sie anw
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Monumenta Germaniae historica. 309
wenden, hat Waitz auch die Chroniken, welche schon friiher in
dem dritten Bande der Scriptores berausgegeben waren, hier
eben&lls mit aufgenommen. Bisher unbekannte Quellen finden
wir hier nur wenige, und diese sind von geringer Bedeutung.
Der Band beginnt mit den Quellen fiir die Urgeschichte der
Langobarden, der Origo gentis Langobardorum , einer Schrift
ass der zweiten Halftc des 7. Jahrhunderts , welche theils nach
mandlicher Ueberlieferung , theils aber auch schon auf Grund
einer schriftlichen Vorlage die Herkunft und die Wanderungen
der Langobarden erzahlt und welche schon von Paulus benutzt
worden ist, und der Historia Langobardorum codicis Gothani,
einer bedentend erweiterten Bearbeitung diesor Origo aus dem
Anfange des 9. Jahrhunderts, deren Werth und Glaubwiirdigkeit
freilich Waitz im Gegensatz gegen Bluhme als sehr zweifelhaft
bezeichnet. Dann folgt das Hauptwerk, die Historia Langobar-
dorum des Paulus. In der ausgedehnten Einleitung zu derselben
stellt Waitz, welcher zwar umfongreiche Vorarbeiten Bethmann's
vorgefimden hat, dennoch aber erst selbst nach alien Seiten hin
die entscheidende Arbeit gethan hat, zunachst die Lebensver-
haltnisse des Paulus fest, indem er zugleich die Hauptquellen
hiefiir, einige Gedichte des Paulus, seine Briefe an Abt Theu-
demar von Monte Cassino und an Adalhard, sowie auch seine
Grabschrift abdruckt. Seine Darstellung stimmt in der Haupt-
sache mit derjenigen, welche neuerdings Dahn in seinen Lango-
bardischen Studien gegeben hat, iiberein, auch er lasst die Zeit,
wann Paulus Monch in Monte Cassino geworden ist, unbestimmt,
doch bezeichnet er Dahn's Zweifel an der Nachricht des Jo-
hannes diaconus von Neapel, dass Paulus in Monte Cassino einen
Kreis von Schiilern um sich versammelt habe, als ungegriindet,
die Grabschrift, obwohl sie einen groben Fehler enthalt, erklart
er doch nicht fur ganz unglaubwiirdig und auch in dem an
Fabeln reichen Berichto dos Chronicon Salernitanum , meint er,
kounten einige Nachrichten auf richtiger Kunde beruhen. Dar-
w& folgt eine Aufzahlung der Quellen, welche Paulus benutzt
hat, und eine Beurtheilung seiner Glaubwiirdigkeit : Paulus' Arbeit
z^igt mehrfache Spuren von Fliichtigkeit , er verbindet Dinge,
die nicht zusammen gehoren, er kiimmert sich wenig um die
Chronologie, auch von Parteilichkeit fur seine Nation ist er nicht
W, wenngleich er nur sehr seiten mit seinem eigenen Urtheil
hwortritt, er zeigt eine gewisse Kritik, alizu fabelhafte Nach-
richten verwirft er,-doch glaubt er an Wunder der Heiligen,
die Volkserzahlungen, auf welchen der friihere Theil seiner Dar-
stellung zum grossen Theile beruht, scheint er getreu vrioder-
gegeben zu haben. Daran schliessen sich Bemerkungen iiber
^>rache und Stil des Paulus und dann eine Aufzahlung und
Cbarakterisirung der verschiedenen Handschriften. Diese, iiber
100 an der Zahl, sind fast sammtlich schon von Bethmann
ganz oder theilweise collationirt worden, doch hat dann Waitz
die hauptsachlichsten noch oinmal durchgesehen und von
•
310 Monumenta Gennaniae historica.
ihm erst riihrt die kritische Verwertliung dieses gewaltigen Ma-
terials her. Er sondert alle diese Handschriften in elf ver-
schiedene Classen, die ersten sieben gehen unabhangig von ein-
ander auf das Original zuriick, doch haben ihro Schreiber
dieses bald mehr, bald weniger willkiirlich verandert. Durch
Vergleichung derselben hat nun Waitz den Text der Original-
handschrift nach Moglichkeit zu reconstruiren gesucht. Dabei
hat es sich herausgestellt , dass Sprache and Stil derselben
keineswegs gut und fehlorlos gewesen sind; gerade die altesten
Handschriften zeigen zahlreiche Spuren des Einflusses der Vol-
garsprache, sowohl in der Orthographic als auch in der Syntax,
sie enthalten grobe grammatikalische Fehler, folschen GebrauA
der Casus, unrichtige Constructionen u. dergl., Fehler und Eigea-
thiimlichkeiten/von denen eben die Uebereinstimmung mehrerer
Handschriften aus verschiedenen Classen zeigt, dass sie schon
der gemeinsamen Vorlage derselben, der Originalhandschrift, an-
gehort haben miissen. Freilioh weist Waitz darauf hin, dass
diese Originalhandschrift wahrscheinlich nicht von Paulus selbst
geschrieben, sondern nach seinem Dictat angefertigt ist, ferner
dass das Werk unvollstandig geblieben ist und jedenfalls noch
nicht von dem Verfasser die letzte Feilung erhalten hat. Der
Text des Paulus erscheint so hier in einer ganz neuen, von der
der friiheren, freilich sehr unvollkommenen, Ausgaben sehr ver-
schiedenen Gestalt , ihm zur Seite steht ein umfangreicher kri-
tischer Apparat. Von den vier altesten und werthvollsten Hand-
schriften sind die Varianten vollstandig aufgezahlt, von funf an-
deren, ihnen an Werth zunachst kommenden, alle wichtigeren,
von der Masse der iibrigen nur die, welche die Beschaffenheit
dieser Handschriften selbst erkennen lassen, immerhin spricht
schon der Herausgeber selbst die Befiirchtung aus, maacber
Leser werde sich wohl iiber die Ueberfulle von Varianten be-
klagen.
Als Appendix sind dieser Ausgabe des Paulus beigegcb^'
1) ein Catalogus provinciarum Italiae, welcher sich bei Paulas
benutzt findet, hier zum ersten Male aus einer Madrider Hand-
schrift odirt, 2) em Gedicht auf die Synode zu Pavia c. 698 und
3) die Grabschrift der Konigin Ansa, der Gemahlin des Desi-
derius, die letztere vielleicht von Paulus herriihrend. Daran
sind dann angeschlossen zwei Epitomae aus Paulus, kurzo, aus
ihm geschopfte Darstellungen der Langobardengeschichte , von
denen die erste bis Konig Rothari, die zweite bis Liutprand
reicht, dann vier verschiedone Fortsetzungen des Paulus, alle
wenig werthvoll, da ihre Nachrichten zum grossten Theile den
Gesta pontificum entlehnt sind.
Es folgen die beiden kiirzeren, aber werthvollen Chroniken:
Andreae Bergomatis historia und Erchemporti historia Langobar-
dorum Beneventanorum , welche auch als Fortsetzungen des
Paulus angesehen werden konnen. Sie waren schon von Pertx
im 3. Bande der Scriptoros herausgegeben , trotzdem ist Waitz
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w>-
Monumenta Germaniae historica. 31 X
fur beide noch einmal auf die Handschriften zuriickgegangen.
Von Andreas ist die Originalhandschrift aus dem 9. Jahrhundert
in St. Gallen erhalten, der in derselben fehlende Anfang ist jetzt
aus einer anderen, jiingeren St. Galler Handschrift erganzt
worden, freilich ist derselbe von geringem Interesse, da er nur
emen durftigen Auszug aus Paulus bringt. Die Chronik Erchem-
perts, die Hauptquelle fiir die Geschichte Unteritaliens im 9. Jahr-
hundert, ist zwar in mehreren Handschriften erhalten, doch
gehen diese sammtlich auf einen Codex Yaticanus aus dem Ende
dee 13. Jahrhunderts zuriick, welcher von jiingerer Hand mehr-
fach durch Kadirungen und Correcturen verunstaltet ist. Waitz
hat auch hier mit Zuhiilfenahme anderer Chroniken, welche
Erchempert benutzt haben, den urspriinglichen Text herzustellen
gesucht, Orthographie und Stil erscheinen hier, ahnlich wie bei
Paulas, erheblich roher und fehlerhafter als in der friiheren
Auggabe.
Den zweiten Haupttheil des Bandes bildet der liber ponti-
ficalis ecclesiae Ravennatis von Agnellus oder Andreas, heraus-
gegeben von 0. Holder-Egger. In einer langeren Einleitung be-
spricht derselbe zunachst das handschriftliche Material Das-
selbe besteht nur aus einer nicht vollstandigen , von einem
unwissenden Schreiber sehr fehlerhaft geschriebenen Handschrift
des 15. Jahrhunderts in Modena und aus einem Fragment in
einem Codex Vaticanus des 16. Jahrhunderts, beide Handschriften
gehen, wenn auch vielleicht nicht direct, auf dieselbe Vorlage
zuriick, welche auch schon unvollstandig gewesen sein muss. Aus
beiden und mit Hiilfe einiger spateren Werke, welche Agnellus
benutzt haben, hat der Herausgeber den Text der Chronik her-
zustellen gesucht. Seine Arbeit war erne sehr schwierige, da
von den vielen Fehlern in Orthographie und Sprache, welche
die Haupthand8chrift zeigt, sich schwer feststellen lasst, wieviel
dem Schreiber und wieviel dem Verfasser, dessen Stil auch schon
sehr fehlerhaft gewesen sein muss, angehort. Es folgt in dieser
Euleitung eine Darstellung der Lebensverhaltnisse des Agnellus,
fiber welche dieser selbst reichliche Nachrichten giebt, und dar-
aaf eine Zusammenstellung seiner Quellen. Die wichtigsten
witer diesen sind Paulus' Langobardengeschichte , die Chronik
des Bischofs Maximian von Ravenna, aus welcher der sogenannte
Anonymus Valesii wahrscheinlich ein Fragment ist, Annates con-
Bulares von Ravenna fiir das 5. und 6. Jahrhundert, ausserdem
aber auch Urkunden, Denkmaler (das Werk enthalt Beschreibungen
zahlreicher Kunstwerke und in ihm sind eine Menge von In-
8chriften mitgetheilt und verwerthet), endlich miindliche Erzah-
lungen von sehr ungleichem Werthe, theils Fabel- und Wunder-
geschichten, theils solche, welche eine wenigstens im Allgemeinen
richtige Kenntniss verrathen.
Es folgt eine kurze Chronik der Patriarchen von Grado,
welche Pertz irrthiimlich fiir ein Excerpt aus dem von ihm hinter
dem Chronicum Venetum des Johannes diaconus (Scriptores VH)
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312 Monumenta Germaniae historica.
herausgegebenen Chronicon Gradense gehalten und daher dort
nicht aufgenommen hatte. In Wirklichkeit aber ist dieselbe,
wie schon friiher Wilmans, und neuerdings Kohlschiitter und
Simonsfeld erkannt haben, alter als jenes Chronicon und in dem-
selben benutzt. Eino sehr wichtige Quelle fur die Geschichte
Unteritaliens sind die dann folgenden Gesta episcoporum Neapo-
litanorum. Dieselben sind auch nur in einer, aber in der Ori-
ginalhandschrift erhalten. Muratori und die anderen friiheren
Herausgeber hatten das ganze iibrige Werk von Anfang an eineo
Verfasser, dem Diaconus Johannes, und nur das allerletzte Stiefc
die unvollstandige Geschichte des Bischofs Athanasius II., dem in
der Handschrift genannten Fortsetzer Petrus zugeschriebon, Waita
dagegen weist sowohl aus den Schriftziigen als auch aus dem
Character der Geschichtserzahlung selbst nach, dass jener Haupi-
theil wieder aus zwoi . verschiedenen Bestandtheilen besteht. Der
erste, in Uncialschrift , also wohl noch im 8. Jahrhundert ge-
schrieben, enthalt eine sehr trockene, in sehr fehlerhaftem La-
tein abgefasste Chronik, in welcher ein Catalog der neapolita-
nischen Bischofe mit einer aus verschiedenen Quellen, namentlich
Paulus und den Gesta pontificum romanorum, entnommonen
allgemeinen Geschichte verbunden ist. Dagegen ist der zweite
Theil in beneventanischer Schrift zu Ende des 9. Jahrhunderts
geschrieben und enthalt eine allmahlich inimer reichhaltiger
werdende Geschichte der Bischofe von Neapel von c. 763 — 872.
Nur dieser Theil hat jenen Johannes diaconus zum Verfasser;
derselbe berichtet theils selbst Erlebtes, theils von Anderen Ge-
hortes, wahrheitsliebend , in lebhaftem und fliessendem, aber
etwas wortreichem Stile. Die Ausgabe, auf Grund einer sorg-
faltigen Collation der Handschrift hergestellt, bringt auch einen
gegen die friiheren Ausgaben wesentlich verbesserten Text. Als
Anhange sind hinzugefugt : ein Catalogus episcoporum Neapolita-
norum, zum grossen Theil den Gesta entnommen, eine Vita und
eine Translatio des Bischofs Athanasius I. von Neapel, be«fe
von demsolben Verfasser im 10. Jahrhundert auf Grund der
Erzahlungen des Johannes diaconus und Erchemperts, aber aoeh
anderer selbstandiger Nachrichten verfasst, ferner zwei von jenem
Johannes diaconus geschriebene Translationen von Heiligen
(S. Severini und S. Sosii) mit einzelnen interessanten Nachrichten
fur die Geschichte jener Zeit, darauf ein Stuck aus den Mira-
cula S. Agrippini und endlich eine ganz fabelhafte kurze Be-
schreibung eines angeblichen Sieges der Neapolitaner iiber die
Araber zur Zeit Carls des Grossen.
Das folgende Stuck, die alteste Chronik von Monte Cassino
(Chronicon S. Benedicti Casinensis) war schon friiher im 3. Band
der Scriptorcs von Pertz herausgegeben , aber als zwei beson-
dere Werke (Chronicon Casinense und Chronica S. Benedicti),
hier sind, obenso wie in der Handschrift , beide wieder vereinigt
worden. Wahrscheinlich ist das Gauze die Arbeit des Abtes
Johannes (Anfang des 10. Jahrhunderts), von welcher L#>
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Monumenta Germariiae historica, 313
Ostiensis in der spateren grossen Chronik des Klosters als von
seiner Quelle spricht, doch ist der Haupttheil iilteren Ursprungs,
stammt aus den Jahren 867 — 871 und ist wahrscheinlich von
jenem Abt Johann einfach in sein Work biniibergenommen worden.
Als Appendix ist oin Catalog der Aebto von Monte Cassino aus
dem 8. Jahrhundert abgedruckt worden. Darauf folgen, neben
eiDander gedruckt, 2 Cataloge der langobardischen Konige und der
Herzoge und Fiirstcn von Benevent, welche in ibrcm Haupttheil
aas einem, dem Chronicon Casinense einverleibten Cataloge ab-
geleitet, nachher aber selbstandig fortgesetzt sind, und das auch
schon von Pertz, aber als Theil der Chronica S. Bcnedieti, her-
ausgegebene Chronicon comitum Capuao, endlich noch eine ganzo
AnzaM von Catalogi regum Langobardicorum et Italicorum.
Eme weitere Gruppe bilden eine Anzahl von theils voll-
siandig, theils in Auszugen herausgegebenen Heiligengeschichten,
welche fur die Geschichte Italiens in jenen Jahrhunderten manche,
irenn auch nur sparliche und oft wenig sichero Nachrichten ent-
halten. Sie beginnen mit Auszugen aus don Dialogen Papst
Gregors des Grossen (fur diesen Zweck sincl die altesten und
besten Handschriften neu collationirt worden), darauf folgt die
sehr fabelhafte Schrift de apparitione S. Michaelis in Monte
Gargano und Stiicke aus der vita S. Laurentii Sipontini, dann
Tollstandig die vita Paldonis, Tatonis et Tasonis, der Griinder
and ersten Aebte des Klosters S. Vincenz am Volturno , c. 750
von dem Monche Autjpert geschrieben und spater in die grosse,
von dem Monche Johannes verfasste Chronik jenes Klosters auf-
genommen, aus deren Originalhandschrift sie hier herausgegeben
ist, dann die durch manche eigenthiimliche Nachrichten inter-
es8ante Vita S. Barbati, des ersten Bischofs von Benevent, im
9. Jahrhundert abgefasst, darauf eine sehr fabelhafte Geschichte
der Griindung des Klosters Monteamiato durch den Langobarden-
tonig Rachis und die vita S. Anselmi, des Griinders des Klosters
Nonantula. Es folgen dann die Beschreibungen mehrorer Trans-
lationen von Heiligen nach Benevent nnter dem ersten Fursten
Arichis, endlich Ausziige aus den Lebensbeschreibungen einigcr
Uflteritalischer HeiKger, des S. Antonius, Abts von Sorrcnt, des
S. Sabinus, Bischofis von Canosa, und des S. Pardus, Bischofs
von Luceria.
Den Schluss bilden * unter dem Titel Historiae Langobar-
dorum fabulosae fiinf spatere, sagenhafte Darstellungen der lango-
bardischen Geschichte, von ihnen waren die ersten drei, welche
als Einleitungen oder Anhange zu den langobardischen Gesetzen
entstanden sind, schon friiher von Anschutz herausgegeben, die
beiden letzten sind neu, die vierte ist einem Florentiner Codex
entnommen und enthalt eine der Erzahlung des Jacobus de
Hragine in der Legenda aurea nahe verwandte Fabelgeschichte,
die fiinfte ist eine kurze Notiz, welche Bethmann in einem Wiener
Codex geftinden hat.
Dem Bande ist ein reichhaltiger Namenindex und ein Glossar,
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314 v- Kalckstein, Geschichte des franzosischen Konigthums. I.
beide von Herrn Holder -Egger angefertigt, beigegeben, ferner
funf Schrifttafelil , yoii denen die ersten vier Proben aus ver-
schiedenen Handschriften des Paulus, die fiinfte aus der Original-
handschrift der Gesta episcoporum neapolitanorum enthalten.
Berlin, F. Hirsch.
LXIX.
v. Kalckstein, C, Geschichte des franzosischen Koniathw
unter den ersten Capetingern. Erster Band: Der Kampf
der Robertinor und Karolinger. gr. 8. (XTO,
524 S.) Leipzig 1877, T. 0. Weigel. 10 M.
Herr v. Kalckstein, der sich auf dem Felde der alteren
franzosischen Geschichte bereits durch zwei umfangreichere Ab-
handlnngen (Robert der Tapfere , , 1872 , und Markgral
Hugo v. Neustrien, Forsch.z.D. Gesch. XTV) bekannt gemacht hat
ist in dem vorliegenden Werke zu einer grossoren und nicht gerade
leichten Aufgabe fortgeschritten, indem er die Geschichte der
ersten Capetinger im Zusammenhange darlegen wilL Wie weit
er die „erstenu Capetinger rechnet, ist nicht ausdriicklich an-
gegeben, aus einer Notiz der Vorrede jedoch wird man an-
nehmen diirfen, dass er bis Philipp August gehen will. Denn
er hebt hervor, dass bis zu dem genannten KSnige die Geschichte
der Capetinger wissenschaftlich noch nicht geniigend erforscht
sei, trotz der grosson Bedeutung, die das Haus mit seiner porto-
giesischen Nebenlinie, mit seinen Verzweigungen nach ItaUeo,
Spanien und Ungarn hinein im Lauf der Zeit erlangt habe. —
Gegen diese Ansicht des Verf. hat jedoch Dummler in seiner
Recension des Buches (Lit. Centr.-Bl. 1878, Nr. 3) Einspruch
erhoben, da von verschiedenen Seiten — er denkt offenbar aa<4
an seine eigenen Arbeiten — einzelne Puncte dieses Abschnft*
der franzosischen Geschichte zum Gegenstande wissenschaftli(iff
Untersuchungen gemacht seien. Allein die Meinung des Vert
geht wohl auch nur dahin, dass die yon ihm ins Auge gefessta
Periode in ihrer Gesammtheit und im Zusammen-
hange derjenigen kritischen Grundlage noch entbehre,
ohne die von wissenschaftlicher Bearbeitung allerdings nicht die
Rede soin kann. Wenn nun andrerseits der in Redo stehende
Zeitraum in den Hauptphasen seiner Entwickelung bereits bo-
kannt war, so war es in der That wesentlich, dass einmal eben
jene kritischo Grundlage hergestellt werde. Und diesen Zweck
hat der Verf., wie auch Dummler anerkannt, der im Einzelnen
allerlei zu berichtigen findet, vollstandig erreicht: in ahnlicher
Weise, wie in den Jahrbiichern des doutschen Reichs die deat-
sche Geschichte Schritt fur Schritt verfolgt wird, hat er an der
Hand der Quellen und mit steter Beriicksichtigung der bereits
vorhandenen Bearbeitungen und Untersuchungen alle Details
der frauzosischen Geschichte festzustellen versucht, derart, dass
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v. Kalckstein, Geschichte des franzosischen Konigthums. L 315
sein Buch nicht nur fiir Deutschland, sondern auch fur die fran-
zosische Forschung immer ein „point de depart" sein wird. Von
besonderer Wichtigkeit ist dabei, dass es der Verf. ermoglicht
hat, die franzosische Litteratur in bedeutendem Umfange zu be-
rnitzen: was es fur Schwierigkeiten maclit, franzosische Publi-
cationen in Deutschland zu erlangon, sofern es nicht so bekannte
Werie sind, dass sie sich auf jeder grosseren Bibliothek finden,
Weiss Ref. aus eigner Erfahrung. Der Vert hatte sich hier ein
grosses Verdienst erwerben konnen, wenn er einleitungsweise
eine kritische Uebersicht iiber die fiir seinen Zeitraum wichtige
franzosische Litteratur gegeben hatte, etwa so, wie Waitz in
Sybels Zeitschrifb vor Kurzem die neueren franzosischen Arbeiten
xlW altero franzosische Verfassungsgeschichte besprochen hat.
Denn riihrig sind die Franzosen auf dem Gebiete Ihrer eigenen
Geschichte sehr, mag auch die Methode, welche insbesondere die
Ecole des Chartos fiir historische Forschung begriindet hat, in
Frankreich noch nicht in gleichem Maasse Verbreitung und
sichere Anwendung gefunden haben wie bei uns1). Doch eine
solche UebeTsicht kann ja jederzeit nachgeholt werden.
Der Zeitraum , den der Verf. sich zum Gegenstande der Be-
arbeitung gewahlt hat, gewahrt ein besonderes Interesse dadurch,
dass er einen der wichtigsten Lehrsatze nachweist, welche die Ge-
schichte iiberhaupt bisher hat aufstellen konnen : dass Staaten von
grosser Ausdehnung sich nur dann zu behaupten vermogen, wenn
sie Schritt fiir Schritt sich Fremdes assimilirend gewachsen sind, —
wie es vor alien Dingen bei Rom der Fall war und in neuerer
Zeit bei Preussen: die deutsche Geschichte bietet dazu den
apagogischen Beweis. Auch die Capetinger, die ihre Macht „lang-
sam aber sicher" auszudehnen verstanden, waren urspriinglich wie
die Hohenzollern ein unbedeutendes Geschlecht: war doch ihr
Ahnherr Witichin vermuthlich nichts weiter als ein sachsischer
Friling: kriegerische Tiichtigkeit und spater auch an List gren-
zende Klugheit brachten dann das Haus bald empor , ob sie auch
t» auggezeichnet wie die Hohenzollern die Kunst verstanden haben,
sfcets eine gefullte Kasse zu besitzen, wird vielleicht der 2. Band
Jehren; im ersten kann das noch nicht recht hervortreten, weil
unsere Ueberlieferung fur die Zeit, die er umfasst, doch sehr
liickenhaft ist, wie der gewissenhafte Verf. denn auch nie unter-
lasst, durch ein „wahrscheinlichM oder „vermuthlichtt u. s. w.
') Die „archivistes paloographes " — diesen Titcl orhalten die Zoglinge
der Ecole des Chartes nach Ablegung dos letzten Examens — sind jetzt schon
6ber ganz Frankreich in mannigfachcn Stollungon vorbreitet and fiir exacte
Bearbeitung der Qaellen und der franzdsischen Gcschichto nborhaupt in sehr
werkennengwerthor Weise thatig. Da os in Frankreich Sitte ist, 5ffentlicho
Vorlesungen (cours) fiber die vcrschiedensten Gegenstande zu halten, so werden
sicherlich die Schuler der $cole des Chartes dazu beitragen, die dilettantische
Beschaftigung mit der Geschichto zu vertiefen, die erklarlicherweise in den
vielen historischen Vereinen in Frankreich noch ebenso vorherrscht wie
bei uhb.
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7^ml
316 v- Kalckstein, Gescbichto des franzosisehen Kdnigthums. L
dem Leser den Grad der Sicherheit anzudeuten, welchen seine
Forschungen erreichen.
Bei der Fiille des Materials und Details, welches der Vert
bietet — und er schreibt eigentlich nur fur solche Leser , die
rait den Thatsachen und Personen bereits recht sehr vertraut
sind, — ist es nicht leicht, den Inhalt des Buohes in kurzen Ziigen
zu skizziren, obwohl dor Verf., was Nachahmung verdient, den
wesentlichen Inhalt auf jeder Seite oben in einer kurzen Legende
angegeben hat. Es wird daher am besten sein, den Inhalt da
Buches in dor Weise unsern Leseni vorzufiihren, wie ihn der Verf •
selbst am Schlussc S. 461 ff. zusammenfassend giebt.
„Robert der Tapfere und seine Sohne Odo und Robert u, sagt
er, „hatten durch ihre Klugheit und ihren Heldenmuth ein fest
geschlossenes Herrschaftsgebiet an der mittleren Loire geschaffen
und dann bis zur mittleren Seine orweitort. Die beiden konnten
selbst die Krone bis zum Tode gegen den unfahigen Karl den
Einfaltigen behaupten."
„Allerdings zeigten die karolingischen Reactionen dem Sohn
Konig Roberts I., wie schwer eine vielangefochtene Herrschaft
selbst schwachen Karolingern gegeniiber zu behaupten sei. Hugo
der Grosse solbst stellte Karls Sohn, Ludwig den Ueberseeischcn,
hor, urn als Frankenherzog in dessen Namen zu herrschen. Er
begriindete die robertinische Herrschaft dauernd in Bourgogne,
wahrend alle Versuche des Geschlechts auf Aquitanien erfolglos
blieben, und schob sein Gebiet weiter und weiter nach Osten
vor. Aber Ludwig glich nicht dem Vater und zog, nach dem
Scheitern allor Versuche, selbstandige Macht zu erringen, vor,
unter dem Schutze seines deutschen Schwagers Otto d. Gr. zu
stehen, als unter dem Einflusse des verhassten Robertiners.
Hugo d. Gr. starb bald nach dem Konig, und die machtigen
Grafen von Anjou und Chartres machten sich wahrond der Jugend
seiner Sohne bereits sehr unabhangig und traten in unmittelbaiw
Verhaltniss zum Konig Lothar. Dessen Beschiitzer Bruno unter-
stiitzte den thatkraftigen Fursten zur Erreichung manches Er-
folges. Aber die Krafte der Ottonen wurden mehr und mehr
durch die italienischen Verhaltnisse in Anspruch genommen und
vom Weston abgelenkt. Hugo Capet besass die Schlauheit und
Frommigkeit seines Vaters in verstarktem Maass, aber noch weniger
als dieser von dem riicksichtslosen Heldenmuth der Robertdner.
Er riss Lothar als iibermachtiger Freund in erfolglose Kampfe
gegen Otto II. und naherte sich dem Kaiserhause zur rechten
Zeit. Durch treue Erfiillung der Pflichten als Lehnsherr erwarb
er unter den Grosson immor mehr Freunde und gewann die
immer machtiger werdende Geistlichkeit. Adalbert von Reims
loste den Bund seiner Vorganger mit den Karolingern und er-
kannte in Hugo den Mann der Zukunft. Vorsichtig und gewandt
nach alien Seiten, wusste Hugo auch Lothars Sohn zu gewinnen und
setzte dem fremdgewordenen Karl von Lothringen gegeniiber
seine Konigswahl durch. Er behauptete seine Krone und benutzte
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Saucrland, H. V., Dio Immunit&t von Metz. 317
king die von Gerbert und Arnulf geleitete bischofliche Opposition
gegen Rom, wenn er auch bei den Schwierigkeiten seiner Lage
nicht mit voller Energie daran festhalten konnte. Sein Sohn da-
gegen, als Sclave seiner Leidenschaft und der Monche, schloss
einen demiithigenden Frieden. Binnen 150 Jahren waren die
Nachkommen des sachsischen Einwanderers Konige von Frankreich
geworden, hatten ein wenigstens dem Namen nach einheitliches
fleich in den Formen des Lehnsstaates gegriindet. Die Aner-
kennung des Lehnsprincips und die breitere territoriale Grund-
lage sicherten die Capetinger vor dem Schicksal ihrer Vorganger.
Sie sollten das von den Robertinern geschaffene franzosische
Komgthum, so schwach es noch war, allmalig zu wirklicher
nationaler Bedeutung erhebenu.
Vier Excurse behandeln einzelne Puncte mit grosserer Aus-
ffiiriichkeit : die Genealogie der Robertiner — die Familie der
zweiten Gemahlin Ludwigs des Stammlers, Adelhsid, — die Quellen
der Geschichte Konig Odos, insbesondere die sagenhafte Ueber-
liefenmg — und die spateren Ueberlieferungen tiber die Scblacht
bei Soissons. Endlich vervollstandigt ein sorgfaltig gearbeiteter
Index das verdienstvolle , aber nicht leicht geschriebene Werk.
Berlin. Edm. Meyer.
LXX.
Sauerland, H. V., Die Immunitat von Metz von ihren Anfangen
bis zum Ende des elften Jahrhunderte. gr. 8. (158 S.) Metz
1877. Deutsche Buchhandlung. 3,20 M.
Der Verf. weist in der Einleitung darauf hin, dass die Ent-
stehung der freien Reichsstadt Metz nicht, wie von franzosischen
Hi8torikern behauptet worden ist, in der alten romischen Stadte-
verfassung zu suchen ist, sondern in den Immunitatsrechten, die
von den deutschen Konigen und den Kaisern dem fiirstlichen
Territorium der Metzer Bischofe verliehen wurden. Er stiitzt
aA fur seine Schrift iiber die Immunitaten besonders auf die
tahnbrechenden Untersuchungen Klippfel's und auf Sickel's diplo-
fflatische Arbeiten zur Interpretation der beziiglichen Urkunden,
von denen zehn in anerkennenswerther Weise als Beilagen abge-
druckt werden.
Er geht aus von der grossen Machtstellung, die die Bischofe
miter der Herrschaft der Merowinger erlangt hatten, und von
der besonders hervorragenden, die Arnulf, dor eigentliche Ahn-
Wr der Karolinger , als Bischof von Metz (610 — 625) einnahm.
Die alteste Urkunde datirt allerdings erst aus dem Jahre 775,
worm aber, auf Grund vorgelegter alterer Diplome, Karl der
Grosse dem Bischof Angilram (768 — 791) die damals gebrauch-
lichen Immunitatsrechte fiir seine gegenwartigen und noch zu
erwerbenden Besitzungen bestatigt. Dem koniglichen Richter ist
^s damach verboten, das bischofliche Gebiet und das der ihm
uutergebenen Kloster und Kirchen zu betreten, urn irgend eine
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318 Sauerland, H, V., t)ie Immunittit Ton Metz.
gerichtliche Verhandlung, irgend einen richterlichen Act zu voll-
ziehon oder konigliche Gefalle zu erheben. Nur drei Falle
bleiben dem koniglichen Grafen reservirt: Fur nicht geleisteten
Heerdienst, Briickenbau und Wachtdienst bleiben die Freien (illi
homines bene ingenui) letzterem verantwortlich reap, zar Zahlung
der Busse an ihn verpflichtet. Die Einnahme der Gefalle, be-
sonder8 der fructus jurisdictions, welche friiher dem Grafen zu-
kamen , steht dem Immunitatsherrn d. h. dem Bischof und seinen
Beamten zu, welche auch bei Reohtshandeln den Verkehr der
Insassen des Gebietes mit diesem vermitteln.
Wie auch sonst im frankischen Reich mindert sich hier
rasch die Zahl der Reichsfreien, die, urn der lastigen Heerbann-
pflicht zu entgehen, sich zu Censualen (Zinsleuten) der Metzer
Kirche machen. Ein Fall aus der Zeit des Bischofs Drogo
(824—55), eines natiirlichen Sohnes Karl's des Grossen, wird
yon Konig Lothar (II.) 857 urkundlich bestatigt. Der Verf.
ist iibrigens den Nachweis schuldig geblieben, dass dadurch ein
neues Recht geschaffen wurde, insofern der Graf bisher berechtigt
oder vielmehr verpflichtet war, jeden personlich Freien zum
Heerdienst u. s. w. heranzuziehen, und der Censuale war ja ein
solcher, die Heerbannpflicht beruhte nach deutschem Recht auf
dem vollen freien Grundbesitz, nicht auf der personlichen Freiheit
Bischof Adalbero I. (928 — 964), ein naher Verwandter des
Lothringerherzogs Giselbert, ein Halbbruder des spateren Herzogs
Friedrich, erwirbt 960 den Geriohtsbann fiir sein Gebiet mit den
darauf wohnenden Freien, d. h, die vollen grafschaftlichen Rechte,
mit dem Recht, den Vogt und Untervogt zu ernennen iiber Stadt,
Gau und Bisthum Metz, welches letztere weit die Granzen des
alten Metzer Gaues iiberschritt. Der konigliche Graf wird da-
durch ganz beseitigt: An die Stelle des graflichen Heerbannes
treten die bischoflichett Vasallen und Ministerialen, an die Stelk
des koniglichen Grafen der bischofliche Obervogt, der sich jet^
zum Unterschiede von dem Metzer Stadtvogt und den Unto-
vogten Graf von Metz nennt; an der Spitze der Metzer Hof-
beamten erscheint der Pfalzgraf. Nicht unwahrscheinlich ist,
dass Adalbero schon neben den anderen Regalien auch das Miinx-
recht hatte, sicher ist, dass sein Nachfolger Theodorich (965 —
984), ein Vetter Otto's I., es ausiibte, der auch die Immunitat
seiner Eingesessenen muthig und entschlossen gegen die Ueber-
griffo machtiger Nachbarn und der eigenen Vogte in Schutz
nimmt.
Der Obervogt (Graf von Metz) wie die anderen Vogte,
welchen die Gerichtsbarkeit und die Vertheidigung ihrer be-
trefifenden Territorien iiberwiesen war, waren Vasallen; nicht
allein erheben sie ihren Anspruch an die Gerichtsgefalle und
den erblichen Besitz ihrer Lehen, auch sonst erlauben sie sich
vielfach Uebergriffe, so dass besouders Kirchen und Kloster
schwere Klagen erheben, und schon Bischof Adalbero IL (984 —
1005), ein Neffe Bischof Adalbero's I. und Sohn Herzog Friedrich's.
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Ebeling, Zur Characteristic Adalberts von Bremen. 319
gegen die Vogte vorgeht. Unter Bischof Adalbero III. (1046 —
1072) bestatigen Heinrich HI. 1062 und Heinrich IV. 1070 die
alien Immunitatsrechte : dieselbe Formeln, welche damals dazu
gedient hatten, die koniglichen Grafen aus dem bischoflichen
Gebiete hinauszudrangen, werden nun dazu benutzt, die Vogtei-
gewalt abzuschaffen. Die Befugniss und Verpflichtung der Vogte
wind auf die Vertheidigung der Gerichtsbezirke beschrankt und
die Theilnahme an der Gerichtsbarkeit nur bei Aufforderung der
Lehnsherrn gestattet ; die Ausiibung derselben wird Ministerialen
iibertragen. Erst mit dem Jahre 1225 findet hier ein gewisser
Abschluss statt, wo die einzige Tochter des letzten Grafen von
Dagrirorg stirbt, in dessen Besitz die Obervogtei oder Grafschaft
von Metz gewesen war. Die Leben desselben werden in diesem
Jahre eingezogen und nicht' weiter vergeben.
E8 ist zu bedauern, dass der Verf. den Einfluss dieser Ent-
wk&elung auf die Stadt Metz, die Regungen nach stadtischer
Freiheit und die Erringung der Unabhkngigkeit der Stadt von
der bischoflichen Gewalt nicht angegeben, noch weniger verfolgt
hat Dagegen bespricht er im letzten Abschnitt, vorliegenden
Urknnden folgend, die Verhaltnisse verschiedener Immunitats-
eiagesessener, erwahnt die altesten Metzer Hofrechte und die
Exemtionen der Abteien und des Domkapitels. Der ganze Ab-
schnitt kommt zu keinem einhcitlichen Abschluss; man kann
nur wiinschen , dass der Verf den in den drei vorhergehenden
Abachnitten eingeschlagenen Weg weiter verfolgt, urn die Ent-
stebung und Entwickelung der Stadt Metz historisch darzulegen.
Berlin. J. Schirmer.
LXXL
Ebeling, Zur Charakteristik Adalberts von Bremen. Programm
der Realschule I. O. zu Vegesack. 1878. 4. (18 S.)
Bervorragende Personlichkeiten sind mehr als gewohnliche
SterbKche der Verkennung, dem Neide und Hasse sowie der
Verlaamdung yon Mit- und Nach welt ausgesetzt. Erzbischof
Adalbert von Bremen, dessen machtige Gestalt uns in dem
Geschichtswerke Adams von Bremen in anschaulicher Lebendig-
keit und Grosse entgegentritt, war der bestgehasste Mann seiner
Zeit; die Marchen, welche seine Feinde uns tiber seine Habsucht
ond Sittenlosigkeit aufgetischt haben, verschwinden allmahlich
aus unsern historischen Lehrbuchern , und jetzt glaubt Niemand
^h, dass Adalbert aus seinem koniglichen Zogling, dem spateren
Konig- Heinrich IV., durch Nachsicht gegen dessen Leiden-
schaften und Ausschweifungen sich ein gefiigiges Werkzeug
fiir seine ehrgeizigen Plane habe erziehen wollen. — Adalbert
gehort zu jenen grossartig angelegten Charakteren, welche, ge-
Weben von unersattlichem Ehrgeiz, mit einer Zahigkeit ohne
Gleichen an der Verwirklichung ihrer Idpen arbeiten; so hat er
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320 Baltzor, M., Zur Geschichte des dcutschen Kriegswesena.
mit rastlosem Eifer", mit dem Opfer seiner personKchcn Stellung
als der machtigste Bischof des Nordens sein Leben lang nach
der Wiirde eines nordischen Patriarchen gestrebt. Selbst nach
dem Tode Papst Leo IX. im Jahre 1054 liess er die Patriarchata-
idee nicht fallen ; ohne dieselbe erfiillt gesehen zu haben ist er
am 16. Marz 1069 zu Goslar gestorben; sein tiefer Stun im
Jahre 1066 hatte die Kraft des Riesen gebrochen, und seine
nach drei Jahren erfolgte Wiedereinsetznng vermochte nidrt.
ihn von den Nachwirkungen der erlittonen Seelenqualen m
befreien.
Dieser Auffassung widerspricht die Darstellung bei Dehiok
seiner Geschichte des Erzbisthums Hamburg - Bremen , da er
Adalbert, den Trager der Patriarchatsidee, bald zogern, bald
mit Widerstreben seinen eignen Planen folgen lasst. Es ist ein
Verdionst Ebeling's, in seiner sehr lesbaren Abhandlimg diese
Ansicht als auf falscher Erkliirung einer Stelle bei Adam yod
Bremen III, 32 beruhend zuriickgewiesen zu haben. In gldcher
Weise hatte das quamlibet invitus Laurent in der Uebersetzmig
der Bremer Chronik S. 143 verstanden; die richtige Deutnag
der beriihmten Stelle III, 45, welche vom Wiirzburger Ducat
handelt, hat vor Ebeling schon Henner: die herzogliche Qewalt
der Bischofe von Wirzburg 1874 S. 108 gegeben.
Bremen. Dietrich Konig.
LXXII.
Baltzer, Martin, Zur Geschichte des deutschen Kriegswaseos
in der Zeit von den letzten Karolingern bis auf Kaiser
Friedrich II. gr.8.(VUI,116S.) Leipzig 1877. S. Hirzel. 1,60 1L
Erst auf Grund der streng wissenschaftlichen Publikationefl
unserer mittelalterlichen Historiker in den Monumenta Germm
und in verwandten Sammlungen und nachdem die modern
germanistische Schule den Quell mittelhochdeutscher Po^sie wieder
erofl&iete, ist es moglich geworden, nicht nur fur die politische
Geschichte unserer Nation feste Grundlagen zu schaffen, sondern
auch das Verfassungs- und Culturleben derselben eingehenderen
Studien zu unterziehen* M. Baltzer, ein Schuler von Nitzsch,
Ficker und Scheffer-Boichorst, hat es unternommen im Anschlus
an San Marte's Buch ttber die altere deutsche Waflfenkunde vd
ahnliche Arbeiten, die zerstreuten Notizen iiber die deutsck
Heerverfassung von 900 — 1250 mit ungemeinem Fleisse zii sammelB.
ohne dabei neuere Untersuchungen von Wichtigkeit unberiick-
sichtigt zu lassen. Die Arbeit wurde ausserdem durch eine noch
ungedruckte Abhandlung Ficker's iiber die Beichsheerfahrt wesent-
lich gefordert.
L Zur Geschichte der Kriegsverfassung. Nach
dem Verfall des karolingischen Reiches trat das Volksaufgebot
wegen seiner geringer^p Leistungsfahigkeit, weil es nicht he-
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Baltzer, M., Zur Geschichte des d&utschen Kriegswoseus. 321
ritten war, melir und mehr in den Hintergrund und es bildete
sich dagegen ein eigener Kriegerstand aus Vasallen und Mini-
steriaIenY welcher urn Lohn diente. Aus ihm entwickelte sich das
Ritterthum, gekennzeichnet durch eine besondere Tracbt und die
Sctorertleite, einen im 12. Jahrhundert mit dem Rittereide ver-
bundenen kirchlichen Akt. AUmahlich verlor dieselbe die Be-
deutang der Wehrhaftmachung und wurde noch in spaterem
Alter an vielen Ritterbiirtigen vollzogen. Deshalb finden wir im
zwolften Jahrhundert neben den Rittern auch andere Krieger in
dem Reichsheere, vorzugsweise Sarjanten genannt, ahnlich
wie in Bohmen milites primi und secundi ordinis, in Polen lori-
cati und clipeati geschieden werden. Die Grundlage der Reichs-
biegsverfassung ist das Lehnswesen, denn der ritterliche Kriegs-
dienst wird nicht umsonst, sondern gegen Entgelt geleistet. Die
Verpflichtung zum Reichskriegsdienst beruhet nicjit auf dem
Gnmdbe8itz als solchem, sondern nur auf dem Lehnbesitz, sofern
dieser eben die Entschadigung fur die militarische Leistung ver-
tritt. Ritter, welche weder Vasallen noch Ministerialen waren,
hat es in unserer Epoche wenig oder keine gegeben. Auf dem
Allod ruhte keine Dienstpflicht.
Seit der Zeit Heinrich's IV. wurde es Regel, dass die Fiirsten
die Reichsheerfahrten erst beschlossen und sich dann durch einen
Eid verpflichteten , am bestimmten Ort zu bestimmter Zeit er-
scheinen zu wollen. Diese Einrichtung, welche Fiirsten und Kaiser
zugleich band, ist ungefahr bis 1240 nachzuweisen. Auf die
Dienste der Afterbelehnten , Vasallen oder Ministerialen konnte
der Konig keinen Anspruch machen. Weigerten die Fiirsten die
Zostimmung zur Reichsheerfahrt , so war er auf seine eigenen
milites angewiesen, die im Anfang unserer Periode von der Pfalz-
ferwaltung abgehangen zu haben scheinen.
Wie viele Einrichtungen der Kriegsverfassung Karls des
Gros8en, so hatte sich der Theorie nach auch die Wehrpflicht
riler freien Manner bis in unsere Epoche herein erhalten. Der Konig
whrieb aber nur noch vor, wie viel Mann jeder Fiirst auf bringen
wllte, und zwar war die Zahl nicht immer die gleiche. Den
Fiirsten war im allgemeinen iiberlassen, welche ihrer Vasallen
pd Ministerialen sie zum Dienst heranziehen wollten. Es gab
in yielen Lehn- und Diensthofen Lehn, die alle eine bestimmte
Grosse hatten, auch Lehn, von denen eine bestimmte Anzahl Ritter
zu stellen war; dass aber durchgangig auf ein gewisses Land-
Jnass, das jemand zu Mann- oder Dienstlehn hatte, ein Ritter
torn, ist nicht zu erweisen.
Jede Reichsheerfahrt wurde von Rechtswegen feierlich vorher
angekiindigt , sodass zwischen dem Ansagen und Anheben ein
competens spatium dazwischenlag. Ministerialen konnte der Herr
nach seinem Belieben zur Theilnahme am Feldzug oder zu einer
Heersteuer heranziehen, Vasallen urspriinglich nur zur Theil-
nahme. Nicht nur auf den Romerzugen, sondern auch auf andern
MUtheUnngen a. d. hiator. Litteratur. VI. 21
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322 Baltzer, M., Zur Geschklite des deutschen Kriegsweaena,
Heerfahrten wttrde das Heer gemustert und festgestellt, wer
etwa saumig gewesen war.
II. Zur Geschichte der militarischen Technik.
Die deutschen Ritter (milites) sind anfangs nur mit Schwert,
Speer und Schild bewaffnet. Von den Angriffswaffen bedienten
sie sich, zumal die Sachsen, mit besonderer Geschicklichkeit des
Schwertes, wahrend der Speer noch bis in das 10. Jahrhundert
al8 Wurfgeschoss gebraucht wurde. Da man noch nicht allge-
mein Helm und Harnisch fiihrte, so war der Schild von besondew
Wichtigkeit. Auch wenn man Harnische trug, so waren dies im
Anfange unserer Periode noch in der Regel Briinnen, welck
weder den Nacken noch die Beine schiitzten, im elften Jahr-
hundert wurden die Halsbergen haufiger und gegen Ende des
12. hat man auch die Streitrosse zu bepanzern angefangen. Ein
Pferd geniigte nun dem Ritter nicht mehr, seit 1050 tritt daher
die Sitte hervor, mindestens einen dextrarius (Schlachtross) nebeu
dem palafredu8 ins Feld zu fiihren. Die Schwere der Riistunj
erforderte es ausserdem, Harnisch und Schild auf dem Marsche
abzulegen und als Gepackstiicke transportiren zu lassen, wie die
Mantelsacke, Kleider, Decken, Tticher, Gefasse und Zelte.
Das Futter fur die Thiere nahm man in Deutschland unter-
wegs unentgeltlich, wo man es fand, den Proviant fur die Mann-
schaften fiihren Volks- und Ritterheere noch bis ins 11. Jahrhundert
hinein regelmassig mit sich. Spater wurde der Bedarf theik
requirirt, theils gekauft, indem fur die Heere Markte abgehalt«ii
wurden. Als Transportmittel dienten Wagen, Saumthiere nnd
Schiffe. Die Trossknechte hatten den niederen Lagerdienst m
verrichten und zu fouragieren, sie sind theils beritten, theils Fuss-
ganger und in der Regel unbewaffnet. AusseTdom folgen den
Heeren fabri und wenigstens seit der Mitte des 12. Jahrhundert?
auch Kaufleute. In der Regel lagerte man im Freien untff
Zelten, denn ein Recht des Kiinigs, Heere in Ortschaften cinsJ-
quartieren, ist nicht nachzuweisen. Das Lager wurde auf griin&
Wiesen in der Nahe fliessender Gewasser unbefestigt aufgeschlagen-
Je eine grossere Anzahl von Rittern bildete ein contubemiinn,
das seine eigene Parole hatte. Fur die Unterbringung der Truppen
sorgte der Marschall, der auch den innern Dienst iiberwachte usA
die Disciplin erhielt
Die deutsohen Ritter waren bis ins zwolfte Jahrhundert
hinein noch ungeschickte Reiter und vorzugsweise Fusskampfer.
Wenn sie in der Schlacht zu Ross stritten, so geschah der An-
griff in geschlossener Linie. Wo moglich formierte man mehrere
Treffen hinter einander, das Recht des Vorkampfes war viel be-
gehrt und umstritten. Das Banner stand in engstem Zusammen-
hange mit der Befehlsf iihrung , in kritischer Lage trug der Herr
sein Banner wohl selbst im Kampfe voraus, sonst ernannte er
einen seiner Mannen zum signifer fiir den ganzen Feldzug Q&®
nur fiir ein einzelnes Treffen. Manche Fiirsten hatten anch
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Friedensburg, Dr. W., Ludwig IV. d. Baier u. Friodrich v. Oesterreich. 323
standige Bannertragor, welche dann wohl dafiir ein besonderes
Lehn erhielten.
Berlin. Ernst Fischer.
Lxxin.
Friedensburg, Dr. Walter, Ludwig IV. der Baler und Friedrich
von Oesterreich, von dem Vertrage zu Trausnitz bis zur
Zusammenkunft in Innsbruck 1325—1326. gr. 8. (83 S.)
Gottingen 1877. R. Peppmiiller. 1,80 M.
Die erste Veranlassung zu der vorliegenden, aus der Schule
wn Weizsacker hervorgegangenen Schrift gab wohl die 1875
nnter dem Titel „Die Auseinandersetzung zwischen Ludwig IV.
dem Baier und Friedrich dem Schonen von Oesterreich im Jahre
lS2bu erschienene Abhandlung von R. Dobner, deren Resultate
ron Friedensburg bei massvoller Polemik mit den schlagendsten
Griinden angefochten werden. Wir geben im Folgenden die
Differenzpunkte beider Untersuchungen wieder. Zunachst die
Ansicht Dobners. Als die Unterhandlungen des aus der Gefangen-
schaft zu Trausnitz entlassenen Konig Friedrichs mit seinen
Briidern ohne Erfolg geblieben sind, und diese daher zusammen
unter Mitwissen Konig Ludwigs durch eine von Herzog Albrecht
an Papst Johann XXIL im Jahre 1325 abgeordnete Gesandt-
schaft vergeblich von der Curie die Anerkennung Friedrichs als
deutechen Konig gefordert haben, findet eine Annaherung zwischen
den Gegenkonigen statt, und eine Folge derselben ist die formelle
Bestatigung der thatsachlich wohl schon lange vor dem 1. Sept.
gemeinsam geiibten Regierung durch den Munchener Vertrag
am 5. Sept. 1325. Da dieser an dem Widerstande der Kurfiirsten
acheitert, kommt es zu einem zweiten Uebereinkommen in Ulm
^n 7. Jan. 1326, in dem Ludwig an Friedrich das Reich abtritt.
Mit dem am 28. Febr. 1326 erfolgten Tode Herzog Leopolds
*W glaubt sich Ludwig nicht mehr an die Ulmer Erklarung
gebunden und verweist Friedrich auf die im Munchener Vertrage
gewahrten Bedingungen zuriick.
Die Untersuchung Friedensburgs dreht sich in ihrem Angel-
pnnkte wesentlich urn jene von den Forschern bald in das Jahr
1325, bald 1326 verlegte Gesandtschaft Herzog Albrechts an den
Papst, welche, wie der Vert scharfeinnig und unter richtiger
^erworthung einiger von Dudik 1852 aus den papstlichen
Regesten gezogenen Mittheilungen nachweist, endgiltig fur das
ktztgenannte Jahr in Anspruch zu nehmen ist. Die Nachpriifung
der Dobnerschen Arbeit f iihrte zu folgendem Resultat : trotz der
^tgegengesetzten Bemiihungen seiner Briider bleibt Konig Fried-
rich dem Trausnitzer Vertrage treu und schliesst, da er wie
Ludwig auf gleiche Weise vom Papste und von Frankreich in
dem Besitze der deutschen Konigskrone bedroht werden, mit
seinem Gegner den Munchener Vertrag, in welchem der schon
21*
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324 Ebrard, Dr. Fr., i)er erste Annfcherungsversuch Konig Wenzek
damal8 nach dcr Kaiserkrone ausschauende Baicr Friedrich die
Herrschaft in Deutschland als Konig zugesteht, sich aber die
Erwerbung der Kaiserkrone und die Ausiibung der Hoheitsrechte
in Italien vorbehalt, wahrend Herzog Leopold, freilich nach der
einzigen Angabe Villauf s, ihn als Generalvicar dorthin begleiten
soil. Durch die Weigerung der Kurfiirsten, den Vertrag anzu-
erkennen, wird Ludwig in der Ulmer Erklarung gezwungen, sich
den Forderungen der Oesterreicher zn fiigen, nach welchen ^obne
Riicksicht auf die Kurfiirsten die Entscheidung in die Hande <fa
Papstes gelegt wird". Der Tod Herzog Leopolds verringerte &
Aussichten der Habsburger, doch trat keine Aenderung des Ver-
haltnisses zwischen Friedrich und Ludwig ein; jene betriebea
beim heiligen Stuhle energisch die Anerkennung Friedrichs, und
jetzt erst geht die oben erwahnte Gesandtschaft an den Papst
ab, welche mit leeren Handen zuriickkehrt. Dadurch vergrossern
sich Konig Ludwigs Aussichten; Ende Dec. 1326 kommt es
zwischen lhm und Friedrich zu einer Zusammenkunft in Inns-
bruck, welche jedoch keine definitive Auseinandersetzung brachte;
der Verf. ist der Ansicht , dass Ludwig seinem Gegner nur die
Fiihrung des Konigstitels (?), nicht aber Theilnahme an der
Reichsregierung zugestanden hahe. Factisch verschwindet Fried-
rich seitdem von dem Schauplatz der Geschichte.
Die Bewei8fiihrung Friedensburgs ist klar und iiberzeugend;
dass manche Glieder in der Kette der diplomatischen Verhand-
lungen nur durch Mutmassungen erganzt werden konnen wie
S. 40, 58, liegt an dem Mangel urkundlicher Ueberlieferung.
Uebersehen ist ein Aufsatz von Wichert in den Forschgn. t
deutsch. Gesch. B. XVI. Den Schluss der Schrift bildet eiue
Beilage , welche den Beweis fuhrt , dass Konig Friedrich bereite
urn Mitte Marz 1325 aus seiner Haft auf der Trausnitz entlassen
worden ist und wahrscheinlich iiber Miinchen seinon Weg raA
Oesterreich nahm.
Bremen. Dietrich Konig.
LXXIV.
Ebrard, Dr. Fr., Der erste Annaherungsversuch Konig Weruels
an den SchwSbisch-Rhelnischen Stfidtebund 1384—1385. Hit
7 ungedruckten Actenstiicken. gr. 4. (32 S.) Strassburg 1877.
K J. Trubner. 2 M.
Es ist bekannt, dass Konig Wenzel nach einer an&ngs
fiirstenfreundlichen Politik sich allmahlich den Stadten zuwandte:
iiber den Zeitpunkt aber, in welchem diese Aenderung eintrat,
gingen die neusten Forschungen auseinander. Weizsacker in den
Reichstagsacten (Vorw. C. II. u. S. 427 f.) zog aus den spar-
lichen Notizen der Frankfurter und Niirnberger Stadtrecbnungen
den Schluss, dass Wenzel bereits gegen Ende des Jahres 13S4
eine „Einmiithigkeit" mit den Stadten zu Stande zu brings
suchte, urn seiner von den Fiirsten geplanten Absetzung wi
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l|brard, Dr. Fr., Der erste Annaherungsversuch Konig Wenzels. 325
Erfolg eDtgegentreten zu konnen. Th. Lindner (Gesch. d. d.
Reiches unter K. Wenzol I, 241 f.) hatte diese Vermuthung be-
stritten , indem er es sowohl iiberhaupt fur unwahrscheinlich
hielt, dass Wenzel in Folge dieses Planes eine Schwenkung zu
Gunsten der Stadte gemacht, als auch aus der Oeffentlichkeit der
Maimer Verhandlungen folgerto, Wenzel habe keine Feindselig-
keiten gegen die Fiirsten im Sinne getragen. Lindner's Erklarung
fur die Mainzer Verhandlungen von 1384 war vielmehr folgende:
r Als der Konig den Stadten ein Biindniss anbot , wird er wohl
nor beabsichtigt haben, von ihrer kriegerischen Macht und ihren
Geldmitteln Vortheile zu ziehen. Wie er schon vorher von ihnen
bewafcete Hilfe gefordert hatte, mag er es auch jetzt gethan
haben fur den Fall , dass er im Westen des Reiches Kriegshandel
fond, was bei den schwankenden Verhaltnissen an der Grenze
Jeicit moglich war". Da WenzeFs Gegengebote die Stadte nicht
befriedigt haben durfton, sei aus der Sache nichts geworden und
das Resultat der Berathungen, die sie im neuen Jahre zu Speier
pflogen, daher wohl ein ablehnendes gewesen.
Die von Ebrard im Strassburger Archiv aufgefundenen und
lrier mitgetheilten Actenstiicke „rechtfertigen dagegen Weizsacker's
Combinationen und gewahren iiber Verlauf und Inhalt der ganzen
Verhandlungen die wiinschenswertheste Klarhoit". Auch Lindner
selbst (Rec. der Ebrard'schen Schrift in v. SybeFs Zeitschrift
1878, Hft. 2, S. 324) scheint auf Grund der Ebrard'schen
Publikation, an der er auch „musterhafte Sorgfalt" riihmt, seine
friibere Ansicht aufzugeben. Der Hergang lksst sich etwa in
Folgendem ziisammenfassen.
Die Rathe Wenzel's hatten bereits den Tag , welchen dieser
Anfang Dezember 1384, von der Besitzergreifung Luxemburgs
kommend, in Koblenz mit einigen Fiirsten und Stadten abhielt,
dazu beniitzt, den anwesenden Boten der rheinischen Bundes-
stadte im Auftrage des Konigs die ersten Eroffnungen zu machen.
Sie schlugen ein fi>rmliches Biindniss zwischen dem Konig und
tan rheinischen und schwabischen Stadten vor; das Biindniss
*oBte den Stadten ihre Freiheiten gegen alle etwaigen Bedranger
garantiren, dem Konige aber Schutz gewahren „wider alle, die
«ch wider ihn und das romische Reich setzten". Wenzel be-
fiirchtete demnach schon jetzt, dass Jemand ihn abzusetzen
trachten mochte — denn so erklart E. den oben gebrauchten
Ausdruck mit Recht. In der That waren bereits im Februar
1384 Absetzungsgeruchtc . aufgetaucht , die dem Konige bekannt
geworden sein mussten. Auf der Riickreise nach Bohmen setzte
Wenzel in Mainz die Berathungen fort: die Stadte verhandelten
aebst einigen Boten der schwabischen Bundesstadte iiber den
Antrag zu Speier, und zwar Ende Dezember, wie E. glaublich
niacht. Nr. I. der mitgetheilten Actenstiicke ist eine Aufzeichnung
ubor diesen Tag, nach E. vielleicht das Protokoll selbst. Zur
Entecheidung kam es hier nicht, am 26. Febr. 1385 sollten beide
Stadtebiinde auf einem Tage zu Strassburg endgiltig beschliessen.
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326 Ebrard, Dr. Fr., Der ersto Annaherungsvereucli Konig Wenzeb.
Inzwischen hatten die koniglichen Rathe von Niimbcrg aus
sich mit den schwabischen Stadten in Verbindung gesetzt und
auf einer Niirnberger Versammlung, die vielleicht etwas friiher
als die von Speier anzusetzen ist, den schwabischen Stadten ahn-
liche Antrage gemacht, wie den rheinischen. Wahrend die konig-
lichen Rathe aber zuerst Miene gemacht hatten, die Fortfuhrung
der Sache den rheinischen Stadten zu iiberlassen, nahm nun der
vornehmste derselben, Herzog Przemyslav von Teschen, die Leitang
in die Hand und benachrichtigte am 31. Dezember Speier, er
habe die schwabischen Stadte zum 5. Februar 1385 nach tot
berufen, urn mit beiden Btinden wegen der Juden, der Mm
„und andrer Sachen" zu verhandeln. Speier moge also k
rheinischen Stadte zu diesem Tage einladen. (Act. Nr. IL) Den
entsprechend schrieb Nurnberg am 2. Januar an Speier und
Ulm, falls etwa ein anderer Termin von ihnen schon festgesetzt
sei, mochten sie denselben widernifen. Das Niirnberger Schreibea
definirt den Ausdruck im herzoglichen Briefe „andere Sacher
als „die bereits zu Coblenz und Mainz verhandelte Einung da
Konigs mit den Stadten". (Act. Nr.HI.) Auf Grund dieser
Mittheilungen halt E. die Hypothese Weizsackers, dass Wenzel,
nicht die Stadte (wie Hegel annahm) die Judenfrage angeregt,
fur ausgemacht. Ebenso scheint erwiesen, dass die Juden- und
Munzfrage mit dem Biindnissanerbieten zusammenhangt.
Als die Schreiben Przemyslav's und Niirnbergs in Speier an- j
kamen, war aber bereits beschlossen, jenen Tag in Strassburg *
am 26. Februar abzuhalten. Niirnberg, welches das Project
nicht gern scheitern lassen wollte, benachrichtigte den Konig,
dessen Rathe auch schon abgereist waren, von der Sachlago.
Nach einigem Widerstreben , denn Wenzel hielt den Termin fir
zu weit tanausgeschoben , erklarte sich der Konig bereit, den
Strassburger Tag zu besenden.
Ein neuer Zwischenfall : die rheinischen Stadte, welcb&w
Erfahrung gebracht, dass der Herzog von Teschen nicht vor to
12. Marz in's Reich kommen konne, hatten auf einem Mai*
Tage — Ende Januar — beschlossen, den gemeinschaftlicto
Tag erst am 7. Marz in Speier abzuhalten. Niirnbergs Remon-
stration kam zu spat, und es blieb bei jenem Beschluss. (Actst
Nr. V. und VI.) Ueber diesen Speierer Tag besitzen wir zwar
eine Auizeichnung (Nr. VH.), aber bei dem wichtigsten Puntt
lasst sie uns im Stich : es heisst nur, „der Landgraf von Leuchten-
berg redete im Auftrage des Konigs mit den Stadteboten vofi
Sache wegen, die in Heimlichkeit verbleiben soil".
Somit fehlt iiber das Resultat jede Nachricht, jedoch ISast
sich mit Sicherheit annehmen, dass die Antrage des Konigs ab-
gelehnt wurden. Die „Sicherung ihrer Privilegien" war den
Stadten ein zu ungeniigender Preis : das Aequivalent fiir ihren
Beistand war die Anerkennung ihres Bundes: erst als diesol38<
erfolgte , wenn auch nur mundlich , kam das Bundniss mit dem
Konige zu Stande.
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Pauli, Dr. C. W^ Lubeckische Zustfinde im Mittelalter. III. 327
Selbst in der Juden- und Miinzfrage gingen nur die
schwabischen StUdte auf dio koniglichen Propositionen oin.
Wie die Sache liegt, wiirdo dio Beibringuug neuen Materials
immer noch von grossem Wertho sein, wenngleich dasselbe die
Ebrard'sche Darlegung kaum wesentiieh modilieiren moohte.
Berlin. Willy Boehm.
LXXV.
Pauli, Dr. C. W., Oberappellationsgericbtsrath a. D., Liibeckische
Zustande im Mittelalter. III. Then. Recht und Kultur. Nebst
cinem Urkundenbuch. gr. 8. (VI, 256 S.) Leipzig 1878,
Duncker und Huinblot. 5,40 M.
Kcse Arbeit des um die Geschichto Lubecks verdienten
Veriasscrs ist eine Fortsetzung der von ihm in den Jahren
1838—46, resp. 1850—68 gehaltenen und veroffentlichten Vor-
Jesangen. Die Yorliegende Abtheilung ist iiberwiegend juristisohen
Inhalts und vorzugsweise fur die Geschichte des Handelsreohts
wichtig, doch haben viele der betreffenden Abschnitto zugleich
ein allgemeineres kulturhistorisches Interesse. Auch beschaftigt
sich der Vert gelegentlich mit den Rechtsverhaltnissen der Hand-
werker und bringt dabei manche, wenn auch nicht grade iiber-
raschend neue, doch immerhin bemerkenswerthe Mittheilungen
tiber die gewerblichen Zustande. Aus der Fiille des Gebotenen
sei Folgendos hervorgehoben.
Der Brauch, einen Kaufakt dadurch abzuschliessen , dass
Kaufer und Vcrkiufer sich Bier, spater Wein in Gegenwart yon
Zeagen zutranken (litkop, aelkop, winkop), findet sich im fiinf-
xehnten Jahrhundert noch in einem Dorf ; in der Stadt war an
dessen Stelle die Drauigabe eines Stiick Geldes (Friedepfennig,
Gottespfcnnig) getreten (S. 17). Die ziinftigen Beschrankungen
des Handwerksbetriebes steigerten sich auch in Lubeck gegen
Ende des Mittelalters ins Maasslose. Es geniigte nicht mehr,
*aiht und recht, frei, deutsch und nicht wendischu, ehelich ge-
boren und „unberiichtetu zu sein, einem .Burger verweigerte
man den Eintritt in die Kramergildo, weil er „enen doden vor-
richteden man uthe dem water gevisschet unde upgetogenu habe.
Der Geselle musste wohl, um in die Zunft aufgenommen zu
werden, die Wittwe oder Toohter eines Zunftgenossen heirathen,
wie das in Betreff der Kerzengiesser und Paternostermacher aus-
driicklich bezeugt ist. Dagegen zeigt sich die wohlthatige Dis-
ciplin, wolche dio Zunfte iiber ihre Mitglieder lib ten, wenn die
Knochenhauer im J. 1494 einem Ehemann, der in seinem
Hause mit einer anderen Frau „in Unzucht" verkehrte, den
Eintritt verwoigerten. Auch die Malerei und die mit ihr in
einem Gowerk verbundene Holzschnitzerei , da sie sich von dem
handwerksmassigen Betriebo noch nicht losgelost hatten und
dieselbe Hand, die heute einen Thurmknopf oder irgend ein
Gerath bemaHe* vergoldete oder schnitztc, zu anderen Zeiten ein
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328 Pauli, Dr. C. W., Lubcckische Zust&ndo im Mittelalter. DlL
Altarbild von kunstlerischein Werthe schuf, war den ziinftigen
Beschrankungen unterworfen. Auch die Maler „wandertenu gleich
den Handwerkern, um sich unter tiichtigen Meistern, namentlich
wohl unter Johann van Eyck und andern Koryphaen der nieder-
landischen Schule zu vervollkommnen. Als lubecker Maler der
zweiten Halfte des funfzehnten Jahrliunderts werden genaimt:
Hans Backmeister, der eine grosse Altartafel fiir das
Dominikanerkloster Nestwede in Seeland, Heinrich Husmann,
der geschnitzte und gemalte Altartafeln fiir Meschede in West-
phalen, Peter Wise und als fiir Liibeck besonders wicWif
Martin Radeteffs, der eine noch jetzt erhaltene Altar-
tafel fiir die dortige Marienkircbe lieferte. Dass in einer Stadt
von der Bedeutung Liibecks nicht bloss die fur den Bedarf des
gemeinen Lebens arbeitenden Handwerke, sondern auch Industrie-
zweige hoherer Gattung vertreten waren, versteht sich von selbst:
wir finden hier Orgelbauer, Posaunenmacher (^Orgelmester"),
Goldschlager, Perlensticker. Auch die jetzt in der Kegel fabrik-
massig betriebenen Gewerbszweige hatten vorzugsweise ihren Site
in und bei solchen grossen Stadten: so in Liibeck Messer-
schmiederei, Wollen- und Leinweberei: die Wollenweberei wurde
in solchem Umfange betrieben, dass im J. 1435 mehrere
„Wantscherer" d. h. Schleifer fiir die Tuchscheeren , erwahnt
werden, ein Kupferhammer , eine Papiermiihle, eine Glashiitte
wurden im fiinfeehnten Jahrhundert in Ortschaften ausserhalb
der Stadt von lubecker Biirgern betrieben. Wie verschieden die
damalige Stellung der arbeitenden Klasse von der heutigen war,
ergiebt sich daraus, dass in den Jahren 1434 — 36 fiir jene Miihle
Arbeiter auf d r e i Jahr kontraktlich in Lohn genommen warden.
Auch die Seifensiederei scheint in Liibeck in so grossem Urn-
fang betrieben zu sein, dass das zu verarbeitende Material sich
nur schwer in hinreichender Menge aufbringen liess und man
zum Versieden von Hunden und Katzen seine Zuflucht nalin:
wenigstens erwahnt der Verf. eine Beschwerde von Nachbani
eines Seifensieders , die sich beklagten, dass er „von unborlikea
beesten, katten unde hunden, sepen sode unde groten stank
makeden" (S. 26 — 34). Handelsgesellschaften wurden nicht bloss
unter Liibeckern, sondern wenigstens seit dem fiinfeehnten Jahr-
hundert auch zwischen Liibeckern und Auswartigen z. B. mit
Stralsundern und Revalern geschlossen. Fiir solche Gesellschaften
bestellte man auch schon Prokuristen. Auch griindeten
Lubecker Geschafte in anderen Handelsstadten , z. B. eine Com-
manditgesellschaft zu Venedig. Die Antheile an solchen Gesell-
schaften wurden vererbt, verkauft, verpf andet, ahnlich den Aktien
unserer Tage. Nach den hansischen Recessen waren seit dem
J. 1426 Handelsgesellschaften zwischen Hansischen und Nicht-
hansischen verboten. Wegen des engen Zusammenhangs der
Handelsgesellschaften mit dem Wechselverkehr war Liibeck fur
diesen Verkehr der erste Platz in ganz Norddeutschland. Die
grosso Bedeutung des liibeckischen Handels beruhte darauf, dass
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Panli, Dr. C. W., Lubeckische Zust&nde im Mittelalter. III. 329
es als Zwischenstation zwischon den Kiistenlandern der Ostsee
und dem mittleren, westlichen und selbst siidlichen Europa diente.
Fische, besonders Heringe von den skandinavischen Kiisten, wnrden
nach dem inneren Deutschland, England und den Niederlanden
verfuhrt: bis Island erstreckte sich dieser Handel Lubecks, und
spater bildete sich sogar eine Gesellschaft der Islandfahrer.
Esenerz (Osemunt), spater als die Schweden das Erz zu vor-
schmclzen gelernt batten, Stangeneisen und Draht wurden aus
Schweden, Holzer aus Danzig, Flachs (Leinsaat) aus Riga,
Pottasche, Wachs, Pelzwerk, Haute, Thran aus Russland iiber
Rewl bezogen, um diese Giiter gleichfalls in Deutschland, Eng-
land und den Niederlanden abzusetzen. Die grosse, in Deutsch-
land einzig dastehende Zunft der Paternostennacher oder Bern-
steadreher verarbeitete den Bernstein der Ostseekiiste und ihre
Fabricate gingen bis nach Venedig: im J. 1475 pachtete sie
jom deutschen Orden auf drei Jahr das Sammeln des Bernsteins
in Preussen und den Handel damit. Dagegen fiihrte Liibeck
Wollenwaaren, Gewiirze, Siidfriichte aus den Niederlanden, Salz
von der franzoeischen Westkiiste (bayesches solt), spater als die
Stecknitz schiffbar gemacht war, aus der liineburger Saline,
Mesringblech, Messingdraht, Schwertklingen aus NUrnberg, Ring-
iarni8che aus Iserlohn, Spiegel und Seidenwaaren wahrscheinlich
aus Venedig iiber Nurnberg, Zucker iiber Deutschland nach den
Ostseegebieten. Nicht selten gingen diese Waaren von ihrem
Ursprungsort direkt nach ihrer Bestimmung fiir Rechnung des
liibischen Kaufherrn, wie denn die SalzschifFe das franzosischo
Salz direkt nach Reval fuhren. Der Verf. hat nur einige Notizen
uber Handel und Waarenverkehr aus den Stadtbiichern Lubecks
geaammelt; eine sorgsamere Ausbeutung dieser Biicher wiirde
wch seinem Zeugniss eine vollstandigere Darstellung des liibecker
Handels und Waarenverkehrs moglich machen (S. 34 — 44).
Das Institut der beeidigten Makler findet sich in Liibeck
^on im fiinfzehnten Jahrhundert, doch war es den Maklern,
^ die Courtage (makeldil) wahrscheinlich zu gering war , noch
ticht, wie jetzt, verboten, Geschafte fiir eigne Rechnung zu treiben.
& werden erwiihnt: Hopfen-, Herings-, Korn- und Pferdemakler.
«faler Makler hatte iiber seine Geschafte Buch zu fuhren (mekel-
rci bok) (S. 73—76). Kaufmannischer Concurs kam natiirlich
damals, wie heute, vor, doch gab es noch keine Concurse, wie
heute, bei denen die Glaubiger nur wenige Procent erhielten:
meist wurde von dem Schuldner nur ein Moratorium beansprucht,
und die Schuld innerhalb einiger Jahre nachtraglich getilgt
(S. 76—85).
Schiffe durften in hansischen Stadten nur fiir hansische
Burger gebaut und durften auch nicht an Fremde verkauft oder
fermiethet werden (S. 85). Bodmerei (Bodemgeld) kommt wenig-
sten8 schon im vierzehnten Jahrhundert vor; sie wurde durch
Ilanserecesse von 1434 und 1447 verboten, das Verbot scheint
jedoch nicht sonderlich streng beobachtet zu sein (S. 94 — 97).
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330 Girgensohn, Dr. J., Aden zur Gesch. der Stadt Riga i J. 1562.
Eine Pumpo hat der Verf. in Liibeck zuerst im J. 1360 er-
wahnt gefunden, wahrend es zuerst, wie es scheint, auf den
Hofen nur Ziehbrunnen gab, und zwar cifter zur gemeinschaft-
lichen Benutzung zweier Nachbarn (S. 55).
Von der Strenge und dem Umfang der stadtischen Polizei-
gewalt liefert der Verf. ein merkwurdiges Beispiel. Dem Rath-
mann und spaterem Burger meister Heinrich Bromse, einem, wie
die Ratbsmatrikel besagt, „bedeutenden, gelehrten und beredten
Mann" (vir grandis , doctus et eloquens) missfiel hochlichst dss
im Hofc seines Nachbarn betricbene „Katzenspiel" , und er setxte
die Inhibirung dessolben durch (S. 56 — 57).
Berlin. A. Kotflmann.
LXXVI.
Girgensohn , Dr. J. , Acten zur Geschichte der Stadt Riga ii
Jahre 1562. Programm des Stadtgymnasiums zu Riga. i
Von den in dem Rigischen Rathsarchive unter der Rubrik s
Aulico-Polonica befindlichen 14 Volumina Actenstiicken, Briefen
und Urkunden, welche die Zeit von 1561 — 1587 umfassen, ver-
offentlicht Dr. J. Girgensohn, nachdem das erste derselben, die
acta conventus generalis ordinum Livoniae 1561, fast vollstandig
von Fr. Bornemann im 5. Bande der „Briefe und Urkunden zur i
Geschichte Livlands" herausgegeben worden ist, das zweite,
Civitatis Rigensis legatio commitialis Wildensis (Wilna) de anno
1562 cum indice, 13 deutsche Actenstiicke, mit Ausnahme zweier
Aufzeichnungen zum ersten Male. Eine kurze Einleitung orientirt
geniigend iiber die Ereignisse, welche dieser Rigischen Gesandt-
schaft an den Konig von Polen vorangingen. Mit dem Zujsammen-
bruche der Ordensherrschaft fiel Estland an Schweden, das StB
Oesel an Danemark, Dorpat an die Russen. Der Ordensmeiter
Gotthard Kettler und der Erzbischof Wilhelm von Brandenbcg
huldigten 1561 Sigismund August von Polen. Nur Riga, die alte
reiche und maehtige Handelsstadt , suchto sich moglichst selb-
standig zu erhalten und wollte nur unter gewissen Bedingungen
dem Konige unterthan werden. Als nun im Marz 1562 die
iibrigen Stande Livlands zu Riga dem Woywoden von Wilna,
Nicolaus Radzivil, als Vertreter des Konigs, den Unterthaneneid
geleistet hatten, ward Riga nochmals angegangen, sich zu unter-
werfen; man leistete den Eid, aber nur bedingungsweise , nach-
dem Radzivil der Stadt eine zweite Versicherungsschrift iibergebefi
hatte. Seitdem bemuhten sich die Gesaudten Rigas auf alien
polnischen Reichstagen bis 1582 um Erfiillung der cautio Radzi-
viliana. Die erste Gesandtschaft ging im April 1562 ab, und
der Bericht derselben, nebst 12 andern Actenstiicken, ist es, den
Dr. J. Girgensohn veroffentlicht. Knappe Anmerkungen, dankens-
werthe Hinweise und moderne Interpunction erleichtern das Ver-
standniss der Actenstiicke, die meist ganz, zum Theil in ihren unwich-
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Ranke, L. v., Historisch-biograpluscho Studien. 331
tigeren Partieen verkiirzt wiedergegeben sind. Miigcn bald die
ubrigen Theile der Aulico - Polonica nachfolgen , denn dann orst
wird es dem Historiker moglich sein, oin treues Bild dieser
traurigen Katastropbe der Gescbichte Rigas zu liefern.
Plan en i. Vogtlande.
Dr. William Fischer.
LXXVII.
Ranke, Leopold v., Historisch - biographische Studien. gr. 8.
(XL 544 S.) Leipzig 1877. Dunckor & Humblot. 11 M.
Der vorliegende Theil (Band 40 der Gesammtausgabe
der Banke'schen Werke) enthalt vier einzelne Aufeatze, in welchen
die Lebensverhaltnisse und das Wirken bedeutender oder wenig-
stens beriihmter historischer Personlichkeiten dargestellt werden.
Die Zusammenstellung derselben ist eine zuf allige , gemeinsam
aber ist alien die gleiche Art der Behandlung. In ihnen alien
namlich wird (so erklart der Verf. selbst in der Vorrede die
Bezeichnung „ historisch - biographisch ") die Geschichte jener
Manner auf Grand und in engster Verbindung mit der allge-
meinen Geschichte ihrer Zeit geschildert: „die Manner in ihrer
Zeit, jede Zeit in ihren Mannern" wird uns vorgefiihrt. Dieses
Feld, die Darstellung der Wechselwirkung zwischon einzelnen Person-
lichkeiten und allgemeinen Zeitrichtungen, ist ja von Ranke in alien
seinen Werken mit besonderer Vorliebe und mit besonderer Meister-
schaft behandelt worden, und auch in diesen Biographien konnen
wir nicht genug die Kunst des Nestors unter unsren Historikern be-
wundern. Zwei von diesen Aufeatzen , die beiden mittleren , sind
ganz neu ausgearbeitet, die beiden andern sind, wenigstens theilweise
schon friiher veroffentlicht gewesen, sie gehoren gerade zu den alte-
stenArbeiten des Verfassers. Der erste: „ Cardinal Consalvi und seine
Staatsverwaltung unter dem Pontificat Pius' VIL" war unter dem
Titd: „Rom 1815 — 1823. Staatsverwaltung des Cardinals Con-
whi* in dem ersten Bande von Ranke;s Historisch - politischer
Zeitschrift (1832) erschienen. Der eigentliche Haupttheil, die
Schilderung der Staatsverwaltung Consalvi's nach der Restauration
bis zum Tode Pius' VIL, welcher, wie der Verf. jetzt hier selbst
wklart, zum grossen Theile auf den Berichten Niebuhr's, des
damaligen preussischen Gesandten am romischen Hofe, beruht,
ist fast ganz unverandert goblieben, nur die aussere Anordnung
tat einige kleine Veranderungen erfahren , dagegen ist der erste
Theil, die Einleitung und das erste Capitel der alteren Arbeit,
auf Grand der inzwischen erschienenen bedeutenden Publicationen,
der Memoiren, welche Consalvi selbst wahrend seiner Verbannung
in Rheims (1810 — 1813) geschrieben und welche Chretineau-Joly
horausgegeben hat, der Corresponded Napoleon's L, sowie der
Werke von Theiner: Histoire des deux concordats do 1801 ot
1813, von Artaud: Histoire du pape Pie VIL und von d'Hausson-
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332 Ranke, L. vM Historisch-biographische Studien.
ville : L'eglise romaine et le premier empire umgearbeitet tmd
bedeutend erweitert worden. Er bildet hier 4 Capitel. Der
Verf. erzahlt in denselben eingehender und ausfuhrlicher als
friiher die Jugendschicksale und das Emporkommen ConsaWi's,
semen Antheil an dem Conclave von 1799, der Erhebung
Pius' VII., dann seine Verhandlungen als Staatssecretar in Paris
und den Abschluss des ersten Concordats vom Jahre 1801, durch
welches der Papst unter seinem Einfluss, wenigstens indirect, die
revolutionaren Principien anerkannt bat. Er schildert dann &
weiteren Differenzen , welche in Folge des Bestrebens Napolewn,
den Papst und den Kircbenstaat in politiscber Beziehung gam
von sich abhangig zu machen, zwischen ihm und dem romischeB
Stuble ausbrechen, die Occupation des Kirchenstaates 1808, dk
Verhaftung des Papstes , seine Fortfuhrung nach Frankreich, die
Berathungen des von Napoleon nach Paris berufenen National-
concils und die weiteren Verhandlungen mit dem Papste, wolcher
endlich, Anfang 1813, unter dem Druck der Umstande zmn
Abschluss des zweiten Concordats und damit zur Erfiillung der
Forderungen Napoleon's getrieben wird. Auch der „Blick auf
die Restauration" in Cap. 4 ist mehr ausgefiihrt als in der
alteren Arbeit, namentlich die Darstellung der politischen Thatig-
keit des jetzt wieder zum Staatssecretar ernannten Consalvi auf
seiner Reise nach Paris und London und auf dem "Wiener Con-
gress; auch die Schilderung der Personlichkeit sowohl des
Cardinals als auch des Papstes am Schluss dieses Capitels ent-
halt neue Momente. Dagegen ist, wie schon bemerkt, der ganze
folgende Theil, die Capitel 5 — 10, nur Wiederholung der alteren
Arbeit, auch die Beilage: jjErinnerunganromischeZustandeimM1,
1829" und der erste Anhang: „Ein Wort iiber die gegenwartigen
Irrungen im Kirchenstaate (1832)u waren schon ebenderseften
beigegeben, der 2. Anhang: „Auszuge aus italienischen Flug-
schriften" ist die Wiederholung einer urspriinglich selbstandijff
Abhandlung, welche in demselben ersten Bande der Historiak-
politischen Zeitschrift abgedruckt war.
Das bedeutendste Stuck dieser Sammlung ist ohne Zweifel
die zweite, neue Abhandlung: „ Savonarola und die florentinische
Republik gegen Ende des 15. Jahrhunderts". In derselben sind
nicht nur die zahlreichen in neuerer Zeit, namentlich durcn
Villari publicirten Documente verwerthet, sondern Ranke bat
auch-zwei bisher ungedruckte, gleichzeitige florentinische Chroniken,
die Geschichte des Bartolomeo Cerretani und das Tagebuch des
Pietro Parenti, zu benutzen Gelegenheit gehabt und aus diescn
manche neue Aufklarung gewonnen. Er schildert in den beiden
ersten Capiteln zuerst in kurzen Strichen das Emporkommen
des Hauses Medici und die Herrschaft Cosimo's und Lorenzo s,
dann aber, auf Grand gerade jener beiden Chroniken schon senr
aU8fiihiiich die kurze Regierung Piero's und die Staatsverandenmg
von 1494, den Sturz der mediceischen Herrschaft gerade durch
die bisherigen Genossen derselben, die friiher mit den Medici
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Banko, L. v., Historisch-biographischo Studien. 333
rerbundenen vornehmen Geschlechter, welche jetzt ein rein aristo-
kratisches Regiment zu begriinden suchen. Die 3 nachsten
Capitel handeln dann von den friiheren Schicksalen und der
Siunesweise Savonarola's und von den Anfangen seiner politischen
Wirksamkeit in Florenz. Savonarola's Opposition gegen das
Papstthum wurzelt in den conciliaren Ideen des 15. Jahrhunderts,
er halt fest an den Lehren der katholischen Kirche, aber er
erstrebt Besserung derselben im Gegensatz gegen das verderbte
Papstthum. Er wirkt machtig auf das Volk durch seine Predigten
und namentlich durch seine in voller Ueberzeugung von seiner
prophetischen Kraft ausgesprochenen Prophezeiungen. Durch den
Zug Carl's VIII. nach Italien scheinen dieselben sich zu erfullen,
Savonarola hofft von dem Konige auch die Durchfiihrung der
Reform der Kirche, zwar wird durch die Verstandigung desselben
mit dem Papste dieselbe in die Feme geriickt , aber dennoch
iiilt Savonarola an seinen Hoflhungen auf den franzosischen Konig
und daher an der Verbindung mit demselben fest. In Florenz
tritt er politisch wirksam zuerst bei der Staatsveranderung von
1494 auf, sein Verdienst ist es, dass es damals zu keinen blutigen
Feindseligkeiten kommt. Sein politisches Streben geht auf Be-
griindung einer wirklich freiheitlichen , demokratischen Staats-
ordnung im Gegensatz gegen das nach dem Sturz der Medici
eingerichtete aristokratische Regiment. Unter seinem Einfluss
wird im December 1494 eine neue Verfassung eingefiihrt: Ein-
setzung eines grossen Rathes, eine allgemeine, auch auf die
Anbanger der Medici ausgedehnte Amnestie, Einfiihrung der
Appellation von den Urtheilen des Gerichtshofes der Acht an den
grossen Rath, Abschaffung der Accoppiatoren und der Parlamente,
der Hauptmittel, welche die bisherige Parteiregierung angewandt
tat. Die nachsten 3 Capitel enthalten die Geschichte der Jahre
1495—1497 , in welchen es der popularen Partei , an ihrer
Spitze der mit Savonarola eng verbundene Francesco Valori , ge-
ligt, die Herrschaft in Florenz zu behaupten, in welchen zu-
glcaeh der vollstandige Bruch zwischen Savonarola und dem
Papst erfolgt. Alexander VI. excommunicirt Savonarola als un-
gelorsam und der Ketzerei verdachtig, Savonarola erklart die
^communication fur ungerecht und nichtig und sich fur befugt,
mit Hiilfe der weltlichen Gewalt derselben zu widerstehen. Die
3 letzten Capitel behandeln Savonarola's Ende. Sein Sturz wird
wesentlich durch politische Verhaltnisse hervorgebracht. 1498
bietet sowohl Carl VIII., welcher einen neuen Zug nach Italien
beabsichtigt, als auch der Papst und die mit diesem verbundenen
Machte Florenz als Preis eines Biindnisses die Wiedergewinnung
Yon Pisa an, die Verbindung mit dem Papst erscheint als die
vortheilhaftere , aber derselbe verlangt als Bedingung die Aus-
Ueferung Savonarola's. In Florenz selbst erhebt sich die oligarchische
Partei , namentlich die mit dem ascetischen Treiben Savonarola's
unzufriedene Jugend, sie gewinnt in der Signorie das Ueberge-
wicbt, allein eine grosse im Marz 1498 berufene Pratica be-
Digitized by VjOOQ IC
334 Ranko, L. v., Historisch-biographischo Studien.
schliesst nur, Savonarola das weitere Predigen zu verbieten,
dagegen wird soine vom Papst geforderte Auslieferung verworfen.
Savonarola selbst fiigt sich anfangs dem Verbote, aber seine
Anhanger, die Dominikaner, predigen beftiger denn je und pro-
vociren ein Gottesgericht , die Feuerprobe, gegen die fiir den
Papst eifernden Franziskaner. Dasselbe wird aber nicbt aug-
gefiihrt, da Savonarola's Freund, Dom. da Pescia verlangt, mii
der Hostie in der Hand durch das Feuer zu gehen, die Franzis-
kaner aber dieses nicht gestatten wollen. Die Folge davon kt
grosse Yerstimmung unter der Masse gegen die Dominikaner.
Als dann Savonarola am nachsten Tage doch wieder predigt
kommt es zu einem grossen Tumult, Yolksmassen Ziehen gegen
sein Kloster und gegen das Haus Valori's, letzterer wird er-
mordet, Savonarola, auch bedroht, folgt der Aufforderung der
Signorie und geht nacb dem Palaste. Er wird gefangen gesetzt
eine von der Signorie berufene Pratica beschliesst dann , iha
nicht nach Rom auszultefern, aber in Florenz selbst die peinliche
Untersuchung gegen ihn anzustellen, auch der Papst willigt em
und schickt seine Commissare nach Florenz. Unter den Qualen
der Tortur wird Savonarola nachgiebig , er bekennt, durch faJsche
Weissagungen das Volk hintergangen zu haben, und so erfolgt
seine Verurtheilung wegen Ketzerei, Veranlassung von Zwietracht
in der Stadt, von grossen Geldausgaben und Vergiessen von
Biirgerblut, und endlich seine Hinrichtung. Von den zwei
Beilagen zu dieser Abhandlung enthalt die erste Ausziige aus
jenen Chroniken von Cerretani und Parenti , aus der letzteren
hat der Verf. auch schon vorher in den Anmerkungen zahlreiche
Stellen abdrucken lassen. Die zweite ist eine kritisohe Unter-
suchung iiber die beiden Lebensbeschreibungen Savonarola's \on
Pico und von Burlamacchi. Banke zeigt, dass die letztere nicht
von jenem Schriftsteller selbst herriihren kann, da sie erst nach 1523
geschrieben ist, dass in ihr jene andere Biographie von Ffe
schon benutzt erscheint, aber mit zahlreichen Aenderungen ittA
Zusatzen im Sinne des entsohiedenen Monchthums, die zom
Theil ganz fabulos sind. Die 1530 wahrend der Belagerang
von Florenz geschriebene Biographie Savonarola's von dem
Fiirsten Pico von Mirandola, einem eifrigen Anhanger desselbeB,
ist in der Hauptsache durchaus glaubwiirdig, aber auch in ihr
wird an dem Prophetenthum und den Wundern Savonarola's
festgehalten.
Der dritte, ebenfalls neue Aufeatz: „Filippo Strozzi und
Cosimo Medici, der erste Grossherzog von Toscana" schhesst
sich auch dem Inhalt nach eng an den vorhergehenden
an. Der Verf. schildert in demselben das Wirken und die
Schicksale des letzten Vorfechters der republikanischen Freiheit
und des gliicklichen Gegners desselben, des Begriinders der
mediceischen Furstengewalt. Auch # hier hat Ranke neben dem
bisher bekannten Quellenmaterial eine Anzahl ungedruckter
Documente aus dem florentinischen Archiv benutzt, welche aoch
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Ranke, L. v.; Hifltorisch-biographische Studien. 335
?. Reumont noch nicht gekannt hat. In der Hauptsaehe stimmt
seine Darstellung mit der dieses Gelehrten, welche wir Gelegen-
beifc gehabt haben in diesen Blattern ausfuhrlicher wiederzu-
geben (s. oben S. 132 ff.) , iiberein, die Schwankungen in dem
polilischen Verhalten Strozzi's erklart Ranke dadurch, dass der-
selbe die aristokratische Republik im Gegensatz ebensowohl gegen
eine gewaltsame Fiirstenmacht, wie gegen eine unheilvolle Demo-
kratie zu vertheidigen gesucht habe. Zuletzt allerdings tritt Strozzi,
nm die Herrschaft Cosimo Medicos zu stiirzen, in Verbindung
auch mit den demokratischen florentiner Ausgewanderton, durch
die Hitzkopfe ^unter seinen Genossen , namentlich seinen Sohn
Pieio, wird er gegen seinen Willen zu dem gewaltsamen Unter-
whm gegen Florenz im Jahre 1537 fortgerissen , welches zu
der Kaiastrophe von Montemurlo fiihrt. In einer langeren Note
am Schluss untersucht Ranke die yersohiedenen Nachrichten iiber
den Tod Strozzi's, er weist nach, dass der Bericht Adriani's,
welcher durch die Angaben Lorenzo Strozzi's, des Bruders
Filippo's, in der Biographie desselben, und durch die des floren-
tinischen Gesandtenam kaiserlichen Hof, Bandini, bestatigt wird,
der glaubhafbe ist, dass Strozzi, nachdem der Kaiser seine
Aaslieferung an Cosimo Medici zugegeben, derselben durch
Selbstmord zuvorgekommen ist. In der Darstellung der Regierung
Cosimo Medici's behandelt Ranke die auswartige Politik des-
selben recht ausfuhrlich, er zeigt, dass derselbe seine Haupter-
folge theils seinen Geldmitteln, theils dem geschickten Laviren
zwischen den beiden Grossmachten , Spanien und Frankreich, zu
ferdanken gehabt hat. Bei dem Ausbruch des Krieges im Jahre
1552 nahert er sich Frankreich und bewirkt durch diese drohende
Haltung, am spanischen Hofe selbst unterstiitzt durch die ihm
rasehwagerte machtige Familie der Toledos, dass Carl V. ihm
Rombino iiberlasst, ebenso droht er 1557 Philipp II. sich
Frankreich anzuschliessen, und bewirkt dadurch, dass der Konig
foa den lange ersehnten Besitz von Siena zugesteht. Die Thatig-
kdt Cosimo's im Inneren seines Staates wird nur kurz berfihrt,
interessant und neu sind hier die Angaben iiber das Bestreben
des Fursten , eine Seemacht zu griinden , iiber das Heranziehen
MslaBdischer Seeleute, ferner iiber seine eigene Handelsthatigkeit
Der letzte Aufsatz iiber Don Carlos besteht aus 2 ver-
schiedenen Theilen. Der erste, eine kritische Abhandlung, ent-
talt eine „Analyse bisheriger Erzahlungen" und eine „Erorterung
der wichtigsten Streitfragen", er ist schon 1829 in den Wiener
Jahrbuchern der Litteratur erschienen und ist hier (wir mussen
sagen, leider!) ganz unverandert wiederholt Wie interessant
*£re es, wenn Ranke jene Analyse bisheriger Erzahlungen,
velche bei ihm mit Llorente schliesst, auch auf die zahlreiehen,
j» den inzwischen verflossenen 50 Jahren erschienenen Arbeiten
iiber diesen Gegenstand ausgedehnt, und wenn er ebendiose
aeueren Darstellungen und vor Allem auch das inzwischen reich-
lich zu Tage geforderte neue Quellenmaterial auch bei der
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p
**> iPny -
336 Haan, L. A. et Zsilinszky, M., Mori, diplom. Comit. Bokesionsia.
Erorterung der Streitfragen benutzt hatte. Dafiir hat er nun
freilich , veranlasst durch erne ihn dazu auffordemde Bemerkung
Gachard's, als zweiten Theil erne zusammenfassende Darstellung
der Geschichte des Don Carlos hinzugefiigt und fur diese audi die
neueren Materialien und Bearbeitungen, namentlich die Gachard's,
Verwerthet. Es werden hier auch die Jugendschicksale des Prinzen
und die Anfange seiner Verstimmung und Abneigung gegen den
Yater beleuchtet, spater in den entscheidenden Hauptpunkten
aber ist doch die Auffassung des Yerf. meist dieselbe wie fruber
geblieben. Der Conflict zwischen Yater und Sohn kommt bei
Gelegenheit der Erhebung in den Niederlanden zum Ausbrwk
Der Prinz ist gegen ein gewaltsames Vorgehen daselbst, er hoft
dort Gelegenheit zu finden, seinen Thatendurst zu befriedigen,
die Yerzogerung und dann das Aufgeben der Reise, welche Konig
Philipp angekiindigt hatte mit ihm zusammen dorthin unternehmen
zu wollen, auf der auch die von dem Prinzen gewiinschte Ver-
mahlung mit der osterreichischen Prinzessin vollzogen warden
sollte, bringt Carlos zur Verzweiflung, er will fliehen, nach dea
Niederlanden gehen, seine Plane sind in der That fur Philipp
gefahrlich, da in alien Provinzen Unzufiriedenheit herrscht In
der Beichte bekennt der Prinz sogar, seinem Yater nach dem
Leben zu trachten. Der Konig lasst ihn gefangen setzen, er-
klart ihn fiir unfahig zur Nachfolge in der Regierung. Carlos j
ist schliesslich nicht gewaltsam umgebracht worden , in seiner
Verzweiflung iiber den Verlust der Freiheit hat er sich durch
eine ganz unverniinftige Lebensweise den Tod zugezogen.
Berlin. F. Hirsch.
LXXVIII.
Haan, Lud. A. et Zsilinszky, Michael. Monumenta diplomatics
Comitatus Bekesiensis. Diplomata LXXXIV ab anno 1323 — 1719.
— Missiles XCIX ab anno 1583 — 1794 ex variis archivis coDft-
gerunt. Zweites Heft. gr. 8. (269 S.) Pest-Ofen 1877, F. Tettej
& Cie. 6 Mark.
oder mit ungarischem Titel:
Urkundenbuch des Bekeser Komitats mit zahlreichen auf die
innere Geschichte unseres Vaterlandcs sich beziehenden Daten
gesammelt und herausgegeben von Ludwig Haan und Michael
Zsilinszky, Mitgliedern des dirigirenden Ausschusses der ungari-
schen historischen Gesellschaft. Pest-Ofen 1877. Ferd.
Tettey & Comp.
Das hier genannte zweite Heft des von dem dirigirenden Aus-
schusse der ungarlandischen historischen Gesellschaft herausge-
gebenen Werkes enthalt ein fur die Geschichte Ungarns und Sieben-
biirgensnach verschiedenenRichtungen hin sehr werthvolles Quellen-
Material, wenn es auch fiir die Spezialgeschichte des Korosch-und
bberen Theissgebietes, die Komitate von Bekes, Grosswardein, Bihar
undZaranddienachsteBedeutunghat. Die beidou Veranstalter der
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Haan, L. A., et Zsilinszky, M., Mou. diplom. Comit. B£kesiensis. 337
Sammlung , die Herren L. Haan und M. Zsilinszky haben nicht
weniger als 15 Archive durchforscht, darunter in erster Linie
die geheimen Archive der konigl. ungarland. Hofkammer in
Ofen und Wien und das fur ihre Zwecke besonders ergiebige
Privatarchiv der mit dem beriihmten Furstengeschlechte von
Bethlen naheverwandten Familie Justh von Neczpal, deren jetzt
lebender Spross, — dem das vorliegende Heft aus Dankbarkeit
gewidmet worden, — die Veroffentlichung desselben materiell
wesentlich gef ordert hat.
Das Granze gliedert sich in zwei Theile, von denen der
erste 85 Urkunden in lateinischer Sprache vom Jahre 1323 an
bis z. J. 1770 enthalt, die von den Konigen Karl Robert, Sig-
nrand, Ladislaus V., Mattliias Corvinus, Wladislaus II., sowie
von den Kaisern Ferdinand L, Maximilian II. und Rudolf II.,
endlich von dem Fiirsten von Siebenbiirgen Sigmund Rdkotzi
herriihren oder unter bischoflicher Oberhoheit auf Familienbesitz
oder sonstige lokale Verhaltnisse der oben genannten Komitate
Bezug haben, — der andere Theil aber 99 Dokumente in
magyarischer Sprache in sich schliesst, welche sich vornehmlich
auf den Briefwechsel der Fiirsten von Siebenbiirgen, resp. Konige
von Dngarn mit der h. Pforte beziehen und wenn auch lokale
Verhaltnisse betreffend, so doch von mehr allgemeinem und be-
sonders kulturhistorischem Interesse sind. Eine Partie derselben
ist den „ActaPublica Transsylvaniae ab Anno 1583 usque ad
A. 1594" in dem Archive der Hofkammer zu Ofen, eine andere
der im Auftrage der historischen Kommission der ungarl. Aka-
demie der AVissenschaf ten durch Aron Szilady und Alex. Szilagyi
(Heft I — VII) veroffentlichten Sammlung von Urkunden, eine
dritte endlich den tiirkischen Dokumenten entnommen, welche
Johann Repiczky im J. 1852 auf Kosten des magyarischen
Nationalrauseums ins Magyarische iibersetzt hat.
Beide Unternehmungen schliessen sich an die in demselben
Verlage v. Ferd. Tettey & Oomp. in Pest -Ofen erschienenen
Momunenta comitialia regni Hungariae I. u. II. Bd. von den
Jalren 1874 u. 75 des Dr. Wiihelm Fraknoi, und die Monumenta
regni Transsylvaniae I. u. II. Bd. v. J. 1875 u. 76 des oben
erwahnten Alex, Szilagyi an. Wahrend aber diese beiden Samm-
lungen einen ganz allgemeinen Charakter haben und sich zur
Aufgabe stellen, stimmtliche Beschlusse, welche die ungarlandischen
Stande auf ihren Theil- und Gesammtlandtagen , dann die kroa-
tischen und siavonischen , endlich die siebenbiirgischen auf den
itrigen gefasst haben, als auch alle jene Akten zu sammeln,
welche mit jenen Landtagen in irgend einem Zusammejihange
stehen, — beschranken sich die hier angezogenen Sammlungen
von L. Haan und M. Zsilinszky auf den viel engeren Kreis des
Korosch- und obern Theissgebiets , ganz speziell den Bekeser
Komitat, selbst da, wo die angefiihrten Briefe aus Exonstadt
oder Klausenburg, aus Broos oder Karlsburg datiren oder an
die Konigin von England gerichtet sind. Indem sie aber die
MitthoiluBgcn a. d. histor. LHteratur. VI. 22
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338 Von der Briiggen, E., Polena Aufloanng.
eigentliclien diploraatischen und die jeweilige Verfassung und Ver-
waltung des Landes uiid seiner eiiizelnen Theile betreffenden
Dokumente nach anderer, zumal kulturhistorischer Seite vielfach
erlautern und erganzen, liefern sie in den von so trefflichem
Erfolge gekronten Bestrebungen der beiden Verfasser zugleich
den Beweis, wie unendlich viel des Verdienstes noch iibrig ist,
das gewiss allerwarts noch reicklich verborgene Material zo
8ammeln, kritisch zu sichten und zu ordnen, endlich, wenn aaci
nicht wie bier durch die riihmlicbe Privat - Munifizenz eina
patriotischen Magnaten, so doch mit Hlilfe der von Staats w^a
reich dotirten ungarischen Akademie der Wissenschaften zum-
offentlichen, dabei aber, — im bestverstandenen Interesse da
Landes und seiner Geschichte, hauptsachlich aber in dem der
europaischen Wissenschaft — nicht zu vergessen, die in magyari-
scher Sprache abgefassten Dokumente durch Zugabe einer
lateinischen TJebersetzung zuganglicher machen zu woUen.
Berlin. Zekeli.
LXXIX.
Von der Bruggen, Ernst, Polens Auflosung. KulturgeschicM
liche Skizzen aus den letzten Jahrzehnten der polnischin
Selbststandigkeit. gr. 8. (IV, 417 S.) Leipzig 1878, Veil
& Cie. 6 M.
Br. bezweckt mit den hier in Buchesform gesaramelten,
friiher z. Th. als einzelne Aufsatze publicirten Skizzen „den
Zersetzungsprocess innerhalb der gesellschaftlichen Zustande Polens
darzustellen, wie ihn die staatliche Theilung vorfandu. Dnrch
personliche Bekanntschaft mit Land und Leuten vertrant vsii
an der Hand einer reichhaltigen Litteratur, bcsonders von thefl-
weise noch ungedruckten Memoiren und Correspondenzen aus der
zweiten Halfte des XVIII. Jahrhunderts, gelingt ihm dies vt
kommen. Das Buch enthalt folgende 17 Abschnitte : I. B*
leitung, ein Leitfaden der politischen und socialen Gescliichte
des Polenthums vom XV.— XVIII. Jahrh. II. Landschaft
Bevolkerung, Bauer. III. Stadtewesen. IV. Finanzen, Heer.
Justiz, Kirche. V. (xeistlichkeit, Monchswesen, Schule. VI. We
Schlachta. VII.— X. Die Magnaten: Karl Kadziwill, Anton
Tiesenhausen und P. A. Branicki, Felix Potocki, Adam Czar-
toryski. XI. Warschau wiihrend des langen Reichstages.
XII. Stanislaw August Poniatowski. XIII. Der Konig und das
junge Polen. XIV. Die warschauer Gesellschaft. XV. M*
er8te Theilung. XVI. Die Constitution vom 3. Mai 1791-
XVII. Schlussbetrachtung, enthaltend eine Uebersicht der politi-
schen Entwicklung des Polenthums von der 3. Theilung bis zum
Erliegen des letzten Aufstands von 1863.
Wie diese Aufziihlung ergibt, ist die Historic mehr nur der
verkniipfende Faden, das Hauptgewicht fallt auf die sociale Ge-
staltung des alten Polen, die Wechselwirkung zwischen polniscliem
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Von der Briiggen, E., Polens Aufl5smig. 339
Charakter und polnischer Geschichte, die dem Verf. zu selb-
standigen Betrachtungen, Urteilen und Folgerungen Anlass gibt.
Die polnische Geschichte ist seit dem XV. Jahrh. identisch mit
der Geschichte des polnischen Adels. Derselbe, in der neueren
Zeit Tom XV. — XVIII. Jahrh. allein rait politischen Rechten
ausgestattet, macht in den Zeiten seiner Bliite den zwolften bis
dreizehnten Theil des Ganzen, nahezu eine Million aus, Nicht
iwm war Biirger und Bauer rechtlos. Diese Entwicklung be-
ginnt mit dem Auftreten der Jagellonischen Dynastie. Der nach
Aussen hin gewaltige Jagello muss sich im Innern schon den
Tereinigten polnischen Magnaten und litthauischen Bojaren fiigen.
Mit der Schlacht von Tannenberg, dem Triumph physischer
Kraft rad ungeziigelter Kampfeslust iiber Ordnung und Dis-
ciplin, ?erschwinden die Burger von den Reichstagen, werden
diese selbst , auf denen jetzt der Adel ausschliesslich herrscht,
znstetig wiederkehrenden. Mit ihrer Berufungund Leitung hat der
&>nig, der als „dritter Stand" neben Senatoren und Reichs-
boten tritt, nichts mehr zu thun. Die polnische Freiheit,
vie sie die Schlachta versteht, beginnt mit der Entrechtung
<fe Burgers und Bauem (seit Ende des XVI. Jahrh. Leibeigen-
fclaft der Bauern in ihrer hartesten Form) , urn mit dem anarchi-
stischen Regiment der Wenigen zu enden, die sich durch erb-
iichen Reichtum , Gewandtheit und Ehrgeiz iiber die Masse der
«Briideru erheben. Denn die ganze Million Adliger bildet eine
4fruderschaftu, die nicht den Staat leitet, sondern selbst die
Nation reprasentirt, selbst an der Regierung in den Landtagen,
hnn darch ihre Vertretung auf den Reichstagen Theil hat.
khon im XV. Jahrh. entwickelt sich die Macht des Adels fast
tos m den letzten Consequenzen ; das Symbol seines fruheren
Pastes, Schwert und Sporn, wird zu dem seines Herrenrechts,
ft* wird frei von alien Lasten, dagegen allein berechtigt zu alien
Genfissen, die die Staatsleitung , der Staatsgrundbesitz , die
J^enpfrunden gewahren konnen. Nur Adlige treten in den
™at, eine Art Staatsrath aus fruheren und jeweiligen hochsten
J^ffliten, zur Vorbereitung der Geschafte fiir die Reichstage,
•kfamg der Administration und Kontrole des Konigs. Jagellos
kesetz von 1430: Neminem captivabimus nisi de jure victum,
^U beim Zustand der polnischen Justiz jeden Adligen, abge-
sehen von besonders schweren Capitalverbrechen , straffrei. Ein
Nres Gesetz von 1496 , das dem Burger verbietet , ausserhalb
des Weichbildes Grundbesitz zu erwerben, macht den Schlachtizen
^ eigentlichen Sinne zum Herrn oder (bei Domanen) Nutzniesser
P ganzen polnischen Landes, damals noch iiber 21,000 Q Meilen.
We Erklarung Polens zum Wahlkonigreich, 1573, war ein folge-
ffchter Schritt auf diesem Wege, dem zwei Jahrhunderte spater
e^ andrer folgte , der den Konig weit unter den Prasidenten
^er Republik stellte. 1775 verlor er als letztes von alien das
J*echt der Aemterbesetzung ; damit wurde der Reichstag souveran,
w* Konig beschrankter Ausfiihrer seiner Beschliisse. Urn der
22*
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340 V°n der Briiggen, E., Polens AuflSsung.
„Nation" die Fiille der Staatsgewalt zu wahren, waren gewiss*
Vorkehrungen nothig, die die Reichsboten auf den alle 2 Jalire
wiederkehrenden Reichstagen zwangen, nur in der ihnen forge-
schriebenen Weise vorzugehen. Bei ihrer Wahl auf den Land-
tagen erhalten sie auf besonderen Instructionslandtagen ihns
Cahiers, von denen sie nicht abgehen diirfen. Zur KontrA
dariiber dienen die nach Schluss des Reichstags zusamma-
tretenden Relationslandtage , auf denen die Reichsboten Beridit
erstatten, die ihnen gemachten Vorwiirfe zu entkraften kiea.
Auf den Landtagen wiederum herrschen die einzelnen Pann*
beschrankt. Das liberum veto (zuerst 1652) wird in derlW
des Landboten nutzlos, da er dem allmiichtigen Pan, der genk
die politische Leitung seiner Landschaft hat, nicht widersprada
kann. Thut dies eine ganze Partei unter Leitung eines Biraki,
so entscheidet fast stets die Gewalt; kaum war ein Landtag
ohne Kampf und Blut denkbar. Erst 1764 weicht das libeo
veto dem Majoritatsvotum auf den Landtagen ; doch nach «
vor entscheidet hier die Gewalt. Der Reichstag wird von ta
170 Landboten, etwa 140 Senatoren und dem Konig gebiliA
Er steht unter der Leitung eines Reichstagsmarschalk Seat
Sitzungen sind ofFentlich ; die adlige „Nation" hat als Ga&
„Arbitria, Herren und Damen, Zutritt und wird bei gewichtiga
Fragen durch ihr Eingreifen eben so ehifiussreich wie das rsot
verane Volk" auf den Tribiinen des franzosischen Convert
1791 — 94. Alle zu erledigenden Gegenstiiiide werden zum Schlas
in einer „Constitution" zusammengefasst. Wird nur eiiierdufli
Anwendung des Liberum veto unerledigt gelassen , so wird <fe
Constitution unmoglich, die ganze Arbeit fruchtlos. — Die Finm-
kontrole des Reichstags wird illusorisch durch die G^wandtliat
des Finanzministers, seinen Bericht bis auf den sptitesten Tenais
hinauszuschieben, dem dann meist die gewaltsame AuflW
vorangeht, So kommt es wahrend dreier Jahrhunderte kfl»/
zur Rechenschaftsleguiig iiber die Staatsfinanzen , derenA»
beutung als natiirliches Recht des jeweiligen Knanzniin^
gilt. — Die unumschrankte Freiheit flihrt als Gegenmittd a
den „Confoderationen" , Adeisaufgeboten der Landschaften, ^
denen mit Hintansetzung des liberum veto nach Majoritiiten ute <
die dringlichsten Angelegenheiten gestimmt wurde. Aus to
Majoritat der Landschafts-Confoderationen bildet sich die BeicI*
Confederation zu ahnlichen Zwecken unter Leitung der dem Konf
oder der bestehenden Regierung feindlich gesinnten Pane. W^
ringt mit dem Konige, event, mit den Waffen in der Hand, »
die Gewalt. Siegt sie , so schliesst der Senat sich ihr an u»
beruft einen „Confoderirten Reichstag" zur Erledigung des ^
stimmten Reform-Programms und ohne liberum veto. Zuerst ba^
dies System auf den Wahlreichstagen des XVI. Jahrb. Eing^
gefunden, da das Liberum veto eine jede Wahl uniuoglicb p:
macht hatte. Spater wurde jeder Reichstag, der ernstlick
Reformen durchfiihren sollte, dazu umgestaltet. Die Kirclits.
■
Von der Briiggcii, E., Polons Auflosung. 341
die ihren Einfluss seit dem Anfang des XV. Jahrh. durch Ver-
weltlichung und Pfrundenwirtschaft verloren hatte, gewinnt ihn
erst in der Bliitezeit der Gegenreformation, Ende XVt. Jahrh.,
wieder. Seit dieser Zeit beherrschen die Vertreter derselben, die
Jesoiten, unter Voranschiebung der Schlachta, das ganze Land.
Da ihr Einfluss der einzige geistige in Polen ist, die Erziehtmg
fast ansschliesslich in ihrer Hand liegt, so thut die adlige Nation,
scbembar geleitet von ihren 30 — 40 grossen Panen, doch meist
dot das, wozu diese letzteren von den Jesuiten ira Interesse der
Kirche und ihres Ordens bestinunt werden. Ueberall also vom
Obereten bis zum Untersten herrschen fast ausschliesslich gesell-
schaftfiche Interessen vor, die das offentliche, das Staats-Interesse
bis zur Unkenntlichkeit iiberwuchern. „Das Jesuitenthum auf
der einen, die adlige Freiheit auf der andern Seite haben Polen
gitidkl Nirgend war jemals ein Volk so wenig geeignet,
repablikanische Freiheit zu ertragen, und nirgend ist sie so sehr
nrisshraucht worden. Die lange Leidensgeschichte der polnischen
Kepublik weist einen so erschreckenden Mangel aller politischen
Migkeiten auf, wie er sonst nur bei den rohesten Volkern ge-
fonden wird. Nur straffe monarchische Gewalt vermochte und
rermag die naturlichen Anlagen des Slawen in einer wohlthatigen
fiichtung zu erhalten und vielleicht allmahlich in ihm die Grund-
% 8taatlichen Wesens zu entwickein". (S. 38.)
Steigt man in der Betrachtung der einzelnen Stande von
unten aufwarts, so entrollt sich bei der des Bauernstands ein
U3d ror unsern Augen , wie es , abgesehen von dem Siidosten
^sKontinents, vielleicht nicht wieder in ganz Europa vorkommen
oochte. Obgleich das Land noch 1660 ttber 21,000 QMeilen
^ ca. 14 Millionen Einw. umfasste , wovon die kleinere sttd-
<«tliehe Halfte, Roth Russland, Volhynien, Podolien, die Ukraine,
zu den fruchtbarsten Gegenden Europas gehorte, so ging die
ferliche Kultur bis zu den Zeiten Stanilaw August Ponia-
tevrski's doch dermassen abwiirts, dass sie vollig zu erstarren
drohte. Endlose Walder bedecken, nach der Schilderung zeit-
g^nossischer Reisenden, um 1770 das Land. Die wenigen Dorfer
Itsteheu aus einer Zahl baufiilliger Lehmhiitten, die nur einen
flaunt enthalten, der Bauer erhebt sich nur wenig iiber die Stufe
^s Thieres. Furcht und Aberglauben scheinen die einzigen
Motive, die ihn bewegen. Ein wenig besser wird es seit dieser
Zeit Einsichtige und woldwollende Magnaten beginnen ihre
Baueru freizugeben, doch bleibt auch dies ohne viel Erfolg,
& es an den notwendigsten Mitteln zur Besserung der Wirt-
^haft, an jeder geistigen und sittlichen Vorbildung fehlte und
^ir wenige der Herren die Energie besassen, selbst zur Abhilfe
dieser Gebrechen Hand mit anzulegen.
Wenig erfreulicher wirkt der Anblick der Stadte. Eine
Zahlung ergibt zu Anfang des XIII. Jahrh. eine Anzahl von
^Wgen hundert; im XVIII. ist sie vielleicht um ein weniges
gewachsen. Da der Slawe keine Aniage zum Burger hat, so
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342 v°a der Brfiggen, EM Polens AuflosuDg.
war ein grosser Theil der urspriingliclien Stadte von deutechen
Handwerkern and Kaufleuten begrundet, die unter ihrem
Schultheissen und Vogt nach eignem Recht , mit eigner Ver-
waltung lebten. Mit der Entrechtung des Biirgerthums seitdem
XV. Jahrh. raumt der Deutsche den Platz; seine Stelle wird
von Solchen eingenommen, die die Verfolgung ihres Interest
holier anscblagen als die politische Freiheit, fremde Abenteurer,
die nur so lange hier weilen, bis sie etwas Vermogen geschaffi,
vor andern der jiidische Handelsmann , der aus dem osUicfcu
Theil Deutschlands einwandernd, hier festen Fuss fasst, iff
sich in die polnische Art wol zu schicken weiss, und als nskr-
thaniger Begleiter des Schlachtizen doch stets seinen Vorfta
wahrzunehmen versteht. Dennoch ein wenig geeignetes Elemei
die verfallenden Stadte wieder zu heben, da er sich dem Geverk
nur soweit zuwendet, als das unerlassliche Bediirfniss es erforderi
— Die Verderblichkeit des polnischen Systems macht sich ai
meisten in der Physiognomic der Provinzialhauptstadte, Lembeif,
Warschau, Wilna, Grodno etc., bemerklich. Sie behalten ita
alten Umfang; doch drei Viertel der Stadt liegen verodet, la
Rest ist in Armut, Unfreiheit und Unwissenheit versunken. Kur
in der Zeit der Landtagsversammlungen beleben sich die 6d«t
Strassen und Palaste , sieht man Gegenstande des Luxus und
Reichtums in ihnen erscheinen. Bei dieser Lage, dem Mangd
eigner Industrie, dem Darniederliegen bauerlicher Kultur ist «
nicht befremdlich, wenn um 1777 der Import an Manu&cta
50 Mill. Gulden desJahres betragt bei einem Export von ca. 25 Mil
in Rohproducten, wahrend das Land bei einigermassen soigsamer
Bewirthschaftung leicht das Vierfache exportiren konnte. Und mit
der abnehmenden Bevolkerung der Stadte nahmen auch Handel und
Gewerbe noch ab, so class bei langerem Vegetiren derart das ge-
sammte stadtische Leben, mit Ausnahme der Hauptstiidte, tf
erstarren drohte.
Die Folge dieses innern Absterbens der Lebensnervea fe
Staats war das Versiegen der Einkommensquellen. Vier J4K
nach der Wahl Stan. Augusts, 1768, betrug das EinkomflM
aus den koniglichen Gutern 1% Mill. Gulden (= 32/3 Mill. Mart!
die Ausgaben fiir Hofhalt und Verwaltung ll3/4 Mill.? das ge-
sammte Einkommen 13 Millionen, d. h. die druckendsten directs
und indirecten Steuern, die freilich nur Burger und Bauer trafa
bringen etwa bxjt Mill. Gulden ein. Die steigenden Bediirfni^
des Hofs und des reconstruirten Heers treiben die Ausgabei
auf iiber 20 Millionen bei einer Einnahme von 18 — 19 Mill, i*j
J. 1780. Dennoch wurden Staatsschulden nur wenig gemacht^
da Niemand diesem Staat etwas leiht. Das druckendc DeW
wird so gut es geht durch Erhohung der Steuern unci patriotism
Gaben der Magnaten wie des Konigs gedeckt.
Das Heer, das die Eifersucht der Magnaten stets aufdtf
niedrigst moglichen Hohe erhielt — selten iiberstieg es 8 *f
10,000 M., wenngleich das Zwei- oder Dreifeche auf dem Papier
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Von der Bruggen, E., Polons AufloBung. 343
stand, und das Aufgebot der Schlachta noch Ende des 17. Jahrh.
iiber 100,000 M. betrug — , repriisentirte eine Volkswehr und
bildete mit seinen Begimentern aus bisweilen nur 100 — 200 M.
ein getreues Abbild der ubrigen Staats - Institute. Die oberen
Officierstellen eintragliche Sinecuren, die Mehrzahl der Gemeinen
bei der Cavallerie, der Lieblingstruppe, Sclilachtizen, die nie ihre
Bruderschaft mit den Befehlshabern vergessen, an der Spitze der
Kron-Hetmann und der Feld-Hetmann von Litthauen, die ihre
Maclit zu eignem Vortbeil ausnutzten — so stand das polnische
„Heeru da , eine Menge nutzloser Esser, ohne jede Kenntniss und
Fahigkeit zur Vertbeidigung des Landes. „ Auf die Tauglichkeit
ward nicht geachtet. Vincenz Potocki, der nie Pulver gerochen,
kaufte das beste Regiment um 30,000 Dukaten. K. N. Sapieha
wurdc mit 15 Jabren General der litthauischen Artillerie, welche
ireflfch nur eine Gesammtstarke von 100 Mann hatte. Solcbe
Heerfiihrer wurden dann noch gelegentlich hoch pensionirt, wenn
m ihre Stellen verkauft hatten. P. Potocki z. B. kaufte etwa
am 1780 von Stempkowski die Stelle eines Begimentsfuhrers und
wurde dadurch sofort Generallieutenant St. selbst aber erhielt
als pensionirter Generallieutenant 56,000 Gld. oder 18,000 Mark.
Noch betriibender womoglich ist der Zustand der Bechtspflege.
Der Bauer steht ganz unter der Jurisdiction seines Herrn , der
Biirger unter der des Starosten und der Landgerichte. Der
Adlige wird meist nur mit Geld gestraft und die Urteilsfallung
selbst erfolgt nicht nach einem gewissen Landrecht — ein solches
«ostirt in unserem Sinne gar nicht, vielmehr bios eine Menge von
Herkommensrechten, die nur dem Eingeweihten bekannt und ver-
standlich sind — sondern nach der Grosse der den Anwalten
zur Bestechung der Bichter gezalilten Summen und nach der
Kraft der Fiiuste^ die oft ein unrechtes Urteii zu einem rechton,
on rechtes zu einem unrechten machen. Recht war in den
poluischen Gerichten meist das, was der Patron des Bechtsuchen-
den zu bestimmen Kraft und Einfluss hatte. Charakteristisch
istdabei, dass nicht nur unaufhorlich Processe, besonders in Erb-
jciafts- und Grundbesitzsachen vor den Gerichten in grosser
^M schwebten, sondern dass es geradezu zum guten Tone ge-
iorte, einen langwierigen, grossen Process zu fiihren. Ein solcher
nahrte Hunderte adliger Anwiilte, Schreiber und Bichter, schaflFte
den Processirenden eine Emotion und starkte den Einfluss der
Magnaten — so war Allen gedient.
Kirche und Schule, soviel von letzterer die Bede sein
bnnte, wurden von den Jesuiten beherrscht: Die ganze Aus-
bildung der hoheren Klassen d. h. des mittleren und hohen
Adels, da der niedere Schlachtiz meist nur die elementarste oder
gar keine Unterweisung erhielt, geschah nach dem bekannten
scholastisch - formalistischen Becept, das in der Aneignung eines
gewissen Memorirstoffs und der mittelalterlich verzerrten Methodik
^s Aristoteles die Summe aller Bildung sah. Fur die Ent-
^icklung des Charakters, innerer Selbstandigkeit war in der
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344 Von der Bruggen, E., Polcns Auflosung.
Jesuiten-Schule kein Raum. Dagegen wurde hier manch schlechte
Leidenschaft, Scheinheiligkeit, Verstellung, Arroganz, Grausam-
keit, reichlich genahrt. Besonders den Zoglingen aus vermogen-
den Hausern wurde hier friihzeitig gezeigt, wie derjenige, der
sich den Ordnungen der Kirche nnd ihrer Vertreter unterwerfe,
so leicht nichts im weltlichen Leben zu fiircliten babe. In
Polen sab die romische Kirche um 1600 ihr Ideal einer Theo-
kratie verwirklicht. Der Fiirst - Primas , Erzbischof von Gnesen,
erster Berather des Konigs ; jener selbst gleich den meisten seiner
Standesgenossen aus dem Adel, unter der wenig sichtbareu abertm
so tieferen Einwirkung der Jesuiten , die ihre Parole von Ban
her empfingen, und ihrer kosmopolitischen Stellung nach mekr
an die Interessen dec Kirche, als die des Volks dachten, unter
dem sie lebten. Nirgends machte sich zugleich das Unzureichende
ihrer Lehre und ihres Unterrichts starker bemerkbar als in diesem
Lande, wo kein rivalisirender Einfluss sie spornte und in Athem
hielt. Daher hat „Polen als einziges Land abendlandisch-romi-
scher Kultur jene Wiedergeburt, jene Renaissance, wie man es
technisch nennt, nie erlebt. Wenn sonst nichts in der Geschichte
Polens Denkwiirdiges fur uns weiterverzeichnetstande, dieses Eine
allein ware eines eifrigen und eindringendenStudiuins werth" (S. 103).
Wie ein so angeleiteter , so erzogener Stand das Land
lenken musste, ergibt sich von selbst. Beste Verwerthung ihrer
Geburtsstellung im personlichen Interesse , war die Losung der
adhgen Nation, der S c h 1 a c h t a. Die 10 oder 20,000 grosseren
Besitzer unter dieser Million kamen bei dem System des Libernm
Veto und der Bruderschaft nicht zur Geltung. Sie begmigtcn
sich , in ihrem Besitz ein allein an materiellem Genuss inches,
gastfreies Leben zu fiihren, um Politik und geistige Dingo
kiimmerten sie sich so wenig als moglich. Neben Gutmuthig*
keit und Gastlichkeit waren Eitelkeit, Genusssucht und Aberglauben
ihre hervorragenden Charakterziige. Von weit grosserer B«-
deutung war der niedere oder Sch oil en -Adel, der bei te
steten Theilbarkeit des Grundbesitzes, mit einem Minimal-Acker-
loose ausgestattet, oder ganz ohne Besitz , im Dienst des Staafc
des Hofs oder der Magnaten, doch in nichts seine politischen
Anspriiche gegen die des Ersten seines Stands herabsetzte.
Pferd und Schwert, einst Zeichen seiner Dienstpflicht, sind jwm4
bei dem zerlumptesten Schollenadligen zu finden als Symbol seiner
Herr8chaftsrechte. Er i'st der wahre Reprasentant des Polenthums,
mit all seiner Gutmiithigkeit und Freigebigkeit , doch auch der
Ziigellosigkeit in sitthcher, politischcr und materieller Beziehung,
die das Land der Anarchie, Verarmung und Roheit entgegen-
trieb, bis der machtige Nachbar nach dem politischen Gesetz der
Schwere die haltlos gewordene Selbstandigkeit mit seiner Wucht
erdriickte. An den machtigsten Pan einer jeden Landschaft
8chlies8t sich deren Schollenadel als Clientel, von seiner Gunst
zieht er, gegen die Aufopferung seiner politischen Personlich-
keit, alle seine materiellen Geniisse.
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Von der Braggen, E., Polens Auflosung. 345
Diese Magnaten selbst, an ihrer Spitze die alten Familien
der Sangusko und Radziwill, der Branicki und Potocki, der
Lnbomirski und Czartoryski und manche andere eben so guten
Hangs, gewahren doch keineswegs einen erfreulichen Anblick
in der Entwicklung, die sie wiihrend der zweiten Hiilfte des
18. Jahrhunderts nehmen. Nicht als ob es ihnen an Patriotis-
ms, natiirlichem Wohlwollen und Arbeitskraft gefehlt hatte, wol
aber an der iiberlegenen Einsicht in die Grundprincipien der
Politik, an Selbstentsagung zu Gunsten des Allgemeinen, an der
Kraft zur Unterdriickung personlicher Rivalitaten und Neigungen.
Nur auf der Union der bedeutendsten Magnatenfamilien unter-
einander und mit dem Konigtum hatte der Neubau begriindet
werden konnen. Da eine solche durch die Natur des polnischen
Charakters wie durch eine 400jiihrige Geschicbte unmoglich ge-
macht wurde, gewahren alle Bestrebungen der Magnaten den
findruck atomistischer Schwingungen und Bewegungen, die obne
Ziel und Mass sich gegenseitig hemmen, ja oft geradezu in
ihren Wirkungen aufheben. Um das J. 1780 machen sich drei
Terschiedene Richtungen bemerkbar, die der Russenfreunde, die
der Neuerer nach westeuropaischem Muster, und die der Ge-
massigten Nationalen ; letztere die schwachste und schiichternste.
Ware eine Rettung moglich gewesen, so hatte sie nur von Be-
strebungen ausgehen konnen, wie sie die Letzteren vertraten,
der langsamen Reform der bestehenden Einrichtungen von Oben
nach Unten , durch eine Umwandlung der verrotteten Staatsver-
fas8ung und Verwaltung zu der der socialen Verfassung
March. Daran , dass sie dies nicht erkannten , nicht im Stande
waren, die vereinte Kraft der Magnaten gegen die Anspriiche
der Schlachta zu Gunsten der Bauern ins Feld zu fiihren, daran
8cheiterten zuletzt die Nationalen, die auch in sich nicht einig
waren. Als ein letzter Versuch auf diesem Weg ist die An-
bahnung der Constitution vom 3. Mai 1791 zu betrachten, nach-
dem das immer drohende von Osten heraufziehende Gewitter —
8chon regierte Catharinas II. Gesandter als Leiter des Perma-
nenten Raths zu Warschau (seit 1775) — die Gemuther zur Ein-
fehr und Eintracht gesthnmt hatte. Diese Constitution, die das
Werk des langen Warschauer Reichstags (von 1788 — 92) ist,
konnte nur durch die Beseitigung des seit 30 Jahren vorwalten-
den russischen Einflusses durchgesetzt werden. Der Zeitpunkt war
gunstig gewahlt, da Catharina durch den Tiirkenkrieg fiir den
Augenblick ganz in Anspruch genommen war. Die nationalen
Reformer lehnen sich dabei an eine der andern Nachbarmachte,
Preussen, die ihnen in ihren Vertretern, erst Buchholz, dann
Lucchesini, endlich Goltz, wolwollend entgegenkommt. Im Sept.
1789 wird eine Deputation zur Entwerfung der Constitution ein-
gcsetzt, in der die Nationalen dieOberhand haben. Fundamen-
tale Reformen der Verwaltung und des Heerwesens , Herstellung
gleichmassiger Besteuerung und guter Polizei, Errichtung eines
stehenden Heeres von 40—50,000 M. beschiiftigen zur selben
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346 Von der Briiggon, E., Polens AoflosuBg.
Zeit den Reichstag. Die praktischen Reformen scheitern indess,
da ihnen die Vorbedingung, Selbstlosigkeit , sittlicher Ernst und
materielle Mittel fehlen. So z. B. waren fur das reorganisirte
Heer allein 48 Mill. Grid, nothig, wahrend das Gesammteio-
kommen 26 Mill betrug. Die theoretischen Berathungen
und Entwurfe der Constitutions-Deputation nehmen dagegen bessern
Portgang. Schon im Dez. 1789 konnten die von Kollontaj und
Ignatz Potocki ausgearbeiteten Grundziige im Reichstag zur Ver-
lesung kominen. Dies Projekt wurde angenommen, und da es
im Princip die Erblichkeit des Thrones innerhalb der jedeaa!
gewahlten Dynastie aussprach, so wurde, da der Konig ©■
vermahlt war , ein Wahlreichstag erforderlich. Die dadurch im
ganzen Lande erzeugte Aufregung wurde von den conservatifen
Magnaten, numerisch der Mehrzahl, zur heftigsten Agitation be-
nutzt, so dass ihre Anhanger sowol in den Wahllandtagen
wie in dem etwa 500 Reichsboten zahlenden Wahlreichstage bri
der entscheidenden Abstimmung iiber die Constitution die Ober-
hand gewinnen konnten. Doch die Reformer zeigten sich ge-
schickt und entschlossen. Auch vor einer Ueberrumplung, einem
„Staatsstreichu, schreckten sie nicht zuriick. Die Macht des
Dichters kam ihnen zu Hiilfe. Des Landboten Niemcewkz
Lustspiei „Die Heimkehr des Landboten" ziindete bei einem
Theil des noch unentschiedenen Adels, vor Allem der Masse der
Warschauer Bevolkerung; und die Entschiedenheit, mit der die
Reformfreunde auftraten, bestimmte endlich auch den Konig, sich
ihnen anzuschliessen. Nach mehreren vorbereitenden Reichstags-
kampfen, in denen die Reformer durchdrangen, wurde der 5. Mai
1791 als Termin fiir die Verlesung und Diskussion der Consti-
tution ins Auge gefasst, aber geheim gehalten, weil man hofiEte, dass
ein Theil der Ende April zum Osterfest heimgekehrten conser-
vativen Reichsboten dann noch nicht zuriickgekehrt sein wiirda
Die Verrathung dieses Geheimnisses zwang zur Beschleunigw?
der Ausftihrung. Der Termin wurde auf den 3. Mai festgeseta
und durch Fanatisirung der Bevolkerung zu Gunsten der Reform,
durch Umringung des Reichstagsgebaudes mit MiUtar wie direkte
Einwirkungaufdieeinzelnen MitgLieder der Erfolg vorbereitet. Der
Tag verlief programmmassig. Die unter Branicki und Anderer
Leitung stehende Opposition wurde zu Boden geschrieen. Die Con-
stitution ward vom Konige, trotz der anscheinend gegneriscbeD
Majoritat, als von der Vertretung der Nation fiir gut und not-
wendig erkannt, proklamirt; gleich darauf wurde in der St. Johannis-
kirche erst vom Konig, dann von einem Theil des Reichstags der
Eid auf das neue „Gesetz iiber die Regierunga abgelegt Der voll-
cndeten Thatsache beugte sich dann auch ein Theil der Opposition
Die neuo Verfassung ist ein Gemisch von monarcbischen,
aristokratischen und demokratischen Elementen, den damaligeu
Verhaltnissen der „Republik Polen" mit ihrem Wahlkonig ^
der Spitze entsprechend. Sie hat das Verdienst, einen ernst-
lichen Versuch zu bilden auf dem Wego zur Hebung des Burgers
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Hillebrand, K., Geschichto Frankreichs 1830—71. 347
und Bauers, zur gerechteren Vertheilung der Staatslasten , zur
Organisation einer selbstandigen Executive in Gestalt von Konig
und Staatsrath, zur Ordnung des reprasentativen Elements durch
Minderung der Land- und Reichstagswahlen , Aufhebung des
unsinnigen liberum veto und als Folge davon der Confoderationen.
Doch darauf beschrankt sich auch das Verdienst — denn zu
ihrer Durchfuhrung im Einzelnen fehlte nicbt mehr als Alles;
Einstimmigkeit des Adels tiber ihre Notwendigkeit , Selbstlosig-
keit und Kraft aller Volksklassen zur redlichen Arbeit auf diesem
Grande, vor Allem die Zustimmung der Nachbarmachte oder
ein starkes Heer zu ihrer gewaltsamen Behauptung gegen etwaige
Angriffe von Aussen. Auf den Jubel des 3. Mai 1791, den
Bausch des ersten Jahres der Freiheit folgte mit innerer Not-
wendigkeit eine Periode des Schreckens und der Ernuchterung,
die die Haltlosigkeit des „neuen Polen" unwiderleglich darthat.
Kaum zwei Jahre nach dem Beginn der neuen Aera bewies die
unter Catharinas Inspiration zusammentretende Confederation von
Targowicz, in der sich fast alle konservativen Elemente zu-
sammenfanden , wie diese letzteren gesonnen waren, das strenge
Verbot der Constitution vom 3. Mai gegen die Bildung von
Confoderationen zu achten. Die Ueberschwemmung des Landes
mit russischen Truppen , der Umsturz der Verfassung auf dem
Reichstag von Grodno (Sept. 1793), die Besetzung Warschaus
endeten den Freiheitstaumel , der sich im Aufstand von 1794
noch einmal erhob, urn in der edlen Gestalt Cosciuskos bei
Maciowiece fur immer niederzusinken. Ob fiir immer? ist die
Schlussfrage des Verf. Er beantwortet dieselbc dahin, dass
ein Blick auf die letzten funfzig Jahre beweise, dass das von
Pactionen so sehr als je zerrissene Land erst auf dem Gebiet
der Kultur sich den andern Nationen ebenbiirtig an die Seite
stellen miisste, ehe die Frage iiber seine politische Autonomic
auch nur diskutirbar werden konnte.
Berlin, Juni 1878. S. Isaac so hn.
LXXX.
Hillebrand, K., Geschichte Frankreichs 1830 — 71. Band I. gr. 8.
(XV, 737 S.) Gotha 1877, Fr. Andr. Perthes. 15 M.
Von der Geschichte Frankreichs wahrend der Jahre 1830 —
1871, welche in 5 Theilen erscheinen soil, enthalt der erste die
Zeit von 1830—1837, die „ Sturm- und Drangperiodc" des Juli-
Konigthums. Der Verf. leistet in ihm, was er in der Vorrede
verspricht: den innercn Zusammenhang der Thatsachen nachzu-
weisen und so richtiges Verstandniss und klaren Ueberblick der
Ereignisse und Zustande zu erleichtern, wobei im besonderen
eine psychologische Analyse der bedeutenderen Individualitilten
entworfen werden soil. — Das Werk beginnt mit dem Abzuge
Karis X., der als ein wiirdiger dargestellt wird ; vor allem aber
erhalten wir eine interessante Charakter-Schilderung Louis Philipps
^d seiner ersten Minister, des Herzogs von Broglie, des
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348 Hillebrand, K., Goschichto Frankreichs 1830—71.
Graf en Mole, Periers, Dupins des Aelteren, Lafittes u. 8. w.
Daran schliesst sich eine Darstellung der Verhaltnisse des-Heeres,
des Beamtenstandes und der Geistlichkeit, welche letztere den neuen
Zustanden gegeniiber sich feindselig verhielt und so verhasst war,
dass beispielsweise — als der Erzbischof von Paris eine Todtenfeier
zu Ehren des Herzogs von Berry abhielt — sein Palast geplundert
wurde. Ueberhaupt war die revolutionlire Bewegung, obgleich
sie es war, welcher das neue Konigthum sein Entstehen Yer-
dankte, in hohem Grade gefahrlich und urn so schwerer im
Zaume zu halten, als der beliebteste und machtigste Mann im
Staate , Lafayette , Befehlshaber aller Nationalgarden des Konig-
reichs, in seiner (vortrefflich charakterisirten) Haltungslosigkeit
und Popularitatshascherei ihr nicht entgegentrat, sondern in viel-
leichtwohlmeinender, jedenfalls aber durchaus unklarer und unpoli-
tischer Weise ihr sich zu fttgen bereit war. Der Kampf gegen diese
revolutionare Aufregung, der mit grosser Massigung und Geschick-
lichkeit gefuhrt werden musste, da ja die Juli - Revolution das
Vergebliche und Thorichte der gewaltsamen und unverstandigen
Reaction aufs evidenteste an den Tag gelegt hatte, und der
doch andererseits unumganglich nothig war, um zu geordneten
und dauernden Zustanden zu gelangen und um Frankreich vor
Wiederholung der Scenen der neunziger Jahre zu bewahren , ist
es, welcher die eine Seite der Darstellung ausfiillt In ihm
spielte der neue Konig nicht immer die beste Rolle, indem er
gar manchmal — um seine Popularitat besorgt — dem Augcn-
blick nachgebend anders handelte, als er gesollt hatte, oder
anders, als er dachte, der offentlichen Meinung zu Munde sich
iiusserte ; zuweilen auch trat schon damals hervor, dass er nicht
fur Frankreich vor allem zu sorgen bestrebt war, sondern fur
seine Familie. Die andere Seite der Darstellung bilden die
ausseren Verhaltnisse. Nach dem Sturz der Bourbons hatte
Kaiser Nikolaus die grosste Lust , sich in die franzosischen Ver-
haltnisse einzumischen, aber besonders Friedrich Wilhelm IIL
empfand dagegen die entschiedenste Abneigung; noch wichtiger
war, dass England, Russlands Uebermacht fiirchtend, stark zum
alten Gegner hinneigte, eine Politik, welcher durch den franzo-
sischen Gesandten in London, Talleyrand, auf alle Weise Vor-
schub geleistet wurde. Sowohl die inneren wie die ausseren
Verhaltnisse gewannen an Festigkeit durch das klare, thatkraftige
und doch gemassigte Auftreten Casimir Periers , der „vielleicht
nicht immer im Interesse des Konigs, aber stets in dem Frank-
reichs" handelte, und dessen eminente Bedeutung der Verf. in
hohem Grade zur Anschauung zu bringen weiss. Nach aussen
hin war die Haltung des neuen Konigthums besonders wichtig
in Bezug auf die belgische und in Bezug auf die polnische
Erhebung; letztere verhinderte die beabsichtigte Einmischung
Russlands in die erstere. Es ist nun Periers Verdienst, Frank-
reich vor der Intervention in Polen, die es nicht nur mit Russ-
land, sondern auch mit Oesterreich und Preussen in Krieg ver-
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Hillobrand, K., Cteschichto Frankreiche 1830—71. 349
wickelt haben wiirde, bewahrt zu haben, so sebr auch die offent-
liche Stimmung dahin driingte. Andererseits trat er dem Urn-
sichgreifen der Oesterreicher in Italien mit Energie entgegen,
namentlich durcb Besetzung Ankonas. Im Iuneren scheute er
sich nicht vor reactioniir aussebenden Massregeln: er loste den
zur Unter8tiitzung renitenter Beamten gebildeten National-Verein
auf, er verbot die Feier des Bastille-Sturms, er warf einen Auf-
stand in Lyon nieder. So hat er trotz seines bald erfolgenden
Todes vieles geleistet: er bat seinem Vaterlande Frieden und
Freiheit erhalten und ihm seine Stellung und seinen Einfluss in
Europa zuruck erobert
Demnachst wird uns das Unternehmen der Herzogin von
Berry geschildert, unterstiitzt durch Carl Albert von Sardinien,
Dom Miguel, gegen den bereits friiher eine franzosische Flotte in
Action getreten war, und Wilhelm von Holland, und unternoinmen
in Hoffhung auf einen demnachst ausbrechen sollenden Krieg am
fihein, vor alien -Dingen aber gefordert durch die Zustande im
Westen und Siiden Frankreichs, wo es keine Constitutionellen,
sondern nur Royalisten (d. h. Anhanger der Bourbons) und Republi-
kaner gab, sowie durch die Missgriffe der Regierung, welche mit
den Letzteren verbundet die Ersteren aufs harteste unterdriickte.
Wir verfolgen mit Interesse den ganzen Verlauf des Unternehmens
bis zu seinem klaglichen Schlusse und wundern uns iiber den
thorichten Unwillen, der dadurch hervorgerufen wurde, dass die
Regierung staatskluger Weise die Herzogin nicht vor Gericht stellte.
Weiter tritt uns die republikanische Partei und ihre Haupter
entgegen. Wir sehen, wie sie gefordert wird durch die zwar
constitutionell-koniglich, aber oppositional gesinnten Liberalen,
die uberall — zum Theil ihrer Principien wegen, zum Theil
aus Partei-Interesse — in unverstiindiger Weise die Massregeln
der Regierung bekampfen und lahmen ; ferner durch eine Presse,
von deren Ziigellosigkeit und Rohheit einige " kaum glaubliche
Proben beigebracht werden; endlich durch die Feigheit der
Geschworenen, die uberall auch die aufs schwerste Gravirten
freisprechen aus Furcht vor der Presse, welche die Verurtheilen-
den bei der offentlichen Meinung denuncirt und mit Spott und
Holin iiberschiittet und verfolgt. So entstehen allmahlich die
geheunen Gesellschaften , es erfolgen fortgesetzte Mordversuche
gegen den Konig unci melirfache Aufstande, wie der Juni-Auf-
stand (1832) bei'm Begriibniss des Generals Lamarque, ein aber-
maliger Aufstand in Lyon und ein eben solcher in Paris T1834) ;
Cavaignac als Fiihi-er der Partei und Jules Favre als Advokat der
apgeklagten Republikaner treten uns hier bereits entgegen. Auch
die politische Emigration, Polen und Italiiiner, unter Letzteren
Mazzini, fangt bereits an eine Rolle zu spielen, im besonderen
durch den erfolglosen Einfall nach Sardinien.
Es folgt das Ministerium Soult, in welchem wir bereits
Thiers und Guizot, die kurz aber treffhch charakterisirt werden,
erblicken. An dieses schhesst sich das Ministerium Broglie, aus
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350 Hillobrand, £., Oeachiehte Frankreichs 1830-71.
sogenannten Doctrinaren und Liberalen gemischt ; obgleich fried-
lich schreitet es doch im Bunde mit England gegen Holland
ein, welches das von seinen Truppen besetzte Antwerpen nicht
herausgeben will — wie bekannt, mit gutem Erfolge. Weniger
gliicklich sinddie Bestrebungen, die deutschen Kfeinstaaten gegen
die beiden Grossmachte aufzuhetzen, und ebenso nur halb erfolg-
reich die Einmischung in den turkisch-agyptischen Krieg, indem
zwar der Sultan durch franzosischen Einfhiss zur Abtretung yon
Syrien an Mehmed-Ali bewogen wird, demnachst aber ein Bund-
niss mit Russland betreffs der Sperrang der Dardanellen ab-
schliesst, wahrend zugleich der Pascha yon Aegypten der Stimme
des verbiindeten Frankreichs nur, soweit es ihm selber passt,
Gehor zu geben geneigt ist. Noch weniger giinstig verlauft die
spanische Angelegenheit : Prankreich unterstiitzt zunachst in
Portugal Dom Pedro unter der Hand gegen Dom Miguel, und
schliesst dann mit Ersterem, mit England und Spanien die
Quadrupel-AUiance, scheut aber weiteres Vorgehen und zerfallt
schliesslich mit England. Gegeniiber der Schweiz schliesst sich
Frankreich den ubrigen Machten an hinsichtlich der Forderung,
die politischen Fliichtlinge auszuweisen, und erregt dadurch so-
wie durch Absendung von Pblizei - Spionen nicht nur in der
Schweiz sondern auch im eigenen Lande offentliches Aergerniss.
Weiter wird uns das Auftreten des Bonapartismus geschildert,
welcher durch die Schwarmerei fur „das National-Epos" wesent-
lich gefordert wird ; Louis N apoleon, der sanfte Starrkopf — wie
ihn seine Mutter zu nennen pflegte — wird uns in seiner all-
mahlichen Entwickelung vorgefiihrt, dann der Strassburger Auf-
stands - Versuch , die Entlassung des Pratendenten sowie die
Freisprechung der Theilnehmer des Unternehmens durch die
Geschworenen.
Inzwischen war Thiers beseitigt worden und ein neues
Ministerium unter Graf Mole und Guizot gebildet. Hatte friih®"
Louis Philipp in Casimir Perier einen „Vicekonig" von grosster
Selbstandigkeit neben sich gehabt, so bestand das jetzige Mini-
sterium aus „des Konigs Leutenu, schon ausserlich ein Beweis, dass
der Konig jetzt fest im Battel sass und selbst die Ziigel ergriffen
hatte. Jetzt erledigte sich auch die italienische Angelegenheit,
so dass die Besatzung aus Ankona weggezogen werden konnte,
und ebenso gelangten die belgischen Verhaltnisse zu definitiver
Ordnung. Auch wurde das um die Consolidirung der Zustande
so verdiente neue Konigshaus allmahhch auch von den frulier
feindsehgen Machten des Auslands anerkannt; zwar Oesterreich
konnte sich nicht entschliessen , die Tochter des Siegers von
Aspern nach Frankreich ziehen zu lassen, wo schon zwei Erz-
herzoginnen ein so triibes Loos gefunden batten, aber der
preussische Konig vermittelte selbst die Verbindung des franzo-
sischen Thronfolgers mit der Herzogin Helene von Mecklenburg.
So war also nach aussen wie nach innen hin die „ Sturm- und
l)rang-Periodeu gliicklich iiberstanden.
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Helfert, J. A. v., Gosch. Oesterr. v. Ausg. d. Wien. Oct.-Aufst. 1848. 351
Den Schluss des Buches bildet die Darstellung der Kampfe in
Algier. Die afrikanischen Corsaren, durch die Anwesenheit starker
Flotten im Mittelmeer wahrend der Revolutionskriege in Zaum ge-
halten, fingen nach deren Wegziehung ihre alten Raubereien wieder
an. Der Dey von Algier, welchem Frankreich fur Gretreide-Liefe-
rungen wahrend jener Kriege mehrere Millionen schuldete, liess
seinem Aerger iiber die Verzogerung der Zahlung resp. die
Zuriickweisnng seiner Porderungen in handgreiflicher Weise
gegen den franzosischen Consul freien Lauf. So kam es zur Er-
oberung von Algier trotz der Proteste Englands, das alles Ernstes an
den Krieg gegen Frankreich dachte, als die Vertreibung der Bour-
bonen auf einmal die ganze Sachlage anderte. Nun folgte, haupt-
Bachlich durch den General Clausel veranlasst, die Unterwerfung
auch des inneren Landes, wahrend man urspriinglich wohl nur einen
Toriibergehenden Kriegszug (wie ihn spater die Spanier gegen Ma-
rokko unternahmen) oder hochstens Besetzung der wichtigsten
Kiistenplatee geplant hatte, was oline Zweifel weit richtiger ge-
wesen ware. Die Kampfe , welche die Eroberung erforderte , die
Schwierigkeiten, welche dieser Krieg mit sich ^hrte, die Miss-
griffe endlich, welche zahlreich dabei vorkamen, werden uns in
lebendiger nnd anregender Weise vor die Augen gestellt
Das Buch bietet nicht nur ein reiches Material an neuen oder
doch wenig bekannten Thatsachen, sondern wir werden auch in
nnserer historischen Erkenntniss wesentlich durch dasselbe ge-
fordert: wir sehen klar, mit welchen Schwierigkeiten die neue
Kegierung zu ringen hatte nnd wie sie alle ein einsichtsvoller,
patriotischer und consequenter Staatsmann, wie Perier, zu be-
kampfen und zu bezwingen im Stande war; ebenso klar aber
erkennen wir, welche Pehler Regierung wie Volk damals machten,
an deren Nachwirkungen Prankreich noch heutzutage zu leiden
tat, indem das Volk — anstatt von der Idee des Vaterlandes
and seiner Interessen — erfiillt war von dem „rohen und ge-
waltsamen Geiste der Demokratie", und ebenso der Konig in
seiner Politik nicht das Wohl des Staates, sondern das Interesse
seiner Pamilie vor allem im Auge hatte, denn „nicht — wie
dereinst das Haus Bourbon — war das Haus Orleans Prankreich",
Berlin. Dr. P. Voigt.
LXXXI.
Helfert, Jos. Alex, v., Geschichte Oesterreichs vom Ausgange
des Wiener October-Aufstandes 1848. lV. Bd: Der ungari-
sche Winter-Feldzug und die octroyirte Ver-
fassung. December 1848 bis Marz 1849. Erster TheiL
gr. 8. (XV, 442 u. Anh. 148 S.) Prag 1876, P. Tempsky. M. 10.
Die Verwaltung des osterreichischen Staatsarchivs hat sich
ln den letzten Jahren durch die bereitwilligste Eroffnung ihrer
Schatze den Dank aller Forscher der neueren Geschichte zu er-
^erben gewusst. Besonders konnte es einem Manne von den
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352 Helfort, J. A. v., Gesch. Ooaterr. v. Ausg. d. Wien. Oct.-Aufst. 1848.
Verdiensten und der Richtung des Freiherrn von Helfert nicbt
schwer fallen in die Aktenstucke einer Zeit Einsicht za nehmen,
deren Dokumente von den meisten deutschen Regierungen nocb
mit wahren Cerberusaugen den profanen Blicken dex Historiker
vorenthalten werden. Wie den 3 ersten Banden des breit ange-
legten Werkes, ist diese Vergiinstigung aucb diesem 4. Bande
•fur die auswiirtigen Verhaltnisse des Kaiserstaates za gute ge-
kommen und es ist in jedem Falle, mag man sich aucb nicht
ganz der Ansicht entscblagen konnen, dass Helfert bei dem aua-
gesprochenen Charakter seiner Gescbicbtschreibnng, die um in
mancher Hinsicht lebbaft an die Hurters erinnert, vorsichtig in
der Auswabl der von ihm benutzten Akten gewesen sein wird,
auch in diesem 4. Bande viel Neues enthalten, was dem spatern
Forscber zu Gute kommen wird. Man muss demhacb dem Vert
zu Danke verpflichtet sein, dass er unsro bisherige Kenntniss
iiber verscbiedne Vorgange dieser dem Forscber viele Schwierig-
keiten darbietenden Epocbe des osterreichischen Kaiserstaates
ansehnbcb erweitert bat. Andrerseits darf freilicb aucb nichi
verschwiegen werden, dass dieses neuste Werk Helfcrts an den-
selben Mkngeln laborirt wie seine friiheren. Die plastische
Objektivitat eines Ranke geht Helfert mehr oder minder ab , ab-
gesehn von mancben andern schwer wiegenden Bedenken. Das
Buch will mit kritischem Auge geiesen sein, beispielsweise die
Partie iiber Ursprung und Wesen der ungarischen Revolution, die
wir geradezu als verfeblt ansehen miissen. Fur den Winterfeldzug
standen Helfert als bis jetzt nocb unbenutzte Quellen von oster-
reicbiscber Seite zur Verfiigung die Tagebucber des Fiirsten Alfred
Windischgrtltz , Sohn des Feldmarschalls, aus dem grossen Haupt-
quartiere, des Obersten Heller von Hellwald im Generalstabe
Nobili's, des Grafon Karl Bigot de Saint -Quentiu im Corps des
Banus, des Prinzen Ludwig Windiscbgratz im Corps Wrbnas.
Ungiinstiger ist er beziiglich der ungarischen Quellen gestellt,
fiir die ihm „sowohl die personlichen Beziebungen abgeben als
die Kenntniss der magyarischen Sprache fehlt". Die gesammtc
Journalistik und Flugschriftenliteratur hat er deshalb unberiick-
sichtigt lassen miissen. Indessen bot ihm einen Ersatz dafiir
das reichhaltige Janotyckhsche Arcbiv, wenigstens bis zum
5. Januar 1849, und viel weiter reicht ja dieser 4. Band nicbt.
Ausserdem sind die wichtigston Werke iiber die ungariscbe Ke-
volution gewissenhaft benutzt worden.
Zur Veranschaulichung der Kriegsereignisse sind dem Texte
4 kleine gelungeiie und recht instructive Kartchen einverleibt:
Windischgratz's Marsch und Gorgei's Ruckzug auf Ofen und Pest;
SchHks Manoeuvres von Eperies bis Miskolcz; die Kampfe urn
Pan6ova; Gorgei's Marsch in den District der Bergstadte.
Das gauze Werk zerfallt in 3 Abschnitte, von denen der
erate S. 1 — 175 die allgemeine Weltlage und Oesterreichs Be-
ziehungen nach aussen um die Jahreswende 1848/49 , der zweite
S. 177 — 299 die ungariscbe Frage am Vorabend ihrer Ent-
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Helfert, J. A. v., Gescb. Oesterr. v. Auag.d. Wien. Oct.-Aufst. 1848. 353
scheidung, der dritte S. 301—441 den Einmarsch der kaiser-
lichen Hauptannee in Ungarn behandelt. Ein Anhang von 148 S.
enthalt diplomatische Aktenstiicke nnd Anmerkungen.
Aus dem erstenCMbschnitte sind fiir uns besonders interessant
die Abtheilungen 8, ll und 12, da sie aUein in mancher Hinsicht
wesentlich Neues enthalten. Dass Helfert nicht viel vom deutschen
Parlamente halt, ist selbstverstandiich. Charakteristisch ist
sein Urtheil S. 63, dass demselben von keiner massgebenden
Seite der Beruf geworden iiber deutsches Land und Volk zu Gericht
zu sitzen, und dass dasselbe an Allmachtswahn gelitten.
Die Verhandlungen mit Preussen in Olmiitz stellt Helfert
folgendermassen dar: Wahrend Friedrich Wilhelm IV. in leb-
haftem Briefwechsel mit Bunsen iioer die Kaiserfrage stand und
aeiaem Freunde bedeutete, dass er die Kaiserkrone weder aus
der Hand des Volkes noch wider den Willen Oesterreichs an-
nehmen werde, war er in der grossen Frage bereits in un-
mittelbare Action mit Oesterreich getreten aui' Veranlassung der
bekannten Stelle des Kremsierer Programms iiber die deutsche
Frage und zwar um dieselbe Zeit, als sich Gagern in Berlin be-
fand, um den Konig fiir die Kaiseridee zu gewinnen. Der
Thronwechsel in Olmiitz und die Mission des Erzherzogs Ferdi-
nand Este nach Potsdam brachte die Sendung Prinz Karls und
Bruhls nach Olmiitz zu Stande. In einer Denkschrift (Anhang
S. 2—5 publicirt) setzte Fiirst Schwarzenberg seine Ansicht iiber
die deutsche Frage ausfuhrlich auseinander: inniges Einverstand-
Bi88 zwischen Preussen und Oesterreich thue noth; in Deatsch-
land wie in Oesterreich herrsche das Streben nach einem grossen
und machtigen Staatsganzen. Vom osterreichischen Standpunkte
aus komme es darauf an 1) die Centralgewalt zu sttitzen, so
lange das Provisorium dauere, 2) den von der Frankfurter
Nationalversammlung zu Stande gebrachten Verfassungsentwurf
zu verwerfen mit Berufung auf den Bundesbeschluss , der die
constituirende Reichsversammlung in's Leben rief und hierbei den
Regierungen das Recht der Vereinbarung ausdriicklich vorbe-
hielt; 3) ein neues von den Regierungen vereinbartes Project der
Frankfurter Versammlung vorzulegen, dessen Grundlinien waren:
an Stelle des Bundesstaates der Staatenbund, an dessen Spitze
eine Executivgewalt und ein Reprasentativkorper, hervorgegangen
theils aus Abgeordneten der Fiirsten, theils aus gewahlten Mit-
gliedem, stiinde ; endlich ware fiir die thunlichste Verschmelzung
der materiellen Interessen der deutschen Stamme und die Con-
centrirung der Defensionskrafte des Bimdes Sorge zu tragen.
Friedrich Wilhelm IV. zeigte sich diesen Vorschlagen giinstig. Bei
einer zweiten Anwesenheit Briihls in Olmiitz entwickelte Schwarzen-
berg neue Ideen iiber die Constituirung Deutschlands ; er dachte
68 sich namlich in 5 Gruppen getheilt, mit je einem Konig-
reiche an der Spitze, an das sich die kleineren Staaten an-
schlossen, die 6. wiirde alle osterreichischen Lander bilden.
Anch damit war man in Potsdam einverstanden ; bei einer dritten
Mitiheilunjien a. d. histor. Littei*atur. VJ. 23
Digitized by UOOQ IC
354 Helfert, J. A. v., Gesch. Oestorr. v. Ausg. d. Wien. Oct.-Aufat 1848.
gab Briihl sogar die Versicherung , „dass von eincr Aiuiahme der
deutschen Kaiserkrone, fells sie wirklich angeboten werden solltc,
nicht im entfenitesten die Rede sein konne". Die massgebenden
Personen am Berliner Hofe freilich waren, wie man weiss, andrer
Ansicht. Bulow, Bunsen, Camphausen und selbst Brandenburg
wollten entwedor einen weiteren Bund mit Oesterreich oder einen
engeren ohne Oesterreich; in letzterem ware nattirlich Preussen
die erste Rolle zugefallen und von da ware zum Kaiserthum nur
noch ein Schritt gewesen. Bulow sah „die Sendungen Briihls
nach Olmiitz fur Privatunterhaltungen des Konigs an, die durch-
aus keinen ministeriellen Werth batten", und Bunsen nannte die
Ideen der Olmiitzer Denkschrift „eine Mediatisirung Deutsch-
lands zu Gunsten der 6 Konige" — und sie waf es in der That
auch, wie deutlich aus dem Privatschreiben Schwarzenbergs an
den Grafcn Buol zu St. Petersburg hervorgeht, Anhang S. 8—11
— „eine Polonisirung Deutschlands unter Oesterreich". Obgleich
sich Friedrich Wilhelm IV. zaher zeigte als seine Dranger er-
warteten und Schwarzenberg einmal den ernsten Willen hatte
mit Preussen Hand in Hand zu gehen und andrersoits nicht
gleich mit Frankfurt zu brechen, gab er doch plotzlich nach
und durch die bekannte Note vom 23. Januar „sprang Preussen
von Olmiitz nach Frankfurt ab".
Betreffs der englisch - franzosischen Vermittlung in Italien,
der romischen Frage und der Briisseler Conferenzen, womit der
1. Absqhnitt des Werkes schliesst, hat Helfert ebenfalls neue
Aufschlusse gebracht. Die ganze italienische Frage drehte sich
in den letzten Monaten 1848 und den ersten 1849 um die eng-
lisch-franzosische Vermittlung, um den Beitritt Oesterreichs zu
derselben , um die Eroffnung von Conferenzen zum Zwecke des
Friedens. Die beiden Westmachte hattcn, an die Hummelauer-
schen Vorschlage ankniipfend , Oesterreich vermogen wollen, seine
Anspriiche auf Lombardo - Venetien aufzugeben und seine natur-
gemasse Entwicklung in seinem Siidoston zu suchen. Als aber
Radecky die Piemontesen bis iiber den Tessin zuriickgeworfen
hatte, da verbat sich Schwarzenberg, der durchaus Nichtinter-
ventionist war, jede Intervention fremder Machte, und Bastide,
der franzosische Minister, dessen Losungswort vorher die Be-
freiung Italiens gewesen, gab sein Bestehen auf den Hummelauer-
schen Vorschlagen auf. Allein Palmerston zeigte sich Sardinien
um so geneigter, und so kamen denn, trotzdem dass Oesterreich
nur mit Sardinien allein auf der Basis seines ungeschmiilerten
Territorialbesitzes hatte unterhandeln wollen, die Briisseler
Conferenzen zu Stande, an denen Russland und Preussen nicht
theilnahmen. Da Schwarzenberg betonte, dass das Ziel derselben
„der zwischen Oesterreich und Sardinien abzuschliessende Friede
sei, dass sich Oesterreich nicht die Einmischung Frankreichs
und Englands in die innern Angelegenheiten Lombardo-Venetiens
gefallen lassen werde", dass nicht „iiber die Fragen deritaliem-
schen Nationalitiit und Unabhiingigkeit" verhandelt werdeu diirie,
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Helfcrt, J. A. v., Gescb. Oestorr. v. Ausg. d. Wion. Oct.-Aufet. 1848. 355 •
weil dies nur „von alien Machten geschehen konnte, die an dem
Zustandekommen der Vertrage von 1815 theil genommon hatten",
so war eigentlich die Theilnahme von Frankreich und England
an den Conferenzen gegenstandslos geworden und erstres ver-
mied in der That trotz seiner Vorliebe fur Sardinien und seiner
Lust nach dem Besitze Savoyens bis zum Beginne der Verhand-
lungen alles, was Oesterreich hatte verletzen konnen. Lord
„Feuerbrand" aber wurde, zuwider der fruheren Metternichschen
Stabilitatspolitik, von Schwarzenberg, der ihm rundweg jegliches
Recht der Einmischung absprach, mit ausgesuchter Grobheit be-
handelt. Unter diesen vielseitigen Verwicklungen der italieni-
Bchen Frage trat Ende December die romische wieder in den
VoTdergrund. Solange Pius IX., der eine keineswegs giinstige
Beurtheilung , wenigstens fur diese Zeit , von Helfert erf ahrt , cf.
S. 162 und 163, noch in Rom gewesen, hatte er, der „ausge-
sprochene Italiener", „dem Mazzini naher stand als der correcteste
osterreichische Staatsmann oder General", sich mehrere gehassige
Massnahmen gegen Oesterreich erlaubt. Nachdem aber Antonelli
von Gaeta aus das bekatmte Rundschreiben erlassen hatte, hegte
Schwarzenberg den lebhaften Wunsch, den Papst unter Theil-
nahme Frankreichs und Neapels wieder in seine Staaten zuriick-
zufiihren. Drouin de l'Huys lehnte zwar diesen Antrag schroff
mit der Drohung eines Krieges ab, als er aber schliesslich mit
Sardinien nicht durchdrang, gab er zwar endlich nach, schlug
aber fiir Neapel Spanien vor. Der franzosische Gesandte Har-
conrt suchte unterdessen den osterreichischen Einfluss auf die Curie
zn brechen und bot sogar dem Papste ein Asyl in Frankreich
an, seit der Ankuuft Eszterh«4zy's in Gaeta aber warfen sich
Pius IX. und Antonelli ganz in die Arme Oesterreichs.
Der Congress in Briissel sollte Anfang 1849 zusammentreten.
Vor Eroffnung desselben hatte Sardinien trotz des Waffenstill-
standes Venedig unterstiitzt und auch sonst mannigfach in Italien
gegen Oesterreich intriguirt. Schwarzenberg trat deshalb schroflfer
als je auf und richtete an Palmerston die Frage , ob England
„das von Konig Karl Albert proclamirte oberitalische Konigreich
anerkenne, wahrend Europa nichts davon wisse, und ob in den
Angen des englischen Cabinets jener Monarch mit der unge-
heuerlichen Befugniss ausgestattet sei, fur sich allein Gebietsab-
theilungen zu verriicken, die durch die Vertrage festgesetzt
seien". Frankreich aber erklarte er, dass sich Oesterreich die
voile Freiheit seines Handelus vorbehalte. Als Frankreich in
Folge dessen drohte, ging Schwarzenberg von der Aufrechter-
haltung der Vertrage von 1815 ab, war aber iiberzeugt, dass
der Gang der italienischen Angelegenheiten die katholischen
Gros8machte bald zwingen werde', sich mit wirksamer Hilfe in's
Mittel zu legen.
Dem Abschnitte II ist ein bezeichnendes Motto aus Stifters
Brigitta vorgesetzt : „ . . . Vielerlei Volk ist in dem Lande, manches
ist ein Kind , dem man vormachen muss, was es beginnen soil".
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356 Helfert, J. A. v., Gesch. Oesterr. v. Ausg. d. Wien. Oct.-Aufet 1848.
Fiirst Windischgratz, der Bandiger Prags und Wiens, der all-
machtige Wiederhersteller der Monarchie, ist ein Mann nach dem
Herzen Herrn von Helferts. Er war der damalige Beherrachcr
Oesterreichs , er leitete die Politik des jungen Monarchen, die
Minister waren nur seine Marionetten, cf. Anhang, S. 91. Seine
Erfolge und die Anerkennung, die man ihm von alien Seiten
zollte , machten ihn sogar so stolz und kiihn, dass er nach der
Einnahme von Raab sagto: „wonn Oesterreich seine so brillant
wiedergewonnene Stellung zn behaupten weiss und im Innern
sich consolidirt, so kann es in Europa dictiren (!), wie es in der
Besiegung der Revolution so eclatant den Ton angegeben". Dec
Widerstand, den die Ungarn leisteten, nannte er „erbarmlichu.(!)
S. 355. Dass Windischgratz kein grosser Feldherr gewesen,
scheint Helfert trotz alles Lobes doch selbst zuzugeben, cf. An-
hang S. 141 und 142. Seit Beginn des Feldzugs richtete
Windischgratz das Hauptaugenmerk auf den Ausbau der kiinftigen
Verfassung. Im Gegensatze zu Schwarzenberg forderte er bei
Neugriindung der Verfassung besonders die Beriicksichtigung der
Aristokratie , „ohne Adel konne eine Monarchie nicht bestehen,
und der Adel nicht ohne Majorate". Mit Stadion, welchernach
dem Vorbilde der Departementaleintheilung des unificirten Frank-
reichs den Schwerpunkt der Verwaltung in die Kreise legen,
um zugleich die Reibungen der Nationalitaten moglichst zu be-
seitigen , die Landesregierungen dagegen bios als eine Art Auf-
sichtsbehorde hinstellen wollte , gerieth Windischgratz bald in
Streit ; denn er verfocht umgekehrt die Ansicht, dass den Schwer-
punkt der Verfassung gerade die Provinziallandtage bildeten,
welche eine Anzahl von Ausschussmannern in den allgemeinen
Reichstag zu entsenden batten. Geradezu Axiom war dem Fiirsten
Windischgratz die „Einbeziehung Ungarns in den Rahmen des
Gesammtstaates" er wollte die ungarische Verfassung dem Tode
weihen, und darin trennte ihn eine tiefe Kluft von den An-
schauungen in Olmutz, wo man fur Ungarn die sogenannten
Errungenschaf ten vom Marz und April 1848 im Auge hatte. Seine
Berather in den ungarischen Angolegenheiten waren die VoB-
blutmagyaren Josika und Dessewffy, die starksten Pfeiler des
Metternich'schen Systems, welche die sich aufopfernden Kroaten,
Slovaken, Wallachen, Serben wieder ihren alten Unterdruckern,
den Magyaren, ausliefern wollten. Windischgratz schaltete in
Ungarn wie ein Monarch. Sein Auftreten daselbst ist von
zwei Seiten aufzufassen, von der militarischen und politischen.
Sein grosses Werk ist die Einheit der Leitung der ganzen oster-
reichischen Armee, ausgenommen Radecky's Armee in Italien, und
die Lostrennung derselben von der Militarverwaltung. Wenn
es nichts Kleines war, zur rechten Zeit und mit einer geniigen-
den Armee in Ungarn einzufallen, so hat dies Windischgratz zn
Stande gebracht, nur die Ausriistung der Reserve und Cavallene
liess gegeniiber dem Reitervolke der Magyaren manches z«
wiiiischeu tibrig und andrerseits storte der Mangel einer ge-
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Helfert, J. A. v , Geseh. Oesterr. v. Ausg. d. Wien. Oct.-Aufst. 1848. 357
niigenden Anzahl hoherer Offiziere sowie der an Geld, endlich
der Umstand, dass von Wien der Befehl eintraf, es sei der Ver-
pflegungsbedarf der Truppen „im feindlichen Landea nach einer
geregelten Ausschreibung vom Lande zu bestellen. Nach diesen
Erorterungen giebt Helfert eine Cliarakteristik der Personen des
Hauptquartiers.
Vom Ausbruche des Krieges bis zum Ende desselben waren
es zwei Manner , urn die sich der Hauptsache nach alles drehte,
Ludwig Kossuth und Arthur von Gorgei. Wenn irgend auf
jemand das ©ichterwort zutrifft: von der Parteien Hass und
Gunst etc., so auf Kossuth. Von den einen in den Schmutz
gezerrt, wird er von den andern mit Lorbeeren gekront. Viel-
leicht wird man spater, wenn der Antagonismus der beiden
Heichshalften dem Bewusstsein, dass nur im steten engen Zu-
sammenhalten die Ejjistenz und Kraft des Donaureiches beruhe,
gewichen sein wird , iiber ilin unparfeiischer urtheilen, als es jetzt
fast noch moglich erscheint; denn die Fahigkeit des grossen
Thucydides , Partei zu ergreifen und doch als Geschichtsschreiber
iiber der Partei zu stehen, scheint in der That uns Epigonen
in der grossen Mehrzahl abzugehn. Wie durch das ganze Werk
Helferts hindurch ein Zug der Bitterkeit und Gehassigkeit gegen
Ungarn weht, der mit blindem Auge im Ungarnaufstande nichts
als eine frivole, kiinstlich gemachte Revolution sieht, so kommt
besonders der nationale Held Ungarns schlecht bei ihm weg,
Helfert lasst, abgesehen von der Achtung, die er seiner Rede-
pbe zollt, keinen guten Faden an Kossuth. Man verunglimpft
wirklich ein ganzes Volk, wenn man glaubt, dass dasselbe nur
einem blinden Abenteurer gefolgt sei — und so nennt ihn Helfert
S. 242 : „Kossuth hatte sehr viel von einem riicksichtslosen
Abenteurer, nur nicht die schopferische Idee und den selb-
standigen Entschluss, von Muth gar nicht zu reden, denn er
war , wo es die geringste Gefahr gab , furchtsam , ja feig" ! In
Zeiten nationaler Erhebungen mag manche catilinarische Existenz
mit an die Oberflache der Bewegung getrieben werden, man soil
wis aber nicht glauben machen, dass Kossuth nichts als ein
Schwindler und politischer Faiseur gewesen, besonders nicht,
dass er allein die ungarische Revolution gemacht habe, wie
Helfert S. 247 behauptet: „Die , ungarische Revolution von 1848
and 1849 ist: Kossuth. Diesen Triumph und diesen Fluch
wird ihm die Geschichte in alien Zeiten nicht nehmenu. Man
kann von dem enormen Redetalente des „ungarischen Demo-
sthenes" und der Wirkung desselben auf die Massen noch so
hoch denken, hatte nicht das „schwarzgelbe Zopfthum und
Tyrannei" seit Jahrhunderten sich an Ungarn versiindigt gehabt,
nipunennehr hatte auch die gliihende Beredsamkeit dieses Volks-
tribunen, des „Tragers der pan-magyarischen Action", diese Re-
volution des an und fiir sich heissbliitigen Volkes der Pussta
neryorgerufen. Man vcrkennt vollstandig die Ursachen des un-
garischen Aufstandes, wenn man diesem einen Manne die ge-
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358 Helfert, J. A. v., Gesch. Oesterr. v. Ausg. d. Wien. Oct.-Aufst. 1848.
waltige Erhebung des gesammten Volkes anf das Kerbholz
schreibt. (Oder wird Kossuth nicht durcb solche Darstelhng
atatt kleiner viel mehr noch grosser?) Ich fiirchte, dass es
dem Urtheile Helferts iiber Kossuth und seine Bedeutung zuni
Tbeile wenigstens ebenso gehen wird, wie seiuem bekannten Buche
iiber den Rastadter Gesandtenmord. Nach Helfert war Kossutfc
fernerS. 242 : „zu alien Zeiten gewissenlos (nach Szemere) und un-
bescheiden genug, sich die Verdienste andrer anzueignen", S. 252:
„Kossuth war das Wort, und das Wort war bei Kossuth, mi
ohne das Wort war Kossuth nichts. Oder mindestens nicht be-
sonders viel .... In jeder andern Hinsicht denn als Redner wiri
Kossuth, wenn einmal die Leidenschaften der Zeit verbraust
sind , sehr leicht befunden werden", S. 253, „von einem bedeuten-
den Mamie hatte er sonst sehr wenig, von einem grossen nichts —
er war kein Charakter, er hatte keine festen Grundsatze, keincn
sichern Halt, weder als Privater noch im offentlichen Leben....
Er war aber auch kein Genie, er hat nichts wichtiges aus
eignem angeregt, sondern fast alles nur von Andern geholt uri
ausgebeutet" (cfr. damit S. 247 etc.), S. 254: „er besass eine
wahre Virtuositat der Inconsequenz", er war kein Staats-
mann S. 228, er hat den Staat ruinirt. Endlich ist Kossuth
auch noch ein Pantoffelheld , S. 255, S. 230. Der Geburtsteg
Kossuths wird nach miindlichen glaubwiirdigen Berichten auf den
16. September 1802 festgesetzt, sein Geburtsort ist nicht Szer-
dahely , sondern Monok. Sein Name ward zuerst durch die im
Verein mit Orosz ohne Autorisation der Regierung herausge-
gebene geschriebene Reichstagszeitung 1830 bekannt Damit
hatte die Opposition, die durch die Regierung mundtodt ge-
macht worden war , ein glanzendes Organ gewonnen and die
Nation wurde zur politischen Selbsterkenntniss gebracht. Noch
grosseren Einfluss gewannen die seit 1836 von Kossuth heraus-
gegebenen „behordlichen Nachrichten". Das politische Leta
kam in alien Comitaten in Galirung, so dass scliliesslich, als der
Ton Kossuths immer keeker wurde, die Zeitung verboten, tf
selbst Mai 1837 bis 1. Mai 1840 gefangen gesetzt wurde. Dio*
Gefangenschaft trug ihm zwar einen gebrochenen Leib ein, so
dass Szecheniy nach jenes erster Rede in einer Pester Comitate-
versammlung ausrief : „der kann kein Fuhrer mehr sein, miseri-
cordianus frater est", aber auch die Krone des politischen
Martyrers und seine Verheirathung mit Theresia von Meszleniy,
die nach Helfert sein boser Geist gewesen ist. Nachdem erso-
dann bis 1844 Redacteur des Pesti Hirlap gewesen, und in
Folge der colossalen Verbreityng desselben vermogend geworden
war, betheiligte er sich an verschiedenen HandelsgeseUschaften,
„denen er sich entzog , wenn er merkte , dass es schief gi^S. •
Wenn dies wahr ware, wie hatte ihn dann sein Feind Szecheniy
einen Mann nennen konnen, „dem die Tugend kein l^rer
Klang44 ? S. 232. In den neuen Landtag 1847 von Pest g«-
wiihlt ward er, da Deak wegen KriinkliclJceit ausbheb, Fahfltf
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T*T?T?
Helfert, J. A. v., Gescb. Oesterr. v. Ausg. d. Wien. Oct-Aiifst. 1848. 359
der Opposition. Da kam die Pariser Februarrevolution „und
nun sass Kossuth fest im Sattelu. In seiner beriihmten Rede
vom 3. Miirz verlangte er ein selbstandiges Finanzministerium.
Die Folge dieser Rede war die Absendung einer Deputation
Bach Wien und die Bildung eines selbstandigen Ministeriums
unter dem Presidium Batthyanyi's. Kossuth ward Finanzminister.
Vollblutmagyar wollte er die andern Nationen Ungarns unter-
driicken. Nach Helfert war es sein Einfluss, „der den Hof zu
jenen Schritten gegen Jela£i<5drangte, die das Verhaltniss zwischen
Ungarn und Kroatien zum Bruche brachten, wie auch er es ge-
wesen sein soil, auf dessen Antrieb Pulszky in Wien, entgegen
der zu Innsbruck getroffenen Abrede, die Achtserklarung gegen
den Banus veroffentlichen liess". S. 237. Am 11. Juli hielt er
die verhangnissvolle Rede, welche der Sache nach die Los-
trennung Ungarns von Oesterreich begriindete, das Kriegs- und
Pinanzwesen Ungarns ward selbstandig. Es folgte die Errichtung
der Honvedbataillone und die Ausgabe der Kossuthnoten. Die
Vorgange am 11. September schildert Helfert als die reine
Komodie von Seiten Kossuths, S. 243 und 244. Die Macht
Kossuths, die man hatte brechen wollen, ward jetzt nur um so
grosser, er und Szemere wurden mit der einstweiligen Fiihrung
der Regierung betraut. Seine Reise nach Czegled, um den
Landsturm zu alarmiren, erscheint Helfert als Fluchtversuch,
trotzdem er nach 3 Tagen wieder zuruckkehrte, ebenso die vom
29. nach Szegedin. Am 8. October ward Kossuth President des
neueingesetzten Landesvertheidigungsausschusses und regierte von da
ab Ungarn thatsachlich allein. Die Erlebuisse Kossuths von Schwe-
chat bis zum Fluchtversuche hat Helfert schon Band I. erzahlt.
Bei der Schilderuug Kossuths hat Helfert fast ausschliess-
lich dunkle Tinten angewandt, bei der Gorgei's ist alles Licht.
Nach Helfert haftet an Gorgei's Leben auch nicht der geringste
Makel. In der Biographie der Jugend Gorgei's halt er sich der
Hauptsache nach meist an Levitschnigg. Die Marzereignisse
trafen Arthur von Gorgei, den ehemaligen Palatinalhusaren-
officier, im chemischen Laboratorium der Universitat Prag, der
er eben hatte Valet sagen wollen, um sich ein Heim in der
Zips zu griinden. Anfangs dem 5. Honvedbataillon als Haupt-
mann zugetheilt, dann bald zum Major ernannt mit dem Auf-
trage, die Nationalgarde diesseits der Theiss zu organisiren , er-
hielt Gorgei Ende September beim Heranriicken des Banus gegen
Pest den Befehl, die Donauinsel Csepel zu besetzen und die
Donauiibergange zu bewachen. Die bekannte Blutthat daselbst
#egen den Grafen Eugen Zichy schreibt Helfert der Absicht
Gorgei's zu von sich unter alien Umstanden reden zu machen.
Die Kiihnheit dieser That habe auch Kossuth so imponirt, dass
er sich von nun ab vor diesem energischen und riicksichtslosen
Manne gebeugt habe. Seitdem war er in aller Munde, seitdem
war sein Stern in raschem Aufsteigen begriflfen. Im Corps des
Obersten Perczel schloss er durch einen kiihnen Streich das
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360 Helfert, J. A. v., Gosch. Oesterr. v. Ausg. d. Wien. Oct.-Aufst. 1848.
Roth'sche Corps em, als Oberst zum Corps Moga's geschickt,
urn diesen zu beobachten, ordnete sich Gorgei trotzdem ttoga
willig unter und leistete die vortrefflichsten Dienste im Kriegs-
rathe zu Nickelsdorf und in der Schlacht bei Schwechat. Zum
Lohne dafiir ward ihm von Kossuth der Oberbefehl iiber die
Armee an der obern Donau anvertraut. Die Truppen befanden
sich in einer Zwitterstellung, sie hatten dem ungarischen Kriegs-
ministerium und dem koniglichen Statthalter zu gehorchen, unter
der Hand aber erhielten sie auch wieder Weisungen vom Wiener
Kriegsminister. Weil man derselben nicht allenthalben sicher
war, versicherte man sich vor alien Dingen der Festungen
Komorn (unter Mertz), Ofen, Essegg, Leopolds'tadt , Munkacs.
Nach dem Plane Kossuths sollte das ganze ungarische Heer
magyarisirt werden. Es entstanden die Honveds und Gorgei
ward mit der Organisation der Freiwiliigen beauftragt, neben
ihnen wucherten die vielberufenen Fremdenlegionen empor. Das
neugeschaffene Heer bestand Ende December aus 60 Honved-
bataillonen, 18 Husarenregimentern und der Artillerie unter dem
ehemaligen Oberfeuerwerker Mack. Nach Helferts Urtheil, das
sich auf Gorgei und Klapka stiitzt, sind die Nationaltruppen
nichts werth gewesen, wenigstens anfangs nicht, da ihnen Zucht
und Ordnung fehlte, und Helfert sucht deranach zu beweisen,
dass die alten osterreichischen Truppen, die man mit dem neuen
Heere verschmolzen hatte, h&uptsachlich der Kern des Heeres
gewesen seien. Die Seele der ganzen Armee war natiirlich Grorgei,
wie er im Grossen und Ganzen auch ihr Schopfer gewesen. H.
lasst seiner Energie, seinem Organisationstalente , seinem mili-
tarischen Blick alle Gerechtigkeit widerfahren. Sein Plan frei*
lich, die Stellungen an der Grenze aufzugeben und das Gros
der Armee in die Verschanzungen von Raab zu ziehen, weil
das Heer noch nicht vollstandig organisirt und eingeschult war,
musste den politischen Erwagungen der Pester Machthaber
weichen und so war die Prognose fur den Winterfeldzug gleich
anfangs eine ungunstige.
Der 3. Abschnitt behandelt den Einmarsch der kaiserlichen
Hauptarmee in Ungarn. S. 300 — 441, also die eigentliche
Geschichte des Winterfeldzugs. Sie ist der Haupttheil des
4. Bandes, das bisher Besprochene die Einleitung dazu. Soviel
ich als militiirischer Laie ersehe, ist der Feldzug klar geschildert,
mitunter freilich mit etwas sehr poetischem und patriotischem
Pinsel. Dies merkt man z. B. besonders gleich anfangs, wo
Helfert erzahlt, wie Hammerstein von Krakau aus iiber Dublin
durch die Karpathen zieht. Ebenfalls durch die Karpathen nach
Eperies zog das Schliksche Corps, dessen Chef, ein tiichtiger
Haudegen, sehr giinstig von Helfert beurtheilt wird. Dieser
Zug, sowie das Gefecht bei Budamir und die Einnahme Kaschau's
werden meist nach Hellers Manuscript, nach Kodi<fta und Nobili
dargestellt, wahrend der Einmarsch Frischeisens von Teschen aus
durch den Jablunka-Pass und das Gefecht bei Budatin nach
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Helfert, J. A. v., Geech. Oesterr. v. Ausg. d. Wien. Oct-Aufst. 1848. 361
Strack gescbildert werden. Der Zug Frischeisens das Waag-
thal hinab war in der Absicht geschehen, die Verbindung mit
Simunid, der diesseits der kleinen Karpathen stand, zu suchen;
da er zu schwacb war, zog er, wie Helfert nach Hurban's Be-
richt nachweist, wieder zuriick. Das Heer des Banns Jellaci<5
war am 9. December gegen die nngarische Grenze geriickt, das
kleine Gefecht, welches General Zeisberg bei Prellenkirchen mit
den Aufstandischen bestand, verlegt Helfert mit Inkey auf den
12. December. Am 14. December zog endlich Windischgratz
mit 43915 Mann und 216 Geschiitzen von Schonbrunn aus. Das
Corps "des Banus sollte nun nach der Disposition Windischgratzs
die Stelle des Reservearmeecorps einnehmen, allein, wie Helfert
nach dem Tagebuche des Grafen Bigot berichtet, verhinderte
dies die Schnelligkeit und Energie Jella&d's. Am 14. December
nshm dann Simunid Tyrnau, schob am 17. seine Vorposten bis
Pre8burg vor und stellte am 20. seine Verbindung mit Friseh-
eisen her. Gleichzeitig war von Wiener-Neustadt aus Petrich-
evich-Horvath bis Oedenburg vorgeriickt. Am 16. begann die
Bewegung der Hauptarmee, sie schlug die Gefechte bei Parndorf
und Szent-Kazimir. Das 2. Corps unter Wrbna war auf der
Strasse Holic-Presburg in Ungarn vormarschirt. Im Angesicht
dieser Vorgange raumte Gorgei Presburg und zog nach Wiesel-
burg. Am 18. ruckte Windischgratz in Presburg ein, wiihrend
gleichzeitig Jella&6 bei Wieselburg iiber Gorgei siegte. Die
schmutzige Anekdote, die Helfert von der Unerschrockenheit
Zeisbergs erzahlt, passt, mag sie auch wahr sein, jedenfalls nicht
io den Rahmen eines ernsten Geschichtswerkes, man vergrossert
durch solche Scandalosa wirklich nicht den Ruhm des tapfern
Zeisberg. Da nach Windischgratzs Anordnung erst alle 3 Corps
am rechten Donauufer vereinigt sein sollten , durfte Jellacic
&einen Sieg nicht verfolgen.
Siebenbiirgen befand sich seit Anfang December fast ganz
in den Handen der Kaiserlichen. Da erschien dort, von Kossuth
zum Commandanten ernannt, Bern, „der Condottiere im Gewande
des 19. Jahrhunderts", „der General auf Gastrollen", und brachte
Leben in den Widerstand. Der Czucsa-Pass ward am 19. De-
cember gegen die Kaiserlichen aufs tapferste vertheidigt, Jab-
lonski musste sich am 20. von Sibo nach Dees zuriickziehn und
ward dort am 22. von Bern selbst geschlagen. Klausenburg
wiirde, da auch die ubrigen Abtheilungen Wardeners in Be-
drangniss waren, von den Kaiserlichen verlassen, Urban zog sich
fcach Bistritz zu Jablonski zuriick. In 8 Tagen war Bern Herr
von fast ganz Siebenbiirgen geworden. Die kaiserliche Macht
war gespalten, der eine Theil stand im Nordosten, der andre im
kiiden, in der Haromszek, musste bei dem Charakter der Be-
wohner fiirchten, bald zwischen 2 Feuer zu kommen.
In Ungarn trat Stillstand der Operationen ein. Windisch-
gratz, sehr vorsichtig und zaudernd, organisirte mittlerweile vora
Sauptquartier Karlburg aus Ungarn provisorisch, er ernannte
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362 Helfert, J. A. v. , Gesch. Oester. v. Ausg. d. Wien. Oct -Aufst 184a
fur die besetzten Distrjcte provisorische konigliche Commissare,
welche unter den Militardistrictscommandanten standen; denn
militarisch sollte vorab das in Belagerungszustand erklarte Land
im Namen des Fttrsten Windischgratz verwaltet werden, m
welchem Ende auch eine Centrabnilitaruntersuchungscommission
ernannt wurde. Langsam ging Windischgratz vor, zu langsam,
ein Vorwurf freilich, den ihm Helfert nicht macht. Am 25.
riickte er von neuem vor, am 27. verliess Gorgei deshalb Eaab.
Am 28. Ueberfall der Ungarn bei B&bolna; am 29. Aaf-
bruch der Kaiserlichen von Raab, Wrbna am rechten Donanuler,
Serbelloni auf der Fleischhackerstrasse , Jella6i<5 auf der St#
weissenburger Strasse. Komorn wurde cernirt, Perczel am 29.
bei Moor von Jella&d geschlagen und sein Corps zersprengt
In Pest schaltete unterdessen Kossuth als President writer
und vereinte fast alle Geschafte in seiner Hand; sein Heifers-
heifer war Madarasz , „der ungarische Marat". Wahrend KossntJi
jetzt den Guerillakrieg organisirte , knebelte Madarasz die anden
denkende Presse.
Schlik riickte von Kaschau gegen Misk61cz vor und schlug
dort am 28. bei Szikszo Mesz&ros, um dann bei einer fest
sibirischen Kalte wieder umzukehren. Meszaros, am 31. nach
Pest zuriickgekehrt, wo man eben die Kunde von der Nieder-
lage bei Moor erhalten hatte, beantragte sogleich, dass, nachdeni
der Reichstag auf Kossuths VorschLag beschlossen hatte, den
Weg der Vermittlung mit Windischgratz einzuschlagen, sich die
Nationalversammlung nach Debreczin zuriickziehe. Kossuth ^floh*
nach Szolnok, die Krone des h. Stephan wanderte mit ihm.
Helfert sucht hierbei die Erzahlung Chownitz's uber die Fort-
schaffung derselben zum Marchen zu stempeln und behauptet
dass Kossuth dieselbe heimlich weggebracht; ja er imputiri
Kossuth sogar aus den Worten einer alten Staatsrechtsquelle-'
quemcunque sacra corona coronatum videris, etiamsi bos faeift
adorato et pro sacrosancto Rege ducito et observato , den Wffl^i
dass er nach der Konigskrone gestrebt. Dasselbe behauptet
Helfert verblumt S. 247 , wo er sagt 7 dass Kossuths W«b,
Theresia, einmal gesagt haben soil: „Gewiss, eines Tages bringt
mir mein Lajos eine Krone in's Hausu. „Kossuth berieth mit
ihr, oder vielmehr Frau Theresia nothigte ihn mit ihr zu be-
rathen etc." Man mochte fast versucht sein, diese Ansicht
Helferts einen Scherz zu nennen , wenn sie nicht so ernst aas-
gesprochen ware. Beweisgriinde fur diese Annahme fehlen
Helfert und er wird sie wol auch schwerlich beibringen koiineD.
Ich meine aber, dass es dem Historiker nicht zieme, so vage
Vermuthungen auszusprechen, man beweise uns vor allem zuerst,
dass die Ungarn wirklich noch an jenen Worten der alten
Staatsrechtsquelle hielten.
Die Leitung der militarischen Angelegenheiten iibernahinen
jetzt Vetter und (reorg Klapka, sie stellten den neuen PI*11
auf, die Theisslinie um jeden Preis zu halten. Kossuth und der
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Helfert, J. A. v., Gesch. Oesterr. v. Ausg. d. Wieu. Oot.-Aufst 1848. 3(}3
Landesvertheidigungsausschuss waren am 29- December von
Windischgratz fur vogelfrei erklart worden1, am 1. Januar 1849
wurde das Vennogen aller Anhanger Kossuths mit Beschlag be-
legt Helfert sagt iiber die Massregeln Windischgriitz's S. 381 :
„Manche der Bestimmuiigen waren allerdings hervorgerufen durch
die Ausschreitungen auf der Gegenseite, zu scharf gofasst, um
buchstablich genommen zu werden; auch war der Feldmarschall
der erste, der gegen den Wortlaut seiner eigenen Androhung
Gnade iibte, wo er nur konnte.u etc. Dies ist Schonfarberei
und Helfert iibt sie gegeniiber Windischgratz noch ofters; wie
stimmen damit Windischgratz's eigne Worte, welche Helfert An-
merk. 324 anfiihrt?
Am 3. Januar 1849 erschien vor Windischgratz in Bicske
dieReichstagsdeputation, um mit ihm zu unterhandeln. Windisch-
gwtz empfing die Mitglieder derselben mit Ausnahme Batthyanyis
nur in ihrer Eigenschaft als Privatpersonen. „Ich kenue keinen Pester
Beichstag, der von Sr. Majestat als aufgelost erklart wurde",
autwortete Windischgratz, als Majlath ihn „im Namen der Depu-
tation dee ungaHschen Reichstages" anredete. Windischgratz schlug
derselben rundweg AUes ab, sogar die Bitte, nach Olmutz gehen
zu diirfen, und behielt sie „aus niilitarischen Riicksichten" zuriick.
Mittlerweile siegten die Kaiserlichen bei Teteny, damit war das
Schicksal von Pest entschieden. Der dortige Kriegsrath be-
schloss abermals den Riickzug nach der Theiss und, im Fall
diese Linie nicht zu halten sei, nach Siebenburgen und die Neu-
bildung einer Annee daselbst. Gorge? ging nun mit dem einen
Theil der Revolutionsarmee nach Nordwest, Perczel mit dem
andern nach Siidost, um die Kaiserlichen vom Marsohe auf die
Theiss abzuhalten. Am 5. Januar wurde Pest und Ofen be-
setzt; Kossuth floh mit der Stephanskrone nach Debreczin, „dem
Mittelpunkt des magyarischen Calvinismus oder calvinischen
Magyarismus". Helfert behauptet, dass die Aufstandischen bis
zur Besetzung der Hauptstadt ohne alle Methode gehandelt
batten , S. 396, erst die letzten Berathungen batten System
in die Vcrtheidigung gebracht (vgl. damit S. 299 u. 300).
Gorgei emancipirte sich seitdem vom Landesvertheidigungs-
ausschusse, er war von nun ab .unabhangiger und selbstiindiger
tiebieter seiner Truppen und seine „lugenhafte" Proclamation
vom 6. Januar gegen den Landesvertheidigungsausschuss fesselte
seme Truppen ganz an seine Person, Gestiitzt auf die Selbst-
"iographie Gorgei's, in der es heisst: „Die ungarische Schild-
whebung war eine monarchisch-constitutionelle und hierin lag
^e Starke ; denn diesem Umstande allein verdankte sie die
Mitwirkung der regularen Trup)>enu; dies bestiitige auch „die
unzahhgemal gemachte Erfahrung, dass alle Agitationen nur
dann reussirten, wenn solche im Namen des Konigs versucht
warden", glaubt Helfert schliessen zu miissen, dass Gorgei schon
Jamais diese Ueberzeugung hegte. Wie stimmt damit abcr
Jeiie von Helfert angefiihrte Proclamation, in deren Schlusse es
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364 Helfert ^ J. A. v., Gesch. Oesterr. v. Ausg. d. Wien. Oct-Aufst. 1848.
heisst , das Armeecorps wolle hinfort nur jenen Befehlen ge*
horchen , die ihm von dem durch seinen „Konig Ferdinand V.
bestatigten verantwortlichen ungarischen Kriegsminister oder dessen
durch diesen ernannten Stellvertreter, gegenwartig General Veto,
in gesetzlicher Form zukommen"? War aber Meszaros und daim
sein Nachfolger, Vetter, in der That von Ferdinand V. bestatigt
als Kriegsminister ? cf. S. 246.
Gorgei ging gegen Simunic vor, der Leopoldstadt belagcrte.
Am 31. December riickten die Kaiserlichen zum 3. Male Ami
den Jablunkapass unter Gotz ein und suchten Verbindung lit
Simunid Czorich verfolgte Gorgei von Ofen-Pest aus, m
zweitagiger Aufenthalt aber in Waitzen und der neue Plan , den
Gorgei gefasst, rettete die beste ungarische Armeevom Verderben.
Gorgei zog in den District der Bergstadte und Perczel ging,
nachdem er vom 9. Januar ab von Ottinger iiber Szolnok hinaos,
den Schlussel von Debreczin, verfolgt wordeu war, hinter die
Thei8s zuriick. Da die Kaiserlichen noch nicht einmal das game
rechte Donauufer, an dem sich ein kleiner Krieg etablirte, n
den Handen hatten und man also die Theissliirfe nicht h<en
konnte, versagte der Banus Ottinger die Nachsendung von
Reserven, und so war Perczel gerettet. Nugent zog von der
Donau rechts nach der Festung Essegg und dern serbischen
Kriegsschauplatze ab. Dort war am 27. December der am selben
Tage zum Woiwoden von Serbien ernannte Supplikac gestorben
Mayerhofer, oder vielmehr sein Untergebener Knidanin schlug
bei PanCowa Kiss , dem Helfert vorwirft, er habe nur aus egoisti-
schen Griinden, da er der reichste dortige Grundbesitzer gewesen,
das Banat zu halten gesucht. Damianich, in welchem Helfert
„die wahre Volksfigur des ungarischen Revolutionskrieges" (als
wenn es keinen Kossuth gegeben!) sieht, trotz seiner serbischen
Abstammung der bitterste Feind der Serben und eben deshaft
so popular in Ungarn, der „BAczenfresserM, zog sich und v&
ihm fast das ganze Volk aus Furcht vor den Serben bis ^t-
schetz zuriick, wo ihn am 19. Januar der neue General, Theo-
dorovic, schlug. Damit war das Banat und Ba6ka ganz in den
Handen der Kaiserlichen, Wie das Banat freiwillig, gaben die
Ungarn jetzt das Hernadthal gezwungen auf. Am 4. Jan. siegte
Schlik bei Kaschau iiber Mesz&ros, der nach Tokaj an der
Theiss entrann, und besetzte die Zips.
Mit dem Einzuge in Pest hielt man in Oesterreich den
Krieg fiir beendigt. Wenn iiber etwas Missmuth herrschte,
meint Helfert, so war es dariiber, dass ihnen der Sieg so leicht
geworden ! ? In Ungarn begann nun der Abfall von der Sache
des Vaterlandes, Civil und Militar, die Geistlichkeit besondere
in den deutschen und slavischen Theilen, unterwarfen sich zu^st,
selbst die stock-magyarischen Gegenden folgten rasch diesem Be1"
spiele. Windischgratz drangte beim Kiiser auf Entwaffiaungdtf
Volkswehr, wie er dies auch fiir den ganzen Kaiserstaat empfei1*
Allen kleinen Leuten ward Amnestie gewahrt, eine allgememc
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Helfert, J. A. v., Gesch. Oesterr. v. Ausg. d. Wien. Ock-Aufst 1848. 365
verweigert. Unter dem Vorsitze des Oberstlieutenants Baron
Hallegg begann die „militarisch-politische Central-Untersuchungs-
Commission" die Hochverrathsprocesse (vgl. die interessanten
Bemerkungen dariiber S. 435 — 437.) Die Bicsker Reichstags-
deputation wurde in Freiheit gesetzt, „Graf Batthy&nyi wurde
jedoch, nachdem er seine Eigenschaft als Abge-
sandter verloren, noch denselben Abend gefanglich einge-
zogen, wie es heisst aus einer Soiree bei Graf Georg Karolyi
herausgeholt". Es beschonigt also Helfert diese Verhaftung.
Sequestrirungen und Confiscationen folgten „in ausgedehntestem
Masse". Die Reaction begann ihre Orgien , wir erfahren von
Helfert wenig genug dariiber, in welchem Masse. Damit endigt
die 1. Halfte des 4. Bandes.
In einem sehr dankenswerthen Anhange publicirt Helfert
S. 1 — 53 1) 9 Aktenstiicke der Verhandlungen zwiscben den
Cabineten von Wien, Berlin und St. Petersburg fiber die deutsche
Frage vom 5. December 1848 bis 24. Januar 1849, 2) 9 Briefe
aus der diplomatischen Correspondenz zwischen Wien-Olmiitz
und London, Paris, Gaeta iiber die italienische Frage, 3) 10
Stucke aus Windischgratz'schen Schriften. Letztre sind be-
sonders instructiv fiir den Charakter und die Politik des Piirsten,
4) eine Tafel, Gorgei's Abstammung betrefFend, und den Theil
der Conduitenliste des Palatinalhusarenregiments Nr. 12 zu
Klattau vom Jahre 1844, welcher iiber Gorgei handelt. S. 54—148
euthalten eine reiche Piille von Anmerkungen.
Ein paar lastige Druckfehler sind mir aufgestossen, Anhang
& 55, Anmerk. 2 heisst es : das sachsische Ministerium Brauner-
Pfordten statt Braun, und S. 82 Gombart statt Sombart.
8chlies8licb noch einige Bemerkungen iiber den Stil. Abgesehen
von einigen osterreichischen Eigenthiimlichkeiten, spricht Helfert
haufig in einem Tone, der sich weniger fiir ein strenges Ge-
schichtewerk als fiir das Feuilleton^ einer Zeitung eignet. Ich
rechne dahin Ausdriicke, wie S. 69 : „und damit dem unerquick-
lichen Schauspiele gar nichts abgehe, sollte auch das bekannte:
Schlagst du meinen Juden etc. eine neue Anwendung erleben",
pder S. 399 : „Was die Proclamation des jungen Obergenerals
^ Debrecziner Lager fiir Empfindungen wachgerufen, lasst sich
denken. Kossuth hatte einen Grund mehr in Gorgei einen
»Yerratheru zu wittern und seine fiemahlin schloss ihn, wenn
nicht von friiher her, gewiss von diesem Tage in ihres Hasses
frommste Wiinsche ein, woriiber sich Herr Arthur nicht sehr
gramte", oder S. 255 : „Wahrscheinlich ist es auch, dass Kossuth
\on allem Anfange an nicht so weit gegangen ware als er wirk-
hch ging, wenn er kein Weib oder wenn er ein anderes als
^^ Theresia an seiner Seite gehabt hatte. Die Frage jenes
franzosischen Richters: „Wo ist die Frau?u war nirgends mehr
^ Platze als bei Kossuth Lajos", oder S. 273 : „Der General
ness die anriickenden Tonkiinstler (es handelt sich um eine
•
366 Rosen, G., Dio Balkan - Haidukon.
Katzenmusik, welche Lederer dargebracht werden sollte) sammt
Chor auseinandertreiben" etc.
Plauen im Vogtlande. Dr. William Fischer.
Lxxxn.
Rosen, Georg, Die Balkan -Haiduken. Ein Beitrag zur inneren
Geschichte des Slaventhums. gr. 8. (X, 336 S.) Leipzig 1878.
F. A. Brockhaus. 5,50 M.
Auf die historisch gewordenen Ereignisse der letzten Jabre,
Welche sich auf der Balkanhalbinsel gewissermassen vor unsern
Augen zugetragen haben, Bezug nehmend, bezweckt der Verf.
des genannten Werks, der als mehrjahriger Konsul des deutschen
Reichs in Belgrad den Verhaltnissen moglichst nahe gestanden,
unsere ethnographische Kunde von dem unter alien slavisehen
Nationen am wenigsten gekannten und am seltensten genannten
Volke der Bulgaren zu bereichern. Er versucht dies allerdinga
nur nach der einen Richtung hin, dass er uns mit der eigen-
thiimlichen Erscheinung ihres Volkslebens, dem Rauberwesen im
Balkan und den Sympathien, deren dasselbe in der Nation ge-
niesst, bekannt macht, als eigenthchen Kern seines Buches aber
„bulgarische Selbstbekenntnisse, gleichsam in vertrautem Kreise
gefaflene und nur fiir sie bestimmte Aeusserungen" bezeichnet,
wie er sie in der bulgarischen Haidukenpoesie gefunden, die er
im Versmasse der Originate ubersetzt, und aus der „Lebensge-
schichte des Haidukenfuhrers Panajot Hitow (von ihm selbst
bescbrieben, nebst Nachrichten iiber jetzige und fruhere Woi-
woden)" schopft.
Daraus leitet der Verf. in seinem Vorworte sowol, als auch
in seinen „erlauternden und kritischen Bemerkungen" zu Panajots
Lebensgeschichte zugleich die unmittelbare Bedeutung dieeer
nationalbulgarischen Stimmen fiir die Beurtheilung der grossen
Tagesfragen her, indem er darzuthun sich bemiiht, dass rder
vorjahrige Krieg mit seinen Grasslichkeiten in der Bulgarei seine
lokale Vorgeschichte habe, dass das bulgarische Banditenweseo
nach dem Krimkriege von fremden politischen Zwecken in Dienst
genommen sei und dass der Panslavismus, „die unsichtbare Ge-
walt" — in den untern Donaulandern sich die Herrschaft iiber
das Lebensgluek, ja das Leben vieler Verblendeten und Kom-
promittirten zu verschaffen gewusst habe, u. s. w. — aus dessen
unheilvollen Banden sich das Volk der Bulgaren losreissen miisse,
wenn es seine nationale Wiedergeburt statt durch Wiihlereien
und politische Intriguen, vielmehr und nur durch emstliche und
griindliche Arbeit an dem ^igenen geistigen und sittlichen Fort-
schritte erlangen wolle.
In dem 1. Theile der Flugschrift: „Allgemeines
iiber das Brigantenthu m im Balkan", — glaubt der
Verf. nachweisen zu konnen, dass der Balkan seit SJtester Zeit
sein Rauberthum besessen habe, dass die alten Bessen — Rauber
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Rosen, GM Dio Balkan -Haiduken. 567
gewesen und dass, da es dem Romischen Reiche in seiner grossten
Sfachtfiille nicht gelungen sei, dasselbe auszurotten, dies von der
Zeit seines Niedergangs, der Zeit der Volkerwanderung, endlich
nach dem Entstehen unabhangiger Slavenstaaten von derjenigen
de8 Byzantinischen Reichs nicht zu erwarten gewesen. Es scheine
vielmehr, dass nicht ethnographische , sondern topographische
Grriinde, steile Berggehange, dichte Bewaldungen, zahlreiche
Sehluchten und Felsenwildnisse der Hochflachen, — die Ein-
wohner unwiderstehlich an das Raubergewerbe fesselten. Als
tiewahrsmanner dafur, dass im Balkan schon vor Alters Rauber
gewesen, fiihrt der Verf. aus der Mitte des 16. Jahrhunderts,
der Zeit des kraftigen Regenten Suleiman II., den Reichsge-
sandten A. Ghislain Busbecq und fur das Jahr 1665 den eng-
Yiscben Botschaftssekretair Paul Rycaut an, welche er zum Theil
recht schauerliche Raubergeschichten erzahlen lasst.
Die Banditen des Balkans stehen iibrigens in einem gewissen
arspriinglichen Zusammenhange mit dem ungarischen Tieflande
und der siidostlich an dasselbe grenzenden Gebirgsgegend. Das
Wort haiduk (tiirk. haidut, bulg. haidutin) selbst ist ein vom
ungarischen Boden nach dem Balkan verpflanztes Fremdwort
(hadad, Stamm had, der Krieg) und bedeutet bei den altern
tiirkischen Historikern einfach die ungarische Infanterie im Gegen-
satz zur ungarischen Kavallerie (katana oder huszdr). Diese
haidones waren Von dem ungarischen Adel gegen die Tiirken
bewaffnete serbische und walachische Hirten, welche, nachdem
Sudungarn langst der Tiirkei einverleibt worden, den Krieg noch
in Form von Riiubern gegen alle Welt fortsetzten. Gab es nun
unter den Haidonen Sudungarns Bulgaren, die mit den Banditen
des Balkans in Verbindung standen, und gingen letztere haupt-
sachlich aus dem Hirtenstande hervor, so erklart sich die Ueber-
tragung des von Ungarn her bekannten Namens der Haiduken
auf die Bulgariens. Und Missvergniigte , von Steuerlast und
allerlei sonstigem Druck schwer Heimgesuchte gab es in der
europiiischen Tiirkei zu alien Zeiten, wobei es, wenn man nach
der Schuld fragt, schwer halt, zu entscheiden, ob die Verge-
waltigung der Pfortenregierung und ihre Lassigkeit in der Unter-
driickung des Haidukenthums oder die stille Begehungssiinde der
B«volkerung, welche die Rauber ins Gebirge sandte, schilrfer ge-
tadelt zu werden verdient.
Wenn aber der Verf. daflir die bulgarische Nation in erster
Linie verantwortlich macht und wiederholt erklart, dass sie von
alien slavischen Nationen die am wenigsten bekannte sei und im
civilisirten Europa ein sonderliches Interesse wach zu rufen
wol kaum im Stande sein diirfte, so ist beziiglich der noth-
wendigen Objektivitat seiner Darstellung doppelt zu bedauem,
dass er „den sehr tiichtigen Schriftstellern Hilferding und Kanitz,
welche fur die Bulgaren entschieden wohlwollend gesinnt sind",
die England^r S. G. B. Saint -Clair und Ch. A. Brophy ent-
schieden vorzieht, welche, — wie er selbst sagt, — „von einer
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368 Rosen, G., Dio Balkan - Haiduken.
gewissen Voreingenommenheit fiir das tiirkische und gegen das bul-
garische Bevolkerungselement des Landes niclit freizusprechensind*.
Indem er sich auf die wahrend eines dreijahrigen Aufenthalts
in der Gegend von Varna gemachten Erfahrungen der beidenletzt-
genannten beruft und deren Werk : A residence in Bulgaria or
notes on the resources and administration of Turky, London 1869,
al8 seine hauptsachlichste Quelle citirt, entlehnt er dem „Brigandage
in the Balkan" iiberschriebenen Kapitel derselben seine Kenntniss
von dem Banditenthum „innerhalb der bulgarischen Nation".
Ohne dem Verf. und seiner so eben angegebenen Quelle k
einzelne folgen zu wollen , konnen wir es uns doch nicht th-
sagen, die von ilir unterschiedenen 3 Arten von Briganten dai
nacb und nach des Verfassers Schilderung kurz zu charakterisireii:
1. Der Balkan-T schelebi oder der Edle vom Walde
ist in der Kegel der Sprossling einer Balkan- Bey -Familie, in
dessen Erinnerung der Glanz, die Macht und die Vorreckte der
Familie noch fortlebcn, der aber durch Bestechlichkeit der
tiirkischen Behorden seiner ihm noch gebliebenen Gerechtsane
zu Gunsten eines rankevollen Rajahs beraubt worden ist Aif
seinen Widerspruch vor den Pascha gefordert, sucht er der
verhassten Vorladung durch seine Flucht in den Wald m ent-
gehen, wo er sicher vor Verrath einzeln ein freies, wildromanti-
sches Leben fiihrt. In einem Engpasse, durch welchen eine Jnirz^
Strecke der Weg fiihrt, taucht er, die Pistole in der Hand plotz-
lich vor dem reichen armenischen oder griechischen Kaufherraauf
und fordert ihm sein Geld ab. Der Reisende uberlegt schnell, dap
das Leben besser sei als das Geld, und dass die Tiirkei ein
grosses Land ist, in dem er bald wieder zu Reichthum gelangeu
kann, und gibt das Geld her, wenn auch mit Gram, so doch
ohne Widerstand zu leisten. Selbst der zu seinem Schutz ito
begleitende Polizeisergeant halt es fiir rathsamer , seine Flinte m
die Luft abzufeuern und daheim der Behorde zu berichten, to®
er von einer Menge von Briganten angegriffen worden seirod
sich tapfer gewehrt habe. Der Edle vom Walde ist ja vielkicht
ein ferner Verwandter oder es betreibt vielleicht sein eig#r
Bruder in anderer Gegend dasselbe Geschaft. Zuweilen hat der
Balkan-Tschelebi auch manches mit dem irrenden Ritter der
Romane gemein, wenn er von einer Vergewaltigung des Amu"
und Schwachen durch den Reichen und Machtigen hort uw
nicht selten mit Blosstellung seines eignen Lebens bereit i»
eine Art wilder Gerechtigkeit zu iiben und dem Verletzten z«
seinem Schaden zu verhelfen. Mit der Zeit wird der Edle vom
Walde des unstaten Lebens uberdrussig: wenn die Jahre aul
sein Verbrechen einen Schleier geworfen haben und seine Gegw*
gestorben sind, kehrt er in sein Dorf zuriick und wird ein arbeit-
sames Glied der biirgerlichen Gesellschaft, auf dessen Character
sein Vorleben keinen Flecken hinterlassen hat. , .
2. Der Chyrsyz oder der Strassenrauber ist ^n^1
weitem schlimmerer Geselle. In der Regel ist er ein
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Rosen, G., Die Balkan - Haiduken. 369
gibt sich aber einen moslemitischen Namen und setzt sich 8tatt
der national - bulgarischen Schaffellmiitze einen dicken Turban
auf den Kopf, urn dem wehrlosen Tiirken gegenuber als Bulgare,
dem Bulgaren und Griechen gegenuber als Tiirke aufzutreten.
1st die Ernte schlecht oder die Steuer unerschwinglich , so
machen sich mehrere Spiessgesellen, mit Empfehlungen an ver-
8chiedene christjiche Dorfer versehen, zu einer Streife imWalde
auf, sie stehlen Pferde, Schafe, Kinder, entfuhren junge Dorfler
ins Gebirge und verlangen Losegeld fur sie. Des Weges arglos
vortiberziehende Reisende schiessen sie meuchlings iiber den
Haufen, berauben die Ermordeten alles Werthvollen und be-
graben die Leichen an einer entlegenen Stelle des Waldes,
worauf sie im nachsten Rajahdorfe einen Theil der Beute in
Wein und Branntwein verprassen , meist ohne sich einer Be-
Mligung ausgesetzt zu sehen oder am freien Abzuge verhindert
ru werden. Denn fast jedes Rajahdorf in der Bulgarei hat
einige Einwohner, die vor kurzem selbst Rauber gewesen sind
oder es bald wieder sein werden, fast jedes ist also entweder
unmittelbar an der Frevelthat betheiligt oder hat sich durch
TIebernahme des Raubes zum Mitschuldigen gemacht. Die tiirkische
Behorde hat deshalb gewohnlich nur das eine Mittel dagegen,
derartige Dorfer behufs Exekution mit Gensdarmen-Einquartirung
zu belegen 7 welche so lange auf Kosten des Dorfes isst und
trinkt, bis die Bauern dieselbe satt bekommen und selbst die
Rauber, ihre Freunde* ersuchen, diesen Theil des Landes zu ver-
lassen. Dann ist es dort eine Weile ruhig, bis sie wiederkommen.
Die Gemeindevorsteher (Tschorbadji) vermogen nichts dagegen
zu thun, weil sie personhch in keiner Weise geschutzt, der Rache
der Betheiligten stets zu allernachst ausgesetzt sind. Wenn der
Chyrsyz auch zeitweilig sein Erbgut meidet, so halt er doch an
demselben fest und macht sich oft vom eigenen Hofe, aus dem
Kreise angesehener Freunde und Verwandte zu seinem Streif-
zuge auf. Er kann wegen der Angst der Beschadigten , gegen
ibn klagbar aufzutreten, und wegen der Elendigkeit der tiirkischen
Sicherheits- und Justizpflege oft sein ganzes Leben straflos
bleiben oder im Falle einer Denunziation durch den Einfluss
einer angesehenen Sippschaft und durch Bestechung mit einer
leichten Strafe davonkommen.
3. Der Haiduk oder der Vogelfreie unterscheidet sich
von den beiden vorigen dadurch , dass er ausser in der eigenen
Bande keine Freunde, d. i. Hehler besitzt, dass er sich eines
yor den tiirkischen Behorden schwer wiegenden Vergehens wegen
,n seinem friihern "Wohnsitze nicht mehr sehen lassen darf , dass
ff keine Heimat mehr hat und von vorne herein gebrandmarkt
ist. Er hat die Schiffe hinter sich verbrannt, er ist entweder
gsrichtlich zum Tode verurtheilt oder sonst an seinem Heimats-
^ vom sichern Tode bedroht. Sein Verbrechen kann in nationalem
Vorurtheil und in politischen Verirrungen seine Entschuldigung
toden, in der Regel wird es ein gemeines Verbrechen, Meuchelmord,
llUtheiluugen a. d. histor. Lltteratur. VI. 24
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370 Bosen, G., Dio Balkan -Haiduken.
Todtschlag, Einbruch u. dgl. sein. Der Haiduk fuhlt sich in
offener, eingestandener Revolution gegen die Landesregierung.
Abweichend vom Balkan -Tschelebi, der sich allein seinem
Opfer gegeniiberstellt , thun sich Haiduken wie Chyrsyz mit
Schicksals- und G-esinnungsgenossen zusammen und bilden* Banden,
iiber deren Organisation die Haidukenlieder und die von Panajot
Hitow mitgetheilten Notizen ein ziemlich deutliches Bild ge-
wahren. Dabei handelt es sich zunachst darum, die nothigen
Mannschaften zusammenzubringen , wozu vor allem G-ewandtheit
gehort, Personalkenntniss und die Kunst, sich Vertrauen zu er-
werben. Die Unternehmer sowie die anzuwerbenden Leute mussen
von Leib und Gremiith stahlharte , an Hunger und Durst , Frost
und Hitze, Entbehrungen und Anstrengungen aller Art gewohnte,
Schmerz und das eigne Leben gering, das ihrer Mitmenschen
aber gar nicht achtende Wesen sein, wie solche die sogenannten
Koliben oder Sennliiitten auf der Hohe des Gebirges in Menge
beherbergen. Viele Mitglieder einer Bande sind also Hirten-
bursche, denen das abenteuernde Rauberleben mehr zusagt als
die einformige Beschaftigung mit der Heerde. Zu ihnen gesellen
sich dann die der obrigkeitlichen Verfolgung entsprungenen Straf-
linge aus den bulgarischen Ortschaften ferner Gegenden, wean
sie nur die erforderlichen Eigenschaften besitzen.
Durch die Wahl eines ersten und zweiten Oberhauptes und
durch Austheilung von Waffen wird zur Constituirung der Bande
geschritten. Der Oberanfiihrer heisst Wojwode oder Stari-Woj-
wode (Herzog oder Altherzog) , ihm geloben sammtliche Mitglieder
unbedingten Gehorsam zu leisten; das zweite Haupt ist der
Bairaktar, welcher das Panier der Bande tragt und in Abwesen-
heit des Chefs den Befehl iiber sie fuhrt. Die Wiirde des
Wojwoden kommt von rechtswegen demjenigen zu, in dessen
Erfahrung , Muth und Gliick die Genossen das meiste Vertraaen
setzen ; darum ist seine Stellung auch eine sehr schwierige , arf
ihm ruht die ganze Verantwortlichkeit ; er hat die Unternehmungea
vorzubereiten , er hat fur das tagliche Brod und die Sicherheit
der Bande zu sorgen. Brod (unter glimmender Asche ab und
zu frisch gebackener flacher Kuchen) , Kase aus den zahlreichen
Sennereien und Pastyrma (gesalzenes und an der Luft gedorrtes
Rind- oder Schaffleisch) , sowie zur Pastenzeit gedorrte Salzfische
sind ihre gewohnlichen Nahrungsmittel. Dazu fehlt es nicht an
Wein, der im Lande viel gebaut wird, und an Branntwein. Als
Festessen dient im Sommer ein Lamm, das ein Schafer in der
Nahe, oder im Winter ein junges Schwein, das eine benachbarte
Ortschaft liefern muss. Die "Wahl des Aufenthalts sowie der
Lagerstatte der Bande erfordert grosse Vorsicht und hat d^
Sommer zu wenig eingebracht, um in der Feme das Gewonnene
in Ruhe verzehren zu konnen, so mussen bei Zeiten f&r die
Ueberwinterung in den Hohlen oder Schluchten des Gebirges
Vorkehrungen getrofifen werden. Auf tadelloses Aussehen, iiba>
haupt gute InstandhaJtung der Waffen, als Flinten, Pistolen und
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Eosen, G., Die Balkan -Haidukeu. 371
Yatagans legen die Haiduken den grossten Werth. Sobald das
Gewerbe einen kleinen Ueberschuss ergeben, streift der Haiduk
die missfarbige, grobwollene Tracht des gemeinen Bulgaren ab
und tritt in geschmackvoller gescbnittenen Gewandern auf , der
Wojwode und sein Fahnentrager selbst mit goldgesticktem Dolman,
die blankgeputzten Waffen auf der Scbulter oder im Giirtel
tragend, wie es freien Leuten geziemt. Halt in solchem Auf-
zuge die ganze Bande, die aufgerollte Fahne beim Marsche
voran, in einem Dorfe oder Marktflecken ihren Einzug, so im-
ponirt sie den Bauern gewaltig, welche stolz sind, mit diesen
so selbstbewusst auf tretenden Kriegern wie mit ihresgleichen ver-
kehren zu konnen, und es ist nicbts natiirlicher, als dass der
Hirtenknabe , wenn er seinen Ziegen liber einsame Bergklippen
ton folgt, von dem Gliicke traumt, dereinst unter einem wackern
Fiihrer, der wie ein kleiner Souverain auftritt und von niemandem
unter der Sonne Befehle anzunehmen braucht, einer Haiduken-
bande anzugehoren.
Es hiingt aber nicbt nur die Hirten- und Bauernbevolkerung
mit einer gewissen Scbwarmerei am Haidukenthum, auch die
Stadtebewohner der Ebene bis zum Aegaischen Meere im Siiden
und bis zur Donau im Norden tbeilen diese Vorliebe. Erst
machte sich bei dem bulgarischen Haiduken die alien orienta-
lischen Nationen, einschliesslicb der turkischen, eigenthiimliche
Abneigung der Regierten gegen die Regierenden geltend, seit
aber die alle Leidenschaften der Masse aufregenden Nationalitats-
ideen auch zu den Volkern der Siidosthalbinsel Europas ibren
Weg gefunden, bildete sich im Balkan ein Haidukenthum von
nahezu rein politischem Charakter aus, von dem der Verf.
S. 34 wortlicb sagt:
„Wenn die Bulgaren in den Haiduken nationale Helden und
gleichsam ein Ueberbleibsel der alten Unabhangigkeit des Volkes
sehen, so findet dies eine Analogie erstens in dem Haiduken-
thum Serbiens im Anfang unsers Jahrhunderts und zweitens in
den Klephten der Griechen wahrend der Freibeitskampfe. Hier
^ie dort racht sich spat an der Pforte das liistorische Unrecht
der TJnterjochung anderer Nationen, sowie der politische Unver-
stand der herabwiirdigenden Behandlung dieser als willenloser
Heerde bei ibrer Belassung im Besitz ihres heimatlichen Bodens,
ibrer Sprache, Sitte und Religion. Es ist die tiirkische Miss-
i^gierung, welche ihren Freiheitsdrang gegen den moralischen
Werth seiner Vorkampfer so gleichgtiltig gemacbt hat; diese
Sleichgultigkeit selbst aber ist Tbatsache. Ausserdem hat man
aber die Bedeutung des Balkans fiir die von den Bulgaren be-
^ohnten Lander in Anscblag zu bringen. Obwol dieselben
weit iiber das Balkangebiet Hnaus durch Thracien und Mace-
donien ihre Sitze ausdehnen und ihnen von dem Gebirge selbst
ein reichliches Secbstel durch tiirkische Colonisation und Ueber-
tritt zum Islam verloren gegangen ist, so betrachten sie doch
ta& Balkan^ den wichtigsten Hohenzug der nach ibm benannten
24*
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372 Rosen, G., Die Balkan - Haidukcn.
grossen Halbinsel, sowol nach dem gegenwartigen vorwiegenden
Besitzstande , wie aucli nach historischen Erinnerungen als ihr
angestammtes Gut und ihren nationalen Mittelpunkt ; kein Bulgare
zweifelt, dass die Tiirken einmal das Land raumen, dass die Bul-
garen von neuem die einzigen Anwohner des Gebirges sein werden.
Da nun der Balkan gleichsam der Vater und Pfleger des Haiduken-
thums ist, so iibertragt sich auf letzteres die Idee eines Zube-
hors des gefeierten Volksheiligthums. Dazu kommt, dass wenn
der Haiduk die zukunftige Freiheit vom tiirkischen Joch anticipirt,
nur der Balkan diese Freiheit ermoglicht. Der Hirt und der Haiduk,
sagt Panajot, sind die einzigen freien Menschen in der Tiirkei;
auf das Gebirge schickt der Kadi keine Vorladung, kein Steuer-
sammler erscheint dort , keine Einquartirung wird angesagt , die
Verfolgungen, die der Pascha hinter den Haiduken hersendet*
sind rasch verfliegenden Gewittern vergleichbar , die Luft, die
der freie Sohn der Berge athmet, wird nicht dadurch getrubt*
Die Phantasie des Sudlanders malt sich dies alles schoner
aus, als es in Wirklichkeit ist ; iiber die Entbehrungen und An-
strengungen, mit denen jene Freiheit erkauft werden muss, geht
sie hinweg, sie weiss nicht, was es heisst, jeden Augenblick
bereit zu sein, Feindesblut zu vergiessen, ihr schmeichelt der in
seiner Idee durch das Rauberthum ermoglichte rasche Erwerb
von Beichthum, ihr gefallt dies Wiirfelspiel, wo allerdings das
Leben der Einsatz ist, jedoch alle Wahrscheinlichkeit den Ge-
winn eines sorg- und arbeitlosen Lebens verheisst.
Der 2. Theil der Schrift enthalt ,,Proben bulgari-
scher Haidukenpoesie" im Versmass der Originale iiber-
setzt. — Wie der Verf. erlautert, ist die bulgarische Nation
an echter Volkspoesie — im wahren Sinne des Wortes — wol
reicher als irgend ein Volk in Europa: die aus dem Vorrathe
ihres Gedachtnisses geschopften, irf Volksmund uberlieferten
Lieder werden durch einfache Melodien, fast ebenso gleicliform^
und zalilreich wie sie selbst und oft noch mit Tanzbewegungen
begleitet; so wandern sie von Ort zu Ort, von Geschlecht zu
Geschlecht, und ihr Fortleben beruht auf dem tiefen Eindruck.
den sie trotz ihres geringen asthetischen Weillies auf das Gemut
des bulgarischen Volkes machen. Erst seit ungefahr 18 Jahren
hat der dem Volksthiimlichen pietatvoll nachspiirende Sammel-
geist slavischer Gelehrten sich auch diesen reich vorhandenen
Gebildeji zugewandt und einiges davon nach mundlichem Vor-
trage zur VeroiFentlichung aufgezeichnet. Als Ergebniss dieses
patriotischen Fleisses bezeichnet der Verf. 2 hervorragende
Werke : 1. Die bulgarischen Volkslieder der Gebruder Miladinow,
die Bulgaren in Obermosien, Hoch- und Niedermacedonien be-
trefFend, und 2. Der bulgarische Nationalschatz des Wasili
Tscholakow, die Bewohner des Balkangebiets umfassend. — Die
von den Gebriidern Miladinow besonders aufgereihten 18 „Hai-
dukenlieder" sind mit vielen andern als ,.Schafer-, K3age- und
Heldenlieder" aufgezahlten sehr nahe verwandt, da sie eben-
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Rosen, G., Die Balkan - Haiduken. 373
falls auf das Haidukentlmm Bezug nehmen. Noch zahlreicher
nnd charaktcristischer sind die von Tscholakow aus den Ort-
schaften am Balkan selbst mitgetheilten Gedichte, welche viel-
fach wieder an die von Panajot Hitow aus der Gegend von
Sliwen stammenden erinnern. Wenn die Qebriider Miladinow
in der Vorrede zu ihrem Werke im allgemeinen sagen, dass,
wenn man in Einer Ortschaft an einem unerschopflichen Borne
gestanden zu haben meine, man gleich an einem andern Orte
eine ganz neue nicht minder ergiebige Quelle entdecke, so mag
dies daher speziell auch von der Haidukenpoesie gelten.
Durch seine „sich genau an das Original anschliessenden
Uebersetzungen der von Panajot in seinem Werke gegebenen
Proben" und durch die aus den ^Bulgarischen Volksliedern"
und dem „ Bulgarischen Nationalschatz " beigefiigte Vervoll-
standigung derselben gestattet der Verf. aucb uns einen Einblick
in diese Dichtungsart. Er unterscheidet dabei selbst eigentliche
Lieder, die von einem andern Halbchore gesungen am Ende jeder
Verszeil durch einen von einem Halbchore vorgetragenen Antworts-
refrain unterbrochenwerden, — und zukantilirenderRezitation einge-
richtete versifizirte Erzahlungen, wie deren Panajot bietet, welche an
poetischem Werthe den eigentlichen Liedern nachstehen diirften.
„Wie aber die Sympathien, deren sich das Haidukenthum
in der bulgarischen Nation in so hohem Grade erfreut, diese in
sozialer Hinsicht genugsam charakterisiren, so vervollstandigt
dasselbe in sittlicher Beziehung ihre grosse Vorliebe fur die
Haidukenpoesie, denn man kann nicht sagen, dass Lieder, welche
beruhmte Rauber verherrlichen , das Rauberleben preisen oder
auch nur die Erinnerung grasslicher Thaten verewigen und das
Scheussliche familiar machen, eine passende Nahrung fiir Geist
und Gemiit eines rohen Volkes seien."
Den 3. Theil des Werkes bildet „die Lebensge-
schichte des Haidukenfiihrers Panajot Hitow"
von ihm selbst beschrieben, nebst Nachrichten iiber jetzige und
fruhere Wojwoden, aus dem Bulgarischen iibersetzt. Er ist
der umfangreichste und auch fur den deutschen Leser, der die
Ansichten des Uebersetzers etwa nicht theilt, der interessantere,
insofern er ihn Land und Leute Bulgariens in origineller und
in8truktiver Weise kennen lehrt.
Nachdem Panajot iiber seine Herkunft und Jugendzeit kurze
Nachricht gegeben, theilt er mit, dass er erst bei einem Materialien-
handler in der Lehre gewesen, dann sich dem Metzgergewerbe
gewidmet und, weil ihm beide Berufsarten fiir die Dauer nicht
zugesagt, endlich einen Viehhandel mit Schafen, Ziegen und
Kiihen angefangen habe. Mit den Schwestern in Erbstreit ver-
flochten, bekam er ungeiahr im 30. Jahre seines Lebens Handel mit
dem tiirkischen Gerichte undhielt, nachdem er den Prozess und da-
unt den grossten Theil seines Vermogens verloren, seinen Aus-
zug in den Balkan, fest entschlossen, „an den tiirkischen Un-
holden Rache zu nehmen". Die Schonheit und Herrlichkeit der
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374 Rosen, G., Die Balkan -Haidukon.
Natur auf der im Friihlingskleide prangenden Stara Planina, im
schroffen Gegensatz zu der Noth und dem Elend der durch die tiir-
kische Bastonnade und die phanariotische GeistlichkeitzuSklaven
und willenlosen Maschinen herabgewiirdigten bulgarischen Bauern,
war wol dazu geeignet, im Herzen Liebe zum Vaterlande zn
nahren, aber auch den Hass gegen seine blutigsten Feinde zu
entflammen. So kam denn eine kleine „treu eintrachtige Ge-
nossenschaft" zusammen und sie fanden bald Gelegenheit „mit
einigen siindigen Seelen aufzuraumen". Als aber der Herbst
herangekommen , schickte sich ein Theil der Bande an in der
Walachei Winterquartiere zu beziehen, nur Panajot und sein
Schwager fanden in einer Schlucht unweit Sliwen verborgene
Unterkunft. In Verbindung mit Genossen aus der Umgegend
sinnen sie „auf Abstellung der Schandthaten, welche von Ttirken,
bulgar. Tschorbadjis und den jiingst erst aus Russland dort an-
gesiedelten Tscherkessen begangen worden", und bringen wenig-
stens den letztern eine vollstandige Niederlage bei
Aber ihre Unternehmungen gliicken nicht immer: in Folge
des Gestandnisses eines bei der gewaltsamen Beraubung des
Kadhi von Sliwen betbeiligten Spiessgesellen werden gegen
300 Bulgaren eingezogen, viele derselben Monate, andere Jahre
lang gefangen gehalten, noch andere zu lebenslanglicher Zwangs-
arbeit verurtheilt, wahrend 50 allein in den Gefangnissen starben.
Von der ganzen Gesellschaft entkamen ausser Panajot nur noch
2, die sich an einer sehr verborgenen Stelle der Walder ver-
steckt batten und denen denn auch — obwol vergeblich, — eine
Rauberhetze nachgeschickt wurde. Wiederholt zur Aenderung
ihres Aufenthaltsortes genothigt, suchten sie, neue Genossen an-
werbend, der Reihe nach die Distrikte von Schumla und von
Tyrnowo auf, den Winter liber zogen sie sich aber fern von
jeder Ortschaft auf die Matejska-Planina beim obern Tundscha-
kessel auf der Hohe des Balkan zuriick. Sehr strenge Kalte
zwang sie in Gebirgsdorfern Zuflucht zu suchen, wo „sehr treoe
und ergebene Freunde" sie unterstiitzten und besonders zu Weih-
nachten mit Wein, Branntwein u. dgl. beschenkten, „wie wenn
man dem Pathen Festgeschenke bringtu ; — sie stiegen dann in die
thracische Ebene an der Tundscha hinab und in den Kusten-
distrikt des Schwarzen Meeres, wo sie mit dort angesiedelten
tatarischen Mohamedanern in blutiges Handgemeng geriethen; —
fliichteten hierauf wieder nach den Gebirgen von Kazanlik und
Gabrowo, wo sie auf der Karlowo-Alpe Sicherheit sucht^i ; bald
aber von der Sakar-Pl. aus in das Maritzathal bis Adrian opel
streiften. Im Gegensatz zu den mit dem Schimpfnamen Koko-
schar (Hiilmerdieb) belegten und aus ihrer Gemeinschaft als ehrlos
ausgestossenen bulgarischen Raubern, die auch Christen iiberfallen,
fuhlt sich Panajot veranlasst, die Grundsatze ihrer Haiduken-
moral dahin zu entwickeln, dass der Beruf des eigentlichen
Haiduken seiner vollen Ueberzeugung gemiiss ein ehreiSiafter sei
und demgemass auch nicht durch ehrlose Tbaten geschandet
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Rosen, G., Die Balkan -Haiduken. 375
werden d&rfe: „Wir smd von Gott gesandt," sagt er, „um die
Armuth zu ,beschutzen und die Uebelthater zu ziichtigen, des-
halb miissen wir aber auch ehrsam sein, gerecht und treu. Die
bulgar. Nation hat keinen Kaiser, keinen Hort, keinen Heifer,
sie hat nur die Hoffnung auf Gott und auf urisern Heldenarm.
Darum muss der Haiduk die eigne Ehre hochhalten, damit er
die Wittwen und Schutzlosen behuten und trosten konne."
Mit dem Jahre 1862 beginnt Panajots politische Thatigkeit.
Unter verschiedenen Briefen erhalt er auch vom „patriotischen Public
cisten Rakowski" aus Bukarest ein Schreiben des Inhalts : „H6ret,
bulgarische Briider und Ihr tapfern Helden in den Bergen, seid brav,
seid zur Hand und harret der Zeit, der wir alle entgegensehn,
riistet Euch, Unser Vaterland wird bald frei sein, bereitet Euch vor !a
Darauf hin schickte er einen gewissen Paskal zu seinen Freunden
auf einer Rundreise durch Thracien und Macedonien und begab
sich selbst mit seinen Leuten nach der Srdna-Gora und dem
Gebiete von Kotel; denn „allgemein hielt man die Zeit der
Entscheidung fur ganz naheu. Aber der Belgrader Aufstand,
auf den die Missvergniigten viele Jahre lang gewartet, war
mittlerweile niedergeschlagen worden, die politischen Wirren
schienen plotzlich wieder vollstandig ausgeglichen zu sein; aus
Sistowa kam die niederschlagende Nachricht, es waren in Tyrnowo
zwei Bulgaren als serbische Emissare verhaftet und nach Kon-
stantinopel gebracht worden. In Folge dessen wurde die Land-
bevolkerung urn so mehr eingeschiichtert , als es die tiirkische
Regierung an "Wachsamkeit , wiederholten Rauberhetzen und
energischen Verfolgungen nicht fehlen liess: Hunger, Ent-
behrungen und Drangsale aller Art mehrten sich, und da es
der Bande auch unmoglich gemacht wurde, nach der Walachei
oder nach Serbien zu entkommen, theilte sie sich, der Fahnen-
trager und 7 Mann, die sich nach der Srdna-Gora begeben,
wurden dort aufgerieben und Panajot selbst, der sich wieder
Sliwen und dem Schwarzen Meere zu wandte, lief wiederholt
fiefahr durch Verratherei von Leuten, die ihm am nachsteu
gestanden, den Tiirken iiberliefert zu werden. Zu diesen Freunden
z^hlt Paskal , der sich dem Obersten von Sliwen ergeben hatto,
aber im entscheidenden Augenblicke, bevor er noch alle Geheim-
^se verrathen, durch Gift, das ihm die bulgarische National-
partei beigebracht hatte, unschadlich gemacht worden war.
So viel zur Probe fur die Illustration einzelner Ziige aus
dem Leben von Panajot Hitow nach eigenem Bericht. Ohne
™a des weitern auf seinen Irrfahrten und Streifzugen durch die
verschiedenen Theile der Stara - Planina zu folgen, sei kurz noch
erwahnt, dass er wiederholt von Serbien aus, wo er theils gast-
uch aufgenommen, theils von den Behorden der Grenze fern ge-
"^ten, ein burgerliches Gewerbe zu treiben genothigt wurde,
^d von Rumanien aus, wo er mit Rakowski und Genossen ge-
nennepohtische Verbindungen hatte, Einfalle in Bulgarien zu unter-
^ehmen und Aufstande zu erregen aufgefordert wurde. Besonders
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376 Rosen, G., Die Balkan -Haiduken.
bemerkenswerth sind seine Nachrichten iiber die Bildung einer
bulgarischen Militarkompagnie in Belgrad, welche dieseiben
Tendenzen verfolgte. Anfangs vereinigten sich bios 15 junge
Bulgaren aus Sistow und Umgebung, urn die Kriegskunst theore-
tisch und praktisch zu erlernen. Durch Freunde und Gesinnungs-
genossen wuchs diese Kompagnie bald auf 200 Kopfe an , doch
waren auch Bosnier, Herzegowsken und Montenegriner dabei;
spater kamen noch Kroaten, Dalmatiner und Serben aus Ungarn
dazu, wodurch sie die Starke von 300 Mann erreichte und im
serbischen Heere eine bevorzugte Stellung einnahm. Aber
sclion nach 3 Monaten anderte sich die Sachlage, statt des
bisher den neuen Soldaten pro Mann und Monat gezablten
1 Dukaten erhielten sie von der serbischen Regierung nur noch
jo 1 Rubel ausgezahlt und die gewohnliche Kost statt der friiher
bedungenen. Das erregte unter den jungen Leuten eine sehr
grosse Missstimmung und diese erreichte ihren Hohepunkt, als
ein Geographic -Lehrer aus sprachlichen Grunden Serbiens Grenze
bis iiber Salonik ausdehnte und Bulgarien auf die Strecke von
Tyrnowo bis Varna beschrankte. Die jungen Leute baten das
Kriegsministerium um ihre Entlassung, welche sie erst nach
vielen Unterhandlungen mit dem bulgarischen Comite in Bukarest
und einem aus Russland abgesandten Oberst K. erhielten. Von
der Walachei aus planten sie einen Einfall nach Bulgarien. Der
serbische Minister des Krieges, Blaznawatz, tadelte das Unter-
nehmen und f uhrte es unverholen auf „ d i e unsichtbare
Gewalt" zuriick, welche die bulgarischen Junglinge betriige
und in den offenen Tod fiihre. Auf dessen Wunsch ging
Panajot auch nach Bukarest, wollte aber unter keinen Dm-
stiinden an der Expedition nach der Bulgarei theilnehmen, weil
die Zeit dazu nicht angethan sei, Land und Volk keine Vor-
bereitung getroffen hatten, zumal aber Serbien und Griechenland
sich in keiner Weise, wie es doch einzig und allein zweckdien-
lich ware, an der Erhebung betheiligten.
In seinen erlauternden und kritischen Bemerkungen zu Pana-
jots Lebensgeschichte kommt der Verf. zu folgendem Besultate:
Bis zum Jahre 1862 hat das Haidukenthum Panajots die grosste
Aehnlichkeit mit dem Banditenwesen anderer Lander, wenn es
auch durch die grossere Ausdehnung der Hehlerschaft und durch
den im allgemeinen fest gehaJtenen, auf den eigenthiimlichen
Bevolkerungsverhaltnissen der Balkanhalbinsel beruhenden natio-
nalen Charakter sich vor diesem auszeichnen mag. Der seitherige
Erwerbsbetrieb desselben kann fuglich als ein Kampf gegen das
Eigenthum unter gewissen nationalen Beschrankungen und Bevor-
zugungen bezeichnet werden. Dazu stimmen auch die Berichte
iiber das Leben zeitgenossischer und fniherer Wojwoden. Der
einzige Unterschied zwischen dem Rauberleben der friiheren
Zeit und den von Panajot bis 1861 befolgten Grundsiitzen
scheint nur der zu sein, dass der nationale Charakter melir der
"Wirldichkeit entsprach und dass der Tschorbadji, der Archimao-
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Roson, G., Die Balkan -Haidukcn. 377
drit nicht weil er reich war, fiir vogelfrei gait. Erst mit dem
Jahre 1862 nelimen die Banden einen politischen Charakter an
und stehen die Haiduken als ein wesentlicher Faktor der Be-
freiung ihres Vaterlandes in revolutionaren Beziehungen zum
Auslande.
„Der Krimkrieg hatte die Welt beziiglich des Einflusses
Russlands anf die stamm- und konfessionsverwandte Rajah der
Turkei von einer Illusion befreit. Die vielfachen Bemuhungen,
Aufetande unter den christlichen Nationen der Balkanhalbinsel zji
erregen, waren bei den Griechen von unbedeutendem , bei den
Slaven von gar keinem Erfolge gewesen. Fiir den Kirchen-
schliissel von Bethlehem, nicht fur Christenthum und Humanitat
zog Russland sein Schwert. Der Krieg nahm seinen ungliick-
lichen Verlauf , der alte Glaube an die Uniiberwindlichkeit der
orthodoxen Grossmacht war bei Tiirken und Rajah erschiittert.
Zur "Wiederherstellung eines Prastigiums, das noch iiber das
friihere hinausgehen sollte, wurde nun in Russland die panslavi-
stische Idee zu Tage gefordert, welche allmalig im Lande selbst
solche Macht gewann, dass sie die innere und aussere Politik
beherrschte. Dieser Panslavismus fiirchtete ernstlich einen Aus-
gleich zwischen der herrschenden Nation und den durch Verdienst
nnd Handel wahrend des Krieges entschieden besser situirten
beherrschten auf dem Boden der materiellen Interessen. Um
dem vorzubeugen, mussten durch Sendlinge die Gemiither der
Leute erregt, dadurch die Pforte mit ihren Unterthanen verfeindet,
mussten die slavischen Provinzen der Turkei in einen Herd be-
standiger Unruhen verwandelt werden. Serbien sollte der Aus-
gangspunkt der Agitation sein, aber auch bei den Bosniern war
gewiihlt worden und den Montenegrinern war bei einem Kriege
gegen die Pforte serbische Unterstiitzung zugesagt worden. Es
8chien ein allgemeines Losschlagen auf der Balkanhalbinsel be-
vorzustehen ; von Belgrad erwartete man das Signal , Serbien
aber, welches der russischen Politik nicht traute, schloss, nach-
dem es durch Intervention der Machte sein nachstes politisches
Ziel, die Nichtwiederkehr der vertriebenen tiirkischen Civilisten-
kobnie erreicht hatte, Frieden mit der Turkei, seine compromittirten
Stammverwandten in den slavischen Immediatprovinzen sich selbst
uberlassend. Das ist der geschichtliche Hintergrund, von dem
Panajots Bericht iiber das Jahr 1862 sich abhebt."
wDie durch die tiirkische Polizei fast unmoglich gewerdenen
Haidukenbanden waren auf einmal, wie im Anfange unseres
Jahrhunderts unter ganz andern Kulturverhaltnissen wahrend der
Kriege Kara-Djordjes die serbischen Haiduken, — Nationalhelden
geworden und dadurch zu den wol wenig weisen, aber doch ehr-
uchen und anstandigen Freiheitsbestrebungen der bulgarischen
Nation in Beziehung getreten. Es war dies das Werk des Pan-
*Javi8mus, dem es gelang, die slavischen Balkanchristen zum
^horsam unter seine Befehle zu bringen. Durch Schulen , in
denen vornehmlich Politik getrieben wurde, durch Lesevereine
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378 Rosen, GM Die Balkan -Haiduken.
und politische Reiseapostel, endlich durch allerlei Druckschriften,
durch mannigfaches Anschlagen der nationalen Saite wurde eine
geistige Bewegung, mit welcher die Bildung nicht gleichen Schritt
hielt, noch mehr aber ein unverstandiger Diinkel unter den
BulgareA gefordert, die wie so viele andere von den Verhaltnisaen
zur Unbedeutendheit verdammte Nationalitaten jetzt.keine Grenze
des ihnen Moglichen anerkennen wollten, wenn nur der geistige
Druck des grieckischen Klerus, der physische der Pfortenherrschaft
abgeworfen wiirde. Allerdings ist dieser doppelte Druck einebe-
dauernswerthe Thatsache; wenn aber der Panslavismus durch
Forderung des Haidukenthums dagegen einen an kein Sittengesetz
gebundenen Kampf empfahl, da waren es sicher die Bulgaren,
denen damit der grossere Schaden zugefugt wurde."
Als besondern Anhang fiigt der Verf. seinem Werke noch
ein Greographisches Register bei. Es bildet dasselbe
eine Vielen gewiss sehr willkommene Erlauterung und Vervoll-
standigung der von Panajot Hitow in seinem letzten (XVII) Ah-
schnitt gebrachten allgemeinen Beschreibung des Balkans. Wenn
diese aber schon dem Bildungsgrade des aussergewohnlichen
Schriftstellers entsprechend , selbst bescheidene wissenschaftliche
Ansprtiche kaum befriedigt, so regt sie doch durch die zahl-
reichen sonst noch wenig aufgehellten Thatsachen, die sie bringt
das Interesse des lern- und wissbegierigen Forschers an, wie denn
auch Kanitz in dem zweiten Bande seines Donau - Bulgariens
wiederholt Anlass nimmt, des Panajot Hitow speziell nach dieser
Richtung hin riihmend zu gedenken.
In seinem Register hat aber der Verf. der Uebersichtlichkeit
wegen nicht nur die in dem erwahnten Abschnitte enthaltenen,
sondern auch die fruher bei den geschichtlichen Mittheilungen
angefiihrten LokaUtaten der Balkanhalbinsel in einem alphabe-
tischen Verzeichnisse zusammengefasst und die entsprechenden
Punkte mit der Kiepert'schen Karte moghchst in Beziehung ge-
bracht. Diese kleine Zugabe erhoht dadurch noch den Werth
des kleinen Werkes, welches zumal fur diese unsere Zeit, da die
BUcke von ganz Europa auf Bulgarien und den Balkan gerichtet
sind, und vielleicht noch fiir kommende Geschlechter den Schleier
von geheim betiiebenen Machinationen liiftet, um ein bedeutendes
und gibt Veranlassung , dasselbe fiir die weitesten Kreise aufs
warmste zu empfehlen.
Berlin. Zekeli.
Drnck von Osknr Bonde in Altcnbttrp.
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Mttheilungen
rub der
historischen Litteratur
herausgegeben von der
historischen Gesellschaft in Berlin
und in deren Auftrage redigirt
von
Dr. Ferdinand Hirsch.
VH Jahrgang.
Berlin, 1879.
Vorlag von Rudolph Gaertner.
Mohrenatrasje 18/14.
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Inhalts -Yerzeicliniss.
Seite
Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellnngen. Herausgegeben von
W. Oncken. Abth. 1, 2. (Hirsch) 97, 193
Andre e, Ethnographische Parallelen trod Vergleiche. (Schixmer) . . 191
Ainae Comnenae Alexiadis voh II ed. Reifferscheid. (Hirseh) . 133
Babelon, Les demiers Carolingiens. (v. Kalokstein) 118
Bachmann, Bdhmen and seine Nachbarlander nnter Georg v. Podiebrad
1458-1461. (Bohm) 812
Bauer, Christus nnd die Caeaaren. (Becker) 11
Baumg&rtner, Hermann v. Stahleck, Pfalzgraf bei Rhein. (Bresslau) 24
Baumgarten, Ueber Sleidana Leben nnd Briefwechsel. (Ermisch) . . 145
▼. Bernhardi, Geschichte Rnsslands nnd der enropfiisohen Politik in
den Jahren 1814—1881. m. (Bafflen) 72
Bernheim, Znr Geschichte des Wormser Concordates. (George) . . 22
Beyer, Der Limes Saxoni&e Karls des Grossen. (Meyer) 229
Bikelas, Die Griechen des Mittelalters nnd ihr Einflnss anf die euro-
palsche- Cnltnr iibers. von W. Wagner. (Hirsch) 25
Bottger, Wohnsitze der Dentschen in den von Tacitus in seiner Ger-
mania beschriebenen Lande. (Fobs) 19
Br e a si an nnd Isaacsohn, Der Pall zweier prenssischer Minister
(Voigt) 346
B*Ue, Geschichte der Jahre 1871—1877. I, II. (Rodenwaldt) . . 79, 375
v- Bunge, Die Stadt Riga im 13. nnd 14. Jahrhundert. (W. Fischer) . 308
Bemetriades, Die christliche Regiernng und Orthodoxie Kaiser Con-
stantins des Grossen. (Hirsch) 17
Bobel, Memmingen im Reformations zeitalter. (Brecher) 335
Droysen, Friedrich der Grosse nnd Maria Theresia nach dem Dresdner
Frieden. (Hirsch) 278
Bumichen, Geschichte des alten Aegyptens. I. (Hirsch) 98
backer, Geschichte des Alterthums. 5. Anfl. II. (Hirsch) .... 289
^8li, Die Zuricher Wiedertfiufer in der Reformationszeit. (Kirchner) . 52
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IV Inhalts-Verzeichniss.
Seta
Ewald, Studien zur Ausgabe des Registers Gregors L (Lowenfeld) . 115
Gerdes, Die Bischofswahlen in Deutschland unter Otto dem Grossen
in den Jahren 953—973. (Ilwof) 283
Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit in deutscher
Bearbeitung. Heransgegeben von Pertz, Grimm etc. Fortgesetzt
von W. Wattenbach. Lief. 6, 12, 16, 54, 55. (Hirsch) ... 226
Gindely, Geschichte des dreissigjahrigen Krieges. II. III. (E.Fischer) 150
Gladstone, Homer und sein Zeitalter. (EUger) 4
Go the in, Politische und religiose Yolksbewegungen vor der Refor-
mation. (Bohm) 141
Hansische Geschichtsbl&tter. Heransgegeben vom „Verein fur
hansische Geschichte". II. (W. Fischer) 256
Hegel, Ueber den historischen "Werth der alteren Dante -Commentare.
(Hirsch) 247
Heidenheimer, Machiavellis erste romische Legation. (Zermelo) . . 44
y. Helfert, Joachim Murat, seine letzten Kfimpfe und sein Ende.
(Bailleu) 282
v. Hellwald, Die Russen in Centralasien. (George) 81
Hensel, Die Familie Mendelssohn 1729—1847. (Hirsch) 374
Huhn, Geschichte Lothringens. (Schirmer) 64
v. Inama-Sternegg, Die Ausbildung der grossen Grundherrschaften
in Deutschland wahrend der Earolingerzeit. (Bresslau) .... 231
Jans sen, Geschichte des Deutschen Yolkes seit dem Ansgang des Mattel-
alters I, 2. (Schottmiiller) 264
Justi, Geschichte des alten Persiens. (Hirsch) 193
Eiepert, Lehrbuch der alten Geographic. (Hirsch) 103
Eirchner, Elsass im Jahre 1648. (E. Fischer) 269
Eleinschmidt, Die Eltern und Geschwister Napoleons L (Bailleu) . 358
Eolbe, Marburg im Mittelalter. (Kirchner) 256
Eomp, Fiirstabt Johann Bernhard Schenk zu Schweinsberg, der zweite
Restaurator des Eatholicismus im Hochstift Fulda. (Ermisch) . 147
Eoppmann, Eammereirechnungen der Stadt Hamburg. (W. Fischer). 262
Erichenbauer, Die Irrfahrt des Menelaos. (EUger) 9
Euhn, Ueber die Entstehung der Stadte der Alten. (Foss) .... 291
Lamprecht, Beitrage zur Geschichte des franzosischen Wirthschafts-
lebens im 11. Jahrhundert. (v. Ealckstein) 119
AafinqoSy At 'A&rjycu naql tec tiXrj tov o*<odexarov altuyog xava nrjyag
avex&ozovg. (Hirsch) ^ . . . 28
Act (An q 6g, A6yog ehnzijqiog elg to /udO-Tjfia zr$ sXXT}yt>xrjg ttnogiag.
(Hirsch) 32
v. Ledebur, Ednig Friedrichl. von Preussen. Beitrage zur Geschichte
seines Hofes, sowie der Wissenschaiten , Eiinste und Staats-
verwaltung jener Zeit. (Holtze) 184
Lehmann, Preussen und die katholische Eirche seit 1640. L
(Isaacsohn) 348
Lenz, Die Schlacht bei Miihlberg. (Rodenwaldt) 389
Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter seit der Mitte
t des 13. Jahrhunderts. 2. Aufl. II. (Meyer) 84
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Inhalts-Verzeiehniss. V
Selte
Loaaius, Jftrgen und Johan Uexkiill im Getriebe der Hvlandischen
Hofleute. (W. Fischer) 263
Martin, Beitrage zur Geschichte Bruno's I. von Kolu. (Ilwof) . . . 235
Martin, Das Leben des Prinzen Albert, Prinzgemahls der Kdnigin
von England. Uebersetzt von E. Lehmann. I. bis HI. (Gold-
schmidt) 366
Miscellaneenzur Geschichte Konig Friedrich s des Grossen. (Isaacsohn) 354
Monumenta Germaniae historica, Auctorum antiquissimorum
torn. II et in pars 1. (Hirsch) 295
Morel-Fatio, L'Espagne au 16e et au 17© siecle. (Philippson) . . . 269
Mailer nnd Dandliker, Lehrbuch der allgem. Geschichte. (Kirchner) 3
Nerger, Die Goldene Bulle nach ihrem Ursprunge nnd reichsrechtlichen
Inhalt. (Meyer) 273
Peschel, Abhandlungen zur Erd- und Volkerkunde , herausgegeben von
J. Ldwenberg. Nene Folge. (Dasse) 188
Preussische Staatsschriften aus der Eegierungszeit Konig Fried-
richs II. Bearbeitet von K. Koser. I. (Hirsch) 56
Programmenschau 1878. (Foss) 1
Programme nschau. Alterthnm. (Foss) 100
Programmenschau. Mittelalter. (Foss) 220
Programmenschau. Neue Zeit. (Foss) 332
Querner, Zur Frage nach der Glaubwiirdigkeit Lamberts von Hersfeld.
(Volkmar) 236
Rausch, Die staatsreehtliche Stellung Mittelitaliens unter Heinrich VI.
(Hirsch) 241
Read, Le tigre de 1560. (Schadel) .343
BeusB, Die Beschreibung des bischof lichen Krieges von 1592. Eine
Strassburger Chronik. (Schadel) 54
Rezek, Geschichte der Regiernng Ferdinands I. in Bohmen. L (Dwof) 46
BShricht, Beitr&ge zur Geschichte der Kreuzziige. U. ^Hirsch) . . 126
Ropertz, Quellen nnd Beitrage zur Geschichte der Benediktinerabtei
des h. Vitus in M.-Gladbach. (W. Fischer) 307
Sara n, Die Schwedische Invasion in Enrsachsen nnd der Friede zu
Altranstadt. (Ermisch) 277
v. SchlSzer, General Graf Chasot. (Koser) 281
Schrador, Keilinschriften nnd Geschichtsforschung. (Nowack) . . . 105
▼• Sflltl, Das deutsche Volk und Reich in fortschreitender Entwicke-
lung. (Koser) 376
Stadelmann, Friedrich Wilhelm I. in seiner Thfttigkeit fur die Landes-
kultur Preussens. (Isaacsohn) 352
Thaer, Verordnung Karls des Grossen iiber die kaiserlichen Gnter oder
H5fe. (Meyer) 230
Villari, Niccolo Macchiavelli und seine Zeit. Uebersetzt von B. Man-
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^ulliemin, Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft, deutsch
von J. Keller. (B6hm) 67
^&itz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VIII. (Hirsch) 302
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VI Inhalts -Verzeickniss.
BeUe
We n c k, Die Entetehnng der EeinhardabrunnerGeschichtsbucher. (Volkmar) 887
Woudt, Die Nationalitfct der Bevolkerung der deutschen Ostmarken
vor dem Beginn der Germanisirung. (Hwof) 118
Wenzel, Veranderungen der Karto Europas seit 1815. (Kirchner) . . 185
Wenzelburger, Greschicbte der Niederlande. I. (Batten) .... 319
Werunsky, Der erste Bdmerzug Kaiser Karl IV. (Kbnig) .... 136
Wiegand, Bellum Waltherianuin. (ScMdel) 252
Wigger, Geschichte der Familie Blucher. IL, 1. (Bach) 359
Wiponis gesta Cbuonradi II ceteraqne quae supers out opera, ecL 2.
recogn. H. Bresslau. (Hirscb) 21
Z earner, Die deutsdien Stadtesteuern , insbesondere die stadtiachen
Reichssteuern im 12. und 13. Jahrhundert (Bresslau) .... 243
t. Zwiedineck-Stidenhorst, Uober den Versuch einer Translation
des deutschen Ordens an die ungarische Grenze, (Meyer) ... 267
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I.
Programmenschau 1878.
1) GeschichteTarentsbisaufdieUnterwerfung
uoter Rom von Dr. Doehle, Oberlehrer. Beilage
zum Programm des Kaiserl. Lyceums zu Strass-
burg i. E. 187 7.
Der Verfasser bespricht im ersten Theile der Arbeit zuerst
die Quellen fiir die Geschichte der Stadt, die sich alle auf die
Werke des Antiochus von Syracus und des Ephorus zuruckfuhren
laasen. An die Griindungsgeschichte kniipft sich die Frage nach
der Bedeutung der IlaQ&eviat, und der des Oikisten Phalanthos.
Diesen Namen erklart der Verf. als einen Zunamen des Poseidon,
so wie den Namen Tarent gleich 6 Tdgag und dies bedeute nach
dem Verf. eine dem Poseidon geweihte Stadt.
Der zweite Theil bringt das eigentlich Historische und zwar
in drei durch die Natur der Dinge bedingten Abtheilungen. Zuerst
die Herr8chaft der Konige und Altbiirger bis zum J. 473, dann
die Bliitezeit , die gemassigte Herrschaft des Volkes , zuletzt die
Zeit der ziigellosen Democratic, welche den Untergang der Frei-
heit im J. 272 verschuldet.
2) Kaiserliches Lyceum in Colmar. „Ueber die
Quellen Plutarchs in der Biograp hie Alexanders"
von Dr. A. VogeL Colmar 1877.
Das Resultat der Detailuntersuchung wird S. 17 so formulirt :
^Plutarch hat fast ausschliesslich nach jiingern Werken
gearbeitet. Diese stiitzen sich zu einem Theile auf wol beglau-
bigte, altere Zeugnisse, speziell auf Aristobulos und Onesikritos,
folgen aber an andern Stellen auch der minder glaubwiirdigen
Ueberheferung , als deren Hauptvertreter Kleitarchos betrachtet
vird. Dieses Urteil trifft nicht nur das anon}rme Sammelwerk
wid Satyros, sondern auch die sogenannten Briefe Alexanders.
Es folgt daraus, dass der Inhalt der plutarchischen Biographie
Alexanders als eine im Einzelnen mit Vorsicht zu benutzende,
im Ganzen aber keineswegs zu verachtende Erganzung der
grb8seren Werke anzusehen ist.u
3) Gymnasium in Buschweiler. 1876/77. Ueber
Marsilius von Padua. 1. Theil. Oberlehrer
Dr. Schockel. Strassburg 1877.
Von diesem interessanten Vorkampfer der staatlichen Frei-
heit gegeniiber den Anmassungen der Papste wissen wir leider
nicht vieL Wir wissen, dass er ein Franciscaner gewesen und
i& dem Streite Ludwigs des Baiern mit dem Papste die Partei
dea Kaisers genommen und dessen Sache namentlich in seinem
"^rke; defensor pacis vertheidigt hat.
Mtttheilangeu a. <L hlstor. Llttcratur. VU 1
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2 Programmenschau 1878.
4) Fiirstlich Waldecksches Landesgymnasium
zu Corbach. 1876/77. Prof. Dr. Hermann GentheT
Director. Vom Director: Alterthiimer aus Wal-
deck und Pyrmont. Mengeringhausen. 1877.
Der Verf. hat seine Untersuchung mit verstandiger Ruhe
angestellt und halt sich ganz frei von dem sturmischen Local-
patriotismus , .der in jedem noch so elenden Flintenstein einen
Beweis fur die Existenz von der Cultur prahistorischer Menschen
findet.
Zuerst wird die Lage und die Zugehorigkeit des Landes zu
drei Gauen auf der Grenze der Sachsen und Franken festgestellt,
dann weist der Verf. nach, dass man bis ins 12. scl. 81 bewohnte
Platze aufzahlen kann, also noch vor der Zeit, ehe die Dorfer
in die8eh Gegenden sich bildeten. Von diesen 81 Platzen be-
stehen 20 nicht mehr. Zuletzt bespricht er die einzelnen Alter-
thiimer, die man gefunden.
5) Stadtisches Katholisches Gymnasium zu
Beuthen O.-S. 1876/77. Director Wentzel. Ueber
die geographische Lage und Entwick elung der
Stadt Beuthen in Ober-S chlesien von Dr. Ed-
mund Franke, Gymnasiallehrer. Beuthen O.-S.
1877.
Es ist gewiss hochst interessant und sehr anzuerkennen,
dass ein Geschichtslehrer an einem katholischen Gymnasium es
unternimmt, in objectiver Darstellung zu zeigen, welchen Segen
und welches Heil bornirtem katholischem Fanatismus und sla-
vischer Sorglosigkeit gegeniiber ein verniinftiges evangelisches
und deutsches Regiment verbreitet. Der Verf. hat ein sehr ver-
dienstvolles Unternehmen gewagt und hatten wir gewiinscht, dass
er statt der summarischen Uebersicht eingehender noch die
Sache behandelt hatte. Doch wollte das der Verf. nicht, eT
wollte nur einen Ueberblick gewahren und das ist ihm gelungen.
Zunachst schildert er richtig und verstandnissvoll die Lage
Beuthens, die es auf der Wasserscheide der Oder und Weichsel
einnimmt, und weist aus der Lage und Bodenbescbaffenheit
richtig die Bedeutung des Ortes nach.
Dann folgt eine kurze geschichtliche Uebersicht, die inter-
essant wird mit dem Jahre 1632, in welchem die Grafen Henkel
diese Besitzung erhielten. Wenn auch nur kurz, so wird doch
hinreichend klar geschildert , welch' ein Unheil die katholisch-
jesuitisch-polnische Reaction war, als sie nach dem Siege Ferdi-
nands II. iiber die Stadt hereinbrach. Erst Friedrich d. Gr.
machte der Wirthschaft ein Ende und bessere Zeiten begannen-
6) Materialien zu einer Geschichte der Stadt
Meseritz. II. Beitrag: Kirche und Schule von
dem Rector Dr. Adolf Sarg. Progymnasium sn
Tremessen. 1877.
Den ersten Theil dieser Arbeit haben wir schon friiher
angezeigt. Dieser zweite beginnt mit der Einfuhrung der Refor-
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Muller u. D&ndliker, Lehrb. der allgem. Geschichte etc. 3
mation und schildert dann die darauf folgende katholische
Reaction, die Umtriebe der Jesuiten, den Uebermuth der pol-
nischen Edelleute und die endliche Erlosung. Wir, die wir aus
jenen Gegenden Btammen, kennen polnische Wirthschaft zur
Geniige; wer sie aber nicht kennt und etwa fur die edle unter-
driickte Nation schwarmt, der moge bier die autbentiscben Be-
lege dafiir lesen, dass eine solche Nation es verdient, auf den
Aussterbeetat gesetzt zu werden.
7) Realschule zuForbach (Lotbringen) 1876/77.
Dr. Atorf. Die Geschichte der friiher^n Herr-
schaft Forbach. Saarbriicken 1877.
Die Triimmer der Burg Forbach liegen auf dem 340 Meter
hohen Schlossberge. Die erste Nachricht von diefeer Herrscbaft
stammt aus dem Jabre 1070, da geborte sie zu Oberlothringen.
Damals kam die Herrschaft an die Abtei Vanne, spater an einen
weltlichen Herrn. Im 13. scl. ist sie im Besitze der Grafen
Rixingen, gegen Ende des 15. in dem der Leiningen, seit 1756
besass sie der Herzog von Pfalz - Zweibriicken , der sie seiner
morganatischen Gemahlin zuwies. In der franzosischen Revolution
wurden sie dieser geraubt.
Berlin. * Foss.
IL
Mii Her, J. ). , und D&ndliker, K., Lehrbuch der allgemeinen
Geschichte fiir hohere Volksschulen, sowie zur Selbstbelehrung.
Zweite umgearb. Aufl. gr. 8. (XV u. 360 S.) Zurich 1878,
Fr. Schulthess. 3,60 M.
Das vorliegende Buch ist eine vollstandige Neubearbeitung
der Weltgeschichte von Kottinger. Hauptzweck dabei war, die
geschichtlichen Erscheinungen in ihrem ursachlichen Zusammen-
hange und in ihrer continuirlichen Verkettung'darzustellen. Dabei
kam es besonders darauf an, dass, ohne einen einseitig nationalen
Standpunkt festzuhaJten, die treibenden Ideen einer Zeit in alien
ihren, oft unerwarteten und zerstreuten Aeusserungen verfolgt
wurden. Wenn auch das Buch, wie jedes gute Schulbuch, den
Lehrer nicht iiberfliissig macht, so sind doch die Wendepunkte
der Geschichte ausfiihrlich dargestellt, Nebensachliches an Zahlen
und Daten dagegen moglichst fortgelassen.
Sehr zu loben ist der Verfasser Bestreben, alles Unwahre
und Sagenhafte zu vermeiden. Denn man kann der Jugend
nicht friih genug die Wahrheit mittheilen , sie hat ja ohnedies
soviel falsche Vorstellungen im Laufe ihrer Entwickelung erst
abzulegen und zu verlernen. Auch darin stimmen wir den Ver-
fassern vollig bei, dass sie nicht hauptsachlich Kxiege und Staats-
actionen berichten wollen, sondern Ctdturgeschichte. Daber
haben sie, deren Hauptziel ist , die Bildung ihres Volkes zu be-
fordern , wohl ein Recht, Voltaire's schones Wort aus dem Essai
gur les moeurs et r esprit des nations zur Devise zu wahlen:
1*
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4 Gladstone, Homer und sein Zeitalter.
Je considere done ici en general le sort des homines plutot que
les revolutions da trone. Mon but est toujours d'observer Fesprit
du temps; e'est lui qui dirige les grands evenements du monde.
Die neueste Geschichte bis 1877 ist beriicksichtigt , beson-
ders darin die wissenschaftlichen , commerciellen und socialen
Bestrebungeu. Den Schluss des Buches bildet eine eigenthum-
lich gearbeitete chronologische Uebersicht. Dieselbe soil nicht
wortlich „eingepaukt" , sondern durchgearbeitet und so den
Schulern angeeignet werden, und zwar ganz allmahlich und
durch ZusammensteUung ahnlicher, oder einander bedingender
Ereignisse (z. B. 1046, 1077, 1215, 1245, 1303).
Wir konnen daher das Buch nach Inhalt und Form nur
empfehlen.
Berlin. Lie. Dr. Friedr. Kirchner.
m.
Gladstone, W. E. , Homer und sein Zeitalter. Eine Unter-
suchung iiber die Zeit und das Vaterland Homers. Autori-
sirte und auf Veranlassung des Verfassers ubertragene deutsche
Ausgabe von Prof. Dr. D. Bendan. gr. 8. (XXV, 315 S.)
Jena 1877. H. Costenoble. 6 M.
Nach dem Verf. (p. 3) ist das Studium der homerischen
Gesange so mannigfaltig, schlagt es in fast jedes Gebiet der
lebenden und bleibenden Interessen der Menschheit ein, dass er
es von dem gewohnlichen Studium der griechischen Schriftsteller
trennen und eine besondere Homerologie annehmen zu miissen
glaubt. Ein Blick auf die Verschiedenartigkeit und Menge der
literarischen Erscheinungen , welche sich in den letzten Jahren
iiber Homer aufgehiiuft haben, zeigt allerdings, dass der Ver-
fasser mit seiner Behauptung nicht Unrecht hat. Aber er selbst
hat gleich von vorn herein unterlassen, eine aus den angefuhrten
Thatsachen sich ergebende Folgerung zu ziehen. Wenn in der
Homerologie sich die verschiedensten Richtungen der Wissen-
schaft vereinigen, so ist bei der Unzulanglichkeit des zu Grunde
liegenden Materials nur dann ein fur die Wissenschaft belang-
reiches Resultat zu erwarten, wenn mit moglichster Beherrschung
aller dieser Richtungen, soweit sie fiir Homer in Betracht
kommen, eine strenge Methode des Urtheils sich verbindet. So
verlockend die Homerologie fiir den Dilettantismus ist, ebenso
ungeeignet ist sie auch fiir ihn. Hatte der Verf. diese Erwagung
angestellt, so wiirde er es sich versagt haben, ein neues Bach
iiber Homer zu schreiben.
Denn auch Gladstone ist fiir die Homerforschung nichts
mehr als ein Dilettant, so bedeutend auch die Autoritat des
beruhmten Staatsmanns auf andern Gebieten sein mag. Den
Unterschied zwischen Epos und historischer Urkunde liisst er
vollig unbeachtet; er vergisst die freischaffende Phantasie des
dichtenden Volksgeistes und behandelt Zahlen, Genealogien u. & w.
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Gladstone, Homer und sein Zeitalter. ' 5
in den homerischen Gedichten als historische Wahrheit. Dabei
hat er keine Ahnung von den Veranderungen, die der homerische
Text, mag er auch von noch so conservativem Standpunkt ange-
sehen werden, erfaliren haben muss. Ein Widerspruch z. B.
mit dem Schiffscatalog wird p. 93 ohne Weiteres einem Wider-
spruch gegen den Dichter selber gleich gesetzt. Cf. p. 84 f. In
Bezug auf seine Method e erklart er zwar p. 2, er habe sich be-
strebt, zwischen Sicherem und Wahrscneinlichem, zwischen Wissen
mid Vermuthen sorgfaltig zu unterseheiden , leider aber ist
ihm dies keineswegs gelungen. Seine^ Schliisse zieht er meist
aus Urtheilen , denen nur die Qualitat* der Moglichkeit zu-
kommt; dabei gehen ihm auch diese Urtheile selber oft unver-
merkt in solche der Wirklichkeit ocfer Nothwendigkeit iiber.
Yor allem aber lasst er seiner Phanta,sie freien Lauf , so dass
das Resultat, welches wir schliesslich erhalten, nicht ein Beitrag
zur altesten griechischen Geschichte, sondern ein eitles Luft-
gebilde ist.
Den Kern des Buches bilden zwi im Contemporary Review
in den Monaten Juli und August 1874 erschienene Abhandlungen
des Verfassers. Es zerfallt demnach in zwei Theile, die mit
einander in nur geringem Zusammenhang stehen.
Der erste Theil ist durch die Funde Schliemanns veranlasst
worden und schliesst sich im Wesentlichen an G. v. Ecken-
brechers Arbeit iiber die Lage des homerischen Troja an. Im
1. Cap. wird nachzuweisen versucht, dass die Anhaltspunkte,
welche die homerischen Gedichte fur ein Urtheil iiber die Lage
von Troja gewahren, auf Hissarlik deuten und nicht auf Bunar-
baschi. Im 2. Cap. findet der Verf., dass dieses Resultat durch
die von Schliemann auf Hissarlik gefundenen Alterthiimer be-
statigt werde. Mit Schliemann ist er der naiven Ueberzeugung,
<^s derselbe die Poseidonische Mauer, das Skaische Thor, den
Palast des Priamus, den grossen Thurm von Troja, die 3chon
gepflasterte Strasse nach dem Skaischen Thore, ja sogar von
dem II. 22, 468 ff. beschriebenen Kopfschmuck der Andromache
die atu7tv^ und die ithewtrj avadia(xrj u. a. m. wieder gefunden
babe. Wenn die Uebereinstimmung zwischen den in Hissarlik
bios gelegten Gegenstanden und den in den Gesangen beschrie-
benen keine vollstandige sei, so komme dies daher, dass Homer
die Stadt erst besucht habe, als sie bereits niedergebrannt ge-
wesen sei, und deshalb zwar noch die massiveren Spuren und
Reste, aber nicht mehr die tragbaren und beweglichen Gegen-
atande gesehen habe. Im 3. Cap. wird die Ansicht vertreten,
dass Homer ein europaischer Grieche gewesen sei und vor der
dorischen Wanderung gelebt habe. Weil dieser Ansicht der
Hymnus an den Delischen Apollo widerspricht, bemiiht sich der
Verf. zuletzt in einem 4. Cap., denselben als nicht von Homer
gedichtet zu erweisen, ein Bemiihen, das er sich hatte ersparen
tonnen, wenn er die Literatur der Deutschen Gelehrten iiber
die8en Gegenstand auch aus der neueren Zeit und nicht bios
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6 Gladstone, Homer und sein Zeitalter.
Matthiae und Ilgen gekannt hatte. — Die ersten 3 Capitel des
ersten Theils beweisen nicht, was sie beweisen sollen, das letzte
wiederholt einen Beweis, der schon langst gefiihrt ist, ohne etwas
Neues hinzuzufiigen.
In dem zweiten umfangreicheren Theil sucht der Vert Er-
gebnisse aus der modernen Aegyptologie fiir die Homerforschung
zu gewinnen. In einem ersten, mehr chronologisch - politischen
Capitel, in welchem er sich wesentlich auf die Forschungen der
franzosischen Gelehrten Lenormant, De Rouge, Chabas stiitzt,
gelangt er zu dem Resultat, dass der trojanische Krieg 1316 bis
1307 v. Chr. durchgekampft worden sei; in einem zweiten, mehr
culturhistorischen Capitel, in welchem er besonders Lauths
„Homer und Aegypten" beniitzt, sucht er die agyptischen Ele-
mente in den homerischen Gedichten festzustellen. Ret muss
gestehen, dass ihm schon diese Gewahrsmanner auf dem ange-
fuhrten Forschungsgebiet mehr als bedenklich erscheinen.
Was im ersten Capitel die historische Verwerthung der
agyptischen Inschriften anlangt, so scheint sie ihm gegenwartig
noch an zwei Gebrechen zu leiden. Zunachst steht theils in
Folge von Eigenthiimlichkeiten der Schrift, theils ungeniigender
Lesung in vielen Fallen der inschriftliche Text nicht fest. So
ist es zweifelhaft, ob auf der Inschrift Rameses II. Drdni oder
Dldni oder Dndni zu lesen ist, ob Huna, Iruna, Aluna, Aruna
gesprochen werden muss. (Cf. hieriiber wie iiber das Folgende
den Jahresbericht fiir griech. Geschichte von Volquardsen im
4. Jahrg. der Jahresber. iiber die Fortschr. der class. Alter-
thumswissensch.) Sodann aber ist es em falschliches Bestreben,
besonders der genannten franzosischen Gelehrten, die so zum
Theil nur vermutheten Namen mit solchen, die aus ausser-
agyptischen Urkunden behannt sind, und zwar mit moglichst
beruhmten zu identificiren. Als ob wir nicht vielmehr von rorn
herein annehmen mussten, dass entsprechend der Zeit und dem
Ort der agyptischen Demkmaler die in ihnen erwahnten Nameu
uns zum grossen Theil als sonst unbekannt zu gelten hatten.
Zwar behauptet Lenormant, aile Aegyptologen stimmten diesen
Identificirungen bei, doch Brugsch hat sich entschieden dagegen
erklart. Wenn er freilich z. B. jenes oben erwahnte Didni
oder Dldni oder Dndni, dessen Erklarung durch Dardaner den
Franzosen zweifellos ist, als das in den Keilinschriften erwahnte
Danildan liest, so verfallt er in denselben Fehler, alles wissen
zu wollen. A. v. Gutschmid hat mit grossem Recht zur Vor-
sicht den Assyriologen gegenuber gemahnt, doch auch den
Aegyptologen scheint zum Theil die ars nesciendi abhanden ge-
kommen zu sein.
Auf einer solchen Grundlage nun baut Gladstone zum Theil
noch unsicherere Pramissen auf, urn zu Schliissen iiber die Zeit
des Trojanischen Krieges zu gelangen. Die wichtigsten sind
folgende:
1) In der Inschrift Rameses IL d. i. ungefahr 1406 v. Chr.
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Gladstone, Homer trad sein Zeitalter. 7
kommen die schon mehrfaoh erwahnten Drdni oder Dldni oder
Dndni d. i. die Dardaner vor. Dardaner aber hiessen die Ein-
wohner der Troas wahrscheinlich nur 60 Jahre lang, nanilich in
den Zeitaltern des Dardanos nnd Erichthonios , da unter des
letzteren Sohn Tros der Name Troer dafiir eintrat ; also hat die
Herrschaft des Dardanos , je nachdem das in der Inschrift er-
wahnte Ereigniss in den Anfang oder das Ende dieses sechzig-
jahrigen Zeitraums fallt, in den Jahren 1466 — 1406 v. Chr. be-
gonnen. Nun gehort Dardanos aber nach der von Homer ge-
gebenen Genealogie der 7. Generation vor Hector, Paris, Aineias
an, hat also ungefahr 180 Jahre vor dem Trojanischen Krieg
gelebt, folglich fallt der Trojanische Krieg zwischen 1286 — 1226*
Fieilich nimmt Lenormant an, dass die in der Inschrift genannten
Dardaner die Dardaner von Ilios waren. Ilios ist aber erst von
JIos, dem Sohne des Tros , erbaut worden. Fallt also das Jahr
1406 in die Generation des Ilos, so muss der Regierungsantritt
des Dardanos wenigstens urn eine Generation friiher gesetzt wer-
den. Urn daher auch diese Moglichkeit zu beriicksichtigen,
werden als zeitliche Grenzen fur den Troischen Krieg die Jahre
1316 und 1226 'v. Chr. angenommen.
2) Unter Merepthah ungefahr 1345 v. Chr. werden die
Achaiusha erwahnt. Dies sind die Achaer. Achaer aber hiessen
die Griechen nur etwa 100 Jahre lang vor und nach dem
Trojanischen Kriege. Wahrscheinlich fallt somit der Trojanische
Krieg 50 oder 60 Jahre nach jenem Datum, darnach also
1345-1285 v. Chr.
3) Unter Ramses HI. 1306 werden die Daanau genannt.
Dies sind die Danaer. Nun fuhrten die Griechen diesen Namen
allerdings, ehe der Name Achaer gebrauchlich wurde. Doch
iann man auch annehmen, dass man, nachdem der Achaische
Name ausser Gebrauch gekommen war, aus Noth den alten
Namen Danaer wieder hervorsuchte. Hiernach ist somit der
Trojanische Krieg in die Jahre 1387—1307 zu verlegen.
Vergleicht man diese dreifachen Zeitgrenzen, so findet man,
<k8s gerade die 10 Jahre 1316 — 1307 fur den Trojanischen
Krieg alle Berechnungen befriedigen (p. 223).
Was von dem Verf. sonst noch in diesem Capitel angefiihrt
^d, soil wohl nur zur Bestatigung dieses Ergebnisses dienen.
Die Troica fanden darnach zur Zeit der Thebanischen Monarchic
stett; diese reichte aber annahernd von 1530 — 1100. Ferner
sollen die Homerischen Gedichte der Periode bis 1209 angehoren,
^ der Sidon den Vorrang in Phonicien behauptete und noch
aicht von Tyros iiberfliigelt worden war; denn von Tyros findet
aich keine Spur, als dass „Tyro die Grossmutter Nestors und
eia Abkommling von Poseidon" war (! I). Wir werden una daher
aach nicht mehr wundern, dass nach Gladstone Memnon ein
Keteier ist, diese aber den Kheta in der Inschrift Barneses H.
gleich zu setzen sind, dass die Legende des Pseudo - Odysseus
^hts weiter ist als eine Entlehnung aus dem Feldzug gegen
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8 Gladstone, Homer und sein Zeitalter.
Mereptbah, dass die Fahrt des Sekiffes Argo gegen Colchis darum
unternommen wurde, weil die Colchier zur Race der National-
feinde Griechenlands , der Aegypter, gehorten, dass die Ver-
herrlichung Achills das Echo ist der in dem Pentaour von
Rameses II. erzahlten Kriegsthaten, dass aber auch dieses „unge-
heuern Wolliistlings" 166 Kinder, von denen 59 Sohne waren,
das Vorbild zu den 50 Sohnen und der nirgends genau ange-
gebenen Zahl von Tochtern des Priamus abgegeben haben.
Griechenland ist namlich dem Verf. zur Zeit der agyptischeE
Seeherrschaft eine agyptische Provinz; die,Aeoliden, welche mit
dem nicht-hellenischen Titel aval; avdqtov bekleidet sind (p. 229)
und meistentheils dem Poseidondienst anhangen, sind die agypti-
schen Statthalter oder Satrapen; der Zug der Sieben gegen
Theben, der Angriff der Epigonen, die Argonautenfahrt, die aof
den agyptischen Denkmalern vermeintlich erwahnten Einfalle in
Aegypten sind die nationalen Befreiungskriege von der agypti-
schen Weltherrschaft. Dass von diesem allem die Homerischen
Gedichte nichts wissen, zum Theil sogar auf das Gegentheil
deuten, darin wird jeder Unbefangene dem Ref. beistimmen. Wie
jedoch Gladstone p. 153 den Einwand Rawlinsons, dass die
Achaer und Lakonier selbst zur Zeit Homers von fremden Schiffen
in Griechischen Gewassern ausser den Phonicischen nichts wussten,
zugeben kann, ist unverstiindlich. Freilich behauptet er p. 216 1,
Homer habe in Folge seines starken Gefiihls fur Griechenland
und das Griechenthum die directen Zeichen seiner friiheren Be-
ziehungen zu Aegypten unterdriickt v oder so viel als moglich
reducirt; doch hieraus scheint nur hervorzugehen , dass dem
Verf. die Eigenart der Homerischen Poesie noch ein Rathsel ist
Diesem ersten Capitel entspricht das zweite iiber Homers
agyptisches Wissen. Dass die Griechen manches Cultarelement
aus Aegypten, wenn auch nur im seltensten Falle direct, iiber-
kommen haben, dass auch in den homerischen Gedichten Spuren
davon sich finden mogen, soil nicht geleugnet werden. Aber ist
denn jede Aehnlichkeit in der Religion, in den Sitten nnd
Gebmuchen zweier Volker ohne Weiteres auf Entlehnung zuriick-
zufuhren? Konnen nicht, zumaJ in allgemein menschlichen An-
schauungen und Handlungen, zwei Volker auch unabhangig von
einander auf dasselbe treffen? Nach Gladstone ist dies kaum
der Fall. Homers agyptisches Wissen, das er sich besondew
an den Hofen der agyptischen Aeolidten erworben hat, ist von
einer Ausdehnung, die wohl noch niemand geahnt hat. Es wiirde
dem Zwecke dieser Zeitschrift nicht entsprechen, alle die Einzel-
heiten, welche vorgefuhrt werden, besonders durchzugehen. Wirk-
liche Beweiskraft gewinnt in diesem Ensemble keine einzige
Erorterung. Zum Schluss werden noch besonders etymologische
Deutungen griechischer Worter aus agyptischen nach Lantb
gegeben. Als Beispiel will ich nur eine der letzten anfuhreiL
Der Verf, findet es geistreich, dass Lauth das homerische (5 ^roVrw
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. Krichenbauer, Dio Irrfahrt des Menelaos. 9
von dem Konig Pupui ableitet, der „den wundervollen See
Moeris machteu.
Auf eine nahere Beurtheilung einzugehen , darf ich mir
wohl erlassen. Ich glaube, das Angefiihrte geniigt, urn zu be-
weisen, dass mein oben ausgesprochenes Urtheil, Gladstone hatte
das Buch nicht schreiben sollen, begriindet war. Merkwiirdiger
Weise ist auch die Uebersetzung in das Deutsche hochst mangel-
haft. Die Wahl der Ausdrucke und Wendungen, die Beziehung
der Pronomina, die Wortstellung, die Satzgliederung macheri dem
Uebersetzer noch grosse Schwierigkeiten. Statt weder . . . noch
braucht er z. B. die Partikelverbindung weder , . . oder. Da
auch eine grosse Menge von Druckfehlern hinzukommt, so lasst
act nicht einmal sagen, dass das Buch sich bequem lese.
Berlin. ' G. Ellger.
IV.
Krichenbauer , Anton, Die Irrfahrt des Menelaos, nebst einem
Anhange zur Aufklarung iiber die Rosenfinger und den Safran-
mantel der Sonne. Progr. des k. k. Gymnasiums in Znaim.
1877. 8. (32 S.)
Die Fortschritte der modernen Wissenschaft werden immer
8taunenswerther. Wer hatte je gedacht, dass die Griechen schon
in der Mitte des 15. Jahrh. v. Chr. das Kathsel der Umschiffung
Afrikas gelost batten? A. Krichenbauer hat es bewiesen. Ja,
es muss sogar eine allgemeine Begeisterung fur die Losung dieses
geographischen Problems unter den Griechen der damaligen
Zeit bestanden haben. Zwar hat nur Odysseus allein das Werk
wklich vollendet, wie der Verf. in seiner friiheren Schrift „Die
Irrfahrt des Odysseus als eine Umschiffung Afrikas erklart.
Berlin 1877." gezeigt hat, doch auch Menelaos, lehrt uns seine
neueste Arbeit, hat das Wagniss unternommen und ist nur durch
ungiinstige Winde abgehalten worden, iiber Sokotora am
Golf von Aden hinauszukommen. Von Aias aber und Agamemnon
ist es hochst wahrscheinlich, dass sie noch weiter gelangt sind;
der erstere hat allem Anschein nach in der Nahe Madagaskars
Schiffbruch gelitten, der letztere ist am Cap der guten Hoffhung
vom Sturm iiberfallen worden.
Dem Verf. ist es namlich gelungen, ganz neue Mittel fur
die Homerforschung ausfindig zu machen, Kosmologie und Astro-
nomie. Damit ihm nach der Publication dieser Entdeckung die
Friichte derselben nicht entzogen werden konnten, hat er sie
gleich selbst nach Kraften ausgeniitzt. Es versteht sich von
selbst, dass jeder Widerstand der Ueberlieferung dagegen ge-
brochen werden muss. A. Krichenbauer ist in dieser Beziehung
vollig souverain und sagt L'histoire c'est moi.
Im Text der Odyssee steht geschrieben, dass Menelaos auf
Pharos zuriickgehalten worden sei. Passt jedoch die bekannte
lnsel vor dem spateren Alexandriei* zu des Vert's Ueberzeugung?
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10 Krichenbauer, Die Irrfahrt des Menelaos.
Nein, folglich hat man sicli die Insel Sokotora am Ausgang des
Golfs von Aden darunter zu denken. Wem etwa ja noch ein
Zweifel beikommen sollte, dem wird er durch folgende Grunde
genoinmen :
1) d, 355 heisst es von Pharos, es liege 7tQ07idQ0i&ev Ai-
yvrtTOV) vor Aegypten. Da nach A. Krichenbauer Menelaos im
indischen Ocean sich aufhielt, so kann dies nur auf eine Insel
siidlich von Aegypten sich beziehen.
2) <J, 360 f. wird gesagt, dass auf der Insel Pharos dem
Menelaos keine gunstigen Winde erschienen seien, „die Geleiter
der Schiffe iiber den breiten Riicken des Meeres". Diese Winde
konnen nur die Moussonwinde sein, mit denen man „iiber den
wahren breiten Riicken des Meeres, iiber den indischen Ocean,
hinausfuhr". Referent erlaubt sich nur eine Frage. Liegt
Troja ebenfalls am indischen Ocean, da nach y, 142 Menelaos
auch von dort iiber den breiten Riicken des Meeres
fuhr?
3) d, 356 f. wird angegeben, dass ein Schiff unter giinstigem
Fahrwind von Pharos nach Aegypten einen ganzen Tag fahre.
Nun sind aber nach den astronomischen Entdeckungen des Verf's
in den alten Theilen der Odyssee die Tagesbezeichnungen sammt-
lich auf das Jahr zu iibertragen, also fj^czQ ist Sommer, n'f
Winter, ywg Friihling, doqrtov Herbstfest etc. Also brauchte
man von Pharos bis Aegypten „einen ganzen Sommer, sechs
Monate". Dies passt bei der beschwerlichen und gefahrlichen
Fahrt durch das rothe Meer aber gerade fur die Entfernung
Sokotoras von Unteragypten.
4) Endlich beweist die neue Etymologic des Vert's , nach
der 0aQog von einer Wurzel tpaq = bohren, schneiden, reissen
abzuleiten ist, dass <baqog urspriinglich Appellativ ist und ein
abgerissenes Stiick Land, also jede Insel, die nahe am Festlande
liegt, bezeichnet.
Von gleicher Wichtigkeit ist, wer unter dem auf diesem
Eiland erscheinenden Proteus, dem aliog yi(>iov7 zu verstehen
sei. Diese Frage ist allerdings sehr schwierig und nur unter
Aufwendung bedeutenden Scharfsinns zu losen. Es sind namlich
im 4. Buch der Odyssee zwei urspriinglich geschiedene Gruppen
in einander geschoben; 394 — 461 bilden die eine, 354 — 393.
462 — 584 die andre. Jene erzahlt, wie Proteus beim Zahlen
der Robben von Odysseus festgehalten wird, und hat ihren
Schauplatz in Unteragypten, diese, wie Proteus, der altog ysQOf,
auf Sokotora dem Menelaos zur Heimkehr verhilft und ihm die
Schicksale des Aias, Agamemnon und Odysseus mittheilt. Nur
in der ersten Gruppe ist der Name des Proteus urspriinglich;
dort ist er die Personification des Nils, der allerlei Gestalten
annimmt, wenn er in der Hitze des Juni austritt und dann die
Robben an der Kiiste vorfindet, aus deren Sippe „noch heute
die phoca monachus im Mittelmeere vorkommt". In der zweiten
Gruppe dagegen ist von einem ganz andern aXiog yiqmv die
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Krichenbauer, Die Irrfahrt des Menelaos. 11
Rede. Nur der Umstand, dass Proteus denselben Beinamen fiihrt.
hat ihn anch in diese eingeschwarzt. Der akwg yfywv der
zweiten Gruppe ist vielmehr „ein alter Seefahrer, der mit Soko-
tora in Verkehr steht oder Handel treibt (7t(akeiTai)u und wegen
seiner ofteren Fahrten an den Kiisten Afrikas auch iiber die
Schicksale des Odysseus, Agamemnon und Aias unterrichtet war.
Denn die Gyraischen Felsen, an denen Aias scheiterte, liegt es
nahe in die Gegend von Madagascar zu verlegen und das Vor-
gebirge Maleia der alten Zeit, wo Agamemnon von seinem Curs
yerschlagen wurde, mit dem Cap der guten Hoffnung zu identi-
ficiren. — Welche Perspective eroffnet sich hier fur eine Ge-
schichte des Welthandels ! Zu bedauern ist nur, dass izwXua&ai
sonafc nirgends „Handel treiben" heisst, sondern „haufig zu
jemand gehen oder kommen".
Eidothea schliesslich, welche dem Menelaos mit Rathschlagen
zu Hiilfe kommt, ist die Bewohnerschaft Sokotoras , welche dem
Menelaos, der siidwarts fahren wollte, keine Auskunft geben
konnte und ihn daher an den alten Seemann verwies. Wenn sie
eine Tochter des Proteus genannt wird, so wird sie damit, ahn-
lich wie wir Italien, Frankreich, Spanien Tochter Roms nennen,
als Colonie von Aegypten bezeichnet, was mit Dr. Fr. Miillers
Allg. Ethnographie auffallend ubereinstimmt.
So ergiebt sich denn folgendes historische Resultat: Die
JFahrt des Menelaos ist so wenig eine Irrfahrt als die des
Odysseus; er hatte den Plan, von Unteragypten aus eine Fahrt
ins Wunderland Aia um Afrika herum zu machen. Das ganze
Friihjahr (itoLGav rjolrp s. oben) bleibt er in Unteragypten an
for Meereskuste. „Nachdem er die Nilschwelle gesehen und
einen Robbenschlag mitgemacht hatte, begiebt er sich zu Fuss
Aafdem Landwege iiber den Isthmus nach der Kiiste des
wthen Meeres." Es wird Herbst {doQ7tov), und weil die Meeres-
stromung ihm ungiinstig ist, verbringt er dort die Zeit des
griechischen Winterhalbjahrs. Als aber das Land im Rosenflor
prangt (Qododaxrvlog rjwg), fahrt er in das rothe Meer ein, be-
sucht die Ktistenlander Arabien ('EQefifiovg) und Libyen, wo die
Schafe mit ungewundenen Hornern (acpaq %eqaoi ; denn aq>aq von
der bereits oben genannten Wurzel <pccQ heisst zeitlich „ohne Um-
schweife", raumlich „ohne Windungul) wachsen, und gelangt bis
Sokotora. Doch dort stellen sich die zur Weiterfahrt nothigen
Nordostmoussons nicht ein, die dortigen Bewohner konnen ihm
keine Auskunft geben, erst der alte Seemann weiss zu helfen
wid schickt ihn wieder zuriick nach Aegypten.
Der Ver£ legt hierbei auf die Fuss tour iiber den Isthmus
grosses Gewicht (cf. p. 22). Um so mehr vermissen wir daher
dfe gewiss interessante Schilderung, wie Menelaos den Transport
seiner Schiffe (denn er hatte deren mehrere) iiber denselben be-
^erkatelligte. P. 10 hat der Verf. die Fusstour freilich ganz
vergessen und behauptet, Menelaos sei nur zur See gereist.
Es liegt dem Ref. fern, ein Urtheil iiber das Ganze auszu-
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12 Bauer, Cbristus und die Casaren.
sprechen. Nicht alien Sterblichen gelingt es, sich bis zu den
luftigen Hohen mancher Homerforscher aufzuschwingen. Er ver-
sagt es sich auch, die interessanten Einzelheiten , welche in die
Abhandlung eingestreut sind, ausfiihrlicher zu wiirdigen. Wird
doch noch anhangsweise die Qododdxvvlog rjwq als der roeen-
erzeugende, xgoxo/r&rAos (von Wurzel it&z kochen!) vjcig aber
als der krokuserzeugende Friihling erklart nnd daran die Auf-
gabe der Philologie erlautert, „durch verstandesmassige Arbeit
dem Schwalle der Phantasie entgegen zu arbeiten und die Natur
wieder in ibre Rechte zu bringenu. Nur zwei diesen gewaltigen
Resultaten gegeniiber freilich unbedeutende Berichtigungen mochte
er sich noch erlauben. Einen Aufenthalt im Elysium legt der
Verf. p. 19 dem Odysseus bei, nach Homer wird er nur dem
Menelaos in Aussicht gestellt. Sodann behauptet der Verf. p. 10,
um die Sidonier und Erember als Arten der Aethiopen nachzu-
weisen, sie seien durch xor/ . . . xert zu einem Qanzen verbunden
und Libyen ihnen durch Se gegeniibergestellt , doch auch von
Libyen heisst es 6 85 *al Jtifivrp. Oder sind nun die Libyer
eine dritte Art von Aethiopen?
Berlin. G. Ellger.
Bauer, B., Christus und die Casaren. Der Ursprung des#
Christentums aus dem romischen Griechentume. gr. 8. (IV,
387 S.) Berlin 1877. E. Grosser. 7,50 M.
Das vorliegende Buch enthalt einen Versuch, das Christen-
tum aus der griechischen Philosophie herzuleiten, seine Lehren
darzustellen als „den in jiidischer Metamorphose zur Herrschaft
gelangten Stoicismus", wie wir letzteren vornehmlich in dm
Schriften Senecas niedergelegt finden. Beherzigenswert ist der
im Vorwort ausgesprochene Wunsch, dass der bisher iiblichen
Trennung zwischen profaner und kirchlicher Historiographie fur
die ersten Jahrhunderte nach Chr. ein Ende gemacht werden
moge, und der Verfasser erhebt den Anspruch, diesem Wunsche
gerecht geworden zu sein.
Die drei ersten Abschnitte — fast die Halfte des ganzen
Buches — sind dem Philosophen Seneca, seiner „Religions-
stiftung" , seiner Tatigkeit als Lehrer und Minister Neros und
dem Untergange beider Manner gewidmet, wahrend in den vier
folgenden Abschnitten die Flavier und ihr Bundesgenosse , das
Judentum , Trajan und das erste Hervortreten des Christentums,
Hadrian und die christliche Gnosis, sowie die Zeit Marc Aurels
behandelt werden. Im letzten Abschnitte fasst B. sein Urteil
iiber die Entstehung der neutestamentlichen Litteratur zu-
8ammen.
„Der christliche Heiland und die Trager des romischen
Imperatorentums sind Erzeugnisse derselben Kraft, welche die
Ahnungen und immateriellen Giiter des Altertums in eine per-
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Bauer, Ckristus und die Casaren. 13
sonliche, allmachtige Gestalt zusammenzufassen sucht". Rom
hatte in den Casaren die Mittler zwischen Himuiel und Erde
aufgestellt, ehe die Christen mit der Predigt Yon ihrem Mittler
und Gesalbten auftraten. Daher im Laufe der nachsten Jahr-
hunderte die Spaltung der Welt zwischen den Verehrern „beider
Incarnationen". Die christliche Incarnation siegte, als der Im-
perator seinen Heiligenschein zu Fiissen des Gekreuzigten nieder-
legte. Den Kampf gegen das Casarentum hatten vor dem
Christentum schon die griechisch - romischen Philosophen be-
gonnen. „Die Poeten, Rhetoren und Philosophen der ersten
Kaiserzeit haben ein geistliches Rom gegriindet, auf dessen
Fruchtboden die Grundtypen zu den Spriichen und Formeln des
Keuen Testamentes gezeitigt sind.u Vor AUem die Schriften
Senecas, den schon die Kirchenvater einen der Ihrigen nennen,
enthalten die Originale der neutestamentlichen Litteratur. Da
Men sich folgende Satze : Die Welt ist ein allgemeines Kranken-
haus, in welchem sich Niemand iiber den Andern erheben kann.
Keiner ist ohne Schuld. Der Leib ist des Geistes Last; der
Mensch muss sich deshalb von der Herrschaft des Fleisches frei-
machen und nach dem Himmel streben. Der Durchgang durch
das Leben ist nur eine fliichtige Wanderschaft. Wirf alles von
dir und trachte nach einem weisen Sinn. Wen Gott lieb hat,
ziichtigt er. Auch das Gebot der Nachstenliebe, die Lehre von
der Wiedergeburt im Geist, Anklange an die Trinitatslehre, das
allgemeine Menschenrecht der Sklaven, Materialien zum Bilde
des jiingsten Tages lassen sich bei Seneca nachweisen. Sehen
wir aber von dem romischen Philosophen in's Altertum zuriick,
80 bietet uns keiner seiner Satze etwas Neues. Die Urheber
sind Plato, der das Abscheiden aus dem Irdischen und das Ein-
gehen in die Welt der Ideen preist, die Stoiker, welche ihr
Streben auf den inneren Frieden rich ten, und die Cyniker, die
jenes evangelische Schwelgen im Ungliick iiben. Seneca ent-
wirft das Ideal eines stoischen Weisen, das in seiner Vollendung
zwar unerreichbar in der Ferae schwebt, doch das der Strebende
stets vor Augen haben soil; es ahnelt in manchen Ziigen dem
Messiasbilde des N. T.
Senecas offentliches Leben ist ein Gompromiss zwischen dem
Philosophen und dem Minister. (B. beschaftigt sich eingehend
mit dieser Seite der Tatigkeit des „Religionsstiftersu und ge-
langt schlieslich zu einer Ehrenrettung desselben wie seines
kaiserlichen Schiilers.) Seine' Intimitat mit der Julia entsprach
dem Wunsche, „durch eine Frau die Hohen der Gosellschaft zu
ersteigen" und so den rechten Platz fiir seine Reformen zu ge-
winnen ; er war eingeweiht in die Intriguen, welche den Tod des
Claudius zur Folge hatten, und hoffte, dass Agrippinas bedenk-
liche Handlungen „am Ende doch der Herrschaft der Tugend
und Milde zu Gute kommen wiirden". Nero , „der Menschen-
freund auf dem Thron", gelangte durch seine Mutter zur Herr-
schaft, „ein fahiges, und fiir alles Ehrbare erregbares Kind". Im
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< J*<^fM
14 Bauer, Christus und die Casaren.
Gegensatz zu Caligula, der schon bei lebendigem Leibe als Gott
unter den Menschen wandeln und gebieten wollte, gedachte Nero
ohne gottliche Attribute die Souveranitat iiber die Welt zu iiben.
„Nichts als Mensch" zu sein und alle menschenmoglichen
Triumphe fiir seine Person davonzutragen, gait ihm als das
hochste Ziel. Als „Kosmopolit" beteiligte er sich an den grie-
chischen Spielen, als „Menschenfreund" banquettirte und fraterni-
sirte er mit dem Volke, bewies er den Provinzialen , Sklaven
und Gladiatoren seine Teilnahme. So entstand in dem Zogling
fur Seneca ein Meister, der zeigte, „was der Humanitatsglaube
vermag und dass vor der Person gewordenen Menschenmacht
Recht und Verbrechen in ein gleichgiltiges Nichts zusammen-
sinken". Dass Seneca die Verstossung der Octavia nicht billigte,
fiihrte seinen Sturz herbei. Neros Katastropbe trat ein, als die
Aristokraten des Kaisers Allmacht, die er sich als Haupt der
Menschheit zuschrieb, nicht mehr anerkennen wollten. Das Yolk
bewahrte dem Todten noch seine Sympathie. Die christliche
Kirche hat fur die universalistische, menschenfreundliche Richtung
der Neronischen Regierung kein Verstandnis gehabt ; dem Verfasser
der Apokalypse, der friihestens unter Marc Aurel schrieb, schwebte
Neros Zeit bei seinem Antichrist vor.
Wie die Julier kamen auch die Flavier als Verbiindete der
Gottheit. Damals war allgemein in der romischen Welt der
Glaube verbreitet, dass der Weltherr aus dem Orient kommen
werde. Josephus deutete als „Gottesboteu diesen Glauben za
Gunsten der Flavier. Sein Zeugnis iiber Jesus ist eine spatere
Falschung. Die Juden, seine Landsleute, fuhlten sich als Ban-
quiers der asiatischen Fiirsten, wie spater des kaiserlichen Hauses
machtig in Rom. „Sie und die stoischen Asceten, die ihre
strengen Lebensansichten auf den Strassen und in den Palasten
der Grossen verkiindeten, konnten sich auf die Dauer einander
nicht fremd bleiben." Die Welthauptst«ult und Alexandria
waren die beiden Hauptwerkstatten , wo die Verschmelzung des
Orients und Occidents vor sich ging. In Rom gab das Juden-
tum dem Monotheismus einen Halt und den Gedanken des Ge-
setzes, wahrend man sich in Alexandria von dem Wortlaut der
Satzungen emancipirte und die Gesetze allegorisch deutete. So
ging etwas Neues aus der Vermalung des Judentums und der
griechisch - romischen Welt hervor; „aber ersteres empfing in
diesem Bunde wie es gab. Das Gemiit des neuen Gebildes kam
vom Westen, das Knochengeriist lieferte das Judentum".
Vespasian und Titus regierten auf eine „niichterne und joviale
Art". Bei Domitian steigerte sich der Stolz auf die gottliche
Mission wie bei Caligula zum Glauben an die eigene Gottliebs
keit; er verfolgte die Philosophen^ welche Neros Schlachtopfer
priesen; seinem Hass erlag auch sein Vetter Sabinus, der den
judischen Ideen der Weltentsagung sich ergeben hatte.
Die Tugendkaiser iibten das Regiment „der Prosa, der Arbeit
und simplen Rechtlichkeit". Trotzdem ihre Zeit „di© fur die
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Bauer, Christus und die Casaren. 15
Menschheit gliicklichste Periode der romischen Geschichte" bildet,
konnte dies Alles die gereizte Stimmung gegen den Weltstaat
nicht beseitigen. „Die Sklavenzwinger und die problematischen
Gruppen der Freigelassenen lieferten wie die hochsten Gesell-
Bchaftsclassen die Elemente zu einer geordneten Schaar, fur
welche die angebliche Gliickseligkeit dieses Zeitalters ein Elend
und ein schales Ding war, welches sie freudig fiir die Teilnahme
an einem neuen geistigen Bunde hingaben." Der wahre Staat
war ihnen der Himmel. „Die griechische Entdeckung der allge-
meinen Gleichheit und Briiderlicbkeit hatte sich zu einem
Liebesgefuhl entziindet, welches alle Volker der zerfallenden
Staatenordnung umfasste."
Plinius' vielbesprochener Brief an Trajan beweist nur das
leibhaftige Dasein einer christlichen Gemeinde. Derselbe enthalt
Lob und Tadel der Christen; in seiner urspriinglichen , nicht
interpolirten Gestalt war nur Tadel der neuen Gemeinde zu
finden; nach ihm hat Tacitus seinen unhistorischen Bericht von
der Neronischen Christenverfolgung entworfen.
Mit Hadrian bestieg „der potenzirte Nero" den Thron,
ein „encyclcpadischer Geist, der gleich Nero alles, was sein
Reich enthielt, in seinem Innern zusammenfassen wollte. Daher
seine Reisen nach dem fernen Osten, sein Interesse fiir die Bewegung
der Geister , welche das Gottliche in eine Universal -Einheit zu-
sammenfassen wollte. In seinem Brief iiber die „Religions-
mengerei" in Alexandria heisst es: „Sie haben nur Einen Gott
Md diesen beten die Christen, die Juden und alle Volkerschaften
iegyptens an."
Das kaiserliche Testament Marc Aurels, seine Selbst-
betrachtungen , „ enthalt Strahlenbrechungen desselben Lichts,
Welches sich in den Evangelien und Episteln ausbreitet".
Unter Hadrian und seinen beiden Nachfolgern vollzog sich
derAbschluss der neutestamentlichen Litteratur.
Das Christentum ist nur eine Modification und Steigerung der
Alten ; eine Kluft zwischen der neuen christlichen Gemeinde und
der alten heidnischen Gemeinschaft existirt nicht. Das Urevan-
gelium, welches wahrend der ersten Halfte der Regierung des
Hadrian zu • Stande gekommen war, hatte nur einen Lehrvortrag
Jesu an das Volk, die Gleichnisse vom Himmelreich zum Inhalt.
(B. aussert sich nicht dariiber, ob er Jesu Personlichkeit fiir
historisch ansieht oder nicht.) Der Urlukas des Marcion und
der spatere Matthaus fiigten Erweiterungen hinzu, die Selig-
prei8imgen und den Gegensatz des alten und neuen Gesetzes.
Der spatere Lukas hat uns Nachbildungen enthalten in den
Sabbathsheilungen Jesu, welche die Freiheit von den Satzungen
documentiren. Die Kindheitsgeschichten sind durchaus romisch,
stammen von einem „echten Romer, der mit der Allegoristen-
schule in Alexandria nicht unbekannt war". Der Verfasser des
ilarcusevangeliums war ein „geborener ItaJer, der in Rom und
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16 Bauer, Chris tus and die C&saren.
Alexandria zu Hause war und das Werk in der damaJigen Welt-
sprache, der griechischen, verfasst h^t.u
Das vierte Evangelium ist auf dem Boden des Gnosticismus
erwachsen. Die ersten Entwiirfe dieses Systems gehoren dem
Anfange der Regierung Hadrians an, unter Antoninus Pius bahnte
die Gnosis sich ihren Weg in die neue Lehre. Der Jesus der
Gnostiker bekampfte von Anfang an den Gott der Juden und
seine Satzungen; auch der Verfasser des Johannesevangeliums
hat es versucht, den Gegensatz der gnostischen Lehre gegen das
Judentum in seiner Schrift systematisch durchzufuhren , „doch
hat er aus dem sicheren, gemessenen Kampf des Urevangeliums
gegen die Satzungen einen schreienden Zank gemacht". Seine
Wtinder sind Steigerungen der Gemaldo in der vorhergehenden
Evangelien-Litteratur. Um die Mitte von Marc Aurels Regierungs-
zeit verfasste er sein Evangelium, kannte Philo und seine Schule,
dessen Grundformeln er seinem Werke voransetzte.
Mit der fortschreitenden Redaction der Apostelgeschichte
und der Paulinischen Brief litteratur sind die Jahrzehnte seit den
letzten Jahren Hadrians bis zur ersten Halfte der Regierung
Marc Aurels beschaftigt gewesen. Der Paulus der Apostel-
geschichte ist ein anderer wie der in den Episteln erscheinende.
Der erstere ist eine Copie der erhabenen Gestalt des Apostel-
fiirsten, doch hat Petrus stets den Vortritt. Die Berichte iiber
Beider Wundertaten stimmen bis auf den Satzbau iiberein, sind
Nachbildungen der Grosstaten Jesu im Evangelium. Die Pau-
linischen Briefe, in welchen der Gnosticismus und Philos Ver-
schmelzung der Weisheit Heraklits und der Stoa vorherrschen,
lehren uns einen andern Paulus wie die Apostelgeschichte kennen.
Vornehmlich der Galaterbrief enthalt ein Portrat des Paulus,
welches Zug fiir Zug gegen das der Apostelgeschichte gerichtet
ist. Dieser Widerspruch erklart sich, wenn wir die beiden,
damals in den christlichen Gemeinden sich bekampfenden Rich-
tungen ins Auge fassen. Wahrend das casarische Princip in
Petrus und dem Paulus der Apostelgeschichte, welche beide
Trager des Positiven und Katholicismus sind, seine Abbilder
erhielt, schuf dagegen das Bediirfnis der Freiheit, der es in der
Ueberlieferung zu eng ward, den Paulus der Episteln. Der Streit
gipfelt in der Apostelgeschichte, deren letzte Redaction Lnkas
seinem Evangelium anfiigte, und im Galaterbriefe. Dann trat
eine Erschopfiing der erregten Geister ein, „nun fanden sich
Petrus und Paulus auf der abgeplatteten Ebene zusammen und
Hand in Hand schreiten sie als versohnte Genossen dem dritten
Jahrhundert entgegen".
Berlin. Hermann Becker.
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Demetriades, Die christl. Begierung u. Orth. CoDstantins d. Gr. 17
VI.
Demetriades, Kalliopios, Die christliche Regierung und Ortho-
doxie Kaiser Constantins des Grosser). Eine historische
Studie. gr. 8. (II, 47 S.) Miinchen 1878. Th. Ackermann.
1 M.
Die vorliegende Schrift ist eine miinchener Doctordissertation,
ihr Verfasser, welcher sich als einen Geistlichen der griechisch-
katholischen Kirche kund giebt, hat sich in derselben die Auf-
gabe gestellt, den grossen Kaiser, welchem seine Kirche ihre
gauze Machtstellung verdanke und den sie als Heiligen verehre,
gegeniiber den ungiinstigen Darstellungen, welche sein Character
in neueren Werken gefunden hat, im wahren und rechten Lichte
zu zeigen, vor Allem seine christliche Gesinnung und Recht-
glaabigkeit zu vertheidigen. Er sucht nachzuweisen , dass Con-
stants nicht nur aus politischen Motiven das Christenthum be-
giingtigt und befbrdert habe, sondern dass er wirklich ein glau-
biger, und zwar ein orthodoxer Christ gewesen sei. Dass ihm
dieser NacTiweis gelungen sei und dass diese Schrift iiberhaupt
wissenschaftlichen Werth besitze, konnen wir nicht anerkennen.
Eine wissenschaftliche Behandlung dieser Frage konnte nur auf
Grand qu^llenkritischer Untersuchungen unternommen werden,
es wiirde sich darum handeln zu beweisen, dass diejenigen Quellen,
welche Constantin aus wirklicher religioser Ueberzeugung handeln
lagsen, namentlich Eusebius, zuverlassiger, weniger parteiisch und
tiigenhaft Bind, als die historische Kritik sie bisher beurtheilt
bat Von einer solchen kritischen Grundlage aber ist hier keine
Spur zu finden. Der Verf. gesteht an einer Stelle (S. 19) , wo
« rich urn die angebliche Wundererscheinung vor der Schlacht
gegen Maxentius handelt, zu, dass die Sache, so, wie Eusebius
ffl'e erzahlt, sich nicht habe zutragen konnen, aber er behauptet
doch (S. 21), Eusebius habe hier nur Thatsachen, die der Zeit
nach auseinander liegen, zn einem einzigen Ereignisse verbunden
und nach Art der Panegyriker ausgeschmiickt , und im iibrigen
folgt er diesem und den verwandten Quellen so vertrauensvoll,
als ob gegen die Glaubwiirdigkeit derselben nie Zweifel erhoben
worden waren. Die neueren Darstellungen von Manso, Barckhardt,
Keim u. A. kennt er wohl und er citirt auch dieselben gelegent-
lich, bei den entscheidenden Fragen aber hat er sich weder
durch sie belehren lassen, noch hat er sich auf eine Widerlegung
derselben eingelassen. Die Schrift zerfallt in 3 Abschnitte. Der
erste, betitelt: „Die Stellung des Christenthums im romischen
Reiche in der Zeit von Diocletian bis zu Constantins d. Gr. Re-
gierungsantritt" soil nach der Vorrede den Beweis fiihren, „dass
Constantin bei seiner Regierung so und nicht anders handeln
konnte". Dieser Ausdruck ist unklar und auch aus der Dar-
stellung selbst ist der eigentliche Zweck derselben ebensowenig
deutUch zu erkennen. Der Verf. erzahlt hier die Christenver-
folgungen des Diocletian, Galerius und Maximin nach Eusebius
MittheUnngen a. d. histor. Litteratur. VU. 2
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18 Demetriades, Die christl. Eegierung u. Orth. Constants* d. Gr.
und der angeblichen Schrift des Lactantius de mortibus perse-
cutorum. Dass die Aechtheit und Glaubwiirdigkeit der letzteren
Schrift von Burckhardt mit gewichtigen Griinden angefochten
worden ist, wird garnicht beriicksichtigt. Das Ergebniss,
welches man ans der Darstelliuig Ziehen muss, ist, was jeder
einigermas8en Geschichtskundige auch sonst weiss, dass jene
Verfolgungen durchaus vergeblich gewesen sind, dass das Christen-
thum aus ihnen machtiger als zuvor hervorgegangen ist; dass
aber darum Constantin dasselbe hat begiinstigen, zur herrschen-
den Stellung hat erheben miissen, und vor Allem — worauf der
Verf. hinausgeht — dass er aus religioser Ueberzeugung Be-
schiitzer desselben geworden ist, geht daraus nicht hervor. Der
zweite Abschnitt tragt die Ueberschrift : „Regierung Constan-
tins d. Gr und seine Begiinstigung des Christenthums." Erent-
halt eine Aufzahlung der Hauptereignisse aus der Geschidte
Gonstantins, wie man sie in den meisten grosseren geschicht-
lichen Compendien finden kann ; was das Verhaltniss Constantins
zum Christenthum anbetriflFt, so behauptet der Verf., dass dei-
selbe schon in dem Kampfe gegen Maxentius sich als Anhangei
des Christen thums gezeigt habe, wie schon bemerkt, verwirft ex
die Wundergeschichte des Eusebius keineswegs ganz , die Vision
Constantins sucht er in rationalistischer Weise durch die An-
nahme zu erklaren, der Kaiser habe eine Erscheinung von
Nebensonnen, welche mit ihren Kreisen eine Art Kreuzfigur
bilden, fur ein besonderes Himmelszeichen angesehen. Er gesteht
dann zu, dass Constantin nachher langere Zeit eine gleichmassige
HaJtung zwischen Christenthum und Heidenthum beobachtet habe,
erst nach der Vernichtung des Licinius und der Erlangung der
Alleinherrschaft habe er danach getrachtet, alle seine Unter-
thanen in einer und derselben Gottesverehrung zu vereinigec,
doch habe er keine gewaltsamen Versuche zur Ausrottuug des
Heidenthums gemacht. Sonderbarer Weise wird auch die Griin-
dung der neuen Hauptstadt als eine der Thaten Constantins fur
die Ausbreitung und Befestigung des Christenthunas angefiitrt,
in dieser Stadt hatten nur Christen wohnen, die chnstliehe
Religion die herrschende sein sollen. Sollte es dem Verf. wirk-
lich unbekannt sein, dass Constantin in seiner neuen Resident
neben christlichen Kirchen auch heidnische Tempel gegriindet
hat und dass er bei der Bevolkerung derselben mit, zum Thd
zwangsweise, aus alien Theilen des Reiches dorthin verpflanzten
Bewohnern keineswegs wahlerisch gewesen ist? Es wird dann
kurz der Verlauf des arianischen Kirchenstreites, die Taufe Con-
stantins kurz vor seinem Tode und sein Ende erzahlt. Dass
Constantin schwere Frevelthaten begangen hat, kann der Verf
nicht laugnen, doch geht er leicht dariiber hinweg: „ Constantin
lebte unter schlechten Sitten und Ueberlieferungen; seine Vor-
ganger und Mitregenten achteten gewohnlich kein gottliches oder
menschliches Gesetz, so dass es nicht zu verwundern ist, wenn
er nicht in alien Fallen nach christlichen Grundsatzen bandelte.
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Bottger, Wohnsitze der Deutschen etc. 19
Eb bleibt flir ihn iinnierhin noeh Verdienst genug, dass er es in
seiner Stellung zur Erkenniniss de: Principien des Christenthums
brachte und zur Verwirklichung derselben in seinem Reiche das
Moglichste tba,.tt (S. 41.)
Der letzve ganz kurze Ab;}chmcc (S. 43 — 47) behandelt die
eigentliche Kernfrage: „War Constantin aufrichtig Christ und
orthodox?" Was der Verf. bier anfiihrt, kann nicht als iiber-
zeugend gelten. Die verschiedenen Massregeln und Verordnungen
des Kaisers, welche er aufzahlt, zeigen iiur, woran Niemand iiber-
haapt zweifelt, dass derselbe das Christenthum befordert und
begUnstigt hat, beweisen aber nicht, dass ihn religiose Ueber-
zeugung dazu getrieben hat. Wenn er den Einwand, warum
dam Constantin den Titel Pontifex maximus nicht abgelegt habe,
mit dem Hinweis darauf zu beseitigen sucht , Constantin hatte
dftmit grosse Yortheile aufgegeben, denn in dieser Eigenschaft
m er das Haupt der heidnischen Priesterschaft und der heidnisch-
romischen Staatsreligion gewesen, so erkennt er dadurch selbst
an, dass politische Motive flir den Kaiser massgebend gewesen
sind. Ebeiisowenig kann das befriedigen, was zur Erklarung
der so spaten Taufe des Kaisers angefuhrt wird, es sei damals
iiberhaupt Sitte gewesen, die Taufe bis ans Lebensende zu ver-
schieben. Schliesslich muss der Verf. doch selbst bekennen:
nChrist im strengen moralischen Sinne war Constantin nicht,
weil er sich nicht entschliessen konnte, auch wirklich als Christ
zu leben.u Das Yerhaltniss des Kaisers zum Arianismus wird
tier nur mit wenigen Worten beriihrt, der Ver£ erklart, hieriiber
spater ausfiihrlich schreiben zu wollen.
Berlin. ' F. Hirsch.
vn.
jp, Dr. Heinrich, Wohnsitze der Deutschen in dem von
Tacitus in seiner Sermania beschriebenen Lande, aus den
Originalquellen des Julius Caesar, Strabo, Vellejus, Tacitus,
Plinius des Aelteren, Ptolomaus, Pomponius Mela, Sueton,
Florus, Dio Cassius u. A. auf Grundlage seiner Diocesan- und
Gaugrenzen Norddeutschlands erwiesen, nebst einer Gau-, einer
dieselbe begriindenden Diocesankarte und einer daraus ent-
worfenen Volkerkarte. gr. 8. (XX, 78 S.) Stuttgart 1877.
Carl Griininger. 10 M.
Die Ansichten des Verf. iiber Gau- und Diocesangrenzen
Had denen nicht unbekannt, welche sich mit den alteren kirch-
lichen Verhiiltnissen namentlich Norddeutschlands beschaftigen.
Es ist aber denselben auch nicht neu, dass die Meinungen des
gelehrten Forschers auf vielen Widerspruch stossen. —
Seine Ansichten und seine Polemik hat der Verf. in der
Vorrede niedergelegt, und ist diese deshalb der interessan teste
^d lesbarste Theil des ganzen Werkes. — Wir sind der Tendenz
2*
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20 Bottger, Wohnsitze der Deutschen ete.
der Zeitschrift nach weit davon entfernt, uns in kritische Er-
orterungen einzulassen, und wollen nur referiren. —
Der Verf. geht von der Anschauung aus, class die Gaukarten
sich griinden miissen auf Diocesankarten und auf die sioh daraus
ergebenden Vtflkerkarten. Er setzt also voraus, dass die kirch-
liche Eintheilung mit der alteren politischen Eintheilung des
Landes stimme und dass die Grenzen der Bisthiimer und Archi-
diaconate dieselben sind wie die der Gaue.
Sonach begrundet die Diocesankarte die Gaugrenzen; die
Gaue aber sind die Grundlage, um daraus festzustellen , welche
Wohnsitze die Deutschen zur Zeit des Tacitus inne gehabt
haben. Der Vert geht ausser dieser noch von einer zweiten
Voraussetzung aus, namlich von der, dass die Gaue in Deutsch-
land vor Julius Caesar und Tacitus schon festgestellt sind. Darin
widersprechen ihm viele gewichtige Autoritaten, wie er dafi selbst
in der Darlegung des vorliegenden Materiales zugiebt. Wean
man in dieser Streitfrage zu einer klaren Anschauung kommen
will, so kann das — wie Ref. glaubt — nur auf dem Wege ge-
schehen, den Felix Dahn gleich im Anfange des ersten Bandes
seiner: „Konige der Germanen" eingeschlagen. Dort untersucht
er, wie bei Caesar und Tacitus das Wort pagus gebraucht wird,
und zieht dann erst Folgerungen. Ebenso wenig wird der
zweite Theil von des Verf. Ansicht ohne sehr begriindeten
Widerspruch bleiben, dass die einmal so festgestellten Gaue in
alien und trotz aller Wanderungen dieselben geblieben sind.
Von diesen Annahmen ausgehend giebt der Verf. nun eine
vergleichende Geographic der alteren und mittleren Geographie
von drei Fiinfteln Deutschlands. So viel umfasst die Germania
des Tacitus. Um dies auszufiihren, reiht er die Quellenaussagen
an einander.
Die Arbeit enthalt sehr viel fleissig gesammeltes Material,
ist aber in dieser Form nicht geniessbar, da dies Material nicht
verarbeitet ist. Die aussere Form des Werkes ist folgende.
Links auf der Seite steht der lateinische oder griechische Text,
rechts daneben die deutsche Uebersetzung , unten Anmerkungen
aller Art. Die Uebertragung ist nach des Verf. eigener Angabe
so wortgetreu wie moglich, selbst wenn die Diction darunter
sollte gelitten haben. Es ist dem Ref. aufgefellen, dass nicht
immer die neusten Hiilfsmittel benutzt und dass dem gelehrten
Verf., wie das die Fiille der Details entschuldigt , Manches ent-
gangen ist, was Vielen schon bekannt sein diirfte. —
Der Verf. behandelt in § 1 Deutschland im Allge-
meinen und die Volksstamme in demselben. In § 2
geht er zu den einzelnen Volkern iiber und zwar zuerst
zu den Nichtsueven, dann zu den Suevischen Volkern.
Unter diesen fiihrt Casar S. 10 die Eburonen auf, und der
Verf nimmt ohne eine Bemerkung dieses Volk als ein deutsches
an. Aber Ref. giebt zu bedenken, dass manche Forscher nicht
ohne Weiteres diese Ansicht theilen. Sie meinen, die Urbewohner
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Wiponis opera rec. H. Bresslau. 21
Britanniens, Galliens und Iberiens seien eben die Iberer gewesen
und ein Beweis dafiir sei der, dass es noch in spaterer Zeit in
Britannien und in Gallien Volker gegeben habe, welche sich
Eburones = Iberer nannten. Ob die S. 26 gegebene Ableitung
des Namens Sigambri yon sig und gambar der Tapfere haltbar
ist, wagt Ref. nicht zu entscheiden.
Wenn Ref. vorbin erwahnte, dass dem gelehrten Herrn Vert
merkwurdigerweise mancbe bekannten Sachen entgangen Sind,
so fiihrt er als Beleg fur seinen Ausspruch die S. 45 aufgestellte
Erklarung des Namens Idistavisus an. Nach alter Art inter-
pretirt der Verf. , wie folgt: Ein Rdmer hatte einen Deutscben
gefragt, wie das Schlachtfeld hiesse, und dieser ihm halb deutscb
halb lateinisch geantwortet: id is te Wiese. Nun hat aber
Grimm in der bekannten Abbandlung, die er iiber die Merse-
bnrger Zauberformeln in der Berliner Akademie las, die schone
Conjectur gemacht : Das Wort Idistavisus sei aus Idisiavisus ver-
schrieben. Idizi oder Idisi sind weise Waldfrauen, daher Hage-
disi = Hexe xmd somit hiese Idisiavisus Elfenwiese. Damit
stimmt des Tacitus schone Schilderung von dem welligen, mit
Gebiisch bestandenen Kampfplatz.
Ref. wiederholt zum Schlusse nochmals mit Bedauern, dass
in dieser Form die Arbeit ungeniessbar und wenig frucht-
bringend ist.
Berlin. Foss.
VIII.
Wiponis gesta Chuonradi II. ceteraque quae supersunt opera
in usum scholarum ex Monumentis Germaniae historicis recusa.
Editio altera. Recognovit Henricus Bresslau. 8. (XII,
81 S.) Hannover 1878. Hahn'sche Buchh. 75 P£
Die vorliegende neue Ausgabe der Werke Wipo's in der den
Monumenta Germ. hist, zur Seite gehenden Sammlung der
Scriptores rerum germanicarum in usum scholarum ex Monu-
mentis Germaniae historicis recusi unterscheidet sich von der
ersten, von Pertz auf Grund seiner Ausgabe in den Monumenta,
im 11. Bande der Scriptores besorgten, sehr wesentlich. Sie
beruht auf neuen handschriftlichen Studien. H. Bresslau hat
fur die Vita Chuonradi sowohl den von Pertz benutzten Codex
Caxlsruhanus noch einmal verglichen, als auch den Codex
Zwetlensis der Continuatio chronici Mellicensis, welche auf Wipo
beruht, herangezogen, auch fur die Proverbia hat er eine Anzahl
nener Handschriften benutzen konnen, wahrend fur den Tetra-
logns Heinrici imperatoris und die Versus ad mensam regis, von
denen Handschriften nicht mehr vorhanden sind, auch er sich darauf
hat beschranken miissen, die Ausgabe des Canisius mit einigen
Emendationen zu wiederholen. Unter dem Text sind die Varianten
und auch einige erlauternde Anmerkungen hinzugefugt. , Die
Vorrede enthillt eine ausfiihrlichere , auf Grund der neuen
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22 Bernheim, Zur Geschichte des Wormser Concordates.
Forschungen an inehreren Punkten veranderte und verbesserte
Dar8tellung der Lebensverhaltnisse Wipo's, und eine Aufzahlung
seiner Schriften sowie der fur diese Ausgabe benutzten Hand-
schriften. Auch hier wird die zuerst von Steindorff aufgestellte
und dann von Bresslau selbst genauer begriindete Behauptung
wiederholt, Wipo's Angabe, er habe bei der Abfassung der Vita
Chuonradi keino schriftliche Quelle vor Augen gehabt, sei falser
derSelbe habe vielmehr manche Nachrichten einem schwabischen
Annalenwerke entlehnt, aus welchem sich Ausziige auch in den
Annales Sangallenses majores, in dein Chronicon Herimanni
Augiensis und in dem Chronicon Suevicum universale fanden
Zur Veranschaulichung dieses Yerhaltnisses sind' hier in einem
Appendix die betreffenden, die Zeit von 1024 — 1039 umfassenden
Stiicke jener Chroniken abgedruckt worden, ferner sind dort
nach der Ausgabe Jaffe's zwei in einer Cambridger Handsckrift
erhaltene Gedichte auf die Kaiserkronung Conrads IL und anf
die Konigskronung Heinrichs III. wiederholt, welche nach der
Vermuthung von Pertz und Arndt auch Wipo zum Verfasser
haben sollen.
Berlin. F. Hirsch.
IX.
Bernheim, Dr. Ernst, Zur Geschichte des Wormser Concordats.
gr. 8. (II, 66 S.) Gottingen 1878. Rob. Peppmuller. 2,25 M.
Die kleine Schrift behandelt in klarer, ubersichtlicher Weise
die innere Geschichte des Wormser Concordates.
Die Wahl- und Investiturtheorien , ferner die Programme
der verschiedenen Parteien, welche fur die endgiltige Festsetzung
des Concordates bestimmend waren, bilden den Iuhalt des ersteu
Abschnittes, der zweite bespricht das Wormser Concordat selbst,
seine Auffassung und seinen authentischen Text; der dritle und
letzte zeigt, wie das Concordat von den verschiedenen deutschen
Kaisern verschieden gehandhabt wurde, wie endlich die unbe-
friedigten Parteien , am sich Geltung zu verschaffen , zu dem
Mittel der Falschung griffen.
In dem Kampie, den das Papstthum im 11. Jahrhundert
gegen die staatliche Gewalt aufnahm, waren die Angriffe der
Kirche vomehmlich darauf gerichtet, den Einfluss zu brechen,
den die fiirstliche Gewalt im Laufe der Zeit entgegen den kano-
nischen Satzungen auf Wahl und Einsetzung des hoheren Clerus
zu erringen gewusst hatte. Den kanonischen Satzungen, am
welche die Kirche sich beruft, stellt der Staat das Gewohnheits-
recht gegemiber, welches freilich von gegnerischer Seite als gegen
die Kirchengesetze verstossend d. h. unsittlich nicht anerkannt
wird. Die kirchliche Anschuldigung der Simonie wird von der
koniglichen Partei duroh den Nachweis entkraftet, dass mit der
Investitur nicht das Amt, sondern nur der Besitz iibergehe. Als
man spater, des langen Kampfes miide, beiderseits zu Concessions
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Bornheim, Zur Geschichte des Wormser Concordats. 23
bereit war, war es die Mittelpartei , welche endlich eine Ver-
einiguBg wenigstens formell herbeiftthrte. Die Fuhrer dieser
Partei, Manner wie Otto von Bamberg, Ivo von Chartres, Bruno
von Trier u. a. wollten es ebensowenig mit dem Kaiser, wie mit
dem Papste verderben. Sie liessen sich daher erst weltlich in-
vestiren, sodann aber in Rom bestatigen nnd weihen.
Die Einigung in diesem Kircbenstreite wnrde bekanntlich
herbeigefuhrt , indem man scbied zwischen den deutscben Be-
sitzungen des Kaisers und den ausserdeutschen, d. i. Italien und
Burguud.
In den ersteren Landen drang der Hauptsacbe nach die
komgliche Partei mit ibren Forderungen durcb, nur dass bei
zwktigen Wahlen die Ernennung des Geistlichen seitens des
KonJgB an die Zustimmung des Metropoliten mid seiner Suffra-
ge gebunden war und die Investitur nicbt mit den geist-
lichen Symbolen, d. b. Ring und Stab, sondern mit dem welt-
lichen, dem Scepter, vollzogen wurde: wahrend in Italien und
Burgund selbst die passive Anwesenheit des Konigs im Gegen-
satz zu den deutschen Besitzungen verweigert wurde. Ferner
erfolgte die Weibe mit Ring und Stab vor der weltlichen In-
vestitur, der Bischof war also hier ein Beamter der Kircbe und
nicht wie dort ein Beamter des Staats.
Allein an diese Concordatsvereinbarungen pflegten deutscbe
Kaiser wie Heinrich V. und Friedrich I. von Hobenstaufen sich
ticht zu binden, sobald sie ibres Uebergewichts iiber das Papst-
thum sich bewusst waren. Fur sie war die Scheidung zwischen
iWien und Burgund auf der einen und Deutschland auf der
anfern Seite nicht vorhanden, wie sie auch die Clausel, dass die Er-
nennung des Geistlichen ihrerseits an die Zustimmung des Metro-
politen gebunden war, ignorirten. Ja man berief sich bei Ent-
scheidung von kirchlichen Wahlzwisten direct auf den Text des
Wormser Concordates. Aber dies war dann nicht der wirklich
vereinbarte Text, sondern eine Falschung der mit dem Erfolge
des Concordates unzufriedenen koniglichen Partei (der sog. Cod.
Udalrici), ahnlich wie die missvergniigten Bischofe von Salzburg
ihrem Programm t durch eine Falschung (Cod. 2) den Anschein
gesetzlicher Autoritat zu geben bemiiht waren.
Soweit die kleine Schrift. Angefugt ist ein Excurs iiber
die Entscheidung des Wahlzwistes in St. Gallen durch Hein-
rich V. Dieselbe soil nach der Meinung des Vert in das Jahr
1123 fallen. -
Berlin. 0. George.
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24 Baumg&rtiwr, Hermann von Stahleck, Pfalzgraf bei Rhein.
Baumg&rtner , Dr. L. , Hermann von Stahleck , Pfalzgraf bei
Rhein (1142—1156). gr. 8. (49 S.) Leipzig 1877. Baum-
gartners Buchhandlung.
Das Geschlecht des Pfalzgrafen Hermann von Stahleck tritt
urn die Mitte des 11. Jahrhunderts in Ostfranken zuerst auf;
der characteristische Vorname der Vorfahren desselben, die nach
einem ihrer Hauptsitze als Grafen von Hochstadt an der Aisch
bezeichnet werden, der ihnen so eigenthiimlich war, wie z. B.
der Name Emicho den Leiningern, war Gozwin. Um die Scheide
des 11. und 12. Jahrhunderts treten die Grafen von Hochstadt
auch in den rheinischen Gegenden auf; wie Baumgartner an-
nimmt, hatten sie diese rheinischen Besitzungen durch die Yer-
mahlung eines Grafen Gozwin mit Luitgard, Wittwe des 1102
verstorbenen Grafen Heinrich I. von Katzenellenbogen erlangt;
er schliesst das daraus, dass Gozwin erst jetzt und zwar zuerst
1108 in Mainzer Urkunden als Zeuge auftrete. Diese Voraus-
setzung ist indessen irrig ; der Verf. hat das alteste Zeugnis fir
ein Auftreten Gozwins am Rhein, seine Zeugenschaft in einer
schon 1091, also mindestens 17 Jahre vor jener Heirath ausge-
stellten Urkunde Ruthards von Mainz (Will, Monumenta Reiden-
stad. S. 20) iibersehen. Gozwin ist der Griinder des Benedictiner-
klosters Monchaurach, mit dessen Griindung die merkwiirdige
Legende der H. Hildegund bei Oefele SS. R. Boic. I, 628 in
Verbindung steht. Eine Kritik der Legende, die — was Baum-
gartner nicht beachtet zu haben scheint — in der Sage von
Herzog Ernst eine Rolle spielt und von Haupt misverstandlicli
ins 11. Jahrh. gesetzt wurde, giebt der Verfasser nicht Ein
Sohn des 1137 zuletzt genannten Grafen Gozwin ist Hermann,
der sich zumeist nach seinen rheinischen Giitern Graf von Stahleck
nannte , durch seine Vermahlung mit Gertrud , Sch wester Konig
Konracis HI., seinen Besitz betrachtlich erweiterte, und 1142 von
seinem koniglichen Schwager mit der rheinischen Pfalzgrafechaft
belehnt wurde. Er nahm im Sommer 1147 am Kreuzzuge gegen
die Wenden Theil, gerieth nach seiner Riickkehr mit den Grafen
von Rineck und dem Erzbischof Albero von Trier in eine Fehde
um die Burg Treis an der Mosel, nahm 1149 den Grafen Otto
von Rineck gefangen, den er im Geiangnis soil haben erdrosseln
lassen, war 1155 Fuhrer des Aufstandes der Mainzischen Va-
sallen gegen Erzbischof Arnold von Selehofen und wurde dafur
von Friedrich I. zur schimpflichen Strafe des Hundetragens ver-
urtheilt. Er starb am 20. Sept. 1156 kinderlos; ein Theil seiner
Giiter fiel an das von ihm gestiftete Kloster Bildhausen. Eine
Characteri8tik Hermanns giebt B. nicht; sie ist bei der Durftig-
keit der Quellen immoglich. 75 fleissig zusammengestellte Regesten
Hermanns beschliessen die Arbeit; zuN. 71 ist Ficker, Urkunden-
lehre I, 242 zu vergleichen.
H. Bresslau.
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Bikelas, Die Griechen des Mittelalters etc. 25
XL
Bikelas, Demetrius, Die Griechen des Mittelalters und ihr Ein-
fluss auf die europ&ische Cultur. Mit Bewilligung des Ver-
fassers aus dem Griechischen iibersetzt von Dr. Wilh. Wagner.
8. (Ill S.) Giitersloh 1878. C. Bertelsmann. 1,20 M.
AaftfiQog, SitvQ. II. ^4.\ l4&rjv<xi 7teqi ta reXt] tov
dwdendtov alwvog %axa nqyag avendorovg. Id&irjvtjoi in
tov vvfcoyQcupeiov trjg (pilo/xxXiag 1878. gr. 8. (rf u. 139 S.)
Aa^iTt Qog, 2tvvq. II. Aoyog eiacrrj q tog eig to
pad- rip a trig eXXtivcxijg lor oq lag iy.<p(ovr]&eig tt} 30
uagrlov 1878 ^AvaTVTtwatg h, xov £ xo/iov xov neqiodii^ov
Afajvalov). ZdxhfjvrjOiv iyi xov xvnoyqaq>eLov *Eq/iov. 1878.
gr. 8. (13 S.)
Herr Wagner bemerkt in der Vorrede zu seiner vortreff-
lichen Uebersetzung der Schrift von Bikelas, ein giinstiges Zeichen
dafiir, dass man sich im heutigen Griechenland iiber die Stellung
znm Alterthum und Mittelalter klar werde und sich von den
fflusionen der Philhellenen losgerissen habe, sei, dass man jetzt
rich dort mit grosserem Eifer der Erforschung des griechischen
Mittelalters, der byzantinischen Geschichte, zugewandt habe. Er
weist hin auf die trefflichen Arbeiten von Sathas und auf das
grosse Wexk von Paparrigopulos, in welchem die Geschichte des
griechischen Volkes durch das Alterthum, das Mittelalter und
die Neuzeit hindurch als eine Einheit dargestellt worden ist.
Demselben Kreise gehoren auch die beiden ersten unter den
drei uns hier vorliegenden Schriften an , die eine sucht durch
allgemeine Betrachtungen das gewohnliche Urtheil iiber das
griechische Mittelalter zu berichtigen, in der anderen wird mit
fltilfe neuer Quellen ein interessanter Punkt aus der griechisch-
byzantinischen Geschichte aufgehellt.
Die Arbeit von Bikelas ist hervorgegangen aus drei Vor-
lesungen, welche derselbe vor der griechischen Gesellschaft in
Marseille gehalten hat. Der deutsche Uebersetzer hat die Form
der Vorlesung in die der Abhandlung umgegossen und eine Ein-
leitung sowie einige Anmerkungen hinzugefiigt. Die Schrift hat,
wie der Verf. hervorhebt, nicht den Zweck, einen neuen Beitrag
zur byzantinischen Geschichte zu liefern, vielmehr will dieselbe
nor den Leser mit einigen der bedeutenderen allgemeinen Ge-
sichtspunkte vertraut machen, welche bei der Beurtheilung der-
selben in Frage kommen, und andererseits die Griinde vorfuhren,
weshalb bis auf den heutigen Tag die Auffassung dieser Ge-
schichte von einer Reihe von uralten Antipathien und Vorurtheilen
getriibt wird. Seine Betrachtungen beruhen auf einer ausge-
dehnten, wenn auch nicht gerade tiefen und immer ganz genauen
Kfcnntniss der byzantinischen Geschichte (sowohl in der Abhand-
tong selbst, als auch in dem ihr angehangten chronologischen
Verzeichniss der byzantinischen Kaiser finden sich einige einzelne
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26 Bikelas, Die Griechen des Mittelalters etc.
Irrthiimer), sie zeigen im Allgemeinen ein gesundes und nuchteraes
Urtheil, doch hat sich der Verf. nicht ganz von Uebertreibungen
und schiefen Auffassungen frei gehalten tind er hat manche
Punkte, welche fur die Losung der von ihm angeregten Fragen
von Bedeutung sind, ausser Acht gelassen.
H. Bikelas sucht nachzuweisen , dass die gewohnliche Vor-
stellung, welche man von dem byzantinischen Reiche als von
einem Reiche des Verfailes habe, unrichtig ist. Er bemerkt mit
Recht, dass schon seine tausendjahrige Existenz ein Beweis des
Gegentheils sei, ferner dass, wenn die byzantinische Geschichte
viele schreckliche Scenen, Mordthaten und Revolutionen zeige,
diese doch nur die Unterbrechung langer Perioden einer ruhigen
Regierung von legitimen Kaisern seien, dass die Grausamkeit
der Byzantiner nicht schlimmer gewesen sei als die der anderen,
auch der sonstigen civilisirten Volker des Mittelalters. Ebenso
. richtig weist er darauf hin , dass der byzantinische Hof keines-
wegs eine Pflanzst&tte von Schlaffheit und Verweichlichung ge-
wesen ist, das Reich habe eine Menge von tiichtigen Kaisern,
Feldherren, Staatsmannern, Kirchenfursten und Gelehrten aufzn?-
weisen. Zum Beweise der Kraft, welche dasselbe entfaltet habe,
werden alle Gegner desselben, die Volker, welche von Westen
und von Osten her dasselbe fast ununtei'brochen bedroht habon,
aufgezahlt. Das Reich ist gegen Osten hin der Vorkampfer des
Abendlandes gegen Perser,, Araber und Tiirken gewesen, wenn
es den letzteren schliesslich erlegen ist, so kommt dieses daher,
weil es geschwacht und entkraftet war in Folge der Angriffe
von Westen her, durch die Normannen und die Kreuzfahrer,
insbesondere in Folge der vorubergehenden Eroberung durch die
Lateiner. Sehr mit Recht bemerkt der Verf. , dass die Kreux-
ziige vom morgenlandischen Standpunkte aus ganz anders zu
beurtheilen seien, als vom abendlandischen, und dass eine anpar-
teiische Darstellung des Yerhaltnisses zwischen dem Osten und
dem Westen noch nicht vorhanden sei. Auch er ist der "Mei-
nung, dass eine dauernde Eroberung durch die Lateiner fur das
Griechenthum verderblicher gewesen ware als die Knechtung
durch die Tiirken, denn in Folge der ersteren wiirde dasselbe
die Traditionen seiner Vorzeit verloren haben und schliesslich
ganz untergegangen sein.
Zahlreiche andere Vorwiirfe sind gegen den Byzantinismus
erhoben worden, namentlich durch Montesquieu und Gibbon,
denen der Verf. die Hauptschuld an der gewohnlichen ungerechten
Beurtheilung desselben zuschreibt, auch von diesen sucht er
wenigstens einen Theil zu entkraften. Er zeigt, dass in dem
byzantinischen Staate das Volk keineswegs eine bloss passive
Rolle gespielt hat, allerdings sei die Regierung absolut gewesen,
aber sie sei doch beschrankt worden durch die Kirche und durch
das herrschende Recht, das Volk sei dem politischen Leben
keineswegs ganz fremd geblieben, habe vielmehr mehrfach in
dasselbe eingegriffen, es habe demselben keineswegs an einem
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Bikelas, Die Griechen des Mittelalters etc. 27
gewissen Patriotismus gefehlt. Auch das Yorherrschen des
religiosen Elementes in dem byzantinischen Reiche sei keines-
wegs so schlimm gewesen, wie es gewohnlich dargestellt werde,
die religiosen Fragen seien zugleich ein integrirender Theil der
ausseren und inneren Politik gewesen, die Byzantiner hatten das
Christenthum organisirt (?) und fur die Ausbreitung desselben
gewirkt. Auch die Confusion von Kirche und Staat, welche man
mit dem Namen des Byzantinismus bezeichne, sei keineswegs
immer dort vorhanden gewesen, es wird auf die heftigen Kampfe
hingewiesen , welche zwischen beiden Machten gefuhrt worden
sind; auch den schadlichen Einfliissen des Monchthums standen
heusame gegeniiber.
Der Ver£ schildert dann den hohen materiellen Wohlstand,
dessen sich das byzantinische Reich erfreut habe, die Bluthe von
Handel und Industrie, die reichen Einkiinfte des Staates. Diese
BKithe ist vernichtet worden durch die Rivalitat der italienischen
flandelsrepubliken und durch den uberwiegenden Einfluss, welchen
dieselben in der Zeit der Kreuzziige erlangt und auch nach der
Wiederherstellung des grieohischen Kaiserreiches behauptet haben,
fiir ebendiese aber ist gerade die Beriihrung mit dem byzan-
tinischen Reiohe der Anlass der Bluthe geworden. Er weist
dann hin auf die Pflege, welche die Kiinste und Wissenschaften
bei den Byzantinern gefunden haben, insbesondere auf die hohe
Ausbildung der Jurisprudenz. In der Kunst seien die Byzajitiner
die Lehrmeister der jinderen Nationen gewesen, sie hatten uns
die Werke des griechischen Alterthums erhalten, durch ihre
Vermittlung hatten damals die Araber dieselben kennen gelernt.
Allerdings, bemerkt er, fehle den byzantinischen Schriftstellern
Tiefe und Originalitat, ihre Schwache gerade sei das, worin sie
fltfea Ruhrn gesucht, die sclavische Nachahmung der Alten, doch
zeige die griechische Liturgie und manche religiose Dichtungen
audi mehr Tiefe des Gefuhls.
Schliesslich stellt der Verf. den von ihm hervorgehobenen
Lichtseiten des byzantinischen Staatswesens auch die Schatten-
seiten gegeniiber. Als solche bezeichnet er drei Punkte: den
Mangel an politischer Freiheit, das Vorwiegen des kirchlichen
Elfmentes und die Entwaffnung des Volkes, veranlasst durch
das Bestehen eines besonderen Soldatenstandes.
Wenn wir von Uebertreibuugen sprachen, welche sich in
der Schrift finden, so sind als solche namentlich die Angaben
fiber den hohen intellectuellen und auch moralischen Zustand
der Byzantiner zu bezeichnen. Der Verf. versteigt sich zu der
Behauptung: der intellectuelle und moralische Zustand der Be-
wohner beweise, dass dieses Reich eine Oase innerhalb der es
Ipn alien Seiten umgebendon Barbarei des Mittelalters bilde.
*« lasst dabei ganzlich ausser Acht, dass, was wissenschaftliche
Bildnng anbetrifft, dieselbe doch auch dort nur auf einen sehr
Ueinen Kreis beschrankt gewesen ist, da^s der grosste Theil der
^olkerung dort ebenso ungebildet und unwissend gewesen ist
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28 Aafjn^of, At 'A&rjvat negl ta tiXr^ to v. if£ cdwvos.
wie in den abendlandischen Reichen, ferner dass es in diesen
ebensowenig an geistigen und wissenschaftlichen Bestrebungen
gefehlt hat, dass die Litteratur des Abendlandes, ebensowohl die
poetische wie die bistorische und tbeologische, am wenigsten den
Vergleich mit der byzantinischen zu scheuen hat. Was den
moralischen Standpunkt der Byzantiner anbetrifft, so werden
wir gegentiber den hochst ungiinstigen Berichten der gleich-
zeitigen Abendlander iiber die Feigheit, Falschheit und Treo-
losigkeit der Griechen una unmoglich von der ganzlichen Grund-
losigkeit dieser Anklagen dadurch iiberzeugen lassen konnei
dass der Verf. einige Phrasen Finlay's wiederholt. Ueberhanft
muss bemerkt werden, dass derselbe einen Theil seiner Be-
hauptungen viel zu allgemein gefasst, dass er viel zu wenig die
grossen Verschiedenheiten, welche die Zustande des byzantiniscben
Reiches in verschiedenen Zeiten zeigen, und ebensowenij die
Unterschiede zwischen der bevorzugten Hauptstadt und den
Provinzen beriicksichtigt hat. Wenn der Verf. angiebt (S. 15),
auf Grund gleichzeitiger Nachrichten liessen sich die Einkuufe
der byzantinischen Regierung in dem 12. Jahrhundert aaf
ca. 25 Mill. Pfund Sterling , d. h. nach dem Verhaltniss <te
Geldwerthes auf heutige 125 Mill, berechnen, so miissen wir erstens
bedauern, dass er uns nicht die Quelle dieser interessanten
Nachricht genannt hat, und wir miissen andererseits vcrmuthen,
dass dieselbe, wenn iiberhaupt, jedenfalls nur fur einen kurzeren,
besonders gliicklichen Zeitabschnitt innerhalb dieses Jahrhunderte
richtig sein kann.
Auch H. Bikelas bemerkt, dass eine vollfcommen richtige
Wiirdigung des byzantinischen Reiches und seiner Zustande eret
dann moglich sein werde, wenn die noch in vielen Theilen dunkle
Geschichte desselben genauer aufgehellt sei, und er richtet gerade
an die jiingeren Historiker Griechenlands die Aufforderung, durch
monographische Arbteiten dazu mitzuwirken. Dass diese j&hwing
nicht unbeachtet verhallt ist, zeigt die an zweiter Stelle genannte
Arbeit des H. Lampros, welche iiber die Zustande Athens ^
Ende des 12. Jahrhunderts neue Aufklarung verbreitei Freilich
werden durch dieselbe die so giinstigen allgemeinen Schilderung**1
von Bikelas keineswegs bestatigt.
Ueber die Schicksale Athens unter der byzantinischen Herr-
schaft, seit der Zeit Kaiser Justinians, welcher durch Schliessung
der Universitat 529 die Bliithe der Stadt gebrochen hat, to
zum Jahre 1205, in welchem dieselbe unter die lateinische Herr-
8chaft gekommen ist, besitzen wir nur sehr sparliche, vereinzdte
Nachrichten. Nur fur die allerletzte Zeit eroffhet sich ein ver-
haltnissmassig reiches Quellenmaterial in den Schriften des E^'
bischofs Michael Akominatos, welcher dort von 1182 an bisflUD
Jahre 1205 gewaltet hat. Von diesen Werken desselben, to"
stehend in Briefen, Predigten, Reden und Schriften, welche dem
Gedachtniss verstorbener , dem Verfasser vertrauter Persons
gewidmet sind, ist eine voUstandige Sammlung in einem florentn^
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AaunQos, At 'A&rjvtu ne^i ta z£Xr\ vov ifl' altivoe. 29
Codex erhalten, einzelne haben sich auch in anderen, namentlich
in einer oxforder Handschrift gefunden. Von denselben waren
bisher nur wenige, allerdings gerade die wichtigeren, der Naoh-
ruf an den eigenen Bruder Michaels, den bekannten Staatsmann
and Geschichtsschreiber Nicetas Choniates, ferner an seinen
Lehrer, den beriihmten Erzbischof Eustathios von Thessalonich,
ein Panegyrikus auf den Kaiser Isaac Angelos, eine Denkschrift
uber die Zustande Athens an dessen Nachfolger Alexios III., eine
Predigt, einige Verse auf Athen und 6 Briefe an jenen Erz-
bischof Eustathios, die meisten durch Tafel,, herausgegeben
worden, anf Grand derselben hat 1846 Ellissen eine kleine
Scbrift: Michael Akominatos von Chonai, Erzbischof von Athen,
\eroffentlicht , in welcher er die Nachrichten iiber das Leben
und die Schrifben desselben verarbeitet nnd zugleich die letzteren,
soweit sie bekannt waren, mit beigefiigter deutscher Uebersetzung
wieder herausgegeben hat. Auf eben diesen beruhen die Nach-
richten iiber die Zustande Athens, welche sich bei Hopf und in
den anderen neueren Bearbeitungen der Geschichte Griechen-
lands im Mittelalter finden. H. Lampros hat zum Zweck einer
Herausgabe der sammtlichen Schriften Michaels die verschiedenen
Handsohriften derselben studirt und hat es dann zunachst in
der vorliegenden Schrift unternommen , die Nachrichten, welche
sich in denselben, namentlich in den noch ungedruckten , iiber
den Verfasser selbst und iiber die Schicksale und Zustande
Athens zu seiner Zeit finden, zu verwerthen. Er hat daneben
auch noch benutzt Briefe des Erzbischofs Georgios Tornikes von
Ephesus an Michael, welche er in einer wiener Handschrift ge-
hmden hat, ferner Inschrifben und Siegel, und mit Hiilfe dieses
neuen Quellenmaterials hat er das Bild der damaligen Zustande
Athens erheblich vervollstandigt und manche Irrthiimer der
friiheren Darsteilungen berichtigt.
Nach einem kurzen Ueberblick iiber die, wie schon bemerkt,
sehr wenig bekannten Schicksale Athens in den friiheren Jahr-
hunderten schildert er zunachst den Lebensgang jenes Michael
Akominatos. Derselbe ist ca. 1140 in Chonai in Kleinasien, dein
alten Colossai, geboren. Von friih auf fur den geistliohen Stand
bestimmt, wurde er von seinen Eltern zu seiner Ausbildung nach
Constantinopel geschickt, sein Lehrer wurde der beriihmte Eusta-
thios, durch diesen wurde er auch in das Studium des classischen
Alterthums eingefuhrt und mit Begeisterung hat er sich dem-
selben hingegeben. Nach Beendigung seiner Studieilzeit lebte er
zunachst noch weiter in Constantinopel als Secretar des Pa-
triarchen und fand hier Gelegenheit, Verbindungen mit hoch-
gestellten und einflussreichen Personlichkeiten anzukniipfen, zu
Anfang des Jahres 1182 wurde er dann zum MetropoUten von
Athen ernannt. Dort hat er dann bis zum Jahre 1205 gelebt
und er hat uns in seinen Schriften zahlreiche Nachrichten iiber
die dortigen Zustande mitgetheilt. Athen gehorte zu der Pro-
vinz Hellas, welche damals aber mit dem friiher getrennten
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30 AafjMQQSy At 'A&jjvcu neqi ra tsXrj tov tf tdmvog.
Peloponncs znsammen unter einem Statthalter, damals Prator
genannt, stand. Michael fand Stadt mid Land in trauriger Ver-
kommenheit. Anf dem sandigen Boden Athens wurde wenig
Getreide gewonnen, die Haupterzeugnisse , wie schon im Alter-
thum, waren Oel, Wein und Honig. Die Stadt war verodet und
arm, Mauern und Hauser lagen zum Theil in Triimmern, die
Gewerbthatigkeit war gering, namentlich fehlte die Seidenindustrie,
welcher andere Stadte, wie Theben und Euripos, ihren Wohlstand
verdankten, doch war sie nicht ganz ohne HandeL Der Verf
schliesst aus einigen Andeutungen Michaels, dass dieser traurige
Zustand der Stadt durch ein besonderes, ungliickliches Ereignif
veranlasst sein miisse, und er vermuthet, dass dieses die Eroberung
der Stadt durch den Konig Roger von Sicilien ca. 1147 gewesen sa
von welcher wir freilich nur durch den deutschen Chronisten
Otto von Freising Kunde erhalten. Doch erhob sich stolz uter
der Stadt der Parthenon, jetzt die Kirche der Gottesmutter,
geschmiickt mit Mosaikbildern, reich an Kostbarkeiten , das Ziel
vieler Wallfahrer, auch andere Kirchen werden in der Stadt ge-
nannt. In seiner Antrittspredigt ermahnt Michael die Athens
zur Tugend unter Hinweis auf ihre grosse Vergangenheit. Aber
das Volk, zu welchem er predigte, war arm und unwissend,
Michael klagt, dass es seine attisirende Rede garaicht verstehe,
dass er sich ihren barbarischen Dialekt angewohnen miisse. Doch
sucht der Verf. nachzuweisen , dass Michaels Klagen iiber gam-
lichen Mangel an Bildung in Athen iibertrieben seien, zwar ?er-
wirft er als wenig zuverlassig die Nachrichten, welche Hopt
herangezogen hatte, von jungen Spaniern, deren immer alljahrlieh
eine Anzahl zur Ausbildung nach Athen geschickt sei, und von
einem Englander Aegidius, der dort seine Studien gemacht habe,
glaublicher erscheinen ihm die Nachrichten iiber einen anderffl
Englander Basingestokes , der auch in Athen studirt und die
Tochter des dortigen Erzbischofes Constantina zur Lehrerin g&"
habt haben soil, er zeigt aber, dass diese Constantina nicK *ie
Hopf meinte, die Tochter Michaels gewesen sein kann. Freflich
ist seine eigene Vermuthung , dass sie die Tochter ernes der
lateinischen Erzbischofe gewesen sei, welche seit 1205 den En-
stuhl von Athen inne hatten, auch wenig wahrscheinlich. Dock
giebt es noch andere Zeugnisse, welche beweisen, dass Bildung
und Wissenschaft in Athen damals nicht ganz erstorben waren,
wir finden Athener im Besitz der hochsten kirchlichen Wiirden,
Michael selbst erwahnt, dass es in Athen Biicherfreunde gel*
und dass er selbst dort seine Bibliothek bereichert habe, freilich
aber auch, dass ein fbrmlicher Handel mit Buchern nach Italian
hin getrieben werde.
Athen hatte besonders durch die Seerauber zu leiden, welche
bei dem VerMl der griechischen Seemacht im agaischen Meere
iiberhand genommen hatten, die benachbarten Inseln Aegina und
Macri waren Hauptstationen derselben, und von dort aus machten
sie Raubziige selbst bis in das Innere des Landes. Michael ergeht
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\
AafinqoSi At 'Afrrprai neqi ta teXy tov ij}' aiwvog. 31
sich in semen Schriften in Klagen iiber das Ungliick Athens,
bestandig betont er den Gegensatz zwischen der glanzenden Ver-
gangenheit und der traurigen Gegenwart, doch liess er es nicht
nur an diesen Klagen bewenden, sondern er bemiihte sich auch>
Abhiilfe zu schaffen. Aber diejenigen, auf deren Mitwirkung er
dabei am meisten angewiesen war, die kaiserlichen Beamten,
waren selbst die schlimmste Plage des Landes. Die Statthalter
waren auf Gebiihren aus der Proyinz selbst angewiesen, und sie
sowohl wie ihre Unterbeamten erlaubten sich mit wenigen riihm-
lichen Ausnahmen — so preist Michael als damals noch in
daukbarer Erinnerung stehend die Verwaltung des Alexios
Bryennios, des Sohnes der kaiserlichen Geschichtsschreiberin
Anna Komnena — die schlimmsten Erpressungen und Will-
kMichkeiten. H. Lampros sucht nachzuweisen, dass die Angabe
Hopfe, welche in alle anderen Darstellungen der griechischen
Geschichte iibergegangen ist, Athen habe sich ganz besonderer
Pririlegien erfreut, unrichtig sei, dass Hopf einige Aeusserungen
Michaels missverstanden habe. Wenn derselbe angebe, Athen
habe wenigex Steuern als Theben oder Euripos zu zahlen gehabt,
so erklare sich dieses daraus, dass es armer als jene Stadte
gewesen sei, das kaiserliche Privileg, auf welches sich Michael
beruft, habe den Statthaltern nicht iiberhaupt untersagt, Athen
zu betreten-, sondern hatte ihnen nur verboten, mit Truppen
dort zu erscheinen. Wir besitzen noch die Beden , mit welchen
Michael einige dieser Statthalter bei ihrem Einzuge in Athen
begrusst hat, die eine derselben, die Rede an den Prator De-
nietrios Drimys, hat der Verf. hier im Anhange abdrucken lassen ;
anch in ihnen ergeht sich der Erzbischof in Klagen iiber den
fraurigen Zustand der Stadt im Vergleiche mit der Vorzeit, er
strcht jene Beamten, indem er sie, so wie die gerade regierenden
Kaiser mit Schmeicheleien uberschiittet , zum Einschreiten zu
Gunsten derselben zu bewegen, und seine Mahnungen sind auch
nicht ganz erfolglos gewesen. Nach der Thronbesteigung des
Kaisers Isaac Angelos und der gliicklichen Beendigung des
Krieges gegen den sicilischen Konig Wilhelm II. ging Michael
fclbst nach Constantinopel und hielt hier diesem Kaiser eine
schmeichlerische Lobrede, in welcher er wiederum denselben fur
Athen zu interessiren suchte. Doch trotz kaiserlicher Erlasse,
seiche er erwirkte, und trotz seiner Verwendung bei einfluss-
reichen Freunden, dauerten die Leiden und Bedriickungen Athens
fort. Am schlimmsten warden sie unter Isaacs Nachfolger
Alexios HI. , als der Admiral Johannes Stirione den Befehl er-
hielt, gegen die Piraten eine Flotte zu riisten, aber unter diesem
>orwande, ohne gegen jene wirkliche Abhiilfe zu schaffen, die
groasten Erpressungen vornahm, wahrend gleichzeitig auch der
dajmalige Prator sich die argsten Gewaltthaten und Baubereien
snaubte. Damals hat Michael an den Kaiser eine Denkschrift
gencntet, in welcher er in den schwarzesten Farben das Un-
stick der Stadt und die Frevelthaten jener Beamten schildert.
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32 AccfiTiQos, Aoyos eicfctyJQCog.
Zuletzt hat Michael noch, wie wir aus dem Berichte seines
Bruders, des Geschichtsschreihers Nicetas Choniates erfiaJiren —
in seinen eigenen Schriften finden sich keine Nachrichten
dariiber — mit gewaffneter Hand Athen gegen den machtigen
Herrn von Nauplia, Argos und Corinth, Leo Sguros, vertheicbgt
Nachdem derselbe zuerst Gelderpressungen versucht hatte, zog
er 1203 vor Athen, urn sich der Stadt zu bemachtigen, aber
Erzbischof Michael leitete geschickt die Vertheidigung der Acro-
polis, auf welche sich die Einwohner zuriickgezogen hatten, mid
Sguros musste schliesslich unverrichteter Sache abziehen.
Ohne Widerstand dagegen ergab sich im Jahre 1205 Atha
an Bonifacius von Montferrat, der nach der Eroberung von Cast
stantinopel nach Griechenland kam, urn die ihm bei der Ver-
theilung des eroberten Reiches zugefallenen Gebiete in Besitz za
nehmen. Der Parthenon wurde bei dieser Gelegenheit gepliindert,
ebenso die Wohnung Michaels (nach der Vermuthung des Verf.
befand sich dieselbe in den Propylaen), dieser selbst musste vor
einem lateinischen Priester, Berard, welcher von den Eroberen
zum Erzbischof eingesetzt wurde, weichen, er floh zuerst m4
Thessalonich , dann nach Euripos , endlich nach der Insel Keos:
dort, angesichts der attischen Kiiste, hat er in einem Kloster
unter armlichen Verhaltnissen seine letzte Lebenszeit zugebracbi
Doch blieb er fortgesetzt in Briefwechsel mit zahlreichen Freun-
den in der Fremde, mit seinen Klagen iiber das Ungliick de8
Vaterlandes vermischen sich die Hoffiiungen auf eine bessere
Zukunft, auf die Befreiung von der Fremdherrschaft ; erst ca. 1220
ist er gestorben.
Wir machen bei dieser Gelegenheit auch auf die oben an
dritter Stelle genannte kleine Schrift desselben Verfetssers auf-
merksam, welche derselbe die Freundlichkeit gehabt hatf was
zuzuschicken. Es ist die Antrittsrede, welche er bei Uebernaime
der Professur fur griechische Geschichte und Palaograpiue an
der Universitat Athen gehalten hat In dem Haupttheile der-
selben giebt er einen Ueberblick iiber die Entwickelung, welche
das Studium des griechischen Alterthums in den verschiedenen
Perioden seit der Renaissance genommen hat, er charakterisirt
dabei in sehr eingehender und richtiger Weise die Werke tod
Grote und Curtius. In dem folgenden kiirzeren Theile wendet
er sich der spateren Geschichte Griecheniands zu, er weist daranl
hin, dass dieselbe noch vernachlassigt und zuriickgesetzt sei, und
er bezeichnet dann als die Ursachen dieser Erscheinung einma!
die nationalen und kirchlichen Vorurtheile, von denen sich die
Historiker des Abendlandes haben beeinflussen lassen, und ferner
die BeschaflFenheit des Quellenmaterials fur die Greschichte des
griechischen Mittelalters. Er nennt dann riihmend die beiden
Geiehrten, welche sich um die Erforschung derselben besonders
verdient gemacht haben, Buchon und Hopf, und er fordert ebenso
wie H. Bikelas seine Schiiler auf, dem Beispiele derselben folgend
durch Herausgabe neuer Quellen und durch monographfeche
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Villari, Niccolo Machiavelli und seine Zeit 33
Darstellungen an der weitereu Aufklarung dieses Theiles der
griechischen Geschichte mitzuwirken. Er preist zum Schluss
seinen einstigen Lehrer und jetzigen Collegen, H. Paparrigopulos,
als das Vorbild eines nationalen Geschichtsschreibers und spricht
die Hofihung aus, dass es auch ihm gelingen werde, fUr die
Forderung der wissenschaftlichen Studien und die Belebung des
nationalen Geistes unter seinen Schulern thatig zu sein.
Berlin. F. Hirsch.
XII,
Villari, Pasquale, Niccolo Machiavelli und seine Zeit. Durch
neue Dokumente beleuchtet. [In 2 Bdn.] Mit des Verfassers
Eriaubniss iibersetzt von Bernhard Mangold. I. Band. gr. 8.
(XVIII, 508 S.) Leipzig 1877. H. Hartung & Sohn. 8 M.
Sicher konnte der Biograph Savonarola's fur ganz beson-
ders befahigt und vorbereitet gelten, das Leben eines Mannes
darzustellen, dessen Charakterbild nicbt nur „ durch der Parteien
Gunst und Hass verwirrt", sondern auch in der Beurteilung der
ruhigsten und gewissenhaftesten Forscher nocb heute wie eine
Sphinx erscheint, unlosbare Ratsel aufgebend, damonisch fesselnd
und abstossend zugleich. Auf dem festen, iiberall sorgfaltig aus-
gefiihrten Unterbau der Renaissancezeit lasst Villari's Meister-
hand das Standbild des Mannes sich erbeben: in diesem ersten
— nur bis 1507 reichenden — Theile natiirlich noch mit unent-
wickelten, aber doch scbon hie und da scharf markirten, klar
anf Zukiinftiges hinweisenden Ziigen. Der Verfasser war bemiiht
zu erforschen, „wie in jenern Jahrhundert der Geist des Macbia-
vellismus entstand, ehe Machiavelli selbst auf die Biihne trat,
urn ihm das eigentiimliche Geprage seines politischen Genies zu
geben und ihn wissenschaftlich zu formuliren". Villari kennt
und wiirdigt vollkommen, was Voigt und Burckhardt, v. Reumont
und Gregorovius fur Aufhelliuig der italienischen Renaissance-
periode geleistet haben: seine vollstandige Beherrschung des
urkundlichen Materials gibt ihm aber immer noch Gelegenheit,
dem Gemalde hie und da neue Lichter aufzusetzen, dem Be-
trachter einen eigenthiimlichen Gesichtspunkt anzuweisen. Die
Darstellung ist schlicht, aber doch ohne Trockenheit ; sie schreitet
ohne Hast in anmutiger Lebendigkeit fort und lasst unter der
ruiigen Objectivitat des Forschers die patriotische Gesinnung,
das warme sittliche Gefiihl klar genug hervorscheinen.
Ausser den gedruckten Urkunden, wie den diplomatischen
Correspondenzen fest aller italienischen Provinzen, den kiirzlich
erschienenen zehn Banden bisher unpublicirter Werke Guicciar-
dini's u. s, w. hat V. die auf mehrere Tausende sich belaufenden,
von Machiavelli eigenhandig geschriebenen amtlichen Briefe der
NationaJbibliothek aufs sorgfaltigste durchgearbeitet. Fur die
Form seiner Biographie musste die fortdauernde Benutzung der
Gesaudtschaftsberichte Machiavelli's neben jenen Briefen aus der
^izlei und die Vergleichung dieser boiden Quellen ersten
MUthellungcn a. d. hiator. Litteratur. VH. 3
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34 Villari, Niccolo Machiavelli und seine Zeit.
Ranges mit den von Villari selbst veroffentlichten Depeschen
des venetianischen Gesandten Giustinian charakteristisch werden.
Die Werke M/s citirt er nach der Ausgabe von 1813, vergleicht
aber damit, soweit sie reicht, die seit 1873 in Florenz erschei-
nende. Das Bedauern der Herausgeber derselben, Passerini und
Milanesi, dass die vielen Bande vertraulicher Briefe M.'s, die aus
dem Besitz des englischen Sammlers Philipps ins britische Mu-
seum iibergegangen , noch immer der Benutzung entzogen seien,
veranlasste Villari, nach jenem ungehobenen Schatzo zu forschen.
Er erkannte in den drei Banden des Carteggio originale di
N. Machiavelli, die sich jetzt wie die ganze PhUipps'sche Biblio-
thek in Cheltenham befinden, nur einen einzigen, mog-
licherweise von M. entworfenen Brief, wahrend alle iibrigen
von 1513 — 26, also zu einer Zeit, als er nicht mehr im Amt
war, geschriebenen nicht von ihm herriihren konnen und das
N. M. am Fuss mancher Seite nur auf den damaligen Ka&zter
der Acht: Niccolo Michelozzi zu deuten ist.
Die mehr als die Halfte des ersten Bandes umfassende E»-
leitung betrachtet in ihrem ersten Abschnitt : dieRenaissance
im AUgemeinen, ihr Wesen, ihren kulturhistorischen und politi-
schen Charakter. Gerade als die mittelalterlichen Institutional
in Italien, die sich uberlebt hatten, mit Neubildungen rangen,
im Augenblick einer allgemeinen Verwirrung der Geseltechaft,
stiirzten sich die Fremden auf die Halbinsel und hemmten ihr
Vorwartsschreiten. Man arbeitet mit unwiderstehlicher Energie,
sucht und findet alle litterarischen Formen, aber das religiose
Gefuhl und der moralische Sinn schwinden. Wenn dieses Uebel
an die Oberflache treten wird, muss eine schreckliche Katastrophe
erfolgen; „und eben das bestandige Heranriicken dieser Kata-
strophe inmitten solchen geistigen Fortschritts ist die Geschichte
der Renaissance".
Der zweite Abschnitt behandelt diewichtigstenStaaten
It aliens: Mailand, Florenz, Venedig, Rom und Neapel. In
knappen Umrissen wird die politische Entwickelung dersdben
dargestellt und noch Raum gewonnen hier fur ein lebensvolles
Portrait, dort fur ein ausgefuhrtes kleines Culturbild. Der
dritte Abschnitt ist der Litteratur gewidmet und zeigt Villan s
griindliche Kenntnisse und feines Urteil auf alien Punkten dieses
Gebiets, ob er Petrarka und den mit ihm beginnenden Humanis-
mus im allgemeinen schildert, oder die Humanisten in Florenz,
Rom, Mailand, Neapel und in den kleineren Staaten in einer
Galerie anziehender Charakterkopfe uns vorfiihrt, oder endlicb
das Entstehen und die Wirksamkeit der platonischen Akademie
und das Erwachen der italienischen Nationallitteratur darstellt
Im vierten Abschnitt endlich wird uns die politische Lage
Italiens am Ende des 15. Jahrhunderts geschildert:
die einzelnen Kapitel desselben behandeln in ausfuhrlicher Er-
zahlung die Wahl des Papstes Alexander VI., die Ankunft
Karls VIII. in Italien, die Borgia, endlich Savonarola und die
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Villari, Niccolo Machiavelli imd seine Zoit. 35
florentinische Republik. In diesem letzteren zieht Villari auf
vierzehn Seiten die Summe seiner Studien iiber den schwarme-
rischen Monch, der nach ihm im Einzelnen auch „Beweise eines
wunderbar gesunden politischen Verstandes gegeben", darin aber
sich tauschte und darum zum Theil auf Sand baute, weil er „die
freie Regierung wollte, um die religiose Reform zu fdrdern, die
Florentiner aber die religiose Reform nur annahmen, um die
freie Regierung besser zu befestigen". — Das erste noch nicht
beendete Buch der eigentlichen Biographie soil von der Ge-
burt Niccolo Machiavelli's bis zu seiner Amts-
entsetzung als Kanzl-er der Zehn (1469 — 1512)
reichen. Nur ausserst wenig weiss uns V. von seinem Helden
vot dem Zeitpunkte zu berichten, wo er, 29 Jahre alt, zum
Kanrier der Zehn gewahlt wird und damit zum ersten Mai in
der Geschichte erscheint. Die Machiavelli waren eine alte tos-
tanische Familie, im 13. Jahrhundert gehoren sie zu den ange-
sehensten Popolanen von Florenz und nehmen, verbannt und
wieder zuriickkehrend , an den Geschicken der Guelfen theil.
Der Vater Niccolo's war Rechtsgelehrter mit massigem Ein-
kommen. Von seinem zweiten, am 3. Mai 1469 geborenen Sohne
finden sich die ersten geschriebenen Worte in einem italienischen
und einem Stuck eines lateinischen Briefes vom December 1497,
worm Niccolo als Vertreter aller Machiavelli die Patronatsrechte
der Familie auf eine Kirche in Mugello einem romischen Pra-
laten* (wahrscheinlich dem Cardinal von Perugia) mit grosser
Gewandtheit ans Herz legt. Bewiesen ist damit, dass er damaJs
Latein verstand und schrieb, was bezweifelt warden; griechische
Schriftsteller im Original zu lesen, war er nach Villari nicht im
Stajide. Vom 8. Marz 1498 ist uns ein merkwurdiger Brief er-
halten, in dem sich Machiavelli, nach dem er zweimal Savonarola
in San Marco predigen gehort, mit Ironie und Verachtung iiber
ihn aussert, nicht begreifen will, was gross und edel an ihm sei,
and wie er in Florenz einen solchen Einfluss gewinnen konnte.
Am 15. Juni desselben Jahres wurde M. im Rath der Achtzig
znm Secretar der zweiten Kanzlei, der der Zehn, gewahlt, welche
zunachst Kriegsangelegenheiten aber auch die innere Verwaltung
der Republik leiteten. Am 14. Juli von der Signorie bestatigt,
trat er sofort sein Amt an, das er bis zum Sturze der republi-
kanischen Regierung 1512 behielt. Sein College als Secretar
der Signorie oder Kanzler der Republik war damais Marcello
Virgilio. Im Vergleich zu diesem Manne, einem Gelehrten der
alten Schule, gibt uns V. hier eine Schilderung M.'s, seines
Aeusseren und seiner Lebensfiihrung, die aber vom Politiker und
Schriftsteller noch vollig absieht. Sich seinen Amtsgeschaften
eifrig hinzugeben entsprach M.'s fieberhaftem Thatigkeitstriebe,
^och behielt er noch Musse genug fur Lecture, Unterhaltung
und die Freuden des Lebens.
Der Krieg mit Pisa, der vorher und nachher den Florentinern
*o viel zu schaffen machte, nahm auch sofort den Kopf und die
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36 Villari, Niccolo Machiavelli und seine Zeit
Feder des neuen Secretars energisch in Anspruch. Die Unter-
handlungen mit den tragen oder eigenmachtigen Hauptleuten
notigten ihn nicht bios zu einer nie rastenden Corresponded
sondern auch oft zu Reisen und personlichem Einschroiten. Den
ersten eigentlich diplomatischen Auftrag erhielt er im Juli 1499,
als er zu Caterina Sforza, der Grafin von Iniola und Forli, ge-
sandt wurde, urn mit ihr einen Vertrag abzuschliessen, der den
Florentinern die Beschaffung von Kriegsinaterial und die Wer-
bung von Soldnern aus ihrem Gebiet gestattete. Jene abenteuer-
liche Frau mit mannlichem Geiste, die damals vor kurzem erst
ihren dritten Gemal Giovanni vom jiingern Zweig der Medici
begraben hatte, stand gleichzeitig mit dem Herzog von Mailand
in Unterhandlung. Da die Bedingung, die sie ganz unerwartet
vor Unterzeichnung des Vertrags stellte, die Florentiner miissten
sich ausdriicklich zur Bcschutzung ihres Staates verpflichteo, der
Signorie unannehmbar erschien, verliess M. Forli, ohne that-
sachlich viel erreicht zu haben, aber doch, wie die Briefe seines
Freundes Buonaccorsi beweisen, in der Ueberzeugung, dass seifi
Eifer und seine Gewandtheit von der heimischen Regierung nicht
verkannt wurden. Im August und September machte ihm der
gegen Pisa operirende Feldhauptmann Paolo Vitelli viel zu
schaffen, dessen Verhalten verdachtig, ja zuletzt verraterisck
erschien, und der deshalb, nicht ohne M.'s Mitwirkung, von
Kriegscommissaren der Republik hinterlistig gefangen genommen
und gleich darauf hingerichtet ward. Eine noch aus dresem
Jahre stammende „Rede an die Zehn iiber die Pisaner
Angelegenheiten" beweist M.'s lebhaftes Interesse auch fur
die Einzelnheiten der Kriegskunst, „die fiir ihn damals schon
ein wesentlicher Theil der Politik war".
Am 11. September 1499 war das franzosische Heer sisg-
reich in Mailand eingezogen: am 19. October schlossen di'e
Florentiner mit Ludwig XIL einen Vertrag, wonach dieser ton
zur Unterwerfung Pisas behilflich sein, sie fiir ihn Truppennadi
Mailand senden und mit 500 Reisigen und 50000 Scudi sein
Unternehmen gegen Neapel unterstiitzen sollten. Als nach dw
Riickkehr Ludovico Moro's und seiner Gefangennahme wirklicb
Schweizer und Gascogner Soldner den Florentinern fiir Pisa zur
Verfiigung gestellt wurden, die Eroberung der Stadt aber, die
schon gesichert schien, schliesslich doch mislaug, und wegeu der
Unbotmassigkeit und der immer wachsenden GeldforderungJJ1
der franzosischen Truppen Misverstandnisse zwischen Ludwig Xlt
und der florentinischen Regierung eintraten, wurden im Juli 1500
zur Beseitigung derselben Francesco della Casa und Niccolo
Machiavelli nach Frankreich gesendet Da sein College naj*
den ersten Monaten krank wurde, ruhte die wichtige Gesandt-
schaft allein auf M.'s Schultern, der hier zuerst ein grosser^
Beobachtungsfeld betrat. In seinen Berichten, besonders uw
die Unterredungen , die er mit dem Cardinal Amboise hatfe
pragte er die Scharfe und Urspriinglichkeit seines Geistes rma
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"V*
Villari, Niccolo Machiavelli und seine Zeit. 37
die Kraft seiner Sprache schon so klar aus, dass Villari darin
den kiinftigen Verfasser der Discorsi und des Principe, „wenn
auch noch gleichsam aus den Wolken" hervorleuchten sieht. Es
gelang M. , das Mistrauen und die Empfindlichkeit des Konigs
und seines Ratgebers nach Moglichkeit zu uberwinden: doch
hatte er, dem die kargo Regierung durch ungeniigende Tage-
gelder personlich manchen Verdruss bereitete , guten Grand lhr
einzuscharfen , „sich durch Geld gute Freunde in Frankreich zu
erwerben, da man nicht den Process gewinnen konne, ohne den
Anwalt zu bezahlen".
Nach seiner Ruckkehr finden wir ihn wieder mit grossem
Eifer in seinem Amte wirken. Die Kampfe zwischen den Can-
cellieri und den Panciatichi in dem untert&nigen Pistoja machten
TOeflerholt die Vermittelung und das bewaffnete Einschreiten der
florentinischen Regierung notwendig: wiederholt wurde M. dort-
hin gesandt. Noch besorgniserregender war 1501 das Einriicken
Casar Borgia's in Toskana; im Mai unterzeichneten die Floren-
tiner einen Vertrag, wonach er zur Vertheidigung der Republik
300 Reisige stellen, rechtzeitig benachrichtigt auch mit den
Franzosen gegen Neapel Ziehen und fur sein Commando jahrlich
36000 Dukaten erhalten sollte. Ein Jahr spater wurden Arezzo
und das Chianathal von den damals mit Borgia verbundenen
Orsini und seinem Hauptmann Vitellozzo, die in die Landschaft
einriickten, gegen Florenz aufgewiegelt , wahrend Casar selbst
nnd sein Vater, der Papst, mit Pisa unterhandelten , das unter
dem Herzog einen unabhiingigen Staat griinden wollte. In dieser
gefahrvollen Lage erwarteten die Florentiner mit Bangen die
franzosischen Hilfstruppen. Da verlangte der Herzog von Valentino
pit ihn en zu unterhandeln , und sie schickten — Juni 1502 —
ihm Francesco Soderini, Bischof von Volterra, und N. Machiavelli
nach Urbino, dessen er sich soeben verraterischer Weise be-
machtigt hatte. Der riicksichtslos thatkraftige , kriegerisch
tiichtige , nicht zu tauschende Mann machte auf M. einen Ein-
druck, den er in seinen Briefen unverhiillt aussprach: dem
Drangen des Herzogs nach dem Abschluss eines fur ihn giinstigen
\ ertrags wusste er aber Stand zu halten. M. reiste ohne Sode-
rini nach Florenz zuriick: bald erschien die franzosische Hilfe;
die verloren gegangenen Orte wurden bis Ende August zuriick-
gewonnen. Nachdem M. im September zwei Reisen nach Arezzo
gemacht, verfasste er nach den dort gemachten Erfahrungen die
MeineSchrift: „Wie mit dem aufstandischen Volk $e$
CManathales zu verfahren sei." Das Verfahren der
Homer gegen das aufriihrerische Latium gibt ihm neb en, und,
*ie es scheint, noch vor dem Selbsterlebten den Massstab fur
seine Urteile und Ratschlage; „miide einer Politik kurzreichen-
der Auskunftsmittel , vermochte er nur iiber die Schultern des
Altertimis hinaus sich in eine hohere Welt zu erheben". Wenn
er die halbe Strenge gegen die besiegten Untertanen misbilligte,
wollte er das Verfahren der Behorden nicht geradezu verwerfen.
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38 Villari, Nicoolo Machiavelli und aoine Zeit.
sondern nur zeigen, welches die Politik eines nach romischem
Vorbild handelnden Volkes sein miisste. — Die wichtige Er-
richtung des Bannerherr - Amtes auf Lebenszeit im August 1502
und die Besetzung desselben mit Piero Soderini, dem Bruder
des Bisehofs, war auch von personlicher Wichtigkeit fiir Machia-
velli, weil er, mit dessen Familie langst befreundet, sofort dem
neuen Vorgesetzten das vollste Vertrauen abgewinnt und die
schwierigsten Auftrage von jetzt an gerade ihm iibertragen wer-
den. Die erste Gelegenheit dazu fend sich schon im October
1502, als der Herzog von Valentino in seinem Siegeslauf durch
die Romagna durck den Bund seiner Hauptleute Vitelli,
Baglioni u. a. mit den Orsini sich plotzlich gehemmt sah und
einen Riickhalt an den Florentinern suchte. Diese hatten den
Anschluss an seine Gegner abgelehnt; ihn wollten sie weder
zum Feinde haben noch ernstlich unterstiitzen : so war die Auf-
gabe, den schlauen und gewaltthatigen Mann mit Freundschafts-
versicherungen hinzuhalten, die M. jetzt durch Wahl der Zehn
iibertragen wurde, eine besonders schwierige. Er ubernahm sie
nicht ohne Widerstreben , denn als blosser Geschaftstrager
(Mandatario) wurde er unzureichend bezahlt und hatte vor
kurzem erst Marietta, die Tochter Lodovico Corsini's, geheirathet,
die nur sehr schwer sich in die Trennung von ihm fiigte. Bei
dieser Gelegenheit bemerkt Villari, dass der frivole Ton, in dem
M. in den vertraulichen Briefen an seinen Freund Buonaccorsi
von seiner Frau spricht, weder beweist, dass sie seiner Liebe
unwiirdig, noch dass er ohne Zuneigung fur sie gewesen : es ware
eben die Verachtung des Weibes ein gemeinsamer Zug des
Humanistenkreises. — Noch unerfahren im praktischen Leben,
von Natur viel mehr zum Forschen und Begreifen als zum Han-
deln geneigt, stand er jetzt einem Manne der riicksichtslosen
That gegeniiber, der ihm imponirte, und den er bald zum fie-
prasentanten jener noch erst wissenschaftlich zu formulirenden,
von der Moral ganzlich getrennten, Politik machte, die nach ihrn
die Kunst ist, zur Erreichung irgendwelchen Zweckes die geeig-
neten Mittel zu finden. Von dem Schutz- und Trutzbiindnis, das
der Herzog am 28. October mit den Aufstandischen schloss,
offenbar nur in der Absicht, Zeit zu gewinnen, schickte M. eine
heimlich erhaltene Abschrift an die Zehn. Seine Briefe vom 13.
und 20. November beweisen, dass er Caesars Plan, einige seiner
Gegner „auszukoppeln" und schliesslich alle zu vernichten, durch-
schaute: aber nichts spricht dafur, dass er ihm irgend eine
Hinterlist eingegeben, ihn wohl gar (was schon Gervinus wider-
legte) zu der verraterischen Gefangennahme vier seiner ver-
hasstesten Gegner zu Sinigaglia am 31. December aufgestachelt
hatte. Im Gegenteil zeigen einige Stellen seiner Briefe, dass ihm
die schrecklichen Dinge in seiner unmittelbaren Nahe unheimlidb
genug waren: durch zweideutige Scherze und die Lectiire des
Plutarch, den ihm Buonaccorsi zusenden sollte, suchte er daruber
hinwegzukommen. „Es ist ein eigentumliches Schauspiel," sagt
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Villari, Niccolo Machiavelli and seine Zeit. 39
Villari, „Machiavelli, einerseits die Helden Plutarchs und andrer-
seits die Handlungen Valentino's betrachtend, die Schopfung jener
Staatswissenschaft, die sich auf die Geschichte der Vergangenheit
und auf die Erfahrung der Gegenwart griinden soil, beginnen zu
sehen." So lehrreich ihm seine Stellung in der Nahe des Her-
zogs war, und so viel Anerkennung auch seine Berichte bei der
heimischen Regierung gefunden hatten, wiederholt bat er urn
seine Abberuftmg, die aber, da er dem Gonfaloniere nicht zu
ersetzen schien, erst Mitte Januar 1503 erfolgte. Vor seiner
Heimreise schrieb er noch, urn die vielen verloren gegangenen
Berichte zu ersetzen, einen Brief, der alle Ereignisse seiner Ge-
sandtschaft zusammenfasste. Auf dem, uns allein erhaltenen,
ersten Blatt desselben entwirft er ein allgemeines Bild der Mass-
regeln und Thaten des Herzogs , die er gleich im Anfang fiir
«wahrhaft einzig und denkwiirdig" erklart. Er hebt dessen Ent-
sclilossenheit und Gewandtheit in solchem Masse hervor, dass
ihm Buonaccorsi schreiben konnte, in Florenz beschuldige man
ihn, zu viel Wesens aus Valentino zu inachen. Aber wirklich
zu einem Heroen der Staatskunst, der Alles voraussieht und
Alles durchsetzt, wird ihm Caesar Borgia in der, spater in Florenz
geschriebenen : Descrizione del modo tenuto dalduca
Valentino nello ammazzareVitellozzoVitelli etc.
Die von seinen eigenen Depeschen mehrfach abweichende Dar-
stellung ist mehr die eines politischen Romans als eines Ge-
schichtswerks. Der Herzog iiberrascht Alle und wird durch
nichts iiberrascht. Er entlasst vor dem Einzug in Sinigaglia die
franzosische Hilfsschaar zu dem bestimmten Zweck, seine Opfer
sicherer zu machen, seinen Plan zu maskiren, wahrend in
seinen Depeschen Machiavelli selbst am 20. December schreibt,
die plotzliche Abberufung der Franzosen habe „den ganzen Hof
unterst zu oberst gekehrt" , und am 23. : der Herzog habe da-
durch „mehr als die Halfte seiner Truppen und zwei Drittel
seines Rufs eingebiisst". Der uns hier geschilderte Staats- und
Kriegsmann ist eben nichts anderes als der Vorlaufer des
r,Fur8ten" Machiavelli's. — Am Anfang des Jahres 1503 brauchte
die Republik, einerseits von den Borgia und andrerseits von Pisa
bedroht und ausserdem durch ein neues franzosisches Heer, das
nach Neapel marschirte, beunruhigt, notwendig bedeutende Geld-
mittel, um neue Truppen aufzustellen. Die Abneigung der Btirger-
schaft gegen die vorgeschlagenen Steuern war sehr schvver zu
uberwinden: endlich gelang dies Soderini durch eine feierliche
Rede im grossen Rat, nach welcher beschlossen wurde, von alien
unbeweglichen Giitern einen Zehnten zu erhebon und ausserdem
^etwas Willkiir", eine Art von Gewerbesteuer. Moglicherweise
ist die von M. erhaltene Rede : rParoledadirlesopra
la provviBione del danaiou fur den Gonfaloniere ausge-
arbeitet und von diesem bei jener Gelegenheit vorgetragen wor-
den. Sie ist fiir den Verfasser charakteristisch wegen ihres
Reichtums an Maximen und geschichtlichen Beispielen. . Im April
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40 Villari, Niccolo Machiavelli und seine Zeit.
wurde M. auf Veranlassung der Franzosen, die., mit den Borgia
zerfallen, einen Bund zwischen Florenz, Siena, Lucca und Bologna
zu Stande bringen wollten, nach Siena zu dem, mit franzosischer
Hilfe zuriickgekehrten, Tyrannen Petrucci gesandt. Von hier aus
berichtete er iiber die Truppenbewegungen des Herzogs, die einen
Handstreich vermuten liessen, vielleicht aber auch bios auf eine
Diversion der florentinischen Truppen vom pisanischen Gebiete
berechnet waren. Gegen Pisa war man entschlossen in diesem
Sommer energisch vorzugehen: der tiichtige Feldhauptmann
Antonio Giacomini verheerte ihr Gebiet am Arno und nachher im
Serchiothale und wurde dabei durch Depeschen Machiavelli's, die
den Auftragen des Rats noch mancherlei detaillirte militarische
Anweisungen hinzufiigten, angefeuert, unterstiitzt und belobt. —
Am 18. August starb Alexander VI. ; nach der zehntagigen Re-
gierung Pius' III. wurde am 31. October Giuliano della Rovere
zum Papst gewahlt, der sich Julius II. nannte. Sieben Tage
vorher hatte M. den Auftrag erhalten, nach Rom zu gehen,
hauptsachlich um iiber das Conclave zu berichten; er nahm
Empfehlungsschreiben an viele Cardinale mit, besonders an dea
Cardinal Soderini, der dort die wichtigsten Geschafte der Re-
publik besorgte, und dem er sich zur Verfugung stellen sollte.
Da das Conclave, gleich nachdem die Thiiren geschlossen, mit
seiner Wahl fertig war, handelte es sich fiir die Florentiner
hauptsachlich um die Fragen, wie der neue Papst mit Caesar
Borgia, durch den er die Stimmen der spanischen Cardinale er-
halten, und wie er mit den Venetianern stande. Die letzteren,
die inzwischen in die Romagna eingeruckt waren und nach der
„italienischen Monarchic" zu streben schienen, hatten einen hochst
gewandten und erfahrenen Vertreter ihrer Interessen in dem
Gesandten Giustinian. Wenn dieser sich durch das scheinbare
Wohlwollen des Papstes nicht tauschen liess und dessen Absicfct,
die Romagna fiir die Kirche zu erobern, durchschaute, so hatte
Machiavelli nicht erst notig, die Eifersucht desselben gegen
Venedig zu erwecken. Unsicherer war er iiber das Verhaltnis
Julius' zum Herzog, bis er am 20. November seiner Regierung
schreiben konnte, der auf Veranlassung des Papstes von Soderini
und ihm selbst fiir den Durchzug Caesars durch Toskana aus-
gestellte Geleitsbrief brauche ihre Entschliisse nicht zu hemmen,
der Papst wolle jenen nur wegschicken, aber nicht stiitzen. M.
spricht jetzt durchweg von seinem Helden von 1502 in einem
Tone kalter Verachtung, der Vielen als Beweis seiner niedrigen
Gesinnung erschienen ist. Diese vergessen, wie Villari meint,
dass er damals sein politisches Ideal lobte und jetzt den wirk-
lichen Menschen tadelt, dass er niemals der personliche Freund
oderRatgeber Casars gewesen, und dass dieser sich imUngliick mutlos
und unwiirdig zeigte, indem er seine Hofihung nur auf niedrige
Intriguen und heuchlerische Demut setzte. Der Papst- hatte ihn
nach Ostia Ziehen lassen: auf die Kunde von der Besetzung
Faenzas und Riminis durch die Venetianer forderte er aber von
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Villari, Niccolo Machiavelli und seine Zeit. 41
ihm die sofortige Uebergabe der Citadellen von Cesena und Forli
und liess ihn gefangen nach Rom fiihren, als er Ausfliichte
machte. M. betrachtete ihn jetzt schon als einen todten Mann,
ob er nun, wie das Geriicht sage, in den Tiber geworfen sei
oder nicht. „Dieser Papst fangt an," schreibt er, „seine Schulden
in sehr achtbarer Weise zu bezahlen, und er tilgt sie mit dem
Tintenwischer." Seinen letzten Brief von Rom schickte M. am
16. December ab, dann reiste er selbst nach Florenz mit einem
Schreiben des Cardinals Soderini, das ihn als einen Mann von
Treue, Fleiss und Klugheit ohne Gleichen der Republik empfiehlt.
Bald darauf traf die Nachricht von der Niederlage der Fran-
zo8en am Garigliano ein, die Florenz in Gefahr brachte, den
Spaniern zu erliegen. Wieder war es der Kanzler der Zehn,
dei Mitte Januar 1504 beauftragt wurde , nach Lyon zu dem
staudigen Gesandten Valori und zum Konige sich zu begeben,
tun zu erklaren, dass die Republik, wenn sie nicht schleunige und
energische Unterstiitzung von Frankreich erhielte, genotigt sei,
fihr Heil anderswo zu suchen". Der zu Lyon auf drei Jahre
nnterzeichnete Waffenstillstand zwischen Frankreich und Spanien,
in welchen die Florentiner als Freunde Frankreichs eingeschlossen
waren, machte Ende Februar dieser Gesandtschaft ein Ende.
Im April wurde M. zum Fursten von Piombino geschickt, urn
diesen von Siena zu Florenz hinuberzuziehn : dann wandte er
seinen ganzen Eifer dem wiederaufgenommenen Kriege gegen
Pisa und 1 eider auch dem phantastischen Projecte Soderini's zu,
den Arno bei Pisa aus seinem Bette ab und in einen Sumpf bei
Livorno zu leiten , um jener Stadt alle Verbindung mit dem
Meere abzuschneiden. Nachdem ausserordentlich viel Geld und
Arbeitskraft an das Unternehmen verschwendet worden, musste
es im October als aussichtslos aufgegeben werden. Gerade da-
mals schrieb M. die ersten Verse, die wir von ihm besitzen, sein
erstes „Decennale", das er mit einem Briefe vom 9. November
Alamanno Salviati widmete. Es ist eine in Terzinen abgefasste
Darstellung der Geschicke Italiens zwischen 1494 — 1504. Die
Muse wird angerufen, ihm bei der Erzahlung der Leiden Italiens
zu helfen, die anfingen? als es sich von neuem von den barbari-
8chen Volkern niedertreten liess. Bei Beschreibung der Ereig-
ni8se in der Romagna ist der Herzog von Valentino der Basilisk,
der giftige Schlangen sanft zischend in seine Hohle lockt und
t-odtet. Als Julius II. zum Pfortner des Paradieses gewahlt
worden, erhalt jener durch ihn und Consalvo die Strafe, die
seine Scheusslichkeiten verdienen. Wir finden in dieser Arbeit
neben einer beissenden, fast cynischen Ironie den, bald elegischen
oald energischen, Ausdruck des lautersten Patriotismus : am
Schluss wendet sich M. an seine Vaterstadt Florenz, die er durch
Bewaflnung ihrer eigenen Burger retten will. Um dieselbe Zeit
schrieb er auch eine, uns verloren gegangene, aristophanische
Komodie: Die Masken. Giuliano de' Ricci, der iiber sie be-
^chtet, fugt die Bemerkung hinzu: „Niccolo sei in alien seinen
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42 Villari, Niccolo Machiavelli und seine Zeit.
Werken viel zu frei gewesen sowohl im Tadel hochstehender
Personen als auch in der Zuruckfiihrung aller Dinge
auf natiirliche oder zufallige Ursachen" — eine
Charakteristik , auf der allerdings zu nicht geringem Theile der
Ruhm Machiavelli's beruht. — Im Anfang des Jahres 1505 waren
die Florentiner in schwerer Sorge, dass Bartolommeo d'Alviano,
der 8ich von Consalvo getrennt hatte, im Einverstandnis mit
ihrem eigenen Feldhauptmann Baglioni einen Schlag gegen sie
vorbereitete. M. wurde im April zu letzterem nach Perugia ge-
schickt und brachte, wie der einzige, mit grosser Klarheit und
Geisteskraft geschriebene Brief dieser Gesandtschaft beweist, die
Ueberzeugung heim, dass wirklich swischen jenen beiden, Petrucci
und den Orsini ein Einvernehmen bestande, urn den Florentinern
Pisa zu entreisen. Im Mai erhielt er den Auftrag, nach Siena
zu gehen, urn die Gesinnung Petrucci's zu erforschen: aber es
war ihm nicht moglich, aus dieseni und seinem nicht minder
gewandten Ratgeber Antonio da Venafro irgend etwas heraus-
zulocken. Es blieb nichts anderes Ubrig, als sich zu kriegerischer
Abwehr zu riisten, und am 17. Juli gelang es den florentinischs
Feldhauptleuten wirklich, bei Torre di S. Vincenzo d'Alviano
glanzend zu besiegen. Aber dass der eine FeldhauptmauB
Bentivoglio, von ubermassigem Vertrauen zu seinen Truppen er-
fiillt, jetzt vorschlug, Pisa sofort anzugreifen und der Gonfaloniere
dieses unbedachte Project im grossen Rate durchbrachte , liess
jenen Gliicksfall zu schwerem Schaden der Florentiner ausschlagen.
Als zwei Stiirme von den Pisanern und ihrem spanischen HiUV
corps abgewiesen waren und die Belagerungstruppen in Verwirrung
und Furcht gerieten, beschloss man in Florenz, das Unternehmen
fallen zu lassen. Die Erbitterung des Volkes wendete sich nicht
nur gegen Soderini und Bentivoglio, sondern auch gegen den
ganz unschuldigen Giacomini, der seine Energie und Herzhaftig-
keit bei Pisa nicht minder als bei Torre di S. Vincenzo bewahrt
hatte. Entrii8tet reichte er jetzt sein Entlassungsgesuch ein,
das sofort angenommen ward. Machiavelli machte sich an dem
Undank seiner Mitbiirger nicht mitschuldig: in seinem zweiten
Decennale pries er spater Giacomini's Tugend und tadelt die
Florentiner, die den edlen Mann blind und arm sterben liessen. —
Als Papst Julius II. im August 1505 seinen siegreichen Zaf
gegen Perugia und Bologna begann und die Florentiner anr
forderte, ihm mit ihrem Feldhauptmann Marcantonio Colona
und dessen Truppen zu Hilfe zu kommen, schickten sie M. zn
ihm, um die Erklarung abzugeben, sie waren bereit, sein heiliges
Werk zu unterstiitzen , konnten aber augenblicklich Colonna im
Lager vor Pisa nicht entbehren. M. war im September Zeuge
des Einzuges des Papstes in Perugia, der ihm spater Veranlassung
gab , nicht Julius' Kiihnheit zu bewundern , sondern Baglioni's
Feigheit zu tadeln. Es ist merkwiirdig, dass der Bewund^er
eines Borgia gegen die grossen Eigenschaften Julius' IL ganz
unempfindlich erscheint. Es hangt dies mit seinem Hass gegen
j
Villari, Nkcolo Maohiavelli tind seine Zeit. 43
die Priester iiberhaupt und seiner Ueberzeugung zusammen, dass
das Ansehen der Religion und die Macht geistlicher Herrschaften
in seinem System einer natiirlichen Politik keine Stelle habe,
und „die Verwegenheit des Papstes vielleicht eine personliche
Tugend aber kein Zeichen politischer Umsicht sei". Am
17. October erteilten die Florentiner Colonna den Befehl, zum
Papste zu stossen; als dieser am 21. sein Hauptquartier zu
Imola aufgeschlagen hatte und die Einnahme Bolognas bevor-
st&nd, wurde der Geschaftstrager Maohiavelli durch den Ge-
sandten Pepi vertauscht. M. kehrte nach Florenz und zu seiner
Lieblingsarbeit, der Schopfung einer florentinischen Miliz, zuriick.
„lhr gab er sich mit einem so selbstlosen Eifer, mit einer so
jngendlichen Begeisterung hin, dass uns sein Charakter jetzt zum
ersten Male eine Sympathie und eine Bewunderung einflosst, die
wir bisher nicht fiir ihn empfinden konnten." — Von seinen
Bemiihungen durfte er keinen personlichen Vorteil, keine Be-
forderung im Amte erwarten: es war eine „aufrichtige, tief-
gehende Selbstentausserung im offentlichen Interesse" , wenn er
in Rede und Schrift und unermiidlicher praktischer Thatigkeit
nichts unversucbt liess, urn nach dem Vorbild der Romer,
der Schweizer und der mittelalterlichen Stadtgemeinden „ Florenz
und spater vielleicht Italien ein eigenes Heer und damit jene
Macht zu geben, die ihnen fehlte, und jene politische Wurde, die
schwache Staaten niemals habenw. Der Ansicht, dass man nur'
aof die Soldaten von Handwork zahlen diirfe, setzte M. den
^achweis eutgegen, dass nur der Mangel an guter Ordnung und
Disciplin das Zuriickweichen der Ausgehobenen verschuldet habe.
Aber auch nachdem er den Gonfaloniere fiir seinen Plan ge-
wonnen, durfte er# um diesen nicht in den Verdacht tyrannischer
Geliiste zu bringen, seinen Versuch nur im kleinen Massstabe
machen. Wir haben einen (im Anhang abgedruckten) B e r i c h t
von Machiavelli, der genau die dabei beobachteten Regeln dar-
legt. Wolle die Republik ein eigenes Heer, so diirfe dies nur
von Florentinera commandirt werden, die auch allein die Reiterei
bilden miissten. Beginnen miisse man mit der Aushebung von
Fusstruppen ausserhalb der Stadt, aber nicht in den untertanigen
Districten, weil diese die Waffen gegen die Stadt selbst kehren
ionnten. Die Hauptleute miisse man aus Vorsicht immer aus
^inem andern Orte wahlen als ihre Leute und jedes Jahr wechseln.
Die Miliz sollte vonwahrem Patriotismus beseelt und deshalb
ans ehrenwerten und wolerzogenen Mannern bestehen; aber die
Disciplin iiber sie aufrecht zu erhalten, dazu beriefen Soderini
nnd Machiavelli einen erfahrenen Kriegsmann ohne Riicksicht auf
soinen moralischen Charakter: den beriichtigten Don Micheletto,
<ten Henker und Vertrauten Caesar Borgia's. „Wie friiher ^um
Podesta, so wollte man jetzt zum Bargello des Stadtgebiets nur
^inen Fremden!" Im December 1505 begann M. seine Rundreise
durch Toskana, um Mannschaften auszuheben ; Mitte Marz kehrt
er zuriick. Die Reviien im Jahr 1506 machten die Miliz bei
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44 x Heidenheimer, MachiavellTs erste romische Legation.
der Biirgerschaft popular: am 16. December wurde im Grossen
Bate die Verordnung genehmigt, welche die „neun Offiziere der
florentinischen Aushebung und Miliz" einsetzt. Am 10. Januar 1507
wurden die ersten Neun gewahlt. — Die Hoffnungen, welche M. and
die Gebriider Soderini auf diese Militarverfassung setzten, wurden
nur zum kleinen Teil erfiillt, aber 1527 ward die neuerstandene
Republik von der wiedcr neu belebten Miliz aufs riihmlichste
verteidigt, wahrend ihr Schopfer gerade damals ins Grab sank. —
Der Anhang enthalt 35 Documente im Original mit deutschen
Anmerknngen. Die Uebersetzung verdient Lob.
Berlin. * Th. Zermelo.
XIIL
Heidenheimer, H., Machiavelli's erste romische Legation. Em
Beitrag zur Beleuchtung seiner gesandtschaftlichen Thatigkeit
Dissertation zur Erlangung der Doctorwiirde etc. 8. (74 S.)
Leipzig 1878. Simmel & Co. 1,60 M.
Der Verfasser sagt, dass, als das Werk Villari's uberS.
erschien, seine Arbeit im weSentlichen schon vollendet geweseu*.
er glaubt nicht, dass sie durch dasselbe uberflussig geworden,
weil man eine tiefere Auffassung der Yerhaltnisse und pracisere
Darstellung bei V. nicht selten vermisse. Sehr ergiebig ist nun
allerdings die genauere Analyse der Depeschen Machiavelli's und
Giustinians aus ihren romischen Legationen vom J. 1503 nicht
geworden: die wiederholten Hinweisungen auf M.'s Scharfsinn
und Energie des Ausdrucks kommen mehr dem Umfang als dem
Inhalt der sonst sorgfaltig gearbeiteten Schrift zu gute. In
einem Punkte weicht der Yerfasser von dem italienischen Bio-
graphen ab : wahrend dieser behauptet, M. hatte aus Mangel an
Interesse fur einen geistlichen Fursten Julius II. ungenfigend
charakterisirt, hebt H. mit Recht hervor, dass M. bei den beideu
Legationen, in denen er dem Papste personlich gegeniibertTat,
an der Erforscbung seines Wesens und seiner Absichten das grosste
Interesse habe nehmen m u s s e n , und wirklich jede Miene, jede
Bewegung desselben begierig erfasst und alle seine Aeusserungen
referirt habe. Dass darum „ diese Mosaiknachrichten , mit rich-
tigem Verstandnis aneinandergefugt, einganzes und recht es
Bild des Mannes ergeben" — abgesehen von dem einen Punkte
der falschlich ihm zugeschriebenen Wahrheitsliebe — scheint tms
doch zu viel behauptet zu sein.
Dankenswerther noch ist der zweite Teil der Dissertation,
der die Stellung M.'s als Vertreter der Republik Florenz und
das Technische seiner diplomatischen Thatigkeit beleuchtet. M.
war niemals ordentlicher Gesandter — Oratore oder Ambascia-
tore — er war immer nur Mandatario und wurde als solcher nur
zu ausserordentlichen Legationen verwandt. Der Mandatario
hatte einen beschrankteren Wirkungskreis und einen geringeren
Gehalt: in Rom erhielt M. 10 Lire taglich, ohne Vergiitigung
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Heidenheimer, Machiavelli's erate romische Legation. 45
der Reisekosten, der Oratore der Venetianer, Giustinian, 4 Du-
katen. Die Pflicht des Gesandten — des ordentlichen wie des
ausserordentlichen — begranzt M. ziemlich enge : er habe nichts
Anderos zu thun, als Alles fleissig zu erkunden und der Signorie
mitzutheilen , was er der Mittheilung werth erachte. Zuweilen
kniipft er an sein Urteil iiber die beobachteten Yerhaltnisse,
das er meistens sehr reservirt gibt, einen Rat; immer jedoch
bindet er sich an die Befehle der Regiertmg. Fiir seine Vater-
stadt Freunde zu werben, sie im beston Lichte erscheinen zu
lassen, glaubt er berechtigt und verpflichtet zu sein; niemals
aber treibt er Politik auf eigene Hand. Seine Gewahrsmanner,
sofern sie eine bedeutende Stefiung haben, nennt er und charakte-
risirt sie auch wol, um seine Urteile dadurch zu stiitzen: wenn
er die Namen verschweigt, so mag dies haufig auf seine Besorgnis
zuriickzufiihren sein, jenen Personen, wenn etwa die Depeschen
erbrochen wiirden, Unannehmlichkeiten oder gar Gefahren zu
bereiten. Er liebt es, die Ausspriiche, auch wol ganze Reden,
hervorragender Manner in seine Berichte einzuflechten, um diese
glaubwiirdiger zu machen; Geriichte theilt er selten mit. Der
Stil M/s ia seinen Legationen ist noch nicht so fein durch-
gebildet wie in den spateren, in Musse ausgearbeiteten Schriften :
Bilder und Vergleiche sowie Sprichworter braucht er nicht oft,
aber stets am rechten Orte. Die Composition der Depeschen
entbehrt jeder festen Regel. — Ueber das Aeusserliche des De-
peschenwesens ist noch zu bemerken, dass im ersten Briefe iiber
den Verlauf der Reise Bericht erstattet und in fast alien ange-
geben wird, wann der letzte niedergeschrieben und durch wen
er abgesandt worden, wer den letzten von der Signorie iiber-
bracht und wann dieser eingetroffen. Wenn sich M. auf be-
stimmte friihere Depeschen beruft, so beweist dies, dass die
Gesandten ihre Briefe zu copiren oder ein Register iiber sie zu
fiibren pflegten.
H. macht uns dann noch Mittheilungen aus einer 1522 von
M. fur Raffaelo Girolami, der damals als Gesandter nach Spa-
wen ging, privatim ausgearbeiteten Instruction. Darin heisst
cs u. a.: ein Gesandter miisse sich als tuchtigen Menschen er-
weisen, er miisse sich bemiihen, freigebig und aufrichtig zu
erscheinen (esser tenuto), nicht geizig und doppelziiugig,
zuweilen eine Sache durch die Worte zu verhiillen suchen, aber
so, dass dies Niemand merke. Notig sei es, den Fursten und
den Hof, das Land und Volk griindlich kennen zu lernen, sich
Freunde aus alien Parteien zu erwerben, in Gesprachen aber
das eigene Urteil zuriickzuhalten , da dies odios sei. — Wir
wiinschen mit dem Verfasser, dass seine Arbeit dazu anregen
inochte, auch die ubrigen Gesandtschaften M.Js zu priifen, um die
in ihnen enthaltenen Notizen und Anschauungen mit denen anderer
Diplomaten eingehend zu vergleichen.
Berlin. Th. Zermelo.
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46 Rezek, Geschichte der Eegiemug Ferdinands I. in Bohmen.
XIV.
Re2ek, Dr. Ant, Geschichte der Regierung Ferdinands I. in
Bohmen. I. Theil. Ferdinands L Wahl und Regierungsantiitt.
gr. 8. (VI, 174 S.) Prag 1878. J. Otto.
Das Jahr 1526 bezeichnet den bedeutendsten Wendepunct
in der Geschichte Oesterreichs. Durch den Untergang des
letzten Jagellonen in der Schlacht bei Mohacs ging, allerdings
erst nach langen wechselvollen Kampfen, der grosse bohmisch-
nngarische Landerbesitz an das Haus Habsburg iiber und erst
dadurch wurde Oesterreich, welches bis dahin nur ein Staat
ersten Ranges im deutschen Reiche gewesen, eine europaiscbe
Macht von hervorragender Bedeutung. Es bedurfte aber langer
Zeit und grosser Anstrengung, ehe die Habsburger diesen Besitz
sich dauernd und im ganzen UmfaDge sichern konnten, nament-
lich hatten sie in Ungarn gegen die unbotmassigen Magnaten
und gegen die Tiirken hartnackige und schwere Kampfe durch
zwei Jahrhunderte hindurch zu bestehen. Doch auch in Bohmen
ging der Wechsel des Herrscherhauses nicht ganz ruhig vor skk,
und diese Verhandlungen und Kampfe darzustellen, hat sich der
Verfasser des vorliegenden Werkes in dem ersten bisher er-
schienenen Theile zur Aufgabe gestellt. — Im ersten Abschnitte
„Bohmens innere Verhaltnisse vor dem Jahre 1526" schildert
Rezek den traurigen Zustand dieses Landes schon unter den
Jagellonen Wladislaw und Ludwig, die Anarchie und Zerruttimg,
welche sowol in religioser als politischer Beziehung herrschten.
Vier Religionsparteien befehdeten sich gegenseitig auf das heftigste,
die Katholiken, die Utraquisten, die bohmischen Briider, wozu
bald nach 1517 auch die Anhanger Luthers kamen. Noch klag-
licher waren die anderen Zustande im Lande, indem die stan-
dischen Zwistigkeiten zwischen den Baronen und Rittern einer-
seits und den koniglichen Stadten anderseits das sociale Leben,
die Geschafts- und Gewerbsthatigkeit fast vernichtet hatten. Im
Volke herrschte leichtsinniges, uomoralisches Leben an Stelle der
friiheren Sittenstrenge und harter Druck des Adels auf das nie-
dere Volk, das fast ganz in personliche Unfreiheit gerathen war.
Ebenso waren die Finanzen des bohmischen Staates tief zerriittet
Ja selbst der Adel, der sonst den Biirgern und Bauern gegeniibv
einmiithig auftrat, zerfiel 1523 in Folge eines Erbschaftsstreites in
zwei einander heftig befehdende Parteien, in die rosenbergische und
in die rofrnitalische. Diess waren die Verhaltnisse in Bohmen, als am
29. August 1526 Konig Ludwig nach der Schlacht bei Mohacs im
Sumpfe sein Leben verlor und, da er ohne Leibeserben gestorben
war, Bohmens Stande zur Wahl eines neuen Konigs schreiten
sollten. Um die Krone der schonen bohmischen Lander traten
(II. „Von der Schlacht bei Mohacs bis zur Eroffnung des Land-
tage8a) zahlreiche Bewerber auf: Erzherzog Ferdinand von
Oesterreich, die bairischen Herzoge Ludwig und Wilhelm, der
polnische Konig Sigmund, der sachsische Kurfiirst Johann und
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Rezok, Geschichte der Regierung Ferdinands I. in Bohmen. 47
sein Sohn Johann Friedrich und der sachsisehe Herzog Georg.
Aus8erdem sprach man von einer Candidatur des Markgrafen
Joachim von Brandenburg, des franzosischen Konigs Franz I.,
des Fiirsten Friedrich zu Liegnitz; auch einheimische Edelleute
hofften, wie es vor sechs Jahrzehnten Georg von Podiebrad ge-
lungen, Anspriiche auf die Krone geltend machen zu konnen, so
der Landeshauptmann Herzog Karl von Miinsterberg, der Oberst-
burggraf Zdenek Lew von Rozmital und Adalbert von Pernstein ;
und um Mahren und Schlesien bewarb sich iiberdiess noch Johann
Zapolja. Der massgebende Adel zerfiel in zwei Parteien, von
denen die eine einen einheimischen Edeln, die andere einen
fremden Fiirsten zum Herrscher wollte. — AUe Kronpraten-
denten suchten nun durch Gesandte und auf anderen Wegen fur
ihre Sache zu wirken, am nachhaltigsten Ferdinand von Oester-
reich, der bald die machtigen Herren von Rosenberg und Adam
von Neuhaus fur sich gewann, und die bairischen Herzoge, welche
in Lew von Rozmital und seinen Aaihangern ihre Stiitzen fanden.
Unter diesen Verhaltnissen trat am 8. October 1526 der „Wahl-
landtag" (III. Abschnitt) zusammen. Es zeigte sich bald, dass nur
entweder Erzherzog Ferdinand oder einer der bairischen Herzoge
Aussicht habe, die Krone Bohmens zu erlangen; Ferdinands
Gesandte, unter denen besonders Hans von Stahremberg hervor-
tretend wirkte, stiitzten sich auf des Erzherzogs und seiner Ge-
mahlin Verwandtschaft mit dem verstorbenen Konige, vornehm-
tich jedocb auf den Umstand, dass der Erzherzog bereits ein
machtiger Fiirst sei, und dass seine Erblande an Bohmen grenzen,
wodurch er diesem stets stattliche Hilfe und niitzlichen Beistand
leisten konne, und versprachen, dass Ferdinand den Standen,
Communen und Personen ihre Freiheiten und Gerechtigkeiten
bestatigen und die Schulden des Landes ohne Beschwerung des-
selben mit der Stande Beirath bezahlen wolle. Ebenso energisch
TOkten die bairischen Gesandten fur einen ihrer Herren und
anfenglich gelang es ihnen in der That durch Unterhandlungen,
Versprechungen und Bestechungen mehrere der einflussreichsten
bohmischen Edelherren, namentlich den Oberstburggrafen Lew
von Rozmital, der iiber einen grossen Anhang gebot, zu ge-
winnen. Und dieser letztere war es auch, der bei der Konigs-
wahl den Ausschlag gab, aber in anderem Sinne als es anfang-
lich den Anschein hatte. Denn die osterreichischen Gesandten,
seiche die hohe Stellung und den grossen Einfluss Lew's zu
^iirdigen verstanden, machten den Versuch, ihn und mit ihm
s^ine zahlreichen Anhanger auf die osterreichische Seite zu
bringen. Ferdinand stellte dem Lew Verschreibungen aus, dass
er ihn in alien seinen Rechten belassen, seine Schulden
"- 50000 fl. — bezahlen, und alle seine von Wladislaw und
Ludwig ihm ertheilten Verschreibungen bestatigen werde; dass
^r gegen diejenigen, welche nicht von Anfang zur osterreichischen
Partei gehorten, keinen Unwillen tragen, sondern sie in alien
"tten Freiheiten ,. Begnadungen und Rechten belassen , und dass
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48 Rezek, Geschichte der Regierung Ferdinands L in Bohmen.
er dem Lew und seinen Freunden die bisher aus dem Joachims-
thaler Bergwerke ausgezahlten Summen auch weiterhin zuerkennen
wolle. So war fur Ferdinand die roZmitalische Partei gewonnen,
und da die rosenbergische von Anfang an schon fur ihn geneigt
war, so war seine Wahl gesichert. Lew von Rozmital setzte nun
im Landtage durch, dass dieser selbst in seiner Vollversammlung
nicht die Wahl vornehme, sondern diese einem Ausschusse iiber-
trage, welcher aus 24 Mitgliedern, je acht aus dem Herren-,
dem Ritter- und dem Burgerstande zusammengesetzt wurde.
Und dieser Ausschuss wahlte am 23. October 1526 Erzherzo^
Ferdinand zum Konig von Bohmen. —
Der IV. Abschnitt handelt von der „Anerkennung Ferdi-
nands in Mahren, Schlesien und in der Lausitz". Diese ging
hier viel stiller und nicht mit so grossen Geldopfern als in
Bohmen vor sich. Ferdinand hatte schon dadurch einen grossen
Vorsprung gegen alle iibrigen Candidaten gewonnen, dass er
nicht nur nach Prag, sondern in alle Kronlander Bohmens seine
Boten behufs Unterhandlungen mit den Standen schickte, was
fast von alien iibrigen Candidaten versaumt wurde. Diese Anf-
merksamkeit schmeichelte den Standen jener Lander urn so mehr,
da zu derselben Zeit die bohmischen Stande ohne Riicksicht anf
die Mahrer und Schlesier allein zur Wahl schritten; denn diese
hatten gehoflft, die Bohmen wiirden behufs Vornahme der Konigs-
wahl einen Generallandtag einberufen und in diesem wiirden die
Deputationen aus den der Krone Bohmen einverleibten Landern
als selbstandige Curien Stimmen haben ; die Bohmen jedoch be-
trachteten Mahren und Schlesien bloss als Lehen der bohmischen
Krone und gingen bei der Wahl einseitig ohne Riicksicht anf
diese Lander vor.
In Mahren herrschte sehr giinstige Stimmung fur Ferdinand,
man anerkannte dort das Erbrecht seiner Gemahlin und sein
eigenes, die Bewerbungen des Polenkonigs Sigmund und Johanns
Zapolja scheiterten, und Ferdinand wurde ohne Schwierigkeit als
Markgraf von Mahren, Herr von Schlesien und der Lausitz an-
erkannt. „Und so kam ein herrliches Reich ohne Schwertstreich
in die Hande eines neuen Herrn." Inzwischen hatten schon in
Wien die Unterhandlungen mit der bohmischen Gesandtschaft
begonnen, zu welcher sich bald auch die Gesandtschaften vob
Mahren und Schlesien gesellten. „Und nun begann ein grosser
diplomatischer Kampf zwischen dem Konige und seinen Unter-
thanen. Nach Wien richteten sich jetzt die Blicke sammtlicher
Freunde und Feinde der Habsburger. Ferdinand sollte nach
den Anschauungen der Stande alles bewilligen, was sie ihm vor-
legen wollten Aber sie waren dabei uneinig und es herrschte
zwischen den Bohmen, Mahrern und Schlesiern und umgekehrt
eine so kleinliche Gehkssigkeit und Uneinigkeit, dass dadurch
ein solidarisches Auftreten gegen die Plane Ferdinands im Vor-
hinein unmoglich gemacht wurde. Doch schiirten die bairischen
Agenten gegen den neuerwahlten Konig derart, dass es sich bei
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Rezek, Geecliichte der Regierung Ferdinands I. in Bohmen. 49
den wiener Verhandlungen in der That sehr bald um etwas viel
Wichtigeres und Weitgehenderes als um die blosse Bestatigung
der vorgelegten Artikel handeltc. Aber Ferdinands eiserner
Wille trotzte mit solchem politischen Takte und solcher Ge-
waudtheit alien derartigen Bestrebungen der Gesandten, dass er
am Ende dennoch den Sieg davontrug." —
Diese „Verhandlungen in Wienu erzahlt der Verfasser im
V. Ab8chnitte. Die bohmische Landtagsdeputation stellte an
Ferdinand eine Reihe von Forderungen, durch deren Erfiillung
die konigliche Gewalt geschwacht, ja gegeniiber der Macht der
Stande geradezu vernichtet worden ware ; Bohmens Adel glaubte
mit Ferdinand ebenso umspringen zu konnen, wie er es mit
Wladislaw und Ludwig gethan ; denn diese beiden Konige waren
so schwach gewesen, dass sich die Stande unter dem Schirme
ihrer Privilegien die masslosesten Uebergriffe nicht nur gegen
die Konige selbst, sondern auch gegen ihre Unterthanen erlaubt
hatten, welche nie zu oiner so tiefen Stufe der Horigkeit ge-
sunken waren als gerade jetzt zur Zeit der Herrscbaft der stiin-
dischen „Freiheiten". — Und jetzt wollten die bohmischen Stande
ihren neu erwahlten Konig noch mohr unter ihren Willen beugen,
und alles das zum Gesetze machen, was unter dem schwachen
Regimente der beiden letzten Konige als blosse Willkiir ins
Leben trat und vou den Standen ohne Strafe getrieben wurde.
Sie wollten dem Konige nicht das Recht zugestehon, einen oder
den anderen Landesbeamten seines Amtes zu entsetzen, die Suc-
cession seiner Kinder sollte durch die Entscheidung der Stande
beeiutrachtigt werden konnen, indem der Sohn nie bei Lebzeiten
des Vaters gewahlt' und gekront werden sollte; sie begnugten
sich nicht mit dem ihnen zustehenden Rechte der Wahl der
Dynastie, sie wollten sich nach dem Tode jedes Konigs die Wahl
des Nachfolgers sichern ; „denn wie schon ware es gewesen, wenn
solche Wahllandtage immer nach dem Absterben des jeweiligen
Konigs sich wiederholt und die „Freiheitenu sich als eine sehr
ergiebige Quelle guter Einkiinfte fur die Stande erwiesen
batten !u — „Bei Miinnern, wie es die letzten zwei Konige waren,
waren vielleicht die Stande mit solchen Anspriichen durch-
gedrungen, aber bei Ferdinand stiessen diese Bemiihungen auf
beftigen Widerstand. So lauge Ferdinand noch nicht zum Konige
gewahlt war, unterliess er es vorsich tiger Weise, an seinem an-
geblichen Erbrechte festzuhalten , um seine Hoffnungen nicht
selbst zu vereiteln; nachdem er aber erwahlt war, war er ent-
schlossen, von den koniglichen Rechten nicht das geringste zu
vergeben. Bei solchen Differenzen kam es dann wohl zu einem
diplomatischen Kampfe, als es sich um die Annahme des Land-
tagsbeschlusses und der Artikel der Instruction handelte.u —
Die bohmische Deputation hatte erwartet, dass der Konig iiber
alle ilim von dem bohmischen Landtage vorgelegten Artikel
euizeln verhandeln, oder sie insgesammt annehmen werde. Ferdi-
nand verweigerte diess jedoch entschieden , und nach langeren
Mittiieilungen a. d. histor. Litteratur. VII. 4
Digitized by UOOQ IC
50 Rezek, Geschichte dor Regierung Ferdinands I. in Bohmen.
Verhandlungen erliess er nur die allgemein gehaltene Erklarung,
dass er den Standen e i n i g e Verschreibungen ausstellen und
bestatigen, dass er sammtliche Schuldeu des Landes bezahlen,
dass er die Eide nach den vorgeschriebenen Formularien ablegen
und dass er dem Konigreiche sammtliche Freiheiten, alte Ge-
wohnheiten und Privilegien bestatigen werde. Alle weitergehenden
Forderungen lehnte Ferdinand unbedingt ab ; er bestatigte damit
nur das, was auch die friiheren Konige den Standen bereits aus-
gestellt hatten ; zur Annahme solcher Artikel, welche etwas friiher
nicht gesetzlich Anerkanntes zum Gesetze erhoben, und somit
das Verhaltniss zwischen' dem Konige und den Standen fiir
Ferdinand noch ungiinstiger gestaltet hatten, liess er sich weder
jetzt, noch irgend jemals spater bewegen. „Desswegen wurden
auch in seiney letzten Antwort die Artikel der Instruction und
des Landtagsbeschlusses nicht einer nach dem an dem, sondern
nur wieder cumulativ angenommen, damit auch jetzt die Klansel
wegen der spateren Verhandlungen etlicher von ihnen und ihrer
definitiven Annahme oder Verwerfung hinzugefiigt werden konnte."
Mit diesen Zugestandnissen von Seite ihres neuen Konigs kehrte
die Landtagsdeputation nach Prag zuriick. — In ahnlicher Weise,
aber einfacher und leichter verliefen die Verhandlungen mit der
mahrischen Landtagsdeputation und ganz glatt kam Ferdinand
mit den Abgeordneten der schlesischen Stande zu einem giinstigen
Abschlusso.
Die Entschiedenheit, mit welcher Ferdinand den weitgehen-
den Forderungen der Stande entgegentrat, hatte ihm zah&eiche
Feinde unter dem bohmischen Adel verscha£ft, und insbesondere
trat Lew von Rozmital, der friiher durch Geld gewonnen worden
war, mit seinen Anhangern wieder gegen Ferdinand auf und be-
forderte die antihabsburgischen Umtriebe in Bohmen, welche
abermals auf das lebhafteste gegen Ferdinand von den bauischen
Herzogen und von Zapolja erregt wurden. Diese „Agitationen
der Gegner Ferdinands" erzahlt der Verf. im VI. Absclmitte; sie
gingen soweit, dass die Feinde des neuen Konigs daran dachten,
sogar seine unmittelbar bevorstehende Kronung zu vereiteln.
Ferdinand kam aber diesem Plane zuvor, indem er rasch, am
21. Januar 1527, seine Kronungsfahrt von Wien nach Prag an-
trat. — Ueber „Ferdinands Fahrt nach Bohmen, seine Kronung
in Prag, Huldigung in Mahren und Schlesien" berichtet Rezek
im letzten (VII.) Abschnitte des vorliegenden Bandes. Am
5. Februar langten Ferdinand und Anna in Prag an, die Kro-
nung fand jedoch noch nicht sogleich statt, sondern es wurde
vorher ein Landtag zur Beilegung der noch zwischen Ferdinand
und den Standen strittigen Fragen einberufen. Ferdinand er-
klarte sich besonders gegen drei Artikel, dass bei Lebzeiten
des jeweiligen Konigs sein Sohn zum Nachfolger weder gewahlt
noch gekront wrerden koune, dass der Konig keinen Land^-
beamten seines Amtes entheben diirfe , und dass der Konig in
den Angelegenheiten des Konigreichs Bohmen , auch bei der
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Rezek, Gesohichte der Kegierong Ferdinands I. in Bohmen. . 51
Verwaltung der Bergwerke, der Regalien, der koniglichen
Kammer u. s. w. nur auf einheimische bohmische Rathe ange-
wiesen sein solle. Am ersten ging der Landtag von der dritten
Forderung ab; Ferdinands Wunsch, die Finanzen seiner Lander
gemeinsam zu verwalten, war ein vollkommen berechtigter.
„Denn es lag ja im Interesse des Herrschers , dass seine aus
den Erblandern fliessenden Regalien mit den ihm als Konig von
Bohmen gebiihrenden Einkiinften verbunden nnd gemeinschaftlioh
auf eine nnd dieselbe Weise verwaltet werden. Dies war ja das
hauptsachlichste und auch natiirlichste Band, welches die dnrch
blosse Personalunion verbundenen Lander vereinigte. In der
Gemeinschaftlichkeit des Konigs und alles dessen, was in den
verschiedenen Verfassungen , Privilegien und Gewohnheiten der
einzelnen Lander sich auf den gemeinsamen Herrscher bezog, lag
aach der Keim zu der allmalig sich entwickelnden Idee des oster-
reichischen Kaiserstaats. Aber speziell fur Bohmen hatte dieser
gerade jetzt bewilligte Einfiuss fremder Ratho auf die Angelegen-
heiten der bohmischen Kammer schwere Folgen. Die Stande
willigten ohne Erwagung und ohno genugende politische Reife in
etwas, was sich sehr bald als eine Sache von grosser Tragweite
herausstellte. Denn die politische Gewandtheit des neuen Konigs
brachte es bei den stets hadernden und wegen der grossten
Lappalien in zahlreiche Parteien zerschlagenen Standen sehr
bald dahin, dass die Kammer sich vollkommen, ohne den min-
desten Einfluss der bohmischen Stande, in den Handen des Konigs
befand, von seinen vertrautesten Anhangern verwaltet und zum
Ausgangspuncte sammtlicher Plane der spateren Politik Ferdi-
nands gemacht wurde." — Die Verhandlungen liber die beiden
anderen von Ferdinand beanstandeten Artikel, nemlich iiber die
Wahl und Kronung des Nachfolgers bei Lebzeiten des jeweiligen
Konigs und beziiglich des Einflusses, welchen der Konig auf die
Ernennung und Absetzung der Beamten haben sollte, wurden
erst nach der Kronung beendet und durch die am 2. Marz aus-
ge8tellten Urkunden definitiv gelost. — Diesen Sieg verdankte
Ferdinand seiner Festigkeit, wodurch er nicht nur die schon
bestehende habsburgische Partei an sich kettete, sondern auch
*Grgr6s8erte , nnd als seine Gegner sahen, dass er nicht mehr
von der Herrschaft zu verdrangen sei, liessen sie ab von den
Agitationen gegen ihn, und ihr Haupt, Lew von Rozmital, zeigte
sich jetzt im hochsten Grade unterwiirfig, um den Konig in der
Angelegenheit des Erbschaftsstreites mit den Herren von Rosen-
berg fur sich zu gewinnen. Und so geschah es, dass diejenigen
Stande, welche am Landtage 1526 dem Konige eine scharfe
Wahlcapitulation dictirt hatten, nunmehr den wichtigsten Theil
derselben zuriicknahmen. Es geschah dies aber nur zum Heile
des Landes, weil nur auf eine solche Weise dem verderblichen
Gebahren der standischen Oligarchic Einhalt gethan werden
konnte. — Inzwischen war am 24. und 25. Februar 1527 die
Kronung Ferdinands und seiner Gemahlin Anna auf das feier-
4*
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52 Egli, Die Zuricher WiedertSufer zur Reformationszeit.
lichste vollzogen worden, und Ende April fanden zu Olmiitz,
"und Anfangs Mai zu Breslau die Huldigungen der Stande Mahrens
und Schlesiens statt. —
Diess ist der Inhalt des ersten Bandes von Rezeks Ge-
schichte der Regierung Ferdinands I. in Bohmen; er schliesst
sich eng an Palacky's Geschichte Bohmens an, ist ebenso wie
das Werk dieses beriihmten Historiographen durchwegs auf ein
reiches Quellenmaterial basirt und daher unbedingt als eine
wesentliche Bereicherung der osterreichischen Geschichtsschreibung
zu betrachten. Einzelne Partien werden allerdings nicht unbe-
stritten bleiben, so z. B. der gegen die meisten friiheren Bearbeiter
dieser Periode versuehte Nachweis, dass Ferdinand trotz seiner
Vermahlung mit der Jagellonin Anna und trotz der mit Wladis-
law und Ludwig geschlossenen Vertriige gar kein Anrecht anf
Bohmens Krone zugestanden sei und dass er dieselbe nur seiner
Wahl durch die Stande verdanke. —
Wir sehen mit Spannung den folgenden Banden dieses
Werkes entgegen.
Graz. Franz Ilwo£
XV.
Egli, Emil, Pfarrer, Die Zuricher Wiedertaufer zur Refor-
mationszeit. Nach den Quellen des Staatsarchivs dargestellt
8. (104 S.) Zurich 1878. Fr. Schulthess 2 M.
Der Verf., welcher schon in einer schatzbaren Monographie
die Schlacht bei Cappel behandelt hat, stellt hier eine andre Epi-
sode der Zuricher Reformation dar. Das Missverstandniss, welches
die grossen Reformatoren durch ihre Verkiindigung der christ-
lichen Freiheit und ihre Opposition gegen viele Missbrauche im
katholischen Cultus erregten, rief die weitverbreitete Bewegung
der Wiedertaufer in's Leben, welche das ganze Reformationswerk
in Frage stellte. Egli hebt aus den Acten rich tig hervor, dass
die Taufe („der Tauf") keineswegs die Hauptsache dabei war;
doch vermissen wir eine Charakteristik dieser gewaltigen „ Rotten
und Schwarmgeister". Vielleicht wollte Verf. hier nicht in das
theologische Gebiet hiniibergreifen , das er „seinem Freunde
Usteri" uberlassen will (S. 103). Jene radicale Richtung cba-
rakterisirt sich durch 6 Momente: 1) Verwerfung der hL Schrift;
2) Donatistische Reinheitskirche ; 3) Allegorese; 4) Antinomis-
mus ; 5) Chiliastische Tendenzen und 6) Verwerfung der Kinder-
taufe. Der Grundzug aber ist oifenbar iibertriebener Spiri-
tualismus.
An der Hand der Acten im Staatsarchiv zeigt nun Egli, wie
sich zuerst durch einige entschieden talentvolle Manner (Grebel,
Manz, Hottinger) eine radicalere Reformpartei , der Zwingli und
„Mine Herren" zu bedachtig waren, bildete und zur Stiftung
einer Sonderkirche schritt. Sie gingen dabei von der Kinder-
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Egli, Die Zuriclier Wiedert&ufer zur Eoformationszeit. 53
taufe aus, und Zwingli, der danials, ja zeitlebens ziemlich
rationalistisch dariiber dachte, hatte einen scblimmeil Stand,
wenn er aucb durch seine dialektische Gewandtbeit siegte.
Trotzdem die Wortfiibrer in der Disputation fiir uberwunden
erklart wurden, vollzogen Grebel, Manz und Blaurock in Zollikon
die Wiedertaufe und das Nachtmahl sub utraque. Alsbald
eiferten sie gegen die Pradicanten, schalten sie und Zwingli
„Rauber und Diebe" , unterbrachen sie mitten in der Predigt
mit Vorwiirfen und scblugen Giitergemeinschaft vor. Es handelte
sich eben, wie Zwingli am 28. Mai 1525 an Vadian schreibt,
„nicht um die Taufe, sondern um Aufruhr, Rottung und Ketzerei".
Vergeblich disputirte er, Leo Juda und Myconius noch einige
Male, vergeblich schrieb er „Vom Tauf, Wiedertauf und Kinder-
tauf1, die Gegner blieben bei einigen Satzen stehen, wie: „Man
miisse Gott mehr gehorchen als den Menschen1', verwarfen Obrig-
keit, Todesstrafe, Ehe und Eigenthum.
Es ist nun fast riihrend, zu verfolgen, mit wie vaterlicher
Milde der Rath gegen diese „verirrten Liit" verfahrt. Drobungen,
Belehrung, Disputation, Verhaftung, Geldbusse, Erlass derselben,
Verhaftung, Eid (den die Taufer fur null und rich tig erkliiren),
neue Busse — das sind die gutgemeinten , aber fruchtlosen
Mittel, welcbe Mine Herren bis 1527 anwandten. Gewiss hat
Zwingli, wie er es selbst offen erklart, sehr viel zu dieser Lang-
muth und Milde beigetragen, weil er mit Recht nicht nur fiir
die biirgerliche Freiheit, sondern auch fiir sein eignes Werk
lurchtete. Dazu kam, dass manche Vogte nicht ohne Grund im
Verdacht standen, den Taufern insgeheim Vorschub zu leisten.
Seit 1527 mischten sich nun auch die weltlichen Ziele der
Bauernbewegung mit ein, besonders in Griiningen, dessen Vogt
nicht recht zuverlassig schien. Emissare aus St. Gallen regten
die Leute gegen Zehnt, Obrigkeit und Herrschaft auf , forderten
Guter- und Weibergemeinschaft , storten den Gottesdienst und
trieben allerlei Unfug. Zur Controlle der Kinder- resp. Wieder-
taufe waren schon 1526 auf Zwingli's Vorschlag Kirchenbiicher
eingerichtet worden, die freilich vielfach noch recht unsorglaltig
gefuhrt wurden.
Endlich machte der Rath Ernst. Am 5. Jan. 1527 ward
Manz, ein Ziircher, ertrankt, den Andern „zur Forcht und
Ebenbild", da er „wider christenlich ordnung und bruch" in den
Wiedertauf sich eingelassen und ein „Hauptsacheru desselben ge-
worden. ^ Trotzdem liessen sich die Taufer nicht entmuthigen,
weder in ihrer passiven noch schriftlichen Opposition. Sie
reichten dem Landtag eine „Darlegung ihres Standpunktes" ein,
seiche die Grunde gegen die Kindertaufe kurz, klar und sach-
gemass vortragt. Fiir uns Heutige macht es einen unangenehmen
Eimlruck, zu sehen, wie so schriftgemasse, sachliche Griinde von
c*eB Reformirten vollig ignorirt, ja mit Gewaltmassregeln beant-
^ortet werden konnten. Auch darin batten die Taufer recht,
^ss sie gegen den Wandel der Geistlichen eiferten. Egli zahlt
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54 Reuss, Die Beschreibung des bischoflichen Krieges anno 1592.
S. 75 eine grosse Zahl derselben auf, die durch Spiel, Trunk,
Zanksucht und Unzucht grossen Anstoss gaben. Freilich scbritt
aucb ZwiBgli seit 1527 gegen sie energisch ein, wahrend er
andrerseits die Griininger Taufer in einer bisher unbekannten
Schrift zu widerlegen sucbte. Wie die sittliche, so suchte man
die kirchliche Zucht zu starken; man verpflichtete die Pradi-
canten, keine neue Meinung oder Opinion hervorzuzieben und zu
predigen, sie sei denn vorher der gemeinen Synode vorgelegt;
zwang alle Gemeindeglieder bei Basse zum Kirchengehen und
bracbte mit Gewalt die Staatskirche zur Geltung. Dann stellte
man die Pfarrer okonomisch besser, gab Gesetze gegen Todfc-
schlag, Friedensbruch, Zinskaufe, Geldanleihen und Winkelwirth-
schaften. Aber noch 3 Taufer wurden bis 1530 ertrankt, ehe
die Wellen der Bewegung sicb legten; 1531 — 1538 erlosch die
Tauferei allmahlich ganz.
Ein Anhang bringt eine Reihe charakteristischer Ausspriiche
der Taufer und eine chronologiscb - geograpbiscbe Tafel der Be-
wegung, welche durch zahlreiche Noten belegt wird.
Berlin. Lie. Dr. Fr. Kirchner.
XVI.
Reuss, Rud., Die Beschreibung des bischoflichen Krieges
anno 1592. Eine Strassburger Chronik mit Anmerkungen
und ungedruckten Beilagen zum ersten Male herausgegeben.
gr. 8. (XIV, 160 S.) Strassburg 1878. Treuttel und Wiirtz.
4 M.
Der Verf. ist bereits durch mehrere Sohriften und Heraus-
gaben zur elsass. Gescbichte riihmlich bekannt; insbesondere
sind die beiden Jahrhunderte der Reformation seine Domiine.
Er aussert iiber die Bedeutung seines diesmaligen Gegenstandea,
die Stadt habe damals zum letzten Mai fur allgomeinere Interessen
selbstandig gehandelt , aber von der gewaitigen politischen vxA
finanziellen Erschiitterung sich nie wieder ganzlich erholt: Die
sog. Bruderhofischen Handel (der Anlass dieses Kriegs) bezeich-
neten „den Eintritt in das Jahrhundert des Verfalles". Zugleich
aber sei der Krieg ein Vorspiel der Tragodie des grossen deut-
schen Krieges. Doch gilt vom bischoflichen Krieg im aller-
hochsten Grade das parturiunt montes : spate Entschliisse, unge-
niigende Vorbereitung , mangelnde Eintracht und ein starkes
Deficit an Energie.
Aus einem Sammelbande des evangelischen Thomasstiftes ist
die von einem unbekannten hiesigen Burger gleichzeitig nieder-
geschriebene Chronik entnommen worden; am Schlusse bildet
sie iiberdies die Erganzung einer friiher von Stober in der
Alsatia gemachten Publikation. Diese Chronik ist nun nicW
eben geeignet, uns iiber die Vorgange des bischoflichen Kriegs
neue Aufklarungen zu verschaffen; namentlich ist der Anthril
der hierher zahlreich zu Hilfe geeilten ScHweizer nicht nm
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Renss, Die Beschreibung des biscboflichen Krieges anno 1592. 55
Gebtihr beriicksichtigt. Noch war Hertzogs „edelsassische Chro-
nicku kauin vollendet, als der Krieg ausbrach: er hatte ihn
vorausgesehen und schliesst sein viertes Buch: „Der Allmechtig
woll dise sach dahin richten, das sie ohn weitleuffigkeit uffgute
mittel giitlich vergleichen und hingelegt, ferner zurriittung und
thatlichkeit verhiitet, unnd inn dem Reich friedt, ruhe und einig-
keit erhalten werd." Und ahnend schliesst der wiirdige Amt-
mann von Worth sein Verzeichniss der damaligen 24 Domherrn
an, von denen schon iiber die Halfte evangelisch gesinnt waren.
Die Folge war eine zwiespaltige Wahl: Die Erhebung des
l&jahrigen Markgrafen Johann Georg von Brandenburg zum
Administrator beantworteten die Katholiken mit der Wahl Carls
von Lothringen, des Bischofs von Metz. Die Stadt hatte unterm
8. Dezbr. 1591 durch Hugo Sturm ein Bundniss mit dem fuhren-
den Domherrn Gebhard, dem vertriebenen Kolner Erzbischof,
aufgerichtet : es verpflichtete Strassburg zu nachdriicklicher Hilfe ;
konnte es doch umsobesser der fernen Hoffnung auf Erwerbung
des bischoflichen Landbesitzes zuarbeiten I Vergebens suchte nach
Ansammlung einer hinlanglichen Truppenmacht (15000?) Christian
von Anhalt einen bessern Nachdruck in die Kriegfuhrung gegen
den Lothringer zu bringen, fiir welchen seines Vaters Adel und
Soldner fochten; gegen die an Cavallerie iiberlegenen Feinde
war wenig auszurichten : kleine Ueberfalle, Pliinderungen und
Belagerungen en miniature — das war Alles, bis der Krieg nach
3/4 Jahren vorerst einschlief, nichts als eine guerre d'escarmouches,
wie ihn Spoch mit Recht genannt hat. Die Einnahme des kleinen
Molsheim war (wie 18 Jahre hernach) der Glanzpunkt unter
den evangelischen Heldenstiicken. Am meisten Ernst war es
noch den brandenburgischen adligen Parteigangern gewesen,
den Dohna, Schulenburg, Kettritz, v. Buch, die sich auch damals,
wie 100 Jahre hernach, im Elsass tummelten. Eine ganz andre '
Energie haben die oberdeutschen unirten Furs ten anno 1610
denselben Feinden gegeniiber bewiesen. Erst 1610 auch kam oin
Definitiwertrag zu Stande, von Heinrich IV. erwirkt, der sich,
wie seine Vorganger seit 700 Jahren, immer wieder in die
elsassischen Angelegenheiten mischte. Strassburg hatte, ausser
dem Glauben an die Einheit der evangelischen Stande und jenen
hochfliegenden Ideen, viel Geld und ziemlich Ehre bei der Affaire
eingebiisst — und noch etwas andres, seine innere Geschlossen-
heit. Schon gab es mitten im Rathe eine Opposition (der Stett-
meister Friedrich Prechter), welche den Katholiken heimlich in
die Hande arbeitete, und deren Bedeutung Chronist und Heraus-
geber an mehreren Stellen betonen.
Die Litteratur iiber diesen Krieg, welche Strobel (Gesch.
des Elsass) fur seine Zeit ira Wesentlichen gab, hat der Heraus-
f&ber nicht nur durch eine Bibliographie, besonders der damaligen
treitschriften vervollstandigt , sondern vor Allem durch die an-
gefugten Beilagen. Am interessantesten davon sind 2 Schrift-
stucke des Anhalters: ein Vorschlag zu erfolgreicherer Krieg-
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56 Preussische Staatsschriften a. d. Regierungszeit Konig Friedricha IL
fuhrung, und fiinf Monate hernach (3. Febr. 1593) ein trotziger
Schreibebrief, worin er den Verbiindeten ihre Klagen und Anklagea
iiber die Mangel der Kriegfiilirung reichlich und selbstbewusst zu-
riickgibt. In sitten- und kulturhistorischer Hinsicht noch belang-
reicher sind die notariell aufgenommenen Zeugenaussagen einiger
Strassburger Burger, welche von den Lothringern gefangen und
bis zu ibrer Ranzionirung furchterlioh misshandelt worden waren:
in den Martern, die man ihnen anthat, kiindigt sieb bereits die
unsagliche Roheit an, welcbe der deutsche Krieg allenthalben
entfesselte.
Obwol der Yerf. die selteneren und alterthumlichen Worter
hier und da erklart hat, bleiben auffallender Weise die wirklich
schwierigen obne Deutung. Da sie , iiberall zu jener Zeit be-
gegnend, von allgeineinerem Interesse sind, folgen sie hier : sluten,
Schlamm, mhd. sluot; diihle = mhd. tole, Rohre; train = mhd.
dram, Balken; gerembs = mhd. geremze, Gitter; lit = mhd.
Deckel; arbeitselig (nicht felig, wie irrig steht) = unheilbar
krank; zwehel, Handtuch, mhd. twehele; sweizen = bluten;
unerschwindtlich = unerschwinglich, mit alemannischem Wechsel
von nd und ng ; zinstag, soil heissen ziustag, Dienstag ; schalten =
mhd. schieben ; gaden = mhd., Gemach ; deucheln = mhd. tiuchehi,
gleichfalls Rohren; letzte = mhd. letze, Abschied ; reisswort
(mit ?) ist reizwort, wie S. 44 und 58 schutz fur schuz; hellec
ist mhd., niichtern; gleich, mhd., Glied; S. 15 endlich gibt der
Yerf. eine Stelle verloren, die ich durch Einsetzung eines e heileu
wiirde: „nicht so ellendem vieheu fiir „nicht sollendem".
Strassburg. Dr. SchadeL
xvn.
Preussische Staatsschriften aus der Regierungszeit Konig
Friedrichs II. Im Auftrage der Koniglichen Akadeniie der
Wissenschaften zu Berlin herausgegeben von J. G. Droysen
und M. Duncker. I. Bd. (1740 — 1745.) Bearbeitet tou
Dr. Reinhold Koser. gr. 8. (LIV u. 726 S.) Berlin 1877.
A. Duncker. 17 M.
Auf Anregung der Herren Droysen und Duncker und auf
Grund eines von denselben vorgelegten Planes hat die Konigi
Akademie der Wissenschaften zu Berlin die Herausgabe ver-
schiedener Arten von Quellen zur Geschichte Friedrichs des
Grossen beschlossen. Der vorliegende Band eroffnet diese Publi-
cationen, er bildet den ersten Theil der einen unter den vier
Abtheilungen derselben, der „Preussischen Staatsschriften aus der
Regierungszeit Konig Friedrichs II." Der Begriff „Staatsschriftenu
ist hier in der weiten Ausdehnung gefasst, welche demselben im
vorigen Jahrhundert gegeben wurde, es werden darunter ver-
standen Publicationen der verschiedonsten Art, welche von den
Regierungen ausgehen und den Zweck haben, die Schritte der-
selben der offentlichen Meinung gegeniiber zu rechtfertigen oder
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Preussische Staatsschriften a. d. Regierungszeit Konig Friedrichs II. 57
in ein richtiges Licht zu setzen. Dieser erste Band, enthaltend
die preussischen Staatsschriften aus den ersten seclis Regierungs-
jahren Friedrichs (1740 — 1745), ist von Herrn Koser bearbeitet
worden. Die demselben gestellte Aufgabe war eine keineswegs
leichte. Zunachst hat schon die Sammlung dieser Schriften nicht
geringe Schwierigkeiten bereitet; dieselben sind heut zu Tage
iiberaus selten, von vielen sind die Originaldrucke garnicht mehr
vorhanden, sie mussten in Zeitungen, Zeitschriften und alteren
Sammelwerken aufgesucht werden, auch diese abor sind selten
und enthalten solche Schriften meist in wenig correcter Form,
oft ganz willkiirlich verandert. Die reichste Ausbeute hat deni
Herausgeber das Konigl. Geh. Staatsarchiv zu Berlin gewahrt, in
dessen Akten sich manche von jenen Drucken selbst, dann aber
auch zahlreiche Manuscripte derselben und zwar ofter ausser
der Schlussredaction auch Concepte und friihere Entwiirfe ge-
funden haben. Auf Grund dieses handschriftlichen Materials ist
da, wo die Originaldrucke nicht vorhanden waren, der authen-
tische Text dieser Schriften hergestellt, einige, welche urspriing-
lich fur die Veroflfentlichung bestimmt, aber dann doch nicht
gedruckt waren, sind hier zum ersten Male hervorgezogen wor-
den. Der Herausgeber hat sich aber ferner auch bemiiht, das
Verstandniss dieser Schriften durch Darlegung ihres Ursprunges
und der politischen Verhaltnisse, auf welche sie sich beziehen
und unter welchen sie entstanden sind, zu ermoglichen und auch
nach dieser Seite hin hat er auf das glanzendste, mit ebensoviel
Fleiss und Sorgfalt wie Scharfsinn und Geschicklichkeit seine
Aufgabe gelost. In den Einleitungen, welche theils den grosseren
Abtheilungen, in welche die Sammlung gesondert ist, theils den
einzelnen Stucken vorangestellt sind, werden auf Grund der Akten
des Berliner Archivs und unter reichhaltiger Verwerthung der
historischen Litteratur alterer und neuerer Zeit einmal die
pohtischen Verhaltnisse dargestellt, welche die Abfassung und
Veroflfentlichung dieser Staatsschriften vcranlasst haben , dann
aber auch iiber Autor und Zeit der Abfassung, iiber die Art
der Verbreitung und iiber die Erfolge derselben eingehende, oft
sehr specielle Mittheilungen gemacht. Manche dieser Einleitungen
erweitern sich zu abgerundeten historischen Abhandlungen, welche
ebenso durch ihren reichen Inhalt und die neuen Aufschliisse,
welche sie enthalten, wie durch ihre anziehende Form das Interesse
des Lesers fesseln miissen.
Vorangeschickt ist eine langere Einleitung, in welcher zu«
uachst der BegriflF Staatsschriften in der oben angegebenen Weise
festgestellt und dann die verschiedenen Formen angegeben war-
den, welche dieselben angonommen haben. Es werden unter-
schieden Staatsschriften im engeren Sinne, solche Publicationen,
deren officiellor Ursprung offen zu Tage tritt, und Flugschriften,
maskirte Staatsschriften, welche auch aus den leitenden Kreisen
hervorgegangen oder durch dieselben veranlasst sind, diesen Ur-
sprung aber sorgsam zu verhiillen suchen. Die eigentlichen
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58 Preussische Staatsschriften a. d. Regierungszeit Eonig Friedrichs JL
Staatsschriften werden wieder in zwei Classen eingetheilt, in
solche , welche keine bestimmte Adresse tragen , unmittelbar an
das Publikum gerichtet sind (sie werden ihrem Inhalte nach
wieder in mehrere Unterabtheilungen gesondert), und in solche
mit bestimmter Adresse , nur mittelbar fur das Publikum be-
stimmt. Diese letzteren sind theils Patente (Proclamationen),
theils diplomatische Aktenstiicke der verschiedensten Art, die
theils von vorne herein fiir die Oeffentlichkeit bestimmt sind,
theils Mittheilungen von Hof zu Hof, die erst nachtraglich publi-
cirt worden sind. Der Verf. bespricht dann den Antheil, welchen
Friedrich der Grosse selbst an der publicistischen Litteratur
genommen hat, er weist darauf hin, wie mehrere jener Staats-
schriften von dem Konige selbst verfasst sind, und mit welcher
Sorgfalt er dieselben gearbeitet und gefeilt hat, er fuhrt dann
mit Beifugung genauerer biographischer Angaben die Manner
auf, welche die Mitarbeiter des Konigs auf diesem Gebiete ge-
wesen sind, von ihnen sind die wichtigsten der Cabinetssecretar
Eichel, der Minister v. Podewils, die Geheimen Rathe Vockerodt
uud Weinreich, ferner fur staatsrechtliche Deductionen der Kanzler
der Universitat Halle v. Ludwig, Cocceji und der preussische
Gesandte am Reichstage zu Regensburg Pollmann. Er bespricht
dann den Zustand der Ueberlieferung und giebt hier sehr
interessante Mittheilungen iiber die Zeitungen und Zeitschriften
jener Zeit, ferner iiber die ersten zusammenfassenden Darstel-
lungen der Zeitgeschichte, welche auch hauptsachlich. aus solchen
Erzeugnissen der publicistischen Litteratur compilirt sind.
Die in diesem Bande vereinigtcn Staatsschriften sind in
7 grossere Abtheilungen gesondert, innerhalb deren die einzelnen
Stucke in chronologischer Ordnung auf einander folgen. Die
erste Abtheiluog ist betitelt: „Der Regieruugsanfang". In einer
ganz kurzen Einleitung wird auf den veraudertea Character
hingewiesen, welchen die preussische Politik gleich nach dem
Thronwechsel angenommen hat, derselbe giebt sich in den ersten
Monaten 1740 kund in zwei Actionen, in der Einmischung Konig
Friedrichs in die Grenzstreitigkeiten zwischen Kur- Mainz und
Hessen-Cassel zu Gunsten des letzteren, und in seinem Vorgehen
gegen den Bischof von Liittich in Folge der Unterstutzong,
welche derselbe der aus der oranischen Erbschaft endlich an
Preussen gekommenen Grafschaft Herstal in ihrem Widerstande
gegen die preussische Herrschaft leistete. Auf diese beiden
Ereignisse beziehen sich die 6 in dieser Abtheilung heraus-
gegebenen Schriftstiicke : 2 Schreiben Friedrichs an den Kur-
flirsten von Mainz und an den Bischof von Liittich und 4 Recht-
fertigungsschriften in der Liitticher Angelegenheit. In einem
Excurs am Schlusse wird die Angabe Voltaire's in seinen Me-
moiren, er habe im Auftrage Friedrichs ein Manifest gegeu den
Bischof von Liittich geschrieben, berichtigt: Voltaire hat ohne
Auftrag eine solche Schrift verfasst und im Haag erscheinen
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Preussische Staatsschriften a. d. Eegierangszeit Kftnig Friedrichs II. 59
lassen, dieselbe ist aber auf Veranlassung des dortigen preussi-
schen Gesandten unterdruckt worden.
Der zweiten Abtheilung: „Die preussischen Anspriiche auf
Schlesien" geht eine langere Einleitung voran, in welcher der
Verf. in ebenso griindlicher wie scharfeinniger Weise diese An-
spriiche darlegt und beurtheilt. Er kommt zu dem Resultat,
dass Friedrich zwar nicht formell juristiscb, aber wohl moralisch
zur Besitzergreifung von Schlesien berechtigt gewesen ist. Er
betont namentlich, dass der Konig sehr genau iiber die treulose
Politik Oesterreichs gegen seine Vorfahren unterrichtet gewesen
ist, ferner dass das Verhalten Oesterreichs in der bergischen
Successionsfrage, der Bruch des 1728 mit Preussen abgoschlosse-
nen Vertrages, Friedrich eine bequeme Handhabe geboten hat,
um auf die schlesischen Anspriiche zuriickzukommen, endlich dass
Oesterreich noch zuletzt 1740 durch eine plumpe Luge Preussen
zu beschwichtigen versucht hat. Von den 11 Stiicken, welche
in dieser Abtheilung sich vereinigt finden, sind die ersten 7
kiirzere Schriften, betreffend den Einmarsch in Schlesien, darunter
besonders interessant N. X? das von Friedrich eigenhandig ab-
gefasste Memoire sur les raisons, qui ont determine le Roi a
faire entrer ses troupes en Silesie, die letzen 4 ausgedehnte
staatsrechtliche Deductionen , die erste (N. XIV) von Ludwig,
die zweite (N. XV) von Cocceji, die beiden letzten Widerlegungen
osterreichischer Gegenschrifton , welche letzteren hier auch mit
abgedruckt sind.
Die dritte Abtheilung, betitelt: „Bis zum Breslauer Frie-
den", enthalt zunachst einige Schriften, welche den gegen Preussen
ausgestreuten Verdachtigungen, dasselbe habe einen Religionskrieg
angefangen, sinne auf Sacularisation der geistlichen Fursten-
thiimer u. 8. w., entgegentreten, dann diplomatische Papiere, be-
treffend die nach der Schlacht bei Mollwitz zwischen Preussen,
Oesterreich und England gefiihrten Verhandlungen , das interes-
santeste Stiick ist das letzte (N. XXIX): Lettre de M. le Comto
de * * * a un ami , eine eigenhandige Schrift Friedrichs , eine .
Rechtfertigung des mit Oesterreich zu Breslau abgeschlossenen
Friedens gegeniiber den bisherigen Bundesgenossen , namentlich
Frankreich, namentlich gegeniiber den von dem Cardinal Fleury
veroffentlichten heftigen Anklagen. Sie enthalt Enthiillungen
iiber die von Frankreich hinter dem Riicken seiner Bundes-
genossen gesponnenen Intriguen, Friedrich hat sie aber schliess-
lich auf den Rath seines Ministers Podewils, um die franzosische
Regierung nicht noch mehr zu erbittern, nicht drucken lassen.
Ein Excurs zu dieser Abtheilung betrifft die Kaiserwahl von
1741 — 42, es wird dort darauf hingewiesen, dass in dieser An-
gelegenheit nur einige Depeschen und Erklarungen Preussens be-
kannt geworden sind, dass aber einige private Flugschriften
erschienen sind, in denen die Wahl Friedrichs befurwortet wird.
Die vierte Abtheilung behandelt „Das Friedensjahr 1743".
Es werden dort zuerst eine Reihe von Schriftstiicken mitgetheilt,
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60 Preussische Staatsschriften a. d. Regierungszeit KSnig Friedrichs II.
in welchen das Bestreben der preussischen Politik, die Neutralist
des Reiche8 in dcm zwischen Kaiser Carl VII. und Oesterreich
gefuhrten Kriege zu erhalten, zum Ausdruck kommt. Die iibri-
gen Schriften sind veranlasst durch den Protest Oesterreichs
gegen die Wahl Carls VII. , dessen Aufnahme in die Reichstags-
akten der Wiener Hof unter Mitwirkung des neuen Kurfiirsten
von Mainz durchgesetzt hatte: ein Brief Friedrichs an den
Kaiser (N. XXXVII), eine nach seinen Weisungen ausgearbeitete
Flugschrift (Lettre d un gentilhomine frangais a un de ses amis)
und die Erklarungen, welche der Konig in Wien durch seinen
Gesandten zu Ende des Jahres hat abgeben lassen, durch die er
den Geriichten von angeblichen kriegerischen Absichten Preussens
entgegentritt , zugleich aber iiber jenes Vorgehen Oesterreichs
und iiber dessen Riistungen in Bohmen und Mahren Klage fuhrt
und sich entschlossen zeigt, im Nothfalle demselben mit den
Wafien entgegenzutreten. Ein Excurs behandelt zwei damals
verbreitete apocryphe preussische Schriften, eine angebliche Ver-
wendung Friedrichs fur die ungarischen Protestanten und ein
Circularschreiben an die andern neutralen Machte wegen Her-
stellung des Friedens.
Auch die fiinfte Abtheilung: „Preussen und Oesterreich im
zweiten schlesischen Kriege" enthalt, ebenso wie die beiden vori-
gen, zu Anfang nur eine kurze orientirende Einleitung. Dann
folgen zwei Schriften, durch welche Friedrich seine neue Kriegs-
erklarung an Oesterreich gerechtfertigt hat, das von dem Konige
selbst abgefasste Expose des motifs, qui ont oblige le Hoi de
donner des troupes auxiliaires a l'Empereur (N. XLIII), dessen
verschiedene Redactionen mitgetheilt werden, und die dazu von
Podewils verfassten und aJs Flugschrift verbreiteten Remarqnes
d'un bon patriote allemand, darauf eine damit im Zusammenhang
stehende Schrift eines bairischen Diplomaten, dann die Erklanmg
Friedrichs an den wiener Hof bei seinem Einmarsch in Bohmen
und seine Patente an die Bohmen und an die Ungarn. N. L
.gehort nur uneigentlich in die Preussischen Staatsschriften
hinein, es ist eine Zuschrift der osterreichischen Kaiserin an den
in Ulm tagenden Convent des schwabischen Kreises, welcher eine
Anzahl aufgefangener Depeschen des preussischen Gesandten in
Paris v. Schmettau beigegeben sind, welche zu Enthiillungen
iiber das zwischen Preussen und Frankreich abgeschlossene
Bundniss benutzt werden. Unter den weiteren Stiicken dieser
Abtheilung sind hervorzuheben : N. LIV, eine Flugschrift, in
welcher das barbarische Treiben der osterreichischen, 1745 in
Schlesien eingeriickten Truppen geschildert wird, und N. LV,
eine Rechtfertigung des Verhaltens des preussischen und des
kurpfalzischen Gesandten bei der neuen Kaiserwahl.
Der sechsten Abtheilung: „Preussen und England 1744 und
1745" ist eine liingere Einleitung vorausgeschickt , in welcher
eine eingehende und sehr interessante Characteristik der Per-
sonlichkeit und der Politik des damaligen Hauptes der englischen
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Preussische Staatsschriften a. d. Regierungszeit Konig Friedrichs IL 61
Regierung, Lord Carteret, gegeben und dann die Verhaltnisse
dargelegt werden, welche schliesslich, Ende 1745, den Sturz des-
delben herbeigefuhrt haben. Unter den hier mitgetheilten Schrift-
stiicken sind von besonderem Interesse : N. LVIII, eine besondere
Erlauterung des Expose des motifs mit Bezug auf die englischen
Verhaltnisse und mit Anklagen gegen die englische Politik, und
N. LIX, eine in Uebereinstimmung mit jener preussischen Scbrift
gegen die Politik der englischen Regierung gerichtete Flugschrift
von Lord Chesterfield, dem Haupte der englischen Oppositions-
partei. Dieser Schrift, obwohl sie cigentlich nur anhangsweise
in diese Sammlung preussischer Staatsschriften hineingehoren
wiirde, geht eine besondere langere Einleitung voran, in welcher
der Character und die Lebensverhaltuisse des Verfassers, sowie
sein Verhaltniss zu Konig Friedrich (er war ein enthusiastischer,
aufrichtiger Bewunderer desselben) geschildert werden, ein Excurs
enthalt eine Analyse einer anderen ahnlichen von Seiten der
Opposition ausgegangenen Flugschrift, als deren Verfasser auch
Chesterfield gemuthmasst wird. N. LX ist eine Denkschrift des
Prinzen Wilhelm von Hessen, des Vermittlers bei den Friedens-
verhandlungen zu Hanau, welche durch die Schuld der englischen
Regierung scheiterten, sie war urspriinglich dazu bestimmt, in
England gedruckt zu werden, um den Behauptungen der mini-
steriellen Presse, dass die meisten Angaben der preussischen
Publicationen grundlos seien, entgegenzutreten , der Druck der-
selben wurde aber in England inhibirt und ist nachher, nachdem
durch den Tod Kaiser Carls VII. die Sachlage sich verandert
hatte, ganz unterblieben ; in der Einleitung dazu wird wieder
eingehend das Verhalten des englischen Ministeriums bei diesen
Friedensverhandlungen und der Sturz Carterets geschildert. Die
heiden folgenden Nummern enthalten preussische Depeschen,
welche den Zweck haben, mit der neuen englischen Regierung,
an deren Spitze Pitt und Chesterfield getreten sind, ein freund-
schaftliches Verhaltniss anzubahnen, Versuche, welche damals
erfolglos blieben, da die.neue Regierung vorlaufig noch an der
auswartigen Politik Carterets festhielt. Auch diese Schriftstiicke *
gehoren nicht eigentlich zu den preussischen Staatsschriften, da
sie nur durch die Indiscretion der englischen Regierung in die
Oeffentlichkeit gekommen sind. Ein Excurs enthalt wieder Be-
merkungen iiber einige apocryphe preussische Publicationen.
Die Bezeichnung der letzten, siebenten Abtheilung : „Preussen
tmd Sachsen 1744 und 1745" ist nicht ganz erschopfend , denn
von den darin zusammengestellten 17 Stiicken beziehen sich in
Wirklichkeit nur 7 auf das Verhaltniss Preussens zu Sachsen,
es sind theils diplomatische Schriftstucke , welche den Zweck
verfolgen, Sachsen von der Allianz mit Oesterreich zuriickzuhalten,
dann das wieder von Friedrich eigenhandig verfasste Kriegs-
manifest (N. LXX), endlich Denkschriften, welche das feindliche
Vorgehen gegen Sachsen rechtfertigen. Dazu kommen 4 Stiicke,
welche das Verhalten zu Polen betreffen: Manifestationen, welche
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62 Krones, Handbuch der Geschichte Oesterreichs.
den Geriichten von feindlichen Absichten Preussens gegen dieses, mit
Sachsen ja nur durch Personalunion verbundene Reich entgegentreten
und ein Zeitungsbericht iiber den im November 1744 abgehaltenen
Reichstag zu Grodno, auf welchem der Versuch Konig Augusts,
auch Polen zur Theilnahme an dem Kriege gegen Preussen zu
bewegen, scheitert. Die iibrigen Stiicke (N. LXXIII — LXXYIII)
sind preussische Denkschriften und Noten an den russischen Ho£
durch welche vergebliche Versuch e gemacht wurden, diesen erst
zur Vermittlung in dem Kriege onit Oesterreich , dann zur Stel-
lung eines Hiilfscorps, endlich zur Vermittlung gegeniiber Sachsen
zu bewegen.
Berlin. F. Hirsch.
XVIII.
Krones, Dr. Fr., Handbuch der Geschichte Oesterreichs voi
der altesten bis neuesten Zeit. Lfrg. 3 bis 21. (Bd. I— HI).
Berlin 1876—78, Th. Grieben. k Lfrg. 1,50 M.
Von dem Handbuche der Geschichte des osterreichischen
Kaiserstaates aus der Feder von Fr. Krones, dessen erste Liefe-
rungen schon friiher in diesen Blattern einer Besprechung uuter-
zogen wurden (V, S. 343), liegen jetzt die drei ersten Bande
(Lfrg. 1 — 21) vollendet vor, welche in derselben unermiidlich
fleissigen, streng wissenschaftlichen Weise gearbeitet, die in
diesen Heften friiher gespendete Anerkennung durchaus recht-
fertigen. Band I erzahlt in sieben Biichern (III: Die romische
Herrschaft. IV: Volkerwanderung. V: Anfange des mittelalter-
lichen Staatslebens. VI: Der historische Boden Oesterreichs.
VII: Geschichtliches Leben 976—1308), nachdem der Leser
durch einleitende Capitel aus der allgemeinen deutschen Geschichte
und durch geographische Uebersichten geniigend vorbereitet ist,
die Anfange des historischen Lebens in der deutschen Ostmark
bis zum Eingreifen Rudolfs von Habsburg und der Verpflanzung
seiner Dynastie an dieUfer der mittleren Donau. Der 26. August
1278 „ein wichtiger Markstein in Oesterreichs Geschichte" be-
schliesst hier die Darstellung.
Der zweite Band (Lfrg. 8—14) beginnt mit den Folgen der
Schlacht auf dem Marchfelde und geleitet den Leser bis auf den
Untergang des letzten Jagellonen in Bohmen und Ungarn. Die
iiberreiche Fulle des Stoffes ist von dem Verf. auf fiinf Bucher
verteilt worden. (VII fuhrt die Geschichte der habsburgischen
Lande bis 1308 zu Ende. VIII: Alpenlander, Bohmen und
Ungarn 1308 — 1382. IX: Haus Habsburg, Bohmen und Ungarn
1382—1437. X: Die Geschichte der Jahre 1437—1493. XI: Der
Uebergang zur Geschichte der Neuzeit.) Mit besonderer Ge-
nauigkeit behandelt der Verf. die Epoche Maximilian's L, sowie
die Zeiten der reformatorischen Bewegung und des Bauernkrieges
bis zum Jahre 1526, welches mit Kecht als der Beginn der
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Krones, Handbuch der Geschichte Oesterreichs. 63
neueren osterreichischen Geschichte angesetzt wird. Eine Reihe
genealogisch-temtorialgeschichtlicher Tafeln der bedeutendsten
Dynastenfamilien des osterreichischen Alpenlandes, der Habs-
burger und der Herrscherhauser Bohmens und Ungarns bis 1526
bietet dem Leser einen willkonimenen Leitfaden in dem Gewirr
der verwandtschaftlichen Beziehungen jener Jahrhunderte.
Mit dem dritten Bande (Lfrg. 15—21) beginnt die Darstellung
der Entwicklung des eigentiimlich osterreichisch - habsburgischen
Staatswesens. Buch XII schildert das innere Staatsleben vom
Schluss des 10. Jahrhunderts bis 1526 imd entwirft dieGrundziige der
Verfassungs-, Rechts- und Culturgeschichte der deutschen, bohmi-
schen und ungarischen Landergruppen. Buch XIII erzahlt die
Zeiten Ferdinand's I. und Maximilian's II. (1526—76), Buch XIV
die Rudolfs II. und Matthias' (1576—1618). Das XV. Buch ist
dem dreissigjahrigen Kriege gewidmet, wahrend das XVI. die
Epoche vom westphalischen Frieden bis zum spanischen Erb-
folgekriege (1648 — 1700) dem Leser in anziehender Darstellung
Yorfiihrt.
Der Stoff ist dem Verf. derartig unter den Handen ange-
wachsen , dass er noch einmal gezwungen wird , iiber die dem
Unternehmen urspriinglich gesteckten Grenzen hinauszugreifen und
einen v i e r t e n Band von 7 Lieferungen als Schluss des Ganzen
anzukiindigen. Wir konnen uns iiber diese Erweiterung nur
freuen, da dieselbe allein eine ebenmassig eingehende Erzahlung
der wechselvollen Geschicke Oesterreichs auch in der neueren
Zeit bis zur Gegenwart ermoglicht. Der Kaiserstaat an der
Donau gelangt auf diese Weise zu einer neuen beschreibenden
Darstellung seines Entwicklungsganges, welcho die alteren Werke,
wie die Arbeiten Mailaths und andere, vollkommen in den Hinter-
grund drangt, und der bis jetzt die preussische Historiographie
leider nichts an die Seite zu stellen hat. Abgesehen von der
schonen, fesselnden Darstellung, welche auch dem gebildeten
Laien die Lecture des Buches angenehm machen wird, sind die
sorgfaltigen litterarischen Einleitungen mit besonderm Lobe zu
erwahnen, welche dem Fachmanne wertvolle Fingerzeige fiir ein-
gehendere Studien bieten. Dass sich bei der Aufzahlung der
Quellenschriftsteller iiber ein und das andere mit dem Verf.
rechten lasst, dass manche Angabe vermisst wird, wahrend
anderes vielleicht entbehrlich erscheint, dass schliesslich auch
einzelne Irrtiimer zu berichtigen bleiben, ist bei einer so urn-
fassenden, die Krafte eines Gelehrten fast iibersteigenden Arbeit
selbstverstandlich , doch ist es nicht die Aufgabe dieser Blatter
vereinzelte Kleinigkeiten pedantisch zu bemangeln, und sicher
wird der Verfasser selbst bei einer neuen Auflage die ihm an
andern Orten erteilten Winke beriicksichtigen.
Ein eigentiimliches Zeichen des in Oesterreich herrschenden
Geistes bleibt es iibrigens, dass eine so wertvolle historische
Arbeit im Kaiserstaate keinen Verleger gefunden hat und in
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(J4 Huhn, Geschichte Lothringens.
Berlin erscheinen muss , wahrend in Wien kostbare Kupferwerke
in der prachtvollsten Ausstattung in Fulle herausgegeben werden.
Berlin. Ernst Fischer.
XIX.
Huhn, Dr. Eugen Th., Geschichte Lothringens. Mit genea-
logischen Tabellen und historischen Karten. 2 Bde. gr. 8.
(IX, 401 u. 428 S.) Berlin 1877 u. 78. Th. Grieben. 12 M.
Der Verfasser, ein Schiiler Schlosser's, hat schon 1875 eine
Landes-, Volks- und Ortskunde von Deutschlothringen veroffent-
licht. Seine Geschichte Lothringens stiitzt sich aaf ein langeres
Studium (ein rnehr als zwanzigiahriges Spezialstudium giebt er
in der Einleitung an) und ein viei umfassenderes Quellenmaterial
als der Major Westphal in seiner Geschichte der Stadt Metz
(Metz 1875 — 77, 3. Th.) benutzt hat. Sie ist im guten patrioti-
schcn Geiste geschrieben im Gegensatz zu den bis dahin nar
vorhandenen tendenziosen franzosischen Darstellungen, besonders
der von Digot (Histoire de Lorraine 1856. 6 Bde.) und auch
fur das grossere Publicum bestimmt; aber gerade darum sind
die vielen stilistischen Incorrectheiten und die oft ermiidende
Art der Darstellung sehr zu bedauern. Letztere ist theilweise
durch die Anlage des ganzen Werkes bedingt. Nachdem namlich
der Verfasser im ersten Buche einen geographischen Ueberblick
iiber das spiiter Lothringen genannte Gebiet gegeben und seine
Schicksale von der altesten historischen Zeit unter den Kelten,
wahrend der Romerherrschaft und der deutschen Besiedelung
bis zum Jahre 1048 verfolgt hat, giebt er in den folgenden
9 Buchern chronikenartig die Geschichte der einzelnen Herzoge
bis zur volligen Incorporation des ganzen Landes in Frankreich
und in dem letzten Abschnitt jedes Buches unter dem Titel:
Innere Verhaltnisse neben einigen allgemeinen Bemerkungen eine
bunte Zusammenstellung von culturhistorischcn und statistischen
Daten. Auch an historischen Incorrectheiten fehlt es nicht : der
Kaisertitel wird verschiedenen Konigen beigelegt, die ihn nie ge-
habt haben, wie S. 67 Ludwig dem Kinde, S. 112 Heinrich L,
S. 288 dem Gegenkonige Friedrich von Oestreich als Friedrich IIL
und Friedrich III. wird p. 373 Kaiser Friedrich IV. genannt,
der jedoch spater, B. II, S. 3, rich tig als der dritte bezeiclmet
wird; worauf griindet sich der S. 10 und S. 21 aufgestellte
Unterschied zwischen der Vielgotterei der Gallier und der
Druidenlohre der Belgier? S. 159 erweckt es den Anschein, als
ob Jerusalem erst kurz vor Beginn der Kreuzziige in die Hande
der Muhamedaner gefallen sei.
Referent kann nicht umhin, diese Aussetzungen , denen er
noch einige andere hinzufugen konnte, hier auszusprechen , wo-
gegen er auch gern anerkennt, dass der Verfasser mit gr ossein
Fleisse ein sehr reiches Material zusammengestellt hat. Vor
jedem einzelnen Abschnitt sind die allgemeinen Darstellungen
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Huhn, Goschichte Lothringens. • 65
und speziellen Quellen angegeben, einzelne Belege zum Text fiihrt
er nicht an.
Langere Zeit schwankten diese Kernlande des alten Austra-
siens zwischen dem ost- und westfrankischen Reiche und erst
unter Otto dem Grossen, 940, nach dem Faile des Herzogs (2i-
selbert, werden sie ein deutsches Herzogthum und einige Jahre
darauf unter der Verwaltung von Otto's Bruder, dem Erzbischofe
Bruno, in Unter- und Oberlothringen getheilt. Jenes umfasste
die Gebiete des Hennegau, von Brabant, Namur, Luttich, Luxem-
burg und die Gegend der unteren Maas und des untereu Rheins ;
Oberlothringen, vielfach zerrissen durch anderweitige, besonders
geistlicbe Besitzungen, begranzt durch das Erzbisthum Trier,
Luxemburg, die Vogesen und die Champagne, bewahrte allein
den Namen, als Gerhard vom Elsass, der 1048 zum Herzoge er-
nannt wurde , das Herzogthum in seinem Hause erblich zu erhalten
wusste. 15 Herzoge folgten sich nach einander aus dieser Fa-
milie. Nach der im Jahre 1306 mit den Standen vereinbarten
Erbfolgeordnung sollte es in directer Linie auf die Tochter ver-
erben, wenn keiue Sonne vorhanden waren, mit Ausschluss der
entfernteren mannlichen Verwandten. In Folge dessen kam es
1431, beim Tode Herzogs Karl II., an seine Tochter Isabelle,
die Gemahlin Rene's von Anjou (f 1480), der auch die Regierung
fuhrte als Rene L; bei ihrem Tode (1453) aber ging diese auf
ihren Sohn und dann 1470 auf ihren Enkel iiber. Da dieser
schon 1473 kinderlos starb und ihre Tochter in die jiingere Linie
Elsass - Vaudemont verheirathet war, so ging das Herzogthum
nun an diese iiber.
Unter dem Hause Elsass spielte Lothringen eine ziemlich
unbedeutende Rolle, es stand immer in engster Verbindung mit
dem iibrigen Deutsohland und das herzogliche Geschlecht in
naher verwandtschaftlicher Beziehung zu den bedeutendsten deut-
schen Fiirstenfamilien, seine ganze Geschichte dreht sich fast nur
urn locale Fehden und Brandschatzungen. Die kurze Zwischen-
regierung des Hauses Anjou brachte ihm auch kein Gliick ; erst
gereichten ihm die Erbfolgestreitigkeiten der jiiiigeren Linie
Vaudemont nicht zum Heil, dann noch viel weniger die abenteuer-
lichen und kostspieligen Unternehmungen des Hauses zur Er-
werbung der Kronen von Neapel und Catalonien.
Der zweite Band behandelt die* Geschichte des Landes unter
den 9 Herzogen der jiingeren Linie Elsass- Vaudemont bis zum
Jahre 1737 und die Zwischenregierung des Konigs Stanislaus
bis 1766, worauf noch einige kurze Notizen iiber die Schicksale
des Landes wahrend der volligen Verschmelzung desselben mit
Frankreich folgen.
Die Verwickelung Lothringens in die rankevolle und gewalt-
thatige Politik der machtigen Nachbarn, Karl's des Kiihnen von
Burgund und Ludwig's XI. von Frankreich, ebenso wie der glan-
zende Sieg Rene's II. iiber den ersteren bei Nancy 1477 sind
eingehond und iibersichtlich erzahlt; uberhaupt gelingt es dem
Mlttheilungen a. cL hlstor. Litteratur. VH. 5
Digitized by UOOQ IC
66 Huhn, Geschichte Lotkringens.
Verfasser in diesem zweiten Bande , die Hauptmomente, und die
folgenden sind nur ungluckliche, iu lebendigerer und ergreifenderer
Darstellung wiederzugeben. Dem ersten glanzenden Erfolge ent-
snrach die weitere Regierung Rene's und seiner Nachfolger selir
wenig ; die eigenen nachsten Verwandten der Herzoge, die Guise,
trugen sehr viel dazu bei, dass Frankreich immer festeren Fuss
in dem zerrissenen Gebiete gewann. Was die Herzoge nicht
hatten erreichen konnen, die bedeutendste Stadt des Landea,
die Reichsstadt Metz, in Unterwurfigkeit zu bringen — war es ibnen
doch nicht einmal gelungen, ein festes bundesfreundliches Ver-
haltniss mit ihr herzustellen — fiihrte Heinrich II. gewaltsam zu
Gunsten Frankreichs aus, mit ihr wie mit den beiden Bischof-
stadton Toul und Verdun ; dass es ihm mit der bedeutendsten
Stadt des Elsass ebenso gelang, vereitelte nur die Wachsamkoit
und Ruhrigkeit der Strassburger. Das Ungliick wollte, dass da-
mals eine wenig umsichtige und energielose Regierung fiir den
minderjahrigen Karl III. im Lande waltete, aber auch das directe
Eingreifen Kaiser Karl V. konnte an diesem Erfolge der fran-
zosischen List und Gewalt nichts mehr anderru — Unter den
Quellenangaben vermisst man hier die Memoiren iiber den Herzog
von Vieilleville von Carloix, sie scheinen auch nicht benutzt wor-
den zu sein, sie liefern aber gerade fiir die Sittengeschichte, fiir
die Kennzeichnung des franzosischen Verfahrens und der Ge-
8innung der damaligen Lothringer eine Reihe unschatzbarer Ziige.
Die erzkatholische Gesinnung der Herzoge, ihre Unter-
stiitzung der Guisen bei ihren Anspriichen auf die franzosische
Krone ziehen das Land mit in die unheilvollen Religionskriege
Frankreichs; aber erst mit dem Jahre 1632 beginnt dann die
ununterbrochene Reihe der schlimmsten Jahre fiir Lothringen,
die seine Vereinigung mit Frankreich fast als eine Erleichterung
fur dasselbe erscheinen lassen. Nicht die Theilnahmlosigkeit
Deutschlands , sondern vor allem die kurzsichtige Politik seiner
eigenen Fiirsten sind an dem endlichen Schicksal des Landos
Schuld. Die katholische und jesuitische Richtung Karl's IV.
(1624 — 1675) hatte ihn verleitet, thatig an der Bekampfung dOT
Protestanten in Deutschland sich zu betheiligen, das katholische
Frankreich nahm offen Partei fur die Protestanten und die
Schweden und nothigte den Herzog zu dem Vertrage von Vic>
der ihn lahm legen sollte und in voUige Abhangigkeit von Frank-
reich brachte. Herzog Karl hatte diesen Vertrag nicht ernst
gemeint, Richelieu aber war stark genug ihn zu erzwingen, und
riicksichtslos genug jeglichen Vortheil, auch in der gewaltthatig-
sten Weise, daraus fur sich zu ziehen. Die demiithigendaten Er-
niedrigungen blieben dem Herzoge, die driickendsten AussaugungeB
blieben dem Lande nicht erspart. Der Herzog war viele Jahre
hindurch landesfliichtig , das Volk selbst aber hing mit grosster
Ergebenheit an seinem Fiirsten, so dass aus Erbitterung dariiber
1638 auf franzosischer Seite der Plan in Erwagung gezogen
wurde, alle Lothringer gewaltsam nach America hinuberzufuhren.
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VuilJiemin, Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft. 67
Unter Ludwig XIV. wurde die Vergewaltigung noch arger, man
ging offen damit um, Lothringen mit Frankreich zu vereinigen,
und nur mit genauer Noth entging der Herzog dem verrathe-
rischen Ueberfalle, der ihn nach Frankreich entfiihren sollte.
Sein Neffe und Nachfolger, Karl V. (1675 — 90), einer der
geachtetsten Feldherrn der Zeit, konnte gar nicht in sein Land
kommen, das von den Franzosen vollstaudig besetzt gehalten
wurde. Dessen Sohn Leopold (1690 — 1724), vormahlt mit Elisa-
beth Charlotte, Tochter Philipps von Orleans und der pfalzischep
Prinzessin Charlotte, war schon geneigt, auf einen Tauschvor-
schlag Lothringens gegen Mailand einzugehen; aber erst Franz ID-
war herzlos genug, im Jahre seiner Vermahlung mit der Kaiser-
tochter Maria Theresia 1736 den Tauschvertrag gegen Toscana
zu vollziehen, der 1737 beim Aussterben der Medicaer in Toscana
zur Ausfiihrung kam. Alle Bitten seiner Verwandten, auch seiner
Mutter nicht, die im Lande verblieb und daselbst starb, alle
Vorstellungen der Lothringer hatten den Herzog nicht davon
abhalten konnen. Gross waren die Bezeigungen der Anhanglich-
keit an das alte Fiirstenhaus von Seiten der Bewohner, eine
grosse Zahl von ihnen wanderte aus in andere deutsche Gebiete.
Lothringen ging der Abmachung gemass, die zwischen Kaiser
Karl VI. und Frankreich gemacht war, an Ludwig's XV. Schwieger-
vater iiber, den vertriebenen Konig Stanislaus von Polen. Die
von franzosischen Schriftstellern so sehr geruhmte Regierung des
schwachen und den Jesuiten ergebenen Stanislaus wird in ge-
biihrender Weise gewiirdigt; das Land wurde ganz im franzosi-
schen Interesse und in franzosischer Weise verwaltet und nach
seinem Tode vollstandig mit Frankreich vereinigt. Abermals
verliessen Tausende das Land und viele andere waren ihnen ge-
folgt, wenn es ihnen moglich gewesen ware.
Dankenswerthe Beigaben zu dem Werke sind die ausfiihr-
lichen genealogischen Tabellen der Hauser Elsass, Anjou, der
Guisen und Elsass- Vaudemont, so wie die 3 historischen Karten
von Lothringen und die Plane von der Schlacht von Nancy 1477
und der Belagerung von Metz 1552.
Berlin. J. Schirmer.
XX.
Vuilliemin, L, Geschichte der schweizerischen Eidgenossen-
8Chaft. Deutsch von J. Keller. I. Von den altesten Zeiten
bis auf die Reformation. II. Von den Anfangen der Refor-
mation bis auf die Gegenwart. gr. 8. CTV, 260 u. 292 S.)
Aarau 1877 und 1878. H. R. Sauerlander. 6,30 M.
Das vorliegende Werk, welches ein fast achtzigjahriger For-
Bcher fur die „kommenden Geschlechter" geschrieben, ist &st
allenthalben, namentlich von den gelehrten Landsleuten des Ver-
fassers, mit Beifitll begriisst worden. Es verdient denselben ,auch
5*
Digitized by UOOQ IC
68 Vuilliemin, GescMchto der schweizerischen Eidgenoasenschaft
reichlich nach Inhalt und Form: seinen Hauptzweck, „denLeser
in Stand zu setzen, dass er die Grenzscheide erkenne zwischen
dem Gebiete der urkundlichen Geschichte und jeoem andern, wo
unsichere Tradition und dicbterische Schopfungen aus der Sagen-
welt im Helldunkel durch einander wogen", diesen Hauptzweck
hat V. in glanzender Weise erreicht. Man weiss, dass es den
Schweizern nicht leicht geworden ist, mit mancher loblichen
Tradition zu brechen : Vuilliemin gebraucht consequent das Messer
cjer Kritik und trennt scharf zwischen Geschichte und Tradition,
aber mit schonender Hand: der kritische Process vollzieht sich
nicht vor unsern Augen und die Tradition wird mit der Pietat,
welche man nationalen Ueberlieferungen schuldet, nur mit festen
Grenzen umgeben, aber nicht mit Spott bei Seite geworfen. Ganz
vorziiglich ist in dieser Hinsicht die Erziihlung von der Einigung
der drei Waldstadte: wahrhaft beschamend fiir Schulbucher-
fabrikanten, wie Hrn. L. Stacke, der in seiner „neunten ver-
besserten Auflage" der „Erzahlungen aus dem Mittelalter" die
ganze Tellsage auftischt und seinen Bericht kiihn einleitet: ,Jn
das Todesjahr Kaiser Albrechts fallt die Griindung der Schweizer
Eidgenossenschaft". V. dagegen erwahnt den Namen des Tell erst
da, wo von der Ausbildung der Sage durch das „weisse Buch"
und die Chronisten die Rede ist, und begniigt sich, seine Lands-
leute iiber das Aufgeben der liebgewordenen Vorstellung in wirk-
lich anmuthender Weise zu trosten. (I, S. 248.) Wer sich mit
der Winkelried-Frage genauer beschaftigt hat, wird erkennen
und anerkennen, wie diplomatisch fein die Zeilen sind, in denen
V. von dem Ereigniss berichtet. In der Frage nach dem Ur-
sprung der Burgunderkriege weicht V. von der Annahme des
neuesten Bearbeiters, C. Dandliker, etwas ab : wahrend D. nach-
zuweisen sucht, dass sich das Biindniss der Schweizer mit Frank-
reich und ihre Parteinahme gegen Burgund mit einer in der
Sache liegenden Folgerichtigkeit entwickelt habe, ist V. mehr
geneigt, das Pensionswesen und den Egoismus franzosisch-gesinnter
Geschlechter, wie der Diesbach, fiir diese Kriege verantwortlich
zu machen. Daher nennt V. auch den doch schwerlich ganz
unparteiischen Val. Anshelm „einen gewissenhaften Schriftsteller,
der ein Feind war des Pensions- und Soldwesens". Grade der
letzte Zusatz zeigt aber, dass Anshelm tendenzios ist, wie Dand-
liker (p. 11) hervorhebt. — Selbstverstandlich ist, dass V. trotz
der Begeisterung fur seinen Gegenstand iiber alle Thatsachen
mit volligem Freimuthe urtheilt und nicht etwa versucht, die
Uebelstande zu verschleiern oder zu entschuldigen , unter denen
die Schweiz in den verschiedenen Jahrhunderten gelitten hat:
so bekennt er II, 144: 7>Aber wie ein Blatt, das der Sturmwind
schiittelt, thaten die Eidgenossen jeweilen, nachdem sie eine
Sache beschlossen, deren Gegentheil." Nur einmal stosst man auf
unmotivirten Lokalpatriotismus , indem der Hauptmann L. von
Erlach „der edle Berner" genannt und mit dem Prinzen Eugen
verglichen wird, weil er — wegen nicht geleisteter Vorschiisse —
Digitized by VnOOQ IC
Vuilliemin, Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft. 69
Frankreich den Riicken kehrt und in den Dienst der deutschen
Protestanten tritt.
Das Buch ist nun so eingerichtet, dass die Geschichte der
Lander, aus welchen die schweizer Eidgenossenschaft erwachsen,
sich an die allgemeine Geschichte anlehnt, zuerst an die romische,
dann an die frankische nnd die Geschichte des romischen Reiches
deutscher Nation; an der Grenze der neueren Zeit tritt Frank-
reich in den Vordergrund, welches als machtiger Naohbarstaat dann
immer einen bedeutenden Einfluss behauptet: daneben aber wirken
die europaischen Ereignisse, wie die Reformation, der dreissig-
jahrige und der spanische Erbfolgekrieg , in neuester Zeit die
franzosischen Revolutionen auf die Gestaltungen der Eidgenossen-
schaft bestimmend ein. Die Geschichte der Eidgenossenschaft
ist natiirlich in dem ersten Buch des ersten Bandes wesentlich
Geschichte der Kan tone, die sich an den urspriinglichen Kern
ansetzen.
Das zweite Buch beginnt mit dem Bericht von der Erobe-
rung des Aargaus und reicht bis zur Schlacht bei Marignano
und don ersten Anzeichen der Reformation ; die beiden vorletzten
Capitel „Innere Entwickelung" und „Das Wiederaufleben der
Wissenschaft" sind treffliche kulturhistorische und litterarhisto-
rische Skizzen.
Aufgefallen ist dem Ref. nur, dass der Verf. die unter Maxi-
milian vollzogene Ausscheidung der Schweizer aus dem Verbande
des deutschen Reiches so wenig betont und eben so wenig Auf-
hebens macht von der Stellung, welche die Schweizer um das
Jahr 1512 einnehmen. Er erwahnt zwar schon bei der Ge-
schichte Hans Waldmanns, dass die fremden Machte um die
Gunst der Eidgenossen buhlten, und verkennt auch nicht die
Bedeutung M. Schinners, doch ist nicht zu vergessen, dass Ranke
jenes Jahr als den Hohepunkt der schweizer Geschichte iiber-
haupt ansieht: von diesem Zeitpunkt sprechend vergleicht er
(Rom. u. Germ. 396) „die Unschuld der ersten Verbriiderungen
und das selbstandige Eintreten in die Mitte der Welthandel zur
Behauptung eines fremden Landes" und urtheilt schliesslich : „Es
ist nicht allein den Menschen, sondern auch den Volkern ein
hochster Punkt der Macht und des Lebens gesetzt ; und niemals
sind die Eidgenossen machtiger geworden, als sie in dieser Stunde
waren."
Im zweiten Bande wird zunachst die Zwingli'sche Refor-
ination vorgefiihrt, deren Triumph zugleich ein politischer ist,
ein Sieg des arbeitsamen Biirgerthums iiber die Bandenfuhrer,
dann wird nach einer Betraohtung der wissenschaftlichen und
wirthschaftlichen Verhaltnisse die Geschichte Calvins ange-
8chlo88en. Weiter sehen wir auch in der Schweiz Vorboten der
gewaltigen Stiirme des 30jahrigen Krieges : Richelieu und Gustav
Adolf wirken auch hier ein , dieselben Geschicke , wie Deutsch-
land und Europa, treflfen die Eidgenossenschaft, die doch vom
ttgentlichen Kriege unberiihrt bleibt, in manchen Beziehungen.
Digitized by Li(
70 Vuilliemin, Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft.
Ein engherziger reaktioniirer Geist zwangt die Wissenschaft ein:
nur die Klostergeschichte gedeiht, fur Manner, wie den thur-
gauischen Edelmann Goldast, 1st kein Platz in der Heimath, die
Geistlichkeit wird reicher, ihre Gewalt nimmt zu. Wie die Mon-
archien absolut werden, so wird hier die Obrigkeit zur regie-
renden Kaste: die schroffste Oligarchic fiihrt das Scepter; in
Bern sind seit 1680 nur 360 regierungsfahige Geschlechter , in
Wirkliclikeit theilen aber 80 Familien sich in die Besetzung der
Staatsamter. „Der Gewalt" ziebt von der Landschaft ganz in
die Stadt. Wahrend in Deutschland dem Frieden von 1648, bei
welchem Wettstein von Basel die Unabhangigkeit der Schweiz
durcbsetzte, wenigstens ausserlich eine kurze Zeit der Ruhe folgt,
rnfen die veranderten wirthschaftlichen Zustande, namentlich das
Nachlassen des Soldnerbedarfs und die Herabsetzung der Geld-
werthe, in der Schweiz Bewegungen hervor, wie den Bauernkrieg
von 1648 — 1653. Die Rache der siegenden Obrigkeiten war
nicht weniger streng, als die der deutschen Fursten nach dem
Bauernkrieg von 1525. In dem Villmerger Kriege von 1656
drangen religiose Differenzen zur Entscheidung der Freiziigigkeite-
Frage, die aber ungelost bleibt. Von 1656 — 1678 erscheint die
Schweiz wieder im Dienste Frankreichs, dem sich die katholischen
Orte zuerst hingaben: am 24. Sept. 1663 aber schliessen alle
Eidgenossen mit Ludwig XIV. einen Bund, der, dem Wortlaute
nach auf Vertheidigung allein zielend, in Wirklichkeit der An-
griffspolitik des Konigs niitzen sollte. Der Devolutionskrieg oflFnet
den Schweizern iiber die Absichten Ludwigs XIV. die Augen,
auch sie werden unruhig, die Tagsatzung befiehlt den Regimenta-
obersten, welche in die Freigrafischaft eingeriickt sind, bei Todes-
strafe dieselbe zu raumen. Der Eigennutz, in den katholischen
Orten aber auch die Confession, fiihrte die Eidgenossen aber
wieder in die Arme Frankreichs zuriick. Geschickte Emissare,
wie Peter Stuppa aus Cleven, kniipfen die Verbindungen von
neuem und verschaffen den Franzosen schweizerische Frd-
kompagnien zu herabgesetzten Preisen. Wohl regte sich die
nationale Partei: Freiburg rief das Regiment Erlach zuriick, alte
Orte gelobten, der Freigrafschaft beizuspringen , aber bei dem
guten Willen blieb es auch, und der Friede von Nimwegen
brachte ihnen zu geringem Vergniigen als Nachbar den Fursten,
„der ofter im Tone des Befehls, denn der Freundschaft mit ihnen
gesprochen"
Die Aufhebung des Ediktes von Nantes fiihrte auch der
Schweiz eine Menge von Emigranten zu, regte aber die dffent-
liche Meinung gewaltig auf und hatte zur Folge, dass die evan-
gelischen Stadte der Schweiz sich vom Joche Ludwigs XIV. firei-
machten. Da die Leidenschaft fur das Feldlager, oder, wenn
man will, die Begierde Sold zu verdienen, die Schweizer noch
immer fesselte, so sehen wir freilich wieder sowohl in dem
Rachekrieg Ludwigs XIV., als auch in dem spanischen Erbfolge-
kriege Schweizer auf beiden Seiten, und allerdings auch mit
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Vuilliemin, Geschichte der sohweizerischen Eidgenossenschaft 71
ausgezeichneter Tapferkeit streiten. Das fiinfte Kapitel behandelt
den Anschluss Neuenburgs an den preussischen Staat, das secbste
den zweiten Villmerger Krieg (1712 — 1715); das si'ebente giebt
unter dem Titel „Die Zeiten des Majors Davel" zunachst eine
Uebersicht iiber Verwaltungsverhaltnisse in Bern und anderen
Kantonen, sowie iiber die religiosen Zustande und schildert dann
das tragische Ende des waadtlandischen Majors Davel, welcher
die Waadt von der Herrscbaft Berns hatte befreien wollen.
Dann wird die Zeit von 1720 bis etwa 1750 nacb drei Seiten
beleuchtet; zuerst werden die auswartigen Beziehungen darge-
stellt, — zur Zeit des Aachener Friedens dienten wieder 80000
Schweizer als Soldner in den verschiedenen fremden Heeren — ,
dann werden die Beziehungen zu den benaehbarten geistlichen
Fiirsten und die Handel zwischen Rom und Luzern betrachtet;
in dem Absohnitt „Herren und Unterthanen" wird gezeigt, wie
die engherzige Geschlechterherrschaft zu verschiedenen Aufstanden
fiihrt und wie die Regierungen die demokratischen Orte mit
Strenge niederdriicken.
Dann wird die geistige Entwicklung zur Anschauung ge-
bracht, indem die Namen Haller, Gesner, Wyttenbach, Buchat,
Iselin, Hirzel, Joh. Miiller, Euler, Bernoulli, Breitinger, Fiissli u. A.
vorgefuhrt werden und die Griindung der „helvetischen Gesell-
schaft" erzahlt wird; — Haller, dies sei nebepbei bemerkt, als
Reformator der deutschen Dichtkunst zu bezeichnen, ist wohl
etwas zu viel gesagt. Ein riistiges Vorwartsstreben (Kap. XII)
macht sich auch auf dem Gebiete der Industrie geltend, gefordert
durch gemeinniitzige Gesellschaften : die Schweizer beginnen auf
einigen Gebieten mit Frankreich erfolgreich zu concurriren, in
Neuenburg und Genf erreicht die Uhrenfabrikation einen hohen
Aufschwung. Selbst Kiinstler, wie Arlaud und Liotard, Heinrich
Fiissli, Angelika Kaufinann aus Chur u. A. brachte die Schweiz
damals hervor, aber das Land, „arm und sparsam, nahm der-
selben nicht wahr". Die Lage des Landes war im allgemeinen
gunstig, obwohl namentlich der Bettel florirte und das Land die
Volkskrafte, welche es friiher durch den Solddienst verlor, bald
durch die Auswanderung einzubiissen begann. Religion und
Sitten, Voltaire und Rousseau, die Philanthropic , Lavater und
Pestalozzi beschaftigen uns im XV. Kapitel.
Nachdem das Verhaltniss zu Frankreich mannigfache Par-
teiungen hervorgerufen, kommt im Jahr 1777 ein neues Biindniss
mit Frankreich auf 50 Jahre zu Stande. Die verwickelten Zu-
stande in Genf, die Streitigkeiten zuerst der Burger mit dem
Bath, dann der Natifs und Habitants, fiihren schon hiniiber in
<fo Zeit der franzosischen Revolution; mit der Griindung der
helvetischen Republik beginnt der fiinfte Theil des Werkes, das
durch die Begebenheiten der neueaten Zeit hindurch bis zur
Bundesverfassung des Jahres 1848 fortgefuhrt ist. Eine Speciali-
sirung des Inhaltes ist erlasslich, da die Schweiz in diesem Zeit-
^^me in die allgemeinen politischen Verhaltnisse verwoben ist.
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72 v. Bernhardi, GescMchte Russlands 1814—1831. EL Theil
Wahrend wir an dem Inhalte des Werkes, dessen Zweek-
massigkeit einleuchtet, nichts Erhebliches auszusetzen finden,
konnen wir jedoch, im Gegensatz za anderweitigen Referenten.
eine ungiinstige Bemerkung iiber den Stil der Uebersetzung
nicht zuriickhalten. Stellenweise , nicht durchgangig, — denn
manche Partien des Werkes sind von dem zu riigenden Uebel
ganz freigehalten, — finden sich Ausdriicke und Wendungen, die,
ausser im Schweizerdeutsch, schwerlich vorkommen diirften. Wir
konnen uns freilich nicht herausnehmen, in dieser HinsichtYor-
schriften zu machen, niochten aber doch dringend wiinschen,
dass der deutschen Sprache nicht ohne Noth Zwang angethan
werde. Wozu Worte, wie „Verumstandungen", das freilich nicht
nur von dem Uebersetzer, Herrn Director Keller, sondern anch
z. B. von C. Dandliker gebraucht wird. Wir halten es nicht fur
iiberfliissig, durch eine kleine Auswahl dessen, was uns anffiel,
unsern Tadel zu begriinden.
Ganz abweichend vom gewohnlichen Sprachgebrauch sind
Wortstellungen , wie: „Rom fand darin nicht Grund genug, um
ihrem Schicksal sie zu iiberlassen". II, 243. „Sie nahmen ihre
Frauenzimmer am Arm." II, 242. „In Bern schlug er mit
denen ein, welche . . . .", flir: „machte er gemeinschaftliche
Sache." II, 276. „Einen Grundsatz gutheissen, der hand-
k eh rum eine Waffe gegen sie hatte abgeben konnen. u II, 273.
„Einfache Wohlmeinenheit." I, 234. Der Ausdruck „Stanzer
Verkommniss" mag landesiiblich sein, deutsch ist er sicler
nicht. „Die g u t f i n d e n d e (f. „ willkiirliche") Vertheilung." H 170.
„Das lose Band einer gemeinsamen Vereinigung." II, 174.
„Man ging als die besten Freunde auseinander." 11,174
„Ge8ner lohnte ih n dadurch" ist grade so falsch wie „Nur Lavaters
Dazwischentreten konnte hindern , dass k e i n Todesurtheil aus-
gesprochen wurde." Wiederholt heisst es „erbleichtu statt „er-
blichen". (z. B. II, 212.) Noch auffalliger sind Wendungen, wie
„der stolze Sinn von ehedem war weg, von feme nicht so
fast, weil .... als weil . . . ." Im Schriftdeutsch wurde
fur „von feme" doch „bei weitem" und fur „so fast44 das \
bedeutende „so sehr" empfehlen.
Einen sachlichen Fehler mochten wir endlich noch notiren:
I, S. 74 wird Friedrichs II. Sohn Heinrich VII. genannt; er zahlt
aber bekanntlich nicht mit.
Berlin. Willy Boehm.
XXI.
v. Bernhardi , Theodor , Geschichte Russlands und der euro-
pftiechen Politik in den Jahren 1814— 1831. Dritter Theil
gr. 8. (VIII, 731 S.) Leipzig 1877. S. Hirzel. 10 M.
Der vorliegende dritte Band von Bernhardi's russischer Ge-
schichte zerfiillt in zwei grosse Theile. Der erste umfasst die eigent-
liche,namentlich die innere Geschichte Russlands; der zweite,
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v. Bernhardi, Geschichte Knsalanda 1814—1831. III. Theil. 73
grossere, behandelt die europaische Politik vom zweiten Pariser
Frieden bis zum Congress von Aachen, selbstverstandlich mit be-
sonderer Beriicksichtigung der Einwirkungen Russlands. Fur den
ersten Theil bildet das leider noch nicht ins Deutsche iibertragene
Werk von Bogdanowitsch iiber die Geschichte Kaiser Alexanders
und seiner Zeit die Hauptgrundlage, fur den zweiten das bande-
reiche Werk von Viel-Castel iiber die Restauration, Baumgartens
Geschichte Spaniens u. s. w. So anziehend und unterrichtend
jene erste H&lfte iiber die innere Geschichte Russlands ist, so
wenig will uns die breite Ausfiihrlichkeit gefallen, mit der in
der zweiten Halfte allbekannte Ereignisse der franzosischen und
spanischen Geschichte wiederholt werden. Wir wiinschten den
Verfasser sich mehr auf die Darstellung der russischen Dinge
einschranken zu sehen, deren Verstandniss uns nun einmal Nie-
mand besser vermitteln kann, als wenn auch noch so geistreich
geschriebene Auszuge aus Werken zu lesen, die in Jedermanns
Handen sind. (Man vergleiche Kap. 10 und 11 des vorliegenden
Bandes mit Kap. 5 — 8 des dritten Buches von Baumgartens spa-
uischer Geschichte.) Demgemass werden auch die folgenden Be-
merkungen sich mehr mit Bernhardi's Darstellung der inneren
Geschichte Russlands beschaftigen, seine Mittheilungen aber liber
die Stellung Russlands zu den grossen Fragen der europaischen
PoUtik — Mittheilungen , die unter der eingehenden Schilderung
der parlamentarischen Kampfe in Frankreich und der Intriguen
am Hofe zu Madrid oft vollig verschwinden — in aller Kurze
zusamraenfassen.
Die jedesmalige Stellung, die ein Staat inmitten der Ver-
wicklungen der europaischen Politik einnimmt, wirkt in der nach-
haltigsten Weise auf sein Inneres zuriick; die Anforderungen,
die aus dieser europaischen Stellung entspringen, beherrschen
seine innere Entwicklung in den wesentlichsten Punkten. Von
Kaiser Alexander weiss man, dass er nach dem Abschluss des
zweiten Pariser Friedens in seine Heimath mit dem festen Ent-
schlu8se zuriickkehrte, die aus dem siegreichen Widerstande
gegen Napoleon hervorgegangene Machtstellung Russlands auf-
recht zu erhalteii und in liberalem Sinne zur Geltung zu bringen.
D&zu gehorte aber vor Allem, dass er die Hiilfsquellen seines
^eiten Reiches, die sich den Bedurfhissen einer langeren Kriegs-
zeit keineswegs gewachsen gezeigt hatten, in einer Weise ent-
wickelte, wie sie nur auf dem Wege umfassonder Reformen er-
reicht werden konnte. Es gab kein Gebiet, auf dem nicht die
argsten Missstande grell zu Tage getreten waren: es gab auch
kein Gebiet, auf dem Kaiser Alexander nicht entschlossen gewesen
ware, reformirend durchzugreifen. In social - politischer und
iutellektueller , in militarischer und finanzieller Hinsicht sollte
Russland zu dem Range erhoben werden, der seiner europaischen
Stellung entsprach und dieselbe fur alio Zukunft gewahrleistete.
Mit diesen Antrieben des Ehrgeizes, der eine imponirende Macht-
e^tfaitung nach Aussen und deshalb Reformen im Innern verlangte,
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74 ▼• Bernhardt Geschichte Busslands 1814—1831. HE. Theil
verbanden sich in dem Kaiser liberale und philanthropische
Tendenzen , die jetzt wie in den ersten Jahren seiner Regierung
zu dem gleichen Ziele einer inneren Umwalzung hindrangteo.
Aber, wie einst bei Joseph II.: dem Woilen entsprach keia
Konnen. Herangewachsen in der Atmosphare der Phiiosophie
des 18. Jahrhunderts , die von alien gegebenen Verhaltnissen
abzusehen liebte, urn sich in ihren grossartigen Entwiirfen einer
von Grand aus neuen Weltordnung zu gefallen, hatte Kaiser
Alexander niemals Zeit und Gelegenheit gefunden, die historische
Entwicklung und die augenblicklichen Zustande seines gewaltigen
Reiches mehr als oberflachlich kennen zu lernen, und, was viel-
leicht ebenso schlimm ist, es fehlte auch in seiner Umgebung an
einem Manne, der diese mangelnde Kenntniss hatte ersetzen
konnen. So fuhrten denn auch diese Yarsuche dahin, wohin
dergleichen immer gefuhrt hat: iiberall entstand ein Gefiihl der
Unruhe und des Missbehagens , das sich hie und da selbst in
kleinen Aufstanden Luft machte. Wer mochte sagen, ob es nicht
schliesslich noch zu einer jener in Russland so haufigen Kata-
strophen . gekommen ware, wenn der Kaiser nicht bei Zeiten Ton
seinen Reformen abgestanden ware?
Um Russlands Entwicklung in social - politischer Beziehung
zu fordern, dachte Kaiser Alexander ernstlich an die Durch-
fuhrung zweier Massregeln, von denen die eine erst fast ein
halbes Jahrhundert spater, die andere auch heute noch nicht
ins Werk gesetzt ist : die Aufhebung der Leibeigenschaft und die
Einfiihrung einer constitutionellen Verfassung. Mit jener beab-
sichtigte er zuerst in den Ostseeprovinzen , mit dieser in seinem
Konigreich Polen den Anfang zu machen; die dort gewonnenen
Erfahrungen sollten bei der Umbildung des eigentlichen Russ-
lands verwerthet werden. Ankniipfend an einige unausgefuhrt
gebliebene Versuche aus den ersten Jahren Alexanders, warden
nun (1816—1818) nach einander in Esthland, Kurland, Lieviand
die Rechtsverhaltnisse der Bauern von Grund aus und dabei
derartig umgestaltet, dass eigentlich weder die okonomische
Lage des Landes im Ganzen noch die sociale Stellung des Bauern
im Besondern gehoben wurde. Es ist wahr, der Bauer in den
Ostseeprovinzen wurde personlich frei, aber er wurde zugleich
heimathlos ; aus dem erbberechtigten Inhaber eines Bauemhofes,
der er als Leibeigener gewesen war, verwandelte er sich in einen
Zeitpachter, der nach wie vor von der Willkiir des Grundherrn
abhangig blieb. Die Uebertragung dieser Reformen auf das
eigentliche Russland wurde dann damit eingeleitet, dass dem
General-Gubernator der Ostseeprovinzen, dem aus Yorks Leben
bekannten Marchese Paulucci, auch das russische Gubernium
Pskow zugetheilt wurde. Indessen ist es in Russland selbst
dabei geblieben, dass Kaiser Alexander aus den ihm vorgelegten
Entwiirfen den von Araktschejew zur Ausfuhrung bestimmte-
Danach wiirde der Staat die leibeigenen Seelen allmahlich ihren
Besitzern abgekauft und dieselben dann fiir frei erklart haben.
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v. Bernhardt Geechichte Busglands 1814—1831. DDL TheiL 75
Bernhardi berechnet, dass dieso Operation bei der geringen
Summe , die jahrlich dafur angewiesen wurde , ein halbes Jahr-
tausend gedauert haben wurde. Ein wirklicher Versuch ist damit
aber iiberbaupt nie angestellt worden und wUrde unzweifelhaft
misslungen sein, da dieser Entwurf wie alle anderen, deren
Bernhardi erwahnt, eben die national-okonomischen Verhaltnisse
Russlands unberiicksichtigt Hess, urn sich mit dem Scheine einer
personlichen Befreiung der Bauern zu begniigen.
Eine ganz ahnliche Wendnng nahm der Plan zur Einfuhrung
einer constitutionellen Verfassung. Wir beruhrten schon, dass
Kaiser Alexander sein Konigreich Polen, wie man beute sagt,
zum Versuchsfeld ausersehen hatte, um daselbst eine constitutio-
nelle Musterregierung zu begriinden, die nicht nur Russland,
sondern auch dem iibrigen Europa zum Vorbild dienen sollte.
So wollte es jene Neigung zum LiberaJismus , in der der Kaiser
Bich damals gefiel; so wollte es seine alte Vorliebe zur polni-
schcn Nation , an der er jetzt eine feste Stutze fur seine euro-
paische Macbt8tellung gewonnen zu haben glaubte. Er liess sich
wenig dadurch storen, dass Aristokraten wie Liberale, Stein wie
Kapodistrias ,' ihn gleichmassig darauf hinwiesen , wie sehr in
Polen alle Vorbedingungen eines parlamentarischen Lebens ab-
gisgen; nur so viel gewann er iiber sich, seinen Endzweck, die
Einfuhrung einer parlamentarischen Verfassung auch in Russ-
land, vorlaufig noch nicht laut werden zu lassen. Fur Polen
selbst aber unterzeichnete er noch im November 1815 die Con-
stitution, die ihm von einer eigens dazu eingesetzten Commission
unterbreitet wurde; der Selbstherrscher aller Reussen willigte
nicht nur ein, man kann sagen, er verlangte selbst, in Polen nur
ein constitutionell beschrankter Konig zu sein. Die neue pol-
nische Verfassung war bestrebt, die alten nationalen Formen und
Benennungen wieder ins Leben zu rufen; sie sprach von einem
Senat, von Landboten u. s. w. Der Inhalt war zum Theil der
Constitution vom 3. Mai 1791, zum Theil der franzosischen
Charte nachgebildet, „ohne die mindeste Rucksicht auf die kaum
zu ermessende Verschiedenheit der herrschenden Bildung und
der realen Lebensverhaltnisse in den beiden Landern". Das
Wesentliche in derselben war, dass, bei aller Au&ahme liberaler
Ideen und liberaler Formen, gleichwol die Gewalt nach wie vor
ausschliesslich in den Handen des Adels blieb, der neben weit-
tragenden anderen Befugnissen sich besonders das Vorrecht, in
die Landesvertretung gewahlt zu werden, sicherte. Zum Vice-
Konig ernannte Alexander den alten General-Lieutenant Zajonczek;
als bevollmachtigter Commissar des russischen Kaisers bei der
Regierung in Warschau fungirte Nowossiltzow, der zugleich beauf-
tragt war, eine Constitution fur Russland auszuarbeiten , und
dariiber einen jahrelangen Briefwechsel mit dem Kaiser fiihrte.
Dass es auch in dieser Frage bei theoretischen Erorterungen
geblieben ist, hangt mit jener Wandlung in den Anschauungen
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76 v. Bernhardi, Geschichte Russlands 1814—1831. III. Theil.
Alexanders zusammen, iiber die uns erst der folgende Band
Bernhardi's niihere Aufklarungen bringen wird.
Gliicklicher vorliefen die Bemiihungen des Kaisers zur
Hebung der intellektuellen Bildung seiner Unterthanen. Wiewohl
auch auf diesem Gebiete der Mangel einer Kenntniss der biirger-
lichen Verhaltnisse im Allgemeinen und Russlands im Besonderen
nicht selten Missgriffe und Storungen verursachte, so zeigte sich
hier doch das Walten eines gereifteren Geistes, der sich von der
tibersturzenden Hast fruherer Jahre gliicklich frei zu machen
gewusst hatte. Nur fehlte es auch hiebei an einer klaren Ansicht
dessen, was man eigentlich erreichen wollte, und dadurch auch
an Folgerichtigkeit in der Wahl der Mittel. Schon langst war
die Einrichtung von Kreisschulen in alien Kreisstadten , von
Kirchspielschulen auf dem platten Lande anbefohlen , aber nur
jene waren zu Stande gekommen, fiir diese fehlte es uberall an
Geld und an Lehrern. Man liess es jetzt an ernstlichen An-
strengungen nicht fehlen, urn diesen Mangeln abzuhelfen; man
griindete eine Art Schullehrer - Seminar , das doch nur kurza
Bestand hatte; man glaubte endlich in der Bell-Lancasterschen
Weise des wechselseitigen Unterrichts ein Mittel gefunden zu
haben, iiber jene Schwierigkeiten hinwegzukommen. Fiir die
Heranbildung von Gymnasiallehrern, deren Fehlen bisher gleich-
falls schmerzlich empfunden war, wurde in Petersburg ein Pada-
gogisches Institut begriindet, das sich nach allmahlicher Er-
weiterung schliesslich durch Uwarow in die Petersburger Uni-
versitat verwandelte (1819). Neben diesen Einrichtungen , bei
denen mehr deutsche Muster vorschwebten, fuhr man fort, nach
franzosischem Vorbilde Specialschulen zu begriinden, deren merk-
wiirdigste, das Lyceum in Zarskoje-Sselo, schon 1810 zur Heran-
bildung kiinftiger Staatsmanner geschaffen, jetzt von dem Kaiser,
der die erste Priifung 1817 mit seiner Gegenwart beehrte, mit
besonderer Theilnahme und Vorliebe gepflegt wurde. Von wel-
chem Geiste iibrigens Kaiser Alexander bei seinen Bestrebungen
zur Hebung des Schulwesens geleitet wurde, zeigte er 1817, als
er die bisher getrennten Departements des Cultus und des Unter-
richts zu Einera Ministerium vereinigte und dabei erklarte, dass
der Geist christlicher Gottesfurcht stets die Grundlage alles
Unterrichts und aller wahren Auf klarung sein und bleiben sollfc
Dahin gehort auch die lebhafte Forderung, die der Kaiser der
von ihm selbst angeregten russischen Bibelgesellschaft angedeihen
liess; auf seine unmittelbare Veranlassung geschah es, dass da-
mals zuerst eine Uebertragung der heiligen Schrift in die nen-
russische Sprache unternommen wurde.
Von alien Reformversuchen Alexanders hatte • keiner
einen ungliicklicheren Ausgang als die Einrichtung der Militar-
Colonien. In den Kampfen mit Napoleon war er inne geworden*
dass die russische Militannacht trotz aller Anstrengungen u
ihrer Vergrosserung den gewaltigen Heeren Frankreichs nnd
Oesterreichs an Zahl nicht entfernt gewachsen war. , Kaiser
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v. Bernhardi, Geschichte Eusslands 1814—1831. III. Theil. 77
Alexander fasste deshalb den Gedanken, ein angesiedeltes Heer
zu schaffen, das sich selbst ganz oder fast ganz durch seine eigene
Arbeit erhalten und aus den Familien der verheiratheten Krieger
erganzen sollte. Er schmeichelte sich, durch die allmahliche
Ausbreitung von Militar - Colonien tiber das ganze Land hin
schliesslich eine Million streitbarer Manner zu seiner freiesten
Verfiigung zu schaffen; diese wiirden zugleich die stets viele
Unzufriedenhe.it erweckenden Aushebungen uberflussig machen
und die Finanzen des Reiches von einem grossen Theile der Aus-
gaben fur das Militarwesen entlasten. Der erste Versuch zur
Durchfuhrung dieses Gedankens, den man schon im Jahre 1810
mit der Ansiedlung eines Bataillons des Jeletzkischen Regimentes
machte, hatte indessen den daran gekniipften Erwartungen so
wenig entsprochen, dass man nach den Friedensschliissen den
urspriinglichen Entwurf in einer Weise anderte, welche die
traurigsten Folgen nach sich zog. Man beschloss namlich, die
Bauernschaften der Dorfer, die man mit Militar-Colonien belegte,
nicht mehr, wie zuerst geschehen war, anderswohin zu versetzen,
sonctern dieselben vielmehr in den Verband der Colonien mit
aufzunehmen. Die gesammten mannlichen Bewohner eines solchen
Dorfes — nur die Greise ausgenommen — mussten ihre Bauern-
kleider ablegen und Uniform anziehen; sie wurden der Autoritat
der Civilbehorden entzogen und militarischer Disciplin unter-
worfen . — kurz sie. wurden mit Einem Schlage in Soldaten ver-
wandelt, und zwar auf Lebenszeit, ohne Aussicht, ohne Ende. In
dieser Weise sollte nach und nach das gesammte russische Hoer
angesiedelt werden auf den weiten Landgutern, in den Dorfern,
die der Krone gehorten; ein breites Band solcher Militar-Colonien
sollte sich von Norden nach Siiden, fast von dem Finnischen
Meerbusen bis zum Schwarzen Meer, durch das Reich ziehen;
ein Staat im Staate, nach eigenen Gesetzen verwaltet, von einer
Kriegerkaste bewohnt. Es hatte in der That dahin kommen
miis8en, was Nowossiltzow bemerkte, dass namlich die erste
Generation der Colonisten-Soldaten dazu bestimmt sei, sehr un-
gliicklich zu werden, die folgende aber dazu, ganz Russland
ungliicklich zu machen — wenn es iiberhaupt moglich gewesen
ware, den Gedanken in einiger Ausdehnung zu verwirklichen.
Aber schon bei den orsten Colonisationsanlagen , die man bei
Nowgorod und am Bug vornahm, erhob sich dort unter den
Kronbauern, hier unter den Kosaken ein Widerstand, der nur
durch Gewalt und Blutvergiessen unterdriickt werden konnte.
Da das Geriicht, wie es zu geschehen pflegt, diese Dinge noch
vergrosserte — man sprach von formlichen Gefechten, in denen
die wehr- und waffenlosen Bauern niedergemacht seien — , so
verbreiteten sich iiberall Unruhe mid Besorgnisse vor ferneren
Colonisationen , von denen man jedoch, bei dem unermesslichen
Elend, das sie hervorriefen , und dem geringen Nutzen, den sie
brachten, bald zuriickgekommen ist.
Wie oben angedeutet, war bei dem Plane der Militar-Colonien
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78 v. Bernhardi, Geschichte Busslands 1814—1881. III. TheiL
auch der Gedanke einer finanziellen Erleichterung des Landes
mit bestimmend gewesen. In der That befanden sich, in Folge
der langen Kriegsjahre und der Kontinentalsperre, die national-
6konomi8chen und damit auch die finanziellen Verhaltnisse Russ-
lands in einer Zerriittung, welche die wohlerwogensten und be-
sonnensten Massnahmen erfordert hatte, zu deren Abhiilfe indessen
der Finanzminister Guriew ebenso wirkungslose als verderbliche
Massregein wahlte. Einerseits suchte er namlich den Stand des
tief gesunkenen Papiergeldes dadurch zu heben, dass er einen
grossen Theil desselben fur Geldsummen aufkaufen und ver-
brennen liess, die der Staat sich doch wieder nur durch un-
giinstige Anleihen zu verschaffen vermochte ; andrerseits nahm er
in der Verwaltung des Branntweinschankes , der in Russland
bekanntlich Regal ist, Aenderungen vor, durch welche allerdings
der Ertrag desselben um ein Betrachtliches gesteigert, aber
nicht minder zugleich Beamte und Volk demoralisirt warden.
Von alien Operationen Ghiriews weiss Bernhardi nur die eine za
loben, dass er, in seinen national-okonomischen Grundsatzen dem
Freihandel zuneigend, die Tarife herabsetzte und damit zugleich
den Handel forderte und die Zolleinkiinfte erhohte.
Wir haben damit den Kreis, in dem sich die reformatorisehe
Thatigkeit Alexanders bewegte, in den wesentlichen Punkten
beriihrt, ohne doch von der Fiille merkwiirdiger Thatsachen
und feiner Bemerkungen, wie sie bei Bernhardi vorliegen, mehr
als ein schwaches Bild geben zu konnen. Dabei ist noch uner-
wahnt geblieben, was Kaiser Alexander fur Forderung des
Gewerbfleisses, Anlage von Landstrassen, Vollendung des Gesetz-
buches u. s. w. gethan hat, immer doch mehr einem schonen
Scheine nachjagend, als die okonomischen und socialen Verhalt-
nisse seines Reiches wahrhaft bessernd.
Wie die innere Politik Kaiser Alexanders neben den liberalen
Tendenzen durch die Riicksicht auf die Machtstellung Russlands
in Europa bestimmt erscheint, so wird in ganz ahnlicher Weise
seine auswartige Politik einmal durch seine liberalen Neigungen,
dann aber besonders durch den Gegensatz gegen England be-
herrscht, der zugleich ein territorialer und ein politischer ist.
Denn — wenn wir uns hiebei der parlamentarischen Termino-
logie bedienen diirfen — die Stellung der grossen europaischen
Machte war unmittelbar nach dem Pariser Frieden derartig, dass
England die ausserste Rechte, Russland die ausserste Linke ein-
nimmt, wahrend Oesterreich das rechte, Preussen das linke
Centrum bilden. So sehen wir in den europaischen Angelegen-
heiten den Kaiser Alexander iiberall als Schirmvogt liberaler
Ideen, als Gonner und Freund parlamentarischer Regierung auf-
treten; er schiitzt die liberale Opposition gegen die absoluten
Regierungen, er begriisst die Einrichtung constitutioneller Ver-
fassungen mit Freude und aufrichtigem Beifall. Wie er in Frank-
reich den Konig Ludwig XVIII. und das Ministerium Richelieu
in ihrem Widerstande gegen das wilde Andraugeu der Ultra-
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Bulle, Geschichte der Jahre 1871—1877. L Band. 79
Royalisten unterstiitzt, so sucht er gleiohzeitig auf Konig Ferdi-
nand von Spanien in liberalem Sinne einzuwirken und ihn zu
einer constitutionellen Regierung nicht nur in Spanien, sondern
auch in den siidamerikanischen Colonien zu veranlassen. Dabei
begegnet er auf alien seinen Wegen den entgegengesetzten Ein-
wirkungen Englands und seines reactionaren Ministeriums : in
Frankreich und Spanien, in Portugal und Siidamerika sind die
Schlachtfelder , auf denen sich die englischen und russischen
Diplomaten mit wechselndem Erfolge bekampfen. Auch Oester-
reich gegeniiber hiitet Kaiser Alexander die Unabhangigkeit
kleinerer Staaten: mit der russischen Macht im Riickhalt, unter-
nimmt es Sardinien, sich der osterreichischen Herrschaft in Italien
entgegenzusetzen. Bei seiner lebhaften und nachhaltigen Theil-
nahme an den Verwicklungen des Westens ist es natiirlich, dass
er die Angelegenheiten des Ostens vernachlassigt ; Kaiser Alexander
tritt auch dadurch als eine selbstandige und eigenthiimliche Er-
8cheinung aus der Reihe der iibrigen Herrscher Russlands heraus,
dass er von den immer nach dem Osten gerichteten nationalen
Impulsen unboriihrt bleibt; er lasst die Verhaltnisse im Orient
im Wesentlichen so, wie sie der Tiirkei gegeniiber durch den
Frieden von Bukarest, Persien gegeniiber durch den Frieden von
Gulistan festgestellt sind.
Inmitten dieser liberalen und philanthropischen Bestrebungen
muss nun Kaiser Alexander erleben, dass sich in seinem Reiche
geheime revolutionare Gesellschaften gegen ihn bilden ; die Kunde
hievon — eine bittre Enttauschung fur den edlen Fiirsten —
zusammenwirkend mit der Entwicklung der europaischen Ange-
legenheiten bringt in dem Kaiser einen reactionaren Umschwung
herTor, iiber den uns der folgende Band Bernhardi's, dem wir
mit Spawning entgegensehen, nahere Aufklarung bringen wird.
Berlin. Paul Bailleu.
xxn.
Bulle, Constantin, Geschichte der Jahre 1871—1877. [In 2 Bdn.]
L Band. Frankreich und Deutschland. gr. 8. (VIII, 421 S.)
Leipzig 1878. Duncker & Humblot. 5 M.
Als Ref. desselben Verfassers „Geschichte der neuesten Zeit
Ton 1815—1871" in dieser Zeitschrift V. 4, S. 338—343 anzeigte,
wies er hin auf die Aehnlichkeit , die das Werk in Anlage und
Tendenz mit Arnds Fortsetzung zu Beckers Weltgeschichte zeige,
und suchte seinen Werth durch eingehende Vergleichung ge-
wissermassen an jenem zu messen. Diese Gleichartigkeit der
Bestrebungen hat wohl auch die Verleger der genaimten Welt-
geschichte veranlasst, den Verf. fiir die Fortflihrung derselben
bis auf die Gegen wart zu gewinnen, sodass der I. Band dieses
seines neuesten, auf 2 Bande berechneten Werkes zugleich auf-
tritt als Supplementband I. zu Beckers Weltgeschichte resp. als
V. Band von Arnds Geschichte der Gegenwart. Da Bulles Buch
Digitized by UOOQ IC
80 Bulle, Geschichte der Jahre 1871—1877. L Band.
so eine Erganzung bildet zu jenem vielgelesenen popularen Ge-
schichtswerke, der einzigen Weltgeschichte , welche nunmehr bis
auf unsere Tage fortgefiihrt wird, so diirfte ihm schon dadurch
eine umfassende Verbreitung gesichert sein.
Der Verf. verkennt die grossen Schwiei'igkeiten nicht, die
sich dem Bearbeiter der Geschichte der Gegenwart entgegen-
stellen ; er gesteht in der Einleitung ein, dass es vergeblich sein
wiirde, in den Ereignissen der Gegenwart, wahrend sie in vollem
Flusse begriffen sind, bereits die innoren Gesetze, welche sie be-
herrschen, erkennen zu wollen ; er fiihlt sich seinem Stoffe gegen-
iibcr wie Jemand, der des beschrankten Raumes wegen un-
mittelbar an ein grosses Gemalde, das er betrachten will,
herantreten muss, und will sich daher begniigen, die Ereignisse
des letzten Lustrums einfach zu erzahlen, allerdings unter einem
durchgehenden Gesichtspunkt, namlich ihrem Verhaitniss zu der
1871 begriindeten Neugestaltung unseres Vaterlandes.
Allerdings muss jedem, der mit offenem Auge die geschicht-
liche Entwickelung des behandelten Zeitraums iiberschaut, die
Unfertigkeit aller politischen und socialen. Zustande auffallea,
und aus diesem Grande scheint das Jahr 1877 als Abschluss
eines als Ganzes zu behandelnden Zeitraumes nicht gerade giinstig
gewahlt; Ref. erinnert nur an den Ultramontanismus und die
Bestrebungen der Socialdemocratie, politische Krankheitsformen,
die noch der Heilung harren, sowie an die orientalischen Wirren,
denen erst das Jahr 1878 durch den Berliner Congress eine
wenigstens vorlaufige Losung gebracht hat, und mochte daraa
den Wunsch kniipfen, in Zukunft bei der Fortsetzung des Werkes
scharfer markirte Einschnitte abzuwarten und fur das zu be-
trachtende Gemalde einen weniger beschrankten Raum zu schaffen.
Wenn man nun aber einmal die dem Werke gesteckten Grenzen
als gegebene Factoren hinnimmt, so kann man wohl den Fleiss
und das Geschick anerkennen, mit dem der Verf. seiner Aufgabe
sich entledigt hat.
S. 1 — 145 behandeln die schwankenden politischen Verhalt-
nisse in Frankreich von dem Zusammentritt der Nationalversamm-
lung in Bordeaux den 16. Febr. 1871 bis zur Auflosung der
Kammern am 25. Juni 1877, S. 145—421 die Eutwicklung des
deutschen Reichs vom Frankfurter Frieden bis zu den Reichstags-
wahlen am 10. Jan. 1877. Dass dabei die Kammerverhandlungen
in beiden Reichen in eingehender Weise reproducirt werden, liegt
in der Natur der Sache begriindet; auch den eifrigen Zeituugs-
leser wird es nicht verdriessen, die Quintessenz seiner taglicheu
Lecture hier noch einmal in einem Gesammtbilde iiberschauea
zu konnen. Nur iiber das Quantum des Gebotenen liesse sicli
rechten; es scheint kaum der ganzen Anlage der Beckerschen
Weltgeschichte zu entsprechen, wenn den deutschen Verhaltnissen
eines Lustrums, und noch dazu in einer ereignissarmen Zeit, ein
Raum von 276 Seiten gr. 8 gewidmet wird.
Ref. verzichtet auf eine ins Einzelne gehende Reproduction
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v. Hellwald, Die Russen in Centralasien. 81
eines Werkes, dessen Interesse weniger in dem im Grossen und
Ganzen allgemein bekannten Stoffe als in der Behandlung des-
selben liegt ; dass letztere, wenn man von Kleinigkeiten, wie der
ohne Princip wechselnden Verwendung der Thaler- und Mark-
rechnung (S. 187 ff.) absieht, durchweg einen klaren Blick und
eine geschickte Hand verrath, ist schon anerkannt worden; auch
der gemassigte, reichstreue Standpunkt, von dem aus Verf. die
politische Entwickelung des deutschen Reiches darstellt, wird
mit dazu beitragen, dem Werke Freunde zu erwerben.
Die Darstellung der orientalischen Verwickelung verspart
rich der Verf. auf den IL Band, der im Herbste dieses Jahres
erscheinen und die Geschichte der iibrigen Lander innerhalb der
oben erwahnten Grenzen umfassen wird.
Berlin- R. Rodenwaldt.
xxni.
v. Hellwald, Friedrich, Die Russen in Centralasien. Eine Studie
uber die neuere Geographie und Geschichte Centralasiens. Neue
Ausgabe. gr. 8. (VII, 233 S.) Augsburg 1878. Lampart
& Comp. 4 M.
Das vorliegende Buch ist eine Erweiterung resp. Umarbeitung
einer Reihe von Aufisatzen desselben Verfassers iiber den gleichen
Gegenstand in Streffleur's „militarischer» osterreichischer Zeit-
schrifl". Obwohl der Verfasser selbst sein Werk „eino Studie"
nennt, so diirfte doch die Bezeichnung desselben als „ Compilation"
zutreffender erscheinen. Nirgends ein wissenschaftliches Ein-
dringen in die einschlagigen Verhaltnisse, iiberall entweder kurzo
Skizzirung oder einfache Erzahlung.
Friedrich von Hellwald ist trotz Oesterreich Russe vom
reinsten Wasser, er schwarmt fur den schwarzen Aar und den
unter Leitung des „tuchtigen" russischen Generalstabs begonnenen
Siegeslauf in Centralasien, von dessen weiterer Fortsetzung er
das Heil Asiens erwartet. Diese seine Ansicht diirfte durch die
jiingsten Ereignisse theilweise schon eine ebenso nachdriickliche
wie drastische Widerlegung gefunden haben! Soviel zur Cha-
rakteristik der Auffassung russischer Verhaltnisse seitens des
Verfassers.
Das Werk zerfallt, wie schon sein Titel vermuten lasst, in
zwei Haupttheile, einen geographischen , die Kapitel II — V und
einen historischen, Kapitel VII— XI umfassend.
Als Einleitung vorauf geht ein Kapitel, „die russischen
Forschungen in Mittelasien" uberschrieben, welches die verschie-
denen Expeditionen aufzahlt, die Russland, namentlich seit dem
Jahre 1845, das ist seit der Griindung der kaiserlich russischen
geographischen Gesellschaft, zur Erforschung der mittelasiatischen
Qebiete unternommen hat. Den Schluss des Werkes bildet eine
Betrachtung des Verfassers iiber die Rivalitat Russlands und
Mlttheilnngen a. d. hlstor. Litteratar. VII. 6
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82 y. Hollwald, Die Kusaen in Centralasien.
Englands in Asien, wahrend das VI. Kapitol der Bevolkerung
der mittelasiatischen Gobiete gewidmet ist.
Der geographische Theil bietet Nichts als Skizzen und zwar
bespricht Kapitel II. „die Landschaften Centralasiens", wobei des
Weiteren die Hypothesen iiber den Aral-See auseinandergeseizt
werden, ohne dass jedoch der Verfosser Stellung zu ihnen nimmt.
Nach den „Wiisten- und Steppenbildern" des dritten Kapitels be-
spricht der Verfasser im vierten die Landschaften am Ssyr-und
Amu-Darj&, d. L die Chanate Chiva, Boch&ra und Chokand, deren
Fruchtbarkeit hervorgehoben wird, urn sein geographisches Gemalde
im funften mit dem centralasiatischen Hochland abzuschliessen.
Das sechste Kapitel beschaftigt sich, wie schon bemerkt, mit
den ethnographischen Verhaltnissen Mittelasiens. Die Bevolke-
rong dieses Gebietes zerfallt in zwei Hauptgruppen : die Iranier,
unter denen die Kafirs (d. h. Unglaubige), in dem die Wasser-
scheide zwischen Oxus und Indus bildenden Berglande sesshaft,
sich am reinsten von fremden Bestandtheilen anderer Stamme
erhalten haben, und die hochasiatischen Turktataren, ein Unter-
schied, der zusammenfallt mit dem von sesshaften Ackerbauem
oder Gewerbetreibenden und Nomaden. Die unterjochte arische
Bevolkerung wird von den erobernden Tataren mit dem Colleoti?-
namen „Tadschik" bezeichnet. In Ost - Turkestan ist diese Be-
zeichnung geschwunden, nachdem die arische Bevolkerung sich
mit der tatarischen verschmolzen hat, wahrend in West-Turkestan
noch heute der Gegeasatz ein schroffer ist. Die Scheidung in
Kirghisen imd Sarten ist eine durch die Lebensweise hervor-
gerufene, und zwar versteht man unter der ersteren Bezeichnung
Nomaden, unter der zweiten Bodensassige. Letztere werden
auch Sogdager, d. i. Handelsleute, genannt und den rein tatarischen
Nomaden als Nicht - Nomaden , gleichviel ob sie arischen oder
tatarischen Blutes sind, entgegengesetzt. —
Ein weiteres Eingehen auf die zu einer jeden von beiden
Volkergruppen gehorenden Stamme wiirde zu weit fiihren Der
geschichtliche Theil beginnt mit einer verungliickten Expedition
gegen Chiva, die Kaiser Nicolaus befohlen hatte, da er durch
den Einfall der Englander unter Lord Auckland 1839 in Kabul
zu der Befiirchtung gedrangt wurde, dieselben wollten sich
Turkestans bemachtigen. Gewitzigt ersaheu sich die Russen ein
schwacheres Chanat, namlich Chokan, Welches 1840 von dem
Emir von Boch&ra Nasr- Allah-Chan erobert worden war, zu ihrem
ferneren Angriffsobject. Zu diesem Zwecke wurden die russischen
Grenzen nach Siiden vorgeschoben, die nominelle Oberherrschaft
iiber drei Millionen Kirghisen in eine factische umgewandelt mid
durch eine Reihe von Festungen, darunter Orenburg am Turgai
und Aralsk in der Nahe der Ssyr - Darj4 - Miindung gesicheii
Bedriickungen der am Ssyr-Darja, sesshaften Kirghisen sowie
rauberische Einfalle seitens der Chokanzen gaben den Ante®
zum Kriege gegen sie wie friiher gegen Chiva. Im Jahre 1852
wurde eine Expedition gegen das wichtigsto Fort der Fcnute
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v. Hellwald, Die Russen in Contralasion. 83
Ak-Medsclied ausgesandt, die jedoch bei ihrer numerischen
Schwache sich mit der Zerstorung der Vorwerke dieses Fort,
80wie Vernichtung von mehreren anderen unbedeutenden Festungen
begniigen musste. Der starkeren Expedition des folgenden
Jahres mit 12 Kanonen und 2000 Pferden gelang es, das von
nur 300 Mann besetzte Fort Ak-Medsched zu stiirmen trotz der
lowenmiithigen Vertheidigung , von 300 blieben 230 auf dem
Kampfplatze. Der Chan von Chokan konnte den Russen dasselbe
nicht wieder entreissen, da sie sich stark verschanzt hatten.
Eine Rebellion der kurzlich einverleibten Kirghisen unter
ihrem Anfiihrer Isched Kutebar konnte nach fiinfjahrigem fur
die Russen hochst ungiinstigen Kampfe erst 1858 auf diplomati-
schem Wege ausgetragen werden, indem man allgemeine Amnestie
yersprach und Isched Kutebar sowie seinen Unterbefehlshabern
ehrenvolle Stellungen anbot.
Russland mit dem Krimkriege beschiiftigt und die Ein-
mischung Englands befurchtend, verhielt sich in den inneren
Kampfen der Chokanzischen Pratendenten wie des Bocharen-Emir
Mozaffer ed-din Chan neutral. Nach Beendigung des Krim-
krieges jedoch ging es mit erneuerter Energie vor. Nachdem
1859 — 1861 mehrere feindliche Festungen genommen, erobert
1864 der inzwischen an Perowski's Stelle getretene Major
Tschernajew das'wichtige Tschemkend, mit dessen Falle die be-
deutendsten Stadte des Chanates Taschkend, Chodschand wie
die Hauptstadt selbst dem Angriff der Russen blossgestellt
wurden. Zwar wurden die Englander durch das siegreiche
Vordringen der Russen beunruhigt, indessen durch ein Cirkular
des Fiirsten Gortschakow beschwichtigt (21. Novbr. 1864), in
dem die Notwendigkeit der von den Russen getroffenen Mass-
regeln des Weiteren auseinandergesetzt wurde. Nach einem
weiteren Siege der Russen, die inzwischen eine bedeutende Nieder-
lage Ende 1864 erlitten hatten, am 9. Mai 1865 bei Taschkend
war das Chanat Chokan factisch in den Handen der Russen und
wurde in die „Provinz Turkestan" verwandelt.
Der Emir von BocMra Mozaffer, welcher bei den Thron-
streitigkeiten in Chokan eine bedeutende Rolle gespielt hatte,
gerieth in Verwickelung mit den Russen durch Absendung eines
Hilfskorps nach dem von ihnen bedrohten Taschkend, ohne jedoch
den Fall der Stadt verhuten zu konnen. Nach wechselndem
Erfolge vernichteten die Russen im Mai 1868 in der Schlacht
bei Samarkand den Gegner.
Den Schluss der russischen Eroberungen in Centralasien
bildete das Chanat Chiva, das, wie bemerkt, bereits 1839 von
den Russen zu nehmen versucht war. Bis zum Ende des Jahres
1872 war mit wechselndem Erfolge scharmutzirt worden. Ja
eine im Herbste des Jahres 1872 unternommene Expedition muss
vollstandig missgliickt sein, da nur auf diese Weise die Offensive
der Chivaner auf der ganzen Steppe bis nach Orenburg hin zu
erklarcn ist In Folge dessen sieht sich die russische Regierung
6*
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84 Lorenz, Doutschlands Geschichtsquellcn im Mittelalter etc.
veranlasst, im Anfange des Jahres 1873 dem General von Kauf-
mann eine neue Expedition zur Unterwerfung dieses unruhigen
Chanates aufcutragen.
Damit schliesst der geschichtliche Theil. Das Werk selbst
bietet noch zwei Anhange, deren Inhalt bereits oben ange-
deutet ist.
Berlin. 0. George.
XXIV.
Lorenz, 0., Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter seit
der Mitte des dreizehnten Jahrhunderte. 2. Band. 2. umge-
arbeitete Auflage. gr. 8. (VIII, 359 S.) Berlin 1877. W. Hertz.
7 M. (1. u. 2.: 13 M.)
Hr. Lorenz hat Wort gehalten: der 2. Band seiner Ge-
schichtsquellen ist, wenn auch nicht im Laufe desselben Jahres,
in welchem der erste veroffentlicht wurde, so doch bald Bach
dem Beginn des neuen Jahres (1877) erschienen, und wir konneo
uns freuen, dass nun endlich fiir die letzten Jahrhunderte des
Mittelalters ein Wegweiser durch das so schwer zu durchwandernde
Gebiet unserer Quellen vorliegt. Dass hier noch viele Frageo
zu losen sind und manche Resultate der wiinschenswerthen
Sicherheit entbehren, wird niemand besser wissen als Hr. Lorenz
selbst1), aber das ist gerade sein Verdienst, dass er den Muth
gehabt hat, in diese rudis indigestaque moles einzudringen und
Licht iiber sie zu verbreiten; ja unzweifelhaft hat bereits die
1. Auflage das ihrige dazu beigetragen, die spatere Zeit des
Mittelalters dem Interesse naher zu bringen und weitere For-
schungen, gerade auch iiber die Quellen, hervorzurufen.
Jedoch der Ruhm eines solchen Verdienstes — und es wird
in vieler Augen nicht ganz unbedeutend sein — ist es nicht,
nach dem Hr. Lorenz strebt; sonst hatte er wohl die Vorrede
nicht zu einer formlichen Philippika gegen die mikrologische Art
und Weise werden lassen, in der es bei uns jetzt Mode sei die
Quellen zu behandeln. Hr. Lorenz will im Interesse der nallge-
meineren historischen Bildung der Nation" umfassendere Probleme
behandelt sehen, im Zusammenhange mit welchen die Einzelfragen
der Quellenkritik erspriesslicher behandelt werden konnten.
Im Ernst kann man sich angesichts der wahrhaft ent-
sagenden Thatigkeit unserer Zeit, die zunachst die reichen
Quellenschatze der mittelalterlichen und neuen Zeit dor Forsclrong
zuganglich machen will, mit Hrn. Lorenz auf eine Discussion
dieses Punctes nicht einlassen, zumal es dazu nothwendig, aber
hier zu weitlaufig sein wiirde, die verschiedenen Argumente, die
bei ihm etwas unklar ineinanderlaufen , zu sondern; wenn er
aber unter anderem auch anfiihrt, es sei nicht mehr moglicbt
*) Schon am Scblues des Bandes in den Nachtr&gen konnte Hr. L. da*
selbst anerkennen und gesteht z. B. ofifen ein, dass seine Angaben iiber
Lerbeke unzureichend seien.
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Lorenzj Deutschlauds Gesckichtsquellen im Mittelalter etc. 85
sich auch nur flir ein paar Jahrhunderte auf dem Laufenden zu
crhalten, so mochte es gut sein, insbesondere ihn, der ja jiingst
ein kleines Geplankel mit den Pratensionen der Naturwissenschaft
gehabt hat, auf das ungeheure Material hinzuweisen, das auf
diesen durch Detailforschungen zu Tage gefordert wird : sie haben
sich geholfen, iiidem sie, jede Disciplin fiir sich, zusammenfassende
Jahresberichte publiciren, und ihnen sind auf diesem Wege
andere Wisscnschaften, wie die Mathematik und zuletzt auch die
klassische Philologie gefolgt; auch beruhen auf der Erkenntniss
des Mangels solcher Publicationen auf historischem Gebiete offen-
bar die Uebersichten, welche die Revue historique in jedem Hefte
bringt. Konnen letztere nun auch die angedeutete Liicke nicht
ausfullen, weil sie nicht systematisch'das ganze Gebiet der Geschichte
umfassen, so miissen wir uns doch gestelien, dass bei uns in
Deutschland gar nichts dem Aehnliches existirt, und doch be-
neidet uns das Ausland urn die Bltithe, in der die historischo
Forschung bei uns stent! — Die „allgemeine historische Bildung"
unseres Volkes muss jedenfalls mit grosser Vorsicht getrieben werden.
Den Inhalt des Buches selbst anlangend, so enthalt der vor-
liegende Band, dem bereits im V. Jahrg. S. 13 dieser Zeitschrift
angegebenen veranderten Plane der 2, Auflage zufolge, die Quellen
der norddeutschen Lander, d. h. die §§ 11 — 23 der ersten Auf-
lage; die friiher „Einiges aus italienischen Quellen", „Kaiser-
und Reichsgeschichte" , „Politische Schriftenu iiberschriebenen
drei Paragraphen (33 — 35) bilden jetzt, zu sechs erweitert, eine
eigene (dritte) Abtheilung : „Reichs- u. Kaisergeschichte". Ueberall
sind nicht nur die einzelnen Capitel bis zum Ende des XV. Jahr-
hunderts berabgefuhrt , was zu ganz neuen Abschnitten (§ 5:
Cbronicon magn. belgicum; § 9 und 11 : westfalische und thiiringische
Geschichtsschreiber des XV. Jahrh. ; § 16: Hermann Korner;
§ 19; Die Hochmeisterchroniken u. a.) Anlass gegeben hat, son-
dern es sind auch Abschnitte, welche das XIV. Jahrh. behandeln,
oft sehr vermehrt.
So z. B. sind an Stelle des einen § 14, der die Niederlande
besprach, jetzt drei getreteri (§ 2 — 4); die beiden ersten, „die
Reimchroniken" und die „Chroniken, besonders von Flandern und
Brabant", haben auf Grund von Jonckbloets „Geschichte der
niederland. Litteratur" bedeutende Zusatze erfahren, dem § 4 ist
jetzt das in der 1. Auflage nicht benutzte Buch von Wohlwill,
nAnfange der landstand. Verfassung im Bisth. Liittich" zu Guto
gekommen. § 5 (Erzb. u. Stadt Koln) enthalt zunachst S. 50 f.
einen Zusatz iiber die Quellen der Bischofschronik nach Cardauns
(Stadtechron. XII, S. LXXIII), dem Hr. Lorenz trotz gewichtiger
Zweifel und Bedenken „blindlingsu folgt; nach demselben setzt
Hr. Lorenz auch die Abfassungszeit von Hagens Reimchronik
zwischen 1277 und 1288 (S. 54). Erweitert ist dann noch der
Abschnitt iiber die „Weberschlachtu. — Gegen Ende des XIV.
Jahrh. findet sich in Koln in dem „nuwen boichu eine Art offi-
ciose Geschichtsschreibung, im XV. eine Anzahl Erzahlungen,
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86 Lorenz, Deutschlands G-eschichtsquellen im Mittolalter etc.
die zum Theil Beilagen von Actenstiicken sind, und deutsche
Jahrbiicher, welche fur die Culturgeschichte sehr wichtig sind.
Zusammenhangende Darstellungen der Geschichte Kolns von seinem
Ursprunge an entstanden erst seit 1469.
Fast unverandert ist § 7 (Levold v. Northof), und § 8
(Westfalen) ist nur durch Zusatze iiber die historische Litteratur
des XV. Jahrh. vermehrt. Aus dieser stellt sich die Beschreibung
der Fehde zwischen dem Erzbischof Dietricli von Koln und Soest
(1444—47), vermuthlich von Bartholomaeus von der Lake, den
besten Stadtechroniken zur Seite.
Unbedeutender ist die in Osnabriick ebenfalls erst gegen
Ende des Jahrhunderts verfasste Bischofegeschichte von Ertwin
Erdmann, der mit seiner juristischen Gelehrsamkeit prahlt, aber
doch mit einer gewissen Sorgfalt arbeitete; leider standen ihm
gute Quellen nicht zu Gebote. Wichtiger sind die Chroniken
von Munster im XV. Jahrh., Fortsetzungen der vom Biscbof
Florenz von Wewelinghofen (1364 — 79) ins Leben gerufenen;
auch eine populare niederdeutsche Beschreibung der Bischofe-
geschichte wurde hier von Arnd Bevergern verfasst.
Unter den Autoren, welche in Westfalen die Geschichte weltlicher
Territorien schrieben, ragt fur Mark und Cleve Gert v. d. Schiiren
durch umfassende Bildung, grosse Belesenheit und Sprachkennt-
nisse hervor (urn 1450); er war Geheimschreiber des Herzogs.
Ihm gegeniiber steht im ostlichen Westphalen als Geschichts-
schreiber Schaumburgs ebenso ausgezeichnet Herman v. Lerbecke,
Dominikaner in Minden, iiber den S. 340, wio bemerkt, viel nach-
getragen wird.
Von besonderem Interesse ist es, dass Westfalen die grossen
Universalhistoriker Dietrich von Niem (nicht Nieheim), Gobelinus
Persona und Werner Rolevink angehoren, die bereits in der
1. Auflage kurz erwahnt waren und jetzt den Inhalt von § 9
ausmachen. Sie zeichnen sich durch eine juristische Auffassung
der Ereignisse aus, die Hr. L. auf den praktischen Sinn des
westfalischen Stammes zuriickfiihrt. Hinsichtlich des erstern riigt
es Hr. L. , dass seine kirchliche und politische Richtung nodi
nicht zum Gegenstande eingehender Untersuchungen gemacht
sei; er selbst halt ihn fur einen Anhanger der Unionspartei,
welche die Reformfrage in den Hintergrund treten liess, wahrend
Gobelinus der entgegengesetzten Richtung angehorte. Seine drei
Hauptwerke, „der" (sic) nemus unionis (1407/8), die libri de schismate
und die historia Johannis XXIU. bilden eine wohlverbundene, an
Material erdriickend reiche Zeitgeschichte, die sich mitunter zur
„Anschaulichkeit Sullyscher Memoiren" erheben. Das beste seiner
Werke ist die Vita Johannis XXIU.; die gegen die Echtheit des
Nemus unionis von Schiitz erhobenen Zweifel halt Hr. L. fur un-
bedeutend. Uebrigens involvire letzteres Werk einen Actendieb-
stahl Dietrichs, der als Canzleibeamter zur Veroffentlichung des
mitgetheilten Materials nicht befugt sein konnte.
Gobelinus Person, von biirgerlicher Abkunft , war in
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Lorenz, Deutschlands Gesehichtsquellen im Mittelalter etc. 87
Paderborn 1358 geboren und 6tarb nach 1421. Auch er ging
wie Dietrich von Niem nach Italien, erhielt aber spater wieder
in seiner Heimath eine Pfriinde. Bei den Reformen , die er an-
strebte, fand er bei dem Bischof Wilhelm von Berg einen starken
Riickhali Sein systematisch vorbereitetes und angelegtes Werk,
Cosmodromium , schrieb er zwischen 1390 und 1418; die Dar-
stellang des Costnitzer Concils ist meisterhaft.
Der Karthauser Rolevink, 1425 bei Meschede geboren,
gest. 1502, war durch seinen Fasciculus temporum eine Zeitlang
weltberiihmt. . Er verdrangte Martin von Troppau, wozu der
Umstand beitrug, dass er — durch Speculation des Buchdruckers —
1474 sofort gedruckt wurde. Verdient war sein Ansehen nicht,
vielmehr ist sein Fasciculus eine elende Compilation. Dagegen
ist sein Buch de laudibus Westfaliae (ed. Rump, aus Tross' Nach-
lass, 1865) interessant, besonders durch seine Schilderung von
Land und Leuten im 3. Bucho.
In § 10 (Hessen u. Thuringen) lasst Hr. L. die Autorschaft
Johann Riedesels jur die hessische Chronik, die Wigand Gersten-
berger in Ausziige brachte, dahingestellt; von der Meinung, das
aus dem XIV. Jahrh. angefuhrte Chronicon Hennebergense , das
nicht mehr vorhanden sei, habe vielleicht in die Chronica „altes
Herkommen der Lantgraven zu Thuringen" Aufhahme geftmden,
ist er zuriickgekommen , da das Chron. Henneb. von Heidemann
mit dem Anonymus Vesserensis bei Reich, Beitr. zur Gesch. d.
FrankenL I, 113 als identisch erkannt ist (Privatmittheilang
Heidemanns). Fiir die Reinhardsbrunner Annalen mag unserer-
seits auf die vor Kurzem erschienene Schrift Wencks aufmerksam
gemacht sein, die in dieser Zeitschrift noch eine Besprechung
erfahren wird.
Bei den Erfurter Annalen hatte Hr. L. in der 1. Auflage
Stiibels Dissertation iiber das Chronicum Sanpetrinum (1867)
iibersehen; jetzt ist sie beriicksichtigt, nur hatte S. 101 Anm. 2
die abweichende Meinung Stiibels kurz angegeben werden sollen.
Leider findet sich ein ahnliches, etwas bequemes Verfahren mehr-
fach bei dem Verf., — allerdings auch bei seinem Vorbilde Watten-
bach. — Auch die Annales breves de lantgrav. Thuringiae waren
friiher Iibersehen, die ahnlich wie das in Wien befindliche Chro-
nicon Thuring. Viennense aus dem Bediirfhisse hervorgingen, die
umfangreichen Ann. Reinhartsbrunn. in kiirzerem Auszuge zu
haben.
§ 11 (Thuring. Geschichtsschreiber des XV. Jahrh.) beginnt
mit dem Chronicon Erfordensis civitatis, dessen Autorschaft
dem Theodor. Engelhus entschieden abgesprochen wird. Von
grosserer Bedeutung als dieser sind Johann Rothe von Kreuz-
burg (f ca. 1425), Hartung Kammermeister , Konrad Stolle
(t 1405). Auch die allgemeine Weltgeschichte wurde in Erfurt
bchandelt, seit dort 1479 ein „hoheres Studiumu gegriindet war,
einmal durch Johann von Dorsten (eigentlich Buer, t 1481),
dessen Chronicon imperatorum noch ungedruckt ist, — sodann durch
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88 Lorenz, Deutachlands Gescbichtsquellen im Mittelalter etc.
Nicolaus von Siegen, dessen Werk durch den Titel „Chronic.
ecclesiasticum" nicht genau gekennzeichnet wird, da es aus
einer Universalgeschichte immer mehr in Landesgeschichte
iiborgeht.
In § 12 (Meissen u. Sachsen) ist fur das XIV. Jahrh. nnr
wenig neu; S. 117 Anm. 3 ist Ulmanns Ansicht iiber das Ver-
haltniss der Ann. Veterocellenses, des Chronicon principum Misn,
des Catalog, brev. lantgrav. Thur. und des Chronicon Veterocell.
adoptirt. Fur Zittau wird jetzt bei Johann v. Guben gegen
die friihere Ansicht Carpzovs der urspriinglich private Character
seiner Arbeit scharfer hervorgehoben ; sein Buch wurde spater
durch Rathsbeschluss angekauft und zum amtlichen Jahrbuch
erklart. Joh. v. Guben steht jedoch nicht auf jener Hohe stadti-
scher Geschichtsschreibung , die zum Theil schon am Ende des
XIV. Jahrh. erreicht war. Die amtlich gefuhrte Fortsetzung
seines Werkes wird erst nach 1420 bedeutender. — In Gorlitz
gelangt die stadtische Historiographie, die im XV. Jahrh. Johairo
Bereith von Jiiterbogk (t 1474) und Bernhard Melzer (t 1512) aufo-
weisen hat, erst im XVL Jahrh. zu einer Bliithe. Hoher als die
eben genannten steht die auch fur die Lausitz wichtige Geschichts-
schreibung Martin von Bolkenhains, auf den Freytag in dec
Bildern aus der deutschen Vergangenheit nachdnicklich hinwies:
sonst gehort er nach Schlesien.
Bei dem Abschnitt iiber die Magdeburger Schoppen-
chronik ist nur wenig zu andern gewesen, nur dass jetzt als der
wahrscheinliche Verfasser Heinrich von Lammespringe angegeben
wird, der 1386 Priester und Stadtschreiber war, als Altaristvon
St. Peter aber sehr alt geworden zu sein scheint. Von den
Fortsetzungen ist die, welche die Jahre von 1388 — 97 umfasst,
vielleicht nicht voller Originalbericht. Im XV. Jahrh. waren
wohl ( — 1410) Hinrik van den Ronen, von 1411— 1421 sicher
Engelbert Wusterwitz aus Brandenburg die Fortsetzer der
Schoppenchronik, ersterer „Juriste und Schriver", letzterer (t 1453)
Syndicus von Magdeburg; Wusterwitz hatte wahrscheinlich
auch eine Chronik von Brandenburg geschrieben. Ueber ihn ist
Heidemanns Abhandlung im XVII. Bande der Forschungen z. d. G.
neuerdings hervorzuheben. Auch Halle und Zerbst besassen
im XV. Jahrh. ihre Chronisten: Halle in dem Rathsmeister
Marcus Spickendorf, der seine ungedruckte tagebuchartige Chronik
(1474 — 80) nur zum Hausbuch seiner aristokratischen Familie
bestimmt hat, — Zerbst in dem Biirgermeister Peter Becker,
der seine Schicksale bei der Verwaltung der Stadt in der Zerbsfcer
Chronik memoirenartig niederlegte (um 1450).
§ 13 a (Gedichte, besonders von Thiiringen und Sachsen,
a) lat. Gedichte, b) deutsche) ist nur unwesentlich veranderfc;
iiber Nicolaus von Biberas Carmen satiricum — der richtigere
Titel istPoemata — bleibt Hr. L. Theobald Fischer gegen-
iiber bei seiner fruheren Ansicht, dass hier mehrere fiir sich
bestehende Gedichte vorliegen. Dasselbe gilt von § 13 b: das
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Xorenz, Doutschlands Geschicktsquellon im Mittelalter etc. 89
XV. Jahrh. hat hier nichts von hervorragender Bedeutung auf-
zuweisen.
§ 14 ist nur durch einen kurzen Hinweis auf die Arbeit
Kohlmanns liber die Quellen der Braunschweiger Reimchronik
und durch den Abschnitt iiber das XV. Jahrh. erweitert worden.
Braunschweig liefert hier interessante Aufzeichnungen : Erinne-
rungen und Rechenschaftsberichte zur Unterweisung gegenwartiger
und zukiinftiger Rathsmitglieder, die sog. „heimliche Rechonschaft";
vielleicht von Hermann von Vechelde 1406 vollendet, ist sie ein
Bericht der zur Regierung gelangton demokratischen Partei iiber
ihre Erfolge und ihre Ziele, der spater alle drei Jahre verlesen
werden sollte. Von besonderem Interesse fur Kenntniss okono-
mischer Verhaltnisse ist das Tagebuch (1417 — 26) des Rath-
manns Hans Porner. Noch zn erwarten haben wir in der Aus-
gabe der Stadtechroniken das Papon bok, eine officielle Dar-
stellung eines Streites mit dem Clerus (1493), das „Schicht-
speel", eine Reimchronik iiber den Aufstand von 1488 — 91, und'
das „Schichtboik", das bis 1513 geht.
In Liineburg trug der Rathsschreiber Nicolaus Floreke
(um 1370) historische Notizen in das Stadtbuch ein, eine stadtische
Chronik entstand aber daraus nicht.
Dagegen tritt uns mit dem Beginn des XV. Jahrh. in dem
niedersachsischen Kreise eine wichtige Quelle in Theodorich
Engelhus entgegen; leider liegen iiber ihn neuere Forschungen
nicht vor. Aus Eimbeok gebiirtig, soil er in Wittenberg 1434
gestorben sein. Seine "Weltgeschichte hat das Eigenthumliche,
dass sie anch die byzantinischen Kaiser beriicksichtigt ; beson-
dere merkwiirdig sind in ihr die versus memoriales iiber jeden
Kaiser und Papst, die er bestimmten Schriftstellern , wie Heinr.
Rossia und Dietr. Lange, zuschreibt. Fur seine eigene Zeit
hatte Engelhus kein sonderliches Interesse und ist deshalb
fiir sie nicht original. Fortgesetzt ist er durch Matthias
Doring, Prof, in Erfurt und Pfarrer in Kiritz (1420 — 64); sonst
existirte von ihm noch eine Genealogie der braunschweigischcn
Herzoge und Lebensbeschreibungen der Kaiser, in denen locale
Sympathien stark hervortreten. Vermuthlich riihrt von ihm auch
die Chronik der Bischofe von Hildesheim und Erfurt her. — Unter
den popularen Darstellungen der braunschweigischcn Landes-
geschichte ist die sogenannte gemalte Sachsenchronik des Conrad
Botho zu nennen, unter den stadtischen Aufzeichnungen die
schatzenswerthe Darstellung des Pralatenkrieges in Liineburg
von Heinrich Lange.
Oldenburg fand seinen Geschichtsschreiber in Joh.
Schiphower (geb. 1463), mit dem aber eine neue Litteraturepoche
beginn t.
Dem folgenden (15.) Capitel iiber die Hansestadte sind be-
sonders Koppmanns Arbeiten (Recension der 1. Aufl. der G.-Q. im
Hamb. Correspond., Sept. u. Oct. 1870, und in den Hansischen
Geschichtsblattern) zu Gute gekommen, dem Hr. L. auch da
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90 Lorenz, Doutschlands Geschichtsquollen im Mittelaltor etc.
folgt, wo er erklart, ihn nicht ganz verstehon zu kounen
(s. S. 156 Anm. 1); dennoch Weibt er Koppmann gegeniiber
dabei , in Detmar eine Fundgrube fur die liibeckische Historio-
graphie des XIV. Jahrh. zu sehen. Definitive Resultate sind fiir
die liibecker Geschichtsschreibung erst durch Mantels' Ausgabe
der lubischen Chroniken zu erwarten.
Auch bei Korner § 16 ist Hr. L. sehr zuriickhaltend mit
seinem Urtheil: er will nur iibor den Stand der Forschung
referiren. Obwohl er aber Waitz' Untersuchungen vollste Aner-
kennung zu Theil werden lasst, weicht er von ihm doch darin
ab, dass er niclit nur die beiden lateinischen Bearbeitungen von
1416 und 1435 von Korner herriihren lasst, sondern auch die
deutsche Chronik, in der sich K. selbst als Uebersetzer seiner
Chronica novella bezeichnet. Trotz der Massenhaftigkeit seiner
Vorlagen hat K. als Quelle keinen Werth, wie schon Lappenberg
nachwies, sein Verdienst besteht darin, dass er em populares
deutsches Geschichtsbuch abfasste, das dem Geschmack und der
Gesinnung der Zeit mit Geschick entgegen kam. Von diesem Ge-
sichtspuncte aus hatte Hr. L. vielleicht Koppmanns Ansichten
mehr wurdigen kounen, der vier verschiodene deutsche Redactionen
und ebenso viel lateinische annimmt. Wenn Korner acht Auflagen1)
zu' veranstalten Gelegenheit hatte, wiirde er allerdings wohl der
gelesenste Autor des Mittelalters gowesen seiu; dass er aber
den deutschen Ausgaben lateinische folgen liess, kann urn so
weniger auffallen, als man es noch im XVII. Jahrh. gut fend,
deutsche Sachen, selbst Zeitungen, ins Lateinische zu ubersetzen,
fur einen Leserkreis, dem Biicher eben nur in lateinischem
Gewande schmackhaft waren. Hat doch noch im vorigen
Jahrhundert — die ganz verschiedene Art des Buches thut
nichts zur Sache — Basedow sein bekanntes Elementarwerk auch
in lateinischer Ausgabe erscheinen lassen.
In § 17, der die Historiographie der iibrigen Hansestadte
ausser Hamburg, Bremen und Liibeck behandelt*) und das
Vorherrschen localer und territorialer Gesichtspuncte hervorhebt,
ist nach Weilands neuer Ausgabe in den Monn. zuerst der Ab-
schnitt uber den Presbyter Bremensis umgearbeitet ; zu gleicher
Zeit mit dessen Chronik entstand, wohl von einem Weltlicben
herriihrend, die Chronik der nortelvischen Sassen, deren Compo-
sition etwas rathselhaft ist. Sodann ist Wis mar, namentfich
auf Grund des Mecklenb. U.-B. auch fur das XHI. und XIV. Jahrh.
beriicksichtigt. Fiir Rostock waren die Angaben iiber die
*) Weiter unten werden wir zu orwahnen haben, dass Bernard Guidoois
9 Ausgaben seiner Flores temporum veranstaltet hat.
a) Hier mag einmal auf einen' stilistischen Mangel aufmerksam gemacht
sein: die im (Hanse-)Bunde vereinten Stadte . . . bildon eino iDnig vjt-
kniipfte Gruppe von „Geschichtsquellonu (S. 172). — Eino Ungenauig-
keit, die an die „Reitende Artilloriekaserno'4 Friedrichs d. Gr. erinnert, mo-
niren wir unten bei § 17 ; das „Kaiser Sigismundsbuch" S. 275 gehdrt deraelbei
Gattung von Fohlern an. Uebrigens wissen wir wohl, dass man solche Punete
ubersieht, wenn man nur die Sachen im Auge hat, und in diesem Sinne
mogen diese Bemerkungen aufgefasst sein.
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Lorenz, Doutschlands Geschichtsquellen im Mittolaltor etc. 91
Rostocker plattdeutschen Chroniken S. 170 schon in den Nach-
tragen der 1. Auflage berichtigt. Wenn Hr. L. hier bedauert,
ernes Rostocker Programmes nicht habbaft geworden zu sein,
welches die Frage nach dem Verhaltniss der Rostocker Cbronik
zu Kirchberg gelost hatte, so mag hier bemerkt sein, dass auch
die osterreichischen Lehranstalten an dem im Deutschen Reiche
iiblichen Programmentausch theilnehmen1), Hr. L. es sich also
in Wien vermuthlich hatte beschaffen konnen, iibrigens aber die
Directoren unsererSchulen ein directesGesuchum Verabfolgungeines
Exemplars gern zu erfullen pflegen. — Eine bedeutende Urn-
arbeitung nach Thorns und Schirrmachers Untersuchungen (in
deu Beitr. zur Geschichto Mecklenb. II) musste der Abschnitt
uber Ernst yon Kirchberg erfahren. Das Rathsel, warum er
hochdeutsch schrieb, lost sich dahin, dass er ein Thiiringer von
Adel war: indem er „sich auf den bedenklichen Boden des
fahrenden Handwerks begab, verliess er seine Heimath aus dem-
selben Grunde, aus welchem etwa heutzutage ein Professor seine
Tochter ihre Laufbahn als Sangerin lieber in einer benachbarten
Residenz als vor dem Studentenpublicum der Universitat beginnen
liesse". — Auch liber den Marschalk Thurius und sein Chronicon
rhythmicum, den Hr. L. in der 1. Auflage als Verfasser des
Chron. noch nicht kannte , wird jetzt nach Muffelinanns Disser-
tation Genaueres gegeben. Desgleichen hat die mecklenburgische
Klosterlitteratur und die pommersche Geschichtsschreibung Wiir-
digung gefunden : in Stettin und Stralsund tritt eine solche aller-
dings erst im XV. Jahrh. hervor, Bugenhagen und Krantzow
sind aber nach Hrn. Lorenz fur die gesammte alte pommersche
Chronistik noch nicht genugend ausgenutzt.
Fiir Danzig haben die seit dem Erscheinen des 1. Bandes
veroffentlichten Chroniken (Scr. rer. pruss. IV) fur das XV.
Jahrh. nichts ergeben: die Geschichte der Stadt vor 1410 ist
nur von einem einzigen Chronisten, Heinrich Caper (Ordens-
bruder, f 1457) beriihrt; die ubrigen stellten nur Selbsterlebtes
dar und lebten nicht vor der Mitte des XV. Jahrh. Der be-
deutendste ist Caspar Weinreich (aus einer danziger Rheder-
familie), der die Zeit von 1461—96 umfasst, aber nur fur die
Jahre 1480—89 selbstandig ist.
Danzigs Historiographie bildet den Uebergang zu der gross-
artigen „preussischen und deutschen Ordenslitteratur" (sicl S. 187),
die in den §§ 18 und 19 behandelt ist.
§ 18 hat nur geringe Veranderungen zu erfahren gebraucht;
fiber die Fortsetzung des Dusburg durch Conrad Bitschin im
XV. Jahrh. und, nach Zeissbergs und Perlbachs Arbeiten, iiber
die Olivaer Chronik; einen kleinen Ausfall gegen die Monumenta,
J) don jetzt die Teubnersche Buchhandlung vormittelt. Indem sio vorher
dn Verzeichnks veraendet iibor dio Abhandlungen, dio in den Programmen
erscheinen werden, ist dio Orientirung sehr erleichtert; etwaigo Voriinderungen
*wden in den zweimonatliehen „Mitthoilnngen4t dor Teubnerschen Officin
nwtgetheilt Wir machen hieranf aufmerksam, weil Hr. Lorenz aach an
andern Stellon bedauert, Programmabhandlungon nicht erhalton zu haben.
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92 Lorena, Deutscblands Geschichtsquollea im Mittelalter etc.
d. h. in diesem Falle gegen W. Arndt, don Hr. L. auch an an-
dern Stellen mit wenig Sympathie behandelt, rechnet man nicht.
Ueber die Darstellung der Geschichte des deutscben Ordens
im XV. Jahrb. (§ 19), die im engen Anschluss an die Ausgaben
in den Scr. rer. pruss. besprocben wird, ist zu bemerken, dass
sie sich in sofern andert, als die Ordensgeschicbte sich zu einer
Geschicbte der Hocbmeister im Sinne von Landesherren
umgestaltet. Hervorzuheben ist, dass die beiden sogenannten
Hochmeistercbroniken nur an einem Puncte sacblicbes Interesse
gewahren, wo uns durcb einen seltenen Zufall seitens der beiden
streitenden Parteien ausfiihrlicbe Darstellungen vorliegen: bei
dem Zerwiirfni88 der Stadte mit dem Orden, der 1466 zu dem
fur letztereu so demiitbigenden Frieden von Thorn fiibrte. Neben
der ersten Fortsetzung der alteren Hochmeisterchronik und Peter
Brambeck sind hier insbesondere wichtig die „Geschichten von
wegen ernes Bundes von Landen und Steten wider den Orden
u. L. F.u, die sich durch ausserordentliche Treue auszeichnen, und
die historia de ordine Theutonicorum des Laurentius Blumenao,
der Hofjurist der beiden Hocbmeister Conrad und Ludwig von Erlicb-
hausen war und als Diplomat an den Streitigkeiten thiitigen
Antheil nahm, bis er 1456 den Orden gezwungen verlassen
musste (t 1484).
Fiir § 20 (livlandische Quellen) lagen an neueren Forschungen
zunachst Leo Meyers Arbeiten uber die livlandische Iteimchronik
vor, nach denen es unmoglich ist, dass Dietleip Alnpeke der
Verfassor ist, da die auf ilm hinweisende Unterschrift der Berg-
mannschen Hds. gefalscht ist; aber ebenso wenig wird Bruder
Wicbolt Dosel, der in den letzten Versen genannt ist, aJs Ver-
fasser anzunehmen sein. — Sodann wurden hier von grosser
Wichtigkeit Hohlbaums Untersuchungen, der in der Prosachronik
des von Kohl in Bremen aufgefuudenen Renner die Prosa-
umschreibung einer jiingeren Reimchronik nachwies: nach Renners
cigenen Angaben war der Autor Bartholomaeus Hoeneke oder
Hennike von Osnabriick.
§ 21 (Schlesien u. Polen) wollte Hr. L., wie er in derEin-
leitung S. 221 angiebt, mit Rucksicbt auf Zeissbergs Arbeitei
(Schriften der Jablonowskyschen Gs. XVIU) eher k u r z e n als
vermehren, er ist aber fiir das XIV. Jahrh. so gut wie ganz
unverandert geblieben. Das XV. Jahrh. weist fur Schlesien einen
Aufschwung der Historiographie auf: iu Breslau find en wir ein
Seitenstiick zu den Chroniken der „Reichs"stadte in den Anf-
zeichnungen des Domherrn Sigismund Rositz und in Peter
Eschenloers (f 1481) Geschichte der Stadt Breslau. Hinsichtlich
des letzteren ist Hr. L. aber in einigen Puncten mit dem neusten
Herausgeber, Markgraf (Scr. rer. Siles. VII), nicht einverstanden. —
Einen Boden, der ihm doch etwas heimischer ist als das
der Donau so feme Norddeutschland, in dem das Reich vollends
ohnmachtig war, betritt Hr. Lorenz wieder im 3. Abschnitt : Reich*-
und Kaisergeschichte, der seine eigene Paragraphenzahlung tat
Hier sind die beiden ersten Paragraphen und die erste
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Lorenz, Deutschlands Geschichtsquelien im Mittolaltor etc. 93
Halfte des dritten mit einigen Zusatzen und in anderer Anord-
nung den alten §§ 33 und 34 gleich: was es sagen will, wenn
Hr. L. S. 52? erklart, er habe den Abschnitt iiber die streng
locale italienische Geschichtsschreibung fallen lassen, ist nicht
recht verstandlich, denn es fehlt im Grunde nur der kurze Ab-
schnitt iiber das Memoriale Potestatum Regiensium des Salimbene
und iiber die letzteren fortsetzenden oder kiirzenden Schrift-
steller1), d. h. kaum eine halbe Seite. — Der Abschnitt iiber
Salimbene ist nun nach Dove umgearbeitet , dem Hr. L. dafiir,
dass er ihn formlich „verfehmt" habe, ein so liebenswiirdiges
Compliment macht, wie man es sich nur wiinschen kann. Er
bleibt jedoch dabei, beim „Durchblattern des weitlaufigen Werkes",
das ihm „manche Abendstunde angenehmster Unterhaltung ein-
gebracht habe", den richtigen Totaleindruck empfangen zu haben :
mindestens seit 1245 miissten ibm tagebuchartige Notizen zu
Grunde liegen. Sonst haben die beiden ersten Paragraphen noch
Heine Zusatze erhalten iiber den Wormser Magister Emicho nacb
Falk ^S. 243) und iiber Giovanni di Lelmo und Wilhelmus
Ventura (S. 256) nach D. Konig; verandert sind die Stellen iiber
Bernardus Guidonis und Ptolomaus v. Lucca, ebenfalls nach
Konig, ohne dass jedoch iiber die Resultate des letzteren, denen
L. grosses Lob spendet, geniigende Mittheilung gemacht wiirde.
Dazu moge bemerkt sein, dass es doch zweifelhaft sein muss,
ob Konig, der nur mit den Bruchstiicken des Bernardus operirt,
welche die Franzosen in den Script, rer. Gallic. XXII veroffent-
licht haben, Recht behalten wird. Seine nouerdings iiber Ptolo-
maus veroffentlichte kleine Schrift (Stader Programm 1878)
enthalt nichts Neues, von Interesse aber sind die Mittheiluugen,
die bereits im vorigen Jahre der verdienstvolle Oberbibliothekar
der Pariser Nationalbibliothek , Delisle, in der Academie des
Inscr. et B. L. gemacht hat. Danach hatte Bernard in den
Jahren von 1315 — 31 nicht weniger als neun Auflagen veranstaltet,
von denen vielleicht einige Autographa in Paris noch vorhanden
sind (s. Revue critique 1877, II, 489). Uebrigens ist zu Ptolo-
maus v. Lucca meiner Anzeige von Kriigers Schrift in diesen
Mitth. Ill, 180 ff., die Ehre zu Theil geworden, von Hrn. Lorenz
beachtet zu werden : ich hatte die Arbeit sehr angeruhmt. Will
Hr. L. sich die Miihe geben und noch einmal nachlesen, so wird
er sehen, dass ich vielmehr Plan und Idee der Arbeit mit
Freuden begriisst habe. Freilich ist Kriiger den zweiten, d. h.
den Haupttheil, noch schuldig geblieben, fur den seine Disser-
tation nur als Vorlaufer dienen sollte. Bemerkt mag sein, dass
auch Konig die von mir a. a. 0. S. 183 erhobenen und von Hrn. L.
nicht iibersehenen Bedenken nicht beseitigt hat ; dagegen bin ich
jetzt nach nochmaliger Priifung der Frage zu der Ansicht ge-
kommen, dass Kriigers Hauptresultat , die Papstleben der Pata-
vinischen Hdss. der Hist. eccl. stammten aus einer zweiten Re-
J) S. 248 Anm. 1, die sich auf diese Schriftsteller bezog, ist trotz deg
AasfaUg des Toxtes stehen geblieben. t
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94 Lorenz, Deutschlands Gresehichtsquellon im Mittolalter etc.
cension der Annalen, erheblichen Bedenken unterliegt. — Selbst-
verstandlich ist in eben diesem § 2 der Abschnitt iiber Dino
Compagni umgearbeitet ; zu S. 250 Anm. 1 wollen wir nach-
tragen, dass Bonainis Acta Heinr. VII. jetzt endlich der Oeffent-
lichkeit iibergeben sind, nachdem sie, seit dem Tode des Ver-
fassers, Jahre lang bereits gedruckt in Pisa gelegen haben. —
Die letzten Abschnitte des alten § 34 haben jetzt die eigen-
thiimliche Ueberschrift „Anhang zur Wiederherstellung des
Reichs" erhalten, weisen aber auch kleine Zusatze iiber einen
Spruch des Bmder Werner, Friedrich v. Sonnenburg und Walther
v. Klingen auf. Wir wollen hier erwahnen, dass friiher Wilmanns
die Absicht hatte, die politische Spruchpoesie des XUI. Jahrh.
zu sammeln und zu ediren (s. dessen Reorganis. des Kurt-Coll.,
Vorrede, und diese Mittheil. Ill, 129): hoffen wir, dass er seinen
Plan nicht aufgegeben hat
In § 3 fallt als Novum zunachst auf, dass Hr. L. es fur
Unsinn aus romantischer Schule erklart, wenn von einem
600jahrigen Verfallo des deutschen Reichs gesprochen werde.
Diirften wir vielleicht dem Hrn. Verf. seine Geschichte des XIII
und XIV. Jahrh. entgegen halten, deren Fortsetzung er leider
aufgegeben zu haben scheint? Voiles Recht hat er aber, wenn
er einmal auf die trefflichen Lehrbiicher Putters hinweist: aber
die ganze reiche historische Litteratur, welche im XVIL und
namentlich im vorigen Jahrh. von den Reichspublicisten ausging,
wird heut ignorirt1).
Sonst besteht § 3 aus einigen Abschnitten des Mheren
§ 34, die erweitert sind durch Bemerkungen iiber Petrarca und
Cola di Rienzi, Johann v. Neumarkt, Kanzler Carls IV. und die
Entrevue de Charles IV., empereur . . et de Charles V., Roy de
France. Von S. 270 ab wird das XV. Jahrh. behandelt, fur welches
die seit Sigismund erhaltenen Registraturbiicher und Sigismunds
Historiograph Eberhard Windek am wichtigsten sind. Ueber
letzteren sind noch vielfache Rathsel zu losen; hoffentlich wird
dies geschehen anlasslich der Preisaufgabe, welche die Gottinger
Ges. d. W. im vorigen Jahre iiber Windek ausgeschrieben hat
(S. Nachr. v. der Georgia-Augusta 1877, N. 6. 7.) Dass Sigismund
selbst auf die Abfassung des Buches mittelbar oder unmittelbar
hingewirkt habe, stellt Hr. L. entschieden in Abrede, ebenso
bestreitet er Droysens Ansicht, die in Wien vorhandene excer-
pirte Handschrift sei eine altere Recension.
Als Grundlage fur die Beurtheilung des Buches sieht Hr. L.
noch immer die jetzt in Gotha befindliche, von Ulrich Aicber
1461 gefertigte Abschrift an; eine „wirklich ungeheuerliche
Gestart" aber kann er dem Werke mit Droysen nicht zugestehent
vielmehr liege in dem Mangel der Composition gerade das
Charakteristische derChroniken des XV. Jahrh., wie es auch beiEben-
*) Droysen in seinem Seminar schoint auf ihre Bedeutung hingewieson
zu haben, wenigstens verdankt doch wohl ihra eine Dissertation ihre Ent-
stehung, die diesen Punct beriihrt : F. U. Lange : de imperii historiis inde a
saec. XVIII initio usque ad Pntternm conscriptis. Borlin 1868.
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Lorenz, Deutscklands Geschichtsquellen im Mittelalter etc. 95
dorffer hervortreto. Es sei ein grosses Sammelwerk und Bilder-
buch: „Urkundenabschriften , Zeitungsblatter, Pamphlete , Zeit-
gedichte — d. h. der ganze Hausrath eines erfahrenen, aufmerk-
samen reisenden Agenten, der sich zur Ruhe gesetzt hat,
liegt hier, in ungeschicktester Weise redigirt und mit Lebens-
erinnerungen bei schlechtem Gedachtniss vermischt, voru. Fur
die Geschichte des Zeitungswesens im XV. Jahrh. sei Windek
offenbar die hervorragendste Quelle, seine eigene Schriftstellerei
aber sei derart, dass man nicht einmal mit einiger Sicherheit
seine politische Gesinnung erkennen konne: Bezolds Urtheil, er
sei entschieden kaiserlicb und anticlerical gewesen, sei einstweilen
nicht geniigend zu belegen. Der ganze Charakter des „Mainzer
Borsenspeculanten", der bei dem Pressburger Handel durch eine
rSchwindelei" mit der Polizei in Conflict gerathen sein werde,
lasse gunstige Vermuthungen in keiner Weise zu. — Die Haupt-
arbeit des Werkcs habe der in der Vorrede genannte Heinrich
von Niirnberg gehabt; der „Reiche habe dem Armen wie so oft
sein Verdienst entzogen" : nach Heinrich von Niirnberg ware das
Buch besser zu benennen. In manchen Puncten wiirde man
hiernach Windek mit Londorp vergleichen konnen: wenn Hr. L.
aus „einem gewissen plastischen Geprage" der Capiteliiberschriften
auf ein ursprungliches „Bilderbuch" schliessen will, scheint uns
das sehr gewagt: es wiirden sich dann wohl Hdss. finden, die
Raum fur die Bilder des Originals liessen, wie das bei Hdss.,
deren Original mit Bildern ausgestattet war, vorkommt.
Charakteristisch fiir die Historiograph ie des XV. Jahrh.
iiberhaupt ist die Thatsache, dass die erzahlenden Quellen iiber
die grossen Instrumenta publica (um diesen Ausdruck der deutschen
Publicistik des XVH. und XVIII. Jahrh. zu gebrauchen), welche
jene Zeit hervorbrachte, vollstandig schweigen. — Hinsichtlich der
Reformatio Sigismundi ist Hr. L. durchaus mit W. Bohm iiber
die Autorschaft Fr. Reysers einverstanden.
§ 4 behandelt die Quellen zur Geschichte Friedrichs III.,
fiir welche die rein erzahlenden Quellen fast gauz verstummen;
die anderen, wie z. B. die eigenen Aufceichnungen des Kaisers,
die Ordinatio ingressus Friderici III. , Enenkels Beschreibung
der Kaiserkronung, die des Johannes von Ferrara von dem
Romerzuge u. a., sind, wenn auch beachtet, doch noch nicht ge-
niigend behandelt und gewiirdigt worden.
Hinsichtlich Enenkels vermuthet Hr. L. , es liege uns sein
officieller Bericht an die Landstande vor. — Eingehender hat man
sich mit Aeneas Sylvius beschiiftigt, iiber dessen Behandlung an
dieser Stelle der Geschichtsquellen Hr. L. sich nicht zu entschuldigen
brauchte1). Hier haben Bayers neuere Untersuchungen (1872) die
J) Man muss sich vielmehr wundern, dass nur die Historia Fr. III. er-
wahnt ist. Hr. Lorenz, der die eigentliche Aufgabe des Historikors hervor-
^pheben nicht mtide wird, wird doch die Bedeutung dor Schrift de ritu
situ etc. Germaniao *als eine Quelle von grosser Bedeutung fiir das XV. Jahrh.
ebenso anerkennen, wie er es bei Rolevinks dc laudibus Westfaliae ge-
t^an (g. o. S. 87).
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96 Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter etc.
Voigts fast durchweg bestatigt, und es muss als sicher angesehen
werden, dass die Geschichte Friedrichs III. des Aeneas „Denk-
wiirdigkeiten" vor seiner papstlichen Periode sind. Beziiglich
der Quellen derjenigen Partien, die Aen. nicht selbst miterlebte,
vermuthet Hr. L., er habe Correspondenzen benutzt, die er nach-
traglich in der kaiserlichen Kanzlei vorgefunden babe. — Johann
Hinderbacbs Fortsetzung der Geschichte Friedrichs HI ist ein
klaglicher Versuch einer Art amtlicher Reichsannalistik, der nach
dem Tode Hinderbachs wieder einschlief.
In § 5 (Politische Schriften aus der Zeit des staatskirch-
lichen (sic) Kampfes) sind vorzugsweise Riezlers Forschungen
verwerthet, die wir hier als bekannt voraussetzen durfen; in
einzelnen Puncten weicht Hr. L. jedoch von ihm ab. So in der
Annahme, Dantes Monarchia sei zur Zeit des Romerzuges Hein-
richs VII. entstanden : er nimmt mit Witte jetzt an, dass sie vor
Ostern 1300 schon bekannt war. Auch bei dem Defensor Pads findet
er die Einheit der Composition nicht so gross als Riezler meint,
der hieraus die Mitwirkung. Johannes v. Jandun sehr redu-
ciren wollte : ebenso halt er die Zweifel Riezlers an der Echtheit
des dem Marsilius zugeschriebenen tract, de jurisd. imper. in
causis matrimonialibus fur nicht hinlanglich begriindet, obwohl
er natiirlich nicht von Marsilius sein konne ; endlich will er nicht
alien Ausfiibrungen Riezlers iiber Occam beipflichten, insbesondere
nicht der Ansicht, dass er erst 1349 gestorben sei: wie es dann
zu erklaren sei, dass der tractatus de electione Caroli IV. von
Occam sei, der den Tod Ludwigs (1347, Oct. 11) erwahnt,
wahrend Occam angeblich am 10. April gestorben ist, lasst Hr. L
in suspenso.
Von hohem Interesse ist endlich der neu hinzugekommene
§ 6: politische Schriften zur Zeit der kirchlichen Reform-
bestrebungen, in dem auch die Hauptschriften aus fremden Litte-
raturen besprochen werden: wie die Heinrichs von Langenstein
(Professor in Paris), Gersons, Zabarellas, neben denen Konrads
von Gelnhausen, Matthias* von Krakow (dies war sein Familien-
name), Nicolaus' v. Cues, Gregor v. Heimburgs u. a. In dem
Umfange, in dem es Hr. L. thut, ware es freilich vielleicht nicht
nothig gewesen, aber wir nehmen die Uebersicht iiber die Ten-
denzen der gesammten damaligen Welt immerhin mit Dank an.
Etwas scharfer fur unser besseres Verstandniss hatten vielleicht
die rein politischen Anschauungen der genannten Autoren von
ihren kirchenpolitischen geschieden werden konnen, die damaJs freilich
in einauder liefen; aber trotz einzelner tiich tiger Schriften fehlt
es hier doch noch an gemigenden Vorarbeiten. Manche Liicke hat
Hr. L. wie in anderen Abschnitten , so auch gerade in diesem
Paragraphen bezeichnet, mag denn hier die Forschung riistig
oinsetzen, um den wahrhaften embarras de richesses zu be-
waltigen, der in der That hier vorliegt.
Berlin. Edm. Meyer.
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XXV.
Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen. Unter Mitwirkung
von A. Bruckner, Felix Dahn, Joh. Diimichen, Bernh. Erd-
mannsdorffer, Theod. Flathe, Ludw. Geiger, R. Gosche, Gust.
Hertzberg, Ferd. Justi, Friedr. Kapp, B. Kugler, S. Lefmann,
M. Philippson, Eberh. Schrader, B. Stade, A. Stern, Otto
Waltz, Ed. Winkelmann herausgegeben von WilbelmOncken.
1. Abth. g. 8. (80 u. 80 S.) Berlin 1878. G. Grotesche Ver-
lagshandlung. 3 M.
Unter der Leitung von W. Oncken bat sich eine Anzahl der
nambafbesten Historiker Deutschlands zur Herausgabe einer all-
gemeinen Geschicbte in Einzeldarstellungen in popularer Form
vereinigt. In dem diesem grossen Unternehmen vorau9gescbickten
Prospecte heisst es : „Unser Werk ist in Deutschland das erste,
das es unternimmt, die Geschicbte der Welt in Einzeldarstellungen
zu bebandeln. Die Culturvolker des Altertbums, des Mittelalters
und der Neuzeit sollen in den Hauptepochen ihres geschichtlichen
Lebens der gebildeten Leserwelt unserer Nation vorgefubrt
werden. Nach jabrelanger Vorbereitung ist es gelungen, einen
Verein von Gelebrten zu gewinnen, welche die Fahigkeit bewahrt
haben, die Ergebnisse eigener aus den Quellen gescbopfter
Forschung in allgefiaein fesselnder und lebendig anregender Weise
darzustellen. Nur durch einen Verein zusammenwirkender Fach-
manner ist es moglicb, jedes Sondergebiet der Allgemeinen Ge-
schichte mit der eingehenden Sachkunde, welche die heutige
Wissenschaft verlangt, zu behandeln und in der unabsehbaren
Fiille, insbesondere der urkundlichen Ermittelungen, das Sichere
vom Unsicheren zu scheiden." Es wird dann auf den nationalen
Charakter und die nationale Bedeutung des Werkes hingewiesen
und die Nation aufgefordert, dasselbe zu unterstiitzen. Aus der
folgenden Inhaltsubersicht ersehen wir, dass von den 4 Abthei-
ldDgen, in welche auch hier die gesammte Weltgeschicbte getheilt
ist, die erste die Geschichte des Alterthums in 6, die zweite
die Geschichte des Mittelalters in 7, die dritte die Geschichte
der neueren Zeit in 8, die vierte die neueste Zeit, hier vom
Revolutionszeitalter an gerechnet, in 6 Einzelwerken behandelt
enthalten werden. Das Ganze soil c. 40 Bande umfassen, die-
selben sollen im Laufe der nachsten 6 — 7 Jahre in c. 100 Ab-
theilungen zum Preise von je 3 Mark erscheinen. Alle sollen
begleitet werden von einer nach wissenschaftlichen Grundsatzen
angelegten culturhistorischen Illustration. Ueber diese wird be-
merkt : „Dieselbe wird eine grosse Zahl von sorgsamst mit strenger
historiscner Treue ausgefiihrten Holzschnitten bringen. Nacb-
bildungen von Architecturen und Sculpturen, Portraits, Facsimiles,
Siegel, Miinzen, Waffen, Riistungen, Werkzeuge, Costume, Monu-
mente, Bauwerke und Grundrisse von solchen, Nachbildungen
alter Handschriften und Drucke, Plane und Karten von Stadten,
Landern und Schlachten, die Einrichtung des Hauses aller Zeiten,
kurz, historische und kunsthistorische Objecte sollen so in der
Mlttheilungen a. d. hUtor. Lltt«ratur. V1L 7
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98 AHgemeine Geschichte in Einzeldarstcllungen I.
Illustration vertreten sein, class sie den Zweck des darstellenden
Wortes, dem Leser ein hochst anschauliches, charakteristisches
Bild auch von den Culturzustanden aller Epochen, von hervor-
ragenden Personlichkeiten u. s. w. zu entwerfen, mit bestem Er-
folge unter8tiitzt.u
So der Prospect. Die vorliegende erste Abtheilung soil
gleichsam als Probe dienen, sie soil zeigen, in wie weit das dort
Zugesagte wirklich ausgefiihrt wird, daher bringt sie ausnahms-
weise gleichzeitig die Anfange von zwei Werken, von der Geschichte
des alten Aegyptens von Dr. Joh. Diimichen und der Geschichte
des alten Persiens von Dr. Ferd. Justi.
Was die erste Arbeit anbetrifft, so muss zugestanden werden,
dass sie diejenigen beiden Vorziige besitzt, welche fur das ganze
Werk in Anspruch genommen werden. Sie beruht auf einem
umfassenden Quellenstudium, gepaart mit einer genauen Kennt-
niss des Landes und seiner Denkmaler, ferner ist die Darstellung
lebendig und, abgesehen von einigen stylistischen Eigenheiten,
welche nicht Jedermann zusagen werden, ansprechend und ge-
fallig. Aber sie leidet an einem, wie uns diinkt, sehr erheblichen
Fehler, an einer iibergrossen Breite und Weitlaufigkeit. Der
vorliegende Theil, 80 Seiten, enthalt nur den Anfang der Ein-
leitung, diese wird, wenn sie in derselben Weise fortgesetzt wird,
gewiss noch 2 voile Abtheilungen in Anspruch nehmen, dann erst
wird die eigentliche Geschichte anfangen, es lasst sich erwarten,
dass das ganze Werk einen ahnlichen Umfang haben wird, wie
Brugsch's Geschichte Aegyptens unter den Pharaonen. Ent-
spricht aber eine so voluminose Arbeit dem Zwecke dieses Unter-
nehmens? Dasselbe soil nicht nur den Fachgenossen dieneo,
im Gegentheil, es wendet sich an die Nation und nimmt deren
Unterstiitzung in Anspruch, d. h. es ist vorzugsweise fur gebildete
Laien bestimmt, wiinscht von diesen gekauft und gelesen zu
werden. Von solchen aber ist nicht zu verlangen, dass sie
sich durch ein so dickes Buch durcharbeiten und dass sie aus
der unendlichen Fiille des hier Gebotenen sich selbst erst das
fur sie Brauchbare aussuchen sollen.
Ein erstes recht hiibsches Capitel behandelt das Volk der
alten Aegypter, ihr Land und den Nil, als den Erzeuger desselben
und seines Culturlebens. Der Verf. fuhrt zunachst die Yorstel-
lungen an, welche die alten Aegypter selbst von dem Ursprunge
des Stromes gehabt haben, sodann die Kunde, welche sich in
dem spateren Alterthum dariiber entwickelt hat, er zeigt, daw
die Angaben des Ptolemaeos der Wirklichkeit schon sehr nahe
kommen. Er schildert dann, z. Th. eine Darstellung Schwein-
fdrt's wiederholend, den Lauf des Nil und die Beschaffenheit seines
Thales, er weist endlich auf den Einfluss hin, welchen das Land
und namentlich der Nil selbst auf die friihe und reiche Ent-
wickelung der Cultur der Aegypter ausgeiibt hat. Das zweite
Capitel, von welchem hier erst der Anfang erschienen ist, fuhrt
die Ueberschrift : Die alte geographische Eintheilung des Landes.
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Allgemeine Geschichte in Einzeldarstelltmgen I. 99
Dasselbe enthalt allerdings eine Fiille von Angaben, welche fiir
den, der sich ganz speciell fur die agyptische Geschichte inter-
essirt, sehr interessant und lehrreich sein werden, in diesem Zu-
sammenhange aber, in einem popular sein sollenden Werke,
erscheint uns eine so breite und ausfuhrliche , noch dazu mit
allerhand Digressionen beschwerte topographische Beschreibung
sehr verfehlt. Der Verf. befcpricht zunachst die Hauptquellen
fiir die alte Geographie von Aegypten, die geographischen In-
schriften, welche sich an den nnteren Theilen der Mauern zahl-
reicher agyptischer Tempel finden, und welche uns nicht nur die
einzelnen Gaue, in welche das Land getheilt war, sondern auch
die Hauptstadte, Hauptheiligthiimer, Canale u. s. w. derselben
yorfiihren, und er beginnt dann eine Schilderung dieser einzelnen
Gaue, deren Zahl von 35 bis 47 wechselt. Auf das speciellste
werden innerhalb derselben alle einst und jetzt vorhandenen
wichtigeren Ortschaften und ihre Denkmaler besprochen. Die
Schilderung beginnt mit dem Suden, mit Oberagypten. In dem
ersten, dem nubischen Gaue, Ta-Chont, bieten namentlich die
Nilinseln Philae, Senem und Elephantine, dann Syene, Nubi (Ombos)
und Chenu Gelegenheit zu ausfuhrlicheren Erorterungen, in dem
zweiten, Tes-Hor, die Hauptstadt Tebu (Apollinopolis), das heutige
Edfu, mit seinem beriihmten Tempel des Horus, in dem dritten,
Ten, die beiden Hauptstadte Seni (Latopolis) und Necheb
(Eileithyiopolis). Inmitten der Schilderung des vierten Gaues,
Us, und der Hauptstadt desselben Theben (der Name wird nach
Lepsius von dem agyptischen Ta-apiu, Stadt der Throne, eigent-
lich nur der ostliche Stadttheil, abgeleitet), gerade in der Be-
sprechung der Denkmaler von Karnak bricht die Darstellung ab.
Ganz vortreff lich sind die IUustrationen, fiir welche ja gerade
die agyptische Geschichte ein besonders reiches Material dar-
bietet. Von den in den Text gedruckten Holzschnitten fiihrt
uns zunachst eine Reihe Landschaftsbilder aus den verschiedenen
Theilen des NilthaJes von den Katarakten bis zum Delta vor,
andere verschiedene Denkmaler, insbesondere sind den Tempeln
von Edfu und Karnak mehrere Abbildungen gewidmet. Dazu
kommen drei Vollbilder : eine farbig ausgefiihrte Darstellung des
Todtengerichtes vor dem Gotte Osiris aus einem jetzt im
Berliner Museum befindlichen Exemplare des Todtenbuches, eine
Abbildung von Wandgemalden in einem Grabe zu Eileithyia und
eine Darstellung des Felsentempels von Abu-Simbel. Als weitere
Beilagen sind zwei Karten hinzugefugt, eine Uebersichtskarte
des gesammten Stromgebietes des Nil und eine Speciaikarte des
ersten und zweiten oberagyptischen Gaues, endlich das Facsimile
eines altagyptischen Brief es aus dem 14. Jahrhundert v. Chr.
Den zweiten Theil dieser ersten Abtheilung bildet der An-
fang, ebenfalls die ersten 80 Seiten von Justus Geschichte des
alten Persiens. Auch diese Arbeit beruht auf dem griindlichsten
Studium und auch hier zeigt sich der Verf. mit dem Lande,
dessen Geschichte er schreibt, wohl vertraut. Die Darstellung
7*
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100 Programmenschau 1878.
ist etwas trocken, sie ist aber keineswegs zu ausfuhrlich, sondern
fiihrt in verstandiger Auswahl nur die wichtigeren Punkte vor.
In einem ersten Capitel werden die ethnographischen Verhaltnioe
Irans in der altesten Zeit, der Gegensatz scythischer und arisqher
Volker, besprochen und dann eine Uebersicht der medischen, als
der Vorgeschicbte der persischen Geschichte gegeben, auch hier
werden die erhaltenen Denkmale beriicksichtigt, ferner werden
ebenso wie auch nachher in dem folgenden Abschnitte kuree
Ueber8ichten iiber die ethnographischen, politischen und Cultur-
verhaltnisse der verschiedenen anderen Volker, welche erst dem
medischen, dann dem persischen Reiche einverleibt werden, ein-
geschaltet. Der zweite Abschnitt behandelt die Geschichte der
Achameniden, hier zunachst die des Kyros, des Kambyses und
den Anfang der Geschichte Darius I. Neben der griechischen
Ueberlieferung, aus welcher die sagenhaften Elemente ausge-
schieden sind, verwerthet der Verf. auch die einheimische
iranische Sage, welche im Avesta und in dem von Firdusi be-
arbeiteten Konigsbuch erhalten ist, sowie insbesondere die in-
schriftlichen Denkmaier. Die Geschichte des Darius bietet auch
Gelegenheit zu ausfiihrlicheren Darstellungen einmal der inneren
Organisation des persischen Reiches, andererseits des durch
Zoroaster wahrscheinlich zur Zeit dieses Konigs reformirten
Religionswesens, inmitten dieser letzteren Schilderung bricht die
Darstellung ab.
Die altere persische Geschichte bietet keineswegs ein so
reiches Material fur Illustrationen wie die agyptische, doch fehlt
es auch hier an solchen nicht. Dieselben fiihren uns einmal die
wenigen Ueberreste der alteren persischen Kunst (das Grab des
Kyros und andere Denkmale zu Pasargada, das " Relief bild von
Bisutun, eine Portratdarstellung des Darius an dem von ihm
hergestellten Canale vom Nil in's rothe Meer, ferner Miinzen und
Cultusgegenstande), daneben aber auch Denkmaier der Kunst-
thatigkeit anderer, dem persischen Reiche unterworfener Volker,
namentlich der Lykier, vor. Von den beiden Vollbildern steDt
das eine ein Felsengrab in Myra in Lykien, das andere das
Reliefbild des mit dem ahrimanischen Thiere kampfenden Konigs
von dem Palaste des Darius in Persepolis dar.
Berlin. F. Hirsch.
XXVI.
Programmenschau 1878.
Alterthum.
1) Hohere Biirgerschule zu Langensalza.
Rottsahl: Die Expedition der Ath.ener nacb
Sicilien in don Jahren415 — 413 v. Chr. EinStiick
athenischer Geschichte. Erste Abtheilung.
Die Arbeit bespricht in der Einleitung die Einmischnng
in die sicilischen Wirren, welche von Athen aus vor der Expedition
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Programmenschau 1878. J01
versucht wurde, um in Sicilian festen Fuss zu fassen, dann wird
der erste Theil der grossen Expedition behandelt. Der Verf.
benutzt Thucydides, Diodor, Curtius, Grote und Holm, ohne jedoch
neue Kesultate zu gewinnen.
2) An diese Arbeit schliesst sich diejenige an, welche in
dem Frogramm von Cassel 1877/78 enthalten ist. In
ihm schreibt der Oberlehrer Julius Riedel de Her-
mocratis Syracusani vita ac moribus. Die Abhand-
lung, in gewandtem Latein verfasst, wird gut eingeleitet durch
das Horazische:
justum ac tenacem propositi virum etc.
Zuerst erzahlt der Verf. das Leben des Hermocrates. Man
kennt weder sein Geburtsjahr noch den Namen seiner Mutter,
auch von seiner Jugend weiss man so gut wie Nichts. Dann
behandelt der Verf. die Thatigkeit des patriotischen Mannes im
peloponnesischen Kriege und erzahlt dabei wohl etwas zu weit-
laufig die Vorgange in demselben. Wir horen von seiner Theil-
nahme an den Ereignissen des Jahres 415, 412, 411, 410, in
welchem Jahre er aus seiner Vaterstadt verbannt wurde, wahrend
er noch im Felde stand. Er begab sich zum Pharnabazus. Als
er Syracus zu iiberrumpeln versuchte, wurde er bei diesem
Unternehmen im^J. 408 getodtet
Die Arbeit ist weniger eine kritische Untersuchung als eine
laudatio des Hermocrates.
3) Friedrich- Wilhelms-Gymnasium zu Coin.
Ostern 1878. M. Atilius Regulus. Ein Beitrag
zur Geschichte des Volkerrechtes von Director
Dr. Oscar Jager.
Der~bekannte Bearbeiter der romischen und griechischen
Geschichte behandelt hier die viel besprochene Frage nach dem
Ausgange des Regulus und kommt dabei zu folgendem, wie es
scheint, unumstosslichen Resultate:
Der alteste auf das Problem beziigliche ist der Bericht
Diodor 24 fr. 19 und stammt aus Philinos. Was Polybius sagt,
hat er ebenfalls aus Philinos geschopft. Dieser ist mithin eine
sehr beachtenswerthe Quelle. Jener Bericht Diodor 24,19 bildet
den Ausgangspunct fur die Feststellung der Thatsachen. Es hat
eine Misshandlung der carthagischen Geiseln durch die Familie
des Regulus nach dem Ableben des Letzteren stattgefunden.
Deswegen wurde gegen die Atilier vom Senate eingeschritten.
Der Tod des Regulus war ein naturlicher, bei dem Alles mit
rechten Dingen zugegangen ist. Der Tod erfolgte friihestens im
J- 250, spatestens im J. 247. * Unzweifelhaft fest steht es, dass
die Carthager vorher eine Friedensbotschaft nach Rom geschickt
h&ben, dass bei dieser sich Regulus befunden und gegen die
Auswechselung der Gefangenen gesprochen hat. Gewahrsmann
dafur ist Tuditanus. Das Gerucht von einem gewaltsamen Tode
des Regulus entstand schon friihe und lebte dann wieder auf, als
*n den spateren punischen Kriegen der Hass zwischen Rom und
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102 ProgTammen8chau 1878.
Carthago so heftig entbrannte. Die erste Spur dieses Geriichtes findet
sich bei Tuditanus und wird durch die Rhetorenschulen vergrossert
4) Gymnasium z ti Brie g. DieHeeresverpflegung
derRomerimletztenJahrhundert derRepublik
1. Theil von Dr. Arnold La n gen.
Der Verf. weist zuerst nacli, warum er gerade diese Zeit
bebandelt hat. Die ersten Zeiten der Republik hat namlich
Zander, die Kaiserzeit Sonklar nach dieser Richtung hin bearbeitet
Die romischen Soldaten erhielten Getreide und zwar Weizen
und Gerste in natura. Der einzelne Mann bekam fur den Monat */t
preussische Scheffel. Diese Ration wurde nicht auf einmal, auch
nicht taglich, sondern fur 17 Tage gegeben. Eins bleibt dabei
unklar, wie es moglich gewesen ist, dass der schon so schwer belastete
romische Soldat im Felde noch fur 17 Tage Proviant hat tragen
konnen. Um das Getreide im Felde zuzubereiten dienten Hand-
miihlen, die auf Pferden mitgefuhrt wurden. Wahrscheinlich srod
auchFleischportionen, aber nicht so regelmassig, verabreichtworden.
Getrank wurde nicht geliefert, wohl aber Salz. —
Da die Truppen sehr selten einquartiert und somit selten
von den Einwohnern direct bekostigt wurden, so musste man die
Verpflegung entweder aus den stabilen Magazinen besorgen odcr
aus solchen, die ad hoc angelegt waren. Konnte man das nicht,
dann halfen Fouragierungen und Requisitionen. Die Details
konnen hier selbstverstandlich nicht besprochen werden, das
hiesse, die Abhandlung selbst mittheilen. .
5) Ein viel behandeltes Thema wird von Neuem besprochen
in der wissenschaftlichen Beilage des Programms von
Paderborn vom Jahre 18781), namlich:
Die Gegend der Varus-Schlacht nach den
Quellen und Lokalforschungen von F. Hiilsen-
beck. Oberlehrer. Paderborn 1878.
Die Arbeit beschaftigt sich sehr eingehend mit der Sache.
Der Verf. untersucht zuerst, wie er es nennt, „die Zuglinie des
Varus" und entscheidet sich in § 7 S. 21 dahin, dass sie auf
der Siidseite der Lippe gesucht werden miisse. Dann kommt
er in § 8 zu dem ResiUtate, dass Varus am Fusse des Haar seinen
Untergang gefunden habe und zwar (§ 9) im Thale der Wester,
die bei Beleke in die Mohne miindet. Dort nimmt er als
Schlachtort die Gegend des sogenannten Judenkirchhofes an. (S. 25.)
6) Dresden. Gymnasium zum heiligen Kreuz.
Ostern 1878. Dr. Fr. Grundt: Kaise rin Helena's
Pilgerfahrt nach dem heiligen Lande.
Die Pilgerfahrt der Kai6erin ist durch die Sage sehr aus-
geschmiickt worden. Wir konnen nicht mit voller Sicherheit
x) Wenn wir dies hier so hinstellen, so bitten wir um Entschuldignngj
falls wir irren sollteu. Auf der Abhandlung steht weder die Nummer des
Programms noch die Notiz, dass es eine wissenschaftliche Beilage ist, wir
haben das nur daraus geschlossen, dass dioselbe una mit Shnlichen Arbeiten
zugekommen ist.
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Kiepert, Lehrbuch der alten Goographie. 103
nachweisen, auf welchem Wege sie durch das heilige Land ge-
zogen ist ; es scheint, als sei sie vom Sinai iiber Jerusalem durch
Samaria und Galilaea bis nach Damascus gekommen; doch ist
das sehr fraglich. Wahrscheinlich reiste sie im J. 326 und 327.
Die Kirche iiber dem heiligen Grabe in Jerusalem hat sie
wohl nicht, sondern Constantin erbaut; wer die in Bethlehem
mid auf Golgatha errichtet hat, ob sie, ob Constantin, ist frag-
lich. Es lasst sich von alle dem, was ihr die Sage zuschreibt,
namlich die Erbauung anderer Kirchen und die Auffindung von
Reliquien, Nichts mit Sicherheit als ihr zukommend nachweisen.
7) Evangelisches Gymnasium Gross-Glogau.
Ostern 1878. Die Quellen des Cornelius Nepos
zur Griechischen Geschichte (Miltiades bis
Alcibiades inclus.) von Dr. Gothe.
Zunachst bespricht der Verf. den historischen Werth der
Schriften des Cornel, dann die Art, wie er gearbeitet hat. Er
giebt an, dass er meist nur einen Schriftsteller excerpierte.
Das Resultat der Untersuchung ist folgendes: Fiir
Pausanias 1 ^enu^zte Cornel den Ephorus und Thucydides,
fur Miltiades
Aristides [den Ephorus
Lysander
und fur Cimon
Alcibiades
Berlin. Foss.
!■
} den Theopomp.
XXVIL
Kiepert, Heinrich. Lehrbuch der alten Geographic, gr. 8.
(XVI, 544 S.) Berlin 1878. Dietrich Reimer. 6 M.
Das vorliegende Werk wird nicht nur in den Kreisen der
akademischen Jugend, fur welche es zunachst bestimmt ist,
sondern bei alien denen, welche sich entweder im Allgemeinen
iiber alte Geographic unterrichten oder iiber Einzelnheiten Be-
lehrung suchen wollen, Beifall und Dank erndten. Auf der um-
fassendsten Kenntniss beruhend, iiberall mit besonnener Kritik
die Resultate der neueren Forschungen verwerthend, iibersicht-
lich geordnet, in knapper und doch klarer Darstellung alles
Wesentliche darbietend, fullt dasselbe in erwiinschtester Weise
eine Liicke aus, welche bisher nicht nur in unserer deutschen
philologisch-historischen Litteratur, sondern in der Alterthums-
wi8senschaft iiberhaupt schmerzlich genug empfiinden worden
^ar. Kein Wunder daher, wenn schon von verschiedehen Seiten
her der Wunsch geaussert worden ist, dass dasselbe durch
Uebersetzungen auch den gelehrten Kreisen anderer Nationen
zuganglich gemacht werden- moge. Es kann nicht Aufgabe dieser
Zeitschrift sein, genauer im Einzelnen den reichen Inhalt des
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104 Kiepert, Lehrbuch der alten Geographie
Werkes darzulegen, sondern wir beschranken uns darauf, kurz
Gang und Art der Darstellung zu schildern.
Was den ersteren anbetriiFt, so ist er im Wesentlichen dem-
jenigen gleich, welchen der Verf. in der Einleitung zu seinem
Schulatlas der alten Welt, einer kurzen Skizze, welche gleich-
sam als der Eeim dieser grosseren Arbeit angesehen werden
kann, eingeschlagen hat. Das ganze Werk ist in 12 grosse Ab-
scbnitte gesondert. Die 3 ersten sind einleitender Art. Der
erste: „Quellenkunde", giebt eine Uebersicht dessen, was wir
von geographiscber Kunde den verschiedenen Volkern des Alter-
thums verdanken. Er beginnt mit einem ganz kurzen Ueberblick
iiber die orientalischen Volker, behandelt dann eingehend die
Leistungen der Griechen, schildert darauf den sehr geringen
Antheil der Homer und bespricht zuletzt die compendiarischen
Werke aus dem spateren Alterthum (Pomponius Mela, Plinius
und das Kartenwerk des Ptolemaeos), aus denen wir, da die
alteren Quellen meist verloren sind, den grosseren Tbeil unsrer
Kenntniss scbopfen miissen. Der zweite Abscbnitt: „Ethno-
graphische Uebersicht", berichtet zunachst iiber die hochst un-
gemigenden ethnographischen Vorstellungen der AJten selbst und
giebt dann auf Grund der Resultate der heutigen Wissenschaft
eine Classification der im Alterthum in den Kreis der Geschichte
eingetretenen Volker. Der dritte Abschnitt: „Erdtheile und
Meere", fiihrt uns historisch die allmahlich fortschreitende Ein-
theilung der den Alten bekannt gewordenen Land- und Wasser-
massen. vor. Mit dem vierten Abschnitte beginnt die specielle
Darstellung der einzelnen Lander. Der Verf. hat selbst in der
Vorrede bemerkt, dass, da der Druck schon vor der Vollendung
der Arbeit begonnen habe, die Vertheilung des Stoffes eine nicht
ganz gleichmassige geworden sei, dass namentlich gegeniiber der
ausfiihrlicheren Darstellung Europas manche Partien Asiens und
Africas vielleicht zu kurz erscheinen mochten, er hat aber schon
selbst darauf hingewiesen, dass in einer neuen Auflage, deren
Erscheinen wohl in nicht allzulanger Frist erwartet werden darf,
eine Ausgleichung werde erreicht werden konnen, auch manche
Berichtigungen im Einzelnen stellt er dort in Aussicht und schon
hier sind (S. VIII) einige solche zu den ersten Abschnitten ver-
zeichnet worden. Bei der Darstellung der einzelnen Lander ver-
fahrt der Verf. so, dass er zunachst kurz die physischen, darauf die
ethnographischen und politischen Verhaltnisse derselben schildert
und dann die specielle Beschreibung der einzelnen Landestheile
folgen lasst. Manche Einzelnheiten, welche im Text nicht an-
gefuhrt sind, werden in den erlauternden Anmerkungen beruck-
sichtigt. Auf eine detaillirte Schilderung der Topographie ein-
zelner Orte hat der Verf. verzichtet, selbst Athen und Rom
werden verhaltnissmassig nur kurz behandelt. Aus der neueren
Litteratur werden in den einzelnen Abschnitten die bedeutenderen
Werke angefiihrt, dagegen wird auf einzelne Controversen nicht
eingegangen.
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Schrader, Keilinschriften mid Gescbichtaforschung. 105
Die specielle Darstellung beginnt mit Asien, welchem Erd-
theile die Abschnitte 4 — 7 gewidmet sind. Der vierte behandelt
Ost-Asien, zunachst recht eingehend Vorderindien , dann ganz
kurz diejenigen Lander, von denen die Alten ja nur selir diirf-
tige und dunkle Kunde gehabt haben: die hinterindische Halb-
insel, Sinae und Serika (das siidlicbe und nordliche China) und
Skythia (Centralasien). Im fiinften Abschnitt wird Vorder- Asien,
und zwar der ostliche Theil desselben Ariana (Iran) durchge-
nommen, im sechsten Armenien, die Kaukasischen Lander und
Klein-Asien, im siebenten das sudliche oder semitische Vorder-
asien: die Euphrat-Tigrislandschaften, Syrien und Arabien. Der
achte Abschnitt behandelt die den Alten bekannten Theile yon
Africa: Aegypten, Aethiopien am Nil, das eigentliche Libyen, das
phonikische Africa (die Nordkiiste von den Syrten bis Mauretania),
endlich das westliche Aethiopien. Die zweite, grossere Halfte
des Bandes ist Europa gewidmet, hier behandelt der neunte
grosse Abschnitt Griechenland, der zehnte Mittel- und Osteuropa,
die thrakischen, nordpontischen und illyrischen Lander, der elfte
Italien, der zwolfte West- und Nordeuropa, Hispania, Gallia,
Britannia, Germania, endlich das wenige, was die Alten von den
Volkern im aussersten Norden und Osten, den Veneden (Slaven),
Aestuern (Preussen), den Finnen und Skandinaviern gewusst
haben.
Seine urspriingliche Absicht, hinten ein alphabetisches Namen-
register hinzuzulugen, hat der Verf. nicht ausgefiihrt, wie er in
der Vorrede anfuhrt, weil ein solches noch zwei ganze Bogen
angefullt haben wiirde. Trotz seiner weiteren rechtfertigenden Be-
merkungen dariiber vermissen wir doch ein solches in diesem
Werke, das doch auch namentlich als Nachschlagebuch wird zu
dienen haben, sehr schmerzlich und konnen auch das ausfiihr-
liche Inhaltsverzeichniss vorne nicht als einen geniigenden Ersatz
ansehen. HoflFentlich wird eine neue Auflage auch diese Er-
^mzung bringen. Mit Freuden werden wir auch das Erscheinen
eines kurzen Leitfadens fur Schiiler begriissen, mit dessen Ab-
&ssung der Verf., wie er hier bemerkt, schon beschaftigt ist.
Berlin. F. Hirsch.
XXVHI.
Schrader, Eberhard. Keilinschriften und Geschichtsforschunfl.
EinBeitrag zur monumentalen Geographiei Geschichte und Chro-
nologie der Assyrer. Mit 1 Karte. gr. 8. (VIII, 555 S.)
Giessen 1878. J. Ricker. 14 M.
Vorliegende Arbeit des beriihmten deutschen Assyriologen
ist die Antwort auf das 1876 erschienene Buch: Neue Beitrage
zur Geschichte des alten Orients, Die Assyriologie in Deutschland
*on A. von Gutschmid, Leipzig, in welchem dieser scharfsinnige
Kritiker vornehmlich sich gegen Schrader und die von ihm ver-
tretenen Aufstellungen gewendet und iiberhaupt gegen die Ver-
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106 Schrader, Keilinschriften und Geschichtsforschung.
wendung der ausserst unsichern Ergebnisse der Assyriologie durch
den Hi8toriker auf Kosten anderer uns uberkommener Geschiclits-
quellen protestirt hatte. Schr. erortert in dieser Antwort auf
G.'s Buch auf's Sorgfaltigste die einzelnen Angriffe und Aulrtel-
lungen desselben. Er untersucht zunachst in einem ersten aUgemri-
nen Theil, nach einem Blick auf die Moglichkeit der Entzifferung
assyrischer Inschriften uberhaupt, den schon jetzt erreichbaren
bezw. erreichten Grad ihrer Zuverlassigkeit und die demgemisse
Verwendbarkeit der Ergebnisse seitens des Historikers, und zwar
behandelt er: die Hilfsmittel der Entzifferung, das Wesen der
assyrischen Keilschrift, die Scbreibfehler in den Inschriften, den
Ursprung der Keilschrift und des Pahlavi, die Frage, ob das
Assyrische eine absterbende Sprache war, die Brauchbarkeit der
Entzifferungen im Allgemeinen , die Controlle derselben und
schliesslich die Gotter-, Personen-, geographischen Namen raid
die geschichtlichen Ergebnisse. Im zweiten speciellen Theil
bespricht Schr. die wichtigsten der von G. in Discussion ge-
zogenen Detailfragen und zwar zunachst eine grosse Reihe geo-
graphischer Fragen, Schr. priift auf's Eingehendste G/s Gr^en-
griinde und dessen positive Aufstellungen und ohne Zweifel ist
08 ihm an vielen Stellen gelungen, die ihm vorgehalteDea
Schwierigkeiten zu beseitigen und G.'s Aufstellungen als munog-
lich darzuthun, doch das liegt ausser dem Bereich dieser Zeit-
schrift, wir haben es heute nur mit dem historischen Theil you
Sch.'s Buch zu thun, dem Niemand ein ernsteres Studium widmen
wird, ohne mannigfache Belehrung zu empfangen. Schr. behandelt
zunachst
1) die assyrischen Eponymenlisten, deren Bedeutung^fiir die
Chronologie schon friih erkannt wurde. Diese Bedeutung wnrde
noch erhoht, als die Parallellisten entdeckt warden, die unter
den chronikartigen Notizen auch die iiber eine in einem be-
stimmten Eponymate stattgefundene Sonnenfinsterniss bot. Da-
mit war uns fiir die Jahre 747 aufwarts bis etwa 900 eine
liickenlose verlassliche chronologische Grundlage gegeben. Da
diese assyrische Chronologie, die durch den ptolemaischen Canon
von 747 ab ihre Bestatigung erhalt, mit der bibl. Chronologie
der K6nig8biicher in Widerstreit ist, so suchte Oppert die Con-
cordanz dadurch zu erreichen, dass er eine Unterbrechung der
Eponymenlisten fur 46 Jahre annahm. Obgleich G. darin nicht
Oppert beistimmt, aber doch auch den Werth dieser Eponymen-
listen herabzudriicken sucht, so unterzieht Schr. diese ganxe
Frage einer neuen Untersuchung. Was die innere Kritik dieser
Eponymenlisten betrifift, so zeigt er, wie 1) in Bezug auf ZaU
und Reihenfolge der 228 Eponymen zwischen den sammtlichen
uns iiberkommenen Exemplaren der Listen auch nicht die ge-
ringste Differenz sich aufeeigen .la^sst, 2) dass die factisch vor-
handenen Diflferenzen eines Theiles lediglich imaginarer Art sind,
oder aber die Abgrenzung der einzelnen Eponymengrnppen
gegeneinander zum Zwecke der Bestimmung der R^fierungsdaoer
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Schrader, Keilinschriften und Geschichtsforschung. 107
der Konige d. h. die Setzung der Theilstriche betreffen und 3)
dass diese Differenzen solche sind, welche die Zuverlassigkeit der
Listen als Eponymenlisten und die Eigenschaften derselben als
chronologische Fundamentallisten in nichts beriihren. Was die
aossere Kritik angeht, so behandelt Schr. das Verhaltniss zum
ptolem. Canon, der die Dauer der babylon. Konige seit. 747 genau
verzeichnet, das ist die Zeit, wo die Geschichte Babyloniens mit
der Assyriens auf s Engste verkniipft ist. Da nach vorhandenen
Thontafelchen das erste Jahr des Sargon als Konig von Baby-
lonien dem 13. als Konig von Assyrien entspricht, so gelangen wir
in das Jahr 721 als das erste Jahr Sargon's als Konig von
Assyrien. Damit sind zugleich alle iibrigen Konige und Eponymen
fixirt. So bestimmt der ptolem. Canon die Eponymenreihe in
der ge8ammten chronologischen Jahresfolge, er bestatigt aber
auch im Einzelnen die Richtigkeit seiner Aufstellungen. Andrer-
seits erhalten auch seine chronologischen Ansatze durch die
Eponymenlisten in mehreren Fallen ihre ausdriickliche Bestati-
gung und mehr als das: wie der ptolem. Canon den assyrischen
Eponymencanon astronomisch fixirt, so wird er selber wieder
durch jenen astronomisch bestatigt. Nach ihm wird namlich
fur das Archontat des Purilsagal'i im Monat Sivan eine Sonnen-
finsterniss gemeldet, dies Archontat fallt nach jener vom ptole-
maischen Canon ausgegangenen Fixirung in's Jahr 763 und in der
That hat nach den angestellten Berechnungen am 15. Juni 763
fur Ninive und Umgebung eine fast totale Sonnenfinsterniss statt-
gefunden. Oppert denkt freilich an die vom Jahre 809, eine An-
nahme, die er dadurch sttttzt, dass dann eine andre, eine zweite
Sonnenfinsterniss meldende Inschrift ihre Erledigung findet, die
sich auf das Jahr 930 bezieht. Aber weder sagt die betreffende
Inschrift derartiges, noch auch war diese Sonnenfinsterniss, die
fur N. nur etwa 4 Zoll betrug, hier sichtbar. Sodann aber wird
bei dieser Annahme Oppert's die Continuitat der Eponymenlisten
unterbrochen, er schiebt in den so gewonnenen Raum den bibl.
Phul und verdoppelt dann Menahem und Aizarjah, was gegen
Bibel und Inschriften in gleicher Weise verstosst, und die lezteren
gestatten auf keine Weise eine Unterbrechung vor 745, wie das
0. will.
2) Auf den Inschriften Salmanassar's II. iiber die Schlacht
von Karkar wird ein Ahaabbu (mat) Sirlaai erwahnt, den Schr.
und andre mit Ahab von Israel identificirt hatten. GL erhob hier
sowohl gegen die Lesung Sirlaai wie gegen diese Identificirung
Bedenken. Jetzt hat sich herausgesteUt, dass dieser Name nur
wie angegeben gelesen werden darf, es entspricht das assyrische
Ahaabbu Sirlaai durchaus dem hebraischen ••banto'* snhn. Schliess-
lich erortert Schr. die von Wellhausen erhobnen Bedenken gegen
die Annahme einer Bundesgenossenschaft zwischen Ahab von Israel
und Benhadad von Syrien.
3) Schr, hatte den auf den Inschriften erwahnten X'idri
(d. h. mit einem Ideogramm X und idri geschrieben) mit Ben-
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108 Schrader, Keilinschriftcn und Geschichtsforschnng.
hadad, dem Vorganger des Hazael identificirt. Da jenes Ideogramm
AN. IM (oben X) den Namen des Blitz- und Donnergottes ent-
halt, also einem phonetischen Rammanu, Barku entspricht, so
hatte G. den Namen Ramman'idri gelesen und behauptet, dass
Hazael wohl eine Zeitlang fur einen Abkommling der syrischen
Konigsfamilie etwa Rammanidri regiert. Schr. zeigt, wie dies
gegen den Wortlaut der Bibel 2 Reg. 8,15 verstosst, aber aach
sonst bedenkliche Schwierigkeiten hat, zugleich rechtfertigt er
seine Identificirung mit Benhadad, die sich freilich auf die Bich-
tigkeit der in den LXX erhaltenen Lesart viog ZideQ stiitzt. Da-
gegen hatte G. Nicolaus Damascenus in's Feld gefuhrt, der ?on
zehn Konigen Adados redet, die auf einander gefolgt seien. Schr.
zeigt, wie Nic. in dieser Nachricht werthlos ist, denn in jenem
ganzen von Josephus berichteten Abschnitt findet sich kein Name
und keine Aussage, die sich nicht als sei es direct der Bibel ent-
nommen, sei es auf die biblische Darstellung und die biblisch
jiidische Tradition irgendwie zuriickgehend aufzeigen oder sum
Mindesten doch wahrscheinlich machen liesse. Schliesslich weist
Schr. die Unmoglichkeit der Aufstellung G.'s betreffs Justinos
XXXVI, 2.3 nach und zeigt, wie Justinus' Konigs- (nicht Gotter)
Paar Azelus und Adores auf ein griechisches lAyirjkog und (viog)
yideq zuriickgeht. In den Nachtragen weist Schr. darauf hin,
dass moglicher Weise der assyr. Name dem Hebr. Hadad -Eser
entspreche und dann dem bibl. Geschichtsschreiber eine Ver-
wechslung zur Last zu legen ware.
4) Auf zwei Marmorplatten, welche von Tiglat Pileser IL
herruhren, finden sich erwahnt ein Az-ri-a(-u) und Az-ri-ja-a-u
sowie die Verstiimmelungen .... ja-a-u mat Ja-hu-da-ai und
.... ri-ja-u mat Ju-hu-di und [j]a-a-u. Alle diese Namen
hatte Schr. auf Azarjah-Usiah von Juda bezogen. G. hatte da-
gegen geltend gemacht 1) die Verschiedenheit der einzelnen
Namen, Schr. zeigt wie diese einmal zum Theil dadurch schwande,
dass das Zeichen fur az auch as und as gelesen werden konne,
und fuhrt sodann durch eine Reihe von Beispielen den Nachweis.
dass derartige Abweichungen in den Namen keineswegs gegen die
Identitat sprechen. Und was den zweiten Einwand G.'s betriffi:
hier konne nicht der Konig Azarjah gemeint sein, weil eben
der Konigstitel fehle, so weist Schr. darauf hin, wie auf dieselbe
Weise wie hier Azrijahu so auch sonst Konige und Fiirsten be-
zeichnet werden, z. B. Kustasp der von Kummuch etc. Zugleich
widerlegt er die Meinung Oppert's, der unsern Azrijahu fiir einen
von dem jiid. Konig Azarjah verschiedenen erklart und mit dem Jes. 7,6
erwahnten Sohn des T&b'Sl identificirt, was nach G. weniger saci-
liches Bedenken haben solle als Sch.'s Meinung. Aber auffallend ist
schon, dass er, der nach den Inschr. ein Jude war und einen rein
jud. Namen hatte, einen Vater hatte, der einen rein aram. Namen
tragt, und wenn er nach Oppert ausserhalb der Grenzen Judas sicb
herumtummelte, so konnte er doch nicht „der vom Lande Judau
genannt werden, womit Tigl. Pil. nur Fiirsten bezeichnet. Die
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Schrader, Keilinschriften und Geschichtsforschung. 109
ganze sonstige Aufstellung Oppert's beruht darauf, dass ent-
gegen der Bibel und den Inschriften 1) deni Ahas ein Gegen-
konig Asrijahu jiid. Abstammung aufoctroyirt wird, von dem die
Bibel nichts weiss, und von dem die Inschriften grade das
nicht aussagen, was sie aussagen sollten; 2) die Regierung
des Pekach mitten durchschnitten und zwischen die beiden Enden
ein Gegenkonig Menahem II. eingefugt wird, von dem die Bibel
nichts weiss, wie sie denn auch sonst das angeblich in den In-
schriften von ihm berichtete fur diese Zeit nicht erwahnt; 3)
die Regierung des cIniil von Hamath halbirt und zwischen die
beiden Halften ein Dritter, hier der Jude Azrijahu, als Usurpator
eingeschoben wird, wahrend die Inschriften immer nur den einen
'Iniil kennen und nennen. G. giebt zu, dass O.'s Asurijahu =
Azarjah-Usiah sei, ist aber doch geneigt, 0. seinen Asrijahu von Juda
als assyr. hamathensischen Rebellen zu lassen. Dafiir spricht
weder, wie oben gezeigt, die verschiedene Schreibung der Nainen,
noch wird man durch die Chronologie zu dieser Annahme ge-
zwungen. Schliesslich erortert Schr. die von Wellhausen und
Gutschm. geltend gemachten historischen Schwierigkeiten, welche
seiner Meinung entgegenstehen sollen.
5) Sehr ausfiihrlich behandelt Schrader sodann die Frage
nach Phul-Tiglat Pileser. Zunachst weist er die Meinung G.
Kawlinson's zuriick, dass Phul ein Usurpator war und die westl.
und siidl. Provinzen des assyr. Reichs beherrschte, oder vielleicht
auch ein babylon. Monarch entspr. dem Porus des ptolem. Canon
war. Verwandt damit ist die Ansicht G.'s: Phul war Mitregent
des Tigl. Pil. oder vielmehr ein neben ihm in Theilen Babyloniens
und wohl auch Assyriens herrschender und mit ihm engver-
biindeter Fiirst. Gegen beide Hypothesen macht Schr. geltend
1) dass der statuirte Phul von Babylon-Chaldaea in der Bibel
als Konig von Assyrien erscheint; 2) die Unwahrscheinlichkeit,
dass, wahrend in Niniveh ein einheim. Konig auf dem Thron
sass, ein Babylonier, statt jenen zuvor aus seinem Reich zu ver-
jagen, einen selbst fur einen leidlich machtigen Fiirsten bei einer
solchen Position ausserst geiahrlichen Zug nach dem fernen
Westen hatte unternehmen sollen; 3) dass beide Historiker fiir
diesen Konig keinen Reichsmittelpunkt finden konnen, auf keinen
Fall ist mit G. an Sipar-Sepharvaim zu denken. Und wenn G.
sich fur die Gleichzeitigkeit von Phul und Tiglat Pileser auf
1 Chron. 5,26 und 2 Chron. 28,16 beruft, so hat er offenbar die
Bedeutung dieser Stellen der Chronik als Geschichtsquellen iiber-
schatzt, Schr. zeigt wie 1 Chron. 5, 1. 2. 25. 26 nichts als reine
Conceptionen des Chronikers sind.
ioidre haben zugestanden, dass Phul ein assyrischer Konig
war, so identificirt ihn G. Smith mit Binnirar; das geht aber
nicht wegen der sich nun ergebenden chronologischen Schwierig-
keiten. A. Kohler halt ihn fiir identisch mit dem Eponymen des
Jahres 763 Purilsagali. Aber 1) weist dieser weder in Can. V
aoch Can. VII den Konigstitel au£ 2) kann das assyr. Pur nicht
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110 Schrader, Keilinschiiften und Geschichteforschung.
in hebr. Phul ubergehen und 3) bleiben auch dabei die chronolog.
Schwierigkeiten. Das gilt auch von dem Versuch von G. Bosch,
der den hebr. Phul for Missverstand aus Bil malik ansieht. Da-
bei ist bedenklich sowohl dieser Missverstand als auch der Um-
si md, dass Bil malik durchaus nicht etwa assyr. Generalissimos,
sondern ein einfacher Statthalter in Arrapachitis war. — Wenn
G. gegen die Identificirung des Phul und Tigl. PiL betont, dass
in den Verwaltungslisten vor 734 nie ein Zug nach dem fernen
Westen angefiihrt werde, so zeigt Schr., dass diese Listen Voll-
standigkeit nicht beanspruchen konnen, ja dass mit Sicherheit
ein solcher Zug vor 734 stattgefunden haben muss. Schr. hatte
zugleich zur Stiitze fiir seine Meinung darauf hingewiesen, dass
wie Tigl. Pil. 727 starb, so auch der ptolem. Canon hier mit dem
Tode des Porus einen Regentenwechsel melde. Dem will G. ein
gewisses Gewicht beilegen, wenn es mit dem Weiteren seine
Richtigkeit habe, dass, wie Por-Phul 731 Konig von Babylon
geworden, so Tigl. Pil. in diesem Jahre die Huldigung des babylon.
Konigs Merodach BaJadan entgegengenommen und einen andem
babylon. Konig, namlich den Chinzir - Ukinzir besiegt habe.
Schrader hatte das in der That behauptet und seine Vermuthung
darauf gegriindet, dass fur 731 die Besiegung eines gewissen
Dugab gemeldet wurde. G. bestritt diese Annahme, jetzt aber
hat sich herausgestellt, dass Norris sich verlesen habe und dass
auf der Thontafel sammt Doublette vielmehr DU. zir d. i. Ukinrir-
Chinzir zu lesen sei. Eonnten noch Bedenken bestehen, so sind
sie schliesslich wohl dadurch beseitigt, dass jetzt fiir das Jahr
731, das Jahr der Eroberung Babylons, eine Inschrift gefunden
ist, auf der sich Tiglat Pileser wie Konig von Sumir und Akkad
so auch Konig von Babylonien nennt.
6) Berossus und die Monumente. Schr. hatte Bedenken ge-
tragen, di e fiinfte histor. Dynastie des Beross., welche 526 Jahre
umspannt, nach Dauer und Wesen der 520jahrigen Oberherrschaft
der Assyrer iiber Ober-Asien einfach gleich zu setzen. Da nach
Herodot die Assyrer, nicht etwa die babylon. Chaldaer, 520 Jahre
Ober-Asien, also auch Babylonien von Ninive aus beherrscht
haben, so sind nur zwei Moglichkeiten : entweder die 45 babylon.
Konige des Beross. sind die gleichzeitigen assyr. Konige oder
jene 45 babylon. Konige sind Vasallenkflnige. Die erste ehedem
von G. getheilte Ansieht wird durch einen Blick auf die synchron.
Tafel der assyrisch-babylonischen Geschichte hinfallig. Aber
auch die zweite von Niebuhr herruhrende, hernach von 6.
adoptirte Anschauung ist unmoglich. Nichts beweist der Hin-
weis N/s, den G. wiederholt, diese fiinfte Dynastie konne keine
erblichen Regierungen enthalten , weil durchschnittlich jede nnr
ll8/s Jahre gedauert hatte. Grade das Umgekehrte ist der Fall,
grade da wo Beross. wirklich auslandische Herrschaften anmerkt,
sind diese von sehr langer Dauer. Sodann aber legen auch die
Inschriften gegen diese Aufifassung N.-G's Protest ein, die assyr.
Konige sind weit entfernt davon, die babylon. iiberall ak-W-
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Schrader. Keilinschriften und Geschichtsforschung. HI
rohrerische Vasallen zu betrachten, sie erscheinen vielmehr durchaus
als ebenbiirtige Konige. Die wirklicbe Hegemonie Assyriens iiber
Babylonien beginnt erst nach der funften Dynastie des B. und
nach den 520 Jabren des Her., namlich mit TigL Pil. 731. Ent-
weder ist das aqxei^v des Her. also abzuschwachen und nur von
einer zeitweiligen Obmacht Assyriens iiber Babylon zu ver-
stehen, dann aber beginnt diese Zeit schon mit 1400 vor Chr.
und dauert bis 650 d. h. 750 Jabre, oder aqxetv ist im eigentlicben
Sinn zu verstehen, dann kommt aber nur die Zeit von 745 (731) bis
650 in Betracbt. G. findet zugleich eine Sttttze fur seine An-
sicht in der Nachricht des Ber.-Polyh., dass Nabonassar die
Annalen der vor ibm herrschenden Konige habe vernichten lassen.
Das sei nur verstandlich, wenn er im scbarfen Gegensatz zu die sen
von Assyrien abhangigen Konigen gestanden, darum auch habe
Ber. nur die Namen, nicht aber die Thaten dieser Herrscher
rerzeichnet. Schr. weist darauf hin, dass diese Vernichtung der
Annalen offenbar nur den Zweck hatte, soweit als moglich eine
neue Zeitrechnung, die von ihm, dem neuen Reichsgninder, aus-
ging, zu sichern, ob die friiheren Konige einer andern Nationalist
angehort haben oder nicht, kam daher gar nicht in Be-
tracht. Und hatte der Grund, warum Beross. mit 747 = 1 Nabo-
nassar neu beginnt, in dem nationalen Gegensatz dieses Herrschers
zu seiiien Vorgangern gelegen, warum zahlte er die 122 Jahre
assyrischer Oberherrschaft nach 747 nicht noch zu den 526 Jahren
zu, wie konnte er die Herrscher von Nabonassar an als einhei-
nusche, also als Chaldaer, den Vorgangern entgegenstellen, wenn
doch noch nach Nabon. eine so grosse Zahl von Jahren auf
assyr. Herrscher kommt, die iiber Babyl. herrschten, wie das ja
auch nicht anders vor 747 war? Ja schon im 3. Jahr seiner
eignen Herrschaft trat das und zwar auf hundert Jahre wieder
ein, was vorher 500 Jahre nach G. bestanden haben soil. Auch
die von G. aufgestellte Behauptung, dass diese 45 Konige einer
assyr. Nebendynastie angehoren, ist hinfallig, weil sie durchweg
keine assyr. Namen tragen. Und wenn G. sich fiir seine An-
schauung auf Eus. chron. I, 25 ed. Schoene beruft, so sind hier
nur 2 Moglichkeiten : 1) entweder die Worte post quos ....
tradit sind wortlich so wie sie lauten zu verstehen und auf eine
Herrschaft der (nach Beross.) Assyrierin Semiramis iiber die
Assyrer zu beziehen, dann gehoren sie nicht in diesen Canon, in
welchem es sich um babylon. Dynastien handelt, und Beross.
kann die Aussage nicht concipirt haben, die Worte sagen dann
aus8erdem iiber einen assyr. Ursprung der funften Dynastie
iiichts aus; oder 2) nach des Eus. Sprachgebrauch steht „in
Assyrios" im Sinne von „in Chaldaeos", dann haben wir nicht
mehr die urspriingliche Berossus'sche Fassung der Worte, fiir
ihn ist die Annahme einer derartigen Vertauschung undenkbar.
In diesem Fall nun aber tritt a) die betreffende Notiz aus dem
R&hmen der Berossus'schen Darstellung, betreflfend die Dynastien-
aufeahlung, heraus, tritt dieselbe b) mit den Inschriften in
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112 Schrader, Keilinschriften und Geschichtsforschung.
Widerspruch, die von einer Erbauung Babylons durch eine in-
schriftlich fUr jene Zeit bis jetzt nirgends nachweisbare assyr.
Konigin niclits wissen, tritt dieselbe c) mit des Beross. ander-
weitigor Aussage iiber jene Semiramis, die er nur als Assyrierin
nicht zugleich als Babylonierin kennt, in Discrepanz. — Nach
alledem ist Beross. fur die Bezeichnung der funften Dynastie
Chaldaeas als einer assyrischen hinfort nicht mehr verantwort-
lich zu machen.
7) Ktesias und Herodot. Schr. hatte darauf hingewiesen,
wie sicb immer mehr die bisher fur historisch gehaltenen nnd
glaubig hingenommenen Berichte der Griechen und iiberhaupt
der Classiker als unglaubwiirdig herausstellen. Demgegeniiber
wies G. darauf hin, wie schon vor Mitte des vorigen Jhdts. die
Unglaubwurdigkeit der Berichte des Ktesias sei erkannt worden,
seit Anfang dieses Jhdts. diese Erkenntniss als gesicherter Be-
sitz der Geschichtswissenschaft angesehen werden durfte. Schr.
zeigt, wie unrecht grade G. daran that, diese Worte zu schreibeo,
der 1853 den Satz aufstellte, dass die Nachrichten des Et. nick
unbedingt verworfen werden diirfen, vielmehr, freilich nach vor-
hergegangener kritischer Sichtung, gar wohl zur Beleuchtung
und Bestatigung der Nachrichten des chaldaischen Historiken
angewandt werden konnen; 1857 stand es ihm noch fest, dass
BOgar in den Nachrichten des Kt. vom Sturze des Thonos Kon-
koleros, wenn man die mythische Einkleidung wegnimmt, der
Hauptsache nach historische Treue zu finden sei, und 1860
schrieb derselbe G. : „Bei der Bestimmung des Umfangs des
assyr. Reichs ist von den Nachrichten des Kt. gar kein Gebrauch
gemacht, sehr zum Nachtheil der Sache, indem jene
Nachrichten ganz unverfanglich und innerlich wahrscheinlich
sind" etc., ja G. versteigt sich zu der Behauptung, dass, wenn
man die drei gewiss nicht personlichen Namen (Semiramis, Ninns,
Ninyas) von der Konigsliste des Ktesias ablose, dessen Darlegong
unter einem so neuen gunstigen Lichte erscheine, dass eine
vollige Ehrenrettung des Ktesias auf diesemGe-
biete erreichbar sein durfte.
Was Herodot betrifft, so zeigt Schr., dass trotz des Tadels
G.'s er doch im Wesentlichen Schr. beistimme, welcher behauptet
hatte, dass des Herodot Angabe beziiglich einer 520jahrigen
Oberherrschaft der Assyrier iiber Oberasien, bei deren Ende
sich zuerst die Meder, dann die ubrigen Volker frei gemacht
hatten, nicht eine richtige und den thatsachlichen durch die
Inschriften an die Hand gegebenen Verhaltnissen entsprechende
sei, ja Schr. weist schliesslich G. aus dessen eignen Aeusserungen
nach, wie G. eher noch geringer als Schr. von der Glaubwiirdig-
keit des Herodot denke und zwar durch den Hinweis auf einen
Aufeatz in den Jahrbiichern fiir class. Philologie 1860 p. 445. 449.
Nach dieser Darlegung folgt sodann eine Reihe von Excursen
iiber die Derketaden, iiber Arbakes und Belesys und iiber Sar-
danapal und endlich behandelt Schr. noch mit Riicksicht auf
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Wendt, Die Nationalist der Bovolkerung der deutschen Oatmarken. H3
einige Bemerkungen G.'s die Culturmission der Assyrer. Das
dem Buche beigefugte ausfiihrliche Register erleichtert die
sclinelle Auffindung der einzelnen Gegenstande. Nicht minder
dankenswerth ist die von Kiepert beigegebene Karte, ein treff-
liches Mittel zur Orientirung fiir den ersten Abschnitt: „Znr
monumentalen Geographic".
Nut einen kurzen Einblick in den reichen dem Historiker
gebotnen Stoff konnten wir geben, aber er wird geniigen, um
jeden die Bedeutung dieser Arbeit erkennen zu lassen.
Berlin. Nowack.
XXIX.
Wendt Georg. Die Nationalist der Bevoikerung der deutschen
08tmarken vor dem Beginne der Germanisirung. 8. (63 S.)
Gottingen 1878. Robert Peppmiiller. 1,20 M.
Die Frage, welchen Nationalitaten die Bewohner der deutschen
Ostmarken von der Ostsee bis Bohmen vor ihrer um die Mitte
des 12. Jahrhunderts beginnenden und im 13. Jahrh. vollzogenen
Germanisirung angehorten, ist eine mehrfach umstrittene. Nach
der einen, der herrschenden, Ansicht waren alle diese Gebiete
von Slaven bewohnt, und die ungemein rasehe Ausbreitung der
Deutschen iiber diese weiten Landstriche ist nur einer massen-
haften deutschen Colonisation und der darauf ziemlich schneli
erfolgten Assimilation der vorgefundenen Slaven an das ihnen
damals an Cultur weit iiberlegene deutsche Element zuzuschreiben.
Die andere Ansicht geht dahin, dass dieser uberraschend schnelle
Wechsel der Nationalist auf einem so umfangreichen Gebiete
nur dadurch moglich gewesen sei, dass dort seit der Volker-
wanderung unter den herrschenden Slaven zahlreiche unterdriickte
deutsche Volksbestandtheile vorhanden blieben, die nun durch
die im 12. und 13. Jahrhunderte stattgefundene Colonisation zu
neuem Leben erweckt wurden. Diese letztere Ansicht hat jiingst
Plainer in seiner Abhandlung: „Ueber Spuren deutscher Bevoi-
kerung zur Zeit der slavischen Herrschaft in den ostlich der
Elbe und Saale gelegenen Landern" (in den „Forschungen zur
deutschen Geschichte", XVII. Bd., S. 409—520) wieder aufgegriffen
und durch neue Beweise zu stiitzen gesucht; gegen diesen Ver-
such Platner's tritt Wendt in der vorliegenden Schrift, wie uns
scheint, mit Gliick auf und fuhrt aus, dass die schwachen Triimmer
germanischer Stamme, welche im 5. und 6. Jahrh. unter das
Joch der Slaven geriethen, nicht im Stande waren, ihre Natio-
nalitat bis zu dem erst nach sechs Jahrhunderten wieder be-
ginnenden Ruck8trome des Germanenthums zu erhalten, so dass
der Germanisirungsprocess des 12. — 14. Jahrhunderts sich auf
einem rein slavisch gewordenen Boden vollziehen musste. —
Diesen Beweis fiihrt er in drei Abschnitten; der erste han-
delt von Pommern und Mecklenburg, fiir welche Lander nachst
Platner als altere Vertreter der „Urgermanentheorie" Professor
Mltthoilungen a. d. hlstor. Litterator. VII. 8
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114 Wendt, Die Nationalitat der Bevdlkerung der deutschen Ostmarken.
Fabricius (Mecklenburgische Jahrbiicher VI. 2 ff.), Burgermeister
Fabricius (Urkunden zur Geschichte des Furstenthums Rugen
II. b, 44, 72) und Ludwig Giesebrecht (Wendische Geschichten L 37)
beriicksichtigt werden ; Wendt bespricht alle von Platner herbei-
gezogenen Quellenstellen und gelangt zu dem Resultate, dass alle
von diesem fiir eine altansassige deutsche Bevdlkerung in Pommern
und Mecklenburg angefuhrten Griinde als auf Missverstandnissen
oder unechten Urkunden beruhend sich erweisen; es bleibe fur
Pommern und Mecklenburg daher bei dem Ausspruche von
Hasselbach und Kosegarten (Codex Pomeraniae diplomaticus p.
317 — 321) dass die besten gleichzeitigen Quellen fur jene Gegen-
den, die Berichte uber Otto's von Bamberg Missionsreisen, Helmold
und Saxo Grammaticus dort nur Slaven kennen, dass ebenso
die Urkunden vor dem Beginne der deutschen Einwanderung nur
von Slaven reden, dass alle Personen- und Lokalnamen vor
dieser Zeit rein slavisch sind, kurz, dass sich keine Spur
eines germanischen Grundstocks der Bevolkerung jener Lander
auffinden lasst.
In dem zweiten Abschnitte spricht Wendt von Bohmen , vro
diese rein wissenschaftliche Frage zu einer politischen Partei-
sache geworden, indem jeder der beiden Stamme, die sich jetzt
in das Land theilen, sich selbst fiir den alteren und den anderen
fiir einen Eindringling erklart, von Schlesien, von der Laositz
und von Meissen, und fiihrt auch hier durch, dass man die iiberall
herumspukenden und nirgends greifbaren Reste von Urgermajien
in den bohmischen Grenzgebirgen, im mahrischen Gesenke und
in Schlesien unbedenklich in das Reich der Fabel verweisen konne.
Der dritte Abschnitt handelt von den angeblichen „Urger-
manen" in der Mark Brandenburg, deren Existenz namentlich
dadurch bewiesen werden soil, dass Platner an den Harlunger-
berg bei Brandenburg die Harlungensage kniipft, und dass der
bohmische Chronist Pulkava (nach 1374) davon spricht, da^
noch 1157 ein aus Slaven und Sachsen gemischtes Volk Branden-
burg bewohnt habe. Wendt meint beziiglich des Harlunger-
berges, dass, wenn derselbe seinen Namen in der That von seinen
ersten germanischen Anwohnern vor der Volkerwanderung erhielt,
sich dieser Name auch wahrend der Slavisirung der Mark bei
den zunachst wohnenden Deutschen erhalten haben und bei der
Wiedereroberung des Landes durch die Sachsen wieder aufge-
frischt worden sein kann; und was die gens Slavonica et Saxo-
nica betrifft, so fiihrt Wendt in einem Excurse aus, dass diese
nur einem groben Missverstandnisse Pulkava's ihren Ursprung
verdankt.
Graz in Steiermark. Dr. Franz Ilwot
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Ewald, Studien zur Ausgabe des Kegisters Gregors I. H5
XXX.
Ewald, Paul. Studien zur Ausgabe des Registers Gregors I.
im Neuen Arch, der Ges. f. fiitere deutsche Geschichts-
kunde III. 433-625.
Eine der wichtigsten Quellen fur die Geschichte des be-
ginnenden Mittelalters ist das sogenannte Register Gregors des
Grossen, d. h. die Sammlung seiner Briefe, welche — nur ein
kleiner Bruchtheil des urspriinglichen grossen Registers — ein
giinstiges Geschick durch den Lauf der Jahrhunderte uns auf-
bewahrt hat. Der Wichtigkeit der Sammlung entspricht die
grosse Anzahl der Handschriften und, seit Erfindung der Buch-
druckerkunst, der Editionen. Aber da selbst die beste dieser
letzteren, die der Mauriner vom J. 1705 — „ein Ereigniss fiir
die damalige literarische Welt" — nicht mehr den gesteigerten
Anforderungen der modernen Wissenscbaft geniigte, so beschloss
die Centraldirektion der Monumenta Germaniae, die Abtheilung
der Epistolae (unter Wattenbach's Leitung) mit einer neuen Aus-
gabe der Gregorianischen Briefe einzuleiten. Paul Ewald, dem
diese Aufgabe zufiel, unternahm vornehmlich fur diesen Zweck
im Winter 1876 auf 77 eine Reise nach Italien, iiber deren Ergeb-
nisse er im 3. Bde. des „Neuen Archivs" bericbtet hat. Uns
interessirt hier nur seine umfangreiche Abhandlung iiber das
Register Gregors, worin der Verf. die Methode darlegt, nach
welcher das Ordnen der Briefe vor sich gehen wird.
Als Ziel musste der neuen Edition vorschweben, uns ein
moglichst getreues Bild der im papstlichen Archive einst
vorhandenen Regestenbande zu geben, oder kurz die Rekonstruk-
tion des Lateranensischen Registers; denn eine grosse Zahl von
Briefen erhalt schon durch ihre Stellung im Register eine ge-
naue oder wenigstens annahernde chronologische Fixirung, welche
nach dem Inhalte in vielen Fallen unmoghch ware. Um dies zu
erreichen, war es nothwendig, auf die Handschriften selbst zuriick-
zugehen, da kein einziger Druck dieselben vollstandig und in
urspriinglicher Reinheit wiedergiebt. Die Editionen fussen fast
8ammtlich auf der in Mailand entstandenen Codification (Ende des
XV. Jahrhunderts), welche die drei verschiedenen Sammlungen
der Gregor. Briefe von einem andern als dem oben angedeuteten
und einzig richtigen Standpunkte aus zu combiniren versucht
hat. Drei Sammlungen, wie gesagt, sind es, auf welche der vor-
handene Bestand von c. 850 Briefen sich zuruckfuhren lasst:
1) Die in den Handschriften als Regis trum (R) bezeichnete mit
686, 2) die collectio der 200 (C) und 3) die sog. Collectio Pauli
(P)1) mit 53 Briefen, aus deren Summe jedoch c. 89 Stiickeaus-
J) Nach dem Schreiber eines Briefes, welclier sich am Anfange eines
dieso Sammlung enthaltenden Codex saec. VIII. befand. Ob unter diesem
Paolns P. diaconus zu verstehen ist, wie Mabillon vermutheto, dem die
Mauriner, Bethmann, Waitz und zum Theil Dahn gefolgt sind, ist soar
fraglich, (Ewald 473).
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116 Ewald, Studion zur Ausgabe des Registers Gregors L
zuscheiden sind, die in den Sammlungen doppelt, bezw. dreifach
vorkommen.
Verweilen wir einen Augenblick bei R, so fallt uns auf, dass
die aussere Einrichtung desselben Erscheinungen zeigt, welche
Johannes diaconus in seiner Vita Gregorii als Merkmale einer
zur Zoit Hadrians I. entstandenen Briefsammlung des grossen
Papstes angiebt: dahin gehort besonders die Eintheilung nach
Indiktionen, und nicht nach Biichern, ferner die Trennung in
zwei Volumina (in duobus voluminibus congregatae), deren erstes
die Jahre 590—597 d. h. Indictio IX— XV (von Ewald r ge-
nannt), deren zweites (q) d. J. 598 — 604 d. h. Indictio I— VII
umfasst1). Ewald braucht daher fur R auch die Bezeichnung:
das Hadrianische Register Gregors; merkwurdig ist, dass die
alteste Handschrift desselben — jetzt in Trier — erst aus dem
X., die beste — in Montecassino — aus dem Ende des XI. Jahrhun-
derts stammt. Abschriften dieser letzteren liegen vor im Cod.
Parisiensis 2281 u. Urbinas 99.
Die zweite Sammlung von Gregorbriefen (collectio CC episto-
larum), deren vorziiglichster Vertreter, ein Coiner Codex, bereitt
aus dem VIII. Jahrhundert stammt, ist, nach Ewalds Vermuthung,
ebenso wie die collectio P. vor R. entstanden. Die bestandige
Verbindung, in der C. mit P. auftritt, konnte zu der Annahme
verleiten, dass beide urspninglich zusammengehort haben, aber
dagegen spricht die Eigenartigkeit von P., die sich sowohl in
der aussern wie innern Gestalt der uberlieferten Briefe kund-
giebt (Ewald 464 u. 476). Von den Handschriften dieser dritten
Sammlung ist zu merken, dass einige die Daten in der Ueber-
schrift, andere am Schlusse der Briefe geben; die Eenntniss
eines sehr guten Codex aus St. Germain, der seit der franzo-
sischen Revolution verschollen ist, wird uns durch die oben er-
wahnte Maurinerausgabe (1705) vermittelt.
Schon frtih hat sich das Bediirfniss geltend gemacht, zwei
oder drei (bezw. vier, da R = r -f- q) der vorhandenen Samm-
lungen an- und ineinder zu bringen. Der Verbindung von C -4- P
haben wir bereits gedacht, ebenso erscheint q -f- P und C-f-P-f-^;
schliesslich wird R zu Grunde gelegt und der erste Schritt ist
gethan, der zu der endlichen Vereinigung aller drei Sammlungen
fiihrt. Nach mannigfachen Versuchen, R aus C und P zu com-
pletiren, unternimmt es ein Mailander Gelehrter, wie es scheint
auf Veranlassung des dortigen Erzbischofs Johannes Arcimboldi
(1484 — 88), sammtliche C- und P-Briefe in R einzuiugen2), und
stellt so eine Sammlung her, die fur die ganze Folgezeit mass-
gebend geblieben ist. „In den Fesseln dieser Mailander Codi-
J) Es ist 8omit nicht auffallend, dass eino Anzahl Handschriften nnr
dio erste HSlfte von R (='r), andere wieder nur dessen zweite Halfte (=^)
zeigen, (Ewald 456—462).
a) Die Einfogungen beschriinken sich auf die letzten 6 Indiktionen
(II— VII), vgl. S. 504 u. 511; 7 auf S. 502 Zeilo 19 ist wohl nur ein Druek-
fehler.
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Ewald, Studien zur Ausgabe des Eogistera Gregors I. 117
fikation lagen auch die Mauriner, und ihr Einfluss ist ebenso in
der Ordnung der Gregorbriefe in den Papstregesten Jaffes gel-
tend geblieben." Aber keine Spur eines Systems ist in der
Kedaktion des Mailanders zu entdecken ; weder liess er sich von
chronologischen noch lokalen Gesichtspunkten hierbei leiten. —
So sind wir in die Zeit hineingekommen, wo die Buchdrucker-
kunst sich bereits der Gregorbriefe bemachtigt hatte. Schon
bevor die Mailander Arbeit beendet war, hatte Giinther Zainer
in Augsburg einen Druck veranstaltet (c. 1472), indem er P und
einen Theil von C an R anhangte ; aber sammtliche nun folgende
Editionen — 27 (od. 28, vgl. Nachtrag zu S. 513) an Zahl —
haben die Methode der Mailander Zusammenstellung adoptirt.
Sie im Einzelnen hier anzufuhren, ist unmoglich; ich begniige
mieh, die wichtigsten zu nennen. Da ist zuerst die Venetianer
von 1504; die romische Ausgabe der Werke Gregors (1588 ff.),
gegen welche sich die Vindiciae Gregorianae des Thomas James
(Genf 1625) richten; die Pariser Edition von Pierre Goussain-
ville (1675) mit ihrem vorziiglichen Commentar, und endlich die
der Mauriner vom J. 1705 (Paris; das Reg. epistolarum im
2. Foliobande). Dom Denis de Ste. Marthe (Dionysius Sammar-
thanus) hatte die Herausgabe iibernommen, aber, mit Arbeiten
iiberhauft, die Edition der Briefe Dom Gruillaume Bessin iiber-
tragen, der die von ihm vorgenommenen Aenderungen in der
Reihenfolge der Briefe in einer besonderen Abhandlung zu recht-
fertigen suchte. Wir haben eine Nachricht aus jener Zeit, nach
welcher Ste. Marthe mit der Arbeit Bessins sehr unzufrieden
war und eine griindliche Revision derselben vorgenommen hat
( employa plus de terns a le corriger qu'il ne lui en
auroit falu pour le composer ) : wie viel aber von der
Abhandlung auf Conto eines Jeden zu setzen ist, wie weit iiber-
haupt die Correktur des Ersteren sich erstreckt hat, bleibt wohl
fur alle Zeiten ungelost. Eine eingehende Priifung widmet Ewald
dieser Edition auf S. 518 — 521. Lediglich Nachdrucke der
Maurinerausgabe sind: die von Galliciolli, Venedig 1768 und die
neueste von Migne, Paris 1851. Mit Hiilfe des handschriftlichen
und zum Theil auch des gedruckten Apparats tritt der Verf. an
die Reconstruktion des Lateranensischen Registers ; er weist nach,
dass C ein Auszug aus der zweiten, P aus der X., XIII. und IV.
Indiktion ist. Man sieht sofort ein, wie viel hierdurch fur die
richtige Einfugung der C- und P-Briefe gewonnen ist1). Dass
im Einzelnen manches unsicher bleibt, thut dem Ganzen keinen
*) Wie die Einf&gung im Einzelnen vor sich geht, mogen einige Bei-
spiele erlautern.. 1, r und v seien drei Briefe, die in C vorkommen, 1 u. v
aber auch in R, und zwar bilden sie hier die Nummern 18 und 19, wahrend sie
in C die Nummern 25 (26) und 27 bilden; es folgtdaraus ohne weiteres, dass
im Later. Register r zwischen 1 u. v gestanden hat. Aber die Reconstruktion
ist nicht immer so einfach. Denken wir uns jetzt 1, r, v in C, und 1, p, v
in R stehend, dort nehmon 1 u. v, dio 25. u. 27., hier die 40. u. 42. Stelle
ein, folglich rangiren r u. p zwischen 1 u. v, aber in welcher Reihenfolge? sobald sie
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118 Potits meinoires sur l'histoire de Franco.
Eintrag. Beda, Paulus diaconus, die canonischen Sammlungen
miissen bei der An- und Einordnung der Briefe behiilflich sein;
die in R, C und P vorhandenen Daten werden einer ebenso .ge-
nauen wie scharfsinnigen Priifung unterzogen; der Vert muss an
vielen Stellen auf die damaligen Kanzleiverhaltnisse eingehen, und die
Unvollkommenheit derselben erklart zur Geniige mancherlei Un-
regelmassigkeiten der Briefsendung und Eintragung ins Register1).
— Dies der ungefahre Inhalt der genannten Abhandlung. Das
Erscheinen der neuen Edition der Gregorbriefe ist in baldige
Aussicht gestellt; noch im Laufe dieses Jahres wird, nach dem
letzten Bericht der Monumenta-Direktion (Neues Archiv IV. 7),
der Druck beginnen. Von Neuem wird 8ich die Geschichte-
schreibung jener wichtigen Epoche zuwenden, und das Verdienst,
die Grundlage geschaffen zu haben, wird sicher von alien Seiten dem
Verfasser der „Studienu und Herausgeber des „Gregorianischen
Registers" neidlos zuerkannt werden.
Berlin. S. Lowonfeld.
XXXI.
Petits memoires sur l'histoire de France, publies sous la direction
de Marius Sepet. — Les derniers Garolingiens p.
Ern. Bab el on. 8°. XI, 388. Paris 1878. 3 Fr.
Es ist gewiss ein anerkennenswerthes Unternehmen, weiten
Kreisen des franzosischen Volkes hervorragende Quellen seiner
Geschichte in guter Uebersetzung oder Modernisirung der Sprache,
hiibsch ausgestattet, mit nicht iiblen Illustrationen nach Werken,
die auf mittelalterlichen Miniaturen oder sonstigen Originalen
beruhen, fiir einen geringen Preis zuganglich zu machen.
Babelon's derniers Carolingiens haben alle erwahnten Vorziige,
aber man musste an eine Darstellung der Geschichte Frankreichs
von 882 — 996 d'apres Richer, wie der Titel hinzufiigt, von vorn-
herein mit starkem Misstrauen horangehn. Hen* Babelon hatte
die autres sources originates, vor Allem Flodoard, welchen er be-
standig nach friiherer irrthiimlicher Schreibweise Frodoard nennt,
zur Berichtigung des ihn benutzenden Richer starker heran-
ziehen miissen. Regino und sein Fortsetzer sind auch Herrn
Babelon, wie den meisten franzosischen Historikern, nur in der
Compilation der Metzer Annalen bekannt. Dem eleve de Fecole
keine Daten haben und nicht inner o Griinde massgebend sind, ist ihre Stellung
der reinen Willkiir unterworfen. Noch verwickelter wird die Anordnnng,
wenn es sich um ganze Gruppen von Briefen handelt.
s) Ob dieses letztere, wie Ewald annimmt (passim), in der Weise ge-
schah, dass die Conzepte an die Kegistratur abgeliefert wurden, ist minde-
stens sehr zweifelhaft; fur die Zeit seit Innocenz III. ist es erwiesen, dass
die Regesten auf Grundlage der Originate entstanden sind; stehen uns fe
die Zeit Gregors auch keine position Bewoiso zu Gebote, so entspricht docn
das Copiren nach dem Original einzig und allein einer regelrechten Ge-
schaftsfuhrung, und alio Erscheinungen, die Ewald durch das entgegengesetete
Verfahren erklaren will, finden auch bei jener Annahmo ihre Doutung.
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Lamprecht, Beitrago zur Geschichte des franzde. Wirthschaftslebens. 119
des chartes hatte es nahe liegen miissen, die Urkunden und die
wichtigen Briefe Gerberts wenigstens in etwas zu beriicksichtigon.
Er folgt fast blind und ohne Kritik dem unzuverlassigen, in
seiner Nationaleitelkeit selbst zu Falschungen greifenden Richer.
Freilich zeigte dieser bereits die echt franzosischen Vorziige
einer geschickten stylistisch gewandten Darstellung und hat daher
mit AusnahmeMonod's noch jeden franzosischen Forscher, zuletzt den
oberflachlichen Mourin in seinen Comtes de Paris (1869), zu all-
zuweitgehender Benutzung verlockt. Babelon bietet daher den
weiten Kreisen, welchen sein Buch zuganglich ist, ein arg ver-
zerrtes Bild der franzosischen Geschichte in der wichtigen Ueber-
gangszeit von den Karolingern zu den Capetingern. Es ist nach
Sepet's Abhandlung Gerbert et le changement de dynastie im
VU. Bd. der Revue des questions historiques sehr zu bedauern,
dass er nicht selbst diesen Theil der petits memoires heraus-
gegeben hat.
Konigsberg. v. Kalckstein.
XXXII.
Lamprecht, K. Beitrage zur Geschichte dee franzosischen
Wirthschaftslebens im II. Jahrhundert. gr. 8. (152 S.)
Leipzig 1878. Duncker & Humblot. 4 M.
Der Verfasser bezeichnet seine Schrift als seine Erstlings-
arbeit und als eine Erstlingsarbeit dem Stoff nach. Wir diirfen
ihn begliickwiinschen, dass er in die wissenschaftliche Welt mit
einer so vortrefflichen Leistung eintritt, und wollen hoffen, dass
er selbst und Andere der Erstlingsarbeit auf diesem Gebiet
wiirdige fernere Arbeiten folgen lassen.
Namentlich Guerard hat im Anschluss an den Polyptyque
d'Irminon und andere hervorragende Cartularien die wirthschaft-
lichen Zustande Frankreichs durch eine Reihe von Jahrhunder-
ten hin, wesentlich im Anschluss an den weitverbreiteten Besitz
reicher Kirchen dargestellt. Es fehlt auch sonst in der franzo-
sischen Geschichtslitteratur nicht an Werken iiber die Geschichte
einzelner Stande, aber Herr Lamprecht giobt uns zuerst die
wirthschaftliche Geschichte eines Jahrhunderts, besonders in
Nordfrankreich nach dem massenhaften urkundlichen Material
und mit eingehender Kenntniss der Litteratur.
Es kann natiirlich in einer solchen Arbeit an kleinen Ver-
sehen nicht fehlen. Ich hebe nur S. 26 die Datirung der Canones
des Abts Abbo von Fleury auf den Anfang des 11. Jahrhunderts
hervor. Diese Sammlung ist 996 abgefasst, wie die Beziehungen
auf den Streit der franzosischen Kirche mit dem Papst unter
Hugo Capet ergeben.
Referent wird im Folgenden versuchen, einen Ueberblick
der wichtigsten Ergebnisse des geschickt geschriebenen Buches
zu geben. Nach kurzer Einleitung behandelt das erste Capitel
die Urproductionen. Im 11. Jahrhundert beherrschte der
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120 Lamprecht, Boitrage zur Geschichte des franzos. Wirthschaftslebena.
Ackerbau noch das gauze wirthschaftliche Leben Frankreichs.
Im Walde zeigen sich die Anfange eiiier rationelleren Forst-
wirthschaft, der Fischfang horte auf Jedem zuzustehn, und der
Wieseiibau breitete sich aJlmahlig auf Kosten der Weide aus.
Handel und Gewerbfleiss zeigten junge, aber kraftige Keime,
/ast Jeder bezog noch zugleich Grundrente, den Lohn der
eigenen Arbeit und den Ertrag des verhaltnissmassig geringen
Capitals.
Dichter Wald bedeckte einen grossen Theil Nordfrankreichs. Der
Ardennenwald reichte weit iiber die Grenzen des Gebirges hinaus,
in der nachmaligen Ile-de-France lagen die ausgedehnten Bannforste
dor Konige, dagegen hatte man im Nordwesten bereits Miihe,
grosse Wildbahnen zu finden. Im Siidosten arbeiteten die ver-
haltnissmassig hohe Cultur der Bourgogne, der sich ausbreitende
Weinbau und die friihe Auftheilung des Gemeindelandes an der
Vernichtung des Dickichts. Doch gab es hier Kastanienwalder,
Nuss- und Olivenol wurden gewonnen und Weidengeblische ge-
pflegt. Im Norden iiberwogen die fiir die Schweinemast hock-
wichtigen Eichenwalder.
Die Ausnutzung des Waldes gait noch dem Volksbewussteein
als Jedem zustehend, obgleich in der Normandie, im Saone- und
Rhonegebiete Walder getauscht, im Letzteren sogar Brennholz
verkauft wurde.
Wildkatzen, Wolfe und Schwarzwild waren noch zahlreicli
und die Jagd bot reichen Erwerb, zumal mannigfach Felle zur
Kleidung verarbeitet wurden. Jeder sollte die Jagd nur in der
Mark seines Wohnortes iiben, und das Feudalwesen ergriff auch
den Wald. Fremde Personen und Corporationen besassen das
Obereigenthum iiber denselben, wie iiber die Ortschaften selbst,
ihre Beamten das ausschliessliche Jagdrecht oder doch die
hohere Jagd. Grosse weigerten sich, Wildbahnen zu besserer
Colonisation aufzugeben, selbst Bischofe griindeten in der Nor-
mandie Wildparks, obwohl der Geistlichkeit alle Jagd verboten war.
Das Wachs der Waldbienen gab zur Anfertigung von Kirchen-
kerzen, der Honig zur Methbereitung oder als Wiirze reichen Ertrag-
Der Wald wurde fast nur zur Unterlage fur Scrvituten,
welche bis zum vollen Niessbrauch einschliesslich Jagdrecht und
Zinseinnahmen gingen. Dann behielt der Eigenthiimer nor das
Verausserungsrecht und unbeschrankte Nutzung. Daneben be-
standen gemessene Dienstbarkeiten fur einzelne Bediirfiiisse, in
Bezug auf den Umfang oder den Gegenstand, z. B. auf Reisig
beschrankt oder fur den Bedarf zur Einfriedigung der Aecker
und an Weinpiahlen.
Weide- und Hutungsrecht waren gesondert und bezogen
sich meist auf Schweine oder Kleinvieh in bestimmter Zahl. Fiir
Holz- und Weidenutzung waren oft ansehnliche Natural- und
Geldabgaben zu zahlen. Neben der Eiche galten Eberesehe,
Tanne und Fichte als Fruchtbaum, die Letzteren hauptsachlicb
wegen der in manchen Gegenden betriebenen Pechbereitung.
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*5\V ■
Lamprecht, Bcitrage zur Geschichte des franzos. Wirthschaftelebens. 121
Die Gemessenheit der Dienstbarkeiten, besonders im Westen,
bezeichnet einen Fortschritt, aber man liess meist noch das
Holz im Walde absterben und austrocknen.
Die Fischerei stand mit der Forstwirthschaft im engsten
Zusammenhang und war selbst im Meer nicht mehr iiberall frei.
In den Fliissen bestanden raumliche und zeitliche Nutzungsrechte,
oder gewisse Fisch- und Fangarten waren ausgeschlossen. Die
Fischerei war meist das Gewerbe niedriger und unfreier Leute,
war aber der Geistlichkeit gestattet. Man benutzte schon Schleusen
und zur Aufbewahrung Fischgraben, trieb die Fischerei mit
Licht und Schleppnetz. Aale scheinen besonders beliebt ge-
wesen zu sein. Die Fischerei war im wasserreichen Norden und
Westen sehr stark und die Kloster betrieben eifrig die Teich-
wirthschaft.
Der Begriff der Weide gait fur die Wuhlorte der Schweine,
wie fiir das Weiderecht in Feld und Wald. Man liess wohl die
Weide im Fruhjahr eine Zeitlang unabgehiitet und machte sio
so zur halben Wiese, oder offnete die abgemahten Wiesen dem
Vieh. Die Stallfiitterung machte bereits Fortschritte ; man be-
gann, auf ein gewisses Verhaltniss der Wiese zum Acker zu
halten, und verwandelte Wald und Feld in Wiesen.
Noch waren die Dorfhirten wichtige Personlichkeiten, welche
jeden von ihren Thieren angerichteten Schaden biissen mussten.
hn N.-W. wurde bedeutende Pferde- und Rinderzucht getrieben,
gab die Zucht der Schweine vor Allem reichen Ertrag, da ihr Preis
verhaltnissmassig sehr hoch war. Die Schafheerden Frankreichs
lieferten neben denen Englands der flandrischen Tuchindustrio
die Wolle. S. Omer war ein sehr bedeutender Markt, wie das
rom Verfasser noch nicht benutzte vortfeffliche Werk von
Giry nachweist : Histoire de la ville do S. Omer et de ses insti-
tutions jusqu 'au 14. siecle, Paris 1877. (Das 31. Heft der
hochst beachtenswerthen Bibliotheque de Pecole des hautes
etudes.) Die Schafe lieferten auch Milch und Kase, wurden im
Siiden im Sommer auf die Alp geschickt und als Fleischthier
geschatzt. Im S.-O. machte das Maulthier den Pferden Con-
currenz. Im Ganzen stand die Viehzucht noch nicht auf hoher
Stufe.
Beim Anbau neuen Landes, bisweilen beim Verkauf, wurde
das Land vermessen und mit Steinen begrenzt. Die Ernten
wurden, wie schon in der Zeit der Volksrechte, gegen das Vieh
umzaunt, Weinberge und Garten besonders eingefriedigt.
Wohn- und Wirthschaftsgebaude waren meist von Holz, der
Pflug die einzige Maschine, Ochsen bis auf die wirthschaftlich
hochstehende Gegend von M4con das Ackerthier. Der kleine
Besitzer arbeitete in mancher Landschaft nur mit Grabscheit
und Hacke. Fast nur Schafdiinger wurde verwerthet. Die ein-
heitlichen Wirthschaftscomplexe waren klein und das altherkomm-
Uche Kerbholz geniigte zur Abrechnung.
Die Dreifolderwirthschaft herrschte durchaus vor, doch hielt
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122 Lamprecht, Beitr&ge zur Geschichte des franzos. Wirthschaftslebens.
sich namentlich in Berglandern, besonders im Walde, noch die
Brenncultur (exarteria), wurde aber vielfach durch die Drei-
felderwirthschaft verdrangt. Oft schien der Gartenbau noch
lohnender als Weinbau und war bei dem Fehlen eines Gemiise-
handels, der Vorliebe der Monche dafiir, weit zerstreut, auch gab
es Grasgarten (viridarium).
Man erinnerte sich noch, dass urn Chartres Weinberge selten
gewesen, jetzt reichten sie bis in die Bretagne, Normandie und
nach Artois sowie nach dem Nordosten.
Namentlich im Siidosten wurde oft mitten im Weinberge
Obst gebaut, meist in einem anliegenden Feld (vircaria). Bis-
weilen folgte der Weinstock orst dem Obstbaum. Weiden-
gebiisch (salicetum od. virgultum) wurde zur Gewinnung des
nothigen Holzes angelegt, der Boden oft als Wiese benutzt Die
noch sehr urspriinglichen Weinpflanzungen (plantata) wurden nach
funfjahriger Dauer als tragend angesehen und beim regelmasaigen
Umgraben bestellt. Die Ernte fand im Siiden im August, sonst
meist im September statt. Der im Verhaltniss yon 1 : 5 schwia-
kende Ertrag wurde durch den Fruchtlesezwang beeintrachtigt,
da Naturalleistungen auf dem Weinberg lasteten.
Die mechanische Kelter, oft fiir mehrere Winzer, war schon
weit verbreitet, doch beeintrachtigte mangelhafte Behandlung die
Giite des um Pfingsten als verkaufsfahig geltenden Weines.
Ueberhaupt dehnte man den Anbau und Betrieb eifrig aus,
dachte aber wenig an Verbesserungen. Der Bodenpreis war noch
zu niedrig, die Verkauflichkeit zu sehr gehemmt. Ernteausfalle
brachten furchtbare Hungersnothe. Nur an einem Theil der
Loire war 1003 den Ueberschwemmungen durch Damme vorge-
beugt, und die Fehden wirkten furchtbar verheerend.
Doch heilten (seit dem letzten Drittel des 10. Jahrhunderts)
die Wunden der Normannenzeit, ein neues Wirthschaftsleben be-
gann auf den Triimmern. Noch gab es, auch in Folge holier
Abgaben und Armuth, viele verlassene Aecker und Dorfer. Aber
man beutete (wie heute im Westen Nordamerikas) die Kraft des
jungfraulichen Neulandes riicksichtslos aus.
Es entstand eine ausgedehnte Colonisation, es gait fur vor
Gott verdienstlich, unfruchtbare Strecken anzubauen. Siimpfe
wurden nur im Siiden, namentlich von den capitalkraftigstcn
Corporationen, den Klostem, ausgetrocknet. Die Masse der
Neubauer rodete und brannte schon seit den Karolingerzeiten
den Wald, zerschlug das Rodeland in Ackerloose und grundete
auch Colonien mitten im Wald. Um die zuerst gebauten ein-
samen Kirchen siedelten sich nach und nach Familien, Hof an
Hof an, eine gemeinsame Weide, Wege wurden angelegt und
ein neues Dorf entstand.
Lamprecht behandelt in dem 2. Capitel Feldsysteme rod
Landvertheilung. — Die wesentlich beschrankte Dmlaufisiahig-
keit der Producte begriindete das starke Uebergewicht der Weiler
(villae) und Dorfer (vici) iiber die Burgen und Stadte (civitates).
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Lamprecht, Beitr&ge zur Geachichto des franzos. Wirthschaftalebens. 123
Unter dem Dorf begriff man auch die Feldmark, die Zahl dazu ge-
horiger selbststandiger Wirthschaften betrug gewohnlich 15 — 20.
Oft hingen davon Weiler, Dorfchen und andere kleine Ansiedlungen
ab, namentlich vom Kirchdorf (plebicula, plebs, parochia). Ein
System von Einzelhofen bestand fast nur in Flandern, unter-
halb und nordlich von Rouen und, wie bekannt, in der Vendee.
Das urspriingliche, der deutschen Hufe entsprechende Acker-
gut, der mansus, der bisweilen einen besonderen Namen fiihrte,
enthielt zunachst die meist durch Graben abgeschlossene Hof-
statte, dann die in der Kegel nur nahe am Dorf bebauten Felder,
meist in drei Schlagen und innerhaJb derselben gleich grossen
Aeckern.
Der Flurzwang hemmte hier Verbesserungen, dagegen konnte
der Besitzer Theile des unbebauten Gemeindelandes durch Zaune
als novale oder clausum , exquirendum oder inquirendum oder
quaesitum, dem deutschen Bifang entsprechend, zum Privateigen-
thum machen und hier selbststandig wirthschaften. In der ge-
meinen Mark d. h. Wald, Weide, Wasser und Gemeindeland er-
hielten die Bauern friih bestimmte Nutzungsrechte. Namentlich
durch die Normannenzeit war die Mobilisirung von Grand und
Boden eingetreten und hatte zur Zerstiickelung und Haufung des
Besitzes gefiihrt. An der Saone wurde die Hufe, mansus, schon
mit der Hofetatte mansio verwechselt, in Auvergne und Poitou
verlor sie als massus den wirthschaftlichen Charakter.
Neue anfangs von ihm abhangigeWirthschaftseinheiten drangten
den mansus zuriick, in Saintonge, Poitou und Limousin bis zur
Auvergne die Borderia, deren Hauptgrundlage der Ackerbau ist.
Sie lag wohl meist nach der ausseren Dorfgrenze, der Flur zu, war
ein neuer ungefahr halb so grosser Anbau auf dem mansus und
zunachst mit Zinsen und Lasten oder Abgabe eines Theils vom
Ertrag an den mansus belastet.
Von Bourgogne bis nach Viennois und Limousin zog sich die
condamina, ein bisweilen eben erst in Cultur genommenes Kathner-
gut im Dorfe selbst, meist gehorte auch das Inventar dem Herrn.
Das ahnliche casale, von Viennois bis zur Auvergne, konnte auch
in der Stadt liegen und umfasste wenig mehr als eine Hiitte.
Durch diese Wirthschaften verwertheten grosse Grundeigenthiimer
wenig lohnende Landereien.
Die grosse Fruchtbarkeit von Siidostfrankreich massigte dort
fruh den Flurzwang. Es hatte sich hier bereits der curtilus oder das
curtilum entwickelt, im Wesentlichen ein Weinberg mit Obstgarten
und Weidengebiisch. Dazu kamen Wald und bisweilen zur Brenn-
cultur berechtigende Waldnutzungen, Garten und Wiesen, der
Werth betrug durchschnittlich 1/6 von dem mansus.
Diese Giiter lagen bis nordlich von M&con und in die Slid-
auvergne, meist im novale, und bildeten oft bis zu 3 an der
Zahl mit dem mansus einen m. melioratus, wurden aber auch
oft das Hauptgut oder losten sich ab. Werth und Grosse
Btiegen, zumal hier nicht der Flurzwang den wirthschaftlichen
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124 Lamprecht, Boitrage zur Geschicbto des franzos. Wirthschaftslebens.
Fortscliritt hemmte. Aehnlich, wenn auch sparlicher, entwickelte
sich das Weingut in Poiton.
Oestlich vom Verbreitungsgebiet der Borderia, im Suden
der Diozese Clermont, in den Bisthiimern Puy, Viviers bis Rodez
und Lodeve fand sich die Appendaria fern vom Dorf auf der
Flur, bisweilen auch mit dem mansus zusammenhangend, im
Wesentlichen Ackergut.
Mehr und mehr nahm der bunte Wechsel grosser und kleiner
Giiter zu. Es gab im Siiden in massigen Schranken Zwerg-
wirthschaft, sonst iiberwogen, besonders im Nordwesten, mittlere
Giiter und leidlicher Wohlstand. Der Arme pflegte, ausser im
N.-O., Ochsen und Kiihe zu besitzen und eine arme Frau im reichen
S.-W. verfiigte iiber Land, 5 Ochsen und ein Stiick Weinberg. Die
fortschreitende Colonisation bot dem Thatigen giinstige Aussichten.
Selbst die grossen Herrschaften des Nordens wurden meist
in mittlerem Betrieb bewirthschaftet , der Herr ganzer Dorfer
bebaute selbst oder durch Frohndienste nur ein nicht seir
grosses Herrengut (Indominicatum) und gab das Uebrige, oft
gegen geringen Entgelt und auf sehr lange Dauer in fremie
Hand. Bei Verausserung und Vererbung von Lehen wurde woU
gar der geringe Kecognitionszins verweigert
Namentlich entwickelte sich eine Reihe von Pachtsystemen,
mit denen zum Theil eine Menge realer und personlicher Lasten
und Leistungen, Dienste und Abgaben, Zehnten und Zinsen, Her-
kommen und Brauche verbundon war. Diese wurden oft urkuud-
lich festgestellt, weil die Wirthschaftsbeamten des Herrn g«rn
neue Lasten erfanden.
Die urspriinglichen Hand- und Spanndienste oder Natural-
abgaben, namentlich Fleisch und Fische, wurden friih, z. Th. fast
voUstandig, unter Vereinbarung der Ablosungssumme abgelost
Man nahm vielfach ein Verhaltniss zum Ertrag von 20 bis 30°/0
an, bei dem wahrscheinlichen Zinsfass von 12%, und 1,2 (so ist
statt 0,2 zu lesen) bis 2,7% vom Preis des Zinsgutes,
Die bekannte Form der Precaria hielt sich im S.-O. das
ganze Jahrhundert hindurch, verschwand im S.-W. viel friiher
und kam in der Mitte nur in der ersten Halfte des Jahrhunderts
vor. Die precaria durfte in Theilbau gegeben werden, bei ihrem
Riickfall traten stets Schwierigkeiten von Seiten des Inhabers
oder seiner Verwandten ein
Neben ihr war besonders in der Mitte und im W. die
manus firma verbreitet, ein Pachtvertrag, meist auf 3 Generationon
mit hoherem Zins.
Bei der Verausserung haftete der Kaufer fur den Zins, der
wirkliche Heimfall war gradezu ungewohnlich und die manos
firma wurde zur Erbpacht.
Neben diesen Formen bestimmte mehr und mehr der The!-
bau den wirthschaftlichen Charakter Frankreichs. Die altere
allgemein verbreitete Form heisst campi pars (champart), agrariuin
(agrier), terragium (terrage). Der Theilbauer musste bis xar
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Lamprecht, Bcitrago zur Geschichte des franzos. Wirthschaftslebena. 125
Halfte des Ertrages und ausserdem nach der Gegend vielfach
wechselnde Abgaben zahlen. Dem Herrn gehorte meist, wie bei
fast alien Pachtverhaltnissen des Jahrhunderts, daslnventar, dagegen
waren die Wirthschaftsgebaude haufig Eigenthum des Pachters.
Wichtiger war fur den Weinbau der sich seit Beginn des
Jahrhunderts ausbreitende Complant. Diese Art Theilbau herrschte
von Poitou durch Marche bis nach Siidauvergne. Im ganzen
Sudosten fand sich der medius plautus, iiberall die Bezeichnung
mediatus. Der Zins betrug in besonderen Fallen nur lj% vom
Ertrag, abgesehen von mannigfachen Nebenabgaben.
Die oft recht grossen Complants lagen in der Regel in der Flur
und waren meist zunachst die Form des Erwerbs von Nutzbesitz.
Neuland wurde auf 3 — 7 Jahre zum Anbau tiberwiesen, dann
in 2 Halften getheilt und der Ertrag der einen als Pacht be-
8timmt. Der Herr konnte den Complant ganz, die Nutzung auch
theilweise veraussern, durfte ihn oft allein kaufen oder in
Pfand nehmen; doch stand dem Bauern oft nach dreimaligem
oder einmaligem Angebot an den Herrn, mit dessen Beirath und
Zustimmung die Verausserung des Gutes zu, wobei der Kaufer
namentlich betreffe der Beendigung des Vertrages den gleichen
Bedingungen unterworfen blieb.
Derselbe gait in der Regel auf Lebenszeit, aber die Rtick-
gabe war auch hier am Ende des Jahrhunderts nur durch Zu-
gestandnisse zu erkaufen, der complant entwickelte sich gradezu
zur manus firma und gestattete dem Aermsten, unter leidlichen
Bedingungen Pachter zu werden.
Der Raum verbietet, auf das dritte Capitel, landarbeitende
Stande, Ackerbau und Handwerk, ausfuhrlich einzugehen, die
dort beriihrten Verhaltnisse sind allgemeiner bekannt und der
deutschen Entwickelung verwandter. Beachtenswerth sind die
Angaben fiber den Preis der Landarbeit und der Unfreien.
Dieser ist wenig h5her, als der Preis einer vollen Jahresarbeit,
betragt nur y8 von dem eines Pfluggespanns, wenig mehr als Vs
des hohen Pferdepreises. Es lag wohl wesentlich darin, dass
die Leistungen der Unfreien meist schon bemessen waren, dass
ihre Krafte nicht vollkommen ausgeniitzt werden durften. Eine
Hebung ihrer Lage ist unverkennbar, tritt namentlich in dem
den deutschen Fiscalinen verwandten Verhaltniss der coliberti
bervor. Diese erscheinen bald als Ackerbauer, bald als Hand-
werker, auch als Wirthschaftsbeamte. Der Vater des Colibertus
war hin und wieder ein Freier gewesen, er selbst besass oft
nicht geringe Mittel, war stolz auf Heimat und Eltern, deren
Namen er gern dem seinen hinzufugte. Kurz er war der Aristokrat
nnter den Unfreien. Die Coliberti kamen von Saintes und
Bourges bis nordlich von Paris und zur Grenze der Bretagne vor.
Wahrend die wirthschaftliche Lage dieser und anderer
Unfreien sich verbesserte, sanken die Freien in rechtlicher Be-
ziehung mehr imd mehr herab, die bauerliche Bevolkerung
schmolz zu einer Masse zusammen. Arme Freie gelangten in
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126 Rohricht, Beitrage zur Geschichte der Kreuzzuge.
Saintonge, Poitou, den Diozesen Chalons und M&con und nordlich
davon als Colonisten, als hospites, in bessere wirthschaftliche
Lage. Sie bereiteten wiiste Strecken und Wald fur den inten-
siveren Anbau vor und wurden dann oft gehindert weiter u
ziehen und gleich den iibrigen Bauern mehr und mehr an die
Scholle gebunden. Man erwartete bisweilen ihre Ergebung in
Unfreiheit. Man nannte sie auch habitatores, convenae oder ad-
venae, coloni, pulverei und albani (aubains). Bisweilen traten
sie in das Verhaltniss des champart ein, die hospites wurden unent-
geltlich angesiedelt und blieben meist einige Jahre abgabenfreL
Dann traten sie unter die Gerichtsgewalt des Herrn, zahlten
fiir den Schutz ein nach der Grosse ihres Besitzes bemessenes
salvamentum, batten fur den Loskauf aus der Gefangenschaft,
Verheiratung der Tochter, Kauf einer Burg durch den Herrn
taiile aufzubringen.
Auch das vierte Capitel, Natural- und Geldwirthschaft, be-
handelt grossentheils bekannte Dinge, stellt die grossen Er-
schwerungen des Kaufs und Verkaufs, namentlicb durch is
Lehnswesen und durch willkiirliche Zolle und Verkaufsabgabea
dar. Am meisten ausgebildet erscheint die Geldwirthschaft be-
reits in der Normandie, wo ofter Kauf und Verleihung an dea
Meistbietenden vorkommen.
Der Credit ist natiirlich, wie das Handwerk, noch in den
Anfangen, 4600 Solidi sind die hochste in Frankreich als Ter-
fiigbare Zahlungsmittel erwahnte Summe. (Besan^on, wo der
Verf. 7000 Solidi als erwahnt nachweist, gehort zu Burgund.)
Ein dankenswerther Anhang der vortrefflichen Schriftgiebt
eine Anzahl von Preisangaben und erlautert dieselben.
Konigsberg. v. Kalckstein.
xxxni.
Rohricht, Reinhold. Beitrfige zur Geschichte der Kreuzzuge.
2. Band. 8. (VIII, 452 S.) Berlin 1878. Weidmannsche Buch-
handlung. 10 M.
Der im Jahre 1874 erschienene erste Band von Rohricht's Bei-
tragen zur Geschichte der Kreuzzuge, welchen der Herr Verf. selbst
in dieser Zeitschrift (Jahrg. II, S. 221 ff.) angezeigt hat, enthielt dra
Arbeiten verschiedenen Lnhalts: eine Darstellung des Kreuzzuges
Kaiser Friedrich's II., eine Greschichte des Feldzuges Saladifl?s
gegen die Christen 1187 und 1188, und Auszuge aus Kamal-ad-diVs
Geschichte von Aleppo in der Uebersetzung von S. de Sacy.
Der jetzt vorliegende zweite Band beschaftigt sich nur mit einem
Gegenstande, mit den deutschen Pilger- und Kreuzfahrten nack
dem heiligen Lande bis zum Jahre 1300. Der Verf. erklart in
der Vorrede, dass der Entschlugs zu dieser Arbeit sich haupt-
sachlich aus einem patriotischen Gefuhl entwickelt hat, es ei-
schien ihm als eine nothwendige und lohnende Aufgabe, ahnliA
wie dieses fur andere Lander schon langst geschehen ist, so anch
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RBhricht, Beitrage zar Geschichte der Kreuzzuge. 127
fur Deutschland den Antheil, welchen unsre Nation an den
Kreuzziigen genommen hat, die Thaten der Deutschen im Morgen-
lande, in einer ubersichtlichen Darstellung zu vereinigen. Um
die grossen Schwierigkeiten dieser Arbeit, welche sich iiber
einen Zeitraum von mehr als 2 Jahrhunderten zu erstrecken
hat, nicht unnothig zu vermehren, hat er dem Begriff Deutsch-
land nicht die weiteste Ausdehnung gegeben, sondern solcho
Gebiete, welche schon damals zu dem Deutschen Reiche nur
noch in einer losen, heute in gar keiner Verbindung stehen
(Burgund, Lothringen, die Niederlande), ausgeschlossen, wenigstens
die Thaten und Geschicke der diesen L&ndern angehorigen Kreuz-
fahrer nicht mit derselben Ausfiihrlichkeit behandelt, wie die
der aus den eigentlichen deutschen Landen stammenden. Eine
Bolche Einschrankung der Aufgabe muss gewiss als gerechtfer-
tigt erscheinen, dagegen wiinscht Ref., dass der Verf. dieselbe
nach einer anderen Seite hin etwas weiter ausgedehnt hatte.
Die Geschichte des deutschen Ritterordens im heiligen Lande
hat hier keine irgendwie eingehendere Darstellung gefimden, von
diesem Orden ist hier nur ebenso beilaufig wie von den Templern
und Johannitern die Rede, selbst die Griindung desselben wird
in kurzester Weise berichtet. Ein Capitel, welches die aussere
und innere Geschichte dieses Ordens im Morgenlande im Zu-
sammenhange und ausfiihrlich behandelte, wiirde unsrer Meinung
nach ein sehr passender Abschluss fiir diese Arbeit gewesen sein,
welche es sich ja zur Aufgabe stellt, „die Erinnerung an die
Thaten unsrer Nation im heiligen Lande wach zu rufen und zu
befestigen". Vielleicht bringt ein spaterer Band der Beitrage
uns hiefur Ersatz.
Die vorliegende Arbeit zeugt von grossem Fleisse und aus-
gebreiteter Gelehrsamkeit. Der Verf. ist nicht nur mit dem
abendlandischen Quellenmaterial fur die Geschichte der Kreuz-
zuge auf das besto vertraut, sondern, als Kenner des Arabischen
und der arabischen historischen Litteratur, hat er auch von den
orientalischen Quellen einen viel weiteren Gebrauch machen
konnen, als es den meisten anderen Historikern moglich ge-
wesen sein wiirde. Dazu kommt dann eine ausgedehnte Kennt-
niss der neueren seinen'Gegenstand betrefifenden Litteratur, nicht
nur der deutschen, franzosischen und englischen, sondern auch
der anderer, fiir die Wissenschaft entlegenerer Lander. Wenn
der Vert fur die Geschichte der crsten vier Kreuzzuge sich in
der gliicklichen Lage befunden hat, auf zahlreichen vortrefflichen
Vorarbeiten fussen zu konnen, und wenn er hier, obwohl er be-
8tandig auf die Originalquellen zuriickgegangen ist, doch im
Grossen und Ganzen die Resultate friiherer Forschungen wieder-
gegeben hat, so hat er dagegen ebensowohl fiir die Vorgeschichte
der Kreuzzuge, wie auch fiir die Geschichte der spateren Expe-
ditionen erst selbst an vielen Stellen die grundlegenden For-
schungen anstellen miissen. Er hat diese Specialstudien grossten-
theik schon ftiiher in einer Reihe von Abhandlungen, welche
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128 Bohricht, Beitrfige zur Geschichto der Kreuzzfige.
theils in Sybel's historischer Zeitschrift, theils in den Forschungen
zur deutschen Geschichte und in Raumer's historischem Taschen-
buch erschienen sind, veroffentlicht und er hat hier meist nor
die Resultate derselben verwerthen, fur das Einzelne auf jene
friiheren Arbeiten verweisen konnen. Trotzdem ist auch hier
den Anmerkungen eine sehr bedeutende Ausdehnung gegehen
worden. Dem franzosischen Muster folgend, hat der Ver£ die-
selben nicht auf den einzelnen Seiten unter den Text gesetzt,
sondern den einzelnen Abschnitten hinten folgen lassen. Er
selbst bemerkt in der Vorrede, dass dieser Notenapparat, „um
dem gelehrten Leser eine Controle und die Mittel zu Detailstudien
zu geben, ausserordentlich reich ausgestattet ist," und in der That
finden wir dort nicht nur fortlaufend die chronikalischen und
urkundlichen Quellen, auf denen die Darstellung beruht, ange-
fiihrt, nicht seiten die Worte derselben, auch langere Stellen,
ausgeschrieben (einige, zwar nicht ganz neue, aber doch wenig
bekannte urkundliche Denkmaler sind hier vollstandig abge-
druckt, so S. 217 ein von dem Grossmeister der Johanniter mt
gestellter Invalidenpass, S. 322 ein Brief des Grossmeisters 4a
Tempelherren an den Bischof von Orleans vom Jahre 1243, 8.
287 flf. zwei weitere Briefe aus dem Morgenlande), sondern da-
neben auch Verweise auf jene zahlreichen und verschiedenartigen
Hiilfemittel, welche der Verf. selbst benutzt hat und deren Kennt-
ni8s er auch dem Leser eroflEnet. Uns scheint hier des Guten
etwas zu viel gethan. Der Verf. verwendet namlich die Fiille
seiner Gelehrsamkeit nicht nur zur Begriindung und Erlautenmg
solcher Punkte, welche zu seinem eigentlichen Thema gehoren,
sondern auch anderer Gegenstande, welche im Texte selbst, weil
ausserhalb dieses Themas liegend, nur kurz und beilaufig er-
wahnt sind. So lehrreich diese Nachweise iiber die verschieden-
artigsten Gegenstande, auch der ausserdeutschen Geschichte,
auch sein mogen, so werden sie doch kaum recht fruchtbriDgend
sein konnen, da die wenigsten sie in diesem Werke iiberhaupt
suchen werden. Ferner sind diese Uebersichten iiber Quellen
und Litteratur fur die verschiedenartigsten Punkte doch nicht
iiberall erschopfend, und endlich haben bei der Massenhaftigkeit
der Citate Irrthiimer und Ungenauigkeiten im Einzelnen nicht
ganz vermieden werden konnen. Von beiden letzteren Fallec
sind dem Ref. auf dem ihm bekannteren Gebiete manche Beispiele
aufgestossen: S. 15 Anm. 9 (zu S. 5) citirt der Verf als Quellen
fur den 1087 auf Antrieb Papst Victor's II. (soil heissen III)
unternommenen Zug der Pisaner und Genuesen nach der Nord-
kiiste von Africa: Wilhelm von Tyrus I, 10 und Baldricus I
S. 86, die eigentlichen Quellen dafiir aber sind: Annales Pisani
a. 1088, Caffari Annales Januenses, Bernoldi chron. a. 1088,
Gaufred Malaterra IV, 3 und vor Allem das von du Meril heraas-
gegebene Volkslied (s. Forsch. z. d. Gesch. VII, S. 102). S. 18
Anm. 18 (zu S. 10) fehlt in der Aufzahlung der Litteratur iiber
die Kampfe und Eroberungen der Araber im Westen des Mittel*
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Rohricht, Beitrilge zar Geschichte der Kreuzzuge. 129
meeres das Hauptwerk: Amari, Storia dei musulmani di Sicilia,
wahrend das ganz werthlose Buch von la Primaudie (soil heissen
Primaudaie) kaum die Erwahnung verdient. S. 49 Anm. 38 and
auch noch spater (S. 51) wird als Quelle citirt: Lupus Proto-
plast, bei Pertz III, 62; gemeint ist die unteritalische Chronik
des Lupus Protospatarius, welche bei Pertz VII (SS. V) abge-
druckt ist. S. 56 Anm. 101 wird fur einen Kreuzzug der Vene-
tianer 1123 citirt: Le (soil heissen De) Blasiis. La insurrezione
pugliese e la conquista normanna ad ann., vgl. Romania (soil
heissen Romanin) II, 38. Das Werk von De Blasiis ist aber
uicht annalistisch angelegt, daher ist dieses Citat dort garnicht
zu finden. Auffallig ist auch die mehrfach wiederholte Bezeich-
nung (s. S. 101 Anm. 81, S. 262 Anm. 55): N. Archiv fur altere
dwtsche Geschichtswerke (sic!)
Ref. erlaubt sich bei dieser Gelegenheit noch einen Punkt
m beriihren, in Betreff dessen er dem von dem Verf. angewandten
Verfehren nicht beipflichten kann, das ist die Schreibung der
arabischen Namen nach dem Fleischerschen Systeme. Er zweifelt
nicht, dass in Werken, welche vornehmlich fur Orientalisten von
Facli bestimmt sind, dasselbe sehr zweckmassig sein mag, das
Gegentheil aber scheint ihm der Fall zu sein bei Arbeiten, wie
die vorliegende, deren Leser zum allergrossten Theile in dieser
Hinsicht Laien sein werden. Diese aber wissen mit den Spiritus,
den Punkten und Strichen iiber und unter einzelnen Buchstaben,
den Accenten iiber Consonanten u. s. w. nichts anzufangen, fur
diese ware eine einfache phonetische Schreibweise, welche die
arabischen Buchstaben durch die entsprechend klingenden der
betreffenden, also hier der deutschen Sprache ersetzt, viel an-
gebrachter.
Ref. hofft durch diese Bemerkungen nicht don Verdacht zu
erregen, als ob er das Verdienst des Verf. und den Werth seiner
Arbeit irgendwie herabzusetzen beabsichtigte. Ln Gegentheil er-
kennt derselbe mit Freuden an, dass sie eine sehr lehrreiche
und tiichtige ist und dass durch sie eine empfindliche Liicke in
unsrer deutschen Geschichtsschreibung ausgefiillt wird. Der
Werth derselben wird noch wesentlich erhoht durch die Form der
Darstellung. Der Verf. erklart in der Vorrede, dass er jedem feuille-
tonistischen Aufputze, jeder kiinstlichen Zuspitzung entsagt habe,
und dass Sprache und Darstellung schlicht und treu sich dem
einfachen Inhalte anpassen sollen. Seine Darstellung ist aber,
wenn auch ein&ch, doch lebhaft und ansprechend, und indem
er nicht selten den Wortlaut der Quellen durchschimmern lasst,
weiss er derselben auch Warme und Farbe zu verleihen. Das
Werk ist so trotz aller darin entfalteten Gelehrsamkeit wohl ge-
eignet, auch einen weiteren Leserkreis zu interessiren.
Die Geschichte der deutschen Pilger- und Kreuzfahrten
nach dem heiligen Lande ist in 8 Capitel gesondert. Das erste
einleitende behandelt die Zeit von 700—1095, es schildert zu-
nachst die Motive, welche schon seit frtther Zeit, auch in
Mittbcilungcn a. d. hUtor. Litterateur. VU. 9
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130 RShricht, Beitr&ge zur Gesehichte der Kreuzzuge.
Deutschland zuerst Einzelne, dann grossere Schaaren zurUnter-
nehmung von Wallfahrten nach dem heiligen Lande getrieben
haben. Der Verf. hat schon friiher in einem Aufeatze iiber die
Pilgerfahrten nach dem heiligen Lande vor den Kreuzziigen (in
Raumer's historischem Taschenbuche 1875) ausfuhrlich iiber diesen
Gegenstand und iiber jene Pilgerfahrten selbst gehandeit, bier
wird nur die bedeutendste der von Deutschland aus unter-
nommenen Wallfahrten, die von 1064, an welcher sich mehrere
Tausende von Pilgern unter Piihrung des Erzbischofe Siegfried
von Mainz und anderer Bischofe betheiligten, genauer erzahlt
Dann verbreitet sich der Vert ausfuhrlich iiber die verschieden-
artigen Ursachen der spateren Kreuzziige, er spricht denselben
keineswegs ihre Berechtigung ab, er erkennt diese hauptsachlich
in ihrer Continuitat und er erklart es flir unhistorisch, sie irar
pathologisch als Producte des Aberglaubens und papstlichen
Ehrgeizes zu betrachten. Das zweite Capitel behandelt die Zeit
von 1096 — 1140. Ausfuhrlich wird hier das erste Erwacho
der Kreuzzugsbegeisterung in Folge der Thatigkeit Peters m
Amiens und des Papstes Urban H. geschildert (sonderbarer Wt«
wird hier auch die sagenhafte Tradition iiber Peter nock em-
mal wiederholt), dann ebenso eingehend iiber die Schickale
der zuerst ausgezogenen ungeordneten Schaaren berichtet, wo-
gegen die Ereignisse des eigentlichen Kreuzzuges selbst und der
kurzen Regierung Gottfrieds von Bouillon in Jerusalem nur in den
ausseren Umrissen vorgefuhrt werden. Daim folgt wieder eineaas-
fuhrliche Schilderung der Schicksale der beiden groesen Schaaren
von Kreuzfahrern aus Italien, Frankreich und Deutschland, welche
1101 auf dem Wege gegen Bagdad selbst in Klein- Asien zum
grossen Theile vernichtet worden sind; nur unbedeutende Reste
entkamen nach Palastina und haben dort an den Kampfen Konig
Balduin's I. Theil genommen. Endlich werden die Thaten des
Grafen Dietrich von Flandern erzahlt, der 1139 seinem Schwieger-
vater, dem Konige Fulco, zu Hiilfe zog. J)as dritte Capitel
(1144—1149) enthalt eine ausfiihrliche Darstellung zunaohst
der vorbereitenden Ereignisse des zweiten Kreuzzuges und w-
dann dieses selbst bis zur Heimkehr Konig Conrad's. Daran an-
geschlossen ist eine ebenso detaillirte Schilderung der Thaten
niederrheinischer , normannischer und englischer KreuzfidiiWi
welche auf der Fahrt zur See nach dem heiligen Lande sich
unterwegs bewegen liessen, an den Kampfen gegen die Araber
in Portugal Theil zu nehmen, und mit deren Hiilfe 1147 Lissabon
erobert worden ist. In dem vierten Capitel (1150—1187) wird
zunachst die nach dem ungliicklichen Ausgange des zweiten Kreuz-
zuges immer mehr zunehmende Bedrangniss des heiligen Landes
geschildert, sodann werden die vereinzelten Kreuzfahrten einig^
deutscher Fiirsten (des Grafen Dietrich von Flandern\ 1157 and
1165, Heinrichs des Lowen 1172, Philipps von Flandern 11^)
erzahlt. In dem funfteh Capitel (1188—1191), fur welches *r
Verf. als Vorarbeiten seine eigenen Abhandlungen iiber &#
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R5hricht, Beitriige zur Gsschichte der Kreuzziige. 131
Rustungen des Abendlandes zum dritten Kreuzzuge in Sybel's
Zeitschrift XXXIV und iiber die Belagerung von Akka in den
Forschungen zur deutschen Gesch. XVI, ausserdem namentlich
die trefffiche Arbeit von Riezler iiber den Kreuzzug Kaiser
Friedrich Barbarossa's benutzen konnte, erzahlt derselbe sehr
ausfuhrlich und in engem Anschlusse an den Bericht der Haupt-
quelle Ansbert diesen Zug Kaiser Friedrich's, die Vorbereitungen,
dann den friedlichen Marsch durch Ungarn, dann die Kampfe
anf dem Wege durch das griechische Reich, dessen Kaiser Isaac
Angelos anfangs in formlichem Biindniss mit Saladin stand,
schhesslich aber zum Frieden und zur Ueberfuhrung des Kreuz-
heeres iiber deq Hellespont genothigt wurde, sodann den miihe-
und gefahrvollen Zug durch das Innere von Klein-Asien und
endlich durch GQicien bis zum Tode des Kaisers. Dann wird
ebenso eingehend von den Thaten und Schicksalen der zur See
abgereisten norddeutschen Kreuzfahrer berichtet, welche wieder
zunacbst in Portugal an den Kampfen gegen die Araber, der
Belagerung und Eroberung von Silvas Theil nahmen, dann nach
Palastina segelten und hier mit Konig Guido zusammen die Be-
lagerung von Akka begannen, an welcher dann nachher auch
die Ueberreste des grosssn Heeres unter Herzog Friedrich von
Schwaben, spater ja auch die englischen und franzosischen
Schaaren unter den Konigen Richard und Philipp AuguBt Theil
nahmen. Die Belagerung dieser Stadt wird bier nur bis zum
Tode Herzog Friedrich's ausfuhrlich erzahlt, die spateren Ereig-
nisse, an denen die Deutschen keinen Antheil genommen haben,
nur kurz beriihrt. Im sechsten Capitel (1192 — 1204) werden
znnachst die Kreuzzugsriistungen Kaiser Heinrich's VI. geschildert,
and dann ausfuhrlich die Schicksale und Thaten der von dem-
selben unter dem Kanzler Conrad, dem Erzbischofe Conrad von
Mainz und dem Herzoge Heinrich von Lothringen vorausgesandten
Schaaren erzahlt: die Eroberung von Beirut, die vergebliche
Belagerung von Turon und die Heimkehr, wahrend, wie schon
erwahnt, die Griindung des deutschen Ritterordens nur kurz be-
handelt wird. Auch iiber die Ereignisse des vierten Kreuzzuges
gegen Constantinopel giebt der Verf. nur eine kurze Uebersicht,
ausfuhrlich erzahlt er nur die Schicksale der Deutschen, welche
damals wirklich nach dem heiligen Lande gezogen sind, des
Abtes Martin von Pairis und des Bischofes Conrad von Halber-
stadt Das siebente Capitel (1205 — 1221) behandelt Ereignisse,
mit denen der Verf. durch specielle Studien besonders genau
tertraut ist. Schon friiher hatte er einen Aufsatz iiber den
Kinderkreuzzug (in Sybel's Zeitschrift XXXVI), einen anderen
iiber die Kreuzzugsbewegung im Jahre 1217 (Forsch. z. d. G.
1876) und einen dritten iiber die Belagerung von Damiette
(Raumer's Taschenbuch 1876) veroffentlicht und er giebt jetzt
Scriptores minores quinti belli sacri im Auftrage der Soci6te
pour la publication de textes relatife a Thistoire et la geographie
de Torient latin heraus. Auch hier erzahlt er ausfuhrlich die
9*
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132 Rohricht, Beitrfige zur Geechichte der Kreuzzflge.
Schicksale der deutschen Kinder, welche sich zur Theilnahme
an der unseligen Unternehmung des Jahres 1212 hatten ?er-
leiten lassen, sowie die Ereignisse des funften Kreuzzuges, zu-
nachst die ganz erfolglosen Unternehmungen der unter Konig
Andreas von Ungarn und Herzog Leopold von Oesterreich nach
Palastina gezogenen Schaaren, die Belagerung von Damascus
und der Burg auf dem Berge Tabor, dann die Thaten, welche
die zur See ausgezogenen hollandischen und norddeutschen Pilger
unterwegs wieder in Portugal verrichtet haben, dann aber den
Zug nach Damiette und die Belagerung dieser Stadt, zu welcher
sich jene norddeutschen Ereuzfahrer mit den nach dem Abzuge
des Konigs Andreas unter Leopold yon Oesterreich zuriickge-
bliebenen deutschen Schaaren und der Streitmacht, welche Konig
Johann von Jerusalem herbeifuhrte, vereinigten. Die ausfuhr-
liche Schilderung reicht bis zur Eroberung des Inselthurmes und
dem Abzuge Herzog Leopolds, der weitere Verlauf der Ereig-
nisse, an welchem die Deutsohen keinen hervorragenden AntW
genommen haben, wird nur kurz berichtet. Den Kreuzzug Ka*r
Friedrich's II. hatte der Verf. schon ausfiihrlioh in dem erstta
Bande der Beitrage dargestellt, er hat denselben daher hier
gar nicht weiter beriicksichtigt. In dem letzten, achten C^)itel
(1230—1291) erzahlt er die Unruhen, welche bald nach Aw
Abzuge des Kaisers in Palastina ausbrachen, die Erhebung der
syrischen Barone, unterstxitzt durch die Venetianer gegen dessen
Statthalter, den Marschall Richard, die anf anglichen Vermittlungs-
versuche Papst Gregor's IX. und dann die fruchtlosen Bemiihungen
desselben, eine neue Kreuzfahrt zu Stande zu bringen. Zum SchlusB
berjchtet er iiber die letzte von Deutschland, von Friesland aas
1270 unternommene Kreuzfahrt, deren Theilnehmer zunachst vor
Tunis mitkampften, dann nach Palastina gingen, aber theils dort,
theils auf dem Meere zum grossten Theil umgekommen sind.
Diesem Haupttheile des Bandes sind zwei Beilagen hinzu-
gefugt: ein um&ngreiches chronologisches Verzeichniss aller be-
kannten deutschen Pilger und Kreuzfahrer vom 5. Jahrhunderte
an bis 1300, dessen Haupttheil der Verf. schon fruher im 7. Bande
der Zeitschrift fiir deutsche Philologie (1876) veroflfentlicht hatte
und welches er hier nooh an 'einigen Stellen hat verbessern und
vervollstandigen konnen, dann ein kurzer Aufeatz : die Sagen vol
deutschen Kreuzfahrern, in dem keineswegs diese Sagen ausffil^
lich erzahlt, sondern nur die in denselben vorkommenden histo-
rischen Ziige zusammengestellt sind. Darauf folgen einige Ver-
besserungen zu dem im ersten Bande der Beitrage abgedruckten
Auszuge aus der Geschichte Aleppos von Kamal-ad-dSn, welche
der Verf. Herrn Defremery verdankt, endlich zwei Register, em
historisches und ein geographisches , welche auch den ersteo
Band dieser Beitrage mit umfassen.
Berlin. F. Hirsch.
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AnnB Comnena Vol. II. ed. Reifferscheid. 133
XXXIV.
Corpus scriptorum historiae Byz^ntinae. Anna Comnena Vol. II.
— Annae Comnenae Alexiadis Libri X — XV. Recensuit, L.
Schopeni interpretationem latinam subiecit, P. Possini glos-
sarium, C. Ducangii commentaries, indices addidit Augustus
Reifferscheid. 8° (XII u. 828 S. u. 4 tafeln). Bonnae
Impensis Ed. Weberi 1878. 18 M.
Dass die Ausgabe der Anna Comnena von Schopen in der
Bonner Sammlung der byzantinischen Geschichtsschreiber unvoll-
standig geblieben war (der erste, im Jahre 1839 erschienene
Band enthielt von den 15 Biichern der Alexias nur die ersten 9),
musste um so mehr bedauert werden, als einmal gerade der
letzte Theil des Geschiohtswerkes der gelehrten Prinzessin der
mtyressantere, die dort gegebene Darstellung des ersten Kreuz-
zuges, des spateren Verhaltnisses des Kaisers Alexius zu den im
Morgenlande gegrundeten christlichen Herrschaften und seines
Eampfes gegen Boamund auch fur die allgemeine Geschichte von
grosserer Wichtigkeit ist, und als andererseits diese Ausgabe im
Gegensatz gegen die meisten anderen in derselben Sammlung mit
Sorgfalt und Interesse fiir den Gegenstand gearbeitet war und
einen wirklichen Portschritt gegen die fruhere Ausgabe in der
Pariser Sammlung erkennen liess. Um so erfreulicher ist es,
dass jetzt, nach einem fast vierzigjahrigen Zwischenraum, durch
das Erscheinqn des zweiten, von Herrn Reifferscheid herausge-
gebenen Bandes das Werk seine Vollendung erhalten hat. Der
editio princeps in der Pariser Sammlung lag ein sehr unvoll-
standiger Codex Barberinus, welcher stellenweise durch L. Holstenius
axis einem ebenfalls nicht vollstandigen Codex Florentinus er-
ganzt war, zu Grunde. Der Herausgeber P. Possinus hatte
diesen, wie er selbst erkannte, noch immer liickenhaften und
sehr fehlerhaften Text einfach abgedruckt und seine eigene
Thatigkeit auf die Anfertigung einer zwar eleganten, aber sehr
freien lateinischen Uebersetzung beschrankt. Schopen hatte zur
Verbesserung dieses in der That sehr mangelhaften Textes
herangezogen einmal die von Montfaucon in der Bibliotheca
Coisliniana mitgetheilten Lesarten eines Codex Coislinianus aus
dem 12. Jahrhundert, ferner eine in Leyden befindliche von J.
Gronov freUich nach demselben Codex Barberinus gefertigte Ab-
schrift, endlich einen in einem Codex Monacensis befindlichen,
noch aus dem Anfange des 12. Jahrhunderts herruhrenden Aus-
zug aus der Alexias, welcher fur die ersten 7 Biicher recht aus-
fiihrlich ist und sich an vielen Stellen zur Herstellung eines
richtigeren Textes hiilfreich erwies, er hatte ferner selbst durch
zahlreiche vorsichtige und treffliche Emendationen nachzuhelfen
versucht. Das wichtigste Hiilfsmittel, jenen schon nach der
Beschreibung Bandini's als vortrefflich bekannten, auch aus dem
12. Jahrhundert stammenden Codex Florentinus hatte er fur
den ersten Band noch nicht herangezogen, erst im Jahre 1863
unternahm sein Schiiler H. Reifferscheid fur die letzten 6 Biicher
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134 Anna Comnena Vol. II. od. Reifforscheid.
eine genaue Vergleichung desselben, er schickte seine Collation
Schopen zu und dieser hat danach die Lesarten jener Hand-
schrift in sein Exemplar eingetragen, ist dann aber an der
weiteren Verwerthung derselben und der damals von ihm beabsich-
tigten Vollendung seiner Ausgabe durch den Tod verhindert worden.
H. Reifferscheid hat es dann nach langerer Zwischenzeit unter-
nommen, das von seinem Lehrer begonnene Werk zu Ende zu
fiihren. Seiner Ausgabe liegt nun die beste unter den bekann-
ten Handschriften, jene Florentiner, zu Grunde, leider war seine
eigene Collation in den Papieren Schopen's nicht zu fin den und musste
er sieh jnit der Abschrift desselben begniigen, welche sich freilich
nachtraglich als nicht ganz voUstandig erwiesen hat. Daneben
hat auch er jene Miinchener Epitome der Alexias und zwar in
der Originalhandschrift (Schopen hatte nur eine von Crusius
angefertigte Abschrift aus Tubingen vorgelegen) benutzt, aller-
dings enthalt dieselbe von diesen letzten Biichern nur einen
sehr gedrangten, sum Schluss unvollstandigen Auszug, der aber
doch eine nahe Yerwandtschaft mit dem Codex Florentines n-
rath und auch zu manchen Yerbesserungen desselben die Hani-
habe geboten hat Ferner hat er fiir den letzten, in der
Florentiner Handschrift nicht erhaltenen Theil (dieselbe bricht
im 8. Capitel des 14. Buches ab) den Codex Coislinianus selbst
genau collationirt, doch ist auch dieser am Schluss defect and
iiberhaupt, obwohl auch aus dem 12. Jahrhundert stammend,
keineswegs so gut wie der Florentinus. Die Yarianten der als
werthlos erkannten Gronovschen Abschrift hat er nur fur das
10. Buch angefuhrt, auch von einer Verwendung des Codex
Barberinus und eines Vaticanus, aus welchem L. AUatius einige
Stiicke mitgetheilt hatte, hat er Abstand genommen, da beide
Handschriften nur Abschriften des Coislinianus sind. Der mit
solchen Hiilfsmitteln festgestellte Text erweist sich nun in der
That als unendlich viel besser als derjenige der Pariser Aus-
gabe, an der Hand des Florentiner Codex ist eine Menge von
Fehlern, welche nicht nur sprachlich anstossig waren, sondeni
auch den Sinn theils undeutHch gemacht, theils geradezu ent-
stellt hatten, beseitigt word en, an manchen Stellen hat auch der
Herausgeber selbst nachzuhelfen versucht, doch ist auch er da-
bei mit anerkennenswerther Vorsicht verfahren, gewagtere Emen-
dationen sind nicht in den Text aufgenommen, sondern nur ifi
den kritischen Noten aufgefiihrt worden. Am meisten ist diese
emendirende Thatigkeit zuletzt, wo in dem Codex Coislinianus
eine weit weniger sichere Grundlage als friiher in dem Floren-
tinus vorlag, nothwendig gewesen, doch hat auch H. Reifferscheid
auf eine Erganzung der fast unzahligen Liicken in dem letzten
Capitel (XV, 11; die letzten 5 Blatter der Handschrift sind bier
durch Feuchtigkeit arg beschadigt worden) verzichtet und aei
hier darauf beschrankt, den Raum, welchen sie in den einzeln^
Zeilen einnehmen, auf Grund genauer, in der Handschrift vo*-
genommener Messungen zu bezeichnen und so getreu den traurigen
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"twr-
M^/
Anna Comnena Vol. II. ed. Beifferscheid. 135
Zustand dieser Handschrift vor Augen zu fuhren. Zum Gliick ist
sachlich an diesem letzten Capitel nicht sehr viel verloren, denn
dasselbe enthalt nur eine sehr weitlaufig ausgesponnene Schilde-
rung der letzten Krankheit des Kaisers und Klagen urn den
Dahingeschiedenen.
Der Druck dieses Bandes hat sich mehrere Jahre hinge-
zogen, erst als derselbe schon zum grossen Theil beendet war,
kam dem Herausgeber die Ausgabe der auf die Kreuzzugs-
geschichte beziiglichen Stiicke der Alexias (des grossten Theiles
der Biicher X— XIV) in die Hande, welche E. Miller in dem
1875 erschienenen ersten Bande der Auteurs grecs in dem von
der Pariser Akademie herausgegebenen Recueil des historiens
des croisades veranstaltet hat. Der Text dieser Ausgabe beruht
nicht auf dem God. Florentinus, sondern Miller hat fur den-
selben nur den Coislinianus und die Gronovsche Abschrift ver-
werthet, doch hat er nachtraglich noch den Florentinus ver-
glichen und ein Yerzeichniss der zahlreichen Varianten desselben
in einem der Vorrede hinzugefugten Anhange abdrucken lassen.
Eine Vergleichung derselben mit den von Schopen nach seiner
eigenen Collation notirten bestarkte in H. Keififerscheid den
Verdacht, dass Schopen seine Collation nicht vollstandig ver-
werthet habe, er ist im Jahre 1878 noch einmal nach Florenz
gegangen und hat dort die Handschrift nochmals sorgialtig
untersucht, er hat erkannt, dass allerdings nicht alle Lesarten
desselben beriicksichtigt waren, dass andrerseits aber auch Miller
sich an einigen Stellen geirrt habe, und er hat nachtraglich in
einem Anhange sowohl die friiher nicht bemerkten Lesarten
des Codex Florentinus als auch die Emendationen Miller's auf-
gefiihrt, von beiden sind einige von ihm als richtig und in den Text
aufzunehmen durch ein beigetugtes Sternchen bezeichnet worden.
Fiir die sonstige Einrichtung dieses Bandes ist das Muster
der friiheren Theile der Bonner Sammlung massgebend geblieben.
Dem griechi8chen Texte geht eine lateinische Uebersetzung zur
Seite; dieselbe ist schon unter Schopen's Leitung von einigen
seiner Schiiler angefertigt worden und sucht im Gegensatz gegen
die freie und oft ganz willkiirliche Uebertragung des Possinus
den Sinn des Originals getreu, aber ohne sich sclavisch an die
einzelnen Worte zu binden, wiederzugeben, der Herausgeber hat
dieselbe nur noch einmal revidirt und namentlich da, wo der
Text Veranderungen erfahren hatte, verbessert. Schopen hatte
in seiner Vorrede versprochen, dem zweiten Bande kritische und
erklarende Anmerkungen zu der ganzen Alexias beizugeben, doch
haben sich zu solchen keine Yorarbeiten in seinen Papieren ge-
funden, und H. Beifferscheid hat diese Arbeit nicht iibernommen.
Er hat sich darauf beschrankt, was auch schon Schopen ange-
kiindigt hatte, das Glossarium Annaeum, welches Possinus der
Pariser Ausgabe beigegeben hatte, sowie den umfangreichen,
hochst werthvollen historischen Commentar zur Alexias von
Ducange, welcher in jener Ausgabe sich in dem das Geschichts-
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136 Werurftky, Der erste RSmerzug Kaiser Karl IV.
werk de8 Johannes Cinnamus enthaltenden Bande zusammen
mit Anmerkungen zu diesem und zu Nicephorus Bryennius
befindet, wieder abzudrucken. Darauf folgen Indices, m.
historischer und ein sprachiicher zur Alexias und ein dritter,
in welchem die von Ducange in seinem Commentar behandel-
ten Gegenstande alphabetisch aufgefiihrt sind. Dann folgt
ein Verzeichniss der Addenda et Corrigenda, in welchem auch,
wie schon erwahnt, die fur den Text selbst nicht verwertheten
Lesarten des Codex Florentinus aufgefiihrt werden. DenSchluss
des Bandes endlich bilden 4 Tafeln mit Abbildungen, welche zu
den Noten Ducange's gehoren, bei denen aber leider eine jede
erklarende oder zurechtweisende Bezeichnung fehlt, so Am
man erst miihsam in dem Commentar herumsuchen muss, ehe
man die Stellen findet, zu deren Illustration sie dienen sollen
Tafel 1 gehort zu S. 459 und enthalt Facsimiles der in ihrer
Verschnorkelung ganz unkenntlichen Namensunterschriften der
Kaiser Balduin II. und Andronicus Palaeologus, Tafel 2, zu &
468 gehorig, stellt die beiden Flachen einer Goldbulle Kaier
Balduin's II. dar, welche Gewandung und Insignien der byzur
tiniBchen Kaiser erkennen lassen. Tafel 3, zu S. 491, enthalt
Abbildungen einiger sogenannter Romanaten, von Kaiser Romania
Diogenes gepragter Goldmiinzen, Tafel 4 endlich, zu S. 554,
stellt Miinzen der Kaiser Isaac, Alexius I. und Manuel Comnenus dar.
Berlin. F. HirscL
XXXV.
Werunsky Dr., Emil. Der erste Romerzug Kaiser Karl IV.
(1354—1355). gr. 8. (339 S.) Innsbruck 1878. Wagnersche
Universitatsbuchhandlung. 7,20 M.
Wer unbe&ngen durch den glanzenden, geistftmkelnden Stil
des Geschichtsschreibers der Stadt Rom, F. Gregorovius, das den
ersten Romerzug Kaiser Karls IV. behandelnde Capitel (B. VL)
gelesen hat, wird in ihm leicht die durchaus einseitige und t^i-
denziose Darstellung erkennen; der Standpunkt des Florentiuer
Chronisten Matteo Villani, der fur die geringste Handlung Kails
ein gehassiges Motiv sucht, sowie derjenige des Dichters Petrarca,
welcher sich in seinen auf den deutschen Konig gesetzten Hoff-
nungen einer Wiedererneuerung des Kaiserthums getauscht saht
ist von Gregorovius zu dem seinigen gemacht worden. Wir
konnen daher Werunsky nur begluckwiinschen , dass er dem
Beispiele seiner unmittelbaren Vorganger Friedjung (Kaiser
Karl IV.) und Milan (Kaiser Karl IV. Romerzug, Programm der
Staatsunterrealschule in Karolinenthal bei Prag) folgend im
Anschluss an sein im vorigen Jahre erschienenes Buch: ItaL
Politik Papst Innocenz VI. und Konig Karl IV. in den Jahm
1353 u. 54, (130 S.) eine gerechtere und unparteiisohere Wiirfr
gung Kaiser Karls IV. und seines ersten Romerzuges versucht hat
Nach dem Verlauf desselben war die Theilung in 4 Capitel:
I. Zug durch Lombardien, II Zug durch Tuscien, DX Die Kaiser-
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Werungky, Der erste Romerzug Kaiser Karl IV. 137
kronung, IV. Riickzug, von selbst gegeben. Bekanntlioh hatte
Konig Earl den Antritt seines Romerzuges so lange hinausge-
schoben, bis er als ein Retter aus der Noth von den tuscischen
Communen und Venedig gegen die alles erdriickende Macht des
energievollen Visconti, Erzbischof Giovanni, angerufen wurde. Mit
einem kleinen Gefolge von nur 300 Bittern brach Karl wahr-
scheinlich am 26. Sept. 1354 von Niirnberg auf, zog iiber Regens-
bnrg, Salzburg, die hohen Tauern nnd die karnischen Alpen nach
Friaul, von wo aus ihn sein Bruder Nicolaus, Patriarch von
Aglei, begleitete. Als er iiber Padua am 10. Nov. in Mantua an-
gelangt war, fand er die politischen Verhaltnisse Oberitaliens
durch den am 5. Okt. erfolgten Tod des Mailander Tyrannen
verandert. Dessen Nachfolger, seine Neffen Matteo II., Bernabo
und Galeazzo II., mussten zunachst auf die Erlangung eines
Rechtstitels zur Sicherung ihres Besitzes bedacht sein; daber
konnte Karl mit Erfolg sein Friedenswerk beginnen, und wirk-
lich brachte er nach langen Unterhandlungen einen Waffenstill-
stand unter den Parteien zu Stande. Seinen eigenen Vortheil
vergass der Konig nicht dabei: er traf mit den Visconti ein
Separatabkommen, nach welchem diese seine Kronung mit der
lombardischen Krone in Mailand zuliessen (am 6. Jan. 1355).
Sein Aufenthalt glich trotz der ihm zu Ehren in ostensiver Weise
reranstalteten militarischen Paraden mehr einer Gefangenschaft.
Am Sonntag, den 18. Januar, um 2 Uhr nachmittags erfolgte der
glanzende Einzug des Konigs in Pisa. In dieser Stadt war seit
dem Tode des Grafen Ranieri im Jahre 1347 eine Spaltung der
gesammten Burgerschaft eingetreten; der mehr guelfisch gesinn-
ten Partei, an deren Spitze Andrea Gambacorta stand, gehorte
hauptsachlich der Popolo grasso, d. h. der in hohere Ziinfte
gegliederte, reiche Kaufmannsstand an ; sie hatte von ihren mehr
ghibellinisch gefarbten Gegnern des Adels und des Popolo
minuto, d. h. des in niedere Ziinfte organisirten Handwerker-
standes den Spottnamen der Bergolini „der Einfaltigen" erhalten,
wogegen sie der Gegenpartei mit der Bezeichnung der Raspanti
ffRauber" antwortete. Die Zwistigkeiten der Parteien wusste
Karl so geschickt zu benutzen, dass ihm von der herrschenden
Familie der Gambacorta die Signorie iiber Pisa sammt Graf-
schaft und Gebiet iibertragen wurde. Der das Volk von Pisa
reprasentirende Consiglio generale, unwillig daruber, dass er in
dieser Angelegenheit iibergangen worden war, murrte; doch
wurde eine Einigung erzielt durch die Einrichtung einer Executiv-
commission von 24 gleichmassig aus jeder Partei erwahlten
Burgern (riformatori), welche behufs Neubesetzung der Aemter
gemeinschaftlich mit dem Konige unterhandeln sollten.
In Florenz war man lange unschliissig, welche Haltung man
Karl gegeniiber beobachten solle: man entschied sich schliesslich
fiir den Weg diplomatischer Verhandlung mit der Forderung,
dass die Selbstandigkeit der Commune erhalten werde. Die
anfangs zuversichtliche Haltung von Florenz gerieth ins Schwanken
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138 Wcrunsky, Der erste Romerzug KaUer Karl IV.
durch den offenen Uebertritt Sienas in das konigliche Lager,
da diese Stadt die Stimmung der der straffen Fiihrerschaft Yon
Florenz iiberdriissig gewordenen mittelitalischen Gommunen be-
nutzte, sich auf eigene Fiisse zu stellen, und dem Eonige die
Signorie ubergab. Andere Stadte folgten dem Beispiele. Auf
diese Weise in die Enge getrieben und durch die taglich wach-
sende militarische Macht Earls kleinlaut geworden, schloss die
Florentiner Commune mit diesem am 20. Marz einen Yertrag
folgenden Inhaltes: Earl hob alle Verdammungs- und Straf-
urtheile seiner Vorganger auf und ernannte die jeweiligen Prioren
der Ziinfte und den Bannerherrn der Gereohtigkeit (gonfaloniere
della giustizia) fiir die Dauer seines Lebens zu seinen General-
yicaren in Stadt, Grafsohaft und District von Florenz; miuidlich
gab Earl den Gesandten das Versprechen, Florenz odor Gebiet
weder personiich zu betreten noch bewaffnete Mannschaft dort-
hin zu schicken. Dagegen erkannte die Commune Earl ais
romischen Eonig an, verpflichtete sich zur Zahlung eines jakr-
lichen Zinses von 4000, sowie einer einmaligen Zahlung m
100000 Goldgulden, ferner auch zum Erlass einer Amnestie Si
die seit der Zeit Eaiser Heinrichs VII. Exilirten.
Mit diesem Erfolge durfte Earl wohl zufrieden sein; sein
naehster Gedanke war die Eaiserkronung in Bom. Mit seiner
inzwischen eingetroffenen, erst sechszehnjahrigen Gemahlin Anna
und dem zur Eronung abgeordneten Cardinalbischof Peter von
Ostia brach der Eonig am 22. Marz auf. In Siena gab seine
Ankunft das Zeichen zu einer langst im Stillen vorbereiteten
Erhebung des mit dem niedern Volk, dem Popolo minuto, ver-
biindeten Adels gegen die Herrschaft der „Neun", welche die reiche,
handeltreibende Bourgeoisie vertrat; Earl wurde gedrangt, mit
den Emporern gemeinsame Sache zu machen, und da er auf
ihrer Seite den Vortheil des Augenblicks fand, gab er ihnen
nach. Die Commune leistete den Treueid, und nachdem bei der
Verfassilngsberathung der Adel #wegen seines anmassenden Be-
nehmens von dem Popolo minuto zuriickgewiesen war, wurde
die Verfassung der Stadt Siena in folgender Weise geregelt:
12 populare Signoren — 4 aus jedem der 3 Stadttheile gewahlt
— bilden fur je 2 Monate die Regierung ; einer von ihnen ist
Capitano del Popolo; 6 Vertreter des Adels, 2 aus jedem Stadt-
theil, stehen in wichtigen Fallen den Zwolfen zur Seite.
Darauf setzte Earl seinen Marsch nach Rom fort in fie-
gleitung des Cardinals, welcher am 2. April daselbst einzog,
wahrend der Eonig nur in dem Incognito eines Pilgers die
heiligen Statten besuchen durfte. Am 5. April fand die Eaiser-
kronung der beiden Majestaten in herkommlioher , feierlicher
Weise statt; 16000 Bitter und berittene Enechte zahlte man in
seinem Gefolge, Ungefahr 1500 Personen, unter andern and
dem altghibellinischen Geschlecht der Colonna, wurde die Ete
des Ritterschlages zu theil. Der Glanz der Eronung verhullto
kaum den Makel und die Erniedrigung, in der der Gekronte
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Wernnsky, Der orate Koraerzug Kaiser Karl IV. 139
dem Papste alle Rechte und Besitzungen der romischen Kirche,
sowie alle Concessionen seines Grossvaters Heinrich, „dcs letzten
Kaisers", bestatigte und noch am Kronungstage Rom zu ver-
lassen versprach.
Auf dem Riickzuge von Rom traf der Kaiser in Siena mit
dem Cardinallegaten Albornoz zusammen, welcher bislang jede
Annahernng an Earl vermieden hatte, jetzt aber wegen Mangels
an Geld und Truppen seine Hilfe suchte. Der Kaiser hatte dieselbo
bereits zugesagt, als ein entscheidender Sieg des Oberfeldherrn
der Kirche, Ridolfo da Camerino, den dieser iiber die Malatesta,
die gefahrlichsten Gegner des Papstes in der Romagna, am
29. April bei Paterno erfocht, gemeldet wurde. Albornoz kehrte
beruhigt auf den Kriegsscbauplatz zuriick, Karl dagegen brach
nach Pisa auf, nachdem er zuvor noch unter Zustimmung des
Popolo minuto seinen Bruder Nicolaus als Signoren der Stadt
zuriickgelassen hatte. In Pisa waren, sobald Karl den Rucken
wandte, die Parteien heftiger als jemals aneinander gerathen:
in der Absicht, die Gegenpartei in den Augen des Kaisers herab-
zusetzen, buhlte eine jede urn die Gunst desselben, und auf Be-
treiben der Raspanti war ihm schliesslich die voile Signorie
iiber Pisa und Lucca iibergeben worden. Jetzt erhohte die
Ankunft Karls die Gahrung der Gemiither; verschiedene Um-
stande, welche sich unglucklicher Weise begegneten, riefen in
kurzer Zeit eine encrgische, revolutionare Bewegung hervor,
deren Karl schwerlich Herr geworden ware, wenn nicht auf
Vermittelung der Gonzaga die Raspanti im letzten Augenblicke
zu ihm ubergetreten waren. So wurde der Aufstand blutig
niedergeschlagen ; drei der Gambacorta, welche ihn schiiren
halfen und dann vor dem Kaiser die Unschuldigen spielten,
bussten ihren Verrath mit dem Tode durch Henkershand. Der
Lohn, welchen Karl den Ueberlaufern zahlte, bestand in der
Preisgebung Luccas, dem er die Wiedererlangung der commu-
nalen Selbstandigkeit in Aussjcht gestellt, nachdem die Floren-
tine^ wie W. in ansprechender Weise vermuthet, die verlocken-
den Anerbietungen zum Kauf Luccas abgewiesen hatten. Der
Compromiss zwischen dem Kaiser und den Raspanti war fur
Beide wenig ehrenvoll, und daher erscheint der Versuch des
Verf., den ersteren zu rechtfertigen, misslungen, wenn er sagt,
nKarl habe sich mit den Lucchesen verstandigerweise nicht so-
weit eingelassen, dass ihn die Pisaner hatten der Liige zeihen
konnen ; sein Verhalten sei ein correctes gewesen, da der Status
quo, zu dessen Aufrechthaltung er sich frUher den Gambacorta
gegeniiber verpflichtet hatte, ohne seine Schuld geandert sei"
(S. 264, 265), wahrend der Verf. riohtig, wenn auch den vorigen
Ausfiihrungen widersprechend, S. 276, 277 bemerkt, „dass Karl
in dem Augenblicke, wo er sich mit den Raspanti in Unter-
handlungen einliess, den Gambacorta das konigliche Wort brach".
WShrend dieser Ereignisse war die Stellung des Patriarchen
in Siena unhaltbar geworden; der Popolo minuto hatte schliess-
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140 Werunsky, Der erste Romerzng Kaiser Karl IV.
lich den Adel vollig von der Theilnahme am Regiment ausge-
schlossen, und Nicolaus es fiir das Beste gehalten, die Signorie
in die Hande dee Volkes zu legen und mit des Kaisers Zustim-
mung zu diesem zuriickzukehren. Zu derselben Zeit war dem
thatkraftigen Albornoz die Unterwerfung der Mark Ancona ge-
lungen und damit die Horrschaft des papstlichen Stuhles
in dem fruheren Urafange in Mittelitalien wieder hergestellt,
ohne dass Kaiser Karl der papstlichen Politik Schwierigkeiten
in den Weg gelegt hatte. Offenen Kampf scheute er; zufrieden,
zwei Kronen ohne Kosten und ohne grosse Miihe erlangt zu
haben, trat er seinen fluchtahnlichen Riickzug nach Deutschland
an, welcher ihm schon bei den Zeitgenossen Verachtung und
Spott eintrug.
Der Werth dieser fleissigen, stellenweise fesselnd geschrie-
benen Studie beruht weniger auf der Mittheilung neuer That-
sachen und der heutzutage beliebten Entdeckungen als auf einer
sorgfaltigen Zusammenfassung und Sichtung des bislang bekaiffl-
ten Materials, sowie einer wiirdevolleren und ruhigeren Bter-
theilung von Karls Charakter und Handlungen, bei der freilich dieser
an manchen Stellen sich fiir die Milde seines Richters bedankenmag.
Indess kann dem Verf. ein zwiefacher Vorwurf nicht erspart bleiben:
der eine betrifft die Form der Darstellung, welche durch Mit-
theilung ganz gleichgiiltigen Details ungehorig aufgebauscht ist,
der andere die Art seiner kritischen Methode. Zunachst ware
trotz der Einleitung zu Hubers Regesten ein umfassender Ab-
schnitt iiber die Quellen jener Zeit und ihre Beziehungen zu
einander wiinschenswerther gewesen als die seitenlangen An-
merkungen, welche den Leser storen und Wiederholungen nothig
machen. So hat der Verf. es unterlassen, — der Tadel triffi
in hoherem Grade noch des Verf. „Ital. Ereignisse" S. 84 Anm. 1
und sonst — das Verhaltniss des Chr. Estense zu der Cronica
di Bologna und dem Polistore klarzulegen; es stehen sich bis-
lang die Ansichten Knolls, dessen Buch „ Beit rage zur ital
Historiographie im 14. Jahrh.", Gott. 1876, der Verf. nicht zu
kennen scheint, Perlbachs im XII. B. der Forschgn. z. deatsch.
Gesch. und diejenige des Referenten (Kritische Erorterungen zn
einigen italienischen Quellen, Gott. 1874) unvermittelt gegentiber.
Perlbach ist der Ansicht, dass die Historia miscella Bonon. stets deu
Polistore benutzt habe, wahrend dieser bis 1354 das Chr. Estense
ausschreibe, aber fiir die Jahre 1354 — 67 vom Chr. Est. augge-
schrieben werde. Knoll dagegen S. 59 sucht im Gegensatz zu
dieser Ansicht und der des Referenten, der entwickelt, dass die
Hist. misc. Bonon. und der Polistore von einander unabhangig,
aber beide durch das Medium einer italienischen Uebersetzung
geflossen seien, die Verwandtschaft der drei Quellen so zu er-
klaren, dass die Jahre 1354—67 direkt aus dem Chr. Est in
den Polistore iibergingen, die Historia misc. B. dagegen direkt
aus dem Polistore fur diese Jahre entlehnt habe. Ebenso hatte
Abschnitt IV bei Knoll, wo dieser fiir die Cronaca Pisana des
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Gothein, Politische und religiose Volksbewegungen vor der Reformation. 141
Ranieri Sardo eine verloreue Quelle nachweist, wohl Erwahnuug
verdient.
Bremen. Dietrich Konig.
XXXVI.
Gothein, Eberhard. Politische und religiose Volksbewegungen
' vor der Reformation, g. (124 S.) Breslau 1878. Wilhelm
Koebner. 3 M.
So lange die letzten Jahrzehnte des funfzehnten Jahrhunderts
noch nicht von competenter Seite eine eingehendo und zusammen-
fassende Bearbeitung gefunden haben, wird jeder Beitrag zur
Kenntniss dieses uberaus interessanten und bedeutsamen Zeit-
abschnittes mit Dank entgegengenommen werden miissen, aber
der Natur der Sache nach auch nur ein Brucbstiick bleiben.
Das ist aucb der Fall mit dem vorliegenden Buche, welches
mancherlei der Zeit nach Zusammengehorige neben einander
stellt und in innere Verbindung zu setzen sucht, iibrigens seinem
Titel keineswegs genau entspricht. Denn soweit von den Reform-
Yersuchen des Kurfiirsten Berthold von Mainz gesprochen wird,
kann von einer politischen Volksbewegung kaum die Rede sein.
Die Einleitung beginnt mit dem auffalligen Satze: „Mit der
kurzen glanzenden Laufbahn des burgundischen Reiches hatte
fur Europa eine neue Phase der Politik begonnen." Das ist
ebenso wenig begriindet, wie das daran gefugte Urtheil: „Unter
wilden inneren Kfimpfen hatte sich der alte Lehensstaat erschopft,
der Fiirstengewalt, die in seine Erbschaft eintrat, fielen uner-
wartet schnell alle geistigen und materiellen Krafte der Volker
zu," Weder in dem deutschen Reich, noch in irgend einem
Territorium mochte sich dieser Satz auch nur entfernt bewahr-
heiten lassen. An einige theils allgemein gehaltene, theils schiefe
Phrasen iiber die Reichsreformversuche vor 1476 schliesst sich
eine Betrachtung iiber die durch Karls des Kiihnen Auftreten
veranlasste Mnationale Bewegung": ziemlich unvermittelt folgt
eine Notiz iiber die Pilgerfahrten nach dem heiligen Blut zu
Wilsnack 1475 und dann die Geschichte des Pfeifers von Niklas-
liausen. Neues wird nicht gegeben weder hinsichtlich des Stoffes
noch der Beurtheilung der Bewegung: das von Barak ver-
offentlichte Material liegt zu Grunde; dass man in der Niklas-
hauser Angelegenheit ein Vorspiel des grossen Bauernkrieges zu
sehen hat, ist nachgerade auch geniigend hervorgehoben, auch
vom Ref. in seiner Arbeit iiber Fr. Reisers Reformation des
Konigs Sigmund. Hatte der Verf. eine geniigende Kenntniss
von der Continuitat der aus der Husitenzeit stammenden Be-
wegungen auf socialem Gebiet, so wiirde er aber nicht schliessen:
nNach der nationalen Bewegung des burgundischen Erieges er-
schienen diese Volksbewegungen wie die letzten unregelmkssigeu
Pendelschwingungen, wenn das Uhrwerk bereits abgelaufen ist.u
G. fuhrt seine Untersuchung mit folgenden Satzen fort:
»Nie fuhrt in der wirklichen Welt ein grosses Ereigniss zu einer
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142 Gothein, Politische und religiose Volksbewegungen Yor der Reformation.
so vollstandigen Abwicklung der Stimmungen, wie sie da8 Ziel
der Tragodie sein soil. Eine Spannung, ein Gefuhl der Unbe-
friedigung bleibt in jedem Fall zurtick, am starksten freilich da,
wo sie mit einer Enttauschung verbunden ist.u Dergleichen
ist lediglich Ballast fur jede ernste wissenschaftliche Ar-
beit. Um von der Stellung des Clerus zu diesen popnlaren
Bewegungen zu sprechen, waren die gewahlten Umwege nicht
noting. Dagegen macht G. eine feine Bemerkung mit Bezug
auf Diethers von Mainz Erlasse gegen die Niklashauser Fahrten.
Natiirlich ist die Geistlichkeit dem Auftreten prophetischer, on-
gebildeter Laien feindlich, aber „freilich richteten sich diePrin-
cipien Diethers gegen die ganze mittelalterliche Kirche, wenn
er erklart, dass eine Enthiillung von Offenbarungen iiber die
spateren Schicksale der Welt iiberhaupt unmoglich sei, weun
er sich halbspottisch gegen die Pratension besonderer HeiBg-
keit eines Ortes wendet, als ob selbst heilige Manner Hob: mid
Steinen solche Kraft geben konnten". Damit, meint G., sei &
jederzeit mogliche Wiederholung des Wunderbaren, auf dem &
ganze katholische Kirche beruht, verneint. Auch Sebastian
Brant in der bekannten Stelle des „Narrenschiffsu will nurwfl
alten und neuen Testament wissen. „In diesem Zuriiokgehen aai
eine unverriickbare, als Ideal hingestellte, in der Vergangenbeit
liegende Grundlage haben sich Renaissance und Reformation am
engsten beriihrt".
Capitel I, betitelt „die Partei der Reichsreform und das
VolkM, beschaftigt sich zunachst mit Berthold von Mainz. Ori-
ginalitat will ihm G. nicht absprechen, aber „der Staatsmann
will gemessen sein nicht nur nach der Folgerichtigkeit und
Originalitat seiner Ideen, sondern auch nach deren praktischer
Giiltigkeit und nach der eigenen Fahigkeit, wirkend das dar-
zustellen, was er denkend als Ziel erkannt hat. Diese Probe
halt Kurfiirst Berthold nicht aus". Bevor man eine ausreichende
Arbeit iiber Bertholds gesammte Thatigkeit besitzt, kann man
ihn iiberhaupt nicht mit absoluter Sicherheit beurtheilen: ihn
zu verurtheilen, weil seine Plane iiber die Begriffe und den
guten Willen seiner Zeitgenossen hinausgingen, diirfte aber kanm
statthaft sein. G. weist darauf hin, dass die eigentlich popular*
Forderung noch immer der Landfrieden war, dagegen fur da
Kammergericht niemand schwarmte : dass gegen die Reichssteae*
von Seiten der Stadte, denen er zu wenig Rechte eingeranM
die Redensart vom „ewigen Servitut" vorgebracht wurde. Beides
kann Bertholds Verdienste nicht schmalern: will man^ ihm znfl
Vorwurf machen, dass er richtig erkannte, wie die — keintf-
wegs neuerdings erst projectirte — Institution des Kammer-
gerichtes eine nothwendige Vorbedingung des Landfriedens war*
Auf die Opposition der Stadte ist wenig zu geben, nicht we»J
stolz auf ihre Stellung als Reichsstadte haben sie zu Sigma**
Zeiten, wie zu denen Friedrichs III. oft genug Reichsinteresse*1
im Munde gefuhrt, aber stets nur Kirchthurmpolitik getrieben.
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Gothein, Politische und religiSse Volksbewegungen vor der Eeformation. 143
Dass in einer Zeit des Uebergangee ein Organisator scheitert, ist
eben nicht auffallig. Gegen die Idee des „gemeinen Pfennigs"
spricht weder die Schwierigkeit ihn einzubringen, noch die
Theilnahmlosigkeit der Fiirsten, noch das „Geschrei des gemeinen
Mannes", dass ihm diese Steuer widerwartig sei. Und wenn
man nachher in sieben Jahren drei grundversohiedene Steuer-
plane vorlegte, so pflegt der von G. geriigte Uebelstand, „dass
man viel klarer war iiber das, was man abschaffen wollte, als
iiber das, was an die Stelle treten sollte", bei Neuerungen nicht
selten einzutreten.
Was G. dann iiber die Mangel der Matiikularbeitrage, iiber die
Concurrenz der „eilenden" nnd „grossen" Hiilfen sagt (S. 39 ff.)
ist durchaus sachgemass und geeignet, die seinen Ansichten iiber
Berthold entgegenstehende Meinung zu befestigen. Seine Argu-
mentation, dass die Reichskriegsteuer summum jus summa injuria
gewesen, ist nicht iiberzeugend; gewiss wurden die Hintersassen
zum Nachtheil der renten- und giiltenniessenden Herren be-
steuert, aber ohne Opfer war eine Besserung nicht zu erzielen.
Nor dass zu Opfern niemand bereit war.
G. stellt dann dar, wie man in Folge des Widerstandes
schliesslich in Augsburg das urspriingliche Princip „zu Gunsten
einer partiellen Einkommensteuer, verbunden mit einer Miliz-
ordnung" aufgab, hinsichtlich der Erhebung und Verwaltung die
Centralisationsgeluste fallen liess und ein Compromiss mit der
Landesobrigkeit schloss, deren Einfluss durchaus iiberwog.
Daraus, dass man den Stadten gegeniiber von vornherein
den „Erhebungsmechanismus sammt der Controle" preisgab,
folgert G., die Reformpartei habe mit dem Landvolk unbeschadet
experimentiren zu diirfen geglaubt ; dass speciell Kurfurst Berthold
in dem Landvolk eine „urtheilslose, an duldendes Gehorchen zu
gewohnende Masse" erblickt, scheint ihm daraus hervorzugehen,
dass der Mainzer der Erfinder der Biichercensur fur Deutsch-
land gewesen. „Dieses Auftreten im Felde der geistigen Inter-
essen ist typisch fiir sein ganzes Verhalten in der Politik." Auch
wird Berthold getadelt (S. 49), weil er mit der Geheimhaltung
der Reichsverhandlungen auf die Leitung der oflfentlichen Mei-
nung, und damit auf ein vorziigliches Agitationsmittel verzichtete.
Dass man sich der Religion, der Tiirkengefahr, bediente, um fur
den „gemeinen Pfennig", — der dann wirklich der „tiirkische
Pfennig" genannt wurde — Propaganda zu machen, wird von G.
schwer verurtheilt.
Im zweiten Capitel wird unter der Ueberschrift „K6nig
Maximilian und das Volk" zuerst der Gegensatz zwischen dieser
und der eben besprochenen Personlichkeit treffend gezeichnet,
darauf untersucht, ob Maximilians Politik, — denn Bertholds
Politik soil ja nicht deutsch-national gewesen sein, — nationale
und volksmassige Elemente enthalten habe. Der Verf. meint,
merkwiirdig genug, das lasse sich erst entscheiden, wenn wir
wissen, was der Konig fur volksmassig und national gehalten.
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144 Gothoin, Politiache und religiSsc Volkebowegungen vor der Reformation.
Ware der Satz rich tig, so wiirde es nichts objectiv-nationales
fur irgend eine Zeit geben. Ausgehend von dem Satze, Maximilian
sei das „erste reife Kind der Neuzeit gewesen" (?) kommterzu
dem Resultat, wenn auch die Ziele der maxim. Politik nicht
eigentlich nationale zu nennen waren, habe er doch stets ge-
strebt, fur dieselben nationale Begeisterung zu erwecken. Das ist
augenscheinlich keine Antwort auf die von G. selbst gestellte
Frage. Hierauf wird dargestellt, wie der Konig bei seinen ereten
Unternehmungen an der alten Form des „gemeinen Zuges" festhalt
und durch Flugblatter fur seine Plane Stimmung macht, dann
aber seit 1495 sich mit der Reichskriegsteuer der Reformpartei
befreundet, freilich nur, well es ihm dadureh moglich wird, an
Stelle buntscheckiger Gontingente mittelst berufemassiger Sol-
daten seine Kriege zu fuhren. Wenn der Verf. bei dieser Ge-
legenheit wiedernm auf die Burgunderkriege zu sprechen kommt,
„die das Selbstvertrauen des Volkes auf seine eigene Kraft iibewll
so machtig gestarkt hatten", so geht er von einer vorlaufig nodi
unbewiesenen Hypothese aus. Unseres Wissens ist die dentofli-
nationale Bedeutung des Neusser Zuges noch nirgends gescB-
dert, und wie weit und wie nachhaltig der Eindruck der Schweiza
Siege gewosen, miisste auch erst festgestellt werden. Gewis
haben die Burgunderkriege das Emporkommen des Landsknecht-
thunw befordert, aber nicht weil iiberall das Vertrauen d«
Volkes auf die eigene Kraft machtig erstarkt war, sondern weil
die Schweizer am Todtschlagen und Beutemachen Geschmadc
gefunden hatten und nun lieber im kriegerischen Beruf, als in
friedlichen Beschaftigungen ihr Brot suchten. Mit Maximilians
militarischen Massregeln beschaftigt sich der Rest des Capitels.
Im dritten Capitel: „Nichtpolitische Ursachen der Aufregttng",
wird yon Landfriedensbruchen, Hungersnoth und Franzosenkraii-
heit gesprochen, Cap. 4 behandelt „die Kreuzwunder". Maxi-
milian wiinschte die bussfertige Stimmung des Volkes zu einem
Kriege gegen die Tiirken auszunutzen. Der Landshuter Krieg,
dann die italienischen Ziige traten storend dazwischen, Nur der
St. Georgs-Orden, der, scheinbar ohne Zuthun des Konigs ent-
standen, den Zweck hatte, aus den zerfahrenen Adelselementen
eine dem Konige ergebene feste Truppe zu bilden, war das nach-
mals freilich unfruchtbare Resultat der religiosen Erregunf
Das letzte Capitel beschaftigt sich mit dem „Jubilaum", mittelst
dessen „alle geistlichen und weltlichen Behorden Vortheil
von der Erregung des Volkes hatten Ziehen wollen. B
schliesst sich diese Ablassagitation wie der Schlussstein in das
ganze G6baude dieser auf Ausbeutung einer religiosen Volks-
bewegung gerichteten Politik".
Berlin. Willy Boehm.
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Baumgarten, Ueber Sleidans Leben nnd Brief wechseL 145
xxxvn.
Baumgarten, Hermann, Ueber Sleidans Leben und Briefwechsel.
Mit einem Facsimile. 8°. (118 S.) Strassburg 1878. Karl
J. Triibner. 2,50 M.
Obwol Sleidan eine der bedeutendsten Personen des Refor-
mationszeitalters gewesen ist und Jahrhunderte lang fur einen
der ersten Histonker Deutschlands gegolten hat, existirt doch
noch keine eigentliche Biographie desselben; Baumgarten be-
zeichnet mit Recht die vorhandenen als nahezu werthlos, weil
der eine dem andern Unbewiesenes und Unbeweisbares nachge-
schrieben hat. Der Grund fiir diese Vernachlassigung eines der
hervorragendsten Manner jener schon so vielfach durchforschten
Zeit ist der, dass sich ganz auffallend wenig Nachrichten iiber
Sleidan und namentlich Briefe von ihm und an ihn haben auf-
finden lassen ; vielleicht deshalb, weil Sleidan selbst seine Corre-
spondenzen, die sich grossentheils auf politischem Boden be-
wegten, sorglich geheim hielt. Dieser Mangel an Stoif war es
olme Zweifel, was den fleissigen Christoph Carl am Ende, der
1767 eine Aufforderung zur Mittheilung von Material erliess,
veranlasst hat, die Arbeit unvollendet liegen zu lassen, nachdem
er sehr viel gesammelt hatte. Die Collectaneen am Ende's,
welche Baumgarten verloren glaubt, befinden sich iibrigens ini
Privatbesitz des Bibliothekars Ernst am Ende zu Dresden (vergl.
J. Petzholdts Neuen Anzeiger fiir Bibliographic und Bibliothek-
wissenschaft Jahrg. 1873 S. 181 Anm. 11).
Auch der Verfasser der vorliegenden Arbeit sieht sich nach
jahrelangem Suchen und Forschen genothigt, denselben Weg,
wenn auch nicht ohne Widerstreben, einzuschlagen, auf dem am
Ende zu einigen Resultaten gelangt ist; auch er wendet sich
an das gelehrte Publicum mit der Bitte, ihn auf weitere Spuren,
die sich auf das Leben des beruhmten (xeschichtsschreibers be-
ziehen, aufmerksam zu machen. So will unser Schriftchen
eigentlich nur ein Programm sein. Freilich ist es viel mehr
geworden, und wiirde, sollte auch Baumgarten schliesslich den Plan
-einer eigentlichen Biographie Sleidans aufgeben mtissen, den Mangel
^iner solchen wesentlich weniger empfindlich erscheinen lassen.
Zunachst (S. 9—44) giebt B. ein genaues Verzeichniss aller
ihm bisher bekannt gewordenen Briefe von und an Sleidan. Es
flind im Ganzen 152. Ist diese Zahl an sich schon verhaltniss-
massig klein, so lasst die iiberaus ungleiche Vertheilung der
Briefe iiber die Lebenszeit Sleidans die Liickenhaftigkeit des
Materials noch schmerzlicher empfinden. Dem Jahre 1545 allein
gehoren 47, den Jahren 1551 und 1552 36 Briefe an. Das
Verzeichniss giebt Datum, Anfangs- und Schlussworte jedes
Schreibens, endlich den Druck- oder Fundort und manche
dankenswerthe Anmerkung und Erganzung der bisherigen Drucke;
mit Hilfe desselben und namentlich auch des dem Schriftchen beige-
gebenen Facsimile eines Briefes Sleidans wird es hoffentlich ge-
lingen, weitere Nachrichten aufzufinden.
Mitthoilangeo a. d. hlstor. LlUeratur. VII. 10
Digitized by UOOQ IC
146 Baumgarten, Ueber Sleidans Leben and Briefwechse).
Den grossern Theil der Arbeit bildet eine knappe Skizze
des Lebens Sleidans, die ausschlicsslich auf Grand der authen-
tischen Quellen gegeben wird und vielfach von den bisherigen
Biographien abweicht. Nur wenig unterrichtet ist man liber
die Pamilie und die Studienzeit Sleidans in Koln und Lowen,
sowie iiber seinen neunjahrigen Aufenthalt in Frankreich
(1533 — 1542), wahrend dessert er seine Thatigkeit als Geschicht-
schreiber mit einer Bearbeitung des Froissard nnd gleichzeitig
seine politische Thatigkeit im Dienste des Cardinal du Bellay
begann. Cardinal du Bellay verfolgte damals eine den deutschen
Protestanten im Wesentlichen freundliche Politik ; er suchtc die
Schmalkaldener, besonders Landgraf Philipp, bei ihren alten Be-
ziehungen zu Frankreich zu erhalten. Von besonderem Interesse
mag Sleidan in dieser Beziehung der Tag zu Hagenau 1540 ge-
wesen sein, den er als Abgesandter des Cardinals besuchte.
Mit dieser Sendung bringt Baumgarten den Entschluss Sleidans
publicistisch in den Kampf der deutschen Parteien einzugreifen,
sowie auch seinen Plan, Materialien zu einer B^formationsge-
schichte zu sammeln, in Verbindung. Der Tag zu Hagenau hatte
indess nicht den gewunschten Erfolg; dies sowie die wachsende
Entfremdung zwischen Konig Franz und dem Schmalkaldischen
Bunde bewirkten, dass Sleidans Stellung zum franzosischen Hofe
sich weniger angenehm gestaltete und er schliesslich vorzog, nach
Deutschland zuriickzukehren.
Ueber seinen Aufenthalt in den nachsten Jahren sind wieder
nur sehr fragmentarische Nachrichten erhalten; dass er, wiedie
bisherigen Biographen annahmen, sofort in Strassburg seinen
festen Wohnsitz, sei es als Lehrer am Gymnasium, oder ab
Beamter des Stadtraths, genommen habe, giebt B. nicht zu.
Am besten sind wir iiber das fur Sleidans Leben hochwichtige Jahr
1545 unterrichtet. In dieses Jahr fallt seine Bestallung im
Dienste des Schmalkaldischen Bundes, die namentlich auf Bucers
Veranlassung erfolgte. Er sollte eine Geschichte des Schmal-
kaldischen Bundes schreiben, ein Werk, das ihm schon lange
als Lebensaufgabe vorschwebte und dem er sich jetzt mit warmem
Eifer zuwandte. Allein nur das erste Buch vollendete er da-
mals; die Schwierigkeit, Material zu erhalten, vielfache diplo-
matische und politische Verwendungen im Dienste des Bundes,
endlich der Schmalkaldische Krieg, der dem Bunde ein Ende
machte, liessen die Arbeit ins Stocken gerathen, imd der letztere
brachte Sleidan auch personlich in eine iible Lage; er verlor
nicht bios seinen Gehalt, von dem ihm der Bund noch einen
grossen Theil schuldete, sondern auch personlich drohten ihm
Gefahren, weil man seinen Verbindungen mit Frankreich miss-
traute. Er bemiihte sich, von England, wohin sich Bucer vsA
Fagius damals gewandt hatten, Unterstiitzung zur Fortsetzung
seines Werkes zu erhalten, und in der That wurde ihm 1551
ein Jahrgeld zugesichert, von dem er jedoch nicht viel erhalten
zu haben scheint.
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Korap, FQrstabt Johanii Bemhard Sclieuk zu Schweinsberg. J 47
Besser gestalteten sich seine Verhaltnisse, als die Erhebung
des Kurfiir8ten Moritz einen Umschwung der politischen Lage
bewirkte. Die Stadt Strassburg, in der er nun schon seit
mehreren Jahren seinen dauernden Aufenthalt genommen und
wo er sich der Gunst der hervorragendsten Manner, namentlich
seines treuen Freundes Jacob Sturm, erfreute, nahm sich seiner an
und stellte ihn, nachdem er eine Mission nach Trient im Herbst
1551 glucklich ausgefiihrt, dauernd, freilich nur mit 150 Gulden
Grehalt, an. Man wollte ihm hauptsachlich Musse fiir sein Lebens-
werk gewahren, und er benutzte diese mit grossem Eifer. Trotz
neuer schwerer Schicksalsschlage — er verlor 1553 seine Ge-
mahlin und seinen Gonner Jacob Sturm durch den Tod —
vollendete er die „Commentarienu bis zum September 1554.
Er wunschte, sie dem Herzog Christoph von Wiirttemberg zu
dediciren; allein dieser trug Bedenken, die Widmung anzu-
nehmen, wollte sogar den Verfasser veranlassen, die Publication
bis auf eine gelegnere Zeit aufzuschieben. Dies war nicht die
einzige Gefahr, die dem Werke noch kurz vor seinem Erscheinen
drohte; auch der Rath zu Strassburg machte Miene, der Her-
ausgabe Schwierigkeiten in den Weg zu legen; wol nicht mit
Unrecht glaubte man damals, Karl V. selbst sehe das Erscheinen
des Buches ungern. Trotz allem kam es im April 1555 in den
Handel; Kurfiirst August von Sachsen hatte schliesslich die
Widmung angenommen. Indess Herzog Christoph hatte Recht
gehabt, wenn er die Zeit des Erscheinens fiir eine inopportune
hielt. Zwar hatte das Werk einen ausserordentlich starken Ab-
satz ; schon im Juli 1555 war die erste Auflage von 1000 Exem-
plaren fast vollstandig verkauft. Allein nach anderer Seite hin
brachte das Werk seinem Verfasser trotz seiner Reservirtheit
doch Ajifeindungen aller Art; man drohte ihm mit Confiscation
und dem Kammergericht. Hatte Sleidan gehofft, durch das
Buch eine feste Anstellung bei einem deutschen Fiirsten zu
finden, so war die Hoffnung ganz illusorisch. — Lange iiber-
lebte Sleidan diesen Kummer nicht, er starb bereits im Sep-
tember 1556.
Dresden. Dr. H. Ermisch.
xxxvm.
Komp, Dr., Regens des bischofl. Klerikal-Seminars zu Fulda,
Furstabt Johann Bernhard Schenk zu Schweinsberg, der
zweite Restaurator des Katholicismus im Hochstifte Fulda.
(1623 — 1632). Nach meist unedirten Quellen. gr. 8. (V,
134 S.) Fulda 1878. A. Maier. 2 M.
Der Verfasser hat schon mehrere Beitrage zur Geschichte
des Hochstifts Fulda im 16. und 17. Jahrhundert geliefert,
einige Aufsatze iiber den Furstabt Balthasar von Dernbach und
ein im vorigen Jahre erschienenes Buch iiber die zweite Schule
Fiddas und das papstliche Seminar (1571—1773); in der Ein-
leitung hebt er hervor, dass das letztere im „Katholik", in den
10*
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148 Komp, Fiirstabt Johann Bernhard Schenk m Schweinsberg.
„Historisch-politischen Blattern", den „Laacher Stimmen" und
der ^Katholischen Bewegung" giinstig beurtheilt worden sei.
Diese Aufzahlung charakterisirt die Stellung, welche jenen Werken
und auch dem vorliegenden in der historischen Literatur anzuweisen
ist. DerVerfasser rechnet sich entschieden zur ecclesia militans;
von streng confessionellem Standpnnkt ausgehend, kann er keine
Gelegenheit voriibergehen lassen, ohne seinem Grimm gegen die
„sogenanntett Reformation und die Reformatoren , namentiicli
Luther, Luft zu machen, und hebt ihnen gegeniiber die Th&tig-
keit derjenigen Manner, welche den reformatorischen Bewegungen
im Hochstift Fulda entgegentraten, in einer recht oft an den
Ton der Erbauungsliteratur streifenden Weise hervor. Es sind
dies namentlich der Fiirstabt Balthasar von Dernbach, der
1571 die Jesuiten ins Stift rief, und sein zweiter Nachfolger,
Johann Bernhard Schenk zu Schweinsberg.
Einseitig wie die ganze Anschauung ist auch die Auswahl
der Quellen. Vor allem sind benutzt die Jahresbriefe der
Jesuiten, die sich in Fulda befinden, eine Quelle, deren Wich-
tigkeit nicht unterschatzt werden darf, die aber wie kaum eine
andere der Kritik bedarf. Auch die iibrigen im Vorwort ge-
nannten gedruckten und ungedruckten Quellenschriften vertreten
fast ausnahmslos den streng katholischen Standpunkt. Wahr-
scheinlich wiirde die Personlichkeit Johann Bernhards in einem
vielfach andern Lichte erscheinen, wenn die im Marburger
Staatsarchiv vorhandenen Archivalien benutzt worden waren.
Der Verfasser hat dies jedoch nicht gethan, er weiss nicht
einmal, ob „das im J. 1874 mit einer unerklarlichen Hast nach
Marburg centralisirte" Fuldaer Archiv schon zuni Gebrauch ge-
ordnet ist oder ob es noch in Sacken liegt (vgl. S. 15).
Das erste Capitel des Buchs giebt einen einleitenden Ueber-
blick uber die Zustande der Abtei im 16. Jahrhundert und
iiber die Anfange der Reformation daselbst. Die interessante-
sten Personlichkeiten unter den Aebten dieser Zeit sind der
1541 gewahlte Fiirstabt Philipp Schenk zu Schweinsberg, d«i
Estor seiner Zeit als innerlich der neuen Lehre zugethan be-
zeichnet hat und der sich wenigstens durch die Ordination von
1542, deren rein katholischen Charakter Komp eifrig vertheidigt>
als tolerant bewies, und der schon genannte Balthasar von
Dernbach, der als der Retter des Katholicismus in Fulda be-
zeichnet wird.
Unser Johann Bernhard Schenk, aus der Hermannsteiner
Linie der Schenkischen Familie, ist 1584 geboren und trat 1618
als Decan des Stifts dem Fiirstabt Johann Friedrich von Schwal-
bach, dem die nothige Energie zur Leitung des Stifts in so be-
denklicher Zeit abging, zur Seite. Schon damals bemiihte er
sich sehr um die Hebung des kirchlichen Lebens im Fuldaischen;
er veranlasste eine Visitation des Stifts durch den papstiichen
Nuntius Antonius Albergardo und unterstiitzte den Abt wesent-
lich bei seinen Bemiihungen um die Reform des Stifts. Auch
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' nj j'v
• Komp, Fiirstabt Johann Bernhard Schenk zu Sckweinsberg. 149
an der Berufung der Franciscaner hatte er hervorragenden
Antheil.
Diese reformirende Thatigkeit war es auch hauptsachlich,
die Johann Bernhard nach seiner Wahl zum Fiirstabt (1623
12. Jan.) fortsetzte. Nach einer Rundreise durch das Stift be-
rief er sofort eine Synode nach Fulda, deren Artikel und Decrete
eingehend behandelt werden. Das erste Decret war gegen die
Unzucht gerichtet, und der Verfasser hat bei dieser Gelegenheit
die — Kiihnheit, dieses Uebel als „das charakteristischc Merk-
mal der deutschen religiosen Bewegung" hinzustellen. Mit Energie
geht der neue Fiirstabt gegen die Protestanten , die noch in
seinem Lande wohnen, vor ; die evangelischen Pradicanten werden
verjagt, Jesuiten in ihre Stellen gesetzt, was freilich bisweilen
zu Conflicten mit dem Adel, der seine Patronatsrechte betonte,
Anlass gab. Das Jesuitencolleg sowie das papstliche Seminar
werden in jeder Weise gefordert. Durch Heranziehung von
S. Galler Monchen werden dann die Bemiilmngen um Reformi-
rung des Hauptklosters fortgesetzt ; es bildeten sich in der Folge
eine Partei strengerer Richtung und eine andere, jener Visitation
widerstrebende Partei, ein Gegensatz, der in der spatern Stifts-
geschichte eine nicht unwichtige Rolle spielt. Namentlich die
Riicksicht auf die Zustande des Klosters bestimmten den Abt
auch, um eine neue apostolische Visitation nachzusuchen. Petrus
Aloysius Carafa, der papsthche Nuntius am Rhein, wurde da-
mit beauftragt. Die Visitation selbst ist nach dem Schriftchen
eines Begleiters des Carafa, des Caelius Servilius, sehr ausflihr-
lich (S. 57—88) dargestellt. Wir gehen darauf um so weniger
ein, als der Erfolg ein nicht sehr befriedigender war. — Auch
die Begriindung des Benedictinerinnenklosters und der beiden noch
jetzt bestehenden Marianischen Congregationen unter der Biirger-
schaft Fuldas war das Werk des Abts Johann Bernhard.
Ohne Zweifel war der Abt ein vielgeschaftiger Mann, der
die Stellung, die er einnahm, gliinzend ausfiillte ; aber was wir von
ihm bis jetzt gehort haben, zeichnet ihn in keiner Weise vor vielen
andern Aebten aus. Die interessantesten Seiten seines Lebens,
namentlich die Verbindung mit Tilly, sind sehr kurz behandelt
worden.
Mit der Schlacht bei Breitenfeld war ein vollstandiger
Umschwung in der bis dahin fur das Stift sehr vortheilhaften
politischen Lage eingetreten, und Landgraf Wilhelm V. von
Hessen-Cassel zogerte durchaus nicht, daraus Nutzen zu ziehen.
Schon damals hatte er das Stift in Besitz genommen; doch
hinderten ihn daran Fugger's bayrische Reiterregimenter. Nach-
dem diese aber abgezogen waren, erfolgte sofort die Besetzung
der Stadt durch hessische Truppen. Die Art, wie die Hessen
dort gehaust, ist in den schwarzesten Farben dargestellt ; hoffent-
lich wird dies den Anstoss zu einer objectiveren Darstellung
des Sachverhalts geben. Dass der protestantische Gottesdienst
wieder eingerichtet wurde, bedauert der Verfasser natiirlich sehr ;
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150 Gindely, Goschicbte dea dreissigjiihrigen Krieges.
#
er scheint nicht einzusehen, dass dies nach demselben Rechte
der Temtorialitat geschehen ist, mit dem er das Vorgehen
Jokann Bernhards gegen die Protestanten wiederholt entschuldigt.
Die letzten Lebensjahre des Abts sind traurig. Aus Fulda
entflohen, irrte er heruui, bis er sich endKch an Tilly an-
schloss. In der Schlaclit bei Liitzen traf ihn eine Kugel; er
wurde mit Gustav Adolf und Pappenheim ein Opfer des Tages.
Ein kurzer Ueberblick iiber die spatern Schicksale des Stifte bis
zum westfalischen Frieden beschliesst das Buch.
Nachtraglich mag noch ein Punkt erwahnt werden, der toii
allgemeinerem Interesse ist. Fulda besass noch im Anfang des
17. Jahrhunderts eine ausserordentlich reiche Bibliothek und
Manuscriptensammlung, die seit jener Zeit zum grossen Theil ver-
schwunden ist ; Reste finden sich in der Vaticanischen Bibliothek
zu Rom und in der Landesbibliothek zu Cassel. Kindlinger,
der 1808 einen Katalog dieser Bibliothek entdeckte und veroffent-
lichte, hat die Vermuthung ausgesprochen, dieselbe sei von dem
Nuntius Caraffa — der auch bei der Ueberfuhrung der palatini-
schen Bibliothek aus Heidelberg nach Rom eine hervorragende Rolle
gespielt hat — bei Gelegenheit jener Visitation nach Rom ge-
sandt worden. Komp dagegen sucht dies zu widerlegen und zu
beweisen, dass sie, wie alles, was nicht niet- und nagelfest war,
von den Hessen nach Cassel geschickt worden sei. Wo die
meisten Bande sich jetzt befinden, ist vollig unbekannt.
Dresden. Dr. H. Ermisch.
XXXIX.
Gindely, Anton, Geschichte des dreissigjahrigen Krieges.
1. Abtheilung: Geschichte des bohmischen Auf-
stand es von 1618. II. und III. Band. gr. 8. (XVL
442 u. XII, 496 S.) Prag 1878. F. Tempsky. 16 M.
Nach einer Unterbrechung von neun Jahren folgen der
zweite und dritte Band der ,. Geschichte des dreissigjahrigen
Krieges" von Gindely auf den ersten, welche ebenso wie ihr
Vorganger die Ergebuisse umfassender Forschungen in den
wichtigsten Archiven und Bibliotheken Europas dem historischen
Publilaim in wissenschaftlich objectiven Darstellungen vorzu-
fiihi-en bemiiht sind. Im zweiten Bande hat der Verfasser noch
an dem Grundsatze festgehalten, moghchst unbekiimmert urn die
Arbeiten friiherer Autoren die Ereignisse aus ungedruckten
Urkunden zu ergrttnden und sein Material in erster Linie den
Archiven zu Simancas, Paris, Wien, Miinchen und Dresden eat-
nommen. Fiir die englischen Verhaltnisse konnten neben Samuel
Rawson Gardiner's veroffentiichten „Letters<%' die von demselben
Forscher im englischen Staatsarchive some in mehreren andem
bedeutenden Sammlungen verfertigten Abschriften fiir das Jabr
1620 und die Folgezeit benutzt werden, ausserdem boten die
Privatarchive der Grafen von Buquoy in Gratzen und der
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Gindely, Geschichte des dreissigjShrigen Krieges. 151
Grafen von Harrach in Wien eine zahlreiche Menge unschatz-
barer Dokumente. So liegen der Geschichte des bohmischen
Aufstandes etwa 5 — 6000 bisher kaum benutzte und durch ganz
Europa zerstreute Aktenstucke zu Grunde. Dem dritten Bande
fiigt Gindely einen Anhang bei, welcher dreizehn Dokumente
von hervorragender Bedeutung enthalt (S. 440—96) und somit
eine Urkundensammlung beginnt, deren Fortsetzung in den
spateren Biinden beabsichtigt wird. Wir niochten dem Verfasser
das Hinoinziehen dieses fremdartigen Elementes nicht empfehlen,
8ondem wiinschten demselben soviel Selbstlosigkeit, dass er die
reiche Fiille seiner Sammlungen jenen Gelehrten zur Verfiigung
stelle, welche die Herausgabe der „Briefe und Akten zur Ge-
schichte des drcissigjahrigen Krieges" nun schon bis zum vierten
Bande gefdrdert haben, damit das deutsche Volk in dieser Publi-
kation einen Ersatz fur den unkritischen Lundorp erhalte, und
in Zukunft der Historiker nicht nothig habe, sein Material an
so verschiedenen Stellen zu suchen. Auch die Benutzung der
Werke von Moser, d'Elvert, Palm, Voigt und auderer verschmaht
der Ver£ beim dritten Bande nicht, wie er sich auch der zeit-
genossischen Literatur und den Flugschriften gegeniiber keines-
wegs mehr so sprode zeigt, wie bei den ersten Banden. Akten-
stiicke aus dem Lundorp zu benutzen, ohne ihre Echtheit und
die Correctheit des Abdruckes bewiesen zu haben, halt der
Verfasser dieser Zeilen nach der von ihm veroffentlichten Unter-
suchung in einer strong wissenschaftlichen Arbeit nicht fur statt-
haft, da kaum ein Dokument in diesem nachlassig aus Flug-
blattern zusammengestellten Compilat fehlerlos wiedergegeben
sein diirfte. Fiir den Gang der kriegerischen Ereignisse in
Bohmen hat Gindely ferner eine wichtige Quelle, Mansfelds Apo-
logie, iibersehen, in welcher der Feldherr selbst unter Einlegung
von Aktenstiicken seine Betheiligung an den Operationen von der
Eroberung Pilsens bis zur Prager Schlacht behufs seiner Recht-
fertigung darlegt. Die citirten Acta Mansfeldica sind eine bos-
artige Schmahschrift voller Liigen und nur mit der grossten
Vorsicht zu benutzen.
Die vorliegenden Bande heben mit dem Auftreten Ferdinands II.
an, schildern das Umsichgreifen der bohmischen Bewegung, die
Zurustungen fiir den Entscheidungskampf, in welche die Be-
werbungen um die Krone des h. Wenzel und die Streitigkeiten
wegen der Kaiserwahl verflochten sind, und schliessen mit der
Katastrophe am weissen Berge und der Niederwerfung von
Mahren, Schlesien und den Lausitzen. Bei dem Vorhandensein
einer Reihe tuchtiger Vorarbeiten, zumal aus der Droysenschen
Schule, welche vom Autor merkwiirdiger Weise ignorirt werden,
waren ahnlich iiberraschende Entdeckungen wie in der rGeschichte
Rudolf II." nicht zu erwarten, dennoch hat Gindely, beson-
ders durch das Herbeiziehen tschechischer Quellen, die Ent-
wicklung der Ereignisse in Bohmen, sowie manche Partien
aus der innern Geschichte der habsburgischen Provinzen
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152 Gindely, Geschichte des dreissigj&hrigen Krieges.
iiberhaupt zum ersten Male recht eigentlich in ein helles Licht
gestellt.
Die Eltern Ferdinands II. waren Erzherzog Karl, der jiingste
Sohn Kaiser Ferdinands I., und die Herzogin Maria von Baiero.
Fur Karl bemiihte sich sein Vater mehrere Jahre vergeblich,
die Hand der Konigin Elisabeth von England zu erwerben
(1559—67); da dieser Plan jedoch scheiterte, so vermahlte sich
der Erzherzog, der eigenen Neigung folgend, nach Einholung des
papstlichen Dispenses mit seiner jugendfichen Nichte Maria, der
Tochter des Baiernherzogs Albrecht V., welche ihm in einer
wahren Musterehe 15 Kinder gebar. Karl stand in religioser
Hinsicht seinem Bruder, dem Kaiser Maximilian II., nahe
und hatte wahrend der Verhandlungen mit Elisabeth sich
sogar erboten, seine Gemahlin in den anglikanischen Gottesdienst
zu begleiten und mit einer privaten katholischen Andacht zu-
frieden zu sein. Solche Nachgiebigkeit lag durchaus nicht in
dem Charakter seiner jugendlichen Gattin, welche eine fanatische
Katholikin war mid ihren Einfluss, der je langer je mehr Macht
iiber den Gemahl gewann, dazu benutzte, den drohenden Unter-
gang der romischen Kirche in Innerosterreich zu hemmen. Den
Jesuiten wurde die Universitat zu Graz iibergeben, dem Luther-
thum durch scharfe Verordnungen entgegengetreten , aber in-
mitten dieser Bestrebungen starb Karl 1590 und liess seinen altesten
Sohn Ferdinand ais zwolfjahrigen Knaben zuriick.
Nachdem derselbe seinen ersten Unterricht in Graz erhalten
hatte, war er schon einige Monate vor dem Tode seines Vaters
auf die Universitat Ingolstadt geschickt worden und studirte
dort mit seinem, um sechs Jahre alteren Vetter, dem Herzoge
Maximilian von Baiern, fiinf Jahre lang unter der strengen
Aufsicht der Jesuiten. Mit noch nicht vollendetem 17. Jahre
ubernahm er darauf mit kaiserlicher Erlaubnis die Regierung
seines Erblandes und begann sofort mit einer so griindlichen Katho-
lisirung desselben, dass man ihn sogar am Wiener Hofe vor
iibereilten Schritten warnen zu miissen glaubte. Eine Beise nach
Loretto 1598, auf welcher er in Ferrara mit dem Papste
Clemens VIII. zusammentraf, sollte ihn fiir seinen heiligen Beruf
starken. Hier legte er das Geliibde ab, dass er selbst mit Ge-
fahr seines Lebens alle Sekten und Irrlehren aus seinen Erb-
landern vertreiben wolle. Nachdem er in Rom und Florenz
einen Besuch gemacht hatte, kehrte er nach Graz zuriick. Wie
griindlich er hierauf sein Werk durchfuhrte, braucht an dieser
Stelle nicht mehr erwahnt zu werden. Dennoch ist Ferdinand II
nichts weniger als ein Monarch im Sinne des spanischen Philipp.
und die grossen Erfolge, welche er wahrend seiner Regierung
erlangte, sind nur das Resultat der Erbarmlichkeit seiner GegiM
und der allseitigen Hilfe seiner auswartigen Freunde. Freflich
war er streng katholisch, liess sich im Fasten und Gebet vob
keinem Monche iiberbieten und horte in alien Angelegenheiten,
welche eine kirchliche Beziehung hatten, allein auf den Ba^
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Gindely, Geschichte des dreissigjalirigen Krieges. 15$
seiner jesuitischen Beichtviiter, aber ebenso angstlich wie die
Siinde mied er auch jede ernste Geistesanstrengung, jede ernste
Arbeit und blieb allezeit ein Spielball seiner Hoflinge und geist-
lichen Berather, die seine Gunst zu ihrer Bereicherung und zur
Begriindung ihrer Herrschaft missbrauchten. Niemals griff er
selbstandig in die Regierung ein und gestattete namentlich dem
Herrn von Eggenberg einen Einfluss, der denselben fast zum
absoluten Herrn iiber ihn machte, sodass Ludwig XIII. dem
Kardinal Richelieu gegeniiber jedenfalls viel mehr Selbstandig-
keit bewahrte, als Ferdinand in dem Verhaltnis zu seinen
Rathen. Nie wagte er im Staatsrathe gegen die Majoritat zu
stimmen. Im personlichen Verkehr war Ferdinand leicht zu-
ganglich und freundlich ohne Unterschied des Ranges, ja er
zeigte eine Vorliebe fiir ein Gesprach mit niedriggestellten Per-
sonen. Der dritte Theil des Tages wurde mit Ajndachtsiibungen
verbracht, zwei- bis dreimal in der Woche gejagt, dazu kamen
musikalische Unterhaltungen, sodass in der That fiir ernste Ge-
schafte nioht viel Zeit ubrig blieb. Diese Lassigkeit und Un-
selbstandigkeit des Herrschers trug auch die Schuld daran, dass
die hohen und niedrigen Beamten sich wenig um ihre Pflicht
kiimmerten und die trage Amtsfiihrung am Wiener Hofe gradezu
den Spott der fremden Gesandten herausforderte. Dazu war
der Kaiser ein arger Verschwender : jede grossere Summe, welche
in seinen Besitz gerieth, war gewiss nach 24 Stunden unter seine
Giinatlinge und geistlichen Freunde vertheilt. Oft mussten Zwangs-
anleihen die Kassen fallen. 1620 bemachtigte er sich sogar in
Wien der Waisengelder, ohne sie je zuriickzuzahlen, wie denn
der Venetianische Gesandte die Behandlung der kaiserlichen
Glaubiger gradezu skandalos uennt. In das Armeekommando
griff der unkriegerische Fiirst niemals ein, Obersten und Generate
geberdeten sich wie unabhangige Fursten und iibten tausend-
fache Verstosse gegen die Disciplin. Die selten bezahlten Soldner
waren fiir ihren Unterhalt hauptsachlich auf Raub und Pliinde-
rang angewiesen.
Nacb dem Tode des Kaisers Matthias suchte Ferdinand
als Erbe und Nachfolger desselben die Verhandlungen fiir einen
Interpositionstag zu Eger mit den bohmischen Standen zum
Scheine noch fortzufuhren, um einige Monate Zeit fiir die ge-
planten Riistungen zu gewinnen, wahrend . die pfalzische Partei,
und vor alien der Fiirst von Anhalt, ' ebenso wie Maximilian von
Baiern, vom entgegengesetzten Standpunkte aus, anstatt zu ver-
mitteln, die Dinge zum offenen Bruch zu bringen unternahmen.
Wioderholte Schreiben aus Wien wurden jedoch von den Direc-
toren zu Prag selbst zuriickgewiesen, da dieselben entschlossen
waren, Ferdinand unter keiner Bedingung zur Regierung zuzu-
lassen, vielmehr mit fieberhafter Thatigkeit dahin strebten, auch
die iibrigen Lander der Wenzelskrone zum Anschluss an ihre
Sache und fur den Abfall vom Hause Habsburg zu gewinnen.
Den Schlesiern wurde fiir die Zukunft bei der Konigswahl
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154 Gindely, Gescliichte des dreissigjahrigeu Krieges.
neben Bohmen cine entsclieidende Stimme eingeraumt, ausser-
dem wurden denselben hinsichtlich der Besetzung der einzelnen
Stellen in der Canzlei noch einige andere Concessionen gemach^
urn welcher Vorteile willen sie Ferdinand die Anerkennung so
lange versagten, bis er thatsachlich die Regierung erst in Bohmen
und Mahren angetreten habe. Die Oberlausitzer schlossen
sich dem bohmisch-schlesischen Biindnisse an.
In Mahren bot Karl von Zerotin, obwohl Protestant,
seinen ganzen Einfluss fur die Sache Ferdinands auf. Um den-
selben zu brechen, fassten die Directoren zu Prag den kiihnen
Beschluss, diese Provinz mit Gewalt in den Aufstand hineinzu-
zielien. Am 18. April 1619 riickte Thurn mit 8—10 000 Mann,
geworbenen Soldnern und einem Theile des Landesaufgebotes,
aus seiner Stellung vor Budweis, welches er mehr beobachtete
als belagerte, iiber die Grenze. Seine Aufhahme war iiberall
eine gleich sympathische : er konnte bald nach Prag die Ver-
sicherung geben, mit Ausnahme weniger Personen seien der ge-
sammte Adel und alle Stadte bereit, auf seine Seite zu treten.
Selbst der Cardinal Dietrichstein und der Fiirst von Lichten-
stein versprachen in grosser Angst, das Bundnis mit Bohmen
befordern zu wollen, nur der lutherische Zerotin beharrte in
seiner Rolle. Die mahrischen Truppen — zwei Reiterregimenfcer
und eine Abtheilung Fussknechte — 'waren fast durchweg stan-
disch gesinnt, die Obristen Nachod und Albrecht von Waldstein
waren allein Anhanger Ferdinands. Der erstere wurde jedoch
unter Beschimpfungen von seinen eigenen Leuten vertrieben,
wahrend es dem spateren Herzog von Friedland gelang,
nachdem er seinen Oberstlieutenant eigenhandig vom Pferde ge-
stochen, wenigstens 4 Fahnleiu seines Regimentes und 96 000 Thlr.
standische Gelder fiir Ferdinand zu retten. Inzwischen trat der
Landtag in Briinn (4. Mai) zusammen, Dietrichstein und Zerotin
wurden in Haft genommen, dem Fiirsten von Lichtenstein aber
freundlicher begegnet, da er mit einem Handschlag versprach,
fortan mit den Standen auf Leben und Tod verbunden sein zu
wollen. So stiirzte auch in Mahren der Rest des habsburgischen
Ansehns zusammen: der Landeshauptmann wurde abgesetzt, die
Jesuiten fiir alle Zukunft aus dem Lande verbannt, die Regierong
nach bohmischem Muster 30 Directoren anvertraut und die
Streitkrafte den Truppen Thurns angeschlossen.
Man war nun bohmischerseits entschlossen, die mahrische
Allianz zu einem Angriff auf das Erzherzogthum Oesterreich selbst
zu verwerthen, mit dessen Standen seit Monaten schon Verbin-
dungen angekniipft waren. Als den Vertretern von Niederosterreich
am 25. Marz 1619 in Ferdinands Gegenwart mitgetheilt worde,
dass Erzherzog Albrecht, der Erbe des verstorbenen Matthias
seinen „vielgeUebten Vetter" mit der Regierung betraut habe,
da er selbst nicht nach Wien kommen konne, so erklarten die
protestantischen Standemitglieder, mit den Katholiken so lange
nicht gemeinsam verhandeln zu wollen, bis ihren Religions-
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Gindelj, Ge3chichte des dreis3igjiilirigen Kriegea. 155
beschwerden vollstandig abgeholfen ware, erkannten die von Albrecht
ausgestellte Vollmacht uicht an und zerrissen durch ihre Ent-
fernung den Landtag. Auch die Katholiken vertagten in Folge
dessen ihre Berathungen. Der oberosterreichische Landtag zu
Linz stand vollstandig unter dem Einfluss der Herren von
Tschemembi nnd Gotthard von Starbemberg : er erkliirte, da der
wahre Erbe, Erzherzog Albrecht, ausser Landes sei, so seien die
Stande allein befugt, bis zu seiner Ankunft die Regierung zu
leiten. Man beniachtigte sicb, ohne Riicksicbt auf Ferdinand zu
nehmen, der Verwaltung des Landes und der Kanimerguter, dock
sonderten sicb, durch diese eigenmachtigen Schritte bewogen,
die Pralaton, und auch bier wurde auf diese Weise die Trennung
im Landtage zur Thatsache. Mehr urn mit den Niederosterreichern
in Verbindung zu treten, als wegen der Aussohnung Ferdinands
wurde eine Deputation nach Wien abgeschickt, welche in einer
vertraulichen Sitzung den niederosterreichischen Protestanten den
Abschluss eines Biindnisses mit Bohnien, Mahren und Ungarn
empfahl und zu schleunigen Riistungen aufforderte. Wenige
Augenblicke darauf fand sich dieselbe Deputation bei Ferdinand
ein, um den Konig fur die friedliche Beilegung des bohmischen
Streites und fur die Anerkennung der standischen Regierung zu
gewinnen. Wie sehr die Abgeordneten aber auf cine abschliigige
Antwort gefasst waren, ergiebt sich daraus, dass die Linzer,
ohne dieselbe abzuwarten, auf der betretenen Bahn entschlossen
vorwarts gingen. Ihr Kriegsoberster, Gotthard von Starheinberg,
ordnete gegen Ende April 300 Mann nach Bohmen ab, welche
das Kloster Hohenfurt besetzten, um den Zuzug des Kriegsvolkes,
welches Ferdinand in Deutschland werben liess, zu verhindern.
Mit Thurn und Hohenlohe trat er in die vertrautesten Be-
ziehungen und bat den ersteren, nach Niederosterreich vorzu-
riicken, wo man seiner wie „eines Messias harre". Tschernembl,
von Ferdinand zu einer Besprechung nach Wien eingeladen,
lehnte eine Audienz ab, richtete aber dafiir zwei umfangreiche
Mahnbriefe an den Konig, wTelche denselben belehrten, dass die
Stande nur ihrem Erbherrn Albrecht verpflichtet seien, zumal
68 sehr bezweifelt werde, dass die Vollmacht desselben nach dem
Tode des Kaisers Matthias noch Giiltigkeit habe, und ausserdem
niemand wisse, ob derselbe seit jener Zeit nicht anderes Sinnes
geworden sei. Diese Schritte erhohten auch jetzt den Muth der
Niederosterreicher, sie lehnten die ihnen zugemuthete Huldigung
ab, schickten Gesandte nach Briinn und Pressburg und traten
mit Thurn in Verhandlung, der bis Laa vorgenickt war und die
katholische Besatzung in dieser Stadt belagerte. Das konigliche
Heer war im Winter so zusammengeschmolzen, dass Buquoy im
Marz 1619 kaum uber 5000 Mann gebot. Die zu erneuten
Riistungen nothwendigen Geldsummen waren allein vom Konige
Philipp in. von Spanien zu erlangen, von dessen Gnade die
Wiener Regierung vollstandig abhieng. Durch das Zusaninien-
wirken de3 kaiserlichen Gesandten in Madrid, des Grafen Kheven-
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156 Gindely, Geschichte des dreissigjahrigen Krieges.
hiller, und des spanischen in Wien, Onate, war schon Matthias
trotz der Ebbe im spanischen Staatsschatze mit bedeutenden
Summen unterstutzt, jetzt entschloss sich der Konig noch ein-
mal mit Aufbietung aller seiner Mittel dem deutschen Vetter
beizustehen, der nach seiner eigenen Ueberzeugung verloren war,
wenn ihm nicht rasch und ausreichend geholfen werde. Deimocli
hatten bis zum Juni 1619 die Streitkrafte Ferdinands durch den
Zuzug aus Italien, Flandern, Lothringen und dem Elsass kaom
eine Verstarkung von 16 000 Mann erfahren, denen die Bohmen
ohne ihr Landesaufgebot, welches auf 19 000 Mann veranschlagt
wurde, allein 15 000 geworbene Fussknechte und 3700 Reiter
entgegenstellen konnten. Als Thurn vor Laa erschien (Mai
1619), verfiigte Ferdinand noch nicht iiber die zum Widerstande
nothwendigen Mittel und musste uni jeden Preis Zeit gewinneii,
seinen Hilfstruppen Gelegenheit zum Anmarsch zu verschaffen.
Hielt doch Onate selbst alles fur verloren! Nach langeren ab-
sichtlich verschleppten Verhandlungen wurde Laa deshalb end-
lich ohne Kampf von Ferdinands Truppen geriiumt und die
bohmische Armee riickte nun, etwa 10000 Mann stark, gegen
Wien, zu dessen Vertheidigung abgesehen von der Burgerschaft
etwa 2000 Mann zur Verfiigung standen. Bei Fischamend wurde
die Donau iiberschritten und in der Nacht vom 5. zum 6. Juni ein
Theil der Vorstadte besetzt. In Folge der Aussicht auf eine
Belagerung der Hauptstadt gestaltete sich die Lage selbst far
Ferdinands personliche Sicherheit zu einer ausserst gefahrlichen
Die wprotestantischen Standemitglieder sonderten sich von den
Katholiken, brachen mit ihnen alle Verhandlungen ab und ver-
fiigten sich gegen die 10. Vormittagsstunde (5. Juni 1619) auf
die Burg, urn vor Ferdinand ihr Biindnis mit Bohmen zu recht-
fertigen und ihm zu rathen, den ferneren Krieg aufzugeben.
Neben dem Fiihrer der Deputation, Paul Jacob von Starhemberg,
ergriffen noch andere Edelleute in sehr heftiger Weise das Wort,
namentlich Andreas Thonradl, so dass der unterwurfige Ton, der
zwischen Souveranen und Unterthanen zu herrschen pflegt, bald
einer herausfordernden Sprache Platz machte. Dass jemand den
Konig an den Knopfen seines Wamses erfasst habe, ist eine
Sage. Den leidenschaftlichen Ausbruchen der Protestanten be-
gegnete Ferdinand mit Ruhe, massvollem Tadel und Hess sich
sogar zu Bitten herab, urn sie von dem betretenen Wege abzulenken.
Die peinliche Scene dauerte eine Stunde, als zufallig vier Cornets
eines Kiirassierregimentes, das in der Formation begriffen war und
6ich von Krems aus vor den Bohmen nach Wien zuruckzog, unter
dem Befehl des Arsenalhauptmanns Gilbert von Saint-Hilaire, eines
Franzosen, in den Burghof sprengten. Die Standemitglieder
furchteten einen Gewaltstreich und empfahlen sich nach einigen
Hoflichkeitsphrasen in ziemlicher Verlegenheit. Das ist da»
Thatsachliche an dieser durch die Sage so aufgebauschten Scene,
welche noch Hurter, unter Einmischung vieler Irrtiimer in der
Datirung und den Namen, fur seine Zwecke poetisch ausgemalt
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Gindely, Geschickte des droissigj&hrigen Krieges. 157
hat. Am Nachmittage desselben Tages batten iibrigens auf
Ferdinands eigenen Wunsch dieselben Standemitglieder noch erne
zweite Audienz, damit sie den Grafen Thurn zum Ruckzuge aus
Oesterreich iiberredeten. Der konigliche Yorschlag wurde jedoch
einstimmig abgelehnt. Thurn hatte gehofft, die Stande wiirdeii
ihm ein Thor von Wien offnen und er auf diese Weise ohne
erheblichen Kampf eindringen konnen. Die am 5. Juni einriicken-
den Verstarkungen schiichterten jedoch die Protestanten in dem
Grade ein, dass sie ein solches Unternehmen nicht wagten und spater
war Ferdinand, zumal nach Bewaffnung der katholischen Burger
und der Studentenschaft, hinreichend zur Vertheidigung seiner
Residenz geriistet. Die Bohmen fiihrten dazu nicht einmal Be-
lagerungsgeschiitze mit sich und verfiigten kaum iiber mehr als
eine oder zwei Karthaunen. Da der Konig Zeit gewinnen
mu88te, urn das Herannahen Buquoy's abzijwtrten, so verhandel-
ten die niederosterreichischen Stande mit seiner Erlaubnis offen
mit dem tschechischen Feldherrn iiber den Ausgleich und eine
nahere Verbindung. Bei wiederholten Besuchen im feindlichen
Lager wurden sie auf das herzlichste empfangen. Auch eine
ungarische Gesandtschaft, bei welcher Graf Stanislaus Thurzo
eine hervorragende Rolle spielte, erschien vor Wien und beeilte
rich zu vermitteln und mit Thurn in personliche Beziehungen zu
treten. Man fasste den Abschluss eines Bundnisses ins Auge,
welches alle Stande des habsburgischen Besitzes umschliessen
sollte. Unterdessen kamen aber aus Bohmen so klagliche Nach-
richten, dass die Belagerung Wiens am 14. Juni aufgehoben und
der Riickzug angetreten werden musste. Die Gelegeuheit zur
ganzlichen Niederwerfung Ferdinands war versaumt und der
bohmischen Bewegung dadurch der schwerste Schlag versetzt
worden.
In Bohmen hatte unterdessen Buquoy so bedeutende Ver-
starkungen an sich gezogen, dass er den Grafen Hohenlohe,
welcher in Thurns Abwesenheit den Oberbefehl fiihrte, hart be-
drangte und derselbe sich genothigt sah, an Mansfeld den Befehl
ergehen zu lassen, er moge mit seinen sammtlichen Truppen aus
dem Pilsener Kreise abriicken und sich der Hauptarmee an-
schliessen. Eho der letztere jedoch seine Vereinigung bewirken
konnte, wurde er bei Ziiblat oder Netolitz (10. Juni 1619) von
dem koniglichen Feldherrn mit doppelter Macht angegriffen und
sein kleines Corps von 3000 Mann zersprengt. Gindely schopft
die Erzahlung des Gefechtes aus den Berichten des Bohmen
Skala und des sachsischen Agenten Lebzelter, sowio aus dem
Schreiben, das nach den offiziellen Nachrichten Buquoy's von
Onate fur den Hof zu Madrid zusammengestellt wurde; eine
Reihe gedruckter Berichte, welche von Augenzeugen ausgiengen,
vor alien Dingen Mansfelds eigene Schilderung in seiner rApo-
logie", sind ihm leider entgangen. Zumal die % letztere wirft ein
wesentlich giinstigeres Licht auf Mansfelds Verfahren, welcher
sich in militarischer Hinsicht durchaus korrokt zeigte, jedoch
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158 Gindely, Geschichtc des droissigjahrigen Kricges.
von der Hauptarmee aus Eifersucht im Stich gelassen wurde.
Diese Niedorlage fiigte der bohmischen Bewegung schwere Nach-
theile zu. Hohenlohe musste das sudwestliche Bohmen preis-
geben nnd sich in der Richtung auf Prag zuruckziehen. Frauen-
berg, Rosenberg und eine Zahl kleiner Ortschaften wurden
vom Feinde besetzt und ausgepliindert, wobei besonders die
Ungaro so viehische Gewaltthaten veriibten, dass Buquoy selbst
dariiber auf das hochste emport war, ohne bei dem Mangel
jeder Disciplin dergleichen Grausamkeiten hindern zu konnen.
Die Zustande im bohmischen Heere waren jotzt wahrhaft
trostlos. Vom Januar bis zum September 1619 vermochten die
Directoren den Soldaten nur ungefahr drei und einen halben
Monatssold zu zahlen. Nach der Versicherung eines schlesischen
Mustercommissars, also eines offiziellen Augenzeugen> liefen die
Soldaten zum Theft v>ganz nackt herum, so sehr waren sie in
ihrer Kleidung herabgekommen. Da es in den ausgesogenen
Gegenden nichts zu rauben gab, so versetzten sie ihre Waffen
gegen Lebensmittel bei den Marketendern. Man konnte Reiter-
compagnien sehen, welche weder Pistolen, noch Sporen oder
Stiefel hatten, alle diese Requisiten waren sorgfaltig in den
Pfandleihanstalten aufgeschichtet. Solche Mannschaften konnten
nicht einmal die Wachen beziehen, geschweige denn dem Feinde
entgegentreten. In dieser aussersten Not liess die Regierungzu
Prag vom Landtage die Confiscation des ganzen lmmobiliar-
besitzes der katholischen Kircho beschliessen, ohne bei dem
Mangel an sicheren Kaufern die Beute rasch zu Gelde machen
zu konnen, pliinderte die Kloster ohne Scheu aus, trieb e^
zwungene Anlehen gewaltsam ein und belegte selbst Erbschafts-
capitalien gegen die Zusage kiinftiger Erstattung mit Beschlag.
Dennoch konnte der Sold nicht piinktlich gezahlt werden, und
es machte sich bei den Truppen mehr und mehr ein meute-
rischer Geist geltend, sodass die Directoren vor den DrohuDgen
ihrer eigenen Soldnern zitterten. Dass Buquoy diese Lage nicht
zu einem entscheidenden Siege ausbeutete, zeugt von grosser
militarischer Dnfahigkeit. Aber anstatt die Landeshauptstadt
zu bedrohen, zog sich der konigliche Feldherr, nachdem Thuro
wieder zu Hohenlohe gestossen war, auf Budweis zurtick und
beschrankte sich darauf, alio jene kleinen Platze zu erobern,
die noch im feindlichen Besitze waren und seine Verbindung mit
dem Erzherzogthume etwa unterbrechon konnten, Dabei zahlte
die bohmische Armee hochstens 30 000 Mann und auch dies mir,
wenn das Landesaufgebot vollstandig unter den Fahnen stand.
Um der Verwirrung im Heerwesen durch ein einheitliches Com-
mando ein Ende zu machen, denn Thurn, Hohenlohe, der Mark-
graf von Jagerndorf und Mansfeld hatten stets auf eigene Faust
gehandelt, erwahlte man in dieser kritischen Lage den Ffirstea
von Anhalt (5. ,Nov.) zum Oberfeldherrn mit dem enonnen
Monatsgehalt von 10000 Gulden. Doch auch diese Massregel
sollte der um sich greifenden Desorganisation keinen Einhalt
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-jpp^-^
Gindcly, Geschichto des dreissigj&hrigen Krieges. J 59
thun, weil das Landesaufgebot T>ei dem Stillstand der Operationen
seine Entlassung verlangte und nichts iibrig blieb als einen Theil
zu beurlauben und sich mit dem Versprechen zu begniigen, dass
sie sioh im Notfall wieder bei den Fahnen einfinden wiirden.
Der reichere Adel entzog sich in Menge unter dem Vorwande
von Krankheiten der Dienstpflicht. Die Offiziere der im Lager
befindlichen Landwehr, welche die Besoldung und Verpflegung
ihrer Mannschaften zu besorgen batten, fingen ebenfalls an aus-
zureissen, sodass die Soldaten fast ohne Fiihrung waren. Bei den
unregelmassigen Zahlungen giengen die Soldtruppen der ganz-
lichen Auflosung mehr und mebr entgegen, und dazu brachen
in Folge des Elendes Anfangs August typhose Krankheiten aus,
denen taglich gegen 50 Soldaten erlagen. Schliesslich schickte
die Reiterei aus dem Lager eine Deputation nach Prag, welche
neben anderen Forderungen binnen 10 Tagen die Auszahlung eines
viermonatlichen Soldes verlangte, sonst wiirden die Truppen das
Lager verlassen, einige Stadte besetzen und sich selbst bezahlt
machen. Der Gesammtbetrag der Soldreste war auf 1800000
Gulden angewachsenl Die Directoren bekamen im Landtage
harte Dingo zu horen. Die liederlichste Geldwirthschaft, Unter-
8chleifo und Betrugereien aller Art kamen an den Tag, die
Rschnungen iiber die Kriegsauslagen waren in unentwirrbarer
Confusion, man klagte auch die Generale an, dass sie in schmah-
licher Weise ihre Pflicht versaumten und sich die Zeit mit
Saufgelagen vertrieben. Schliesslich gaben sich die Reiter zu-
frieden, dass ihnen binnen vier Wochen ein viermonatlicher Sold
gezahlt werden sollte.
Obwohl also das bohmische Heerwesen mit der „liederlichen
Missgeburt der dreissigkopfigen Regierung " zu Prag im voll-
kommenen Einklange stand, so wagte Buquoy dennoch nicht die
feindliche Armee anzugreifen, da er auf Befehl Ferdinands Dam-
pierre mit iiber 8000 Mann und 3 Gesphutzen nach Mahren
detachirt hatte, wo derselbe unter fiirchterlichen Grausamkeiten,
Jammer und Elend verbreitend, iiber Nikolsburg bis zur Thaya
vordrang. Bei Wisternitz stiess derselbe auf das mahrische Volk
unter Friedrich von Tiefenbach, das kaum 4000 Mann zahlte
und trotzdem nach sechsstiindigem , hartnackigem Kampfe das
Peld behauptete. Dieser ehrenvolle Erfolg der Mahrer, sowie
eine im eigenen Heere ausgebrochene Meuterei der ungarischen
Reiter, von denen 2000 mit reicher Beute beladen in die Hei-
n»at zuriickkehrten und der Rest von 500, die diesem Beispiele
folgen wollten, zusammengehauen wurde, bestimmte Buquoy,
nicht auf Prag zu marschiren, sondern den Siidwesten Bohmens
auch ferner zu verwiisten, sich womoglich Pilsens zu bemachtigen,
Eger zu okkupiren und daselbst seine Winterquartiere aufeu-
schlagen. Er schnitt damit die Verbindung mit der Union ab»
^d der bohmische Aufstand musste an eigener Erschopfung zu
Grande gehen. Unterdessen inspizirte der neue Oberbefehlshaber
der Bohmen, Christian von Anhalt, seine Armee in ihrem Lager
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160 Gindely, Goschichto des dreissigjiihrigen Krieges.
bei Mirowitz mid alle Welt erwartete nach dreimonatlicher Un-
thatigkeit endlich eine Entscheidung. Er tauschte diese Hoff-
nung und verliess schon nach wenigen Tagen den Kriegsschau-
platz und reiste nach Heidelberg, urn den Pfalzgrafen zu be-
stimmen, die angebotene Krone des h. Wenzel nicht auszu-
schlagen. Damit war der letzte moralische Halt, an dem sich
das tschechische Kriegsvolk noch aufgerichtet hatte, geschwunden:
es ware alles verloren gewesen, wenn nicht auf der koniglichen
Seite ein Buquoy commandirt und der Fiirst von Siebenbiirgen
in diesem Augenblicke fur Bohmen eingegriffen hatte.
Der Sieg bei Z&blat befreite nicht nur Wien von den Ge-
fahren, welche es bedrohten, er gab auch Ferdinand die Mog-
lichkeit, sich nach Frankfurt zur Kaiserwahl zu begeben. Nach-
dem der Erzherzog Leopold fur die Zeit der Abwesenheit zua
Stellvertretfcr mit unbeschrankter Gewalt ernannt war, wurde
die Reise am 11. Juli 1619 mit einem, in den Augen der Zeit-
genossen hochst bescheidenem Gefolge von ungefahr 100 hoch-
gestellten Personen und ihrer Dienerschaft unter Bedeckung
eines Reiterkornets angetreten. In Salzburg erwartete ein
Gesandter Jacobs von England, Lord Doncaster, die Ankunft des
Konigs, um zu Gunsten desselben in dem bohmischen Streite zd
vermitteln. Die englische Instruction zeigte klar, class Jacob
durch die Schmeicheleien des spanischen Hofes gewonnen sei,
und ihm die Wiinsche der Bohmen weit weniger am Herzen
lagen, als die Wahrung der Interessen des Kaiserhauses, Don-
caster sollte vor allem dafur Sorge tragen, dass die Kaiserwahl
bald vor sich gehe und auf Ferdinand falle, und dann den Ans-
gleich zwischen dem Kaiser und den Bohmen zu Stande bringen
In Brussel war er von dem Erzherzog Albrecht zuvorkommffld
empfangen und aufs warmste nach Wien empfohlen worden. In
Heidelberg traf er grade zu > der Zeit ein, als die Union za
Heilbronn tagte, er wartete deshalb die Riickkunft des Pfe^
grafen in seiner Residenz ab und war dort der Gegenstand ?iel-
facher Aufinerksamkeiten. Bei den vertraulichen Besprechungen
mit Friedrich und seinen Rathen machten sich bei dem Ge-
sandten im offenbaren Widerspruche mit den Auftragen Jacobs
machtige Sympathien fur die protestantische Sache geltend. &
erregte Hoffnungen, welche zu erfiillen niemals in der Absicht
seines Herrn lag, trotzdem bei den Pfalzern unverhohlen das
Missbehagen an den friedlichen Auftragen des Englanders her-
vortrat. Man riet ihm gradezu die Nichtbeachtung seiner In-
struction an, er sollte sich der Erhebung Ferdinands auf den
deutschen Thron widersetzen und das bohmische Interesse
scharfer wahren, als es sein Konig wiinschte. Von Heidelberg
begab sich Doncaster nach Miinchen, wo Herzog Maximilian eine
8ehr zuwartende Stellung behauptete, Jacobs eitle Einbildung
mit einigen starken Brocken fiitterte und sich sogar heuchlerisdi
fur einen Gegner der Jesuiten erklarte, der den Orden but
dulde, aber nicht begiinstige. Der Gesandte schrieb ruhmend
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Gindely, Geschichte des dreiasigjlihrigea Krieges. 161
i
each Hanse, „kein Engender konne Se. Maj. mehr ehren, als
dies der Herzog thue". Die bairische Versicherung, dass man
dem Friedenswerke das beste Gedeihen wiinsche, war iibrigens
bei der allgemeinen Verbreitiing der bohmischen Bewegung iiber
die gesammte osterreichische Monarchie wohl ehrlich gemeint.
Anderes musste der Lord in Salzburg horen. Ferdinand, der in
den argsten Gefahren nie an eine Befriedigung der Bohmen ge-
dacht hatte, war nach den neuesten Erfolgen so voller Sieges-
hofihung, dass er eine zwar hofliche, aber unumwundene Ab-
lehnnng der engliscben Vermittlungsv^rsuche ertheilte und sich
auf vieles Drangen kaum zu der Erklarung fortreissen liess, in
Frankfurt die Angelegenheit in fernere Berathung zieben zu
wollen. In Miinchen traf Ferdinajid am 19. Juli ein und setzte
na,ch einer vertraulichen Besprecbung mit Maximilian von Baiern,
welcher die trostlicbsten Versicherungen ertbeilte, die Reise nacb
Frankfurt fort, das am 28. Juli erreicht wurde.
Selten ist wohl eine Kaiserwahl unter so heftigen Erregungen
vor sich gegangen als die im Jabre 1619. Die pfalzischen
Diplomaten boten alles auf, um den Akt bis zur Beilegung der
bohmischen Streitigkeiten hinauszuschieben oder die Stimmen auf
einen andern Fiirsten als Ferdinand zu lenken. Der Erzbischof
Schweikhard von Mainz liess sich jedoch nicht irre machen, be-
rief die Kurfiirsten auf den 20. Juli nach Frankfurt und liess
durch den papstlichen Nuntius in Eoln an den Eonig von
Spanien die Bitte richten, im Notfalle den Marques von Spinola
mit den flandrischen Truppen gegen die Eronungsstadt mar-
schiren zu lassen. Die Erfolge der pfalzischen Gesandten in
Dresden und Miinohen waren klaglich, Brandenburg hingegen
war zwar ihren Wiinschen nicht abgeneigt, that aber gar nichts zu
deren Forderung. Bei diesem Stande der diplomatischen Ver-
handlungen war, als letzte Hoffnung des Heidelberger Kabinets,
der Unionstag in Heilbronn zusammengetreten. Hier wurde be-
schlossen, den Bohmen heimlich den Rath zu geben, gegen die
Wahlstimme Ferdinands zu protestiren; man erwog sogar den
Gedanken, durch eine Besetzung Frankfurts im Einverstandnis
mit der Burgerschaft die Wahl gewaltsam zu verhindern, doch
widerriet Furcht und Geldmangel ein solches Unternehmen. So
blieb nichts iibrig, als den Wahltag zu beschicken. Die geist-
lichen Kurfiirsten fanden sich in Person ein, Sachsen schickte
als Principalgesandten den Grafen Mansfeld, Brandenburg den
Herrn von Putlitz, Pfalz den Grafen Albrecht von Solms abf
Von Bohmen waren Abgeordnete in der Nahe von Frankfurt ein-
getrofifen, um die Rechte der bomischen Eur auszuiiben. Pfalz,
Sftchsen und Brandenburg empfahlen, ihr Anliegen zu horen und
«i Perathung zu Ziehen. Hatte Mainz diesen Vorschlag zur Ab-
$timmung gebracht, so wiirde sich bei der Abwesenheit Ferdinands
vielleicht erne Mehrheit ergeben haben, mindestens standen die
drei geistlichen gegen die drei weltlichen Stimmen. Deshaib
vertagte Schweikhard die Sitzung bis zur Ankunft Ferdinands,
MittheUungen a. d. htetor. Litterator. VH. 11
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162 Gindely, Geschichte des dreissigjShrigen Krieges.
der als sehr unwillkommener Gast von den Frankfartern mit
offenbar feindseliger Stimmung am 28. Juli Abends empfangen
wurde. Am Tage des Einzuges kam es zwischen den Biirgem
and den katholischen Soldnern zu einem Conflict, bei dem ein
kolnischer Reiter djsn Tod fand und ein Burger verwundet wurde.
Auch nach der Ankunft des Konigs anderte sich das Stimmen-
verhaltnis im Kurcollegium nicht, denn der katholische Ffirst
verwarf absolut jede Friedensverhandlung, bei welcher er nicht
als Konig von Bohmen und die Stande als seine Unterthanen
behandelt wurden, wahrend die bohmische Deputation die Ab-
setzung Ferdinands als selbstverstandliche Thatsache ansah und
ihr Kurrecht ausiiben wollte. Endlich gewahrten die geistlichen
Herren den Gesandten der weltlichen Fiirsten acht bis zehn
Tage Frist zur Einholung neuer Instructionen , urn aus diesem
Dilemma zu kommen.
In der Zwischenzeit war der Kurfurst Johann Georg von
Sachsen offen zur Partei Ferdinands iibergetreten und hatte sicb
fur die unmittelbare Vornahme der Wahl entschieden, wie denn
seine ganze bisherige Opposition nur Spiegelfechterei gewesen
war. In den beiden Audienzen, welche er dem pfalzischen Ge-
sandten Christoph von Dohna zu Dresden ertheilte , war cr irie
gewohnlich betrunken und konnte nur Scbeltworte lallen. Kur-
brandenburg wollte nun auch nicht zwecklos die Feindschaft des
nouen Kaisers auf sich laden und so erhielt Putlitz Befehl, sich
der Majoritat anzuschliessen. Der in den Wahlverhandlungen
eingetretene Stillstand wurde von Ferdinand kliiglich dazu be-
nutzt, sich die englische Vermittlung endgiltig vom Halse zu
schaffen. Nach dem Doncaster vom Grafen Trautmannsdorf raid
Onate bis Mitte August mit leeren Verhandlungen genarrt war,
entschloss er sich — wegen Kranklichkeit nach Spaa ins Bad
zu reisen, so vollkommen war er von der Erfolglosigkeit seiner
Sendung iiberzeugt.
Die Verhandlungen des kurfiirstlichen Collegiums nahmen
nun einen raschen Fortgang. Zuerst wurde beschlossen, dass
die bohmischen Gresandten in Frankfurt nicht zugelassen werden
sollten. Sachsen und Brandenburg gaben ihre Opposition auf,
und die pfalzischen Gesandten richteten mit ihrer Meinung nichts
aus. Mit den Bohmen wollte das Kurfurstenkollegium allein
vermitteln, der Versuch einer Gegencandidatur des Baiernherzogs,
welche von dessen Vetter Friedrich V. ausging, scheiterte an
der Klugheit des Wittelsbachers, und so wurde am 28. August
Ferdinand unter dem ublichen Ceremoniel einstimmig zum Kaiser
erwahlt. Der pfalzische Gesandte votirte allein fur den Herzog
von Baiern, schloss sich aber dann ohne Widerspruch den
iibrigen Kurstimmen an. Der Wahlkapitulation hatte man das-
jenige Schriftstiick zu Grunde gelegt, welches Matthias be-
schworen hatte. Die Niederlage der pfalzischen Diplomatic war
eine vollstandige zu nennen: nachdem gewissermassen Himmel
und Erde in Bewegung gesetzt war, urn Ferdinand vom Kaiser-
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W'*r-
•Gindely, Geschichte des dreissigj&brigen Krieges. 163
thron auszuschliessen, besagte nunmehr das Wahlprotokoll, dass
derselbe einstimmig gewahlt sei. Yon der pfalzischerseits
ebenfalls in Aussicht genommenen Candidatur des Herzogs von
Savoyen war kaum die Rede gewesen. Zu derselben Zeit gaben
sich die Lander der Wenzelskrone eine neue Verfassung. Auf
einem Generallandtage zu Prag wurde der Staat fur ein Wahl-
reich erklart und Bohnien selbst zwei, Mahren, Schlesien, Ober-
und Niederlausitz je eine Stimme bei der Konigswahl zugesprochen.
Die Protestanten verwarfen die alte Bezeichnung des Majestats-
briefes „Utraquistenu und bezeichneten sich als Anhanger des
„evangelischen Bekenntnisses". Von der freien Religionsiibung
abgesehen, wurden die Katholiken ihrer Vorrechte beraubt und
nach jeder Beziehung eingeschrankt. Die neue „Confoderations-
acteu gab ferner die bevorzugte Stellung Bohmens vollkommen
auf und machte die Stande der einzelnen Provinzen fast selb-
standig, sodass an die Stelle des bohmischen Staates jetzt fiinf
von einander unabhangige, nur durch die Personalunion ver-
bundene Staatswesen getreten waren. Eine im ubrigen macht-
lose Kanzlei sollte den Verkebr zwischen dem ganz abhangigen
Monarchen und seinen Landern vermitteln. Die Einfuhrung dieser
Verfassung ware der vollkommenste Sieg des standischen Princips
iiber das Konigtum gewesen! Am 31. Juli 1619 wurde sie in
feierlicher Sitzung in bohmischer und deutscher Spracbe von
alien Betheiligten beschworen. Der Gedanke, nunmebr Ferdinand
abzusetzen und zu einer neuen Wabl zu schreiten, fand jedoch
bei den Mahrern anfangs noch Widersprucb; erst der oben-
erwahnte Einfall Dampierre's reizte sie zu grosserem Widerstande.
Um nach dem Treffen bei Wisternitz ihre Soldner auf eine Hohe
von 6500 Mann bringen zu konnen, confiscirten sie, wie schon
friiher die Bohmen, den gesammten Grundbesitz der katholischen
Kirche, so wie das Privateigentum aller notorischen Gegner der
Erhebung, des Kardinal Dietrichstein, der Obersten Waldstein,
Nachod und anderer, und ersetzten einige laue Directoren durch
kiihnere Manner. Auch in den Erzherzogtumern selbst reiften
die Dinge einer gewaltsamen Umwalzung entgegen. Da Ferdinand
nach dem Abzuge Thurns in Wien mit grosser Energie auftrat
und eine Untersuchung des Geschehenen anordnete, so verlegten
die protestantischen Stande Kiederosterreichs ihre Sitzungen
nach Horn und schlossen ebenso, wie ihre Landsleute in Linz,
ein Biindnis mit den Bohmen zum Schutze ihrer standischen
Gerechtsame und des evangelischen Bekenntnisses. Da von
Wien abermals der Befehl zur Leistung der Huldigung ange-
kommen war, so beschlossen sie, eine Deputation zum Erzherzog
Albrecht abzuschicken, der seit dem Tode des Matthias ihr
rechtmassiger Herr war und fiir Ferdinand immer noch keine
Verzichtleistungsurkunde ausgestellt hatte. Derselbe kannte
namlich zur Geniige die Finanzwirtschaft seines Vetters und
wollte die Cessionsurkunde nur nach vollstandigster Sicherstellung
der ihm versprochenen Renten (einer Revenue von 115 000 GW.
11*
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164 Gindely, Geschiohte des drcissigjakrigen Krieget
jahrlich und kleinerer Bezuge) durch Verpfandung des kaiser*
lichen Privateinkommens ausfertigen lassen. Dies geschah erst
anfongs 1620, mithin war Ferdinand 1619 durchaus nicht zur
Regierung Oesterreichs im Namen seines Vetters befugt und die
Stande juristisch im vollsten Rechte. Es mag hier nicht ver-
schwiegen werden, dass trotz aller Versprechungen Albrecht
kaum jemal8 einen Gulden seiner Rente von Wien bekam, und
dass selbst seine Wittwe spater vergeblich auf die ununterbrochene
Zahlung ihrer Pension gehofft hat. Die in Horn geplante Ge-
sandtschaft wurde jedoch von den Ereignissen iiberholt uad
kam nicht zu Stande. Man kopirte die bohmischen Einrichtungen,
setzte eine Direotorialregierung ein und entwand so die Herr-
schaft iiber das Erzherzogtum den Handen Ferdinands, wahrend
in Oberosterreich Tschernembl und seine Partei ohne Wider-
spruch herrschten. Zwei Tage nach dem Abschlusse des bohmisch-
osterreichischen Biindnisses begannen zu Prag die entscheidendcn
Yerhandlungen iiber Ferdinands Absetzung. Eine RechtsdeductioB
wies dem Landtage nach, dass der Konig consequent an dem
Ruine der bohmischen Freiheiten arbeite und wie ein Tynuui
herrsche. Eine Masse von einzelnen Anklagen misohte wicktiges
und unwichtiges durcheinander, doch geniigte der einzige Grand,
„dass Ferdinand die Existenz der Protestanten iiberhaupt nnr
dort unbeanstandet liess, wo die Wirksamkeit seines Schwertes
ihre Grenze fand". Mochte er auch nicht aus Grausamkeit,
sondern aus Glaubenseifer handeln, „fiir die Protestanten war
es schliesslich einerlei, ob man sie aus frommer Ueber-
zeugung oder aus Bosheit auf die Schlachtbank fiihrte, fur sie
. unterlag es keinem Zweifel, dass sie sich wehren mussten. Diese
Ueberzeugung leitete die Masse der rebellischen Unterthanen
Ferdinands, sie allein unterhielt den grossen Eampf, den woil
der Ehrgeiz Einzelner geschiirt, aber nur das Interesse der Ge-
sammtheit entziindet hatte". Am 19. August 1619 erklarten die
bohmischen Stande Ferdinand fur abgesetzt, in den Tagen dar-
auf folgten die iibrigen Lander der Wenzelskrone ihrem Bei-
spiele. Selbstverstandlich war dieser Beschluss in der VoraoB-
setzung gefasst, dass unmittelbar darauf eine Neuwahl stattfinden
musse. Als Throncandidaten kamen in Betracht: der Herzog
Karl Emanuel von Savoyen, der Kurfurst von der PfaJz und der
Kurfurst Johann Georg von Sachsen, von denen jeder im Laade
seine Partei hatte.
Der Herzog# von Savoyen hatte schon vor Matthias' Tode
dem Pfalzgrafen das Elsass und die vorderosterreichischen Laade
versprochen, wenn er selbst zur bohmischen oder deutschfln
Krone gelangen konne. Auf seine Kosten waren die Soldoer
Hansfelds unterhalten worden. Die geringen Erfolge der Bohme^
die Zuriickhaltung Venedigs und die unfreundliche Stimmuug
Frankreichs seinen Bestrebungen gegeniiber trugen aber im fol-
genden Jahre 1619 wesentlich zur Emuchterung des Herzogs
bei. Noch gelang es dem Fiirsten von Anhalt im Mai einen
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Gindely, Gescbichte des dreissigj&hrigen Kriogea. 165
Subsidienvertrag zu Rivoli zwischen ihm und dem Pfalzgrafen, als
dem Haupte der Union, zu Stande zu bringen, in welchem die Er-
langung der bohmischen oder deutschen Krone fur Savpyen in
Anssicht genommen war, doch schickte Karl Emanuel zugleich
den Herren de Bausse nach Deutschland, urn sich Gewissheit
fiber seine Aussichten zu verschaffen, bevor er sich zu den in
dem Vertrage stipulirten Opfern verstehe. De Bausse begab
sich, durch Anhalt empfohlen, nach Prag, urn im Verein mit
Mansfeld far seinen Herrn die Verhandlungen zu fiihren. Er
wurde durch seine Aufnahme daselbst gewaltig enttauscht: dier
Majoritat der bohmischen Stande, der President der Directorialregie-
rung Wilhelm vonRuppa an der Spitze, war entschieden pfalzisch ge-
sinnt und dem katholischen Herzoge urn so abgeneigter, als derselbe
seit der Niederlage von Z&blat trotz der dringendsten Bitten
Mansfeld nicht mehr unterstiitzt hatte. Die savoyische Candidatur
gait mehr fiir eine Intrigue als fiir eine staatsmannische Losung
der bohmischen Frage. Dafiir kam zwischen Ruppa und dem
pfalzischen Gesandten, Grafen Dohna, eine vollige Einigung zu
Stande zum Zweck der Erwahlung Friedrichs V., welcher die
Annahme der bohmischen Krone nur noch davon abhangig
machte, dass er zuvor der Zustimmung seines Schwiegervaters
imd der Hilfe der Generalstaaten versichert sein wollte. Wie
alle schwachen Geister, betrat er zwar den gefahrvollen Weg,
snchte sich aber zugleich die Ruckkehr offen zu halten und
wlinschte deshalb einen Aufschub der Wahl. Noch war aber
seine Erklarung zu Prag nicht angelangt, als der Act daselbst
schon vollzogen war. Mit vieler Sympathie ware auch der Kur-
furBt ron Sachsen in„B6hmen auf den Thron gehoben, wiewohl
er sich selbst nie um denselben beworben hatte, und seine Trunk-
sucht und seine rohen Sitten, mit denen er seine Umgebung wie
ein orientaJi8cher Despot behandelte, aller Welt bekannt waren.
Bei seinem Geize besass er aber bedeutende Mittel und mit
seiner Hilfe war, nach der Ansicht der Directoren, das Haus
Habsburg am besten zu bekampfen. Thurn, Hohenlohe und
Schlick waren die Haupter der sachsischen Partei; die offent-
liche Stimme bezeichnete den Kurfiirsten allgemein als den zu-
ktinftigen Konig, trotzdem er sich mit Ostentation durchaus ab-
lehnend verhielt und ron seiner Erwahlung nichts wissen wollte.
Gegen seine Erhebung wirkten die Schlesier und Lausitzer,
welche ihn offen einen gemeinen Trunkenbold nannten, der eine
Schande fiir das Volk und eine Ge&hr fur die Freiheiten des
Landes sein werde. Sie bemxihten sich mit aller Macht fur
den Pfalzgrafen. Auch Christian IV. von Danemark und Bethlen
Qabor wurden von einzelnen Planmachern genannt, , doch kam
ihre Candidatur nicht einen Augenblick ernstlich in Betracht.
Bei der Konigswahl am 26. August 1619 erhielt Johann Georg
im ganzen Landtage nur 7 Stimmen, alle iibrigen waren fur den
Pfitkgrafen, den Namen des Herzogs von Savoyen nannte nie-
maud. Auf folgendem Tage erklarten sich die Nebenlander eben-
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166 Gindely, Geschichte dea dreissigjSlirigen Kriogea.
falls fur Friedrich V. In Sachsen, wo man die bohmische Krone
sicher nicht angenommen hatte, erregte dennoch dieses Ergebnis
eine sehr erbitterte Stimmung, die unfreundliche Haltung spitzte
sich jetzt den Bohmen gegeniiber in offene Feindseligkeit zu.
Der Pfalzgraf war bei der Schnelligkeit des Wahlactes vollig
iiberrascbt nnd sah sich plotzlich einer vollendeten Thatsache
gegeniiber, nicht ohne starke Zweifel und Seelenkampfe nahm
er zu Amberg auf Drangen des Fiirsten von Anhalt die Krone
an. Die Union erklarte zu Rothenburg, ihn beschiitzen zn
wollen, falls er wegen dieses Schrittes in seinen Erblandern an-
gegriffen werden sollte.
Jacob von England brauste auf die Nachricht von der Er-
wahlung seines Schwiegersohnes heftig auf, anstatt schleunig zu
helfen, schrieb er sofort an Philipp III. von Spanien, um seine
vollige Unschuld an diesem Schritte hoch zu betheuern, damit
8ein Lieblingsplan, die Heirat seines Sohnes mit der Infantin,
nicht Schiffbruch leide. Trotz der flehentlichen Bitten seiner
Tochter, deren Sache in den Herzen aller Englander den leb-
haftesten Sympathien begegnete, trotz des Drangens der General-
staaten und der Beschliisse des eigenen Staatsrathes trug er
seino Vorliebe fur die habsburgische Sache offentlich zur Schau und
behandelte den Gesandten seines Schwiegersohnes, Christof von
Dohna, mit absichtlicher Zurucksetzung. Von ihm war keine
Unter8tiitzung zu hoflfen. Gleicherweise wurde der Pfalzgraf
durch den Kurfiirsten von Mainz und Sachsen, sowie den Herzog
von Baiern vor der Annahme der bohmischen Krone gewanit,
natiirlich ohne diesen Mahnungen Gehor zu geben. Auf Lord
Doncasters Rath, der auf Jacobs Befehl vor dem Bekanntwerden
des Wahlresultates immer noch Ferdinand seine Vermittlung auf-
zudrangen versuchte, im Herzen aber ganz auf pfalzischer Seite
stand, entschloss sich Friedrich, seine Gemablin mit sich nach
Bohmen zu nehmen und nicht, wie er zuerst beabsiohtigte, nach
England zu schicken. Trotz erneuter Abmahnungen, auch seitens
Ferdinands, wurde er am 4. November 1619 zu Prag gekront.
Inzwischen tagte zu Pressburg der ungarische Landtag,
umworben von alien Parteien. Ferdinands Antrag, eine Steuer
zur Bekampfung seiner Feinde zu bewilligen, wurde von dea
Protestanten mit einer Aufzahlung ihrer Beschwerden beant-
wortet Residtatlo8 gieng die Versammlung am 13. August aus-
einander. Auf katholischer Seite hatte man keine Ahnung davon,
dass der Fiirst von Siebenbiirgen eben Vorbereitungen treffe, um sich
den Feinden Habsburgs anzuschliessen. Wenn er in Ungam
einfiel, so konnte er hoffen, dass sich der protestantische Adel
um ihn schaaren, die katholische Herrschaft, die nur in den
reichen Kirchenfursten wurzelte, iiber den Haufen werfen und
sich an dem Kirchengute fiir die iiberstandene Miihe entschadigen
wiirde. Bethlen gehorte dem niedem Adel an und war seit
seinem 17. Jahre Soldat. In seiner Jugend hatte er einige Jahre
in Constantinopel zugebracht , wissenschaftliche Bestrebungen
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Gindely, Geschichte dea dreissigjahrigen Krieges. 167
liebte er, dem Calvinismus war er von Herzen ergeben. Dem
Weingenuss huldigte er sehr, verhandeln konnte man mit ihm nur
friih, weil er am Ende des Vormittags sich stets schon einen
halben Rausch angetrunken hatte. H&ufig ist er hart beurteilt
worden, aber auf dem Wege, den er zuriicklegte, „um zu seiner
hohen Stelluug zu gelangeu, konnte er allerdings nicht den
Tugendpfad innehalten, wie dies ein vom Schicksal von vorn-
herein zur Furstenwiirde bestimmter Mann thun kann". Unter
dem Vorwande eines nahen Turkenkrieges riistete er im Juli
1619, Ende August brach er in das babsburgische Ungarn ein,
wo sein Unterfeldherr R&koczi am 5. September das fast ganz
protestantische Kaschau als erste Stadt einnahm. Wahrend eine
andere seiner Abteilungen gegen Pressburg vorriickte, versammel-
ten sich die Magnaten und Stadte Oberungarns zu Kaschau und
gaben nachtraglich ihre Billigung zu dem Verfahren des Sieben-
biirgers. In Wien war man uberzeugt, dass ganz Ungarn sich
an dem Aufetande betheiligen werde und fur Ferdinand ver-
loren sei. Am 14. October wurde Pressburg dem Kaiser ent-
rissen und der Palatin Forgach gezwungen, das Schloss und die
Krone an Bethlen zu ubergeben, so wie auf den 11. November
einen Reichstag auszuschreiben. Die Wiener ergriff ein panischer
Schrecken, sodass eine allgemeine Auswanderung nach Westen
begann, selbst Ferdinand, der eben von Frankfurt heimgekehrt
war, lenkte mit einigen hundert Fliichtlingen seine Schritte nach
Graz. Fiir Bohmen brachte dies Ereignis ungeheuere Vorteile:
Buquoy musste schleunigst nach Oesterreich abziehen, urn den
von Mahrern und Ungarn fast erdriickten Dampierre zu retten,
ware das bohmische Heer nicht vollstandig demoralisirt gewesen,
so wiirden die kaiserlichen Truppen in eine schlimme Lage ge-
kommen sein. Aber als Hohenlohe, welcher fur den in Mahren
abwesenden Thurn das Commando fiihrte, die giinstige Gelegen-
heit benutzen wollte, sagten ihm sammtliche Truppen den Ge-
horsam auf, bis ihnen der versprochene dreimonatliche Sold
gezahlt sein wiirde, imd diesen konnten die Directoren trotz
aller Finanzoperationen, Beschlagnahmen von Erbschaftsmassen,
Klosterpliinderungen und Miinzverschlechterungen nicht zusammen-
bringen. Unangefochten befestigte der kaiserliche Feldherr seine
Stellungen in Sudbohmen, zog dann nach Oesterreich, wo er
zuerst durch sein Nahen die Standeversammlong zu Horn auseinan-
dertrieb, und drang bei Znaim in Mahren ein. Als endlich die
bohmischen Soldner durch Abschlagszahlungen und Bitten be-
wogen waren, die WaflFen wiederum gegen Ferdinand zu ergreifen,
hatte der kaiserliche General seine Vereinigung mit Dampierre
bereits gesichert. Beide Feldherren zogen sich zur Deckung der
Uauptstadt auf Wien zunick, gefolgt von den nunmehr verein-
ten Truppen der Bohmen und Mahrer, zu denen 12 000 ungarische
Reiter unter Redai's Befehl gestossen waren. Das gesammte
Bundesheer zahlte jetzt gegen 35 000 Mann, vermochte aber
dennoch nicht zu hmdern, dass Buquoy iiber die Donau gieng
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168 Gindely, Geachichte des dreissigjahrigen Krieges.
und die Briicken hinter rich abbrach. Behufs weiterer Be-
sprechungen begaben sioh nun Thnrn und Hohenlohe nach PreBS-
burg zu Bethlen, der unter andern Gedanken auch den Wonsch
aussprach, Ungarn moge als Kurfurstenthum in das Reich auf-
genommen werden, naehdem er es urn Oesterreich, Steiermark,
Karnthen und Krain vergriissert hatte. Bedenklicher war bei
der Zerriittung der bohmischen Finanzen eine Forderung von
400000 Gulden fiir die Kriegszwecke Siebenbiirgens, welche der
Fiirst durch eine eigene Gesandtschaft in Prag betreiben liess.
Dem Konige Friedrich und seinen Rathen blieb nichte iibiig, als
ihn mit leeren Ausfluchten hinzuhalten. Dieser Umstand und
der Einfall seines Rivaien, des Grafen Georg Drugeth de Homonna,
welcher an der Spitze von 11000 Kosaken aus Polen uber die
Karpathen voTdrang, bewogen Bethlen, von einer Belagerung
Wiens abzustehen, sodass auch das Bundesheer nach einer Reihe
unentschiedener Gefechte wieder abziehen musste. In Ferdinands
Hauptstadt herrschten iibrigens die traurigstenZustande: zu dem in
Folge der ungarischen Streif ziige eintretenden Mangel an Lebens-
mitteln gesellten sich die ziigellosesten Ausschweifungen der
kaiserlichen Soldner, bei denen man wie bei den Bohmen mit
den Soldzahlungen im Riickstande war.
Urn die HUfe der Union auch fiir die Vertheidigung Bohmens
in Anspruch zu nehmen, da der Bund sich auf der Versamm-
lung zu Rothenburg nur fur eine Sicherstellung der pfalzischen
Lande verpflichtet hatte, rief der Pfalzgraf einen Correspondeitf-
tag nach Niirnberg zusammen (November 1619), zu dem all*
protestantischen Fursten Deutschlands sowie der Konig von
Danemark eingeladen wurden. Ausser den Unionsmitgliedern
erschien jedoch niemand. Anhalt arbeitete dahin, dass Bohmen
in den Verband der Union aufgenommen werde und Friedrich
als der Konig dieses Landes das Haupt des Bundes und der
General iiber sammtiiche Truppen bleiben sollte. Er stiess mit
diesem Gedanken auf einen hefiagen Widerstand. Die Mehrzahl
der Mitglieder bek&mjrfte offen jede Verwendung der Bundes-
truppen in Bohmen, welche factisoh schon eingetreten war, and
verlangte die Zuriicksendung derselben. Leider lag Anhalt ft
Amberg krank darnieder und konntie personlich seinen Emflnss
nicht ausiiben, sodass die Unzufriedenheit bedenkliche Dimen-
sionen annahm und der Pfalzgraf in diesem wie in mehreren
andern Punkten zum Schaden seiner bohmischen Macht nack-
geben musste. Hochst wichtig waa* jedoch der Beschluss, ini
Reiche selbst zu den Waffen zu greifen, weil die Gravamina
eine unertragliche Hdhe erreicht h&tten. Man gedachte deA
Angriff dadurch einzuleiten, dass man die Truppen, deren Untei^
haltung so schwer empfunden wurde, auf den gefetiiohen Be*
sitzungen einquartierte, womit man freilioh die Bahn der Sako-
larisation betreten und zragleich die geistiichen Furtten fftf
rechts- und schutzlos erklftrt hatte. Eine Gefahr schien nur von
Baiern zu drohen, doch hoffte man den Herzog durch die Ueber-
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Gindely, Geachiehte des dreissigj&hrigen Rrieges. 169
lassung von Augsburg, Regensburg und Freising zu gewinnen
und ordnete deshalb eine eigene Gesandtschaft an denselben ab.
Der Reichshofrathsprasident, Graf von Zollern, welcher im Namen
des Kaisers ersohien, um die Versammlung vor der Theilnahme
an den bohmischen Handeln zu warnen, wurde mit dem Bescheide
abgefertigt, wenn aus was immer fur einem Grunde der Pfalz-
graf oder ein anderes Unionsmitglied in seinen ererbten Be-
8itzungen beunruhigt werden wiirde, so wiirde die Union diesen
Angriff abschlagen. In Miinchen stellten die Abgeordneten des
Bttndes die bestimmte Forderung, die Katholiken sollten binnen
zwei Monaten abriisten, die evangelischen Stande bei alien ihren ehe-
mals geistlichen Besitzungen unangefochten lassen und eine voile
Gleichberechtigung in der Besetzung der Stellen des Reichshofrathes
und des Reichskammergerichts zugestehen. Geschahe dies nicht, so
werde man zum Angriff iibergehen. Wenn man den Herzog von
Baiern hierdurch einzuschuchtern meinte, so irrte man sich: er
kannte genau die Krafte der streitenden Parteien und erklarte, dass
er einen Angriff auf die Katholiken nicht dulden werde. Seine Ant-
wort uberbot an Entschlossenheit die herausfordernde Sprache der
Union. Auch die Stande von Ober- und Niederosterreich beschick-
ten den Niirnberger Correspondenztag, um sich des Schutzes der
grossen evangelischen Verbindung zu versichern. Da ihr Begehren
daselbst abgelehnt wurde, Ferdinand hingegen in einem sehr ver-
sohnlichen Schreiben ihnen die Beilegung der religiosen Streitig-
keiten im protestantischen Sinne zu versprechen schien und sich
schliesslich das Gerucht verbreitete, Bethlen wolle sich der Herr-
schaft Oesterreichs bemachtigen, so trat ein merklicher Um-
Bchwung der Stimmung ein, brachten doch die Deputirten nichts
ab allgemeine Theilnahmsversicherungen in ihre Heimat zuriick!
Fiir den Kampf in Bohmen gewann Friedrich mithin in Niirnberg
nicht die geringste Stiitze, ja die osterreichischen Stande, auf
deren engen Anschluss er gehofft hatte, wurden durch die kiihle
Haltung der Union abgeschreckt und zu Verhandlungen mit
Ferdinand hingeleitet. Schliesslich beendete hier Lord Doncaster
auch seine diplomatischen Irrfahrten. Nachdem er gegen seine
Instruction, und freilich auch ohne Erfolg die Republik Venedig
fiir Friedrich zu gewinnen versucht, dann in Graz den Kaiser
zu seiner Erwahlung begliickwiinscht und auf dem Riickwege in
Wi^i mit Onate noch einige Sticheleien ausgetauBcht hatte,
reiste er iiber Graz naoh London, um von Jacob sehr ungnadig
empfangen und niemals wieder politisch verwendet zu werden.
Inzwischen zeigte der Winterkonig zu Prag — denn dieser
Spottname findet sich schon in Actenstiicken vom Januar 1620
— dass er der iibernommenen Aufgabe durchaus nicht gewachsen
sei, „denn von tuchtiger Arbeitskraft oder von einem. Verstand-
nisse seiner Stellung und seiner Pflichten war bei ihm keine
Rede. Seine Unselbstandigkeit wurde bald allgemein bekannt
und verspottet. Er war ein gutmiithiger Prinz, dessen Hand-
lungsweise zum Theil an das kaum iiberschrittene Knabenalter
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170 Gindely, Geschickto des dreissigj&krigen Kriege3.
mahnte, der sich nur in Unterhaltungen oder pomposen Auf-
ziigen gefiel und der die meiste Zeit in Gesellschaft seiner heiss-
gelicbten Frau zubrachte, statt in die Rathsstube zu gehen oder
auf das Schlachtfeld zu eilen". Er sowohl wie Elisabeth Stuart
verstiessen durch ihre englischen Hofmanieren haufig gegen die
steifen Sitten der altfrankischen bohinischen Aristokratie. Durch
die thorichte Bilderstiirmerei und Ausraubung des Doms, der
altstadtischen Jesuitenkirche und der Prager Briicke wurde
unniitzer Weise auch das religiose Gefuhl des gemeinen Stannes
beleidigt, sodass man bald nur hamische Bemerkungen liber das
Gebabren des neuen Konigs hatte, an dem man anfangs alles
so vortrefflich fand. Dabei zeigte sich zu derselben Zeit grade
die tiefe moralische Versunkenheit des bohmischen Adels im
Wartenbergischen Processe, selbst Wenzel von Ruppa hatte sicli
mit 50000 Thlr. bestechen lassenl Ein solcher Fiirst konnte
wohl in der Pfalz seinen Pflichten geniigen, bei der Verkommeu-
heit der Bohmen aber nicht einmal in Zeiten des Friedens sein
Ansehen aufrecht erhalten. Ende Januar 1620 begab sich der
junge Konig nach Briinn, urn hier die Huldigung der Mahrer
entgegenzunehmen, bei welcher Gelegeuheit natiirlich wiederum
eine an Selbstmord streifende Vergeudung zu Tage trat, wahrend
das Bundesheer bei Pressburg vor Mangel am Nothwendigsten
verkam und eine Rotte von 4000 Kosaken die Markgrafechaft
nach alien Richtungen hin pliindernd durchstreifte. Ueber
Ohniitz gieng die Reise nach Breslau, wo der Empfang (23. Febr.
1620) womoglich noch prachtvoller war als in der Hauptstadt
Mahrens. Selbst das Breslauer Capitel und einige Aebte leisteten
hier mit den iibrigen Standen die Huldigung. Den Treueid der
Lausitzer nahm der Fiirst nicht personlioh, sondern durch
Commissare entgegen, indem er unaufischiebbare Geschafte vor-
schiitzte. Das zur Befriedigung Bethlens nothwendige Geld hatte
er nirgends erlangen konnen.
Schon im November 1619 war bei Ferdinand der Entschluss
gereift, mit Bethlen Gabor zu verhandeln. Um denselben wr
Ruhe zu bringen, war er zu grossen Opfern bereit, weil eben
nur dann ein Erfolg in Bohmen moglich war. Ende December
erschienen die kaiserlichen Gesandten in Pressburg und machten
dem Fiirsten die glanzendsten Anerbietungen, wahrend von den
Bohmen nichts als leere Versprechungen zu erlangen waren.
Bethlen wurde unschliissig, ob er sein Los noch ferner an das
des Pfalzgrafen ketten oder den vom Kaiser angebotenen Lohn
einheimsen solle. Nachdem er sich durch erneute Besprechungen
mit einer bohmischen Gesandtschaft unter Hohenlohe UbGrzeugt
hatte, dass ihm von Prag keine Geldmittel zur Verfugung ge-
stellt werden wiirden, naim er die Verhandlungen der Wiener
Rathe mit Entschiedenheit auf, zumal Ferdinand sowohl an ihu
als an den in derselben Zeit versammelten Reichstag hoobst
weitgehende Concessionen machen wollte. Die Mehrzahl der
Magnatenversammlung verwarf jedoch alle Yorschlage des Kai$ers
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Gindely, Gescbichte des dreissigjahrigon Krieges. 171
und trug Bethlen die ungarische Krone an. Gern hatte derselbe
die neue Wttrde angenommen, allein ihn qualte die Angst vor
den Tiirken, deren Angriffen er zum Opfer fallen musste, wenn er
nicht eine Sttitze an Bohmen oder an dem Kaiser fand. Er
schlug deshalb den Mittelweg ein und liess sich zum Fiirsten
(nicht zum Konig) von Ungarn ernennen. Ein Waffenstillstand
mit Ferdinand kam in Folge dieser Massigung im Januar 1620
zu Stande. Nach ihm sollte Bethlen vorlaufig im Besitze alles
dessen bleiben, was er inne habe. Als Gegenpreis fur seine Ver-
zichtleistung auf die ungarische Krone warden ihm etwa zwei
Drittel des kaiserlichen Ungarns und die Furstenthiimer Oppeln
und Ratibor in Aussicht gestellt. Zur selben Zeit vertagte sich
der Reichstag zu Pressburg, nachdem er noch die hervorragend-
sten Freunde des Kaisers des Landes verwiesen hatte. Nach
langem Schwanken ratificirte endlich Ferdinand die mit Bethlen
abgeschlossenen Vertrage unter Hinzufiigung verschiedener Clau-
sein : er gab damit freilich Ungarn preis, welches er aber keines-
falls hatte halten konnen. Auf Wunsch des Siebenbiirgers wollte
er sich sogar zu Friedensverhandlungen mit den Bohmen, aber
nicht mit deren Konig Friedrich V. verstehen. Den Waffen-
stillstand auf die nichtungarischen Provinzen auszudehnen, war
er nicht zu bewegen. Von alien Seiten umworben residirte jetzt
Bethlen zu Kaschau. Um jeden Preis musste der Pfalzgraf den
Waffenstillstand in Ungarn verhindern, weil die Macht des Kaisers
sich sonst ungetheilt auf seine Lande geworfen hatte. Nach einander
verhandelten Dohna und Anhalt mit dem schwankenden Bundes-
genossen, ohne anfangs etwas zu erreichen, da Ferdinand den
Kanzler Pechy bestochen hatte und sein Herr noch Zeit ge-
winnen wollte. Als jedoch beruhigende Nachrichten aus Con-
stantinopel einliefen, dass von dort her die siebenbiirgischen
Projecte nicht durchkreuzt werden wiirden, so besohloss Bethlen,
die Feindseligkeiten wieder aufzunehmen, wenn die Bekriegung
der Bohmen kaiserlicherseits nicht aufhore. Er gestand Ferdi-
nand nur eine Bedenkzeit von 25 Tagen zu (31. Marz 1620).
Als durch das Eingreifen des Fiirsten von Siebenbiirgen
sich die Aussichten des neuerwahlten Kaisers auf diese Weise
immer schlimmer gestalteten, machte sich zu seinen Gunsten
eine allgemeine Bewegung in der katholischen Welt geltend.
Wenn auch der Gedanke des Hofkammersecretars Arnoldinus
von Klarstein scheiterte, einen katholischen Vertheidigungsbund
(societas christianae defensionis) auf Grund freiwilliger Gaben
der Glaubigen zu griinden und dem Kaiser die Mittel zur
Kriegfuhrung durch fromme Collecten zu verschaffen, so ereig-
nete sich dafiir das Unglaubliche, dass im Winter 1619/20 eine
Coalition aller katholischen Machte unter Leitung des Papstes
zu Stande kam, welcher selbst Kursachsen beitrat. Durch diese
Verbindung sollte Ferdinand zum vollen Siege iiber seine
emporten Lande gelangen. Spanien muss hier wieder zuerst
genannt werden, denn zu Ende des Jahres 1619 entschloss sich
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172 Gindely, Geschichte dee dreissigjahrigen Krieges
Philipp III. zu neuen Opfern, die alles, was er bis dahin ge-
leistet hatte, iiberboten. Wegen der trostlosen Ebbe im Staate-
8chatze und beeinflusst durch seine Giinstlinge, den Herzog Ton
Uzeda und den Grossinquisitor Aliaga, hatte sich der Monarch
znerst den Bitten des kaiserlichen Gesandten, des Grafen
Khevenhiller, gegenuber ablehnend verhalten, endlich war es
jedoch dem letzteren im Verein mit der kaiserlichen Partei am
Madrider Hofe gelungen, durch Herbeiziehung religioser Momente
der Ueberzeugung Bahn zu brechen, dass der Kampf in Deutsch-
land kein politischer, sondern ein heiliger Krieg, und dass dem-
nach die Haltung des Konigs vorgezeichnet sei. Am 20. Januar
1620 unterzeichnete derselbe ein Schreiben an den Erzherzog
Albrecht, in welchem er die nothigen Mittel zur Verfugung stellte,
um die Niederpfalz mit spanischen Truppen anzugretfen. Er
bewilligte dazu 1 600 000 Dukaten. Man beschloss zugleich, das
ehtri8sene Land dem Pfalzgrafen nicht zuruckzngeben und zwei-
felte nur, ob Spanien die Eroberungen einfach behalten oderae
an Pfalz-Neuburg abtreten und dessen Anspriiche auf Julich
dagegen in den Tausch nehmen solle. Auch von der Uebertragung
der Kurwiirde auf Baiern war im spanischen Staatsrathe die Rede.
Mit grosser Miihe war es su derselben Zeit der kai8e^
lichen Diplomatic gegliickt, die Hilfe der Liga zu erlangen, die
fur Ferdinand von hochster Bedeutung war, da durch sie der
bohmische Aufstand direct zum Falle gebracht werden konnte.
Noch unter der Regierung des Matthias waren habsburgischer-
seits zur Wiederbelebung dieses katholischen Biindnissee ener-
gische Versuche gemacht worden, sie waren aber sammtlich as
der kiihlen Haltung des Herzogs von Baiern sowie seines Bruders*
des Erzbischofs von Koln, gescheitert. Auch Ferdinand gegen-
iiber verhielt sich Maximilian anfangs durchaus ablehnend ofid
verbat sich jede Einmischung seiner Person in die bdhmischen
Handel. Als niichterner Kopf wartete er ruhig, bis auch seine
Zeit kam, bis er wahrnahm, dass sich die Wagschale auf F«-
dinands Seite neigte, dass Spanien und der Papst zu Opfern
entschlossen waren, der deutsche Clerus den Kaiser unterstiitzen
wollte und Frankreich mindestens in einer gtinstigen Neutralist
verharren wiirde. Jetzt konnte er, als Vertheidiger der katho-
lischen Interessen auftretend, seine egoistischen Plane verfolgen.
Als Ferdinand auf seiner Ruckreise von Frankfurt Miinchen beriihrte,
8chlo8s er am 8. Oct. 1619 mit seinem Wittelsbachischen Vetter einen
Vertrag ab, nach welchem der letztere die oberste Leitung der
Liga und die Fiihrung des katholischen Bundesheeres ubernahm.
Fiir die Auslagen setzte der Kaiser seine und seines gesammten
Hauses Besitzungen zum Pfande ; sobald Maximilian irgend eben
Theil der osterreichischen Provinzen den Feinden entrissen hatte,
sollte er daselbst als Pfandbesitzer alle Rechte eines Lander
fiirsten ausiiben, bis er voile Entschadigung erlangt haben wurde.
Ausserdem wurde ihm miindlich die Uebertragung der Kurwiirde
auf seine Linie versprochen^ sowie jener Theil des pfalzgraflichen
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Gindely, Geschichte des dreissigjahrigen Krieges. 173
Besitzes, dessen er sich im Kriege bemachtigen wiirde. Die Bei-
stimmung Spaniens zu diesen Entschadigungen liess Maximilian
seit dem Marz 1620 durch eineu eigenen Gesandten, Dr. Leuker,
in Madrid betreiben. So war gegen alles Recht Wiirde und
Beaitz des Pfalzgrafen vom Kaiser schon unter seine Bundes-
genossen vertheilt, bevor iiberhaupt gegen ihn vorgegangpn oder
die Acht ausgesprochen war. Der Convent der katholischen
Stande zu Wiirzburg (December 1619) bescbloss nunmehr zur
Unterstutzung des Kaisers eine Armee von 21000 Mann zu Fuss
und 4000 Reitern anzuwerben und den Oberbefehl an Baiern zu
iibertragen.
Auch den Papst gelang es jetzt zu einer ausgiebigeren
Hilfeleistung zu bewegen. Auf dem Stuhle Petri sass der geizige
Paul V., der sich anfangs alien Zahlungen unter dem Vorwande
entzogen hatte, dass der Streit in Bohmen zwar ein habsbur-
gisches, aber nicht ein vorzugsweise kirchlicbes Interesse antaste,
schliesslich aber noch an Matthias und spater an Ferdinand
monatlich 10000 Gulden Subsidien zu spenden sich bereit er-
kl&rte. Auf Drangen Spaniens und Baierns erhohete er Mitte
November 1619 diese Summe auf 20000 Gulden und befahl in
Italien zu Gunsten der Ldga einen Zehent zu erheben. Waren
diese Beitrage im Verhaltnis zum Schatze der Kirche auch nur
massig, so verschafften sie schliesslich dem Kaiser doch den Sieg,
da sein Gegner, der Pfalzgraf, allein von Holland mit Geld
unterstiitzt wurde. Neben der papstlichen Hilfe fiel auch die
Unteretutzung des Konigs Sigismund III. von Polen bedeutend in
die Wagschale, da er wiederholt Schwarme von mehreren Tausend
Kosaken iiber die Karpathen nach Ungarn einbrechen liess. Er
war sogar geneigt, die Krafte des gesammten Polens mit Beistim-
mung des Reichstages gegen die Bohmen aufizubieten, wofiir ihm
Ferdinand seinerseits den Besitz aller Fiirstenthiimer in Schlesien
anbot, deren Inhaber wegen Treubruchs geachtet werden wiirden.
Die Moglichkeit, dass Schlesien wieder mit Polen vcreint und
dem deutschen Reiche entfremdet wiirde, war vom „Mehrer des
Reichesu ernstlich ins Auge gefasst; musste er doch diese, wie
jede Unterstutzung seiner glaubenseifrigen Bundesgenossen mit
schweren Opfern bezahlen. Die Verhandlungen wurden jedoch
unterbrochen, weil die Polen mittlerweile von einem Angriffe der
Tiirken bedroht wurden, durch deren Intervention Schlesien
glucklich der Krone Bohmen und Deutschland erhalten blieb!
Auch auf Savoyen, so sonderbar es scheinen mag, richtete die
Liga ihre Aufinerksamkeit, da der Herzog Karl Emanuel sich
vollstandig von der pfalzischen Sache abgewendet hatte. Dies^r
^geriebene Fuchs, der nie ohne eigenen Vorteil einen Thaler
ausgab", hatte seit seinen Niederlagen bei den Wahlen zu
Frankfurt und Prag jede weitere Unterstutzung der Bohmen
eingestellt, er bot En&e 1619 dem Kaiser, der Wittwer war, die
Band seiner Tochter und sich selbst mit einem schonen Heere
-als General in dem „gerechten Kriege" an. Als Lohn erbat er
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274 Gindely, Geschichto des dreissigjahrigen Kriegea.
sich den koniglichen Titel und eine Gebietserweiterung. In
Spanien erfreute sich dieser plotzliche Diensteifer keiner beson-
deren Wiirdigung, man hielt den Herzog jeder Falschheit fur
fahig und wollte nicbts davon wissen, ihn an der Spitze eine8
Heeres zu sehen, und in Folge dessen lehnte auch der Kaiser in
hoflich kiihler Weise die neue, zudringliche Freundschaft ab. Anf
Spaniens Drobungen, und da auch Frankreich in seiner dem Kaiser
freundlichen Stimmung verharrte, gieng Karl Emanuel dennoch zu
Turin am 5. Mai 1620 einen Vertrag ein, der den spanischen Truppen
den Durohzug aus Italien nach Flandern gestattete, wies aber
dafiir seinerseits das Gesuch der Liga um eine Geldunterstutzung
ohne Umschweife rund von der Hand und entschloss sich,
an dem weiteren Kampfe vorlaufig keinen Anteil zu nehmen.
Im Monat Marz 1620 kam schliesslich das Meisterstuck der
kaiserlich-bairischen Diplomatic zu Stande : die Anbahnung eines
Biindnisses zwischen dem Kurfiirsten von Sachsen und der Liga.
Johann Georg empfend die Wahlsiege des PfaJzgrafen als eine
personliche Niederlage und dieser Groll, genahrt durch die
giftigen Einfliisterungen des im kaiserlichen Solde stehenden
Hofpredigers Hoe von Hoenegg, steigerte sich zum Hasse, als der
Herzog von Sachsen -Weimar sich mit Friedrich verband, um
nach dem Siege der Bohmen die Kurwiirde der alteren Lanie
wieder heimzufordern. Nachdem ein Convent der Liga zu Wurz-
burg (Febr. 1620) dem Fiirsten versichert hatte, dass den Stan-
den des niedersachsischen Kreises die sacularisirten Stifts- und
Klosterguter nicht entrissen werden sollten, nahm er die Ve^
handlungen mit dem Kaiser auf und war bereit eine Fiirsten^
versammlung der kaiserlichen Partei zu Miihlhausen personlich
zu besuchen. Die Frage nach den ehemaligen Stiftern und
Klostern im sachsischen Kreise versprach Ferdinand daselbst ent-
scheiden zu lassen, den Majestatsbriei wollte er gegen jene beob-
achten, die sich ihm freiwillig unterwerfen wiirden. Fiir die Kosten
der sachsischen Hilfe wurde die Ober- und Niederlausitz verpfandet
und als Preis der Treue das Fiirstenthum Anhalt, dessen Be-
sitzer wegen ihrer Unterstiitzung der Bohmen geachtet werden
sollten, in Aussicht gestellt. Nachdem auf diese Bedingungen
ein Vertrag zwischen Johann Georg und dem Kaiser abgeschlossen
war, begab sich der erstere nach Miihlhausen, wo ausser ihm
die Kurfiirsten von Mainz und Koln und der Landgraf Ludwig
von Hessen in Person eintrafen, wahrend Ferdinand und Maxi-
milian von Baiern durch Gesandte vertreten wurden. Johann
Georg und sein Hofprediger traten hier in einer Weise katholi-
sirend auf, dass der Kurfurst von Koln sie der ganzen Liebe
aller Papisten versicherte: „sie schatzten sie wie das eigene
Fleisch und Blutlu Alle Abmahnungsversuche seitens des Land-
grafen Moriz von Hessen sowie des Konigs von Danemark wurden
von Johann Georg grob zurtickgewiesen. In der Stifterfrage
begniigte sich derselbe sogar mit geringerem als selbst Maxi-
milian zuzugeben entschlossen war: die niedersachsischen Stande
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Gindely, Geschichte des dreiasigjahrigen Krieges. 175
sollten nicht mit Waffengewalt aus den sacularisirten Giitern
yerdrangt werden, so lange sie im Lutherthum und dcr Treue
gegen den Kaiser verharrten und nicht Anspriiche auf Sitz und
Stimme im Reichstage erheben wiirden. Ausserdem reservirten
sich die geistlichen Kurfiirsten das Klagerecht auf Riickgabo in
alien einzelnen Fallen. Am 21. Marz 1620 wurde eine Bundes-
urkunde znr Unterstiitzung des Kaisers unterzeichnet, selbst der
Erzherzog Albrecht und Spinola wollten dieser Nachricht anfangs
nicht Glauben schenken! Der Gedanke, schon jetzt die Acht
iiber den Pfalzgrafen trotz der Wahlkapitulation zu verhangen,
stiess jedoch bei den Fiirsten des Miihlhauser Conventes auf
Widerspruch, nur Maximilian rieth dem Kaiser diese Massregel
an, da er ja nur so in. den Besitz des versprochenen Kurhutes
gelangen konnte. Besonders war es Johann Georg, der aufs
bestimmteste verlangte, dass sich der Kaiser mit der blossen
Androhung der Acht begniige und sie erst dann verhange, wenn er
hiezu auch die Zustimmung Brandenburgs erhalten hatte. Um
ihn nicht in das feindliche Lager hiniiberzutreiben, verschob man
die Achtserklarung, bis der Kampf in Bohmen einen gliicklichen
Ausgang genommen haben wurde. Ferdinand betrachtete mit-
hin das Verfahren als eine rein politische Massregel; von einem
Einschreiten der Reichsgerichte , von einem Processverfahren
gegen den aufstandischen Vasallen, das mit Notwendigkeit er-
folgen musste, war nicht die Rede. Das Ganze war ein heuch-
lerisches Spiel mit den abgestorbenen Formen des in der Auf-
losung begriffenen Heil. Rom. Reiches. Mit dem Abschluss dieser
sich zu Gunsten des Kaisers entwickelnden Alliancen schliesst
der zweite Band der Gindely'schen Publikation.
Band III. beginnt mit einer Darstellung des franzosischen
Vermittlungsversuches und des Ulmer Vertrages. Frankreich
vervollstandigte den katholischen Bund, der sich gegen die pro-
testantischen Angriffe in Bohmen gebildet hatte, und trug indirect
das Seinige zur Niederlage des Pfalzgrafen bei. Der gesammte
gallische Clerus, mit dem Nuntius und den Jesuiten an der
Spitze, vertrat energisch die Sache der in Bohmen gefahrdeten
Krche, und da Jacob von England die ihm fur den Prinzen von
Wales angebotene Hand der Prinzessin Henriette kiihl zuriick-
wies, so entband er damit auch die franzosischen Staatsmanner
der Rucksichtnahme auf seinen Schwiegersohn und fdrderte den
Gedanken der Neutralitat bei denselben, ja Ludwig XIIL, durch
seinen jesuitischen Beichtvater bearbeitet, dachte sogar um Weih-
nachten 1619 an eine Unterstiitzung Ferdinands durch franzosische
Truppen, ein Gedanke, welcher freilich den alten Traditionen
der franzosischen Politik zu sehr widersprach, um nicht bald
darauf wieder aufgegeben zu werden. Auf Grand eines Memoires
des Ministers Jeannin wurde darauf die Abordnung einer Gesandt-
schaft nach Deutschland beschlossen, an deren Spitze der Herzog
von Angoul&ne und die Grafen von Bethune und Preaux traten.
Die auf diese diplomatische Sendung beziiglichen Actenstiicke
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176 Gindoly, Geschickte dea dreissigjahrigen Kriegee.
von Wichtigkeit aind schon in der „L'amba8sade £ran$aise extra-
ordinaire" veroffentlicht worden, wie auch die Thatigkeit der
Unionsgesajidten in Paris durch Kriiner in seinem „ Johann ?on
Busdorf " ihre Wiirdigung fand. AngoulSme sollte mit den ein-
zelnen katholischen und protestantischen Fiirsten Deutschlands
in Verhandlung treten, sie zum Frieden inahnen und einen all-
gemeinen Waffenstillstand vorschlagen. Man wollte den Kaiser
stutzen, aber den Pfalzgrafen in der bohmischen Frage nicht
ganz zu Grunde gehen lassen. Die Union hatte zu derselben Zeit
Schritt fiir Schritt ihre Angriffsplane fahren lassen und war all-
malig in eine immer klagUchere Haltung hineingeraten. Der
Markgraf von Baden hatte am Bhein bei Breisach Wache ge-
halten, urn den katholischen Heeren den Zuzug aus dem Westen
zu verwehren. Auf Ferdinands Forderung gestattete er anfangs
dem Nachschube zum kaiserlichen Heere den freien Durchzug
und darauf den Ligisten ebenfalls, weil dieselben nach der Er-
klarung des Kaisers als in seinem Dienst befindlich anzusehen
seien. Da es nun nichts mehr zu bewachen gab, vereinte er
sich mit den iibrigen Streitkraften bei Ulm in einem Lager.
Dem Unionsheere von 13 000 Mann standen 24000 Ligisten in
unmittelbarer Nahe bei Lauingen und Giinzburg gegenuber,
wahrend in Ulm selbst eine Versammlung des evangelischeD
Bundes tagte. Dennoch kam es zu keinen Feindseligkeiten, viel-
mehr gelang der. franzosischen Gesandtschaft (Juli 1620) die
Vermittlung eines Vertrages, in dem beide Parteien die Ver-
sicherung abgaben, mit einander in Frieden leben zu wollen.
Die Liga verpflichtete sich, die Erblander des Pfalzgrafen mit
jedem Angriffe zu verschonen, nur Bohmen wurde ausdrucklich
au8genommen. Des Erzherzoges Albrecht geschah jedoch in dem
Vertrage keine Erwahnung, ihm blieb es mithin freigestellt, die
unter Spinola vereinte spanische Truppenmacht nach Bohmen
oder nach der Pfalz marschiren zu lassen. Als der Vertrag &
Prag bekannt wurde, geriet Elisabeth Stuart in vollige Ver-
zweiflung, weinte und raufte sich die Haare aus! 1m Lager zu
I^tuingen empfieng der Herzog von Baiern die franzosische Ge-
sandtschaft in schmeichelhafter Weise, in Wien wurde ihr vom Kaiser
ein wahrhaft prachtiger Emp&ng bereitet. Ihre diplomatischen
Erfolge waren dort urn so geringer, man lehnte jede Vermitte-
lung kaiserlicherseits ab und erwartete allein von den Waffen
eine giinstige Entscheidung. In ihrem Berichte schoben sie dk
Schuld ihres Misserfolges auf Onate, der sich bei der Auszahlung
der Subsidien durch eine Miinzoperation bereicherte, indem er
das spanische Geld in osterreichisches von leichterer Wahrung
umpragen liess und die Differenz in seine Tasche steckte. War
diese Beschuldigung auch begriindet, so lag andrerseits der
Krieg allein im wahren Interesse des Hauses Hahsburg I
In England hielt Parlament und Volk dafiir, dass die Sadtf
Friedrichs mit der des Evangeliums auf das innigste verkniipft
sei, und war zu jedem Opfer bereit, dennoch gelang es selW
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Gindoly, Geschichte dcs dreissigj&hrigen Krieges. 177
den Bemiihungen des hollandischen Gesandten Noel de Caron
nicht, die unfreundliche Stimmung Jacobs gegen seinen Schwieger-
sohn zu andern. In den ersten Tagen des Jahres 1620 erklarte
er dem spanischen Gesandten, „wie auf der einen Seite seine
Kinder und Verwandten in ihn drangen, sich fur Friedrich zu
erklaren, wie aber auf der andern Seite dieWahrheit und
die Freundschaft mit dem Konige von Spanien und dem
Hatise Oesterreich stehe 'und ihn von diesem Schritte zuriick-
balteu. Den Titel eines bohmischen Konigs verweigerte er auch
ferner seinem Schwiegersohne , nur mit Miihe war er dazu
zu bewegen, zur Vertheidigung der Pfalz in England eine
Werbung von 2000 Mann unter John Gray zu gestatten
und bei seinem Schwager, dem Konige von Danemark, ein Dar-
lehen fiir Friedrich zu befiirworten. Dies Gebahren Jacobs
ichien selbst dem Konige von Spanien unglaublich: er schickte
deshalb den Grafen Gondomar nach London, einen der bedeu-
tendsten Diplomaten seines Jahrhunderts, der sich seit 36 Jahren
im Dienste Spaniens bewahrt hatte. Diesem gelang es, den
Konig und seinen Giinstling Buckingham vollstandig zu umgarnen.
Jacob erklarte ihm, er sei von Verrathern umgeben, den Katho-
liken in England geschahe Unrecht, der Erzbischof Abbot sei ein
gottloser Puritaner, der Pfalzgraf ein Usurpator, doch weder er
noch die Unionsfursten wiirden etwas von ihm erlangen. Ja
der verblendete Monarch war, wahrend es sich um Friedrichs
Existenz handelte und die Niederlande mit englischer Unter-
8tiitzung die Niederpfalz zu schiitzen bereit waren, so gemein
und niedertrachtig, sich in eine Intrigue gegen diesen Staat ein-
zulassen. Im Verein mit Philipp IIL von Spanien wollte er die
Republik niederwerfen. Die Grafschaften Holland und Seeland
sofiten englische, der Rest sollte spanische Provinz werden.
Allerdings blieb dieses Project, wie sammtliche Plane Jacob V.,
leeres Geschwatz und wurde auch als solches von dem Erzherzog
Albrecht in Briissel behandelt, sobald ihm Philipp HI. Eroff-
nungen daruber machte.
Trotzdem im Januar 1620 die niederosterreichischen Stiinde
beschlossen, die kaiserlichen Truppen als Feinde anzusehen, und
ihre Regimenter mit den Bohmen vereinten, so mussten sich die
letzteren dennoch, durch Hunger und Krankheiten decimirt, von
Wien nach Norden zuruckziehen, fortwahrend von Buquoy be-
drangt. Dampierre riistete in derselben Zeit einen Einfall nach
Mahren, sodass die Stande dieser Provinz ihre Truppen in die
Heimat abriefen, wahrend zu derselben Zeit 22 Fahnloin von dem
in Passau stationirten italienischen Volke unter Marradas in
Bohmen vordrangen und die Besatzung von Budweis verstarkten.
Bei Langenlois kam es zwischen den Kaiserlichen unter Buquoy
und den vereinten Oesterreichern und Bohmen, deren Befehls-
haber sich wieder einmal zu Prag aufhielten, zu einem fiir die
letzteren ungiinstigen Gefecht. Die Prager Regierung geriet in
die grosste Bestiirzung und bot den zwanzigsten Mann auf, aber
Mitthelluiigen a. d. hlstor. Littcratur. VII. 12
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178 Gindely, GeBchichte dea dreissigjahrigen Krieges.
selbst vierzehn Tage nach der Veroffentlichung des Patentes
hatte sich auf den Sammelplatzen noch niemand eingefunden.
Die beste Hilfe in dieser Noth war die unertragliche Lang-
samkeit des kaiserlichen Feldherrn, der nie einen Schlag wagen
wollte, ah wenn er „den Feind im Sacke halte", obwol sein
Heer darch den Anschluss Dampierre's und der polnischen
Kosaken bedeutend verstarkt war. Jetzt hatte sich endlicb
Anhalt nach semen diplomatischen Irrfahrten bei der bohmischen
Armee eingefunden und das Kommando iibernommen. Ihm ge-
lang es durch eine Reihe kleinerer Gefechte bei Meissau (10.— 12.
Marz 1620) die Kaiserlichen nach Erems zuriickzudrangen, aber
ein weiteres Vordringen wurde durch die totale Verodung Ton
Niederosterreich, das fast in eine Wiiste verwandelt war, ver-
hindert. Kosaken und Wallonen ascherten mutwillig die Ort-
schaften ein, beraiibten ohne Unterschied der Confession, schan-
deten Knaben und Madchen bis zum Tode und veriibten
unmenschliche Grausamkeiten, um Geld zu erpressen. Selbst d6r
Abt yon Molk fiihrte beim Kaiser iiber Buquoy's Soldaten die
bittersten Klagen. In ahnlicher Weise wiitheten die bohprischen
Soldaten auf lutherischen Giitern und den bohmenfreundlich
gesinnten Edelleuten gehorigen Besitzungen und, anstatt Zeuge
alles dieses Elendes zu sein oder mit den Soldaten die Unbilden
des Krieges zu tragen, feierte der Winterkonig zu Prag mit
verschwenderischer Pracht die Taufe des Prinzen Ruprecht
(Marz 1620) und liess seinen altesten Sohn zu seinem Nach-
folger in Bohmen erwahlen. Die kriegerischen Ereignisse bis
zum Einmar8che der ligistischen Truppen in Oesterreich, Mans-
felds Thatigkeit nach dem Gefecht bei Gars und die stets wach-
sende Demoralisation des bohmischen Heeres schildert Gindely
im wesentlichen auf Grund der, schon von Miiller Yeroffentlichten
Schreiben des sachsischen Agenten Lebzelter, des Tagebuchs
Anhalts und der Acta bohemica, ohne hier neue Thatsachen von
Wichtigkeit beizubringen. Mansfelds Berichte, der in seiner
Apologie dieselben Zeiten behufe seiner Rechtfertigung dar-
gestellt hat, werden zum Schaden der Darstellung nicht
beriicksichtigt. Dagegen sind die socialen Zustande des ver-
kommenden Bohmenvolkes vom Verfasser mit Recht als Haupt-
grund fur die Niederlage der protestantischen Sache hinge-
stellt: im Sommer 1620 emporten sich die durch die Hab-
gier des Adels und die Pliinderungen der Soldaten zur Verzwoif-
lung getriebenen Bauern und forderten die Aufhebung der Leib-
eigenschaft, welche ihnen selbst der Kaiser yersprochen habe,
wenn sie sich fiir ihn erklaren wiirden. Trotz der verzweifelten
Lage des Winterkonigs wurde ihren Bitten nicht entsprochen,
nur in dem Mangel an Nahrungsmitteln ist die Ursache der
Auflo8ung der aufetandischen Bauernhaufen zu finden.
Von hohem Interesse sind die Nachrichten, welche der Ve^
falser iiber den ungarischen Reichstag zu Neusohl (Juni — August
1620), auf Grund vieler unbekannter Aktenstiicke des Wiener
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Gimlely, Geechichto des dreissigjahrigen Kriegee. 179
Kuttenberger und Miinchener Archivs beibringt. Die Vorgange
auf dieser Versammlung mahnen in ihrer Formlosigkeit und in
der Behandlung inissliebiger Gegner mehr an den Orient als an
den Occident, trotzdem der Reichstag einer der glanzendsten
war, der seit einem Jahrhundert in Ungarn stattgefunden hatte.
Neben den Gesandtschaften des Kaisers, der Polen, Bohmen,
Oesterreicher und Unionsfiirsten fanden sich gegen 10000 Personen
aus Ungarn unter verschiedenen Titeln ein. Da die Abgeordneten
Ferdinands mit ihren Vorschlagen nicht durchdringen konnten,
8chlossen sie ihre Thatigkeit durch Abgabe eines feierlichen
Protestes (17. August 1620) und reisten ab. Wenige Tage dar-
auf wurde ihr Herr fiir abgesetzt erklart und Bethlen zum
Konige proclamirt, welcher jedoch kliiglicher Weise die Kronung
noch unterliess. Siebenbiirgen wurde in das ungarisch-bohmische
Biindnis aufgenommen und seine Verpflichtung fur den Kriegs-
fall auf 25000 Mann bestiinmt. Den Katholiken wurden nur
drei Bischofe zugestanden, mit einem Gehalt von 2000 Gulden,
das gesammto iibrige Vermogen der Kirche wurde confiscirt.
Mit Widerstreben ging Bethlen auch daran, die Tiirken um
ihre Unterstiitzung zu ersuchen, deren Neutralitat dem Kaiser
den grossten Nutzen brachte. Schon Matthias hatte den Frei-
herrn Ludwig von Mollart als Gesandten an den Hof von
Stambul geschickt, einen Diplomaten, der sich in der schwie-
rigsten Lage eine ehrenvolle Stellung bei der Pforte zu schaffen
wttsste. Als die bohmischon und ungarischen Gesandten am
Bosporus eintrafen, war der Freiherr seit sieben Monaten ohne
Ziischrift aus Wien, seine Geldmittel waren dem tiirkischen Heiss-
hunger langst zum Opfer ge fallen: er musste auf Borg leben,
sodass seine elende Lage jedes Vergleichs spottete. Die glan-
zenden Geschenke, welche seine Gegner spendeten — ihr Werth
belief sich auf 70000 Gulden — drangten ihn bald in den
Schatten. Ein Vertrag wurde zwischen der Pforte und den ver-
bundeten Landern abgeschlossen : Siebenbiirgen sollte in alter
Weise dem Sultan tributpflichtig bleiben, von Ungarn und den
iibrigen Landern beanspruchte der Sultan nur alle fiinf Jahre
Geschenke, wdie seiner wiirdig seien", dafiir erkannte er Bethlen
als Konig von Ungarn an und versprach bewaffnete Hilfe. Am
27. November waren die Gesandten in Konstantinopel eingetroffen,
sie ahnten nicht, dass bereits seit 19 Tagen am weissen Berge die Ent-
8cheidung oingetreten und die mit so grossen Schwierigkoiten Air die
Reise herbeigeschafften Geldsummen nutzlos vergeudet seien.
Zu derselben Zeit giengen die Ausgleichsverhandlungen
zwischen den Standen von Oesterreich ob und unter der Ens
und dem Kaiser ihren Gang, da letzterer nach der Einigusg
mit dem Erzherzog Albrecht (8. Okt. 1619) jetzt die Huldigung
der abgetretenen Erzherzogtiimer fiir sich selbst verlangte.
Deputationen beider Standeversammlungen verweilten in Wien
und stellten Forderungen an Ferdinand, welche nicht nur das
Uebergewicht des Protestantismus fiir alle Zeiten sicher gestellt,
12*
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180 Gindely, Geschichte dea dreisaigjahrigen Kriogea.
sondern ein vollkommen aristokratisches Regiment fest begrun-
det hatten. War doch schon davon die Rede, das Recht der
Bundnisse mit fremden Fiirsten, welcher die deutschen Reichsstande
erst im westfalischen Frieden erlangten, fur die Vertretung dea
osterreichischen Adels zu fordern. Der Kaiser sollte sein Kriegs-
volk entlassen, die neuen Verhaltnisse in Ungarn und Bohmen
anerkennen und die zwischen den Oesterreichern und Bohmen
im August 1619 abgeschlossene „ Confederation" gutheissen, er
sollte also bewilligen, dass seine Unterthanen mit einem ihm
feindlichen Volke ein Bundnis abschlossen, das sich auf die
inneren Angelegenheiten seines Reiches bezog. Nie und nimmer
konnte man in Wien solche Forderungen zugestehen! Da mao
iiberdies seit dem Monat Mai 1620 mit Sicherheit auf das bal-
dige Eingreifen der ligistischen und spanischen Armee rechnen
konnte, so wurden die standischen Anspriiche unberiicksicbtigt ge-
lassen und wiederholt Termine zur Leistung der Huldigung anbe-
raumt (8. April, 1. Juni, 9. Juni, 13. Juli 1620), freilich ohne da»
dadurch etwas fur Ferdinand erreicht wurde. Derselbe fiihlte
sich in erster Linie in seinem Gewissen beschwert, weil die
Protestanten die Religionsfreiheit in dem Masse forderten, wie
sie solche unter Matthias besessen hatten. Die Mehrzahl der
Rathe warnte, die Stande in kirchlicher Beziehung zu bedrangen,
doch ihr Herr erklarte, „er wolle lieber seine Lander und Leute,
ja sein eigenes Leben verlieren, als im geringsten wider Gott
handelnu, und holte die Meinung der Jesuiten ein, welche ihrer-
seits mit grosser Klugheit den Verhaltnissen Rechnung trugea
und die Gewahrung der hergebrachten Religionsfreiheit empfahleiL
Das energische Vorgehen der oberosterreichischen Stande iiber-
hob bald darauf den Kaiser aller religiosen ZweifeL Sie er-
klarten Ferdinand fiir abgesetzt und wahlten Friedrich von der
Pfalz zu ihrem Schutzherrn, wahrend die niederosterreichischen
Stande am 13. Juli 1620 dem Kaiser die Huldigung leisteten.
Im Juli 1620 betrat endlich die Liga den Kampfplatz fiir
den Kaiser und bald darauf folgte Spanien und Sachsen ihrem
Beispiel. Nachdem Maximilian yon Baiern sich mit Johann
Georg iiber den AngrifF auf Bohmen dahin verstandigt, dass der-
selbe die Lausitz besetzen, er selbst aber nach Oberosterreich
einfallen sollte, wurde am 27. Juli die Grenze iiberschritten und
schon am 4. August nach kurzem Widerstande Linz besetzt
Die Einzelheiten des bairischen Feldzuges sind schon damals
durch officieUe Schriften der Zeit selbst, sowie in unsern Tagen
durch Miiller's und Schreiber's Veroflfentlichungen genugend dar-
gestellt, sodass Gindely nicht viel des neuen beibringen kann.
Bezeichnend ist vor alien Dingen das Auftreten des tappischen
Ferdinand, der unthatig in Wien sitzend schbn nach dem ersten
Erfolge seinen Vetter ai^forderte, „die Pradicanten sammt der ver-
dammten Ketzerei aus Oberosterreich abzuschaffen". Vor der Zeit
hatte ein solches unkluges Gebahren die wahren Ziele seiner Politik
enthullt und allerorten den Widerstand im Reiche wie in den Erb-
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Gindely, Geschickte des dreissigj&hrigen Krieges. 181
landern gestarkt. Aus diesen Griinden gieng der verschlagene
Baiernherzog auf die gewaltthatigen Plane Ferdinands nicht ein,
sondern trug die grosste Milde zur Schau, jesuitisch zweideutig
das beste hoffen lassend, ohne ein bindendes Versprechen wegen
der kiinftigen Neuordnung der Dinge abzugeben.
Es ist selbstverstandlich, dass bei dieser Lage der Dinge
die Bemiihungen Frankreichs und Englands urn einen Ausgleich der
streitenden Machte vergeblich waren und besonders an den Kaiser
tmd den ligistischen Fiirsten scheiterten, welche ihren Sieg griind-
lich auskaufen wollten. Die Gesandten Conway und Weston
suchten das Vorriicken der Spanier am Hofe zu Brussel zu ver-
hindern: man hielt sie mit Versprechungen hin, bis Spinola in
die Niederpfolz eingefallen war, ja missbrauchte sogar ihre Ver-
trauensseligkeit, urn das Unionsheer zur Unthatigkeit zu vermogen,
sodass der spanische Feldherr unangefochten bei Mainz den Rhein
iiberschroiten konnte. In Dresden trieb man die Missachtung
gegen Jacob sogar soweit, die Koffer seiner Abgeordneten zu
durchsuchen, weil man vermuthete, dass sie Hilfegelder fiir den
Winterkonig mit sich nach Prag fuhrten. Henry Wotton, der
zugleich mit der franzosischen Gesandtschaft in Wien fiir den
Frieden arbeitete, hatte ebensowenig Erfolge aufzuweisen, wie
seine Collegen in den Niederlanden. Ferdinand liess es sich nur
gefallen, dass der Herzog yon Angoul^me im Namen Ludwig XIII.
fur ihn mit Bethlen Gabor unterhandele, in der stillen Hoffnung,
denselben von den Bobmen zu trennen. Der Siebenbtirger Fiirst
hatte inzwiscben ganz Ungarn bis auf Raab tmd Komorn er-
obert und Dampierre war vor Pressburg gefallen (9. Oct. 1620).
Beide Parteien meinten es mit ihren Friedensverhandlungen nicht
ehrlich. Bezeichnend war die erste Zusammenkunft Bethlen
Gabors mit den Franzosen. Als sie um eine Audienz am Tage
nach ihrer Ankunft in Pressburg baten, wurde dieselbe bis auf
den folgenden Tag verschoben, weil der Fiirst „bereits zuviel
getrunken habe". Dem Wiener Hofe brachte man Verachtung
und Misstrauen entgegen. „Der Kaiser sei ein guter Mann, aber
er sei unterthan den spanischen Rathschlagen, die auf die Unter-
druckung yon ganz Europa hinausgiengen. Alle Verhandlungen, die
von Wien aus gefuhrt wiirden, seien auf Tauschung berechnet."
Bethlen trennte sein Geschick nicht yon dem der Bohmen und
beeilte sich, seinen Freunden 8000 Reiter zu Hilfe zu schicken.
Auch in Prag gelang es Conway und Weston zu derselben Zeit
nicht, Friedrich zu Concessionen zu bewegen. Trotzdem sich
die Erbiinnlichkeit Jacobs von England von Tag zu Tag mehr
offenbarte, hielt der Winterkonig an der bohmischen Krone fest
und wollte hochstens darein willigen, dass der Kaiser den Titel
eines Konigs von Bohmen fuhro und eine Jahrespension crhalte.
Die Prager Schlacht machte hier der Thatigkeit der englischen
Gesandtschaft ein Ende.
Der verhaltnismassig schwachste Theil des Gindely'schen
Werkes ist die Schilderung des bohmischen Krieges bis zur
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182 Gindely, Geschichte des droissigjfthrigen Krieges.
Prager Schlacht. Als Hauptquellen werden hior das bekannte Diur-
nale Maximilians von Baiern, Buquoy's iter quadrimestre, Avisen aus
Prag und anderes der Darstellung zu Grande gelegt, Lebzelters an-
ziehende, fiir den Dresdener Hof bestimmte Berichte schliessen
mit dem Einriicken der Baiern nach Bohmen, weil ihr Verfasser
aus Prag fliichten musste. Mansfelds apologetische Schriften,
welche grade fur diesen Zeitraum sehr wichtig sind, werden
leider nicht benutzt, weshalb die Thatigkeit dieses nicht unbe-
deutenden Feldherrn in durchaus falschem Lichte erscheint
Derselbe dachte trotz alien glanzendsten Versprechungen nicht
daran, zu den Eaiserlichen iiberzugehen! Allein um sich ii
Pilsen halten zu konnen, verhandelte er iiber einen Uebertriil
zur katholischen Partei. Er wunschte auf diese Art den ent-
8eheidenden Schlag hinauszuschieben , und ware die Prager
Schlacht in Wirklichkeit vermieden, so hatte der rauhe Winter
die heruntergekommene Armee des Kaisers wahrscheinlich ganz-
lich aufgelost. In der Umgebung Maximilians, wie in Prag hielt
man tibrigens Mansfelds Erbietungen fiir ehrlich, denn an beiden
Orten wusste man, wie niedertrachtig der Bastard von der
tschechischen Aristokratie behandelt war, und traute aus diesem
Grunde ihm alles erdenkliche zu. Der Graf Thurn allein,
Mansfelds ehemaliger Bival, wollte von einem Verrathe desselben
an der Sache des Protestantismus nichts wissen und nahm sict
seiner aufs warmste an. Die Verhandlungen selbst erzahlt die
„apologie pour Ernest comte de Mansfeld" unter Einlegung der
darauf beziiglichen Actenstiicke ausfuhrlich. Von Bedeutung sind
die Nachrichten, welche Gindely aus einigen privaten Schreiben
iiber den Zustand der feindlichen Heere schopft. Beide Armeen
wiitheten in der entsetzlichsten Weise, indem sie, ohne einen
Unterschied der Confession zu machen, raubten, mordeten, die
Weiber entfiihrten und Barchen und Kloster pliinderten. Es kam
sogar soweit, dass die Truppen Buquoy's Proviantziige der ver-
biindeten Baiern iiberfielen. In der Nahe des Kriegsschauplatxes
waren die Ortschaften wie mit dem Besen weggefegt, da selbst
die Dacher und das Fachwerk der Hauser als Brennmaterial
verwerthet wurden. Bei der Schilderung der Schlacht am weissen
Berge hatte sich Gindely manche Untersuchung ersparen konnen,
wenn ihm BrendePs fleissige Arbeit (Die Schlacht am weissen
Berge, Halle 1875) nicht entgangen ware, welche eine sorgfaltige
Sichtung der Flugschriften iiber jene Katastrophe giebt. Im
allgemeinen folgen beide Autoren denselben Quellen, nur dass
Gindely noch eine Anzahl archivalisoher Notizen bohmischen
Ursprungs zu Gebote standen, wahrend Brendel die Broschiiren-
literatur mehr beriicksichtigt. Beide Arbeiten gelangen fast zn
demselben Result at ^. die Schlacht wahrte kaum eine Stunde nsi
ware fast durch das Eingreifen des jiingern Anbalt fur Bohmeft
gewonnen. Das gross te Verdienst um den Sieg der katholischen
Waffen erwarb sich Verdugo und Tilly, welchem Maximilian den
Oberbefehl iiber die Baiern iibertragen hatte. Der Herzog selbst
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Gindely, Geschiohte des dreisaigjahrigen Krieges. 183
blieb wahrend der Schlacht an der Seite des krankon Grafen
Buquoy und respondirte mit ihm auf das Gebet „Salve Regina".
Die Bohmen befehligte Christian von Anhalt. Friedrich V. be-
fand sich in Prag, urn die Vertheidigung der Stadt zu leiten.
Er schwelgte zwar nicht an einer uppigen Tafel, sondern stritt
mit den Gesandten seines Schwiegervaters, Weston und Conway,
ob es zu einer Schlacht kommen werde oder nicht, wahrend
draussen die Wurfel fielen. Als er nach Beendigung seiner ge-
wohnlichen Mittagsmahlzeit hinausreiton wollte, kamen ihm schon
die fliichtenden Trummer seines Heeres entgegen.
Gindely hat eine Reihe von Briefen des Zerbster Archives
nicht benutzt, welche Krebs (Jahres-Bericht der Schles. Ge-
sellsch. fur vaterL Cultur 1878, 413) ans Licht gezogen hat.
Sie entstammen der Feder Christian's von Anhalt, Hohenlohe's
and des Obersten Stubenvoll. Mit Evidenz geht aus ihnen
hervor, dass Anhalt sich vor und wahrend der Schlacht als
hochst umsichtiger Feldherr gezeigt hat und dass er wahrend
des Aufinarsches der Ligisten fiber den Littowitzer Bach die
Absicht hatte, sich von der Hohe mit Wucht dem emporsteigen-
den Feinde entgegenzuwerfen, wie das sein Sohn in einer spa-
teren Phase des Eampfes mit grossem Erfolge gethan hat. Auf
Zoreden Hohenlohe's liess er aber diese Absicht wieder fallen
und machte leider den Vorschlag des Grafen, den Aufmarsch
des Feindes von der steilen Berglehne nicht zu storen und den
Angriff oben auf dem Plateau zu erwarten, zu dem seinigen.
Wie schon Brendel bemerkt hat, wnrde Prag von den
Katholiken griindlichst gepliindert, Gindely weist nach, dass
«die Trager der erlauchtesten Namen, welche unter Buquoy die
hochsten militarischen Wiirden bekleideten" sich gleich den go-
meinen Soldlingen personlich an der Beraubung betheiligten.
Die Niederlage auf dem weissen Berge war nur der Schlusssatz
einer Reihe von Pramissen. In den Jahren 1618 und 1619 war
die Schwache des Kaisers nicht zu raschen, todtlichen Schlagen
benutzt worden. Die Schuld daran trug die bohmische Direc-
torialregierung, eine Art von adliger „Gevatterregierung, welche
alle Glieder der Familie zum Nachtheile des Ganzen mit gleicher
Liebe behandelte". 1620 stand aber Bohmen einer Coalition
gegeniiber, der es nicht gewachsen war. Abgesehen von den
Streitkraften , die Ferdinand mit Hilfe des Papstes und des
Konigs von Polen aufigtellte, hatte er auch noch die Truppen
der reichen ligistischen Fiirsten auf seiner Seite und zuletzt
noch die von Philipp III. mit den Schatzen Amerikas unterhal-
tenen Heere. Dazu besass die bohmische Nation nicht einen
fahigen Staatsmann oder Feldherren, der hussitische Geist war
erloschen und fiir die nationale Sache liess man bezahlte Soldner
aller Yolksstamme fechten. In einem so ungleichen Eampfe
mus8te Bohmen unterliegen.
Die unmittelbare Folge der Schlacht am weissen Berge war
die Beruhigung Mahrens, welches sich beim Einrucken der
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184 v- Ledebur, Konig Friedrich I. von Preussen.
kaiserlichen Truppen, olme Widerstand zu leisten, aof Gnade
und Ungnade ergeben musste. Der Feldzug des Kurfursten
Johann Georg von Sachsen gegen die Lausitzer und Schlesier
wird von Gindely hauptsachlich nach Actenstiicken des Dresdener
Archives dargestellt, welche schon K. A. Miiller in seinen „For-
schungen" (Dresden 1838) ausgiebig benutzt hat.
Berlin. Ernst Fischer.
xxxx.
von Ledebur, Karl Freiherr, Konig Friedrich I. von Preuswu.
Beitrage zur Geschichte seines Hofes, sowie der Wissenschaften,
Kiinste und Staatsverwaltung jener Zeit. gr. 8. (VII, 494 S.)
Leipzig, 1878. Otto Aug. Schulz. 10 M.
Man erfahrt aus der Vorrede, dass das vorliegende Werk
„lediglich aus historischen Notizen bestehe, die vor Jahren der
Vater des Verfassers gesammelt, er selbst aber geordnet, yer-
vollstandigt und verbunden" hat. Die ganze Sammlung zerfallt
in 8 Abschnitte, von denen vier hier mitgetheilt werden (S. 1—62:
Die Familienverhaltnisse am Kurfurstlichen Hofe. Das Leben
Friedrichs bis zu seinem Regierungsantritt ; S. 63 — 192: Wissen-
schaften. Kiinste ; S. 193 — 382 : Oeffentliche Feierlichkeiten. Hof-
feste; S. 383—494: Politik. Staatsverwaltung.), wahrend die an-
dern 4 (Heerwesen; Kriegerische Begebenheiten ; Religionsver-
haltnisse ; Haupt- und Residenzstadt Berlin ; Stadtisches ;) voi-
laufig unveroflfentlicht geblieben sind, da es dem Verfasser „in
seiner gegenwartigen Stellung als Leiter eines Kunstinstituts (zu
Riga) an der nothigen Musse zur Vollendung dieser Arbeit fehle".
Leider haben dem Verfasser neue Quellen nicht zu Gebote ge-
standen, und eine eigenthiimliche Auffassung des Bekanntefl
findot sich nirgends ; die Wissenschaft also geht leer aus. Aber
auch in der Form des Vortrags hat der Verfasser auf eine
kunstlerische Gestaltung, wie z. B. die populare Darstellung sie
orfordern wiirde, verzichtet. Auch so noch ware der Versueh,
das Wichtigste des in Druckschriften niedergelegten Materials
zur Geschichte Friedrichs I. in guter Ordnung und mit den er-
forderlichen Nachweisen aufzuspeichern , eine dankenswerthc
Arbeit ; allein einerseits sind eine grossere Anzahl quellenmassiger
Druckwerke unbenutzt gelassen, andererseits ist die Auswahl
ohne Kritik getroffen, so dass neben Besser, Kiister und Droysen,
den Hauptfundgruben unseres Sammlers, nicht nur Kugler,
Werner Hahn u. s. w. treten, sondern selbst Streckfuss, mid
zwar in einer Weise citirt, als ob die Einen mit den Andern
von gleichem oder ahnlichem Werthe waren. Dazu kommt, dass
dem Herausgeber, wie er selbst andeutet, die voile Sachkunde
abgeht, dass daher Verwechselungcn und andere aus der Ufl-
kenntniss erwachsene Missverstandnisse nicht selten vorkommfifi-
Endlich hat die Entfernung des Druckortes vom Wohnsitze des
Verfassers eine ausserordentliche Menge von Druckfehlern her-
beigefiihrt, die zum Theil, namentUch bei den in fremdeu
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Wenzel, Veranderungeu der Karte Europas seit 1815. 185
Sprachen wiedergegebenen Citateu, so arg sind, dass selbst der-
jenige, der in der betreffenden Literatur einigermassen Bescheid
weiss, mitunter das Richtige kaum zu errathen verm&g. So auf-
richtig man demgemass den guten Willen des Herausgebers,
„Beitrage ziir Geschichte des ruhmgekronten Hohenzollernhauses"
zu liefern, anerkennen muss, so wenig kann man umhin, sein
Unternehmen als ein verfehltes zu bezeichnen.
F. Holtze.
XXXXI.
Wenzel, Dr. J. K., Veranderungen der Karte Ei/ropas seit 1815.
Mit einer Landkarte. gr. 8. (52 S.) Prag 1878. J. G.
Calve'sche Hof- und Univ.-Buchhandlung. 1,60 M.
Der Professor J. K. Wenzel hat im Herbst 1878 eine Ab-
handlung im Programm der deutschen Staats-Ober-Realschule
zu Prag iiber das angegebene Thema veroffentlicht und dieselbe
dann auch als Separatabdruck der Calve'schen Buchhandlung zu
Prag in Commission gegeben. Die beigegebene Karte zeigt das
Terrain von Mitteleuropa von dem Langegrad von Paris bis zum
Dnjestr und von dem Breitegrad der Konigsau bis zum 35° Br.
(etwas siidl. von Malta) in einer Grosse von 55X60 cm und
veranscliaulicht die Veranderungen der Landesgrenzen und Terri-
torien in rothem Farbendruck.
Der Verfasser giebt im ersten Abschnitt der Abhandlung
einen Ueberblick iiber die politischen Zustande in.Europa nacb
dem Jahre 1815 und stellt dann den Satz auf, dass die vielen
Kriege seit 1815 die Folge der unversohnlichen Gegensatze
waren, welche im Wiener Congress scheinbar ausgesohnt oder
auch unberticksichtigt beiSeite geschoben „nur so lange schlummer-
ten, bis sie entsprechend gekraftigt den erbittertsten Kampf
gegen einander aufnahmen". Zwei Gedanken beherrschten seit
dem Wiener Congress das Leben der Volker, die Nationalitats-
idee und das Verlangen nach constitutionellen Regie rungsformen.
Die Volker, namentlich das deutsche Volk, sehnten sich nach
staatlicher Einheit und nach der Betheiligung an Gesetzgebung
und Verwaltung, doch die Zerrissenheit Deutschlands wurde auf '
dem Wiener -Congress festgesetzt und der Absolutismus gefordert.
Derselbe Egoismus und dieselbe Willktir, welche die Vielherr-
schaft in deutschen Landen aufrecht erhielt, verfuhr ahnlich in
Italien und vereinte in den Niederlanden Holland und Belgien
zu einem Staate, der verschieden an Sprache, Religion, Gesin-
uung und jeglicher Lebensanschauung unmoglich Bestand haben
konnte. Dieselbe Willkur lastete schwer aufPolen, obwohl man
mit Aufrichtung der Republik Krakau den Wiinschen der Polen
ein Zugestandniss gemacht hatte. Derselbe Egoismus errichteto
neben dem schwachen, vielgetheilten Deutschland ein starkes,
einiges Frankreich und kraftigte Englands und Russlands Macht ;
trotz alledem behauptete man kiihn und keck, das politische
Gleichgewicht Europas sei wiederhergestellt.
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186 Wenzel, Ver&nderungen der Karte Europas seit 1815.
Doch die Nationalitatsidee, welche man zu Wien tief nieder-
gedriickt hatte, erhob sich wieder und immer wieder und fuhrte
Kriege iiber Kriege herbei, und wir stehen noch nicht am Ende
derselben. So kampfte Griechenland gogen die Tiirkei, Belgien
gegen Holland, Italien gogen Oesterreich, Preussen-Oesterreicli
gegen Danemark, Deutschland gegen Frankreich und auf diesen
Grund sind die Wirren im Orient zuriickzufuhren. Die Bewe-
gungen und Veranderungen gingen nicht so sehr von der Ein-
gebung und Leitung eines Einzelnen aus, sondern waren Tiel-
mehr „das Ergebniss des vereinten, zweckbewussten Strebens ganzer
V61keru. Andererseits erscholl der Ruf nach Constitution seft
1815 immer wieder, immer lauter und da, wo or ungehort verscholl,
kamen Erschiitterungen und Revolutionen.
Nach diesen allgemein einfuhrenden Gedanken und Bemer-
kungen geht Herr Wenzel in 21 Abschnitten die einzelnen staat-
lichen Veranderungen durch, weist bei den bedeutenderen Kampfen
immer auf das Gleichartige des Entstehungsgrundes hin, auf die
„Nationalitat8ideea, welche zu ihrem Rechte kommen wollte, geht
dann die Kriege in grossen Umrissen durch und fuhrt ausfuhr-
licher die Friedenstractate mit ihren territorialen Veranderungen
an. Neue Aufschliisse aus den Archiven iiber dunkle Punkte
sind natiirlich in der Arbeit nicht zu suchen, ein besonderes,
eingehenderes Quellenstudium ist nicht gemacht; die Starke der
Arbeit liegt vielmehr in der klaren, lebendigen, iibersichtlichea
Darstellung, in der warmen nationalen Begeisterung und in der
beigegebenen hiibschen Karte.
Eine kurze Uebersicht mag zeigen, was in der Abhandlung
besprochen wird. § 2 zeigt die Entstehung des Konigreicles
Griechenland im Jahre 1830; § 3 die des Konigreiches Belgiea
1831 ; § 4 — 9 erinnert an kleinere Veranderungen auf der Karte
Europas: § 4 Sachsen-Coburg tritt fur eine Jahresrente das
Fiirstenthum Lichtenberg an Preussen ab, § 5 die Republik Krakaa
wird 1846 osterreichisches Grossfurstenthum, § 6 Besitzwec^sel der
Herzogthiimer Lucca und Guastaila 1847, § 7 Neuch&tel fiLllt
1848 von Preussen ab, § 8 die Fiirstenthiimer Hohenzollern
werden 1849 Preussen einverleibt, § 9 Preussen erwirbt 1853
V* CJMeile am Jahdebusen durch Kauf von Oldenburg; § 10
bcspricht den Krieg der Tiirkei und Westmachte gegen Russ-
land 1854 — 56. Ein Theil Bessarabiens wird nach dem Pariser
Frieden vom 30. Marz 1856 mit dem Fiirstenthum Moldau vereinigt
Auch die iibrigen wichtigen Bestimmungen dieses Friedensschlusses
werden recapitulirt ; § 11 — 14 vergegenwartigen uns den osten.
Krieg in Italien von 1859 und fiihren die Territorialveranderungen
in Italien incl. Nizza im Einzelnen aus; § 15 Schleswig-Holsteifl
und Lauenburg werden 1864 von Danemark getrennt und in
demselben Jahre § 16 die Jonischen Inseln mit Griechenland
vereinigt; § 17 Preussen erhalt durch den Gasteiner Vertrag
vom 14. August 1865 das Herzogthum Lauenburg.
§ 18 stellt den Krieg Preussens gegen Oesterreich 1866
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Wenzel, Ver&nderungen dor Karte Europe seit 1815. 187
dar. Der Verfasser schreibt iiberall in warmer, bogeistortor
Weise, sonst, wenn es sich urn deutsche Interessen handelt, fast
mochte ich sagen im deutsch-patriotischen Sinn, hier — das ist
begreiflich — tritt der osterreichische Standpunkt hervor, eino
gewisse Befangenheit, welche ihni den klaren Blick triibt. Diese
Befangenheit zeigt sich am deutlichsten in den Stellen, wo er
iiber das Verhaltniss und das Recht des Augustenburgers han-
delt. Die Kriege der Neuzeit, so lehrt er sonst, gingen hervor
aus dem Bestreben der Volkor sich national zu einigen. Er
billigt diesen Kriegsgrund, dann aber diirfen auch nicht die in
alter Zeit geschlossenen Vertriige und die daraus resultirenden
Rechte der Fiirsten, wie sie im eigensten Interesse derselben, oft
ohne Beriicksichtigung der Volksrechte oder wohl gar im Wider-
spruch mit denselben gefasst wurden, nnser Urtheil bestimmen.
Die alten Vertrage, „das papierne Recht" sprach allerdings fur
den Augustenburger und fur Oesterreich, welches die Partei
desselben ergriff; doch wie stand es mit der Nationalitatsidee,
wie mit dem Wunsche des deutsohon Volkes, sich fest zu
einigen? Das nationale Einigungswerk hatte sicherlich nicht
einen sichtbaren Schritt nach vorwarts gemacht, sondern nach
riickwarts, wenn ein neuer Kleinstaat unter dem Augustenburger
orrichtet ware. Der Augustenburger wollte ja von seinen angeb-
lichen Souveranitatsreohten gar nichts aufgeben; man vergleiche
nur die interessante Schilderung in dem Buche von Busch, Graf
Bismarck und seine Leute wahrend des Krieges in Frankreich, wie
sie Bismarck iiber seine Besprechungen mit dem Augustenburger
machte. Der Augustenburger war absolut unfahig, den etwa zu
errichtenden neuen Staat gegen Danemark zu vertheidigen, er
sah es wohl fur sein Recht an, im Fall eines danischen Angriffs-
krieges vom deutschen Bunde geschiitzt zu werden, doch Zuge-
standnisse im nationalen Sinn zum Schutz des Landes und zur
Fernhaltung eines Krieges wollte er nicht machen, und nament-
lich Preussens Forderung, Unterstellung des Heeres unter Preussens
Commando, wies er als krankende Bedingung zuriick. Nur
Preussen konnte ihn schiitzen, nicht die Mittelstaaten, nicht der
Bund, Preussens Hand stiess er von sich, da stellte sich Preussen
mit ganzer Kraft auf die nationale Seite, auf die Seite der
Nationalitatsidee und siegte; einige Fiirsten wurden entsetzt,
einige Kleinstaaten verschwanden, doch die Ehre und Macht der
Nation wurden gefordert. Herr Wenzel hat dies auch ange-
deutet, indem er sagt, dass „Preussen 1866 nicht sowohl rein
preussische, als vielmehr national deutsche Interessen ins Auge
gefasst habett, consequent aber hat er es nicht durchgefiihrt.
Im Anschluss daran behandelt der Verfasser in § 19
Oesterreichs Verlust in Italien, und stimmen wir ihm gern bei,
^enn er schreibt: „Durch den Verlust Italiens und der ange-
feindeten Fiihrerschaft Deutschlands hat Oesterreich nicht nur
nichts verloren, sondern ist nach innen und aussen machtiger
geworden. Es konnte sich jetzt ausschliesslich seinen innern
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188 Peschel, Abhandlungen zar Erd- und Volkerkunde.
Angelegenheiten widmen; es verliess die freie Bahn des Abso-
lutismus und betrat den Weg constitutioneUer Verfassung." §20
bespricht den Krieg von 1870/71 mit deutsch nationalem Sinn:
„Frankreich wurde in seine natiirlichen Grenzen zuriickgewiesen.11
§ 21 Italien besetzt Rom und den letzten Rest des Kirchen-
staates 1870. § 22 Staatenbildung anf der Balkanhalbinsel naeh
dem Berliner Congress vom Juni 1878.
Im Schlusswort wiederholt W. noch einmal seine Grundge
danken: „Die bewegenden Ideen der Gegenwart sind nicht mehrfr
Absolutismus oder gar Despotismus, sondern Constitutionalism
und Nationalist". — „Italien und Deutschland haben diesa
Forderungen der Gegenwart ihre jetzige so lang entbelirte Em-
heit und Grosse zu danken — die Tiirkei ist denselben znm
Opfer gefallen."
Auf der letzten Seite finden wir eine tabellarische Uebersk&t
der Veranderungen der Karte Europas in chronologischer Ordnung
mit Angabe der Quadrat-Meilen (und auch Quadrat-Kilom.) tod
1830 bis 78. In 29 Nummern sind diese Veranderungen zusammen-
gestellt; der Verfasser hat die Zahlen nicht summirt, es sind c. 13160
□Meilen. Man sieht, dass es sich wohl der Miihe lohnt, diese
Quadrat-Meilen auf einer Karte in Farbenton zu bezeichnen.
Die beigegebene, sonst uncolorirte Karte zeigt in vollem rothei
Farbendruck die Veranderungen der definitiv abgetretenen Terfr
torien und in schraffirtem rothen Druck Bosnien und Herzega-
wina als interimistisch verwaltete Lander Oesterreichs.
Einige Druckfehler sind mir aufgefallen S. 45 Versail, S. 11
(zweimal) Quastala, S. 17 Peresina, S. 26 Konig Gnut, S. 9
flammisch, S. 28 Danisirung (besser doch wohl Danisirung).
Mit Freude und nicht ohne Belehrung hat der Bericht-
erstatter die kleine Schrift gelesen und empfiehlt den Collegen
namentlich die saubere Karte, welche sich wohl eignet, als Ueb^-
sichtsblatt fiir die Geschichte der neuesten Zeit benutzt za
werden.
Duisburg. M. Kirchner.
XXXXII.
Peschel, Oscar, Abhandlungen zur Erd- und Volkerkunde,
Hrsg. von J. Lowenberg. Neue Folge. gr. 8. (VI, 546 S.)
Leipzig 1878. Duncker & Hurablot. 10 M.
Dem im Jahre 1877 erschienonen ersten Bande gesammelter
Essais von Oscar Peschel ist sehr bald der von demselbeo
Herausgeber zusammengestellte zweite Band gefolgt. Wie der
Herausgeber in der Vorrede sagt, hat er seinen urspriinglichcn
Plan, den im ersten Bande gesammelten Abhandlungen zur Erd-
und Volkerkunde zunachst oinen Band Aufeiitze aus anderei
Gobieten des Wissens, namentlich aus der Nationalokonoinie and
Handelsgeschichte, folgen zu lassen, aufgegeben und, ermuD^rt
durch den Beifall, den der erste Band gefunden, ihm einen
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Peachel, Abhandlungen zur Erd- und Volkerkuude. 189
zweiten Band Abhandlungen verwandten Inhalts angereiht. Die
Grundsatze der Herausgabe und des Arrangements der einzelnen
Aufeatze sind dieselben wie zuvor. Die 33 meist den friiheren
Jahrgangen des „Ausland" entnommenen Nummern, aus denen
die Sammlung besteht, sind nach ihrer inneren Zusammengehorig-
keit moglichst chronologisch geordnet und unverandert in der
Gestalt erhalten, die der Autor ihnen gegeben hat. Sie grup-
piren sich in 3 grossere Abtheilungen, deren erste in 14 Nummern
die „Zur Geschichte der Geographic" gehorigen Artikel umfasst.
Einige der grossen arabischen Geographen, wie Ibn Batuta, den
Carl Bitter den grossten Continentalreisenden aller Volker ge-
nannt hat, Massudi, del* Verfasser der „goldenen Wiesen und
Edelsteingruben", die Beziehungen der mittelalterlichen euro-
paischen Seehandelsvolker, namentlich der Italiener, zum ost-
lichen Asien und zur Levante, ein Lieblingsthema Pescherscher
Studien, endlich ein langerer Essai „uber die grossen Entdeckungen
in den Jahren 1849 — 1856" bilden die hauptsachlichsten Gegen-
stande, mit denen sich diese Abtheilung beschaftigt.
Namentlich diirfte die letztgenannte, in die anziehendste
Form gekleidete, oft poetisch angehauchte klare und spannende
Daretellung einerseits der nordpolaren Entdeckungen, welche
sich an die Aufsuchung des ungliicklichen Sir John Franklin
kniipfen und deren Hauptresultate die Auffindung der nordwest-
lichen Durchfahrt und die Beobachtung eines oflfenen Polarmeeres
in sehr hohen ntirdlichen Breiten sind, andererseits der Ent-
deckungen Barths in Mittelafrika , Livingstones im sudlichen
Theile dieses Festlandes in hohem Grade die verdiente Aufmerk-
samkeit jedes gebildeten Lesers fesseln.
Die zweite Gruppe „Zur mathematischen und physischen
Geographic" enthalt sehr verschiedenartige Aufsatze, von denen
man je nach personlicher Neigung bald diesen bald jenen den
Vorzug geben wird. Einzelnes, wie z. B. der 1865 geschriebene
kurze Aufeatz „Was ist eine Sonne?" hat durch neuere Unter-
Buchungen wohl an Interesse verloren; Anderes, wie die Artikel
iiber „Die Rolle der Gewiirze im Welthandel und auf der Lon-
doner Ausstellung" und „Die narkotischen und einige exotische
Genussmittel im Welthandel und auf der Londoner Weltausstel-
lungtt gehiiren weniger in das Gebiet der physischen Geographic
^U der Handelsgeschichte ; nichtsdestoweniger iiben auch dieso
Anfeatze denselben Reiz auf den Leser aus, wie Alles, was Peschel
geschrieben. Ganz besonders aufinerksam machen mochten wir
auf die mit der Gestalt der Erde und den Erdmessungen sich
beschaftigenden Abhandlungen Nr. 3 und 4, sowie auf die
alwserst lehrreiche Darstellung des gegenwartigen Wissens von
den Erdbeben. Indessen fafit es bei dem grossen Interesse,
welches auch die meisten anderen Nummern dieser Abtheilung
dem Leser einflossen, einer unparteiischen Schatzung fast schwer,
den Vorzug, den sie der einen odor anderen von ihnen giebt,
zu motiviren.
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190 Peschel, Abhandlungen zur Erd- und Volkerkunde.
Die dritte Abtheilung „Zur Lander- und Volkerkunde** ent-
halt das Anziehendste am Sohlusse, namlich 1) einen langeren
Artikel „Wanderziele der Deutschen" und 2) eine Sammluog
von Aufsatzen unter dem Gesammttitel „Ferienreisenu. Errierer
reprasentirt einen wahren Auswandererkatechismus, von dem
man nur bedauern kann, dass er im Jahre 1861 und nicht 1878
geschrieben worden ist, da natiirlich bei den schnellen Pnls-
schlagen, in denen das Leben jener von der deutschen kw
wanderung hauptsachlich aufgesuchten Golonialgebiete verlaufi,
in 17 Jahren sich Manches geandert hat. Der Reihe nach gehtP,
die einzelnen Auswanderungsziele durch, zunachst die europaiscba:
Ungarn und Russland, dann die afrikanischen : Algerien, da
Capland, ferner die amerikanischen : Canada, den fernen Westa
des britischen Nord-Amerika wie der Vereinigten Staaten, die
unbebauten Striohe der schon besiedelten Nordstaaten, sowiedie
Siidstaaten der Union, Mexico, Mittel-Amerika, insbesondere
Costarica, sodann Brasilien, Paraguay, Chili, Californien, britiseh
Columbien. Schliesslich fiihrt er uns von dort tiber den gtiBen
Ocean nach Neuseeland und dem australischen Continent. Alle
diese Gebiete werden riicksichtlich ihres Werthes und ihwr
Empfehlbarkeit fur den deutschen Auswanderer gepruft und
schliesslich eine kleine Auswahl solcher getroffen, welche sos
einem oder dem anderen Grande fiir vorzugsweise geeignet golta
konnen. Es sind dies: Canada, Costarica, Paraguay, Chili, k
Capland, Californien, Australien.
Den Schluss des Werkes bilden die schon erwahnten Ferien-
reisen, eine Reihe feuilletonistischer Artikel, welche in reizvoller,
theilweiso humoristischer Schilderung Erlebnisse und Eindrucke
auf des Verfassers Ferienausflugen in die Alpen, an die Gestade
des Mittelmeeres und uber den Apennin wiedergeben. P. xeigt
sich in ihnen als Touristen, der nicht nur ein offenes Auge nsd
tiefes Verstandniss fur die wechselnden Erscheinungen der Natur,
8ondern auch die Gabe besitzt, seine Eindrucke in gewandter,
geistreicher Form und klaren Bildern zu reproduoiren.
Unsere neuere Literatur ist iiberreich an gesammelten
Essais aller moglichen Gelehrten und Schriftsteller ; Manehes
von zweifelhaftem Werthe befindet sich darunter. Wer indessec
diese anziehenden Peschel'schen Aufsatze gelesen hat, wird 0
sicher nicht fur verloren halten, dass der Herausgeber sich d«
Miihe unterzogen hat, sie zusammenzusuchen und auf s Neue z&
veroffentlichen; denn ihr Verfasser gehort zu den bevorzugteo
Geistern, die Allem, selbst dem scheinbar Geringfiigigsten, so
interessante Gesichtspunkte abzugewinnen wissen, dass ihr games
Schaffen fur die Wahrheit des Humboldt'schen Aussprocbe*
Zeugniss ablegt, es gebe in der Wissenschaft nichts Unbedeo-
tendes.
Danzig. Dr. Georg Dasse
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Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche. 191
xxxxiil
Andree, Richard, Ethnographische Parallelen und Vergleiche.
Mit 6 Tafeln und 21 Holzschnitten. gr. 8. (XII, 303 S.)
Stuttgart 1878. Julius Maier. 6 M.
Rich. Andree, dem die geographische Literatur schon meh-
rere werthvolle Arbeiten verdankt (Wendische Wanderstudien,
zur Kunde der Lausitz und Sorbenwenden ; die zweite Auflage
von K. Andree's Geographic des Welthandels), fugt in dem an-
gefiihrten Werke den fruheren ein neues hinzu. Es umfosst eine
Reihe von 23 selbstandigen Abhandlungen, von denen 7 schon
an anderen Or ten abgedruckt gewesen sind; das gemeinsame
Band, das dieselben verbindet, ist die Wahrnehmung, dass die-
selben oder ahnliche Anschauungen und darauf sich stiitzende
Sitten und Gebrauche bei raumlich ganz entfernt wohnenden
Volkern und Stammen sich finden; diese Erscheinung berechtigt
aber noch nioht, wie friiher vielfach irrthiimlich versucht worden
ist, auf Gleiohheit der Abstammung, direkte Entlehnung und
alten Verkehr der Volker zu schliessen. Schon Alex. v. Humboldt
(Ans. der Natur I. 284) hat bei Erwiihnung der mit Maandern
und Labyrinthen verzierten Todtenurnen der Indianer, die in
der Hohle von Ataniipe an den Orinocofallen gefunden worden,
die Ursache dieser Aehnlichkeit mit europaischen auf psychische
Griinde, auf die gleichartige Natur der menschlichen Geistes-
anlagen zuriickgefiihrt. In reicher Fiille tragt nun der Verfasser
gleichartige Erscheinungen dor verschiedenen Lander und Erd-
theile zu&ammen. Ein spocielles Eingeten auf die einzelnen
Capitel wiirde den Rahmen dieser Zeitschrift iiberschreiten ;
Referent muss sich darauf beschranken, die Titel derselben an-
zufuhren, obgleich einzelne vielmehr enthaJten als sie anzugeben
scheinen:
1. Tagewahlerei, Angang und 13. Speiseverbote.
Schicksalsvogel. 14. Schadelcultus.
2. Einmauern. 15. Trauerverstiimmlung.
3. Hausbau. 16. Der Schmied.
4. Siindenbock. 17. Schwiegermutter.
5. Boser Blick. 18. Personennamen.
6. Steinhaufen. 19. Merkzeichen und Knoten-
7. Lappenbaume. scbrift.
8. Werwolf. 20. Anfange der Kartographie.
9. Vampyr. 21. Werthmesser.
10. Fussspuren. In Stein ver- 22. Der Schirm als Wiirde-
wandelte Menschen. zeichen.
11. Erdbeben. 23. Petroglyphen.
12. Gestirne.
Dass diese Zusammenstellungen noch betrachtlich vermehrt
werden konnen und miissen, um zur Darstellung einer Psychologie
der Volker zu gelangen, ist selbstverstandlich. Bei dem Capitel
Schadelcultus, S. 145, wo gelegentlich der Behandlung der
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192 Andree, Ethnographische Parallclen und Vergloiche.
Negerfetische an der Loango auch die Stellung des niederen
italienischen Volkes zu seinen Heiligenbildem besprochen wird,
mochte Ref. auf eine Bemerkung Michelet's aufmerksam machen
(Revue des deux Mondes 15. juQlet 1833, la Bretagne), in der
es heisst: Es ist ein grosser Irrthum zu glauben, dass die Be-
volkerungen des westlichen Frankreichs, der Bretagne und der
Vendee, tief religios seien; in mehreren westlichen Cantonen
setzt sich der Heilige, der die Gebete nicht erhort, dem aos,
tuchtig durcbgepriigelt zu werden (risque d'etre vigoureusement
fouette).
In angemessener Weise wird in der Einleitung hervorge-
hoben, von welcher Bedeutung zunachst die Sammlung des
Materials fur die Volkerpsychologie ist; die dabei erwahnte
Sichtung dieses Materials, d. b. die Angabe der specifischen
Differenzen zur Charakterisirung der einzelnen Volkertypen ist
doch nocb von boherer Bedeutung, und dafur ist in den einzel^
nen Abhandlungen noch zu wenig gescheben ; nur in den Artikeln
Werwolf und Vampyr ist ein hiibscher Anfang dazu gemacht worden,
indem nachgewiesen wird, dass der Vampyrglaube sick auf
die slaviscben oder mit Slaven in Beriihrung stebenden Volker
beschrankt. Der unter dem Namen Bruxa in Portugal hen-
schende Aberglaube (S. 87) ist deshalb auch unter Werwolf zu
subsummiren. Ferner mochte Ref. noch darauf aufmerksam macheo,
dass der auf Speiseverbote beschrankte Tabu (S. 116) dod
unter einem weiteren Gesichtspunkt zu fassen ist. (VergL Peschel
Yolkerkunde.)
Berlin. J. Schirmer.
V
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XXXXIV.
Jtroti, Ferdinand, Geschichte des aiten Persiens. (Allgemeine
Geschichte in Einzeldarstellungen, herausgegeben von Wilhelni
Oncken. 2. Abtheilung.) gr. 8°. (VIII, 170 S.) Berlin, 1879.
G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung. 3 M.
Ueber den ersten Theil von Justi's Geschichte des alten
Persiens, welche die zweite Halfte der ersten Abtheilung des
grossen von Oncken herausgegebenen Geschichtswerkes bildet,
haben wir in dem vorigen Hefte dieses Jahrganges (S. 99 f.) be-
richtet. Der vorliegende zweite Theil nimmt die ganze zweite
Abtheilung ein und fuhrt diese Darstellung zu Ende. Hier ist
auch nachtraglich cine Vorrede beigegeben, in welcher der Verf.
sich namentlich iiber die von ihm benutzten Quellen ausspricht.
Er bemerkt, worauf auch wir schon hingewiesen hatten, dass er
ausser den abendlandisohen Geschichtsschreibern auch sowohl
die Keilinschriften als auch die einheimische persische Ueber-
lieferung, die letztere namentlich fur die Geschichte des alten
baktrischen Reiches und fur die Darstellung der ^oroastrischen
Religion verwerthet habe; zu bedauern ist, dass er den Quellen
und Hiilfsmitteln fur die spatere Geschichte des parthischen
und sasanidischen Reiches nur ganz kurze und allgemein gehal-
tene Bemerkungen gewidmet hat, den Lesern, auch den Fach-
genossen, wiirde eine Auffiihrung der gewiss den meisten von
ihnen unbekannten Werke erwtinscht gewesen sein.
In seiner Darstellung beendigt der Verf. zuniichst die Ueber-
sicht iiber die zoroastrische Religion, in deren Mitte die erste
Abtheilung abgebrochen hatte, dann folgt eine kurze Schilderung
der Kriege Konig Darius' I. in seinen spateren Jahren und eine
eingehendere Schilderung seiner Bauten, namentlich der Ruinen
von Persepolis. In der folgenden Geschichte des Xerxes nimnjt
er bei der Darstellung des Feldzuges desselben gegen Griechen-
land Gelegenheit, die persischen Heeres- und Lagereinrichtungen
zu 8childern, er beruhrt sodann die Ursachen des unter diesem
Konige zuerst beginnenden inneren Verfalles des Reiches, schil-
dert die Pracht des Hofes und weist auf die glanzenden auch
von diesem Konige ausgefuhrten Baudenkmaler hin. Dann folgt
eine kiirzere Darstellung der Geschichte der spateren persischen
Konige bis zum Untergange des Reiches durch Alexander und
des Eroberungszuges Alexanders selbst sowie der Wirren nach
dem Tode desselben. Der Haupttheil des ehemaligen persischen
Reiches kommt schliesslich unter die Herrschaft der Seleuciden;
schon unter Antiochos II. (c. 250) aber lost sich von derselben
einmal das baktrisch-indische Reich, andererseits Parthien los
und von hier aus wird dann ein neues orientalisches Reich ge-
griindet.
Sehr dankenswerth ist es, dass der Verf. auch die spateren
Goschicke Persiens beriicksichtigt und uns hier auch eine Dar-
stellung der Geschichte sowohl des parthischen Reiches, als auch
der Sasanidenherrschaft bis zu ihrer Vernichtung durch die
MitthcUimyen a. d. histor. Littemtur. VII. H»
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194 Vischer, Kleino Schriften.
Araber (635) geboten hat, froilich wiirde fiir den wfciteren Leser-
kreis, auf welchen dieses Geschichtswerk besonders berechnet ist,
eine zusammenfassende Uebersicht der Hauptereignisse an-
sprechender gewesen sein als die Aufzahluug der einzelnen Ko-
nige und der zum Theil sehr gleichforraigen Ereignisse ihrer
Regierung. Unterbrochen wird dieselbe durch culturhistorische
Schilderungen, von denen namentlich die liingere iiber die Bauten
Chosro's I. und iiber die unter seiner Regierung beginnende
Blttthe von Wissenschaft und Litteratur Von Interesse ist. Be-
sonders eingehend behandelt er dio selbstandigen religiosen
Schriften, welche in dieser Zeit neben der Uebersetzung des
Avesta in das Neupersische entstanden sind, namentlich die in
demselben aufgestellte Sittenlehre.
Auch diese Abtheilung ist mit zahlreichen Ulustrationen ge-
8ohmiickt, welche, wie der Verf. in der Vorrede angiebt, meist
nach Federzoichnungen ausgefuhrt sind, in denen er selbst Zeich-
nungen in neueren Reisewerkon getreu nachgebildet hat. In
den Text eingedruckt sind zahlreiche kleinere Abbildungen von
Bauwerken und Sculptural, ferner von Miinzen und Gemmen,
welche uns die Portraits der Fiirsten vorfiihren. Daneben finden
wir 4 Vollbilder: die Darstellung eines Marmorgrabes von Xan-
thos in Lykien, der Ruinen des PaJastes des Xerxes in Peree-
polis, eine Rcliefgruppe von der Treppe dieses Palastes (Kampt
zwischen Lowe und Stier), endlich eine Gesammtansicht der
Ruinen von Persepolis. Beigegeben ist ferner das Facsimile einer
Seite des Avesta nach der Kopenhagener Handschrift, endlich
zwei auch von dem Verf. selbst entworfene Karten, von denen
dio eine die westlichen, die andere die ostlichen Provinzen des
persischen Reiches und die angrenzenden Lander darstellt.
Berlin. F. Hirsch.
xxxxv.
Vischer, Wilhelm, Kleine Schriften. 2 Bde. gr. 8. Leipzig,
1877—78. S. Hirzel. 32 M.
Erster Band: Historische Schriften, heraus-
gegeben von Prof. Dr. Heinrich Gelzer. Mit einer
lithographischen Tafel. (VIII u. 615 S.)
Zweiter Band: Archaologische und epigra-
phische Schriften, herausgegeben von Dr. Achil-
les Burckhardt. Mit 26 lithographischen Tafeln und einer
Beigabe: Lebensbild des Verfassers von Dr. A. v. Gonzenbact
(LXVI u. 669 S.)
Die Pflicht der Pietat gegen Manner, die einen umfang-
reichen Wirkungskreis mit Ehren ausgefullt haben, legt es den
Hinterbleibenden nahe, als dauernde Beweise fiir das, was die
Verstorbenen der Welt genutzt haben, den vorgefundenen lite-
rarischen Nachlass dem Drucke zu ubergeben. Dabei ergiebt ^
sich oft, dass dieser mit der Wirksamkeit des Lebenden in ein^n
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Vischer, Kleine Schriften. 195
umgekehrten Verhaltnisse steht, weil nach einer sehr natiirlichen
Wechselwirkung , je mehr der Heimgegangene einem wichtigen
Lebensberufe mit ganzer Kraft obgelegen hat, desto geringere
Zeit fur eigone wissenschaftliche Productionon ubrig gebliebea ist.
I. Unstreitig war es wohl selten einem Schulmanne beschie-
den, in so vollkommener Weise das Ideal zu verwirklichen,
welches einer tiichtigen und auch alien Eichtungen des prac-
tischen Lebens erschlossenen Personlichkeit vorschweben kann,
wie dem am 5. Juli 1874 verstorbenen Professor Dr. Wilhelm
Vischer in Basel. Schon in friihen Jahren (1832 — er war am
30. Mai 1808 geboren — ) ertheilte er Unterricht in der grie-
chischen Sprache auf den hohern Stufen des Padagogiums zu
Basel und begann zu gleicher Zeit seine Vorlesungen an der
dortigen Universitat (iiber den Prometheus des Aischylos 1832/33
- Kl. Schr. Bd. 2, 605 — 631). Bald darauf (23. August
1834) wurde er zum Mitglied des grossen Raths des Kantons
Baselstadt gewahlt, im December 1867 wurde er auch Mitglied
des kleinen Raths, eine Wurde, die er, schon schwer krank, am
5. Mai 1873 noch einmal iibernahm, „um den Radicalen nicht
den Gefellen zu thun zu gehen". Endlich iibernahm er (am
28. December 1867) das Presidium des Unterrichtscollegiums,
dem alle Schulen, hohe und niedere, sammt der Universitat, unter-
geordnet waren. In alien diesen Richtungen hat er eine rastlose
und segensreiche Thatigkeit entfaltet und ist fast immer der
Mittelpunkt der Kreise gewesen, in die das Geschick ihn gestellt
hatte, aber er wurde durch seine vielfachen Verpflichtungcn so
in Anspruch genommen, dass seine schriftstellerischen Arbeiten
nur als Nebenschosslinge zu betrachten Bind; es sind weithin zer-
streute Aufeatze, die sich um jenen Kern gruppiren: ein ab-
geschlossenes Werk von grosserem Umfange zu schaffen, war
ihm nicht beschieden.
II. Vischer hat immer in Basel gelebt, sein ganzes Leben
hat er den Interessen seiner Vaterstadt gewidmet.
Die Schranken der engen heimatlichen Umgebungen such-
ten seine Eltern mit richtigem Blick dadurch zu brechen, dass
sie ihn schon mit acht Jahren der damals unter Fellenberg
bliihenden Erziehungsanstalt zu Hofwyl (bei Bern) iibergaben.
In dem Umgange mit Sohnen von Fiirsten und Grafen aus aller
Herren Landern lernte der nervos reizbare Knabe sich gesellig
frei bewegen, bo dass Vischer spater wegen der Feinheit und
Eleganz seines Auftretens ebensogut fur einen deutschen Baron
als fiir einen deutschen Professor genommen werden konnte.
Durch die herrliche Lage des Orts und die Erziehung aus-
gezeichneter Lehrer, die es mehr noch auf die Ausbildung des
Characters als auf die Ueberlieferung von Kenntnissen abgesehen
hatten, gewann er Liebe fur alles Hohe iu der Natur, in der
Wissenschaft und in der menschlichen Gesellschaft, und nie hat
er Schwindel empfunden, auf Bergeshohen so wenig, als in hohen
gesellschaftlichen Kreisen, trotz seiner Schwerhorigkeit, .die ihn
18*
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196 Vischer, Kloine Schriften.
oft zwang, Augen und Oliren zu spitzen, urn einem Gesprache
folgen zu konnen (a. a. 0. S. XIX).
Einen freiern Blick gewann er, als er, nach vorbereitenden
Studien an der heimischen Universitat (1825—1828 — Gerlach,
Kortiim) und einem halbjahrigen Aufenthalte in Genf (zur griind-
lichen Erlernung der franzosischen Sprache), die Universitat
Bonn bezog (Niebuhr, Welcker), von wo er nach zweijahrigem
Studium sich nach Jena begab (Mai 1830 — Gottling, Eich-
stadt, Luden) und hier promovirte (19. April 1831), worauf er,
nachdem er noch fliichtig Berlin kennen gelernt hatte (Boeckh),
nach Basel zuriickkehrte. So hatte er den Unterricht und den
anregenden Verkehr der bedeutendsten Historiker jener Zeit ge-
nossen, und fand in der Heimat sofort Gelegenheit, die crwor-
benen Kenntnisse an den hohern Bildungsanstalten seiner Vater-
stadt zu verwerthen. Die historischen Aufsiitze, welche in die
vorliegende Sammlung aufgenommen sind, bewegen sich in dem
engen Rahmen der griechischen Geschichte von dem Ende der
Perserkriege bis zur Schlacht bei Mantinea (schon promovirt
hatte Vischer „iiber die Belagerung von Syracus"). Dor Cha-
racter dieser Abhandlungen ist durch die Gelegenheit, der sie
ent8tammen, und den Ort, wo sie Aufnahme gefunden haben, von
Vorne herein bestimmt. Theils sind es Programme des Pada-
gogiums, theils academische Gelegenheitsschriften, theils 'Vortrage
auf Philologenversammlungen (1848. 1855. 1870.), dann wiederum
langere oder kiirzere Beitrage fiir vcrschiedene gelehrte Zeit-
schriften (schweizerisches Museum, rheinisches Museum, Philo-
logus, Hermes, Zeitschrift fiir die Alterthumswissenschaft,
Gottinger gelehrte Anzeigen, Neue Jahrbiicher fur Philologie,
Preussische Jahrbiicher, Archaologische Zeitung, Archaqjpgischer
Anzeiger, Nuove Memoire). Auch fiir heimische Zeitungen und
Sammelwerke lieferte er Beitrage (Bluntschli's Staatsworterbuch,
Baseler Zeitung, Grenzpost), besonders fiir die von ihm selbst
ins Leben gerufene Zeitschrift fur vaterlandische Alterthums-
kunde, ebenso fur die Jahresschrift des Vereins schweizerischer
Gymnasiallehrer. — Die Herausgeber der Kleinen Schriften haben
sich der miihevollen Arbeit unterzogen, das noch jetzt Werth-
volle zu sammeln und, zur bequemeren Benutzung fiir den Leser,
nicht nach der Jahresfolge des Erscheinens, sondern nach der
innern Zusammengehorigkeit gruppenweise zu ordnen. Ausserdem
bietet Dr. A. v. Gonzenbach, welcher mit warmer Hingebung
und echt schweizerischem Patriotismus ein Lebensbild des Ver-
ewigten entworfen hat, zum Schlusse seiner Darstellung eine
Aufeahlung aller im Drucke erschienenen Schriften desselben
nach chronologischer Folge. Unter diesen hier in bunter Reihe
vorgefiihrten Arbeiten findet sich kein fliichtiges oder oberflach-
liches Machwerk, wie dies ja bei Gelegenheitsschriften und Pro-
grammen sehr gewohnlich ist. Im Allgemeinen wird zwar sehr
weit ausgeholt, da ja bei den Zuhorern oder Lesern keine ge-
nauere Kenntniss der Zeitverhiiltnisse vorauszusetzen war, aber
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Vischer, Kleine Schriften. 197
auch wo die (Jntersuchung keine neuen Resultate ergiebt, er-
freuen wir uns an der lichtvollen Darstellung und neuen Ge-
sichtspunkten *). Uebor den allgemeinen Character dieser Auf-
gatze fallt der Biograph folgendes treffende Urtheil: „Alle seine
Arbeiten sind echte selbstandige Forschungen, welche das Gebiet
des Wissens wirklich erweitern. Er gehort nicht zu denen,
welche mit dem von Andern gesammelten Material spielen, welche
die Bausteine, die langst beigebracht sind, nur noch einmal
durch einander werfen; seine Schriften sind immer Fortschritte
des Erkennens, sie sind allgemein anerkannt als eine Stufe am
grossen Bau, auf der sich unbedenklich weiter bauen lasst, und
auf der auch er und Andere weiter gebaut haben. Oft hat er
aucn das, was er sich zur Darstellung gewahlt, vollstandig er-
ledigt, indem er aus dem historischen Material entwickelte, was
sich daraus entwickeln lioss. Und das geschah ofter, als man
bei einem fliichtigen Blick auf die neueste Literatur glauben
mochte! Er blieb eben jeweilen in der Untersuchung bei dem,
was die Quellen boten, und leitete daraus ab, was eine gesunde
Kritik, eine allseitige Betrachtung und eine sichere Combination
daraus zu • gestalten vermochten. Wo ein festes Resultat nicht
zu gewinnen war, stellte er das Wahrscheinliche ans Licht, in
Vermuthungen hielt er Maass; widerlich war es ihm, wenn die
Phantasie die niichterne Forschung verdrangte, wenn aus Stellen,
die einfach und klar da lagen, Dinge gefolgert wurden, an die
der Schreiber wohl zuletzt wiirde gedacht haben, und so in die-
selben die vorgefassten Ansichten moderner Theoretiker hinein
interpretirt wurden."
III. Nur in der Schweiz und in England gab es zu Anfang
der dreissiger Jahre ein offentliches politisches Leben, auf
Deutschland lastete im allgemeinen ein dumpfer Druck und eine
weit verbreitete Gleichgultigkeit gegen staatliche Angelegenheitcn.
Vischer insbesondere wurde durch das Leben in einer Republik,
die damals gerade die schwersten Kampfe durchzumachen hatte,
befahigt, in lebendigerer Weise die ahnlichen Verhaltnisse des
athenischen Volkes aufzufassen. So blickt er denn mit einer
gewissen Vornehmheit auf die deutsche Geschichtsforschung
herab, die sich ahnliche Aufgaben gestellt hatte. (Ueber die
neueren Bearbei tungen der griechisohen 6e-
schichte 1861. Kleine Schr., Bd. 1, S. 511—533). Nach
seinem Urtheile haben sich die Deutschen zwei Mai hinter
einander ihren einschlagigen Bedarf von den Englandern holen
miissen. Zu Anfang unseres Jahrhunderts begniigten sie sich
mit Uebersetzungen der Werke des oberflachlichen Oliver Gold-
smith, des ausfiihrlicheren, langst veralteten John Gillies, oder
des torystischen William Mitford. Als dann Niebuhr durch seine
romische Geschichte (1811) den Glauben an die unbedingte Zu-
') Vischer klagt mohrfach, dass seino Arboitcn von Andern ausgebeutct
seion, ohue seiner irgend Erwahnung za thun (Kl. Schr., Bd. 1, S. 128. 289).
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198 Vischer, Kleine Schriften.
verlassigkeit dcr Quellen erschiittert hatte, durch F. A. Wolff
ein neues Leben in die Alterthumsstudien gekommen war, auch
Nachwirkungen der franzosischen Revolution in Deutschland sich
zeigten, wandte sich die Au&nerksamkeit auch hier mehr you
den aussern Ereignissen und Kriegen auf die tiefer liegenden
Ursachen derselben, auf das Yolksleben in alien seinen Ver-
zweigungen, auf die Einrichtungen in Staat und Gemeinde, aut
Sitte und Bildung, Kunst und Wissenschaft. Es erschien eine
Reihe „kritiscber und hyperkritischer" Specialforschungen (0.
Miiller, Boeckh), selbst „griechische Alterthumer", die sich ion
den fruheren geistlos zusammengestoppelten Handbiichern der
Antiquitaten sehr vortheilhaft unterschieden, es fehlte aber eine
klare Gesammtubersicht der Geschichte nach dem Standpunkte
der neuern Wissenschaft, hier mussten die Englander zum zweiten
Male helfend eintreten. Zuerst schrieb auf dieser Grundlage
Connop Thirwall sein Werk 1835 — zuerst Professor, dann
Bischof — mit grosser Gelehrsamkeit, besonnenem, kritischem
Sinne und selbststandigem, unbefangenem Urtheile. Ihm folgte
der gelehrte Londoner Banquier Georg Grote (seit 1846, 12 Bande),
zu dessen Vorzugen zu rechnen sind grundliche Kenntniss der
alten Quellen und umfassende, wenn auch nicht immer vollstan-
dige Beriick8ichtigung der neueren Forschungen, selbststan-
diges, scharfes Urtheil, ungewohnlich klarer, practischer Blick
in die politischen Verhaltnisse, lebendiger Sinn fur Wahrheit,
Fahigkeit sich in die antiken Verhaltnisse hinein zu versetzen, mit
den Alten zu denken und zu fuhlen, ferner ein trefflicher kri-
tischer Tact, der bei widersprechenden oder mangelhaften Nach-
richten in der Regel das Wahrscheinliche zu treffen weiss und
mit gliicklichem Scharfsinn die Ursachen der Abweichungen zu
entrathseln versteht, der auch die Schranken historischer Er-
kenntniss anzuerkennen weiss, nicht Hypothesen dem Leser fur
geschichtliche Wirklichkeit darbietet (Duncker, Curtius). Au8se^
dem riihrnt Vischer noch an ihm die einfache, allgemein ver-
standliche, nicht durch Schultheorien und durch Schulausdrucke
getriibte, aber von einer edlen, wohlwollenden Gesinnung ge-
tragene Darstellung, riigt aber, als zu den Mangeln und Schatten-
seiten gehorig, eine iibermassige Breite, die oft zur Weitschwei-
figkeit werde, die iiberfliissige Wiederholung von Lieblings-
ideen des Verfassers, die Ausscheidung der Periode bis zur
sogenannten dorischen Wanderung, theilweise sogar bis zur
ersten Olympiade als „legendary liistory" (wogegen z. B. die
Ucberreste in Mykcnai sprachen), die zu woit getriebene nega-
tive Kritik (z. B. das ganzliche Verwerfen einer Aeckertheiluiig
in Sparta), die Parteilichkeit bei Beurtheilung der Athener,
welche er gegen die Vorwiirfe von Undankbarkeit, Leichtsinn,
Justizmorden u. a. (Mitford) verthcidigt, mehr wie ein (zwar
scharfsinniger, ernster) Advocat des attischen Demos, als wie
ein ruhig und parteilos abwagender Historiker. (— In dieser
Hinsicht wird jedoch Vischer's Urtheil noch an innerer Er-
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m*F
Viseher, Kleine Schriften. 199
bitteruog ubertroffen durch Bernhardy's Angriffc gegen
Grote in d. G run dr. d. griech. Lit. I, S. 465 — ). Zuin Be-
weise dient, dass Kleon sogar gegen die Angaben des Thuky-
dides in Schutz genomnien, aber die Schuldlosigkeit der Sieger
bei den Arginusen in Zweifel gezogen, endlich aus der angeblich
viel gefahrlicheren Sopbistik des Socrates die Berechtigung der
Atbener zu seiner Verurtheilung hergeleitet wird.
Diesen grossen Leistungen der Englander gegeniiber finden
die neueren Gesammtdarstellungen deutscher Gelehrten nur ge-
ringe Gnade vor den Augen des schweizer Historikers. Nie-
buhr's Vorlesungen iiber alte Geschichte (1846),
obgleich sie sich in ibrem weitaus grosseren Tbeile mit Griechen-
land beschaftigen, werden gleich an der Schwelle abgewiesen.
Sie seien zwar geistreich, gelehrt und in hohem Grade anregend,
aber fast zwanzig Jahre friiher gehalten, kein fertiges Werk,
auch von einem Andern zum Drucke befordert und, da die
bessernde Hand des Verfassers fehle, voll von Ungenauigkeiten.
Es seien freie Vortrage, fur Studenten berechnet, trotz sorg-
faltiger Vorbereitung der Erguss der jeweiligen Stimmung, reicb
an scharfen und lehrreichen Winken und Beobachtungen, aber
nicht von gleichmassiger Ausfiihrung aller Theile, ohne strenge
Anordnung im Einzelnen, ohne die gemessene Abwagung des
Attsdrucks, wie sie ein abgescblossenes Geschichtswerk fordere,
in den Urtheilen oft riicksichtslos und einseitig (fiir Athen, daher
Hass gegen Sparta, gegen Philipp und Alexander), nur an der
Hand der Quellen mit Nutzen zu losen.
Sebr gelobt wird dann, zum Tbeil wohl aus schweizer
Localpatriotismus, Die Geschichte Griechenlands von
der Drzeit bis zum Untergange des Achaischen
Bun des (1854) vonFr. Kortiim, friiher in Hofwyl und Basel
Yischer's Lehrer, damals Professor in Heidelberg. Viseher klagt,
dass es demselben nicht gelungen sei, sich in Deutschland einen
gedeihlichen Wirkungskreis und Anerkennung zu verschaffen, be-
sonders habe er seit 1848 durch seine herbe, feindliche Stimmung
gegen die dort vorherrschenden Bestrebungen sich immor mehr
isolirt und die gelehrte Welt entfremdet, hierin sei zum Theil
der Grund fiir die geringe Verbreitung und Beriicksichtigung
seines Geschichtswerks zu suchen. Fiir den grossern Kreis der
Gebildeten, an den er doch bei der Abfassung vorziiglich ge-
dacht habe, mache ohnehin die originelle, oft ans Sonderbaro
streifende Manier der Darstellung und die eine grosse Gedanken-
fiille in wenige Satze zusammendrangende, an ungewohnlichen
Ausdriicken reiche Sprache das Buch wenig geeignet. Es ent-
halte aber manches Vortreffliche und zeichne sich durch ernstes
Streben nach strengster Unparteilichkeit aus.
So bleiben denn, meint or, zwei Werke ubrig, die gleich
bei ihrem ersten Erscheinen die grosste Aufmerksamkeit erregt
haben und schon durch ihre weite Verbreitung beweisen, dass
ibre Verfasser den Ton getroflfen haben, welcher ein Geschichts-
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200 Vischor, Kleine Schriften.
werk aus dem engern Kreise der bios gelehrten Litteratur in
den weiteren der Nationallitteratur hinaustragt und es zu einem
Besitzthum der Gebildeten iiberhaupt macht
Max Duncker's Geschichte der Griechen (1856.
1857) ist ein Bestandtheil seiner: Geschichte des Alterthums bis
auf die Begrundung der Herrschaft der Caesaren, worin er von
dem Orient ausgehend eine zusammcnhangende Entwickelung der
ganzen alten Geschichte zu geben gedenkt nach den sorgfaltig
gepriiften Ergebnissen der Specialforschungen der Orientalisten,
Theoiogen, Mythologen, Archaologen, PhSologeii, Romanisten,
und zwar mit Betonung der Bedeutung der alten Welt fur die
spatere Geschichte und die Gegenwart. Ernst der Gesimrong,
griindliches Studium, Kenntniss der neueren Forschungen ver-
bindet er mit Unbefangenheit des Urtheils den verschiedenen
politischen Richtungen gegeniiber. Sehr schon • ist z. B. die
griechische Aristocratic in ihrer Bliithezeit dargestellt (obwohl
er selbst liberal ist), weniger gelungen die Darstellung der
Tyrannis (als dem modernen Konigthum entsprechend auf demo-
cratischer Basis). Die Anordnung des Stoffes ist ubersichtlich
und klar, die Darstellung im Ganzen einfach und wiirdig, aber
oft breit, und nicht ohne Manier. Duncker sucht sich von
dem Inhalte einer Periode ganz zu durchdringen, und giebt
dann den StofF wie ein urspriinglicher Erzahler mit frei gestal-
tender Phantasie, so dass er oft an den historischen Roman
streift. Die an Grote geriihmte Kunst des Nichtwissens wird
ganz bei Seite gesetzt, die ungewissesten Hypothesen werden mit
apodiktigcher Sicherheit vorgetragen.
Ueber E. Curtius endlich (seit 1857 — Weidmann'sche
Sammlung) urtheilt Vischer, der nur erst den ersten Theil der
griechischen Geschichte genauer kannte, in folgender
Weise. Die durch das vortreffliche Werk iiber den Peloponnes
hochgespannten Erwartungen sind nicht getausoht worden. Der
Verfasser will in einem Werke von massigein Umfange das
uberaus reiche Material der Monographien zusammenfassen and
ein lebendiges Bild von dem griechischen Volke und seiner Ge-
schichte entrollen, indem er die Ergebnisse eigener und fremder
Forschung ubersichtlich darstellt und durch Nebeneinander-
stellen grosserer Gruppen den innern Zusammenhang selbst
sprechen und wirken lasst. Da er fur die Gebildeten, nicht fur
die Gelehrten schrieb, gab er anfanglich keine (spater nur spar-
liche) Belege fur Darstellung und Auffassung. Diese Methode
wird hochst gefahrlich, wo ganz neue Satze und Vermuthungen
aufgestellt werden und fiihrt zu einem Vermengen des Sichern
und Hypothetischen. Sonst ist der Stoff mit grosser Kunst ge-
staltet. Die verschiedenen Seiten des Volkslebens sind mit war-
mer Theilnahme gezeichnet, dio Urtheile sorgfaltig erwogen, der
Boden, auf dem die Griechen gelebt und gewirkt haben, meis^
haft geschildert. *Sein mehrjahriger Aufenthalt in Griechenland
hat ihm einen grossen Vorzug vor Duncker und Grote gegeben.
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Viscber, Kleine Schriften. 201
IV. Fur eine unbefangene Auffassung der eigeuen Leistungen
Vischer's ist e8 nothwendig, auf seinen politischen Parteistand-
punkt Riicksicht zu nehmen. Die blutigen Vorgange des
3. August 1833 zwangen ihn, mit dem republikanischen Ideale zu
brechen. Landschaftliche Truppen hatten das von der Regierung
der Stadt Basel den ihr treu gebliebenen Gemeinden zu Hiilfe
gesendete Militar auf das Grausamste und Schonungsloseste
niedergemacht. Die dem Befehlshaber dieser hingemordeten
Mannschaften, dem Vater unseres Vischer, seitens der Bundes-
behorden zugefugten Krankungen, welche sich dann auoh auf
andere Familienglieder ausdehnten, erfiillten den jungen Mann
mit Hass gegen Alles, was von den Eidgenossischen Centralbe-
horden ausging und liessen ihn alles Heil von der aristocrati-
schen Partei hoffen, der er schon seinen Familienverbindungen
nach angehorte. So beisst es vom Untergange des pytha-
goreischen Bundes (Kl. Schrft. Bd. 1, S. 156): Allein das zum
blinden Gehorsam unter die Aristocraten bestimmte Volk machte
diesem Versuche, ein philosophisches Ideal zu realisiren, ein
fiirchtbares, blutiges Ende.
V. Das Jahr 1852 bot Vischer die lange gewiinschte, und
reichlich benutzte, Gelegenheit, den Schauplatz der Begebenheiten
kennen zu lernen, deren Erforschung und Darstellung er bereits
zwanzig Jahre seines Lebens gewidmet hatte. Die grosse Reise,
die er 1852 — 1853 durch Griechenland machte, und dann durch
Italien, wo er mit Welcker zusammentraf, hatte nicht bestimmte
Ebzelforschungen zum Zwecke, deshalb meinte Vischer, dass er
nicht viel Neues finden konnte und gefunden habe. Dennoch hat
er auf mehrfachen Wunsch die Ergebnisse veroflfentlicht. (Er-
innerungen und Eindrucke aus Griechenland.
Basel. Schweighauser 1857.) Dieses umfangreichste, aber schwer
zugangliche Werk Vischer;s ist von den Herausgebern der Kleinen
Schriften nicht mit aufgenommen worden, was sehr zu bedauern,
da die meisten Leser es gewiss mit grosserm Danke entgegen-
genommen hatten, als den grossten Theil der umfangreichen
epigraphischen Beitrage. Es ruhmt namlich v. Gonzenbach dieser
Reisebeschreibnng nach die durchaus zuverlassige Beobachtung
der Landschaft, die ge^chickte Weise, die geschichtlichen That-
sachen auf diesem beschriebenon Schauplatz dem Leser vor Augen
zu stellen; dann fahrt er fort: Gerade, wer sich nicht mit den
weitschichtigen topographischen und geographischen Forschungen.
iiber Altgriechenland befassen will, noch kann, wird gerne bei
dem Lesen der griechischen Historiker Vischer's Erinnerungen
aufschlagen, um sich daraus von der Ebene von Argos, von dem
heiligen Sunion, von dem Felde von Plataa eine klare Anschauung
zu bilden. (L. LI.) Vischer selbst hatte endlich in die Ver-
offentlichung gewilligt, weil er mehrfach Gelegenheit hatte, zu
bemerken, wie wenig richtige Kenntniss des alten und neuen
Griochenland8, trotz der verschiedenen neueron Werke, oft selbst
bei Mannern von Fach verbreitet wiiren. Eine zweite Reise nach
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202 Vischer, Kleino Schriften.
Griechenland unternahm derselbe im Jahre 1862 auf die Ein-
ladung von E. Curtius und wohnte der Ausgrabung des
Theaters dos Dionysos in Athen bei. (Bericht aus
dem Neuen Schweiz. Mus. 1863, III, S. 1—35, KL Schr. Bd. 2,
S. 324—390.)
VI. Von der Anschauung, die Vischer von Land und Leuten
gewonnen, erhalten wir gelegentlich Mittheilung bei Einfiihrung
der epigraphischen Entdeckungen. Wichtige Aufschliisge iiber
das alte Griechenland enthalten die Anzeigen und Beurtheilirogeii
zweier Schriften, die wir im Auszuge mittheilen. Besonden
interessant ist es, zu sehen, wie manche kuhne Combinations
von Curtius vor der niichternen Kritik Vischer's zerfliessen.
August Baumeister, Topographische Skizze
der Insel Euboia. Mit zwei lithographischen Tafeln.
Liibeck, im Februar 1864. 74 S. in Quart. (Recension zuerst:
Goetting. Gel. Anz. 1864. S. 1361—1383, dann auch KL Schriften
Bd. 1, S. 588-604, wo Vischer noch einen Plan der Stadt
Kerinthos beigegeben hat.) — Baumeister hatte 1854 drei Wochen
lang alle Theile von Euboia durchwandert und wurde von noch
weiterer Durchforschung der Insel nur durch die damals im
Zu8ammenhang mit dem orientalischen Kriege eingetretene Un-
sicherheit abgehalten. In topographischer Hinsicht sind wir iiber
keinen Theil Griechenlands so wenig unterrichtet. Wir kenneu
die alten Namen einiger Berge und Vorgebirge, mit annahernder
Sicherheit die einiger Fliisschen, die Lage von etwia acht oder
neun Ortschaften, die grosstentheils ihre alten Namen nur wenig
verandert haben. Selbst die wenigen Namen auf der Karte von
Kiepert beruhen zum Theil auf sehr unsicherer Vermuthung. In
Folge der natiirlichen Beschaffenheit der Insel hatte sich ihre
Geschichte in wenigen Hauptstadten concentrirt, die iibrigen
zahlreichen Ortschaften waren wohl nicht viel mehr als Dorfer
und boten zur Erwahnung selten Anlass. Von alten Schrift-
stellern hat Pausanias die Insel nicht in den Kreis seiner Perie-
gese gezogen, Strabo ist diirftig und ungenau, der Werth der
erhaltenen Inschriften gering. Die Zahl der Ortsnamen betragt
bei Baumeister 105 — darunter auch manche nur verschiedeue
Formen und die allgemeinen Namen mitgezahlt — , und unter
diesen ist bei vielen keine Moglichkeit gegeben, ihnen ihren Platz
anzuweisen. Umgekehrt finden wir manche Spuren alter Ort-
. schaften, ohne sie benennen zu konnen. Bedeutend freilich sifid
die wenigsten dieser Ueberrestc. Von der Pracht der alten
Hauptstadt Chalkis ist nur, was in den Felsboden eingehauen
war, iibrig geblieben. Ansehnliche Ruinen finden sich h&upt*
sachlich von Eretria und an einigen Orten des siidlichen Theflcfi
der Insel, diese meist aus sehr alter Zeit. — Wenn man der
geographischon Gestaltung nach Euboia in einen ndrdlichen,
mittleren und siidlichen Theil zerlegt, so hat Baumeister sich
vorherrschend mit dem mittlern und siidlichen beschaftig*.
Vischer auch den nordlichen zwei Mai besucht und genaa dureh-
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Vischer, Kleine Schriften. 203
for8cht. Deshalb zeigt er dort uberall Autopsie und sucht Bau-
ineister zu bericlitigen. Wo an der Sudwestkiiste das von der
See etwas zuriicktretende Gebirge Raum darbot, lagen die Dry-
operstadte Karystos und Styra (jetzt Stura). Vischer giebt hier
gelegentlich Nachricht yon einem merkwiirdigen Funde, man
entdeckte namlich in der Nahe des alten Styra bei einem alten
viereckigen Denkmale in einer thonernen Urne, die aber zer-
brochen war, eine grosse Anzahl von kleinen langlichen Blei-
plattchen mit Inschriften (evQe&rjoav dd, wg lfyetaiy ev Evpoiq,
ml drj ev 2rtQOig tfjg Evfioiag neqi TezQaytoviKov xi [ivijfxelov
ivzbg %aX7tr\g 7ttjXiv7jg avvreTQi(.ifxe'vrig evqe&eiarjg, nqb oXLyoyv izuiv.
Rusopulos in A archaol. Ephem. von Atben, Neue Folge 1862,
S. 276). Urspriinglich erklarte Vischer das Denkmal fiir ein
Polyandrion, und die Inschriften, meinte er, enthielten die Namen
der gemeinsam in einem Kriege gefallenen Manner, wobei es
freilich merkwiirdig sei, dass die Namen in dem Grabe verborgen
waren. (KL Schr. Bd. 1, S. 594) Als er spater 75 dieser
Tafelchen in seinen Besitz gebracht hatte, und 54 abgebildet
mit Erlauterung herausgab (Alte Bleiinschrifte n aus
Styra auf der Insel Euboia (1867). KL Schr. Bd. 2,
S. 116 — 139), versuchte er eine andere Deutung, sie seien fur
die Loosung bestimmt gewesen, da ja bekanntlich in den grie-
cliischen Democratien viele Aemter und grosse Collegien, wie
der Bath und die Gerichte, durch das Loos besetzt wurden.
(a. a. 0., S. 136.) Eiue zweite Merkwiirdigkeit, die Vischer
auf Euboia fand, waren die Einschnitte im Felsboden an dem
steinigen Hiigel Karababa (Kanethos) gegeniiber Chalkis, welche
derselbe mit Boss fiir die Fundamente der alten Euriposfesten
crklart, gegen Bursian und Baumeistor, die darin Graber zu er-
kennen glaubten. Besondere Sorgfalt wendet Vischer darauf, die
Notizen iiber Lage (Urlichs) und Geschichte des alten Kerinthos
(von dem er eine Karte beigiebt) und die von Baumeister mit
Bezug auf eine misverstandene Stelle des Theognis gegebonen
Nachrichten iiber die Schicksale der Stadt zu berichtigen.
E. Curtius, zur Geschichte des Wegebaus bei
den Griechen. (Bee. zuerst in d. Jahrb. f. Phil. u. Padag.
1856. Bd. LXXIII, S. 131—140. KL Schr. Bd. 2, S. 645-659.)
Der Wegebau hatte bei den Griechen zwei Hauptarten : entweder
bestand er im Lichten der Waldungen und Ebnen der Bahn auf
festem Boden, oder im Auffuhren von Dammen in sumpfiger
Niederung. Im Letztern waren die Phonicier Lehrer und Vor-
bild (die bootischen Gephyrai, Gephyraier). Schon die homeri-
schen Helden durchreisen auf ihren Wagen ungehindert das
ganze Land. — Spater tritt in Folge der republikanischen
Gleichstellung der Wagenverkehr nicht nur in den Stadten und
ihrer Umgebung, sondern auch auf Reisen zuriick. Die wyQO-
dgofioi werden gebraucht fiir Eilbotschaftenv^elbst Gosandtc reisen
2u Fuss. Hauptstrassen werden Bediirfniss : a) fiir die Ziige der
Festgenossen nach den Heiligthiimern (heilige Strassen), b) fiir
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204 Vischer, Kleine Schriften.
den Waarentransport aus dem Binnenlande nach der Kiiste. —
Bei dem vorzugsweise stein igen Boden wurde nicht die ganze
Flache geglattet, sondern nur Geleise (t%vrj) fur die Rader aus-
gehauen, welche sich vielfach bis auf den heutigen Tag erhalten
haben, in der regelmassigen Breite von 1,62 m. (bdov xinmv,
QvfAoroiiia, viam secare.) — Das Geleise war entweder doppelt
angelegt, oder mit Ausweichstellen (hiTQ07iai) versehen, wie man
sie noch jetzt in Laconien findet. Der Weg lief meist in Thalern,
und in Kriimmungen, in Steigen und Fallen dem Terrain sich
anschliessend. — Wo die Natur einen Zugang versagt zu haben
schien, verzichteten die Griechen auf Fahrstrassen. So war im
Lande der Lykier die ganze stadtereiche Gegend ostlich von der
Xanthosmundung ohne Fahrstrasse, und iiber den Isthmos fuhrte
bis auf Hadrian nur ein schmaler Fusssteig. Die heiligen
Strassen waren 1) solche, die der Gott selbst gewandelt
sein sollte, der Verbreitungsweg des Cultus, nur bei einge-
wanderten Gottern moglich, z. B. bei Apollo, fur den in Delphoi
die verschiedenen Bahnen zusammenlaufen, auf denen der Gott
ins Land gezogen ist. Dem ahnlich sind die Verbindungsstrassen
nach den Filialen des Tempels. 2) Indem das Heiligthum
eines uberwaltigten Staats mit der Hauptstadt der Sieger
verbunden wird. (Amyklai mit Sparta, Olympia mit Elk)
— Zur Ausstattung der heiligen Wege gehorte zunachst ein in-
augurirter Ausgangspunkt, z. B. das Festthor in Elis,
oder ein dem Endpunkte entsprechendes Heiligthum. Die heilige
Strasse von Athen nach Delphoi ist lehrreich fur die Entstehuug
solcher Strassen. Der Apollocultus wanderte von Delos Dact
der Ostkiiste von Attika, hier wurde er gepflegt von der jonischen
Tetrapolis (Marathon, Oinoe, Probalinthos, Trikorythos, vergL
auch Bursian Geog. v. Griech. I, S. 339. 340), und von dort
durch das Asoposthal weiter nach Boiotien und nach Delphoi
verpflanzt, erst mit dem Versetzen der jonischen Geschlechter
aus der Tetrapolis nach Athen kam er dahin. — Spater ging
nun die heilige Strasse vom Pythion in Athen aus, aber nicht
iiber das Poikilongebirge auf dem Eleusinischen Wege, sondern
zunachst nach der Tetrapolis, wo in dem Pythion des Mara-
thonischen Oinoe noch besonders die Zeichen fiir die Theorie
beobachtet wurden, von da iiber Tanagra weiter. — ZwischeJi
dem Anfangs- und Endpunkt der heiligen Strassen waren Sta-
tion en, die an die Schicksale des Gottes erinnerten, Heilig-
thumer anderer Gotter, Heroa, Graber x) — und der Weg war
iiberhaupt moglichst anmuthig gemacht, — je naher dem Tempel,
desto reicher an Baumen, Statuen, auch Marmorsesseln (auf-
fallend ist beim Didymaion in Kleinasien und bei Teos eine den
agyptischen Tempelzugangen anaioge Einfassung mit Kolossen).
J) Doch nur insofern sie in dio Augon fallonde Punkte ausmacbteu-
deren es auch audore gab , wie z. B. der Thurm des Polygnotos anf da
Strasse von Argos nach Korinth. Plat. Arat. 5, 6. Vise her.
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Vischer, Kleine Schriften. 205
Das Thor des Tempelhofs bildete den Schluss der
heiligen Strasse, es war oft an der Westseite gelegen. —
Die heiligen Strassen wurden natiirlich auch zum profanen Verkehr
benutzt und waren die Vorbilder anderer Kunststrassen. Man
brauchte die Strassen, als offentliches Gut (drjfxooiov, Allmende),
vielfach als Grenzbestimmung , sie standen unter sorgsamster
Aufsicht des Staats (Sparta, Athen — seit den Pisistratiden war
die Entfernung versdhiedenor wichtiger Orte von dem Zwolf-
gotteraltar auf dem athenischen Markt Yerzeichnet). Alle Heer-
strassen standen unter dem Schutz der Gotter, und mit ibnen
der Wanderer, dem den rechten Weg zu zeigen als eine religiose
Pflicht gait. *) Besondere Schutzgotter der Strassen sind Apollo
(ayvievg als Sonnengott und Wegebabner), Hermes als Gott des
Geleites (sQfxala Steinhaufen — Grenzstein, Wegweiser — daraus
der Name des Gottes), Artemis als Enodia, Hegemone, Hekate,
Epipyrgidia, Eileithyia, Athena, Herakles, Pan. — Ausserdem na-
tiirlich Fusspfade (ccTQctTtol), z. B. der iiber 1000 Stufen
zahlendc parnassische Fusssteig. (Eine Skizze desParnass
und seiner Umgebung hat Vischer vorgetragen auf der
Philologenversammlung zu Altenburg 1855. Vergl. Verhandlungen
dieser Versammlung S. 69.) — Von den Ringmauern und
Stadtthoren und ihrem Verbal tniss zu den Wegen wird so-
dann bemerkt: Im Peloponnes findet sich zuerst der Mauerbau
und die einthorige Umwallung der Berghaupter (in der
grossten Vollendung in Argolis). Die mehrthorige Umwallung
der Stadte zuerst in Boiotien, an Theben kniipfen sich die meisten
My then vom Stadtebau. — Bei der AnlagederThore herrscht
durchweg der Gesichtspunkt, die rechte Seite — Lanzenseite —
der Angreifenden den Geschossen so lange als moglich auszusetzen.
Daher riihren die Mauervorspriinge, aus denen dann Thiirme
wurden, zuerst nur an den Thoren, daher Thurm oft gleichbe-
deutend mit Thor. Dann traten an ihre Stelle die kunstreichen
Festungseingange (Mantineia). — Das Zusammentreffen ver-
schiedener Strassen vor don Thoren und religiose Bedurfnisse
fiihrten gegeniiber jenen fortificatorischen Riicksichten zu den
Verbindungen mehrerer Thoreingange neben einander (das Athe-
nische Dipylon). Dass sich mit militarischer Festigkeit auch die
Iiiicksicht auf Wiirde und Schonheit vereinigt finde, wird gegen
Curtius von Vischer durch Anfuhrung des Arkadischen Thores
in Messene erwiesen. Unter den Thoren, welcho Provinzen
trennten oder vorbanden, sind die Pylen oder Thermopylen die
J) Characteristisch far dio Soelenstimraung Vischer' a ist folgende
Aeusserung bei dieser Gelegenheit.^ Kl. Schrft. Bd. II., S. 649: Eine
nierkwiirdige Analogic daniit fand sich, wenigstens bis vor wenigen Jahren,
im Canton Unterwalden, wo joder Landniann verpflichtet war, dem Reisenden
d^n Weg zu weison. Ich weiss nicbt, ob diese schiine Ordnung noch besteht,
oder ob sie einer alle Eeste alter .frommer Sitte vertilgenden verraeinton
Cultur hat weichen mtlsson, der es bedonklich erscheinen mag, die Leute
tinen Augenblick der Arbeit zu cntziehen.
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206 Vtecher, Kleine Schriften.
beriihmtesten. — In der Anlage der Strassen unterscheiden
sich die allmahlich gewordenen Stadte mit ihren unregelmassigen.
oft engen und krummen Strassen von den neuern nach einem
bestimmten regelmassigen Plane angelegten. Diese Neuerang
stammte aus Asien (Babylon), kam durch die Jonier nach
Griechenland, der Milesier Hippodamas baute die Stadt Peiraieus.
Spater wurden in grossartigster Weise die Macedonischen Stadte
des Orients aufgefiihrt (Antiocheia, Seleukeia — Vischer fugt
mit Recht nocb Alexandreia binzu mit seinen im rechten Winkel
sicb durchschneidenden iiber 100 Fuss breiten Hauptstrassec
Strabo 793 C. Diodor XVII, 52). — In alien, auch den prach-
tigsten, befand sich das einfache althellenische Symbol des Om-
phalos in der Mitte der Stadt, wo die beiden Hauptstrassen sich
kreuzten. — Curtius erklart dies Wahrzeichen als das Abbild
des aus der deukalionischen Fluth hervorragenden Berghauptes,
also fur das Symbol der Erde, und weil diese immer von Neaem
befleckt wird, muss der Omphalos immer von Neuern durch das
herabfliessende Opferblut gereinigt werden.
Nachdem Vischer so dem Verfasser des Aufsatzes bis zum
Ende mit Aufmerksamkeit gefolgt ist, macht er folgende Ein-
wendungen: In der Heroenzeit gab es ein Netz von Strassen,
spater nicht: sind jene verfallen und unbrauchbar geworden?
Zum Theil sicherlich ; denn zu Theseus' Zeiten gab es eine Strasse
zu gottesdienstlichen Zwecken iiber den Isthmus, spater nur einen
Fusspfad. Nun fallt aber die Anlage der Apollonischen Strassen
in die fruheste Heroenzeit. — Ferner war wohl fur die Anlegong
der Strassen neben dem Waarenverkehr nach der Kiiste das
militarische Bediirfniss bestimmend (Lakedaimon), mehr noch bd
den Volkern des mittleren und nordlichen Griechenlands, die
durch ihre Reiterei sich auszeichneten. — Die Strassen der
Stadte waren, abgesehen von den religiosen Riicksichteii, ein
nothwendiges Bediirfniss, lewg<p6(>og und ayvid bedeute nicht
Strasse fiir Festziige, sondern die von einer Menge betreteoe
Strasse, wie Her. I, 187: al \iakiota XecogyoQOi nvXai und der
Pythagoreische Spruch: Xewgqtoqovg odovg nrj arel^e. — Sodann
bezweifelt Vischer, dass bdov ri/xvetv, QV(j,oTO[*la, secare viam
vom Einhauen der Geleise abzuleiten sei, vielmehr bedeute wjurtw
das Bahnen der Strassen durch Walder und felsige Gegen-
den, und Thukydides sage von Archelaos Makedonien II, 100:
odovg ev&eiag eve^ey. Die Worter §v[.iOTO[ieiv und QVfiotofiia
kenne er nur von den eine Stadt durchschneidenden geraden
Strassen. Endlich bedeute Xyvog wohl nicht eingehauenes Geleis,
im Gegensatz zu aQ/^avoTQoyJa, der im Sande sich voriibergehend
bildenden Wagenspur. Jene Bedeutung sei vielleicht in eia-
zelnen Stellen von Inschriften zu* statuiren, aber nicht die ge-
wohnliche und erst aus der allgemeinen abzuleiten, wie wir Bad
und Spur von den voriibergehend eingedriickten Radspuren wf
die eisernen Schienenbahnen iibertragen haben. — Die Beliaup-
tuug, dass die Hollenen, wo die Natur den Weg versperrte, anf
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Vischer, Kleine Schriften. 207
die Anlegung von Fahrstrassen verzichteten, ist zu allgemein ge-
fasst. Schon in der Heroenzeit gab es eine Fahrstrasse iiber
die wilden Joche des Taygetos, die man jetzt nur miihsam mit
Maulthieren iibersteigt ; ferner baute der eben erwahnte Archelaos
in dem gebirgigen Macedonien Fahrstrassen, ohne sich an das
Terrain anzuschiiessen. Ueber den Isthmos habe zwar nach
Pausanias Skiron einen Weg fiir nistige Manner gebahnt (evtw-
voig avdQaoiv), und erst Hadrian ein Fahrstrasse fur zwei Wagen
gebaut, aber Curtius selbst erwahne eino heilige Strasse langs
des Saronischen Meerbusens zur Zeit des Theseus, und, von dieser
mythischen Zeit abgesehen, sagt Herodot (VUI, 71), die Pelo-
ponnesier hatten im Perserkriege die Skironische Strasse ver-
schiittet, wo doch odog kaum einen blossen Fusspfad bedeuten
kann. Dieselbe Strasse haben nach Aristides im Panathenaikos
S. 333 die Theoren der Athener benutzt , eine Strecke von
Hopliten begleitet, da die Athener mit den Korinthern damals in
Streit waren, die sie nicht zu den isthmischen Spielen zulassen
wollten. Wann, ist ungewiss, wohl, bevor die Strasse verschiittet
war. Gegen eine Wiederherstellung spricht der Umstand, dass
sie Archidamos nicht benutzte, da er iiber Oinoe, nicht iiber
Eleusis Attika betrat. — Ueberdies fiihrtc iiber den Isthmos auf
der nordwestlichen Seite der Geraneia eine wenn auch beschwer-
liche Fahrstrasse nach Boeotien, aiif der die peloponnesischen
Theoren nach Delphoi zogen (Curtius Peloponnes. II., S. 552).
VII. Auf die Erforschung von Kunstgegenstanden hat Vischer
nur gelegentlich sich eingelassen. In unserer Sammlung gehoron
hieher die Aufsatze : „Ueber dieArtemis aus Pagonda"
(auf Euboia), wo Vischer in einer Statuette von ziemlich genau
zehn Centimeter Hohe, deren Photographic er in natiirlicher
Grosse in zwei Stellungen beifugt, eine Artemis zu erkennen
glaubt, wahrend man sie bisher fiir einen Wagenlenker gehalten
hatte (Kl. Schr. Bd. 2, S. 291—293), — und Anciens bronces
Gr6cs (Kl. Schr. S. 302—310). Die verschiedenen Typen der
Apollobildsaulen werden an 2 Abbildungen des (sogenannten
Didymeischen) Apollo und des Hermes KQioyogog erlautert.
Wichtiger sind fiir uus die Auseinandersetzungen : „Ueber
das plataiische Weihgeschenk in Constantinopel"
(Kl. Schr. Bd. 2, S. 294—296 und S. 297-301). Vischer er-
klart sich fiir die Aechtheit. Der Gang der Untersuchung ist
folgender. Bekanntlich steht auf dem Atmeidan in Konstan-
tinopel, dem alten Hippodrom, eine oben verstiimmelte gewundene
Saule, oder richtiger ein Gewinde von drei Schlangen, worin
man seit langer Zeit den Rest jenes Weihgeschenkes zu erkennen
gewohnt war, welches einst die Griechen nach dem Siege von
Hataiai dem delphischen Gotto aus der Beute gestiftet hatten.
Als Vischer im Jahro 1853 vor dem Denkmale stand, ragte es
etwa zehn Fuss aus dem Boden, der seinen untern Theil um-
schloss. Wahrend des Krimkricges wurden auf Anregung des
onglischen Viceconsuls zu Mytilene (Newton) durch den britischen
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208 Vischer, Kleine Schriften.
Botschafter (Lord Redcliffe) Nachgrabungen auf dem Hippodrom
veranlasst, und im Anfang des Jahres 1856 auch der Fuss der
Saule bloss gelegt. Sie steht auf einem Wiirfel von Granit und
mi8st, soweit sie erhalten ist, etwa sechzehn Fuss in der Hohe
bei ungefahr einem Fuss Durchmesser. Bei dieser Aufdeckung
kam eine in die Windungen eingegrabene Inschrifl zum Vor-
schein, welche die Namen der griechischen Volkerschaften enthalt,
die dem Apollo das Werk geweiht hatten. Um die Lesung
derselben hat sich besonders verdient gemacht der damals in
Constantinopel lebende Dr. Otto Frick. In dem ersten genauen
Bericht an die Berliner Academie (durch E. Curtius vermittelt
— in deren Monatsbericht 1856, S. 162 ff.) theilt er mit, dass
von den drei Schlangenkopfen, die jetzt dem Monumente fehlen,
einer sich in der Sammlung der Irenenkirche finde. Sogleich
bei dem ersten Berichte erhob E. Curtius Bedenken gegen die
Aechtheit wegen der durchaus ungriechischen Form der ge-
wundenen Saule, der Fluchtigkeit der eingeritzten Schriftzuge,
sowie der Inconsequenz der Schreibart (seine Ansicht aufe Neue
begnindet in don Gottinger Nachrichten vom 23. December 1861,
No. 21: „Ueber die Weihgeschenke der Griechen
nach den Perse rkriegen und insbesondere iiber
das plataiische Weihgeschenk in Delphi"). Auch
Botticher konnte sich von der Aechtheit nicht ixberzeugen. Dar-
auf liess Frick 1859 in dem dritten Supplementbande der Jahrb.
f. klass. Phil, eine iiberaus genaue Abhandlung iiber „Das pla-
taiische Weihgeschenk in Konstantinopel" erscheinen, der er eine
Tafel mit acht Abbildungen beifiigte. Diese Schrift scheint durch
die genau constatirte Lesung der Inschrift eher den Zweiflern
Waffen geliefert zu haben. So hat (ausser E. Curtius) noch
Schubart (Jahrb. f. klass. Phil. 1861, S. 474) ernste Bedenken
geaussert. Beiden antwortet Frick in den Jahrb. f. klass. Phi
(1862, S. 441—466). Schubart hatte besonders die Verschieden-
heit des Monumentes selbst und der Inschrift von den Nach-
richten des Pausanias hervorgehoben ; — dabei nimmt er den
Pausanias und sein Verzeichniss der weihenden Staaten (V, 23)
zur Basis der Untersuchung, Frick aber, wenn nicht andere
Griinde der Unachtheit da seien, das Monument, und das mit
Recht. Denn so vortrefflich Pausanias in der Kegel beobachtet
hat, so oft irrt er bei historischen Angaben. Ausserdem ist der
Zustand seines Textes in dieser Stelle otfenbar verdorben, wahrend
die Inschrift, fur sich betrachtet, keinen Grund zu Zweifeln dar-
bietet. Vielmehr empfiehlt sich das Verzeichniss der Bundes-
genossen auf dem Monumente gegeniiber dem bei Pausanias afc
das vollstandigere und richtigere, dem sich auch durch Em-
schaltuogen und Transpositionen schwerlich auf helfen lasst D&
begriindet8te Bedenken Schubart's war gegen die auffallendeDe-
dicationsformel gerichtet, die Frick liest: !A7i6\X\ku>vi Set? ff^-
9mia zcov €EU.fjv<ov, was Gottling (Commentariolum de inscription6
monumenti Plataeensis Jenao 1861) mit grosserer Wabrschein-
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Vischer, Kleine Schriften. 209
lichkeit entzifferte: y47t6[l]la)vi &€$ OTaoavr7 avdd-rjii' mcb Mr\-
itav. Auch die Widerlegung dor. epigraphischen Griinde ist
Frick gelungen. Die Schreibung l47tok(ovi statt 14tz6XXo)vi ist
durch andere Beispiele dos einfachen Consonanten statt des
doppelten in alten Inschriften hinlanglich gerechtfertigt. Fur
die verschiedene Form des E auf derselben Inschrift, woran
Curtius Aiistoss nimmt, fiihrt Frick mehrere Beispiele aus Franz
elem. epigr. an, denen Vischer eine von ihm selbst in Athen ge-
fundene Inschrift beifiigen kann. Die Schreibung yfoidaioL statt
ifliaoioc hat Curtius seitdem selbst als zulassig anerkannt
(Gottg. Gel. Anz. 1862, S. 288). Ueber die Stellung der In-
schrift auf den Schlangenwindungen und die Gestalt des Monu-
ments ist noch zu vergleichen Welcker in der Griechischen
Gotterlehre, Bd. 2, 811—816. Wenn Curtius endlich meint,
durch die Ausmeisselung des urspriinglichen Dedicationsdistichons
des Pausanias waren die Schlangenwindungen zerstort worden,
so will Vischer nicht untersuchen, ob es nicht moglich gewesen
ware, durch Ueberarbeitung die Spuren der ausgemeisselten ersten
Inschrift ohne Schaden fur das Werk zu entfernen, er meint
aber, es konne allerdings das Distichon des Pausanias auf dem
Steinpostamente gestanden haben; hier sei es ausgemeisselt d. h.
die Oberflache der Marmorbasis abgenommen worden, die neue
Inschrift aber, das Verzeichniss der sammtlichen weihenden
Staaten, setzte man jetzt auf das Schlangengewinde selbst,
welches fiir solch eine lange Reihe unter einander stehender
Namcn viel geeigneter war als das Postament. Vielleicht ist an
die Stelle des ersten Distichons dann auf der Basis das bei
Diodor XI, 33 erwahnte getreten.
VIII. Seit seiner ersten Reise nach Griechenland wandte
sich Vischer fast ausschliesslich archaologischen oder epigraphi-
schen Studien zu, indem ihm die Inschriften ganz neue Auf-
3chlii88e fiir die Alterthumskunde zu geben schienen, und er war
wegen seiner Genauigkeit und Zuverlassigkeit in der Wiedergabe
des Originals und wegen seiner Vertrautheit mit Geschichte und
Antiquitaten zu solchen Arbeiton wie berufen. Alle diese Arbeiten
hangen auf das Engste zusammen mit seiner Thatigkeit als Vor-
steher der antiquarischen Gesellschaft und der antiquarischen
Sammlung des Museums. Auf seinen Betrieb hatte im Jahre 1839
die drei Jahre vorher unter seiner Mitwirkung gegriindete
historische Gesellschaft eine Commission niedergesetzt, die sich
mit der Untersuchung und Beschreibung der in der Umgegend
vorkommenden Alterthiimer befassen sollte. Im Jahre 1841
wurde dann aber eine selbststandige „ Gesellschaft fur vater-
landische Alterthiimer", gewohnlich antiquarische Gesellschaft
genannt, gegriindet, deren Vorsteherschaft Vischer iibernahm und
iiber dreissig Jahre bis an seinen Tod behielt. Die Mittheilungen
und Vortrage im Schosse dieser Gesellschaft beschrankten sich
jedoch keineswegs auf die heimische Vorzeit, sondern zogen die
Archaologie im weitesten Umfange in ihren Bereich. Die Gesell-
Mittheilungen a. d. hUtor. Lttteratur. VU. 14
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210 Vischer, Kloine Schriften.
schaft gelangte durch Ausgrabungen unci Ankaufe in den Besitz
manoher Alterthiimer, die im Jahr 1849 mit den der Univeraitat
gehorigen, bis dahin auf der Bibliothek befindlichen Antiquitaten
und dem Miinzcabinet vereinigt und in dem neuerbauten Museum in
passender Weise aufgestellt wurden. (Ueber einige Gegen-
standeder S a mm lung von Alterthumern im Museum
zn Basel. Aus der Festschrift zur Einweihung des Museums
1849 mit einer Abbildung. KL Schr. Bd. 2, S. 412—429.) IV
ermiidlich war er bestrebt, durch Ankaufe und durch Schenkungen1)
den Bestand der Sammlung zu mehren, durch Mittheilungeu und
Vortrage das Interesse fur sie zu wecken und zu erhalten,
namentlich aber auch ihren Werth durch eine wohl durchge-
fuhrte Ordnung zu orhohen. (Kurzer Bericht iiber die
fiir das Museum in Basel erworbene Schmid'sche
Sammlung von Alterthumern aus Angst. Universit&te-
progr. 1858. KL Schr. Bd.# 2, S. 430-463 mit einer Tafel Ab-
bildungen.) Hierbei verdient bemerkt zu werden, dass Augst,
das alte Augusta Rauracorum, einige Stunden ostlich von Basel
an der Grenze des Cantons Aargau liegt. Basel selbst ist jiiiigeren
Ursprungs. Nur eine sichere Erwahnung findet sich aus alter
Zeit, bei Ammianus Marcellinus (XXX, 3, 1), der uns meldet,
dass Valentianus IL 374 in der Nahe von Basilia ein Castell ge-
baut habe, mit dem Namen Robur i. e. munimentum, wie man
fruher deutete. Diese Erklarung ist aber falsch ; denn Robur ist
nicht der Name des Forts, sondern der bei den gaUischen
Landesbewohnern ubliche, und daher wohl urspriingliche, Name
der Stadt selbst, diese ist dann von den Romern Basilia
zee Baaileia Konigsburg — (fiaoikevg hiess auch der romische
Kaiser) genannt worden. — Augst oder Raurica ist von L Mu-
natius Plancus 44 v. Chr. gegriindet, wie aus der Grabschrift
von Gaeta hervorgeht. Dass diese Stadt in den ersten Jahr-
hunderten unserer Zeitrechnung zu bedeutender Bliithe sich ent-
wickelte, zeigen uns noch heute die leider von Tag zu Tag mehr
verschwindenden Ruinen. (Basel in der romischen Zeit
KL Schr. Bd. 2, S. 391-406 — [1857]). — Aus diesem Grande
waren die romischen Alterthiimer in Basel selbst seltener, den-
noch wurden durch die Abgrabungen, welche im Winter 1860
zum Zweck einer Strassencorrection hinter dem Munster vorge-
nommen wurden, nicht unerhebliche romische Ueberreste zu Tage
gefordert. (Romische Alterthiimer in Basel [1861]. EL Schr.
Bd. II., S. 407— 411.)
Eine unglaubliche Ausdauer hat Vischer namentlich auf cla$
stiidtische Miinzcabinet verwendet und endlich ausser vielen
*) Daher seine Freudo , einen Kopf des Apollo von Belvedere im Anf*
trage eines Freundes als Geschenk far das Museum und fihnlich den dtf
farnesischen Herakles orworben zu haben, Repliken weltberfthmter Werke,
deren Ankauf noch kurz vorher alle Sachverstandigen in Berlin als fir die
Sammlangen der konigl. Museen hdchst wttnschenswerth erklart hatten. (&
Schr. Bd. n^ S. 311—323.)
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Viscker, Kleine Schriften. 211
romischen und celtischen iiber zwei Tausend griechische Miinzen
zusammengebracht, bestimmt und geordnet. Vergl. die Aufsatze:
Eine romische Niederlassung in Frick, celtische Miinzen
aus Nunningen, und eine Miinze des Orgetorix (1852).
(Kl. Schr. Bd. IL, S. 464—488.) a) Das bei Frick im Canton
Aargau bei dem graben eines Kellers in der Tiefe von vier Fuss
aufgefundene Gemauer gehort vielleicht zu den Grundmauern eines
ehemaJigen Wohnhauses an der grossen Heerstrasse von Augusta
Rauracorum (Rauricum -Augst) nacb Vindonissa (Windisch) iiber
den Mons Vocetius (Bozberg). Nach den mitausgegrabenen
Miinzen wird als Zeit der Zerstorung die Zeit zwischen 354 bis
357 n. Chr. ermittelt, bei einenx Einfalle der Alemannen fand
die Einascherung des Gebaudes statt. (Dazu zwei Tafeln Ab-
bildungen von Bronzegerathen und Miinzen.) b) 17 silberne
Quinare, auf der einen Seite ein behelmter Kopf, auf der andern
ein nach links laufendes Pferd mit Gurt und Ziigel, 11 — 14 Milli-
meter im Durchmesser, zum Theil sehr schlecht gepragt. Am
Interessantesten ist c) die Miinze des Orgetorix. Fundort niclit
bekannt. Ein silberner Quinar von 12 Millimeter Durchmesser,
und, wie die vorher erwahnten, zu klein, um den ganzen Stempel
aufzunehmen. Der Avers zeigt einen unbedeckten rechts go-
wandten Kopf, mit Perlrand. Rechts von dem Kopfe liest man
in lateinischer Schrift: EDV. Hinter dem V fehlt der Raum
fur weitere Buchstaben. Der Revers zeigt die Beine und den
grossern Theil des Leibes einfs Raubthieres, das nach Rechts
schreitet, wie es scheint eines Baren. Der obere Theil des
RUckens, Hals und Kopf, und das Hintertheil fehlen aus Mangel
an Platz. Unter dem Striche liest man GET. Vor dem C und
nach dem T fehlt der Raum fur weitere Buchstaben (Abbildungen
der Miinzen sind beigegeben). Die Umschrift des Averses er-
ganzt Vischer EDVIS i. e. Aeduis und die des Reverses ORCE-
TORIX, erklart sie fur eine Miinze des bekannten helvetischen
Hauptlings (60 v. Chr.), und bezieht den Namen Aeduis auf die
Yerbindung, in die jener mit dem Aeduer Dumnorix getreten
war. — — Romische Miinzen des dritten Jahr-
hunderts, gefunden bei Reichenstein in der Nahe
von Basel im November 1851 (eine Tafel Ab-
bildungen) — Kl. Schr. Bd. II., S. 489 — 565. — 807
Kaisermunzen, die nach Zeit, Silbergehalt, Grosse und Schwere
bestimmt werden. — Ueber die Heimat der vielen griechischen
Miinzen im baseler Museum erhalten wir keine weitere Auskunft.
Schliesslich verdienen noch erwahnt zu werden die „Drei
Grabhiigel in der Hardt bei Basel" (1842 — mit drei
Tafeln Abbildungen — Kl. Schr. Bd. 2, S. 566—586) von un-
bestimmter Zeit und nicht bestimmbarem Volke, einigen Anhalt
erhalt man nur durch die darin gefundenen Leisten- und Hohl-
ziegel, die erst durch die Romer bei den Volkern jener Gegen-
den in Gebrauch gekommen sind. Ausser Scherben von Thon-
geschirr fanden sich in dem ersten und dritten Grabe ver-
14*
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212 Vischor, Kleine Schriften.
schiedene Gegenstande aus Eisen, uamentlich auch einige wenige
Ueberreste von WafFen, nur im dritten Glasperlen, Bern-
stein n. a., in alien bronzene Ringo und Haftnadeln (fibulae)
und Ringe aus Holz, haufig Stucke romischer Ziegel, in alien
ferner Ueberreste von unverbrannt begrabenen Korpern, in alien
vielfache Spnren von dabei angewandtem Feuer, sei es nun zum
Leichenmahle oder zum Leichenbrande. Alles dies, noch mehr
aber die Gestalt der Graber und die Form und Art der Bronze-
gegenstande erinnert lebhaft an die Funde in den neuerdings in
ganz Norddeutschland in so grosser Menge geoflheten Hiinen-
grabern, ja sogar an die bekannten Ausgrabungen Schliemanns
auf dem Grunde des alten Troja, so dass man fur jene alte Zeit
eine Gemeinsamkeit der Sitten und Gebrauche von den Kusten
des Mittelmeers bis zur Nord- und Ostsee voraussetzen darf.
(Vergl. auch Ludwig von Sybel, Ueber Schliemann's Troja, S. 24.
25.) In etwas anderer Weise sucht ein neuerer Forscher ans
dem Vorkommen solcher Bronzegegenstande — die romischen
und griechischen Mtinzen sprechen fur sich selbst — die alten
Handelswege zu bestimmen von den Alpen und der Donau bis
zu den Mundungen der Oder und der Weichsel (v. Sadowski,
die Handelsstrassen der Griechen und Romer durch das Fluss-
gebiet des Dniepr und Niemen an die Gestade des Baltischen
Meeres. Aus dem Polnischen von Albin Kohn. Jena 1877 —
S. 94 IF.).
IX. Eine besondere Sorgfalfscheint Vischer auf die Samm-
lung und Beschreibung „antiker Schleudergeschosse"
(Kl. Schr., S. 7—9, S. 240-258, besonders aber S. 259—284)
verwendet zu haben. Diese Schleuderkugeln ( gland es, poll-
pdideg Xen. Anab. Ill, 3, 17, Polyb. XXVII, 11, oder fiolvpdaivai
Appian. Mithr. 33), von mandeiformiger Gestalt (Spitzkugeln),
waren gewohnlich von Blei, das durch sein Gewicht sich am
Besten dazu eignete, seltener von gebrannter Erde1). Sehr
haufig tragen sie kleine Inschriften. Diese enthalten entweder
einen Namen meistens im Genetiv, des betreffenden Volks, Fiirsten,
Foldherrn, Magistrats, oder auch des Truppenkorpers, der Legion
und dergl., oder auch kleine Spriiche, Wiinsche des Schleuderers,
oder Anreden an den, der getroffen wird, meist spottender, hn-
moristischer Art. Sie haben Schrift auf beiden Seiten, oder
nui* auf einer, oder auf der einen Seite nur ein Monogramm,
oder sie waren auch ganz glatt. (Die Vischer besass oder zu
sehen bekam, hat er alle abgebildet beigegeben.) So befand
sich etwa auf der einen Seite ein Blitz, Dreizack, Stierkopt
J) Thoncrne Caes. B. G. V., 43 als Brandgoschosse, bisher nor in Si-
cilien gefunden. Sie sind in der Kegel von der Grosse eines Hnhnereis und
tragen auf der einen Seite ein aufgedrficktes Wappen, auf der andern eine
Inschrift. Die bedeutende Grosse erklart sich aus dem relativ geringen Ge-
wichte des Materials (a. a. 0., S. 244). — Die absolute Zweckmassigkeit d«r
Form wird aus der Dynamik nachgewiesen von Semper, Ueber die bleiernen
Scbleudergeschosse der Alten. Frankfurt 1859.
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Vischer, Kloine Schriften. 213
Skorpion, oder eine Schlange, oder dem entsprechend die Worte :
Keqavyog, Ni/.t], ^ilfia, Nixy, Ni^rj <diog oder MareQcw, TQwydliov
(Knackmandel), und auf der andern stand : Aa$&, Je!;ai, 2&oaiy
(Dalve, aqiv (aQelv), el oxdvov „mache dir gut Quartier". Feri
Roma, was Mommsen lesen will: Feri Pomp. i. e. Pompeium,
und vielleicht mit Vischer zu lesen ist: Feri Romanos (ital. Ge~
schoss), Gegenstiick: Feri Picentes; — Servi peristis.
Alle vorgefundenen Inschriften sind von Vischer zusamnien-
gestellt a. a. 0., S. 282 — 284. Zuweilen sind die Schleuder-
kugeln in der Nahe des einen Endes durchbohrt, wohl nicht zu
dem Zwecke, urn sie an eine Schnur gefasst zu tragen, sondern
urn kleine Zettelchen hineinzustecken , durch die man ver-
ratherische Mittheilungen an die Feinde kommen liess. (a. a. 0.
S. 9.) Ueber Grosse und Schwere d. S. S. 277 ff., die ein-
schlagigo Litteratur S. 280 fl*..
Mit den oben erwahnten Stimmtafelchen fiir Wahlen, die
bei Styra auf Euboia gefunden sind, kann man vergleichen das
„Richterliche Bronzegerath". (Kl. Schr. Bd. 2, S. 284
— 290.) Jahrlich wurden aus jeder der zehn Phylen sechs-
hundert Richter erloost. Diese sechstausend wurden wieder
durch das Loos, ohne Riicksicht auf die Phylen, in zehn Ab-
theilungen von je funfhundert Mitgliedern getheilt. Es blieben
also tausend lib rig, die wahrscheinlich als Ersatzmanner ver-
wendet wurden. Jeder Geschworene erhielt nun, nachdem er
einer Abtheilung zugeloost war, ein Tafelchen (ucvaxiov), welches
durch einen der ersten zehn Bustaben des Alphabets bezeichnet
war und seinen Namen nebst dem seiner Gemeinde (seines
Demos) enthielt. Solcher Tafelchen sind uns eine Anzahl
erhalten. Es sind langliche schmale Bronzeblattchen, gewohnlich
etwa m 0,10 lang, m 0,02 breit Links nach oben zu ist meist
die Nummer der Abtheilung {u4 — K) in einem runden oder vier-
eckigen Stempel angebracht, der Buchstabe dann erhoht. Seltener
ist dieser eingegraben, was sehr natiirlich, da ja jahrlich mit
jedem Buchstaben wenigstens funfhundert Stiick zu zeichnen
waren. Unter der Zahl der Abtheilung findet sich oft ein runder
Stempel mit der Eule, rechts am Ende ein zweiter Stempel mit
dem Gorgonenhaupt. Ueber die genauere Bedeutung der ver-
schiedenen Stempel, die im Allgemeinen als amtliche Beglaubigung
dienten, ist man noch keineswegs im Klaren. Der Name des
Geschworenen ist immer eingegraben, und zwar in der. ersten
Linie der eigene Name, und, wenn dor Name des Vaters beige-
iugt ist, meist auch dieser, und zwar regelmassig abgekiirzt. —
Auch vou den Tafelchen, die bei der Abstimmung der Richter
gebraucht wurden, haben sich einige Exemplare erhalten. Wenn
namlich die Parteien und ihre Beistande (ovvrjyoQoi) vor dem
Gerichtshofe gesprochen hatten, wurde abgestimmt, einmal oder
zweimal, je nachdem es £in dyatv dxl^iijiog oder Tiprpog war,
d. h. gleich mit dem „schuldigu auch die Strafe bestimmt war,
oder fur diese noch eine zweite Verhandlung erfordert wurde.
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214 Vischer, Kleine Schrifteo.
Hierbei war die geheime Abstimmung ("tQvfidrjv rp^cpi^ea^ai)
Kegel. Es wurden zwei Urnen aufgestellt, und der Richter er-
bielt zwei Stimmsteine. Anfangs sollen dies schwarze und weiase
Mii8cheln oder Steinchen gewesen sein, aber bald wurden diese
durch eheme Tafelchen ersetzt. Von letztern nun war dasjenige,
welches „schuldigu bedeutete, durchbohrt (iprjcpog xe^qvnriniv^
oder diatExqvnriiiivrj\ das andere undurchbohrt (ipfjcpoq arqrjiog
oder rtXrjQrjg). Von bestimmten Beamten wurden dieselben, wenn
abge8timmt werden soilte, den Richtern ausgetheilt, und zwar
vor den Augen der Parteien, damit kein Betrug stattfinden konne.
Das entscheidende {tyrfflog %VQta) legte dann der Richter in die
giltige Urne (yuidog oder yuadiayiog nvqiog), das andere in das
zweite ungultige Gefass (xadog anvQog), welches somit zur Con-
trolle dienen konnte. Solcher Stimmtafelchen waren Vischer
drei bekannt, zwei hatte er 1862 in der Sammlung der Ar-
chaologischen Gesellschaft zu Athen gesehen (das eine durch-
bohrt, das andere nicht), ein gleiches hatte er selbst aus Athen
erhalten (ein nicht durchbohrtes). Das letztere ist eine bronzene
Scheibe von m 0,60 Durchmesser mit einer Axe in der.Mitte,
die m 0,0375 Lange hat und auf jeder Seite der Scheibe etwa
m 0,015 vorsteht (ctvMoKog Aristoteles bei Harpokration). Bei
der Abgabe der Stimme wurde diese Axe zwischen den Daumen
und einen Finger gefasst, so dass Niemand sehen konnte, ob sie
durchbohrt war oder nicht, und das Tafelchen durch die enge
kreuzformige Oeffnung im Deckel der Urne hinabgelassen. So
wurde das Geheimniss vollkomnien gewahrt, obwohl man sah,
wie die Stimme abgegeben wurde. Auf der Scheibe steht nun
im Kreise: WHWOSJHMOZIA (Oeffentliches Stimmtafelchen).
Es scheint, dass auch die Stimmtafelchen noch ausserdem nach
den Abtheilungen bezeichnet waren.
X. Von dem iibrigen epigraphischen Material, welches
Vischer mit so grosser Liebe zusammengebracht und zu ent-
ziffern gesucht hat, diirfte sich nur der geringste Theil ohne
Weiteres fur historische Zwecke verwenden lassen, so interessant
sie auch fur den Philologen sincL Der Grundstock wurde von
Vischer selbst im Fruhling 1853 auf seiner ersten Reise in
Griechenland wahrend etwa drei Monate gesammelt (Epi-
graphische und archaologi sche Beitrage aus
Griechenland. August Boeckh dem Meister auf
dem -Gebiete der griechischen Epigraphik ge-
widmet. Basel, Schweighauser 1855. Kl. Schr.
Bd. 2, S. 1 — 103), wobei er theils durch Mangel an Zeit
(S. 43. 59. 76), theils durch die brennendste Mittagshitze (S. 44),
einmal auch durch einen breiten Wassergraben (S. 17), mehrfacb
bei ziemlich hoch eingemauerten Steiuen durch das Fehlen einer
Leiter (S. 60. 73) behindert und beim genauen Copiren der In-
schriften gestort wurde. Sichereres erlangte er durch die da-
mals angeknupften Verbindungen mit Woodhouse (S. 4), v.Velsen
(S. 64), Rusopulos (S. 116) u. a. Der Inhalt der Inschriften,
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Vischer, Kleine Schriften. 215
die im zweiten Bande der Kleinen Schriften enthalten sind, er-
giebt eine Menge Grabinschriften (meist %cuqe mit dem Namen
im Vocativ), Proxeniedecrete, Ehreninschriften, Beamtenverzeich*
nisse, Ziegelstempel mit den Namen der Prytanen, Stempel auf
den Thongefassen von Knidos und Rhodos, und Vischer ent-
wickelt bei ihrer Deutung oft einen bewundernswerthen Scharf-
sinn, wie er z. B. eine bisher nicht entrathselte Stelle aus einem
Tributverzeichnisse der athenischen Bundesgenossen : ONAP-
XEIIIITPE2 liest: wv aq%u nlyorfi (ein karischer Dynast)
(Epigraphisches 1847. KL Schr. II, S. 236—238), und in
acht bis dahin unverstandlichen Triimmern von Ziegelinschriften
die Theile von (iibrigens schon bekannten) vier Hexametern ent-
deckte, die er liber dem Eingange zn einer Kirche fiand und von
dort abschrieb. Der Inhalt ist, dass Kaiser Jovianus sich riihmt
nach der Zerstorung der hellenischen Heiligthiimer diese Kirche
erbaut zu haben (363 n. Chr.) (KL Schr. II, S. 167. 168). Im
ADgemeinen aber diirfte Vischer zu weit gehen, wenn er auf
ziemlich dunkele Erwahnungen in recht liickenhaften Inschriften
sogleich Schlusse baut, um bisher noch unbekannte Staatsein-
richtungen oder Obrigkeiten festzustellen (z. B. iydorfe S. 26.
7tediav6(.toi S. 33. TtaidiaoKKOQog S. 38). Nacpe v,ai ^6fivaaJ
cmioreivl Die langsten und bedeutendsten Inschriften, die er
uns mittheilt, sind eine kretische und eine lokrische. Die erstere
(Eine kretische Inschrift [1856]. KL Schr. II, S. 104—
115 mit Facsimile) besagt, dass hundert und achtzig Agelen-
mitglieder den Eid geleistet haben, niemals den Lyttiern wohl-
wollend zu sein, sondern ihnen nach Kraften Boses zu thun, da-
gegen Treue und Freundschaft zu halten gegen die Drerier und
Knosier (etwa um 220 v. Chr.), die andere (Lokrische In-
schrift von Naupaktos aus der Sammlung Wood-
house nach der Originalausgabe von J. N. Oikono-
mides — mit Facsimile [1871]. KL Schr. Bd. 2, S. 172—235):
Der Hypoknemidische Lokrer, der an der Epoikie Theil nimmt
und dadurch Naupaktier wird, soil in die vollstandige Gemein-
schaft der leqa nai boia der Stadt aufgenommen werden, — mit
vielerlei Nebenbestimmungen. — Vischer zeigt, dass unter den
Hypoknemidischen Lokrern nicht mit E. M. p. 360 (twv Ao-
X(>c5v oi pav *E7tutvi]iJildioi9 o\ de <Y7tOY.vt](tldioi ovo\io%owai and
Kvrjiiidog %ov OQOvg) die Opuntier zu verstehen seien, sondern
dass die Historiker des funften und vierten Jahrhunderts, Hero-
dot, Thukydides und Xenophon, an der Ostkiiste gegeniiber
Euboia zwischen Boiotien und den Thermopylen nur einen
Zweig des lokrischen Volkes kennen, den sie nach der Haupt-
stadt als den Opuntischen bezeichnen. Dieselben wiirden auch
Ho lo i genannt, im Gegensatz zu den ^Eaniqiot oder 'OCokcci. cf.
Ueber die Bildung von Staaten und Biinden oder
Centralisation und Foderationim altenGriechen-
land (KL Schr. Bd. 1, S. 308—381) wegen der Aoqqoi zoi
Ynoxvanldioi (S. 331) — und iiberhaupt ist in den Zusatzen
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216 ViBcher, Kleine Schriften.
zu dieser Schrift das, ausgedelinte seitdcm (1849) erschienene epi-
graphische Material ausgiebig benutzt. Aber auch fur die Abhand-
lungen: Kim on (Bd. 1, S. 1—52 [1846]), Alkibiades und
Lysandros (Kl. Schr. Bd. 1, S. 87—152 [1845]), DieOli-
garchischeParteiunddieHetairieninAthen(a.a0.t
S. 153 — 204 [1836]) lagen dem Herausgeber Handexemplare mit
reichlichen Nachtragen und Berichtigungen vor. Alles neu Hinzuge-
kommene ist von ihm durch eckige Klammern bemerkbar gemacht
XI. Schliesslich will ich noch die beiden litterarhistorischen
Abhandlungen : Ueber die Benutzung der alten Ko-
modie als'geschichtlicher Quelle (KL Schr. Bd. 1,
S. 459—485 [1840]) und Ueber das Historische in den
Reden des Thukydides (a. a. 0., S. 415—458 [1839])
kurz beriihren. Die erstere Schrift resumirt Vischer selbst dahin,
dass fiir die Beurtheilung der einzelnen Charactere und fur Aus-
mittlung einzelner Thatsachen die Komodie fur eine im Ganzen
unlautere Quelle zu erklaren sei, welche nur durch Verbmdung
mit andern Nachrichten und auch da nicht immer gelautert
werden kann (die Angriffe auf Demagogen und Feldherrn ver-
gleicht er mit der Sprache der „Oppositionsorgane in den Landeni,
welche Pressfreiheit haben"). . Da aber der Boden der Komodie
der der Wirklichkeit sei, da die allgemeinen Zustande immer so
weit dieser entsprechend geschildert werden mussten, dass die
Zuschauer sich darin fanden, so sei die Komodie fiir Sitten, Ge-
brauche und Einrichtungen aller Art eine wahre geschichtlicbe
Fundgrube. Den Hergang in den Volksversammlungen, das Treiben
der Gerichtshofe und der Tarteien, die Erziehung des athenischen
Knaben, die Beschaftigungen und Vergniigungen des Jiinglings.
die Bediirfnisse und Geniisse des Volks, die Anordnung und den
Character mancher Feste, mit einem Worte, das innere Leben
Athens lerne man aus Aristophanes und aus der alten Komodie
uberhaupt besser erkennen, als aus den Historikern. cf. Miiller-
Striibing, Aristophanes und die historische Kritik. Leipzig 1873.
In Bezug auf Thukydides schliesst er sich im Allgemeinen
den Ansichten Roschers und Poppo's an. In der oben genanuten
Schrift aber vertheidigt er denselben, der Jahrtausende hindurch
als ein „rerum gestarum pronunciator sincerus et grandis", als
ein „rerum explicator prudens, severus et gravis" gegolten, gegen
die Vorwiirfe der Parteilichkeit und der Unwahrhaftigkeit. Zu-
nachst hatte Adolf Schmidt in seiner Recension dea
Brucknerschen Werkes iiber Philipp, Amynta»T
Sohn, Konig von Macedonien (Zimmerm. Zeitschr. ffir
Alterth. W. 1837. N. 94, S. 763) behauptet, Theopomp sei
trotz seiner krassen Parteilichkeit wiirdiger, der Geschichte
Philipps zu Grunde gelegt zu werden, als Thukydides der des
peloponnesischen Krieges. Eine grobkornige Liige werde den
gesunden Forscher nie in Versuchung fuhren, und vorausgesetzt,
dass bei Thukydides und Theopomp das rein factische nicht ge-
rade umgedreht sei, mussten die krassen Schattirungen jederzeit
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Vischer, Kleine Schriften. 217
dem Historiker willkommener sein, als die zarteu, unmerklich in
einander iibergehenden. Wir konnten also von Thukydides etwa
erfahren, wie viel Schiffe in einer Seeschlacht einander gegeniiber
gtanden, aber den politischen Zustand, den wir bis dahin mit
Meisterhand von ihm gezeichnet glaubten, sei keiner mehr so
thoricht, aus ihm kennen lernen zu wollen. — Den Beweis fiir
so gewagte Behauptnngen war A. Schmidt daraals sohuldig ge-
blieben, und Vischer konnte nicht ahnen, dass jener nach bei-
nahe einem Menschenalter in einem sehr umfangreich angelegten
Buche mit sehr zuversichtlichem Tone und wieder fast ohne einen
andern Beweisgrund als den der durch vieljahriges Studium er-
langten Ueberzeugung (die Belege werden im zweiten Bande
verheissen) als Hauptquelle fiir das Zeitalter des Perikles mit
Hintansetznng des Thukydides den liigenhaften Stesimbrotos er-
klaren wtirde (vergl. iiber die ganzliche Unzuverlassigkeit des
Stesimbrotos Vischer, Kl. Sehr. Bd. 1, S. 6. 10. 26. 38):
Adolf Schmidt, Das Perikleische Zeitalter. Dar-
stellung und Forschungen. I. Darstellung mit
vier kritischen Anhangen. Jena. Dufft 1877. Be-
urtheilt und widerlegt in v. Sybels Historischer Zeitschrift 1878,
Heft 2, S. 209—226 von Arnold S chafer in dem Aufsatze:
Aus den Zeiten des Kimon und Perikles.
Noch weiter gehe Ogienski, Pericles et Plato, inquisitio
historica etphilologica,Breslau 1837. Pericles sei nach seiner
Ansicht ein gemeiner Routinier gewesen, Thukydides kein wahrer
Geschichtsschreiber, sondern ein parteiischer Memoirenverfasser,
wie es deren in Frankreich so viele gebe. Er wird sodann ein
characterloser, durch unsteten Ehrgeiz von einem Berufe in den
andern geworfener Mensch, ohne Sinn fiir Recht und Sitte, fur
Glaube und Religion, ein Verrather und Feigling genannt. In
wegwerfender Manier wird dann der von Kriiger als unumstoss-
lich bewiesene Umstand abgewiesen, dass Thukydides sein Werk
erst nach Beendigung des Krieges ausgearbeitet habe. Ogienski
iibergeht die Angabe der Pamphila, dass Thukydides zu Anfang
des Krieges kein Jiingling mehr gewesen sei, und folgt der ihm
bequemeren Angabe des Markellinos. In der Stelle des Diog.
Laert. II, 57, wo es von Xenophon heisst : keyerai d\ oil %al vd
Qovxvdidov ftifilia hxv&avovra vtpeleod-ai dwd/devog avtog
dg do^av rjyayev, iibersetzt er falsch Xav&dvovra prae timore
celata (statt „noch nicht ins Publikum gekommen"). Endlich
schliesst er in sehr naiver Weise mit den Worten: Qui hoc de
Thucydide iudicium indignum putat, ex eo quaerimus, quo iure
liberalius et honestius sibi postulet, qui ipse de natura humana
illiberaliter et inhoneste iudicat. Eine "Widerlegung desselben
zu untemehmen, halt Vischer fur verlorene Zeit und Miihe.
Weit besonnener ist Pfauin der Schrift: Meditationes cri-
ticae de orationibus Thucydideis, Quedlinburg und
Leipzig 1836. Die Reden, welche Thukydides seiner Geschichte
eingeflochten habe, seien nicht nur frei behandelt, sondern zum
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218 Vischer, Kleine Schriften.
grossen Theile auch ohne alio historische Basis, vom Redner nur
erfunden. Diese Behauptung ist noch nie mit soldier Bestimmtheit
hingestellt. Zwar sage Dionysios bereits, Perikles habe im pelo-
ponnesischen Kriege keine Leichenrede gehalten. Heilmann in
den Kritischen Gedanken von dem Charakter und der Schreibart
des Thukydides, S. 25: „So sind die eingeschalteten Reden beim
Thukydides, wie es scheint, grossentheils za diesem Ende er-
funden, wenigstens sehr vortheilhaft genutzet worden." Aehn-
lich Meierotto, Memoire sur Thuoydide, S. 518—538, und Ulrici
„Charakteristik der alten Historiographie" spricht von laDgen,
oft rein erdichteten Reden des Thukydides und von seiner Ge-
wohnheit, Reden nach Belieben einzuschalten. Aber Niemand
bat vor Pfau diese Meinung planmassig aus dem Historiker aelbst
zu erweisen gesucht. Thukydides sagt namlich I, 22: Kal o<ta
uev Xoyq) el/cov Huaoxoi, -jj fxellovxeg 7toleprjoet,v ^ h> avtij)
rjdrj ovteg, %aXsTtdv xijv aKQipeiav avxfjv xwv Xe%&£vxw dw-
livrjfioveiocci tjv i/nol xe wv avxog rj%ovaa '/ml xolg alkfih
7to&ev ifxol dnayyiXXovaiv wg <P av idoxovv ifiol ?xa-
oxoi TtBQi x&v del 7taQ0VTU)v xd diovxa jidXiax' eimh
ixo/xivcp ox i iyyvxaxa xrjg £vfi7td(jr]g yvci^irjg xwv dXy&as
Xe%&ivxiov ovzcog eiQTjxai. Zu dieser Stelle sagt Poppo ganz
richtig: Hinc condones tales fecit, quales, ut ipse quidem iudi-
cabat, si habitae essent, singulis locis atque temporibus maxime
consentaneae fuissent. Noluit tamen eas, ut ab aliis historicis
factum est, prorsus confingere, sed etiam hie, quantum fieri pot-
«rat, veritatis studiosus, quum verba ipsa oratorum reddere
neque posset et fortassis interdum etiam nolle t, certe univemm
sententiam et argumentum orationum vere habitarum quam
maxime servavit. Dieser Auffassung ist Pfau eutgegengetreten,
er unterscheidet to: dXrj&iog Xe%d-ivxa (orationes revera habitae)
und ovx, aXrrdxog Xex&e'vxa (frei erfundene L e. tag av Ho-
kovv avxqi enaaxoi neqi xwv del na^ovxwv xd deovxa pa-
Xiox1 eifteiv). MdXiaxa ubersetzt er mit „immerhin, meinet-
wegen", was es nicht bedeuten kann, sondern es ist entweder
zu xd diovxa zu Ziehen: „Das Passendste" oder zu dem Ge-
danken: xd diovxa elrtelv wpotissimum": „Wie ich glaubte, cUws
Jegliche am Ehesten passend gesprochen haben wiirden". Also
hat Thukydides, von der Unmoglichkeit iiberzeugt, die Reden
wortlich wiederzugeben, nur so weit, als es moglich war, den
Hauptpunkt derselben zu Grunde gelegt und auf dieser Basis
dann den Redner so sprechen lassen, wie es ihm angemessen
schien. Er hat also die wirklichen Reden gewissermassen
idealisirt. Dieses Ergebniss erweist Vischer in einer langern
Auseinandersetzung an den einzelnen Gattungen der Reden and
kommt zu dem Resultate: Wir haben auch nicht bei einer ein-
sigen Rede Ursache, sie als rein erfunden anzunehmen, sondern
alle stehen auf historischem Boden. Zugleich aber weichen sie
alle in der Form von den wirklich gehaltenen ab, denen ut
stufenweise naher oder ferner stehen : am Nachsten ohne Zweifel
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Vischer, Kleine Schrifteu. 219
die des Perikles, weiter schon die iibrigen Reden athenischer Staats-
manner, noch weiter die Gesandtschaftsreden ; unter diesen wieder
die naher, welche einzelnen Personen gehoren, als die, welche ganzen
Gesandtschaften zugeschrieben sind. VergLLangreuter, numora-
tiones Thucydideae revera habitae sint, an exipsa scrip-
toris mente emanaverint, quaeritur. Cell. 1853. C. Tiesler,
iiber die Reden des Thukydides, Posen 1854. 4. H. Stein-
berg, BeitragezurWiirdigungderThuc. Re den. Berlin 1870.
XII. Seit den ungliicklicben Wirren und Kampfen der vier-
ziger Jahre war Vischer das offentliche Leben verleidet. Er
sohreibt (1851), mehr als je werde es ihm klar, wie in gewissen
Zeiten des Alter thums die edelsten Manner dem Staatsleben den
Rucken wandten und in der Philosophie und anderer Wissen-
scbaft Trost und Befriedigung suchten, solche Manner hat man
oft falsch beurtheilt, wir leben in Zeiten, sie zu verstehen. (Kl.
Schr. Bd. 2, S. XXXVII.) Dessen ungeachtet trat er iiberall
hervor, wo es zu handeln gait, und bewies stets den Muth seiner
Ueberzeugung, besonders auch als seiner Vaterstadt, zu Gunsten
einer neu zu begiiindenden eidgenossischen Centraluniversitat,
die Hochschule genommen werden sollte, wodurch Basel eine
blosse Handels- und Fabrikstadt, ein schweizerisches St. Etienne
oder Miihlhausen geworden ware (a. a. 0., S. XXXV). Seine
Vaterstadt Basel, die Universitat Basel und deren Sammlungen,
8 e i n Heim und s e i n e n schonen Vischerischen *Garten konnte
er nie genug riihmen (a. a. 0., S. XIX). Jedoch reichte sein
Blick auch iiber die Ringmauern hinaus und erfasste mit Freiheit
die Weltverhaltnisse. Seit seiner ersten Reise nach Griechenland
interessirte ihn lebhaft die orientalische Frage. Das wahre
Interesse der westlichen Machte erblickte er darin (1853): ein
moglichst stark es christliches Reich siidlich der Donau bis nach
Griechenland hinab zu begriinden, was freilich bei dem vor-
handenen Stoff eine schwere Aufgabe sei, an der man zu ver-
zweifeln scheine. Den Versuch aber, die turkische Ruine dadurch
vor ganzlichem Einsturz zu bewahren, dass die Russen von Con-
stantinopel fern gehalten wiirden, sah er als eine blosse Negation
an, die auf die Dauer zu Nichts fiihren werde. Solle aber Etwas
geschehen, so miisse man grossartig handeln und nicht Staaten
hinstellen, denen man, wie dem armen Hellas, zum Voraus keine
Lebensfahigkeit gebe (a. a. 0., S. XLI). — Ueber den deutsch-
franzosischen Conflict urtheilte er (1870): Ein athenischer Ge*
sandter habe einst den Lakedamoniern, die alle moglichen Ver-
sicherungen anboten, gesagt: er werde nur dann ihnen glauben,
wenn sie bewiesen, dass, auch wenn sie wollten, sie nichts Boses
mehr thun konnten; denn dass sie es immer wollen wiirden, das
wisse er ganz sicher. Gerade so sei es mit den Franzosen. Daher
sich denn seiner Meinung nach nur iiber die Zweckmassigkeit,
nicht aber iiber die Rechtmassigkeit der von Deutschland er-
strebten Mittel, urn Frankreich das Konnen zu benehmen, streiten
lasse (a. a. 0. XLIII). — — Nicht ohne Besorgniss nahm
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220 Programmenachau.
Vischer nach dem Frieden eine Reihe bedenklicher Symptome
in Deutschland wahr, die ihn daran zweifeln liessen, dass es mit
dem grossen deutschen Reiche so vortrefflich stehe (1873). Nicht
das kleinste war, seiner Ansicht nach, der krasse Materialism^
der sich besonders in den hochsten geistigen Regionen kund gebe.
Was soil man dazu sagen, schreibt er, wenn man hort, dass eine
der ersten wissenschaftlichen Celebritaten, eingeladen in einer
fromden Stadt einige Vorlesungen zu halten, darauf nur ein-
gehen will, wenn man ihm fiir jede Vorlesung 1000, sage tausend,
Thaler garantirt! gerade wie eine Tanzerin (a. a. O. XLIV).
Solche, die Vischer ferner standen, scheuten ihn nicht selten
wegen seiner geistigen Scharfe und stcten Kampfbcreitschaft;
man hielt ihn fiir einen „Verstandesmenschenu, und doch hatte
er viel Gemiith und ein treues, gutes Herz (a. a. 0. XLIV).
In den letzten Jaliren seines Lebens trug er sich mit dem
Gedanken, die Herausgabe seiner „Kleinen gesammelten Schriften*
vorzubereiten. An der Ausfiihrung dieses Vorhabens hinderten
ihn seine angestrengte Thatigkeit als Leiter des Baslerischen
Erziehungswesens, spater seine langwierige Krankheit und der Tod
(Gelzer. V.)
Colberg. Dr. A. Winckler.
XXXXVI.
Programmenscliau.
Mittelalter.
1) Gymnasium zuBochum 1877/78. Carl Pottgieaser;
Die Einfiihrung des Christenthums bei den Volkeri*
germanischer Abstammung. Bochum 1878.
Diese Arbeit bietet in lesbarer Form nichts Neues.
2) Realschule I. 0. zu Tarnowitz. Ostern 1878.
Ueber die Reichstheilungen dor Sohno Chlodovechsl.
und Chlothars I. Vom ordentl. Lehrer Dr. Franz
Urbich.
Es ist schon sehr schwer zu bestimmen, welches die Greiwen
von dem Reiche Chlodovechs I. gewesen sind. Als Nordgreioe
nimmt der Verf. den Rhein an; im Osten reichte seine
Herrschaft iiber denselben hinaus, doch ist kaum anzugeben, wie
weit sie sich dahin ausdehnte. Im Siidosten und Siiden ist die
Grenze schwankend.
Wenn uns hierbei schon die Queilen im Stiche lassen, w
auch bei der Theilung des Reiches unter seine vier Sohne; wir
konnen nicht einmal mit Bestimmtheit angeben, ob wirklich das
Land oder nur die Einkiinfte getheilt sind, nur das Eine ist bei
den beiden Erbtheilungen von 511 und 561 ersichtlich, dass die
Grosse der Loose nach dem Alter abgestuft wurde. Auch ist w
bemerken, dass sich die Anzahl der Theilreiche nach der Zahl
der erbenden Sohne richtete, es erhielt aber doch jedes Reid
einen moglichst einheitlichen Character und einon auf nationals
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Programmenschau. 221
Grundlage beruhendea Hauptbestandtheil. Dies beweist der
Verf. durch die Detailuntersuchung.
3) Gymnasium zu Fulda. Ostern 1878. Die Grtin-
dung Fuldas. Von Oberlehrer Jakob Gegenbaur.
Ein lesbarer popularer Vortrag iiber das Thema, ohne dass
wesentlich Neues geboten wtirde,
4) Konigliches Gymnasium zu Arnsberg. Ostern 1878.
Historischer Werth des Poeta Saxo fur die Geschichte
Carls des Grossen. Vom Gymnasial-Lehrer Dr. Hubert
Brie den.
Zuerst giebt der Verf. kurz den Inhalt des Werkes an,
daun die Urtheile, welche iiber den Werth desselben gefallt sind.
Darauf untersucht der Verf., wie der poeta seine Quellen
benutzt hat, und weist nach, dass er die Annalen Einhards nicht
genau wiedergiebt. Diesen folgt er bis zum Ende des Jahres 801.
Die Zusatze, die er gemacht hat, sind bisweilen recht hiibsch,
haben aber keinen historischen Werth.
Vom J. 802 an dient eine Halberstadter Chronik dem poeta
als Quelle, die nur sparliche, oft den Reichsannalen wider-
sprechende Mittheilungen darbot. Das fiinfte Buch beruht auf der
vita Caroli. Die Zusatze, welche der Dichter zu seinen Quellen
liefert, beschranken sich fast nur auf Schilderungen von Orten
und Gebauden oder geben seinen Empfindungen Ausdruck; sie
sind daher von keinem Werthe fur die Geschichte. Die wenigen
Nachrichten, welche der Poet mittheilt und die er nicht in uns
bekannten Quellen vorfand, sind von geringer Bedeutung. Die
Mittheiluxgen iiber den sog. Frieden von Selz, der von den besten "~-
Oeschichtsschreibern aus guten Griinden verworfen wird, sind in-
8ofern nicht ohne historischen Werth, als sie eine Reihe von
Angaben enthalten, die den Zustand Sachsens, wie er nach dem
Kriege eintrat, im Ganzen richtig darstellen.
5) Hohere Biirgerschule zu Pillau. Ostern 1878. Das
Verhaltniss des deutschen Konigthums zum sachsi-
schen Herzogthum im zehnten Jahrhundert. Vom
Lehrer Preiss.
Das Resultat seiner Untersuchung giebt der Verf. in folgen-
den Satzen:
1) Bei dem Streite Konig Konrads mit dem sachsischen
Herzoge Heinrich handelte es sich nicht um die Abtretung
einzelner thiiringischer Landstriche, sondern um eine Einschrankung
der herzoglichen Machtvollkommenheit iiberhaupt und aller Wahr-
scheinlichkeit nach der Freiheit in den kirchlichen Angelegenheiten
des Landes.
2) Der Billunger Hermann war nur Markgraf. Die ihm von
Zeit zu Zeit iibertragene herzogliche Gewalt iiber Sachsen tragt
den Character der Stellvertretung; doch blieb ihm der Titel
ernes dux
3) Erst seit dem Jahre 986 ist mit historischer Gewissheit
ein sachsischer Herzog als Vertreter des Stammes nachzuweisen.
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222 Programmenschau.
4) Die Grundlage fiir das neue Herzogthum ist in der
ehrenvollen Auszeichnung zu suchen, welche die StellvertretaBg
des Konigs dem Hause der Billunger bringen musste.
6) Gymnasium und hohere Biirgerschule zu "Wesel
Ostern 1878. Beitrage zur Geschichte Bruno's L von
Coin vom Gymnasiallehrer Carl Martin.
Der Verf. weiss recht wohl, dass er nach den ausge-
zeichneten Arbeiten, welche schon iiber Bruno erschienen sind,
nicht viel Neues bringen kann; er versucht das auch gar nicht^
sondern will nur die kirchlich-theologisclie Stellung und Denk-
weise Bruno's etwas bestimmter darlegen, als das bisher ge-
schehen ist. Er fasst demnach alle die Ziige in ein Bild zu-
sammen, die wir in den Geschichtswerken zerstreut finden.
7) Realschule zu Vegesack. Ostern 1878. Zur
Characteristik Adalberts von Bremen vom Director
Dr. Ebeling.
Der Verf. will nichts Neues geben, sondern nur eine Zn-
sammenstellung des Bekannten, damit der grosse Erzbischof
fernerhin richtiger beurtheilt werde als es bisher meist geschehen
ist und geschieht. Es ware zu wtinschen gewesen, dass das
Thema etwas eingehender behandelt ware. Da das schone Buch
von Dehio wohl nicht in viele Hande gekommen ist, so war es
ein gliicklicher Gedanke, in einer Programmarbeit die neuen An-
schauungen weiter zu verbreiten, doch — wie gesagt — ver*
missen wir an dieser Arbeit die Ausfiihrlichkeit.
8) Hohere Biirgerschule zu Biedenkopf. Ostern 1878.
Burchard U. von Halberstadt, der Fiihrer der Sachsen
in den Kriegen gegen Heinrich IV. von dem ordentL
Lehrer Dr. Otto Wackermann.
In der Vorbemerkung bespricht der Verf. das Verhaltniss
seiner Arbeit zq denen seiner Vorganger. Die eigentliche Ab-
handlung beginnt er mit der Darlegung der Gesichtspuncte,
welche uns leiten miissen, wenn wir die Kampfe der Sachsen
gegen Heinrich IV. richtig beurtheilen wollen. Unter den Gegnern
Heinrichs IV. treten drei Geistliche hervor, die nahe verwandt
waren, namlich Anno v. Coin, Wezel v. Magdeburg und Burchard
v. Halberstadt, doch ist von ihnen sicherlich der letztere der
erbittertste und gefahrlichste Feind des Konigs. Burchard hies,
ehe er Bischof von Halberstadt wurde und den Namen seines
Vorgangers annahm, Bucco, und ist unter diesem Namen noch
im Kinderreim bekannt. Er stammte aus der vollfreien aber
nicht sehr angesehenen schwabischen Familie derer von Stenss-
lingen. Sein Geburtsjahr ist 1028. Als sein Oheim Anno 1056
Erzbischof von Coin wurde, erhielt er die bevorzugte Stelle eines
Propstes zu Goslar; er war also in Sachsen eigentlich em
Fremdling. Von der Hofkirche zu Goslar wurden unter Hein-
rich HI. und Heinrich IV. viele bedeutende Bisthiimer besetet
So wurde auch Burchard von hier aus im J. 1060 zum Bischof
von Halberstadt berufen, wobei sein Oheim Anno gewiss thaMge
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-'*3*r.
Programmen8chau. 223
Hiilfe gcleistet hat. Um seine Diocesanen zu gewinnen, hat er
fiir sein Bisthum alles nur Mogliche gethan; so hat er um Ge-
ringeres zu iibergehen die Kloster zu Ilsenburg und auf dem
liny gestiftet. Ersteres trug besonders mit zur Verbreitung der
Cluniacensischen Ideen in Norddeutschland bei.
Der Verf. schildert dann, wie Burehard allmahlich in seiner
Stellung zur bittersten Feindschaft gegen Heinrich IV. gefiihrt
wurde und dabei einen Heifer an seinein Oheim Wezel von
Magdeburg fand. Natiirlich schloss er sich an Gregor VII.
an. Der Verf. erzahlt die Theilnahme Burchards an den
Kampfen gegen Heinrich, des Bischofs Gefangenschaft und Flucht,
seinen Antheil an der Erhebung Hermanns von Luxemburg, er
schildert die Zeit seines grossten Einflusses, zeigt, wie derselbe
zu schwinden begann und wie er endlich im J. 1088 bei einer
Emporung der Burger in (Joslar schwer verwundet wUrde.
Man brachte ihn von da in das Kloster zu Usenburg, wo der
gewaltige Mann nach wenigen Tagen starb.
Der Verf. entrollt in sehr lesbarem Deutsch ein interessantes
Lebensbild. Er war sich wohl bewusst, dass er nicht viel Un-
bekanntes bringen wiirde; er wollte das auch nicht; aber das,
was er erstrebte, das hat er erreicht.
9) Gymnasium zu Ciistrin. Ostern 1878. Siegfried
von Eppenstein, Erzbischof von Mainz. (Erster Theil.)
Von Hugo Donniges.
Mehrere Osterprogramme behandeln die Zeit Heinrichs IV.;
zu diesen Arbeiten gehort auch die vorliegende. Der erste Ab-
schnitt derselben, die Einleitung, bespricht die allgemeinen politi-
schen und kirchlichen Verbal tnisse beim Tode Heinrichs HI.;
der zweite Abschnitt die ersten Regierungsjahre Heinrichs IV.
Bis S. 13 giebt der Verf. in ganz gewandter Darstellung nur
Bekanntes, erst da geht er auf das Thema ein. Er erzahlt, wie
der Mainzer Erzbischof, einem Zuge der Zeit folgend, gegen die
Privilegien der Abtei Fulda aufgetreten sei. Diese Abtei hatte
namlich wie viele andere bedeutende Kloster sich der Gewalt
des zustandigen Erzbischofes durch papstliche Gnade zu ent-
ziehen versucht. Dass der Papst solche Gesuche begunstigte, ist
leicht erklarlich, da ihm daran lag, die Macht der selbstandigen
Biechofe zu brechen. Dieser Zwist zwischen Mainz und Fulda
schien ein Ende finden zu sollen, als Siegfried von Eppenstein,
Abt von Fulda, im J. 1060 Erzbischof von Mainz wurde. Doch
geschah das nicht, da der neue Erzbischof keine Anspruche seines
Stiftes aufgab. Erst im J. 1073 wurde diese Angelegenheit be-
endet.
Im dritten Abschnitte erfahren wir, dass Siegfried sich mit
Anno v. Coin verbindet und dabei betheiligt war, als man Hein-
rich IV. seiner Mutter raubte. Anfangs theilte Anno mit Sieg-
fried die Herrschaft, dann aber verdrangte er ihn und Siegfried
wurde so in den Schatten gestellt, dass der Papst zweien seiner
Suffragane das Pallium verlieh, es ihm aber vorenthielt Auch
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224 Programmenscnau.
Adalbert liess nach dem Sturze Anno's den schwachen Siegfried
am Regiment nicht Antheil nehmen. Das bewog den Erzbischof
im J. 1064 sich auf eine Wallfahrt ins heilige Land zu begeben.
Damit endet die Abhandlung.
10) Hohere Biirgerschule zu Duderstadt. Ostern
1878. Urkundenbuch des Klosters Teistungenburg
im Eichsfelde. Erster Theil. Die Urkunden bis zum
J. 1320. Bearbeitet von Dr. Julius Jaeger.
Dies Cistercienserinnen-Kloster lag im Kreise Worbis zwischen
Stadt Worbis und Duderstadt. Es war von der Regierung des
Konigreichs Westfalen 1809 aufgehoben und wurden Giiter und
Gebaude verkauft. Das Archiv verblieb bis 1870 im Kloster,
kam dann aber in's Staats -Archiv nach Magdeburg. 76 Ur-
kunden werden mitgetheilt, welche meist Schenkungen enthalten.
11) Liidenscheid. Hohere Biirgerschule. Ostern 1878.
Die Wahl Heinrich Raspe's am 22. Mai 1246 von
Dr. Friedrich Reuss.
Es wurde dem Papst Innocenz IV. schwer, einen geeigneten
Gandidaten fur die Kaiserkrone gegen den Staufen Friedrich E
herauszufinden, und es gelang erst nach manchen Unterhandlungen
den Landgrafen Heinrich Raspe von Thiiringen zu bewegen,
diese Rolle zu spielen. Der Papst sandte in dieser AngelegenLeit
Philipp, den Erwahlten von Ferrara, nach Deutschland, der die
Wahl eifrig betrieb. Diese fand bei Wiirzburg in Veithochheim
statt. Die Zeugen, die in der von Falke cod. trad. Corb. p. 404
edirten Urkunde genannt werden, lassen auf eine Falschung
schliessen.
In dem zweiten Theile der Arbeit weist der Verf. nach,
dass der Papst dabei eine Niederlage erlitten hat, indem weder
die Mehrzahl der Fiirsten noch der Stac^te fur H. Raspe war.
12) Realschule I. 0. zu Halle Ostern 1878. Zur
Kritik von Johann von Victring's „Liber certamm
historiarum". Erster Theil. Von Dr. Mahrenholtz.
Eirier der bedeutendsten Historiker des spateren Mittelalters
ist der Abt Johann von Victring. Von seinem Leben wissen wir
nicht viel, doch steht fest, dass er 1311 Abt in Victring wurde
und mit vielen bedeutenden Mannern verkehrte. Sein Geschichts-
werk, welches die Jahre 1212 — 1343 umfasst, beweist uns das.
Wenn nun auch unser Abt in kirchlichen Dingen manche
freiere Richtung anerkennt, so entscheidet er sich zuletzt doch
immer fiir den Papst, ebenso streitet er trotz aller VTerehrong
fur Haus Habsburg stets fiir die Kirche, sobald etwa ein Conflict
zwischen Staat und Kirche eintritt. Dann geht der Verf auf
die Einzelheiten der Chronik ein.
13) Realschule 1.0. in Harburg. Osternl878. Tolomeo
von Lucca. Von Dr. Dietrich Konig.
Zuerst bespricht der Verf. die neue Ausgabe des Tolomeo
von Minutoli, deren Vorrede knaher characterisirt wird. Der
erate Theil derselben behandelt T.'s aussere Lebensschicksak
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Programmenschau. 225
(1236 — 1327). Dann werden die Werke dieses Mannes durch-
gesprochen.
14)Kaiser-Wilhelm-GymnasiumzuC61n. Osternl878.
Mittheilungen aus Acten der Universitat Coin. Die
Aufzeichnungen der erstenMatrikel(1388 — 1425) iiber
die Eroffnung der Universitat und iiber das erste
Studienjahr (22. Dec. 1388 bis 5. Febr. 1390) vom
Director Dr. Wilhelm Schmitz.
Nach einer kurzen Einleitung folgt der Abdruck der Ma-
trikel.
15) Progymnasiumzu Schlawe. Osternl878. Einiges
zur Geschichte der Stadt Schlawe bis zu ihrer Be-
strafung durch Herzog Bogislaw X. wegen der Ent-
hauptung Borchards von Winterfeld im J. 1485 mit
26 Urkunden aus den Jahren 1412 — 1486. Theil 4.
Vom Rector Dr. Johannes Becker.
Die Stadt Schlawe besitzt aus der Zeit von 1411 — 1486
26 Urkunden. Sie sind im Anschluss an die frtiher veroffent-
lichten mit den Nummern 44 — 69 bezeichnet worden. Ihrem
Inhalte nach sind sie in mehrere Gruppen zu theilen:
No. 52, 61, 64 enthalten Bestatigungen der der Stadt ver-
Hehenen Privilegien.
„ 44 und 47 enthalten Stadtebtindnisse.
„ 48, 53, 54, 55—58, 62, 63 enthalten Urfehdebriefe.
„ 45, 46, 49, 50 berichten von Vicarienstiftungen und
sind meist zugleich Schuldbriefe.
„ 51, 59 und 60, 65 enthalten Nachrichten iiber das
Johanniterhaus und iiber Hospitaler. Auch diese sind
meist Schuldbriefe.
„ 66 — 69 beziehen sich auf die Enthauptung des Herzog-
lichen Lehnsmannes Borchard Winterfeld.
"Weshalb die Stadt gegen diesen Herrn so streng verfahren
ist, ist nicht bekannt; das aber steht fest, dass Herzog Bogislaw X.
diese That der Burger benutzte, um das ubermuthige Schlawe
zu beugen. Er nahm ihnen namlich ihr bis dahin vollig unab-
hangiges Stadtgericht.
16) Gymnasium zu Eutin. Ostern 1878. Einige
Abschnitte aus Cogelius „Utinisches Bischofsge-
dachtniss" vom Director Pausch.
Der Verf. dieses Werkes Fr. Cogelius war seit 1656 Lehrer
an der Eutiner Schule und zahlte zu den Dichtern jener Zeit.
Er war unter dem Namen „der Scheue" Mitglied der frucht-
bringenden Gresellschaft. Dieses Werk des Cogelius ist unge-
dmckt. Es werden daraus folgende Abschnitte mitgetheilt:
Anderer Theil. Der I. Haupt-Satz. Von Ursprung des
Bistuhms, und dem ersten Bischoffe zu Liibeck. Dritter Theil.
Der I. Haupt-Satz. Von der Evangelischen Lehranderung. Aus
dem „H. Haupt-Satz". Der IH. Haupt-Satz. Von dreyen
Bischoffen die im Bistuhm nicht bestetigt seyn. Der IV. Haupt-
Mitthcllnngcn a. d. hlstor. LiUeratur. VU. 15
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226 Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit.
Satz. Von zweyen umb Uthin woll verdienten Bischoffen. Der
VI. Haupt-Satz. Vom HE. unter den Hertzogen als Bischoff
seit der Evangelischen Lehrzeit.
Berlin. Foss.
xxxxvn.
Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit in deutscher Be-
arbeitung herausgegeben von G. H. Pertz, J. Grimm,
K. Lachmann, L. Banke, K. Bitter. Fortgesetzt ion
W. Watte nbach. Leipzig, Franz Duncker.
Lieferung 6. Paulus Diaconus und die iibrigen Geschicht-
schreiber der Langobarden. Uebersetzt von Dr. Otto Abel
Zweite Auflage bearbeitet von Dr. Beinhard Jaeobi.
8°. (XXXII u. 259 S.) 1878. 2,80 M.
Lieferung '12 u. 16. Zehn Biicher frankischer Ge-
schichte vom Bischof Gregorius von Tours. Uebersetzt
von Wilhelm v. Giesebrecht. 2 Bande. Zweite Auflage.
8°. (XXXXVHI, 368 u. VI, 362 S.) 1878. 7,20 M.
Lieferung 54. Ekkehart's IV. Casus Sancti Galli
nebst Proben aus den iibrigen lateinisch geschriebenen Ab-
theilungen der St. Galler Klosterchronik. Uebersetzt von
G. Meyer von Knonau. 8°. (XXXXTTI u. 283 S.) 1878.
4 M.
Lieferung 55. Leben des heiligen Severin von Eugip-
pius. Uebersetzt von Dr. Karl Rodenberg. 8. (76 8.)
1878. 1 M.
Ebenso wie die Monumenta Germaniae historica ist auch
das neben denselben begriindete Unternehmen der „ Geschicht-
schreiber der deutschen Vorzeit", welches die wichtigeren Werke
unsrer mittelalterlichen Geschichtsschreibung in deutschen Ueber-
setzungen auch einem grosseren Leserkreise zuganglich zu machen
bestimipt ist, nach einem bedauerlichen langeren Stillstande
wieder neu in Angriff genommen worden. Die Leitung desselben
hat jetzt W. Wattenbach ubernommen, derselbe erklErt fur die
Fortfuhrung des Unternehmens nach dem urspriinglichen Plane
sorgen und die Ausfuhrung der Uebersetzungen uberwachen zu
wollen, auch die Verlagshandlung verspricht ihrerseits nichts
verabsaumen zu wollen, was dem raschen Fortgang des Unter-
nehmens forderlich sein kann, und das gleichzeitige Erscheinen
von funf Lieferungen zu Ende des vorigen Jahres beweist, dass
in der That auch hier riistig an die Arbeit gegangen worden
ist. Von denselben enthalten die drei ersten neue Auf lagen von
schon friiher erschienenen Arbeiten, von den Uebersetzungen der
Langobardengeschichte des Paulus diaconus und von Gregor's
von Tours frankischer Geschichte. Die neue Bearbeitung der
friiher 1849 von 0. Abel herausgegebenen Uebersetzung des
Paulus diaconus hat B. Jaeobi ubernommen, welcher schon durch
seine Arbeit iiber die Quellen des Paulus diaconus (Halle 1877)
seine genaue Bekanntschaft mit diesem Chronisten bekundet hat
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Die Gescbichtscbreiber der deutachen Vorzeit. 227
Derselbe erklart hier in der VoiTede, dass er den Grundsatz
befolgt habe, die Uebersetzung Abel's sowie dessen Einleitung
und die als Anhang hinzugefugten Abhandlungen iiber Wan-
derungen, Christenthum und Erbfolge bei den Langobarden
moglichst unverandert zu belassen, nur, wo die Uebersetzung
allzu frei erschien und wo die neue Ausgabe von Waitz in den
Monumenta einen verbesserten Text darbot, sind Berichtigungen
erfolgt, ferner sind fiir die Einleitung und die erklarenden An-
raerkungen die seitdem erschienenen neuen Forschungen, be-
sonders die Arbeiten von Waitz und Dahn sowie die eigenen
Untersuchungen des Herausgebers verwerthet worden. So zeigt
denn die Einleitung, namentlich die Darstellung der Lebens-
geschichte des Paulus und die Bemerkungen iiber die beiden
wichtigsten Quellen desselben, die Chronik des Bischofs Secundus
von Trient und die Geschichte von der Herkunft der Lango-
barden. manche Veranderungen. Ebenso wie in der ersten Auf-
lage folgen auch hier auf Paulus selbst noch einige andere lango-
bardische Geschichtsquellen, namlich jene Sclirift iiber die Her-
kunft der Langobarden (in der ersten Auflage irrthiimlich als
das Vorwort zu dem Gesetzbuch Konig Rothari's bezeichnet),
ferner Ausziige aus dem Leben der Papste, aus der Chronik
von Novalese, aus dem Leben der hh. Amelius und Amicus,
aus der Chronik von Salerno und aus de^ des Monches Benedict
vom Berge Soracte, aus der Legende von der h. Julia und aus
den Briefen der Papste.
Die 1851 erschienene Uebersetzung von Gregor's von Tours
frankisclier Geschichte war von W. Giesebrecht verfasst, und eben-
deraelbe Gelehrte hat auch die jetzt vorliegende zweite Auflage
besorgt. Derselbe erklart in der Einleitung, dass er zu einer
durchgreifenden Umarbeitung nicht Zeit habe finden konnen und
dass daher diese neue Ausgabe nur als ein revidirter Abdruck
der ersten anzusehen sei. Doch hat auch er fiir die Einleitung
und fiir die Anmerkungen die neueren Eorschungen, namentlich
fur die Verfassungsgeschichte neben Waitz die "Werke von Both
und Sohm, fiir die kritischen Fragen Monod, fiir die geographi-
schen Verhaltnisse Jacobs und Lougnon verwerthet; eine neue
Ausgabe Gregor's ist bisher nicht erschienen, doch wird eine
solche auf Grund der Vorarbeiten Bethmann's jetzt von W. Arndt
fiir die Monumenta vorbereitet, und dieser Gelehrte hat, wie
friiher bei der ersten Auflage Bethmann, dem Verf. bei der
Durchsicht der Uebersetzung Beistand geleistet. Von den zwei
Banden, welche die Arbeit einnimmt, enthalt der erste die aus-
fdhrliche Einleitung, welche einige Verbesserungen und Zusatze
erhalten hat, und die Uebersetzung der ersten 6 Biicher, der
zweite Band enthalt die letzten Biicher 7—10 und den hier
auch unverandert wiederholten Anhang iiber das Schlusscapitel,
in welchem nachgewiesen wird, dass auch dieses von Gregor
selbst verfasst ist, ferner einzelne Stiicke aus Fredegar und der
Chronik der Frankenkonige, endlich ein Register.
15*
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228 Die Geschichtschreiber tier deutschen Vorzeit.
Die beiden letzten Lieferungen enthalten ganz neue Arbeiten,
die 54 die Uebersetzung der in dem ursprttnglichen Plan
nicht beriicksicbtigten Casus S. Galli Ekkehart's IV. toii
G. Meyer von Knonau. Dieselbe beruht auf der neuen Ausgabe
der verschiedenen Theile der S. Gallischen Klosterchronik, welche
der Verf. selbst in den letzten Jahren (1870 — 79) in den rMit-
theilungen zur vaterlandischen Geschichte" des historischen
Vereins von S. Gallen (Heft XII— XVII) veroffentlicht hat.
In einer langeren Einleitung stellt derselbe die Resultate thals
seiner eigenen Untersuchungen, theils der Forschungen anderer
Gelehrten iib^r diese Chronik zusammen. Er bespricht zunachst
den ersten von Ratpert bald nach 883 verfassten Theil derselben,
welcher die Gescbichte des Klosters von seinen Anfangen an
bis zum Jahre £83 fiihrt, dann behandelt er die Arbeit Ekke-
hart's, welcher um die Mitte des 11. Jahrhunderts diese Geschichte
bis zum Jahre 971 fortgesetzt und uns darin ein reiches und
lebendiges Bild des Lebens in dem Booster in der von ihm ge-
priesenen guten alten Zeit vorgefuhrt hat. Er weist darauf bin,
welche grossen Mangel dieses Werk als Geschichtsquelle in Folge
von Pliichtigkeit und Parteileidenschaft zeigt, trotzdem aber will
er Ekkehart den Ruhm eines von wahrer dichterischer Kraft
erfullten Darstellers nicht schmalern. Er bespricht dann die
spateren sechs Portsetzungen der Klosterchronik, von denen die
letzte, von Conradus de Pabaria um die Mitte des 13. Jahr-
hunderts verfasst und bis 1232 reichend, insbesondere die aussere
Geschichte von S. Gallen unter Philipp von Schwaben, Otto IV.
und Friedrich II. eingehend und auf Grund guter Kenntniss
darstellt. Die Uebersetzung giebt zunachst die Chronik Ekke-
hart's vollstandig wieder, daran schliessen sich zwei Beilagen.
von denen die erste den in einer Handschrift des Klosters ent-
haltenen Bericht iiber einen Besuch des Bischofs Adalbero von
Augsburg in 8. Gallen 908, die zweite Ausziige aus der c. 1000
von dem S. Gallischen Monche Hartmann geschriebenen Lebens-
beschreibung der h. Wiborada enthalt. Darauf folgen dann
als Anhang Proben aus den iibrigen lateinisch geschriebenen
Abtheilungen der S. Galler Klosterchronik, den Schluss bildet
auch hier ein Register.
Lieferung 55 enthalt die Uebersetzung des von Eugippins
verfassten Lebens des h. Severinus von K. Rodenberg auf Grand
der neuen von Sauppe in den Monumenta veroflFentlichten Aus-
gabe. Auch hier ist eine Einleitung vorausgeschickt, in welcher
der Verf., wie er selbst angiebt, auf Grund von Muchar^ Das
romische Noricum, von Pallmann's Geschichte der Volker-
wanderung und von Rettberg's Kirchengeschichte Deutschlands
zunachst die Zustande der romischen Donauprovinzen in der
Kaiserzeit und dann in den Stiirmen der Volkerwanderung
schildert und darauf einen kurzen Abriss des Lebens des Heiligen
selbst, welcher in der zweiten Halfte des 5. Jahrhunderts, gerade
inmitten der hochsten Barbarennoth in Ufernoricum gewirkt hat,
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Beyer, Der Limes Saxoniae Karls d. Grossen, 229
sowie seines Biographen giebt, eines Schiilers desselben, welcher
c. 511 die kleine aber an intpressanten Nachrichten reiche Schrift
verfasst hat. Wir machen bei dieser Gelegenheit auf eine in dem
letzten Jahrgange der Sitzungsbericlite der Wiener Akademie
erschienene Abhandlung Biidinger's iiber denselben Eugippius
aufmerksam, welche auch durch das Erscheinen der neuen Sauppe-
schen Ausgabe veranlasst worden ist.
Berlin. F. Hirsch.
xxxxvin.
Beyer, W. G., Der Limes Saxoniae Karls des Grossen. Hit
drei autographischen Zeicbnungen. gr. 4. (34 S.) Parchim
1877. H. Wehdemann. 1,50 M.
Herr B. hatte im J. 1872 in den Jahrbb. f. Mecklen-
burgische Geschiclite eine Abhandlung iiber die Hauptgottheiten
der Wenden veroffentlicht, in welcher er die Ansicht aufstellte,
das westlich vom Ploner See gelegene Swentifeld, d. h. „Heiliges
Land", habe zu dem Heiligthume des in Plon verehrten Gottes
Podaga x) gehort. Das wiirde aber nur dann moglich sein, wenn
die alte Grenze zwischen den Slawen und den nordelbischen
Sachsen, d. h. der von Karl d. Gr. angelegte Limes Saxonicus
nicht, wie man bisher meist annahm, am Ploner See selbst,
sondern in einiger Entfernung westlich von diesem entlang ging.
Id der erwahnten Abhandlung hatte Herr B. fiir diesen Punct
den Beweis nicht erbracht, jetzt holt er ihn beim Anlasse von
Lischs fiinfzigjahrigem Dienstjubilaum nach. Er wird gefuhrt
durch topographische Interpretation der Stelle Adams von
Bremen,, II 56 b, wo der Zug des Limes angegeben wird, wie er
„von Karl d. Gr. und den iibrigen Kaisern vorgeschrieben war" ;
in einer Einleitung jedoch bespricht der Vf. die Griindung des
Limes selbst und die Quelle, die Adam bei seinen genauen An-
gaben vermuthlich zu Grunde lag. — Als Jahr der Errichtung
des Limes sucht Herr B. aus den allgemeinen politischen Ver-
haltnissen jener Gegenden heraus das J. 811 wahrscheinlich zu
machen: als die Quelle Adams sei wohl eine alter e Urkunde an-
zusehen, von der er vielleicht nur die Einleitung fortliess, sonst
aber den vollen Wortlaut gab.
Die eigentliche Abhandlung zerfallt in drei Theile: im ersten
wird der Grenzzug von der Elbe an bis Wesenberg verfolgt, im
zweiten der mittlere Theil bis Blunken an der oberen Trave,
im dritten der Verlauf des Limes bis zur Miindung der Swentine
ins Meer.
Ueber den Gang des ersten Theils der Grenze ist man im
Wesentlichen einig und der Vf. begriindet nur genauer die Re-
sultate seiner zahlreichen Vorganger, die S. 6. Anm. vollstandig
aufgefiihrt sind: herangezogen ist dabei fiir das Stuck zwischen
der Billequelle und Wesenberg eine noch nicht benutzte Urkunde
2) Den Helmold mit Saturn identificirt
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230 Thaer, Verordnung KarU d. Grossen otc.
Heinrichs d. Lowen von 1167, in welcher die Grenze zwischen
den Bisthiimern Ratzeburg und laibeck bestimmt wird. Von
dem Liudwinestein glaubt der Vf. den ersten Bestandtheil noch
in dem Namen des Dofes Labenz und dem des LabenzerSees
= Lovenze fortlebend zu erkennen. (Liudwin = Leodwin, Lo-
win.) Das Auffallende der Grenze, dass sie nicht der Stecknitz
folgt und von dieser nach der ganz nahen Trave uberspringt
erklart Herr B. daher, dass Karl d. Gr. den Slawen nicht ein
Gebiet wieder nehmen wollte, welches er ihnen zur Belohnung
fiir ihre Hiilfe gegen die Sachsen erst kurz vorher (799) ange-
wiesen hatte.
Fiir die weitere Bestimmung der Grenze von Wesenberg
aus ist ein Irrthum Lappenbergs verhangnissvoll geworden, der
den Limes nicht der uralten Grenze der Sachsen und Slawen,
der Trave, folgen liess, sondern ihn mitten durch das osthch
von ihr gelegene Wagrien fuhrte. Hier will der Vf. fiir das
„Bisnezeu Adams mit leichter Emendation „Birnezeu (d. h.
Barnitz) lesen, ebenso fiir Horbinstenon Horbistevon, das den
Namen des heutigen Dorfes Benstaven enthalte.
Bei Feststellung des dritten Theiles der Grenze sucht Herr
B. nachzuweisen, dass die bisherige Interpretation, welche den
Limes am Westufer des Ploner Sees entlang gehen lasst, dem
„Orientalis campus Swentifeld" Adams nicht geniigend Rech-
nung getragen habe, sowie sie auch die Grenze da thalwarts
binabsteigen lasst, wo sie nach Adam bergan geht (sursum pro-
currens). Dies beriicksichtigend fiihrt der Vf. die Grenze von
der Trave ablenkend durch das Thai der heutigen Brandsaa
hinauf iiber den jetzigen Hof Kulen in die Barmbeck, diese
hinab in die Swentine und endlich langs derselben ins Meer. Dabei
ist die Agrimesau Adams mit der Brandsau, das „stagnum
Colse" mit dem Hofe Kulen identificirt, bei dem ehemak eiu
See gewesen zu sein scheine. — Eine Kartenskizze, die in drei
Sectionen beigegeben ist, orientirt iiber die Topographie der in
Betracht kommenden Gegend; auf welchen Quellen die Skizie
beruhe, was man doch wissen mochte, um bei Priifung des Be-
weises iiberall festen Boden unter den Fiissen zu haben, giebt
der Vf. leider nicht an.
Berlin. Edm. Meyer.
XXXXIX.
Thaer, A., Verordnung Karls d. Grossen fiber die Kaiserlichea
Guter Oder Hofe. (Capitulare C. M. de villis vel curtis im-
perialibus.) Ein Beitrag zur Geschichte der Landwirthschaft.
8. (20 S.) Separatabdruck aus Ftthling's „Landwirthschaftlicher
Zeitung". XXVIL 1878. 4. (April-) Heft.
Karls d. Gr. beruhmtes Capitulare de villis et curtis im-
perialibus wurde bekanntlich zum ersten Male 1647 von Conring
nach der einzigen Handschrift herausgegeben, die damals in
Helmstedt war, jetzt in Wolfenbiittel ist. Seitdem wurde es in
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Von Inama-Sternegg, Dio Auabildung der Grundherrschafteii etc. 231
Deutschland mannigfach behandelt und selbstverstandlich von
Pertz in den Monumenten (Leges I, 181)1) eine zuverlassige
Ausgabe veranstaltet. So sehr man aber auch diese deutschen
Forschungen anerkennen muss, so sind sie doch iiberholt durch
den Commentar, den der verdienstvolle und kenntnissreiche
Herausgeber des Polyptychon Irminonis, Guerard, 1853 geliefert
hat. 2) Nach ihm hat man in Deutschland sich nicht weiter mit
dem Capitulare beschaftigt; es ist daher ein ganz zeitgemasser
Gedanke, auf Grund s&mmtlicher bisheriger Forschungen eine
deutsche Uebersetzung mit kurzem Commentar zu geben. Der
Anlass dazu ist urn so mehr vorhanden, als das Capitulare von all-
gemeinem Interesse ist, seine Lecture aber selbst fiir den, welcher
des mittelalterlichen Lateins einigermassen machtig ist, erhebliche
Schwierigkeiten bietet, ein Leser also, dem nur das klassische
Latein zu Gebote steht, gar nicht damit zurecht kommt. — Die
Uebersetzung ist nicht ohne Sachkenntniss und Selbstandigkeit
des Urtheils gemacht; dass man nicht in alien Stellen dem Vf.
bei seiner Entscheidung eines controversen Punctes beistimmt.
ist fur ihn bei der Schwierigkeit des Textes kein Vorwurf!
Wesentliche Fortschritte hat die Erklarung durch ihn nicht ge-
macht, was man vielleicht hatte erwarten konnen, da Herr Th.
bekanntlich Lehrer der Agricultur ist. — Eine Uebersicht des
ganzen Wirthschaftssystems, wie es in dem Capitulare vorliegt,
beschliesst die Abhandlung; iibrigens ist der Vf. geneigt, Anton
Recht zu geben, der das Capitulare ursprttnglich schon mit § 63
will abschliessen lassen und die weitern §§ 64—70 fiir spatere
Zusatze halt. Hinsichtlich des Jahres, in welchem das Capitulare
erlassen ist, — Conring, Baluze, Gu6rard setzen es vor 800,
Juni 4, Pertz im J. 812 — will Herr Th. lieber das spatere
Jahr 812 annehmen, da 800 die Verwaltung der Gttter, besonders
in Deutschland, wohl noch nicht so geregelt gewesen sein werde,
wie es die Berichte iiber den Zustand der Hofgiiter voraussetzen
liessen, auf Grund deren das Capitulare erlassen sei.
Berlin. Edm. Meyer.
L.
Von Inama-Sternegg, Karl Theodor, Die Ausbildung der grossen
Srundherrschaften In Deutschland w&hrend der Karolingerzeit.
(Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, herausgeg.
v. Gustav Schmoller I. Band, 1. Heft.) gr. 8. (VI, 118 S.)
Leipzig 1878, Duncker und Humblot. 3,20 M.
Die Abhandlung, mit welcher Schmoller seine verdienstliche
Sammlung von staats- und socialwissenschafthchen Forschungen
eroffhet, stellt sich die ebenso anziehende wie schwierige Aufgabe,
die Entstehung und Entwicklung der grossen Grundherrschaften
5) Die Litteratur ist in der Einleitung bei Pertz ungenau angegeben,
so dass z. 8. bei Anton die Angabe des Bandes fehlt.
') Explication dn capitulaire de villis. Paris 1853. Didot.
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232 V°n Inama-Sternegg, Die Ansbildung der Grundherrschaften etc.
in Deutschland im karolingischen Zeitalter, welche bisher haupt-
sachlich mit Rucksicht auf ihre rechtliche und verfassungsge-
schichtliche Seite Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung
gewesen sind, Tom socialpolitischen und nationalokonomischen
Standpunkt aus zu betrachten. Sie zerfallt in vier Abschnitte,
von denen der erste die Bedeutung der Markgenossenschaft far
die sociale Organisation und die Volkswirthschaft vor der Aus-
bildung der grossen Grundherrschaften darstellt, der zweite
statisti8che Notizen iiber die Vertheilung des Grundbesitzes in
Deutschland besonders im 8. und 9. Jahrhundert zusammenstellt,
der dritte die Ursachen der Ausbreitung grosser Grundherr-
schaften in der Karolingerzeit, der vierte endlich die sociat
politische Wirksamkeit derselben untersucht. So anregend und
geistvoll fast durchweg die Ausfiihrungen Inama-Sternegg's sind,
und so sehr man den Fleiss und Scharfsinn anerkennen muss,
mit dem ein sprodes und unergiebiges Material fur die Zwecke
nationalokonomisch - historischer Forschung ausgebeutet ist, so
wird man doch gegen die Resultate, zu denen der Verfasser ge-
langt, und namentlich gegen die Allgemeinheit, in der dieselben vid-
fach gefasst werden, bisweilen schwere Bedenken nicht unterdriicken
konnen. Fiir die statistischen Zusammenstellungen des zweiten
Abschnittes konnten wesentlich nur die Traditionsurkunden der
grossen Stifter verwandt werden; und diese reichen doch nicht
aus, um die vergleichenden Urtheile, die der Verfasser zieht, zu
rechtfertigen ; dass z. B. yon dem Grundbesitz der alamannischen
Herzoge in den kirchlichen Doctimenten weniger oft die Rede
ist, als von dem der bairischen, berechtigt schwerlich zu dem
von Inama gezogenen Schlusse, dass ihr Grundbesitz weniger
bedeutend gewesen sei, als der der letzteren; auch vielfache andere
Momente konnen dazu beigetragen haben. Voile Zustimmung
verdient der Grundgedanke des dritten Abschnittes, dass die
Veranderungen, welche sich in den Verhaltnissen des Grund-
besitzes im 8. und 9. Jahrhundert vollzogen haben, nicht allein
auf die verfassungsrechtlichen Institute der Immunitat, des
Beneficial wesens, der Vassallitat zuriickzufuhren sind, sondern
vielmehr in socialen Erscheinungen ihre eigentliche Ursache
haben und namentlich durch die sich immer klarer heraus-
stellende okonomische Ueberlegenheit der Grossgrundbesitzer
iiber den isolirten Betrieb der kleinen Wirthschaften hervorge-
rufen sind. Im vierten Abschnitt dagegen scheint Inama-Sternegg
doch etwas zu weit zu gehen, wenn er den wirthschaftlichen
Fortschritt, der unverkennbar im 9. and 10. Jahrhundert ge-
macht worden ist, vorzugsweise auf Rechnung des Allgemeiner-
werdens des Grossgrundbesitzes schreibt; es bediirfte doch noch
der Untersuchung, ob die Gegenden, in welchen der Grossgrund-
besitz nicht zur vollen Herrschaft gelangt ist, wie z. B. West-
falen, Holstein, der Bheingau denn wirklich wirthschafUich
zuriickgeblieben sind, was der Fall sein miisste, wenn Inama's
Ansicht richtig ware. Und wenn der Verfasser weiter annimmt,
Digitized by UOOQ IC
Grerdes, Die Bischofswahlen in Deutschland etc. 233
dass die kleineren Preien, die durch Zwang und Noth unter Auf-
gabe ihrer Freiheit in grundherrlichen Verband getreten sind,
wirthschaftlich gefordert seien, so mag man das fur die Ver-
haltnisse der geistlichen Grundherrschaften, iiber die wir fast
allein genauer unterrichtet sind, wohl zugeben. Dass aber auch
die weltlichen Herren durchweg ihre Grundholden mit so ein-
sichtiger Schonung behandelt haben, dass sich „schliesslich doch
jeder im herrschaftlichen Verbande geschiitzt und gefordert sahw,
(S. 88) das zu bezweifeln hat man doch alle Veranlassung ; die
Klagen iiber Bedriickung der „armen Leute" durch ihre Grund-
herrn treten fur ein solches Urtheil doch schon zu friih und zu
allgemein auf.
Berlin. H. Bresslau.
LI.
Gerdes, Dr. Heinrich, Die Bischofswahlen in Deutschland unter
Otto dent Grossen in den Jahren 953 bis 973. 8. (VII,
72 S.) Gottingen 1878. R. Peppmuller. 1,60 M.
Wahrend des ganzen Mittelalters, insbesondere aber in der
Zeit der grossen deutschen Kaiserdynastien von den Karolingern
bis zu den Staufern gehorten die Bischofe zu den wichtigsten
und einflussreichsten Fursten des deutschen Reiches; die be-
deutungsvollsten Ereignisse sind von ihnen ausgegangen und oft-
mals haben sie den Geschicken unseres Vaterlandes eine nicht
selten verhangnissvolle Wendung gegeben. "Waitz, Giesebrecht u. a.
haben in ihren grossen Werken auf diese in das Staatsleben
oft so machtig eingreifenden Manner gebiihrend Biicksicht ge-
nommen, wahrend Spezialuntersuchungen iiber dieselben nicht in
besonders grosser Zahl vorliegen ; einen kleinen berucksichtigungs-
wiirdigen Beitrag hierzu hat der Verf. der obengenannten Schrift
geliefert. Er geht von der richtigen Bemerkung aus, dass das
mannigfach wechselnde Verhaltniss zwischen Staat und Kirche
im Mittelalter sich am leichtesten an dem Einfluss erkennen
lasst, den die Herrscher bei der Besetzung der hoheren geist-
lichen Aemter, namentlich der Bisthumer iibten, und unternimmt
es dann, das Verfahren darzustellen, das in den letzten 20 Jahren
der Bregierung Otto I. bei der Besetzung der Bisthumer be-
obachtet wurde. „Diese Zeit ist desshalb fur die Geschichte der
Bischofswahlen von besonderer Wichtigkeit, weil in derselben
die enge Verbindung und eigenartige Wechselbeziehung zwischen
Staat und Kirche begriindet wurde, welche das mittelalterliche
Kaiserthum kennzeichnet." — Der Verf. stellt hierauf, nachdem
er einen BHpk auf die Vorgange bei den Bischofswahlen von den
altesten Zeiten bis ins zehnte Jahrhundert geworfen, zwei Fragen
auf: 1) was fur Manner wurden wahrend der Zeit von 953 bis
973 zu Bischofen erwahlt? und 2) welches Verfahren wurde bei
ihrer Wahl und Einsetzung beobachtet?
Zur Beantwortung der ersten Frage geht er der Reihe nach
alle jene Manner durch, es sind ihrer 42, welche von 953 bis
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234 Gerdes, Die Bischofswahlen in Deutschland etc.
973 zu Bischofen in Deutschland ernannt warden, und bringt
iiber jeden derselben aus den Quellen geschopfte biographische
Daten; die zweite Frage gibt dem Verf. Veranlassung , den
ganzen Wahlact, von der Vorwahl an bis zur Einsetzung des
gewahlten Bischofes in sein Bisthum quellenmassig darzustellen.
AU Resultat seiner Untersuchungen ergibt sich folgendee.
„Otto I. war im Anfang seiner Regierung der hoheren Geistlich-
keit wenig geneigt, ebenso wenig diese ihm. Einige hervor-
ragende Bischofe nahmen sogar in den beiden grossen hmem
Kampfen gegen ihn Partei. Im Verlaufe seiner Regierung hat
aber Otto mehrfach seine Politik geandert. Zuerst wollte er
die Herzoge wieder in die Stellung von abhangigen Reich*
beamten herabdrttcken. Nachdem sich dieses als unmoglich er-
wiesen, machte er den Versuch, die Herzogsgewalt durch Ver-
leihung an seine nachsten Verwandten aufs engste mit dem
Konigthum zu verbinden. Auch diese Massregel bereitete ihm
und dem Reiche die schwersten Verwickelungen. Gleichsam als
letztes Auskunftsmittel fasste er nun den Plan, fortan das Reich
mit Hiilfe der hoheren Geistlichkeit zu regieren. Unter den
Bischofen hatte er sich mittlerweile manchen treuen Anhanger
erworben ; durch eigene Lebenserfahrungen und durch den Em-
fluss seiner nachsten Angehorigen hatte sich seine Stellung zur
Kirche aUmahlich freundlicher gestaltet; die ganze Zeitrichtang
wendete sich immer mehr religiosen Bestrebungen zu. Aus
diesen Momenten zusammen erklart sich Otto's neues pohtisches
System. Dadurch wurde in Deutschland die neue folgenschwere
Veranderung angebahnt, dass sich die Bischofe aus Seelsorgem
allmahlich in Reichsfursten umwandelten. Die Bischofswahlen
in den letzten 20 Jahren der Regierung Otto's geschahen daher
nach ganz anderen Gesichtspuncten als friiher." — Er wahlte
die Bischofe meist entweder aus seinem eigenen Hause oder aos
anderen fiirstlichen Hausern, welche ihm sehr ergeben und zum
Theil erst durch ihn zu ihrer Stellung erhoben worden waren;
Sachsen und Thuringer wurden vor anderen bevorzugt, wefl
dieBe dem sachsischen Konigthum am treuesten anhingen und
dasselbe den machtigen particularen Gewalten gegeniiber am
besten vertraten ; sowie Otto fur die Germanisirung der slavischen
Grenzgebiete im Osten des Reiches wirkte, so setzte sein Bruder
Erzbischof Bruno von Koln in den westlichen Theilen Lothringens
sachsische Bischofe ein, damit sie der dortigen deutschen Be-
volkerung als Stiitze dienen und in ihr das Bewusstsein der
Zugehorigkeit zum Reiche erhalten sollten. Die meisten von
Otto eingesetzten gehorten der strengeren kirchlichen Richtong
an, forderten das Monchswesen, reformirten das kirchliche
Leben und besassen auch ein fur die damalige Zeit hohes Ma#
von Bildung. So befolgte Otto bei der Erwahlung der Bischofe
ein sorgfaltig erwogenes System, wodurch er die Interessen der
Kirche und des Reiches in gleicher Weise zu beriicksichtigen
versuchte.
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Martin, Boitrage zur Geschichte Bruno's I. von Koln. 235
Was die Wahl und Einsetzung der Bischofe betrifft, so hielt
sich Otto, soweit die ausseren Formen in Betracht kamen, an
die Bestimmimgen des kanonischen Rechtes, da aber diese sehr
onbe8timmt und vieldeutig sind, so war dem koniglichen Ein-
flusse der weiteste Spielraum gestattet und nur solche Manner
wurden zu Bischofen erhoben, welche befahigt und geneigt waren,
in der eigenthiimlichen DoppelsteUung des damaligen bischof-
lichen Amtes neben der Kirche in gleicher Weise dem Konige
und dem Reiche zu dienen. — „Otto I. hat in der fruheren
Zeit seiner Regierung auf der einen Seite die weltliche Macht
der Bischofe durcli Verleihung von Giitern und Rechten unaus-
gesetzt erhoht; er hat aber auf der andern Seite ihre geistliche
Amtsgewalt wesentlich eingeschrankt , indem er die grossen
Abteien fast sammtlich ihrem Einflusse entzog; er hat endlich,
um ein Gleichgewicht der Krafte herzustellen, den von alter Zeit
her bestehenden Gegensatz zwischen Bisthiimern, Herzogthiimern
und den Abteien eher gescharft als gemildert. Die Bischofe
dienten unter ihm als Gegengewicht gegen die Herzogthiimer."
Die von ihm eingeschlagene kirchliche Politik blieb im deutschen
Reiche wahrend des ganzen Mittelalters heiTschend, behielt aber
ihre Bedeutung nur so lange, als den Konigen die Besetzung der
bischof lichen Stiihle zustand ; Otto hatte stets nur ihm ergebene
Manner auf dieselben berufen, aber er hat, „wie die meisten
seiner INachfolger, versaumt, die Liicke, welche zwischen den
kanonis chen Vorschriften und dem praktischen Bedurfnisse seiner
Regierung bestand, durch klare gesetzliche Bestimmungen zu
Gunsteti des Konigthums auszufullen. So blieb das Recht viel-
deutig, und die Besetzung der Bisthiimer gestaltete sich fiir die
Zukunft zu einer Streitfrage, in welcher die grossen Gegensatze
zwischan Staat und Kirche im Mittelalter zuerst zum Bewusst-
sein und Ausdruck gelangten."
Gra.z in Steiermark. Dr. Franz Ilwof.
LH.
Martin, Karl, Beitrftge zur Geschichte Bruno's I. von Koln.
Inaugural-Dissertation. 8. (31 S.) Jena 1878. A. Neuen-
hahn. 0,60 M.
Die vorliegende Dissertation handelt vornemlich von der
kirchlich - theologischen Stellung und von der Denkweise des
Bruders Kaiser Otto I., des beriihmten Erzbischofes Bruno von
Koln, und von seiner Auffassung des Verhaltnisses von Kirche
und Staat. Der Verfasser spricht zuerst von der hervorragen-
den Bildung und Gelehrsandceit, welche Bruno besass, hoch
besonders mit Riicksicht auf die Zeit, in welcher er lebte, von
seinen Bestrebungen , geistiges Leben und wissenschaftliche
Thatigkeit allenthalben, wohin sein Einfluss reichte, zu fordern
xmd zu verbreiten, Wissenschaft und Prommigkeit zu vereinigen
und die eine auf die andere zuriickwirken zu lassen. Bruno
gehorte den Priestern der strengeren kirchlichen Richtung an,
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236 Querner, Zur Frage nach der Glaubwiirdigkeit Lamberts von Herafeld.
welche kurz nachher unter Otto II. und III. und unter HeinricliIL
und III. in der Kirche die herrschende wurde und eigentiich
den Grund zu dem Siege legte, welchen von Heinrich IV. und
Gregor VII. an die kirchliche Gewalt iiber die weltliche errang.
Er war daher auch ein eifriger Reformator des Klosterwesens.
Eigenthiimlich ist Bruno's Verhaltniss zu Rom ; in seinem Leben
spielt das Papstthum kaum eine Rolle, nur einmal trat er mit
dem Papste in Verbindung, unmittelbar nach seiner Wahl zum
Erzbischofe, als er den Abt Hadamar von Pulda nach Bom
sandte, um die Anerkennung seiner "Wurde zu erlangen. Sonst
kummerte sich Bruno kaum um den Papst; die Griinde dieser
eigenthiimlichen Erscheinung sucht Martin einerseits in den da-
mals arg zerriitteten Verhaltnissen in Rom, anderseits darin,
dass das kirchliche Ideal Bruno's nicht die unter dem romischen
Primat eng zusammengefasste Kirche war, sondern dass der
kirchliche Schwerpunct fiir ihn nicht in Rom, sondern in Deutsch-
land lag. „Er sah den Papst als Oberhaupt der Kirche an
und erwies ihm bei Gelegenheit die ihm zukommende Ehre,
allein es ist doch nur eine Art Ehren-Prasidium, was er ihm
zuerkennt, im Wesentlichen fiihlte er, wie auch die iibrigen
Bischofe Deutschlands, sich ihm gleichstehend." —
In seinem Verhaltnisse zum Staate waron fiir Bruno seine
innige Liebe zum Vaterlande und seine unbedingte treue Ergeben-
heit gegen den Konig stets massgebend. Dem Plane Otto's,
Reich und Kirche enge zu verbinden, stimmte Bruno vollig zu
und er wirkte redlich mit, denselben der Vollendung entgegen-
zuflihren. Martin tritt daher auch der Ansicht Giesebrechts
entgegen, dass Bruno, sowie Wilhelm von Mainz, aus dem Bunde
von Kirche und Staat eine Verweltlichung der ersteren und eine
bedenkliche Abhangigkeit derselben vom Staate gefiirchtet hatte.
Glanzende Verdienste um das Vaterland erwarb sich Bruno zur
Zeit des Aufstandes Ludolfs und Konrads gegen Otto, in
welchem er seine unerschiitterliche Treue gegen Konig und Reich
bewies und durch seine Thatkraft und staatsmannische Weisheit
wesentlich zur Rettung Deutschlands beitrug.
Graz in Steiermark. Dr. Franz Ilwof.
Lin.
Querner, Carl, Zur Frage nach der Glaubwiirdigkeit Lamberts
von Hersfeld. Inaugural-Dissertation. 8. (45 S.) Bern 1878.
R. Jennies Antiquariat. 1,50 M.
Das hohe Lob, welches Stenzel (Gesch. der frank. Kaiser.
II. S. 102) Lambert spendet, indem er an ihm das wahrhaft kind-
lich fromme Gemtit, seinen aufgeklarten Geist und vor aJlem die
seltene, in ihrer Art fast einzige Unparteilichkeit ruhmt, findet
jetzt keinen Widerhall mehr, seitdem Ranke erklart hat: ,?sein
Buch ist mit dazu angelegt, um die Wahl eines Gegenkonigs ta
rechtfertigen'-, und seitdem Floto (Kaiser Heinrich IV. wri
seine Zeit. L S. 10) sich ausserte : ?,Lambert ist um so vor-
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Wenck, Die Entstehung der Keinhardsbrunner Geschichtsbticher. 237
sichtiger anzuhoren, je glatter der kopiose Strom seiner Rede
fliesst. Er berichtet in seiner zuversichtlichen pragmatischen
Weise ebenso Ereignisse, die er selbst in der N&he gesehen, —
wie auch nie geschehene Dinge, die er sich erdacht oder etwa
von einem in Hersfeld vorkommenden Pilger, im benachbarteu
Fulda oder in Siegburg von den Monchen gehCrt haben mag."
Seitdem ist die Glaubwiirdigkeit Lamberts mehrfach Gegenstand
der Untersuchung gewesen. Delbriick (Ueber die Glaubwiirdig-
keit Lamberts v. Hersfeld) fand, dass Lambert nicht iiber,
sondern zwischen den Parteien stehe und dass ihm deshalb eine
objektive Geschichtschreibung unmoglich gewesen sei. Seine
Untersiichung gipfelt in dem kritischen Grundsatze (S. 75):
Lamberts Glaubwiirdigkeit ist in jeder Nachricht, die in irgend
einer Beziehung zu seiner Tendenz steht, von vorne herein in
Zweifel zu ziehen und bei jeder positiven Beschuldigung Konig
Heinrichs nicht vorauszusetzen, sondern zu erweisen. Denselben
Standpunkt nimmt Lindner ein (Anno II. der Heilige. S. 5).
Gemassigter urtheilen Giesebrecht und Wattenbach. Mehr auf
die Seite Lamberts stellt sich Lefarth (Lampert von Hersfeld,
«in Beitrag zu seiner Kritik) ; er halt ihu fur unparteiisch. Der
Verf. vorliegender Dissertation hat sich zur Aufgabe gestellt,
„zu untersuchen, in wie weit die absprechenden Urteile der ver-
schiedenen Kritiker gerechtfertigt sind", und hofft, die Angriffe
auf Lamberts Glaubwiirdigkeit so weit zupickzuweisen, dass man
im wesentlichen dem Urteile Wattenbachs und Giesebrechts
beistimmen musse. Die Schrift ist keine zusammenhangende
Darstellung, sondern schliesst sich wesentlich in ihrem Gange
der Delbriickschen Untersuchung an ; sie greiffc eine B^ihe von
Beschuldigungen der Kritiker heraus und sucht diese einzeln
zu widerlegen. Der Verf. erkennt das schon in hohem Grade
an Lambert an, „dass er auch seine Gegner reden lasst".
Daraus, dass Lambert auch einiges Giinstige von Heinrich IV.
erzahlt und einiges Ungiinstige von den Gegnern des Konigs,
schliesst er, dass Lamberts Buch keine Parteischrift sei.
Lichterfelde. Volkmar.
LIV.
Wenck, Carl, Die Entstehung der Reinhardsbrunner Geschichts-
bOcher. Im Anhang: Eine Reinhardsbrunner Chronik des
XIII. Jahrh. und Schedels Exzerpte nach der Mtinchener
Handschrift. 8. (VI, 115 S.) Halle 1878. M. Niemeyer.
3,60 M.
Als Zeugnisse Reinhardsbrunner Historiographie sind, abge-
sehen von den spateren Geschichten Thliringischer Landgrafen,
bekannt die von Wegele 1854 im I. Bde. der Thuringischen
Geschichtsquellen herausgegebenen Annales Reinhardsbrunnenses,
einige Handschriften, nemlich die Miinchener, die Wallersteinsche
und die Wiener; letztere, bekannt unter dem Titel Chronicon
Thuringicum Viennense, ward zum Theil 1870 veroffentlicht
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238 Wenck, Die Entatehung der Roinhardsbrunner Gesckichtstmcher.
unter dem Namen Annales Reinhardsbrunnenses in den Ge-
schichtsquellen der Provinz Sachsen, I, 201—214. Dies ChroiL
Thur. V. stellte man n e b e n die Wegele'schen Annalen (A. R),
und nach 0. Posse (Die Reinhardsbrunner Geschichtsbiicher,
Leip#. 1872) hieng keine der erhaltenen Formen der Reinhards-
brunner Geschichtsbiicher von A. R. ab, sondern giengen alle
in letzter Instanz auf eine Urkompilation zuriick. Als eine be-
sondere Quelle sah man noch an das „Leben des Landgrafen
Ludwig des Heiligen", dessen deutsche Uebersetzung aus dem
Anfange des 14. Jahrh. von H. Riickert veroffentlicht wurde.
Posse unterschied zwei Handschriftenklassen : 1) a mit fa6t voll-
standiger vita Ludovici; zu ihr gehorten A. R. und A. breres
Landgraviorum. 2) a mit gekurzter vita Lud. ; zu ihr gehorten
das Chron. Thur. V. u. der Cod Mon. Von der Wallerstem-
schen Handschr. hatte Posse noch nicht handeln konnen. Kirch-
heff nahm dagegen an, dass der Kompilator der A. R. zu Yor-
lagen hatte 1) Historien seines Klosters, welche die vita ge-
kiirzt enthielten; 2) die vita selbst. Beides, Posse's CFnter-
scheidung und Kirchhoffs Ansicht, verwirft Wenck. Der Gang
der Unter8uchung ist folgender : I. Riickert hielt die deutsche
Lebensbeschreibung Ludwigs fur eine Uebersetzung der latein.
vita. Eine spatere Redaktion dieser 1228 von Bertold vert
vita sollte Dietrich von Apolda im Leben der hi. Elisabeth (1289)
benutzt, eine zweite dem Kompilator der ReinhardsbruDner
Chronik und dem Uebersetzer vorgelegen haben. Wo Dietrichs
Erzahlung ausfiihrlicher sei, habe er andere Quellen benutzt
Nach Wenck jedoch hat erne latein. vita Ludovici gar nicht
existirt und nicht sie, sondern Dietrichs vita der hi. Elisabeth
ist die Quelle fur die Reinhardsbrunner Kompilation gewesen;
aus Dietrich ist auch de dictis quattuor ancillarum in A. B.
iibergegangen. Bald nachdem 1292 ein verheerendes Feuer die
sammtlichen Klostergebaude von Reinhardsbrunn zerstort hatte,
begniigte sich (1293) ein Reinhardsbrunner Monch in die Lebens-
beschreibung der hi. Elisabeth von Dietrich Geschichten vom
hi. Landgrafen Ludwig, welche man sich im Kloster erzahlte,
und einen Bericht iiber die Wunder an seinem Grabe einzu-
flechten. Eine vita Ludovici entstand nicht Die Reinhards-
brunner Zusatze zu der Lebensbeschreibung Elisabeths and
ziemlich vollstandig bekannt; es sind die Varianten und Er-
ganzungen zu der Ausgabe des Canisius aus zwei Altzellischen
Handschriften bei Mencke Scriptores II. p. 1987—2006. Ans
dieser Reinhardsbrunner Bearbeitung stammt auch eine Wiener,
Erlanger und Jenaer Handschrift. In dieser iiberarbeiieten
Gestalt ist Dietrichs vita in die grosse Reinhardsbrunner Kom-
pilation (A. R.^ aufgenommen. IE. Von einem spateren Kom-
pilator sind Auizeichnungen eines Augenzeugen iiber die politischen
Vorgange zur Zeit Ludwigs, insbesondere seine Kriegsziige, m&
den aus der vita Dietrichs entlehnten Stiicken zu einem Ganzen
verschmolzen. Diese Aufzeichnungen hatten die Form von
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Wenck, Die Entstehung der Reinhardsbrunner Geschichtsbiicher. 239
Annalen und ihr Verfasser ist der Kaplan Bertold. Diese Annalen
Bertolds sind nur so weit erhalten, als sie sich mit dem Eigen-
thom Dietrichs vereinigen liessen, und mogen zu ihrem Nachtheil
vielfach verandert sein. Der nunmehr noch iibrig bleibende Rest
sind originale Reinhardsbrunner Aufzeichnungen, aber nicht von
der Hand Bertolds. Die Annalen, welche Bertold 1227 oder
1228 und wahrscheinlich in Reinhardsbrunn anfgezeichnet hat,
erstrecken sich iiber die Jahre 1218 — 1227. Die Benennung
vita Ludovici ist zu venneiden. III. Der Rest originaJer Rein-
hardsbrunner Annalen nach 1227, 1231 — 1307 ist erst circa
1315 von dem letzten selbstandigen Reinhardsbrunner Geschichts-
schreiber niedergeschrieben worden. Hochst wahrscheinlich ist,
dass alle diese drei Arbeiten von einem und demselben Reinhards-
brunner Monch ausgefiihrt sind. So schuf er ein Werk, das
einer Chronik von Reinhardsbrunn ahnlich sah. — Wann aber
ist in den erhaltenen Rezensionen die grosse Einschaltung aus
fremden Quellen, besonders dem Chron. Sampetrinum und der
Chron. Minor erfolgt? In alien unseren latein. Texten ist die
Vermischung bereits vor sich gegangen. Wie aber ist es in der
deutschen Lebensbeschreibung Ludwigs? IV. Um die nahere
Uebereinstimmung der Peterschronik und der Reinhardsbrunner
Kompilation zu erklaren, nahm Wegele als Quelle der A. R.
neben der Chron. Minor das Chron. Sampetr. an. Nach Wenck
haben die Monche von St. Peter zunachst den Abschnitt 1208 bis
1215 ausgeschrieben. Unabhangig von einander konnen A. R.
und Sampetr. eine Quelle nicht benutzt haben. Auch die An-
nahme eines verlorenen grosseren Chron. Samp, kann nichts
helfen. Diese Reinhardsbrunner. Annalen sind in sehr spater
Zeit in die Peterschronik aufgenommen worden; denn die drei
Erfurter Chroniken, welche im 15. und im Anfang des 16. Jahrh.
aus der Peterschronik gespeist sind, zeigen noch keine Spur von
dieser Einschaltung und beweisen zugleich fur die Jahre 1208 bis
1215 eine Liicke in der Erfurter Geschichtsschreibung. Dem
Uebersetzer der deutschen Lebensbeschreibung Ludwigs lag die
Chronik nooh ohne Einschaltung vor. Die Uebersetzung ist circa
1330 entstanden und der Schulmeister Friedrich Kodiz ist wahr-
scheinlich identisch mit dem Abt Friedrich von 1335. Yor der
Uebersetzung war aber bereits eine schlimme Veranderung an
den Geschichtsbuchern geschehen; denn es sind eine Reihe von
Stiicken in die Uebersetzung aufgenommen, die nicht von dem
einfachen Annalisten bis 1307 verfasst sein konnen. Ein Stil-
kiinstler hatte seine Thatigkeit geiibt. Dies erhellt aus einer
kleinen Chronik Reinhardsbrunner Ursprungs, aus der Schrift
^de ortu principum Thuringiae". (Gudenus Cod. dipl. Mogun-
tinus II, 598—603.) V. Diese Schrift ist der Niederschlag der
Tradition, wie sie sich bis zu Anfang des 13. Jahrh. festgestellt
hatte. Ihre erste Abfassung fallt zwischen 1195—1212; einen
Zusatz hat sie erfahren zwischen 1234 und 1241. VI. Den
Annalen zur Geschichte Heinrichs VI. hat Posse Reinhardsbrunner
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240 Wenck, Die Entstehung der Beinhardsbruimer Geschichtsbucher.
Ursprung abgesprochen und die Uebereinstimmung dieser Partie
(1170 — 1208) mit dem Chron. Sampetr. aus einer verlorenen
Quelle erklart. Wenck spricht diese Quelle, die nicht verloren,
sondern nur stilistisch iiberarbeitet ist. Reinhardsbrunn zn und
nimmt gleichzeitige Abfassung an; nur trat 1198 ein Wechsel
des Verfassers ein. VII. Die Aufzeichnungen dieser beiden
Annalisten sind aber nur in stark iiberarbeiteter Gestalt erhalten.
— Urn circa 1330 sind dann unter Hinzunahme fremder QueUen,
besonders Ekkehards Weltchronik, der Peterschronik, der Chron
Minor die Reinhardsbrunner Geschichtsbiicher bis 1307 zusammen-
geschrieben worden. Dann hat endlich ein letzter Kompilator
diese Geschichtsbiicher durch umfangreiche Auszuge aus der
Peterschronik bis 1337 fortgefiihrt und Klosternachrichten hin-
zugefugt. Urn die Mitte des 14. Jahrh. ward das Werk fertig.
Nun kommen die Excerptoren; ihre Arbeiten sind uns erhalten.
VIII. Nur die Hannoversche Handschrift kann ein annahernd
vollstandiges und richtiges Bild von der Gestalt der Reinhards-
brunner Geschichtsbiicher geben. Die Miinchener Handschrift
ist weder die wichtigste noch die treuste. Zur Rekonstruktion
der R. Geschichtsbiicher bieten die Schedelschen Excerpte mehr
oder minder bedeutende Beitrage. Die Wiener, Breslauer und
die Wallersteinsche Handschrift geben einen gekiirzten Text;
sie und Schedels Excerpte schopften aus einer gemeinsamen
Vorlage, welche die A. R. in stark gekiirzter Gestalt wieder
geben. Diese verkiirzte Reinhardsbrunner Chronik stammt nicht
aus Erfurt, sondern aus dem Eisenacher Dominikanerkloster. —
Die letzte Arbeit der Reinhardsbrunner Monche sind die Annates
breves de landgraviis Thuringie, die bei Lebzeiten Friedricfo
des Strengen entstanden. IX. Fiir die Rekonstruktion der
Reinhardsbrunner Geschichtsbiicher werden die ferneren Arbeiten
der Eisenacher Dominikaner herangezogen ; das sind die beiden
Landgrafengeschichten : die Histor. Pistoriana bei Pistor. — Strove
I, 1296 — 1365 und die Histor. Eccardiana bei Eccard, Hist
Geneal. p. 351 — 468. Die Kompilation der Eisenacher Domini-
kaner ist nach Meissen gekommen und dort weiter verarbeitet
worden. Das Werk des Sifridus presbyter ist jedoch der Meiss-
nischen Geschichtschreibung abzusprechen ; es ist thuring. Ur-
sprungs bis 1304; nur die Fortsetzung bis 1307 ist in Meissen
geschrieben. — Das „ Chron. terrae Misnensis sive Thomannm
Lipsicum" aus der zweiten Halfte des 15. Jahrh. ist bervorge-
gangen aus einer Verschmelzung thuring. und meissnischer Ge-
schichtschreibung.
Die Beilagen dieser Untersuchungen geben 1) eine Analyse
des deutschen Lebens Ludwigs des Heiligen; sprechen 2) uber
eine verlorene Handschrift der Magdeburg - Reinhardsbrunner
Chronik und des Conradus Halberstadensis ; geben 3) einen
Abdruck von de ortu principum Thuringie und 4) den im Titel
erwahnten Anhang.
Lichterfelde. Volkmar.
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Bausch, Die staatsrechtliche Stellung Mittel-Italicn3 unter Heinrich VI. 241
LV.
Rausch, Karl, Die staatsrechtliche Stellung Mitteli tali ens unter
Heinrich VI. gr. 8°. (87 S.) Wien 1878. A. Holder. 2 M.
Die vorliegende Abhandlung, ein Separatabdruck aus dem
Jahresberichte 1877/78 der offentlichen Oberrealschule in der
Josefstadt zu Wien, kann nicht den Anspruch machen, erhebliche
neue Resultate zu bringen. Die staatsrechtlichen Verhaltnisse
Mittelitaliens sind im Hinblick auf die nach dom Tode Hein-
richs VI. versuchten Recuperationen von Ficker in ganz neuer
nnd grundlegender Weise dargestellt worden, auch Toeche und
Winkelmann haben, der erstere die Ereignisse unter Heinrich VI.
selbst, der letztere, in engem Anschlusse an Ficker, die Um-
wandlungen nach dem Tode des Kaisers auf das genaueste er-
ortert, zuletzt haben dann noch Prinz und Mayr in ^ ihren
Monographien iiber Markward von Anweiler, einen der haupt-
sachlichsten Trager der staufischen Politik in Italien, dieselben
Verhaltnisse behandelt. Die Schrift von Prinz scheint dem Verf.
unbekannt geblieben zu sein, von den anderen hat er den aus-
giebigsten Gebrauch gemacht, und wenn er auch selbstandig das
reiche, namentlich urkundliche Quellenmaterial durchforscht hat,
so hat er doch in der Hauptsache die von jenen gewonnenen
Resultate angenommen und wiederholt. Sein Verdienst ist das,
was in jenen umfassenderen Werken an verschiedenen Stellen
zerstreut war, in iibersichtlicher Weise zusammengestellt und
auch durch manche kleine Erganzungen vervollstandigt zu haben.
Doch fehlt es in der Arbeit nicht an einzelnen Versehen (S. 47
wird angegeben, Heinrich VI. sei22. September 1197 in Palermo
gestorben, wahrend dieses in Wirklichkeit am 28. September zu
Messina geschehen ist), ferner scheint uns der Verf. in manchen
seiner Behauptungen zu kiihn zu sein. Wenn Heinrich 1191 der
Stadt Benevent einige Abgaben fur ihre Giiter im Konigreich
Sicilien erlasst, so ist daraus schwerlich gleich mit dem Verf.
(S. 33) zu schliessen, dass die Stadt als zum Reiche gehorig
betrachtet worden sei, iiberhaupt sucht derselbe in alien Ur-
kunden politische Motive, welche wohl manchen einfachen Schutz-,
Bestatigungs- oder SchenkungSurkunden fiir geistliche Stifter
fern liegen.
Die Abhandlung zeriallt in 5 Capitel. Das erste behandelt
die Verfiigungen Heinrichs VI. in Mittelitalien wahrend seiner
ersten Anwesenheit daselbst als Statthalter seines Vaters 1186
und 1187. Der Verf. zeigt, dass sich schon hier die Grund-
ziige der spateren Politik Heinrichs vorfinden, er betrachtet
ganz Mittelitalien als Reichsland und sucht es als solches durch
dauernde Institutionen, durch Einsetzung von Reichsbeamten und
Unterstiitzung der reichsunmittelbaren und reichsfreundlichen
Gewalten zu sichern. In der Romagna wird durch ihn 1187
Graf Heinrich als Reichsbeamter eingesetzt, neben dem noch als
Herzog von Ravenna Conrad von Liitzelhard erscheint, in der
Mark Ancona* bleibt der schon von Friedrich I. 1184 eingesetzte
Mitthcilungen a. d. histor. Litterntnr. VU. 16
Digitized by UOOQ IC
242 Rausch, Die staaisrechtliche Stellung Mittel-Italiens uuter Heinrieh VL
Conrad von Lutzelhard an dor Spitze, ebenso in Spoleto Conrad
von Urslirigen ; in Tuscien zeigt sich vor Allem die neue organi-
satorische Tbatigkeit des Konigs, hier begiinstigt er entgcgen
der drohenden Ausbxeitung der Stadteherrschaft die dieser fcind-
lichen oder concurrirenden Elemente, die Adligen, Bischofe,
Kloster und andere geistliche Stifter, dagegen weist er, wie
schon Friedrich begonnen hatte, die Uebergriffe der grosseren
Stadte zuriicjk, wie vorher Florenz, Lucca, Arezzo, so werden
jetzt auoh dem bezwiiugenen Siena die Grafschaftsrechte entzogen,
auch hier ferner wird 1187 fur das ganze Gebiet Anselm von
Kunigsberg als Reichsbeamter eingesotzt. Auch das papstliche
Patrimonium kommt durch den Feldzug von 1186 ganz in Heinrichs
Gewalt, Barone und Stadte miissen ihm huldigen.
Wahrend seines zweiten Aufenthaltes in Mittelitalien 1191
und 1192, vor und nach seiner Kaiserkronung und seinem ersten
ungliicklichen Feldzuge gegen das sicilische Reich, trifft Heinrieh
manche Veranderungen, von denen Cap. 2 handelt. In der Ro-
magna wird an Stelle Heinrichs Conrad von Lutzelhard zran
Markgrafen ernannt, neben dem dann. aber wieder noch em
Lantricus als comes Romaniae erscheint, auch in der Mark
Ancona wird ein neuer Markgraf Gotebald eingesetzt, ebenso in
Tuscien, dessen Verwaltung jetzt auch an Conrad von Lutzelhard
ubertragen wird; hier wird ferner Pisa zum Lohn fur seine
Treue mit neuen grossen Privilegien ausgestattet. Das papstliche
Patrimonium wird jetzt auf Grund der der Kaiserkronung Hein-
richs vorangegangenen Abmachungen in der Ausdehnung von
Orvieto bis Terracina dem Papste zuriickgegeben.
Nach der Eroberung des sicilischen Reiches, in den leizten
Jahren von Heinrichs Regierung (Cap. 3), wird diese Organisation
noch weiter durchgefuhrt, Tuscien wird 1195 an den Brader
des Kaisers, Philipp, ubertragen, Ravenna, Romagna und Ancona
werden in der Hand Markwards von Anweiler vereinigt, der 1197
auch die sicilische Grafschaft Molise erhalt und so zusammen
mit Conr. von Urslingen, welcher in Spoleto bleibt, das papst-
liche Patrimonium von alien Seiten einschliesst. Zugleich fahrt
d«r Kaiser fort, durch Begunstigung und Hebung von Adel and
Geistlichkeit namentlich in Tuscien der Ausbreitung der Macht
der Stadte entgegenzuarbeiten. Wenn freilich der Verf. ram
Schluss hier behauptet, dass so die Organisation Mittelitalieos
als Reichsland vollstandig durchgefuhrt und auf sichere Grund-
lage gestellt sei, so ist dieses eine arge Uebertreibung; der jahe
Umsturz dieser ganzen Ordnung nach dem Tode des Kaisers
zeigt, dass dieselbe keineswegs fest begrundet war.
Das 4. Capitel schildert den Character der Reichsbeamtungen
in Mittelitalien. Die Hauptsache ist, dass dieselben nicht lehen-
weise ubertragen werden, sondern dass ihre Trager wirkhche
Beamte mit eingeschrankten Befugnissen sind, sammtlich Deutsche,
mit Ausnahme Philipps von Tuscien kaiserliche MinisterialeD,
ferner, dass, abgesehen von einzelnen Fallen, wo gewissen Adligen,
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Zenmer, Die deutschen Stfidtesteuem, insbes. die stadt. Reichssteuern etc. 243
Bischofen oder Stadten besondere Vorrechte verliehen werden,
die einzelnen Gebiete und Stadte von Grafen oder Nuntien, welche
jenen hoheren Beamten untergeordnet sind, regiert werden.
Das 5. Capitel endlich behandelt den Ausgang der Reichs-
beamtungen in Mittelitalien nach Heinricbs Tode, den Sturz der
ganzen yon diesem dort begriindeten Ordnung durch die
nationalen Eleniente und das mit diesen verbiindete Papsttbum.
Der Verf. folgt hier im iibrigen durchaus Winkelmann; urn so
auffallender ist es, dass er, ohne eine genauere Begriindung fur
neithig zu erachten, in der Darstellung der Entwickelung der
Verhaltnisse in Tuscien von demselben abweicht, er behauptet
(S. 61), der tuscische Bund hatte sich wirklich der papstlichen
Hoheit unterworfen.
Als Beilagen sind der Arbeit Regesten, der verschiedenen
Reichsbeamten in Mittelitalien unter Heinrich VI., namentlich
Philipps als Herzog von Tuscien, Markwards von Anweiler,
Conrads von Urslingen und Conrads von Liitzelhard hinzu-
geffigt.
Berlin. F. Hirsch.
LVI.
Zeumer, Carl, Die deutschen Stadtesteuern, insbesondere die
stadtischen Reichssteuern im 12. und 13. Jahrhundert. (Staats-
und socialwissenschaftl. Forschungen, herausgeg. von Gustav
Schmoller I, 2.) gr. 8. (VIII, 162 S.) Leipzig 1878. Duncker
und Humblot. 4 M.
Die Schrift, iiber deren wicbtigste Ergebnisse die folgenden
Zeilen eine kurze Uebersicht geben sollen, fullt eine wesentliche
Liicke in unserer an wirklicb brauchbaren Monographien noch
so sehr armen verfassungsgeschicbtlichen Litteratur aus; ibr
Verfasser, ein Schiller von K. W. Nitzsch, hat sich durch diese
fleissige und scharfsinnige Erstlingsarbeit iri vortheilhaftester
Weise eingefuhrt und seine Befahigung fiir derartige ebenso
feine wie scbwierige Untersuchungen zur Geniige erwiesen.
Unter Stadtesteuern verstehfc der Verfasser, einem schon im
Mittelalter aufkommenden Sprachgebrauch gemass, keineswegs
sammtliche in den Stadten zu entrichtenden Abgaben, sondern
nur die von den Stadtgemeinden als solchen dem Konige oder
einem anderen Herrn gezahlten direkten Steuern. Vorzugsweise
als Beden (precariae, petitiones) werden diese Abgaben bezeichnet;
aber auch andere Benennungen (stiura, collecta, exactio, stipen-
dium, pensio, data, tallia; gescoz, gewerf, consagittatio) kommen
gleichbedeutend vor (das in Flandern begegnende Wort Kerbe
= tallia, incisura, zusammenhangend mit Kerbholz, ist Zeumer
entgangen). Solche Beden sind aber keineswegs auf die Stadte
beschrankt, sondern friiher als hier schon auf dem Lande nach-
weisbar. (I.) Die landlichen Steuern und Beden haben
sich zuerst in den Immunitatsbezirken zu geregelten Formen
und zu einem anerkannten Institut herangebildet. Sie werden
16*
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244 Zeumer, Die deut3chen Stadteateueni, insbes. die stadt. Reicks3teaera etc.
hier vorzugsweise von den Vogten erhoben, und aller Widerstand,
den die Kircheh gegen die Bedeforderungen ihrerVogte geleistet
liaben, hat nur den Erfolg gehabt, dass die Erhebung der Beden
vieler Orten geregelt, vor Ausartung geschiitzt und unter Kon-
trolle gestellt wurde. Neben den Vogtbeden kommen dann Beden
der Immunitatsherren selbst seit dein Eude des 12. Jahrhunderts
immer haufiger vor; in den weltlichen Territorien dagegen
finden sich die ersteron natiirlich nicht, wahrend Beden der
Landesherren — entsprechend auch Beden des Konigs in den
ihm unmittelbar untergebenen Gebieten — ebenfalls sehr vielfach
als ordentliclie Lasten nachweisbar sind. Die Art der Erliebung
dieser Beden war auf dein Lande eine sehr verschiedene : bis-
weilen wurden den Gemeinden als solchen ein fur allemal fest-
stehende oder auch in ihrer Hohe schwankende Gesainmtsteuern
auferlegt, an anderen Orten aber wurden die Beden direkt von
den einzelnen Steuerpflichtigen, sei es nach fixirten, sei es nacli
variirenden Ansatzen erhoben. Neben dieseu ordentlichen, regel-
massig wiederkehrenden Jahresbeden wurden auch ausserordent-
liche Steuern fur ausserordentliche Bediirfnissfalle (rzwingende
Noth") von den Landesherren oder dem Kaiser erhoben.
(II.) Die Steuerpflicht der Stadte unterscheidet sich
nun principiell nicht von der allgemeinen Verpflichtung zu
Steuern und Beden, von der nur einzelne Stadte durch besoudere
Privilegien eximirt wurden; nur war wenigstens im 13. Jahr-
hundert in der grossen Mehrzahl der steuerpflichtigen Sidte
der fur diese giinstigste, weil eine unabhangige Finanzver-
waltung ermoglichende Modus der Gesammtbesteuerung durch-
gefuhrt, d. h. die Stadtgemeinde zahlte als solche die Steuer.
die Art der Aufbringung war ihr iiberlassen. Fast rogelmassig
wurde die Steuer jahrlich gezahlt; ihre Hohe ein- fur allemal
zu bestimmen musste das natiirliche Streben aller Stadte sein,
das im Laufe des 13. Jahrh. vielfach verwirklicht wurde. Die
Zahlungstermine waren verschieden, der gewohnlichste spater
11. November (Martini). Neben diesen „gewohnlichen Steuern''
begegnen ausserordentliche Abgaben fur den Hofdienst und die
Heerfahrt des Konigs (Hof- und Heersteuern) und andere ausser-
ordentliche Zwecke. Die gewohnliche Steuer wurde dem Stadt-
herren (Konig oder Landesfurst), in Stadten geistlicher Fiirsta
auch dem Vogt gezahlt, die ausserordentlichen Steuern sind
vorzugsweise in den grosseren Stadten geistlicher oder weltlicher
Fiirsten nachzuweisen. (III.) DerUrsprung dergewohn-
lichen Steuern ist auf dem Lande wie in den Stadten
wesentlich der gleiche. Sie hangen nicht mit dem Grundzms
zusammen, wie Fichard und Jager angenommen haben, und
lassen sich nicht mit Eichhorn aus dem Recht des Landesherrn.
eine Entschadigung fiir die Lasten des Reichsdienstes oder die
Landesvertheidigung zu fordern, erklaren: alle Beden vielmebr
sind urspriinglich rein private Unterstiitzungen im Falle eines
privaten Geldbediirfnisses des Herrn ; es sind freiwillige LeistungeD
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Zeumer, Die deutsehen Stadtesteuern, insbes. die stfidt. Keiehssteuern etc. 245
(daher Bede, precaria, petitio), die spater zur Pflicht wurden.
Die Hof- und Heersteuern dagegen, welche neben und aiisser
der gewohnlichen Steuer erhoben werden, gehen znm Theil auf
bestimmte altere Verpflichtungen zu Naturalleistungen u. s. w.
zuriick. Nur in einzelnen Fallen, so z. B. in Muhlhausen, ist
auch die ordentliche Steuer nicht von Haus aus allein eine Bede
gewesen, sondern aus verschiedenartigen Verpflichtungen hervor-
gegangen. (IV.) Die Aufbringung der Stadtesteuern
und ihr Verhaltniss zum stadtischen Haushaltwar
Eatiirlich nicht iiberall gleichmassig geregelt. Im Lauf des
13. Jahrhunderts ging in den meisten Orten die Verwaltung der
Steuer von den Beamten der Stadtherren (bischoflichen Mi-
nisterialen, Burggrafen, Vogten) auf Burger und Rath iiber, ein
Entwicklungsgang, der sich besonders deutlich z. B. in Regens-
burg verfolgen lasst. Ueber die Art der Aufbringung der Steuer
— meistens durch direkte Umlage — besitzen wir die aus-
iiihrlichsten Angaben aus Augsburg. Hier wurde eine allgemeine
Vermogenssteuer erhoben; den Procentsatz des Vermogens, der
im einzelnen Jahre einzufordern war, setzte der Rath fest ; dann
wurde zur Ausfiihrung des Steuergeschafts eine Commission des
Raths erwahlt, vor welcher die einzelnen Burger auf ihren Eid
ihr Vermogen selbst einschatzten ; im Fall einer vermutheten zu
niedrigen Einschiitzung hatte die Commission das Recht, die
ganze Habe des Contribuablen fur den Einschatzungspreis zu
iibernehmen ; das ganze Verfahren war mit alien Garantieen der
Geheimhaltung umgeben. Einen ahnlichen Modus kann man in
vielen anderen Stadten nachweisen. Beitragspflichtig war in
erster Linie natiirlich die gesammte Burgerschaft , bisweilen
wurde die Pflicht auf alle Einwohner ausgedehnt. Exception
nahm die Geistlichkeit in Anspruch, nicht nur fur ihre Personen,
sondern auch fur ihre Giiter, vielfach auch fur die auf denselben
aDgesessenen Leute. Ueber dieso Pratension kam es zu vielfachen
Conflicten zwischen den Stadten und dem Clerus, da die Grenz-
linie zwischen Burgerschaft und geistlichem Hofrecht schwer zu
bestimmen war; im allgemeinen gait der Grundsatz, dass Theil-
nahme am kaufmannischen Handel und Freiheit vom taglichen
Dienst zur Steuerzahlung verbanden ; und an vielen Orten wurde
es ausserdem durchgesetzt, dass bei ferneren Ueber tragungen
biirgerlichen und daher steuerpfliohtigen Gutes in die tote Hand
die Verpflichtung zur Steuerzahlung nicht aufgehoben wurde.
Neben den directen Vermogenssteuern wurden in vielen Stadten
noch Zolle und Ungelder, indirecte Verkehrs- und Consumptions-
steuern, erhoben: fur die Aufbringung der Stadtesteuern in
unserem Sinne des Wortes wurde aber ihr Ertrag in der Regel
nicht verwendet, wahrend andererseits sehr haufig ein etwaiger
Ueberschuss des Ertrages der directen Abgabe iiber die von
der Stadtgemeinde zu zahlende Stadtesteuer zu anderweitigen
Zwecken des stadtischen Haushalts verwandt werden konnte.
(V.) Das Reich hatte ein unmittelbares Interesse zunachst
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246 Zeumer, Die doutscheu Stadtesteuern, insbes. die stadt. Reiehsateuem etc.
nur an den Stadtesteuern, insoweit sie direct dem Konig,
sei es als Stadtherrn, sei es als Yogt in der Stadt eines geist-
lichen Herrn, zuflossen, oder aber insoweit sie dem Fiirsten als
Hof- und Heersteuern zum Behuf des Reichsdienstes entrichtet
wurden. Eine historische Uebersicht iiber das Verbalten der
einzelnen Herrscber zu den Stadtesteuern hat daber wesentlich
diese beiden Punkte ins Auge zu fassen. Bis gegen das Elide
des 13. Jahrb. kommen ordentliche Stadtesteuern an das Reich
in den Quellen nicht vor, wabrend in den Bischofsstadten ausser-
ordentiiche Hof- und Heersteuern an die Bischofe gezablt wurden.
Nachdem von den letzten Saliern das Bestreben der Stadte, sicb
durcb directe Leistungen ans Reich von ibren Biscbofen zu
emancipiren, vielfaoh unterstiitzt war, hielten die ersten Staufer
urn so entschiedener an der Erfullung der Yerpflichtungen der
Stadte gegen ihre Herren fest Erst wabrend des Thromtreites
zwiscben Otto und Pbilipp tritt das gleicbe Bestreben der Stadte
wieder mebr hervor. Auch unter Friedrich II. dauert dasselbe
fort : seine schwankende, lavirende Politik gegen die Stadte fuhrt
ibn doch, nachdem sein Versuch, mit einem Scblage die landes-
herrliche Gewalt in den Stadten wieder herzustellen, sich als
undurchfuhrbar erwiesen hatte, gegen Ende seiner Regierung
dahin, die Selbstandigkeit der stadtischen Gomeinden moglichst
zu begiinstigen. Unter den scbwachen Konigen des Interregnums
wucbs die Macht der Stadte mebr und mehr. Rudolf von Habs-
burg fand in ihnen wohlgeschonte Steuerkrafte, die er mit aller
Energie bestrebt war dem Reich dienstbar zu machen. Er er-
hob zunachst von alien koniglicben Stadten, auch denen, die
bisher davon frei gewesen waren, und von einzelnen Bischofc-
stadten, die sich dessen nicht erwehren konnten, (so Augsburg,
das deshalb spater Reichs- und nicht Freistadt war J feste
Jahressteuern; er beanspruchteferner zuerst von all en Stadten, aucb
den Bischofsstadten, ja auch denen weltlicher Fiirsten, fur ausser-
ordentliche Bediirfiiisse ausserordentliche Leistungen; die ersten
allgemeinen Stadtesteuern sind unter ihm aus-
geschrieben worden. Sein anfanglicher Versuch, dabei die einzelnen
Burger direct heranzuziehen, mislang zwar; als er aber darauf
verzichtete und sich nun an die auf Stadtetagen zusammen-
tretenden Communen als solche wandte, erhielt er von ihnen
sehr um£angreiche Bewilligungen. Der Nutzen, den das Reich
aus diesen bedeutenden Abgaben hatte Ziehen konnen, ging ibm
freilich zum grossen Theil durch die unglaublich schlechte ^e^
waJtung der Reichsfinanzen wieder verloren.
Wir schliessen hier unseren Auszug aus dem inhaltreichen
Buche Zeumers. Der kurze Vorblick, den der Ver&sser noch
auf die Geschichte der Stadtesteuern in den nachsten Jahr-
hunderten wirft, soil den Gegenstand nicht erschopfen; eine
weitere Behandlung desselben, wie sie in Aussicht gestellt wird»
wird sehr willkommen sein. Dass wir gegen manche Einzel*
heiten der Darstellung Zeumers Bedenken haben, die niiher w
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Hegel, Ueber den historischeti Werth der filtered D ante -C onimeii tare. 247
erortern der Zweck dieser Zeitschrift verbietet, hindert uns nicht,
dem Buch iin ganzen als einer der besten Arbeiten auf dem noch
so sehr vernachlassigten Gebiet der niittelalterlichen Finanz-
geschiehte unsere voile Anerkennung zu zollen. Fiir seinen Plan
einer Fortsetzung mochten wir ibn nur noch auf eine De-
duction8Scbrift von 1733 hinweisen: Pro memoria, die eigentliche
Beschaffenheit der an Ihro Rom. Kaiserl. Majestat von der Reichs-
Statt Scbweinfurt alljahrlich in 100 fl. Gemeiner Rheinischer
W&hrung zu praestiren seyenden Reichs-Statt-Steuer betreffend,
aus der bei Moser 17, 476 ff. Mittbeilungen gemacht werden,
und die wenigstens fiir die Anschauungen der spateren Zeit liber
diese Steuer Aufschluss giebt.
Berlin. H. Bresslau.
LYIL
Hegel, C, Ueber den historischeti Worth der alteren Dante-
Commentare. Mit einem Anhang zur Dino-Frage. 8°.
(115 S.) Leipzig 1878. S. Hirzel. 2,80 M.
Der Verf. behandelt in der vorliegenden Schrift die ver-
schiedenen alteren, durcb den Druck bekannt gemachten Dante-
Commontare, im Ganzen 15, von den altesten, noch bei Lebzeiten
des Dichters im Anfange des 14. Jahrhunderts geschriebenen
(Chiose anonime und Comento alia cantica del Inferno) an bis
zu den in der Mitte des 16. Jahrhunderts von Vellutello und
Varchi verfassten, hauptsachlich mit Riicksicht auf ihren histori-
schen Werth, d. h. auf die Quellen, welche sie fiir ihre histori-
schen Bemerkungen benutzt haben, und auf ihr Abhiingigkeits-
verhaltniss unter einander. Referent erlaubt sich das Resultat
dieser Untersuchungen mit den Worten, in welche der Verf.
selbst (S. 91 f.) dasselbe zusammengefasst hat, anzugeben.
„Abgesehen von der alten Geschichte und Mythologie, deren
Kenntniss sie aus , den romischen Autoren oder von diesen ab-
geleiteten Compilationen des Mittelalters schopften, waren die
ersten Grlossatoren und Commentatoren des Dante bis Mitte des
14. Jahrhunderts, welche noch nicht die vortreffliche Chronik
des Giovanni Villani besassen, fiir die italienische und Zeit-
geschichte des Dichters theils auf mundliche Tradition, der sie
noch nahe standen, theils auf dieselben historischen Quellen an-
gewiesen, welche auch Villani benutzt hat: als solche erkannten
wir die Schrift iiber den Ursprung von Florenz (De origine
civitatis) in den altesten Glossen zum Inferno (von Selmi herausg.)
und dem ihnen verwandten Auonimo (von Lord Vernon), sowie
auch in dem ersten vollstandigen Commentar des Jacopo della
Lana; sodann auch die von Scheffer-Boichorst nachgewiesene
Quelle der Gesta Florentinorum in dem Commentar des Ottimo.
Die Benutzung der Chronik von Villani unterscheidet die spateren
Commentare nach Mitte des 14. Jahrh. von den friiheren: wir
fanden sie zuerst in dem Commentar des Bocaccio, nachher noch
mehr in dem des Benvenuto da Imola und dem s. g. Anonimo
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'248 Hegel, TJeber den historisehen Werth der alteren Dante-Commentare.
Fiorentino. Doch bat von ihr der Pisaner Buti nur in seinem dritten
Theil, der Mailander Guiniforte gar -keinen Gebrauch gemacht
Selbst der Florentiner Landino hat sich ofter bloss an Benvenuto
von Imola statt an Villani, dessen Quelle, gehalten; daneben hater
aber auch die angeblich im J. 1200 verfasste Chronik des Ricor-
dano Malespini, den er Perdano Malespini nennt, an einigen Stellen
ausgeschrieben und damit zuerst, soviel bekannt, deren Yor-
handensein zugleich mit der Anerkennung ihrer Echtheit von
Seiten der Akademiker zn Florenz bezeugt. Endlich ist Vellutello
ganz besonders wieder auf Villani zuriickgegangen, woneben er
gelegentlich noch einige bekannte Chroniken hinzugezogen hat.'4
In einem Anhange: ,,Zur Dino-Frage" hat der Verf. noch
einmal im Gegensatz gegen Scheffer-Boichorst und Faufani
(s. unsere Besprechung der £riiher gewechselten Streitschriften
in dieser Zeitschrift, Jahrg. 4, S. 143 ff.) die Frage nach der
Echtheit der angeblichen Chronik des Dino Compagni erorteit
Die Veranlassung dazu hat ihm der Umstand geboten, dass,
worauf zuerst Scheffer - Boichorst auftnerksam gemacht hat,
wahrend die Prioritat der Entdeckung sich der Vertheidiger
Dino's IsicL del Lungo zuschreibt, in einem dieser Dante-Com-
mentare, dem sogen. Anonimo Fiorentino aus dem Anfange dea
15. Jahrh., eine Verwandtschaft, sogar wortliche Uebereinstimmuiig
mit Dino hervortritt. Scheffer-B. hat dieses Verhaltniss so er-
klart, dass auch dieser Dante-Commentar von dem Falscher des
Dino fur seine Zwecke ausgeschrieben sei, und er hat darin einen
neuen Beweis fur die Unechtheit der Chronik gefunden, wahrend
del Lungo umgekehrt behauptet, der Anonimo habe Dino aus-
geschrieben, und daran die Folgerung kniipft, jener sei also schon
zu Anfang des 15. Jahrh. bekannt gewesen, also sei die Annahme
der Falschung der Chronik im 16. oder 17. Jahrh. hinfallig.
Hegel untersucht nun genau die Stellen, in welchen jene Ueber-
einstimmung zwischen Dino und dem Anonimo hervortritt, und
zeigt, dass in der That nicht Dino den letzteren, sondern dieser
jenen oder vielmehr die urspriingliche Quelle des heutigen Dino
ausgeschrieben hat. Er zeigt ferner, dass gerade eine derjenigen
Stellen Dino's, welche von Scheffer-B. am meisten angefochten,
als ein blosses verleumderisches Phantasiestiick bezeichnet worden
war, durch eine kurze Bemerkung Dante's und durch die daran
angekniipften Nachrichten seiner Commentatoren , ausser des
Anonimo auch des alteren Ottimo, in der Hauptsache als richtig
beglaubigt wird. Er wiederholt dann noch einmal die schon in
seiner fruheren Schrift aufgestellte Ansicht, dass die Chronik
des Dino nicht eine vollstandige Falschung sei, sondern dass
derselben ein echter Kern von Denkwiirdigkeiten jenes floren-
tinischen Staatsmanns zu Grunde liege, welcher aber spater sehr
ungeschickt iiberarbeitet sei und so in der jetzt uns vorliegenden
Chronik durch allerhand Anachronismen, Missverstandnisse und
falsche, geradezu erftindene Nachrichten entstellt sei.
Berlin. F. Hirsch.
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«F?
Nerger, Die Goldene Bulle Bach ihrem Ursprungo u. reichsrechtl. Inhalt. 249
LVHL
Merger, Emil, Die Goldene Bulle nach ihrem Ursprunge und
reich8rechtlichen Inhalt. Inaugural - Dissertation, gr. 8.
(52 S.) Prenzlau 1877. (Gottingen, Vandenhoeck u. Ruprecht.)
1 M.
Die Goldene Bulle, welche seit dem XV. Jh. in zahlreichen
Ausgaben und Uebersetzungen verbreitet war und in den all-
gemeinen Werken iiber das Jus publicum Sacri Romani Imperii
sowie in besonderen Schriften immer von neuem commentirt
wurde, horte mit der Auflosung des alten Reichs auch fur die
Historiker auf, Gegenstand eingehender Untersuchungen zu sein :
werden doch auch heute noch die grossen Verdienste, welche
sich die Publicisten des XVII. und XVIII. Jh. um die Bearbeitung der
deutschen Geschichte erworben haben, keineswegs genugend ge-
wurdigt.1) Dem gegeniiber ist es eine bemerkenswerthe That-
sache, dass in letzter Zeit zwei Specialabhandlungen iiber die
Goldene Bulle erschienen sind: die erste von Detto (Programm
des Gymnasiums in Wittstock 1872), sodann die oben angefiihrte
Dissertation von Nerger.
Beides sind Arbeiten, die nicht ohne Sorgfalt gemacht sind
(besonders die von Detto), aber dass sie tief in den Stoff ein-
gedrungen waren, konnte man nicht sagen: wollte man auch
nur das Material, welches von Ludwig und Olenschliiger geboten
wird, kritisch und dem Stande unserer jetzigen Forschung ent-
sprechend verarbeiten, so waren ganz andere Abhandlungen als
die beiden genannten denkbar, welche denjenigen, dem die
Goldene Bulle und ihre Zeit ferner liegt, nur eben orientiren.
Allerdings hat Detto das Verdienst, nachgewiesen zu haben, an
welchen Tagen die vier ersten Satzungen der Gr. B. vermuthlich
zu Stande gekommen sind, und Hr. Nerger hat nach gleicher
Methode2) fUr die fiinfte den 7. Januar und fur die Metzer den
11. December bestimmt ; auch hat Hr. N. einige Puncte richtiger
als Detto, wie er z. B. S. 13 die Ungenauigkeit des Plothoschen
Mscr. scharfer betont und S. 29 die Annahme eines zweiten
feierlichen Einzuges in Metz, den der Kaiser am 23. December
gehalten hatte, mit Recht zuruckweist; ebenso soil nicht ge-
leugnet werden, dass die allgemeinen historischen Verhaltnisse,
unter deren Einflus die G. B. entstand, von Hrn. Nerger ein-
gehender dargelegt sind, als es von Haberlin und Pelzel ge-
schehen war: dennoch hatten sich Gesichtspuncte, wie sie z. B.
Friedjung in seinem Karl IV. aufstellt, doch unschwer dargeboten.
— Die Arbeit zerfallt in drei Theile : im ersten (S. 1 —34) wird
die Entstehung der G. B. im Zusammenhang der Ereignisse dar-
gethan; der zweite behandelt den Verfasser der G. B., als
welchen der Vf. den damaligen Kanzler Karls, Johann von Neumarkt
J) Jetzt ffingt man an sie mehr zu wtirdigen, s. Lorenz, G.-Q. II, S. 308.
*) Es muss auffallen, dass Hr. N. bei der Zeitbestimmong der ersten
vier Satzungen Detto nich! citirt, den er doch sonst sehr wohl kennt.
Digitized byVnOOQlC
250 Nerger, Dio Goldene Bullo nach ihrem Ursprunge u. reichsrechtL Inhrit
(de Novoforo), ansehen will, der insbesondere seit des Kaisers
Zug nach Italien stets in dessen Umgebung war; was wir
iiber ihn wissen, wird S. 35 — 37 zusammengestellt. Der dritte
Theil endlich giebt eine Uebersicht iiber den Inhalt der 6. B.
Ueber einige Puncte, welche im ersten Theil behandelt
werden, haben wir schon gesprochen; sonst ist uns hier acf-
gefallen, dass der Vf. der Meinung ist, das Erzschenkenamt sei
vor Friedrich I. im Besitze Baierns gewesen? das ist eine An-
sicht, zu welcher die Publicisten des alten Reichs nur durch
falsche Riickschliisse gekommen waren und die niemand mehr
theilt. — Bei dem, was der Vf. S. 10 f. iiber den Streit zwischen
Wilhelm von Braunschweig-Liineburg und den Sachsen sagt, hatte
er, wenn er fur das rechtswidrige Verfahren des Kaisers kein
Wort der MissbilKgung hat, die Bemerkungen beriicksichtigeu
sollen, welche der im deutschen Staatsrecht sehr competent
Haberlin Umst. T. Reichs-Hist. Ill, 748 ff., macht.1)
Was den zweiten Theil anbetrifft, so darf man von eineni
Vorfasser der G. B. in dem Sinne, wie es der Vf. thut, nicht
sprechen. Hier hatte Detto schon die Sache richtiger getroffen,
wenn er kurz sagt, die Gesetze seien in der Kauzlei stilisirt
worden. Ebenso fasst es Friedjung S. 87, der mit Recht her-
vorhebt, dass dem Kaiser dazu ein zahlreiches und wohlgeschultes
Personal zu Gebote stand. Hier hatte der Vf. sioh die Aufgabe
stellen konnen, nachzuforschen, wie iiberhaupt in jener Zeit auf
den Reichstagen verhandelt wurde. 2) — Die Aufzeichnung dessen,
woriiber man sich vereinigt hatte, machte vielleicht nicht so viel
Mtthe als es scheinen konnte, da die Gegenstande meist schon
mannigfach in Urkunden behandelt waren. Z. B. hebt Friedjung
S. 84 hervor, dass das Gesetz iiber die Pfahlburger (G. B. c. 16)
nur die Wiederholung einer Constitution v. 1354 ist, und bis
c. 7 ist offenbar die sogen. Prager Goldene Bulle vom 6. Octo-
ber 1355 benutzt. Hr. N. halt das freilich nicht fur wahr-
scheinlich und meint, die Prager G. B. beruhe vielniehr auf dem
bereits fiir den Nurnberger Reichstag ausgearbeiteten Entwarfe
des Reichsgesetzes ; aber Griinde bringt er nicht vor.
Im dritten Theile werden an die Uebersicht des Inhalts der
einzelnen Capitol mitunter erlauternde Bemerkungen geknupft,
*j Auch Pelzel billigt das Verfahren dea Kaisers, aber trotz der grossen
Verdienste, die er urn die Geschichte Karls IV. bat, ist or doch zu sehr Partei
und hatte bei weitem nicht die grundlichen Kenntnisse des deutschen Staats-
rechts, welche Haberlin auszeichnen. Havemann, (Jesch. d. Lande BrauR-
echweig-Luneburg I8 S. 464, auf den sich Nerger beruft, steilt sich auf Seiten
des Braunschweigers, freilich auch, ohne das Yerfahren Karls zu kenn-
zeichnen.
s) Schwerlich wird in den eigentlichen officiellen Sitzungen der Scbwer-
punct der Verhandlungen gelegen haben; diese werden vielmehr nur dazn
gedient haben, demjenigen, woriiber man sich vorher durch mauiiigfach*
Besprechungen geeinigt hatte , eine formliche Anerkennung zu geben. So
war es bei der Konigswahl — vergl. meine Bemerkungen in dies er Zschr. Ill
S. 147 ff. — und bei dem Berliner Congross des Jahres 1878. Die Hauptsacben
wurden vor den Sitzungen erledigt.
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Merger, Die Goldoue Bulle- nach ihrfera Ursprungo u. reiclisrechtl. Inhalt. 251
ohne d&ss jedodh genugend hervortrate, wie viele Puncte den
Auslegern die grossten Schwierigkeiten gemacht haben und auch
immer machen werden. Wenn der Vf. wie viele andere nicht
bemerkt, dass die Goldene Bulle, wie alle Gesetze des Mittel-
alters, wesentlich anders zu beurtheilen und zu commentiren ist
als es jetzt mit unseren Gesetzen geschehen kann, so ist ihni
das allerdings nicht so sehr iibel zu nehmen. — Ob er erkannt
hat, dass Karl IV. das.Privilegium de non appellando fur Bohmen
und dessen Pertinenzen obne alle Einschranku ng gab,
sodas8 aucb nicht einmal im Falle verweigerter Justiz Berufung
an den Kaiser eingelegt werden konnte, ist nicht deutlich zu
ersehen, und doch wurde gerade in diesem Puncte das Recht,
welches Karl IV. durch G. B. c. 10, 3 erlangte, Reichslande
in Bohmen incorporiren zu diirfen, so iiberaus wichtig: ein
Recht, dessen fUr Deutschland hochst nachtheilige Wirkung
Pelzel S. 970 vergeblich herabzumindern bemiiht ist.
Die Frage, welche Absicht denn Karl bei Erlass der G. B.
gehabt habe, unterzieht Hr. N. keiner Erorterung, weil er, wie
l)etto ohne Weiteres annimmt, der Kaiser habe dem Reiche in
der That eine Wohlthat erweisen wollen. Gegen diese Ansicht
kann Ref. an diesem Orte seinen Protest nicht zuriickhalten,
zumal neuerdings auch Lindner (Gesch. d. D. R. unter Wenzel
S. 12) und Friedjung a. a. 0. den Kaiser zu „retten" suchen.
Ret muss dabei bleiben, dass Karl IV. ausserordentlich treffend
durch den bekannten Ausspruch Maximilians gekennzeichnet ist.
Man muss bedenken, dass Maximilian Karl IV. nicht bloss zeit-
lich viel naher steht, um ihn besser beurtheilen zu konnen als
wir, sondern auch in Denk- und Anschauungsweise. Muss doch
auch Lindner S. 13 zugestehen, dass die deutsche Krone dem
Kaiser nur Mittel war, seinen Familienbesitz zu vermehren.
Einen andern Standpunct hat Karl dem Reiche gegeniiber auch
in der G. B. nicht eingenommen, und wenn Lindner diesen ge-
rechtfertigt findet, so bedauert Ret, hier anderer Ansicht zu
sein. — Wenn aber Lindner meint, Karl habe nach und nach
mit einer grosseren Planmassigkeit alle kleineren Gebiete ab-
sorbiren wTollen, um der grenzenlosen Zersplitterung ein Ende
zu machen, so fragt man sich doch unwillkiirlich, ob das im
Ernst gesagt sei; es erinnert zu sehr an die politischen Be-
strebungen unserer Zeit. — Karl IV. verfolgte immer sehr reale
und handgreifliche Ziele: wenn er Ordnung liebte und anstrebte,
so geschah es nur, um in seinem Interesse mit den Dingen besser
fertig werden zu konnen. So enthalten die Majestas Carolina
und der Ordo judicii terrae, welche er in Bohmen einzufuhren
suchte, allerdings bemerkenswerthe Fortschritte , aber worauf
laufen sie ?m wesentlichen hmaus ? nur auf die gesetzliche Sicher-
stellung der Koniglichen Rechte, die auf eine solide fi-
nanz'ielle Basis gestellt werden soil ten, wie Friedjung
ausfiihrt! Und was ist nun in der G. B. so iiberaus auffallend?
Die Bevorzugung Bohmens, das dem Reiche gegepiiber Rechte
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252 TViegand. Bellum Waltherianum.
erhalt, ohne eine einzige Pflicht zu iibernehmen! DieseMehnmg
Bohmens konnte aber nur erlangt werden durch Zugestandnisse
weitgehender Rechte an die Kurfiirsten und andere Grosse: in
diese Kategorie wird namentlich das Gesetz iiber die Pfahlbiirger
gehoren, welche den Fiirsten, deren Macht sie sich zu entziehen
suchten, ein Dorn im Auge waren. Auch gewahrte die Auswahl
unter den verschiedenen Linien des Wittelsbachschen Hauses,
die urn die Kurstimmen der Pfalz und Brandenburgs stritten,
sowie unter den Wettinern dem Kaiser nur ein Mittel, sich
miicbtige Freunde zu erwerben. Insbesondere hat Karl IV. damals
sicberlich noch nicht die Hoffnung auf mannliche Nachkommen
aufgegeben gehabt, die ihm freilich erst 1361 erfullt wurde:
begte er aber den Wunsch, dass einmal ein Sohn von ihm, der
Erbe des machtigen und reichen Konigreichs Bohmen, ihm audi
auf dem deutschen Throne nachfolgen solle, wie konnte er ihm
den Weg besser ebnen, als wenn er einerseits die Wahl an feste
Normen band, die den Anlass zum Biirgerkriego ausschlossen,
andrerseits den Einfluss des Papsts audi schon fiir die Zeit des
Interregnums fern hielt ? Wurde doch ausdriicklich in der G. B.
noch bestimmt, dass der Konig von Bohmen sich selbst zum
deutschen Konig wahlen diirfe. Lindner freilich S. 12 bezweifelt,
dass Karl bei Erlass der G. B. gohofft habe, seinem Geschlecht
den deutschen Thron zu erhalten, weil die Bestimmungen der-
selben auf den weiteren Bestand des Wahlreiches bereclinet
seien ; aber den deutschen Kurfiirsten das Wahlrecht zu nehmen,
daran konnte doch Karl IV. unmoglich denken, und dass in
seinen Bestrebungen nach der Geburt Wenzels eine ganz be-
sondere Energie zu Tage tritt, hebt er S. 14 auch selbst hervor.
Berlin. Edm. Meyer.
LIX.
Wiegand, Wilhelm. Bellum Waltherianum. (Studien zur elsassi-
schen Geschichte und Geschichtschreibung im Mittelalter.)
Strassburger Habilitationsschrift. gr. 8. (94 S.) Strass-
burg 1878. Carl Triibner. 2 M.
Wieder hat die bedeutendste Episode der mittelalterlichen
Geschichte Strassburgs einen Bearbeiter angezogen! Derselbe
ist aber mit sehr vermehrtem urkundlichem Material aus dem
Strassburger Stadt- und Bezirksarchiv, aus den Archiven vod
Colmar und Metz an die Arbeit herangegangen , und seine
Studie hat daher auch zu neuen Ergebnissen gefuhrt. Die
musterhafte Methode, der ergebnissreiche Gang, endlich auch die
schone Darstellung und Sprache befriedigen die Erwartungen,
welche die Bezeichnung Habilitationsschrift erregt. Eine solche
Schrift hatto nicht nothig, sich das Existenzrecht durch den
Nachweis einer Liicke in der Litteratur gewissermassen erst zn
erobern, me es in der Einleitung geschieht, durch eine kune
kritische Sichtuug der Litteratur iiber das bellum Waltheriannm
(Mon. Germ. XVII), sofern sie hinter der Schreckensteinischen
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Wiegand. Bellum Waltherianum. 253
Monographic iiber Walther von Geroldseck (1857) liegt. — Der
Herr Verf. verfolgt nun einen doppelten Zweck: I. giebt er ,.eine
Eutwicklungsgeschichte der chronikalischen Ueberlieferung" ;
II. eine positive Darstellung des Waltherschen Kriegs, bei der
er zwar mehr als seine Vorganger Richer's chronicon Senoniense
heranzieht, aber immer noch nicht in dem Masse, wie icb glaube,
dass es hierfiir in Contribution zu setzon ware. (s. u.)
Durch die Untersuchung iiber die verschiedenen laden der
Ueberlieferung ini 13. und den folgenden Jabrhunderten wird
unsre Einsicht iiber das von Hegel und Lorenz erreichte Niveau
nichi, unwesentlich hinausgeftihrt, und die momentane Hohe der
Forschung ist vorerst in ibr erreicht. Darum, ohne ausfuhrlicher
ins Einzelne eingehen zu konnen, miissen die gewonnenen Re-
sultate binreichend bezeichnet werden. Die Relation in Ellen-
hardt codex, kurz als bellum Waltherianum bezeichnet, liegt
alien spateren Strassburger Berichten zu Grunde, und dessen
direkte Benutzung schliesst erst mit Wimpheling, vor Hedio ab.
Auf „Ellenh." zuriick geht die (verbrannte) latein. Chronik
Konigshovens , von der uns Strobels Abdruck wenigstens die
Episode des Waltherschen Kriegs erhalten hat. Der Nachweis
fiir diese Ableitung wird schlagend aus dem sprachlichen Ausdruck
Konigsh/s erbracht, welcher an vielen Stellen eine sklavische
Ausnutzung von „Ellenh." verrath. Aber dies bellum existirte
offenbar, wie schon Jaffe erkannte, in mehreren Redactionen.
Da hat nun Dr. Wiegand treffend festgestellt, auf welcher von
ihnen Konigsh. (lat.) fusse. Der Closener stimmt namlich in
vielen Punkten (meistens allerdings sprachlicher und unter-
geordneter Natur) mit lat. Konigsh. gerade, wo dieser vom bellum
abweicht, wahrend die deutsche Chronik Konigsh.'s sich
wortlich an Closener anlehnt. Bei dem fliichtigen Epitomator
Konigshoven ist aber die Unwahrscheinlichkeit erdriickend, dass
er den „Ellenhard" und den Closener beide zugleich vor sich
gehabt und ineinandergewirkt habe. Vielmehr ist anzunehmen,
da unser „Ellenh." ohnehin interpolirt ist, dass ein alterer Text
des bellum existirte, als der jetzt in den Monumenten vorfind-
liche, und dass diese „vielfach abweichende Redaction" dem
Closener wie dem lat. Konigsh. zu Grunde liege: — ein ebenso
sicheres wie gliickliches Ergebniss. — So umsichtig und spiir-
sinnig die folgende Auseinandersetzung iiber den Verfasser
des bellum einherschreitet, so ist ihr Ertrag dennoch negativ:
»Der Verfasser, welcher in Ellenhards Auftrag das bellum schrieb,
ist unbekannt." Gottfried von Ensmingen kann es nicht wol
sein, weil er seiner litterarischen Gepflogenheit nach sich ge-
nannt haben wiirde; noch weniger ist der vielbeanspruchte
Carmeliter Petrus annehmlich. Denn Wiegand weist aus urkund-
lichem Funde nach, dass Carmeliter efst anno 1316 in Strass-
burg Eingang fanden, wahrend Closeners friiheste Redaction aus
1290 stammt und ihrerseits bereits das fertige bellum voraus-
8etzt. Nur formell fehlt vielleicht insofern der trefflichen Unter-
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254 Wiegand. Bellum Waltherianuni.
suchung iiber den Autor ein gewisser Abschluss, als sie bezielt^
dass derselbe „ein Epigone" sei, wofur man sich das Beweis-
material, iiber das ganze Buch hiu zerstreut, zusammensnchen
muss (bes. S. 50 und bei den spiiteren Fehlern gegen die
Chronologie).
Floss bei den genannten Schriftstellern der Strom der un-
mittelbttren Strassburger Ueberlieferung , so enthalt das
wenig benutzte chron. Senon. (Ricb.) mittelbar die Strass-
burger Tradition. Denn Richer war in Strassburg erzogen, zeigt
sich selbst iiber geringfiigige Vorgange im Elsass wolunterrichtet
(dafiir verweise ich auf lib. V, cap. 1 und 2 1), so dass Wiegand
sogar die Frage aufwirft, ob vielleicht Richer und Wimphe-
ling gemeinsam aus einer verlornen Quelle, etwa einer Chronik
der Strassb. Dominikaner geschopft haben mochten. Denn Wimphe-
]ing beniitze den Richer nicht furs bellum, und doch stimme er
allein merkwiirdig mit ihm bez. des Baus des ersten Dominikaner-
klosters in Strassburg.
Allein es lasst sich nach meiner Ansicht geradezu der Be-
weis fuhren, dass dem Richer schriftliche Quellen, nicht
wie "Wiegand S. 8 wieder meint, miindliche, iiber unsren Krieg zn
Gebote standen. Seine Wiedergabe deutscher Namen ist namlich
keineswegs aus „walscher Aussprache" (Wgd.) erklarlich, sondern
verrath eine verstandnisslose Umschreibung schlechtgeschriebener
und schlechtgelesener fremder Wortbilder. Greifen wir dafiir
in das chronicon hinein : Strahelerh fur Straheleck ; Geroh(e)feke
fur Gerolzeck; Havalo fiir Hanave; Dakvestein fur Dahstein;
Lietstemberch fur Liehtenberg u. a. Ich denke, dies iiberzeugt
'•yollig, dass hier von einem Franzosen deutscho Namen falsch
abgeschrieben, nicht in franzos. Aussprache urn-
geschrieben wurden.1) Ganz anders is^s bei „Werseborchu
(Wiirzburg), wo Richer meist selbst verweilte, ganz anders mit
deutschen Namen aus der Niihe, die er g e h o r t hatte, wie Salm,
Mulnehuse u. a. Forner schliesst Richer fur elsass. Angelegen-
heiten mit Walthers Tode ab ; nennt nicht einmal den neuen
Bischof, der spatestens fiinf Wochen hernach gewahlt wurde.
Dennoch aber reicht Richers Werk im Uebrigen, wie Wiegand gegen
Wattenbach (Deutschl. Geschqu. V, §. 16 Schluss) bewiesen,
bis 1265. Ist diese Abgrenzung nicht am besten erklart, wenn
er eine schriftliche Quelle benutzte, die sofort nach Walthers
Tode ihm zukam ? Die Schlussworte sed quia cum haec scribe-
remus konnten sehr wohl dieser Quelle entnommen sein, einer
Quelle, deren Kiirzung durch Walther das zweimalige bellum
indixit (cap. 13 und 15) — Erwahnung des Waffenstillstands
fiel weg ! — der in cap. 15 sichtbare, jetzt unerklarliche Doppel-
bericht (in exercitum furore irruentes — captivos in civitatem
J) Ein besonders einleuchtendes Beispiel, wenn Richer von Begkinefl
sagt: quae in Alemannia Kuherin appellantur, statt Ruhorin (reuerin)!
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Wiegand. Bellum Waltherianum. 255
transmiserunt ; und wieder irruentes in aciem — captivos de-
duxerunt) und Andres wahrscheinlich macht.
Ferner aussert Wiegand, der Bericht des Richer lasse keinen
Zweifel dariiber, auf wessen Seite er stehe, er meint aber, auf
der bischoflichen. Jedoch hat die einzige angefiihrte Stelle
(„scandaluin") eine engere Beziehung, und Richers Bericht ist
durchhaucht von Sympathie fiir die Stadter (Argentinenses con-
siderantes, Deum in hoc conflictu sibi favere), von Antipathic
fur den Bischof. (Seine Unversohnlichkeit beim Ausbruch; turn
enorme factum cp. 14; Richer hat von alien Quellen bei beiden
Hauptaffairen die hochsten Verlustangaben.) Es ist nicht dieses
Orts, das ferner aus dem wahrhaft begeisterten Schlachtbericht
und aus der bittern Bemerkung iiber Walthers Tod naher zu
begrunden: Gott habe den nutzlosen Verwiistungen des Elsass
ein Ziel setzen wollen. *) Ohnehin ist es wahrscheinlich, dass
man in der DiOcese Toul mehr mit dem Metzer als mit dem
lange verfeindeten Strassburger Bischof fuhlte.
Auch iiber den Verlauf des Kriegs, den die Schrift sodann
schildert, wird durch manche urkundliche Entdeckung neues
Licht verbreitet, besonders zur Datenfixirung viel gethan.
Wollten wir hier aber auch das Belangreichste nur mittheilen,
wir miissten den verstatteten Raum weit iiberschreiten. Hervor-
gehoben sei aber, dass die Entstehung des Kriegs auf all-
gemeinere und tieferliegende Griinde zuruckgefiihrt wird, derselbe
auch weniger Walthern, als seinem Vorganger auf die Rechnung
gesetzt wird. "Wiirdig schliessen das Ganze die scharfsinnige
Sclilussdeduction iiber die Zahl der Stetmeister (vier bereits
1261, spatestens 1262) und der urkundliche Nachweis, dass die
hocherregte Zeit eine d e u t s c h geschriebeno politische Litteratur
entstehen liess, die drei Viertheile der uns erhaltenen Urkunden
zum bellum befasst; und zwar wird beiderseits deutsch ge-
schrieben und geurkundet, des Bischofs wichtigstes Manifest
schlug zuerst den . demagogischen Ton an, redete zuerst deutsch
zum niederen Volk.
Von Druckfehlern fiel mir auf, dass S. 64 das richtige Jahr
1261 als „falsch;*bezetehnet wird; soltschatz statt solschatz —
ersteres legt eine falsche Ableitung nahe; Sybilla, wie allerdings
die Quelle schreibt ; Tartarenwuth ; endlich steht S. 83 das sehr
fragliche Wege ohne Erklarung, es wird Wage (Wangen) sein.
Strassburg im Elsass. Dr. Schadel.
') Die vollkommen sinnlosen Worte in cap. XV sed cum fortuna in
tantis malitiis partibus afrideret schlago ich vor zu lesen: in tantis maliB
iis partibus arrideret
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256 Hansische Gescbiehtsblatter.
LX.
Kolbe, Wilh., Marburg im Mittelalter, mit einer Ansicht von
Marburg nach einem Merian'schen Stich von 1646. 8. (37 S.)
Marburg 1879. Elwert'sche Univ.-Buchh. 0,80 M.
Die frisch geschriebene Abhandlung schildert nach archi-
valischen Quellen Entstehung und Entwickelung Marburgs.
Markburg oder Margburg, deren Existenz zwar erst c. 1120—30
urkundlicb belegt werden kann, ist hochstwahrscheinlich durcli
Herzog Otto von Nordheim 1073 gegen Heinrich IV. angelegt
worden. Der undurchdringliche Sumpfwald im Lahnthal, welcher
friihere Ansiedelung ausschloss, schiitzte die neue " Burg treff-
lich. Den Namen hat dieselbe entweder von deni nahen, sich
in die Lahn ergiessenden Marbach erhalten, oder als Markort
zwischen Hessen- und Oberlahngau. Einer der altesten Burg-
mannen war der Ketzerrichter Conrad von Marburg, einer der
geistig bedeutendsten Manner seiner Zeit, der die Erhebung des
Fleckens zum Range einer Stadt (16. April 1227) bewirkte. Er
veranlasste auch die Uebersiedelung Elisabeths dorthin, der
jungen Wittwe Ludwigs VI. von Thuringen und Hessen.
Damit begann fiir Marburg eine neue, glanzende Zeit. Denn
als die ' fromme Fiirstin am 19. Nov. 1231 starb und schon am
27. Mai 1235 heilig gesprochen wurde, stromten hohe und niedre,
reiche und arme Pilger zahlreich nach Marburg. Als 1236 die
Gebeine der Heiligen aus dem Franciscushospital in die zu ihrer
Ehre gegriindete, schone Elisabethkirche iibergefuhrt wurden,
waren so viele Menschen zusammengestromt, dass sie sich, wie
der Chronist sagt, verwunderten, denn so viele habe man seit
Jahrhunderten nicht beisammen gesehen. Kaiser Friedrich tt.
dessen Hand sie ausgeschlagen hatte, schmiickte das Haupt der
Heiligen, indem er sprach: „Da mir nicht vergonnt war, Elisabeth
im Leben zur Kaiserin kronen zu diirfen, will ich sie jetzt mit
der Krone ehren als eine ewige Konigin im Reiche Gottes."
Weltliche und geistliche Fiirsten ehrten die Stadt mit zahlreicheD
Privilegien. So gestattete Martin V. 1424, dass sie die Auf-
hebung des Bannes nicht erst loszukaufen brauchte, ja sie erhielt
die Vergunst des „goldenen Jahres", d. h. eine Wallfahrt nach
Marburg war so gut, wie eine nach Rom. Am Spieltage, dem
Sonntag nach Fronleichnam ward die Passion, wie noch heute
in Ober-Ammergau, aufgefuhrt.
Berlin. Lie. Dr. Friedr. Kirchner.
LXI.
Hansische Geschichtsblatter. Herausgegeben vom Verein fur
hansische Geschichte. Band II. (Jahrgang 1876.) Mit
1 Portrait, gr. 8. (VI, 276 u. LX S.) Leipzig 1878.
Duncker u. Humblot. 7,20 M.
In diesem 2. Bande der hansischen Geschichtsblatter* heraus-
gegeben von Hanselmann, Koppmann und Mantels, liegtder
Jahrgang 1876 vor. Der erste Aufsatz dieses inhaltreichen
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Hansische Goschichtsblfitter. 257
Bandes, von Leonhard Ennen, beschaftigt sich mit dem han-
8i8chen Syndikus Heiurich Sudermaiin aus Koln. Um die
Mitte des 16. Jahrhunderts ist die Mittagshohe der hansischen
Macht voriiber, innerer Verfall und Unfriede, aussere Be-
driickungen und Feindseligkeiten erschiittern die Grundlage des
stolzen Baues, mit dem Auf kommen der andern nordischen Machte
und der Verrirtgerung des Verkehrsgebietes siakt die politische
Macht der Hanse wie ihre commercielle Bliithe dahin. Der
Bund erwarmte sich nicht fiir den romantischen Traum eines
Georg Wullenweber, der die erstere wieder beleben will ; Wullen-
weber fallt unter der Hand des Henkers. Eine Reihe hansiseher
Stadte ist in ihrer Bedeutung gesunken und ihrer politischen
Selbstandigkeit verlustig gegangen, in den Stadten selbst ent-
zweit der neue Glaube die Burger. Das Gesammtinteresse
schwindet, der Einzelvortheil iiberwuchert dasselbe und
so lockern sich allmahlich alle Bande. Der Hanse fehlt die
gegenseitig fiir einander haftende Gemeinschaft, ihr streng
conservativer Geist versaumt es, sich zu rechter Zeit von
den alten Traditionen loszusagen und die neuen Elemente
des Weltverkehrs zur Umformung ihres ganzen Handels-
systems zu benutzen, die Handelsherrschaft liber die Ost- und
Nordsee auch auf das Weltmeer, dessen Producte sie den mittel-
deutschen Stadten iiberliess, auszudehnen. Die Austritts-
erklarungen mehren sich, die Beitrage fliessen immer sparlicher,
statt des Hansetages ruft man in wichtigen Sachen das Reichs-
kammergericht oder den Kaiser an. Den drohenden Ruin ab-
zuwenden und das hansische Leben wieder aufzufrischen, dazu war
Heiurich Sudermann wie geschaffeh. In ihm paarte sich
klarer kaufmannischer Blick mit tiefer juristischer Bildung, um-
fassende Kenntniss der Geschichte und der Freiheiten der Hanse
mit grossem politischen Scharfeinne. Wenn er trotzdem seine Auf-
gabe nicht loste, so ist dies nicht seine, sondern die Schuld der
Verhaltnisse, die machtiger waren als die eminente Kraft und
Energie dieses hansischen Syndikus. Einer vermogenden Kauf-
mannsfamilie in Koln entstammend liess sich Sudermann nach
grosseren Reisen in seiner Vaterstadt als Advocat nieder, um
1556 dauernd als Syndikus in die Dienste dor Hanse zu treten.
Im Gegensatze zu Wullenweber fasste er in dieser Stellung den
Plan, die Hanse zu einem handelspolitischen Gemeinwesen zu
reorganisiren, dessen Aufgabe nur die Forderung und Hebung
der merkantilen Interessen, nicht die Erringung politischer Macht-
stellung sein sollte. Die alten Privilegien der Hanse unverletzt
zu erhalten, neue zu erwerben, den absterbenden Contoren neues
Leben einzuhauchen, die Hanse von den Stadten zu saubern,
die, ohne zu ihr zu gehoren, doch in fremden Landern die Privi-
legien derselben benutzten, das war die Arbeit seines Lebens.
Deshalb ist er auf den Drittelstagen immer der Hauptwortfiihrer,
auf den allgemeinen Hansetagen imponirt er durch seine grosse
Sachkenntniss und Geschaftsgewandtheit, fiir auswartigc Missionen
MtttheUuugen n. d. histor. Litteratur. VII. 17
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258 Hansische (xescliicktsbl&tter.
wird er als Gesandter verwendet, Denkschriften und Rechts-
deduktionen holt man hauptsachlich von ihm ein. Seine Haupt-
sorge aber gilt den Contoren von Brugge und London, weil
diese die Stiitzen des ganzen hansischen Handels und die Lehr-
hauser fiir den angehenden Kaufmann sind. Sudermanns rast-
losen Bemiihungen war es zu danken, dass der Sitz des Coutors
von dem alternden Brugge weg nach dem neu aufbluhenden
Antwerpen verlegt ward, freilich zu einer Zeit, wo in Folge der
Klimpfe zwischen den Niederlandern und Spaniem ein lalunender
Druck auf dem Handel lag, und die Gefahren, die von Seiten
Englands den hansischen Handel geradezu zu vernichten drohten,
indem Elisabeth Waaren aus England auszufiihren verbot, die
Einfuhrzolle erhohte etc., zwar nicht abgewendet, obgleich sich
sogar der Kaiser zu Gunsten der Hanse verwendet hatte und auf
Beschluss des Reichstags 1582 sogar jede HandelsverbinduDg
roit England eingestellt worden war, aber doch etwas gemildert
wurden. Dem Antwerpener Contor verschaffte Sudermann
wahrend des Aufstandes der Niederlander Neutralitat. Aber
wie schlecht lohnte man seine Dienste! Den seit seiner
Bestallung riickstandigen Lohn und die fiir Reisen etc. ver-
wendeten Auslagen enthielt man ihm vor und schliesslich bot
man ihm fur all das einen Vergleich an, wonach er nicht einmal
baares Geld, sondern eine Schuldverschreibung auf 4000 Thlr.
erhalten sollte. Und Sudermann nahm ihn in edler Selbstver-
leugnung an. Sein Gehalt, der von da ab jahrlich 200 Thlr.
betragen sollte, blieb auch in Zukunft aus, 1589 schuldete man
ihm mehr als 23,000 Thlr. Mit bitterem Schmerze musste er
den allmahlichen Niedergang der Hanse sehen, deren Wieder-
erweckung die Kraft seines Lebens gewidmet war. Im Alter
von 71 Jahren starb er in Liibeck; in seinem Nachlasse fand
sich das quellenmassige Material zu einer Geschichte des Hanse-
bundes vor, chronicon hanseaticum et extractus privilegiorom.
Sein Bild ziert diesen 2. Band der Geschichtsblatter. Dazu
noch 5 Beilagen.
Seite 61 — 93 bespricht Dietrich Schafer die lubeckiscbe
Chronik des Hans Reckemann. Die Handschrift derselben
wird in der Hamburger Stadtbibliothek aufbewahrt; der Abdm(i
der Chronik vom Jahre 1619 ist ganz unbrauchbar. Die Chronik
ist in den Jahren 1537 — 1562 entstanden. Reckemann ist Com-
pilator, er hat — und dies ist das Werthvollste vom Ganzen —
gleichzeitige Aktenstiicke, Briefe, Lieder, Berichte gesammelt
und sie theils selbst abgeschrieben, theils Abschriften resp. eigne
Arbeiten Andrer mit eingeheftet, besonders solche von Gerd
Korffmaker. Er folgt von Anfang an dem Hermann Bonnie
als Hauptquelle, dem er sogar den Titel und die Eintheilung in
3 Bucher entlehnt. Historisch werthvoll in den Tbeilen, die
nicht von Reckemann selbst herriihren, sind nur die Abschnitte
iiber Marcus Meyer und Marten Pechelin, ferner die Nacbrichten
iiber die Jahre 1539 — 1549, die originaler Natur sind. In W&*
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Hansische liesehichtsblatter. 259
2. Abschnitte publicirt Schafer die Erzahlung Kortfniakers vom
Ende des gewaltigen Seeraubers Pechelin; derselben geht eine
dber die in damaliger Zeit entstandene Seerauberei (hervorgerufen
durch die mit lubischer Hilfe bewirkte Vertreibung Christians II.
von Danemark durch Friedrich von Schleswig-Holstein) infor-
mirende Einleitung voraus.
Ueber das Alter niederdeutscher Rechtsauf-
zeichnungen betitelt sich der 3. grossere Aufsatz, von Ferd.
Frensdorff. Derselbe zerfallt in 3 Theile, von denen der
erste die sjchon oft ventilirte Frage nach dem Alter des Sachsen-
spiegels behandelt. Eine gute Uebersicht der bisher gewonnenen
Resultate leitet dieselbe ein. Die Vermuthung Fickers, der als
Anfangspunkt fur das Alter des Sachsenspiegels 1224 hinstellt,
wird dadurch hinfallig, dass der Feuertod als Strafe fur Ketzerei
in Deutschland nicht erst seit 1224, sondern nach neueren
Forschungen schon im 12. Jahrhundert erscheint; zudem gilt
der bekannte Erlass Friedrichs II. voin Jahre 1224, der nicht
schlechthin den Feuertod droht, sondern dem Richter die Wahl
zwischen dieser Strafe und Zungenausreissen lasst und den
Sohnen der Ketzer das Erbrecht entzieht, fur die Lombardei,
nicht fur Deutschland; denn ein hofgerichtliches Urtheil Hein-
richs VII. vom Jahre 1231 bestimmt: quod heredes condempnati
bonis ejus deberent hereditariis ac patrimonio gaudere. Fiir die
Entstehungszeit des Sachsenspiegels geht demnach Fr. mit Ho-
ineyer bis auf 1198 zuriick, weil erst seitdem in Bohmen wieder
der Konigstitel gefuhrt wurde, unter dem der Sachsenspiegel
den Fiirsten dieses Landes kennt. Erscheint dies Datum zu
-weit vom Endtermin entfernt, so muss man sich an die urkund-
lich beglaubigte Lebenszeit des Eike von Repgow halten. Am
fruhesten wird derselbe 1209, am spatesten 1233 erwahnt. „Ein
so aus der Erfiihrung erwachsenes Werk wie der Sachsenspiegel
wird man richtiger den altereu als den jiingeren Jahren des
Yerfassers zuschreiben, und deshalb lieber gegen 1233 vor-
als gegen 1209 zuriickschieben/'
Eine andere Frage ist die, in welchem Dialect der Sachsen-
spiegel abgefasst ist. Urspriinglich ist derselbe in lateinischer
Keimprosa geschrieben — dies geht aus der Reimvorrede hervor
— und dann erst in das Deutsche frei iibertragen; nach den
Handschriften kann man nicht entscheiden, ob zuerst in's Mittel-
oder Niederdeutsche, da die Zahl derselben in beiden Dialecten
fast dieselbe ist. Fr. beweist nun, dass er erst niederdeutsch
abgefasst wurde, weil erstlich am Stammsitze Eike's von Repgow
im 13. Jahrh. niederdeutsch gesprochen wurde (jetzt bekanntlich
mitteldeutsch) und dann weil die von einem Verwandten Eike's,
einem Repgow, verfasste sachsische Weltchronik ebenfalls in
niederdeutschem Dialecte geschrieben ist Demnach sind die
niederdeutschen Handschriften wie die altesten, so auch die ur-
spriinglichsten, die oberdeutschen die iibertragenen.
Im zweiten Abschnitte bespricht Fr. die eine 2weite Kategorie
17*
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260 Hansische Geschichtsbliitter.
von Reclitsquellen bildenden Statute, unter denen besondew die
Stadtrechte eine hervorragende Stellung einnehmen. Das Brann-
scliweigische Stadtrecht, das in deutscher Sprache abgefasste
sogenannte privilegium Ottonianum, welches die bisher als die
altesten Stadtrechte angesehenen Liibecker und Hamburger
Statuten und den von Fr. als alteste deutsche Handschrift er-
wiesenen Elbinger Codex (ohngefahr 1260 — 1270) urn etwa
40 Jahre an Alter uberragen soil, und dessen Ursprung in das
Jahr 1227 gesetzt wird, kann nach Fr. in dieser Zeit nicht ent-
standen sein, da, abgesehen von andern Griinden, um dieselbe
Zeit erst die jura et Ubertates Indaginis, die Statuten des Hagen,
des Weichbildes der Stadt Braunschweig, entstanden sind und
Stellen aus denselben in jenem benutzt sind. Fr. verlegt des-
halb die Entstehung des priv. Ott. in die Zeit von 1250—1265.
Die Helmstadter Urkunde, welche ebenfalls den Anspruch macht,
ein deutsches Stadtrecht aus der ersten Halfte des 13. Jahrh.
zu sein, erweist sich als eine aus dem Ende des 14. oder Anfang
des 15. Jahrh. stammende, nach einem lateinischen Originate
hergestellte Abschrift, das nicht dem Jahre 1247 augehort,
sondern eine spate Zusammenstellung verschiedenartiger Be-
stimmungen iiber Rechte und Pflichten der Stadt und des
Abtes ist.
Der 3. Abschnitt handelt von den Urkunden und Stadt-
buchern. Eingehender beschaftigt sich hier Fr. mit der so-
genannten Liibecker Rathswahlordnung Heinrichs des Lowen; er
beweist, dass sie kein Privilegium dieses Fiirsten ist, sondern
ein aus der stadtischen Autonomie erwachsenes Statut, und setzt
ihre Entstehung in den beiden letzten Jahrzehnten des 13. Jahr-
hunderts an.
Das Gesammtresultat der Fr.'schen Forschung ist demnach:
erst das 13. Jahrh. hat niederdeutsche Rechtsaufzeichnungen auf-
zuweisen. Die friihesten sind die Rechtsbiicher (im technischen
Sinne des Worts), deren al testes um 1230 hervortritt. Es folgen
nach der Mitte des Jahrh. die Stadtrechte; die jiingsten sind
die Urkunden und Stadtbucher.
Der 4. Aufeatz dieses Bandes enthalt eine Darstellung der
^Opposition Groningens gegen die Politik MaximiliansL
in Westfriesland von Heinrich Ulmann". Es ist ein nicht
unwichtiger Beitrag zu den centrifugaien Bestrebungen, welche
am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrh. die Politik der
Kaiser von alien Seiten her zu darchkreuzen suchten.
Kleine Mittheilungen bringen Julius Harttung,
Dietrich Schafer, Karl Koppmann und August Wetzel.
Ersterer macht uns mit einer Stelle „aus einer Schrift
Dietrichs von Nieheim", privilegia aut jura imperii (in dem
seltenen Sammelwerke Schards ' de jurisdictione imperii enthalten)
bekannt, welchp fur die Verwickelung der Hanse mit Konig
Waldemar Attorda^ interessant ist. In „geographische
Mi8oellen" .erkjart Schafer die im 1. Bande des H. U. ror-
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Hanaische Geschichtsbliitter. 261
kommenden Namen: 1) Hogge, in welchem Hohlbaum Houck am
Kanal von Zwin nach Damme in Ostflandern sieht, fiir Huy oberhalb
Luttich an der Maas. 2) Genus, het Geiu, Genemuiden nicht
wie Hohlbaum und Koppmann fur Genemuiden in Overyssel,
sondern fiir het Gein oder Oudegein bei Utrecht. 3) Senomanum
in Nr. 201 fiir Sanctonum, wie wol auch dort zu lesen sein
wird, also fiir das jetzige Saintes an der Charente, und apud
sanctum Johannem fur St. Jean de Mont an der Kiiste der
Vendee. 4) Wladislavia Nr. 328 ist nicht Wladislaw bei Kalisch,
sondern Alt- Wladislaw, das jetzige Wloclawek bei Thorn. Ju-
venis Wladislavia ist Inowraclaw (Jung-Breslau). 5) Herewerde
Nr. 5 ist nicht Herwen und Aerdt in Geldern, sondern Heere-
warden zwischen Thiel und Saltbommel. 6) Lurche Nr. 464
nicht Lorik bei Neuss, sondern Lorik nordwestlich von Wijk bij
Duurstede. 7) Zu den Vermuthungen iiber Wisclemburg Nr. 390
fiigt S. noch hinzu die alte Weseborg, Visborg auf Samsoe und
die Wesborg am Marsager-Fjord an der Ostkiiste Jutlands.
8) Noda Nr. 18. 53. 820 nicht Neude bei Rhenen am Leek,
sondern westwarts von Bodengraven in der Niihe der Nordsee.
9) Hjalm Nr. 1097 — 99 nicht Halmstad in Halland, sondern die
kleine Insel Hjelm vor der Halbinsel Ebeltoft an der Ostkiiste
Jutlands. Endlich 10) Gellen, Gelant, Gellende, Jellen, Jellant etc.
nicht die Meerenge zwischen Rugen und Pommern, sondern der
siidlichste Theil der Insel Hiddensee.
In Bezug auf letzteres kommt Koppmann in „Geland" zu
einem andern Resultat; Koppmann versteht namlicli darunter
die ganze Insel Hiddensee. Letzteres scheint mir das Wahr-
scheinlicbere.
In „neue Druckfragmente des chronicon Slavicum"
endlich beweist Wetzel, dass die von ihm im stadtischen Archive
zu Crempe in Holstein aufgefundnen, in 2 Blattern bestehenden
gedruckten Fragmente des chronicon Slavicum, von welchem be-
kanntlich keine Handschriften, sondern nur edit, princip. des
lateinischen und niederdeutschen Textes existiren, und zwar des
er8teren nur in dem einzigen Exemplar in der Liibecker Stadt-
bibliothek, mit den 2 ersten der fragmenta Lubicensia identisch
3ind und vor dem 20. November 1488 gedruckt sein miissen.
We Annahme Deecke's und Laspeyres', dass die liib. Fragmente
einem von der ed. princ. verschiedenen Drucke angehoren, er-
weist sich als falsch; einen zweiten alten Druck hat es nicht
gegeben. Die Cremper Fragmente sind Abziige eines ersten
Satzes der ed. princ; wegen der in demselben enthaltenen vielen
Druckfehler musste ein neuer Satz gemacht werden, wie er jetzt
ia der ed. princ. vorliegt. Mit Dr. Hasse (Zeitschr. fur Schl.
H. Lauenb. Gesoh. B. 7) nimmt Wetzel als Zeit des Druckes
das Jahr 1486 an.
Seite 185 — 276 enthalten Recensionen von E. Forstemann
fiber Karl Koppmann: das Seebuch; von Dietrich Schafer
iiber C. F. Allen: de tre nordiske rigers historic under
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262 Koppmann, Kammereirechnuugen der Stadt Hamburg.
Hans, Christiern den anden, Frederik den forste,
Gustav Vasa, Grevefeiden 1497—1536; von Karl Kopp-
mann iiber Dr. Otto Beneke: dat Slechtbok. Ge-
schlechtsregister der Hamburger Familie Moller (vom
Hirsch); von eben demselben iiber Dr. Otto Riidiger: altere
Hamburgische und hansestadtische Handwerks-Ge-
sellendokumente; iiber D. R. Ehmck und W. von Bippen:
Bremisches Urkundenbuch, Band II; iiber August Jugler:
Aus Hannovers Vorzeit; von Leonhard Ennen iiber: die
Chroniken der deutschen Stadte vom 14. bis ins
16. Jahrhundert, B. 13 und 14. Die Chroniken der
niederrheinischen Stadte, Coin, 2. und 3. Band; von
G. von der Ropp iiber J. Nanninga Uitterdijk: Register
van Charters en Bescheiden in het oude Archief van
Kampen; von Wilhelm Mantels iiber Dr. P. Hasse: Kieler
Stadtbuch aus den Jahren 1264 — 1289, und iiber: Ur-
kundenbuch der Stadt Liibeck, 5. Theil.
Den Recensionen schliessen sich Nachrichten vom hansischen
Geschichtsvereine an und Berichte iiber die 6. Jahresversamm-
lung des hansischen Geschichtsvereines zu Coin und Dietrich
Schafers iiber die Vorarbeiten 2ur Herausgabe der 3. Abtheilung
der Hanserecesse. Ein dankenswerthes Register bildet den
Schluss des Bandes. Ausstattung wie gewohnlich bei den im
Verlage von Duncker und Humblot erscheinenden Werken vor-
ziiglich.
Plauen im Vogtlande. William Fischer.
LXH.
Koppmann, Karl, Kammereirechnungen der Stadt Hamburg.
Herausgegeben vom Verein fiir Hamburgische Ge-
schichte. 3Bande. gr. 8°. (CXH, 494; VIH, 464 u. CXLVI,
640.) Hamburg 1869—1878. Hermann Gruning. 24 M.
• Durch Beendigung dieses 3 starke Bande umfassenden
Werkes hat Karl Koppmann seinen Verdiensten um die han-
sische Geschichtsforschung ein neues zugesellt. Neun Jahre.
innerhalb deren das Werk erschienen, sind ein langer Zeitraum,
und wer sich mit der Specialgeschichte von Hamburg beschaftigt
hatte wol oft einen etwas rascheren Fortgang des Unternehmens
gewiinscht. allein wer die colossale Arbeit und Miihe kennt, die
ein solches erfordert, und andrerseits weiss, dass der Verfasser
auch auf anderweitigem Felde riistig gewirkt und geschaffen hat,
der wird demselben aufrichtig dankbar sein, dass nun endlich
das langersehnte Werk ganz vorliegt. Seit man der
Erforschung der Geschichte des mittelalterlichen Stadtewesens
naher getreteu ist, hat man mehr und mehr die Einsicht er-
langt7 dass das anscheinend todte Zahlenwerk der Kammerei-
rechnungen eine ungeahnte Fiille von lebendigen PerspektiTen
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Lossias . Jflrgen u. Johan Uexkiill im Getriebe d. livlandischen Hof loute. 263
in das innere stadtische Getriebe unsrer Altvordern oroffnet.
Nicht alien Stadten von der annahernden Bedeutung Hamburgs
hat das Gliick gerade so gelachelt, wie der alten Handelsstadt
an der Elbe, die ihre Kammereirechnungen von 1350 — 1500 in
ununterbrochener Reihenfolge hat conserviren konnen. Wir haben
bier in Zahlen die anderthalbhundertjahrige Entwicklung einer
der bedeutendsten Stadte des Nordens vor uns. Einen Abriss
des Werkes fiir diese Blatter zu geben ist bei der ungeheuren
Masse des Stoffs ganz unmoglich ; wer sich aber mit der mittel-
alterlichen Geschicbte Hamburgs im engern wie weitern Sinne
beschaftigt, wird an dieser neu aufgeschlossenen und nutzbar
gemachten Quelle nicht voriibergehen konnen. Besonders der
Gcschichte des Finanzwesens und der Verwaltung, der Ver-
fassung, der Innungen, des Bauwesens, des Miinzwesens, des
Realgewerberechts , des Steuerwesens etc., der Topographie
Hamburgs werden diese Kammereirechnungen zu Gute kommen.
Eine fast ebenso reiche Ernte von diesem reichen Felde, wie
dem Spezialhistoriker, wird dem, der sich iiberhaupt mit mittel-
alterlicher Stadtegeschichte beschaftigt, und dem Culturhistoriker
in den Schooss fallen; selbstverstandlich wird auch der politische
und der hansische Geschichtsforscher nicht leer ausgehen, sogar
der Sprachforscher wird aus den zwar der Hauptsache nach
lateinisch geschriebenen, doch hin und wieder auch nieder-
deutschen Text bietenden Rechnungen manches edle Metall heben
konnen. Fiir solche, die einen raschen Ueberblick uber das in
den 3 Banden Gebotene haben wollen, hat Koppmann in B. 1
und HI eine mit grossem Fleisse gearbeitete ubersichtliche Zu-
sammenstellung mit begleitenden Literaturnachweisen und nothig
erscheinenden Erklarungen der lateinischen Namen etc. gegeben,
Plauen im Vogtlande. William Fischer.
Lxni.
Lassius, Johannes, Jurgen und Johan Uexkull im Getriebe der
livlandischen Hofleute. A. u. d. T.: „Drei Bilder aus dem
Livlandischen Adelsleben des 16. Jahrhunderts. II. Bd.u 8.
(192 S.) Leipzig 1878. Duncker u. Humblot. 4 M.
Die Periode des Untergangs der Selbstandigkeit des liv-
landischen Ordensstaates zeigt wenig erhebende Momente; der
nackteste Egoismus beseelt die Gesammtheit des livlandischen
Adels und jeder sucht aus dem Schiffbruch moglichst viel fiir
sich zu erraffen. Patriotismus kennt dieser von den Lastern
seiner Zeit angefressene Adel nicht, politische und moralische
Versumpfung ist bei ihm eingerissen, apres nous le deluge ist
seine Devise. Eine ehrenwerthe Ausnahme unter diesen erbarm-
lichen Leuten macht Johan Uexkull. Lossius schildert die patrio-
tischen Bemiihungen desselben und man kann nicht leugnen, dass
diese Gestalt einen wohlthuenden Contrast zu dem UbrigenAdel
bildet; Jurgen tritt neben Johan nur wenig hervor. Das
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264 Janssen, Gosch. d. deutschen Volkes seit dem Ausgang d. Mittelalters.
Material zu dieser Arbeit bot hauptsachlich das Uexkiilkche
Familienarchiv zu Fickel.
Ah Beitrag zur Geschichte des Untergangs livlandischer
Selbstandigkeit und als Sittenbild damaliger Zeit verdient die
Schrift immerhin Beachtung.
Plauen im Vogtlandc. William Fischer.
LXIV.
Janssen, Johannes, Geschichte des deutschen Volkes seit dem
Ausgang des Mittelalters. 1. Band. II. Abtheilung (Liefe-
ruug 4-6) gr. 8. (XVIII u. S. 265—615.) Frei-
burg i. Br. 1878. Herder'sche Verlagsbuchhandlung. 3,90 M.
Von dem auf sechs Bande berechneten Werke ist die erste
Abthlg. des 1. Bandes im 4. Heft des 5. Jahrgangs dieser Mit-
theilungen besprochen worden, und es kommen, was den all-
gemeinen Standpunkt des VerfaBsers, seine spezifisch katholische
Auffassung der Ereignisse anlangt, die dort hervorgehobnen
Bedenken wieder zu Tage : iiberall, wo die Konfession unbetheiligfc
ist, erhebt sich der Darsteller auf Grund ausserordentlicher Be-
lesenheit und zum grossen Theil selbstandiger Forschung zu
lichtvoller Darstellung ; da aber, wo die konfessionelle Auffassung
auch nur in Frage kommt, wird ein Herabziehen der gegneriscben
Auffassung nicht unterlassen, wenn es auch gar nicht in den
Rahmen der ubrigen Erzahlung passt.
Die vorliegenden drei Hefte umfassen im 3. und 4. Boch
Deutschlands wirthschaftliche, rechtliche und politische Zustande
beim Ausgang des Mittelalters und sind mit einem den Ge-
brauch erleichternden Personenregister ausgestattet. Das 3. Buch
^Volkswirthschaft" enthalt drei Unterabtheilungen : a. das
landwirthschaftliche, b. das gewerbliche Arbeitsleben, c. den
Handel und die Kapitalwirthschaft.
Nachdem zum Anschluss an die Bluthe der deutschen
Wissenschaft und Kunst die der Volkswirthschaft in Parallele
gestellt ist, wird liber Besitzvertheilung und Anbau von Grand
und Boden, iiber die Formen der bauerlichen Ansiedlungen,
iiber Feld- und Waldgemeinschaft, iiber Forstwirthschaft eine
Fiille zum Theil noch nicht veroffentlichter Details beigebracbt.
Wenn auch der Hauptsache nach dieselben Resultate von Spezial-
for8chern gefunden sind, so von Maurer Dorfverfassung, Grimm
Recht8alterthiimer, Roscher Ackerbau, so macht doch das ge-
schickte Hereinziehen der Originalcitate selbst die bekannteren
Erscheinungen interessant. In ahnlicher Weise wird der Grnnd-
besitz und das landliche Wirthschaften in den kleineren Stadten
beschrieben, und iiber die Preise der Friichte und des Viebes
einige Daten beigebracht, die bisher nicht aUgemein bekannt
waren, und welche iiber die ausserordentlich viel grossere Wohl-
habenheit auch der bauerlichen Bevolkerung vor dem 16. Jahrh.
einen Zweifel nicht aufkommen lassen.
Selbst fiir die Bauernkiiche wurden ahnliche beschrankende
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JanweD, Gesch. d. deutschen Volkes seit dem Ausgang d. Mittelalters. 265
Bestimmungen nothig, wie sie sonst nur flir die Stadte erlassen
wurden. Verdiente der Tagelohner auch nur wochentlich 6 bis
8 Groschen, so konnte er dafiir in Leipzig Rock, Hose, Juppe
und Kugel (Hut) davon bezahlen. Es entsprach also der ver-
haltnissmassig gut bezahlten Arbeit Massigkeit der Preise. Aber
unmittelbar darauf wird iiber die entschwundene gute, wohlfeile
Zeit geklagt, da der tagliche Arbeitslohn nur urn etwa 6 Pfennige
holier wurde, dagegen der Preis des Roggens von 6 Groschen
4 Pfennigen per Scheffel auf 24 Groschen stieg.
Die zweite Unterabtheilung, das gewerbliche Arbeitsleben,
ftihrt dos8en Entstehen auf das Verdienst der Kloster und
Bischofe zuriick, zeigt die Entwicklung der Ziinfte und die
Bliithe des ziinftigen Handwerks, zeigt, wie die Innungen nicht
nur Genossenschaften zum Zweck und Schutz des Erwerbes
waren, sondern urspriinglich „Briiderschaften" oder „innige
Vereine, deren Genossen alle briiderliche Liebe und Treue als
eine wahre, rechtmassige Gemaine nach eines jeden Vermogen
theilen". Der Verfasser fuhrt dann aus der Verbindung der
Arbeit mit der Religion und Kirche fur jede Zunft den Charakter
einer „religiosen Korperschaft" her, vermag aber dafiir kaum
anderes anzufuhren, als Kriegk, Maurer, Henne, Scherr etc. fur
ihre zum Theil entgegengesetzte Auffassung geltend gemacht
haben.
Interessant ist die Ausfuhrung iiber die Stellung der Ge-
sellen und ihre Standesehre, deren Wahrung zu Arbeitsein-
stellungen, den modernen Strike's in zah konsequenter Weise
die Veranlassung bot, so dass z. B. 1495 zu Kolmar die Backer-
gesellen zehn Jahre lang die Arbeit in Verruf erklarten, und
erst 1505 eine die Gesellen befriedigende Entscheidung gefallt
wnrde. Im Jahre 1475 haben sogar die Blechschmiedegesellen
durch den Verruf den sie iiber die Meister in Niirnberg aus-
spraohen, durchgesetzt, dass das Gewerk der Blechschmiede,
eines der altesten und angesehensten hi der Stadt, so herunter-
kam, dass aus demselben kein Mitglied mehr zum Rathe gezogen
werden konnte und allmalig dort das ganze Handwerk einging.
Ueber die giinstige materielle Stellung der gewerblichen
Lohnarbeiter, iiber die Ergiebigkeit des Bergbau's, den Reich-
thum an Gold und Silber in Deutschland ist bei Fischer, Gesch.
des Handels, Achenbach in der Ztschrft. fur Bergrecht u. A.
ebenso ausfuhrlich gehandelt, wenn auch nicht so iibersichtlich
zu8ammeuge8tellt worden. — Die dritte Abtheilung umfasst den
Handel imd die Kapitalwirthschaft, und nimmt der Verfasser fiir
die gesonderten kaufmannischen Innungen dieselbe hohe Auf-
fassung in ihren religios sittlichen Zwecken, der Verpflichtung
gogenseitiger Unterstiitzung der Mitglieder, in Anspruch; ein
Anspruch, der allgemein vielleicht far friihere Zeiten, aber nicht
fiir das 15. Jahrhundert zugestanden werden kann. In hoherera
Sinne aber als fiir die Stellung der kaufmannischen Genossen-
8chaften im Mutterlande passt diese Auffassung fur die Gesammt-
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266 Janssen, Gesch. d. deutschen Volkes seit dem Ausgang d. MittelaltcR.
vereine deutscher Kaufleute im Ausland, ndie gemaine deutsche
Hanse", deren Einrichtungen wie in London, besonders aber in
Bergen, eine vollstandige Erziehung ihrer Mitglieder im Auge
naben.
Mit besonderer Vorliebe Yerweilt Herr Janssen bei der
Scbilderung der damaligen Machtstellung Deutschlands als Mittel-
punkt des Welthandels, hebt aber auch aus vielen handschrift-
lichen Belegen die iible Wirkung des schnell gewonnenen
Reichthums hervor, Luxus, Ueppigkeit, Wucher etc. unter ge-
schickter Hereinziehung von Ausspriichen der Sittenrichter ihrer
Zeit, Brant's und Geiler's von Kaisersberg. Darnach erbringt
der Verf. in breiter Ausfuhrlichkeit den Nachweis, dass diese
Ausschreitungen in direktem Gegensatz zu der kirchlichen
Volkswirthschaftslehre standen, eine Wahrheit, die auch der
Gegner der katholiscben Lehre ebenso wenig bezweifelt, als
die nicbt von dem Verf. gezogne Consequenz, dass die lutherische
Reformation unnothig gewesen sei, wenn die Misbrauche in
der Kirche nicbt die Oberhand iiber die reine Lehre ge-
wonnen hatten. Weniger gliickt Herrn Janssen die Entkraftung
von Ranke's Behauptung, Eck habe in einer Disputation zu Bo-
logna den Wucher vertheidigt: eine Beriicksichtigung des 1. Bandes
von Scheurls Briefbuch hatte die lange Auseinandersetzung un-
nothig gemacht. Ebenso wenig leuchtet dem unbefangnen Leser
die Richtigkeit des Satzes ein, „der Abfall von den kirchlichen
Grundsatzen verschuldete den Ruin der arbeitenden Menschen:
er schuf das Proletariat der neueren Zeit."
Das 4. Buch schildert „das Reich und dessen Stellung nach
Aussen" in vier Unterabtheilungen. Die erste derselben „Ver-
fassung und Recht" fiihrt die allmalige Entstehung beider unter
Beniitzung der Rechtsquellen geschickt durch, weiss aber auch
ebenso geschickt durch Interpretation kirchlicher Urkunden vie
der Bulle Unam sanctam des Papstes Bonifacius VIII. die gegen
den modernen Staat geriehtete Spitze derselben abzubrechen.
Im grossen und ganzen stiitzt sich hierbei der Verf. auf die
Ausluhrungen Pickers in seinem deutschen Konigthum und
Kaiserthum.
Die schadliche Wirksamkeit der Einfiihrung des romischen
Rechts wird in der zweiten Abtheilung des 4. Buchs in patrio-
tischer Weise betrachtet, dabei aber die ReformvorschlSge des
schon friiher hervorgehobnen NikoL v. Cues zu hocb veranschlagt
Die dritte Unterabtheilung „auswartige Verhaltnisse und
Reichseinheitsversuche" unter Maximilian I. ist in ihrer Dar-
stellung, wie schon die vorige, vielfach aus bisher nicht ver-
offentlichtem handschriftlichen Material erbaut, einem Material
welches haufig Parteischriften entnommen, erst durch Mit-
beniitzung der gegnerischen Auffassung von einseitigen zu objectiv
richtigen Resultaten fuhren kann. Bei der SchMerung Maxi-
milians ware Herr J. unter Benutzung der Forschungen Kliipfeb
zu einem weniger glanzenden Bilde gekommen. Die Schuld an
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v. Zwiedineck-Siidcnhorst, Ueber den Versuch ciner Translation etc. 267
dem Misgliicken von dieses letzten Ritters Reformversuchen wird
allzu ausschliesslich auf die engherzige und sondersiichtige Politik
der Fiirsten und Reichsstadte gewalzt und dabei unberiicksichtigt
gelassen, dass eben dieser Fiirsten und Reichsstadte Misstrauen
durch Maximilians nicht weniger egoistisches Verfahren gerecht-
fertigt ward. Richtiger geschildert wird im Gegensatz zu der
poetischen, durch Goethe allgemein gemachten Auffassung Gotz
v. Berlichingens Verhaltniss zur Reichsgewalt , dagegen ist
Sickingen allzu einseitig als Strassenrauber ohne edlere Plane
und als Verrather am Reich skizzirt. Ebenso wird bei dem
vierten Abschnitt des 4. Buchs „Gebahren des Fiirstenthums bei
der neuen Konigswahl" den politischen Verhaltnissen, die zur
Wahl Karls V. drangten, weniger Rechnung getragen, als ein
so wichtiger Geschichtsabschnitt es verlangt, und es werden
mehr personliche Motive in den Vordergrund gestellt, besonders
ungiinstige seitens der brandenburgischen Fiirsten, wie Albrecht
Achilla, Joachims I. und Albrechts von Mainz, wahrend diese
doch nicht mehr und nicht weniger ihr Specialinteresse im Auge
hatten als alle andern damaligen Reichsstande und besonders
die Habsburger selbst. Dagegen wird die Wahl Karls V., des
Spaniers, „auf die Anhanglichkeit des Volkes (!) an das habs-
burgische Haus" zuriickgefiibrt.
Schliesslich wird in einem Riickblick und Uebergang eine
Umschau gehalten iiber das geistige, politische, rechtliche und
wirthschaftlich - sociale Leben: es wird zwar richtig „auf die
grossen Gegensatze im Leben des Volkes auf religios kirchlichem
Gebiet" hingewiesen, die Verweltlichung des Klerus eingeraumt,
die Untergrabung der kirchlichen Autoritat durch die gebildeteren
Humanisten zugegeben, trotz alledem aber die Behauptung er-
hoben, „es stehe die Kirche in Deutschland (unmittelbar vor der
Reformation) in voller Lebenskraft, es bewahre sich glanzend
der christkatholische Sinn und die fromme Andacht in alien
Standen des Volkes, in den Familien und Genossenschaften".
Konr. Schottmuller.
LXV/
v. Zwiedineck-Slidenhorst, Dr. H., Ueber den Versuch einer
Translation des deutschen Ordens an die ungarische Grenze.
(Aus „Archiv f. ostr. Gesch.") Lex. 8. (43 S.) Wien 1878.
C. Gerold's Sohn. 0,60 M.
Herr Zw.-S. ist zu der vorliegenden Abhandlung, die aus
dem Arch. f. ostr. Gesch. LVI, 2 separat abgedruckt ist, ver-
anlasst worden durch eine umfangreichere Arbeit, die er iiber
das Vertheidigungswesen Innerostreichs und Ungarns gegen die
Tiirken im XVI. Jh. vor hat : denn die grosse Gefahr, in welcher
die ostreichischen Lander damals unausgesetzt vor dem kuhnen
FeiDde schwebten, liess auch den Gedanken auftauchen, den
deutschen Ritterorden wieder seiner urspriinglichen Bestimmung
, zuruckjsugeben , indem man ihn zum Wachter der ungarisch-
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268 v« Zwiedineck-Siidenhorst, Ueber den Versuch einer Translation etc
ostreichischen Grenze machte. Dieser Plan, den Kaiser Maxi-
milian II. fasste und noch am 18. Sept. 1576 dem Reichstage
zu Regensburg — seinem letzten — vorlegte, war zwar nicht
ganz unbekannt, da Venator, Histor. Bericht von Marianisch-
teutschen Ritter- Orden S. 468 ff. und Valvasor, Ehre des
Herzogtbums Krain lib. XII c. 48, einiges iiber ihn mittheilen,
aber ibre Nachrichten sind doch sehr diirftig oder geradezu un-
richtig. Hr. Zw.-S. hat dagegen das Archiv des bekanntlich in
Oestreich noch heutzutage fortbestehenden Deutschen Ordens und
das steirische Landesarchiv benutzen konnen und ist somit im
Stande, die eingehendsten Details iiber Entstehen des Plans und
sein Schicksal vor dem Reich und in dem Orden selbst zu geben.
Nach dem, was der Verf. S. 41 ff. iiber die Anerbieten mittheilt,
die in den J. 1627 und 1662 der Orden selbst hinsichtlich der
Vertheidigung der Grenze gegen die Tiirken machte, geht hervor,
dass der Gedanke des Kaisers keineswegs phantastisch war, wie
denn auch der Reichstag seine Ausfiihrung empfahl und der
einsichtigste aller Ordenscomthure, Johann y. Cobenzl, sich dafiir
aussprach, indem er in cinem se^r interessanten, fast vollstandig
mitgetheilten Gutachten alle Moglichkeiten griindlich erwog und
eingehende Vorschlage zur praktischen Durchfiihrung des Plans
machte. Allein dem Orden war der ritterliche Geist, welcher
als der dem Orden gebiihrende im XVII. Jh. wieder deutlich an-
erkannt wird, ganzlich abhanden gekommen: nach vielen Ver-
suchen, die definitive Beschlussfassung beim Reichstage hinaus-
zuschieben, und nach anderweitigen Intriguen lehnte das Ordens-
capitel den Vorschlag mit Riicksicht auf das geschmalerte Ver-
mogen des Ordens, der iibrigens zum Schutz der septentrionalen
Grenzen gestiftet sei, am 15. April 1578 ab, indem er vielmehr
die Riicker8tattung der ihm verloren gegangenen Lander Lievlaiwi
und Preussen so wie anderer eingezogener Besitzungen verlangte:
erhalte er diese zuriick, so werde er vielleicht die Mittel haben,
etwas zur Bekampfung der Tiirken beizutragen. — Nach dieser
Ablehnung liess Rudolf II. das Project fallen : dass spater die obeii
erwahnten Anerbieten des Ordens selbst nicht zur Ausfiihrung
kamen, hatte fur 1627 seinen Grund in den deutschen Kriegs-
verhaltnisson, fiir 1662 in dem bevorstehenden Frieden. — Zum
Schluss sei noch iiber das Gutachten Cobenzls bemerkt, dass es
ganz den milden Geist Maximilians II. athmet und auf gegen-
seitige Toleranz der Religionsparteien dringt: Cobenzl will auch
Protestanten in den Orden aufgenommen haben und diesen in
manchen Puncten reformirt sehen. — Uebrigens ist dieser
Cobenzl, den Ferdinand II. erst adelte und dem Orden octroyirte,
urn ihm eine eintragliche Stelle zu verschaffen, doch wohl der
Ahnherr der noch heut in Oestreich bluhenden Familie, die dem
Kaiserstaate zwei Staatsmanner gab, insbesondere den, der den
Frieden zu Campo Formio und den zu Luneville schloss. —
S. 17 erklart der Verf. Widerspill = Knotenpunct. Es bedeutet
aber nach mittelhoch deutschen Analogien nur „Gegensatxw, .
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Morel-Patio, L'Espagne au XVI » et au XVII« siecle. 269
in dem vorliegenden Zusammenhange „gegensatzliche Lage", wie
S. 18 „in Mitterspil" = „in der Mitte" vorkommt.
Die kleine Schrift sei der Lecture bestens empfohlen.
Berlin. Edm. Meyer.
LXVI.
Kirchner, Dr., Elsass im Jahre 1648. Ein Beitrag zur Terri-
torialgeschichte. (Programm der Stadt. Realsclnde I. 0. zu
Duisburg 1878.) Elsass imJahrel64 8. Entworfen von
Dr. M. Kirchner. Duisburg, in Commission bei Raske. (Karte
1:320,000.)
Die Programmabhandlung ist im wesentlichen die Erlauterung
zu der Karte des Verfassers. Mit ungemeinem Fleisse hat der-
selbe nicht nur die gesammte einschlagende Literatur erschopfend
benutzt, sondern auch ein hochst wichtiges Manuscript der
Strassburger Universitats - Bibliothek „Memoires sur l'estat
<T Alsace", welches auf Befehl von Charles Colbert, marquis de
Croissy, Intendant des Elsasses unter Mazarin abgefasst wurde,
zur Verfiigung gehabt. Der erste Theil der Abhandlung giebt
eine historische Einleitung und zeigt den geographischen Zustand
des Elsasses unmittelbar vor dem westphalischen Frieden, der
zweite zahlt die Gebiete auf, welche auf Grund desselben an
Frankreich abgetreten sind. Zum ersten Theile gehort die Haupt-
karte, zum zweiten die Nebenkarte im Massstabe von 1:1,600,000.
Obwohl Frankreich schon eine Reihe von Jahren fast das ganze
Elsass besetzt hatte, so hat der Verfasser doch absichtlich das
Jahr 1648 gewahlt, weil erst nach der Ratification des Friedens
dieser Besitz rechtlich anerkannt wurde. Die Karte ist auf der
topograpliischen Grundlage der franzosischen Generalstabskarte
(1 : 80,00 0) construirt und zeigt in tadellosem Buntdruck 47 ver-
schiedene Territorien, sowie die Namen sammtlicher selbstandiger
Orte nach deutscher Schreibung. Das Flussgebiet ist vollstandig
aufgenommen, dagegen das Gebirge der grosseren Deutlichkeit
wegen mit Recht fortgelassen. Mit welcher Sorgfalt der Ver-
fesser bei der Construction dieser ungemein schwierigen karto-
graphischen Darstellung verfuhr, ergiebt sich aus seiner eigenen
Darlegung (Abh. 51—2) iiber die von ihm hierbei befolgten
Principien, und wir begrussen daher dieselbe als eine hochst
schatzenswerte Bereicherung der historischen Goographie des
Reichslandes.
Berlin. Ernst Fischer.
LXVII.
Morel-Fatio, Alfred, L'Espagne au XVI" et au XVII- siecle.
Documents historiques et litteraires. gr. 8. (XI, 696 S.)
Heilbronn 1878. Henninger fibres. 20 M.
Die innere Geschichte Spaniens im sechzehnten und sieb-
zehnten Jahrhundert ist trotz der mannichfachen iiber diesen
Zeitraum veroflfentlichten Arbeiteh noch wenig bekannt. Wahrend
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270 Morel-Fatio, L'Espagne au XVI© et aa XVII« siecle.
man die diplomatischen niid militarischen Ereiguisse, die Spanien
in diesen wichtigsten beiden Jahrhunderten seines nationalen
Daseins betroffen haben, fast erschopfend behandelt hat, ist das
innere, so zu sagen intime, Leben des Volkes wahrend derselben
theils nur oberflachlich, theils doch nur bruchstiickweise dar-
gestellt worden. Diesen Mangel abstellen zu helfen, ist das Eel
der vorliegenden Sammlung. Nicht ihn ganzlich abzustellen;
denn die Publikation des Herrn Morel-Fatio ist keineswegs, wie
ibr Titel vermuthen lassen konnte, eine systematische BeleuchtuDg
der Kulturgeschichte Spaniens in der auf dem Titel genannten
Epoche, sondern lediglich eine etwas zufallig an einander ge-
fiigte Reihe von Aktenstiicken zu diesem Zwecke. Aber in dieser
Einschrankung hat der Herr Herausgober der historischen Wissen-
schaft einen wichtigen und dankenswerthen Dienst geleistet. Es
ist in der That eine Fulle von Belehrung, die er uns hier er-
schliesst, beruhend auf zuverlassigen und unabsichtlichen Zeug*
nissen, hochst werthvoll fur jeden, der sich mit der innern Ge-
schichte der Pyrenaenhalbinsel zu beschaftigen haben wird.
Freilich sind, wie wir sehen werden, nicht alle Bestandtheile des
stattlichen Bandes von gleichem Werthe, allein es ist doch wemg
darunter, was man ganz ausscheiden mochte. Die eigenen Zc-
thaten des Herausgebers sind sehr schatzenswerth. Trefflich
und mit grosser Sachkenntniss geschriebene Einleitungen zu jedem
der Schriftstucke machen uns mit dem Zusammenhange, in den
die letztern gehoren, bekannt, klaren iiber deren wissenschaft-
liche Bedeutung auf und schildern ihre Provenienz. Sehr dankens-
werth sind ferner die zahlreichen Anmerkungen des Herausgebers,
die nicht allein zwar knappe, aber — mit geringen Ausnahmen
— zuverlassige • Auskunft iiber die in den Texten erwalmten
Personlichkeiten geben, sondern auch den Forscher auf die
wichtigsten Werke iiber die dort behandelten Gegenstande hiD-
weisen. Dem Danke fur den Herausgeber miissen wir iibrigeiis
auch den fur die Verleger hinzufugen, die es gewagt haben, in
der jetzt fur den Buchhandel so ungiinstigen Zeit ein Spezial-
werk von nicht unbedeutendem Umfange in so schoner Aus-
stattung dem gelehrten Publikum vorzulegen.
Die Aktenstiicke sind zum grdssten Theile den Bibliotheksi
und dem Nationalarchive in Paris entlehnt. Dazu kommwi
einzelne Beitrage aus der Bibliothek von Madrid, dem Archie
von Simancas, der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbiittel etc.
Es wundert uns, dass der Herr Herausgeber die Reichthumer
des pariser Nationalarchives, in das bekanntlich ein grosser Theil
des Archivs von Simancas iibergesiedelt ist, nicht ausgiebiger
benutzt, und ebenso, dass er das briisseler konigliche ArchiY und
die dortige Bibliotheque de Bourgogne nicht in den Kreis seiner
Forschungen gezogen hat. Es steht ihm hier fiir seine Aufgabe
noch reiches Material zu Gebote.
Die Wiedergabe der Texte lasst an Korrektheit wenig z«
wiinschen iibrig, aber die Methode derselben kann Ref. ni^W
Digitized by VjOOQ IC
Morel-Fatio, LTEspagne au XVIe et au XVIIe siecle. 271
ganz billigen. Der Herausgeber reproducirt die Texte genau
nach ihrer, im 16. und 17. Jahrbundert so willkiirlichen Ortho-
graphie; allein die Interpunktionszeichen und Accente setzt er
nach modernem Gebrauche. Dies scbeint uns unkonsequent.
Entweder man traut dem Leser so viele linguistiscbe und palao-
graphische Kenntnisse zu, um die Schreibweise jener Jahrhunderte
zu versteben ; oder nicht. Im ersten Falle miisste man gar keine
Veranderungen mit dem Texte vornehmen, im zweiten ihn in
der aussern Form ganz modernisiren. Aber die Schreibweise,
me sie dem Herausgeber beliebt, ist ein Zwitterding, das weder
von der damaligen nocb von der beutigen Orthographic ein Bild
giebt und den Leser verwirrt.
Das erste Aktenstiick des Bandes ist eine „Denkschrift,
welche Inigo Lopez des Mendoza Marques von Mondejar dem
Konige Philipp II. uberreichte". Unter alien Episoden der langen
Kegierung Philipp II. ist der Aufstand der Morisken im Konig-
reiche Granada in den Jahren 1569 bis 1571 ohne Zweifel eine
der wichtigsten und zugleich bekanntesten. Wir besitzen dariiber
ausfuhrliche Werke von Zeitgcnossen, sowie die Korrespondenz, die
Don Juan &' Austria iiber seine Feldziige gegen die Aufstandischen
mit dem Konige und den Ministern fuhrte. Der Marques von
Mondejar wurde bekanntlich bald nach dem Ausbruche desAuf-
ruhres durch die klerikale Hoipartei von seinem Posten als
Generalkapitan des Konigreiches Granada entfernt, weil er zu
milde und schonend mit den unglucklichen Morisken umgegangen
war. Es ist immer interessant, die Selbstrechtfertigung eines so
hervorragenden und edlen Mannes vor Augen zu haben, wenn
auch unsere historische Kenntniss nicht gerade viel durch das
eilfertig entworfene, mit zahlreichen Fehlern und Liicken be-
haftete Aktenstiick gewinnt. Dasselbe wurde, wie der Heraus-
geber iiberzeugend nachweist, in dem Zeitraume von Ende April
bis zum Juli 1570 dem Konige iiberreicht.
Weitere Beitrage zur Geschichte des grossen und wichtigen
Hauses Mondejar sind als Anhange diesem Dokumente an-
gereiht.
Bedeutsamer ist die zweite Nummer: Briefe Don Juan
d' Austria's an zwei Freunde in den Jahren 1576, 1577 und
1578. Obwohl nur Kopien des vorigen Jahrhunderts ent-
nommen, tragen diese Briefe doch den Stempel der Echtheit an
sich: der Styl ist der Don Juan's, alle in jenen erwahnten Um-
stande stimmen auf das genaueste mit dem iiberein, was man
sonst von dem Leben des heldenmuthigen Kaisersohnes und seiner
beiden Korrespondenten weiss; endlich wird in dem Buche des
spanischen Gelehrten Muro iiber die Prinzessin Eboli eine Stelle
aus dem ersten der auch hier wiedergegebenen Briefe gleich-
lautend nach dem Original citirt, das sich im Besitze eines
spanischen Privaten befindet. Mit grossem Scharfsinn und ge-
wohnter Belesenheit hat der Herausgeber die Personlichkeit der
beiden Korrespondenten Don Juan's eruirt. Bei der Nennung
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272 Morel-Fatio, L'Espagne au XVI* et au XVII0 siecle.
der schon veroffentlichten Sammlungen von Briefeu des letztern
hat er iibrigens die in der Coleccion de documentos ineditos
torn. III. iibersehen. Die hier veroffentlichten Briefe Don Juan's
sind von dem hochsten Interesse. Sie zeigen uns denselben als
einen feinen, liebenswiirdigen, geistvollen und scharfblickenden
Fiirsten, ebenso begabt als Staatsmann wie als Feldherr, aber
leidend unter der Macht der widrigsten Verhaltnisse sowie der
Langsamkeit und Missgunst seines koniglichen Bruders. Von
Beginn an halt er einen gewaltsamen Kampf gegen die Nieder-
lander fiir aussichtslos. „Ich hoffe sehnlichst zu Gott", schreibt
er am 9. Dez. 1576 an D. Rodrigo de Mendoza, „dass wir nicht
bis zum aussersten Bruche kommen werden, selbst wenn wir
ausser unserm Anerbieten, namlich dass die spaaischen Truppen
die Niederlande verlassen, noch etwas mehr concediren miissen*.
Und in einem Briefe vom 19. Febr. 1577 an denselben: „Wenn
wir es auf die Waffen ankommen liessen, so wiirde das Beste,
was uns zustossen konnte, der ganzliche und ewige Ruin dieses
Landes sein, und das Schlimmste — Gott weiss es und die Leute
errathen es, indem sie die Noth und die Mangelhaftigkeit unserer
Verhaltnisse wahrnehmen." Nach kraftigen Verwiinschungen
gegon den Prinzen von Oranien, „diesen Teufelskerl (brujazo)",
und seine Freunde, die er „verabscheut als riesige Schurken
(grandisimos bellacos)", beklagt er auf das bitterste seine gegen-
wartige Lage. So heisst es auch in einem ferneren Briefe an
denselben Freund (p. 120), dass er „in verzweifelter Stimmung
lebe" und „mit Neid auf diejenigen, die vergniigt sindtf. fe
war das Missverhaltniss zwisohen den ihm gesteckten Aufgaben
und den ihm gewahrten Mitteln, welches den hochsinnigen Mann
niederbeugte und aufrieb. Diese triibe Stimmung verwandelte
sich bei ihm in verzweifelten Kummer bei der Nachricht von der
rathselhaften Ermordung seines treu ergebenen Sekretars
Escobedo, den er nach Madrid gesandt. „M6ge Gott ihn in den
Himmel aufnehmen und mir ja entdecken, wer ihn todteteu
(p. 133) Und dabei die Aussicht, das mit unsaglicher An-
strengung, Geistesarbeit und Ausdauer Gewonnene aus Mangel
an Geld und Soldaten wieder einzubiissen, selbst dabei Schmacb
und Schande zu erleben! „Se. Majestat erhalt mich in so trub-
seliger Lage, wie es kein Christ jemals verdienen kann, aucl
wenn er von den Schlechten ware, wie sie jetzt gebrauchlick
sind." (p. 134.) Alles, was er meint, wagt er seinem Freunde
nicht zu sagen, und verweist ihn deshalb an einen Vertraoten,
den er nach Spanien schickt. — So sieht man Don Juan dem
tragisohen Untergange sich nahern. Dabei erhalten wir Einblick*
in das unglaublich liederliche Treiben des spanischen Adels, die
vom kulturhistorischen Standpunkte aus sehr iuteressaut siud.
Unter den drei dieser Briefsammlung angehangten Akten-
stiicken zur Geschichte Don Juan's ist das wichtigste das erste,
eine Erganzung zu der geheimen Instruktion, die er bei seiner
Abreiso nach den Niederlanden von dem Konige erhielt.
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Morel-Fatio, L'Espagne an XVI* et au XVE> sibcle. 273
In die letzten Jahre der Regierung Philipp II. fuhrt uns
Nr. Ill der Sammlung: „Beschreibung der Reise des papstlichen
Auditors Camillo Borghese nach Spanien, 1594." Papst
Clemens VIII. satidte damals den Auditor der papstlichen Eammer
Borghese — der elf Jahre spater als Paul V. selbst den papst-
lichen Thron besteigen sollte — an Philipp II., angeblich urn
ihn zu einer betrachtlichen Unterstiitzung des Kaisers gegen die
Tiirken, in Wahrheit, urn ihn zu einem versohnlichen Auftreten
gegen Heinrich IV. von Frankreich zu veranlassen, der sich
damals eifrigst um seine Befreiung von der papstlichen Ex-
kommunikation bewarb. Die hier veroffentlichte , schon von
Gachard erwahnte Relation, herriihrend von einem Geistlichen
im Gefolge des Auditors, enthalt durchaus keine politischen
Angaben, ist aber um so interessanter als genaue Schilderung
einer Reise im damaligen Spanien. Das Bild, welches der ver-
wohnte Italiener von den Gasthofen und Heerstrassen der Halb-
insel, von Madrid und seinen Bewohnern entwirft, ist durchaus
kein schmeichelhaftes : schlechte Beschaffenheit der Gasthofe und
der Wege, in der Hauptstadt unendlicher Schmutz in den Gassen
und Hausern, Aermlichkeit des Lebens und Verwahrlosung der
Sitten bei roher, barbarischer Pracht der Aeusserlichkeiten,
endlich Langsamkeit und Faulheit in alien Geschaften. Es sind
dies genau die Eindrucke, die jeder Fremde — Franzosen und
Englander ebenso gut wie die Italiener — bei einem Aufenthalte
in Spanien empfingen. Alleiii mit Recht bemerkt der Heraus-
geber, dass diese Auslander nur eben die Aussenseite eines der
occidentalischen Kultur fern geriickten Volkes kennen lernten,
iiicht aber das vorziigliche mustergiiltige Leben des Spaniers im
Hause und in der Familie. Freilich musste es den Fremden
beschwerlich sein, obwohl als papstliche Gesandte in jeder Weise
bevorzugt, zur Reise von Barcelona bis Madrid 21 Tage zu ge-
brauchen, dabei wegen des schlechten Zustandes der Strassen
oft zu Fusse gehen, des Abends sich hungrig auf ein Strohlager
werfen zu miissen; oder auch die argsten Unreinlichkeiten auf
den Kopf zu erhalten, die man in Madrid ungescheut aus den
Fenstern auf die Gassen schiittete, und die sich in den letztern
derart anhauften, dass es fast unmoglich war, dieselben zu Fuss zu
durchschreiten !
Verschiedene statistische Zugaben hat der Geistliche seiner
Erzahlung beigefugt. Die oft sehr verunstalteten Namen der
koniglichen Rathe hatte der Herausgeber zum Theile wohl noch
weiter berichtigen konnen nach dem ihm ja auch bekannten
Buche Cabrera's: Relaciones de las cosas succedidas en la corte
de Espana 1599 — 1614, dem ein ausfiihrliches Namenregister
angeschlossen ist.
Die Anhange, die der Herr Herausgeber selbst diesem Do-
kumente folgen lasst, enthalten die Instruktion, die der Papst
seinem Gesandten mitgab; eine Uebersicht der Arbeitstheilung
unter den zahlreichen Contejos und Beamten der spanischen
MitthcUungen a. d. hlstor. Litteratur. VU. 18
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274 Morel-Fatio, L'Espagne au XVI« et au XVH<> siecle.
Centralregierung ; das Budget eines Anneecorps von etwa
20,000 M., entworfen fur den Herzog von Alba, sehr interessante
Aufschlusse iiber die Oekonomie eines spanischen Heeres ein-
schliessend, allerdings durch zahlreiche Fehler verunstaltet;
endlich ein Itinerar fur Spanien und Portugal, begleitet von
praktischen Rathschlagen fiir den Reisenden.
Bei weitem weniger wichtig, eigentlich dasjenige Stuck, das
einer Veroffentlichung kaum werth war, ist Nr. IV, eine Samm-
lung von Briefen von Antonio Perez, wahrend seiner Verbannung
in Frankreich und England geschrieben. Es sind nur Bettel-
briefe an Heinrich IV., den Connetable Montmorency und dessen
Sekretare, bisweilen gewiirzt mit geheimen Nachrichten iiber die
spanische Politik und Kriegfuhrung, aber Nachricbten, die jeder
Bedeutung entbehren: Das einzige hervorragendere Dokument,
die Copia del Assiento de Sa. Md con A. Perez, enero 1597
(p. 274 if.), ist schon bekannt (vgl. u. A. Lafuente, Historia
general de Espana, 2. ed., VII 501; Mignet, Antonio Perez,
p. 369 f.) Richtig im AUgemeinen ist, was der Herausgeber ?on
den Milderungsgriinden fiir die moraliscbe Beurtheilung des
Antonio Perez sagt (p. 263) ; indessen so ganz bar war man
damals doch nicbt des Nationalgefiihles, dass Perez von dem
Vorwurfe eines bewussten Verrathes vollig loszusprechen ware,
so sehr er sich auch den Anschein eines Martyrers zu geben
sucbte.
Eine ausfuhrliche Einleitung ist den Ursachen des Stones
des Perez in Madrid gewidmet. Uebereinstimmend mit Caneias
del Castillo, scbliesst sich der Herausgeber, wenn auch in ge-
massigterer Form, der neuerdings bestrittenen Ansicht Mignefs
an, dass Philipp II. unerwiderte Liebe zu der Prinzessin too
Eboli, die vielmehr den Perez vorgezogen, der Hauptgrund ffir
den Hass des Eonigs gegen beide gewesen sei.
Nachdem nur einige der Briefe Perez* die Regierungffleit
Philipp III. eben streifen, luhrt uns Nr. V., „Bericht iiber die
Feldziige in der Rheinpfalz in den Jahren 1620 und 1621 Ton
Don Francesco de Ibarra", sogleich an das Ende dieser und an
den Beginn der folgenden Regierung. Philipp III. und IV. nahmen
das von Karl V. begrundete System der Identitat der Interessen
beider Zweige des erlauchten Erzhauses Oesterreich sehr erast;
zum nicht geringen Schaden fiir Spanien, das so stets von neuem
in ortlich weit entfernte und seinen eigenen Zielen vollig fremde
Kampfe gezogen wurde, aber zum grossen Vortheile der ka-
tholischen Religion, welche ihren Sieg in der grossern Halfte
Deutschlands, in Ungarn und Polen schliesslich doch nur dieser
spanischen Politik und ihren Machtmitteln zu danken hat.
Der Verfasser der vorliegenden Schrift hat dieselbe offenbar
fur das grosse Publikum bestimmt. Sie ist in gewandtem Style
abgefasst, mit studirten literarischen und kiinstlerisch ausgefeilten
Wendungen; vor allem finden sich darin ausgefiihrte geographiscke
Schilderungen und politische Erorterungen, die, fiir den Augen-
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■"*»*>
Morel-Fatio, I/Espagne au XVI« et au XVII* siecle. 275
zeugen und Kenner iiberfliissig, nur der Lesewelt gewidmet sein
konnen. Um so weniger darf es als eine Uebereilung betrachtet
werden, wenn der Verf. der betreffenden Schrift ausdriicklich
bemerkt, er wolle seinen Namen verschweigen, und Griinde dafiir
angiebt. Trotzdem ist die Schrift von andrer Hand als der des
Kopisten mit dem Namen des Francisco de Ibarra bezeichnet,
eines vornehmen Cavaliers, der in jenen beiden Feldziigen sich
als Kapitan der schweren Kavallerie auszeichnete und schon ein
Jahr darauf (1622) in der Schlacht bei Fleurus als Oberst
(maestre de campo) einen riihmlicben Tod fand. Die Voll-
endung der Schrift muss also in die Zeit der Winterquartiere
imAnfang des Jahres 1622 fallen; das letzte erwahnte Ereigniss
ist vom 23. Dezember 1621 datirt. Dass der Verfasser in dieser
kurzen Zeit seine Meinung so vollstandig geandert und seinen
Namen auf den Titel eines soeben vollendeten Werkes, in dem
er anonym bleiben zu wollen erklart, gesetzt haben sollte, ist
durchaus nicht glaublich. Es bleibt also nur die Moglichkeit,
dass ein anderer die Bezeichnung des Autors hinzugesetzt hat.
Ob dies ein Freund war, der es wissen konnte, oder ein Fremder,
der nur eine Muthmassung hegte — wer will das jetzt ent-
scheiden? Wir konnen deshalb dem Herausgeber nicht zu-
gestehen, dass die Frage der Autorschaft Ibarra's zu dessen
Gunsten entschieden sei, sondern nur einraumen, dass nichts
derselben widerspricht.
Wer nun auch der Verfasser sei: wir haben es hier mit
einer sehr bemerkenswerthen Schrift zu thun. Obwohl von ka-
tholischem und habsburgischem Standpunkte ausgehend, ist sie
doch mit lobenswerthem Streben nach Unparteilichkeit abgefitsst,
mit lebhaftem Verstandniss fiir die geographischen, militarischen
and politischen Verhaltnisse. Diese Vorziige leuchteten schon
gleichzeitig einem Biographen Philipp III., Matias de Novoa,
derart ein, dass er die Guerra del Palatinado fast wortlich in
sein Werk ubertrug, selbstverstandlich ohne seine Quelle zu
nennen (Col. de docum. ined. t. LXI); wie alle leichtsinnige
Plagiatoren, macht er dabei traurige Fehler.
Vortreflflich ist gleich zu Anfang des Originalwerkchens die
Schilderung der Rheinpfalz, deren bliihenden Zustand der Ver-
fasser nicht laut genug preisen kann. Freilich darf man es dem
wackern Kapitan nicht verargen, wenn er dabei einmal den Papst
Johann III. anstatt Johann XXIIL als von dem konstanzer Kon-
zile abgesetzt und in Mannheim gefangen gehalten erwahnt
(p. 343) ; es ist ein kleines Versehen des Herausgebers, diesen
Fehler nicht in einer Anmerkung verbessert zu haben.. Bei
Heidelberg beklagt der Verfasser, dass „das Schwert der Wissen-
schaften in die Hknde der Wuth und Blindheit der Gottlosigkeit
und Ketzerei gegeben ist, die geistvolle aber zugleich verderbliche
Manner hervorbrachten."
Die Schilderungen der auftretenden Personlichkeiten sind
mit vielem Scharfsinn und grosser Kunst entworfen. Merkwiirdig
18*
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276 Morel-Fatio, L'Espagne au XYI« et au XVII* siecle.
ist die Lehre, die der Verf. aus den Leiden der Pfalz in diesem
Kriege zieht, und die der Spanier noch heute nach mehr als
250 Jahren fur viele Deutsche wiederholen konnte (p. 393):
Die Pfalzer miissten erkennen, um wie viel gliicklicher die Volker
sind, welche Gott zu Gliedern grosser Monarchien machte,
deren Vertheidigung auf einem um so viel solidern Grunde be-
ruht; ihr Schutzherr, die gemeinsamen Krafte benutzend, lasst
sie nicht so leichten Zufallen ausgesetzt, wie jene Unterthanen
sind, deren Fiirsten entweder, weil sie sich mit einer geringen
Macht begnugen, keine haben um sie zu vertheidigen oder, in
der Hoffnung sie zu erweitern, es mit ungeniigenden Kraften
versuchen zu grosster Gefahr ihrer Untergebenen."
Der wohi unterrichtete Verfasser bemerkt (p. 405), dass
Spinola bald den Plan fasste, die reiche und fur die habs-
burgische Politik so wohlgelegene Pfalz fur Spanien dauernd fest-
zuhalten : ein Gliick fur Deutschland, dass Philipp III. thorichter
Hochmuth den Krieg mit den Hollanders nach Ablauf des zwolf-
jahrigen WaflFenstillstandes , wieder begann, und deshalb die
spanischen Regimenter zum grossten Theile aus dem erwahnten
Lande herauszog (p. 406). Vergebens versuchte Spinola einen Auf-
schub dieses Entschlusses herbeizufuhren, bis die Pfalz vollig unter-
worfen sei. Dadurch kam sie wenigstens in die Hande liguistischer
und kaiserlicher Truppen.
Mit Recht bezeichnet der Verfasser den Frieden, den die
Union am 12. April 1621 zu Mainz mit den Spaniern abschlofc,
als einen grossen Sieg der letztern. Es ist interessant, seis
Urtheil dariiber zu lesen (p. 415), das zugleich die harteste Ver-
dammung der Kopflosigkeit und Feigheit der Unirten enthalt
obwohl der Verf. in seiner ruhigen Weise vermeidet, dieselbe
oflfen auszusprechen. — Der Herausgeber hat diesem wichtigen
Buche einige einschlagende Aktenstiicke aus dem Archive tod
Simancas angehangt, die in der That mehrere Angaben desselben
dokumentarisch vollstandig bestatigen.
Kiirzer konnen wir uns iiber die letzten beiden Nummern
aussprechen, die mit der Geschichte als solcher weniger zu thun
haben. Nr. VI. enthalt den Wiederabdruck einer Gedichtsamm-
lung, eines Cancionero general, den Est&ban G. de N4gera im
Jahre 1554 erscheinen liess, und von dem nur noch ein einzige9
Exemplar vorhanden ist. Die Gedichte, die darin enthaiten,
sind hochstens als mittelmassig zu bezeichnen und nur insofem
merkwiirdig, als sie den Uebergang von der alten nationalen w
der toskanischen Schule der spanischen Dichtkunst illustriren-
Der Herausgeber hat seinen Abdruck mit zahlreichen linguistischen
und literarhistorischen Anmerkungen versehen; indessen da ihmi
wie er selbst sagt, zur Controllirung des sehr nachlassigen Text^
des Originaldruckes die in Spanien noch vorhandenen hand-
schriftlichen Gedichtsammlungen derselben Zeit nicht zn Gebote
standen, hatte er vielleicht besser gethan, diesen Abdruck ube^
haupt zu unterlassen.
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Saran, Die Schwed. Invasion in Kursachsen u. d. Friede z. Altranstadt. 277
Nr. VII enthalt die „Burleske Akademie", welche von den
spanischen Hofpoeten im Jahre 1637 bei Gelegenheit der Feste
veranstaltet wurde, die man zu Ehren der Erwahlung Ferdinands III.
zmn romischen Konige veranstaltete. Der poetische Werth dieser
Gedichte ist ein geringfiigiger. Es handelte sich darum, iiber
einen gegebenen Gegenstand Verse zu improvisiren, deren Form
und Zahl genau bestimmt waren : also eine Sache der Geschick-
lichkeit, nicht der Kunst. Auch hier hat der Herausgeber von
den vorhandenen Manuskripten nur eines zu seiner Verfugung
gehabt, doch macht sich bei dessen Korrektheit hier dieser
Mangel weniger bemerkbar. Die komischen und satyrischen Ge-
dichte dieser kleinen Sammlung, zum Theil recht witziger Natur,
werfen allerdings auf die moralischen und sozialen Zustande des
Hofes und der kleinen Schriftstellerrepublik im damaligen Spanien
ein erwiinschtes Licht. Ueberflussig zu erwahnen, dass der
Herausgeber auch hier seine gewissenhaften Noten hinzugefugt hat.
Endlich giebt derselbe noch eine Reihe von „Zusatzen und
Berichtigungen^ zu alien Stiicken seines Buches; und ein genauer
Namenindex erhoht dessen Brauchbarkeit fur den Geschichts-
forscher.
So scheiden wir denn von dem Werke des Herrn Morel-
Fatio mit lebhaftem Danke fur dessen fleissige und einsichtige
Bemiihungen, und hoffen, dass er mit jenem einen geniigenden
Anklang finde, um demselben baldigst eine weitere Sammlung fur den
gleichen Zweck folgen lassen zu konnen. Nur wiinschte Referent
dann eine genauere Bestimmung des Zieles und eine grossere
ortliche Ausdehnung der Forschungen.
Briissel. M. Philippson.
LXVIII.
Saran, Gustav, Die Schwedische Invasion in Kursachsen und
der Friede zu Altranstadt. Vortrag, gehalten im thiiringisch-
sachsischen Geschichts- und Alterthums-Verein zu Halle a. S.
8°. (32 S.) Halle 1878. Buchhandlung des Waisenhauses.
0,36 M.
Nach einer kurzen Skizzirung der allgemeinen politischen
Lago am Anfange des 18. Jahrhunderts beschreibt der Verfasser
den Einmarsch Karls XII. in Sachsen, fiir den nach seiner Mei-
nung die Schlacht von Fraustadt am 14. Februar 1706 den
eigentlichen Ausschlag gegeben hat, wahrend v. Noorden wol
richtiger den Einfall August II. in Litthauen und die Riick-
eroberung Grodnos fiir das entscheidende Moment erklart. Weiter
werden der Aufenthalt des Konigs in Sachsen, vielleicht mit
zu geringer Betonung der furchtbaren Lasten, die er dem un-
gliicklichen Lande aufbiirdete, die Verhandlungen , die zum
Altranstadter Frieden fuhrten, die weitern Vorgange, die den
Namen des kleinen Dorfes bei Leipzig zu einem weltgeschicht-
lichen gemacht haben, behandelt. Dor Vortrag, der die Horer
jedenfalls sehr angesprochen hat, theilt nur mit so manchem
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278 Droysen, Friedr. d. Gr. n. Maria Theresia nach dem Dresdener Eriedea.
andem Vortrage den Fehler, dass er gedruckt worden ist. Denn
neues finden wir nicht darin, etwa mit Ausnahme einiger Notizen
aus den Kirchenbuchern verschiedener Dorfer. Uebrigens and
wir vollig damit einverstanden, wenn der milde Zweck, welchem
dem Titelblatt zufolge der Ertrag des Schriftchens dienen soil
zur Rechtfertigung angefuhrt wird.
Dresden. Dr. H. Ermisch.
LXIX.
Droysen, Joh. Gust, Friedrich der Grosse und Maria Theresia
nach dem Dresdener Frieden. 8°. (118 S.) Berlin 1878.
E. S. Mittler u. Sohn.
Der Verf schildert in der vorliegenden Schrift, dem Separat-
abdruck einer in der Zeitschrift fur Preussische Geschichte
erschienenen Abhandlung, auf Grund seines reichen urkundlichen
Materials, namentlicb der Akten des berliner Archives, das Ver-
haltniss zwischen Preussen und Oesterreich in dem ersten Jahre
nach dem Dresdener Frieden 1746. Er tritt darin ebenso der
herkommlichen preussischen Auffassung entgegen, als ob Friedrich
nach jenem Frieden sich soviel wie moglich von den europaischen
Verwickelungen zuriickgezogen und sein Hauptinteresse der
inneren Politik zugewandt habe, wie der dieser entgegengesetzten
osterreichischen, als ob er auch nach dem Frieden bestandig in-
triguirt und machinirt habe, um im Triiben zu fischen und wo-
moglich durch neuen Landerraub seine Macht zu vergrossero.
Er zeigt, dass Friedrich allerdings den Frieden zu erhalten ge-
wiinscht und sich nur bemiiht hat, die durch den ersten schlesi-
schen Krieg erworbcne Machtstellung zu behaupten, dass ihm
aber diese friedliche Politik sehr schwer gemacht worden ist
durch das feindliche Verhalten Oesterreichs, welches auch nach
jenem Frieden sich fortgesetzt bemiiht hat, Preussen von jener
Machthohe wieder herabzudrangen, dass diese feindlichen Machi-
nationen Oesterreichs fortgesetzt die Aufmerksamkeit und Sorge
des Konigs in Spannung erhalten haben, und dass es ihm nur
durch eine ebenso kluge und vorsichtige wie kraftvolle Haltung
gelungen ist, sich von neuen kriegerischen Verwickelungen fern
zu halten. Ein erster einleitender Abschnitt: „Das preussische
und das osterreichische System" schildert in kurzen Strichen
das bisherige Verhalten beider Machte und die von ihnen ver-
folgten Ziele, in drei weiteren Abschnitten werden dann die-
jenigen Verhaltnisse behandelt, in denen in der nachsten Zeit
die feindselige Haltung Oesterreichs gegen Preussen besonders
zu Tage tritt: der Abschluss der Allianz mit Russland, die
Versuche, das deutsche Reich zur Theilnahme an dem Kriege
gegen Frankreich zu treiben und die Vereitelung der in Dresden
fur den Frieden ausbedungenen Reichsgarantie. In dem ersten
derselben: „Die Allianz vom 2. Juni 1746" wird hauptsachlich
auf Grund der Berichte des preussischen Gesandten in Peters-
burg, Mardefeld, gezeigt, wie die urspriinglich preussenfreundliche
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Droysen, Friedr. d. Gr. u. Maria Theresia nach dem Dresdener Frieden. 279
Kaiserin Elisabeth allmahlich durch die Partei des Kanzlers
Bestuscheff, sowie durch die im Bunde mit derselben wirkenden
Gesandten von Oesterreich, Sachsen und England zu einer
preussenfeindlichen Politik gedrangt worden ist, wie sie schon
in der letzten Zeit des zweiten schlesischen Krieges zum mili-
tarischen Einschreiten gegen Preussen entschlossen gewesen ist,
Avie dann auch nach dem Dresdener Frieden die Unterhandlungen
mit Oesterreich fortgesetzt werden und in dem Allianzvertrage
beider Machte vom 2. Juni 1746 ihren Abschluss finden, in
dessen geheimen Artikeln festgesetzt wird, falls Oesterreich, oder
Russland oder Polen von Preussen angegriffen werden sollten,
so sollte das Recht Maria Theresia s auf Schlesien wieder in
Kraft treten. Friedrich hatte von diesem Abkommen keine
nahere Kunde, aber er wurde in Besorgniss gehalten durch die
offenkundigen Riistungen in Russland, durch das Verbleiben der
osterreichischen Truppen in Bohinen und durch die bedenkliche
Haltung Englands, wo der Konig und seine hannoverschen Minister
zunachst heimlich der preussenfreundlichen und auf Herstellung
des allgemeinen Friedens zielenden Politik des englischen Mini-
steriums entgegenarbeiten , dann im Februar 1746 dieses Mini-
sterium entlassen und in Lord Granville der Hauptvertreter der
«benso gegen Preussen wie gegen Frankreich feindlichen Politik
an die Spitze der Regierung berufen wird. Zwar wird die un-
mittelbare Gefahr fur Preussen dadurch beseitigt, dass Konig
Georg durch die Haltung des Parlamentes genothigt wird, schon
nach zwei Tagen Granville zu entlassen und auf s Neue die
Pelhams in das Ministerium zu berufen. In Folge dessen werden
auch die russischen Truppenbewegungen eingestellt, doch bleiben
die Truppen dort noch immer in der Nahe der preussischen
Grenze, in Liefland, und Russland und Oesterreich suchen auch
Polen zum Anschluss an ihre AUianz zu bewegen.
Der nachste Abschnitt: „Die Reichsneutralitat" behandelt
die Versuche Oesterreichs schon vor und dann nach dem Dresdener
Frieden das Reich zur Theilnahme an dem Kriege gegen Frank-
reich zu veranlassen. Im December 1745 hat es wirkhch durch-
gesetzt, dass der Reichstag die Ausriistung einer Reichsarmee
beschliesst, die nachste Zeit nach dem Friedensschlusse , ehe
Preussen und Kurpfalz ihre. Gesandten wieder zum Reichstage
geschiokt haben, sucht es dann dazu auszunutzen, urn die wirk-
liche Aufstellung einer solchen Armee an der Grenze zu Stande
zu bringen, in der Hoffnung, dass sich dann leicht Geiegenheit
finden werde, diese mit in den Krieg gegen Frankreich hinein-
zuziehen. Doch erbittert Oesterreich selbst die meisten Reichs-
stande durch seine Truppenansammlungen im Reiche und durch
die Einquartirungslast, welche es denselben aufbiirdet, so wird
die Sache verzogert, bis Friedrich Geiegenheit erhalt einzugreifen.
Sein Gesandter Pollmann triflft im Februar 1746 in Regensburg ein
und verstandigt sich bald mit den Gesandten anderer Stande,
der Antrag, welchen dann Preussen stellt, die beschlossene Reichs-
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280 Droysen, Friedr. d. Gr. u. Maria Theresia nach dem Dresdener Frieden.
armee nicht aufeustellen und auch Oesterreich aufzufordern, seine
Truppen aus dem Reiche zu entfernen, hat dann zur Folge, dags
Oesterreich vorlaufig hier seine Plane aufgiebt und jetzt die in
den vorderen Reichskreisen aufgestellten Truppen nach Italien fort-
sendet.
Der letzte Abschnitt : „Die Reichsgarantie" steltt die directen
Beziehungen zwischen dem ostefrreichischen und dem preussischen
Hofe in den nachsten Monaten nach dem Friedensschlusse dar.
Friedrich hat im Marz 1746 seinen fruheren Residenten inWien,
v. Grave, dorthin zuriickgeschickt und lasst demselben im Juni
den Grafen Heinrich Podewils als seinen Gesandten folgen.
Schon Grave erhielt den Auftrag, die im Dresdener Frieden ans-
bedungene Reichsgarantie fur diesen Frieden zu betreiben.
Ailein von osterreichischer Seite wurde die Sache nicht in An-
griff genommen, im Gegentheil arbeiteten die kaiserlichen Agenten
im Reich bei den verschiedenen Standen dagegen, von Wien her
wurden die abenteuerlichsten, verleumderischen Geriichte fiber
ehrgeizige Plane Preussens verbreit^t, die Absendung des fur
Berlin bestimmten neuen osterreichischen Gesandten, GrafBernes,
wurde immer langer aufgeschoben , in einer Erwiderung auf
jene preussische Forderung verlangte Oesterreich von Preussen
im directen Gegensatz gegen die Dresdener Abmachungen voile
Garantie der pragmatischen Sanction. Friedrich in seiner Ant-
wort verweigerte dieselbe; er hielt anfangs die Absichten Oester-
reichs nicht fur so gefahrlich, als sie den Ajischein hatten, doch
machten ihn die Nachrichten von russisch-osterreichisch-sachsi-
schen Intriguen auf dem polnischen Reichstage, von Truppen-
bewegungen in Oesterreich selbst und von der feindseligen Hal-
tung Russlands besorgter, auch er nahm jetzt eine schroffere
Haltung an, ein in Berlin entdeckter russischer Spion, der
Danziger Ferber, wurde hingerichtet; als im October endb'ch
Graf Bernes in Berlin eintraf, wurde ihm der kiihlste Emp&ng
zu Theil, erst nach 4 Wochen wurde ihm die Antrittsaudienz bei
dem Konige bewilligt.
Die Spannung zwischen beiden Machten hat sich dann ra
Ende des Jahres noch gesteigert: Maria Theresia hoffte fur das
nachste Jahr auf Kosten der Seemachte 30,000 Mann russischer
Hiilfstruppen fur den Krieg gegen Frankreich zu gewinnen, so
diese Macht zum Frieden zu zwingen und dann mit Hiilfe der
Russen auch im Reich gegen Preussen vorzugehen. Sie liess in
einer Denkschrift an Preussen die Forderung erneuern, dieses
sollte die Garantie des Gesammtbestandes der osterreichischen
Monarchic iibernehmen, sie verlangte fur die Beforderung der
Reichsgarantie des Dresdener Friedens diejenige dor Reichs-
garantie der Gesammtlande Oesterreichs, Forderungen, die natiir-
lich von preussischer Seite auf das entschiedenste zuriickgewiesen
wurden.
Der Verf. bricht hier seine Darstellung mit dem Hinweis
darauf ab, dass diese von der Kaiserin hauptsachlich unter dem
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v. Schlozer, General Graf Chasot. 281
Einflusse ihres Ministers Bartenstein durchgefuhrte Politik keines-
wegs von alien ihren Rathgebern, auch nicht von ihrem Gemahl,
dem Kaiser, gebilligt worden ist.
In einem ersten Excurse werden Ausziige aus den Depeschen
des osterreichischen Gesiandten in London, v. Wasner, mitgetheilt,
welche interessante Nachrichten iiber die Vorgange am Hofe
Konig Georgs in der Zeit der Ministerkrisis enthalten nnd welche
namentlich zeigen, dass auch der Prinz von Wales der ent-
schieden preussenfeindlichen Eichtung angehort hat. Ein zweiter
Excurs enthalt Nachtrage zu einem friiheren Aufsatze des
Vert iiber geschriebene Zeitungen, welche aus den hier benutzten
Archivalien gesammelt sind.
Berlin. F. Hirsch.
LXX.
von Schlozer, Kurt, General Graf Chasot. Zur Geschichte
Fried richs des Grossen und seiner Zeit. 2. umgearbeitete und
vermehrte Auflage. gr. 8. (VIII, 240 S.) Berlin 1878.
W. Hertz. 4 M.
„Hatte Rheinsberg seinen Chronisten gehabt, der gleich dem
Marquis Dangeau in Versailles sich Zeit genommen hatte, von
jedem Tage die Eindriicke und Ereignisse und die cursirenden
Anecdoten aufzuzeichnen" — wer bedauerte nicht wie der Herr
Verfasser des vor uns liegenden anziehenden Lebfensbildes (S. 49)
die bekannte Lucke in dem Quellenmaterial fiir die neuere
deutsche Geschichte, das Fehlen einer Memoirenliteratur. Wie
lebenswahr und plastisch treten uns aus den englisohen und fran-
zosischen Memoiren die Figuren der Handelnden entgegen, in wie
achemenhaften Umrissen verschwimmen dagegen hier alle nicht im
ersten Vordergrund stehenden Personlichkeiten. Um so dankens-
werther ist bei diesem Zustande der Ueberlieferung eine histori-
sche Arbeit wie der biographische Essai, der uns jetzt in zweiter
Auflage geboten wird. Mit grosser Umsicht und Belesenheit
tragt sich der Verfasser, der auf dem Gebiete des achtzehnten
Jahrhunderts zu Hause ist, aus Fragmenten Chasotscher Me-
moiren und aus den Briefen seines Helden, aus dem preussischen
Staatsarchiv und dem Regimentsarchiv zu Pasewalk, aus liibecker
Chroniken und der gedruckten Literatur das Material zusanimen,
das er mit Kritik und Geschmack zu einem farbenreichen
Lebensbilde zu verarbeiten versteht. Die wechselnden Schick-
sale eines charakteristischen Vertreters des Rheinsberger Kreises
— „Der Matador meiner Jugend" heisst Chasot dem grossen
Friedrich — des heldenkiihnen Reiters von Hohenfriedberg und
nachmaligen liibecker Stadtcommandanten erhalten ihren wirkungs-
vollen Hintergrund durch die Erzahlung der grossen Zeitereig-
nisse, mit denen sie eng verflochten sind. Sehr im Interesse der
gefalligen und durchsichtigen Darstellung, die alle Werke des
Verfassers auszeichnet, sind die in dieselbe aufgenommenen Mit-
theilungen aus franzosischen Quellen in der zweiten Auflage ins
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282 y. Helfert. Joachim Murat, seine letzten Kampfe und sein Ende.
Deutsche iibertragen worden. Aus der Zahl der sonstigen
Aenderungen heben wir die Berichtigung in Betreff des Sterbe-
ortes Chasots hervor (S. 216). Zu dem interessanten Excure
„Chasot und das Feldjagercorps" (S. 218 ff.) sei es mir verstattet,
auf eine im Geh. Staatsarchiv befindliche Cabinetsordre Fried-
ricbs des Grossen vom 18. Februar 1741 auftnerksam zu machen,
durch die der Konig dem Generallieutenant y. Dossow mittheilt,
dass er gesonnen sei, „in der Schlesie eine Freicompagnie von
150 Mann zu errichten und solche dem Major Ponceletzu
conferiren" „Es wird solcbe in alien Stiicken dergestalt
gehalten und gebraucbet werden, als die welche Mein Herr Vater
vor seinem Ableben unter dem Poncelet hat errichten wollen"
nur soil die Compagnie „anstatt der weissgraulichen Monduru
griine mit rothen Aufschlagen bekommen, der Konig erwartet
Poncelet, der bei Dossow's Regiment in Wesel stand, bis Ende
Marz. Vielleicht also erhielt Chasot nur ein interimistisches
Kommando bis zum Eintreffen des schon von Friedrich Wilhehn L
fur die neue Truppe in Aussicht genommenen Kommandeurs; dies
wiirde zugleich seinen sonst auffallenden baldigen Uebertritt zu
einer andern Waffe, den Pasewalker Dragonern, erklaren.
Berlin. Reinhold Koser.
LXXI.
v. Helfert, Frhr. Joachim Murat, seine letzten Kampfe wrf
8ein Ende. Mit Beniitzung von Schriftstiicken des K. K. Hans-,
Hof- und Staats-Archivs. gr. 8. (X, 244.) Wien 1878.
Manz'sche k. k. Hof-Verlags- und Universitats - Buchhandlung.
4 M.
Das vorliegende Buch des fur Erforschung der osterreichi-
sche'ii Geschichte mit unermiidlichem Fleisse thatigen Freiherrn
von Helfert bildet die Fortsetzung zu seinem kurz vorher er-
schienenen Werke: Konigin Karolina von Neapel und Sicilkn.
(Wien 1878, Braumiiller.) Wenn das eben genannte Werk,
welches eigentlich eine Geschichte Neapels und Siciliens in der
Zeit der firanzosischen Revolution und Napoleons ist, mit dem
Tode der Konigin Karolina am 8. September 1814 abschliesst,
so hat Helfert offenbar und mit Recht das Bediirfhiss empfundeB,
auch die Schicksale ihres Gegners, des Konigs Joachim, bis zu
seinem tragischen Ende zu erzahlen. Mit einer umfassenden
und sorgfaltigen Benutzung auch der entlegensten gedrudctai
Hiilfsmittel verbindet Helfert eine treffliche Kenntniss der ihm
durch langjahriges Studium vertrauten Acten des Wiener Staatr
archivs. Leider beschrankt er sich ein wenig zu angstUch anf
Murat, seine Politik und seine letzten Schicksale, wahrend jedem
Leser bei dieser Gelegenheit ein Mehreres iiber Oesterreich xud
dessen italienische Politik hochst willkommen ware. Das hiibsch
ausgestattete, mit chronologischer Uebersicht und Index versehene
Buch zerfallt in zwei fast gleiche Theile: der erste enthalt <fe
Darstellung der Schicksale Murats, dem sich als zweiter Theil
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v. Helfert. Joachim Murat, seine letzteti K&nipfe und sein Ende. 283
eine reiche Auswahl sehr unterrichtender Actenstiicke anschliesst.
Unter diesen sind ohne Frage die wichtigsten einige Erlasse von
Metternich, deren Lecture, wie AUes was dieser bedeutende Mann
geschrieben, gleichmassig ein Genuss fur den Politiker wie fur
den Historiker ist.
Schon im Fruhjahr 1813 hatte Konig Joachim sich mit dem
Gedanken getragen, sich von Napoleon loszureissen, urn im An-
schluss an die sich vorbereitende Coalition das Konigreich Neapel
fiir seine Dynastie zu erhalten. Er konnte sich nicht verhehlen,
dass, wenn er an der Seite Napoleons an dem grossen- Kampfe
Theil nehme, das Fortbestehen seines Konigreichs unter alien
Umstanden mehr als zweifelhaft werde : unterlag Napoleon, so
war die Restauration der Bourbonen in Neapel unausbleiblich,
aber selbst wenn er siegte, so hatte Neapel nichts Besseres zu
hoffen als gleich Holland dem Grand -Empire einverleibt zu
werden. In diesen Erwagungen hat Joachim schon damals in
Wien mit Metternich durch Fiirst Cariati, mit Lord Bentinck,
dem Commandanten der Englander in Sicilien, durch Sir Robert
Jones und den Herzog von Campo-Chiaro Unterhandlungen an-
gekniipft, die freilich vorlaufig zu keinem bestimmten Ergebniss
fiihrten, aber doch die Moglichkeit einer Verstandigung in Aus-
sicht stellten.
Als nun bei Leipzig die grosse Armee Napoleons zertriimmert
war, verliess Joachim seinen Schwager, wie er ihm versicherte,
urn neue Truppen in Neapel auszuheben, in Wahrheit mit dem
festen Entschlusse, das „sinkende Schiff Napoleons zu verlassen
und im Schlepptau Oesterreichs und Englands den bergenden
Hafen zu gewinnen". Auf der Reise durch Italien in sein
Konigreich kam er mit einflussreichen Personen, mit hohen
Officieren, in Beriihrung, in deren Kreise damals zuerst der Ge-
danke einer Einigung Italiens aufkeimte; es wurde ihnen nicht
schwer, den hochstrebenden und phantastischen Konig mit dem
Traume zu erfullen, der Befreier und Einiger Italiens zu werden.
Gleich nach seiner Ankunft in Neapel schickte er einen Beamten
des auswartigen Amtes, Mario Schinina, (nach andern Berichten
den Marquis St. Elie)1) abermals an Lord Bentinck und that
gleichzeitig den ersten offenen Schritt des Abfalls von Napoleon,
indem er sich durch ein Decret vom 11. November 1813 von
der Continentalsperre lossagte. Die Unterhandlungen mit Lord
Bentinck scheiterten abermals, dagegen fuhrten die Verhandlungen
mit Oesterreich diesmal schnell zum Ziele.
Im Anfeng Januar 1814 war, vom Hauptquartier der Ver-
x) Die SsteiTeichiachen Berichte neunen den Unterh&ndler Schinina.
,Jrgendwo", sagt Helfert (Konigin Karolina S. 527), „fand ich den Marquese
St. Elie genannt". In der That wird St. Elie erwahnt in der officiellen
Darlegung der neapolitanischen Politik, die Campo-Chiaro am 27. Octo-
ber 1814 wfihrend des Wiener Congresses den Vertretern der Grossmachte
mittheilte. (Memoire historique sur la conduite politique et militaire de
S. M. le roi de Naples depuis la bataille de Leipzig jusqu'a la paix de Paris
da 30 mai 1814.)
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284 v- Helfert. Joachim Murat, seine letzten Kfimpfe and sein Ende.
biindeten entsendet, Graf Neipperg in Neapel erschienen, um
endlich mit Konig Joachim zu einem Abschluss zu gelangen.
Nach kurzen Berathungen und Verhandlungen wurde am 8. Januar
ein vorlaufiger, am 11. Januar em definitiver Vertrag vereinbart,
nach welchem Oesterreich und Neapel sich ihre Besitzungen in
Italien garantirten, Joachim auf Sicilien verzichtete, dafiir aber
eine Vergrosserung von 400,000 Seelen (man dachte an Theile
des Kirchenstaates) erlangen sollte. Oesterreich verpflichtete
sich 60,000 Mann, Neapel 30,000 Mann auf den itaUenischen
Kriegsschauplatz zu send en, iiber welche, wenn er selbst ins
Feld zoge, Konig Joachim, im andern Falle ein osterreichischer
General den gemeinschaftlichen Oberbefehl fiihren sollte. Ueber-
dies versprach Oesterreich seine guten Dienste, um die An-
erkennung Joachims von den Verbundeten und den Verzicht Konig
Ferdinands von Sicilien auf Neapel zu erreichen. Am 23. Januar
setzte sich Konig Joachim selbst an der Spitze seines Heeres
nach Nord-Italien in Bewegung. Der Feldzug verlief auch hier.
wie man weiss, fur die Verbundeten siegreich, wiewohl ihre Ein-
tracht hier nicht grosser war als auf den andren Schauplatzen
des grossen Krieges. Konig Joachim kampfte doch nur mit
halbem Herzen gegen seine alten Waffenbriider ; die Verbundeten
ihrerseits zeigten ihm Zuriickhaltung und selbst Abneigung. Wie
das die gegenseitige Stellung einmal unvermeidlich machte, Yer-
mehrte das Misstrauen des einen Theiles immer wieder das des
andren. Metternich schrieb von Chaumont : der Kbnig von Neapel
dient durch seine Haltung der Sache des Kaisers der Franzosen
besser, als wenn er entschieden gegen uns Partei ergriffen hatte.
Murat dagegen klagte iiber das Verhalten Russlands und
Preussens, die den Vertrag vom 11. Januar nur unter gewissen
Modificationen annehmen wollten, iiber die Hartnackigkeit des
Lord Bentinck, der in Toscana gelandet war, iiber Unbotmassg-
keit osterreichischer Offiziere. Die Wendung der Dinge vollends,
welche in Frankreich durch die Entthronung Napoleons und die
Wiederherstellung der Bourbonen eintrat, brachte ihn in die
grosste Aufregung. Er sprach sein Bedauern aus, dass man
Marie Louise und den Konig von Rom geopfert habe, undweis-
sagte den baldigen Sturz der Bourbonen. Da er sehr wohl
empfand, wie sein eigener Thron dadurch ins Schwanken gerathen,
so suchte er sich um so fester an Oesterreich anzuschliessen,
indem er ihm seine Unterstiitzung in einem etwa ausbrechenden
Kriege mit Russland anbot.
So war seine Stellung nach aussen unsicher, wahrend seine
Herrschaft im Innern durch die Anhanger des alten Regimes
sowohl ^wie durch die Freunde der italienischen Einheit und
durch das Verlangen nach einer constitutionellen Verfassung
bedroht wurde. Auch die Rolle, welche Neapel und seine Ver-
treter auf dem Congresse zu Wien spielten, diente keineswegs
dazu, den Konig Joachim zu beruhigen oder seine Stellung zo
befestigen. Seine Gesandten wurden von den Sitzungen des
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t. Helfert. Joachim Murat, seine letzten K&mpfe und seiu Ende. 285
Congresses ausgeschlossen und selbst gesellschaftlich zuriick-
gesetzt, indessen die Vertreter Konig Ferdinands von Sicilien
sich aller Aufmerksamkeit zu erfreuen hatten. Das wirkte denn
wieder auf Joachim zuriick und vergrosserte die allgemeine
Spannung. Mit seinem Nachbar, dem Papst, konnte er zu keiner
Verstandigung gelangen; bei den Verbiindeten beriihrte es un-
angenehm, dass er, im bewussten Gegensatz zu ihrer eigenen
gemessenen und abwehrenden Haltung, recht geflissentlich sein
Streben zur Schau trug, den Wiinschen und Neigungen der
Neapolitaner und anderer Italiener entgegenzukommen. Metter-
nich hielt es fur nothwendig, ihn darauf aufmerksam zu machen,
dass man sich nicht selten Verlegenheiten schaffe, wenn man
denselben mit zu ungeduldiger Hand zu begegnen suche. Ruhe
sei die einzige Haltung, die den wahrpn Lateressen des Eonigs
«ntspreche.
In dieser Stimmung, beunruhigt wie er war durch die immer
bedenklicber lautenden Nachrichten aus Wien, erhielt Konig
Joachim am 4. Marz 1815 die Kunde von der Flucht Napoleons
von Elba. Bald folgten die Nachrichten von seiner gliicklichen
Landung in Frankreich, von der begeisterten Aufhahme durch
die Bevolkerung , , dem Uebertritt der koniglichen Truppen.
Joachim gerieth in eine brennende Aufregung. Er zweifelte nicht,
dass Napoleon zuletzt die Oberhand behalten werde; er glaubte
mit dem Sterne Napoleons auch seinen eigenen wieder aufgehen
za sehen. Seine Gattin, deren kiihler und verstandiger Geist
sonst sein auf brausendes Gemiith besanftigt, lag in Folge der
Aufregungen dieser Tage krank darnieder; an ihrer Stelle ge-
wann die Prinzessin von Wales, die sich damals in Neapel auf-
hielt und fur Joachim schwarmte, Einfluss auf ihn. Sie sprach
ihm von den zahlreichen Anhangern, die er uberall in Italien
babe; Napoleon habe mit einer Hand voll Leuten Frankreich
erobert, er besitze eine schone Armee von 80,000 Mann, wie
konne er nur Zuschauer der grossen Ereignisse bleiben?
Nach kurzen Schwankungen — denn es fehlte auch nicht
an Mannern, die den Anschluss an Napoleon widerriethen —
versammelte Konig Joachim am 14. Marz seinen Staatsrath, urn
ihm die bevorstehende Waflfenerhebung anzukiindigen. Trotz des
glanzenden Gemaldes, das er hier von seinen eigenen Streit-
kraften und der Unterstiitzung der Italiener entwarf, wurde er
dennoch gebeten, erst Nachrichten aus England und Oesterreich
abzuwarten. Aber es zeigte sich unmoglich, die iiberstromende
Ungeduld und Unruhe des Konigs durch bedachtigen Rath in
Schranken zu halten. An Napoleon sandte er den Grafen
Beaufremont mit der Versicherung, dass der Kaiser auf ihn zahlen
konne; er selbst brach am 17. Marz zur Armee auf. Anfangs
schien das Gliick dem Konig zu lacheln. In zwei Abtheilungen,
westlich und ostlich vom Appennin, drang das neapolitanische
Heer siegreich gegen Norden vor, die schwachen Schaaren der
-Oesterreicher vor sich hertreibend. Die Marken Fermo und
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286 v- Helfert. Joachim Murat, seine letzten Kampfe und sein Endo.
Ancona, Gubbio, Pesaro und Urbino wurden erobert und dem
neapolitaniscben Konigreiche einverleibt. Bologna,' Ferrara,
Modena wurden ebenfalla eingenommen. Damit aber hatte
Joachim das Ende seiner Siege erreicht. Vergebens versuchte
er am 7. und 8. April die den Briickenkopf von Occhiobello
besetzt haltenden Oesterreicher in wiederholten Angriffen zu ver-
drangen; alle seine Stiirme wurden zuriickgewiesen. Die Unter-
stiitzung, die er sich von den Italienern versprochen hatte, blieb
aus ; von der alten italienischen Armee traten nur etwa 400 Mann
unter seine Fahnen ; dagegen schlossen sich toskanische und
modenesische Regimenter den Oesterreichern an. Dem Vor-
marsch des Konigs war Halt geboten, und gleichzeitig bedrohten
in sein em Riicken die Englander die neapolitanische Kiiste.
Inzwischen hatten die Oesterreicher ihre Truppen zusammen-
gezogen und gingen am 10. und 11. April unter Bianchi ihrer*
seits zum Angriff iiber. Konig Joachim, uberall zuriickgedrangt,
musste nach einander Modena, Reggio, Bologna raumen. Nach-
dem er vergeblich gesucht hatte, das Vorrucken des oster-
reichischen Heeres durch Unterhandlungen aufzuhalten, kam es
am 2. und 3.* Mai bei Tolentino zu einem Treffen, in welchem
das neapolitanische Heer vollstandig geschlagen und fast auf-
gelost wurde. Die Truppen entliefen haufenweise in ihre Heimath;
eine Brigade kiindigte ihrem General in aller Form den Gehor-
sam auf, nur eine einzige Legion — so hiessen die neapolitanischen
Corps — erreichte in einem leidlichen Zustande Neapel. Mit
bittrem Schmerze sah der Konig die schono Armee, die seine
Freude und sein Stolz gewesen war, vor seinen Augen zer-
schmelzen ; er verbarg die Thranen nicht, die seine Wange hinab-
rollten. Dem allgemeinen Ablall gegeniiber, der sich bei der
Armee wie im Innern seines Konigreichs zeigte, machte er noch
einen letzten Versuch, durch Verleihung einer Verfassung die
Anhanglichkeit seiner Unterthanen zu erhalten. Er beauftragte
den Staatsrath Colletta (den bekannten Historiker) und den
Minister Zurlo mit der Ausarbeitung einer Verfassung, doch
empfahl er ihnen noch ausdriicklich, mit den Bewilligungen an
das Volk nicht allzu freigebig zu sein.
Gleichzeitig aber waren auch schon die Oesterreicher in
4 Colonnen iiber die neapolitanische Grenze gegangen und eine
englische Flotte vor Neapel erschienen, welche die Stadt in
Triimmer zti schiessen drohte, wenn die Forts nicht iibergeben
wurden. Vor alien diesen Gefahren verliessen die noch in Neapel
weilenden Mitglieder der Familie Bonaparte die Stadt, und am
26. Mai wurde zu Casa Lanza zwischen Bianchi und einigen
neapolitanischen Generalen, deren ganzes Heer sich nur noch
auf 9000 Mann belief, eine Convention abgeschlossen, nach welcher
Neapel, Capua und Reggio von den Neapolitanern geraumt
wurden. Auf die Nachricht hievon, noch am selbigen Tage, ver-
liess Joachim mit wenigen Begleitern Neapel, und Hess sich nack
Ischia hiniiberschiffen, von wo ihn ein Handelsschiff nach Frank"
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v. Helfort. Joachim Marat, seine let z ton K&mpfe und sein Ende. 287
reich fuhrte. Seine ungliickliche Gattin, die vor dem Pobel auf
ein englisches Schiff gefliichtet war, horte von hier aus das Lauten
der Glocken, den Donner der Kanonen und all das festliche Ge-
prange, welches den Einzug des Prinzen Leopold von Sicilien
begleitete. Sie begab sich spater, auf Grund eines Abkomraens
mit der osterreichischen Regierung, in Begleitung ihrer Kinder
nach Triest
Murat hatte ein Landhaus in der Nahe von Toulon zu seinem
Aufenthalt gewahlt. Er lebte hier ruhig, bis die Niederlage
Napoleons und die Ruckkehr der Bourbonen seine Lage bedenk-
lich machte. Es wurde ein Preis auf seinen Kopf gesetzt, und,
urn die Verrather anzureizen, ausgesprengt, dass er grosse Schatze
mit sich fiihre. Nach vielen Abenteuern und Gefahren — er
musste einmal 2 Tage und 2 Nachte ohne Nahrung umherirren>
dann sich langere Zeit in einem Loche verborgen halten — ge-
lang es ihm endlich, auf einem Schiflfe nach Corsica zu ent-
kommen, wo er in dem Stadtchen Yescovato eine Zuflucht fand.
Hier fehlte es bald nicht an herzustromenden Soldaten, selbst
nicht an niederen und hoheren Offizieren, welche herbei kamen,
theils urn nur ihre Neugierde zu befriedigen, theils um dem ge-
stiirzten Monarchen ihre Theilnahme zu bezeigen; viele unter
ihnen verblieben bei Murat und bildeten eine Art Leibgarde um
ihn. Inmitten dieser abenteuerlichen Umgebung reifte allmahlich
in Murat der Entschluss, den Bourbonen sein Konigreich wieder
zu entreissen. Er redete sich ein, dass er, den die Zweideutig-
keit seiner Haltung und die Unmoglichkeit seiner Stellung ge-
8tiirzt hatte, nur in Folge ungliicklichor Zufalle, durch Verrath,
Ausstreuung falscher Geriichte, unterlegen sei ; er zweifelte keinen
Augenblick, dass seine Unterthanen, „ seine Kinder", ihn ebenso
freundlich aufiiehmen wiirden, wie Napoleon von den seinigen
aufgenommen sei. Am 23, September hielt er einen feierlichen
Einzug in Ajaccio, unter freudiger Betheiligung des Volkes, die
ihn in alien seinen Ulusionen nur bestarkte. Er war trunken vor
Freude und Siegesgefiihl , taub gegen alle Einwendungen und
Vernunftgriinde ; er rief damals aus: „so sei es denn, ich will
leben oder sterben inmitten meines Volkes. Ich will nach Neapel,
versaumen wir keinen Augenblick, uns dort einzufinden." Am
28. September, wenige Stunden, bevor er die Insel verliess, erhielt
er durch den Obersten Maceroni das Anerbieten der osterreichi-
schen Regierung, unter ihrem Schutze sich in Triest nieder-
zulassen. Murat lehnte es ab ; wenn die Corsen, meinte er, mich
so aufgenommen haben, wie wird das erst bei den Neapolitanern
sein, die ich stets mit Wohlthaten iiberschiittet habe. Er war
nicht mehr zu halten, der Boden brannte ihm unter den Fiissen.
In der Nacht zum 29. lichtete er die Anker; mit einer kleinen
Flottille von wenigen Schiffen, begleitet von etwa 250 Mann,
segelte er nach Neapel, um sein verlorenes Konigreich wieder
zu erobern.
An der Kiiste Calabriens liegt Pizzo, damals ein Ort von
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288 v- Helfert Joachim Murat, seine letzten Kfimpfe . and sein Eade.
8000 Einwohnern, auf einem Hiigel, zu dem vom Strande her
ein etwas steiler Fusspfad aufsteigt, der durch Pizzo hindturcb
nach Monteleone fiihrt. Hier landete Murat an einem Sonntage,
zwischen 11 und 12 Uhr Vormittags; seine Schiffe hatten sicb
auf der Fahrt zerstreut, es folgten ihm nur noch 29 Mann.
Die Aufnahme, auf die er gerechnet hatte, fand er nicht; das
Yolk lief herbei, aber mehr neugierig und erstaunt, als theil-
nahm8voll, und schloss sich ihm nicht an. Als die erste Ueber-
raschung voriiber war, auf dem Wege nach Monteleone, wo man
ihm auf mehr Anhanger Hoflhung gemacht hatte, wurde er an-
gegriffen. Er erkannte jetzt, dass Alles verloren sei. In rascher
Flucht, den Abhang des Hiigels hinunter, stiirzte Murat mit
seinen Begleitern nach dem Strande. Indem sie hier ein Boot
zu losen suchten, urn zu ihrem Schiffe zu gelangen, wurden sie
von den Verfolgern ereilt, und nach kurzem Widerstande gab
sich Murat gefangen.
Schon am 12. October Abends kam ein Eilbote von Neapel
mit dem Befehle des Konigs Ferdinand, iiber den mit den Waffec
Ergriffenen durch ein Kriegsgericht aburtheilen zu lassen. Als
Murat am 13. Morgens davon in Kenntniss gesetzt wurde, sah
er, was ihn erwartete; „weh mir," rief eraus, „ich bin verloren:
das Kriegsgericht ist der Tod!" Er verschmahte es, vor den
Richtern, die seine Unterthanen seien, sich zu vertheidigen oder
vertheidigen zu lassen. Man horte ihn von der Erschiessung
des Herzogs Enghien sprechen, die Konig Ferdinand jetzt durch
eine andere Tragodie wett machen wolle; unter Anrufen Gottes
stellte er alien und jeden Antheil daran in Abrede. Um 5 Ok
Nachmittag8 wurde das Urtheil iiber ihn gesprochen; es lautete
auf Tod wegen Attentats gegen die bestehende Regierung mA
Aufreizung zum Biirgerkrieg und bewaffneten Aufetand; nach den
Gesetzen, die einst Konig Joachim gegeben, wurde jetzt General
Murat zum Tode verurtheilt. Eine halbe Stunde darauf, nach-
dem er in nihrenden Briefen von seiner Gattin und seinen
Kindern Abschied genommen, ist er erschossen worden.
Paul Bailleu.
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LXXII.
Duncker, Max, Geschichte des Alterthums. Zweiter Band. Fiinfte
verbesserte Auflage. gr. 8°. (XIII, 606 S.) Leipzig, 1878.
Duncker & Humblot. 11,20 M.
Auch der vorliegende zweite Band von Duncker's Geschichte
des Alterthums zeigt ebenso wie der erste (s. unsre Anzeige
desselben in Jahrgang 6 dieser Zeitschrift, S. 193 f.) in der
neuen funften Auflage mannichiache Veranderungen und Ver-
besserungen. Dieselben sind zum Theil formeller Art, die aussere
Anordnung ist mehrfach verandert, einige grossere Abschnitte
9ind getheilt worden, so dass das dritte Buch statt 10 jetzt
13, das vierte statt 12 jetzt 18 Abschnitte enthalt; auch die
Aufeinanderfolgo derselben ist in diesem letzten Buche eine
andere geworden, namentlich ist die friiher an den Schluss ge-
stellte Geschichte Aegyptens jetzt in drei verschiedenen Ab-
schpitten (3, 13 und 16) zwischen den anderen eingeschaltet
worden. Auch innerhalb der einzelnen Abschnitte ist der Stoff
mehrfach anders geordnet worden. Sachlich sind in der Haupt-
sache unverandert geblieben im dritten Buche die Abschnitte
4—10, welche die judische Geschichte bis zur Mitte des 9. Jahr-
hunderts behandeln, (hinzugefugt ist hier nur S. 100 ft die Dar-
stellung des Verhaltnisses Sauls zu Samuel, S. 107 der Bericht
der alteren Relation iiber die Hinrichtung der mit David ver-
bundenen Priester durch Saul, ferner S. 192 f. eine langere An-
nierkung, in welched die Einwande gegen die Identificirung des
in assyrischen Inschriften genannten Konigs von Damascus und des
Achabbu mit Benhadad von Damascus und dessen Zeitgenossen
Konig Ahab von Israel zuriickgewiesen werden) dagegen haben
hier Bereicherungen erfahren gleich die beiden ersten Abschnitte
ndie Sage von Ninos und Semiramis" und „die Anfange des
assyrischen Reiches". In dem ersteren wird jetzt (S. 5. 15), K.
Jacoby folgend, Diodors Bericht nicht aus Ktesias selbst, sondern
aus der Bearbeitung desselben durch Kleitarchos abgeleitet, fur
den zweiten hat der Verf. jetzt ebenso wie nachher fur die an-
deren, die spatere assyrische Geschichte behandelnden Abschnitte
die in Smith's Discoveries herausgegebenen Inschriften verwerthet.
Fur Abschnitt 3 „Seefahrt und Colonisation der Phonikier"
haben dem Verf. die Ausgrabungen in Thera, Melos, Hissarlik
und Mykenae neue Ausbeute gewahrt (S. 56—58), die dort ge-
fundenen Gerathe und Schmucksachen sind seiner Ausicht nach
durch die Phonikier dorthin gebracht worden, die Graber in
Mykenae selbst aber sind nicht phonikisch, die Bestattung der
Todten dort mit ihren Riistuugen weist auf karische Sitte hin ; der
Verf. vermuthet daher, dass Karer von den westlichen Kykladen
aus sich auch an der Kiiste von Argos festgesetzt haben. Der
Zeitpunkt der Colonisation von Kypern durch die Phonikier wird
jetzt (S. 43) auf die Mitte des 13. Jahrhunderts angesetzt, fur
die Bestimmung der Zeit ihrer Ansiedlung im agaischen Meere
wird (S. 60) auf die zu Hissarlik gefundenen Thonlinsen mit
Mittheilungcn a. d. hlitor. Litteratur. VIL 19
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290 Duucker, Geschichte des Alterthums.
kyprischen Schriftzeichen hingewiesen. Auch die spiiteren die pho-
nikische Geschichte behandelnden Abschnitte enthalten Zusatze,
S. 216 ff. wird die Baukunst und die sonstige Kunstthatigkeit
der Phonikier auf Grund der in neuester Zeit theils in Phoni-
kien selbst, theils in Mykenae und in Spata, bei Marathon, ge-
machten Entdeckungen eingehender dargestellt, S. 232 werden die
an den beiden letzteren Orten sowie in etruskischen Grabern ge-
fundenen babylonischen und agyptischen Fabrikate als Beweise
fur den ausgedehnten Handelsverkehr der Phonikier aufgefiihrt
In Abschnitt 13 „die Erhebung Assyriens" wird S. 243 nach
Smith unter den Bauten Konig Assurnasirpals auch em Palast
in Niniveh genannt, ferner wird hier (S. 254) auf zwei von Oppert
und Menant in den Documents juridiques herausgegebene Pri?at-
urkunden aus der Regierungszeit Konig Bin-Nirars (c. 800) hin-
gewiesen, denen Notizen in phonikischen Buchstaben beigefiigt sind
und welche zeigen, dassman, obwohl man dort die Buchstaben-
schrift schon kannte, dennoch die Keilschrift beibehalten hat.
Im vierten Buche enthalten die Abschnitte iiber die spatere
assyrische, ebenso auch die iiber die jiidische Geschichte, uber
die Volker des Nordens, iiber das babylonische und iiber das
lydische Reich sachliche Aenderungen und Zusatze nur wenig,
ich weise nur darauf hin, dass (S. 349 f.) jetzt die Einnahme
von Babylon durch Sanherib auf 694, statt friiher 689, fest-
gesetzt, dass ferner die friiher von dem Verf. zuriickgewiesene
Hypothese, die Sky then, welche c. 630 Medien und ganz Vorder-
asien iiberflutheten, seien nicht Skoloten vom schwarzen Meere,
sondern Saken von jenseits des caspischen Meeres her gewesen,
jetzt (S. 467) doch von ihm angenommen ist, dass er (S. 477 i)
die Richtigkeit der Interpretation assyrischer Inschriften darck
Smith, wonach diese sich auf den letzten Konig von Assyrien,
Assur-idil-ili, auf einen Vorganger desselben Bel-zakir-iskun und
auf Kyaxares von Medien beziehen sollen, bezweifelt , dass jetzt
(S. 536 ff.) vollstandiger die verschiedenen Angaben der Altea uber
die Topographie von Babylon zusammengestellt und auf die IV
wahrscheinlichkeiten in dem Berichte Herodots hingewiesen, endlich
dass in einer langeren Anmerkung (S. 571 ff.) die Chronologie
der lydischen Konige genauer begriindet wird. Am meisten be-
reichert erscheint der erste Abschnitt (3) iiber Aegypto
und zwar hauptsachlich durch die Benutzung von Brugsch's Ge-
schichte Aegyptens unter den Pharaonen. Wir finden bier
(S. 297 ff.) jetzt genauere Angaben iiber die Zeit der letzten
Ramessiden, iiber die machtige Stellung, welche damals die
thebanischen Oberpriester eingenommen haben, ferner iiber die
diesen folgenden Dynastien von Tanis und Bubastis, deren Be-
gierungszeit jetzt 1074—960 und 960—780 angesetzt wird, die
semitische Abkunft der letzteren Dynastie wird anerkannt, da-
gegen die Hypothese von Brugsch, dass es assyrische Konige g^
wesen, dass schon damals Aegypten von den Assyrern unterworfen
sei, zuriickgewiesen. Zum Theil neu sind dann die Angaben
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Kuhn, Ueber die Entatehung der Stadte der Alten. 291
(S. 305 f.) iiber die Auflosung Aegyptens in eine Anzahl von
einzelnen Fiirstenthiimern, welche der Eroberung durch die
Aethiopen vorangeht, S. 312 f. wird die Chronologie der athio-
pischen Konige Aegyptens in einer langeren Anmerkung genauer
untersucht, neu sind auch die Angaben (S. 315 f.) iiber die
Bau ten Tirhaka's in Nubien. Auch Abschnitt 13 „Aegypten
unter Psammetich und Necho" enthalt manche Erweiterangen,
(S. 456) Einzelnheiten aus dem Befreiungskampfe Psammeticlis
gegen die assyrische Herrschaft, S. 457 iiber seine Ge-
mahlin, S. 489 Betrachtungen iiber die Kampfe Psammeticlis
in Syrien. S. 492 wird gezeigt, dass die Angaben Herodots und
Diodors iiber die Zahl der nach Aethiopien auswandernden
agyptischen Krieger (240000 und 200000) iibertrieben sein
miissen; die ausfiihrliche Darstellung des Feldzuges Necho's
nach Asien findet sich jetzt hier (S. 496 ff.), wahrend sie friiher
in dem den Untergang des Reiches Juda behandelnden Ab-
schnitte enthalten war. Abschnitt 16 ,.Aegypten unter den
letzten Pharaonen" ist in der Hauptsache unverandert geblieben,
kleinere Zusatze finden sich S. 560 f. (Folgerungen aus den In-
schriften griechischer und phonikischer Soldner unter Psamme-
tich II. zu Abu Simbel), S. 564 f. (genauerer Nachweis der Un-
wahrscheinlichkeit der Nachrichten Herodots iiber Siege Konig
Hophra's in Syrien), S. 567 (die Namen der agyptischen Frauen
des Amasis). — Eine nicht geringe Zahl von Druckfehlern ist
uns in diesem Bande aufgefallen.
Berlin. F. Hirsch.
LXXIII.
Kuhn, Dr. Emil, Ueber die Entstehung der Stadte der Alten.
Komenverfassung und Synoikismos. gr. 8. (VI, 454 S.)
Leipzig, 1878. B. G. Teubner. 10 M.
Der gelehrte Verf. hat in dem vorliegenden Werke eine
Arbeit geliefert, die auf eingehenden Studien beruht und daher,
falls sie genau beurtheilt werden soil, eine eigene Abhandlung
nothig macht. Eine solche wird schwerlich in der nachsten
Zeit gefertigt werden und werden demnach Berichtigungen im
Einzelnen und Ganzen erst erfolgen konnen, nachdem Detail-
arbeiten erschienen sind.
Der Verf. macht zunachst auf die Verschiedenheit aufmerk-
sam, welche zwischen dem Begriffe der Stadt im Alterthume
und in der Neuzeit stattfindet.
Im Alterthum beruhte der Begriff einer Stadt auf der Ver-
kniipfung von Stadt und Land zu einem einzigen, den Gegensatz
derselben ausschliessenden Organismus. Urspriinglich wohnten
die Volker des Alterthums in Gauen getheilt, doch leben die
andern alten Volker meist alle in geschlossenen Ortschaften
(connexis et cohaerentibus aedificiis), nur bei den Germanen
war der Wohnsitz eines Jeden von dem des Andern getrennt.
Die Alten fassten als die Substanz des Staates die Gesammtheit
19*
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292 Kuhn, Ueber die Entstehung der Stadte der Alten.
der Grundeigenthiimer auf. Ihre Stadte enthielten zugleich den
Begriff der Gemeinde und des Staates in sich.
Die Entwickelung der Stadte soil zunachst fur Griechenland
nachgewiesen werden. Zur Zeit Homers gab es wenig Stadte,
nur Athe'n, Theben und einige andere konnen als damals vor-
handene Stadte nach den Begriffen der spateren Zeit betrachtet
werden. Die Mebrzahl der Orte, die Homer Stadte nennt,
dtirften als blosse Burgen aufzufassen sein. Zu Thucydides' Zeit
lasst sicb der Unterschied zwischen yxifirj und rtoXiq so feststellen,
dass erstere Orte politisch zu einem Ganzen verbunden sind,
nichts destoweniger raumlich abgesondert fiir sich bestanden.
Die Spartiaten und die meisten Hellenischen Stamme waren
anfangs in mehrere Ortschaften aufgelost und getrennt und
wurden erst spater in einen Ort vereinigt. Zunachst untersucht
der Verf. die Verhaltnisse , welche bei den Volkern des Pelo-
ponnes stattgefundeu haben. Wir heben als wichtig "hervor
das, was der Autor iiber Arkadien und Achaja mittheilt. Er
schliesst seine Betrachtung iiber das erste Volk mit den Worten:
„Die Geschichte keines anderen Volkes, als die der Griechen,
und unter diesen wieder der Arkader insbesondere, belegt wohl
mit bedeutenderen Ziigen., dass der Grad der politischen Ent-
wickelung eines Volkes auf dem Principe der Centralisation, der
Unterordnung der Theile unter das Ganze beruhe, hing^en
Schwache, politische Unmiindigkeit, wie gesammte Entwickelung
durch den Gegensatz beider nothwendig bedingt seien. Denn
keinem anderen Grunde, als dem Mangel der Centralisation und
der auf Einen Zweck gerichteten ortlichen Leitung kann es
zugeschrieben werden, dass die Mantineier, ungeachtet dies
bios fiinf Komen zahlten, jene (die Arkader) ihrer Herrschaft
zu unterwerfen im Stande waren."
Durch die Untersuchungen des Verf. erhalt der Leser ein
lebendiges Bild namentlich von dem Leben und Treiben der
Staaten, welche in der Geschichte nur voriibergehend betrachtet
werden. Er entwirrt, so viel das moglich ist, die verschiedene
Bedeutung der Landes- und Gaunamen zu verschiedenen Zeiten
und weist dabei nach, welche Anlange zu grosseren Gremein-
schaften gemacht und wrieder untergegangen sind.
Vom Peloponnes geht der Autor zum nordlichen Griechen-
land und zwar zum alten Attika iiber. Da sind nun sehr schwie-
rige Aufgaben zu losen, zunachst die Feststellung der Theile
des Landes, die Trittyes, die Demen; die Eintheilung des Volkes
nach Phylen, Phratrien und Geschlechtern etc. Als Resultat
findet der Verf., dass urspriinglich die Volker des nordhchen
Griechenlands ebenso wie die Peloponnesischen in eine bestimmt^
Anzahl von selbstandigen Orten oder Theilen xonoi, x^Qah !**&
getheilt waren. Was Strabon von denen des Peloponnes te-
merkt: sie hatten Verbindungen von Demen dargestellt, aus
welchen in der Folge die bekannten Stadte zusammengezogen
seien, wiirde auf Erstere ebenfalls Anwendung finden.
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Kuhn, Ueber die Entstehung der St&dte der Alten. 293
Nach Attika wird Akarnanien, dann Aetolien behandelt. Wir
^rfahren , dass Thermon nicht eine Stadt gewesen % sei. Von
ganz Nordgriechenland meint Kuhn, dass die Kleinheit seiner
Staaten, der Umstand, dass seine Bewohner in zerstreuten
Flecken wohnten und keine bedeutenden Stadte besassen, die
Ursache gewesen sei, dass es bis auf die Makedonische Periode
in einem Zustande sich selbst geniigender Abgeschlossenheit and
landschaftlicher Beschrankung verharrte. Gleich dem siidwest-
lichen Arkadien und Aetolien waren auch Doris und das ostliche
Lokris in kleine Stadtchen getheilt. Inschriften bezeugen, dass,
wie unbedeutend immer, jedes dieser Stadtchen ein fur sich bestehen-
des Gemeinwesen mit einer Bule, einem Demos, Archonten etc.
darstellte. Einen im Vergleich mit dem geschilderten wesentlich
verschiedenen Anblick gewahrten diese Landschaften in der Zeit
der romisch-makedonischen Kriege. Das bringt den Verf. auf
den Aetolischen Bund, dessen Verhaltnisse er zwar eingehend,
aber doch so behandelt, dass die Fulle der Hypothesen den
Leser bedenklich macht. Zuletzt bespricht der Verf. Epirus.
Der Name bedeutet nicht bei alien Schriftstellern dasselbe. Der
Verf. weist 14 Volker als epirotische nach und zeigt, dass auch
sie in alter Zeit Komenverfassung gehabt haben.
Im 2. Theile behandelt der Autor die Entstehung der
Stadte. In den meisten Landern der alten Welt, so meint er,
sind im allmaligen Verlaufe der Zeit Stadte an die Stelle der
Volker getreten. Diese Stadte sind im "Wesentlichen nichts
anderes als die friiheren Volker , nur anders organisirt. Diese
Umwandelung beruht auf dem Principe der Concentration, welche
meist durch eine Massregel bewirkt wurde, die man awoi^iaf-iog
nannte. Nicht immer werden sammtliche Bewohner eines Landes
an einen einzigen Ort zusammengefiihrt, doch werden stets alle
offentlichen Angelegenheiten des betreffenden Landes dort con-
centrirt. So ist Attika in Athen begriffen. Somit ist der Be-
griff „ Stadt u im Alterthum ein anderer als in der Neuzeit. Eine
Stadt des Alterthums entspricht einem Schweizercanton. Die
Organisation, welche Stadt und Umlande verbindet, bezeichnet
bei den Alten das Wesen einer Stadt. Meist ist eine Stadt das
Product einer planmassigen Anordnung.
Diese Entwickelung stellt der Vert in diesem Theile dar.
Die von der Natur in Griechenland abgegrenzten Gebiete
werden zunachst durch eine gemeinsame Gottesverehrung zu-
sammengehalten, dann durch den ovvoiKiOfiog, welcher am plan-
vollsten in Griechenland durchgefiihrt ist. Das alteste und be-
deutendste Beispiel des Synoikismos bietet die Landschaft Attika
und die Stadt Athen dar. Hier ist die Concentration der kleinen
Reiche beschrankt zu denken auf Rathe und Beamten, iiber-
haupt auf regimentsfahige Personen, so wie deren Familien und
Angehorigen — um es kurz zu sagen — auf diejenigen, welche
^twas zu bedeuten batten, wv Tig eavl /.at koyog, quorum aliqua
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294 Kuhn, Ueber die Entstehung der Stadto der Alten.
ratio est. So hat man das zu verstehen, was vom Theseus be-
richtet wird.
Viele athenische Burger wohnen auch spater noch in den
Demen und stehen unter eigenen Beam ten, welche aher nie
Staats-, sondern nur communale Geschiifte besorgen. Ware das
nicht der Fall gewesen, so hatten die Athener ihre Aecker nicht
bestellen konnen. Auch waren die Hauptorte dieser Demen oft
befestigt, damit sie Schutz im Kriege gewahrten.
Die Ausdrticke dr^iog und xw^ werden deshalb oft gleich-
bedeutend gebraucht. Nur ist nicht immer anzunehmen, dass
die Einwohner der Demen wie in Attika Burger der noXiq waren,
sie konnen auch Unterthanen sein, also nicht die vollen staate-
biirgerlichen Rechte haben. Das findet z. B. in den so genannten
Stadten der Eleutherolakonen statt, welche von spartanischen
Perioken bewohnt werden.
Anders als in Sparta gestaltete sich das Loos der Perioken
in Argos, dessen Verhaltnisse nicht so klar liegen wie die
Sparta's; doch ist wahrscheinlich, dass Argos die meisten kleinen
Stadte seines Gebietes durch den Synoikismos in sich auf-
gesogen hat.
Im J. 408 n. Chr. entstand als neue Stadt aus 3 Stadten
durch den Synoikismos Rhodus, welches fruher nicht genannt
wird. Die politischen Beamten wohnten fortan in Rhodus, aber
in den 3 alten Stadten blieben die Heiligthiimer und die Priester,
welche sie verwalteten.
Dann behandelt der Verf. die Entstehung von Kos, Megalo-
polis und Messene. Von diesen drei Griindungen ist die
interessanteste die der Stadt Messene. Epaminondas bezweckte
damit nicht eigentlich einen Synoikismos, er wollte vielmehr die
Ueberreste eines Volkes vereinen, welches, aus seiner Heimat
vertrieben, in alien Weltgegenden zerstreut lebte.
Nach der Darlegung dieser Verhaltnisse fuhrt uns der Verf
nach Klein- Asi en und zwar zunachst nach Karien , wo er uns
die Griindung von Halicarnassus erzahlt. Mausolus vereinte
sechs Stadte in dieser Neugriindung.
Von dort begleiten wir ihn an den Siidrand des Pontus,
wo die Konigin Amastris eine nach ihrem Namen benannte Stadt
entstehen Hess. Neben dieser erwuchsen eine Reihe anderer
Griechenstadte, welche durch Fiirsten eingerichtet wurden.
Darauf wendet sich der Verf. nach Chalcidice und behan-
delt die hochst wichtigen Verhaltnisse von Olynth, die eigentlich
nicht in diese Betrachtung hinein gehoren, da dort kein Synoi-
kismos stattgefunden hat.
In dem Streben, durch strenge Unterordnung der Theile
einen einigen Staat zu begriinden, zeigten sich die Makedonischen
Konige den Hellenischen Staaten uberlegen. Die eroberten Land-
schaften ihrem Reiche dauernd einzuverleiben, aus verschiedenen
Stammen und Nationen ein einiges Volk und Reich zu gestalten,
das betrachteten diese Herren als die Aufgabe ihrer Politifc
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Monunrenta Germaniae historica etc. 295
Deshalb fiihrten sie oft die unbotmassige Bevolkerung eines
Landes in entlegenere Gegenden und setzten an ihre Stelle neue
Einwohner aus Landern, die ihrer Herrschaft gewohnt waren.
So grlindeten sie denn auch neue Stadte, vor allem Thessalonike,
Cassandrea und Demetrias. Besonders wichtig ist das, was Lysi-
machos gethan hat.
Darnach bespricht der Verf. die romischen Stadtegriindungen
in Asien und in Gallien.
Berlin. R. Foss.
LXXIV.
Monumenta Germaniae historica inde ab anno quingentesimo
usque ad annum millesimum et quingentesimum. Edidit so-
cietas aperiendis fontibus rerum germanicarum medii aevi.
Auctorum antiquissimorum Tomus II: Eutropi
breviarium ab urbe condita cum versionibus
graecis et PauliLandolfique additamentis re-
censuit et annotavit H. Droysen. gr. 4. (LXXII, 430 S.)
Berolini apud Weidmannos 1879. 16 M.
Dasselbe Tomi III pars prior: Victoria Vitensis
historia persecutionis africanae provinciae
sub Geiserico et Hunirico regibus Wandalorum
recensuit C a r o 1 u s H a 1 m. (X, 90 S.) Berolini apud Weid-
mannos 1879. 3 M.
Wieder sind gleichzeitig zwei neue Abtheilungen der Auctores
antiquissimi erschienen. Die erstere, Tomus II, ein sehr statt-
licher Band, enthalt, von H. Droysen herausgegeben, das Bre-
viarium des Eutropius und die sich daran anschliessende spatere
Litteratur , Uebersetzungen , Bearbeitungen und Fortsetzungen.
Natiirlich muss es auffallen in einer Sammlung von Quellen zur
deutschen mittelalterlichen Geschichte die c. 375 verfasste
romische Geschichte des Eutropius zu erblicken und noch mehr
muss es befremden, in der Vorrede kein Wort der Rechtfertigung
und Erklarung desswegen zu finden, (der Herausgeber beruft
sich nur auf den Befehl, welchen er von der Direction em-
pfangen habe), doch uberzeugt man sich bald, dass es allerdings
sehr richtig gewesen ist, bis auf Eutropius zuriickzugehen , da
die mittelalterlichen Bearbeiter der Historia romana, Paulus
diaconus und Landolfus Sagax, welche fur diese Ausgabe eigent-
lich in Betracht kamen, erst dann ihre richtige Wiirdigung er-
haJten, wenn man sie an der Hand der Grundlage, aut welcher
sie beruhen, namlich des Eutropius, betrachtet. Weniger leicht,
diinkt uns, lassen sich triftige Griinde fiir die Aufnahme der
sachlich ganz werthlosen griechischen Uebersetzungen , zu denen
jeno mittelalterlichen Autoren gar kein Verhaltniss gehabt haben,
entdecken. • Die umfangreiche Vorrede handelt in einem ersten
Capitel von dem Breviarium des Eutropius. Es wird zunachst
das Wenige zusammengestellt , was wir iiber den Verfasser
wis8en (er hat Julian auf seinem Feldzuge gegen die Perser 363
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296 Monumenta Germaniae historica etc.
begleitet, ist unter Valens magister memoriae gewesen und hat
ab solcher zu der Rangclasse der clarissimi gehort, er hat diesem
Kaiser sein Werk gewidmet), dann werden die Handschriften
besprochen. Dieselben werden in drei Classen gesondert und
unter diesen der ersten (A reprasentirt durch die Codd. Gothanus
und Fuldensis) und dritten (C, Cod. Vaticanus und die von
Paulus benutzte Handschrift) der Vorrang vor der zweiten (B,
Codd. Bertinianus und Leydensis) zugesprochen, auf einen Codex
dieser letzteren Classen werden die in zwei Handschriften er-
haltenen Excerpte zuriickgefuhrt , als Princip wird hingestellt,
dass der Consensus von A und C gegen B die bessere Lesart
ergebe, doch bemerkt der Herausgeber, dass in der Ausgabe
selbst dieses Princip nicht ganz consequent durchgefiihrt worden
ist. Es werden dann die griechischen Uebersetzungen des Bre-
viarium besprochen, die eine vollstandig erhaltene von Paeanius ist
sehr bald nach diesem selbst c. 380 angefertigt worden, sie verkiirzt
oft das Original, enthalt aber auch Zusatze, theils nur Erkla-
rungen lateinischer Ausclrucke, theils einige sachliche Einschal-
tungen aus Dio Cassius. Von einer zweiten griechischen Ueber-
setzung von Capito Lycius sind nur Fragmente in den Frag-
menten des Johannes Antiochenus, welcher dieselbe benutzt hat,
erhalten. Es werden zum Schluss diejenigen spateren Autoren
aufgefuhrt, welche Eutropius benutzt haben: Hieronymus, Orosins,
Victor epitome de vita et moribus imperatorum, Cassiodor: von
Festus, dem Zeitgenossen des Eutropius, wird nachgewiesen, dass
er fur die Geschichte der Ereignisse im Orient von Trajan bis
Diocletian nicht diesen selbst, sondern dass beide eine gemera-
schaftliche Quelle benutzt haben.
Das zweite Capitel handelt von der Historia romana da
Paulus. Dieselbe ist zwischen 763 und 774 abgefesst , die sehr
zahlreichen Handschriften zerfallen in zwei Classen, von denen
die der einen durch eine Liicke im 15. Buche kenntlich and,
die der zweiten enthalten schon Interpolationen aus LandolL
Der Herausgeber hat von beiden Classen je drei, die besten.
Handschriften benutzt. Neben der Erweiterung durch Landoli
giebt es auch verschiedene verkiirzte Bearbeitungen des Paulus,
welche aber ganz werthlos sind.
Das dritte Capitel handelt von den Quellen des Eutropins
und Paulus. Von Eutropius geht der erste Theil, die Geschichte
der romischen Eepublik, auf Livius zuriick, doch liegt nicht dieser
selbst, sondern eine Epitome zu Grande, es finden sich auch
manche Abweichungen von Livius, namentlich in den chrono-
logischen Angaben. Der zweite Theil, die Geschichte der Kaiser
bis Nerva, beruht fast ganz auf Sueton, woher die unbedeuten-
den Zusatze hier entnommen sind, ist nicht ersichtlich; der dritte
Theil, die Geschichte der spateren Kaiser bis Valens, zeigt viel-
fache Uebereinstimmung mit den Scriptores historiae augustae,
dieselbe beruht auch hier auf der Benutzung gleicher Quellea.
Paulus ist in den ersten 10 Buchern Eutropius meist wort-
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Monumenta Gormaniae historica etc. 297
lioh gefolgt, hat aber iii dessen Erzahlung Stellen aus Orosius,
Hieronymus, Jordanis und von Buch 7 an aus der Epitome de
vita et moribus imperatorum, dazu einige Notizen aus Solinus und
Frontinus, auch meist wortlich, eingeschoben, vorangeschickt hat
gt eine Urgeschichte Italiens, fiir welche er dieselbe Quelle wie
Hieronymus, eine Geschichte vom Ursprunge des romischen
Volkes benutzt hat. Die letzten 6 Biicher sind eine Fortsetzung
des Eutropius, von ihnen sind 11, 12 und die zwei ersten Car
pitel von 13 auch ganz nach bekannten Quellen gearbeitet; zu
Gruude gelegt ist Orosius und derselbe ist erganzt durch Notizen
aus der Epitome, Hieronymus, Jordanis, einem Kirchenschrift-
steller, dazu aus einem nicht erhaltenen Buche iiber die Ge-
schichte der Gothen. Fiir das 13. Buch ist Hauptquelle die
Chronik Prospers, aber in vollstandigerer Gestalt als die erhaltene,
wie aus der Uebereinstimmung mit anderen aus derselben ab-
gfeleiteten Quellen nachgewiesen wird, dazu kommen Excerpte aus
Beda und Jordanis. Die drei letzten Biicher 14—16 enthalten
auch einzelne Excerpte aus Beda, Jordanis, Prosper und lsidor,
der Haupttheil aber beruht auf verlorenen Quellen. Die be-
treffenden Stellen zeigen nahe Verwandtscbaft mit Jordanis'
Getica und dem Liber pontificalis, doch hat Paulus oft mehr
als diese und der Herausgeber vermuthet daher, dass er ent-
weder neben diesen Quellen noch andere benutzt hat, oder dags
ihm vollstandigere Redactionen derselben vorgelegen haben.
Das 4. Capitel handelt von Landolfus Sagax, der ebenso
den Paulus wie dieser den Eutropius vervollstandigt und fort-
gesetzt hat. Der Verfasser scheint ein Langobarde gewesen zu
sein und urn das Jahr 1000 gelebt zu haben. Seine Quellen
sind fur die ersten 7 Biicher dieselben, welche schon Paulus zur
Erganzung des Eutropius herangezogen hatte: Orosius, die Ur-
geschichte der Romer und Hieronymus, dazu dann Nepotianus,
ein Epitomator des Valerius Maximus, aus dem er eine Anzahl
von Anekdoten entnommen hat, fiir die spateren 11 Biicher auch
Orosius, Hieronymus, die epitome Victors, die Kirchengeschichte
des Rufinus, die Historia tripartita, Beda, Jordanis' Getica,
Paulus' Geschichte der Langobarden, hauptsachlich aber die
lateinische Uebersetzung der Chronographie des Theophanes
von Anastasius. Diese ist dann auch die Hauptquelle fiir die
letzten 8 Biicher, welche eine Fortsetzung zu Paulus bis zu
Kaiser Leo dem Armenier (813) bilden. Nur sehr weniges ist
dort aus unbekannten Quellen hinzugefiigt, aus der wichtigsten
tmter diesen Stellen iiber die Herstellung des zerstorten Neapel
durch Belisar, welche eine genaue Kenntniss der Umgegend
von Neapel verrath, vermuthet der Herausgeber, dass Landolf
in Campanien, vielleicht in Neapel selbst gelebt habe. Der Aus-
gabe ist nur eine. Handschrift, der Codex Palatino-Vaticanus,
welchen der Herausgeber fur die Originalhandschrift halt,
die Landolf entweder selbst geschrieben oder doch corrigirt
habe, zu Grunde gelegt. Ein Appendix zu der Vorrede handelt
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298 Monument* Germaniae historica etc.
yon den auf Eutropius und zwar theils auf die Uebersetzung des
Paeanius, theils auf die des Capito zuriickgehenden Stellen in
der Excerptensammlung des Maximus Planudes.
Der Vorrede sind an einigen Stellen Bemerkungen toii
Mommsen, dem Director dieser Abtheilung der Monumenta, hinzu-
gefugt, dieselben en thai ten theils Erganzungen, theils aber tod
denen des Herausgebers abweichende Meinungen und zwar iiber
Punkte von hervorragender Wichtigkeit , hauptsachlich iiber das
Verhaltniss der verschiedenen Handschriften des Eutropius und
auch des Paulus zu einander. Mommsen sondert (S. XIV) die
Handschriften des ersteren nicht in 3, sondern in 2 Classen; nach
ihm gehen A und C auf eine urspriingliche Handschrift, B und
Paeanius auf eine zweite zuriick und er will bei abweichender
Lesart den Consensus von A B gegen C und von B C gegen A
entscheiden lassen. In Betreff des Paulus will er (S. XXXII)
nur die Handschriften, welche die Liicke in Buch 15 enthalten,
als echte Handschriften desselben gel ten lassen, die Ausfiillung
dieser Liicke, welche sich in den anderen findet, stammt seiner
Behauptung nach von Landolf her, die Handschriften also.
welche dieselbe enthalten, sind aus diesem interpolirt. Auch die
Vermuthung Droysens in Betreff der Herkunft Landolfs aus Cam-
panien weist Mommsen zuriick (S. LXVII), da jene Angaben,
welche auf eine genaue Kenntniss der Umgegend von Xeapel
hindeuten, nicht von Landolf selbst herriihren konnten, sondern
auch einer verlorenen Quelle entnommen sein miissten. Man
wird fragen diirfen, ob es nicht moglich gewesen wiire, das
Herausgeber und Direction sich vorher iiber diese Punkte ver-
standigt hatten, und ob es so nicht hatte vermieden werden
konnen, das Werk mit solchen Dissonanzen dem Publicum dar-
zubieten.
Die Ausgabe selbst ist folgendermassen eingerichtet. Zneist
kommt das Breviarium des Eutropius, dem lateinischen Original-
text ist auf der nebenstehenden Seite immer die griechiscbc
Uebersetzung des Paeanius gegeniibergestellt, unter dem Text des
Eutropius sind die Zusatze des Paulus, unter dem des Paeanius
die Fragmente der zweiten griechischen Uebersetzung des Capito
aufgefiihrt. Bei Eutropius werden unten, hinter den Varianten*
zu den einzelnen Capiteln die Quellen, welche zu Grunde
liegen, angefuhrt, bei Paulus sind dieselben am Rande angemerkt,
Dann folgen aJs Fortsetzung des Eutropius die letzten 6 Bucher der
Historia romana des Paulus, auch hier sind bei den aus bekannten
Quellen entlehnten Stellen diese Quellen am Rande angemerkt,
wahrend bei denjenigen, welche auf verlorene Quellen zuriick-
gehen, die ahnlichen Nachrichten der verwandten Chronisten
unten angefuhrt werden. Darauf folgt Landolfus Sagax und
zwar nur die Zusatze desselben zu Paulus, auch aus der Fort-
setzung, den Biichern 19 — 26, sind nur die wenigen Stellen ab-
gedruckt, welche nicht Anastasius entnommen sind. Ein Appendix
enthalt als Probe einige Stellen aus den verklirzten Bearbeitungen
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Monumenta Germaniae historica etc. 299
*
des Paulus, ferner den Auszug aus der Langobardengeschichte
desselben, welcher in einigen Handschriften der Historia romana
als 17. Buch hinzugefiigt ist. Den Schluss bilden ein Namen-
register, eine vergleichende Tabelle der Seiten dieser und der
Muratorischen Ausgabe, endlich Addenda et Corrigenda.
Den Text des Eutropius mit kritischem Apparat und einem
hinten angefugten Namenregister hat der Herausgeber schon im
vorigen Jahre in demselben Verlage erscheinen lassen.
Das zweite Heft, welches die erste Abtheilung des dritten
Bandes bildet, enth< die im Jahre 488 von Victor, Bischof
von Vita in der Provinz Byzacium, verfasste Historia persecutionis
africanae provinciae sub Geiserico et Hunirico regibus Wandalo-
rum , herausgegeben von C. Halm. Derselbe hat sich auch hier,
ebenso wie in seiner Ausgabe des Salvianus darauf beschrankt
in der Vorrede von den von ihm benutzten Handschriften zu
sprechen , iiber das Werk selbst und seinen Verfasser findet sich
kein Wort. Wir erfahren, dass er von den zahlreichen Hand-
schriften 5 benutzt hat, eine vortreffliche aus Laon aus dem
9. Jahrhundert, welche aber nur die in die Geschichte aufgenommene
Vertheidigungsschrift der catholischen Bischofe an Konig Hunirich,
sowie eine Notitia provinciarum et civitatum Africae enthalt,
ferner eine Bamberger, eine Wiener und eine Berliner, welche
einer Familie angehoren, und eine Brusseler, welche die zweite
Familie reprasentirt. Die Vergleichung mit jener Laoner Hand-
schrift hat gezeigt, dass die anderen Handschriften alle sehr
fehlerhaft sind, zahlreiche Liicken und Fehler, die der zweiten
Familie auch Interpolationen enthalten, daher fehlt es fur die
Herstellung des Textes an einer festen Grundlage und hat der
Herausgeber oft nach eigenem Ermessen zwischen den einander
entgegenstehenden Lesarten entscheiden miissen. Herangezogen hat
derselbe auch die den iibrigen friiheren Herausgebern unbekannt
gebliebene Editio princeps des Jean Petit von c. 1500, haupt-
sachlich desshalb, weil Lorichius, freilich ohne dieses zu erwah-
nen, dieselbe fur seine Ausgabe (Coin 1537) benutzt hat und
weil durch seine Vermittelung viele falschen Lesarten derselben
in die spateren Ausgaben iibergegangen sind. Dem Text der
Historia, in deren zweites Buch das von den catholischen Bi-
schofen dem Konige Hunirich iiberreichte Glaubensbekenntniss
aufgenommen ist, folgt eine in alien Handschriften dieser an-
gehangte kurze Passio beatissimorum martyruni, qui apud Car-
thaginem passi sunt sub rege Hunirico, sodann aus dem Codex
Laudunensis die Notitia provinciarum et civitatum Africae, ein
Verzeichniss der auf der Synode zu Carthago versammelten afri-
kanischen Bischofe. Dankenswerth sind die verschiedenen dieser
Ausgabe beigefugten Indices, ein geographischer, ein Namen- und
Sachregister, endlich ein Index verborum et locutionum, in
welchem auch manche schwierige Stellen erklart werden.
Berlin. F. Hirsch.
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300 Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte.
LXXV.
Waitz, Georg, Deutsche Verfassungsgeschichte. 8. Band. (Die
deutsche Reichsverfassung von der Mitte des neunten bis zur
Mitte des zwolften Jahrhunderts. 4. Band.) gr. 8°. (Y1L
550 S.) Kiel, 1878. Ernst Homann. 13 M.
Mit dem vorliegenden Bande erhalt die dritte Hauptabthei-
lung von Waitz's deutscher Verfassungsgeschichte : „Die deutsche
Reichsverfassung von der Mitte des neunten bis zur Mitte des
zwolften Jahrhunderts" ihren Abschluss. Nachdem in Band 5,
mit welchem dieselbe begonnen, die Ausbildung des deutschen
Reiches, die Verbindung mit dem Kaiserthum, das Reich und
seine Theile und das Volk und seine Stande, in Band 6 das
Lehnwesen, das Konigthum, der Hof, die Reichsregierung und
die Reichsversammlung, ferner Recht und Gewalt im Reich, in
Band 7 die verschiedenen Classen der Fiirsten, Grafen, Burg-,
Land- und Markgrafen., Herzoge und Pfalzgrafen, die hohere
Geistlichkeit, ferner die Fiirstenthiimer und die Stadte behandelt
waren, werden in diesem das Gerichtswesen, das Heerwesen, das
Finanzwesen und zum Schluss als Resultat der vorhergehenden
einzelnen Abschnitte die Gegensatze im Reich und die Umbildung
der Verfassung dargestellt. Leider scheint hiermit der Verf.
diese Arbeit uberhaupt abschliessen zu wollen; in einer kurzen
Notiz am Schlusse bemerkt er, den weiteren Verlauf der deutschen
Ver£a8sungsgeschichte unter den neuen seit der Mitte des zwolften
Jahrhunderts in Wirksamkeit tretenden Einfliissen zu begleiteo,
miisse anderen Darstellungen iiberlassen bleiben. Es kann hier
nicht unsere Aufgabe sein, die allgemein anerkannten Vorziige
dieses Werkes, die umfassende und tiefe Kenntniss des gewaltigec
Quellenmaterials , namentlich auch der Urkunden, die ruhige
Besonnenheit des Urtheils, die Klarheit und Pracision der Dar-
stellung des weiteren auszufiihren, wir beschranken uns daraaf,
die wichtigeren in diesem Bande niedergelegten Resultate vor-
zufiihren.
Abschmtt 13 handelt von dem Gerichtswesen. Die Organi-
sation der verschiedenen Gerichte ist eine im wesentlichen gleich-
artige ; jedes Gericht, auch das an Andere ubertragene, ist ein
oflfentliches, die Gerichtsgewalt, der Bann, geht immer auf den
Konig zuriick, an jedem Gericht nehmen Volksgenossen Theil
In dem Konigsgericht ist der Vorsitzende immer der Konig selbst
Ort und Zeit wechseln, fur wichtigere Sachen werden gewohnhcii
Reichs- oder Hoftage gewahlt. Urtheiler sind solche, welcic*
am Hofe leben oder dort sich eingefunden haben, gewohnlid
Stammes- und Standesgenossen des Beklagten. Die Competed
ist unbegrenzt, besonders haufig kommen vor: Streitigleiten
geistlicher Stifter unter einander und mit Weltlichen, Lehnsachec
und die verschiedensten Criminalsachen. Der Klager erhartet
seine Anklage meist durch Zweikampf, andere Gottesurtheile
kommen selten vor. Die Entscheidung wird durch die Urtheto
gefallt, von einem Recht des Konigs, dieses Urtheil zu verwerfen,
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Waitz, Deutsche Yerfassungsgeschichto. 301
ist nicht die Rede, aber er iibt oft entscheidenden Einfluss auf
dasselbe. Die Verhandlungen sind oft ungeordnet, das Konigs-
gericbt ist nicht an das formale Recht gebunden, darf der Billig-
keit Raum geben, aber oft auch findet sich Missbrauch, Partei-
lichkeit, Bestechung. Der Konig verkiindet und vollzieht das
Urtheil, so ist seiner Gewalt und Gnade weiter Spielraum
gelassen.
Auch der Herzog hat eine Gerichtsgewalt fur den Umfang
seines Herzogthums, doch ist iiber dieses herzogliche Gericht
wenig bekannt, seine Competenz scheint weder gegen das des
Konigs noch gegen das des Grafen bestimmt abgegrenzt gewesen
zu sein.
Das ordentliche Gericht ist nach wie vor das grafliche, das
echte Ding, es wird drei Mai im Jahre abgehalten, durch den
Grafen oder dessen Stellvertreter , es dauert gewohnlich drei
Tage und findet meist zu festbestimmter Zeit statt, doch giebt
es innerhalb derselben Grafschaft mehrere Dingstatten. Urtheiler
sind hier die Schoffen, vollfreie, angesehene Manner, wahrscheinlich
auf Lebenszeit ernannt, die Zahl ist wechselnd. Auch hier ist
die Competenz nicht bestimmt zu erkennen; in den bekannten
Fallen sind besonders schwere Verbrechen, Streit iiber Freiheit
tind Eigen und Bestatigung von Landiibertragungen Gegenstande
der Verhandlungen. In den eximirten Bezirken halt an Stelle
des Grafen der Vogt, bisweilen auch der Immunitatsherr selbst
Gericht, spater entstehen dort fiir die besser gestellten Classen
der abhangigen Leute Gerichte, in denen durch Standesgenossen
das Recht gefunden wird, Lehn- und Hofgerichte. Auch der
Schultheiss, der Ortsvorsteher auf koniglichen oder herrschaft-
lichen Giitern, halt Gericht, sowohl in den Stadten, als auch auf
dem Lande, aber mit beschrankter Befugniss; besondere Bedeutung
erhalt seine Stellung in den Stadten.
Das Gerichtsverfahren ist nur sehr ungeniigend bekannt,
als Beweismittel dienen Eid mit Eideshelfern , Gottesurtheile,
Zweikampf, auch einfacher Eid und Zeugen, gegen Verbrecher
niederen Standes wird Tortur* angewendet, die Vollstreckung des
Urtheils hat der Richter.
Das Ergebniss ist: das Recht wird nicht gleichmassig ge-
handhabt, die Gerichtsgewalt wird oft missbrauchlich ausgebeutet
zur Bedriickung und zur Bildung selbstandiger Herrschaft, zur
Gewinnung herrschaftlicher, fiirstlicher Stellung.
Fiir den 14. Abschnitt „das Heerwesen" hat der Verf. erst
nachtraglich noch die 1877 erschienene Schrift von Baltzer „Zur
Geschichte des deutschen Kriegswesens in der Zeit von den
letzten Karolingern bis auf Kaiser Friedrich II.", wie er selbst
sagt, „nicht ohne Nutzen" verglichen, doch ist er auf die Fragen
der militarischen Technik, welche dort vorziiglich behandelt
werden, weniger speciell eingegangen und beschiiftigt sich vor-
nehmlich mit der Kriegsverfassung.
Krieg8zuge in die Feme werden meist auf allgemeinen
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302 Waitz, Deutsche Verfassuugsgeschichte.
Reichsversammlungen beschlossen, die Zustimniung der Fiirsten
erfolgt hier, spater meist in Form eidlicher Verpflichtung, darauf
wird durch den Konig das Anfgebot erlassen. Fiir dasselbe
giebt es keinen festen Termin, Ziige nach Italien werden meist
im Herbst unternommen, auch der Ort der Versammlung wird
jedesmal besonders festgestellt. Das Aufgebot ergeht jetzt nicht
an die Einzelnen, welche die Heeresfolge leisten, sondern an die
hoheren Gewalten, welche die Mauuschaften stellen und fuhren.
Ein allgemeines Landesaufgebot erfolgt nur in Zeiten besonderer
Noth, bei gewohnlichen Heerfahrten ergeht das Aufgebot nur an
die, welche von dem Reiche Aemter oder Giiter zu Lehen haben;
diese haben niit ihrer Mannschaft, meist Reitern, zu erscheinen
Dieser Rossdienst wird von denen geleistet, welche durch Grund-
besitz und Waffenubung dazu befahigt sind, von den Vasallen
und Ministerialen ; wie die weltlichen sind auch die geistlichen
Grossen verpflichtet, eine solche Streitmacht zu stellen, fuhren
sie oft personlich ins Feld. Jeder stellt ein bestimmtes Con-
tingent, ein aus der Zeit Ottos II. erhaltener Anschlag, welcher
jedoch nicht das ganze Reich beriicksichtigt, zahlt c. 2000 Reiter,
von denen die Geistlichen fast zwei, die Weltlichen nur ein
Drittel aufzubringen haben. Fiir das Ende der Periode, miter
Heinrich V., kann als Durchschnittssatz 30,000 Ritter, im Ganzen
also, da jeder von diesen meist mehrere Schildknappen mit sich
fuhrt, c. 100,000 Mann gelten, doch sind natiirlich oft aucije
nach Bedurfhiss kleinere Heere ins Feld gefuhrt worden. Den
Fiirsten bleibt es iiberlassen ihr Contingent aus den durch Lenn-
besitz zum Kriegsdienst Verpflichteten auszuwahlen, wer der Anf-
forderung nicht Folge leistet, wird mit Verlust des Lehns oder
Busse bestraft. Nicht selten wird der Dienst abgekauft, dagegen
ist voile Befreiung davon sehr selten, haufig aber einzelne Ver-
giinstigungen sowohl von Seiten des Konigs als auch der Fureten-
Abhangige Leute, welche nicht in den Krieg ziehen, sind da&r
zu Leistungen an Wagen, Vieh, Lebensmitteln u. s. w. verpflichtet,
auch die alte Heersteuer, wenn mehrere zusammen einen Mann
zu stellen haben, hat sich noch erhalten.
Der Kriegsdienst ist sehr kostspielig, da der einzelne nicht
nur fiir die Riistung, sondern auch fiir den Unterhalt zu sorgen
hat, von Rechtswegen auf dem Marsch nur Wasser, Holz and
Viehfutter genommen werden darf, daher liegt er nur den durch
Landbesitz Begiiterten ob, doch findet sich auch schon Sold-
zahlung, zuerst in Italien, in Deutschland zuerst in Lothringen,
bald aber auch in den anderen Landestheilen , namentlich
Heinrich IV. hat auf diese Weise seine Streitmacht zu vermehren
gesucht, auch die Fiirsten erhalten Verleihungen theils als Be-
lohnung fiir geleisteten Dienst, theils um sie zur Leistung ge-
neigter zu machen.
Eine bestimmte Zeitdauer fiir den Kriegsdienst ist gewohn-
lich nicht festgesetzt, dariiber entscheidet der Konig, er entlasst
das Heer, befehligt es auch gewohnlich in Person, doch werden
4 Waitz, Deutsche Vorfassungsgeschichte. 303
Grenzkriege meist den einzelnen Herzogen und Markgrafen iiber-
lassen. Unter deni Konige befehligen die Herzoge oder als deren
Stellvertreter Grafen die den grossen Stanimen entsprechenden
Hauptabtheilungen des Heeres, innerhalb derselben werden die
einzelnen Contingente von ihren Fiirsten oder deren Stellvertretern
befehligt.
In dem Kriegswesen jener Zeit spielen Befestigungen eine
wichtige Rolle; zu Anfang wenig zahlreicb werden sie in der
Zeit der Normannen- und Ungarnkriege vermebrt. Heinrich I.
sorgt fiir Befestigung und Besetzung wichtigerer Wohnplatze,
unter semen Nacbfolgern gebt das fort, so werden namentlich
Bischofsstadte und Kloster befestigt, Grenzfestuugen und Be-
festigungen in den Passen angelegt, ferner vermebrt sicb immer
inebr die Zahl der Burgen, welcbe besonders in den inneren
Kriegen und Febden dienen; aucb die Konige legen solche an
und suchen darin eine Stiitze ibrer Macbt, die Besatzung der-
selben bilden Ministerial en , die in mancben Fallen in dem zu-
gehorigen District ansassig sind. Besondere Vertheidigungs-
anstalten sind fiir die Marken eingerichtet. In den Stadten ist
die Bewacbung und Vertheidigung der Befestigungen oft an die
einzelnen Classen der Bewohner, oft aucb der Umwobner ver-
tbeilt. — Eine Flotte giebt es nicht, Scbiflfe werden nur fiir
den Transport verwendet.
Der Verf. bemerkt zum Scbluss, dass das Heerwesen sebr
erheblicbe Mangel zeige, es fehlt an taktiscber Ausbildung, das
Heer ist ferner fiir den Konig nicht mebr ein sicberes Mittel
zur Erhaltung von Einheit und Frieden, es ist eine aristokratische
Institution geworden und ist oft dem Recht und der Macbt des
Reiches gefabrlicb.
Der sehr umfangreiche 15. Abschnitt handelt von dem
FiBanzwesen. Aucb dieses zeigt grosse Mangel, die offentlichen
Ausgaben und Einnahmen sind von den privaten des Konigs und
der Fiirsten nicbt gescbieden, es fehlt an einer geordneten Ver-
waltung derselben, die Leitung liegt dem Kammerer ob, docb
fehlen Nacbrichten iiber die Rechte und Pflichten desselben
(aucb in den einzelnen Territorien fiuden sich in ahnlicher
Stellung Kammerer und Vicedomini), ebenso hat e§ an umfassen-
den Aufzeichnungen iiber die koniglicben Besitzungen und Ein-
nahmen gefehlt, daher ist eine Berechnung der Emnabmen und
Ausgaben ganz unmoglicb.
Die Ausgaben des Konigs erstrecken sich auf zwei Haupt-
gebiete, auf den Hof halt und auf Geschenke der verschiedensten
Art. Der Hofhalt verursacht dem Konige nur geringe Kosten,
denn die Grossen, welcbe sich dort einfinden, haben meist selbst
fiir ihren und ihrer Begleiter Unterhalt zu sorgen, ferner wird
ein bedeutender Theil der Bediirfnisse des Hofes durch die
geistlicben Stifter und weltlichen Grossen, bei denen sich der-
selbe auf bait, aufgebracht, endlich haben auch die koniglichen
Hofe bestimmte Lieferungen an denselben zu machen. Der
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304 Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. t
grtfsste Theil der Einkiinfte wird verbraucht zu Geschenken, theils
an fremde Fiirsten, die aber meist von diesen erwiedert werden, an
den Papst, die Cardinale und die romischen Grossen bei Gelegen-
heit der Kaiserkronung, theils an die Fiirsten bei der Erhebung
eines neuen Konigs, auch sonst zu Belohnungen oder um sie zu
gewinnen, an Kirchen und Kloster, den Hauptaufwand erfordera
spater die Geschenke an diejenigen, welche den Heerdienst leisten,
an Vasallen, Ministerialen und an die Fiirsten.
Quellen des Einkommens sind 1) der konigliche Grundbesitz.
Trotz aller Vergabungen ist derselbe doch noch sehr bedeutend,
es wird jetzt, namentlich nach dem Aussterben des frankischen
Konigshauses zwischen Reichs- und Hausgut unterschieden; zu
dem ersteren gehoren auch die reicbsunmittelbaren Kloster, docli
gewahren diese kein regebnassiges Einkommen. Der konigliche
Grundbesitz vermehrt sich durch Schenkungen, Rechte an die
Giiter erblos Verstorbener, aucb an den Nachlass von Geistlichen,
doch ist das allgemeine Spolienrecht erst durch Friedrich L
beansprucht worden, durch Confiscationen wegen Yerbrecben
und durch Eroberungen , ferner steht im Reiche selbst das un-
bebaute Land zur Verfiigung des Konigs. Ebendiesem gehort
das Forstrecht, er ertheilt an andere den Wildbann , auch der
Fischereibann erscheint bisweilen als Recht des Konigs. Allmab-
lich bildet sich auch die Auffassung von dem Recht desselben
an den Schatzen des Bodens, Bergwerken und Salinen, doch
bezieht er meist nur einen Theil des Ertrages und oft sind auch
diese Bergwerke ganz im Besitze von Privaten. Ein Bannrecht
iibt der Konig auch in Bezug auf gewerbliche Anlagen : Miihlen,
Backereien, Brauereien, auch Weinlese, Weinverkauf u. a.
Eine zweite Quelle des Einkommens sind Zolle. Diese
werden auch jetzt nur von Kaufleuten bei Kauf und Verkauf,
auf Markt oder Schiff bezahlt, theils bestimmte Procente rom
Umsatz, theils feste Summen. Am wichtigsten sind Flussolki
welche theils nach den Waaren, theils nach der Herkunft der
Steuernden bestimmt werden, ferner Briicken- und Fahrgeld,
doch sind bei der Freigebigkeit, mit welcher die Konige hieruber
verfugt haben, viele dieser Zolle an die Fiirsten gekommeu,
oder es sind zahlreiche Exemtionen, namentlich an geistliche
Stifter und an Bewohner der Stadte gewahrt worden.
Dem Konige gebuhrt auch urspriinglich das Miinzrecht und
die aus diesem zu gewinnenden Einnahmen, doch ist schon seit
den letzten Karolingern dieses mehrfach zunachst an geistliche
Stifter, dann auch an weltliche Grosse verliehen worden. Seit
dem Anfang des 10. Jahrhunderts finden sich Miinzen mit den
Namen von Herzogen und Bischofen, auch Klostern und einzelnen
Grafen wird das Recht der Miinzpragung verliehen, daneben
lassen aber auch die Konige selbst pragen, so giebt es zahlreiche
Miinzstatten. In dem Geprage ist dem Belieben der Stempel-
schneider grosse Freiheit gelassen, dasselbe ist oft sehr nach-
lassig. Die verschiedenen Miinzen haben in Deutschland selbst
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Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. 305
nur einen beschrankten Unilaufskreis. Wirklich gepragt werden
nur ganze und halbe Silberdenaro , gerechnet wird auch nach
dem Gewicht (es werden unterschieden konigliches und colnisches
Pfund; seit Anfang des 11. Jahrhunderts wird nach angelsachsi-
schem Vorbild auch die Rechnung nach Mark [meist = 1 oder
Va Pfund] gebrauchlich). Gold wird nur gewogen oder es
werden byzantinische Goldmiinzen verwendet. Die Miinze wird
oft geandert, hauptsiichlich um aus der neuen Priigung Vortheil
zu ziehen, dies fuhrt zu vielen Missbrauchen.
Weitere Einnahmequellen fur den Konig sind die Tribute
unterworfener Lander (Bohmen, die nordlichen slavischen Volker,
zeitweise auch Polen und Ungarn), auch Geldzahlungen Besiegter
nach gliicklichen Kriegen; auch aus Italien haben die Kaiser
bedeutende Summen, theils als regelmassige Leistungen, theils
als ausserordentliche Darbringungen gezogen, auch die Fiirsten
des Reiches liefern bei verschiedenen Gelegenheiten Geschenke,
von den alten regelmassigen Jahresgeschenken aber haben sich
nur einzelne Reste bei Bisthumern und Klostern erhalten. Ver-
mischung hoheitlicher und privatrechtlicher Anspriiche scheint
vorzuliegen bei dem Schweinezins in Thiiringen, dem Zehnten
in Friesland, auch bei den Forderungen, die Heinrich IV. in
Sachsen und Schwaben erhebt und welche dort so heftige Oppo-
sition erregen.
Oeffentliche Steuern kommen in diesor Zeit nicht vor, wohl
aber fordern in den einzelnen Territorien die Herren von ihren
abhiingigen Leu ten ausserordentliche Beihiilfe, Beden. Heinrich V.
hat allerdings den Versuch gemacht, den Fiirsten eine allgemeine
Steuer aufzuerlegen , aber ohne Erfolg, nur ausserordentliche
Beihiilfen haben die Konige namentlich von geistlichen Stiftern
und Stadten erlangt. Eine wichtige Einnahmequelle endlich
bilden fur den Konig die Zahlungen fur Erlangung von Bis-
thumern und Abteien, ferner bei Verleihung von weltlichen
Aemtern und Lehen, Privilegien und anderen Begiinstigungen,
auch, oft missbrauchlich, bei der Rechtspflege.
Schon unter Heinrich III. hat sich eine Erschopfung der
Mittel des Konigthums bemerkbar gemacht, die nutzbaren Rechte
sind mehr und mehr an die Fiirsten iibergegangen , diesen hat
die Mehrzahl der Landbauern zu zinsen und es wird geklagt
ttber den Druck, welchen sie erleiden. Doch findet sich sonst
noch keine Spur, dass Wohlstand und Cultur abgenommen hatten ;
im Gegentheil zeugen das Aufbliihen der Stadte, das glanzende
Treiben des Ritterthums, die zahlreichen geistlichen Stiftungen,
die prachtigen Bauten von bedeutenden materiellen Kraften.
In dem letzten 16. Abschnitte, „die Gegensatzo im Reich
und die Umbildung der Verfassung", schilclert der Verf. zunachst
die verschiedenen Versuche, welche von Seiten des Konigthums
gemacht worden sind, um die Einheit des Reiches gegeniiber
den immer selbstandiger gewordenen Gewalten zu sichern. Otto I.
und seine Nachfolger suchen die herzogliche Macht niederzuhalten
Mittheilangen a. d. histor. Littoratur. VU. 20
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306 Waitz, Deutsche Verfaesungsgeschichte.
durch haufigen Wechsel, Uebertragung an Verwandte, ferner
durch Begiinstigung der anderen Gewalten, namentlich der
Biscbofe, welche dem Reichsinteresse dienstbar gemacht und auf
deren Einsetzung entscheidender Einfluss geiibt wird. Conrad II.
hat durchgreifendere Mittel, strenges Einschreiten gegen wider-
setzliche Fiirsten, Sicherung des koniglichen Besitzes, Verfugung
iiber die geistlichen Stifter, Begiinstigung der niederen Vasallen
angewendet. Aber Heinrich III. hat diese realen Bestrebungen
nicht weiter verfolgt, seine Verbindung mit der Kirche wird der
Ausgangspunkt fiir andere, dem Kaiserthum feindliche Bestre-
bungen, in Rom und auch unter den deutschen Bischofen bildet
sich Opposition, die Macht der Fiirsten bleibt ungeschwacht.
Heinrichs IV. Unmundigkeit fiihrt dann zur Herrschaft der Fiirsten
und zur Emancipation der Kirche. Zur Regierung gelangt ver-
sucht Heinrich durch verschiedene Mittel die Macht der Fiirsten
niederzuhalten, aber seine gewaltsamen Massregeln emporen wie
dieso so auch das Volk, die Htilfe, welche er bei den Ministe-
rialen und Stadten sucht, erweist sich als unzureichend , dazu
kommt dann der Angriff durch Gregor VII., dessen ForderuDg
der Aufgabe der Investitur erschiittert die konigliche Macht in
ihrem Fundamente, denn dadurch wiirden die geistlichen Fiirsten
eine ahnliche Unabhangigkeit wio die weltlichen durch die Erblich-
keit erlangt haben. Mit dem Papste verbiindet sich die Mehrzahl der
Fiirsten, aber auch der Kaiser vertritt ein Princip, auch um ihn
schaaren sich Anhanger und er halt mannhaft aus, in der Investitar-
frage giebt er nicht nach und hinterlasst das Recht ungeschmalert
seinem Nachfolger. Unter diesem erfolgt dann endlich eine Aus-
gleichung, nachdem das Bundniss der Fiirsten mit dem Papst-
thum sich gelost hat; im Wormser Concordat behauptet der
Kaiser im Wesentlichen seine Rechte. Spater sind auf beiden
Seiten Versuche gemacht worden, sich den dort aufgerichteten
Schranken zu entziehen, Lothar hat an den koniglichen Rechten
festgehalten, Conrad III. hat sich schwankend und unsicher ge-
zeigt, Friedrich I. ist dann energisch fur die Rechte des Reiches
eingetreten. Die Folgen des langen Streites aber sind, dass die
romi8che Kirche von dem kaiserlichen Einflusse frei geworden
ist, dass das Reich seine Anspriiche auf Oberhoheit iiber die
Nachbarstaaten im Norden und Osten hat aufgeben miissen,
dass im Innern die Fiirsten ihre Bestrebungen durchgesetxt
haben, ihr factischer Besitz und ein ausgedehntes Erbrecht ist
ihnen bestatigt worden, schon haben sich die grossen fiirstlichen
Herrschaften der Welfen, Staufer, in Thuringen, Oesterreicli,
Lothringen gebildet, ebenso selbstandig und trotzig sind auch
die geistlichen Fiirsten, auch die kleineren Gewalten sind unbot-
massig, Ordnung und Frieden sind gestort, fiir den Heerdienst
ist jetzt auch personliche Verpflichtung , Belohnung nothwendig
geworden , die Einnahmequellen des Konigthums sind stark ge-
mindert. Trotzdem bleiben dem Konigthum noch grosse Anf-
gaben und auch bedeutende Mittel , es kommt nur darauf M.
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Kopertz, Quellen und fieitrfige zur Geschichte von M.-Gladbach. 307
dass dasselbe das Gewordene anerkennt und die selbstandigen
Gewalten zu vereinigen und sick unterzuordnen versteht. Alle
Gewalt gilt doch als von ihm abgeleitet, seine Einkiinfte sind
noch immer betrachtlich, es behauptet die oberste Gerichtsgewalt,
auch die Pflicht der Fursten zum Heerdienst, das ausgebildete
Lehnwesen hat den Vortheil, dass sich festere Rechtsformen
gestaltet haben. Dazu kommt die Verbindung mit dem romischen
Kaiserthum, sie erweckt die Erinnerung an das alte romische
Kaiserthum, an dessen weltumfassende Ideen, aber daneben auch
an andere rationellere Grundsatze von Regierung und Verwaltung.
Dem Bande sind zunachst Nachtrage zu den 4 letzten
Banden, sodann ein auch diese sammtlich umfassendes Wort-
register angehangt.
Berlin. F. Hirsch.
LXXVI.
Ropertz, Peter, Quellen und Beitrage zur Geschichte der
Benediktiner-Abtei des hi. Vitus in M.-Gladbach. gr. 8.
(VIII, 378 S.) M.-Gladbach, 1877. (Bonn, M. Lempertz.) 3 M.
Eine Zusammenstellung aller iiber die Geschichte der Bene-
diktinerabtei Miinchen- Gladbach vorhandenen Quellen. Unter
den 77 Urkunden, die uns mitgetheilt werden, sind nur 5 bisher
noch nicht gedruckt gewesen; sonst enthalt das Buch noch un-
gedrucktes: 1) Petri Sybenii abbatis de monasterio sancti Viti
in Gladbach, aus dem 17. Jahrhundert; 2) Cornelius Kirchrath
series abbatum etc. 1798; 3) Modus sepulturae defuncti abbatis
Petri a Bocholtz aus dem Jahre 1573 , Verfiasscr unbekannt.
Nachdem Eckertz und Nover schon 1853 die Geschichte der
Benediktinerabtei geschrieben haben, hat die Arbeit keine andre
Bedeutung in Anspruch zu nehmen als die eines Sammelwerkes
ohne grossen Belang. Von den Beilagen ist noch die lesens-
wiirdigste „Baugeschichtliches iiber die Miinsterkirche und die
Klostergebaude", die interessanteste „Der Reliquionschatz der
Abteiu. Aus letzterem Aafsatz erfahren wir z. B., dass, als
1867 die friiher ubliche Heiligthumsfahrt in Gladbach wieder
ein^erichtet ward, vom 9. — 18. August, jeden Tag vom friihen
Morgen bis zum spaten Abend die frommen Glaubigen .... in
doppelter Reihe an den Heiligthiimern zur Verehrung voriiber-
zogen. „Schon am ersten Sonntage betrug nach einer miissigen
Schatzung die Zahl dieser Verehrer iiber 25000" etc. etc. etc.
Gladbach hat ubrigens einige recht interessante Reliquien, z. B.
Manna (NB. fur die Gelehrten, die unter einander noch nicht
einig sind, was darunter eigentlich zu verstehen, sehr beachtens-
werthl), blutigen Schweiss Christi, Blut Christi, ein Stuck vom
Stabe, mit welchem Moses die Israeliten durchs rothe Meer
fiihrte, ein Stiick von der Arche Noahs.
Plan en im Vogtlande. William Fischer.
20*
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308 v« BuDge, Die Stadt Kiga im dreizehnten und vierzehnten JahrhunderL
lxxvh.
v. Bunge, Dr. F. G. Die Stadt Riga im dreizehnten und vier-
zehnten Jahrhundert. Geschichte, Verfassung und Rechts-
ZUStand. gr. 8°. (XVI, 403 S.) Leipzig, 1878. Duncker und
Humblot. 8,80 M.
Nach kurzer Frist schon wieder ein neues Werk von dem
unermudlichen Dr. v. Bunge, das sich wiirdig seinen Vorlaufem
anschliesst. In der Einleitung giebt B. die von ihm benutzten
Quellen an: die Chronik Heinrichs von Lettlaud, unter dessen
Augen Riga entstand, die Diinamiinder Annalen, die Chronik
Hermanns von Wartberge, Urkunden und Stadtbiicher, die altera
Stadtrechte, Burspraken und andre Rechtsquellen ; die gesammte
sonstige Literatur iiber Riga findet der sich dafiir Interessirende
in dem ganz vorziiglichen Werke E. Winkelmanns: bibliotheca
Livoniae historica, S. 196 ff. Von den 2 Theilen, in welche das
Werk zerfallt, diirfte fur die Leser der „Mittheilungen" nur der
erste, welcher die aussere Geschichte, die Verfassung und Ver-
waltung der Stadt Riga enthalt, als beachtenswerth in Betracht
kommen; denn der zweite beschaftigt sich mit der Rechts-
geschichte, dem Privatrechte, Strafrechte und gerichtlichen Ver-
fahren. Des 1. Theiles 1. Abschnitt enthalt die ausseren Schick-
sale der Stadt bis zum Jahre 1330. Der Schopfer des livlandischen
Staatswesens, Bischof Albert L, ist auch der Griinder von Riga.
Im Jahre 1200 legte er an der Mundung der Riga in die Duna,
weil diese Stelle einen guten Platz fur einen Hafen bot, den
Grund zur spatern Stadt; bereits 1201 siedelte er selbst und
das Domcapitel in den befestigten Ort iiber und damit ward
Riga Sitz der Regierung. Um Ansiedler herbeizuziehen, bewilligte
er dem Orte Freiheiten in Be2ug auf Handel und Gewerbe.
Obgleich Curen nnd Letten den jungen Platz mehnnals angriffen,
bliihte derselbe doch rasch auf; er ward einerseits der Sammel-
punkt fur die deutschen Pilger und Kreuzfahrer, welche Livland
weiter erobern und bekehren wollten, andrerseits der Stapelplatz
fur den deutschen und russischen Handel. 1225 erhielt Riga
das Stadt- oder Weichbildrecht , 1226 einen Rath, 1231 vom
Bischof Nikolaus ein Drittel der unterworfenen Lander, weil die
Burger an der Eroberung derselben nicht unwesentlichen Antheil
genommen hatten, namlich von Oesel, Curland und Semgallen,
zu Lehen. Wahrend es aber diese Besitzungen im Laufe der
Zeit wieder verlor, entfaltete sich um so machtiger sein Handel
und mehrten sich seine Privilegien in fremden Landern, be-
sonders seitdem es sich dem grossen norddeutschen Handel s-
vereine des „gemeinen deutschen Kaufmanns", aus dem der
hansische Stadtebund hervorging, angeschlossen hatte. Schon
1282 ward es Mitglied des letzteren durch ein Biindniss mit
Liibeck und den Deutschen in Wisby zum Schutze des Handeb
auf der Ostsee. Bis zum Jahre 1237 stand die Stadt zu dem
Orden der Schwertbriider in ziemlich gutem Verhaltnisse ; als
aber derselbe in dem selbigen Jahre in den deutschen Ritterorden
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v. Bange, Die Stadt Riga im. dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert. 309
aufgegangen war, begannen zwischen letzterem, der nach der
Mitherrschaft ttber die wichtige Stadt strebte, und dem die
Stadt besitzenden Bischofe, der 1253 zum Erzbischofe erhoben
wurde, Reibereien. 1274 wusste der Orden vom Kaiser Rudolf
ein Schreiben an die Burger zu erwirken, welches die Hand-
habung der weltlichen Gerichtsbarkeit dem livlandischen Ordens-
meister iibertrug. 1297 brach in Folge des Baues einer Briicke
iiber die Riga zwischen Riga und dem Orden eine Fehde aus,
die mit langeren oder kiirzeren Unterbrechungen bis 1330
dauerte. In diesem Kampfe verband sich die Stadt mit den
alten Feinden des Ordens, den heidnischen Litthauern, der
Orden, der in der Nahe der Stadt 2 wichtige Befestigungen,
Neuermiihlen und Bertholdsmuhle , anlegte und auch noch das
Kloster Diinamiinde durch Kauf erwarb, mit den Bischofen von
Oesel und Dorpat ui*d den koniglich danischen Vasallen Estlands.
Nachdem sich die Stadt 1329 dem Orden auf Gnade und Un-
gnade ergeben, schloss sie mit dem Ordensmeister Eberhard von
Monhcim unter giinstigen Bedingungen Frieden 1330, Riga unter-
warf sich dem Orden. Der Kaiser verlieh zugleich dem Orden
die voile Landeshoheit iiber die Stadt, deren Gebiet und Be-
wohner. Damit beginnt eine neue Periode der Geschichte Rigas,
die abseits der Aufgabe dieses Buches liegt.
Aus dem 2. Abschnitte, der sich *mit der Verfassung der
Stadt beschaftigt, referire ich nur Folgendes. Riga ist eine
iiberwiegend deutsche Stadt, die Deutschen, meist aus Westfalen
und Niedersachsen stammend, sind die herrschende Classe. Die
Zahl der andern Nationalitaten, der eingeborenen Liven und
Selen, der Russen und Litthauer, ist verschwindend klein. Der
Landesherr ist anfangs der Bischof. Die obrigkeitliche Gewalt
iibt zum Teil sein Beamter, der Vogt oder Richter, advocatus
seu judex civitatis, aus ; seit 1226 aber wahlt die Biirgerschaft
denselben selbst, wahrend dem Bischofe nur das Recht vor-
behalten ist, denselben mit dem Gerichtsbanne zu beleihen.
Schliesslich bleibt dem Bischofe nur dies Recht, da die ganze
Verwaltung des Stadtwesens auf den Rath ubergeht, und
noch das Miinzrecht und auch dieses endlich nur in der Be-
schrankung, dass er auf die von der Stadt gepragten Miinzen
sein Zeichen setzt Trotzdem bleibt der Bischof der Landesherr
und Riga eine landesherrliche Stadt.
Seit 1226 hat Riga einen aus 12 Mitgliedern bestehenden,
das erste Mai von der Gesammtheit der Burger gewahlten Rath,
der nach dem Beispiele von Hamburg und Liibeck jahrlich
wechselte, so dass der alte Rath jedesmal den fiir das nachst-
folgende Jahr wahlte und der neue noch 4 Mitglieder cooptirte ; der
sitzende Rath bestand demnach jedesmal aus 16 Gliedern. Ueber
die sogenannte passive Wahlfahigkeit hat sich gar keine Nach-
richt erhalten, jedenfalls konnte aber jeder ansassige Burger,
der kein Handwerk betrieb, in den Rath gewahlt werden. In
den Handen des keiner hohern Obrigkeit untergeordneten Rathes
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310 v> Bunge, Die Stadt Riga im dreizehnten und vierzelintcn Jahrbundert
liegt die gauze Regierung der Stadt, derselbe vertritt die Stadt
nach aussen, er ist autonom und erlasst Willkiiren, Stadtrechte
und Burspraken, er iibt die Gerichtsbarkeit aus und ist Oberhof
fur die mit Rigischem Rechte bewidmeten Stadte, er erteilt das
Burgerrecht, verwaltet das Stadt vermogen, sorgt fur die Sicher-
heit und Ordnung der Stadt etc. Besondre Wiirden des Rathee
bilden die 2 Biirgermeister, proconsules, der Vogt oder Stadt-
richter (c£ oben), die 2 Kammerer , deneu die Verwaltung des
Stadtvermogens, die Erhebung der Einkiinfte und Steuern oblagt
die 2 Beisitzer beirn Gericbte des Vogtes, 2 Landvogte, denen
die Erbebung der Einkiinfte der Stadt aus der Stadtmark und
die Verwaltung der letzteren iibertragen war.
Die Einwohnerschaft Rigas bestand aus Freien und Unfreien,
jedocb hatte der Geburtsstand keinen Einfluss auf die offentliche
Stellung, vielmehr hing diese von der Gewinnung des Biirger-
rechts ab. Nur der Burger ist vollberechtigtes Mitglied der
Stadtgemeinde, den Biirgern stehen gegeniiber die Fremden oder
Gaste, geschieden in Pilger und Kaufleute, die Ritterburtigen,
Ordensbriider und Geistlichen, die freien Knechte oder Dienst-
boten, die eingebornen Landbewohner der Stadtmark und endlich
die eigenen Leute. Eine organische Vertretung der Gemeinde,
Vorstande, hat es offenbar zu dieser Zeit noch nicht gegeben.
Briiderschaften , Gilden*, Compagnien kommen dem Zuge des
Mittelalters nacb genossenschaftlicher Vereinigung gemass auch
in Riga schon friih vor, jegliche politische Zwecke aber liegen
denselben fern. Die Oberaufsicht iiber sie fuhrt der Rath.
Die Fremden, der Zahl nach den Biirgern bedeutend iiber-
legen, wurden als Schiitzlinge angesehn, hatten aber im Ganzen
gleiches Recht mit den Biirgern. Die Pilger erhielten friih eine
corporative Verfassung mit eigenen Vorstanden, sie hatten sogar
einen eigenen Vogt, der vom Rathe den Gerichtsbann erhielt.
Alle Bewohner der Stadt und ihres Gebietes waren , wohl .mit
wenigen Ausnahmen, freien Standes. Die Nichtbiirger wareu
nicht Mitglieder der Stadtgemeinde, ihre personlichen Rechte
blieben unangetastet. Was die Kriegsverfassung anlangt, so ist
der Burger nur zur personlichen Beteiligung an der Bewachong
und Vertheidigung der Stadt verpflichtet, nicht aber zur Teil-
nahme an den Angriffskriegen, „Reisen, Heerfahrten" ; aUmahlich
aber ward es Sitte, dass die Burger auch zum Ordensheere eine
bewaffnete Schaar stellten und an entfernteren „Reisen" teil-
nahmen. Jeder Burger riistete sich selbst aus, die dienenden
Knechte erhielten ihre Riistungen von der Stadt. Das Aufgebot
erfolgte durch den Rath, Anfiihrer sind die Rathsherren. Diese
Wehrverfassung erprobte sich besonders in den sechsziger Jahren
des 14. Jahrhunderts, als Riga lebhaften Anteil an den Seekriegen
der Hanse gegen Danemark und die Vitalienbriider nahm.
Aus dem* 3. Abschnitte : „die Stadtverwaltung" iibergeheidi
die einzelnen Capitel, die Polizeiverwaltung , Finanzverwaltungr
den Gewerbebetrieb iiberhaupt und die Handwerke insbesondere
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v. Bunge, Die Stadt Riga im droizehnten und vierzehnteii Jahrhundert. 31 1
die offentlichen und gemeinniitzigen Gebaude und Anstalten,
Kirchen, Schulen, Stiftungen, urn die wichtigsten Punkte aus
dem Capitel „der Handel", unter Weglassung der betreffenden
Abschnitte iiber Handelsprivilegien, Miinzwesen und Maasse und
Gewichte vorzufuhren. Riga ist bekanntlich eines der altesten
und bedeutendsten Mitglieder der Hanse und die Geschichte
seines Handels deshalb eng mit der jenes grossen Bundes ver-
flochten. Bunge beschriinkt sich darauf, die wichtigsten der
Diinastadt eigenthiimlichen Verhaltnisse zu scbildern. Riga hat
jedenfalls den schon zu An fang des 14. Jahrh. entstandenen be-
sonderen Bund der livlandischen Stadte ins Leben gerufen und
erhielt den Vorsitz bei den Tagen derselben. Anfanglich pros-
perirte Rigas Handel besonders nach Russland und zwar nach
Smolensk und Nowgorod , ja es scheint in Smolensk sogar ein
deutscher Handelshof, der von dem Rigischen Rathe abhangig war,
bestanden zu haben und selbst mit dem noch hinter Moskau ge-
legenen Susdalj stand Riga in Verkehr. Der Handel an der
Diina entlang, besonders nach Polozk und Witebsk, war aus-
schliesslich in den Handen der Diinastadt. Bis zum 15. Jahrh.
beherrschte es auch den Handel in Litthauen. Nicht so durch-
greifend war sein Handelsverkehr nach dem Westen hin. Wahrend
es die vorhin erwahnten Miirkte allein beherrschte, theilte es
sich hier mit den andern Hansestadten an der Ostsee, besonders
mit Wisby und Liibeck, in den Handel. Im 13. und 14. Jahrh.
ist Rigas Handel vorzugsweise Transithandel, es vermittelt den
Austausch der Producte Russlands und Litthauens mit denen
des westlichen Europa. Ausgefiihrt wurden Holz, Pottasche,
Getreide, Hanf, Flachs, Wachs, Honig, Pelze, Talg, Speck; ein-
gefuhrt Tuche, Leinwand, Salz, Eisen, Pferde, Safran, Schwefel,
Edelmetalle, Wein, Heringe. Unmittelbarer Tauschhandel fand
fast gar nicht statt, alle Waaren wurden entweder baar bezahlt
oder „auf Borg" gekauft oder endlich, bei Lieferungskaufen, die
Zahlung dem Liefernden voraus geleistet. Wenn auch den
Hansischen jeder Credithandel mit ausserhansischen Kaufleuten,
besonders mit Russen, untersagt war, so kehrten sich doch Riga
und die livlandischen Stadte nicht daran. Ebenso war Commis-
sions- und Gesellschaftshandel mit Ausserhansischen verboten.
Unter Wedderlegginge , contrapositio , versteht Bunge einen
dauernden, auf alle oder doch mehrere Handelsgeschafte der
Compagnons geschlossenen Gesellschaftsvertrag, zum Unterschiede
von Vereinigungen zweier oder mehrerer Personen behufs Unter-
nehmung eines einzelnen, namentlich eines Creditgeschafts. Eine
solche Vereinigung wurde gewohnlich von Creditnehmern ge-
schlossen und hatte offenbar den Zweck, dem Creditgeber eine
grossere Sicherheit zu gewahren. „Zahlungsanweisungen" kommen
in Riga bereits am Ende des 13. Jahrh. vor, das Ausstellen der
Anweisung heisst „uberweisenu oder „iiberschreibenu. Das Ge-
8chaft wird als ein Geldkauf aufgefasst und heisst „Geld iiber-
kaufen".
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312 Bachmann, Bohmen und seine Nachbarlander unter Georg von Podiebrad.
Schliesslich mochten wir audi das ausserlich vorziiglich
ausgestattete Werk alien denen, welche sich mit mittelalterlicheT
Stadte-, Cultur- und Rechtsgeschichte beschaftigen , dringend
empfehlen. Die Geschichte der deutschen Stadt Riga, die iir
deutsches Geprage bis auf den heutigon Tag beibehalten hat
und die Fahne des Deutschthums in den sie umbrandenden und
umwerbenden Wogen des Slaventhums wacker aufrecht halt,
konnte nach C. E. Napiersky: kurze Uebersicht der alteren
Geschichte der Stadt Riga, von 1200 — 1581, keinen bessern
Chronisten finden als den Verfasser des besprocbenen Werkes.
Eine Fortfiihrung desselben bis zum Untergang der livischen
Freiheit in demselben Sinne, wie hier, diirfte alien, die Interesse
an der Geschichte dieser deutschen Stadt im fernen Nordosten
haben, eine willkommene Gabo soin.
Plauen im Vogtlande. William Fischer.
LXXVHI.
Bachmann, A., Bohmen und seine Nachbarlander unter Georg
von Podiebrad 1458—1461 und des Konigs Bewerbung um
die deutsche Krone. Ein Beitrag zur Geschichte der Versuche
einer Reichsreform im 15. Jahrh. Zum Theil nach un-
gedruckten Quellen. gr. 8. (XII, 309 S.) Prag, 1878.
J. G. Calve's Buchhdlg. 6 K
Die Geschichte des deutschen Reiches in der zweiten Halfte
des XV. Jahrhunderts, resp. die Geschichte K. Friedrichs III. ist
zum guten Theil eine Geschichte der Konige Georg Podiebrad
von Bohmen und Matthias Corvinus von Ungarn. Nicht in Wien
oder in den Stadten, welche Schauplatz der Reichstage sind,
sondern in Prag und Eger, dann in Ofen und Presburg sind die
Ausgangspunkte der Reichspolitik zu suchen: ohne vorgangige
Kenntniss der Geschichte beider Lander ist die Darstellung der
Reichsgeschichte unmoglich, ja die Geschichte Bohmens, nachher
Ungarns, ist beinahe Geschichte des deutschen Reiches. Mit
Recht nennt daher B. sein Buch „Beitrag zur Geschichte der
Versuche einer Reichsreform im XV. Jahrhunderte". Seit dem
Sommer 1459, fiihrt der Verf. aus, ist G. Podiebrads Vorlangen,
romischer Konig zu werden, der Mittelpunkt der bohmischen
Politik. „AUo Vorkommnisse in Bohmen und im Reiche wirken
darauf mittelbar oder unmittelbar zurtick, wahrend andrerseifcs
die Entwicklung der inneren Verbal tnisse Bohmens, wie seine
Stellung zu den Nachbarstaaten und zur Kirche im wesentlichen
von dort aus bestimmt wirdu. Durch eine Fiille bisher un-
gedruckten und unbenutzten Materiales, das zum Theil aus der
Egerer Stadtbibliothek stammt, war der Verfasser des vorliegen-
den Werkes, welches vielleicht die beste unter den neuesten
Monographien iiber die Geschichte dieser Zeit ist, vorziigl'ch im
Stande, diesen Wechselbeziehungen nachzugehen und die einzelnen
Phascn der bohmischen Aktion, streng von einander geschieden,
zur Darstellung zu bringen, Vier Hauptabschnitte der Entwicklung
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Bachmann, Btfhmen und seine Nachbarliinder unter Georg von Podiebrad. 313
sind zu unterscheiden. In den beiden ersten Kapiteln (S. 1 — 66)
gelangt B. bis zu dem Momente, wo zum ersten Mai in Georgs
Seele das Konigsproject angeregt wurde ; ein urn so passenderer
Abschluss, als die Entdeckung, dass Martin Mair schon am Be-
ginn d. J. 1459 dem Bohmenkonig die erste Offerte gemacht,
ein Verdienst des Verfassers ist. Verfolgen wir in der Kiirze
das erste Stadium der Entwicklung von Georgs Thronbesteigung
an. Nachdem in Georgs Erwahlung Utraquismus und Wahl-
freiheit zum Siege gelangt, zwingt G. durch raschen Einfall in
Oestreioh den Kaiser seinen Widerstand aufzugeben : es geschieht
durch das Abkommen vom 3. October 1458. Noch aber ist die
Gegnerscliaft der deutschen Fiirsten zu beseitigen, speciell
Sachsens, der selbst Ansp niche erhoben. Mit Ausnahme des
Bischofis von Wiirzburg sind alle Fiirsten dem Konige abgeneigt.
Stadte, wie Niirnberg warten vorsichtig ab, oder verhalten sich
misstrauisch, wie das wichtige Eger. Georg sucht nach Freunden ;
so bemiiht er sich den Markgrafen Albrecht Achilles und damit
dessen Bruder zu gewinnen, indem er ersterem Mittheilung von
einem Bundniss macht, das brand enburgische und Hansestadte
ihm angetragen. Aber die Verhaltnisse im Reich verhindern,
dass Sachsen seine Anspriiche mit Erfolg geltend machen kann,
gestatten Georg, im'Frieden sein Konigthum zu sichern. Dies
hangt mit der Entstehung der sog. wittelsbachischen Partei zu-
sammen, welche Markgraf Albrechts Plane, die Befugnisse seines
Landgerichts zu erweitern, hervorrufen.
Einen Augenblick freilich scheint es, als werde eine Coalition
der markgraflichen und wittelsbachischen Partei sich gegen den
Konig wenden. B. nimmt namlich, was Kluckhohn nur ver-
muthungsweise ausspricht, als sicher an, dass nach dem
Zug gegen Donauworth die bairischen Riistungen dem Bohmen-
konig gegolten batten. Er meint, — abweichend von Kl. —
die Gegenforderung Albrechts fur seinen „Gesellendienstw bei
dem Donauworther Handel sei keineswegs Nachgiebigkeit in
Sachen des Landgerichts gewesen, sondern militarische Aktion
gegen Bohmen im Interesse der sachsischen Erbanspriiche. Dem-
gemass beurtheilt er auch die Furstenversammlungen zu Aschaflfen-
burg unci Heidelberg (um Weihnachten 1458) nicht als Parteitage,
welche den Zweck haben, sich zu gegenseitiger Befehdung zu
organisiren, sondern als Versuche, einen Ausgleich in jenem Sinne
herbeizufuhren. Erst nach dem Scheitern dieses Versuches habe
Markgraf Albrecht, um den Wittelsbachern Terrain abzugewinnen,
einseitig den Anschluss an Bohmen erstrebt. In diesem Zu-
sammenhange findet auch der vermeintliche „ Reichstag" von
Esslingen seine Erklarung. Schon Kluckhohn hatte in einem
besouderen Excurse (S. 366 und 367) gezeigt, dass der angeb-
liche Reichstag nur eine Fiirstenversammlung im wittelsbachischen
Interesse gewesen: B. findet die Veranlassung zu diesem Partei-
tag darin, dass vorher Markgraf Albrecht in Wunsiedel Sachsen
mit Bohmen auszugleichen und Beziehungen mit Bohmen anzu-
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314 Bachmann, Bohmen und seine Nachbarlander unter Georg Ton Podiebr&d.
kniipfen bemiiht war. In der Hoffnung, Georg far sich zu ge-
winnen, bricht Albrecht im Marz 1459 vollstandig mit der
Gegenpartei, die aber gleichfalls auf bohmische Unterstiitzung
speculirt. So begeben siob die Haupter beider Parteien, Mark-
graf Albrecht und der Pfalzgraf nach Eger „wo zum erstenmale
ein Staatswesen sich die allgemeine Anerkennung erringt, das
im Gegensatze zu der alten Kirche und der alten Legitimist
denn doch den Kampf um religiose Freiheit und das Reeht
politischer Selbstbestimmung als die Basis seines Bestandes
erkennen lasst". Georgs Beitritt zu dieser oder jener Partei
war fur das Reich entscheidend. „Statt durch Opfer die Aner-
kennung seines neuen Konig- und Kurfiirstenthums zu erlangeu,
trat er sofort in eine derartig gebietende Stellung im Reichc
ein, dass sie auch nicht einmal eine Discussion iiber Anerkennung
Oder nicht Anerkennung zuliess." Schlau benutzt Georg die
Lage : schliesst mit dem Pfalzgrafen ewiges Freundschaftsbundniss,
mit dem sachsischen Hause, nach billiger Abfindung der Erban-
spruche, ein Doppelverlobniss. Dann tritt Martin Mair — vom
Verf. als Egoist, der fur all seine Reformplane nicht entfernt
den Namen eines Patrioton verdient, trefflich gezeichnet — mit
seinem Erbieten an den Konig. Nachdem Martin Mair in friiherer
Zeit die Candidaturen des Burgunders, des Herzogs Albrecht,
des Pfalzgrafen gefdrdert, bietet er dem Konige von Bohmen die
Krone an. Dass dies schon jetzt geschehen, beweist B. S. 65
und 66, namentlich mit Beriicksichtigung der Politik Georgs im
Sommer 1459. Noch lehnte Georg das Project seiner Erhebung
ab, „als eine Sache, davon kein Nutzen, sondern allein grosser
Unwille entstehen wiirde", aber dennoch ward von diesem Augen-
blick an die bohmische Politik „von dem Gedanken der Er-
werbung der deutschen Krone nicht bios beeinflusst, sondern
thatsachlich geleitet."
Der Inhalt des umfangreichen dritten Capitels, — betiteit:
„Die Zeit der Vorbereitung" — zerfallt in drei Gruppen : es war
die Stellung Georgs zum Papst, zum Kaiser zu schildern: seine
Position zu den beiden Parteien im Reich des weitern darzulegea
Papst Pius II., dem nichts so sehr am Herzen liegt, als der
Wunsch, die Christenheit gegen die Tiirken zu fuhren, dem eine
bohmische Gesandtschaft im Namen des Konigs und seiner Familie
Obedienz leistet, ist dem Bohmenkonige geneigt ; zum Mantuaner
Congress ladet er ihn als „seinen geliebtesten Sohn Georg11 em.
Denn dieser, der den Uneingeweihten als Ketzerfurst gilt, hat
vor seiner Kronung den katholischen Baronen freie Religions
iibung versprochen und in einem geheimen Eide zugesagt, audi
das Volk zum Katholieismus zuriickzufuhren ; nur hatte er nach-
sichtiges Warten von romisoher Seite verlangt, bis er auf seinem
Throne sicher sitze. — Die Begrundung dieser Ansicht ist in
desselben Verfassers Schrift: „Ein Jahr bohmischer Geschichtea
(Archiv £ Oestr. Gesch. LIV. Bd.) enthalten. Unserm Vert ist
Georg weder der Vertreter des kirchlichen Reformgedankens,
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Bachmann, B&hmen und seine Naclibarliinder unter Georg von Podiebrad. 315
noch auch nur ein strengglaubiger Utraquist. Dass die Gesandt-
schaft, welche im Nameu Georgs die Obedienz zu leisten hatte,
gar die Bestatigung der Compaktaten nachsuchen sollte, — wie
das bohmische Volk wobl glauben mochte, halt B. fiir eine ent-
schieden irrige Annahme. Trotz verschiedener gegentheiliger
Nachrichtcn zweifelt Pius nicht an Georgs Gesinnungen und weist
auch die Breslauer, die in ihm doch nur den Ketzer sehen, zu
ihrer Verwunderung zum Gehorsam an. Von Breslau abgesehen,
geben die Schlesier, obendrein von den Sachsen im Stich gelassen>
ihre Opposition auf.
Dadurch, dass der Kaiser den Konig Matthias zu verdrangen
sucht, — am 17. Febr. 1459 lasst sich Friedrich wahlen, —
wird er genothigt, an Georg einen Heifer zu erwerben. Der
Papst, dem seiner Kreuzzugsplane halber der Zwisohenfall sehr
unerwiinscht kommt, nimmt dem Ungarnkonig gegeniiber eine .
zweideutige Haltung ein, der apostolische Legat in Ungarn,
Johann Carvajal glaubt h\ dem Bohinen den geeignetsten Ver-
mittler zu erkennen. Der Kaiser unternahm die lleise nach
Briinn, wo er dem Konige alle Rechte und Privilegien Bohinens
bestatigte, nachdem er ihn feierlich belehnt hatte. In den
Punktationen vom 2. — 6. August wurdeu die Verpflichtungen des
Konigs, — bewaffnete Hilfe gegen Ungarn — und seine Anspriiche
an den Kaiser festgestellt. Nicht die grossen Geldverheissungen
lockten Georg, sondern das Versprechen Friedrichs „das Reich
nnd seine Lande nach des Konigs Rathe zu regieren und sogar
seinen Hof, d. i. wohl sein Hofgericht und die Kanzlei fiir das
Reich im Einverstandnisse mit dem Konige zu besetzen." Wahrend
Palacky meinte, dass Georg seine Forderungen hier allmahlich
erhohte, weil er sich so precaren Verpflichtungen wieder zu ent-
ziehen wiinschte, zweifelt B. nicht daran, dass Georg es mit
seinen Versprechungen ehrlich gemeint. Der Schiedsspruch
zwischen Matthias und Friedrich war bedeutungslos. Endlich
S. 115 — 130 wird gezeigt, wie Markgraf Albrecht Achilles den
Donauworther Handel zu weiterer Theilung und Schwachung der
wittelsbachischen Partei auszunutzen sucht, auch wirklich den
Herzog Ludwig diipirt, aber nicht verhindern kann, dass die
Wittelsbacher sich mit Bohmen einen, dessen Einfluss auch hier
entscheidend ist. „Die feste Einung mit Wittelsbach-Landshut
bezeichnet nun den Uebergang zu einer positiven Politik in
Deutschland, aus der als Grundgedanke bald das Streben des
Konigs nach Erlangung der romischen Konigskrone hervortritt."
Auf den Tagen zu Taus und Pilsen, auf welchem letzteren der
Pfalzgraf personlich erscheint, in seinem Gefolge der gewandte
M. Mair, wird das Biindniss perfekt. Vergeblich bemuht sich
Markgraf Albrecht noch einmal, den Konig fiir sich zu gewinnen ;
Georg will seine Stellung liber den Parteien einnehmen. Mit
dem Projecte einer Miinzreform „lenkte er dann in die Bahn der
Reichsreformbewegung einM, welche zu leiten und auszunutzen
er beabsichtigte. — In diesem Abschnitte wurden namentlich die
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316 Bachmann, Bohmen and seine Nachbarlander unter Georg von Podiebrai
von Stockheim gesammelten Archivalien trefflich verwerthet; auf
die Politik des Markgrafen Albrecht und das diplomatische
Talent des Herzogs Ludwig f allt ein helles Licht ; ob aber der
letztere in der Weise diipirt worden ist, wie B. es darstellt,
wag© ich dock zu bezweifeln. In diesen Zusammenhang gehort
auch der bisher unbekannte Ulmer Tag vom Juli 1459, den R
aus Stockheims Sammlung herausgefunden hat. (S. 133,)
Das IV. Capitel behandelt den „Versuch Konig Georgs,
romischer Konig zu werden im Einverstandnisse mit K. Friedricn*
Auf dem Egerer Hochzeitsfest liess sich Georg durch Martin
Mair vollstandig gewinnen. Jetzt gait es, die Mittel zur Aus-
fiihrung des Projectes zu linden. An ideale Mittel, an erne
wirkliche Reform des Reiches denken weder der Konig nocli sein
Berather, die beide lediglich nach Ehre und Gewinn diirsten;
man speculirt nur auf die Selbstsucht der anderen Fiirsten ; wie
sie zu erkaufen sind, ist die Frage. B. schildert erst die Mai-
lander Belehnungs - Angelegenheit , welche nach Martin Main
schlauem Rath in diesem Sinne ausgebeutet werden sollte, dann
den Mantuaner Congress, auf dem Pius mit seiner Kreuzzugsidee
vollig isolirt erscheint. An die Reichstage, welche nach dem
Congresse gehalten werden sollten, kniipft Mair zuniichst des
Konigs Hoffnungen. Aber Georg fand eine bessere Gelegenlieit,
seino Absichten zu verwirklichen, indem er nach einigen Bedenken
sich zum Anwalt der aufruhrerischen ostreichischen Staude macht.
Die glanzende Gesandtschaft, welche er im Marz 1460 an Fried-
rich schickte, hatt§ — nach B.'s Ausfiihrungon — die Bitte
auszusprechen, der Kaiser moge zu der Erhebung Georgs auf
den romischen Konigsthron seine Zustimmung geben. Der Kaiser
war entschlossen, das nie zu thun, aber im Hinblick auf seine
bedenkliche Lage gab er diesmal nur eine ausweichende Antwort
Auf den letzten Seiten dieses Capitels findet sich eine pradse
Darlegung der Missstande, welche die ostreichische Landsehaft
mit aufriihrerischer Gesinnung erfiillten; gegen G. Voigt fuhrtB.
den Nachweis, dass der Kaiser das Hauptiibel, die Miinzrer-
schlechterung, urspriinglich n i c h t selbst verschuldet habe.
Capitel V. „ Konig Georgs Bemiihungen um d. r. Konigs-
krone bis zu seiner zweiten Abweisung durch den Kaiser". Der
Niirnberger Reichstag, durch welchen die Curie ihr Kreuzzugs-
project realisiren wollte und der auch Georgs egoistischen Planen
Vorschub leisten sollte, scheiterte an der Parteiung im Reici.
Georgs Stellung verschlechterte sich nach drei Seiten : der Kaiser
war ihm wegen jener Einmischung, die er entschieden zuriickwies,
entfremdet; Matthias, der des Bohmen zweideutiges Spiel zu
durchschauen begann, ward ihm feind; endlich ward auch der
Papst unwillig wegen der verzogerten Erfullung seiner gegen die
Kirche ubernommenen Verpflichtungen. Dagegen nahm der im
J. 1460 gefuhrte Kampf der wittelsbachischen und brandenbnr-
gischen Partei eine fur den Bohmenkonig ausserst giinstige
Wendung. Markgraf Albrecht ward vollstandig iiberwaltigt, der
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Bachmann, Bohmeu und seine Nachbarlander unter Goorg von Podiebrad. 317
Konig, dessen Sympathien von vornherein auf bairischer Seite
wareD, schloss mit Herzog Ludwig einen Vertrag, der ihn zum
Schiedsrichter in diesem Streite machte ; ein Trutz- und Schutz-
biindniss, in dem nicht einmal der Kaiser ausgenommen wurde.
Auch Herzog Albrecht von Oestreich trat dem neuen Bunde bei.
Der Gedanke aber, iiberhaupt ohne den Kaiser die romische
Konigswiirde zu erlangen, kniipft sich an den Verlauf des kaiser-
lichen Tages zu Wien. Die Anmassung des Cardinals Bessarion,
welcher ohne Riicksicht auf die deutschen Reichsstande die fur
den Tiirkenzug nothigen Massnahm^n decretiren zu konnen meinte
und auch den Kaiser dazu geneigt fend, schuf gegen Papst und
Kaiser eine oppositionelle Bewegung, auf welche Georg nunmehr
seine HoflFnungen setzte.
Capitel VI. „Konig Georgs Versuch romischer Konig zu
werden mit Hilfe der deutschen Fiirsten". Der Verf. beginnt
mit einer Schilderung der kirchlichen Opposition, die sich nach
dem Wiener Tage auch gegen den Kaiser wandte. Diese und
die schwere Niederlage der brandenburgischen Partei schienen
Georgs Emporkommen zu begiinstigen. Gegen den Vorwurf nun>
Georg habe sich nicht entschlossen und riickhaltslos auf die
Reformpartei gestiitzt, macht B. iiberzeugende Einwendungen, in
denen das Wesen dieser Zeit treflflich charakterisirt wird. (S 216.)
Richtig sagt er: „Das Konigthum Podiebrads, an sich in der
"Weise unmoglich, blieb ein Unding, auch wenn es zur Thatsache
wurde." Gleichwohl nahm die Sache ihren Fortgang. Auf der
einen Seite deckte sich der Konig Georg durch einen Freund-
schaftsvertrag mit Casimir von Polen, durch ein Familienbundniss
mit Matthias den Riicken; im Reiche waren Martin Mair und
Herzog Ludwig thatig, dieser seit den Vertragen vom 8. October
1460 ganz im Dienste des Konigs. Bei der Besprechung dieser
Vertrage vertheidigt B. gegen Palacky die unbedingte Glaub-
wiirdigkeit der Erlbachischen Aussagen — in den nach ihm ge-
nannten Inquisitionsakten, von denen die bez. Vertrage einen Theil
bilden. Auch betont B., dass eine formliche Beseitigung des
Kaisers in Aussicht genommen war, wiederholt heisst es von
ihm: „Herr Friedrich, Herzog zu Oesterreich, der sich nennt
Romischer Kaiser, dieweil er in Regierung des heil. R Reiches
gewesen ist." Wie Ludwig, ja noch mehr wird der Pfalzgraf
durch personliche Vortheile fiir die Unterstiitzung des bohmi-
schen Planes gewonnen ; der einzige, dem es daneben auch wirk-
lich urn die Reichsreform zu thun ist, ist Diether von Mainz.
Dieser stellt ausserdem zwei unausfiihrbare Bedingungen: 1) Georg
miisse sich offen zur romischen Lehre bekennen ; 2) Brandenburgs
und Sachsens Stimmen fiir das Project gewinnen. An der zweiten
Forderung scheiterte thatsachlich das Project: der Egerer Tag
vom Anfang d. J. 1461 vernichtete Georgs Hoffnungen. Bis zu
welchem Grade die Ehrlichkeit oder Zweideutigkeit des Mark-
grafen Albrecht ging, von dessen Rath sein Bruder Friedrich
abhangig war, ist schwer zu beurtheilen: B/s Urtheil S. 249
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318 Bachmann, Bohmen und seine Nachbarlander unter Georg von Podiebrai
erscheint mir nicht ganz zutreffend. Es war naturlich, dass
Albrecht auf Georg Riicksicht nehmen musste, da von ihm der
Schiedsspruch in seinem Streite mit Herzog Ludwig abhing; yoU-
standige Kenntniss von Georgs Planen konnte er nur erhalten,
wenn er ihn hoffen liess; aber es ist klar, dass er die Absicht
des Konigs nicht mehr unterstiitzen konnte, sowie er sah, dass
die wittelsbachische Partei sich langst die Fruchte des Unter-
nehmens gesichert hatte, dessen Gedeihen in letzter Linie denn
doch von ihm abhing. Richtig dagegen urtheilt B. S. 264 „Die
Verheissungen waren fur die Markgrafen, die jederzeit so .eat-
schieden das Verlangen trugen, sich „weiten" zu lassen, sicher-
lich gross, aber noch grosser die Konsequenz in ihren politischen
Ueberzeugungen." Jedenfalls ist die pracise Darstellung dieser
Vorgange seitens des Verfassers sehr dankenswerth.
Capitel VII. (S. 269—309.) „K6nig Georgs Plan, romischer
Konig zu werden mit Beihilfe des Papstes." Schon im voran-
gehenden Capitel weist B. darauf hin — bei Besprechung des
Bamberger Tages — dass die Absichten Georgs und der kirch-
lichen Reformpartei, die Diether von Mainz vertritt, eigentlich
auseinandergingen. Auf jenem Tage hatte der Mainzer den
Streit mit der Curie hauptsachlich betrieben, Georgs Erwahlung
ware fur ihn hochstens ein Mittel zum Zweck gewesen. Jetzt
wo Georgs Hoffnungen in Eger so gut wie gescheitert ware*,
setzte Diether zu Niirnberg seine Bestrebungen fort. Allerdings
machte auch Georg hier seiue letzten Versuche. Das Quellen-
material fiir die Geschichte des Niirnbei^er Tages ist ungeniigend:
doch ersieht man, dass das Resultat der Verhandlungen ein
Compromiss ist. Markgraf Albrecht, schon um sich zu decken,
nahert sich der kirchlichen Reformpartei soweit, dass er mit
seinen Briidern der mainzischen Appellation an die Curie rIfl
causa annate" beitritt ; dafiir lasst die Reformpartei die Candi-
datur des Bohmenkonigs fallen. So erklart B. trefflich die mo-
mentane Schwenkung, die der Markgraf in der kirchlichen Frage
macht. (S. 273.) Dagegen ist es mir unbegreiflich, wieB. trotz
der vorangegangenen Darstellung auch nur entfernt daran glauben
kann, Markgraf Albrecht habe Georg gegeniiber die Verpflichtung
iibernommen, ihm die Stimmen Sachsens und Brandenburgs zn
verschaflFen. Als gewiegter Diplomat hat er Aussichten eroffnet,
die er je nach den Umstanden verwirklichen konnte oder nicht:
aus diplomatischen Riicksichten, nicht aus „Schuldbewusstseintt
hat er den Groll, den er iiber Martin Mairs unverschamte In-
discretionen empfinden musste, gegen Herrn Hase von Hasenburg
verbissen. Erbittert iiber die Abweisung durch die Fiirsten,
fasst Georg nunmehr den Plan, mit Hilfe des Papstes den romi-
schen Konigsthron zu gewinnen: einen Plan, der unglaublici
ware, wenn Georg wirklich der Vorkampfer und dann Martrrer
des Husitismus gewesen ware, als welchen ihn Palacky, Droysen
und Jordan betrachten. Aber des Konigs religiose Ueberzeugong
„trat stets und iiberall unbedingt zuriick vor den AnfordenmgeB
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Wenzelburger, Gesckickte der Niederlande. 319
seiner Politik und seiner personliohen Plane". Auch an „der
Reform und Besserung des Reiches, an der Erringung der er-
sehnten Freiheiten fur die deutsche Kirche" war ihm nichts
gelegen. Der Beweis fur diese Ansicht ist eben die „Unterrich-
tung des Hand els an den Papst", — ein Entwurf , der niemals
in Pius' II. Hande gelangte, dennoch aber ein Dokument ersten
Ranges. Fur die Hiilfe des Papstes gedachte Georg mit der
Katholisirung Bohmens zu zahlen: eine religiose Verfolgung, die
im Marz und April 1461 stattfand, konnte als Vorzeichen der
kirchlichen Reaktion gelten; am Griindonnerstage predigte der
Bischof von Breslau auf dem Prager Schlosse, — Georg hatte
sich kluglich nach Kuttenberg begeben, — gegen den Kelch, d.
h. gegen die letzte Errungenschaft , welche aus den Tagen des
Husitismus noch iibrig war. Da zeigte es sich aber, dass die
nationale Tradition machtiger war, als Konig Georg. Solch ein
Sturm der Entriistung brach los, dass nicht allein des Konigs
stolzer Plan zusammenbrach, vielmehr gait es jetzt sein eigenes
Konigthum zu retten, zu retten durch riickhaltlose Anerkennung
des Utraquismus. — Mit einem klaren Ueberblicke schliesst der
Verf. das letzte Capitel seines Werkes, das als eine wesentliche
Bereicherung der historischen Wissenschaft sorgfaltige Beachtung
verdient.
Da der Verf. ein Druckfehlerverzeichniss beigefiigt hat, er-
lauben wir uns einige Erganzungen: S. 11 Wiirtzburg, S. 83,
Z. 2 v. u. 1549 st. 1459, S. 91, Z. 11 durchsaus, S. 162, Z. 13
Besserion st. Bessarion, S. 254, unten am Rand — 29. Marz st.
29. December, S. 259 Stellungen st. Stallungen. Ein kleines
Versehen ist S. 15 zu berichtigen: Albrechts zweite Gemahlin
ist nicht Katharina, sondern Anna von Sachsen.
Berlin. Willy Boehm.
LXXIX.
Wenzelburger, K. Ch., Geschichte der Niederlande. Erster Band.
[Geschichte der europaischen Staaten, herausgegeben von A.
L. H. Heeren, F. A. Uokert und W. v, Giesebrecht. Lieferung 40,
Abth. 2]. gr. 8. (817 S.) Gotha 1879. F. A. Perthes. 15 M.
Obiges Buch verdankt sein Entstehen der Absicht, eine Neu-
bearbeitung des Werkes von Kampen zu liefern; doch hat der
Verfasser, statt einer Neubearbeitung, einen vollstandigen Neu-
bau geliefert, wozu er selbst keine eigentlichen neuen Quellenstudien
gemacht, sondern nur die bis jetzt zuganglichen Quellen benutzt hat.
Zuerst musste sich ihm bei seiner Arbeit die Frage aufdrangen,
wie diese Geschichte zu bearbeiten sei, ob er namlich, wie van
Kampen, Belgien g a n z mit berucksichtigen solle, oder nur die nord-
liohen Niederlande, jene Provinzen, welche nachher die Republik
bildeten. Die meisten niederlindischen Schriftsteller beachteten
durchgangig, bei einer Darstellung der Geschichte ihres Landes,
die 8iidlichen Provinzen sehr wenig. Dr. Wenzelburger hat sehr
richtig sein Material von einem allgemeinern Standpunkte aus
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320 Wenzelburger, Geschichte der Niederlande.
betrachtet, unci, ohne van Kampens Plan zu folgen, Brabant
und Flandern, deren Geschichte in diejenige der nordlichen
Niederlande vielfach eingreift, nicht ausser Acht gelassen. Ein
anderer Vorzug seines Werkes best eh t darin, dass er von der
sehr unsichern altepen Geschichte der Niederlande fast gar keine
Notiz nimmt und auch der romischen Zeit einen viel geringeren
Platz als sein Vorganger einraumt, ohne dadurch das Haupt-
moment aus dieser Periode, den Aufstand des Claudius Civilis,
weniger zur Geltung zu bringen. Das erste Buch seines Werkes
(S. 1 — 100) behandelt die Romische und Frankisch-Sachsisehe
Zeit, das Lehnsystem, die Einfiihrung des Christenthums, den
Untergang der Karolinger mit den Einfallen der Diinen und
Normannen. Dessen viertes und letztes Kapitel ist den geo-
graphischen Verhaltnissen und Veranderungen im Mittelalter
gewidmet. Bilderdyk und in letzterer Zeit Dr. Winne, Professor
an der Universitat zu Utrecht, haben sich ausfuhrlich mit der
Frage, wie das Lehnwesen entstanden sei, beschaftigt. Letzterer
folgte dabei den Vorstellungen von Waitz, „Deutsche Verfassungs-
geschichte" und Roth, „Feudalitat und Unterthanenverband".
Seiner Darstellung bleibt auch Dr. Wenzelburger meistens ge-
treu, und lasst das Lehnwesen sich allmahlich entwickeln aus
dem „Beneficiumu und der ,,Commendatio". Als einen Vorzug des
Systems riihmt er die Vereinigung der zerstreuten und cen-
trifugalen Krafte der Stamme und Individuen zu einem Ganzen,
wahrend seine Nachtheile sich zeigen in der Beforderung der
Grundgebiets-Zerstiickelung und der Beschrankung der liirstlichen
Gewalt. Ein anderes gewichtiges Moment aus der frankischen
Periode ist die Einfiihrung des Christenthums. (S. 32—39.)
Politisch diente sie dem frankischen Staatszweck, fur die Coltur
war sie ein Segen, besonders da sie der rohen Gewalt der
herrschenden Klassen entgegentrat und die Thatigkeit der
Kloster auch in materieller Hinsicht Gutes leistete. Daneben
trug die Kirche aber zur extensiven und intensiven Befestigung
der Leibeigenschaft viel bei. Bei der Beschreibung der Hinder-
nisse, welche der Einfiihrung des Christenthums in Friesland im
Wege standen , hebt der Verfasser die eigenartige Gestalt des
Friesenfiirsten Radbad I. hervor, so wie auch die Sonderstellung
der Friesen gegeniiber der frankischen Bevolkerung und dem
Lehnwesen iiberhaupt, welches noch bestehen blieb, nachdem
das Christenthum und die frankische Herrschaft zu gleicher Zeit
in ihrem Lande eingefuhrt waren (S. 39 — 47). Die aussere
Gestalt des Landes in dieser Periode, die Wege und Deiche, der
Verkehr im Innern und mit dem Auslande werden nicht ohne
Beachtung gelassen (S. 50 — 55).
Bei der Auflosung des Frankischen Reiches wird erortert,
zu welchem Theile desselben die Niederlande nach dem Vertrage
von Verdun gehoren, und den Einfallen der Normannen ein
bedeutender Platz eingeraumt, mit Beniitzung der ausgezeich-
neten Monographie des Dr. van Bolhuis iiber diesen Gegen-
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v.-- '
Wenzolburger, Geschichte der Niederlande. 321
stand. Nebst der Ermordung des grausamen Normannen Gott-
fried und der furchtbaren Niederlage an der Dyle schreibt der
Verfasser das Ende der Normannenplage den Ottonen und der
Einfuhrung des Christenthums in den skandinavischen Landern zu.
Als Folgen jener Einfalle hebt er hervor, dass sie den grossen
Lehnsmann vom Konig unabhangig machten und die Zahl der
Freien sehr erheblich verringerten, wahrend andererseits mit
ihren Ziigen das Aufbliihen der Stadte, der Schiffahrt und des
Handels in den Niederlanden befdrdert ward. Der hierauf fol-
genden breiten Darstellung der geographischen Verhaltnisse
dieses Zeitraums (S. 77 — 100) ist das vortreffliche Werk van
den Bergh's „Handboek der Mittelnederlandsche Geographic"
hauptsachlich zu Grunde gelegt.
Das zweite Buch (S. 103 — 243) ist den Grafen aus dem
hollandischen, hennegauischen und bairischen Hause gewidmet.
Von Dick III, dem eigentlichen Stifter der Grafschaft Holland,
meint der Verfasser, dass die geistlichen Chronisten ihn zu un-
giinstig beurtheilt haben mochten wegen eines Streites mit den
Bischofen; dass auch seine Nachfolger mit Utrecht stritten, sei
die Ursache , ' dass sie im Investiturstreite auf Seite des Papstes
gestanden hatten; waren doch die Utrechter Bischofe durch-
gangig Anhanger des Kaisers. Von den Grafen aus dem
hollandischen Hause werden noch hervorgehoben: Wilhelm H.
und Floris V. (S. 123—135). Die Entstehung des Complotts,
dem dieser zum Opfer fiel, schreibt der Verfasser Eduard I. von
England zu. Er ist iibrigens nicht blind fur die Fehler dieses Grafen,
sein wildes Leben und seine Krankung der adeligen Rechte. Der
kraftigen Regierung des ungliicklichen seelandischen EdlenWol-
fert von Buselen lasst der Verfasser Recht widerfahren. Am
Ende dieses Kapitels bespricht er die Aenderung in der Stellung
der Grafen. Durch Losung des Lehnsverbandes wurden die
Grafen selbststandige Territorialherren, wozu die Zerbrockelung
des Herzogthums Nieder-Lothringen , die geographische Lage
Hollands und die gleichzeitigen Zustande in Deutschland und
Italien mitwirkten. Demzufolge wird die Frage erortert, ob
Holland im staatsrechtlichen Sinne ein Lehn des Deutschen
Reiches gewesen sei oder nicht. Mit Wynne verneint der Ver-
fasser diese Frage, weil das Lehnsverhaltniss faktisch so wenig
zur Geltung kam.
Das Emporbliihen der Stadte bildet den StofF des zweiten
Kapitels (S. 143—194). Zur grosseren Unabhangigkeit der
Unterthanen von ihren Landesherren fiihrte sowohl die Ent-
wickelung der Rechtspflege, die allmahlich in den Stadten durch
die von den Biirgern gewahlten Schoffen stattfand, als das da-
malige Finanzwesen. Urspriinglich bestand das Einkommen der
Grafen aus dem Ertrag ihres Grundbesitzes und aus Zollen, nebst
den alljahrlich durch die Unterthanen dargebrachten Geschenken
in Naturalien. Diese Einkiinfte reichten aber bald nicht mehr hin,
MittheUnogen ft. d. hlator. Littermtur. VU. 21
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322 Wenzelburger, Gescliichte der Niederlande.
und bei der Rechtsuberzeugung, dass kein freier Mann gezwungen
werden konne, ohne seinen freien Willen einen Theil seines
Eigenthumes abzutreten, hatte der Landesherr mit dem guten
Willen seiner Unterthanen zu rechnen. So bekamen die landes-
herrliohen Forderungen den Namen „Beden", d. L Bitten, die
sich bald regelniassig wiederholten, und denen die Grafen nach-
her den Charakter von verpflichteten Abgaben beizulegen suchtea
Besonders von den Stadten erwarteten die Landesherren „Bedeuu,
und beforderten daher ihr Entstehen, das noch nebenbei zur
Verminderung des Ansehens des Adels beitrug. Das Entstehen
der Stadte war daher in den nordlichen Niederlanden ein fried-
liches ; es wird, nebst der Organisation der Stadte, niiher vom
Verfasser entwickelt (S. 147 — 157). Ihre Recbtsinstitutionen,
ihren Haushalt, die Ziinfte und Stapelrechte bespricht er
S. 157 — 175. In ihrem Zunftwesen und ihrer Handelspolitik
unterscheiden sich die niederlandischen Stadte wesentlich von
den auslandischen. Eine Menge von Handwerken gehorten gar
nicht zum Zunftverband und konnten also ungehindert von jedem
Fremden ausgeubt werden. Die Zahl der Zunftmitglieder war
keine beschrankte, und die Bedingungen, unter welcben man
aufgenommen wurde, in der Regel leicht zu erfiillen. Daneben
schlugen die Stadte eine vollkommene FreihandelspoUtik ein
und suchten die Fremden durch mancherlei Begiinstigungen in
die niederlandischen Hafen zu locken. Anfangs theilweise znr
Hansa gehorend, geriethen sie nachher mit ihr in Feindschaft
Die materielle Kraft des Burgerstandes weckte das Selbstgefuli!
desselben, und er vertheidigte energisch seine Rechte dem Adel
gegeniiber, der noch immer roh blieb und die unter ihfl
stehende Landbevolkerung schlecht behandelte.
Am Schluss dieses Kapitels weist der Verfasser auf die
kolonisatorische Thatigkeit der Niederlande im Nordosten Deuteci-
lands (S. 191—194) hin.
Das dritte Kapitel beginnt mit dem hennegauischen Haase,
wobei Wilhelm III. besonders erwahnt wird (S. 200 — 206). Bei
dem Tode seines kinderlosen Nachfolgers musste die Frage ent-
schieden werden, ob Holland ein Mannslehen oder ein feudum
promiscuum sei. Griinde fur Beides zieht der Verfasser in Be-
trachtung. Nachdem Kaiser Ludwig sich fur Letzteres entschiedeo,
entsteht der Streit zwischen den Hoek'schen und Kabeljau'schen. Vor
dessen Behandlung schildert der Verf. die Zustande der damaligen
Gesellschaft. Neben bedeutenden Adelsgeschlechtern steht der
unbegiiterte Adel, stolz auf seine Vorrechte, und voll Verachtog
fur die Standesgenossen, die sich dem Biirgerthum anschliessen.
In den Stadten vertheidigen die alten regierenden Geschlechtersicli
gegen die ihnen an Zahl iiberlegenen neuen Burger, die Antheil
an der Regierung verlangen. So ist der Kampfl der jetzt ent-
steht, seinen Ursachen nach ein socialer. Veranlassung da^
geben nach dem Verfasser noch Margaretha und Willem, indfiffl
sie einige Adelsgeschlechter begiinstigen, andere verletzen (S. 210
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Wenzelburger, Geschichte der Niederlande. 323
•
— 220). Erorterungen iiber den Namen, Charakter und Zu-
sammenhang des Streites mit europaischen Fragen gibt der
Verfasser (S. 220—226).
Im dritten Buche (S. 245 — 403) wird zuerst die Geschichte
Flanderns und Brabants kurz dargestellt. Das Hauptmoment in
Flandern ist, wie in Holland, das Emporkommen der stadtischen
Macht. In Flandern aber wird diese bestritten von den Grafen,
was der Verfasser deren Verbindung mit Frankreich zuschreibt,
wo dieselben am Hofe eine Stiitze finden; auch gegenseitige
Handelseifersucht der reichen Stadte kommt den Grafen oft zu
Hiilfe. Flanderns Theilnahme unter Jacob van Artevelde an
deai lOOjahrigen engl.-franz. Kriege wird besonders hervor-
gehoben. Der Verfasser fuhrt an, dass die Stadte Frankreich
nicht nur abhold sein, sondern ihres Handels wegen auch mit
England in gutem Einvernehmen bleiben mussten. Zuletzt (S. 256
— 264) stellt der Verfasser die traurigen Folgen der Ochlokratie
fur Flandern und seine Stadte dar. Auch in Brabant ist Streit-
zwischen Adel und Stadten. Herzog Johann II. sucht dem Un-
heil abzuhelfen durch die Charta von Cortemberg (1312), die Grund-
lage der brabantischen Staatsverfassung. Nach seinem Tode
streiten in den Stadten die Burger gegen die oligarchischen
Begierungen. Seine Enkelin Johanna bringt durch ihre Be-
miihuDgen, Heirathen zu stiften, Brabant und Flandern in den Besitz
des burgunditchen Hauses und gibt diesem auch ein Anrecht
auf Hennegau und Holland,
Im dritten Kapitel wendet sich dann der Verfasser wieder
nach Holland, zu den Hoek'schen und Kabeljau'schen unter
Jacoba von Bajern. Was hier seine Arbeit giinstig von andern
Geschichten der Niederlande unterscheidet, ist die Betonung der
europaischen Interessen, die in dieser Periode mit der hollan-
dischen Geschichte verflochten sind. „Der englisch-franz. Krieg
erhalt seinen massgebenden Charakter durch die sich um Hol-
lands Schicksal drehende Politik, und fiir Deutschland gilt die
Lebensfrage, ob die Niederlande ein franzosisches Ausfallsthor
gegen das morsche Deutsche Reich werden sollen." Feindlich
treten gegen Jacoba auf ihr Oheim Johann von Baiern, zu dem
sich die Kabeljau'schen schlagen, und Kaiser Sigismund, der ihr
die Belehnung vorenthalt Die junge Grafin muss den Kiirzeren
Ziehen, weil ihr schwacher Mann, Johann IV. von Brabant, ihr
fast gar nicht zur Seite steht; dabei werden auch noch ernste
Beschwerden gegen ihre Heirath erhoben. Ein anderer Haupt-
spieler ist Philipp von Burgund, der sich mit eigenniitzigen
Absichten zum Vermittler 'aufwirft. Fortwahrende Krankungen
am brabantischen Hofe zwingen Jacoba, sich zu ihren treuen
Hennegauern zu begeben; in Holland werden ihre Anhanger
verfolgt, in Brabant siegt die Demokratie und todtet Jacoba's
Feinde; sie selbst aber hat ihre Ehe mit dem Brabanter fiir
ungultig erklart und sich nach England begeben (S. 275 — 299).
Das vierte Kapitel zeigt uns erst Jacoba's Walten in England
21*
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324 Wenzelburger, Geachichto der Niederlande.
•
und fiihrt Humphrey von Glocester ein, dem Philipp von Burgund
energisch entgegentritt. Der machtige Burgunder benutzt seinen
Einflus8 beim papstlichen Stuhle und besonders in der englischen
Politik, um erst Jacoba's Vermahlung mit Humphrey zu hinter-
treiben, und, als diese doch 1422 stattfindet, zu verhindern,
dass Humphrey von Staatswegen in England gegen Jacoba's
Feinde unterstiitzt wird. Johann von Baiern aber zeigt sich
dem Burgunder dankbar, indem er ihn zu seinem Erben ernennt,
und stirbt vergiftet. Jacoba's Unschuld an seinem Tode ist dem
Verfasser unzweifelhaft ; den grdssten Vortheil davon hat Philipp
von Burgund, der auch den mit Jacoba nach Hennegau ge-
kommenen Humphrey durch Waffengewalt und Unterhandlungen
dazu bringt, nach England zuriickzukehren, wahrend die Hoek-
schen sich erheben und Schoonhoven nehmen (Episode von
Albrecht Beiling S. 310 — 311). Humphrey stellt sich nicht zum
Zweikampf, den er Philipp geboten, und opfert Jacoba met
neuen Geliebten und der englischen Politik : nachher erklart der
Papst ihre Ehe mit Humphrey fur eine unerlaubte. Die un-
gliickliche Fiirstin iibergibt dann Mons, rettet sich aber nach
Holland, wo sie sich, mit wahrem Heldenmuthe durch die Hoek-
schen unterstiitzt, bis 1428 gegen des Burgunders Uebermacht
vertheidigt. Die Nachricht von Humphrey's Heirath mit Eleonore
Cobham bricht ihre Widerstandskraft (S. 311—329).
Die Fehler Jacoba's hebt der Verfasser hervor, ohne aber
die ungliickliche Fiirstin zu schmahen, wie Bilderdyk seiner Zeit
gethan. Die ausgezeichnete Monographic Loher's „ Jacoba tod
Baiern u. ihre Zeitu hat er selbstverstandlich zu der ausfiihi-
lichen Darstellung ihrer Geschichte nicht unbenutzt gelassea.
doch auch Fruin und andere Geschichtskenner beachtet.
Im funften Kapitel (S. 329—378) wird die burgundiscke
Herrschaft in den Niederlanden behandelt. Ausser den gewohn-
lich erwahnten Thatsachen bespricht der Verfasser PhiKpps
Verwickelungen mit dem Kaiser Sigismund und den Englandem
nach Bedford's Tode, die Demuthigung der flandrischen StadW
(S. 349 — 355) und sein Streben nach der Konigskrone. Bei
Erwahnung Karl's des Kuhnen bezeichnet er als die Urheber
seiner Schweizerkriege die Schweizer selbst. Bei rinem be-
strittenen Ereignisse aus Maria's Regierung, dem Tode ihrer
Rathe Hugonet und d'Imbercourt, folgt der Verfasser * der neueren
Darstellung, nach welcher Maria erst versprach, sich heimlid
mit ihnen nach dem franzosischen Hofe zu begeben, nachher
aber ihr Vorhaben bereute, und, nach Verhaftung obengenannter
Manner, selbst einen Gerichtshof ernannte, den sie aber mr
Milde gegen ihre friiheren lUlthe zu stimmen suchte. Anziehed
ist noch die Schilderung des Culturlebens wahrend dieser Hen*
schaft, die Rolle des Adels und des Klerus (S. 354—365) nd
die Stellung der Gemeinden, die dem Streben nach absolnttf
Macht der machtigen Burgunder entgegentreten konnten. U»
sie in ein grosseres AbhangigkeitsverhEltniss zu bringen, wt&*
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Wenzelburger, Geschichte der Niedorlande. 325
eine Umgestaltung des Bestehenden auf jilristischem und finan-
ziellem Gebiet erstrebt. Das alte germanische Rechtsprincip,
class e8 keinen Richter gibt, wo kein Klager ist, weicht dem
auf dem Romischen Rechte beruhenden inquisitorischen Verfahren,
welches friiher schonbeiden„stillenWahrheiten"(S. 163 — 164)
yersucht war. So entsteht ein besonderer rich terlicher Stand und bald
ein graflicher Gerichtshof, zuerst in Flandern, der als hochste Instanz
gilt. Philipp derGute errichtet 1455 den grossenRath, die
hochste Behorde im gesammten burgundischen Reiche, und ver-
bindet damit auch den Zweck, den Citationen seiner Unter-
thanen vor das Pariser Parlament ein Ende zu machen. Karl
der Kiihne ga.}> ihm einen festen Sitz in Mecheln ; sein Tod war
auch das Ende des Rathes. Die Rechnungskammeru sollen
Einheit ins Finanzwesen bringen (S. 366 — 374).
Das sechste Kapitel, die Herrschaft des Hauses Oesterreich
bis 1515, fangt an mit der ersten Regentschaft Maximilian's.
Dieselbe wird erschwert durch die Franzosen, die Flamander
und den neu entbrannten Streit der Hoek'schen und Kabeljau'-
schen. Dass die Flamander sich gegen Max mit den friiher
immer feindlichen Franzosen verbinden, schreibt der Verfasser
dem gliihenden Hasse gegen das burgundische Haus zu, als dessen
Rechtsnachfolger Max betrachtet wird, und ihrem Streben nach
Trennung von den walschen Theilen, durch deren Verbindung
mit Frankreich. Um gegen das meuterische Flandern die Hande
frei zu haben, schliesst Max mit Ludwig XL den Frieden von
Atrecht (Utrecht im Texte ist wohl ein Druckfehler). Das wich-
tigste Ereigniss, Maximilian's Gefangennahme in, Brugge und
deren Folgen, erzahlt der Verfasser (S. 383—389).
Von Philipp dem Schonen erwahnt er besonders den grossen
Handelsvertrag mit England und die Folgen seiner Heirath.
Uebrigens waren damals die Niederlande ruhig, wozu Maximilian's
zweite Regentschaft wieder einen Contrast bildet (S. 389 — 396). Der
Zustand des Landes unter den ersten osterreichischen Fiirsten
unterscheidet ^ich von demjenigen unter den Burgundern durch
eine auffallende Abnahme des Wohlstandes in Folge der vielen
Fehden. Den besten Beleg dafiir geben die Vermdgens-EnquSten,
welche behufs der Besteuerung 1494 und 1514 gehalten werden.
Auch hatte die Centralgewalt unter diesen Fiirsten viel gelitten.
Das vierte Brch beginnt mit der Gelderschen Geschichte,
welche dem Vorbericht zufolge der Verfasser ausfiihrlicher als
gewohnlich behandelt. Besonders ist dies der Fall mit Reinald L
und II. (S. 410 — 418) und der Geschichte des Streites zwischen
Heckerens und Bronkhorsten (S. 420 — 436). Der Tod des jungen
Herzogs Eduard wird einem fanatischen Heckeren zugeschrieben,
wahrend der Parteistreit selbst mit dem engl.-franz. Kriege in
Verbindung gebracht w^rd. Als Hauptcharakter jenes Kampfes
nennt der Verfasser den Streit um den Machtbesitz zwischen
zwei verschiedenen Adelsparteien. Erst bei dem kinderlosen
Tode des dritten Reinald bekommen die Heckerens Wahlverwandt-
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326 Wenzelburger, Geachichte der Nioderlande.
schaft mit den Hoekschen, da sie gegen Julich die Rechte
Mathildens, der alteren Schwester Reinald's, vertheidigen. Wie
aber die Bronkhorsteu auf diplomatischem und Kriegsgebiet
siegreich bleiben, erzahlt der Verfasser (S. 438—443). Unter
dem Jiilich'schen Hause wird besonders erwahnt der Streit
Herzog Willem's mitj Brabant und Fraukreich (S. 443—452),
Reinald's IV. Auftreten in den Arkd'scnon Kriegen (S. 455—459)
und die 1418 gebaltene Standeversammlung , der es Arnold
von Egmond zu danken hatte, dass er Geldern nach dem kinder-
losen Tode Reinald's erbielt. Am Ende des Kapitels bespricht
der Verfasser die Bannereien.
Acbtung vor dem letzten Willen Reinald's, Furcht vor
Fehden und Rucksicht auf die eigne Macht brachten die Stande
dazu, das Haus Egmond zu wahlen. Kaiser Sigismund nimmt
Arnold's Geschenke an, gibt aber Geldern dem Herzog von Juliet
und Berg, der ihn durch noch reichere Geschenke gewonnen
hat. So wird der junge Herzog von Geldern in eineu Streit
mit Julich, dazu noch mit Utrecht und nachher. mit seinen
eigenen Stadten wegen Schulden und PrivilegienverletzungeD
verwickelt. Arnold's Sohn Adolf und seine Mutter Katharina
stehen an der Spitze der Unzufriedenen , welche Philipp von
Burgund noch aufwiegelt (S. 464 — 479). Karl von Burgund da-
gegen ist der Bewegung zuwider, nimmt Adolf gefangen und
lasst sich zuletzt Geldern verpfanden; jetzt werden die Stadte
zur Unterwerfung gezwungen uod ihre Rechte missachtet. Hire
Hoffnung, nach Karl's Tode Adolf als Herzog zu sehen, verstelt
dessen Ende, doch sein Sohn Karl, aus franzosischer Haft befitit,
macht den Habsburgern Geldern streitig (S. 479 — 492).
Das vierte Kapitel behandelt dessen merkwiirdige Regierung,
es schildert zuerst die diistere Zukunft Gelderns bei seineni
Regierungsantritt und die Nothwendigkeit fur den EgmoiwH
fremde Hiilfe zu suchen, welche er in Fraukreich findet. Ke
Schwierigkeiten betreffen seinen Streit mit Maximilian und desseo
Verbundeten und mit seinen eignen Unterthanen (S. 493—501)
Bald darauf macht ihm Philipp der Schone Geldern streitig.
mit diesem schliesst Karl denRozendalerVertrag, den erjedocher*
muthigt durch die Unterstiitzung Konig Ludwig's XII., nich t halt; naci
Philipp's friihem Tode ergreift er sogar die Offensive, und, <li
die andern niederlandischen Staaten Unterstiitzung gegen Gel-
dern verweigern, „weil der Geldersche Krieg sie nichts angehe.
und eine Angelegenheit sei, welche allein das Haus Burgflfld
betreffe," wird Karl von Geldern in den Frieden von Kameryfe
mit einbegriffen (S. 501 — 511). Auch diesen halt er nicht, be-
droht Utrecht und wird endlich durch Maximilian als Herzog
anerkannt (S. 511—520).
Die weiteren Ergebnisse aus Karl's Regienmg fiihren u®
nach Friesland und Groningen, deren Geschichte der Verfasser
dann behandelt. Das friesische Mittelalter zeugt von dem Frei-
heitssinn dieses Volkes, wozu der Streit, den es mit den Wogw
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Wenzelburger, Geschiclite dor Niedorlande. 327
fuhrte, noch beitrug ; es bekundet aber auch, dass seine Freiheit
zahlreiche innere Unruhen nicht ausschloss. Diese concentriren
sich nachher urn die Parteinahmen „Schieringer" und „Vetkooperu.
Die letzte Ursacbe ibres Streites sucht der Verfasser in der
gegenseitigen Eifersucht verschiedener Geschlechter und behan-
delt dessen Hauptmomente bis zum Ende des 15. Jahrhunderts
(S. 525 — 532). In dieser Zeit weiss Maximilian's Feldherr Albrecht
von Sachsen sich Frieslands zn bemachtigen; Groningen wider-
steht ihm und seinem Sohne Gteorg und ergibt sich zuletzt dem
Grafen Edzard von Ost-Friesland, der gegen den macht igeu
sachsischen Herzog sich an Karl von Geldern wendet. Dieser
macht sich mit grosser Vorsicht und nicht ohne Treulosigkeit
selbst zum Herm yon Groningen, und strebt dann nach der Er-
werbung Frieslands; Georg verzweifelt an der Moglichkeit,
ihin daseelbe zu entringen und verzichtet auf dieses Land zu
Gunsten Karl's von Habsburg. Es dauert aber noch ein Jahr-
zehnt, ehe dieser, dann Kaiser geworden, Friesland den Gelder-
schen entreissen kann, die schnell nach einander Groningen und
auch das Oberstift an ihn verlieren. Wie bei diesen Ereignissen
Herzog Karl, stets mit Frankreich verbunden, seine Sache in
den Niederlanden zu fordern sucht, wie er die Wirren in Utrecht
zu seinen Zwecken benutzen will, doch zuletzt mit dem Kaiser
1528 in Gorinchem Frieden schliessen muss, erortert der
Verfasser vorziiglich (S. 541—563).
Der letzte Theil des Kapitels behandelt die weitere Ge-
schichte Gelderns bis zu dessen Unterwerfung unter Karl V. Be-
sonders lasst der Verfasser den Hass des Geldrischen Herzogs
gegen Oesterreich, der ihn an Frankreich kettete, hervortreten.
S. 570 — 572 gibt er eine Skizze seines Characters und wirft
ihm, mit Anerkennung seiner grossen intellektuellen Vorziige,
Treulosigkeit, Intoleranz und Herrschsucht vor. Er ist aber der
Ansicht, dass seine Regierung fur die folgende Zeit gute Fruchte
getragen hat. Wilhelm von Jiilich, durch die Stande als Karl's
Nachfolger anerkannt, muss sein neues Land schon 1543 dem
Kaiser abtreten*
Das funfte Buch (S. 581 — 645) vertheilt der Verfasser in zwei
Kapitel, das erste die politische Geschichte des Stiftes Utrecht, das
zweite die kirchlichen Verhaltnisse betreffend. Im ersten gibt er die
Ursachen der Vergrosserung des weltlichenGebietes imStift an, worin
die bischofliche Macht aber beschrankt bleibt, wahrend trotz des
Wormser Concordats weltliche Elemente die Besetzung des Bischof-
stuhles beherrschen, bald die Patriziergeschlechter und die Stadte,
bald die benachbarten Fiirsten, besonders die von Holland und
Geldern. Aus der langen Namenreihe der Utrechter Bischofe
hebt er hervor: Johann Tan Arkel, Mehrer der bischoflichen
Macht und Gegner der Herrschaft Hollands iiber das Bis-
thum.
Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts iiben die Vorgange
in Holland grossen Einfluss auf das Stift aus. Lichtenberger
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328 Wenzelburger, Geschichte der Niederlande.
und Lockhorsten heissen hier die Parteien, erstere Hoek'sch,
die andere Kabeljau'sch gesinnt. Zur Zeit Jacoba's iat das yon
den Lichtenbergern beherrschte UtrechtJ die Stiitze ihres
Wider8tandes gegen Johann und Philipp , bis letzterer
die Wahl seines Bastardsohnes zum Bischof durchsetzt Vor
diesem werden noch behandelt Friedrich von Blankenheim und
Rudolf von Diepholt (S. 589—594). Wie David von Burgund
gegen den Hoek'schen Candidaten, Gysbrecht von Buderode, Bischof
wird und seinen Sitz durch fremde Hiilfe (Burgund, Max) be-
hauptet, erortert der Verfasser S. 594 — 599. Bei David riigt
er sein weltliches Leben und seine steten Handel, lobt aber
seinen Sinn fur Aufklarung und Wissenschaften. Die Macht
seiner Nachfolger wird stark durch Geldern beeintrachtigt : schon
der dritte, Heinrich von Baiern, sieht sich gezwungen, die welt-
liche Herrschaft dem Habsburger Karl abzutreten. Der Ver-
fasser behandelt dann die Macht des Kapitels, besonders des
Domkapitels und das Verhaltniss Utrechts zu Koln und Bonn
(S. 604—609).
Das zweite, sehr lesenswerthe Kapitel ist dem kirchlichen
Leben vor der Reformation gewidmet. In Anbetracht kommen
hier GeertGroote (Gerardus Magnus), erst reicher Kanoniker,
dann Ascet, ausgezeichnet im Predigeramt, wozu ihm aber die
Erlaubniss durch den Bischof von Utrecht entzogen wird. Nach-
her stiftet er mit dem Kanoniker Florens Radewynszoon
die Bruderschaft „des gemeinsamen Lebens". Sein Ideal dabei
ist Absonderung von der Welt, jedoch freiwillig und temporor
und mit Arbeit verbunden. So entstanden die Fraterhauser, lie
ihr Errichter den Monchen ein Aerger ; sie fanden einen Bait
an dem Windesheimer Kloster (S. 619—629). Ihre Wirksamkeit
und Einfluss werden gut vom Verfasser behandelt. Ihre fin-
richtung bringt ihn von selbst zu den andern Klostern, tod
welchen er kein schmeichelhaftes Bild entwirft, daneben aber
den tief religiosen Sinn des Volkes hervorhebt und Beispide
davon gibt Als Hauptgebrechenrdes Klerus bezeichnet er Geldgier
und Unzucht. Beispiele von beiden werden (S. 632 — 639) an-
gefuhrt. Reformatorische Thatigkeit entwickelt im Anfang des
12. Jahrhunderts ein Laie auf Walcheren, Tanchelm, nackher
Geert Grote, und in der Mitte des 15. Jahrhunderts ein einfacher
Burger, Epo von Haarlem, welch letzterer auf dogmatisches Ge-
biet trat, doch seine Meinungen widerriefc Dagegen ward ein
andrer Haretiker, Hermann van Ryswyk, verbrannt.
Im sechsten und letzten Buche (S. 647—817) werden die
Niederlande unter Karl V. behandelt. Dessen erstes Kapitel
enthalt die Hauptereignisse seiner Regierung und die sich daran
suaschliessenden Begebenheiten in den Niederlanden ; es umfesst
so theilweise die Weltgeschichte jener Zeit. Karl's Statt-
halterinnen in den Niederlanden, seine Tante Margaretha von
Oesterreich und nach 1530 seine Schwester Maria von Ungam,
ihatten einen schweren* Stand, besonders Letztere, der Christian A
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Wenzelburger, Geschichte der Niederlande. 329
von Danemark, und mehr noch Karl von Geldern, empfindliche
Verlegenheiten bereiteten. Von den Stadten that dies besonders
Gent. 1537 verweigerte dieses, fiir den Krieg mit Frankreich
eeinen Antheil an einer Summe von 400,000 Gulden zu bezahlen,
welche Flandern fiir seinen Theil beitragen musste. Den hieraus
entstandenen Aufruhr, worin die ziigellose Demokratie trium-
phirte und das sogenannte „Kalbsfellu (eine Verordnung Karl's,
um das Uebergewicht der Stadte in ihrem Gebiete aufzuheben)
zerriss, sowie auch die strenge Busse, welche der aufriihrerischen
Stadt aufgelegt wurde, beschreibt der Verfasser (S. 660—672).
Er meint, die Stadt sei bei der Geldweigerung in ihrem
Rechte gewesen, nach dem staatsrechtlichen Princip, dass bei
Geldbewilligungen jede Stadt und jedes Mitglied der Staaten-
versammlung nur durch eigne Abstimmung, keineswegs durch die
der Mehrheit gebunden war. Die Zerreissung des „Kalbsfellsu
sei aber eine Majestatsverletzung gewesen, welche Karl um so
mehr zu strafen geneigt war, als er nach einem centralisirenden
Despotismus im Geiste der Zeit strebte. Bei den Kriegen des
Kaisers mit Franz I. erwahnt der Verfasser besonders die grossen
Opfer der Niederlande und Maria's Thatigkeit.
Merkwiirdig ist noch die definitive Regelung des Vorhalt-
nisses der Niederlande zum Deutschen Reiche. Geldern und
das Stift Utrecht gehorten zum westfalischen, die andern Niederlande
zum burgundischen Kreise, doch gegen die Ansichten der Reichs-
atande weigerten sie sich, zu den Reichslasten beizutragen. Bei
einer derartigen Weigerung Utrechts wandten sich die Reichs-
stande an den Kaiser, dessen landesherrliche Interessen es ihm
aber rathlich machten, sich seine Einkunfte aus den Nieder-
landen nicht schmalern zu lassen. Vigluis von Aytta wusste
als Bevollmachtigter einige Jahre einen definitiven Beschluss
iiber die Frage, ob die Niederlande dem Reiche gegeniiber Ver-
pflichtungen hatten oder nicht, hinzuhalten, und erst 1548
wurde das beiderseitige Verhaltniss durch Beschluss des Kaisers
festgestellt. Ihm zufolge standen die Niederlande unter dem
Schutze des Kaisers und des h. r. Reiches, vorbehaltlich
ihrer Privilegien und Freiheiten, und mussten zwei-
mal so viel an Geld und Mannschaften leisten als ein Kurfiirst,
zu. einem Tiirkenkriege aber dreimal so viel. Holland zeigte
sich Anfangs sehr widerspanstig gegen diesen Vertrag. Er lasst
die verschiedenartigste Deutung zu, und diese Dehnbarkeit der
Interpretation lag, nach des Verfassers Meinung, hochst wahr-
scheinlich im Sinne des Kaisers selbst.
Fiir die Interessen seines Hauses sorgte dieser, indem er seinem
Sohne den vollstandigen Besitz der Niederlande sicherte, vermittels
der pragmatischen Sanction, welche 1549 durch die Staatenversamm-
luBg genehmigt wurde. Diesem Sohne wollte er auch die kaiser-
liche Gewalt zuwenden ; iiber die Unterhandlungen, welche zu diesem
Zwecke vergebens mit Ferdinand und dessen Sohne Max gefuhrt
wurden, gibt der Verfasser (S. 686 — 688) Aufklarung. Bald darauf
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■jU
330 Wenzelburger, Geschichte der Niaderlande.
lenkten der Aufstand des Kurfiirsten Moritz von Sachsen mid
dessen Biindniss mit Frankreich des Kaisers Gedanken in andere
Bahnen. Ob in den Folgen dieses fur seine Plane so verhang-
nissvollen Ereignisses eine Hauptursache seiner Abdankung ge-
sucht wcrden muss, bezweifelt der Verfasser, weil Karl schon
vor 1549 sich mit einem solchen Plane getragen babe,
wozu der massgebende Grund seine Gesundheit war: diese unter-
grub er selbst durch unmassiges Essen und Trinken. Wider-
stand bei den niederlandischen Provinzen konnte sein Plan nach
der pragmatischen Sanction nicht finden : nur weigerten einzelne,
ihre Deputirten dem Abdankungsakte beiwohnen zu lassen, weil
Philipp verpfliehtet sei, selbst in die Provinzen zu kommen, urn
den Huldiguhgseid entgegen zu nehmen. Ein Versuch, sich mit
seinem Bruder Ferdinand vor der Abdankung zu versohnen,
scheiterte. Die Feierlichkeit selbst wird beschrieben S. 698—703.
Anch seine Schwester Maria legte ihre Wurde, welche sie glan-
zend erfiillt, nieder. Geldnoth bielt den Kaiser noch eine Zeit
lang in den Nioderlanden zuriick, wo er dann auch die anderen
Staaten seinem Sohne abtrat, zuletzt die Grafschaft Burgund,
um gegen diese Feindseligkeiten seitens Frankreich zu vermeideu.
Von seinem Aufenthalte im Kloster wird bemerkt, dass er kein
der Welt und deren Ereignissen ganz entfremdotes Leben fuhrte.
Die Frage, ob er noch bei Lebzeiten sein LeichenbegangBiss
habe feiern lassen, wird nicht beriihrt. Nach seinem Tode er-
kliirte sich Maria, seinen Bemiihungen wahrend des letzten Lebens-
jahres entsprechend, zur Uebernahme der Regentschaft in den
Niederlanden bereit, starb aber bald darauf.
Die Reformatoren und Wiedertaufer fiillen das ganze folgende
Kapitel; gewohnlich werden beide nicht sehr weitlaufig besprochen,
so dass auch in dieser Hinsicht das Werk Dr. Wenzelburgers
eine wesentliche Verbesserung ist. Die ersten Anfange der Bo-
formation sind mit Sorgfalt bearbeitet. Dabei wird auch srf
den Charakter der ersten Anhanger derselben gewiesen; wohl
tragen sie gewohnlich den Namen „Luytrianer" in Wirklichkeit
waren sie aber mehr Zwinglianer, daher spater mehr der Ge-
branch des Wortes „Sacramentarissenu, und zur Zeit der Wieder-
taufer „Evangelischen". Durch Erasmus leistet die Renaissance,
besonders in den Niederlanden, der Reformation Vorschub. Dessen
Leben wird erzahlt S. 714 — 721. Bei dem Einfluss der Huma-
nisten' waren die unter dem Volke verbreiteten Biicher zu er-
wahnen. Die ersten Humanisten bleiben aber der bestehenden
•Kirche treu; erst spatere (Heinrich von Ziitphen, Canirivus)
erheben sich gegen einzelne Religionslehren. Besonders Ant-
werpen ubt in diesem Sinne Einfluss aus. Anfangs bleibt die
Regierung unthatig; seit den zwanziger Jahren aber schreiten
Karl V. nnd Karl von Geldern durch scharfe Plakate ein. AIs
Ketzerrichter fimgirt Frangois van der Hulst, delegirt vom Kaiser,
der fiir sich die Inquisition in Anspruch nimmt, nm den Klerus
zu verhindern, in das Gebiet der weltlichen Gericbtsbarkeit
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Wenzelburger, Geschichte der Niederlandc. 331
hinein zu greifen, und ihm die confiscirten Giiter der Ver-
urtheilten zu entziehen; auch benimmt er dadurch Eberhard
von der Mark, Bischof von Liittich und Bundesgenosse des fran-
zosischen Konigs, die Moglichkeit, Generalinquisitor zu werden.
Die Macht des Inquisitors beschrankt Karl durch die Vcrfugung,
dass jener ohne den Rath und die Genehmigung des Priisidenten
des grossen kaiserlichen Rathes von Mecheln wedor ein Urtheil
sprechen, noch Gnade verleihen diirfe. In der Ausiibung seines
Amtes findet er viel "Widerstand bei den Geistlichen und Stadt-
magistraten, wovon der Verfasser S. 735 — 741 die Grunde an-
gibt; ferner tragt van der Hulst durch sein Betragen selbst
zuni Misslingen bei und muss abgesetzt werden (S. 741 — 744).
Jetzt werden drei geistliche Inquisitoren ernannt, und der Ver-
fasser theilt S. 744 — 747 die Griinde dieses Umschlags in Karls
Gesinnung mit. Nach seiner Meinung wird Karl von Geldern
durch seinen despotischen Charakter und Eigennutz zur Ver-
folgung getrieben. Die Schicksale der Reformatoren werden
S.- 752—762 irzahlt.
Wahrend wegen der Strenge der Regierung die Reformatoren
sich der Oeffentlichkeit entziehen, treten im Gegentheile die
Wiedertaufer offen hervor. Besonders in Amsterdam treten
sie auf. Zwischen dieser Stadt und Minister besteht eine
Wechselwirkung. Auch hier treten sie aggressiv auf, und selbst
die Nacktlaufer zeigen sich (S. 766 — 778). Am bekanntesten ist
ibr Anschlag auf Amsterdam (S. 778—780), nach welchem die
Wiedertauferei grausam verfolgt wird. Dieses und der
Fall Ministers leitet die Sekte in andere friedlichero
Bahnen.
Zum Schluss des Kapitels behandelt der Verfasser die wich-
tige Frage, ob der Kaiser als Landesherr befugt war, ohne
Zustimmung der Stande jene Plakate zu erlassen. Er bejaht
diese Frage, da es sich hier urn ein Majestatsverbrechen kirchlich-
religioser Natur der weltlichen Gewalt gegeniiber handelte. Darum
sei auch die Gesetzmassigkeit der Plakate nicht angefochten
worden. Nur bei ihrer Ausfiihrung konnte das Privilegium „de
non evocando" angerufen werden.
Die innere Verwaltung und der Zustand der Bevolkerung
beschaftigen den Verfasser im dritten Kapitel (S. 790 — 814).
Beachtenswerth sind hier seine Bemerkungen iiber Karl's Willkur
bei der Besteuerung, die das Recht der Unterthanen, ohne ihren
"Willen nicht besteuert werden zu konnen, nur dem Namen nach
bestehen liess, seine Auseinandersetzung von Karl's Streben nach
Centralisation in der Regierung und Vermehrung seiner Macht-
befugnisse durch die Reorganisation der Gerichtshofe, die Auf-
hebung der Immunitat des Adels und der Geistlichkeit. Zuletzt
betrachtet er Karl in seinem wirthschfrftlichen Streben, und
endet den ersten Band seines Werkes mit der Beschreibung des
Wohlstandes in den Niederlanden wahrend dieser Regierung.
Seine Geschichte ist in den Niederlanden gut aufgenommen
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332 Programmenschau 1878.
worden und hat das Vertrauen wach gerufen, dass der Verfasser
durch die Fortsetzung seiner Arbeit die gunstige Meinung, welche
man von ihm hegt, bestatigen werde.
Maastricht. M. Riitten.
IX.
Programmenschau 1878.
Neue Zeit.
1) Realgymnasium zu Eisenach. Osternl878.
Eberhardv. cLThann. Von Professor Dr. Schmidt.
E. v. d. Thann ist 1495 zu Vacha geboren ; er war 6 Jahre
lang Luthers Schiiler zu Wittenberg, besuchte aber ausserdem
noch andere Universitaten. 1527 ernannte ihn Johann der Be-
standige zum kursachsischen Rathe und 1528 zum Amtmann auf
der Wartburg. Er war mit Justus Menius befreundet, der 1529
der erste lutherische Superintendent in Eisenach wurde. Zu-
nachst hatten beide Manner viel mit den Wiedertaufern zu thun.
Spater wurde Thann Amtshauptmann zu Konigsberg in Franken
und 1545 Hofrichter und Gebeimer Rath.
Bei Gelegenheit des Interims kam er in Weiterungen mit
Menius wegen der Lehre von den guten Werken. Menius wurde
angeklagt, ein Anhanger Majors zu sein, wurde aber 1556 zu
Eisenach vollstandig freigesprochen. Ihm war jedoch der Aufent-
halt in Gotha so verleidet, dass er eine Stelle in Leipzig an-
nahm. Dieser majoristische Streit spann sich weiter ; namentlich
wurde Jena ein Mittelpunct der theologischen Zankereien, da
die dortigen Theologen im Interesse ihrer Dynastie gegen die
kursachsischen auftraten. Der Hauptzelot war Flaccius. Da
dieser zu intolerant wurde, trat unter den Jenenser Professoren
eine Spaltung ein, welche auch auf die Sohne Johann Friedrichs
einwirkte. Seit 1560 bekannten sich Johann Friedrich d. M.
und sein Kanzler Briick zu der Ansicht der gemassigten Pro-
fessoren und Johann Wilhelm und v. d. Thann zu der des Flao-
cius. Bei dieser Partei blieb er bis zu seinem im Jahre 1574
erfolgten Tode.
2) Realschule zu Weimar. Ostern 1878. Zu-
stande wahrend des 30jahr. Kriegs und unmittel-
bar nach demselben im alten Fiirstenthum Wei-
mar. Von Professor Dr. Kius.
Sieben Prinzen des weimarschen Fiirstenhauses waren auf
protestantischer Seite lebhafb am Kriege betheiligt und ihnen
gelang es im ersten Decennium des Krieges, das Land vor Aus-
plunderung zu bewahren, wie denn auch die Stadt Weimar wah-
rend des ganzen Krieges nioht eingeaschert und gepliindert ist.
Seit 1636 beginnen fur die Thiiringerlande die furchtbaxen
Zeiten , seitdem die Fiirsten dem Prager Frieden * beigetreten
waren. Der Verfasser belegt die Abnahme der Bevolkerung und
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Programmenschau 1878. 333
des bebauten Ackerlandes mit Zahlen, die er den amtlichen
Registern entnommen hat ; doch bemerkt er dabei, dass in diesem
Landchen durch den Krieg kein Dorf ganzlich vom Erdboden
vertilgt worden ist.
3) Lu is e ns tad tische 8 Gymnasium zu Berlin. Ostern
1878. Des Mansfelders Tod. Ein kritischer Bei-
trag zur Geschichte des dreissigjahrigen Krie-
ges. Von Dr. Ernst Fischer.
Der Verfasser untersucht zum erstenmale die Berichte iiber
den Tod des Mansfelders und widerlegt an der Hand der
Quellen die landlaufigen Darstellungen desselben. Er weist
nach, dass derselbe zu Ratona, wohl dem heutigen Rakowitza
foei Serajewo in Bosnien im November 1626 gestorben sei. Dort
hat er kurz vor seinem Tode am 19./29. November ein Testament
in ftanzosischer Sprache und zwar in aller Eile gemacht, da er
schon das Nahen des Todes spiirte. Er war dahin gekommen
in stattlioher Begleitung von 60 Getahrten. Die Bestimmungen
des Testamentes zeigen uns Mansfeld durchaus nicht als einen
xeuigen Sunder, der seiner Gewissensbisse wegen sich zum
Katholicismus bekehrt hat. Sein Christenthum bekennt er zwar
in dem Schriftstucke und damit fallt die Nachricht, dass er als
Muhamedaner gestorben sei, doch kann man seinen confessionellen
Standpunct aus den Worten nicht klar stellen. Drei Gedanken
treten deutlich hervor: er wiinscht ferneren Kampf gegen das
habsburgisch-papistische System, er zeigt eine zarte Fursorge
fur seine Eriegsgenossen und wiinscht, dass seine eigene Ehre
bis ins Kleinste aufrecht erhalten werde. Die Arbeit enthalt
somit eine Rettung und Reinigung des grossen Grafen, aber geht
dabei nicht von subjectivem Meinen und Wahnen aus, sondern
beruht auf guten Studien und eingehender Kritik.
4) Gymnasium zu Neustettin. Ostern 1878.
Beitrage zur pommerschen Geschichte vom
Director Dr. Fl. Lehman. ♦
Es wird nach den Acten iiber den Einfall der Schweden
in Pommern im J. 1627 und iiber den der Danen im J. 1628
berichtet. Wir ersehen aus den Angaben, wie elend es mit der
Rriegsmacht Herzog Bogislaws XIV. und mit dem standischen
Aufgebot bestellt war, und erfahren das Bekannte von den Pliin-
derungen der Soldateska.
5) Realschule zu Offenbach am Main. Ostern
1878. Tilly, ein Charakterbild aus den Zeiten
des 30jahr. Krieges von H. Maul.
Die Arbeit giebt eine Uebersicht iiber das Leben und die
Thaten Tilly's nach den bedeutenderen Schriften, welche iene
Epoche behandeln. Der Verfasser benutzt keine gleichzeitigen
Quellen, sondern nur secundare Schriften, und auch diese ohne
eigentlich Kritik zu iiben.
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334 Programmenachau 1878.
6) Realschule zu Duisburg a. Rh. Ostern 1878.
Elsass im Jahre 1648. Ein Beitrag zur Terri-
torialgeschichte, VomOberlehrerDr. Kirchner.
Die Arbeit enthalt Bausteine und bedarf noch der Aus-
fuhrung. In der Einleitung bespricht der Verfasser die Con-
struction einer Charte, welche jedoch der Abhandlung nicht
beigegeben ist*), dann giebt er die Quellen an, darauf die Grenzen
und die Eintheilung des Elsass im J. 1648. Es folgt eine kurze,
fragmentarische Geschichte des Landes von diesem Jahre und
dann eine Aufzahlung der Territorien und Ortschaften in be-
sagter Zeit.
7) Gymnasium zu Konigshutte. Ostern 1878.
UeberdieTheilnahme brandenburgischerTrup-
pen an der Fahrt Wilhelms von Oranien nach
England. Vom Director Dr. Brock.
Die Abhandlung beginnt mit einer kurzen historischen Dar-
stellung der Zeitverhaltnisse von 1688, welche nach den be-
kannten Quellen bearbeitet ist. Dann wird nachgewiesen, wie
die Berichte iiber die Thatigkeit der brandenburgischen Truppen
in dem Kriege von 1688 — 97 sehr sparlich fliessen und wie
namentlich die iiber die Theilnahme derselben an der Expedition
nach England sehr ungenau sind. Die Nachrichten werden zu-
sammengestellt und genau untersucht. Daraus ergiebt sich, dass
allerdings Brandenburger an der Boyne mitgefochten haben, dass
aber der grosste Theil des Hulfscorps in Holland verwendet
worden ist.
8) Gymnasium zu Ratibor. Ostern 1878. Zur
Geschichte der politischen Theorien in der
zweiten Half te des si ebzehnten Jahrhun derts.
Von Dr. Paul Schone, Oberlehrer.
Die Einleitung charakterisirt in grossen Ziigen die Kampfe
und Wirren, welche den Zustand des Reiches im J, 1648 be-
dingten. Der Verfasser meint, dass in dieser Zeit der Patrio-
tismuB im. Reiche nicht ganz erstorben war, man war vielmehr
in den biirgerlichen Kreisen unzweifelhaft deutsch und reichs-
patriotisch gesinnt. Das bezeugen zahlreiche Flugschriften, wie
das Buch des Philipp Boguslaus Chemnitz, das 1640 unter dem
Namen des Hippolithus a Lapide erschien. Der Verfasser be-
nutzt bei der Besprechung die Arbeit Webers im zweiten Hefte
der historischen Zeitschrift von 1878. Durch dieses Buch ist
Pufendorf herausgefordert worden. Ausserdem hebt der Ver-
fasser noch zwei andere Bucher hervor: Christophori Forstneri
epistola sive judicium de moderno Imperii statiL Montpelgardi
1670 und Tractatus juris publici de vera et varia ratione status Ger-
maniaemodernae. Autore JoLWolfgango Textore. Altdorfi a. 1667.
Besonders eingehend wird Pufendorf behandelt^ dessen Gegner
auch charakterisirt werden.
*) Sie ist sp&ter nachgofolgt S. Heft 3, S. 269. (d. Red.)
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Dobel, Memmingen im Reformationszeitalter. 335
9) RealBchule in Frankenberg in Sachsen. 1878.
Zur Geschichte des Handwerks der Lein- and
Zeugweber in Frankenberg von Dr. Alfred Mat-
tig-Sammler, Realschuldirector.
Im J. 1357 gaben die Meissner Markgrafen Friedrich und
Balthasar mebreren Biirgern die Erlaubniss, in Chemnitz eine
Bleiche einzurichten , auf der alle Stadte im Umkreis von
10 Meilen bleichen mussten. So lange dieser Bleichzwang be-
stand, kam die Handelsweberei der Stadte nicht in Aufschwung,
erst urn die Mitte des 15. Jahrhunderts loste sich dieser Zwang
und nun erhob sich auch in Frankenberg das Gewerbe der
Weber. Der Schriftsteller entwirft dann anf Grund der alten
Innungsordnungen ein lebendiges Culturbiid, in welchem er die
Laufbahn eines armen Jungen schildert, der vom Weberlehrling
sich bis zum wohlhabenden Meister hindurcharbeitet.
Berlin. Foss.
X.
Dobel, Friedrich, Memmingen im Reformationszeitalter nach
handschriftlichenundgleichzeitigenQuellen. 5 Theile. gr. 8. (84;
87 ; 80 ; 107 u. 60 S.) Augsburg 1877—78. Lampart & Co. 8 M.
Unter den Stadten Siiddeutschlands, welche friihzeitig for-
dernd fiir das Reformationswerk eingetreten sind, nimmt Mem-
mingen einen nicht unbedeutenden Platz ein. Es geniesst dabei
noch den Vorzug, dass es seine Geschichte zum Theil auf ein
umfassendes Urkunden-Material stiitzen kann. Dieses ist friiher
wohl schon mehrfach und meist im Dienste sehr entgegengesetzter
Parteitendenzen benutzt worden; eine objective Darstellung der
einschlagenden Episode auf der alleinigen Grundlage der Quellen
war bisher noch nicht ermoglicht worden. Der Verfasser hat
in loblicher Weise den Grundsatz in den Vordergrund gestellt,
„sein eigenes Urtheil so wenig als moglich hervortreten, vielmehr
die Urkunden und Akten aus jener Zeit durch wortliche oder
auszugsweise Mittheilung selbst reden zu lassen;u er hat ihn
auch bewahrt und thatsachlich eine personliche Zuriickhaltung
bewiesen, die an manchen Stellen als zu streng erscheint. —
Der Verfasser hat seine Arbeit in 5 Abtheilungen zerlegt.
1) Chr. Schappeler, der erste Reformator von Memmingen.
2) Das Reformationswerk zu Memmingen unter dem Drucke
des schwabischen Bundes. 3) Hans Ehinger als Abgeordneter
von Memmingen auf dem Reichstage zu Speier und Abgeordneter
der protestirenden Stande an Kaiser Carl V. 1529. 4) Hans
Ehinger als Abgeordneter von Memmingen auf dem Reichstage
zu Augsburg 1530. 5) Das Reformationswerk zu Memmingen
von dessen Eintritt in den Schmalkaldischen Bund bis zum
Niirnberger Religionsfrieden 1531 — 32.
Die erste Abtheilung sowie die vierte enthalten unbedingt
die wichtigsten und werthvollsten Beitrage, welche auch fur die
allgemeine Geschichte der grossen geistigen Bewegung von nicht
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336 Dobel, Memmingen im Reformaticmszeitalter.
zu unterschatzender Bedeutung sind. In jenem ist es vor Allem
die Bauernbewegung, welche unser Interesse in besonderem Masse
erweckt: einmal, weil sie im Memminger Stadtgebiet einen Yer-
lauf nimmt, welcher durch seine Ruhe nnd Gesetzlichkeit in
starkem Contrast zn den Erscheinnngen an anderen Orten steht,
sodann, weil dieser befriedigende Verlauf dem Einfloss des Mannes
zu verdanken war, der durch die Abfassung der Bauernartikel
die drohende Revolution in legale Bahnen lenkte, namlich
Christoph Schappelers. Es ist durch den Verfasser sehr wahr-
scheinlich gemacht, dass wir in jenem geistvollen and gewandten
Prediger allerdings den Verfasser der 12 Artikel besitzen. —
Die zweite Abtheilung zeigt nur das Verhalten des schwabischen
Bundes gegeniiber den Reformbestrebungen im Bundesgebieta
Gerade an dem Verhalten desselben gegen Memmingen offenhart
sich die riicksichtslose Gewalt, mit welcher der Bund gegen aHe
Neuerungsversuche auf dem religiosen wie socialen Gebiete ver-
ging. Das muthige Verhalten der stadtischen Obrigkeit in Yer-
bindung mit der besonnenen Biirgerschaft ermoglichte es, dennoch
bei der neuen Lehre zu bleiben und damit sich einen Vorzng
zu sichern, den in jener wildbewegten Zeit zu erhalten nicht
viele Stadtgemeinden im Stande waren. Es ist dabei besondera
zu betonen, dass Memmingen dem Ausgangspunkte des Banern-
aufstandes sehr nahe lag und, fast nur auf sich angewiesen,
ohne Schutz gegen Uebermacht und Gewalt fast allein in sich
die Mittel fand, der drohenden Vernichtung einer glucklicben
reichsstadtischen Existenz zu entgehen.
Der dritte Theil enthalt zunachst eine kurze Biographic des
Mannes, welcher Memmingen auf dem Reichstage zu Speier 1529
zu vertreten abgeordnet war, des Hans Ehinger. Er hatte sich,
ohne eine hohere Schule besucht zu haben, dem Kaufinamw
stande gewidmet „und war, theils in eigenen Handelsgeschafte
theils als Faktor des Kaufhauses Bartholomae Welser zu Augs-
burg viel auf Reisen oder verweilte auf dem Schlosse Gostenatt
an der ostlichen Giinz, das sammt dem dazugehorigen Dorfe in
seinem Besitze war". 1526 und 1527 Mitglied des Rathes, 1528
und 1529 Grosszunftmeister , 1530 und 1531 abermals Raths-
mitglied, war er schon seiner ausseren Stellung nach und wogen
seiner mannigfeltigen Verbindungen, ganz besonders aber wegen
seines ausgepragten religiosen Standpunktes, vortreflflich geeignet,
Memmingen unter den damaligen Verhaltnissen zu vertreten.
So finden wir ihn auch 1530 auf dem Reichstage von Augsbwff
und 1531 zu dem Speierschen Reichstage abgeordnet, welcher
nicht zu Stande kam. — Sein Bruder Ullrich E. war kaiser-
licher Rath, seine Verwandten Thomas und Ambrosias Blaurer
waren die Freunde und Beforderer der Reformation in Schwaben ;
unter seinen Freunden galten Jakob Sturm und Matth. Pferrer,
die Abgeordneten von Strassburg, am meisten; in Verbindnng
mit alien diesen und ausgezeichnet durch das Wohiwollen der
evangelischen Fiirsten, besonders des Kurfursten von Sachsen m>d
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Dobel, Memmingen im Reformationazeitalter. 337
des Landgrafen von Hessen, gelingt ihm nianches, was ein an-
derer nicht so leicht zu Stande gebracht hatte. Das Werth-
vollste, was wir von seiner Hand besitzen, sind seine Briefe vom
Reichstage zu Speier und von seiner Gesandtschaftreise an den
kaiserlichen Hof 1529. Einzelne von diesen sind von Kliipfel in
den „Urkunden zur Geschichte des schwabischen Bundes. Biblio-
thek des litterarischen Vereins in Stuttgart. Bd. 31" im Aus-
ztige veroffentlicht worden. Dobel giebt, weil er mit Recht in
ihnen Documente schatzt, welche fiir die Zeitgeschichte ein Inter-
esse haben , alle 15 in genauem Abdruck S. 39 — 80. Sie. sind
im besten Schwatnsch verfasst und so fiir den Norddeutschen
nicht immer leicht zu verstehen, indessen doch immer noch be-
quemer zu lesen aJs z. B. die Schriften Zwinglis. Der Heraus-
geher hat sich ein Verdienst dadurch erworben, dass er die
originale Schreibart, wie es scheint, durchaus unverandert bei-
behalten hat. Der Leser gewinnt dadurch an personlichem Inter-
esse fiir den Schreiber , welches, durch die naiven und doch so
wahren Beobachtungen desselben, die nicht selten hochst treffend
Personen und Verhaltnisse beurtheilen, nur erhoht wird. Das-
selbe gilt auch von den 3 letzten Briefen, von denen der erste
aus Lyon, der zweite und dritte aus „plesantza" (Piacenza) datirt
ist. Dorthin war er mit den Gesandten der iibrigen protestiren-
den Stande gesandt worden, um beim Kaiser personlich die Recht-
fertigung derselben zu fiihren.
Wie schon oben erwahnt worden ist, wurde Hans Ehinger
auch zum Augsburger Reichstag 1530 vom Rathe von Memmingen
abgeordnet. Man darf nicht erwarten, in den Briefen, welche
er von der Reichstagsversamralung aus in die Heimath sandte,
viel neues zu finden. Indessen bieten die 47 Briefe des 4. Theiles,
welche sammtlich von Augsburg datirt sind and sich tiber die
Zeit vom 1 Juni bis 20. Novbr. 1530 erstrecken, so viele indi-
viduelle Beobachtungen und Erfahrungen des Verf., dass sie als
sehr erwiinschte Erganzung der uns schon sonst bekannten Nach-
richten von diesem wichtigen Reichstage zu betrachten sind. Vor
Allem enthalten sie die wiederholte Bestatigung der sehr hoch
gestiegenen Spannung zwischen dem Kaiser und den Evangelischen,
iiberhaupt zwischen Alt- und Neuglaubigen, die diesen Reichstag
charakterisirt; aber auch so manches Wort iiber die Uneinig-
keit der Protestirenden. Ehinger trifft doch sehr scharf das,
-was die Hauptursache der Uneinigkeit bildete, wenn er im 4.
Briefe vom 26. Juni pag. 32 sagt: „Es jst kain fierst oder rich-
statt, do man das gotzwortt und haillig E(vangelium) [nicht]
bredigt, Es jst inn dienlich. Wann alain die spalltung des sacra-
mentz nit wer, und das habend sy danocht (in der Confessio
Angustana) auch gantz beschaidenlich gehallten. Wann mans
zu schmalgkaldo allso fiergehallten hett, so werind
wier nit von ainander zertrennt; sy hettend jetz-
undt gern merRichstett zujnnen." Auch die Verhand-
lungen, welche unter den Abgeordneten der 4 Reichsstadte, die
Mittheilungon a. d. histor. Litteratur. VII. 22
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338 Dobel, Memmingen im Roformationszeitalter.
nicht die Conf. Aug. unterschrieben hatten, statt fanden, werden
sehr eingehend mitgetheilt, ebenso die Umstande, unter denen
am 8. Juli die Uebergabe der Confessio Tetrapolitana erfolgte.
AUes deutet darauf hin , wie man katholischerseits — gewiss
auf Ecks Betrieb — den Evangelischen durch methodische
Riicksiclitslosigkeit zu imponiren und sie durch Mittel der
Macht und der Intriguen aus ihrer im Grund doch dominirenden
Stellung heraus zu drangen beflissen war. Um so erfreulicher
ist es zu sehen, class die Evangelischen fest auf ihrem Stand-
punkte beharren, und besonders die Bevftlkerung der Reichs-
stkdte kein Bedenken tragt, auch ernsteren Gefahren um des
Glaubens willen zu begegnen. Auch Memmingen gewahrt hiefiir
Beweise. Die Biirgerschaft, welche aus 12 Ziinften bestand nnd
812 Burger umfasste, scheute sich nicht, den der Religion
ungiinstigen Augsburger Reichstagsabschied mit 751 Stimmen
abzulehnen, obgleich sie wohl wusste, dass ihr bei ihrer Macht-
losigkeit sehr schwere Bedrangniss daraus erwachsen konnte. —
Der 5. Theil zeigt, wie von Seiten der Feinde der Stadt
sehr ernstlich darauf hingearbeitet wurde, mit Hilfe der kaiser-
lichen Regierung und unter Benutzung der religiosen Zerwurf-
nisse iiber die Biirgerschaft die Gefahr einer kaiserlichen Acht-
erklarung zu bringen. Die Vertreter des Katholicismus, unter
ihnen der Stadtschreiber Ludwig Vogelmann, eine durch Energie
wie durch Ueberzeugungstreue hervorragende Personhchkeit,
benutzten ihren ganzen Einfluss innerhalb und ausserhalb der
Stadt, um womoglich alle refonnatorischen Aenderungen in
derselben riickgangig zu machen. Die innigen Verbindunge^
in denen Vogelmann mit dem benachbarten katholischen Klerus,
besonders mit dem Bischof von Salzburg und dem von Augs-
burg stand , in dessen Dienste er nach seinem Weggange von
Memmingen getreten war , gewahrten seinen Bestrebungen eine
Unterstiitzung , welche fiir die Stadt gefahrlich wurde, als
Vogelmann begann, durch Denunciationen des Rathes bei der
Reichsregierung und unter dem Schutze derselben in der Stadt
zum Widerstande gegen die neugeschaffenen Ordnungen seinea
Anhang aufzureizen. Der Rath fand kein anderes Mittel, aeh
der aufriihreri8chen Thatigkeit des durch kaiserliches Geleit
geschiitzten Agitators zu erwehren, als ihn festnehmen und ihm
den Prozess machen zu lassen. V. wurde des Vertragsbruches
iiberfiihrt und hingerichtet. Er starb aufgeopfert von denen,
die ihn alsWerkzeug benutzt hatten; es ward ihm nicht einmal
die Genugthuung, dass die kaiserliche Regierung seine Ver-
theidigung oder seine Rechtfertigung iibernahm. Erst nach
dieser Katastrophe durfte die Stadt sich einer ruhigeren Ent-
wickelung ihrer neugeschaffenen religiosen Ordnungen erfreuen.
Eine weitere Ausdehnung erhielten dieselben durch den
Eintritt der Stadt in den Schmalkaldischen Bund. Was von
katholischem Wesen bisher noch bestanden hatte, wurde mm
abgethan , Bucer und Oekolampadius , auf Blaurers Empfehlnng
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Lenz, Die Schlacht bei Muhlberg. 339
eingeladen, begannen am 3. Juli, gleichwie zuvor in Ulm ge-
schehen war, mit Unterstiitzung des Biirgermeisters Eberhard
Zangmaister und sechs Burger eine Visitation im Stadtgebiete,
die die allmahliche Ueberleitung sammtlicher Angehorigen der
Stadt auch in den Dorfern zur neuen Lehre bewirkte. Im
Friihjahr 1532 folgte die Einsetzung der geist lichen und
weltlichen Zuchtherrn. Dieselbe entspracb der Ordnung
der reformirten Kircbe. „Die Kirchenpfleger", wie man die
geistlichen Zuchtherrn auch nannte, hatten das Amt, das
kirchliche und sittliche Leben zu uberwachen und Kirohenzucht
zu iiben. Es sollten hierzu durch Biirgermeister, Rath und Ge-
meinde „sieben fromme, gottesfiirchtige , eifrige und tapfere
Manner" aus dem taglichen Rath, aus den Eilfern und aus der
ganzen Gemeinde gewahlt und ihnen zwei Prediger behufo Ver-
hangung des kleinen oder grossen Bannes oder Wiederauf hebung
desselben beigeordnet werden. Die Amtsfunktion wahrte zwei
Jahre. — Neben diesen Kirchenpflegern standen die weltlichen
Zuchtherrn, auch „Warnungsherrnu genannt , in gleicher
Weise erwahlt wie die Kirchenpfleger. Sie hatten solche, welche
sick gegen Zucht und gute Sitte verfehlten, auszukundschaften
und zu yerwarnen, dder dem Rathe zur Zurechtweisung anzu-
zeigen, und, wenn dies nicht Yerfinge und es zu offentlichem
Aergerniss kame, Geld- oder Freiheitsstrafen zu verhangen oder
beim Rathe den Strafantrag zu stellen. Zu ihrer Competenz
gehorte auch die Beilegung ehelicher Streitigkeiten , selbst die
Ehescheidung ; sie hiessen deshalb auch die Chorrichter.
Am 3. April 1532 erklarte Memmingen gleich den iibrigen ober-
schwabischen Stadten zu Schweinfurt seine Zustimmung zur
Augsburgischen Confession, ohne die Conf. Tetrapolitana darum
aufzugeben. 1536 trat es mit der Annahme der Wittenberger
Concordia vollig zum lutherischen Bekenntniss iiber und 1577
liess es sogar durch seine Geistlichen die Concordienformel
xinterzeichnen. — Der Anhang zum 5. Bande enthalt die
^Ordnung der Kirchenpfleger hie zu Memmingen 1532."
Berlin. Prof. Dr. Brecher.
LXXXH.
Lenz, Max. Die Schlacht bei Muhlberg. Mit neuen Quellen.
gr. 8 (148 S.) Gotha 1879. F. A. Perthes. 3 M.
Die LAbtheilungdes Buches (S.l — 61) enthalt neue Quellen zur
Geschichte der Schlacht. Die ersten beziehen sich auf eine inter-
essante Episode derselben, namlich auf die durch Herzog Moritz
veranlasste Sendung des landgraflich-hessischen Gesandten Ler-
seiier an den Kurfiirsten Johann Friedrich, die den Zweck ver-
folgte, den Kurfiirsten durch den Hinweis auf die Uebermacht
des kaiserlichen Heeres und durch das Versprechen freundschaft-
licher Vermittelung zur bedingungslosen Ergebung an den Kaiser
zu bestimmen. Schon Georg Voigt hat in der Darstellung der
Schlacht bei Muhlberg am Schlusse seines Buches iiber Moritz
22*
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340 Lenz, Die Schlacht bei Miililberg.
von Sachsen diese Episode gebuhrend gewiirdigt; er schildert sie
vorzugsweise nach zwei von Moritz nach dem Kriege aufgesetzten
Rechtfertigungsschriften und der an Herzog Albrecht von Preussea
gerichteten Relation eines kurfurstl-sachsischen Obersten, den
Voigt mit dem Rittmeister Wolf Goldacker fur identisch halt, in dem
der Verf. aber einen aus Preussen stammenden Offizier Namens
Wolf Creutz erkennt. Die betreflenden in den Archiven von
Dresden resp. Konigsberg befindlichen Actenstiicke werden bier
vollstandig in der Fassung der Originale mitgetheilt ; sie werden
in den Hintergrund gedrangt durch den Bericht des Lersener
selbst, den der Verf. aus dem hessischen Staatsarchiv zu Marburg
bier zum Abdruck bringt. Dieser Bericht ist nur ein Bruchstiick
aus der monatelangen Correspondenz zwiscben Lersener und dem
Landgrafen Philipp , welche der Verf. in nicbt zu langer Frist
zu einer eingebenden Darstellung der Verhandlungen zwischen
Philipp und Moritz resp. dem Kaiser zu verwerthen gedenkt
Ebenfalls aus dem hessischen Archiv sind entnommen ein Brief
des Herzogs Moritz an Philipp iiber den Sieg bei Muhlberg nebs;
der Antwort auf denselben.
Es folgen zwei aus dem Strassburger Stadtarchiv entnom-
mene Relationen iiber die Schlacht. Die eine besteht aus einem
am 28. April 1547 zu Borna geschriebenen Brief des Dr. Lndwig
Gremp an einen Strassburger Freund, in dem der Verf. rich ant
einen Augenzeugen des Kampfes als Gewahrsmann beruft. Wich-
tiger ist der zweite, wie es scheint, von einem Theilnehmer zwiscben
dem 3ten und 12 ten Mai niedergeschriebene Bericht; der
Verfasser, von Lenz in der folgenden Darstellung als Strassburger
Anonymus citirt, scheint auf Seite der Kaiserlichen gefochten a
haben; er zeigt militarisches Interesse und Urtheil und emeis
sich im ganzen als ein sehr zuverlassiger Berichters tatter. Dw
Verfasser weist nach, dass Hans Baumann in seinem bisher iiber
Verdienst geschatzten Opus iiber die Miihlberger Schlacht last
nichts gethan als den Str. Anon, ausgeschrieben , verkiirzt, um-
geformt, bisweilen auch missverstanden hat. Den Beschluss macht
ein aus dem Dresdener Archiv mitgetheilter Bericht eines Banern
Georg Dorn aus Blumberg bei Muhlberg, den derselbe am Ta£?
nach der Schlacht vor dem Amtmann der Stadt Hain iiber *
erlebten Schreckensscenen zu Protokoll gegeben hat und der ft
seiner Treuherzigkeit fur den Leser einen unanfechtbaren Bewe?
liefert fur die barbarische Kriegfuhrung des kaiserlichen Heett
insbesondere der in demselben befindlichen Spanier.
Die II. Abtheilung (S. 62 — 90) enthalt eine Kritik der b€*
reits gedruckten Quellen. Unter den gleichzeitigen Brief- uul-
ZeitungS8chreibern erscheinen, von Wolf Creutz und Lersener a^
gesehen, die auf kaiserlicher Seite stehenden im AUgemeinen
zuverlassiger als die der Partei des Besiegten angehorenden. Fi
ziemlich werthlos und nur mit Misstrauen benutzbar halt Vei
gegen Voigt den anonymen Bericht bei Lanz, Korrespondenz di
Kaisers Carl V. II., 561, sowie den sogenannten Ciistriner BericW
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Lenz, Die Schlacht bei Miihlberg. 341
als Gewahrsmann ersten Ranges erscheint ihm Don Guzmann,
eiu Augenzeuge der Schlacht, in seinem Briefe an den spanischen
Hofchronisten Pedro Mexia. Unter den Historikern gebiihrt nach
Zeit und Werth Avila der Yorrang, nur dass in seinem Werke
der Humanist und Hofling zu sehr hervortritt. Weniger iiber-
schwanglich sind die Commentarien des Kaisers selbst, doch
stellt auch der Kaiser iiberall seine Person in den Mittelpunkt
der Ereignisse. Godoi und Faleti sind schon von Voigt im All-
gemeinen rich tig charakterisirt ; ersterer liefert kurze, klare
und sachgemasse Commentarien, letzterer einen nor wenig brauch-
bare Originalnotizen enthaltenden historischen Roman. Ein
Mittelding zwischen Zoitung und Geschichtsschreibung sind die
llelationen der Yenetianer Contarini und Mocenigo. Die deutschen
Geschichtsschreiber der Schlacht, Sleidan, Hans Christoph v.
Bernstein, Simon Stenius und Arnold, verdienen kaum genannt
zu werden.
Die III. Abtheilung (S. 91 — 148) enthalt die zusammen-
hiingende Darstellung des Verlaufes der Schlacht, aus der Ref.
im Folgenden das Wichtigste heraushebt. Bei seinem Aufbruch
aus dem Lager von Leisnig richtet der Kaiser den Marsch gegen
die Mitte des Elblaufes zwischen Meissen und Miihlberg; er
erhalt am 22. April durch eine Recognoscirung die Nachricht,
dass der Kurfiirst bei Meissen in einem befestigten Lager stehe;
am 23. (einem Ruhetage) erfahrt er, dass der Feind von dort
aufjgebrochen sei und sich bei Miihlberg festsetze. Damit der
Kurfiirst nicht nach Wittenberg entkomme, setzt der Kaiser in
einem Kriegsrathe die Anordnung eines Nachtmarsches durch.
Der Bruckenpark wird vorausgeschickt ; den 24. um 1 Uhr
Morgens bricht das aus 6300 Reitern und circa 23000 Mann
Fussvolk bestehende Heer auf, um den Elbpass bei Miihlberg
zu forciren. Die Strecke vom Lagerplatz bis an die Elbe
wird auf 2 — 3 Meilen angegeben ; etwa zwischen 8 und 9 Uhr
Morgens erreicht das Heer die Elbe bei Schirmenitz und
Pausnitz, ungefahr eine halbe Stunde oberhalb Miihlberg. Von
hier aus unternimmt Alba einen Recognoscirungsritt , wahrend
die Fiirsten friihstiicken und ihre Riistungen anlegen. Es
kommt zwischen 9 und 10 Uhr bei Schirmenitz zu einem Ge-
plankel zwischen 200 spanischen Hakenschiitzen und 30 auf dem
jenseitigen Ufer befindlichen Reitern. In Schirmenitz erbietet
sich ein Bauer dem Kaiser gegeniiber, eine bei Miihlberg durch
die Elbe fiihrende Furt anzugeben; durch ihn oder einen
der von Alba bei der Recognoscirung requirirten Landleute
wird spater dem genannten Oberkommandeur die Furt gezeigt.
Inzwischen hort der Kurfiirst in Miihlberg die Sonntagspredigt,
slIs Reiter von der Wache die Meldung bringen, sie hatten drei
grosse Geschwader jenseit des Flusses gesehen und trommeln
gehdrt. Man ist im kurfurstlichen Lager durch den Anmarsch
des Feindes vollig iiberrascht, weil ein dichter Nebel, der etwa
xxm 10 Uhr sinkt (Voigt nimmt an um 12 Uhr) bisher die Urn-
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342 I*nz, Die Schlacht bei Mfihlberg.
schau verhindert hatte. Die Stellung des Kurfiirsten war vor-
trefflich; Stadt und Schloss Miihlberg hielten seine Truppen
besetzt; das an sich schon hohere Ufer der Elbe kronte ein
Damm, der den Schiitzen Deckung bot und das gegeniiberliegende
Ufer vollig beherrschte; hinter demselben lag des Kurfiirsten
Zelt. Eine solche Position konnte wohl bis zum Abend gehalten
werden, wenn der Kurfiirst, wie Creutz angiebt, auch nur 3000
Mann Fussvolk, 1000 Reiter und 21 Geschiitze bei sich hatte.
Bei dem Kampfe an der Elbe sind zwei Hauptmomente za
unterscheiden , der Kampf urn die Bote und der Kampf urn die
Furt. Die Hauptmasse des kaiserlichen Heeres bleibt vorlau^
bei Schirmenitz in Reserve. Etwa urn 10 Uhr gehen 1O00
spanische Hakenschiitzen gegen Miihlberg vor, 6 Stuck Geschiitze
werden gut gedeckt in das Ufergebiisch placirt, von den Haken-
schiitzen stiirzen sich viele in den Strom und eroffnen ein
heftiges Feuer auf die an dem andern Ufer befindlichen Bote.
Die kurfurstlichen Arkebusiere versuchen, wahrend die Hanpt-
masse des Heeres bereits die Riickzugsbewegung beginnt, die
Schiffbriicke in Sicherheit zu bringen ; daran verhindert durch
das lebhafte Feuer der Kaiserlichen , die unter den Augen des
inzwischen eingetroffenen Kaisers mit ausserster Bravour Hmpfen,
versuchen sie vergeblich die Bote zu verbrennen. Zehn bis
zwolf Spanier durchschwimmen den Fluss und bemachtigen ach
derselben, wahrend die Arkebusiere sich zuriickziehen. Jetzt er-
halt die Reiterei von Alba den Befehl zum Vorrucken; die
Furt wird gliicklich aufgefunden und von der Reiterei vm
Uebergange benutzt; kurfiirstliche Schutzenreiter machen von
der Stadt aus einen Vorstoss gegen die ersten 100 HuBaren.
die das rechte Ufer erreicht haben , und drangen sie in den
Fluss zuriick ; dann miissen auch sie der sich jetzt entwickelnden
Uebermacht weichen, der Elbiibergang ist gewonnen.
Die durch Mittheilungen von Gefengenen erhaltene Geviss-
heit von der geringen Streitmacht des Kurfiirsten bestimm^
endlich den Kaiser auf Andringen Albas zu dem Entsehte,
den Feind mit den Reitern zu verfolgen ; er selbst setzt durct
die Furt, um trotz der Abmahnung Albas personlich an der
Verfolgung theilzunehmen , wahrend das Fussvolk mit Hiilfe
der eiligst zusammengefahrenen Schiffbriicke den Strom iiber
schreitet. Die Verfolgung beginnt um die Mittagszeit, no
1 Uhr. Die kaiserliche Reiterei riickt vor in zwei Treffen, das
erste, die leichten Reiter, unter Alba, das zweite, meist schwer?
Cavallerie, unter personlicher Fuhrung des Kaisers ; zwei Leg^
hinter Miihlberg erreichen die Kaiserlicheu die feindliche Nach-
hut , da der Riickzug durch Terrainhindernisse autgehalten war
Durch das sich entspinnende Feuergefecht hindurch reitet
Lersener zum Kurfiirsten, der nicht Stand halt, sondern to
Schutze des vorliegenden Waldes und der Nacht davonzukommefl
hofft. Jetzt gelangt der Kaiser mit seinen Geschwadern i»
scharfem Trabe aus dem zweiten Treffen mit Halbrechts in die
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Head, Le tigre de 1560. 343
Verlangerung des ersten Treffens; Alba reitet in die Feuerlinie,
welche sich nunmehr dicht vor dem Walde befindet, und fasst
alle anderen Geschwader zu einem entscheidenden Angriff zu-
8ammen; es ist zwischen 6 und 7 Uhr Abends, drei Meilen
hinter Muhlberg. Die sachsischen Befehlshaber beschliessen,
vor dem Walde dem Feinde mit den Reitern den Kopf zu
bieten, urn dem Fussvolk, dem Tross und der Artillerie den
Riickzug durch den Wald zu sichern; indessen die sachsischen
Reiter, dem Willen ihrer Fiihrer nicht mehr gehorchend, lassen
sich verleiten zu einer unbesonnenen Offensive. Sie werfen die
ersten feindlichen Reiterhaufen auf das Gros zuruck; als sie
aber wenden wollen, macht Alba mit dem gesammten Vorder-
treffen einen kraftigen Vorstoss, der ihren Ruckzug in regellose
Flucht verwandelt. Vergebens sind alle Ermahnungen der
Fiihrer; in wilder Verwirrung stiirzen die Sachsen durch den
Wald, verfolgt von den Kaiserlichen , welche 500 Reiter und
2000 Fussknechte niedermetzeln ; viele werden gefangen, nur
ein geringer Theil rettet sich durch die Flucht nach Wittenberg.
Der Kurfurst bleibt in Folge seiner Schwertalligkeit auf der
Flucht zuruck, wird von den Seinen verlassen und fallt nach
tapferer Gegenwehr in die Hande der Feinde. Seine Ueber-
winder bringen ihn zum Herzog Alba; dieser fuhrt ihn vor
den Kaiser, welcher mit seinem Gefolge mitten im Walde Halt
gemacht hat. Der Kurfurst wird von dem Kaiser in der be-
kannten barschen Weise abgefertigt und Spaniern zur Bewachung
iibergeben; seine Haltung nothigte selbst den Fremden Be-
wunderung ab.
Den Schluss bildet eine Reflexion iiber die Ursachen der
fur den Protestantismus so verhangnissvollen Niederlage. Der
Verf. findet sie mit Recht veranlasst durch grobe militarische
Fehler, wie Zersplitterung des Heeres durch Detachirungen, Un-
kenntniss der Bewegungen des Feindes, uberhastige Aufgabe der
vortrefflichen Defensivposition von Muhlberg, Zerfahrenheit der
Fiihrer und Disciplinlosigkeit der Untergebenen bei dem Riiek-
zugsgefecht.
Ref. schliesst mit dem Wunsche, dass die vorstehende
Skizzirung des Inhaltes dazu beitragen moge, dem von besonnener
Kritik der Quellen zeugenden, im Detail manches Neue bietenden
Werke die Beachtung zu verschaffen, welche es verdient.
Berlin. Dr. R. Rodenwaldt.
LXXXIIL
Read, Ch. Le tigre de 1560 reproduit pour la premiere
fois en fac-simile d'aprds Tunique exemplaire connu. 8°.
(152 S.) Paris 1875. Academie des Bibliophiles.
Die „epistre envoyee au Tigre de la France" ist die kiihnste
und bedeutendste Streitschrifb, welche die verfolgten Reformirten
dem Cardinal von Lothringen entgegenschleuderten , ein furcht-
barer Wuthschrei der Gequalten. Deren Veranlassung war die
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344 Read. Le tigre de 1560.
blutige Rache der Guisen fur die Verschworung yob Amboise,
1560. Das Pamphlet ward sogleicli unterdriickt , wer es besass
oder verbreitete, getodtet. Dennoch fand sich 1834 ein einzig
Exemplar „de ce veritable phenix" ; die Bibliophilen bewundern
sein Schicksal: 1868 wurden 1400 Frks. fur die 7 Blattchen
Papier gegeben! Wie gespannt war man auf einen Abdruck, da
der erste Besitzer es eifersiiclitig in seinem Biicherharem gehiitet,
und nur durch ein Wunder die „epistre" dem Stadthausbrand
in Paris (1871) entgangen war; noch Ariste Vigaiet (les theories
politiques liberates) eitiert 1879 nur das aus dem Dokument
was er bei Dareste (essai sur Frangois Hotman) geiunden.
Die 1400 Frks. waren ubrigens weggeworfenes Geld; denn
in der Bibliothek des im Oktober 1878 verstorbenen Professor
Baum entdeckte und erwarb der hiesige Oberbibliothekar , Hen
Professor Barack, ein zweites identisches Exemplar, von dessen
Dasein sein bisheriger Eigenthiimer selbst nicht wol unterrichtet
gewesen sein kann.
Wir wenden uns zu der kritischen Arbeit welche Herr Read
seiner Reproduction beigefugt hat. Nach einer bibliographischen
Einleitung gibt er einen typographisch rectifieirten Abdruck
(setzt z. B. dessein f. desseing, guerroyeur £ guerroier, lasst aber
evesche, desja, comparoistre) , sodann einen bis auf den Ipunfct
getreuen. Dann folgt ein ins Jahr 1561 (besser 1560 s. u.) ge-
setztes poetisches Stiick mit Noten von Ed. Tricotel (Der „Yere-
tiger") und endlich allerlei historische, literarische und biblio-
graph. Noten zum Ganzen. Hier finden auch die Ansichten
iiber Verfasser, Drucker, Verhaltniss zu Cicero's Catiliaarieu
ihren Platz.
Ueber den Tigre selbst, iiber diese wenigen Zeilen gliihender
Rede, mit denen sich in der Geschichte der Satyre und der
Beredsamkeit wenig vergleicht, kann ich hier nicht sprechen:
der Inhalt ist jetzt fur Jedermann zuganglich — nur will ich er-
wahnen, dass Read sich die Miihe hatte nehmen sollen, die
Parallelen bei Cicero vollstandiger zusammenzutragen. Schon
Brantome bemerkte die Aehnlichkeit, und das ,jusques a quand
sera-ce" entspricht freilich dem quousque tandem deutlich genug;
aber der Schluss des Tigers ist gleich dem Ciceronischen quam-
quam quid loquar — exilium cogites; ebenso vergl. si tu le nies,
je te convaincrai: convincam si negas; und et tu vis encore: hie
tamen vivitl vivit? —
Diese Aehnlichkeit hat nur geholfen, die Franzosen in ihrer
irrigen Ansicht iiber den Verf. des Tiger zu bestarken. Der
bekannte grand ciceronien, Franz Hotman, der deutsch-freund-
liche Italienerf eind , der grdsste Jurist unter den Reformirtea,
der Nebenbuhler des Cujas — dieser wird in Frankreich nnr
umsomehr allgemein dafiir gehalten; eine Ansicht, die man
wenigstens als unbegriindet, besser noch als gewagt, a$~
sehen muss. Aber leider gelten auch fur das heutige Frank-
reich Darestes Worte wie vor 300 Jahren: „remarquons, en
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Kead, Le tigre de 1560. 345
passant, que tous les auteurs catholiques se copient entre eux;
on peut en dire autant des auteurs protestants." Wahrend aber
Dareste selbst noch zweifelnd gesagt iiber den Verf. „on ne le
saura jamais avec certitude/4 folgen Haag und Viguiet unselbst-
standig dem Nodier, wie dieser dem Bayle, und Bayle dem
Balduin — und Balduin dem Johann Sturm. Denn was die
Sussere Bezeugung angeht, so stiitzt man sich seit Bayle uberall
auf die Worte von Hotmans Todfeind, des Prof. Franz Balduin,
der 1562 in der responsio altera ad Calvinum schrieb : Hotmanus
— Tygrim peperit, und der sich am 1. Nov. 1563 noch einmal
fur alle seine Angriffe auf Hotman ausdriicklich auf Johann
Sturms Zeugniss beruft. (Bibliotheque de l'ecole des chartes,
3. serie, 5, 1854). Und ebenso wie Baudouin ist die 1562 er-
schienene religionis et regis — defensio prima, ad senatum
populumque Parisiensem" ganz und gar von Sturm abhangig,
der Anfong 1561, also bald nach Erscheinen des (der beiden s. u.)
Tiger geschrieben hatte. Aber Sturm sagt ausdriicklich nur:
„ex hoc genere tygris immanis ilia bellica, quam tu hie (Argen-
torati!) divulgari curasti": divulgare, was mehrmals im selben
Brief vom Ausstreuen boser Geriichte gebraucht wird, niemals
aber die Abfassung involvirt. Sturm hatte sicherlich in seiner
damaligen furchtbaren Gereiztheit gegen Hotman scripsisti ge-
setzt, wenn er es hatte thun konnen. Leider hat sich Sturm,
wie auch sein Zeitgenosse Hubert Languet beklagte, durch jenen
Brief entsetzlich blossgestellt , und sein Charakterbild empfangt
von daher die fatalsten Schatten. Balduin aber hat entweder
Sturms Worte falsch interpretirt , oder absichtlich sie falsch
gedeutet , wie er ja auch den Unsinn nicht scheute , einen Hot-
man des Atheismus anzuklagen.
Auch aus einem andern Grund kann Hotman den Tiger
nicht geschrieben haben: am 15. Marz eklatirte die conjuratio
Ambosiana, am 23. Juni 1560 wurde der Buchdrucker L'hommet
(L'homme) festgenommen , weil er das Pasquill feilgehalten (die
Anklage sagte „gedruckt", woran auch aus andern Griinden mit
Taillandier festzuhalten ist). Was muss nun nicht Alles zwischen
beide Data fallen, so dass man gliicklich sein wird, die paar Wochen
zu ersparen, welche die Annahme eines auswarts lebenden Autors
— Hotman war danlals in Strassburg — ausserdem noch verlan-
gen wiirde.
Ueberdies war auch Hotman durchaus nicht, wie fast alle
Franzosen frischweg behaupten, der einzige unter den damaligen
reform. Schriftstellern, der eine so tragische Eloquenz hatte ent-
falten konnen. Seine Briefe sind pikant, knapp, geistreich, aber
seine sonstigen Schriften neigen zur Breite, in hoherem Grade
als wir das in der Legende du Cardinal de Lorraine, bei La
Planche, bei Beza, und sonst finden. Und noch ein entscheiden-
derer Umstand: Msr. Tricotel hat bei Bead den „Verstigeru
abgedruckt und sagt dariiber: „ie Tygre en vers n'est autre
chose que la traduction ou plutot la paraphrase rimee de TEpistre
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-*r>
346 Bresslau und Isaac sohn, Der Fall zweier preossischer Minister.
etc. — une simple traduction." Nichts ist aber weniger wahr als
das I Vor Allem nennt der kiihnere Verstiger iiberall Namen,
und dann ist v. 149 — 311 mit Ausnahme von zweimal drei Zeilen
ein vollkommenes Einschiebsel, eingekerbt in die iibrigen Zeilenr
welche mot a mot dem Prosatiger entsprechen. Von 360 Versen
sind also etwa 160 keine Version!
Ich muss mich kurz fassen: was wir in dieser — fur die
Franzosen nicht vorhandenen — Zuthat lcsen, nicht minder wie
der Inhalt des Prosatigers, findet sich nach Form und In-
halt wieder vor Allem in der Unterredung zwischen La Planche
und Katliarina von Medici, von welcher die Untersuchung ans-
zugehen hat , ob man nun dem La Planche oder dem ziemlich
abweichenden De Thou folge; findet sich in der duplication
et remonstrance ", welche die Protestanten dem Konig Anton in
Nerac iiberreicht haben sollen (Conde, mem, Ausgabe Dubosc 1, 490);
findet sich vor Allem in der (S. 345 u.) citirten legende: lanter
Schriftstiicke, die erweislich aus La Planches Feder geflossen sincL
Wahrscheinlich diirfen wir auch die complainte au peuple
Frangois und das advertissement au p. Fr. hierher beziehen,
Ueberhaupt ist jede Zeile des Tigers ein Extrakt der histoire
de l'etat etc. von La Planche, und hier walten nicht nur all-
gemeine Aehnlichkeiten wie mit jedem antiguisischen Schriftstiici,
sondern die Reihenfolge und die Form der Gedanken ist vid-
fach dieselbe.
Bedenkt man, dass La Planche der anerkannte offizielle Yer-
treter der Staatshugenotten (homme politique plustost que
religieux nennt er sich selbst) war, und dass er von einer
wahren Guisomanie beseelt erscheint , endlich wie klug er Tom
Tygre spricht, und doch wie unterrichtet — nur seine histoire
und die legende (von ihm) nennen den L'hommet wirklich als
D r u c k e r — so ist er's in erster Linie, den man als Verfoffler
des Tigers vermuthen darf.
Auch finde ich keinen Grund zu bezweifeln, dass der Vers-
tiger von demselben Verf. stammt ; er miisste jedenfalls zwischen
der Gefangennahme der Bourbonen in Orleans (30. Oktbr. 1560)r
Tigre v. 176 — und der Erhebung Antons zum General-
lieutenant (12. Dez.) und dem ganzen damaligen Umschwung
veroffentlicht sein, also im November 1560. —
Strassburg. Dr. L. SchiideL
LXXXIV.
Bresslau, Harry und Siegfried Isaacsohn. Der Fall zweier
preU88J8Chen Minister, des Ober-Prasidenten E. v. Dankelmann
1697 und des Grosskanzlers C. J. W. v. Fiirst 1779. Studien
zur brandenburgisch - preussischen Geschichte. Berlin, 1878.
Weidmannsche Buchhandlung. 2 M.
Der Verf. der ersteren Abhandlung will keineswegs ein ganz
neues Bild von den Vorgangen geben, wohl aber — gestiitzt sat
die Berichte der hannoverschen Diplomaten Bten und du Cm
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Bresslau mid Isaacsohn, Der Fall zweier preussischer Minister. 347
sowie auf Aufzeichnungen des Berliner Hausarchivs und die
Memoiren des Grafen Podewils — manche Einzelheiten praciser
bestimmen und die der Katastrophe vorausgehenden Ereignisse
genauer verfolgen. Er weist zunachst darauf hin, dass Dankel-
mann bereits 1691 wegen einer „Creatur der Kurfiirstin" (des
Frl. v. Krosigk) zu derselben in Opposition gerieth, so dass
Sophie Charlotte stets seine Gegnerin blieb, umsomehr als sie
— wie Leibnitz angiebt — eine Zeit lang ohne alien Einfluss
war und Dankelmann ihr nicht nur die Gelder zu ihrem Hof-
staate sehr knapp bemass, sondern ihr sogar, angeblich wegen
iiberhaufter Geschafte, nicht einmal seine Aufwartung machte.
Dieser Gegensatz wurde verscharft dadurch, dass die Kurfiirstin
bei der Wahl eines Informators fur ihren Sohn mit ihrer An-
sicht gegen Dankelmanns Einfluss nicht durchdrang: wahrend
sie durchaus der damals herrschenden franzosischen Richtung
huldigte, hatte der Informator (Kramer) eine scharfe Abhandlung
gegen die Nachaffung franzosischer Sitten und die Ueberschatzung
der franzosischen Litteratur geschrieben. War so Dankelmann
mit der Kurfiirstin vollstandig zerfallen, so verdarb er es mit
dem Kurfiirsten, indem er auch ihm vielfach die Mittel zu Fest-
lichkeiten etc. vorenthielt, wahrend zugleich seine eigene Hand-
habung der Finanzen keine geschickte und gliickliche war, wie
selbst seine Freunde zugaben. Ueberhaupt trat er dem Fursten,
seinem friiheren Schiiler, zu selbstandig und zu sehr „en peda-
gogue" gegeniiber, um denselben nicht zu verletzen. Dazu kam,
dass er in den „chimarischen Planen wegen der Konigswiirde
vollstandig contradicirte" und sich ohne Zweifel dadurch den
Kurfiirsten entfremdete. Den letzten Stoss gab dann der Miss-
erfolg zu Ryswik, die krankende Behandlung der branden-
burgischen Gesandten eben daselbst, die Versagung der ausseren
Ehren, auf die damals so viel Werth gelegt wurde u. s. w.;
kein Wunder also, dass der Kurfurst Dankelmann schliesslich fallen
liess. Ueber die Einzelheiten des Sturzes ist Naheres in der
Abhandlung selbst nachzulesen; wir bemerken hier nur, dass
die dargeBtellten Ereignisse die auch sonst bekannten Zustjande
des damaligen brandenburgischen Hofes, wie die Unzuverlassigkeit
und den Wankelmuth des Kurfiirsten, die Lust am Intriguiren
bei sammtlichen einflussreichen Personen, das Eingreifen fremder
Machte u. s. w. sattsam illustriren.
In ganz andere Verhaltnisse versetzt uns die zweite Ab-
handlung, welche den Sturz des Grosskanzlers v. Ftirst bespricht,
indem sie denselben „historisch oder vielmehr psychologisch" zu
erklaren sucht, da ja die Stellung dieses hochgestellten und ver-
dienten Beamten zur Arnoldschen Angelegenheit eine so feme und
neutrale war, dass sein plotzlicher und jaher Fall Wunder nehmen
muss. Der Verfasser weist nun nach, wie es Fiirst an der
nothigen Energie und Rucksichtslosigkeit sowie an aller Initiative
gefehlt habe, so dass in Folge dessen der Konig ihm einerseits
Saumseligkeit , Verschleppung von Processen und allzu grosse
Digitized by VjOOQ IC
348 Lehmann, Preusaen mid die katholische Kireke seit 1640.
Milde gegen angesehene Personen vorwarf , andererseits es ihm
iibel nahm, dass er keine Reform- Vorschlage ausarbeitete, son-
dern nur die von anderer Seite (vom Freihern v. Carmer) ein-
gereichten zweimal ablebnte, wahrend Friedrich Reformen fur
ausserst notbwendig erachtete, da „die Justiz wieder anfange
einzuschlafen". In dieser Anschauung wurde der Konig durch
mancherlei Klagen bestarkt, die ibm zu Ohren kamen; eben
darauf bin scbien der seit 1773 scbwebende Arnoldscbe Process
zu weisen. Dazu kam, dass das Kammergericbt einfacb das erste
Erkenntniss bestatigte, obne iiber die Griinde seiner Entscheidung
dem Konige, der die Sache schon durcb den Oberst v. Heuking
batte untersucben lassen, Bericht einzusenden oder auch nur
ihm das Erkenntniss mitzutheilen, und dass sogar auf des Konigs
sohriftlicbe Frage, warum man so erkannt habe, der President
v. Kebeur — zwar richtig, aber wenig angemessen — antwortete:
es sei so erkannt, und das miisse dem Konige geniigen! Fiirst
macbte nach des Verfassers Ansicht einen doppelten Fehler:
zuerst, als Friedrich erneuete Untersucbungen verlangte, hielt
er sich vollkommen passiv, wahrend er die Sache hatte selbst
vornebmen und den Konig dariiber aufklaren miissen, um dessen
aus Misstrauen gegen die Justiz hervorgegangene Anschauungen
zu rectificiren; nachher aber, als die Mitglioder des Gerichts
wegen ihres Sprucbs vorgefordert burden und er — der dabei
nicht personlich betheiligt war — sich hatte passiv verhalten
sollen, mischte er sich unaufgefordert mit einer nebensachlichen
Bemerkung ein, so dass nun der Grimm des Konigs und sein
lange verhaltener Unwille iiber des Grosskanzlers mannigfache
Versaumnisse sich gegen denselben entlud. Seine Entfernung
war ohne Zweifel liingst beschlossene Sache und — da er zu
den geplanten Reformen nicht die Hand bieten wollte — gerecht-
fertigt : iiber die harte und plotzliche Art, in der sie stattfand,
ist.wohl weiter keine Bemerkung nothig, doch erklart sich das
Vorgehen des Konigs durch die angegebenen Umstande hinlanglich,
so dass es nicht mehr so unmotivirt und unbegreiflich erscheint,
als das friiher der Fall war. Dr. F. Voigt
LXXXV.
Lehmann, Max, Preussen und die katholische Kirche seit 1640.
Nach den Acten des Geh. Staats-Archivs. Th. I. Von 1640 bis
1740. Veranlasst und unterstutzt durch die Konigl. Archiv-
Verwaltung. Lex. 8. (XIV. 916 S.). Leipzig 1878. S. Hirzel. 15 E
Mit dem im Titel genannten Werke wird eine Serie von
historischen Publikationen eroffnet, die, auf Betrieb und mit
Unterstutzung der Direktion der Preussischen Staatsarchive
unternommen, dazu bestimmt sind, den Urkunden-Schatz dieser
Archive der gelehrten Welt sei es im Original, sei es, wo der
Stoff zu sehr anwachst, im Begest oder aber in Bearbeitungen zu
unterbreiten. Der von dem Direktor der Staats- Archive , Geh.
Bath v. Sybel, dem 1. Bande des Lehmannschen Works voran-
Digitized by VnOOQ IC
Lehmann, Preussen und die katholische Kirche seit 1640. 349
geschickte Prospekt gibt Auskunft iiber den Umfang und die
Art dieser Publikationen und eroffnet die Aussicht, dass hier
nach 10 — 15 Jahren ein mannichfach auseinandergehendes, doch
durch Eine grosse und richtige Idee zusammengehaltenes Ganze
vorliegen wird, das dazu dienen wird , der Forschung unseres
Jahrhunderts auf dem Gebiete vaterlandischer Gescbichte eine
eben so sichere wie umfassende Unterlage zu bieten. Die Pu-
blikationen werden sich, nach dem Prospekt, vom friihesten Mittel-
alter bis in die neueste Zeit, in lokaler Beziehung von den
Gebieten an der russisch-polnischen Grenze bis zur Mosel und
Maas, in sachlicher iiber das gesammte Gebiet der Geschichte
und ihrer Hiilfswissenschaften erstrecken und somit nicht nur
fur den Geschichtsforscher und Darsteller, sondern auch fur deu
praktischen Staatsmann, den Verwaltungsbeamten und den Juristen
den Punkt bilden, auf den sie, ein jeder in seiner Art und nach
seinen Zielen, unablassig werden zuriickkommen miissen. Ungern
und nur im Bewusstsein an einem andern Ort eingehender auf
die Bedeutung des grossartigen Unternehmens schon in nachster
Zeit zuriickkommen zu diirfen, versagt es sich Referent, hier auf
Einzelheiten einzugehen.
Wenden wir uns zu der ersten hier vorliegenden Publikatiou,
Band 1. des auf 3 Bande berechneten Lehmann'schen "Werks, so
konnen wir dasselbe nicht kiirzer charakterisiren , als der Ver-
fasser es selbst in seiner Einleitung mit den Worten thut: Das
Werk enthalt eine Sammlung von Urkunden und eine aus diesen
geschopfte Darstellung. Fiir diese wurde auch das gedruckte
Material verwerthet. Die vollstandige Wiedergabe bereits ver-
offentlichter Documente erschien, wenn dieselben sich in leicht
zuganglichen Schriften befanden, nicht erforderlich; in diesem
Fa He wurden aber die fur die Beweisfuhrung entscheidenden
Stellen in die Anmerkungen aufgenommen. Sagen wir gleich hier,
ehe wir auf Gliederung und Inhalt des Bandes eingehen, dass
es dem Verfasser gelungen ist, die aus den Urkunden geschopfte
Darstellung so knapp und pracis und doch so anschaulich und
iibersichtlich zu gestalten, dass sie in jeder Beziehung seinen
Mitarbeitern und Nachfolgern als Vorbild gelten kann.
Auf diese Art wird auch dem, der sich in kurzer Zeit iiber
alle wesentlichen Punkte der Entwickelung der kirchlichen Dinge
in Preussen unterrichten will, die beste Gelegenheit dazu ge-
boten. Das Bild dieser Entwickelung, wie es hier an der Hand
der Urkunden gezeichnet wird, diirfte von der spateren Dar-
stellung kaum mehr in einem wesentlichen Punkte geandert
werden.
Der Band zerfallt in zwei Biicher: B. I. Bis zum Tode
des grossen Kurfiirsten, B. II. Die beiden ersten
K 6 n i g e , jedes Buch wieder in zwei Abschnitte und einen
Urkundentheil. Der crste Abschnitt des ersten Buches: Bis
zum Regierungsantritt des gr. Kurfiirsten besteht
aus 6 Paragraphen: 1. Brandenburg und die Hohenzollern vor
Digitized by UOOQ IC
350 Lehmann, Preussen und die katholische Kirche aeit 1640.
der Reformation, 2. die Reformation in Brandenburg, 3. Ueber-
tritt des Herrscherhauses zum Calvinismus, 4. Entwickelung der
kirchliclien Verhaltnisse in den Landern der jiilich-klevischen
Erbschaft, 5. Untergang und Erneuerung der romischen Kirche
in Preussen, 6. Stillstand. Der zweite Abschnitt: der grosse
Kurfiirst zahlt 9 Paragraphen: 1. Personliche Ueberzeugung
des Kurfursten, 2. der westtalische Friede, 3. und 4. Kleve, Mark,
Ravensberg, 5. Magdeburg, Halberstadt, Minden, 6. Brandenburg,
Pommern, 7. Preussen, Lauenburg, Btttow, Draheim, 8. Die drei
letzten Jahre des gr. Kurfursten, 9. Ergebniss. Dazu ein Ur-
kundentheil von 311 Urkunden und Regesten.
Der erste Abschnitt des 2. Buches behandelt Friedrich I.
in 4 Paragraphen: 1. Gesinnung des Herrschers. Das erste
Jahrzehnt seiner Regierung. 2. Die Krone. 3. Lingen. Re-
pressalien zu Gunsten auswartiger Protestanten. 4. Weitere Er-
werbungen. Freundliche und feindliche Beriihrungen mit der
romischen Kirche; der zweite Friedrich Wilhelm I in
6 Paragraphen: 1. Seine Gesinnung. 2. Geldern, Lingen und
den Kampf fur die pfalzer Protestanten. 3. Die Ruckwirkung
des Blutbads von Thorn, Vicariat des Abts von Huisburg. 4 Vi-
cariat des Abts von Neu-Zelle. 5. Letzte Jahre. 6. Schluss.
Dazu ein Urkundentheil, der die Nummern 312 — 998 enthalt.
Man konnte vielleicht mit dem Verf dariiber rechten, dass
er anscheinend iiber den Rahmen des ihm gesteckten Ziels hin-
aus-, und zu weit znriickgehe, wenn er seine Darstellung mit dem
Beginn der Hohenzollern anhebt und bei der Entwickelung der
Reformation, dem Uebertritt der Dynastie zum Calvinismus und
ihrer Stellung zu den Lutheranern langere Zeit verweilt. Doch
mit vollem Rechte wiirde er uns das entgegnen , was wir jetzt
aus seiner Darstellung jener ersten Zeiten herauslesen: dass sich
in dieser Dynastie und in dem Staate, den sie schuf, schon im
16. Jahrhundert eine ganz bestimmte und unterschiedliche, nicht
nur politische, sondern auch religiose Anschauung heraus-
bildete, die in ihren wesentlichsten Punkten im Lauf der
Jahrhunderte unverandert geblieben ist, und, mochte auch der
Eine und Andere warmer fur die Ausbreitung seines personlichen
Bekenntnisses empfinden, doch stets zwei Punkte voranstellte:
die voile Autoritat des in der Person des Fiirsten verkorperten
Staates iiber alle Unterthanen ungeachtet ihres Bekenntnisses
neben der eben so ganzlichen und unbeeintrachtigten Glaubens-
freiheit des Individuums. „Die Souveranitat des Staates gegenuber
der Kirche", spricht dies L. (S. 439) aus, „soweit sie Rechts-
anstalt war, stand ebenso fest wie die „„Freiheit"u der letz-
teren, insofern sieHeilsanstalt war. Noch immer (urn 1740)
war der Staat der Hohenzollern weit iiberwiegend von Prote-
stanten bevolkert; noch immer trat die ^ntschieden prote*
stantische Gesinnung der Herrscher in dem Bestreben zu Tage,
eine weitere raumliche Ausbreitung des romischen Bekenntnisses
zu hindern". Also gegenuber den Uebergriffen und Vergewalti-
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Lehmann, Preussen und die katholische Kircho seit 1640. 351
4jungen des kaiserlichen Hofes, der Pfelz-Neuburger , der Curie
und ihrer Nuntien in Deutschland sebr entschiedene Retorsions-
massregeln, die den Papst zu Rom (gelegentlich des Einmarsches
kgl preussischer Truppen 1708 in sein Gebiet) mehr als einmal
zittern machten. Gegen den sich unter allerhand Verhiillungen
einschleichenden Jesuitismus und die Proselytenmacherei die
scharfsten Verordnungen , dabei aber der Schutz jedes einzelnen
im Staatsverband befindlichen Katholiken in seinen religiosen,
genau so wie in seinen staatlichen Rechten. Und mehr noch, aus
jenem lautern Prinzip der Toleranz heraus die Befreiung der
Katholiken, da wo ihres Bleibens nach den Bestimmungen des
westfalischen Friedens nicht gewesen ware, von den beschwer-
lichsten Fesseln. Die Freiheit zur Ausiibung ihres Cults, zur
Befolgung aller durch ihre Kirche ihnen vorgeschriebenen Gebote
und Verpflichtungen. Freilich fiihrte das Vorhandensein einer
fast ausschliesslich katholischen Bevolkerung in Geldern, in Lingen,
von Monchs- und Nonnenklostern dort und in Minden und Halber-
stadt bei der Anmassung der Curie und ihrer Legaten, iiber alle
katholischen Unterthanen Preussens in dem weitgedehnten Ge-
biet des Kirchenrechts nicht nur unbedingt erkennen, sondern
ihre Erkenntnisse auch selbstandig vollstrecken zu lassen, mit
Nothwendigkeit zu Conflikten mit der weltlichen Gewalt, die seit
den Zeiten Friedrichs des III ihr jus circa sacra fast genau wie
gb heute noch gilt festgestellt hatte und viel lieber bereit war,
ihre katholischen Unterthanen noch ferner in geistlichen Dingen
unter der Kontrolle auswartiger Diocesanbischofe, (so derer von
Utrecht, Miinster, Osnabruck, Hildesheim) zu belaesen, als den ex-
orbitanten Forderungen des Papstes auf Bestellung eines nur von
ihm abhangigen Legaten fur Brandenburg-Preussen nachzugeben.
Der Kampf um diesen Punkt, das Abhangigkeitsverhaltniss des
von Friedrich I. wie seinem Nachfolger erstrebten „Generabikarsu
von dem Konige resp. dem Papst wahrte fast die ganze Zeit
vom Anfeng des Jahrhunderts bis 1740, um zuletzt ohne irgend
welchen Erfolg zu enden. Denn lieber verzichteten die Konige
auf die Bestellung eines Boamten, der statt ein Weihbischof zu
sein, ein Werkzeug in der Hand der Curie, der Mittelpunkt aller
Machinationen gegen die Kirchenpolitik des Staats geworden
ware; und sie konnten dies um so eher thun, als mit jedem
Jahrzehnt mehr die Macht und das Ansehen des autokratischen
Konigthums in Preussen stieg, die des Papstes in Europa abnahm,
sis die Katholiken selbst jetzt wie funfeig Jahre vorher aner-
kannten, dass dieser protestantische Staat ihnen alle die Freiheit
gewahre, auf die sie fuglicherweise Anspruch tmachen konnten.
Diese Lage anderte sich mit dem Augenblick, wo durch den
ersten schlesischen Krieg eine grosse reiche katholische Provinz
mit dem Lande vereinigt wurde, deren Hinzutritt das Verhaltniss
der Katholiken zu den Evangelischen von vorher 1 : 24 auf 8 : 24
oder 1:3 brachte, einer Provinz, die in geistlicher Beziehung
unter der Leitung des Bischofs von Breslau stand und gerade
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352 Stadelmann, Friedrich Wilhelm I. in seiner Thatigkeit etc.
in den ersten Zeiten mit doppelter Vorsicht behandelt gein
wo lite. Die Entwickelung dieser Frage zur Zeit Friedrichs des
Grossen ist dem 2. Bande des Werkes vorbehalten, dessen Er-
scheinen nach hoffentlich nicht gar zu langer Frist wird be-
grii88t werden konnen.
Berlin. _____ Dr. Isaacsohn.
LXXXV.
Stadelmann, Rud., Kgl. Oeconomie-Rath, Friedrich Wilhelm I. in
seiner Thatigkeit fUr die Landeskultur Preussens. Publi-
cationen aus den KgL Preussischen Staatsarchiven. Band II
Lex. 8. (X, 388). Leipzig 1878, S. HirzeL 9 M.
Wenn Ref. die Lehmann'sohe Publikation eben als muster-
giiltig bezeichnet hat, so wiirde Verf. des im Titel genannten
Werks wol daran gethan haben, mit seiner Publikation zu warten,
bis er Art und Methode jener ersten griindlich studiert hatte,
um sie in seiner eigenen gleichfalls anzuwenden. Da die „Mit-
theilungen" nicht der Kritik, sondern nur der Berichterstattung
gewidmet sind, so geniige es hier vorweg zu bemerken, dass
Sy8temlo8igkeit und der Mangel an stiUstischer Gewandtheit
St.'s Buch zu einer beschwerlichen Lecture gestalten. Daneben
ist freilich anerkennend hervorzuheben , dass es dem Vert ge-
lungen ist, eine Reihe von Urkunden und Akten zusammenzu-
bringen , die, obgleich sie die Riesenthatigkeit Fr. Wilhelm's des
Ersten auf dem Gebiet der Landeskulturgesetzgebung bei weitem
nicht erschopfen, dennoch dem Laien wenigstens einen Einblick
in diese Thatigkeit gewahren werden.
Die Halfte des Bands etwa entfallt auf die Darstellung, die
Halfte auf die Urkunden; doch sind auch jener Halfte fort-
laufend urkundliche, oft sehr ausfuhrliche Anmerkungen als Beleg-
stellen beigegeben, die zum Theil in dem Urkunden- Abschnitt
sich in ihren Zusammenhangen noch einmal finden und soweit
fuglich fortbleiben konnten.
Die Darstellung umfasst 20 Abschnitte, die Domanenwesen,
gutsherrlich-bauerliche Verhaltnisse, Landesmelioration im weite-
sten Sinn des Worts, Handel- und Gewerbegesetzgebung wenigstens
skizzenweise, Gartenbau, Seidenbau, Baumzucht, Pferdezucht und
die landwirthschaftliche Statistik behandeln. Daran schliessen sich
neunzig Aktenstiicke, Berichte, Mandate, Instructionen, Protocolle
und Vertrage, deren erste noch in die Zeit Friedrichs L, die
Jahre 1700 — 1713, zuriickreichen , und deren letztes aus dem
Sommer 1739 datirt. Sie alle sind ein Beweis von der uner-
miidlichen Thatigkeit und Sorgfalt des Konigs fur die Wieder-
aufnahme des durch Krieg, Pest, Elementarunfalle und Miss-
wirthschaft heruntergekommenen Landes, wie gleichzeitig von
der rauhen, jeden Widorspruch ausschliessenden Energie, mit
der er das einmal fur gut Befundene durchzufiihren gewohnt
war. Den Hauptnachdruck legte er auf die Bevolkerung der
verodeten Provinzen, Preussen, Pommern, der Neumark, darch
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Stadelniann, Friedrich Wilhelm I. in seiner Th&tigkeit et€. 353
Kolonisten und selbstandige Bauern. Tausende von s. g. wiisten
Flecken, die im Laufe des 17. Jahrhunderts von den adligen
Vasallen eingezogen waren, wurden wieder an Bauern ausgethan,
ebenso in den Aemtern tausende von Bauern, theils auf Vor-
werken, theils in Rodungen, theils in wiisten Dorfern angesetzt,
iiberall die Leistungen des Bauern zu seinen Einkiinften in ein
moglichst gerechtes und festes Verhaltniss gesetzt. Schon 1724,
eilf Jahre nach seinem Regierungsantritt , 4 Jahre nach dem
Stockholmer Frieden, kann er iiber Pommern an Leopold von
Dessau schreiben: „Im platten Lande in Vorpommern siehet es
gut aus Die Leute und Edelleute klagen nicht. Alles wird
aufgebaut. In meinen dortigen Aemtern habe 9 wiiste Bauera-
hofe noch, die jetzt in vollem Umbau sind; also in Zeit von
etlichen Monaten da nichts mehr wiiste habe". Bekanntlich
gelang es ihm in der doppelten Zeit, das 1713 einer Einode
gleichende Ostpreussen, vornamlich dessen ostliche Halfte,
Litthauen, wieder zu einem bliihenden, auch fur den Fiscus ein-
traglichen Lande zu gestalten. Als eine Probe fiir die Art, seine
Reformma8sregeln anzukiindigen und durchzufuhren wie fur die
Schatzung des Individuums , zumal des Bauern, mag hier eine
Stelle aus einem Erlass des Konigs von 1738 dienen, (S. 80.)
der den Pachtern und deren Schreibern untersagt, die Amts-
unterthanen bei ihren Hofediensten mit Peitschen- oder Stock-
schlagen anzutreiben und iibel zu traktiren. Der Erlass ist an
alle Kriegs- und Domanen-Kammern gerichtet, excl. der Preussi-
schen und Litthauischen, „da das Volk dort noch gar zu faul
und gottlos ist". „Wenn wir nun aber dergleichen Barbarisches
Wesen," heisst es dort, „die Unterthanen mit priigeln oder
peitschen wie das Vieh anzutreiben absolut nicht haben, noch
ferner gestattet wissen wollen; also ordnen und befehlen Wir
hierdurch alles Ernstes, dass — von nun ab und sobald diese
Ordre publiciret seyn wird, kein Pachter, noch deren Schreibers
die Unterthanen bei denen Hofdiensten mit Peitschen und Stock-
schlagen anzutreiben sich unterstehen, sondern falls die Unter-
thanen alsdann nicht recht arbeiten, selbige in den Stock ge-
spannet, oder ihnen der Spanische Mantel umgehenget, auch auf
den Fall, dass dieses bey einem oder dem andern nicht verfangen
wollte, solche auf einige Zeit mit Vestungs- Arbeit bestrafet wer-
den sollen. Wofern aber nach Publication dieses Verboths ein
Schreiber derer Beamten oder Pachter sich dennoch unterstehen
wiirde. die Leute bei dem Hofdienst mit Peitschen oder Schlagen
zu tractiren und dariiber geklaget wird, so soil solches sofort
von Euch unterth. berichtet und dergl. Schreiber alsdann, wenn
er es schon auf Befehl des Pachters gethan, das erstemal auf
6 Wochen nach einer Vestung in die Karre gebracht, das Zweite-
mal aber am Leben gestrafet werden". — Ein Erlass der ganz
jenen drakonischen Geist athmet, der riicksichtslos auf sein Ziel
losgeht und keinen Unterschied zwischen Hoch und Niedrig, Vor-
nehm und Gering macht, der stets im Ernst ist und stets die
Mltthcllungen a. d. hlator. Litteratur. VU. 23
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354 Miscellaneen zur Gescliichto Konig Friedrichs des Grossen.
Mittel ergreift, die ihn am schnellsten und sichersten zum Ziele
fiihren; jenen Geist, den Droysen im 4. Bande seiner Geschichte
der Preussischen Politik auf eine so vorziigliche Weise wieder-
zugeben verstanden hat.
Berlin. Isaacsohn.
LXXXVII.
Miscellaneen zur Geschichte Konig Friedrichs des Grossen.
Herausgegeben auf Veranlassung und mit Unterstiitzung der
Konigl. Preussischen Archiv-Verwaltung gr. 8°. (X, 490 S.)
Berlin 1878. E. S. Mittler & Sohn. 12 M.
Auch die hier im Titel genannte Publication fallt in den
Bereich der von der KgL Preussischen Archiv-Verwaltung an-
geregten Arbeiten. Obgleich der Zeit ihres Erscheinens nach
die erste der drei, iiber die hier referirt wird, behandeln die
darin zusammengefassten Arbeiten doch einen spateren Zeitraum
als jene beiden, das Zeitalter Friedrichs des Grossen, weshalb
wir ihrer erst an dritter Stelle gedenken.
Es sind hier drei Arbeiten verschiedener Gattung und ver-
schiedenartigen Inhalts vereint, doch alle mit einer gemeinsamen
Unterlage, der literarischen Thatigkeit Friedrichs des Grossen;
weshalb der Titel der Publication vielleicht noch genauer, wenn-
gleich schwerfalliger auch hatte gefesst werden konnen, als:
Miscellaneen zur Geschichte Friedrichs des Grossen als Schrift-
steller. Sagen wir gleich im Voraus, class es erst auf Grand
dieser Veroffentlichungen moglich sein wird, die literariscbe
Thatigkeit des Konigs — und, wie bekannt, erstreckte sich die-
selbe ebenso sehr auf die Politik im weitesten Sinne des Worts
wie auf die schonen Wissenschaften — voll zu wiirdigen, und
wir haben das hohe Verdienst der Arbeiten damit gekennzeichnet
In der ersten der drei Arbeiten gibt Dr. Leithauser unter
der Kontrole Sr. K. Hoheit des Kronprinzen , der die erste An-
regung dazu gab und die Ausfuhrung im Einzelnen in all ihren
Stadien uberwachte, ein Verzeichniss sammtlicher Aus-
gaben und Uebersetzungen der Werke Friedrichs
des Grossen, Konigs von Preussen. Die zweite bringt:
Das militarische Testament Friedrichs des Grosses.
Herausgegeben und erlautert von v. Taysen, Major
im Grossen Generalstabe. Die dritte und bei weitem
umfangreichste , mehr als die Halfte des Bandes fdllende Publi-
cation betitelt sich: Zur Literarischen Thatigkeit
Friedrichs des Grossen. Erorterungen und Akten-
stiicke. Von Dr. Max Posner, Assistenten im Geh.
Staats-Archiv. Leithausers Verzeichniss von beilaufig 666
Nummern „setzt sich die Aufgabe" — wir lassen den Verfksser
selbst reden — „allen denen, die sich mit der Geschichte des
grossen Konigs und dem Studium seiner literarischen Hinter-
lassenschaft beschaftigen, ein unentbehrliches Hiilfsmitsel dar-
zubieten, — ein mogHchst vollstandiges, systematisch geordnet»
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Miscellaneon zur Geschichte Konig Friedrichs deg Grossen. 355
Verzeichni8S der sammtlichen Ausgaben und Uebersetzungen,
die von den Werken Friedrichs des Grossen vorliegen. Es ist
dabei von dem Grundsatz ausgegangen, solche Schriften, die nur
in den Gesammtausgaben der „Oeuvresu ihre Stelle gefunden
haben, auch nur bei der Inhaltsangabe der letzteren zu erwahnen,
und bei denjenigen, die in Biichern anderer Autoren oder in
Sammelwerken veroffentlicht worden sind, sich mit dem Hinweis
auf die Stelle, wo der erste Abdruck erfolgte, zu begniigen.
Dagegen richtete sich das Bestreben darauf, von alien Dichtungen
und Prosaschriften des Konigs, die in Separatausgaben erschienen,
moglichst sammtliche vorhandene Drucke aufzufiihren. Nach
demselben Plane durften in der Abtheilung der Correspondenzen
nur die grosseren Briefsammlungen aufgenommen werden, von
denen besondere Ausgaben veranstaltet worden sindu. Dem-
gemass gliedert sich das Verzeichniss in zwei Theile. Der erste
gibt die Gesammtausgaben, im Original, im Nachdruck, im Ex-
cerpt und in Uebersetzungen; der zweite Separatausgaben ein-
zelner Werke. Die Gliederung des letzteren boreitete besondere
Schwierigkeiten. Der Herausgeber hat sie zu umgehen gesucht,
indem er statt der systematischen, aber fur den Benutzer viel-
leicht minder praktischen Gliederung in politische und belle-
tristische Schriften als Hauptabschnitte mit etlichen Unter-
abtheilungen eilf Abschnitte gibt, in denen dann freilich bald
Dinge, die nur lose zusammengehoren, wie Philosophic und Staats-
wissenschaft, in einen Abschnitt zusammengefasst sind (Abschn. 4),
bald solche, die sich sehr nahe beriihren, wie die Charak-
teristiken und die Lobreden in zweien getrennt sind. Doch darf
diese Ausstellung nicht zu schwer genomraen werden, da, wie
gesagt, die Brauchbarkeit der Zusammenstellung dadurch durch-
aus nicht beeintrachtigt wird, zumal die Arbeit mit einem alpha-
betischen Verzeichniss sammtlicher Schriften schliesst, das jedem
Benutzer die Orientirung erleichtert.
Unmittelbar an dies Verzeichniss sammtlicher bisher publi-
cirter Schriften Friedrichs schliesst sich die Publication eines
Ineditums oder genauer eines Werks, von dem bisher nur ein
Fragment, ohne Wissen und gegen den Willen des koniglichen
Autors, veroiFentlicht worden war: das militarische Testament
des Konigs vom Jahre 1768, fur dessen Herausgabe das Publikum,
in erster Reihe der militarische Theil desselben, dem Editor,
Major v. T ays en, nicht dankbar genug sein kann, da es einen
unschatzbaren Beitrag wie zur Geschichte der Kriegswissenschaft
im Allgemeinen, so zur Erkenntniss Friedrichs des Grossen als
Militar-Theoretiker und Strategen im besondern bietet. Man
konnte es geradezu als die Fixirung der in den drei schlesischen
Kriegen gewonnenen Erfahrungen mit der speciellen Nutzanwen-
dung fur einen eventuellen Zukunftskrieg mit Oesterreich be-
zeichnen, das, wie der Konig mit Recht voraussetzte, den Gedanken
an eine Wiedereroberung Sohlesiens noch Jahrzehnte hindurch
zur Richtschnur seiner Politik gegen Preussen machen wiirde.
23*
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356 Mi8cellaneen zur Geschichte Konig Friedrichs des Grossen.
Zugleich entwickelt das Testament — was sich freilich voraus-
setzen liess — des Konigs auf unaufhorliche Reformen und
Weiterbildung des Bestehenden gerichtete Bemiihungen, es zeigt
ihn uns, gleich seinem Vater, nur in noch umfassenderem und
hoherem Sinne, als den Lehrmeister seines Heeres, der iiber der
Ausarbeitung von grossartigen Kriegsplanen doch das Einzelnste
und Geringste, die Ausbildung des gemeinen Troupiers naeh
jeder Richtung hin, die Verbesserung und Instandhaltung jedes
einzelnen Kriegsutensils und dergl. nicht vergisst. Die dem Auf-
satz, der urspriinglich unter dem Titel „Du Militaire" einen
Abschnitt des „ Testament Politique1* bildete, vorangeschickte
Einleitung des Herausgebers gibt eine gedrangte Uebersicht iiber
den InhaJt und einige Daten iiber Zeit und Ort der Ab-
fassung desselben. Ein „Kommentaru begleitet die Arbeit des
Konigs Schritt fiir Schjitt und gibt neben einer Erlauterung des
Technischen in den Ausfuhrungen des Konigs, oft unter Heran-
ziehung der heutigen Tags angewandten Grundsatze und Regeln
und ihrer Vergleichung mit denen Friedrichs, auch zum Schluss
ausfuhrliche Angaben iiber die einzelnen vom Konige genannten
militarischen Fiihrer, die den, der in der Personalgeschichte "der
Preussischen Armee nicht bewandert ist, in dankenswerther Weise
orientiren.
Die dritte Arbeit Posner's, wZur literarischen Thatigkeit
Friedrichs des Grossen, Erorterungen und Aktenstucke", be9chaf-
tigt sich mit der „Genesis der Histoire de mon temps und der
brandenburgischen Denkwiirdigkeiten". Diese Arbeit, die erste
grossere, die wir dem Verf. verdanken, bekundet eine so hervor-
ragende Begabung fiir die historisch-kritische Forschung mit so
gleichmassiger Ausbildung der mannichfachen hierfur erforder-
lichen Anlagen, dass wir ohne Bedenken dem Autor, falls er
diesem seinem Talent so sehr gemassen Theile der Forschung
treu bleibt, eine Reihe glanzender Erfolge vorhersagen konnen.
Es ist das erste Mai, dass ein grosseres, genauer zwei Werke des
Konigs, einer Kritik auf ihre Quellen hin unterzogen worden
sind. Und der Erfolg entspricht der darauf verwandten Muhe!
Einmal ergibt sich daraus eine staunenswerthe Sorgfalt des
koniglichen Autors in der Sammlung seines Materials , das sich
zum allergros8ten Theil als archivalisch erweist, sei es dass der
Konig, was nur zum kleineren Theil geschah, die in Betracht
kommenden Urkunden und Aktenstiicke selbst einsah, oder sich
mit den fiir ihn vom Minister H. Podewils, dem damals jungen
Hertzberg, dem Kriegsrath Ilgen, des Ministers Sohn, u. A. ge-
fertigten, sehr zuverlassigen Ausziigen, Bearbeitungen und Precis
begniigte ; daneben eine eben so hoch zu schatzende Behutsam-
keit in der Verwendung dieses Materials, das auf das Genaueste
gepriift, auf seinen rechten Sinn hin angesehen, und zu noch
genauerer Feststellung des Thatbestandes mit allem aufzutreiben-
den gedruckten Material, mit den miindlichen Berichten von
Augenzeugen und Theilnehmern an den darzustellenden Dingen
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Miscellaneen zur Geschichte Konig Friodrichs des Groasen. 357
zusammengehalten, verglichen und kontrolirt wurde. Nicht min-
der bewundern8werth ist die Sorgfalt, die der konigliche Autor
auf das Aeussere, Form und Sty], seiner Arbeiten verwendet.
Er begniigt sich nicht, dieselben wiederholentlich umzuarbeiten
und stylistisch zu feilen, bevor er sie abschnittsweise zunachst
nur dem engen, gewissermassen privaten, Kreise seiner Akademie
der Wissenschaften durch deren Prasidenten Maupertuis vorlesen
lasst, er beuutzt gleich auch wieder die dabei gemachten Be-
inerkungen zu erneueter Besserung der eigenen Arbeiten im er-
wahnten Sinn; wie es denn Maupertuis in den Jahren 1743—50,
d. h. bis zum Augenblick der Ankunft Voltaires in Sans-Souci,
vornehmlich ist, der dem Konig auf seine zahllosen Fragen sehr
wol erwogene und meist sehr gliickliche Bescheide ertheilt, der
gewissermassen zum Mitarbeiter an den beiden oben genannten
Werken nach der formellen Seite hin wird. Eben so be-
deutsam, wenn nicht noch bedeutsamer, ist die Einwirkung Vol-
taires hierauf. Seine Anmerkungen zu den Memoires pour servir
& rhistoire de Brandebourg (S. 263 — 282) zeigen ihn uns in
seinem besten Lichte als einen eben so kenntnissreichen wie
behutsam-kritischen und in der Form vollendeten Autor, vor
Allem als jeuen vorurtheilslosesten Schriftsteller des XVIII. Jahr-
hunderts, der als der Herold des Zeitalters der Aufklarung
immerdar gegolten hat. Ganz zeigt er sich hier des in ihn ge-
setzten Vertrauens seines koniglichen Freundes wiirdig, den er
lobt, wo zu loben ist, und dies an den bei weitem zahlreichsten
Stellen, dessen zu geringe Vorsicht in sachlicher, dessen ofters
dunkele, bisweilen unlogische, auch wol unfranzosische Ausdrucks-
weise der gewissenhafte Kritiker indessen ebenso unbefangen
und frei, eben so entschieden und bisweilen selbst etwas ironisoh
bemangelt. Das Ergebniss der Posnerschen Arbeit, die Alles
umfasst, was hier in Betracht kommt, Ort und Zeit der Re-
daction dieser Werke, ihr successives Fortschreiten, ihre Vollen-
dung, ihre Umarbeitung, ihre Quellen, ihre Handschriften, man
mochte sagen ihre Geschichte vom Augenblick der Entstehung
bis auf den heutigen Tag, ist, dass die Histoire de mon temps
fast unmittelbar nach dem ersten schlesischen Kriege begonnen,
im Lauf von 1742 beendet, 1746 gelegentlich der Ausarbeitung
der Fortsetzung umgearbeitet wurde. Durch eine gliickliche
Combination gelangt P. gleichzeitig dazu, die Zeit des Beginns
und der Vollendung der Memoires de Brandebourg genau zu
bestimmen, deren Abfassung vom Eonige schon friih ins Auge
gefasst, wie sich hier aber herausstellt, erst nach der Histoire
de mon temps in die Jahre 1746 — 50 fallt. Ein nicht von
vornherein beabsichtigtes , aber von selbst erfolgendes weiteres
Ergebniss dieser grundlegenden Studie ist die Klarlegung der
Mangelhaftigkeit von Preus8, Edition dieser Werke in der aka-
demischen Ausgabe der „Oeuvres de Frederic le Grand", eine
Ausgabe, die im Vergleich zu fruheren zur Zeit ihres Erscheinens
als Zeichen eines unleugbaren Fortschritts freudig begriisst wer-
Digitized by UOOQ IC
358 Kleindehmidt, Die Eltem und Geschwister Napoleon's I.
den konnte, vor den Anforderungen der historischen Kritik des
heutigen Tages indess nicht mehr bestehen kann. Mit grosser
Befriedigung hat Ref. daher die Nachricht aufgenommen, dass
der Herausgeber dieser „ Genesis" sich jetzt auch der Arbeit
einer neuen Edition zunachst der „Histoire de mon temps" unter-
zieht, von der man, nach dieser Leistung, wol hoffen darf, dass sie
sich zu einer mnstergiiltigen, des Autors und Gegenstandes wiir-
digen gestalten wird.
Berlin. Isaacsohn.
LXXXVIH.
Kleinschmidt, Dr. Arthur. Die Eltern und Geschwister Na-
poleon's I. gr. 8. (IV, 340). Berlin, 1878. L. Schleier-
macher. 7 M.
Das Urtheil iiber das obige Werk ist bereits gesprochen; es
ist allseitig und nicht mit Unrecht etwas hart ausgefaflen. (VergL
die Besprechungen im Magazin fiir die Literatur des Auslandes
1878, Nr. 48; Literarisches Centralblatt 1878, Nr. 41; Revue
historique 8, 458). Es war gewiss eine sehr dankenswerthe
Aufgabe, eine Geschichte der Bonapartes, die bisher ganzlich
fehlte, dem deutschen Publicum vorzulegen ; und die Arbeit von
Kleinschmidt wiirde um so willkommener gewesen sein, als er die
Biographien der einzelnen Glieder des Hauses Bonaparte bis auf
die Gegenwart fortgefuhrt hat. Andrerseits sind aber die Vor-
wiirfe gegen Form und Inhalt des Buches zu wohl begriindet,
als dass man sagen konnte, der Verfasser sei seiner hiibschen
Aufgabe gerecht geworden. Der Stil leidet an iiberflussigen
Fremdworten, ungesundem Pathos und wunderlichen Bildern.
Ich mache in letzterer Hinsicht nur auf die dem optischen Ge-
biet entnommenen aufmerksam: im Vorwort versichert Klein-
schmidt, dass sein Buch „die Glieder der Familie Bonaparte
Revue passiren lasst und jedes durch den Spiegel genaa
betrachtet"; S. 73 zeigt Napoleon Azanza giinstigere Aussichten
„durch ein Teleskop"; S. 96 „beleuchtet die Einnahme Maltas
durch Napoleon den Pfad, den Lucian nach Paris einschlagt\
Dem Inhalt des Buches ist es sehr verderblich gewordeu, dass
K. die neuere Kritik, z. B. die Untersuchuugen von Bohtlingkr so
gut wie unbeachtet gelassen hat. Auch an ^Widerspriichen fehlt
es nicht: man vergleiche, was S. 34 und 37 iiber die Anerken-
nung Josephs als Konig von Neapel, S. 137 und 178 iiber den
Geburtstag Ludwig Bonapartes gesagt wird. Ebenso wenig durfte
K. die fabelhaften Angaben auf S. 35 und 38 iibersehen, nach
welchen Konig Joseph gewisse Stiftungen mit jahrlichen Rentes
von je 44 Millionen Francs und 100 Millionen Ducaten aus-
gestattet hat. Mit den bonapartistischen Ueberschwanglickkeiten
des Verfassers mochte ich weniger rechten: sie sind nur der
Ausfluss seiner pathetischen Schreibweise ; so sagt er: „Die
Blume der Bonaparte hatte ausgebluht" (S. 213), d. h. Konigin
Hortense war gestorben.
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Wigger, Geschichte der Familie Blticher. 359
Immerhin wird man sich des Buches zum Nachschlagen nicht
ohne Nutzen bedienen konnen; eine Stammtafel wiirde den Ge-
brauch noch wesentlich erleichtert haben.
Berlin. Bailleu.
LXXXIX.
Wigger, Dr. Friedrich (Archivrath in Schwerin), Geschichte der
Familie Blticher. II. Band, I. Abtheilung, mit 2 lithographirten
Tafeln, Lex. 8 (XIV, 600 S.) Schwerin 1878, Stillersche Hof-
buchhandlung. 10 M.
Der vor 9 Jahren (1870) erschienene I Band der Geschichte
der Bliicher'schen Familie umfasste die Entwickelung des Ge-
-schlechtes im Mittelalter, vom Anfang des XIII bis zum Anfange
des XVI Jahrhunderts. Aus dem deutschen Stammhause Bliicher
als der gemeinsamen Wurzel waren noch im XIII Jahrhundert
2 Stamme, der Wittenburger und Gadebuscher, hervorgegangen,
von welchen dieser seinen Hauptast zwar schon friih verlor, aber
in einem Nebenaste, dem pommerschen Hause Daberkow, fort-
bliihte und im XVI Jahrhundert noch einmal neue Kraft ge-
wann, wahrend der Wittenburger, der im Mittelalter nach
schneller Entfaltung manchen Nebenzweig einbiisste, die 2 Haupt-
aste , die Hauser Lehsen und Wuschow, noch zu Anfang des
XVI Jahrhunderts auf bliihen sah. Durch Ewald (f um 1530—34),
den einzigen Stammhalter der Linie Lehsen, verzweigte sich das
Haus sogar in zahlreicher Nachkommenschaft schnell und weit,
und auch im Hause Waschow werden 3 Briider die Stammvater von
ebenso vielen Linien, von denen in der noch nicht veroffentlichten
II Abtheilung des II Bandes (Buch VI— VIII) die Rede sein soil.
Von den verwandtschaftlichen Verhaltnissen erhalten wir
etwa folgendes Bild: (Siehe Seite 360)
Die jiingsten Sprossen des Bliicher'schen Stammbaumes bil-
den die XXII. Generation.
Der vorliegende Band enthalt 4 Biicher (II — V). Das II Buch
(S. 1 — 89) umfasst die Geschichte der pommerschen Linie der
Hauser Daberkow und Plathe seit dem Anfange des XVI Jahr-
hunderts. Das IH Buch (S. 89—180) behandelt die Linie Lehsen,
d. h. die Hauser Lehsen, Gross-Renzow, Gorschendorf und Falken-
burg, das IV Buch (S. 181 — 270) die Linie Rosenow in ihrem
danischen wie in ihrem deutschen Zweige, und endlich das V Buch
(S. 273 — 600) , das umfassendste und wichtigste , die fiirstliche
Linie Bliicher von Wahlstatt. *
Die biographischen Skizzen sind sehr ungleich ausgefallen,
da dem Verfasser trotz der sorgfaltigsten archivalischen Nach-
forschungen und trotz des ausgedehntesten Briefwechsels die
gesainmelten Materialien oft sehr liickenhaft blieben; so ist es
z. B. auffallig, wie unvollstandig und ungewiss noch die Nach-
richten iiber des Feldmarschalls Geschwister sind. Ueber andere
Personen stromten dagegen die Nachrichten in solcher Fiille zu,
dass die Beschrankung in der Auswahl nicht leicht war.
Digitized by UOOQ IC
360
Wigger, Geschichte der Familie Bliicher.
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Wigger, Gesckickte der Familie Blacker. 361
Die von dem Verfasser befolgte „ und in der Vorrede zum
I Bande naher erorterte Methode ist eine sachgemasse und zu-
verlassige. Was die Quellen betrifft , so sind , die Geburts-,
Copulations- und Todestage den Kirchenbiichern und andern
zuverlassigen Actenstiicken entnommen, die Avancements nach
den danischen Militaretaten und den Acten der Berliner geheimen
Kriegskanzlei, sowie nach den Archiven in Schwerin, *) Hannover
und Marburg angegeben, fiir die jiingeren Generationen auch
die Archive der verschiedenen Hauser benutzt. Ein Urkunden-
anhang (wie beim I Bande) hat wegen seiner Umfanglichkeit
nicht gegeben werden konnen, was wir mindestens in Bezug auf
den Oberprasidenten und den Feldmarschall bedauern miissen;
er bildet aber den Grundstock zu einem neuen Bliicher'schen
Familienarchiv, bei welchem der Historiker sich Raths erholen
kann. Die gegenwartig bereits vorhandenen Hausarchive, iiber
die sich Wigger in der Vorrede des I Bandes (S. IV) ausspricht,
geben nur geringe Ausbeute.
Wie wir ferner aus dem Vorworte des I Bandes ersehen,
hat der Verfasser auch einige altere genealogische Versuche iiber
dieses alte mecklenburgische Adelsgeschlecht benutzen konnen,
unter denen er eine Skizze des Rectors Latomus (f 1613), die
Manuscripte J. H. von Hoinckhusens (c. 1740), welche sich iiber
den ganzen mecklenburgischen Adel verbreiten und von seinem
Neffen Ltider von Pentz (t 1782) uberarbeitet und erganzt, von
Leopold von Bliicher aber bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
fortgesetzt worden sind, fiir die pommersche Linie ausserdem
die genealogischen Arbeiten von Elzow, von der Osten und Stein-
briick nennt. Sie haben eine grosse Menge von Personalien und
verwandtschaftlichen Beziehungen aufgezeichnet, die, zumal wo
die Kirchenbiicher fehlen, oft auf anderem Wege nicht mehr zu
ermitteln sein wiirden; doch ist ihre Bedeutung dadurch beein-
trachtigt, dass sie in der Regel ihre Quellen nicht nennen. „Als
daher die Reprasentanten aller gegenwartig bliihenden Zweige
dieses Geschlechts — so berichtet der Verfasser — , um das lebhaft
empfundene und oft geausserte Verlangen nach einer urkund-
lichen Familiengeschichte befriedigt zu sehen, mich mit der Aus-
fiihrung dieser Aufgabe betrauten, erschien eine Ueberarbeitung
der fruheren Versuche von vorne herein unzureichend, es ward
ein Neubua auf neuer, urkundlicher Grundlage nothwendig".
*) Das Grossherzogliche geheime und Hauptarchiv zu Schwerin war dem
Vorfasser, wie er S. V der Vorrede des I Bandes darthut, die ergiebigste
Fundgrube; ihm am n&chsten steht das bischoflick ratzeburgische Archiv zu
!Neu-Strelitz. Zu nennen sind ferner die in Rostock verwahrten Urkunden
aus einem Reickskammergerichtsproeess, die Stadtarckive zu Wismar, Liibeck,
Liineburg, das Konigl. Provinzialarckiv und das Leknarckiv des Appellations-
gerickts iu Stettin. Am wenigsten erfolgreick sind die Nackforsckungen iiber
den nack Kurland und Livland ausgewanderten Zweig des Sukower Hauses der
v. Blilcker geblieben. Wigger bittet alle, welcbe iiber die v. Blucker in Russ-
land weitere Auskunft zu geben vermogen, um Benackricktigung (I Band,
Vorrede S. VI).
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362 Wigger, Geschichte der Familie Blticher.
Es ist natiirlich nicht moglich, aus diesera umfassenden und
verdienstvollen Werke die Geschichte der einzelnen Hauser und
Linien auch nur auszugsweise hier wiederzugeben, so allgemein
interessant auch viele einzelne Mittheilungen und Ausfiihrungen
sind. Wieder tritt uns vor die Augen das triibselige Bild der
durch den 30jahrigen Krieg angerichteten Verwiistung und Yer-
armung (S. 106, 108, 112 u. a.), das wenig erfreuliche Bild der
Bauernniederlegung in Mecklenburg nach 1760*); fast am
traurigsten aber wirkt die Erneuerung des Bildes der Verluste,
welche die Rheinbundstruppen in dem russischen Feldzuge Na-
poleons 1812 erlitten. Es sind da (S. 252—53) die Kampfe
aufgezahlt, welche die wiirttembergischen Chevau-legers, bei denen
der Major Karl und der Rittmeister Friedrich v. Bliicher dienten,
zu bestehen hatten, und es wird in Erinnerung gebracht, dass
die 3 Regimenter in Moskau nur noch 900 Mann zahlten, von
denen nicht mehr als 400 kampffahig waren; aber auf dem
Riickzug war der Abgang so stark, dass 2 Regimenter nur 114
Pferde in 2 Ziigen zahlten, wahrend einen dritten Zug frciwillig
dio iiberzahligen 10 Lieutenants bildeten, und von Smolensk "an
horte jeder Regimentsverband auf. Die Tragik der deutschen
Reichsgeschichte brachte es mit sich, dass nicht nur in den
schlesischen Kriegen, sondern auch in den Napoleonischen Kampfen
die v. Bliicher in den feindlichen Armeen einander gegenuber
standen, wie die beiden genannten ihrem Oheim, unserem Feld-
marschall Vorwarts. Aber nach der Bautzener und der Denne-
witzer Schlacht verliessen beide, deren Bewunderung fiir Napoleon
sich schon wahrend des russischen Feldzuges in Hass umge-
wandelt hatte, das franzosische Heerlager, obwol ihnen der
franzosische General den Tod angedroht hatte, und wahrend
Friedrich erst 1815 im preussischen Heere gegen Napoleon mit-
kampfen konnte, trat Karl bereits im December 1813 in
preussische Dienste, wo er sich zunachst mit einer Rittmeister-
stelle begniigte, von seinem Oheim aber mit grosser personlicher
Giite aufgenommen und im Hauptquartier verwandt wurde, so
dass er damals im Gefuhle seines Gliicks schreiben konnte:
„Endlich bin ich am Ziele meiner Hoffnungen, und eine frohe
*) Vergl. S. 147: „Dies thaten damals viele seiner Standesgenossen,
manche, weil auch sie, unter den preussischen Einquartierungen und Contri-
butionen verarmt, selbst nicht die Mittel hatten, ihre gleichfalls verarmteu
Bauern zu unterstutzen, viele aber auch, weil die selbstfindige grdssere Hof-
wirthschaffe eintraglicher war als die Bearbeitung des Hoffeldes durch die
Frohndienste der Bauern; vielfach kauften auch Guterspeculanten Rittergnter,
urn dieselben nach Ausbeutung der Waldungen und Niederlegung der Bauern
zu hoheren Preisen wieder zu verkanfen. Die Rittergutsbesitzer hie! ten skh
zu solcher Bauernlegung bcrechtigt, wenn sie nur ihren Leibeigenen ein
anderweitiges Unterkommen gewahrten; die Regierung dagegen, bestens be-
miibt den Bauernstand zu schiitzen, erkannto in oinem solchen Vorgehen
allemal einen Verstoss gogen einen Paragraphen des landesgrundgesetzlichen
Erbvergleichs, den sie anders auslegte als die Ritter6chaft, nnd drang dann
durch den Fiscal auf die Wiederherstellung der Bauern, selbst wenn dieae,
der Frohndienste mudo, sie nicht begehrten".
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Wigger, Geschiehte der Familio Bliicher. 363
Zukunft stellt sich meinen Augen dar. Der Sturm des Schieksals
hat rich gelegt; der alte Gott lebt noch, er hat alles wohl
gemacht". Und als er im Februar 1814 auf dem ungliicklichen
Ruckzuge der schlesischen Armee nach der Marne todtlich ver-
wundet worden, da zeigt er sich noch auf dem Sterbelager als
achter Bliicher. „Der Herrliche — so schreibt sein Arzt — ,
der im hochsten Schmerz, im Todeskampfe selbst, nichts als das
Vaterland sah und dachte und dessen Geist mit nichts als dem
Ruhm der Armee, selbst noch im Sterben, beschaftigt war".
Wie wir aber im vorigen Jahrhundert unsere deutsche
Literatur und deren Vertreter in stetem, regem Wechselverkehr
mit Danemark sehen, so bemerken wir auch, dass unser Adel,
unsere Officierswelt gleichfalls in die lebhaftesten Beziehungen
zu dem danischen Hofe und Staate tritt, und da (um 1740)
gerade in Mecklenburg sehr geringe Aussichten fur einen Kriegs-
mann waren, weil die kaiserliche Commission, welche damals die
Regierung fuhrte, ein holsteinisches und ein schwarzburgisches
Regiment in Sold genommen hatte, so suchten mehrere Bliicher
ihr Gliick in Danemark und noch 1848/49 kampfte ein Rittmeister
(spaterer Generalmajor) Friedrich v. Bliicher (1806 — 1871) in
dem danischen Heere gegen die deutschen Bundestruppen.
Ueberblicken wir abei* noch oinmal das grosse Familien-
gemalde, welches von dem Verfasser vor unseren Augen entrollt
ist, dem es gelungen „den Entwickelungsgang der Familie
unter den wechselnden allgemeinen Zeitverhaltnissen, ihre Schick-
sale in guten und bosen Tagen, Bliithe, Verfall und Wieder-
erhebung ihrer einzelnen Linien darzustellen und in kiirzeren
oder langeren Lebensbeschreibungen der bedeutenderen Person-
lichkeiten zu veranschaulichen": so sehen wir zwar auch hier
wie in der Geschiehte anderer Geschlechter, die durch bedeutende
Manner mit der vaterlandischen Geschiehte innig verflochten sind,
ein Auf- und Niederwogen von Generationen, die eifrig sammeln,
und von solchen , die das von den Vatern eingeheimste ver-
schwenden; aber in dem ganzen Geschlechte offenbart sich doch
eine grosse Lebenskraft, korperliche imd geistige Riistigkeit und
Ruhrigkeit, Energie und Thatendrang, froher Muth und frisches
Blut auch in dem hohen Lebensalter, das viele Bliicher erreichen.
Einnehmende Personlichkeit und Gewandtheit, Pflichttreue und
Zuverlassigkeit, klare Umsicht und kaltbliitige Unerschrockenheit
zeichnet nicht wenige Bliicher aus. Ueberhaupt treten viele
individuelle Ziige, die in dem Feldmarschall zu einem genialen
Bilde vereinigt sind, in den verschiedenen Gliedern der vorher-
gehenden Geschlechter mehr oder weniger stark hervor und
auch in den Nebenlinien kehren sie wieder. So zeigt der
preusaische Major Friedrich v. Bliicher (1765 — 1822) nicht bios
in 8einem Aeussern, wie 1813 allgemein behauptet wurde, eine
frappante Aehnlichkeit mit seinem entfernten Vetter, dem Feld-
marschall, sondern er gleicht ihm auch in vielen Ziigen seines
Charakters, wie in seiner schnellen Entschlossenheit und kalt-
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364 Wigger, Geschichte der Familie Bliicher.
bliitigen Unerschrockenheit, die in soldatischer Pflichttreue das
ausserste thut. Auch Major Gustav (1770 — 1854), ein Neffe des
Feldmarschalls , zeigt mit diesem manche innere Familien-
ahnlichkeit. Er 1st iins iibrigens noch insofern interessant, als
seine Beziehungen zu Schill und die in Folge dessen mit den
franzosischen und westfalischen Behonfen gepflogenen Verhand-
lungen (S. 164) von manchen irrthiimlicher Weise auf den Feld-
marschall gedeutet worden gind.
Ein fesselndes Culturbild gewahrt das Leben des Oberst-
lieutenants Ulrich Hans (S. 181 — 198), des Stammvaters der
Linie Rosenow (1691 — 1758). Als namlich der Herzog Karl
Leopold von Mecklenburg in seinem Kampfe gegen die Ritter-
schaft 1715 ein kleines Heer begriindete, da trat Ulrich Hans
in das Dragonerregiment von Vietinghoff, in welchem er Lieutenant
und spater Rittmeister wurde und unter General Schwerin, dem
spateren preussischen Helden, den unerquicklichen Riickzug vor
den Reichsexecutionstruppen nach Malchin mitmachte, bis Czar
Peter die 6 mecklenburgischen Regimenter bis auf weiteres d. h.
bis zu einem Umschwunge der Dinge zu Gunsten Karl Leopolds
in Dienst und Sold nahm. Wahrend nun die iibrigen Officiere
und Mannschaften in hellen Haufen desertirten, so dass die
3 Reiterregimenter in Schwerin a. d. Warthe nur noch 741 , die
3 Infanterieregimenter 950 Mann zahlten, machte Bliicher aus Treue
gegen den Herzog den trostlosen Zug in die Ukraine mit, der
(S. 183 ff.) ausfuhrlich erzahlt ist. Da er aber ganz in die
russische Armee einzutreten sich entschieden weigerte, so blieb
er bis 1737 den allerhartesten Priifungen unterworfen, und fast
noch unerfreulicher wurde seine Lage, als er nach seiner Riick-
kehr die diplomatischen Verhandlungen fur Karl Leopold zu
fiihren hatte.
Mehr interessirt uns aber ein uns naher stehendes ZeitbQd,
die Darstellung des Lebens und Wirkens des Oberprasidenten
Grafen Konrad v. Bliicher-Altona (1764 — 1845) aus der danischen
Linie Rosenow, dem „seine sehr einnehmende Personlichkeit, sein
lebhafter und eindringender Verstand, seine geraden, mitunter
riicksichtslosen , aber immer trefFenden, oft originellen Bemer-
kungen, heitere Stimmung und umgangliches Wesen" iiberall
Freunde erwarben und die Neider entwj^neten. Diese fur einen
hochgestellten Verwaltungsbeamten nicht hoch genug zu schatzen-
den Gaben brachte er ganz besonders unter jenen ausserordent-
lich schwierigen und triiben Verhaltnissen zur Geltung, als
Altona jeden Augenblick in das Schicksal der von Davoust heim-
gesuchten Nachbarstadt Hamburg hineingerissen zu werden drohte.
Die gewaltigen Anstrengungen und schweren Kampfe, die er zu
bestehen hatte, die ausserordentlich verwickelten und verant-
wortungsreichen Verhandlungen, die er fast taglich mit den
Befehlshabern der franzosischen und der russischen Truppen, oft
unter der grossten personlichen Gefahr, zu fiihren hatte, die
grossen Verdienste, die er sich durch sein ebenso geschicktes
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Wigger, Geschichte der Familie Bliicher. 365
als entschlos8enes Verhalten nicht bios um Altona und Dane-
mark, sondern auch um Hamburg und Deutschland erworben
hat, die mannigfaltigen Beziehungen, welche er zu den hervor-
ragenden Ereignissen und Mannern seiner Zeit, insbesondere
auch zum Feldmarschall , gehabt, finden in dem Bliicher'schen
Familienbuche eine eingehende und ubersichtliche Darstellung
(S. 206—229).
Durch eine ganz besonders ausfuhrliche Darstellung aber
ist mit Recht der Feldmarschall uber alle anderen Bliicher
hinausgehoben, und wir haben es keinen Augenblick zu bedauern,
dass gerade hier „die Fiille des Stoffes die Oekonomie des ganzen
Werkes durchbrochen". Denn die kurze Lebensbeschreibung von
Ribbentrop (1806) ist zu wenig reichhaltig und unvollstandig, die
von Varnhagen nicht methodisch gearbeitet, veraltet und steter
Nachpriifung der Quellen bediirftig, namentlich in Bezug auf
Bluchers Jugendgeschichte, und Scherrs dreibandige Biographie,
welche den Anspruch auf diplomatische Zuverlassigkeit wol nicht
erhebt, ist weit mehr ein Zeitgemalde als ein Lebensbild.
Wie nun Wigger (Vorw. S. V ff.) berichtet , erforderte die
Biographie des Feldmarschalls die umfanglichsten Forschungen.
Denn die Briefschaften, welche der Fiirst hinterlassen und welche
Varnhagen noch bei einander gefunden zu haben scheint, sind
durch die Schuld eines Beamten zerstreut und nur zum Theil
fur das Konigliche Geheime Staatsarchiv in Berlin (aus einem
Antiquariat) wiedergewonnen, aus welchem die meisten der dort
aufbewahrten Stiicke aus den Correspondenzen Bluchers mit den
Konigen, mit Hardenberg, Grote u. a. dem Verfasser abschriftlich
mitgetheilt worden sind. Ebenso ist ihm das reiche Archiv des
grossen Generalstabs in Berlin eroffhet worden. Das Konigliche
Hausarchiv lieferte nur wenige Beitrage. Dagegen bot das
Munster'sche Archiv sehr willkommene Actenstiicke. Auch Bluchers
Briefe an Knesebeck und andere wurden Wigger von den be-
treffenden Besitzern bereitwillig in Abschriften iiberlassen; neben
ihnen fanden die bei Dorow, Varnhagen u. a. schon gedruckten
Briefe angemessene Benutzung. Die grossto Ausbeute aber fand
der Verfasser in den Biographien Steins und Gneisenaus von Pertz
und in der von General-Lieutenant v. Colomb herausgegebenen
Sammlung der Briefe Bluchers an seine Frau wahrend der Feld-
ztige von* 1813 — 15, zu denen im Jahrgang 1878 der Colnischen
Zeitung noch Nachtrage gekommen sind.
Zur Feststellung der Jugendgeschichte des Helden haben
u. a. von Nettelbladts und von Bohlens Mittheilungen, Marschall
von Sulicki8 Geschichte des siebenjahrigen Krieges in den Marken,
v. Schoenings Geschichte des Bliicher'schen Husarenregiments
reichen Stoff und manche Berichtigung geboten. Fur die per-
sonliche Geschichte Bluchers von 1806 - 1809 ist v. Eisenharts
Autobiographic (1843) und fur 1813 die Aufzeichnungen Dr. Bieskes
von hohem Werthe gewesen, wahrend fur die allgemeine Ge-
schichte dieser Zeit hauptsachlich Dunckers Forschungen und
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366 Martin, Das Lcben des Prinzen Albert, Prinzgemahls etc.
v. Rankes Denkwiirdigkeiten Hardenbergs zu Grunde gelegt wur-
den. Aus der iast uniibersehbaren Literatur der Befreiungskriege
sind vornehmlich v. Plotho, v. Muffling, v. Hopfher, v. Clausewitz,
Pertz, Bernhardi, v. Ollech, v. Aster, Napoleon (Correspondenz),
Swederus, v. Thielen, Koniger, Chesney Gewahrsmanner gewesen,
urn die Wechselwirkung zwischen Bluchers Thatigkeit und den
anderen Kriegsereignissen eingehend und getreu darzustellen.
Der Kindheit und Jugend des Helden (1742 — 1772) sind die
Seiten 273 — 287 gewidmet, seiner Thatigkeit als Landmann
(1773— -87) S. 287—291, seinen Erlebnissen und Feldziigen von
1787—1806 S. 291—316, den Feldziigen 1806—7 S. 316—347,
der Zeit von 1807—1812 S. 347—399, dem Feldzuge 1813—14
S. 399—497 und dem von 1815 S. 497—557. Die letzten
25 Seiten schijdern den Lebensabend des greisen Helden, von
dem wir wie der Verfasser mit Goethes monumentalen Worten
Abschied nahmen: In Harren und Krieg,
In Sturz und Sieg
Bewusst und gross,
So riss er uns
Vom Feinde los.
Berlin. TL Bach.
XC.
Martin, Theodore, Das Leben des Prinzen Albert, Prinzgemahls
der Konigin von England. Uebersetzt von Emil Lehmann.
Band 1—3 gr.8. (XVI, 521; VIE, 599 u. XV, 547 S). Gotha
1876-79, Fr. Andr. Perthes. 33 M.
Von der auf Veranlassung der Konigin Viktoria von Martin
geschriebenen Biographie des Prinzen Albert liegen jetzt die bis
1856 reichenden drei ersten Bande in deutscher Uebersetzung
vor. Das Buch schliesst sich an die friiher von General Grey
herausgegebenen „Jugendjahre", an die „Blatter aus einem Tage-
buche" und in gewissem Sinne auch an Stockmars „ Denkwiirdig-
keiten" an. Es gestattet einen noch tieferen Einblick als diese
Biicher in das seltene Verhaltniss vollkommener geistiger Ueber-
einstimmung, das sich zwischen dem Prinzen und seiner Gemahlin
entwickelte, es wirft voiles Licht auf die hervorragenden Eigen-
schaften des Geistes und des Charakters, die den Prinzen aus-
zeichneten, auf seine unermiidliche Thatigkeit, sein starkeS Pflicht-
gef iihl und sein Taktgefuhl. Ausserdem findet man in den mit-
getheilten Briefen und in den Berichten iiber die Thatigkeit des
Prinzen eine grosse Zahl intoressanter Notizen iiber die ver-
schiedensten Momente englischer und europaischer Politik.
Vor allem sehen wir, wie es ihm gelingt, sich die thm
anfangs bestrittene Stellung zu erringen, so dass er es ist, der
— allerding8 in innigem Einverstandniss mit der Konigin — den
constitutionellen Einfluss ausiibt, welcher den wechselnden Mini-
sterien gegeniiber der Krone zukommt. Er selbst zeichnet die
Aufgabe, die er sich gestellt hat, in einem vom 6. April 1850
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Martin, Das Leben de9 Prinzen Albert, Prinzgemahls etc. 367
datirten, an den Herzog von Wellington gerichteten Briefe, in
welchem er den Vorschlag, nach dem Tode des Herzogs den
Oberbefehl iiber die Armee zu ubernehmen, ablehnt, dahin: „dass
er seine individuelle Existenz ganz in der seiner Frau aufgehen
lasse, dass er keine Macht fur und durch sich selbst erstrebe,
keine gesonderte personliche Verantwortlichkeit vor dem Publi-
kum iibernehme, sondern seine Stellung ganz und gar zu einem
Theile der ihrigen mache, jede Liicke ausfiille, welche sie als
Frau naturgemass in der Erfiillung ihrer koniglichen Pflichten
lassen wiirde, unaufhorlich und angstlich jeden Theil der dffent-
lichen Geschafte uberwache, um im Stande zu sein, ihr in jedem
Augenblicke, bei jeder der vielfachen und schwierigen ihr vor-
gelegten interaationalen , politischen, socialen oder personlichen
Fragen und Pflichten Rath zu ertheilen und Beistand zu leisten."
Bei seiner Bemuhung, diese Pflichten zu erfullen, stand der Prinz
im lebhaftesten politischen Verkehr mit den leitenden Staats-
mannern; es ist bekannt, dass er zu Peel in ein herzliches Ver-
haltniss trat, dagegen mit Palmerston mehrfach in Conflikt ge-
rieth. Fiir Beides giebt unser Buch einige neue Belege, von
denen die- Mittheilungen , welche sich auf die Reibungen mit
Palmerston beziehen, deshalb besonders interessant sind, weil sie
es ermoglichen, das im Grossen und Ganzen zwar bekannte, aber
doch nur fiir die Momente, wo der Conflikt einen akuten Cha-
rakter annahm, aufgeklarte Verhaltniss zwischon dem Prinzen
und dem Minister in einigermassen zusammenhangender Ent-
wickelung zu iiberblicken.
Diese Reibungen scheinen ihren Ursprung in der Art zu
haben, wie Palmerston 1848 und in den nachstfolgenden Jahren
die deutschen Angelegenheiten behandelte. Unser Buch enthalt
iiber dieselben im 1. und 2. Bande eine erhebliche Anzahl von
Briefen und Memoranden, in denen man mit Interesse liest, wie
diese Bewegung sich in dem Kopfe eines von idealer Gesinnung
und von Liebe zu seinem Geburtslande erfullten Fiirsten spiegelt.
Doch stand Prinz Albert der deutschen Entwickelung damals zu
fern, um Einfluss auf dieselbe iiben zu konnen. Auch haben seine
Ideen iiber die Neugestaltung Deutschlands keinen rechten An-
klang gefiinden weder bei seinem Freunde Stockmar, noch bei
Konig Friedrich Wilhelm IV. und am wenigsten, wie es scheint,
bei Lord Palmerston, der die deutsche Frage vorwiegend nach
den Gesichtspunkten des merkantilen englischen Interesses be-
handelte und die deutschen Einheitsbestrebungen nicht gem sah,
weil er von ihnen eine Starkung und Ausdehnung des Zollvereins
fiirchtete. Seitdem bildete sich zwischen dem Prinzen und dem
Minister ein Gegensatz, der durch die Behandlung der schleswig-
holsteinschen Aigelegenheit noch verscharft wurde. Vergebens
suchte der Prinz zu beweisen, dass die Elbherzogthumer natur-
gemass zu.Deutschland gehorten, er vermochte damit, wie er
25. August 1850 an Stockmar schrieb, keinen Eindruck zu
machen. „Die Idee fixe ist, Deutschland wolle nur Holstein mit
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368 Martin, Das Leben des Prinzen Albert, Prinzgemahls eta.
Sclileswig von Danemark losreissen, urn e8 selbst zu incorporiren
und dann vom englischen ins preussische Handelssystem zu
Ziehen".
In Folge dieses Gegensatzes machte der Prinz einigemal
den Versuch, Palmerston von den auswartigen Angelegenheiten
zu entfernen, indem er namentlich dann einsetzte, wenn das
eigenmachtige Verfahren des Ministers, wenn die Geringschatzung,
mit der er in alien Angelegenheiten seines Ressorts die Collegen,
die Rucksichtslosigkeit , mit der er gelegentlich die fremden
Machte und ihre Vertreter behandelte, Aufeehen und Anstoss
erregten.
Einer der bezeichnendsten Falle dieser Art ist der
Pacifico-Streit , bei dem Palmerston in unnothiger Weise nicht
nur das schwache Griechenland , sondern auch Frankreich und
Russland bruskirte, so dass ersteres sogar seinen Gesandten ab-
rief. Auf die Mittheilung hiervon schrieb der Prinz namens der
Konigin an den Premierminister Lord Russel (15. Mai 1850):
„Es iiberrascht uns nicht, dass die sehr reizbare franzosische Regie-
rung die Art und Weise Lord Palmefstons nicht mit derselbenNach-
sicht und demselben Gleichmuth hinnimmt wie seine Collegen". Doch
gelang es ihm nicht, Palmerston von seinen Collegen zu trennen;
Russel und die anderen Minister traten mit Warme fur ihn ein und
auch das Unterhaus erklarte sich nach jener viertagigen Debatte
fiir ihn, in der Palmerston durch die beriihmte fiinfstiindige Rede
selbst die Gegner zur Bewunderung hinriss. Mit seiner geistigen
Ueberlegenheit , der Frische und Kraft seiner Rede, vor allem
durch den nationalen Zug seiner Politik, durch sein stokes
civis Romanus sum hatte er nicht nur die Mehrheit des Unter-
hauses sondern auch der Nation hinter sich.
Ebenso hatte die osterreichische Regierung mehrmals
gerechte Ursache sich durch die Formen verletzt zu fuhlen, die der
Minister ihr gegeniiber anzuwenden fur gut fand, namentlich in
Betreff der Erklarungen iiber die Vorkommnisse bei Haynaus
und bei Kossuths Anwesenheit in London (1850 bez. 1851). Die
Vertheidiger des Ministers meinten allerdings, dass dies stolze
Auftreten gegen die festlandischen Souverane dem britischen
Nationalstolz entspreche. Mit Recht konnte hierauf die Konigin,
welche das Verhalten des Ministers entschieden missbilligte , in
einem Schreiben an Lord Russel erwiedern (21 Nov. 1851):
„Es handelt sich nicht darum, ob die Konigin dem Kaiser von
Oesterreich gefallt oder nicht, sondern darum, ob sie ihm ge-
rechten Grund zur Kiage gegeben hat oder nicht. Und wenn
das der Fall ist, so kann sie nicht glauben, dass das ihre Po-
pularitat bei ihrem Volke vermehren werde."
Schon vor den hier erwahnten Zwistigkeiten hatte sich die
Konigin (bez. in ihrem Namen der Prinz) zu wiederholten Malen
beschwert, dass ihr die Depeschen nicht regelmassig oder nicht
rechtzeitig zugestellt, dass die mit dem Cabinet und mit ihr
vereinbarten Verhaltungslinien nicht beobachtet wiirden. „Die
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Martin, Das Leben dee Frinzen Albert/ Prinzgemahls etc. 369
Eonigin hat ein Recht, schreibt der Prinz (2. April 50), von
Lord Palmerston als Minister zu verlangen, dass sie mit dem
ganzen Endzweck und der Tendenz der Politik, zu welcher ihre
Zustimmung verlangt wird, bekannt gemacht werde und dass,
nachdem sie diese Zustimmung ertheilt hat, diese Politik nicht
willkiirlich geandert werde , dass wichtige Schritte ihr nicht
verborgen bleiben und dass ihr Name nicht ohne ihre Sanktion
gebraucht werde". Die weiteren Verhandlungen fuhrten dahin,
dass die Eonigin in einem vom 12. August 1850 datirten Memoir
die constitutionellen Vorschriften zusammenstellte, deren Beach-
tung sie von ihrem Minister des Auswartigen verlangte, indem
sie ausdriicklich und wiederholt die Androhung der Entlassung
hinzufiigte. Dadurch sah sich Palmerston allerdings veranlasst,
schriftlich und mundlich zu erklaren, dass er nicht verfehlen
werde, diese Anweisungen zu befolgen. Er hat sich dann freilich
wenig darum bekiimmert und ist ruhig seinen Weg weiter ge-
gangen. So lange Russel ihn unterstiitzte , die ganze liberate
Partei also hinter ihm stand, belt er es bei seiner Popularitat
nicht fur nothig, viel Rucksicht auf die Gegenwirkung des Hofes
zu nehmen.
Die rasche Anerkennung des franzosischen Staatsstreiches,
entgegen dem Beschlusse des Cabinets und dem ausdriicklichen
Wunsche der Eonigin, musste dieselbe aufe neue schwer ver-
letzen. Sie gab ihrer Entriistung unverhohlen Ausdruck, indem
sie auf die erste Kunde davon an Lord Russel u. a. schrieb:
„ Weiss Lord John etwas von der angeblichen Billigung, welche,
wenn sie wahr ware, die Ehrlichkeit und Wurde der Regierung
der Eonigin in den Augen der Welt abermals blosstellen wiirde?"
Unter diesen Umstanden entschloss sich Russel zum Bruche mit
seinem langjahrigen Bundesgenossen und Collegen. Martin giebt
dariiber einige neue Schriftstiicke , durch welche die Mitthei-
ltingen in Ashley's „Life of Palmerston"*) nicht unwosentlich er-
ganzt werden. In den letzteren wird Palmerstons ausfiihrliche
Vertheidigung abgedruckt, die Antwort Russels (17. Dezemb. 51)
nur kurz angedeutet. Es heisst in derselben u. a.: „So sehr ich
mit der von Ihnen vertretenen auswartigen Politik iiberein-
8timme, und so sehr ich die Energie und Geschicklichkeit, mit
welcher dieselbe zur Ausfiihrung gebracht wird, bewundere, so
kann ich doch nicht umhin zu beobachten, dass haufig wieder-
kehrende Missyerstandnisse, stets sich wiederholende Verletzungen
der Vorsicht und der Schicklichkeit die Wirkungen, welche die
Folge einer gesunden Politik und einer geschickten Verwaltung
hatten sein miissen, vereitelt haben. Ich sehe mich daher zu
meinem grossten Bedauern genothigt, zu dem Schlusse zu ge-
langen, dass die Leitung der auswartigen Angelegenheiten nicht
ferner zum Vortheil des Landes in Ihren Handen bleiben kannu.
Der Prinz war einigermassen erstaunt, dass der Streit dies-
*) London 1876.
Mlttheilungen a. d. hUtor. Litteratur. VU. 24
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370 Martin, Das Leben dea Prinzen Albert, Prinzgemahls etc.
mal zu solchem Resultate fiihrte. Mit bitterer Ironie schreibt
er (20. Dezemb. 1851) an Russel: „Sie werden sich leicht vor-
Btellen konnen, dass die Nachricht von dem plotzlichen Ausgange
Hirer Different mit Lord Palmerston uns sehr iiberrascht hat,
da wir gewohnt waren, solche Differenzen damit enden zu sehen,
dass er seine Sachen durchsetzte, und die Vertheidigung der-
selben &einen Collegen und den Misscredit der Konigin iiberliess."
Palmerston musste also zuriicktreten , auch das Unterhaus
liess ihn im Stich. Aber freilich hatte das Ministerium Russel
sich damit selbst den Todesstoss gegeben und musste sehr bald
resigniren. Ein Torycabinet vermochte sich nicht zu halten und
dem im Dezember 1852 von Aberdeen gebildeten Coalitions-
ministerium gehorte Palmerston wieder an. Er musste sich in-
des mit dem Ministerium des Innern begniigen und seine Do-
mane, die auswartigen Angelegenheiten , anderen Handen iiber-
lassen. Doch gewann er bald wieder den Einfluss auf dieselben,
zu dem ihn sein politischer Scharfblick und sein uberlegenes
Geschick in ihrer Behandlung berechtigten.
Die orientalische Verwickelung fiihrte dann zu einer neuen
Krisis. Vom Beginn derselben an arbeitete Palmerston im Ein-
veretandniss mit Napoleon auf ein energisches Auftreten bin,
wahrend Aberdeen eine friedliche Losung herbeizufiihren suchte.
Der Prinz war unzufrieden mit dem schwankenden Auftreten
Aberdeens, noch weniger aber mit den Zielen Palmerstons ein-
verstanden. Seine Ansichten gehen in der Hauptsache darauf
hinaus: England darf nicht zugeben, dass der Bosporus russisch
wird und muss, um dies zu yerhindern, nothigenfalls zu den
Waflfen greifen; der Krieg ist dann aber nicht im turkischen,
sondern im europaischen Interesse zu fiihren und deshalb darf
England keine Verpflichtungen gegen die Tiirkei ubernehmen;
England hat gar kein Interesse an der Integritat des turkischen
Reiches, weit eher an der Herstellung geordneter Zustande
innerhaJb desselben. Es wiirde zu weit fiihren und den Zwecken
dieser Zeitschrift nicht entsprechen, diese Ansichten aus den von
Martin veroffentlichten Briefen des Prinzen im Einzelnen zu be-
grunden und darnach zu entwickeln, welche Stellung der Prinz
in den verschiedenen Stadien der Verhandlungen einnahm. Ich
hebe deshalb nur eine Stelle aus dem Memorandum heraus, das
der Prinz am 21. Oktober 1853 der Erwagung des Cabinets
unterbreitete. „Man wird sagen, dass England und Europa, ganz
abgesehen von alien turkischen Erwagungen, ein starkes Interesse
daran haben, Constantinopel und das tiirkische Gebiet nicht
Russland in die Hande fallen zu sehen, und dass sie aussersten
Falls sogar Krieg fiihren miissten, um einem solchen Umsturz
des Gleichgewichts der Macht vorzubeugen. Das muss zugegeben
werden, und ein solcher Krieg kann recht und weise sein. Aber
das wiirde ein nicht fur die Aufrechterhaltung der Integritat
des ottomanischen Reiches, sondern lediglich fiir die Interessen
der civilisirten europaischen Machte gefuhrter Krieg sein. Der-
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Martin, Das Leben des Prinzen Albert, Prinzgemahls etc. 371
selbe sollte unabhangig von Verpflichtungen gegen die Tiirkei
gefiihrt werden und wird wahrscheinlich in dem Frieden, welcher
der Zweck dieses Krieges sein muss, daza fiihren, dass Anord-
nungen erwirkt werden, welche mehr die wohlverstandenen
Interessen Europas, des Christenthums , der Freiheit und der
Civilisation, als die Wiederauferlegung des Joches der unwissen-
den, barbarischen und despotischen Muselmanner auf den frucht-
barsten und begiinstigtsten Theil Europas fdrdern."
Aberdeen, Clarendon als Minister der auswartigen An-
gelegenheiten und einige andere Minister erklarten sich mit
den von dem Prinzen dargelegten Ansicbten einverstanden,
Palmerston aber spottete iiber die Idee, dass man von dem
Sultan eine andere Behandlung seiner christlichen Unterthanen
verlangen solle. Fiir ihn handelte es sich im Gegentheil gerade
darum, die Integritat des tiirkischen Reiches sicherzustellen;
jede andere Politik musste nach seiner Meinung friiher oder
spater dabin fiibren, die tiirkischen Lander unter russische Herr-
schaft zu bringen.
Mitten unter diesen Verhandlungen erklarte Palmerston
plotzlich am 15. Dezember seinen Austritt aus dem Cabinet,
formell wegen seines Widerspruchs gegen Lord Russels Reform-
bill. Sofort machte sich natiirlich die Ansicht geltend, dass es
Zwistigkeiten in der orientalischen Frage seien , um derenwillen
er ausscheide, eine Ansicht, die von Bunsen (Bunsens Leben von
Nippold, III, p. 316.) bereits in einem Briefe vom 15. Dezember,
die seitdem von alien Historikern, welche sich mit dieser Sache
befasst haben, ausgesprochen ist. Der Prinz dagegen und Pal-
merston*) stellen auch in vertrauten Briefen die Reformfrage in
den Vordergrund. Nach diesen Zeugnissen muss wohl zugegeben
werden, dass die Reformbill nicht bios zum Vorwande diente.
In der That stand Palmerston als Minister des Innera zu dieser
Frage in sehr naher Beziehung. Er hatte sich wiederholt gegen
die Principien der Bill erklart und man konnte weder von ihm
verlangen, dass er seinen ganzen Einfluss auf biete, um sie durch-
zubringen, noch erlaubte es ihm seine Stellung, sich dabei passiv
zu verhalten. So langte er nur Minister des Innern war, hatte er
alle Veranlassung auf seinen Ansichfcen in der Reformfrage zu
bestehen. Die Sache lag aber ganz anders, wenn man auf seine
Wunsche in der orientalischen Frage einging und ihm damit
einen grosseren Einfluss als bisher und noch glanzendere Aus-
sichten fur die Zukunft gewahrte. •Denn Palmerston war oflfenbar,
wenn er es auch in seinen Briefen bestreitet, nicht nur der
Reform wegen ausgeschieden. Mit grossem Geschick hatte er
den rechten Augenblick benutzt, um das seit Jahrzehnten an-
gestrebte Ziel zu erreichen und sich zum Herrn der Lage zu
machen. Die offentliche Meinung, die schon durch die Kata-
strophe von Sinope erregt war, gerieth durch Palmerstons
*) Ashley II, p. 19.
/Google
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372 Martin, Das Leben des Prinzen Albert, Prinzgemahla etc.
Austritt und durch die Agitation seiner Freunde in stiir-
mische Bewegung; es war unzweifelhaft, dass das Coalitions-
ministerium sich nicht behaupten konnte, wenn das fahigste und
popularste seiner Mitglieder sich der Opposition anschloss. Die
Regierung sah sich also genothigt nachzugeben und die von
Palmerston und dem Kaiser Napoleon gewiinschten Massregeln
gegen Russland zu beschliessen*). Palmerston liess nunmehr seine
Bedenken gegen die Reformbill fallen und trat wieder in das
Ministerium ein. Auch die Konigin gab jetzt ihre Zustimmung
zu diesem Beschlusse, indem sie dabei erklarte, sie glaube die-
selbe unter den obwaltenden Umstanden nicht yersagen zu konnen,
obwohl sie voraussehe, dass dieser Beschluss zur Kriegserklarong
fiihren werde, eine Voraussicht, die sich sehr bald bewahrheitete.
Dennoch blieb der Konigin und dem Prinzen, wenn sie ihrem
bisherigen Princip constitutioneller Regierung, das Regiment im
Einverstandniss mit den Wiinschen der Nation zu fiihren, treu
bleiben wollten, nichts iibrig als sich zu fugen und den mach-
tigen, von den Sympathien der Bevolkerung unterstiitzten Staats-
mann gewahren zu lassen. Denn die leidenschaftliche Erregung
der offentlichen Meinung, welche durch Palmerstons Riicktritt
hervorgerufen war, richtete sich weniger gegen seine Collegen
als gegen den Hof, und voraehmlich gegen den Fremden, der an
der Spitze desselben stand und sich, wie man behauptete, auf
unconstitutionelle Weise in die Geschafte mische. Wochenlang
waren die Zeitungen, die Verhandlungen der Meetings voll von
den gehassigsten Anklagen gegen den Prinzen und von den
abenteuerlichsten Behauptungen iiber die angebliche koburgische
Verschworung. Diesen Kampf hat der Prinz schliesslich siegreich
bestanden. Alle Anklagen, alle Verlaumdungen erwiesen rich
als grundlos, und die parlamentarische Verhandlung hat sogar
viel dazu beigetragen, die Stellung des Prinzen zu befestigen. In
der orientalischen Frage aber hatte er nachgeben miissen. Der
von ihm bekampfte Minister hatte jetzt grosseren Einfluss als
vorher, er ist bald darauf an die Spitze der Regierung getreten,
hat nach seinen Ansichten den Krieg for die Integritat der
Tiirkei gefiihrt und schliesslich durchgesetzt, dass dieselbe feier-
lichst von Europa proklamirt wurde, Mit dem Augenblicke, wo
der Krieg nicht mehr zu vermeiden war, scheint der Prinz seine
Opposition gegen Palmerston aufgegeben zu haben. Als patri-
otischer Staatsmann richtete er nunmehr seine ganze Kraft darauf,
dass der Krieg energisch gefiihrt werde und dass die Ziele, welche
die britische Politik sich gesteckt hatte, erreicht wiirden. In
diesen Beziehungen hat er Palmerstons Bestrebungen warm unter-
8tiitzt und sich zugleich bemiiht, den franzosischen Bundes-
genossen von weitergehenden Planen auf eine Umgestaltung der
Karte von Europa, die der Kaiser mehrmals, namentlich zur
*) Vergl. dariiber: Ashley 1. c. Kinglake, Expedition of the Crimea.
I, p. 881, und den Aufsatz im Dezemberheft der dentschen Rundschau.
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Martin, Das Leben des Prinzen Albert, Prinzgemahla etc. 373
Zeit des Pariser Congresses hervortreten liess, zuriickzuhalten,
Der dritte Band des Werkes, der sicli vornehmlich mit der
diplomati8chen Geschichte des Krimkrieges und mit den mili-
tarischen Organisationen in England, an denen der Prinz hervor-
ragenden Antheil hatte, beschSftigt , giebt dafiir zahlreiche Be-
weise. Er enthalt viel interessantes neues Material namentlich
in Betreff der Beziehungen zu Oesterreich und zu Preussen.
Friedrich Wilhelm IV. versuchte es mehrmals in ausfiihrlichen
Briefen an die Konigin nnd den Prinzen, die von ihm befolgte
Politik zu erklaren. Ich muss es umsomehr vermeiden , dieselbe
hier klar zu stellen, als das in dieser Beziehung von Martin
mitgetheilte neue Material in dem erwahnten Aufsatze der
deutschen Rundschau bereits verwerthet worden ist, und citire
deshalb nur eine Stelle aus einem Antwortschreiben der Konigin
als Zeichen des Freimuthes und der Offenheit, welehe die koniglicfae
Familie in England dieser Politik gegenuber bewies. Als die
Konigin im Mai 1854 von der Entlassung Bunsens und Bonins
und von der Abreise des Prinzen von Preussen Kenntniss er-
halten hatte, schrieb sie u. a.: „...Nur eines drangt mich mein
Herz Ihnen auszusprechen , class die Manner, mit welchen Sie
gebrochen haben, treue, wahrhafte und Ihnen mit warmster
Anhanglichkeit ergebene Diener waren, auch durch die Freiheit
und Independenz der Seele, mit welchen sie gegen Ew. Majestat
ihre Meinungen geltend machten, gerade einen untriiglichen Be-
weis gegeben haben, dass sie nicht ihre eigenen personlichen
Vortheile und die Gunst ihres Herrn, sondern dessen wahre
Interessen und Wohlfahrt allein im Auge hatten, und wenn
gerade solche Manner, und darunter selbst ein liebender Bruder,
ein durch und durch edler und ritterlicher Ftirst, der Nachste
am Throne, in einer schweren Krisis von Ihnen zu wenden sich
gezwungen sehen, so ist dies ein schweres Zeichen, welches wohl
Ew. Majestat Anlass geben konnte, mit sich zu Rathe zu gehen
und mit angstlicher Sorgfalt zu priifen, ob nicht vielleicht der
verborgene Grand vergangener und zukiinftiger Uebel in den
Ansichten Ew. Majestat selbst liegen konnte."
Martins Biographic beschaftigt sich natiirlich nicht allein
mit den politischen Fragen, die ich hier beriihrt habe. Auch
iiber die Familienverhaltnisse des Prinzen, iiber die Weltaus-
stellung von 1851, die der Prinz in das Leben gerufen und ge-
leitet hat, iiber viele Fragen des wirthschaftlichen und des
geistigen Lebens, bei denen er anregend oder leitend thatig war,
werden eingehende und interessante Mittheilungen von dem Bio-
graphen gegeben, der sich uberall auf authentische, fur andere
unzugangliche Quellen stiitzen konnte.
Steglitz, 7. Dezember 1878. Paul Goldschmidt.
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374 Hensel, Die Familie Mendelssohn.
xcr.
Hensel, S., Die Familie Mendelssohn 1729—1847. Nach Briefen
und Tagebiichern. Mit 8 Portraits nach Zeichnungen von
Prof. W. Hensel. 3Bande. gr. 8. (XIH, 427; VII, 283 und VII,
261 S.) Berlin 1879, B. Behr's Buchhandlung.
Wenn wir in diesen Blattern des vorliegenden Baches, ob-
wohl dasselbe durchaus nicht den Anspruch erhebt, ein Geschichts-
werk zu sein, gedenken, so glauben wir dieses damit rechtfertigen
zu konnen, dass dasselbe doch auch historisch und zwar
als Geschichtsquelle von Bedeutung ist. Fast ganz auf Fa-
milienpapieren , Briefen und Tagebiichern, beruhend und zum
grossen Theil dieselben wiedergebend, schildert uns dasselbe das
Leben einer Familie , welche in der ersten Halfte dieses Jahr-
hunderts in Berlin eine grosse Rolle gespielt hat, welche damals
der Mittelpunkt der wahrhaft gebildeten Kreise der preussischen
Hauptstadt gewesen ist. Mit der Familie selbst fiihrt uns das
Buch auch diesen weiteren Kreis, das Leben und Treiben in
demselben vor, in welchem freilich (charakteristisch f iir die Zeit)
kiin8tlerische und litterarische Interessen die politischen fast
ganz in den Hintergrund drangen. Wir gestehen das Buch mit
grossem Vergniigen gelesen zu haben und auch wir danken dem
Verf., dass er dasselbe, welches urspriinglich nur fiir die Familie
geschrieben war, veroffentlicht hat. Es fiihrt uns eine Reihe
von bedeutenden und anziehenden Personlichkeiten vor, welche
sich ebenso durch Talent und durch Tiichtigkeit, wie durch
Adel der Gesinnung und durch Liebenswiirdigkeit auszeichnen,
und ein Familienleben, wie es inniger und harmonischer nicht
gedacht werden kann. Der erste Band behandelt die Zeit von
1729 bis 1835, er beginnt mit einer Biographie des Philosophen
Moses Mendelssohn, in welcher namentlich das reformatorische
Wirken desselben auf seine Glaubensgenossen, die Einfiihrung
der Juden in die gebildete Gesellschaft, hervorgehoben wird. Es
folgen dann kurze Abschnitte iiber den altesten Sohn desselben,
Joseph Mendelssohn, und dessen zwei Schwestern, Dorothea, welche
als Geliebte, Gattin und Mitarbeiterin Friedrich Schlegel's be-
kannt geworden ist, und Henriette, die langere Zeit als Er-
zieherin der einzigen Tochter des napoleonischen Generals
Sebastiani in dessen Hause gelebt hat und deren Briefe manche
interessante Einblicke auch in das pariser Leben in den beiden
ersten Decennien dieses Jahrhunderts gewahren. Der Haupttheil
des Bandes fiihrt uns die Familie des jiingeren Bruders Alexander
Mendelssohn vor, diesen selbst, seine Gattin, ihre Kinder, anter
denen Felix und seine nicht weniger begabten und gebildeten
Schwestern Fanny und Rebecka am meisten hervortreten, ferner
die beiden Gatten derselben, den Maler Hensel, den Vater des
Verfassers, und den Mathematiker Dirichlet, dazu dann aber auch
den weiteren Freundeskreis, welcher sich urn dieselben bildet;
er schliesst mit dem Tode des Vaters im Jahre 1835, dem ersten
schweren Stoss, welchen dieses wahrhaft gliickliche Familienleben
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BuUe, Geschiclite der Jahre 1871—1877. 375
erleidet. Hauptquellen des Verf. sind hier die Briefe und Tage-
biicher seiner Mutter, von denen ein grosser Theil theils voll-
gtandig, theils in Ausziigen mitgetheilt wird; von den schon
friiher veroffentlichten Briefen Felix's werden nur einzelne hier
wiederholt, dafiir aber wird eine nicht geringe Zahl von bisher
ungedruckten neu hinzugefiigt. Mit besonderer Ausfiihrlichkeit
wird die erste Reise Felix's nach England 1829 behandelt,
wahrend die italienische Reise im folgenden Jahre, von welcher
die „Reisebriefeu ein so schones and lebhaftes Bild geben, hier
nor ganz kurz beriihrt wird* Der zweite Band reicht bis zum
Tode der Mutter 1843; ein en grossen Theil desselben nehmen
die Briefe ein, welche Fanny Hensel von einer italienischen Reise
aus 1839 und 1840 in die Heimath geschrieben hat; der dritte
Band endlich schliesst mit dem Jahre 1847, in welchem bald
nacheinander Fanny und Felix starben ; auch hier wieder bildet
den grossten Theil die Corresponded zwischen Rebecka, welche
mit ihrem Gatten und ihren Kindern 1843 und 1844 Italien
besucht, und Fanny, sowie die Briefe der letzteren von ihrer
zweiten italienischen Reise 1845 aus. Dem schon ausgestatteten
Werke sind 8 Portrats beigegeben, photographische Nachbil-
dungen von Zeichnungen des Vaters des Verfassers.
Berlin. F. Hirsch.
xcn.
Bulle, Constantly Geschichte der Jahre 1871—1877. (In 2 Bdn.)
II. Band* Das iibrige Europa. Mit Namen- und Sachregister
zu Band I u. II. gr. 8. (4, 331 S.). Leipzig 1878. Duncker
& Humblot 5 M.
In Bezug auf die Tendenz des Buches und die Art der
Behandlung des Stoffes verweist Referent auf seine Anzeige des
I. Bandes des vorliegenden Werkes in dieser Zeitschrift VII
p. 79 — 81. Es ist schon dort hervorgehoben worden, wie misslich
es ist, wenn ein Geschichtsschreiber , der mit den Ereignissen
gleichen Schritt zu halten sucht, im voraus den Endpunkt eines
bestimmten Jahres als Abschluss eines als Ganzes zu behandeln-
den Zeitraums festsetzt. Auch der Verf. verschliesst sich dieser
Erwagung nicht; er gesteht (p. 176), dass er in Folge dessen
bei mehr als einem Staate die Erzahlung der betreffenden Er-
eignisse an einem Punkte habe abbrechen miissen, der kaum
nothdiirftig einen gewissen ausserlichen Abschluss gestattete.
Ganz besonders f iihlbar ist ihm dieser Uebelstand bei der orien-
talischen Frage geworden; hier ist es ihm unerlasslich erschienen,
nicht bios andeutungsweise und mit kurzer Angabe der Facta
in das Jahr 1878 hinuberzugreifen , sondern die geschichtliche
Darstellung selbst bis zum Abschluss des Vertrages von Berlin
weiterzufiihren. Jeder Leser des Buches wird dem beipflichten
und dem Verf. Dank wissen, dass er sich in diesem Punkte ohne
iibertriebene Engherzigkeit der Fessel, die in dem gewahlten
Titel lag, entledigt hat.
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376 v« S61ti, Das deutsche Volk und Reich.
Ungefahr die erste Halfte des Buches (S. 1—175) enthalt
die Geschichte der Lander: Oesterreich-Ungarn, Schweiz, Italien,
Spanien und Portugal, Grossbritannien , Holland und Belgien,
Danemark, Schweden und Norwegen. Als besonders eingehend
ist daraus hervorzuheben die Darstellung der auf den Ausgleich
von 1868 folgenden Verfassungskampfe in Oesterreich und Ungarn
(S. 1 — 45), der spanischen Wirren von der Wahl Amadeo's bis
zur Beendigung des Carlistenkrieges (S. 84 — 132), sowie der
englischen Verhaltnisse in den letzten Jahren des Ministeriums
Gladstone und dem Anfange der Disraelischen Aera (S. 131 — 152).
Die ganze zweite Halfte (S. 176 — 299) wird eingenonunen von
der an die Geschichte Russlands und der Tiirkei angekniipften
Darstellung der orientalischen Wirren, die bis zur Beendigung
des Berliner Congresses (13. Juli 1878) fortgefiihrt wird. Die
Schilderung des Verlaufes der diplomatischen Yerhandlungen
sowie des Krieges selbst zeigt die scbon frtther anerkannten
Vorziige, nur soheint der Verf, einem grosseren Leserkreis gegen-
iiber in Bezug auf das miiitarische Detail des Guten etwas zu
viel zu thun.
Entlegenere Kreise von Ereignissen, die sicb in fremden
Erdtheilen vollzogen haben, sind, wie der Ver£ in der Schluss-
betracbtung S. 310 bemerkt, ausgescblossen geblieben, da es
nicbt tbunlicb erscbien, aucb ihnen schon nacb so kurzer Zeit eine
zusammenfassende Behandlung zu widmen. Der Vert stellt eine
zusaxnmenfassende Behandlung der iiberseeischen Yerhaltnisse in
Aussicht in einer spateren Fortsetzung dieses Werkes, in Bezug
auf welches nur der eine Wunsch erlaubt sei, dass sie sich der
Entwickelung der Ereignisse nicht so dicht an die Fersen
heften moge.
Berlin. R. Rodenwaldt
XCHI.
von Soltl, Dr. Job. Mich., Das deutsche Volk und Reich in fort-
ochreitender Entwickelung von den friihesten Zeiten bis auf
die Gegenwart 3 Bde. gr. 8. (VIH, 290; VIII, 301; IV, 322 &).
Eiberfeld 1877/78. E. LoU. 10 M.
Der Herr Verfasser, einer der Senioren der deutschen
Geschichtsforschung, begleitet sein W«rk mit dem Wunsche in
(lib Oeffentlichkeit: „M6ge dieses Buch ein wahres Yolksbuch
werden und dazu beitragen, die deutschen Stamme, indem sie
die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleichen, immer inniger
mit einander zu verbinden und veranlassen, auf der Bahn frei-
sinniger politischer und wahrhaft religioser Entwickelung fort-
zustreben.4* Ueberall begegnen wir einer gehobenen patriotischen
Auf£a«8ung: „Kaum diirfte Einer der nachfolgenden Geschichts-
schreiber", sagt eine andere Stelle des Vorworts , „so gliicklich
sein, einen ahnlichen Abschluss fiir sein Werk zu linden, als mir
die Vorsehung gewahrte, der ich die endlicho Gestaltung des
wahrhaft deutschen Kaiserreiches erlebte und mit der Erzahlung
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v. SSltl, Das deuteche Volk und Reich. 377
dieser einzigen, grossartigen , segenverheissenden Griindung
schliesse." Die warme Freude des Verfassers an den grossen
Ergebnissen der neuen deutschen Geschichte spricht urn so mehr
an, ab er auf die Wege, die zu dem jetzt erreichten Ziele
fuhrten, wohl nicht mit denselben ungetheilten Empfindungen
zuruckschaut. Er gehort nicht zu den Bewunderern der preussi-
schen Geschichte und der preussischen Traditionen; sein Urtheil
iiber den Begriinder der preussischen Grossmachtsstellung ist
^iskalt (III, 118); nicht eben wohlwollend sind Bemerkungen
wie die HI, 97: „Von da an griindete sich der Bund mit jenem
damals noch halbbarbarischen Land (Russland) und seinen asi-
atischen Sitten, der bis auf unsere Tage beinahe ununterbrochen
zur sichtbaren Vergrosserung Preussens nach aussen fortdauert" ;
und eine gewisse Reserve liegt doch auch in der Stelle III, 283
(anlasslich des Ausbruchs des Krieges von 1866): „Seit Friedrich
dem Grossen war in Allen (Preussen), besonders durch die
Schriftsteller, der Gedanke lebendig, Preussen miisse an Deutsch-
lands Spitze stehen." Ohne je direct auszusprechen — die Dar-
stellung ist iiberhaupt „objectivu — beklagt es der Verfasser
offenbar, dass die deutschen Stamme nicht nebeneinander, in
gleicher Kraft und gleichem Fortschreiten , die gemeinsamen,
unter sich gleichstehenden, gleiches leistenden Trager der deutschen
Geschichte und deutschen Einheit wurden oder blieben. „Das
deutsche Reich war damals", so sagt er von dem beginnenden
zehnten Jahrhundert, (I, 111) „ein Bund der fiinf deutschen
Volker, deren jedes mit seinem Herzoge seine inneren Angelegen-
heiten unabhangig von anderen besorgte, alle miteinander aber
erkannten den Herzog von Sachsen als ihren gemeinsamen Konig
an. Dieses Yerhaltniss schien dem Wesen der einzelnen Volker
und der Erfahrung zu Folge das naturgemasste und erspriess-
lichste und blieb im Bewusstsein des Volkes lebendig". Soltl
verurtheilt die Tendenzen des sachsischen Konigthums, die zur
Auflosung der alten StammesherzogthtLmer fuhrten (I, 127), und
so scheint er denn auch wieder in der Darstellung der neueren
Geschichte sich, nicht iiberall der Anwandlung erwehren zu kon-
nen, Deutschland, das ideale Deutschland, im Lager der Mittel-
staaten zu suchen und die Bedeutungslosigkeit der letzteren neben
den beiden rivaJisirenden Grossmachten zu bedauern. Eine Nei-
gung, die namentlich in dem Abschnitt iiber die schleswig-hol-
steinische Verwickelung von 1863 und 1864 durchblickt. Man
mag nun iiber die Berechtigung der Stammesgewalten im Mittel-
alter im Gegensatz zu dem Kaiserthum urtheilen wie man will,
so wiirde doch fiir die Neuzeit, wo Deutschland von centralisirten
Nachbarstaaten eingeschlossen , ein deutscher Staatenbund von
fiinf oder vier gleichstarken Machten nichts anders bedeuten als
das „Sy8tem der Reguli", mit dem in den vierziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts das Frankreich des Cardinals Fleury durch
eine gleiohmassige Vertheilung der osterreichischen Landermasse
unter Preussen, Baiem, Sachsen und die Erbtochter des letzten
24*
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378 v- Soltl, Das dcutsche Volk und Reich.
Habsburgers uns so gern begliickt hatte, jenes System, das
in dem Rheinbund neben einem Kleinpreussen und einem
Kleinosterreich seine zeitweilige Verwirkliohung fand mid 1866
in dem Project eines siiddeutschen Bondes zwischen dem nord-
deutschen und Oesterreich an seine Auferstehung dachte. Aber,
wie vorangestellt , der Herr Verfasser ist einsichtig und hoch-
herzig genug, sich trotz friiherer Sympathien und vielleicht
Antipathien ganz und freudig auf den Boden der neugeschaffenen
Thatsachen zu stellen und die Einheit Deutschlands unter preussi-
scher Fiihrung auf das warmste zu begnissen. Gelte uns deshalb
sein Buch als ein Ausdruck der Gesinnungen aller der Kreise in
des Verfassers engerem Vaterlande, die mit Aufrichtigkeit und Hin-
gebung sicb in die neuen Verhaltnisse hineinzuleben bemiiht sind.
Wenn der Verfasser ein populares Werk schreiben wollte,
so sollte seiner Absicht nach doch auch die wissenschaftlich-
kritische Grundlage nicht fehlen. Durch jahrelange Vorarbeiten
hat er sich, so sagt das Vorwort, fur seine Darstellung „Vieles
aus dem reichen Quellenschatze zu eigen gemacht, den die treff-
liohsten Geschichtskundigen friiherer und der jiingsten Zeit zu
Tage forderten". Zu bedauern ist, dass die kurzen Belege unter
dem Text, die auf den ersten Bogen, obgleich auch nur ver-
einzelt, beigebracht werden, in der Folge ganz wegfallen. Wie
iedem Werke von gleicher Veranlagung musste auch dem vor-
liegenden die doppelte Schwierigkeit entgegentreten: eine Auf-
gabe von grosster Ausdehnung im engen Rahmen zu behandelnr
und dieselbe nur auf die eigenen Krafte angewiesen zu bewal-
tigen. Die zweite Schwierigkeit wird schiefe Auffassungen dieser
oder jener Verhaltnisse und auch einzelne directe Irrthiimer nie
vermeiden lassen; die erste fuhrt leicht zu einer ungleichmassigen
raumlichen Verthellung des Stoffes und fur den Leser zu Miss-
verstandnissen in Folge der nicht zu umgehenden Kiirze. Irre-
fiihrend z. B. fur die in die umfangreiche monographische Literatur
nicht initiirten Leser — und an diese richtet sich das Werk —
ist, was der Verfasser Bd. II, S. 29 in wenigen Zeilen uber die
Entstehung des Kurfurstencollegiums in einer nach dem Stande
der Forschung doch zu grossen Bestimmtheit sagt. Was die
raumliche Behandlung des Stoffes angeht, so sind einer Inhalts*
angabe des Kibelungenliedes iiber fiinf Seiten gewidmet, wahrend
die Erzeugnisse der neueren Literatur doch nur in uber&us
summarischer Weise behandelt werden. Wenn die Darstellung
des dreissigjahrigen Krieges in der Oekonomie des Ganzen als
zu breit angelegt erscheint, so bedauern wir dies nicht, da
ihr die von dem Verfasser auf diesem Gebiete angestellten
archivalischen Specialstudien zu Gute kamen; doch hatten wir
die Figur des Pater Dominicus in der Schlacht bei Prag (H, 254)
nach den beachtenswerthen Argumenten von Brendel (Schlacht
bei Prag S. 47/48) lieber entbehrt*
Berlin. • Reinhold Koser.
Druck von Oskar Bonde in Altenbi
digitized by G00gle
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