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Full text of "Mschrft Psychiat Neurol 1911 30"

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Monatsschrift 

fur 

Psychiatrie und Neurologie. 


Herausgegeben von 


Th. Ziehen. 

# 


Band XXX. 


Mit zahlreichen Abbildungen im Text und 11 Tafeln. 



BERLIN 1911 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 


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Alle Bechte vorbehalten. 


Gedruckt bei Imbergr & Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 6M. 


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Inhalts-V erzeichnis. 


Original-Arbeiten. 

Berger, Hans, Ueber einen Fall von Totalaphasie. (Hierzu 

Taf. IV—V).79 

Biondi, Oiosue, Paranukleolen und hyaline Schollen des Karyo- 

plasma der Nervenzelle. (Hierzu Taf. IX).223 

Fumarola, O., und E. Tramonti, Globulinreaktion, Albumin- 
reaktion und Lymphozytose bei den organischen Er- 

krankungen des Nervensystems.99 

Gianelli, A., Beitrag zum Studium der hereditaren Lues (Fried- 

reichsches Symptom). (Hierzu Taf. I—III).32 

Haeger, Ernst, Ausgebreitetes Endotheliom der inneren 

Meningen des Gehims. (Hierzu Taf. VI).86 


Kryzan, S., Ueber den anatomischen Befund in einem Falle 

von mikrocephaler Idiotie. (Hierzu Taf. IX) .... 321 
Liepmann, H., Ueber Wernickes EinfluB auf die klinische 

Psychiatrie. 1 

Maas, Otto, Ueber eine besondere Form der Encephalopathia 

saturnina (Meningitis serosa). (Hierzu Taf. VII—VIII) 207 
Masuda, HirnmiBbildungen von menschlichen Foten nebst Be- 
merkungen iiber die Genese der Gehimbriiche und der 
Spaltbildungen an Him und Schadel. (Hierzu Taf. X 


bis XI).329 

Ossipow, V. P., Zur Frage der Behandlung der Ischiasfalle mit 

Injektionen von abgekuhlter Kochsalzlosung.54 

Ossokin, N., Experimenteller Beitrag zur Wiederkehr des Knie- 

phanomens nach Pyramidenlasion bei Tabes dorsalis . . 204 
Pfersdorff, K., Ueber die Verlaufsarten der Dementia praecox 159 
Redlich, Emil, Tetanie und Epilepsie.439 


Rohde, Jfoa;, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen 272,384, 519 

Roper, Erich, Heilerfolge bei Neurasthenie.134 

Singer, Kurt, Die Ulnarislahmung. 237, 334, 475 

Steiner , O. , Ueber die Beziehungen der Epilepsie zur Links- 

handigkeit .119 


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Berichte. 

XXXVI. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neuro- 
logen und Irrenarzte in Baden-Baden am 20. und 21. Mai 
1911. Bericht, erstattet von Dr. Hugo Levi in Stuttgart 66,150 
83. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerate in Karls¬ 
ruhe vom 24.—29. September 1911. Bericht, erstattet 

von Dr. 8. Lilienstein in Bad Nauheim.412 

V. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nerven- 
arate vom 2.—4. Oktober 1911 in Frankfurt a. M. Bericht, 
erstattet von Dr. S. Lilienstein in Bad Nauheim .... 423 

Buchanzelgen . 230, 325, 435, 544 

Therapeutisches .78 

Tagesgeschichtliches und Personalien . . 78, 235, 328, 438, 544 


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Ueber Wernickes EinfluB auf die klinische Psychiatrie 1 ). 

Von 

Prof. Dr. H. LIEPMANN 

in Berlin. 

Die mir gestellte Aufgabe, Wernickes EinfluB auf die 
klinische Psychiatrie darzulegen, erwies sich bei der Ausfiihrung 
als recht schwierig. 

Zunachst aus einem allgemeinen Grunde: Sie notigt, in 
brennende Fragen hineinzugreifen ohne die Legitimation eines 
eigenen neuen Beitrages zu ihrer Losung. 

Dann aus einem spezielleren Grunde: Es ist wenig mehr als 
ein Jahrzehnt verflossen, seit Wernicke seine Lehre in 
seinem Lehrbuch abgeschlossen den Fachleuten ubermittelte. Er 
selbst wurde schon 5 Jahre darauf seinem Werke entrissen. Dem 
Vater war es versagt, die Entwicklung seines Kindes zu iiberwachen 
und zu leiten. Diese ungiinstigen auBeren Umstande wiirden nicht 
so ins Gewicht gefallen sein, wenn nicht auch innere Grunde der 
baldigen Verbreitung von Wernickes Lehre im Wege ge- 
standen hatten. Das war nun in hohem MaBe der Fall. 

Seine Psychiatrie stellte sich nicht nur inhaltlich in Gegensatz 
zu den zeitgenossischen Lehren und setzte sich auffallig wenig mit 
ihnen auseinander, sondem auch Form und Ausdrucksweise hatten 
etwas Fremdartiges, Eigenbrodlerisches. Die Grundvoraussetzun- 
gen waren neu, von den herkommlichen abweichend, und eine 
Legion neuer Bezeichnungen iiberflutete unsere schon so mannig- 
faltige und vielspaltige Terminologie. Es kommt hinzu, daB die 
Gesichtspunkte, welche Wernicke leiteten, eminent un- 
praktische waren, sowohl an den Bedurfnissen des Anstaltsarztes, 
des behandelnden oder konsultierenden Arztes, wie des gericht- 
hchen Sachverstandigen und des Publikums gemessen. Was 
interessiert es die Angehorigen, die Richter und selbst den Arzt, 
den Psychiater, soweit er nur later ist, ob die Bewegungs- 
losigkeit eines Kranken intrapsychisch oder psychomotorisch 

*) Weitere Ausfiihrung eines dem Verein Deutscher Irren&rzte auf des sen 
Jahresversammlung in Stuttgart am 21. April 1911 erstatteten Referates. 

Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neuroloirie. Bd. XXX. Heft 1. 1 


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Liepmann , Ueber Wernickes Einflufi 


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bedingt ist, ob die geauBerten Wahnideen Ausdruck einer primaren 
Desorientierung oder einer sekundaren Erklarung sind? 

Die Gesamtheit dieser Umstande bedingt es, daB in diesem 
Falle der an sich nicht kurze Zeitraum eines Jahrzehnts als ein 
zu kurzer bezeichnet werden muB, um die voile Wirkung der Lehre 
zur Entfaltung zu bringen. Es wird sich daher erst zu einem 
spateren Zeitpunkt voll iiberblicken lassen, wie umfanglich und 
wie tief Wernickes Arbeit in die Entwicklung der klinischen 
Psychiatrie eingegriffen hat. 

Es durfte aber fiir diese endgiiltige Bewertung eine gewisse 
Vorarbeit sein, wenn wir jetzt schon von dem Punkte, auf den 
wir gelangt sind, einmal zuriickblicken und uns fragen; Wie weit 
war Wernicke auf dem zuriickgelegten Wege unser Fiihrer? 
Ich bemerke gleich, daB ich die Bezeichnung ,,klinische Psychiatrie“ 
nicht in dem engeren Sinne nehme, in dem der Ausdruck manch- 
mal in Gegensatz zur allgemeinen Psychiatrie, als gleichbedeutend 
mit ,,spezieller“ Psychiatrie, angewendet wird. Ich verstehe also 
unter „klinischer“ Psychiatrie die Lehre von den Krankheitser- 
scheinungen der Geisteskranken, im Gegensatz zu der patho- 
logischen Anatomie der Psychosen. Ich werde also anatomische 
Befunde und Theorien bciseite lassen — soweit das bei 
Wernicke moglich ist. 

Wenn wir summarisch die Entwicklung der Psychiatrie in 
den letzten Jahrzehnten, besonders in unserem Vaterlande, iiber- 
schauen, so bekommt man den Eindruck, daB sie jedenfalls in ihren 
groBen Ziigen nicht auf den Geleisen Wernickescher Psychiatrie 
gefahren ist. Im Gegenteil kann man sagen, daB eine von der 
Wernicke schen Richtung abweichende Richtung immer mehr 
an Boden gewonnen hat. Die Kraepelinsche Psychiatrie hat 
im Laufe der letzten io Jahre immer mehr Anhanger gewonnen. 
Der Kreis derer, die trotz dieser und jener Verwahrung und Ab- 
weichung ihrer Grundlage zustimmen, ist zusehends gewachsen, 
weit uber die Grenzen Deutschlands, ja unseres Erdteils hinaus. 

Aber auch diejenigen fiihrenden Psychiater, die sich der 
Kraepelin schen Psychiatrie gegeniiber ablehnend oder nur 
bedingt anerkennend verhalten, taten das nicht iiberwiegend 
unter Berufung auf und zugunsten von Wernickes Psychiatrie. 
Ziehen fuBt nicht auf ihr, wenn auch sein Standpunkt dem 
Wernickes verwandter ist, als der Kraepelins. Die Arbeiten, 
welche in Wernickes Spuren die psychiatrischen Probleme in 
Angriff nahmen, treten an Zahl zuriick. Ob ein Fall zur Melancholic 


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auf die kiinische Psychiatrie. 


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oder zum manisch-depressiven Irresein oder zur Dementia praecox 
gehore, ob eine Trennung der Melancholie vom manisch-depressiven 
Irresein iiberhaupt angangig sei, ob nicht die Paranoia — soweit 
sie nicht in der Dementia praecox aufgehe — auch noch zum 
manisch-depressiven Irresein zu schlagen sei, ob es noch im hohen 
Lebensalter Falle von Dementia praecox gabe — solche und ahn- 
liche Fragen wurden viel mehr erortert, als die aus Wernickes 
Betrachtungsweise erwachsenen. 

Die pathologische Histologie, an der Spitze N i s s 1 und Alz¬ 
heimer, ging in dieser Zeit unabhangig von den klinischen 
Differenzen ihren eigenen W 7 eg und forderte wertvoUe Ergebnisse. 
Besonders der anatomische ProzeB der progressiven Paralyse, der 
senilen Demenz, der Epilepsie, der Himsyphilis wurde mehr und 
mehr geklart. 

Die Serologie lieferte wichtige differentialdiagnostische Hiilfs- 
mittel zur Abgrenzung der Paralyse. 

Die Verfeinerung der Untersuchungsmethoden, der viel erfolg- 
reiche Arbeit in diesem Jahrzehnt gewidmet war, sowohl fur die 
motorischen AuBerungen der Kranken wie fur ihre psychischen 
Reaktionen, nahm ihren Ausgang von der experimentellen Psy¬ 
chologic. 

Auch dieser Zweig der psychiatrischen Arbeit stand nicht 
unter dem direkten EinfluB Wernickes. 

In den letzten Jahren kam — eingefiihrt durch die Ziiricher 
Schule — eine nun ganz und gar von Wernicke dissen- 
tierende Betrachtungsweise, die Freud sche, fur einen kleinen 
Kreis von Psychiatem hinzu. 

Und dennoch zeigt sich bei naherem Zusehen, daB der Anteil 
nicht gering zu schatzen ist, den Wernicke an der Heraus- 
bildung des jetzigen Status der Psychiatrie genommen hat. Es 
wird sich zeigen, daB, wenn auch die Grundbetrachtungsweise und 
besonders die Gruppierung der Psychosen in toto nur von Wenigen 
adoptiert ist, doch viel von dem Geist der ganzen Lehre sich be- 
hauptet hat und ein wesentlicher Faktor der gegenwartigen 
Psychiatrie geworden ist. 

Die Frage, welchen EinfluB Wernicke auf die Ent- 
wicklung der Psychiatrie gehabt hat, kann in doppeltem Sinne 
gestellt und beantwortet werden: i. Wie weit sind direkte Be- 
standteile von Wernickes Lehre Allgemeingut geworden, oder 
wenigstens in die Auffassung eines groBen Teiles der Fachgenossen 
iibergegangen ? 

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L i e p m a n n , Ueber Wernickes EinfluB 


2 . Wie weit ist er der Begriinder oder Mitbegriinder einer 
geistigen Bewegung, die, gleichgiiltig ob sie alle, viele oder 
wenige Kopfe ergriffen hat, sich schon in lebens- und entwick- 
lungsfahigenMethoden, Betrachtungsweisen und Erkenntnissen ob- 
jektiviert hat, deren Macht, wenn auch nicht beherrschend ge- 
worden, doch schon unverkennbar ist? 

Ich will diese Unterscheidung nicht zum Einteilungsgrund 
des ganzen Berichts machen, weil es organisch Zusammengehoriges 
auseinanderreiBen wiirde, werde aber an den einzelnen Punkten 
gelegentlichdarauf hinweisen, ob es sich um EinfluB Wernickes 
in dem einen oder anderen Sinne handelt. 

Der Geist der Wernicke schen Psychiatrie ist nur zu 
verstehen aus dem Stadium, in dem sich die Neuromedizin im 
7 ., 8 . und 9 . Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts befand. 

Eine Reihe glanzender Entdeckungen: B r o c a s Lokalisation 
der motorischen Aphasie, H i t z i g s Entdeckung der motori- 
schen Zentren der Himrinde, M u n k s Exstirpationsergebnisse, 
die Lokalisation der optischen und akustischen Funktionen, seine 
Entdeckung der Hemianopsie, Wernickes eigene Entdeckung 
der Lokalisation der sensorischen Aphasie, der Tastlahmung, 
dazu die Fortschritte der Gehimanatomie durch M e y n e r t, 
Gudden.Flechsigu.A. hatteneine neue Gehimphysiologie 
und Pathologie geschaffen. Es war nicht nur die Abhangigkeit 
der korperlichen Verrichtungen von einzelnen Teilen des 
Zentralnervensystems naher ergriindet worden, sondern vor 
allem wurden bestimmte g e i s t i g e Ausfalle mit bestimmten 
materiellen Veranderungen im Gehim in Zusammenhang gebracht. 
EinbuBe des Gedachtnisses fiir Worte, fur das Verfahren bei der 
Hervorbringung von Worten, EinbuBe an assoziativen Verkniipf- 
ungen zwischen Wort und Begriff, Verlust ganzer Erinnerungs- 
qualitaten, Verlust der Auffassungsfahigkeit fiir Gesehenes, 
Gehortes bei erhaltenem Sehen und Horen — konnten auf sicht- 
bare Veranderungen bestimmter Teile des Gehirns zuriickgefiihrt 
werden. Ein Kopf wie der Wernickes, der nicht nur diese 
ganze Entwicklung in sich aufnahm, sondern wesentlich an ihr 
beteiligt war, muBte von der Idee ergriffen werden, die neuge- 
wonnenen Einsichten von Bau und Verrichtung des Zentralnerven¬ 
systems und die Beziehungen desselben zu den Symptomen der 
Nervenkranken fiir das Verstandnis derjenigen Krankheiten des 
Nervensystsms, die man als Geisteskrankheiten bezcichnet, zu 
verwerten. 


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auf die klinische Psychiatrie. 


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Das begriindete das Wesen der Wernickeschen Psychiatrie. 
Sie ist G e h i r n p a t h o 1 o g i e. Und zwar nicht, wie es oft 
angenommen wird, pathologische Anatomie des Gehimes. Die 
Gehirn anatomie und Pathohistologie spielen nicht die Haupt- 
rolle. Die Pathologie, als Lehre von der krankhaften Storung der 
F u n k t i o n , die Patho physiologie steht im Vordergrund. 

Der Tierversuch des Physiologen, die Kenntnis peripherer, spi- 
naler, medullarer Nervenkrankheiten und namentlich die Kenntnis 
der zerebralen Funktionsstorungen des Apoplektischen, des Ge- 
schwulstkranken, des Hemiplegischen, des Aphasischen, Seelen- 
blinden etc. bilden den Ausgangspunkt. Soil das, was wir an Ein- 
blicken von den Folgen der oder jener Verletzung des Nerven- 
systems fiir dessen Verrichtungen kennen gelernt haben, ungeniitzt 
bleiben fiir andere Storungen des Nervensystems ? Sollen die 
Geisteskrankheiten einer toto coelo verschiedenen Betrachtungs- 
weise unterworfen werden? Die entschiedene Vemeinung dieser 
Frage und das entsprechende positive Vorgehen sind die Grund- 
lagen der We,micke schen Psychiatrie. 

Sie ist der gigantische Versuch, das ganze psychische Leben 
und alle seine Storungen den Begriffen der Physio¬ 
logie und P h y s i o - P a t h o 1 o g i e des Nerven¬ 
systems zu unterwerfen. 

Sehen wir, wie weit uns dabei positiver Gewinn zugefallen ist. 

Zunachst kam dieses Vorgehen der Kenntnis der korper- 
lichen Storungen der Geisteskranken zugute. Dem mit dem 
Riistzeug des Neurologen an die Geisteskranken herantretenden 
Forscher ergab sich, daB eine bei genauerem Zusehen wachsende 
Zahl von Geisteskranken neben ihren geistigen Storungen die 
wohlbekannten Storungen der Nervenkranken zeigen: Steigerung, 
Herabsetzung der Reflexe, Anderung des Muskeltonus, Ataxie, 
Tremor, Krampfe, Lahmungen, Athetose, Chorea, Dysarthrien, 
Anasthesien, Hyperasthesien, Parasthesien, vasomotorische, se- 
kretorische, splanchnische Symptome. 

M. H.! Es liegt mir natiirlich fern, behaupten zu wollen, 
daB vor und um Wernicke diese Seite des Studiums nicht gepflegt 
worden ware. Hat doch die Personalunion, die friiher noch unver- 
bruchlicher als heute zwischen Psychiatrie und Neurologie bestand, 
es mit sich gebracht, daB auch die alteren Psychiater, ich nenne 
nur Griesinger, Westphal, Meynert und ihre 
Schulen, ihr Augenmerk auf die somatischen Teilerscheinungen 
der Geisteskranken richteten. Ist doch gerade Westphal der 


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L i © p m a n n , Ueber Wernickes EinfluB 


Entdecker des bedeutsamsten somatischen Symptoxnes der ganzen 
Psychiatrie. 

Aber ich glaube, daB kaum einer von denen, die das Ganze 
umfassende psychiatrische Arbeiten publiziert haben, so grund- 
satzlich, so systematisch und umfanglich den neurologischen und 
uberhaupt somatischen Storungen seiner Kranken nachgegangen 
ist, wie Wernicke und ihm folgend seine Schule. 

Man lese in seinem GrundriB, wie er iiberall, auch da, wo 
nicht augenfallig massive somatische Symptome sich dem Blick 
aufdrangten, den neurologischen und uberhaupt korperlichen Status 
des Erkrankten in Betracht zog, wie er auf Seitenstrangerschei- 
nungen, Hyper- und Hypotonie, auf Storung von Atmung, Puls, 
Sekretion, Emahrung, Zirkulationsanomalien Bezug nahm. Wie 
er vor allem dem Anteil der Herderkrankung oder 
herdartiger Erkrankungen an dem Bilde der Kran¬ 
ken Beachtung schenkte. 

M. H.! Eine Zeitlang wurde in vielleicht berechtigter Reak- 
tion gegen Vemachlassigung des Psychischen seitens der Psychiater 
die Beschaftigung mit den neurologischen Storungen als nicht zu 
den eigentlichen Aufgaben des Psychiaters gehorig erklart. Wenn 
demgegeniiber jetzt die Notwendigkeit, beiden Erscheinungsreihen, 
der psychischen und der physischen, gleiche Aufmerksamkeit zu 
schenken, ziemlich allgemein anerkannt wird, wenn z. B. Krae- 
p e 1 i n in den neuen Auflagen seines Lehrbuches in zunehmendem 
MaBe der friiher stiefmutterlich behandelten zerebralen und uber¬ 
haupt somatischen Seite Gewicht beilegt, so ist das gewiB nicht 
allein Wernicke zuzuschreiben — andere haben an dem- 
selben Strang gezogen —, aber ich glaube sagen zu konnen, daB 
sein EinfluB eine erhebliche Rolle dabei gespielt hat. 

Noch wichtiger als die Beachtung der somatischen Storungen, 
insbesondere der korperlichen Herdsymptome, war ein Zweites, 
damit eng Zusammenhangendes, die der psychischen Herd¬ 
symptome, deren Entdeckung, wie wir oben sahen, ja eine do- 
minierende Rolle in der Entwicklungsgeschichte der Wernicke- 
schen Psychiatrie gespielt hat. 

Vom Studium der Herderkrankungen in die Psychiatrie einzu- 
dringen, war einGrundsatz, den Wernicke selbst befolgt hat 
und seinen Schiilem als Richtschnur gab. Diesem Bemiihen ist 
es, dank der Mitarbeit in der Richtung verwandter Forscher 


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auf die klinische Psychiatrie. 


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; — ich nenne in erster Linie Pick 1 ), ferner Anton 2 ) —, dank 
der Mitarbeit von Lissauer, Neisser, Bonhoeffer, 
Heilbronner, Bruns, Hartmann, Goldstein, 
K 1 e i s t u. A. gelungen, an dem Studium der Herdkranken 
schon recht weit in das Gebiet des Psychopathologischen vorzu- 
dringen. Das Innenleben Herdkranker hat sich uns in weitem 
Umfange erschlossen. (Der groBen Verdienste von Conrad 
Rieger, der auf eigenem von Wernicke getrenntem Wege 
demselben Ziel zusteuerte, sei hier nicht vergessen.) Es hat 
sich eine Summe von Kenntnissen gewinnen lassen iiber das 
fehlerhafte Funktionieren eines materiell grob geschadigten Ge- 
hirnes, die eine doppelte Rolle in der Psychiatrie spielen. Einer- 
seits finden sich die Typen von Fehlreaktionen, welche man 
an Herdkranken aufgestellt hat, bei einem nicht geringen Teil 
der Geisteskranken wieder. 

Diese Reaktionstypen, gewonnen am Studium derAphasischen 
und Agnostischen und in der doch dem Boden der Wernicke- 
schen Lehre entsprossenen Apraxieforschung, finden sich wieder 
nicht nur bei den Arteriosklerotikem, den Encephalomalacischen, 
den Senilen, den Paralytikem, sondem auch bei vielen ihrem 
Wesen nach noch nicht naher bekannten atrophisierenden 
Prozessen des Praseniums, von denen vor einigen Jahren uns 
Alzheimer einige Formen kennen gelehrt hat. Sie finden 
sich aber weit dariiber hinaus bei alkoholistischen Psychosen, 
dem Delirium, der Korsakoffschen Psychose, der Alkohol- 
demenz, bei anderen Gifterkrankungen, wie etwa Bleipsychose, 
bei Epileptikem, bei Traumatikem, bei eklamptischen Psychosen. 

Die verschiedenen Formen des Perseverierens, des 
Antizipierens, die Nachwirkung von Intentionen, 
die eigentiimlichen Bastardbildungen aus Neuintendiertem 
und Perseverierendem, aus Neuintendiertem und zufalligen Neben- 
eindriicken, das Versagen der Zielvorstellung, 
das Abgleiten ins Klangahnliche und Sinnverwandte 
oder durch Kontiguitat Benachbarte, der EinfluB des 
falschen Wortes auf den Gedanken und die Handlung 


x ) S. u v A. seine fur die unten genannten Fehlreaktionen besonders er- 
giebigen Stndien uber motor, Apraxie 1905 und vorher 1903, Ann. med, 
Psych, (Jan.-Febr.) 

*) U, A. Selbstwahmehmung und Herderkrank. Arch, f. Psych. 1900^ 
ferner Ztschr, f, Heilkunde. Bd. 14 und anderw&rts. 


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Liepmann, Ueber Wernickes Einflufl 


usw. sind Fehlreaktionen, ohne deren Kenntnis das klinische Bild 
vieler Geisteskranker ein ungeniigend verstandenes bleiben mufi. 

Diese feinste psychische Symptomatologie der Gehimkranken 
ist in ihrer vollen Ausbildung zwar erst neueren Datums, aber 
sie ist hervorgegangen aus der von Wernicke inaugurierten 
Richtung, die Klinik der Herdkranken hineinzutreiben in die der 
Geisteskranken. Wernicke hat iiberall aufgespiirt, was sich 
an herdartigen, aphasischen und asymbolischen Symptomen 
bei den Geisteskranken findet. 

Wenn auch das, was wir an unseren Gehimkranken — beziig- 
lich Aufnehmens imd Festhaltens und weiteren Verarbeitens von 
Sinneseindriicken, assoziativen Verbindungen verschmelzender und 
ideatorischer Art, an Gedachtnisbesitz, an vorbereitenden Prozessen 
fiir Wahl und Handlung und letzte Bedingung der Handlung 
feststellen konnen, nur in den auBeren Ring der psychischen 
Festung hineinfiihrt, so ist es doch kein zu verachtender Gewinn, 
darin iiberhaupt festen FuB gefaBt zu haben. Die Orientierung 
in diesen AuBenstationen muB — und das ist derzweite Nutzen — 
der Orientierung in den zentralen Stationen zugute kommen. 

Mit dem Hinweis auf ein Weiterschreiten von den Herd- 
erkrankungen in die zentralsten Stationen des Psychischen, deren 
Betriebsstorung das engste Gebiet der Psychose ausmachen, sind 
wir zu einem Moment gelangt, das nun ganz spezifisch fiir 
Wernickes Lehre ist. Die Geistesstorung im 
engsten Sinne ebenfalls als neuro1ogische 
Erscheinung aufzufassen, das ist der eigentliche 
Kern seiner Psychiatrie. 

DaB Geisteskrankheiten Gehimkrankheiten sind, lehrten 
auch Andere. 

Aber die beiden Erscheinungsreihen, die Symptome der geisti- 
gen Storung einerseits und die sichtbaren Anderungen an der 
Nervensubstanz andererseits, ebenso wie die normalen geistigen 
Vorgange auf der einen Seite, Bau und Verrichtung der Teile des 
Nervensystems auf der andem Seite bleiben bei ihnen zwei vollig 
heterogene Dinge. Ein Mensch hat Verfolgungswahn, GroBen- 
wahn, Tobsucht, und in seinem Gehim finden sich geschrumpfte 
Zellen, entartete Fasem, Glia- und GefaBveranderungen. 

Das stand sich gegeniiber — wie sich tugendhaft und sechs- 
eckig, oder Sehnsucht und Kilogramm gegeniiberstehen. 

Nun wissen wir, daB sich in der Tat Psychisches und Materi- 
elles als heterogene Daseinsformen gegeniiberstehen. Aber eine 


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auf die klinische Psychiatric. 


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falsche Anwendung dieser wichtigen Erkenntnis wird haufig ge- 
macht. GewiB, von den Elementen des Psychischen zu den 
Elementen des Materiellen ist keine Briicke zu schlagen, ihre 
Ztiordnung ist einfach letzte Tatsache. Aber die Kombination der 
Elemente zu dem FluB des psychischen Lebens aus der Kom¬ 
bination der materiellen Elementarprozesse zu begreifen, dem 
ist erkenntnistheoretisch keine Grenze gesetzt. Hier ist von einer 
prinzipiellen Unmoglichkeit keine Rede. 

DieAufgabe, die sich Wernicke setzte, war: DieGesamtheit der 
an demVerhalten derGeisteskranken wahmehmbaren Abweichungen 
einer Betrachtungsweise zu unterwerfen, welche aus der Neuro¬ 
physiologic und Neuropathologie gewonnene Gesichtspunkte auf 
sie anzuwenden gestattet. Die Neurophysiologie kann nur objektive 
Vorgange im Raum ergriinden. Es muBte also zunachst der Geistes- 
kranke als das korperliche Objekt ins Auge gefafit werden, als 
welches er dem Beobachter allein entgegentritt. Wir nehmen die 
Sinnesreize, die auf ihn eindringen, auf der einen Seite, seine 
Bewegungen und seine Reden auf der andern Seite wahr. Die Ab¬ 
weichungen seiner Bewegungen und Reden von denen eines Ge- 
sunden gilt es zu verstehen als Folge abgeanderter Funktionen 
eines aus Zellen und Fasem zusammengesetzten, in seiner Funk- 
tionsweise nicht mehr unbekannten Nervenapparates. 

Was dahinter an Innenerlebnissen stattfindet, erschlieBen wir 
aus den Reden und durch AnalogieschluB oder besser durch ein 
Analogie-Fiihlen aus den Bewegungen. Diese Innenvorgange zu 
zerlegen in eine Verkniipfung von Elementarvorgangen, derart, 
daB die Elementarvorgange als Funktion von Zellkomplexen und 
ihre Verkniipfung nach den Regeln der Verkniipfung durch Asso- 
ziationsfasem gedacht werden kann, setzte sich Wernicke 
zur Aufgabe. 

Wernicke hat hier nicht eigentlich gehim a n a to¬ 
rn i s c h e Lokalisation getrieben; er hat nicht gesagt, diese Funk¬ 
tion ist an d i e s oder jenes bekannte Fasersystem, an 
die Zellen dieses oder jenes Ganglions gekniipft. 

Er hat nur das psychische Leben in Elemente zerlegt, die als 
subjektiver Parallelvorgang zu Funktionen eines nervosen Appa- 
rates gedacht werden konnen, so daB das Zusammenspiel dieser 
Elemente aus dem Zusammenarbeiten der Teile des Apparates 
abgeleitet werden kann, und daB die krankhaften Storungen des 
geistigen Lebens als Parallelvorgang zu moglichen Funktions- 
storungen des nervosen Apparates verstanden werden konnen. Er 


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Liepmann , Ueber Wernickes EinfluB 


hat die vielen Deutungen der retrospektiven Psychologie, die 
alle auf das Ich, das aus bestimmtem G r u n d e zu bestimmtem 
Zweck etwas tut, zuriickgehen, nach Moglichkeit zuriickge- 
drangt und objektive Vorgange an ihre Stelle zu setzen gesucht 
(was ihm natiirlich bis insLetzte auchnicht gelang). Er hat sich 
damifc des bequemsten Mittels der Darstellung seelischer Vorgange 
begeben, einer Darstellung, die gelegentlich durch ein Wort (auf 
dem Wege der Einfiihlung) uns das Verhalten eines Kranken 
subjektiv naher bringt, als eine lange Analyse. Er hat dafiir 
eine Darstellung gewahlt, welche dem, der ihre Motive nicht 
kennt und wiirdigt, seltsam, ja schrullenhaft erscheinen muB. 
Fiir die nahere Ortsbestimmung der psychischen Vorgange, 
die bei dem Geisteskranken gestort sind, war ihm maBgebend 
nur, daB sie sich oberhalb der Ursprungsgebiete der sen- 
sorischen Bahnen und deren nachster Nachbarschaft (in die er 
den Sitz der entsprechenden Erinnerungen verlegte) befinden 
miiBten, also oberhalb des Projektionssystems. Er errichtete 
iiber diesem Projektionssystem einen Oberbau von Linien, die 
nicht bekannte Ortlichkeiten des Gehims darstellen sollten, 
sondern nur Teilprozesse des psychophysischen Vorgangs von 
iiberhaupt im Gehim lokalisierbarer Art in der Betrachtung 
zu trexmen erlaubten — in denen eine Fortsetzung desselben 
Geschehens, welches wir als nervoses Geschehen aus dem 
Projektionssystem kennen, sich abspielt. Nur in diesem allge- 
meinen Sinne war Wernickes Betrachtungsweise ,,lokali- 
satorisch“. So gliederte er den ganzen psychischen ProzeB in 
drei Strecken: die psychosensorische, die intrapsychische und die 
psychomotorische, und lieB auf jeder der drei Strecken t)ber- und 
Untererregung und abgeanderte Erregung statthaben. (Hyper, 
Hypo und Para.) 

Jede der drei Storungen in jeder Strecke bedingt eine Des- 
orientierung des Kranken, eine inhaltliche BewuBtseinsfalschung. 
Und da der Inhalt des BewuBtseins sich ihm in das BewuBtsein 
der Korperlichkeit, der AuBenwelt und der Personlichkeit gliedert, 
ergeben sich drei weitere Grundunterscheidungen: somatopsy- 
chische, allopsychische und autopsychische Storungen. 

M. H.! Wir wollen die Frage beiseite lassen, ob die Riesenauf- 
gabe, die sich Wernicke setzte, in dieser Weise in alien 
groBen Ziigen restlos erfiillt ist und ob sie iiberhaupt schon restlos 
erfiillt werden kann. Die mir gesetzte engere Aufgabe legt mir die 


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auf die klinische Psychiatrie. 


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Frage vor: 1st die klinische Psychiatrie dadurch ein Stuck weiter 
gekommen ? 

Wenden wir uns zunachst zu Wernickes Klassifika- 
t i o n der Psychosen. Grundsatz war ihm dabei, daB sie von der 
,,N aturdes erkranktenOrgansabgeleitet sein 
m Ii s s e“, d. h. also von der Natur eines Nervenapparates ab- 
geleitet sein rniisse. 

An zweiter Stelle erst kame die Atiologie. 

Beziiglich der Atiologie hat Wernicke auBerordentlich 
lichtvolle prinzipielle Darlegungen gegeben, obgleich er, wie mir 
scheint, teilweise keine gluckliche praktische Anwendung da von 
gemacht hat. Er kampfte entschieden dagegen, daB die Atiologie 
zum ersten Einteilungsgrund gemacht werde. Denn gleicheUrsachen 
machten ganz verschiedene Wirkungen, und verschiedene Ur- 
sachen gleiche: er wies darauf hin, daB der Alkohol so verschiedene 
Bilder wie das Delirium, die akute Halluzinose der Trinker, die 
Korsakoffsche Psychose bewirken konne, wahrend z. B. die 
Korsakoff sche Psychose auch durch andere Schadigung, wie 
Blei, Trauma, bedingt sein konne, ja mit den presbyophrenischen 
Zustanden des Alters symptomatologisch zusammenfalle. 

Kraepelin, Nisslu. A. sehen in der Behauptung, gleiche 
Ursachen konnen verschiedene Wirkungen haben, einen kaum 
begreiflichen VerstoB gegen die einfachste Logik, Ziehen ande- 
rerseits nimmt wie Wernicke verschiedene Ursachen fur 
dieselbe Wirkung an. 

M. H.! Es liegt hier meines Erachtens bei den Gegnem 
Wernickes und Ziehens ein MiBverstehen vor. 

Es scheint mir verfehlt, den Streit iiber den EinfluB der Atio¬ 
logie rein logisch-philosophisch fiihren zu wollen. DaB gleiche 
Ursachen gleiche Wirkungen haben, ist allerdings ein Axiom, 
Bedingung der Begreifbarkeit der Welt und damit unanfechtbare 
Grundlage aller wissenschaftlichen Forschung. In diesem unbe- 
streitbarenphilosophischen AxiomheiBt ,,Ursache“die Gesamt- 
h e i t der Bedingungen. Nun sind aber die ,,Ursachen“, mit denen 
wir in unserer medizinischen Ursachenlehre zu tun haben, niemals 
die Gesamtheit der Bedingungen; sie stellen nur eine, noch dazu 
quantitativ und qualitativ ungeniigend fixierte und prazisierte 
Bedingung dar. Unsere Ursachen sind Alkohol, Morphium, Lues, 
Arteriosklerose, Senium, Pubertat u. s. w. Man bedenke nebenbei, 
welch ungleichartige Faktoren! Bald ein lebendes Gift, das e i n - 
m a 1 in den Korper eingefiihrt wird, wie die Spirochate, bald die 


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Liepmann, Ueber Wernickes EinfluB 


fortgesetzte Einfiihrung eines toten Giftes, wie Alkohol oder Mor- 
phium. Eine Ursache in ganz anderem Sinne ist schon die Arterio- 
sklerose; sie ist keine a u B e r e Schadigung, sondem ein ProzeB 
im Organismus, der sehr verschiedene Ursachen haben kann; 
nun gar Pubertat und Senium — das sind Lebensabschnitte, die 
an sich iiberhaupt nicht Krankheitsursachen abgeben. Dieses 
nebenbei 1 ). 

Die Hauptsache ist aber, daB alle sogenannten ,,Ursachen" 
immer nur einen T e i 1 der Bedingungen der Erkrankung enthalten. 
Als zweiter und wesentlicher Teil dieser Bedingungen kommt die 
Beschaffenheit des befallenen Organismus hinzu, seine Anlage und 
die Gesamtheit der Umstande, unter denen er befallen wird. 

Waren zwei Organismen vollstandig identisch, wiirde eine 
vollkommen gleiche Quantitat einer bestimmten Noxe sie in voll- 
kommen gleichem Stadium treffen, dann allerdings miiBten die 
resultierenden Prozesse auch identisch sein. Das ist aber niemals 
der Fall, und deshalb unterlasse man die Berufung auf die philoso- 
phische Selbstverstandlichkeit des Satzes von der gleichen Wirkung 
gleicher Ursachen. Derselbe Schlag auf den Kopf macht bei dem 
einen nur voriibergehende Gehimerschiitterung, bei dem andem 
einen Schadelbruch etwa mit Lahmung der einen Korperhalfte 
und Aphasie, bei einem dritten eine sich iiber Jahre, vielleicht 
fibers Leben hinziehende traumatische Neurose. 

Also hatte Wernicke recht damit, daB die Teilursachen, 
welche in der Atiologie der Geisteskrankheiten in Frage kommen, 
verschiedene Krankheiten zur Folge haben konnen. Und trotz- 
dem ist die klinische Psychiatrie iiber den radikalen Grundsatz 
Wernickes die Atiologie aus der Grundeinteilung der Geistes¬ 
krankheiten ganz auszuschalten, zur Tagesordnung 
iibergegangen. 

Wie mir scheint, mit Recht. 

Man muB bei dieser Frage die biologische Erfahrung 
sprechen lassen: das ganze Problem ist namlich kein logisches, 
sondem ein rein empirisches, und da zeigt sich dann folgendes: 
Logisch ist die Krankheit die Folge der exogenen und endogenen 
Bedingungen. Die Erfahrung hat nun aber gelehrt, daB es 
gewisse exogene Schadigungen gibt, gewisse Gifte, die so iiber- 
wiegend in der Bestimmung des Krankheitsbildes sind, daB der 

1 ) Vgl. hierfur und fur die Atiologie frage uberhaupt: ,,Z i e h e n , tlber 
den iLtiologischen Standpunkt in der Psychiatrie. Neurol. Zentralblatt 29, 
S. 1136 ff. 


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auf die klinische Psychiatric. 


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endogene Faktor verhaltnismaBig in den Hintergrund tritt. Das 
sind die Gifte mit spezifischen Wirkungen. Wo die Erfahrung ein 
solches Obergewicht einer bestimmten Noxe in der Bestimmung 
des klinischen und pathologisch-anatomischen Verlaufes erweist, 
da ist es Sache einer gesunden Klassifizierung, dem Moment der 
Ursache das gebiihrende Gewicht zu geben. 

Konnten wir lokalisatorisch restlos klassifizieren, so hatten 
wir zwei sich kreuzende Einteilungsprinzipien. Da wir es restlos 
sicher nicht konnen, so sollen wir die Berticksichtigung des Atio- 
logischen nicht verschmahen. 

Das hat Wernicke prinzipiell getan. Wir miissen unsaller- 
dings klar sein, daB selbst die Wirkung der spezifischen Gifte keine 
absolute ist; ich erinnere nur an die verschiedenen Folgen der 
Spirochateninvasion. Grund genug wieder, das atiologische Prinzip 
nicht auf die Spitze zu treiben. Auch Kraepelin, dergewiB dem 
atiologischen Prinzip in weitgehendem MaBe Rechnung tragt, handelt 
das Kind, das durch Lues etwa hemiplegisch und erethisch idiotisch 
wird, nicht unter den luischen Psychosen, sondem unter ,,Idio- 
tie“ ab. Wir werden noch sehen, in welcher Hinsicht W.s Ab- 
lehnung des atiologischen Prinzips sich als fruchtbringend erwies. 
Aber gegen ihre absolute Verbannung aus der Grundlage der 
Klassifikation hat sich der consensus omnium ausgesprochen. Eine 
interessante Gegensatzlichkeit laBt sich in diesem Punkte zwischen 
Wernicke und Kraepelin verfolgen. 

Die progressive Paralyse diente Kraepelin als Lehr- 
meisterin. Hier sah er von einer bestimmten Ursache eine 
bestimmte Krankheit ausgehen, die immer zu demselben End- 
zustand fiihrt, einen charakteristischen anatomischen Befund 
darbietet, und einerseits eine Fiille verschiedener Zustands- 
bilder, andererseits eine Reihe konstanter Symptome aufweist. 

Er hat das Prinzip, welches die Paralyse zusammenhalt, auf 
alle Gebiete der Geistesstorungen angewendet. 

Wernicke hat es selbst bei der Paralyse g e - 
sprengt. In strengster Prinzipientreue erkannte er ,,para- 
lytisch“ nur als Atiologie an, und fiigte dieses Wort attributiv der 
Hauptdiagnose zu. Er sprach von ,,paralytischer Manie“, von 
,,paralytischer expansiver Autopsychose“ etc. 

Wernicke klassifiziert die Psychosen ,,nach Gesichts- 
punkten, die der Natur des erkrankten Organs entnommen sind“, 
d. h. neurophysiologisch, lokalisatorisch in dem schon angedeuteten 
und noch naher zu beleuchtenden Sinne. Ich werde weiter ver- 


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Liepmann, Ueber Wernickes EinfluC 


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suchen, den ungeheuren Gewinn, der aus der neurophysiolo- 
gischen Betrachtungsweise der klinischen Psychiatrie erwachsen 
ist, zur Geltung zu bringen. Jetzt spreche ich nur von der 
Klassifikation. 

Wernickes Prinzip notigte ihn, die Grundlage fiir die 
Einteilung der Psychosen Merkmalen zu entnehmen, die nicht a n 
der Oberflache liegen; sie sind nicht ohne weiteres tat- 
sachlich gegeben. 

Ihre Feststellung enthalt viel Hypothetisches. Es ist wirklich 
nicht immer zwingend erweisbar, was primare Elementarstdrung 
und was sekundar ist, oder ob bei den komplexen Bildem, die doch 
vorherrschen, die allopsychische oder die autopsychische Des- 
orientierung hoher zu bewerten ist, ob die eine nicht bloBer Neben- 
befund oder Konsequenz ist. Es diirfte speziell Bedenken begegnen, 
die Begriffe des Auto-, Somato-, Allopsychischen zur souveranen 
Grundlage der Klassifikation zu machen. Bei der 
Mehrzahl der Geisteskranken sind mehrere dieser BewuBtseins- 
gebiete ergriffen, bei manchen alle drei gleichzeitig, bei anderen 
wenigstens, wenn man langere Zeitraume ins Auge faBt. Und 
wenn es auch gelingt, in vielen Fallen einleuchtend zu machen, 
daB primar doch nur die eine Kategorie von Vorstellungen ergriffen 
sei, die andere sekundar auf dem Wege des Erklarungswalines zu- 
stande gekommen sei, so ist das erstens wieder ein Eindringen in 
nicht offen zutage Liegendes, zweitens sind in anderen Fallen diese 
Betrachtungen nicht zwingend zu machen. Es haftet der Behaup- 
tung, hier sei die allopsychische Desorientierung nur nebensachlich 
oder sekundar, oft etwas Personliches und Willkiirliches an. Oft 
genug wird gegeniiber dieser und ahnlichen Fragen der Unvorein- 
genommene aus den wechselnden und vieldeutigen AuBerungen 
des Kranken dariiber zu keinem sicheren Ergebnis kommen. 

Diese Gesichtspunkte, so iiberaus interessant fiir die Wissen- 
schaft, sind zu subtil und unsicher fiir die praktische Einteilung. 
Es handelt sich in alien diesen Fallen um heikle Feststellungen, 
die nicht ohne weiteres fiir jeden aus dem Tatbestand ablesbar, 
die diskutabel sind, die man oft fiir wahrscheinlich halten, aber 
dem andern nicht unwiderleglich beweisen kann. 

Handelt es sich hier mehr um einen Einwand gegen die prak¬ 
tische Verwendbarkeit der Wernicke schen Klassifikation, so 
trifft ein zweiter Punkt eine wirkliche Schwache. 

Wernicke hatte bei dieser Grundlage fiir seine Einteilung 
nicht geniigend lange Zeitlaufte im Auge. 


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auf die klinische Psychiatric. 


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Zustandsbildern, die sich nur kurze Zeit halten, Wochen oder 
selbst Tage dauern, miBt er bei diesem Unternehmen zu groBe Be- 
deutung bei. Und so verliert er iiber dem gehirnphysiologischen 
Gesichtspunkt gelegentlich andere wichtige Momente aus dem 
Auge; offensichtliche Zusammengehorigkeit ignoriert er. So wenn 
er depressive Psychosen des Praseniums, welche nach Lebensalter, 
Gefiihlsfarbung, begleitenden intellektuellen Symptomen sich als 
Zusammengehoriges aufdrangen, auseinanderreiBt, je nachdem die 
Angst oder das Unwiirdigkeits- und Ungliicksgefiihl oder hypo- 
chondrische Vorstellungen iiberwiegen. J ) Wir sehen diese Zustande 
bei demselben Menschen teils gleichzeitig bestehen, teils einander 
ablosen, wir sehen sie bei verschiedenen Kranken bei sonst sehr 
gleichem Habitus, und es hat daher etwas Kiinstliches, die hypo- 
chondrischen Vorstellungen, weil sie somatopsychisch sind, zur 
Grundlage einer anderen Krankheit zu machen, als etwa die Un- 
wiirdigkeitsvorstellungen, weil sie autopsychisch sind. 

Darum hat auch die Grundeinteilung W.s keine Nachfolge 
gefunden. Weder Ziehen noch andere fiihrende Psychiater 
haben sie iibernommen, und Kraepelin hat geradezu das in 
den Mittelpunkt geriickt, was We r n i c k e vernachlassigt hat. 

Es gait, fur die gegenseitige Verstandigung in das Wirrwarr 
der geistigen Storungen Ordnung zu bringen nach Gesichtspunkten, 
die einerseits fur das gesamte Leben des Kranken von groBter 
Bedeutung sind, die eine biologische Bedeutung haben, 
die andererseits dem Meinen und Deuten mehr entzogen und 
fur jeden Psychiater feststellbar sind. 

Diese Arbeit, die von Kahlbaum begonnen wurde, dessen 
Bedeutung zuerst erkannt und gewiirdigt zu haben, N e i B e r s 
Verdienst ist, wurde in umfassendster und erfolgreichster Weise 
von Kraepelin fortgesetzt. 

Zu diesen Momenten gehort, um auf das Vorige zuriickzu- 
konunen, in gewissen Gebieten die Atiologie. Wenn ich 
sie auch mit Wernicke und Ziehen nicht fur das alleinige 
und souverane Einteilungsmoment halte, so kann sie doch nicht 
ohne Nachteil prinzipiell in die zweite Reihe gestellt werden. 

Der zweite Faktor ist der Verlauf in groBen Ziigen: 
Es ist ja das unbestrittene groBe Verdienst Kraepelins, den 
Verlauf der Geisteskrankheiten durch lange Zeitraume, durch ein 

') Uber die H&ufigkeit, in der sich neben Angst Zuge der reinen Melan- 
cholie finden, vergl. auch Edm. Forster, die klinische Stellung der Angst- 
psychose. Berlin 1910. 


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16 Liepmann, Ueber Wernickes EinfluB 

gauzes Leben im Auge behalten und fundamentale Unterschiede 
der Verlaufsweise in den Vordergrund geriickt zu haben. 

Ob eine Krankheit dahin tendiert, einen Menschen wiederholt, 
haufig mit groBeren oder kurzeren Intervallen zu befallen, ob sie 
sich in einem Anfall erschopft, ob sie ein Leben lang hindurch 
stabil, ob sie progredient ist, ob sie ihrer Natur nach in Heilung 
ubergeht oder in irreparable geistige Schwache — das sind Ge- 
sichtspunkte, die kombiniert mit der Atiologie sich jedenfalls in 
einem groBen Bezirk des psychiatrischen Reiches klassifikatorisch 
bewahrt haben. Was schon die Paralyse lehrte, ergab sich auch 
hier, daB, trotz Verschiedenheit in den gehimphysiologischen und 
psychologischen Bildem, eine Summe von biologisch einschnei- 
denden Merkmalen, die Ursache, der Verlaufstypus, der Ausgang, 
eine Zusammengehorigkeit begriinden konnen, die dann auch ge- 
stattet, in dem Wandel und der Vielheit der Zustandsbilder ge- 
meinsame Symptome herauszufinden. 

Wir verdanken diesen klassifikatorischen Gesichtspunkten die 
Herausarbeitung zweier Krankheitsgruppen: der Dementia praecox 
und des manisch-depressiven Irreseins. 

Und doch tritt gerade wieder in der Be- 
grenzung, die diesen weithin so fruchtbar 
gewordenen Bestrebungen gesetzt werden 
muB, hervor, daB die generelle Abwendung von dem 
Wernicke schen Prinzip sich nicht ungestraft vollzieht. 

Wenn ich auch in der Skepsis bei der Suche nach Krankheits- 
entitaten, die mir nicht fremd ist, nicht so weit gehe wie H o c h e, 
wenn ich eine Dementia praecox und ein manisch-depressiveslrresein 
mit vielleicht der Mehrzahl der heutigen Psychiater als Krankheiten 
anerkenne, so glaube ich doch nicht entfemt, daB es moglich ist, 
fast alle oder nur den groBten Teil aller nicht grob organischen 
Krankheiten an diese beiden Gruppen aufzuteilen. Ich glaube 
selbst bei dem Vater dieser beiden Gruppen nicht auf Widerspruch 
zu stoBen, wenn ich sage, daB beide Krankheiten weit iiber 
das MaB ihrerGeltung gespannt worden sind. Der Grund- 
satz: alle Geisteskranken lassen sich in so groBe Rahmen spannen, 
die, da wir die Atiologie oft nicht kennen, von den Merkmalen des 
Verlaufes gewonnen sind, hat zu einer Uberschatzung dieser Merk- 
male gefuhrt, z. B. zu einer Uberschatzung des partiell so frucht¬ 
bar gewordenen Merkmales: Ubergang in Schwachsinn. Es wurden 
iiberall eine Menge Kranke, weil auch geistige Schwache resultierte, 
falschlich der Dementia praecox zugeteilt; und falschlich viele Psy- 


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auf die klinische Psychiatric. 


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chosen Degenerierter auf Grand von Symptomen, die dem Verlauf 
entnonunen waren, unter die Verblodungsprozesse rabriziert, eben- 
so die vielen Psychosen, die uberhaupt noch nicht rabrizierbai* 
sind. Und neuerdings werden umgekehrt viele Prozesse dem 
manisch-depressiven Irresein eingeordnet, auf Grand so dehn- 
barer und inhaltarmer Kriterien, daB sie fast bei jedem Menschen 
gefunden werden konnen. 

Es hat in dieser von Wernicke abgewandten 
Richtung der Genius classificatorius iiberhandgenommen. Ein Furor 
classificatorius war ausgebrochen. Er drohte alle Lebensgeister 
der Psychiater zu beschlagnahmen und nur auf das eine Ziel zu 
richten: den Fall in einer ganz groBen Klasse unterzubringen. 
Nur d i e Gesichtspunkte, die hierfiir in Betracht kommen, wurden 
dann bewertet, dasStudium desFalles als einer 
Offenbarung einer neuropatho1ogischen 
Funktionsstorung, verlor an Interesse. 

Nun ist es aber mehr als zweifelhaft, ob sich alle Geistes- 
storungen in solche groBen Verlaufstypen einfangen lassen. Wer 
unbefangen seine Kranken ansieht, muB gestehen, daB es zahllose 
Falle gibt, in denen die Etikettierang der Verlaufspsychiatrie eine 
Vergewaltigung ist. 

Dieser Entwicklung gegeniiber hat die Wernicke sche 
Betrachtungsweise uns das heilsame Gegengewicht gehefert. Seine 
Psychiatrie stellt dem gewissermaBen die Mahnung gegeniiber, den 
Bhck nicht gebannt zu halten auf die Merkmale der Einreihung 
in die oder jene groBe atiologische oder Verlaufsgrappe, sondem 
den Kranken zu studieren als ein lebendes Nervenpraparat. Nicht 
fiber der Suche nach klassifikatorischen Merkmalen zu vergessen, 
daB es gilt, den ganzen psychophysischen Tatbestand darzustellen 
und zu ergriinden, als ein fur die Neurophysiologie angreifbares 
Objekt — und sei es fiir die Neurophysiologie der Zukunft. Und 
die Wernicke sche Betrachtung bleibt alien Fallen gegeniiber 
im Recht — auch den Friihdementen und Manisch-Depressiven 
und Paralytikem gegeniiber — als eine Betrachtungsweise, die 
n e b e n der klassifikatorischen unabweisbar ist. Die klassi- 
fikatorische Betrachtungsweise Kraepelins und die patho- 
physiologische Wernickes schlieBen sich namlich gar nicht 
aus. In Konkurrenz mit der erstern kommt die zweite nur, 
wenn sie Grandlage der gesamten jetzt schon moglichen Klassi- 
fikation sein will. Aber ohne diesen Ansprach sind es zwei 
gleichberechtigte Behandlungsweisen desselben Stoffes in ver- 

Monateschrift t Psychiatrie u. Neurologie. Bd. XXX. llcft 1. 2 


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Liepmann , Ueber Wernickes EinflnG 


schiedenen Dimensionen. Namlich durch den Umstand, daB 
ein Kranker nach gewissen Kennzeichen unter Paralyse oder 
Dementia praecox rubriziert wird, erledigt und erubrigt sich noch 
gar nicht die Frage, was eigentlich in einem bestimmten Moment 
in seinem Kopfe vorgeht. Es sind die ncrvosen Funktionen 
in anderer Weise gestort, wenn der Paralytiker exzessive Gliicks- 
stimmung, Rededrang, Beschaftigungsdrang, Ideenflucht, Nivel- 
Uerung der Vorstellungen zeigt, als wenn er stumpf hindammert 
und nur in euphorischer Weise diirftige GroBenideen auBert. Und 
andererseits mag der GesamtprozeB der Paralyse und des manisch- 
depressiven Irreseins noch so verschiedenartig sein: daB Paralytiker 
und Maniaci monatelang ein in vieler Hinsicht iibereinstimmendes 
Zustandsbild darbieten, beweist unwiderleglich, daB etwas Uber- 
einstimmendes in ihrem Gehim vor sich geht. Diese spezifisch 
Wernicke sche Erwagung dadurch entkraften zu wollen, daB 
man sagt, das genauere Studium beider fiihre doch zu der Er- 
kenntnis von Unterschieden, und wo das noch nicht gelungen ist, 
werde es zukiinftig gelingen, ist nicht angangig. Denn alle Ver- 
schiedenheit, die da ist, hebt die Ubereinstimmung nicht auf, 
sondem sie fiigt nur zu dem Ubereinstimmenden Differierendes 
hinzu. Man ist durchaus berechtigt, die Identitat des G a n z e n 
abzulehnen, aber nicht die partielle Identitat. 

Die multiple Sklerose ist gewiB ein ganz anderer ProzeB als 
die Tuberkulose des Zentralnervensystems. Trotzdem machen die 
Herde bei gleicher Lokahsation die gleichen Symptome, etwa ein- 
seitige spastische Parese mit dorsalen Zehen-Reflex und FuB- 
clonus, Abducenslahmung und ahnliches. 

Und so weist auch die intrapsychische Hyperfunktion, die so- 
wohl der Paralytiker im angenommenen Stadium wie der Maniacus 
zeigt, auf eine gleiche Einwirkung des krankmachenden Agens, auf 
die gleiche Teilfunktion des gesamten nervosen Apparates hin. Die 
Verschiedenheit der krankmachenden Agentien wird sich 
zweifellos in einer verschiedenen Qualitat, vielleicht auch Inten¬ 
sity der Prozesse und bei langen Zeitlauften auch in verschiedener 
Ausbreitung und oft verschiedenem Ausgang bekunden — fur die 
Ubereinstimmung haben wir keine einleuchtenderen und 
durch allgemeine Erfahrungen am erkrankten Nervensystem 
besser gestiitzte Annahme, als die Wernickes, daB es die 
Ubereinstimmung der Lokalisation ist. DaB es sich bei 
der Lokalisation nicht um Differenzen ganzer Gehimlappen, son- 


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auf die klinische Psychiatric. 


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dern um eine feinste Auswahl gewisser Arten von Elementen han- 
delt, braucht wohl kaum gesagt zu werden. 

Die pathologische Histologic 1 ) ist bisher nicht imstande, das zu 
widerlegen, wird es vielmehr meiner Uberzeugung nach bestatigen. 
Die Einfiihrung des Lokalisationsprinzips in die Psychiatrie ist 
seit Wernicke ein dringendes Postulat geworden. DaB sich 
das, was jede Krankheit im Riickenmark, in der Medulla, im Pons, 
jeder Herd im Projektionsgebiet des GroBhims lehrt, verleugnen 
sollte, sobald wir in die oberste Station des Gehirns eindringen, 
ist wirklich nicht wahrscheinlich. Ich bemerke, daB das Prin- 
zipielle der Lokalisation unabhangig ist von den Meinungsver- 
schiedenheitein, die sich betreffs des Nahereii erhoben haben. Bei 
diesen Differenzen handelt es sich darum, an welche und wie groBe 
Territorien Funktionen gekniipft sind, ob iiberhaupt eine land- 
kartenartige oder mosaikartige Lokalisation zu Recht besteht; ob 
das, was lokalisiert wird, schon ein Elementares oder noch ein 
Zusammengesetztes ist — aber das Prinzip, daB iiberhaupt 
verschiedenen nervosen Elementen und Elementarkomplexen ver- 
schiedene Verrichtungen zufallen, ist von Niemandem bezweifelt. 
Die neuere Entwicklung'der Cyto- und Myeloarchitektonik durch 
Brodmann, Vogt u. A. hat uns Aussicht auf eine neue 
Quelle der lokalisatorischen Erkenntnis eroffnet. 

Also die Betrachtungsweise, die Wernicke der Psychiatrie 
gegeben hat, ist eine notwendige und dringliche neben der 
Kraepeli n schen. Sie kommt zu ihrem Recht der groBen Zahl 
von Psychosen gegeniiber, die sich nicht in Gruppen nach dem 
Ursache-Verlaufsprinzip einfiigen lassen, und alien Psychosen 
gegeniiber als allgemeine neurophysiologische Sym- 
ptomatologie. Auch innerhalb der nach nichtlokalisa- 
torischen Momenten geschaffenen Gruppen verlangen die Zustands- 
bilder eine neurophysiologische Darstellung und Ergriindung. 

Diese allgemeine neurophysiologische Sympto- 
matologie, zu der wir nunmehr kommen, hat durch 
Wernicke eine auBerordentliche Forderung erfahren. Das 
minutiose Studium des Kranken in alien seinen LebensauBe- 
rungen als eines neurologischen Objektes, gleichgiiltig, ob dieses 

*) In der pathologischen Histologie war Wernicke nicht selbst ein 
Fiihrer nnd Entdecker. Aber unter seinem EinfluB haben Schuler von ihm 
— Lissauer, Bonhoeffer, Heilbronner — wesentliche Beitrage geliefert. Noch 
in seinem letzten Lebensjahren verfolgte er die Ergebnisse NiBlscher und 
Alzheimerscher Arbeit mit groBtem Interesse. 

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Liepmann, Ueber Wernickes Einf Lu£ 


oder jenes Symptom zur Einreihung in das Fach eines groBen 
ldassifikatorischen Fachwerks dient, hat uns eine Schilderung 
und Zergliederung von Kxankheitsbildem gegeben, die uns einen 
groBen Schritt vorwarts auf dem Wege zum naturwissenschaft- 
lichen Verstehen unseres Objektes gefiihrt hat. Wernicke 
dringt ein in die kausalen Beziehungen, in die Abhangigkeits- 
verhaltnisse der gleichzeitigen Symptome. Was ist primar, ist 
Elementarsymptom, was ist konsekutiv, was koordinierte Folge 
derselben Wurzel? Welche Symptome stehen in innerem Zu- 
sammenhang, gehoren zusammen, welche bestehen nur neben- 
einander infolge gleichzeitigen Befallenseins getrennter Substrate ? 
Er hat uns vieles gegeben, dessen Wert unabhangig davon ist, 
ob man ihm in alien Grundanschauungen folgt. Er hat uns z. B. 
die fundamental Unterscheidung der primaren Idee und 
der auf dem Wege des Schlusses durch ,,Erklarungswahn“ zu- 
stande gekommenen gegeben. 

Wie steht es mit seiner Verteilung der Symptome auf die drei 
BewuBtseinsgebiete, dem Auto-, Alio-, Somato-Psychischen ? Wir 
erklarten es zwar nicht fiir gliicklich, daB er diese Unterscheidung 
zur Grundlage der Einteilung machen wollte. Wir konnen uns dem 
auch nicht verschlieBen, daB er diese Gesichtspunkte in der Sym- 
ptomatologie auf die Spitze trieb. Ihre Anwendung auf die Angst, 
den Beziehungswahn hat oft etwas Gekiinsteltes. Trotz dieser 
Verwahrung glaube ich, ist der Hinweis auf die drei BewuBtseins¬ 
gebiete eine Bereicherung unserer Symptomatologie. 

Wir finden in der Tat bei vielen Geisteskranken dauernd oder 
lange Zeitraume hindurch eine auffallige Beschrankung der Des- 
orientierung auf eines der drei BewuBtseinsgebiete, oder wenigstens 
ein starkes Uberwiegen auf einem derselben derart, daB man diese 
f ,Lokalisation“ nicht einfach als zufallig beiseite schieben kann. 

Das ist z. B. beim Delirium tremens der Fall. Ich darf wohl 
erwahnen, daB ich 1894, ehe ich zu Wernicke kam, als 
Volontar an der Charit 4 rein empirisch durch die Beobach- 
tung von 125 Deliranten zu dem Ergebnis gelangte, daB das 
PersonlichkeitsbewuBtsein des Deliranten immer 
erhalten ist, im Gegensatz zu seiner Desorientierung in 
der AuBenwelt 1 ). Wo sich GroBen- oder Kleinheitswahn oder 
gar grobere Verschiebungen des PersonlichkeitsbewuBtseins fanden, 

*) Ueber die Delirien d. Alkoholisten etc. Archiv f. Psych. Bd. 27 . 1895. 
S 198, 199 u. 200. 


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auf die klinische Psychiatrie. 


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lag immer eine Komplikation, etwa mit Epilepsie, vor, oder war 
das Vorhandensein einer Paralyse festzustellen. Der Wahn ging 
immer auf sinnliche Ereignisse der Gegenwart. 

Wernicke statuierte, ohne meine Arbeit zu kennen, die- 
selbe GesetzmaBigkeit, Bonhoeffer konnte sie an einem 
groBen Materiale bestatigen. 

Ebenso ist es nicht belanglos, daB viele Psychosen iiber Jahre 
hinaus sich dauemd in hypochondrischen — also somato- 
psychischen — Wahnideen erschopfen, daB bei anderen, 
ebenso Jahre und Jahrzehnte hindurch — das ist haufig bei der 
sogenannten Paranoia der Fall —, das Soma unbeteiligt ist, die 
primaren Symptome sich auf Qualitaten der Personlichkeit be- 
schranken. 

Wenn ich also auch nicht glaube, daB diese Erscheinungen 
sich generell zu klassenbildenden Merkmalen eignen, so halte ich 
doch ihre nachdriickliche prinzipielle Betonung fur ein groBes 
Verdienst Wernickes. 

Spezifisch Wernicke sch ist der Gedanke, daB der Inhalt 
einer Wahnidee auf den Sitz des Krankheitsprozesses hinweist, daB 
also bei jemandem, der die Idee hat, seine Leber sei vereitert, ein 
Reizvorgang in der zentralen Representation der Leber zu su- 
chen sei. 

Natiirlich entspricht dieser Satz in der hier gegebenen Unbe- 
schranktheit nicht der Lehre Wernickes. Gerade Wernicke 
hat ja auf die Moglichkeit einer verschiedenen Entstehungsweise 
bestimmter Ideen hingewiesen, speziell in dem Hinweis auf die 
durch Erklarungswahn zustande kommenden Verfalschungen des 
BewuBtseins. Aber er hat vielleicht nicht geniigend der Multipli- 
zitat von Umstanden Rechnung getragen, die zu solchen Ideen 
fiihren konnen. 

Es kann etwa eine periphere Empfindung in der Lebergegend 
zusammen mit Reminiszenzen aus medizinischer Lektiire unter 
der Einwirkung einer pessimistischen Stimmung zu der Idee fiihren, 
die Leber sei vereitert. 

Somatopsychische Wahnideen werden daher oft nicht ein 
Hinweis darauf sein, daB der krankhafte ProzeB sich in der kor- 
tikalen Representation des Soma abspielt. Es wird dann der In¬ 
halt depressiver Wahnideen von individueller Lebenserfahrung und 
Sinnesrichtung neben auBeren Umstanden bestimmt sein. Trotz 
dieser Einschrankung, die aus der Gefahr des Irrtums in der 
Wiirdigung einer bestimmten AuBerung des Kranken und aus der 


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Liepmann, Ueber Wernickes EinfluB 


Gefahr einer ubereilten Anwendung des Prinzipes entspringt, halte 
ich den Gesichtspunkt von dem Hinweis des Inhaltes der Wahn- 
ideen auf den Sitz des Prozesses fur eine wirkliche Bereicherung 
von stellenweise ausschlaggebender Bedeutung. 

Eine fundamentale Bereicherung hat die klinische Psychiatrie 
durch die Verteilung der psychischen Prozesse auf die psycho- 
motorische, intrapsychische und psycho- 
sensorische Strecke erfahren. Wernicke hat hier gleich- 
zeitig ein groBes Gebiet der Erscheinungen fiir die neue physio- 
logische Betrachtungsweise erobert und uns eine Fiille von Ein- 
blicken in die Natur der krankhaften Reaktionen geschenkt. 

Er lehrt uns unterscheiden: i. die reflexartige, durch Kurz- 
schluB (unterhalb der drei Strecken) stattfindende motorische Reak- 
tion auf pathologische Empfindungen, 2. die durch Sinnesreize aus- 
geloste, aber vermittels des Vorstellungsprozesses zustande ge- 
kommene Bewegung, 3. die intrapsychisch bedingte Bewegung als 
Realisation von Zielsetzungen und 4. schheBhch Bewegungen resp. 
Bewegungsunterlassung, die von der Zielsetzung unabhangig 
sind. Die Typen der pathologischen BewegungsauBerungen lassen 
sich nach der befallenen Strecke charakterisieren. Gewisse J a k - 
tationen lassen sich als Bewegungen der ersteren Art auffassen. 
Die Delirien gehoren dem Typ der zweiten Art an — als Ziel¬ 
setzungen auf vermehrte krankhafte Empfindungen. Aus der 
intrapsychischen Hypo- und Hyperfunktion lassen sich die klassi- 
schen Bilder seiner Manie und Melancholie ableiten, die den Wert 
psychopathologischer Ra,dikale haben. 

Meisterhaft ist Wernickes Darstellung und Zerghederung 
der „Motilitatspsychosen“, bei denen es sich in der Hauptsache 
um Bewegungsstorungen der vierten Art handelt. Die Idee 
nicht psychologisch motivierter Bewegungen war ja schon vor 
Wernicke von einigen Autoren, wie Roller, K a h 1 - 
baum, NeiBer aufgestellt gegeniiber der verbreiteten Auf- 
fassung, nach welcher alle auffalhgen Verhaltungsweisen Geistes- 
kranker als durch verkehrte Vorstellungen bedingte Willens- 
auBerungen anzusehen sind (nach dem Schema des eigenen 
normalen Verhaltens: ich tue das, weil ich das und das 
glaube!). Aber niemand hat das Prinzip einer von normal- 
psychologischer Motivierung losgelosten Bewegungsstorung, die 
den Schein des Gewollten hat, so vertieft, ausgearbeitet, Niemand 
gezeigt, in welchem groBen Umfange es Anwendung auf die 
Geisteskranken findet, wie Wernicke. Seine Schilderungen 


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auf die klinische Psychiatric. 


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psychomotorischer Akinese, Hyperkinese und Parakinese sind 
klassische Leistungen. Er zeigte, wie oft bei Geisteskranken die 
Umkehrung obigen Normalschemas gilt, namlich: ich g 1 a u b e 
das, weil ich das und das t u e, d. h. wie wahnhafte Anschauungen 
in krankhafter Abanderung der Bewegungen ihre Quelle haben. 

Wer sich damit begniigt, summarisch festzustellen, daB eine 
gewisse Kategorie von Kranken gewisse Bewegungsstorungen zeigt, 
wird nicht in die Natur und die Gesetze dieser Bewegungsstorungen 
eindringen. Wernicke ging dem nach, wie ist die raumliche 
Verteilung dieser Bewegungsstorung bei jedem Falle, wie verhalt 
sich bei demselben Kranken die Sprachleistung zur Be- 
wegungsleistung und letztere zu den Spannungen und dem 
BewuBtseinszustand, wie verhalten sich die verschiedenen Korper- 
teile, er achtete auf das Befallensein der Korperseite, der Korper-, 
Ghed- und Muskelabschnitte, stellte Pradilektionsstellen fiir 
Negativismus, Akinese, Spannungen fest. Zeigte z. B. die vorzugs- 
weise Lokalisation des Negativismus in Kiefer- und Nacken- 
muskeln. Die Beziehungen von Mutazismus, Akinese, Hyperkinese. 

M. H.! Wir sind ja trotz Wernickes Arbeit noch weit 
entfemt von einer wirklich befriedigenden Einsicht in diese 
Erscheinungen, aber den Weg hat er uns doch gewiesen: die 
Auspragung dieser Erscheinungen an einzelnen Kranken im 
Detail zu studieren, Beziehungen der konkreten Einzelheiten 
zueinander, zu Einzelheiten anderer Symptomkategorien her- 
zustellen. Darin GesetzmaBigkeiten aufzuspiiren unter Heran- 
ziehung unserer Kenntnisse von anderen Bewegungs- 
abanderungen, die aus geschadigtem Nervenmechanismus 
hervorgehen konnen, etwa jaktatoiden, konvulsivischen, athe- 
totischen, choreatischen, apraktischen Storungen. Immer mit 
pern BUck auf das, was wir schon von krankhaft veranderter 
Nervenfunktion kennen. 

Wernickes Unterscheidung von Bewegungsdrang 
und Beschaftigungsdrang und wieder des halluzi- 
natorisch bedingten Beschaftigungsdranges des Deliranten von 
dem intrapsychisch bedingten Beschaftigungsdrang des 
Manischen sind Friichte solchen Studiums. 

Jiingst hat K 1 e i s t das Studium der Motilitatspsychosen 
auf Grand musterhaft beobachteter und zergliederter Kranken- 
befunde in zwei groBen Arbeiten fortgefiihrt. Er sieht in den 
psychomotorischen Storungen, summarisch gesagt, Erkrankungen 
des Kleinhirn-Stimhimsystems resp. seiner Verbindungen mit dem 


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Liepraann, Ueber Wernickes EinfluB 


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Zentralhim und Gesamthim und hat sie gegen apraktische und 
sonstige pathologische Bewegungen abzugrenzen gesucht. GewiB 1 st 
in seinen Arbeiten recht viel Hypothetisches. Eine Fiille experimen- 
teller und klinischer Untersuchungen wird erforderlich sein, ehe 
die Entscheidung gefallt werden kann: Aber ist nicht schon der 
bloBe Umstand, daB die Aufnahme und scharfsinnige Weiter- 
fiihrung Wernickescher Prinzipien, dank den Vorarbeiten von 
Anton, Hartmann, Forster u. A., dazu gefiihrt hat, 
iiberhaupt das groBe Gebiet der Kleinhirn-Stimhim-Physiologie 
und -Pathologie zu den Motilitatsstorungen Geisteskranker in 
Beziehungen zu setzen, daB sich Faden vom einen zum andern 
kniipfen, eine Fiille von Vergleichspunkten, Analogien, Unter- 
schieden feststellen lassen, ein Zeugnis fiir die Fruchtbar- 
keit des Prinzipes? Riicken sich nichtr Geisteskrankheiten und 
organische Gehimkrankheiten damit, eipjgp Schritt naher 1 ) ? 

Von den weiteren unerschopflichen Beitragen Wernickes 
zur allgemeinen Symptomatologie kann ich nur einiges ausfiihren : 
so die Betonung des Auftretens von Ratlosigkeit bei alien 
akuten Psychosen, den Hinweis auf die Abhangigkeit des Grades 
der Ratlosigkeit von der Schnelligkeit der Desorientierung. 

Die Unterscheidung von Merkfahigkeit und G e - 
dachtnisschatz und ihre Bewertung ist aus Wernickes 
Schule in die allgemeine Lehre iibergegangen. Soil ich hervor- 
heben, wie Wernicke das Verhaltnis von Au s f a 11 - und 
Reizerscheinungen, von Herd- und Allgemein- 
symptomen auf die Psychosen angewendet hat ? Soli ich auf seinen 
Begriff der Residuarsymptome hinweisen? Ich wiirde ermiiden, 
wenn ich in so engem Rahmen eine solche Fiille von Anregungen 
tabellarisch verzeichnete. 

Sehr interessant ist die paradox klingende Annahme eincs 
,,hypochondrischen Gliicksgefiihls“, eines Gegenstiicks zur soma- 
tisch bedingten Beklemmung, der unter die Brustrippen verlegten 
Angst. Wernicke beobachtete an manchen Kranken ein eben- 
falls in die Herzgegend lokalisiertes, wohl an Herzschlag und 
Atmung gekniipftes Gefiihl der Steigerung aller Lebensgeister 

l ) DaB die Untersuchungen K 1 e i s t s , abgesehen von dieser ihrer 
hcuristischen Bedeutung, viele subtile Beobachtungen und ergiebige Er- 
orterungen bringen, ist daneben ruhmend zu erwahnen. K. stellt z. B. eine 
sehr interessante Erwagung an, wie weit der DenkprozeB infolge der im 
Denken enthaltenen psychomotorischen Elemente durch eine generelle psycho- 
motorische Stoning sekundar in Mitleidenschaft gezogen wird. 


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auf die kLinische Psychiatrie. 


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und stellte daxnit eine Auspragung des Gliicksgefiihles fest, das 
unabhangig vom Vorstellungsinhalt und unabhangig von intra- 
psychischer Hyperfunktion auftritt. 

Die Lehre von der iiberwertigen Idee hat sich als 
eine wesentliche Bereicherung unserer Symptomatology erwiesen, 
obgleich Wernicke diesen Begriff zuerst durch nicht sehr 
gliickliche Beispiele illustriert hat. Der Wert dieses Begriffes liegt 
— wie schon NeiBer einmal hervorgehoben hat — darin, daB 
das Pathologische hier nicht in dem I n h a 11 einer Idee gefunden 
wird, sondem in ihrer dynamischen Bedeutung im Vorstellungs- 
leben. Die iiberwertige Idee ist dadurch zwar verwandt der Zwangs- 
vorstellung, bleibt aber doch wesentlich von ihr verschieden. Die 
iiberwertige Idee wird nicht als Zwang empfunden, steht nicht 
fremd der Personichkeit gegeniiber, sondem erfiillt und durch- 
dringt gerade die ganze Personlichkeit. Ich glaube, daB man viele 
querulatorisch-paranoische Bilder, insbesondere auch den Geistes- 
zustand vieler Psychopathen, z. B. psychopathischer Gefangener 
nicht zutreffend schildem kann, ohne das Symptom der iiber- 
wertigen Idee. 

Und wie hat Wernicke in der Herausarbeitung von 
Symptomenkomplexen, derenBestandteile in einem inne- 
ren Zusammenhang stehen, die klinische Psychiatrie bereichert! 
Ich erinnere wieder an seine M a n i e , seine Melancholie, 
die verschiedenen ,,Motilitatspsychosen“, die psychosensorisch be- 
dingte Allopsychose u.s.w. Es handelt sich um jene ,,Symptomen- 
verkupplungen‘‘, deren Heraushebung neuerdings auch H o c h e 
als nachstes Ziel der Psychiatrie hingestellt hat. 

Wenn W e r n i c k e sie ,,Psychosen“ nennt, so hat bei ihm das 
Wort „Psychose“ einen anderen Sinn, als bei der Mehrzahl der Au- 
toren. Er versteht darunter — so darf man wohl definieren — die 
Gesamtheit der psychischen Abanderungen, welche aus der Stoning 
einer nervosen Grundfunktion hervorgehen. Nicht eine „Krank- 
lieit“, deren Einheit durch Ursache, Verlauf, Ausgang gegeben ist. 

Auf die Grundeinteilung der Psychosen hat, wie wir sehen, 
Wernicke keinen EinfluB zu iiben vermocht. Wohl aber in der 
Abgrenzung von Untergruppen innerhalb groBer, durch irgendein 
Moment vorlaufig zusammengehaltener Klassen. So verdankt 
ihm die Psychiatrie die meisterhafte Abgrenzung und Kenn- 
zeichnung einer Reihe von Krankheiten, die allein oder am hau- 
figsten durch A1 k o h o 1 hervorgebracht werden. 


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Liepmann , Ueber Wernickes EinfluB 


Von ihm und Bonhoeffer ist das Delirium tremens in 
maBgebender Weise analysiert und abgegrenzt worden. Ebenso 
die davon abzutrennende akute Halluzinose der Trinker. 
Das letztere Krankheitsbild ist Allgemeinbesitz geworden. Wie 
scharf und klar treten uns in dieser Schilderungsweise diese und 
die weiteren Bilder der Korsakoffschen Psychose und des 
pathologischen Rausches entgegen! 

EinEinfluB Wernickes auf die Klassifikationzeigt sich uns 
femer in scheinbar negativer Richtung. Er war es, der der iiber- 
maBigen Ausdehnung der M e y n e r t schen Amentia entgegen- 
trat mit der richtigen Erkenntnis, daB das Bild der Amentia das A n - 
fangsbild fast aller akuten Psychosen ist. Und so ist 
denn auch die Amentia unter seinem EinfluB fast allgemein als 
eigene Krankheit auf einen kleineren Kreis infektios oder trau- 
matisch ausgeloster fliichtiger Psychosen beschrankt worden. 

Er wurde ferner nicht miide, dagegen zu eifern, eine eigene 
Erschopfungspsychose aufzustellen. Er wies darauf 
hin, daB Erschopfung bei einer sehr groBen Reihe von Psychosen 
eine atiologische Rolle spiele, daB ihr keine eigene Krankheit ent- 
spreche. So hat denn auch Kraepelin neuerdings eine eigene 
Erschopfungspsychose fallen lassen. 

Eine umfassende, auBerordentlich klarende Bearbeitung der 
symptomatischen Psychosen ist jiingst von einem 
Wernicke schen Schuler, Bonhoeffer 1 ), gegeben worden. 
Sie hat eine prinzipielle Lehre Wernickes bestatigt und Neues 
daran gekniipft. Um so bedeutsamer, als Bonhoeffer weit 
entfemt ist, sich b e d i n g u n g s 1 o s der Wernic ke schen 
Lehre anzuschlieBen, sondern als selbstandiger Forscher unbe- 
einfluBt von manchen Subjektivitaten des friiheren Lehrers seinen 
Weg geht. 

Der Teil der Ergebnisse, der hier nur interessiert, ist, daB 
auf diesem fur die Losung der Atiologie-Frage hochst geeigneten 
Gebiete der Psychosen bei Typhus, Erysipel, Scharlach, bei Herz- 
krankheiten, Uramie, Basedow u. s. w. sich eine verhaltnismaBig 
groBe Unabhangigkeit des psychischen Bildes von der speziellen 
jsjoxe zeigt, daB eine Reihe typischer Reaktionsformen auf exogene 
Schadigungen existieren, die von der Eigenart der Schadigung 
unabhangig sind, in gleicher Weise selbst bei Himtraumen und 
Strangulationshyperamie vorkommen. Vorlaufig zeigt sich die 

2 ) Die symptomat. Psychosen. 1910. 


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auf die klinische Psychiatrie. 27 

Differenz der Atiologie fast nur in dem somatischen und neuro- 
logischen Befunde. 

M. H.! Die Untersuchungsmethode Wernickes 
hat eine allgemeineVertiefung derUntersuchung der Geisteskranken 
bewirkt. Das klingt beinahe paradox angesichts der glanzenden Ent- 
wicklung, welche die experimentelle undexakt messende Methodik 
in anderen Schulen genommen hat — man denke nur, wie die 
Methoden zur Untersuchung von Pupillen- und Patellarreflex, 
Blutdruck, Atmung, Stoffwechsel, nur wie Kraniographie, Sphygmo- 
graphie usw. vervollkommnet sind, und besonders die Methoden 
der Experimentalpsychologie mit ihren Reaktions- und Assoziations- 
versuchen reiche Anwendung gefunden haben — eine Entwicklung, 
in der Rieger, Ziehen, Kraepelin, Sommer voran- 
gegangen sind. GewiB ist hier eine derartige Abstufbarkeit, 
Exaktheit und Objektivierbarkeit gewonnen, daB damit ver- 
ghchen die einzelne Methode Wernickes primitiv er- 
scheint. Dennoch ware es verfehlt, damach die Untersuchungs- 
weise, welche Wernicke in den 8oer und goer Jahren geiibt 
hat, gering zu schatzen. Erstens sind viele Symptome der Geistes¬ 
kranken so grober Art, daB, um Wernikes Worte zu ge- 
brauchen, eine feine Experimentalmethode auf sie anwenden, 
hieBe, eine Kanonenkugel unter dem Mikroskop betrachten. 
Zweitens aber liegt der Wert seiner Untersuchungsweise nicht in 
der Vollkommenheit der einzelnen Untersuchungsmethoden. 
— Wenn es gilt, eine Spezialuntersuchung liber eine 
bestimmte Frage vorzunehmen, so fiihren die exakten Methoden 
mit kunstvollen Apparaten viel weiter. Der Wert liegt in etwas 
anderem: 

Wernicke ist einer der ersten, vielleicht der erste, der 
jeden einzelnen Kranken allseitig untersuchte, und zwar 
unter neurophysiologischen Gesichtspunkten. Er zog dabei — 
wenn auch mit einfachen Mitteln — eine Menge Ziige des Kranken 
in Betracht, die der kompliziert-experimentellen Methodik nicht 
oder jedenfalls nur fur Einzelfalle zuganglich sind. Die Gesamt- 
heit dieser Ziige und ihrer Beziehungen zueinander mit der 
experimentellen Technik zu fixieren, wiirde fiir einen einzelnen 
Kranken so viel Zeit und Arbeit erfordern, daB ihre Aus- 
dehnung auf alle Kranken eine Unmoglichkeit ware. Wernickes 
Untersuchungsweise hat ein Muster gegeben, wie man alle Patienten 
einer griindlichen, allseitigen AufschheBung unterwerfen kann. 
Wie er jeden Kranken auf die neurologischen und zerebralen Herd- 


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Liepmann, Ueber Wernickes Einflui! 


symptome untersuchte, wurde schon gesagt. Wie jeder Kranke 
stand, ging, sich hielt, gestikulierte, auf einen Stuhl 
stieg, sich einfachen Aufgaben gegeniiber verhielt, wie sich die 
verschiedenen Korpersegmente und in welcher Weise dabei be- 
teiligten, wurde zum Gegenstand minutiosen Studiums gemacht. 
Der mimische Ausdruck wurde sorgfaltig zergliedert. Es 
wurde unterschieden, wie er spontan und reaktiv sich verhielt, 
sich bewegte, wie er auf Nadelstiche, wie er auf gleichsam zu- 
fallig dargebotene Sinneseindriicke reagierte, wie seine Rede sich 
spontan und reaktiv verhielt. Er wurde auf Merkfahigkeit, Auf- 
merksamkeit, Fesselung der Aufmerksamkeit durch Sinneseindriicke 
gepriift, die Auffassung auf verschiedenen Sinnesgebieten, die Merk¬ 
fahigkeit auf den verschiedenen Sinnesgebieten, der Ge- 
dachtnisschatz, die Unterscheidungsfahigkeit zwischen verwandten 
Begriffen u. s. w. wurde festgestellt. 

Ich glaube, daB trotz der unverkennbar groBen und dankens- 
werten Fortschritte, welche seitdem die Untersuchungstechnik zur 
Feststellung einzelner Ziige und quantitativen Registrierung ge¬ 
macht hat, die groBe Bedeutung, welches dieses minutiose allseitige 
Beobachten aller LebensauBerungen der Kranken unter Anwendung 
der einfachsten Form des Experimentes und Ausgehen von 
neurologischen Vorstellungen fur die Entwicklung der Psychiatrie 
gehabt hat, nicht hoch genug geschatzt werden 
kann. Der Mangel der messenden und zahlenden Methodik 
wurde reichlich aufgewogen durch eine ganz hervorragende Be- 
obachtungsgabe imd einen intuitiven BUck fiir verborgene Be- 
ziehungen. Dieser Blick — zunachst ein Geschenk der Natur — 
war an dem eindringlichen Studium Nervenkranker in unge- 
wohnlichem MaBe gescharft worden. 

M. H.! DaB Wernicke ein so hervorragender Beobachter, 
Untersucher und Kexmer der Einzelerscheinungen war, ist ein 
wichtiges Moment fiir die Stellung, die seiner Psychiatrie anzu- 
weisen ist. 

Richtet man den Blick nur auf das viele Hypothetische 
in seiner Lehre, das mit dem Grundsatz, Psychisches zum neuro- 
pathologischen Objekt zu gestalten, zurzeit noch verbunden 
ist, so miissen manche Bedenken aufstoBen. Der durch die 
induktive Schule Gegangene wird manche Betrachtung ablehnen. 
Wernicke will alles schon verstehen und erklaren, wo der 
Vorsichtigere erst von einer femen Zukunft Aufhellung erwartet. 
Solch Kritiker wird manche Willkiir, manche Konstruktion, 


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auf die klinische Psychiatrie. 


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manche allzu kiihne Vereinfachung des Tatbestandes bemangeln. 
Wernicke kiimmerte sich nicht immer um die Forderung der 
induktiven Forschung, weittragende SchluBfolgerungen nur auf 
ausgedehnte Versuchsreihen, die jede andere Deutungsmoglichkeit 
ausschlieBen, aufzubauen. 

Manches hypothetische Element war nur dadurch gestiitzt, 
daB es der Grundaufgabe, die Vorgange mechanisch-zerebral zu 
erfassen, dienlich war. Mit einer Vermutung wird dann gelegentlich 
eine andere Erklarungsmoglichkeit abgetan, nicht durch ausgiebige, 
fiir andere wiederholbare Untersuchungen ausgeschlossen. 

M. H.! Alle diese Ziige liegen im Wesen des konstruk- 
t i v e n Kopfes. Wir wissen, daB dieser, wo der vorsichtige Em¬ 
piricus ein non liquet ausspricht, kiihn Gedankenfaden schlingt, 
und wir wissen, daB auch viele groBe Fortschritte in der Wissen- 
schaft ohne diese, tausend Erfahrungen anticipierende und iiber- 
springende Kombination nicht zustande gekommen waren. 

Freilich, wenn der Hinweis auf das Konstruktive in Wer¬ 
nickes Lehre deren Wesen erschopfte, wiirden die Ergebnisse 
an Wert verheren. Aber wenn man konstruktive und induk- 
tive Kopfe unterscheidet, so handelt es sich ja nur um relative 
Unterschiede. Wer nur konstruktiv ware, wiirde Kartenhauser 
bauen; wer nur induktiv ware, wiirde ein Geriimpel von Tatsachen 
aufhaufen. Die Konstruktion hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn 
sie sich auf griindliche und tiefe Erfahrung aufbaut. Und damit 
kommen wir auf das vorher Gesagte: wenn Wernicke nicht 
seine Grundanschauungen, auf deren Boden er die Liicken in 
der Erfahrung auszufiillen suchte, einem groBen E r - 
fahrungsgebiete entnommen hatte, dann waren seine 
Konstruktionen entwertet. Durch seine unvergleichliche Kenner- 
schaft aber der neuropathologischen Erscheimmgswelt, die sich von 
der Funktion der einzelnen Muskeln und Nerven bis auf das Ver- 
halten zahlloser unter die Lupe genommener Geisteskranker 
erstreckte, erwirbt er sich ein Recht auf Gehor, auch wo er 
konstruktiv in das Gebiet des noch nicht streng Verifizierbaren 
hineinleuchtet. 

Diese beiden Momente bestimmen Wernickes Stellung in 
der Psychiatrie. 

Seine intime Kenntnis des Stoffes und die erfolgreiche Er- 
obenmg eines groBen Terrains fiir eine streng wissenschaftliche 
neuropathologische Betrachtungsweise hindem es, daB wir seine 
weitergehenden ins Unbekannte hineingepflanzten Hypothesen ein- 


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Liepmann , Ueber Wernickes EmfluB 


fach in das Bereich der Luftgebilde verweisen, so daB die Wissen- 
schaft mit einem Buckling iiber sie hinweg zur Tagesordnung iiber- 
gehen konnte. DaB aber seine Lehre so stark mit Hypothetischem 
durchsetzt ist, steht andererseits dem im Wege, daB wir sie in toto 
ohne weiteres als lehrbaren Wissensstoff iibernehmen und so den 
Lemenden ubermitteln konnten. 

M. H.! Vielleicht tragt eine Antithese dazu bei, uns zu der 
Wurzel von Wernickes Psychiatrie zu fiihren: Wernickes 
Element ist das Raumliche. Was sich in dem Him, an den 
Teilen eines raumlichen Organs, abspielen kann, interessiert ihn. Die 
Beziehungen des Gleichzeitigen in einem raumlichen Organ 
sind sein Objekt, daher sind viele seiner Schilderungen Quer- 
schnittsbilder durch die zeitliche Folge der psychischen 
Erscheinungen. Kraepelins Psychiatrie bewegt sich mehr in 
der zeitlichen Dimension: Ursachean einem und A u s - 
gang am andem Ende, dazwischen Progredienz bis zur geistigen 
Schwache, oder intermittierender Verlauf u. s. w.: auf einer zeit¬ 
lichen Linie — wie wir sehen — lassen sich die Hauptgesichts- 
punkte, welche sein gewaltiges Eingreifen in die Entwicklung der 
Psychiatrie kennzeichnen, auftragen. Und weiter: Beide erheben 
den Anspruch, die Psychiatrie nach spezifisch medizinischen 
Gesichtspunkten zu bearbeiten. Und beide mit Recht, ohne 
daB ein Widerspruch entstiinde. Bei Kraepelin sind es 
die Gesichtspunkte der allgemeinen medizinischen Patho¬ 
logic, bei Wernicke die speziellen der N e r ve n pathologie. 
Mit der letzteren ist das lokalisatorische Moment gegeben. Sofern 
aber das Nervensystem Teil des ganzen Organismus ist, sind auch 
die allgemein medizinischen Begriffe auf seine Erkrarikung an- 
wendbar. 

Wernicke hat mit grandioser Konsequenz und Einseitigkeit 
die Psychiatrie in Neuropathologie derHirnfunktion aufgehen lassen 
wollen. Es ist ihm nicht gelungen, der Psychiatrie unserer Zeit 
schon als Ganzem diesen Charakter aufzudriicken. Sie hat sich 
in groBem Umfange einer Betrachtung zugewendet, welche das 
Studium der naheren Abhangigkeit der Psychosen vom befallenen 
Organ als Zukunftsaufgabe ansieht und ihrer weiteren Qualitat, 
Erkrankung eines Teiles des ganzen lebenden Organismus zu sein, 
die leitenden Gesichtspunkte entnimmt. 

Solche allgemein biopathologischen Gesichtspunkte sind: 
Noxe, Erblichkeit, Verlaufstypus, Ausgang, Beziehung zu bestimm- 
ten Lebensabschnitten (Pubertat, Involution, Senium) zu quali- 


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auf die klinisehe Psychiatric. 


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tativen Anderungen des Organismus, wie GefaBerkrankung. An 
die Stelle der von neurophysiologischer Grundlage kommenden 
Beobachtung trat der psychologische Versuch. 

Obgleich es aber Wernicke nicht gelungen ist, den neuro- 
pathologischen Gedanken zum allbeherrschenden in der 
Psychiatrie zu machen, hat er ihn doch tief hinein in die Psychiatrie 
getrieben; er hat die Psychiatrie durchsetzt mit einer Beob- 
achtungs-, Darstellungs- und Erklarungsweise, die dafiir sorgt, 
daB liber biologischen, psychologischen, praktischen Gesichts- 
punkten die Aufgabe der Psychiatrie als Gehimpathologie schon 
in erheblichem MaBe Beriicksichtigung findet — im Sinne des 
Aufbaus und im Sinne der Abwehr. 

Er hat schon eine bedeutende Annaherung der groben Hirn- 
pathologie an die Psychiatrie herbeigefuhrt; er hat durch einen 
Schatz von Feststellungen und Aufklarungen die aUgemeine Sym- 
ptomatologie bereichert, Symptomenkomplexe herausprapariert, 
die einen natiirlichen Symptomenzusammenhang abgeben, schlieB- 
hch engere Krankheitsformen geschaffen, die in die aUgemeine 
Auffassung ubergingen. 

So hat seine Arbeit bewirkt, daB sich mitten in einer anders- 
artigen Betrachtung der Geistesstorungen doch schon ein groBes 
Stuck der neurophysiologischen Psychiatrie aufgepflanzt hat, die 
unbeschadet der Berechtigung und des groBen Wertes der 
andem Betrachtungsweise eine Behandlungsweise der Geistes¬ 
storungen darsteUt, die sich als unabweisbar weiter entwickeln 
wird, ja dem eigentlich hochsten Ziel unserer Wissenschaft zu- 
fuhrt. Denn die zu erwartenden weiteren Fortschritte der 
pathologischen Histologie und Physiologie mussen eine Be- 
arbeitung des Klinischen vorfinden, welche 
erlaubt, ihre Ergebnisse zu dem Klinischen 
in Beziehung zu setzen; daB sich nicht klinisehe und 
anatomische Ergebnisse eines Tages verstandnislos gegeniiber- 
stehen als zwei Kinder anderer Welten; daB sie einer Verstandi- 
gung und Vereinigung fahig sind. 

DaB Wernicke uns einen Schatz von Gedanken, Beobach- 
tungen und DarsteUungsmitteln gegeben hat, der als Unterbau 
fur weitere Arbeit in dieser Richtung dienen kann — damit 
ist vor aUem Wernickes EinfluB auf die Psychiatrie ge- 
kennzeichnet. 

M. H.! Ich bin mir eines groBen Fehlers meines Referates 
bewuBt. Ich habe so gesprochen, als ob es fast nur Wernicke 


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Giannelli, Beitrag zum Studium 


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auf der einen und fast nur Kr ae p e 1 i n auf der andern Seite gabe. 
Ich habe der andern Meister unseres Faches, der Dahingeschiedenen 
und der unter uns Weilenden, wenig und nur beilaufig gedacht. Ich 
habe, um nur die ersteren zu nennen, die Westphal, Grie- 
singer, Meynert, Kahlbaumin den Hintergrund treten 
lassen. 

Zu meiner Entschuldigung moge der Charakter der mir ge- 
stellten Aufgabe dienen. Sie riickt eine Personlichkeit 
und kein Problem in den Vordergrund. Da kommt es denn 
leicht, daB man, wie der Biograph, alles aus dem Zentrum der einen 
Personlichkeit beleuchtet. 

N un ist die Gegeniiberstellung gerade der K r a e p e 1 i n schen 
Lehre, abgesehen von ihrem groBen EinfluB auf die Gestaltung 
der heutigen Psychiatrie, in ihrer erganzenden Gegensatzlich- 
keit zur Wernicke schen dazu dienlich, das Wesen der 
Wernicke schen Psychiatrie in besonders scharfe Beleuchtung 
zu riicken. 

Dem mogen Sie den zugestandenen Mangel zugute halten. 


(Aus dem pathologischen La bora tori um der Irrenanstalt in Rom. 

[Direktorj Prof. G. Mingazzini .]) 

Beitrag zum Studium der hereditaren Lues 
(Friedreichsches Syndrom). 

Von 

Prof. Dr. A. GIANNELLI, 

Priratdozent ftir Neurologic nnd Psychiatrie. 

(Hierzu Taf. I—III.) 

A. Maria, 22 Jahre alt, unverheiratet, wird am 12. VI. 1904 ins 
Krankenhaus eingeliefert. Die Mutter wurde in den ersten Zeiten ihrer Ehe 
syphilitisch infiziert und hat an syphilitischenHautsymptomen gelitten; ihre 
Strnune klingt infolge einer syphilitischen Lasion des knochernen Gatunens 
nasal; sie hat viele Fehlgeburten gehabt. andere Kinder sind gleich naeh 
der Geburt gestorben. Die oben erwahnte Rranke ist die alteste Tochter 
unter den lebenden Kindem, drei andere sind gesund und haben niemals 
nervose Storungen gehabt. Die letzte Geburt war eine MiBgeburt. 

Ueber die Kranke haben wir nur folgende Notizen: Bei der Geburt 
hatte sie akute syphilitisch© Hautsymptome, sie war immer wenig intelligent 
und indifferent gegen alles, wets um sie herum vorging; die motorischen 
Storungen wurden von der friihesten Kindheit an konstatiert; sie war nie¬ 
mals menstruiert und hat niemals iiber Schmerzen geklagt. 


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UNIVERi 


JIGAN 



der hereditaren Lues (Friedreichsches Syndrom). 


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Objektiver Befund: Pat. erscheint hinter ihrem Alter zuriickgeblieben, 
man konnte ihr Alter auf 13—14 Jahre schatzen. GroBe 1,30 m; das sub- 
kutane Fettgewebe ist wenig elastisch; die Achselhaare fehlen ganz, die 
Schamhaare sind wenig entwickelt; Zahne klein, unregelmaBig gewachsen, 
erodiert; die oberen Schneidezahne zeigen die eharakteristischen Merk- 
male der Hutchinsonschen Zahne; die Augenzahne sind den Schneidezahnen 
sehr ahnlich, und ihr freier Hand ist scharf. Die Nagel der Zeigefinger beider 
Hande sind kraUenformig verbildet. Die Wirbelsaule zeigt eine Ver- 
kriimmung mit der Konvexitat nach links im Cervikodorsalteil und einer 
ausgepragter^n Konvexitat nach rechts im Dorsolumbosakralteil. Die 
FiiBe sind in Equinus-Stellimg. ihr medialer Rand ist nach oben gewendet. 
Die Zehen neigen zu krallenformiger Bildung, besonders die groBe Zehe, 
deren erste Phalanx in Hyperextension steht, und zwar links mehr als rechts, 
und deren 2. Phalanx in Beugestellung steht. Der Patellarreflex ist ge- 


steigert. 

Schadelmessung 

GroBter Horizontalumfang. 500 mm 

Vordere Semicurve. 270 ,, 

Hintere Semicurve. 230 ,, 

Ant. post.-Curve.310 „ 

Binauricular.-Curve. 290 ,, 

Diameter ant. post..177 ,, 

Diameter transvers. max.139 „ 

Diameter front, min.100 ,, 

Distantia bizygom.108 „ 

Distantia bigoniaca.100 „ 


Die Kranke liegt im Bett gewohnlich auf einer Seite, die unteren 
GliedmaBen in alien Gelenken gebeugt. Die oberen GliedmaBen sind an 
den Korper gezogen, im Ellenbogen halb gebeugt, die Vorderarme imter 
der Brust an den Rumpf gelegt. 

Bei der Inspektion des Gesichtes bemerkt man keine Differenz im 
Tonus beider Seiten. Selten befinden sich die Muskeln im Zustand der 
Ruhe, vielmehr zeigen sie fast ununterbrochen lebhafte Kontraktionen, 
welche bald einen ganzen Muskel, bald einen Teil eines Muskels betreffen 
und etwa wie eine Welle von verschiedener Hohe und Schnelligkeit den 
ganzen oder einen Teil des betroffenen Muskels durchlaufen. Manchmal 
wird der Mundwinkel lebhaft nach rechts gezogen. Diese Bewegungen 
ahneln haufig denen der Myoklonie, sind aber manchmal auch so intensiv 
und heftig, daB sie an die Chorea electrica erinnem. Vorzugsweise sind 
betroffen der Orbicularis palpebrae, der Levator palpebrae, der Orbicularis 
oris und die Kinnmuskeln. Von Zeit zu Zeit kontrahieren sich die Stirn- 
muskeln lebhaft und verursachen deutliche transversals Runzeln, imd diese 
Kontraktionen halten einige Sekunden lang an imd wiederholen sich dann 
in unregelmaBigen Intervallen. 

Die Kontraktionen der Gesichtsmuskeln nehmen zu, wenn die Patient in 
fixiert wird, oder wenn man sie auffordert, eine Geste zu machen, und dann 
treten Kontraktionen auch in Muskeln auf, welche sonst fast verschont 
sind. Von Zeit zu Zeit wird der Kopf der Patientin nach rechts bewegt, 
selten nach links, und zwar stoBweise. Die Augapfel zeigen horizontalen 
lebhaften Nystagmus. Beim Blick nach oben warden die nystagmusartigen 
Oszillationen lebhafter; anfangs sind sie rotatorisch, dann horizontal. 

Die Zunge ist von normaler GroBe imd zeigt in der Mundhohle kon- 
tinuierliche Bewegungen von demselben Charakter wie die Gesichtsmuskeln. 

Gewohnlich befinden sich die oberen GliedmaBen in Ruhe; aber 
manchmal treten ohne nachweisbare Ursache gleichzeitig zwei Formen 
von Bewegungen seitens der Finger auf, namlich in den 4 letzten Fingern 
kleine, rasche StoBe, und zwar nicht synchron in den einzelnen Fingern 
imd von geringer Exkursionsweite; der Daumen macht dagegen entweder 
gleichzeitig mit den iibrigen Fingern oder isoliert echte klonische Flexions- 
oder Adduktionsbewegungen, bald in toto , bald nur in einem Gelenk. Bei 

Monatsschrift f. Psychiatrle u. Neurologic. Bd. NXN. Heft 1 . 3 


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leichter Fixation der Hande teilen sich die sukzessiven Kontraktionen der 
in Rede stehenden Muskeln dem Vorderarme mit. Beim Ausfiihren von 
aktiven Bewegungen (Handeklatschen. Ergreifen der Hand des Unter- 
suchers, Zudeeken mit dem Bettuch etc.) mit den oberen GliedmaBen 
zeigen sich Oszillationen, die einem echten Intentionstremor entsprechen. 

Wenn die Kranke umhergefiihrt wird, nahern sich die Knie einander, 
mid die Ferse schlagt haufig auf den Boden. 

Die unteren GliedmaBen befinden sich in Extension. Auch in ihnen 
zeigen sich schnelle unwillkiirliche Bewegungen, die in kurzen Oszillationen 
des ganzen FuBes im Sprunggelenk bestehen. Die aktiven Bewegungen 
der unteren GliedmaBen sind deutlich ataktisch. Dabei sind alle einzelnen 
aktiven Bewegungen der oberen und imteren GliedmaBen moglich. Bei 
passiven Bewegungen besteht ein leichter Grad von Resistenz, der auf 
der linken Seite deutlicher ist. Die Patientin ist fahig. sich auf den FiiBen 
zu halten; dabei steht sie mit gespreizten Beinen und sehwankt, aber fallt 
nicht. Wenn man die Augen der Pat. mit einer Binde bedeckt, vermehren 
sich die Rumpfschwankungen. auch wenn die unteren GliedmaBen nicht 
in der Eombergschen Stellung einander genahert sind. Bei Versuchen, 
umherzugehen. wobei sich die Pat. an den Mobeln des Untersuchungsraumes 
stiitzt. geht sie mit gespreizten Beinen, macht kleine Schritte und hebt 
manchmal die FiiBe mehr als notwendig vom Boden; in der Mitte des 
Raumes allein gelassen und aufgefordert, zu gehen, fallt sie um, wenn sie 
nicht gestiitzt wird, und zwar ohne Bevorzugung der einen oder der anderen 
Seite. 

Die Beriihnmgs-, Temperatur- imd Schmerz-Sensibilitat ist normal. 
Die Untersuchung der spezifisohen Sinne ist infolge des Geisteszustandes 
der Pat. nicht durchzufiihren; deutlich ist eine betrachtliche Abnahme der 
Horscharfe. 

Druck auf die Nervenstamme ist nicht schmerzhaft. Die Bauch- 
reflexe sind auf boiden Seiten sehr lebhaft, und haufig beobachtet man, 
wenn man auf einer Seite reizt, die Ausbreitung der Reflexbewegung auf 
die entgegenge8etzte Seite. Ebenso sind die Plantarreflexe lebhaft. Das 
Babinskische Phanomen fehlt, ebenso der Oppenheimsche Reflex. Es fehlen 
die Patellar- und Achillessehnenreflexe imd die Sehnenreflexe der oberen 
Extremitaten. 

Auf beiden Seiten bestehen Komeatriibungen. Die Pupillen sind 
ungleich; die rechte ist ein wenig weiter und auf Licht und Akkommodation 
wenig beweglich. Es bestehen Reste einer Iritis (Synechien). An den 
Randern der Iris finden sich Residuen der Pupillarmembran. Die Papille 
hat sehr feine GefaBe; man bemerkt atrophische chorioretinitische Herde. 

Es besteht ein schwerer Mangel an Aufmerksamkeit. Ihren Namen 
und die Geburtsstadt weiB Pat. anzugeben. Die geistigen Fahigkeiten sind 
sehr mangelhaft; es fehlen die elementarsten Kenntnisse, und die Pat. zeigt 
kein Interesse fiir ihre Umgebimg; sie erregt sich manchmal ohne sicht- 
baren Gnmd. Sie laBt Fazes imd Urin, ohne es zu merken, unter sich. 
wo sie sich gerade befindet. Dysarthrische Storungen im eigentlichen Sinne 
fehlen. aber die Sprache ist oft unverstandlich; schwer wird ihr vor allem 
die Aussprache von Silben mit den Buchstaben 1, m, n. r. Der Zustand 
der Kranken blieb lange Zeit unverandert. Anfang Juni 1905 erfolgte 
nur noch auf sehr starke Schmerz- imd Warmereize eine Reaktion (tiefes 
Stechen der Haut; fast kochendes Wasser). Was die Beruhrungsreize 
betrifft, so lieB sich nichts dariiber sagen, da die Kranke bejahend ant- 
wortete, auch wenn iiberhaupt kein Reiz appliziert war. Die Resistenz 
gegeniiber passiven Bewegungen der unteren Extremitaten war deutlicher 
geworden. Der Babinskische und der Oppenheimr* che Reflex lieBen sich aus- 
losen. Trotz sorgfal tigs ter Pflege entstand Decubitus am Rreuzbein und 
an den inneren Kondylen der Oberschenkel. AJlgemeine Korperschwache; 
frequenter Puls (100—120). Am 28. VIII. 1905 trat der Tod im Maras¬ 
mus ein. 

Autop&ie 12 Stunden nach dem Tode: Die Diploe der Schadeldecke 
ist verdichtet; die Dura mater ist langs der Mittellinie in der vorderen Hfilfte 


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der Hemispharen der weiehen Hirnhaut adharent. Letztere ist etwas triibe, 
nicht reich an GefaBen; bei ihrer Entfemung entsteht keine Verletzung der 
Himrinde. Ebenso verhalt sich die Pia der Kleinhimhemispharen. An 
der Basis des Gehims ist die weiche Hirnhaut von normalem Aussehen. 
Normal sind auch die Hirnnerven. Gewieht des Gehirns mit den weiehen 
Himhauten 1005 g. In gewohnter Weise eroffnet, erweisen sieh die Seiten- 
ventrikel etwas erweitert und enthalten 50—GO ecm klare Fliissigkeit; das 
Ependym aller Hirnhohlen ist glatt. 

Die Medulla spinalis ist viel kleiner als normal. Die Dura mater spin, 
ist im hinteren Teil im Bereich des unteren Dorsal- und Lumbalmarks ver- 
dickt. Die Hinterstrange zeigen in der Dorsolumbalregion eine derbere 
Konsistenz als normal und eine leicht graue Verfarbung. 

Das Herz ist klein, Gewieht 190 g; die Aorta hat ein kleineres Kaliber 
als normal. Der Respirationstrakt und der Verdauungsapparat. die Nieren 
und die Blase sind normal. 

Der Uterus ist inf ant il; er entsprieht etwa dem eines Madchens von 
8 —10 Jahren; die Ovarien sind klein. ihre Oberflache ist glatt, und Gro//sche 
Follikel sind nicht zu erkennen. Thymus nicht vorhanden, Schilddriise 
normal. 

Stiicke aus den verschiedenen GroBhirnwindungen, dem Klein- 
him und dem Riickenmark (Sakral-, Lumbal-, Dorsal- und Cervikalmark) 
wurden in 96 proz. Alkohol und in 10 proz. Formol konserviert. Das ganze 
iibrige Zentralnervensystem und Stiicke von den Muskeln (M. deltoideus; 
Supinaton; Quadricepsfemoris, etc.) wurden in 5 proz. Kal. bichromat. 
konserviert. Die peripherischen Nerven (Cruralis, Ischiadicus, Medianus) 
wurden in 10 proz. Formol, in 96 proz. AJkohol und in 5 proz. Kal. 
bichromat. konserviert. 

Sowohl Quer- als auch Langsschnitte aller Stiicke wurden mit Me- 
thylenblau (auch ohne Einbettung), mit Thionin, mit Kresyl-Violett, mit 
Ehrlichs Triacid, mit Polychromblau von Unna , mit Nigrosin imd mit 
Karbol-Methylgriin-Pyronin-Losung gefarbt, desgleichen nach v. Oieson , 
Bielschowsky und Mallory . 

Zur Untersuchung der Membrana elastica der GefaBe wurde die 
Orcein-Methode ( Unna-Tdnzer ) verwendet. zur Darstellung der Neuroglia 
die Methode von Weigert. Der Rest der Medulla spinalis und der Himstamm 
wurden in Serien geschnitten imd nach Weigert-Pal gefarbt. 

Die peripheren Nerven wurden in Longitudinal- imd Transversal- 
schnitten nach Weigert-Pal , mit Methylenblau, mit Pikrokarmin. nach 
v. Oieson, Bielschowsky und mit Safranin gefarbt. Die Muskeln wurden nach 
v. Oieson untersucht. 

Im Zentralnervensystem wurde auch auf Amyloid, Hyalin und Glyko- 
gen untersucht. 

Wir fassen das Resultat der mikrosko pise hen Untersuchung kurz 
zusammen. 

OroPhimhemisphdren. Die Dura mater zeigt keine Alteration. Die 
weiehen Himhaute sind leicht verdickt und zeigen eine leichte Lymphozyten- 
infiltration. Diese Befunde an den weiehen Himhauten sind im Grunde 
der Furchen deutlicher. Nur selten findet sich in den GefaBen eine Plasma- 
zelle (Taf. I—H Fig. 1). Die GefaBe der Himrinde sind im alJgemeinen wenig 
an Zahl vermehrt. Nur in den Schnitten der ersten linken Frontalwindung 
fanden sich an der Oberflache des Schnittes o—6 KapiliargefaBpakete. Der 
groBte Teil der Kapillaren hat ein normales Aussehen; vereinzelt findet 
sich eine Lymphozyteninfiltration, die fast immer auf einen kleinen Bezirk 
beschrankt ist (Infiltratio nodularis). Die GefaBe mittleren Kalibers und 
die groBeren sind meist vollgepfropft von roten Blutkorperchen. Die 
Adventitia und Media sind verdickt, bei einigen GefaBen findet man auch 
Anschwellungen der Intima. Die Membrana elastica der GefaBe ist fast 
immer verdoppelt oder verdreifacht; haufig zeigt sio sich auch fragmentiert, 
in der Art, daB sie rosenkranzfonniges Aussehen bekomint (Taf. I—II Fig. 2). 
Die Zellelemente der Infiltration bestehen aus Lymph- und manchmal aus 
Plasmazellen von variabler GroBe; haufig zeigen sie Merkmale regressiver 

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Prozesse. Seltoner als Plasmazellen finden sich Mastzellen rait ihrer charak- 
teristischen metachromatischen Reaktion. Die sogenannten perivaskularen 
Lymphraume sind immer sehr deutlich. Im Centrum ovale der Hemi- 
spharen und in der weiBen Substanz der KJeinhimhemispharen zeigen die 
BlutgefaBe haufig eine bis zu dem Grad verdickte Wand, daB das GefaB- 
lumen verschwunden ist; in der Umgebung dieser obliterierten GefaBe 
finden sich mehr oder weniger abgerundete Hohlungen, von der GroBe 
eines Stecknadelkopfes oder etwas groBer; die Wande dieser kleinen Hohlen 
sind glatt und bieten sonst nichts Besonderes. Innerhalb der verschiedenen 
Rindenschichten zeigen die GefaBlasionen keine Unterschiede. In der 
Himrinde sind Stabchenzelien von verschiedener Lange haufig anzutreffen; 
im ganzen iiberwiegen die kurzen, indes fehlen auch nicht einige sehr groBe. 
Ohne GesetzmaBigkeit finden sich diese Element© in dem einen Gesichtsfeld 
reichlich, im anderen sparlich. 

DieNervenzellen der Himrinde sind in viel geringerer Zahl als sonst vor- 
handen; in vielen Gesichtsfeldem finden sich mu* 8—10. die haufig dicht- 
gedrangt und von einem zellfreien Gebiet umgeben sind (Kolonien); manch- 
mal finden sie sich in Gruppen von 2—3 sehr dicht aneinander gedrangten 
Zellen. Die Orientierung der Zellen ist nicht immer regelmaBig, einige Zellen 
sind mehr oder weniger schrag gestellt, und ihre Spitzenfortsatze biegen 
seit warts ab, bevor sie perpendikular zur Rindenoberflache ziehen. Eine 
Differenzierung der Zellelemente in den verschiedenen Schnitten ist niemals 
moglich. weil fast immer eine einzige Form dominiert. 

Hier und dort finden sich Zellen mit mehr oder weniger groBem, in 
die Lange gezogenem Kern, der von einem feinen Protoplasmastreifen 
umgeben ist; meistens zieht sich das Zellprotoplasma in einen mehr oder 
weniger spitzen Fortsatz aus. Haufig zeigt der Protoplasmakorper auf 
der dem Kem gegeniiberliegenden Seite eine oder zwei seitliche feine 
und gekriimmte Prominenzen. Haufig sind auch Element©, in denen das 
Zellprotoplasma gleichmaBig den langlichen Kem umgibt, und andere, 
wo es zu einer vollstandigen Umfassung des Kerns nicht kommt. Das 
Protoplasma dieser Zellen zeigt sich nur sehr wenig gefarbt, meist ist es 
gleichformig blaB und enthalt mu* selten einige sehr kleine, undeutliche 
Granulationen in seinem Innem. Auch die Kerne sind gewohnlich wenig 
gefarbt, aber in ihrem Innem erkennt man immer den Nucleolus, der manch- 
mal noch von einem zweiten Nucleolus begleitet ist. Sowohl im Kem wie 
im Protoplasma sieht man manchmal Vakuolen. 

AuBer diesen dominierenden Zellelementen finden sich hier und da 
einige Zellen von pyramidaler Form, deren Protoplasma dieselben Charaktere 
wie die oben beschriebenen Elemente zeigt. Einige wenige von diesen Zellen 
sind nicht gefarbt, und ihre Grenzen heben sich kaum ab, wie auch der 
Nucleolus nur durch die Zeichnung der Konturen deutlich wird (Kalzi- 
fikation); andere, auch diese wenig oder gar nicht gefarbt, haben an der 
Peripherie ein Komehendepot, das mehr oder weniger grob und von dunkler 
Farbe ist, ein Depot, das in einigen Zellen so reichlich ist, daB es das ganze 
Zellprotoplasma einnimmt (Inkrustation). Im Zellprotoplasma wurde nie 
Pigment gefunden. Satellitenkerne der Neuroglia finden sich konstant bei 
den pyramidenformigen Zellen und sind immer in normaler Anzahl vor- 
handen, wahrend sie bei den anderen oben beschriebenen Zellelementen 
haufig fehlen. Die Praparate nach Bielschowsky lassen mitunter nicht ein- 
mal Andeutungen von Neurofibrillen in den Elementen mit langlichem 
Kern erkennen, wahrend in den pyramidenformigen Zellen wenigstens 
Residuen des Fibrillennetzes in der Umgebung des Kerns und an dor Peri¬ 
pherie des Zellkorpers in Gestalt groBer, dicht gestelltor Fragment© zu er¬ 
kennen sind. Sehr selten trifft man Pyramidenzellen, die ein ziemlich deut- 
liches Reticulum haben. Die Praparate nach Pal lassen die auBerordent- 
liche Sparlichkeit sowohl der oberflachlichen wie dor tiefen Tangentialfasem 
erkennen; die supra- und interradiaren Plexus sind gleichfalls faserarmer. 
Die subkortikalen Assoziationsfasern fehlen fast immer. Das Fehlen der 
Nervenfasern ist auf der Kuppe der Windungen ebenso ausgesprochen wie 
in der Tiefe der Furchen. 


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Die Markstrahlen der Windungen sind viel weniger voluminos als in 
der Norm, wie man durch Vergleich mit normalen Praparaten feststellen 
kann . 

Man findet in der Himrinde in beschranktem Grade auch eine Ver- 
mehrung der Gliakeme, die fast alle ziemlich groB sind: die subpiale Rand- 
schicht der Glia ist etwas verbreitert; um die GefaBe herum zieht eine feine 
Schicht von Gliafasem, die mannigfach verflochten sind und vorzugsweise 
aus longitudinal verlaufenden Fibrillen bestehen. Man findet hier und da, 
meist in der Nahe der GefaBe, auch einige sehr groBe Gliazellen (Riesen- 
zellen). 

Kleinhim . Die Praparate lassen eine betrachtliche Verschmalerung der 
Kleinhirnrinde einschlieBlichder Komerschicht und desMarklagerserkennen. 
Die Pia zeigt sich konstant imd starker als die der GroBhirnhemispharen ver- 
andert; sie zeigt eine Hyperplasie mit diffuser Lymphozyteninfiltration. 
Alle PiagefaBe und alle GefaBe der Rinde, der Komer- und der Markschicht 
sind an Zahl vermehrt. Vor allem ist in dem peripheren Teil der Komer¬ 
schicht die Neubildung von Kapillaren bemerkenswert. Die GefaBwande 
sind immer verdickt und zeigen Lymphozyteninfiltration, und zwar fast 
immer von nodularem Character; nur selten findet man eine oder zwei 
Plasmazellen und noch seltener eine ,,Mastzelle“. Das GefaBlumen ist 
voll von roten Blutkorperchen, erscheint aber oft infolge Wucherung der 
Intima verengert. Die Membrana elastica zeigt sich auch hier verdoppelt, 
verdreifacht und rosenkranzformig zersplittert. Die Purkinje schen Zellen 
sind in geringerer Zahl als normal vorhanden; an vielen Stellen fehlen sie 
ganz; an anderen stehen sie mehr oder weniger dicht nebeneinander; manch- 
mal finden sich 2 und auch 3 iibereinander geschichtet, so dafl die tiefste in 
die Mitte der Komerschicht zu liegen kommt. wahrend die oberflachliche 
innerhalb der Molekularschicht liegt (in manchen Fallen bis zu ihrer Mitte). Die 
GroSe der Purkinje schen Zellen variiert innerhalb weiter Grenzen: es finden 
sich sehr kleine, die namentlich da sehr reichlich sind, wo sie nahe aneinander 
liegen, und andere von normaler GroBe. Sehr selten ist das Aussehen der 
Zellen normal, meist zeigen sie einen stark und gleichmaBig gefarbten Kem, 
der sich wenig von dem ebenfalls gleichmaBig gefarbten Protoplasma unter- 
scheidet. Nicht selten sind Zellen mit zwei wohl unterschiedenen Kemen 
(Taf.I—II Fig. 3 a). Einige der groBeren Zellen prasentieren sich inlklassischer 
Form mit deutlichen Tigroidkorpem, der Kem ist deutlich und enthalt 
1 —2 Nukleolen. Der Neurofibrillenapparat der groBeren Zellelemente laBt 
bisweilen gut das perinukleare und periphere Netz erkennen (vergl. Fig. 3 b); 
in den anderen Elementen dagegen zeigt es sich verandert; von dem peri- 
nuklearen und dem peripherischen Netz sind keine Spuren mehr vorhanden 
oder nur wellige Fragment©, die ziemlich derb sind imd nahe beieinander 
liegen, so daB sie an einzelnen Stellen fast verschmolzen erscheinen. 
Die Zellen mit 2 Kemen zeigen eine Andeutung des perinuklearen Netzes, 
namentlich im Bereiche des Gebietes, wo die Kerne miteinander in Beriihrung 
kommen (Fig. 3 a). Die Korbe, in deren Mitte die Purkinje schen 
Zellen gelegen sind, erscheinen selten gut erhalten, und zwar nur die Korbe 
solcher Zellen, die selbst normal sind; die Korbe der anderen Zellen sind 
aus wenigen Faden zusammengesetzt und dick zusammengeballt. auch um- 
geben sie die Zelle niemals vollstandig. 

Die Neuroglia ist vermehrt; sie stellt sich als ein feines dichtes Geflecht 
dar, das aus sehr zarten Fibrillen besteht, zwischen denen viele grobe Kerne 
liegen. Haufig ist das Geflecht in der peripheren Partie der Komerschicht, 
also in der unmittelbaren Nachbarschaft der Purkinje schen Zellen besonders 
dicht; auch findet man hier manchmal Riesenzellen in der Nahe der GefaBe. 

Medulla spinalis. Die Dura mater ist vor allem in der hinteren Halfte 
verdickt, und zwar namentlich in der unteren Dorsal- und in der Lumbal- 
region (Taf. I—II Fig. 4). Auch die Pia mater ist verdickt, und zwar ebenso wie 
die Dura in hoherem Grade in der hinteren Halfte. Die Verdickung erstreckt 
&ich in mehr oder weniger gleichformiger Weise langs der ganzen Spinal- 
achse. In der Hohe der Lumbalregion besteht eine Adharenz zwischen der 
XKira mater und der weichen Ruckenmarkshaut. Die GefaBe, die die Pia 


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begleiten, sind an Zahl vermehrt. ihre Wande sind verdickt; die Membrana 
elastica ist aueh hier verdoppelt, verdreifacht oder rosenkranzformig zer- 
splittert. Es besteht femer eine sparliche Lymphozyteninfiltration in der 
Pia und im Innern der GefaBe, wobei der nodular© Typus pradominiert 
(speziell in den Venen). Die Alteration der Pia ist im Gebiet des Eintritts 
der hinterenWurzelnbesonders deutlich, auch dieLymphozyteninfiltration ist 
hier intensiver. Alle Piafortsatze im Innern der Medulla spinalis und speziell 
den H inter strangen sind verdickt imd zeigen Vermehrung der Clef a Be mit 
Zellinfiltration. Unter den Lymphozyten findet man manchmai eine 
Plasmazelle; manchmai begegnet man auch einer isolierten, nicht von 
Lymphozyten begleiteten Plasmazelle. 

Die Oberflache des Riickenmarkquerschnittes laBt eine totaie Ver- 
kleinerung der Medulla erkennen; die Verkleinerung betrifft jedoch namont- 
lich die Hinterstrange (Taf. I—II Fig. 5, 6). Der Aufbau der grauen Substanz 
entspricht, vor allem in der Medulla cervicaiis, nicht der normalen (Taf.I—II 
Fig. 7). 

In der Lumbal- und in der imteren Dorsalregion sind die GefaBe im 
Innern der Hinterstrange an Zahl vermehrt imd voll von roten Blutkorper- 
chen; die GefaBe sind Constant imd manchmai betrachtlich verdickt. Die 
Verdickung betrifft vor allem die Adventitia und in den kleinen GefaBen 
auch die Intima, deren proliferierte Elemente manchmai das ganze GefaB- 
lumen verse hlie Ben. Die Membrana elastica zeigt die oben beschriebene 
Veranderung. In der Umgebung der GefaBe findet sich die gewohnliche 
Lymphozyteninfiltration. 

Die Nervenzellen der grauen Substanz sind im allgeineinen von etwas 
geringerer Zahl als normal, imd nicht immer kann man die einzelnen Zell- 
gruppen erkennen, wie sie fur die verschiedenen Segment© charakteristisch 
sind. Zwisclien den normalen Elenienten sind einige, die den Charakter 
chronischer Veranderung zeigen (chronische Erkrankung, Nwsl). In den 
Clarkeschen Saulen sind die Zellen auf 1—2 pro Schnitt reduziert, und fast 
immer zeigen sie sich verandert. Es fehlen femer die Reflexkollateralen im 
Lumbal- und Dorsalmark; von dem Netz der Clarkeschen Saulen sind nur 
einige Spuren vorhanden; die Langsfasem des Hintcrhorns sind im Lumbal- 
mark rarefiziert und fehlen im Dorsalteil; betrachtlich an Zahl reduziert 
sind auch die Kollateralen des Hinterhoms. Die Veranderungen der Strange 
der Medulla spinalis sind folgende: 1. Im Sakralmark: das ventrale Feld ist 
gut erhalten; die Zona cornuradicularis ist degeneriert, ebenso die mediale 
Wurzelzone; degeneriert ist ferner die mittlere Wurzelzone. Sehr deutlich 
ist auch die Rarefikation der inneren hinteren Wurzelzone, imd zwar nament- 
lich auf der linken Seite, so wie der hinteren auBeren Wurzelzone oder 
Li8muerochen Zone. Die hinteren Wurzelfasem sind an Zahl betrachtlich 
reduziert. Endlich zeigt das Feld der Pyramidenseitenstrangsbahn eine 
Rarefikation. 

2. ImLumbalmark (Taf.I—II Fig. 5) ist eine leichteperiphereRarefikatio 
nachweisbar, und zwar deutlicher in der rechten Halfte; auBerdem sind die 
oben beschriebenen Alterationen des Sakralmarks vorhanden; die Zona 
cornuradicularis ist jedoch weniger schwer betroffen; andererseits zeigt hier 
auch das ventrale Feld Zeichen von Rarefikation der Fasem. Die Rare¬ 
fikation des gekreuzten Pyramidenbiindels erstreckt sich bis zur Peripherie 
des hinteren Seitenstrangareals und ist rechts ausgesprochener. Die 
hinteren Wurzelfasem sind in kleinerer Zahl als normal vorhanden. 

3.1mDorsalmark (Taf.I—II Fig.6). inderHohedes 3.Dorsalsegments, ist 
vorzugsweise die Zona cornucommissuralis rarefiziert, und zwar namentlich 
derjenige Teil, der an das Hinterhom grenzt. Die mittlere Wurzelzone ist 
nur zu einem kleinen Teil rarefiziert. Das ovale Biindel von Flechsig ist 
fast ganz degeneriert. Das gekreuzte Pyramidenbundel ist rechts leicht 
rarefiziert. Es fehlen die hinteren Wurzelfasem einschlieBlich der Achsen- 
zylinder. 

4. ImCervikalmark (mittlerer Teil der Cervikalanschwellung, Taf. I—II 
Fig.7): Rarefikation desGollschen Stranges, intensiver im mittleren Medial teil; 
Rarefikation des medialen Tails des Ventralfeldes, von dem aus ein schmaler 


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Degenerationsstreifen zwischen dem Gollschen und dem Burdachschen 
Strang nach hinten verlauft; auch setzt sich diese Rarefikation nach hinten 
langs dem Septum paramedianum postering fort. Femer ist ein Teil der 
raittleren Wurzelzone mit saint der angrenzenden Westphalschen Zone 
degeneriert. Rarefiziert ist auch die I/issauersche Zone. Die Rarefikation 
des gekreuzten Pyramidenbiindels kontrastiert scharf mit der Intaktheit 
des Flechsigschen Biindels. Von den hinteren Wurzelfasom sind einige 
erhalten, die medial zum Hinterhom ziehen, ebenso einige groberen Kalibers. 
die geradeaus ziehen. 

5. In der Hohe des Anfangs der Pyramidenbreuzunq (Taf. I—II Fig. 8): 
Rarefikation des GoWschen Stranges, vorzugsweise in seinem hinteren Teil; 
linearer Degenerationsstreifen. der vom Grund des Sulcus medianus post, 
sich langs der medialen Grenze des Burdachschen Stranges erstreckt und 
schlieBlich im vorderen Teil der hinteren Wurzelzone verlauft; leichte Rare¬ 
fikation der mittleren Wurzelzone; die spinalo Trigeminuswurzel ist gleich- 
formig rarefiziert. links mehr als rechts. Die Rarefikation der Pyramidon- 
bahnen existiert noch, hat aber stark abgenommen. In den proximaleren 
Ebenen der Pyramidenkreuzung bemerkt man eine Rarefikation des inneren 
Marknetzes des GoWschen Kerns sowio eine Rarefikation im medialen 
Teil des Markmantels des Burdachschen Kerns, welche proximalwarts ab- 
nimmt und einer nach hinten konvexen Bogenlinie entspricht. Die Rare¬ 
fikation der aufsteigenden W'urzel des Trigeminus reicht bis zum Niveau 
des motorischen Kerns dieses Norven, jedoch nimmt sie proximalwarts 
stetig ab und ist auf der rechten Seite deutlicher als links. Man bemerkt 
stets auch eine ausgesprochene Rarefizierung der Fasem des Solitarbiindels, 
die von gleicher Intensitat auf beiden Seiten ist. Die Rarefizierung der 
Pyramidenbahnen nirnint im proximalen Teil der Oblongata rapid ab; 
am Anfang der Briicke sind keine Spuren derselben mehr vorhanden. 

In den Praparaten, welche speziell zur Darstellung der Achsenzyiinder 
angefertigt wurden, bemerkt man, daB in den Hinterstrangen die Aohsen- 
zylinder im Degenerationsgebiet nicht immer verschwunden sind; auch da, 
wo die Neurogliabvindel kompakter sind, findet man Achsenzyiinder von dem 
verschiedensten Kaliber. In der Region des Eintritts der hinteren Wurzel- 
fasem des Sakral- und Lumbalmarks finden sich sparliche und zuweilen 
auf nur 4—5 reduzierte Achsenzyiinder, vor allem auf der linken Seite. 
Spuren von Regeneration der Nervenfasem habe ich niemals gefimden. 

Die Glia ist in der Medulla spinalis und besonders in dem Ge- 
biet der Hinterstrange des Lumbosakralmarks bedeutend vermehrt. Auch 
im Areal der Pyramidenseitenstrangsbahn zeigt sie im Lumbosakralmark 
eine Vermehrung. In der grauen Substanz der ganzen Spinalachse ist sie 
nur eben angedeutet. Die Neuroglia besteht aus feinen Fasem, welche in 
der Richtung der Nervenfasem angeordnet sind. Auf Langsschnitten ist 
ein wellenformiger Verlauf zu erkennen. Im Bereich des Ventralfelds der 
Hinterstrange zeigt die Neuroglia im Lumbalmark haufig eine wirbelformige 
Anordnung (Taf. Ill Fig. 9). In der grauenSubstanz haben die Fasem oft auch 
eine schrage oder transversale Richtung, wodurch ein mehr oder weniger 
dichtes Geflecht zustande kommt. 

In den Longitudinalschnitten der Medulla spinalis sieht man, daB 
einige vordere Wurzelfasem von einer feinen Schicht Neurogliafibrillen be- 
gleitet sind, die sich bis zum Vorderhom verfolgen lassen. Diese Neuroglia- 
fasern nehmen rasch an Zahl in dem MaBe ab, wie sich die Nervenfasem 
der Oberflache der Medulla nahem (Taf. Ill Fig. 10, wo die Neurogliafasern 
durch dunklere Ziige dargestellt sind). 

Die Untersuchung der peripherischen Nerven (Cruralis, Ischiadious, 
Medianus) imd der Muskeln hatte ein negatives Ergebnis. 

In den Praparaten des zentralenNervensy stems (GroBhimhemispharen, 
JCIeinhim, Medulla spinalis) finden sich fast konstant mehr oder weniger 
grofie Flecken, die mehr oder weniger regelmafiig begrenzt sind, besonders 
in der weifien Substanz, welche sich fids stark lichtbreohend erweisen. 
gie zeigen die charakteristische Reaktion der amyloiden Substanz. 


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Giannelli, Beitrag zum Studium 


In den Markstrahlen der GroBhirnrinde sind dies© klein und nicht 
sehr haufig; in den Markstrahlen der Kleinhimrinde sind sie etwas haufiger 
und an GroBe sehr verschieden. In den Strangen der Medulla spinalis sind 
sie am haufigsten, und es finden sich dort auch einige von grofierem Durch- 
messer; gewohnlich sind sie in der Peripherie des Querschnittes zahlreicher 
(Taf. I—II Fig. 4; die Schollen der Amyloidsubstanz sind schwarz gefarbt). 

Nach dem /CocAschen Bazillus wurde vergeblich gesucht. 

Epikrise. 

Es handelt sich um eine Kranke, deren Krankengeschichte 
ergibt: 

a) Von seiten der Anamnese: Mutter syphilitisch; syphilitische 
Hauteruptionen bei der Geburt, Bewegungsstorungen seit der 
ersten Kindheit; Verzogerung der korperhchen und geistigen Ent- 
wicklung. 

b) Die objektive Untersuchung ergab im Alter von 22 Jahren: 
Verzogerung in der korperlichen und geistigen Entwicklung, 
GroBe 1,30 m, die sekundaren Geschlechtscharaktere wenig ent- 
wickelt, Zahnanomalien (Hutchinsonsche Zahne), Schwerhorigkeit, 
Residuen der Pupillar-Membran, Residuen von Iritis und Chorio¬ 
retinitis; Deformitat der Wirbelsaule; Varo-equinus-Stellung der 
FiiBe mit charakteristischer Halluxstellung; unwillkiirliche Muskel- 
bewegungen von choreiformem Typus; statische und lokomotorische 
Ataxie; Nystagmus; Beriihrungs-, Temper atur- und Schmerz- 
empfindlichkeit normal; Fehlen des Patellar- undAchillesreflexes; 
sehr lebhafte Abdominal-undPlantarreflexe; Pupillenleichtungleich 
und auf Licht und Akkommodation trage (Reste von Iritis); schwerer 
Intelligenzdefekt. Dieser Status blieb einige Zeit unverandert, 
bis eine deutliche Resistenz in den passiven Bewegungen, besonders 
der unteren Extremitaten bemerkt wurde; Reaktion auf Schmerz- 
und thermische Reize nur, wenn sie sehr intensiv sind; Babinskisches 
und Oppenheimsches Zeichen; Dekubitus iiber Os sacrum und iiber 
den Trochanteren; allgemeine Unterernahrung; Pulsfrequenz 100 bis 
120; Tod im Marasmus an Herzlahmung. 

Bei der Kranken konnte die hereditare Syphilis nicht zweifel- 
haft sein; die Zahnanomalien, die Residuen der Chorioretinitis und 
Iritis, die Schwerhorigkeit ( Hutchinsonsche Trias) lieferten den 
ausreichenden Beweis. Dazu kam noch die anamnestische Angabe, 
daB die Kranke bei der Geburt eine Hauteruption syphilitischen 
Charakters gehabt hat. 

Der Infantilismus muBte zu der hereditaren Lues in Beziehung 
gesetzt werden: Hutchinson und Jackson berichten den Fall eines 
Mannes, der mit hereditarer Lues behaftet war und im Alter von 
18 Jahren nur 14 Jahre alt schien. Sie teilen mit, daB der Kranke 
mit 18 Jahren den Eindruck eines Knaben von 12—14 Jahren 
machte. Das Alter einer Kranken von Buncan Bulkley, die 23 Jahre 
alt und noch nicht menstruiert war, konnte man auf hochstens 
13 Jahre schatzen, genau so wie bei der von mir untersuchten 
Kranken. 


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— or Bta mm 



der hereditaren Lues (Friedreichsches Syndrom). 


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Die GroBe von 1,30 m ist unter. normal: auch dieses Faktum 
ist bei der hereditaren Lues festgestellt worden. Fournier berichtet 
iiber einige derartige Beobachtungen; z. B. war eine Patientin 
von 18 Jahren 1,33 m groB, eine andere von 19 Jahren war 1,36 m, 
und ein junges Madchen von 17 Jahren war 1,35 m groB. 

Auf die hereditare Lues muB man auch den schweren Intelligenz- 
defekt meiner Kranken beziehen; heute ist bekannt, daB die here¬ 
ditare Lues Entwicklungshemmungen und wahre Idiotie etc. 
(Fournier ) hervorruft. 

Der Symptomenkomplex, der alsdann bei der objektiven 
Untersuehung erhoben wurde, gehort zu dem Krankheitsbild der 
Friedreichschen Krankheit. Wir konnten die Diagnose einer infanto- 
juvenilen Tabes oder einer multiplen Sklerose nicht in Betracht 
ziehen. Der Mangel des Patellarreflexes lieB diese letzte Krankheits- 
form sofort ausschlieBen. Was die juvenile Tabes betrifft, so wird 
ofters behauptet, daB sie besondere kliflische Merkmale aufweist; 
Atrophie der Sehnerven ( Mendel) und Incontinentia urinae 
(Dydynski und Kalischer) sollen besonders friih auftreten, die 
Ataxie dagegen lange Zeit ausbleiben; auch Tragheit und Lahmung 
der Akkommodation soil man haufig finden ( Strumpell , Bloch , 
Idelsohn ); der Verlauf der Krankheit soli leichter sein (Idelsohn). 

Ich muB hervorheben, daB derartige Behauptungen zum 
mindestens verfriiht sind, da die Zahl der Beobachtungen der reinen 
infantil-juvenilen Tabes zu beschrankt ist, weil der groBere Teil 
der veroffentlichten Falle der infantil-juvenilen Tabes der 
Friedreichschen Krankheit zugehort und eine weitere groBe Zahl 
dem Symptomenkomplex der luetischen Meningitis entspricht. 
Immerhin gestattete bei meiner Kranken die Tatsache, daB keine 
Atrophie der Optici bestand, daB Incontinentia urinae fehlte, die 
Ataxie sich in der ersten Kindheit manifestierte und typisch cere¬ 
bellar war, daB ferner die Sensibilitat zur Zeit der ersten Unter- 
suchung vollstandig normal war, eine Tabes auszuschlieBen. Dem 
Pupillenbefund konnte in Anbetracht der beiderseitigen Synechien 
(Reste von Iritis) keine Bedeutung beigemessen werden. 

Auch die olivo-ponto-cerebellare Atrophie von Dejerine und 
Thomas muBte ausgeschlossen werden, weil sie erst im vorge- 
schrittenen Alter eintritt und weil bei dieser Form die Sehnen- 
reflexe gesteigert sind, auch fehlt das Rombergsche Symptom, und die 
Gleichgewichtsstorung beschrankt sich fast ganz auf Bewegungen 
des Korpers in seiner Gesamtheit, wahrend die isolierten Be¬ 
wegungen der einzelnen Glieder fast ganz intakt bleiben. Das 
Fehlen meningitischer Symptome in der Anamnese und von 
Schmerzen auf Druck und bei Bewegungen der Wirbelsaule und 
von spastischen Paresen und das Ausbleiben aller Oszillationen der 
Symptome liefien einen meningitischen chronischen spezifischen 
ProzeB ausschlieBen. 

Da die hereditare Lues gegeben war, konnte man an die 
Mogliehkeit denken, daB der Krankheitskomplex einfach durch die 
hereditare Syphilis verursacht war; doch war keins der von Oppen - 


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42 Giannelli, Beitrag zum Studiiun 

heim fur die Differentialdiagnose angegebenen Kriterien vorhanden 
— der akute Beginn oder der Anstieg mit sukzessiven Schiiben; 
deutliche Remissionen; Beteiligung der Optici oder der Augen- 
muskelnerven; spastische Phanomene; apoplektiforme und epilepti- 
forme x4nfalle —. Der Diagnose der Friedreichschen Krankheit, 
deren Krankheitsbild vollstandig vorhanden war, widersprach 
endlich auch nicht das Faktum, daB die Krankheit bei meiner 
Patientin nach der Anamnese in der friihesten Jugend begonnen hat. 
Obgleich man im allgemeinen annimmt, daB der Anfang der 
Friedreichschen Krankheit zwischen dem 7.—14.Jahre liegt, weiB 
man doch, daB sie auch in der ersten Kindheit beginnen kann. 
Massalongoy Vizioli, Hammond haben Falle mitgeteilt, in denen 
der Anfang im ersten Lebensjahre liegt; neuerdings hat Crispolti 
einen Fall beschrieben, bei dem die Krankheit im 14. extra- 
uterinen Lebensmonat einsetzte, und Baumel zitiert einen Fall, 
bei dem der Anfang im 6. Monat lag. Dieser Diagnose widerspricht 
auch nicht das Vorhandensein der unwillkiirlichen Bewegungen des 
Kopfes und der Gesichtsmuskeln und der oben beschriebenen Be¬ 
wegungen in den oberen und unteren GliedmaBen. Aus den Be- 
obachtungen von Soca geht hervor, daB unwillkiirliche Bewegungen 
in ungefahr einem Drittel der Falle von Friedreichscher Krankheit 
vorhanden und sehr verschiedenartig sind: entweder sind es Kopf- 
und Rumpfbewegungen in antero-posteriorer oder in transversaler 
Richtung, meistens intermittierend, selten kontinuierlich wie in 
einem Fall von Riitimeyer . Dazu kommen oft kleine StoBe in den 
Backen, den Nasenfliigeln, den Augenlidern, den Superzilien, die 
manchmal geradezu als ,,Grimassen“ bezeichnet werden konnen. 
Soca hat vorgeschlagen, diese motorischen Symptome ,,Nystagmus 
de la face“ zu nennen. In den Gliedern konnen analoge Be¬ 
wegungen beobachtet werden (,,instability chor^iforme 44 von 
Charcot ). Bei den Kranken von Charcot und Gilles de la Tourette , 
Blocq und Huet wurden Bewegungen an den Handen und Armen, an 
den Unterschenkeln und Zehen beobachtet, welche athetotischen 
Bewegungen ahnelten; bei dem Kranken von Erlenmeyer bestanden 
choreiforme Bewegungen in den oberen GliedmaBen und bei dem 
von Pitt auch in den unteren GliedmaBen. Auch in dem Fall XVII 
von Soca waren sie vorhanden, werden aber zu ungenau be¬ 
schrieben, als daB man entscheiden konnte, ob es sich um chorei¬ 
forme oder athetotische Bewegungen handelt. — Chauffard , Stein , 
Schonborn (3. und 4. Fall) und Wickel sprechen deutlich von 
athetotischen Bewegungen. Bei der von Mingazzini und Perusini 
untersuchten Kranken waren schnelle Flexionsbewegungen der 
Unterschenkel, besonders des rechten vorhanden, obwohl die 
Kranke seit vielen Jahren sich in der paralytischen Periode befand* 
sie entsprachen genau den Abwehrbewegungen, die man bei 
Applikation starkerer Reize auf die FuBsohle in den drei Segmenten 
des Beins beobachtet. 

Allerdings waren bei meiner Kranken auBer den unwill- 
kiirlichen Bewegungen des Kopfes, den Grimassen der Gesichts- 


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der hereditaren Lues (Friedreichsches Syndrom). 


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muskeln und den choreiformen Bewegungen in den Extremitaten 
noch andere Bewegungen vorhanden, die an die Chorea electrica 
erinnerten; dieses eine Faktum allein aber konnte nicht geniigen, 
die Diagnose auf Friedreichsche Krankheit in Frage zu stellen. 
Auch das Vorhandensein eines schweren Inteliigenzdefekts wider- 
sprach dieser Diagnose nicht, weil, wenn auch die Intelligenz bei der 
Friedre tcAschen Krankheit meist unversehrt ist, doch auch Falle 
bekannt sind, in denen Komplikation mit Imbezillitat vorlag 
(Nolan, Pick , Wickel , Peitsche ). Ebenso konnte dem Fehlen des 
famrlialen Charakters keine wesentliche Bedeutung beigemessen 
werden. Demoulin zitiert 22 Beobachtungen, in denen das familiale 
Auftreten vermiBt wurde, und Sora berichtet tiber 11. Auch der 
Fall von Crispolti gehort hierher. 

Der pathologisch-anatomische Befund meines Falles entspricht 
nun allerdings nicht dem, der der Friedreichschen Krankheit 
eigentiimlich ist. Bei dieser Krankheitsform haben die neuesten 
Autopsien eine leichte Verdickung der weichen Riickenmarkshaut 
im hinteren Gebiet der Medulla spinalis ergeben: die GefaBe sind 
normal, und nur manchmal hat man eine leichte Verdickung ihrer 
Wande angetroffen. In meinem Fall dagegen handelt es sich 
wesentlich um eine chronische Meningitis, deren luetischer Charakter 
aus den GefaBalterationen erhellt (Arteriitis und Phlebitis mit 
nodularer Infiltration), um eine Verdickung der Dura die im 
hinteren Umfang der Medulla pradominiert, und um eine diffuse 
Leptomeningitis mit konsekutiven Alterationen der nervosen 
Elemente. 

Man weiB, daB die syphilitischen Erkrankungen des Zentral- 
nervensystems sich dem Sitz und der Entwicklung nach in sehr ver- 
schiedener Form prasentieren konnen, so daB man versucht ware, 
sie etwa wie Gombault und Riche zu klassifizieren. Aber die mikro- 
skopische Untersuchung weist das konstante Vorhandensein einiger 
bestimmter Veranderungen nach, die die Verwandtschaft aller 
dieser Einzelformen beweisen. Die charakteristische Lasion be- 
trifft im wesentlichen die BlutgefaBe, deren Wande anfangs mit 
Zellelementen infiltriert sind, wahrend in den spateren Stadien 
an Stelle der Infiltration eine sklerotische Verdickung tritt. Die 
weiche Riickenmarkshaut ist der Hauptsitz der luetischen Lasionen, 
und zwar ist sie bald isoliert erkrankt, bald besteht auch eine Er- 
krankung des Nervengewebes. Obgleich die Alteration sich auf 
einigePunkte konzentriert (Gehirnbasis, Vorderflache der Oblongata 
und des Pons, Peripherie der Hinterstrange), so hat sie doch die 
Tendenz, sich auszubreiten, und die mikroskopische Untersuchung 
zeigt haufig, daB diese scheinbar isolierten Herde Teilerscheinungen 
eines diffusen meningitischen Prozesses sind. Die gewohnhche 
Meningitis spinalis ist intensiver in der Dorsalregion. Die syphili- 
tische Meningitis ist durch Lasionen der BlutgefaBwande charak- 
terisiert; die Alteration der venosen GefaBe kann der der Arterien 
vorangehen. Die Lymphozyteninfiltration kann sich gleichmaBig 
auf die ganze Peripherie der befallenen Venen erstrecken oder auf 


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Giannelli, Beitrag zum Studium 


einen Teil beschrankt sein (nodulare Infiltration). In den Venen 
handelt es sich um eine Peri- oder Mesophlebitis, bald mit bald ohne 
Endophlebitis; zuweilen transformiert sich auch das Stratum 
subepitheliale der Intima in ein dichtes Stratum fibrosum (Fibro- 
sklerose von Rieder). Greiff hat eine Phlebitis obliterans infolge 
Verdickung der GefaBwande beschrieben. Die Lasionen der 
Arterien sollen bei der syphilitischen Meningitis weniger haufig sein 
(Gombault und Riche). Seit der klassischen Arbeit von Heubner 
iiber die Arterienveranderungen bei der Syphilis hat sich eine 
groBe Zahl von Beobachtern mit diesem Gegenstand beschaftigt, 
und man hat sich auf die Meinung von Cor nil, Ranvier , Roster , 
Friedlander , Baumgarten geeinigt, wonach die Hyperplasie der 
Intima ein sekundarer ProzeB ist, wahrend der primare ProzeB 
seinen Ausgangspunkt in den ,,Vasa vasorum“ hat. 

Einige Pathologen haben die GefaBlasionen von der Meningeal- 
erkrankung trennen wollen; andere dagegen, wie mir scheint, mit 
mehr Recht, behaupten, dafl eine solche Trennung nicht moglich 
ist. Alle erkennen aber an, daB der Meningitis eine groBe Be- 
deutung fiir die Ausbreitung der Lasionen im Zentralnerven- 
system zukommt. 

Diese Meningitis unterscheidet sich von der tuberkulosen durch 
ihre geringere Intensitat, durch das Fehlen der Verkasungen und 
der Kochschen Bazillen. Wenn die Meningitis in Heilung xibergeht, 
verschwindet die ZeUinfiltration, oder es bleiben nur kleine Spuren 
von ihr zuriick, und die Bindegewebszxige werden dichter (narbiges 
Aussehen). Mitunter bleibt jedoch der ProzeB auch viele Jahre aktiv; 
auch kann es vorkommen, daB die Lasion an einer Stelle schon ver- 
narbt ist, wahrend sie an einer anderen noch im frischen Stadium 
sich befindet. 

Die charakteristischen Zeichen dieser Meningitis finden sich 
in meinem Fall sowohl in der spinalen wie in der cerebralen und 
cerebellaren Leptomeninx, nur daB in der Medulla spinalis der 
meningitische ProzeB intensiver ist. Jedenfalls findet man in alien 
Abschnitten des Zentralnervensystems eine Verdickung der Lepto¬ 
meninx mit spar lichen Lymphozyteninfiltrationen; die GefaBezeigen 
dabei nodulare Infiltration, und zwar namentlich die Venen. Man 
muB also in meinem Fall die Existenz eines syphilitischen, im 
ganzen Zentralnervensystem diffus ausgebreiteten meningitischen 
Prozesses anerkennen. 

Alle diese Alterationen bekommen in meinem Falle eine be- 
sondere Bedeutung, weil sie die Manifestationen einer hereditaren 
und nicht einer erworbenen Syphilis sind. Sieht man von den para - 
syphilitischen Degenerationen auf der Basis der hereditaren Lues 
ab, so kann man unsere aktuellenKenntnisse derhereditar-luetischen 
Lasionen mit Nonne folgendermaBen zusammenfassen: „Alle Ver- 
anderungen an den GefaBen, den Meningen und der nervosen 
Substanz selbst, die wir beim Erwachsenen als die Folge akquirierter 
Syphilis beobachten, kommen auch bei der hereditaren Syphilis 
vor. Noch haufiger als bei akquirierter Lues sind multiple Ab- 


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rinrniTi T_ . 



der hereditaren Lues (Friedreichsches Syndrom). 


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schnitte des Nervensystems befallen und noch haufiger die ver- 
schiedenen Formen der Hirnsyphilis, also Meningitis, Gummi- 
bildungen, Arteriitis untereinander kombiniert“. AuBer der Diffusion 
und der Multiplizitat der Lasionen des Nervensystems ist die 
Haufigkeit der Koexistenz syphilitischer Lasionen in anderen 
Organen bekanntlich fur die Heredo-Lues charakteristisch. In 
meinem Fall laBt die Anamnese keinen Zweifel iiber die luetische 
Infektion der Mutter, wahrend in dem Fall von Bottiger eine schwere 
heredo-luetische Lasion des Nervensystems vorliegt, ohne daB die 
Anamnese bezugliche Angaben enthalt. In meinem Fall bleibt die 
spezifische Lasion auch nicht auf die Medulla spinalis beschrankt, 
sondern erstreckt sich auch auf das Kleinhirn und auf die GroBhirn- 
hemispharen. Es stimmt dies iiberein mit dem, was schon von 
Siemerling nachgewiesen ist, daB man bei der Herodo-Lues niemals 
eine isolierte spinale Syphilis beobachtet. Gilles de la Tourette und 
Durante haben allerdings einen Fall publiziert, bei dem mit groBer 
Wahrscheinlichkeit die hereditare Syphilis nur eine spinale Lasion 
mit entsprechenden Symptomen verursacht hatte; indes, wenn 
auch keine cerebralen Symptome klinisch vorhanden waren, hat 
doch auch in diesem Falle die mikroskopische Untersuchung eine 
Arteriitis auch in den cerebralen GefaBen ergeben. Die syphilitische 
Lasion der Heredo-Lues kann auch die Dura mater spinalis er- 
greifen wie in meinem Fall, wo die Verdickung einen ausgesprochen 
sklerosierendenCharakter tragt (Pachymeningitis sclerosa); dagegen 
bin ich niemals der Pachymeningitis sclerosa gummosa von Juergens 
begegnet. Wahrend gewohnlich die Pachymeningitis in der 
Cervxkal- und in der oberen Dorsalregion pradominiert ( Juergens , 
Gasne) und von meningitischen Lasionen der Hirnbasis begleitet 
ist (weshalb Juergens behauptet, daB in seinem Fall von Heredo- 
Lues die Lasion eine absteigende sein miiBte), so findet sich in 
meinem Fall dagegen ein Pradominieren der Pachymeningitis in 
dem unteren Teil des Riickenmarks: datei halt sie die besondere 
Eigentiimlichkeit der erworbenen Syphilis fest, intensiver in dem 
hinteren Abschnitt aufzutreten; iiberdies ist die Dura manch- 
mal mit den unterliegenden weichen Hirnhauten verwachsen, 
so an den Fall von Lamy erinnernd (,,Symphysis trimenifigea“). 

In meinem Fall erscheinen die cerebralen GefaBe an Zahl ver- 
mehrt; aber nur in den Praparaten aus der ersten linken Stirn- 
windung habe ich einigeKapillargeiaBe einander genahert gefunden, 
wie das von Alzheimer beschrieben ist, und worauf neuerdings Cerletti 
bei seinen Malariaforschungen und Bonfiglio bei den Hirnrindenver- 
anderungen infolge experimenteller Bleivergiftung die Aufmerk- 
samkeit wieder gelenkt haben. In der meist nodularen GefaBinfil- 
tration sind Plasmazellen selten, und noch seltener Mastzellen, was 
einen Unterschied gegen den Ranke schen Befund bei hereditar- 
luetischen Neugeborenen bedeutet. Dieser Beobachter beschreibt 
die GefaBinfiltrationen als aus zahlreichen Plasmazellen tmd hier 
und da aus Mastzellen bestehend; und zwar sollen diese Elemente 
nicht auf die Umgebung der GefaBe beschrankt, sondern auch im 


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Giannelli , Beitrag zum Studiiun 


Timgebenden Gewebe diffus zerstreut sein. Nach Ranke sind die 
Plasma- und Mastzellen in dem embryonalen Gehirn kein patho- 
logisches Element; er hat diese Elemente zahlreich auch in den 
GrefaBen und dem Hirnhautgewebe eines Kalbsembryos von 6Wochen 
gefunden und behauptet, daB die Differenz zwischen dem Zentral- 
nervensystem des ausgewachsenen und dem des jungen Tieres darin 
besteht, daB die Infiltrationszellen die Tendenz haben, sich in das 
umgebende Gewebe jenseits der GefaBlymphscheiden auszubreiten; 
er hat dies nicht nur bei Lues congenita, sondern auch, und zwar 
noch deutlicher, in einigen Fallen von fotaler (nicht-eitriger) En¬ 
cephalitis konstatiert. Dieses Faktum ist nach Ranke in der histo- 
logischen Differenz zwischen dem fotalen und dem entwickelten 
Gehirn begriindet; in letzterem bildet die Gliaschicht in der Um- 
gebung der GefaBe ein Hindernis, das von den hamatogenen 
Elementen nicht passiertwerden kann;das Gehirn des Neugeborenen 
wiirde zwischen den beiden obengenannten eine Mittelstellung 
einnehmen. 

Ueber die Veranderungen der Elastica der GefaBe sind die 
Meinungen geteilt: wahrend Heubner , Baumgarten und Obermeier 
die Membrana elastica secunda als ein Produkt der hyper- 
plastischen Intima ansahen, meinen Cornil, Rumpf und Pick , daB 
sie durch Verdoppelung der ursprfinglichen Elastica entsteht. 
Meine Praparate zeigen, daB noch mehr Lamellen der Membrana 
elastica auftreten konnen, wie es schon von Siemerling in einem Fall 
von cerebraler Syphilis konstatiert worden ist. In meinen Prapa- 
raten sieht man, daB die Lamellen sehr fein sind, feiner, als die 
Membrana elastica der Cerebral- und SpinalgefaBe des betreffenden 
Kalibers bei einem normalen Erwachsenen zu sein pflegt, so daB 
ich glaube, daB es sich in meinem Fall um doppelte oder dreifache 
Spaltung der Elastica primitiva handelt. Ueberdies sind in meinem 
Fall die Lamellen haufig nicht kontinuierlich, sondern unter- 
brochen, so daB sie rosenkranzartige Formen zeigen. 

In der Hirnrinde fand sich in meinem Fall haufig eine Vereini- 
gung der Nervenzellen zu Gruppen von 4—6—8, in der Weise, daB 
sie ,,Kolonien“ bildeten, wie sie auch von Ranke in der Hirnrinde 
und vdh Biach im Hypoglossuskern in einem Fall von Mongolismus 
und von Sibelius in den Spinalganglien eines hereditar-luetischen 
Neugeborenen gefunden worden sind. Viele Zellen der Hirnrinde 
zeigen Zeichen eines Zuriickbleibens der Entwicklung auf einer 
mehr oder weniger vorgeschrittenen Embryonalstufe, und auch 
Rondoni hat neuerdings dieselben Erscheinungen vonEntwicklungs- 
hemmung der Nervenzellen in 2 Fallen von hereditarer Lues be- 
obachtet. Bemerkenswert und gleichfalls bezeichnend fur Ent- 
wdcklunsganomalien ist auch das haufige Fehlen von Purkinje- 
schen Zellen, wahrend andere sehr eng aneinandergeschoben sind, 
und die abnorme Lage mancher Purkinje schen Zellen, die sich 
fiber- statt nebeneinander finden, die eine also z. B. innerhalb der 
Kornerschicht, die andere etwa in der Mitte der Molekularschicht. 
Einige Purkinjesche Zellen zeigen auch die Eigentfimlichkeit, 2 wohl 


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der hereditaren Luos (Friedreichsches Syndrom). 


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unterschiedene Kerne zu besitzen. Im normalen Nervensystem 
sind solche polynuklearen Nervenzellen selten. S. Mayer wollte 
sie relativ haufig im Sympathikusgebiet gefunden haben und 
Pick ausnahmsweise in der Medulla spinalis; Rondoni hat 2 Kerne 
in den Purkinje schen Zellen in einem Fall von Heredo-Lues und in 
den Pyramidenzellen gesehen; Ober steiner hat sie in den Spinal- 
ganglien gefunden. — Rondoni berichtet iiberdies, daB Sano in 
der Medulla spinalis von Amputierten und in einem Spinalganglion 
eines Falles von Myelitis blennorrhagica Nervenzellen mit 2 Kernen 
gefunden hat, und erinnert auch daran, daB einige Beobachter 
(Babes, Mondino , Ziegler , Coen , Sanarellli , Marinesco , Levi , Fried¬ 
mann , Tedeschi) Teilungsprozesse in den Nervenzellen unter ver- 
schiedenen Bedingungen gefunden haben (Verwundung, Ver- 
brennung, Fremdkorper, Hundswut etc.). AuBer von Rondoni 
sind neuerdings zweikernige Nervenzellen auch von anderen Beob- 
achtern gefunden worden: Trapet beschreibt z. B. eine Purkinje - 
sche Zelle, die dicht unter der Pia lag, ferner eine andere mit 
2 Kernen und endlich zwei miteinander zusammenhangende Zellen 
(Syncytium); Da Fano erwahnt eine Zelle aus dem Seitenkern des 
Thalamus mit 2 Kernen in einem Fall von Dementia paralytica; 
Biach beschreibt Zellen aus der Rinde des Cyrus central, ant. 
mit 2 Kernen und eine solche aus der Rinde des Lobulus 
parietalis; Strdussler findet Purkinjesche Zellen mit 2 Kernen bei 
der juvenilen progressiven Paralyse. Allen diesen plurinuklearen 
Zellen ist der Stillstand der Entwicklung eigentiimlich, mag man 
sie nun als Reprasentanten einer embryonalen und normaler- 
weise voriibergehenden Entwicklungsphase betrachten, in der die 
Trennung des Kerns vom Zytoplasma noch nicht vor sich gegangen 
ist, oder mag man einen pluricellularen Ursprung der Ganglien- 
zellen annehmen, wie er von Capobianco, Fragnito, la Pegna a. A. 
behauptet wird. Im ersten Fall wiirde es sich um eine unvoll- 
kommene Teilung, im zweiten um eine unvollstandige Ver- 
schmelzung der Neuroblasten handeln. 

Die Praparate nach Bielschowsky zeigen deutlich das Fehlen 
von Neurofibrillen in vielen Zellen der GroB- und Kleinhirn- 
rinde. In den Elementen mit doppeltem Kern ergibt ferner die 
Bielschowskysche Methode das Vorhandensein eines feinen, eben an- 
gedeuteten perinuklearen Fibrillennetzes, und zwar nur in der 
Region zwischen den beiden Kernen; es fehlt ganz in der iibrigen 
Partie des Kerns; ebenso fehlt auch das periphere Netz ganz. 

Auch im Riickenmark sind Zeichen vorhanden, daB die nor- 
male Architektur nicht zur Entwicklung gelangt ist: die Horner 
oder besser gesagt speziell die grauen Vordersaulen zeigen nicht 
die gewohnliche Form, wie sich aus der Betrachtung der Figuren 
ergibt, und die Zellen der Vorderhorner gestatten keine Unter- 
scheidung distinkter Gruppen. Die betrachtliche Kleinheit der 
Medulla spinalis, die sich in meinem Fall fand, diirfte zum Still- 
stand in der Entwicklung weniger in Beziehung stehen, da zu ihrer 
Entstehung auch der chronisch syphilitische ProzeB beigetragen 


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G i a n n e 11 i , Beitrag zum Studium 


haben konnte, wie das aus den Untersuchungen von Lang und Wiki 
hervorgeht, auch unabhangig von sekundaren sklerotischen Vor- 
gangen. Ein solches Verhalten ist ferner sowohl bei der Friedreich - 
schen Krankheit wie bei der hereditaren Lues angetroffen worden; 
und wie in der Regel bei diesen beiden KrankheitsprozeBen, ist es 
auch in meinem Fall deutlicher an der hinteren Riickenmarksperi- 
pherie. Die Medulla spinalis kann bei der hereditaren Lues klein 
und hart werden und nervose Elemente iiberhaupt nicht mehr 
unterscheiden lassen, wie z. B. im Falle von Potain (histologisch 
von Cornil untersucht) und in dem von Money . 

Eine besondere Aufmerksamkeit verdienen ferner die Strang- 
alterationen in meinem Falle, die nicht denen des Friedreichschen 
Syndroms entsprechen, obwohl das von der Patientin gebotene 
Rrankheitsbild mit ihm iibereinstimmte. Die Kleinhirnbiindel sind 
unversehrt, was mit dem Befund bei der Friedreichschen Krankheit 
kontrastiert; ferner nimmt die Degeneration der Pyramidenbahnen 
proximalwarts nicht progressiv ab, sondern ist in der Lumbal- 
region angedeutet, fehlt fast ganz im Brustmark und ist deutlich 
im unteren Cervikalmark; ferner befallt die Degeneration der Hinter¬ 
strange die Golls chen und Burdarchschen Strange nicht in groBer 
Ausdehnung, sondern grenzt sich nach den von Flechsig ent- 
wicklungsgeschichtlich festgestellten Zonen ab oder beschrankt 
sich auch auf diejenigen Gebiete, welche man nach Durch- 
schneidung einer oder mehrerer Hinterwurzeln degeneriert findet. 
Man weiB, daB die fotale Gliederung der Gebiete der Hinterstrange 
von einer partiellen Myelinisierung der Fasern jeder einzelnen 
Hinterwurzel abhangt, so daB, wenn die Degenerationsgebiete mit 
den Myelinisierungsgebieten zusammenfallen, eine oder mehrere 
hintere Wurzeln partiell ladiert sein miissen und in einer Verteilung, 
die dem entwicklungsgeschichtlichen Fortschreiten der Markreifung 
entspricht. Wenn dagegen die Ausdehnung und die Form der 
degenerierten Zone voLLkommen derjenigen gleicht, die man nach 
Durchschneidung einer oder mehrerer hinterer Wurzeln erhalt, so 
muB ein RrankheitsprozeB vorhanden gewesen sein, der alle Fasern 
einer oder mehrerer Wurzeln inMitleidenschaft gezogen hat. Daher 
sind die Degenerationen in den Hinterstrangen meiner Patientin 
zum groBten Teil systematisch elektiv in dem Sinne, daB sie der 
Lasion einiger hinterer Wurzelfasern entsprechen, wahrend andere 
Wurzelfasern derselben Wurzeln erhalten sind; zum Teil sind die De¬ 
generationen der Hinterstrange allerdings auch uniradikular in dem 
Sinne, daB die Fasern einer oder mehrerer Wurzeln degeneriert 
sind. Diese Degeneration erinnert an diejenige, die sich bei Tabes 
incipiens findet, soweit sie systematisch elektiv ist, und an diejenige 
der vorgeschrittenen Tabes , soweit sie radikular ist. Die Aehnlich- 
keit mit dem tabischen Befund wird noch gesteigertdurch die gleich- 
zeitige Rarefizierung der sogenannten aufsteigenden Trigeminus- 
wurzel und die Rarefizierung des Solitarbiindels. 

In meinem Fall ist die Degeneration der medianen Wurzel- 
zone von Flechsig in alien Schnitten der Medulla spinalis bis zur 


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der hereditaren Lues (Friedreichsehes Syndrom). 


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Mitte des Halsmarks gut zu erkennen. Ihre Lokalisation entspricht 
in diesem Fall der von Flechsig angegebenen analog einem anderen 
Fall, den ich vor einigen Jahren zu beschreiben Gelegenheit hatte. 
Es scheint mir nicht unwahrscheinlich, daB das der medianen 
Wurzelzone entsprechende Biindel mit dem von Hoche 1896 be- 
schriebenen identifiziert werden kann. Dieses Biindel trennt 
sich dorsalwarts von dem Schultze sehen Kommabiindel und tritt, 
kaudalwarts ziehend, an die Peripherie der Hinterstrange; dann 
zieht es sich im Niveau der 12. Dorsalwurzel langs des Septum 
medianum hin und gelangt in die medianen Partien der Hinter¬ 
strange in Hohe der Sakralregion. Es wiirde sich hier mit dem 
von Gombault und Philippe in der Lumbosakralregion beschriebenen 
Biindel vereinigen. Die von diesenForschern gefundenen differenten 
Lager ungen in der Dorsalregion wiirden nach Nageotte und 
Etlinger von individuellen Variationen des Verlaufs der ab- 
steigenden endogenen Fasern in der Dorsalregion abhangen. 
Bisweilen verlaufen die Fasern des Hoche schen Biindels dissoziiert 
in der unteren Dorsalregion und vereinigen sich von neuem langs 
des Sulcus medianus zu einem geschlossenen Biindel; der Ort dieser 
Wiedervereinigung liegt zwischen dem 3. Lumbal- und dem 
1. Sakralsegment. Bisweilen bleiben die Fasern des Hoche schen 
Biindels vereint, wenigstens zum Teil, in einem kleinen Biindel, 
das sich kaudalwarts der Mittellinie nahert, langs des Septums 
verlauft und sich direkt in das dreieckige Feld von Gombault 
und Philippe fortsetzt, ein Verlauf, der dem von Hoche be¬ 
schriebenen entspricht. 

Ich glaube, daB die individuelle Variability im Verlauf dieser 
endogenen Fasern sich auch auf das Halsmark erstrecken kann, 
derart, daB sie in diesem Niveau als ein kompaktes Biindel langs 
der medialen Seite des GoKschen Biindels weiter verlaufen konnen; 
der Verlauf entspricht dann der von mir vor einigen Jahren be¬ 
schriebenen und auch in dem jetzigen Fall festgestellten Variation. 
Es ware also das von mir vor einigen Jahren degeneriert gefundene, 
der medianen Wurzelzone von Flechsig entsprechende und in dem 
vorliegenden Fall \riedergefundene Biindel ganz identisch mit dem 
Hoche schen Biindel in der Cervikal- und Dorsalregion und mit dem 
dreieckigen Feld von Gombault und Philippe in der Lumbal- und 
Sakralregion. 

An Stelle der degenerierten Nervenfasern findet man, wie 
schon beschrieben, Proliferation der Neurogliafasern. Die letzteren 
bieten oft in transversalen Richtungen das charakteristische Bild 
von Wirbeln (tourbillons) im ventralen Feld. Auf Grund des 
Vorhandenseins dieser Bildungen bei der Friedreichschen Krankheit 
glaubten sich Dejerine und Letulle zur Annahme berechtigt, daB 
bei dieser Krankheit eine primare Proliferation desNeurogliagewebes 
mit sekundarrer Degeneration der spezifischen Nervenelemente 
bestehe; die Neurogliafasern wiirden vor allem in transversalen 
Ebenen verlaufen und mit eigentiimlichen Wirbelbildungen 
(tourbillons) endigen. Diese Meinung ist von vielen Beobachtern be- 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologie. Bd. XXX. Heft 1. 4 


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G i a n n e 11 i , Beitrag zum Stadium 


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kampft worden, die einzeln aufzufiikren hier um so weniger am 
Platze ist, als in der neuesten Arbeit von Mingazzini und Perusini 
iiber einen Fall von Friedreichscher Krankheit hieriiber ausfiihrlich 
berichtet wird. Ich muB nur daran erinnern, daB die Wirbel nicht 
nur in den Hinterstrangen gefunden worden sind, sondern auch bei 
sklerotischen Prozessen in anderen Riickenmarksstrangen. Mein 
Fall beweist, daB die Wirbelbildungen sich auch bei anderen patho- 
logischen Prozessen finden konnen als dem, der die Grundlage der 
Friedreichschen Krankheit bildet. Dies stimmt iiberein mit der 
Hypothese von Marie , nach der die Wirbelbildungen der Ausdruck 
eines sklerotischen Prozesses alten Datums sind und schon in der 
Zeit der ersten Entwicklung des Zentralnervensystems sich gebildet 
haben. In meinem Fall verlaufen die proliferierten Neurogliafasern 
meistenteils in derselben Richtung wie die Nervenfasern, namlich 
longitudinal in den Hinterstrangen, transversal im Bereich der 
grauen Kommissur und schrag zur Ache des Riickenmarks in den 
vorderen Wurzelfasern, wie aus der Betrachtung von Langsschnitten 
des Riickenmarks sich ergibt. Aus solchen Praparaten geht auch die 
Tatsache hervor, daB die vorderen Wurzelfasern fast immer von 
Neurogliafasern begleitet sind, welche beim Austritt der Wurzel¬ 
fasern aus dem Vorderhorn sehr zahlreich sind, dann aber an Zahl 
allmahlich abnehmen und ganz aufhoren, noch bevor die Nerven¬ 
fasern sich ihrem Austritt an der Peripherie des Riickenmarks 
nahern. Die Stelle, an der die Neurogliafasern Halt machen, ent- 
spricht der Grenze des auBeren und des mittleren Drittels der 
vorderen Markbriicke. Eine ausreichende Erklarung fiir dieses 
Verhalten kann ich nicht geben. 

Eine letzte Eigentiimlichkeit meines Falles besteht in dem Vor- 
handensein glanzender Schollen, deren charakteristische Reaktionen 
auf die Substanz hinweisen, die von Virchow Amyloid genannt 
worden ist. Man bemerkte zunachst, daB sie der pflanzlichen 
Starke durch ihre Reaktion auf Jod ahnelte, aber dann zeigten die 
Analysen von Kekule , Schmidt , Kuhne und Rudneff , daB sie 15 pCt. 
Stickstoff enthalt. Man weiB ferner, daB die amyloide Substanz 
sich physiologisch in der Prostata findet, und daB eine ,,amyloide 
Degeneration 44 haufig in der Milz, in der Leber und in den Nieren 
vorkommt, wahrend sie in der Aorta, im Herzen, in den Muskeln, 
in den Ovarien und im Uterus selten ist (Ziegler). Sie findet sich 
endlich nicht selten in den Wanden der kleinen BlutgefaBe, wo- 
selbst sie zu einer Verdickung der GefaBwande und daher zur 
Verengerung und schlieBlich zum VerschluB des GefaBlumens 
fiihrt. Im Zentralnervensystem pflegt sie unter der Form kleiner 
Kiigelchen vorzugsweise an der Peripherie des Riickenmarks und 
an der Oberflache des Gehirns aufzutreten. In meinem Fall ist 
sie reichlich im unteren Dorsal- und im Lumbalmark vorhanden, 
und zwar vorzugsweise in dem hinteren Gebiet, wo der meningitische 
ProzeB intensiver ist; hingegen ist sie im Halsmark sehr sparlich. 
In der Oblongata und den basalen Ganglien fehlt sie ganz, ver- 
einzelt tritt sie in der GroB- und Kleinhirnrinde auf. 


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der hereditaren Lues (Friedreichsehes Syndrom). 


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Unter den Ursachen der amyloiden Degeneration wird vor 
alien Dingen die Kachexie infolge chronischer Krankheits- 
prozesse aufgefdhrt, Mae z. B. der Tuberkulose, der Syphilis, 
chronischer Eiterungen. Ich habe niemals analoge Formationen 
gefunden, wie sie Purkinje (1837) beschrieben und dann (1854) 
R. Wagner als Corpora amylacea beschrieben hat, und M'elehe nach 
Redlich auch in der Medulla spinalis und im Ventrikelependym 
haufig sein sollen und iiber deren Herkunft man noch nicht einig 
ist ( Luschka , Rokitansky , Rindfleisch, Redlich , Catola, Achucarro , 
Tekakazu Nambu). 

Wir konnen nun das vorher Gesagte in folgender Weise resu- 
mieren. Ein junges Madchen,Tochter einer syphilitischenMutter mit 
den Stigmaten der Heredolues, zeigt das vollstandige Krankheitsbild 
der Friedreichschen Krankheit, deren erste Erscheinungen bis in die 
erste Kindheit zuriiekreichen; der Tod tritt im 22. Jahre ein. Der 
pathologisch-anatomische Befund entspricht nicht ganz dem, wie er 
sich bei der Friedreichschen Krankheit zu finden pflegt; vielmehr be- 
steht er in einer Meningo-Encephalo-Myelitis sehr chronischen skier o- 
sierenden Charakters von luetischer Natur, die von Entvacklungs- 
hemmungen im Zentralnervensystem begleitet ist. Die vorhandenen 
Degenerationen in den Hinterstrangen sind zum Teil systematisch 
elektiv, zum Teil uniradikular, und erinnern in dieser Beziehung an 
den Befund bei Tabes incipiens und bei vorgeschrittener Tabes. 
Uebrigens ist das Vorhandensein von „Wirbelnbildungen“ („tour- 
billons“)in derneu gebildeten Neuroglia der Hinterstrange nicht 
fur Friedreichsche Krankheit charakteristisch. Der Vergleich des 
von meiner Kranken dargebotenen Symptomenkomplexes mit dem 
pathologisch-anatomischen Befund legt also den Gedanken nahe, 
daB die Friedreichsche Krankheit in einigen Fallen eher als ein 
Syndrom als eine nosographische Einheit betrachtet werden muB, 
und daB dieses Syndrom durch die hereditare Syphilis hervorge- 
rufen werden kann. 

Literatur- Verzeichnis . 

Augagneur , Etudes sur la syphilis h6r£ditaire. Paris 1879. v . Bdren- 
sprung , Die hereditare Syphilis. Berlin 1864. Barlow , Demonstration in 
der London Pathol. Society. Lancet. 1877. Bottiger , Beitrag zur 
Lehre von den luetischen Ruckenmarkskrankheiten. Westphals Arch. 
Bd. 26. Biach , Zur Kenntnis des Zentralnervensystems beim Mongolismus. 
Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 37. S. 7. Bonfiglio , F ., Circa le altera- 
zioni della corteccia cerebrale conseguenti; ad intossicazione sperimentale 
da carbonato di piombo. Histolog. u. Histopath. Arbeiten etc. von Nissl 
und Alzheimer. VII. Bd. 2. H. Brasch , tjber die sogenannte hereditare 
nnd infantile Tabes. Neurol. Centralbl. 1901. S. 331. Bury , Einflufi der 
hereditaren Syphilis auf das Zustandekommen von Idiotie und Demenz. 
Wien 1884. II. Chiari , Hochgradige Endarteriitis luetica (Heubner) an 
den Himarterien eines 15 monatigen Madchens bei sicher konstatierter 
Lues hereditaria. Wien. med. Woch. 1881. No. 17 u. 18. Da Fano> 
Studien liber Veranderungen im Thalamus opticus bei Defektpsychosen. 
Monatssehr. f. Psych. Bd. XXVI. H. 1 . S. 4. Dowse . Syphilis of brain. 
1881. Didynski , Tabes dorsalis bei Kindem, nebst einigen Bemerkungen 
iiber Tabes auf der Basis der Syphilis hereditaria. Neurol. Centralbl. 1900. 
S. 298. Erlenmeyer , Ueber eine durch kongenitale Syphilis bedingte Ge- 

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G i a n n e 11 i , Beitrag zum Studium 


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hirnerkrankung. Centralbl. f. Nervenheilk. Nov. 1891. Flechsig , 1st die 
Tabes dorsalis eine System-Erkrankung ? Neurol. Centralbl. 1890. No. 2 
und 3. Fournier. La syphilis h£r6ditaire tardive. Paris 1886. Derselbe, 
Les affections parasyphilitiques. Paris 1894. Fournier und Gilles de la 
Tourette, La notion etiologique de rh6r6do-syphilis dans la maladie de Little. 
Nouvelle Icon, de la Salpet. 1895. No. 1. Friedmann. Ueber rezidivierende 
(wahrscheinlich luetische) sogenannte spastische Spinalparalyse im Kindes- 
alter. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. 1892. Bd. III. Gasne , Localisations 
spinales de la syphilis h^r^ditaire. These de Paris. 1897. Giannelli , Sulle 
pseudo-siringomielie e siringomielie nella paralisi progressiva. Riv. sperim. 
di Fren. 1896. Fasc. I. Vol. XXII. Gtiles de la Tourette , La syphilis h6r6- 
ditaire de la moelle epiniere. Nouvelle Icon, de la Salp. 1896. Gilles de la 
Tourette und Durante , Un cas de syph. hered. de la moelle epiniere etc. 
Nouv. Icon, de la Salp. 1899. XII. S. 95. Hadden . Congenital 
syphilis as a case of nervous diseases in children. Brit. med. Joum. 1892. 
Heller . Weitere Mitteilungen iiber einen Fall von Hydrocephalus bei hered. 
Sy philis. Dtsch. med. Woch. 1898. No. 5. Heubner. Beitrage zur Kenntnis 
der hereditaren Syphilis. Virchows Arch. Bd. 84. S. 267. Derselbe, 
Syphilis im Kindesalter. Tubingen 1896. Homen , Eine eigentiimliche. bei 
drei Geschwistem typische Krankheit unter Form einer progressiven 
Dementia in Verbindung mit ausgedehnten GefaBveranderungen (wohi 
Lues herodit. tarda). Arch. f. Psych. 1892. Bd. 24. Hutchinson, 

Syphilitic disease of occipital lobe etc. Brit. med. Joum. 1891. Jarisch , 
Ueber den Riickenmarksbefund in 7 Fallen von Syphilis. 1881. lllberg , 
Beschreibung des Zentralnervensystems eines sechstagigen etc. Westphals 
Arch. Bd. 34. H. 1. Juergens. Ueber Syphilis des Riickenmarks und seiner 
Haute. Charity-Annalen. 1885. Bd. X. Kalischer , Ueber infantile Tabes 
und hered.-syphil. Erkrankungen des Zentralnervensystems. Arch. f. 
Kinderheilk. 1897. Bd. 24. Derselbe, Neurol. Centralbl. 1901. S. 332. 
Koths, Luetische Erkrankungen des Gehims und Riickenmarks im Kindes¬ 
alter. Verhandl. d. 1. Vers. d. Ges. f. Kinderheilk. Freiburg 1883. Lamy, 
Contributions k l’etude des localisations m&iullaires de la syphilis. Presse 
med. 1894. v. Leyden-Goldscheider , Erkrankungen des Riickenmarks und 
der Med. oblong. Nothnagels Handb. d. spez. Path. u. Ther. Long und 
Wiki, Sur l’6tat atrophique de la moelle epiniere dans la syphilis spinale 
cronique. Nouv. Icon, de la Salp. 1901. Mingazzini and Perusini. Two cases 
of familial heredo-spinal atrophy (Friedreich’s type) with one autopsy, and 
one case of so-called abortive form of Friedreich’s disease. Joum. of ment. 
Path. 1908. Vol. VI. Mingazzini, Weitere Beitrage zum Studium der 
Friedreichschen Krankheit. Ach. f. Psych. Bd. 42. Mendel , Ueber heredi¬ 
tare Syphilis. Arch. f. Psych. Bd. I. 1863. Derselbe. Ueber hereditare 
Syphilis in ihrer Einwirkung auf Entwicklung von Geisteskranheiten. Id. 
1868—69. Derselbe, Die hereditare Syphilis in ihren Boziehimgen zur Ent¬ 
wicklung von Krankheiten des Nervensysterns. Festschr. f. G. Lewin. 1895. 
Nelon . Friedreich’s disease associated withgenitous idiocy. Joum. of med. Sc. 
Dublin 1895. Nonne , Syphilis und Norvensystem. Berlin 1909. Nonne , 
Syphilis und Nervensystem. Berlin 1909. Pick , Tabes mit Meningitis 
syphilit. nebst Bemerkungen iiber die Genese der sogenannten neugebildeten 
Elastica etc. Festschr. zu Ehren von Philipp Pick. 1898. Poliak , Zur Kennt¬ 
nis der Motilitatsstorungen bei der hercxl. Syphilis. Dtsch. med. Woch. 
1896. Eabl. Ueber Lues congenita tarda. Verhandl. d. Kongr. f. inn. Med. 
Wiesbaden 1886. Derselbe. Ueber Lues cong. tarda. Leipzig 1892. Ranke , 
Ueber Gehirnveranderungen bei der angeborenen Syphilis. Zeitschr. 
f. d. Behand. des jugend. Schwachsinns. Bd. II. 1908. Reuter. Zur 
Kenntnis der Motilitatsstorungen bei der hered. Syphilis. Dtsch. med. 
Woch. 1895. No. 32. Rondoni , On some hereditary syphilitic affections 
of the nervous system. Proceed, of the Royal Soc. of Med. 1909. Derselbe, 
Beitrage zum Studium der Entwicklungskrankheiten des Gehims. Arch, 
f. Psych. Bd. 45. H. 3. S. 1004. Sachs, The nervous manifestations of 
hereditary syphilis in early life. Amer. med. sing. bull. 1896. Sibelius , 
Zur Kenntnis der Entwicklimgsstdrimgen der Spinalganglienzellen. Dtsch. 


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der hereditaren Lues (Friedreichsches Syndrom). 


53 


Zeitechr. f. Nervenheilk. 1901. Siemerling , Ein Fall von hereditarer Hirn- 
und Riickenmarks-Lues. Arch. f. Psych. 1888. Derselbe, Zur Lehre 
von der kongenitalen Him- und Riickenmarks-Syphilis. Arch. f. Psych. 
Bd. 20. H. 1. Strdu filer. Die histopathologischen Veranderungen des 
Kleinhims bei progressiver Paralyse. Jahrb. f. Psych, u. Neurol. Bd. 27. 
1906. Tapet. Arch. f. Psych. 1909. Bd. 43. S. 717. Toyofuku Tamaki. 
Obersteiner’s Arbeiten. Bd. XVIII. S. 31. Vandervelde , Syphilis he red. 
tard. — Hempl^gie spasmod. infant. Journ. de m«kl. de chir. et de 
pharm. 1893. No. 5. Vizioli , Quattro casi di diplegia spastica familiare 
infantile eredo-sifil. Ann. di Neurol. XVI. (Neurol. Centralbl. 1900. 
,S. 79.) Werner, Zur Lehre von der kongenitalen Him- und Riickenmarks- 
syphilis. Arch. f. Psych. Bd. 20. v. Wickel. Ein Fall von Friedreichscher 
Krankheit. Miinch. med. Woch. 1900. v. Widerhofer , Ueber Syphilis 
hereditaria. Jahrb. f. Kinderheilk. Wolff , Ueber Syphilis hered. tarda. 
Volksmanns klin. Vortrage. 1886. Zappert, Ueber isoliertes Vorkornmen 
von Augenmuskellahmungen als Spatform der hered. Lues. Arch. f. Kinder- 
heilkunde. 1895. Bd. XIX. Derselbe, Beitrag zur Kasulstik der sogen. 
Pseudoparalyse hered.-syphil. Kinder. Neurol. Centralbl. 1898. S. 572. 
Zeifil, Ueber Lues hered. tarda. Wien. Klin. 1885. 

Erklarung der Abbildungen auf den Tafeln I—III. 

Fig. 1 . (Obj. 1 / 15 . Homogene Immers. Okul. 3.) Ein GefaB aus der 
weichen Himhaut der GroBhirnhemispharen mit einer Plasmazelle 
(Methode Nissl). 

Fig. 2. (Obj. 7. Okul. 2. Koristka.) Transversalschnitt durch GefiiBe 
der weichen Gehimhaut: die Membrana elastica ist verdoppelt oder 
verdreifacht, an einigen Stellen rosenkranzformig zersplittert (Methode 
Unna-Tanzer). 

Fig. 3. Bielschowskysehe Methode. 

a) Purkinjesche Zelle mit 2 distinkten Kernen. 

b) Purkinje sche Zelle mit perinuklearem und peripherischem Fibrillen- 
netz. 

Fig. 4. Querchnitt des Lumbalteils des Riickenmarks: Verdickung der 
Dura mater, besonders im hinteren Teil. Die kleinen schwarz gefarbten 
Stellen im Innem der Medulla entsprechen Amyloidschollen. 

Fig. 5. Dasgleichen. Porsche Methode. Volumenreduktion der Medulla 
spinalis, besonders auf Kosten der Hinterstrange. Periphere Rare- 
fizierung der Pyramidenseitenstrangsbahn, rechts deutlicher. Rare- 
fizierung imd Degeneration in den verschiedenen Gebieten der Hinter¬ 
strange. 

Fig. 6. Brustmark in der Hohe der dritten hinteren Dorsalwurzel. Me¬ 
thode Weigert-Pal. Leichte Rarefizierung in der rechten Pyramiden¬ 
seitenstrangsbahn. Rarefizierimg und Degeneration in einigen Ge¬ 
bieten der Hinterstrange. Fehlon der hinteren Wurzelfasern. 

Fig. 7. Halsmark (Mitte der Cervikalanschwellung). Methode Weigert- 
Pal. Rarefizierung und Degeneration in einigen Gebieten der Hinter¬ 
strange. Die rechte Seite der Abbildung ist nur eben angedeutet, 
weil 8ie im Praparat ganz der linken entspricht. 

Fig. 8. Medulla spinalis. Anfang der DecusscUio pyramidum. Wie in der 
vorigen Figur. 

Fig. 9. (Obj. 8. Okul. 3. Koristka.) Lumbalmark. Neurogliafasern 
wirbelformig angeordnet im Ventralfeld der Hinterstrange (Weigertsvho 
Neurogliamethode). 

Fig. 10. (Obj. 5. Okul. 4. Koristka.) Longitudinalschnitt des Lenden- 
marks langs des Verlaufs der vorderen Wiuzelfasem. 
a = Graue Substanz, und zwar die graue Vordersaule, aus der die 
vorderen Wurzelfasern austreten, um bei b die Medulla spinalis zu ver- 
lassen. Die Wurzelfasern sind von Neurogliafasern begleitet (in der Ab¬ 
bildung durch dunklere Ziige reprasentiert), die alle aufhoren, bevor die 
Wurzelfasern die Peripherie erreichen (Weigertsche Neurogliamethode). 


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O s s i p o w , Zur Frage iiber die Behandlung 


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Zur Frage der Behandlung der Ischiasfalle 
mit Injektionen von abgekuhlter Kochsalzlosung '). 

Von 

Prof. V. P. OSSIPOW 

in Kasan. 

Die Behandlung von Neuralgien und Neuritiden des Nervu& 
ischiadicus mit Injektionen ist schon seit langem bekannt; die 
Stoffe jedoch, welche zu diesem Zweck in den Nerv injiziert wurden, 
wie z. B. Osmiumsaurelosungen oder starker Aethylalkohol, 
welch letzterer von Ostwald fur die Behandlung der Trigeminus- 
neuralgien empfohlen wurde, und einige andere, sind fur den 
Nerv durchaus nicht indifferent, da der Effekt der Injektion 
dieser Stoffe durch den Ausfall oder die Herabsetzung der Funktion 
des erkrankten Nerven infolge von sich entwickelnder totaler 
oder partieller Nekrose desselben erzielt wurde; es ist klar, daft 
die angefiihrten und analogen Behandlungsmethoden den Neur¬ 
algien nicht als therapeutisches Verfahren im wahren Sinne dieses 
Wortes, sondern eher als unblutige Operation angesehen werden 
miissen. 

Auf Grund des Obenerwahnten wird es verstandlich, weshalb 
die von Schlesinger 2 ) erst vor zwei Jahren empfohlene Therapie 
der Ischiasfalle mit intraneuralen Injektionen von physiologischer 
Kochsalzlosung ziemlich rasch Verbreitung fand. 

Freilich ist die Behandlung der Ischiadicusneuralgien mit 
intraneuralen Injektionen von physiologischer Kochsalzlosung 
schon vor Schlesinger empfohlen worden (Lange, Umber, Schleich, 
Alexander, Luton), jedoch besondere Verbreitung fand diese 
Methode erst, seitdem Schlesinger dieselbe vorgeschlagen hatte. 

Auf die historische Seite dieser Frage werden wir nicht naher 
eingehen, da sie in den Arbeiten anderer Autoren, z. B. von 
E . Nielssen 8 ) und O. Wiener 4 ) erortert ist. 

Die guten Resultate, welche von vielen Autoren bei der Be¬ 
handlung mit Kochsalzinjektionen erzielt worden waren, erweckten 

x ) Vortrag, gehalten in der Gesellschaft der Neuropathologen und 
Psychiater an der Universitat Kasan am 17. Dezember 1910. 

f ) Schlesinger , Zur Injektionstherapie der Neuralgien. Deutsche med. 
Woch. 1908. Nr. 6. 

8 ) E. A ielssen. Ueber die Isohiasbehandlung mit Injektionen physio¬ 
logischer Kochsalzlosung. Psychiatr. Rundschau. 1908. Nr. 9. (Obosr&iije 
Psychiatrii — russisch.) 

4 ) O. Wiener. Die Behandlung der Neuralgien mit intraneuralen. 
Injektionen (unter Beriicksichtigung des Kochsalzfiebers). Berl. klin. 
Woch. 1910. Nr. 10. 


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der Ischiasfalle mit Injektionen etc. 


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in uns reges Interesse, und wir beschlossen, diese Methode an den 
Kranken unsres Ambulatoriums fur Nerven- und Geisteskranke 
im Kasaner Gouvernementshospital nachzupriifen; wir beschlossen 
weiter, dieses Verfahren zuerst an stationaren Kranken an- 
zuwenden, da bei der ambulatorischen Behandlung eine ge- 
naue Beobachtung in bedeutendem MaBe erschwert wird und 
die Ruhebedingungen, welche fiir die Ischiaskranken so wichtig 
sind, vollkommen ausgeschlossen sind. 

Wir benutzten zur Injektion sterile, 0,75 proz. Chlornatrium- 
losung in destilliertem Wasser, welche auf 0° im schmelzendem 
Schnee oder im Eise abgekiihlt wurde. 

Zur Injektion diente eine Glasspritze mit einem Glaskolben 
und einer ungefahr 8 cm langen Nadel. 

Obgleich Schlesinger und andere Autoren den Rat geben, 
bei Ischiadicusneuralgien 100—150 ccm der Salzlosung pro 
dosi zu injizieren, fingen wir vorsichtshalber mit 15 ccm 
an, und nur einige unsrer Kranken erhielten erst spater 100 ccm 
pro dosi injiziert. 

Die Injektionstechnik war folgende: Bei dem auf dem Bauche 
liegenden Kranken wurde die Mitte der Entfernung zwischen 
dem Tuber ischii und dem groBen Trochanter bestimmt; dieser 
Punkt, welcher sich auf Druck schmerzempfindlich erwaes, ent- 
sprach gewohnlich der Lage des N. ischiadicus und bestimmte 
zu gleicher Zeit die Stelle der ersten Injektion; die folgenden 
Injektionen wurden tiefer, im Verlauf des Nervus ausgefiihrt, 
jedoch nicht unterhalb der Hohe des halben Oberschenkels, um 
etwaige Verwundung der Art. femoralis zu vermeiden. Die Nadel 
der Spritze wurde nach vorausgegangener Sterilisation des Ope- 
rationsfeldes in einen vorher bestimmten Punkt des Oberschenkels 
eingefuhrt und falls wir auf den Nerv stieBen, was an der Reaktion 
seitens des Kranken zu ersehen war (der Kranke zuckte zusammen 
vor starken Schmerzen, welche sich langs der hinteren Oberflache 
des Oberschenkels ins Kniegelenk und sogar in die FuBsohle aus- 
breiteten), injizierten wir, unter allmahliehem und gleichmafligem 
Druck auf den Kolben, die Salzlosung. 

AeuBerst schmerzhaft ist der Moment des Einstechens der 
Nadel in den Nerv, sowie auch die Injektion der eiskalten Losung 
selbst; jedoch vergeht der Schmerz gewohnlich schon nach einigen 
Minuten. 

In einigen Fallen wurden die Injektionen auch in die Glutaeal- 
gegend entsprechend der Lage der Schmerzpunkte gemacht 
(im Verlauf des N. cutaneus femoris post., der Nn. glutaei, neben 
der Wirbelsaule entsprechend der Austrittsstelle der Wurzeln). 

Gewohnlich injizierten wir 3 mal wochentlich zwischen 
10—11 Uhr morgens; die Temperatur wurde in der Axelhohle 
vor der Injektion und zwischen 5—6 Uhr abends gemessen. 

Wir gehen jetzt zur kurzen Beschreibung unsrer Krankheits- 
geschichten uber: 


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O s s i p o w , Zur Frage iibcr die Behandlung 


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I. W. H., Arbeiter, 45 Jalire alt, wurde ins Hospital am 9. V. 1909 
aufgenommen; er erkrankte am 22. X. 1908; beim Heben einer schweren 
Last stellten sich starke Schmerzen im Kreuz ein, die naeh 2 Wochen an 
dieser S telle vergingen, dafiir aber in der linken Glutaalgegend und im 
Verlauf des ganzen N. ischiadieus anftraten; die Behandlung im Lazarett 
und im Militarhospital ergab keine wesentlichen Resultate. Bei der T7nter- 
suchung des Kranken wurde folgendes gefunden: Schmerzen in der linken 
Glutaalgegend und in der Kniekehle bei der geringsten Bewegung; die 
linke untere Extremitat ist halb gebeugt, beim Gehen mit der Kriicke 
stiitzt sie sich auf die Futispitze; leiehte Abmagerung des linken Ober- 
schenkels; Schmerzempfindung beim Druck auf den linken X. ischiadieus. 
Extension der Extremitat sehmerzhaft. — Neuritis n. ischiadici chronica. 

Der Kranke erhielt 5 Injektionen von 15 ccm pro dosi am 12., 14., 
16.. 19. und 21. V. Schon naeh der ersten Injektion fiihlte der Kranke 
Erleichterung. naeh der fiinften schwanden die Schmerzen, die untere 
Extremitat wurde gerade. der Kranke ging ohne Kriicke und Stock, hinkte 
fast gar nicht. konnte sogar laufen. Die Druckempfindlichkeit des Nerven 
war minimal, und der Kranke verlieO das Hospital am 22. V. 

Im November 1909 erhielt H. ambulatorisch noch 5 Injektionen. 
Sein Gesundheitszustand war ein so guter. daO er FuBtouren von 12 Worst 
zuriicklegen konnte. Im Oktober 1910 wurden die Schmerzen wieder 
starker, jedoch nicht in dem MaBe wie friiher. 

Die gewohnliche Temperatur des Patienten scliwankte zwischen 
35,6 und 36,1° naeh der 3.. 4. und 5. Injektion stieg sie bis 37,1°. 

II. N. S.. Beamier. 36 .Jahre alt. wurde ins Hospital am 16. X. 1909 
aufgenommen. Die Krankheit hatte sich allmahlich entwickelt, und zwar 
vom 1. IV. 1909; besonders stark wurden die Schmerzen vom Mai 
an, indem sie sich liber den ganzen linken N. ischiadieus ausbreiteten; 
infolge der heftigen Schmerzen konnte S. weder gehen noch sitzen noch 
schlafen. Die Behandlung mit Salizylpraparaten. Jodkalium , Massage, 
Emplastr. vrsic. blieb erfolglos. Den Anfang der Krankheit bringt S. 
mit einer Erkaltung in Zusammenhang. Die Untersuchung des Kranken 
ergab: Schmerzen im Verlauf des ganzen linken N. ischiadieus und Druck¬ 
empfindlichkeit; leiehte Hypasthesie der hinteren Oberflache des Ober- 
schenkels; Patient steht. sich hauptsachlich aufs rechte Bein stiitzend; 
hinkender Gang, wobei der Kranke sich die Miihe gibt, auf den linken Fufl 
leichter aufzutreten. — Ischias chronica sinistra. 

Der Kranke erhielt 6 Injektionen der Salzlosung am 20., 22., 25. und 
27. X., am 10. und 15. XI.. 20 ccm pro dosi. Naeh der ersten Injektion 
nahmen die Schmerzen an Starke deutlieh ab, jedoch schon naeh einigen 
Tagen warden sie heftiger; naeh der achten Injektion traten Schmerzen 
in der Wadengegend auf; naeh 6 Injektionen fiihlte sich Patient befriedigend; 
die Schmerzen waren verschwunden; nur beim Druck auf den Nerv fiihlte 
er einiges L'nbehagen; beim Gehen hinkte er fast gar nicht. Die Injektionen 
muflten aber unterbrochen werden. da 3—4 Stunden naeh jeder Ein- 
spritzung die Temperatur fast bis 39° stieg. die von einem fur den Kranken 
hochst unangenehinen Schiittelfrost begleitet war. 

III. D. K., 42 Jahre alt. Schlossermeister, wurde ins Hospital am 
12. I. 1910 aufgenommen. Er erkrankte am 1. XII. 1908; am Tage vorher 
hatte er sich stark erkaltet; es traten heftige Schmerzen in der Glutaal¬ 
gegend bis zur FuBsohle der linken unteron Extremitat auf, aus welchem 
Grunde Iv. ungefahr eine Woche das Bett hiiten muBte; Anfang Dezember 
1909 neue Exazorbation der Schmerzen. Die Behandlung mit Salizyl- 
und Methylpraparaten blieb erfolglos. 

Gegenwartig kann Patient vor starken Schmerzen nicht mehr 20 bis 
30 Schritte gehen, auf der linken GesaBhalfte kaim er nicht sitzen; Symptom 
von Lasegue. — Ischias chronica sinistra. 

Die 1.. 2. und 3. Injektion erhielt Patient ambulatorisch (am 18.. 
20. und 22. XII.); dieselben erleichterten etwa.s die Qualen des Kranken. 
Darauf folgten 10 Injektionen zu je 30 ccm am 14., 17.. 19.. 20., 24.. 26.. 


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der Ischiasfalle mifc Injektionen etc. 


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28. und 30. I. und 2. und 4. II. 1910. Nach den Injektionen warden die 
Schmerzen sofort geringer, jedoch nach den fiinf ersten Einspritzungen 
verstarkten sich dieselben, nach der 4. Injektion traten Schmerzen im 
Fufl und in derWadengegend auf; nach der achten schwanden die Schmerzen 
ganz, nach der 9. Injektion schwand auch das Laseguesche Symptom. Nach 
der 3. und 4. Injektion stieg die Temperatur liber 39°; IV 2 —2 Stunden 
nach der Einspritzung hatte der Kranke gewohnlich Schiittel frost und 
Fieber. Er verlieO das Hospital gesund; nach eingezogenen Erkundigimgen 
waren die Schmerzen nach 3 Monaten nicht wiedergekehrt. 

IV. J. E., 41 Jahre alt, Tischler, erkrankte zum ersten Male an Ischias 
dextra vor fiinf Jahren nach oinem Fischfang, wurde mit Salben, Massage 
und mit Elektrizitat im Verlauf von 4 Monaten energisch behandelt. Am 
11. XII. 1909 steilte sich ein akutes Rezidiv der Krankheit ein. nachdem 
der Kranke im Laufe von 2 Wochen an einer feuchten steinemen Wand 
geschlafen hatte. Die Behandlung mit Salizylpraparaten und mit Elektrizitat 
war resultatlos. Am 19. I. wurden vermerkt: heftige Schmerzen im Verlauf 
des rechten N. ischiadicus; Patient kann nur mit Miihe stehen. sitzen und 
gehen; vor Schmerzen kann er nicht schlafen; Druck auf den Nerv schmerz - 
haft. — Ischias dextra. 

Es wurden 9 Injektionen der Salzlosung von 30 ccm pro dosi am 

21., 24., 28., und 31. I. und 2., 4., 7., 9., und 11. II. gemacht. Nach den 
ersten 4 Injektionen stellten sich bei E. Fieber und Schiittelfrost. femer Ver- 
starkung der Schmerzen ein, die sich nach der 5. Injektion auf die Waden- 
gegend ausbraiteten; die Schmerzen klangen allmahlich ab, der Kranke 
machte den Versuch, an die Arbeit zu gehen. jedoch bald kehrten die 
Schmerzen wieder, und am 4. III. 1910 muflte E. ins Hospital aufgenommen 
werden; im Krankenhause blieb Patient bis zum 4. IV., binnen welcher 
Zeit er sechs injektionen zu je 30 ccm und sechs Injektionen zu je 60 ccm 
erhielt. Die krankhaften Symptome schwanden allmahlich, und E. verlieO 
gesund das Hospital, worauf er mit Erfolg arbeiten konnte; nach 6 Monaten 
war sein Gesundheitszustand vollkommen befriedigend. 

V. F. S., 56 Jahre alt, Bauer, wurde am 22. I. 1910 ins Hospital auf¬ 
genommen, erkrankte im Oktober 1909 nach einem Sturz aus dem Wagen, 
wobei er sich den Fufi verletzte; schon damals traten sehr heftige Schmerzen 
im Verlauf des N. ischiadicus auf, die ihn beim Gehen hinderten. Patient 
kann kaum mit der Kriicke gehen, kann auf der linken GesaBhalfte nicht 
sitzen, beim Beugen des Rumpfes werden die Schmerzen sehr stark; Druck 
auf den Nerv schmerzhaft. — Ischias sinistra. 

Patient erhielt 10 Injektionen der Salzlosung zu je 30 ccm am 24., 

28., 31. I., am 2., 4., 7., 9., 11., 14. imd 19. II.; nach den ersten Injektionen 
wurden die Schmerzen heftiger, wobei sie am langsten in der Wadengegend 
anhielten; jedoch allmahlich klangen alle krankhaften Erscheinungen ab, 
und nach der 10. Injektion verlieO S. das Hospital in gesundem Zustande; 
die Temperatur stieg nach einigen Injektionen bis 38°, wobei sich Schiittel- 
frost einstellte. 

VI. W. P., 47 Jahre alt, Arbeiter, trat ins Hospital am 19. II. 1910 ein- 
Er fiihlt sich krank seit dem Oktober 1909, und zwar nachdem er bei Regen- 
wetter gearbeitet und nicht nur gesessen, sondern auch in trunkenem 
Zustande auf feuchter Erde geschlafen hatte. ReiBen und heftige Schmerzen 
im Verlauf des rechten N. ischiadicus. Patient bewegt sich kaum. sich 
mit Miihe aufs rechte Bein stiitzend, kann vor Schmerzen nicht schlafen; 
Druckempfindlichkeit des rechten N. ischiadicus, Symptom von Laslgw. 
— Ischias dextra. 

Es wurden 10 Injektionen, 9 zu je 30 ccm und eine von 60?ccm, am 

21., 23.. 25., 28. II. und 2., 4., 7., 9., 11. und 14. III. gemacht. Nach den 
ersten 4 Einspritzungen trat Verstarkung der Schmerzen auf, welche am 
langsten in der Wadengegend anhielten. Nach der 2. Injektion Schiittel- 
frost und Temperatursteigerung bis 38,2°. Er verlieO das Hospital ohne 
jegliche Krankheitserscheinungen. 


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Ossipo w. Zur Frag e iiber die Behandlung 


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VII. A. J., 48 Jahre alt, Bauer, trat ins Hospital am 11. IV. 1910 
ein; Patient trank im UebermaB Alkohol und schlief in trunkenem Zu- 
stande auf der Erde; fiihlt sich krank seit Anfang Dezember 1909. Druck- 
empfindiichkeit im Verlauf des rechten N. ischiadicus, Symptom von 
Las&gue, die Schmerzenwerden beim Gehen und bei voller Flexion desRumpfes 
starker. Es wurden 12 Injektionen gemacht: 2 zu je 30 ccm und 10 zu je 
60 ccm, am 11., 13., 15., 17., 20., 22., 25., 27., 29. IV. imd am 2. 4. und 
6. V. — Ischias chronica dextra. 

Die Schmerzen verringerten sich nach der Injektion sehr langsam; 
nach den ersten Einspritzungen wurden sie heftiger; besonders lange hielten 
die Schmerzen in der Wadengegend an und schwanden erst nach der In¬ 
jektion der Salzlosung, die tiefer und hinter dem Fibulakopfe in der Richtung 
des N. tibilails ausgefiihrt wurde. Samtliche Einspritzungen, angefangen 
von der dritten, nach welcher die Temperatur bis 39,6° gestiegen war, 
wurden von Schiittelfrosten und Temperaturerhohungen begleitet; alle 
iibrigen Temperatursteigerungen waren bedeutend geringer. Patient 
verlieB gesund das Hospital. 

Die nachsten drei Kranken wurden ambulatorisch behandelt. 

VIII. J. L., 33 Jahre alt. Student, trat am 2. V. 1910 in Behandlung; 
die ersten Schmerzen im Verlauf des linken N. ischiadicus traten im 
Juli 1909 auf nach einem kalten Bade; die Schmerzen werden bei 
Bewegungen und beim Gehen starker; Symptom von Lasigue, Druck¬ 
empfindlichkeit des linken N. ischiadicus, hinkt beim Gehen. — Ischias 
sinistra. 

Patient erhielt zuerst 7 Injektionen der Salzlosung zu je 30 ccm, 
darauf 4 Injektionen zu je 60 ccm am 2., 4., 6., 9., 11., 13., 16., 18., 20., 
23. und 27. V. Temperatursteigerung nach der ersten und dritten Injektion 
bis 38,6° und 38,5°, nach der elften bis 37.8°; die iibrigen Injektionen riefen 
mu geringe Temperatursteigerungen hervor; die Schmerzen, welche be¬ 
sonders lange in der Wadengegend anhielten, wurden nach den Injektionen 
starker. Im allgemeinen wurden die Schmerzen deutlich schwacher, jedoch 
voile Genesung blieb aus. 

IX. F. D., 30 Jahre alt, Kellner. Behandlung mit Salzinjektionen 
wurde am 2. V. 1910 begonnen. Vor der Krankheit gebrauchte Patient 
im UebermaB Alcoholica und war oft dem Zugwinde ausgesetzt; die Krank¬ 
heit fing seit Dezember 1909 mit heftigen Schmerzen im Verlauf des linken 
N. ischiadicus an. Sogar eine Hospital behandlung konnte die Schmerzen 
nicht beseitigen. Die Untersuchung ergab: Druckempfindlichkeit im 
Verlauf des linken N. ischiadicus, eine Reihe von Schmerzpunkten in der 
Glutaalgegend, Symptom von Las&gue: kann nur mit Miihe gehen. — 
Ischias sinistra. 

Vom 2. bis zum 30. V. erhielt D. 13 Injektionen, und zwar: 12 zu je 
30 ccm. eine (die 10.) von 60 ccm. Gewohnlicher Krankheitsverlauf: zuerst 
einige Verstarkung der Schmerzen, darauf schwanden dieselben allmahlich; 
besonders lange hielten die Schmerzen in der Glutaalgegend an, aus welchem 
Grunde Injektionen in diese Gegend ausgefiihrt werden muBten. Besonders 
die ersten Injektionen waren von Schiittelfrosten und Temperatursteigerungen 
bis 38,7° gefolgt; nach der 11. Einspritzung stieg die Temperatur bis 38 ; 8°. 
Infolge des Wiederkehrens von leichten Schmerzen wurden noch einige In¬ 
jektionen im Oktober 1910 mit Erfolg gemacht. 

X. f S. A., 37 Jahre alt, Diener an der Apotheke; trat in Behandlung 
am 18. V. 1910; erkrankte vor 4 Monaten infolge einer Erkaltung (Zug- 
wind); er wurde lange, jedoch erfolglos mit Salizyl und Jodpraparaten 
sowie mit Salzbadem behandelt. Druckempfindlichkeit im Verlauf des 
linken N. ischiadicus; Symptom von Las&gue. Die Schmerzen werden 
bei Bewegungen starker; Patient hinkt beim Gehen. — Ischias sinistra. 

Vom 18. bis zum 30. V. erhielt der Kranke 4 Injektionen zu je 30 ccm 
und 2 Injektionen zu je 60 ccm; die 2. und 4. Injektion erzeugten eine 
Temperaturerhohung bis 37,8° und 38,5°, welche von Schiittelfrost begleitet 
war. 


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der Ischiasfalle mit Injektionen etc. 


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Sowohl die Schmerzen als auch die iibrigen Kr ankheitserscheinungen 
schwanden rasch. Im Oktober 1910 wandte sich A. an uns mit der Bitte, die 
Injektionen zu wiederholen, da Schmerzen in der Gegend des rechten 
Ischiadicus aufgetreten waren. Nach 3—4 Injektionen vergingen die 
Schmerzen. 

Wenn wir den Umstand in Betracht ziehen, daB in den von 
uns beobachteten Fallen die Schmerzen nicht in Form von An- 
fallen auftraten, die fiir Neuralgien charakteristisch sind, sondern 
wir es hier mit andauernden nenritischen Affektionen des N. 
ischiadicus zu tun hatten, und daB ferner die Erkrankung vor 
der Behandlung mit Salzinjektionen mehrere Monate und sogar 
mehrere Jahre angedauert hatte, halten wir uns fiir berechtigt, 
den SchluB zu ziehen, daB unsre Behandlung von einem sehr be - 
deutenden Erfolg begleitet war, da von 10 Fallen in vier (I, II, 
VIII, IX) eine wesentliche Besserung, in sechs Fallen aber (III, 
IV, V, VI, VII, X) Heilung eintrat. Die Mehrzahl unsrer Kranken 
hatte sich schon verschiedenen anderen Behandlungsmethoden 
unterzogen, jedoch immer erfolglos. Die Ursache der Krankheit 
war in den meisten Fallen kompliziert. Im Fall V sind trau- 
matische Verletzungen, in den iibrigen das Heben schwerer Last 
und Erkaltungsinfektion (I), Alkoholismus und Erkaltung oder Er- 
kaltung allein vermerkt worden. 

Da wir einerseits giinstige Resultate bei Anwendung 
kleiner Dosen der Salzlosung (nicht iiber 60 ccm) erhielten und 
andererseits ziemlich bedeutende Temperatursteigerungen mit 
Schiittelfrost sogar nach Injektionen von 20 ccm (II) beobachten 
konnten, gibt es, unsrer Meinung nach, keine wesentlichen Indi - 
kationen fur Anwendung grower Dosen , wovon auch weitere Be- 
obachtungen uns iiberzeugen konnten. 

Der Krankheitsverlauf unter dem EinfluB der Behandlung war 
in alien unsren Fallen ein ziemlich gleicher; gewohnlich schwanden 
die Schmerzen, die wahrend der Injektion auftraten, schnell; 
nach Verlauf einiger Zeit wurden sie wieder heftiger und hielten 
zuweilen die ganze Nacht an, wobei sie sich nach den ersten 
Injektionen wiederholten; der Erfolg der Behandlung war ein 
prompter, jedoch zur vollen Genesung muBten wir 10—12—15 und 
sogar mehr Injektionen (IV) machen. Nachdem die Schmerzen im 
Oberschenkel abgeklungen waren, stellten sich oft „brennende“, 
,,unertragliche“ Schmerzen in der Wadengegend ein, welche 
ebenfalls ihren Ur sprung der Verseharfung des Prozesses ver- 
dankten; diese Schmerzen waren sehr andauernd; oft erzielten 
wir gute Resultate bei der Anwendung von Massage und warmen 
Kompressen auf die Wadengegend, welche Mittel vor der Salz- 
injektion keinen Erfolg hatten. Einmal vergingen die Schmerzen 
nach Injektion der Salzlosung in der Wadengegend (Fall VII). 

Wir mussten in unseren Fallen eine Jange Reihe von Injek¬ 
tionen anwenden; dieser Umstand wurde wahrscheinlich dadurch 
bedingt, daB wir es hauptsachlich mit chronischen Kranken zu 
tun hatten und bemiiht waren, nach Moglichkeit vollkommene 
Heilung zu erzielen. Indem wir die Resultate der Behandlung 


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O ssi ]> o \r . Zur Frage fiber die Behandlung 


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mit Salzinjektionen an stationaren Kranken verfolgten, konnten 
wir uns iiberzeugen, daB 1—2—3 Injektionen, wenigstens in 
den chronischen Fallen, die krankhaften Symptome nur erleichtern, 
nicht aber den Kranken heilen konnten; die vorzugsweise ambu- 
latorische Anwendung des Verfahrens erklart vielleicht den Um- 
stand, daB die Schnelligkeit der Wirkung dieser Methode liber- 
schatzt wurde, sowie auch die Tatsache, daB die Komplikation 
der Einspritzungen mit Schiittelfrost und Temperatursteigerungen 
in der Literatur nicht genugend hervorgehoben worden ist. 

Ungeachtet der Schmerzhaftigkeit der Injektionen, der lange- 
dauernden Behandlung, des Schiittelfrostes und der Temperatur¬ 
steigerungen unterbrach doch kein einziger unsrer Kranken den 
Behandlungskursus, bevor wir ihm erklarten, daB genugend In¬ 
jektionen gemacht worden seien. 

Die von uns erzielten Resultate waren von dauerndem Er- 
folg, so daB diejenigen Kranken, welche unter dem EinfluB der 
Behandlung von ihren qualenden Schmerzen befreit und wieder 
arbeitsfahig voirden, mit vollem Recht als vollkommen geheilt 
angesehen werden durften. Ueber den ersten Kranken hatten 
wir giinstige Berichte nach Verlauf eines Jahres; iiber den dritten 
nach drei Monaten; liber den vierten nach 9Monaten; derneunte 
kam nach 5 Monaten mit der Klage iiber leichten Schmerz neben 
dem Kreuz, aber nicht im Verlauf des N. ischiadicus; einige In¬ 
jektionen in den Schmerzpunkt beseitigten diesen Schmerz; der 
zehnte klagte ebenfalls nach 5 Monaten iiber leichten Schmerz 
im Verlaufe des anderen N. ischiadicus; der Schmerz verging 
nach 3 Injektionen. 

Wie aus der Zeit unsrer Beobachtungen zu ersehen ist, hatten 
wir auf die Temperatursteigerung nach Salzinjektionen vor dem 
Erscheinen der Arbeit von Wiener hingewiesen. 

Wiener macht darauf aufmerksam, daB 3—5 Stunden nach 
der Injektion bei den Kranken sich Schiittelfrost und Temper at ur- 
erhohung bis 39,5° einstellt, die 3—4 Stunden andauert; die 
Paraesthesien verstarken sich bis zu Schmerzen; am zw 7 eiten 
Tage fallt dasFieber ganz, oder man beobachtet nur 'geringe Tem¬ 
peratursteigerung; nur einmal beobachtete der Autor Temperatur¬ 
steigerung nach Injektion von 25 ccm der Salzsolution; weder das 
Alter der Kranken noch ihr Ernahrungszustand scheinen in ur- 
sachlichem Zusammenhange mit dem Fieber zu stehen; Ge- 
wohnung an die Injektionen scheint nicht vorhanden zu sein, 
da Temperatursteigerungen auch nach wiederholten Einspritzungen 
beobachtet wurden. 

Wir miissen hervorheben, daB fast nach einer jeden In¬ 
jektion die Kranken iiber subjektive Frostempfindung klagten, 
die sich objektiv sehr haufig in Temperatursteigerung auBerte, 
welche 3—7 Stunden nach der Einspritzung auftrat und meisten- 
teils am folgenden Tage verging. Wir beobachteten Temperatur¬ 
steigerungen bei alien unsren Patienten nach Injektion von 9 0—30 
bis 60 ccm der Losung, und daher konnen wir Wiener nicht bei- 


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der Ischiasfalle mit Injektionen etc. 


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pflichten, der Dosen von 100—150 ccm angewandt und nur selten 
sich mit Dosen von 25 ccm begniigt hatte, daB kleine Dosen keine 
Temperatursteigerungen hervorrufen; auBerdem zeigen unsre 
Beobachtungen, daB bei weitem nicht immer Temperatursteige¬ 
rungen nach der ersten Injektion der Salzlosung auftreten; dies 
beobachteten wir nur in 3 Fallen (V, VII, IX); in den iibrigen 
Fallen stieg die Temperatur nach der zweiten (Falle II, VI, X) 
und nach der dritten Injektion (Falle I, II, VII); man konnte so- 
zusagen eine kumulative Wirkung der Losung konstatieren, 
die besonders pragnant in Fall IX hervortrat, wo die Temperatur 
nach Injektion von 60 ccm nicht heraufstieg, wohl aber nach 
der folgenden Einspritzung von 30 ccm; Wiener machte seinen 
Kranken 1—2—3 Injektionen, weshalb er auch die Temperatur¬ 
steigerungen nicht beobachten konnte, welche eben nach der ersten 
Injektion auch ausbleiben konnen. 

In unsren Fallen konnten wir das Sichgewohnen an die Salz¬ 
losung beobachten, welches sich darin auBerte, daB die Kranken 
auf die Injektion nicht mehr mit einer Temperatursteigerung 
reagierten; auch in deser Beziehung gehen wir mit Wiener aus- 
einander; der betreffende Autor konnte diese Gewohnung nicht 
beobachten, was wohl damit zu erklaren ist, daB beim Maximum 
von 3 Injektionen, die ein Kranker erhielt, diese Gewohnung 
sich nur in einigen wenigen Fallen entwickeln konnte. Es muB 
bemerkt werden, daB die Gewohnung an die Losung gewohnlich 
rasch schwindet, ungefahr nach Verlauf von zwei Wochen; dann 
rufen neue Injektionen wieder Temperatursteigerung hervor; 
zuweilen entwickelt sich die Gewohnung sehr langsam; z. B. im 
Falle VII erzeugte sogar die zwolfte Injektion noch eine geringe 
Temperaturerhohung; zuweilen ruft beim Kranken, der schon 
aufgehort hat, auf die Einspritzung mit einer Temperatursteige¬ 
rung zu reagieren, die nachste Injektion dieselbe wieder hervor 
(ein derartiges Bild sahen wir im Falle X nach der achten, 
im Falle IX nach der elften Injektion u. s. w.) 

Was ist nun der Grund der nach den Salzinjektionen ein- 
tretenden Temperatursteigerung ? 

Wiener gibt an, daB die Injektion der Salzlosung bei Kanin- 
chen eine Temperatursteigerung bis 39,4° hervorruft; subkutane 
Injektion von 100 ccm der Losung steigert auch die Temperatur 
beim Menschen (Kurzwelly ); von einigen Forschern ist die Meinung 
ausgesprochen worden, daB die Temperatursteigerung als Folge 
der mangelhaften Aseptik angesehen werden muB (Bum), jedoch 
wurden die Forderungen des aseptischen Prinzips immer eingehalten. 
Lange schlieBt eine Infektionsursache aus, da die Infektions- 
temperatur einen anderen Typus, Infektionswunden ein anderes 
Aussehen haben; auBerdem tritt eine Temperaturerhohung nach 
Injektion der Salzlosung regelmaBig auf; Resorptionscharakter 
des Fiebers wird durch den Kontrollversuch mit der Luftein- 
blasung, die kein Fieber hervorrief, ausgeschlossen (Sacharzenski ); 
das Fieber wird auch nicht durch die niedrige Temperatur der 


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O s s i p o w , Zur Frage liber die Behandlung 


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Fliissigkeit bedingt, da es auch nach Injektion von einer bis 37.0° 
erwarmten Fliissigkeit hervorgerufen wird ( Raimist ); Lange 
halt das Salzfieber fur ein reflektorisches, reaktives. 

Der Meinung von Wiener zufolge liegen die Griinde der Tem- 
peratursteigerung in der Salzlosung selbst — eine Tatsache, 
die fiir Erwaehsene noch nicht festgestellt ist, den Kinderarzten 
aber schon seit langem bekannt ist ( Meyer, Rietschell); schon die 
Einfiihrung einer 1 proz. Losung per os erzeugt bei Kindem 
Fieber (Meyer, Finkelstein); Meyer beobachtete Leukocytose 
nach Injektion von Salzlosung; in zwei Fallen von Wiener stieg 
die Zahl der weiBen Blutkorperchen von 16 000 auf 18 000. Meyer 
sieht im Salzfieber eine Erscheinung zentralen Ursprungs. 

Ganz vor kurzem hat Wassiljewa darauf hingewiesen, daB 
bei intravendser Einfiihrung von physiologischer Kochsalzlosung 
bei Cholerakranken die Temperatur nach Injektion des zweiten oder 
dritten Liters unter Schiittelfrost bis 38—39° steigt 1 ). 

So wie andere Autoren, schlieBen auch wir in unsren Fallen 
die Infektionsursache der Temperatursteigerung aus dem Grande 
aus, weil 1. wir alle MaBregeln, um dieselbe zu vermeiden, trafen, 
2. auf Grund der Bestandigkeit dieser Erscheinung, 3. auf Grund 
des Fehlens von Symptomen einer lokalen Entziindungsreaktion, 
4. auf Grand der zu kurzen Zeitdauer, die zwischen der Injektion 
der Salzlosung und dem Auftreten des Fiebers liegt. 

Die von uns in mehreren Fallen angewandten Injektionen 
von erwarmter (auf 37,5°) Salzlosung so wie subkutane Ein- 
spritzungen riefen ebenfalls Schiittelfrost und Temperatur¬ 
steigerung her vor. 

Wiener weist auf Biedermann hin, der darauf aufmerksam 
gemacht hat, daB die NaCl-Losung eine irritierende Wirkung 
auf die Muskulatur und die Nervenendigungen beim Frosch 
erzeugt; daraus hat Wiener den SchluB gezogen, daB die Tempe¬ 
ratursteigerung durch die Wirkung der Jonen des Natriums be¬ 
dingt ist. 

Indem wir alles Obererwahnte und den heutigen Stand der 
Lehre iiber das Fieber in Betracht ziehen, miissen wir annehmen, 
daB das NaCl zu denjenigen Stoffen gehort, welche, ins Blut ge- 
langt, eine Reizwirkung auf das warmeregulierende Gebiet des 
GroBhirns ausiiben, aus welchem Grande sich das Fieber entwickelt; 
wir haben keinen Grund, einen derartigen EinfluB des Chlor- 
natriums auszuschlieBen, jedoch ist es auch moglich, daB unter der 
Wirkung desselben febrigene Stoffe frei werden, welche schon 
ihrerseits einen EinfluB auf die Temperaturzentren ausiiben. Indem 
Wiener sich auf die Beobachtung von Car daw bezieht, daB das 
CaCl 2 eine dem NaCl in bezug auf die Nervenendigungen im 
Muskel antagonistische Wirkung entfaltet,empfiehlt er die Injektionen 


1 ) M. W08.8x1 jewa. Zur Frage liber die intravenose Infusion physio¬ 
logischer Kochsalzlo3ung (7 °/ 00 ) bei der Behandlung der Cholerakranken, 
Russki Wratsch. 1910. Nr. 3. 


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der Ischiasfalle mit Injektionen etc. 63 

der Salzlosung durch Einspritzungen folgender Zusammenstellung 
zu ersetzen: NaCl 6,0, CaCl* 0,75 auf 1000,0 Wasser, wobei er 
darauf hinweist, daB er seit Anwendung dieser Losung bei seinen 
Kranken niemals Fieber beobaehtet habe. Der Gerechtigkeit 
wegen muB jedoch bemerkt werden, daB Rieger 1 ) schon friiher 
empfohlen hatte, der Chlornatriumlosung kleine Mengen Chlor- 
calciums oder phosphorsauren Calciums beizumengen. 

Uns auf Wiener stiitzend, versuchten auch wir die von ihm 
empfohlene Losung in einer Reihe von Fallen anzuwenden. 

Die erste Injektion in Menge von 30 ccm erhielt der Kranke VIII; 
nach der Einspritzung stieg die Temperatur bis 40°. 

Im zweiten Fall handelte es sich um eine chronische Affektion des 
N. ischiadicus bei einem Koch; eine Reihe von Injektionen a 30 ccm besserte 
in bedeutendem MaOe seinen Zustand, jedoch war die Injektion von 
Fieber. Schiittelfrost und Teinperatursteigerung gefolgt. 

Der dritte Fall betraf den Kranken D. (IX). der im Oktober 1910 
liber das Wiederkehren vieler Schmerzen in den oberen Abschnitten des 
N. ischiadicus klagte; die Schmerzen schwanden nach zwei Injektionen 
k 30 ccm (am 10. und 14. X.); am Tage der ersten Injektion stieg die Tempe¬ 
ratur auf 37,9°. 

Der merte Fall bezieht sich auf den Kranken A. (X), der im Oktober 1910 
liber Schmerzen im Verlauf des rechten X. ischiadicus klagte; Patient 
erhielt mit gutem Erfolg 5 Injektionen, imd zwar vier zu 60 ccm und eine 
von 90 ccm. Das Maximum der Temperatur betrug 36,9°; im Friihjahr 
stieg die Temperatur zuweilen bis 38,5°. 

Der fiinfte Fall betraf eine Frau, mittleren Alters, welche infolge 
von linksseitiger Ischias 3 Injektionen, den 14., 17. und 20. IX., erhalten 
hatte (30, 30 und 60 ccm), und zwar mit gutem Frfolg; nach den Injektionen 
stieg die Temperatur unter Schiittelfrost und Kopfschmerzen bis 37,2°, 
37,6° und 37,8°. 

Der sechste Fall betraf die Bauerin G., welche am 17. IX. 1910 infolge 
von Ischias dextra ins Hospital aufgenommen wurde; die Krankheit auCerte 
sich in qualenden Schmerzen, welche liber 2 Jahre anhielten. Die ihr bis 
zum 30. X. gemachten Injektionen von 30, 60 und 100 ccm ergaben gute 
Resultate; nach der ersten Injektion stieg die Temperatur bis 37,7°, nach 
den iibrigen nicht iiber 37,5°—37,3°. 

Im siehenten Fall handelte es sich um eine 30 jahrige Frau, welche 
im Laufe von fiinf Monaten an Ischias dextra gelitten hatte; nach 5 In¬ 
jektionen von 60—100 ccm pro dosi genas die Kranke; nach der zweiten 
Einspritzung stieg die Temperatur unter starkem Schiittelfrost auf 39,5°. 

Im achten Fall schwanden die Schmerzen bei einem an Lumbago 
chronica leidenden Herrn mittleren Alters nach fiinf Injektionen a 60 ccm, 
wobei die Temperatur nach den beiden ersten Injektionen unter geringem 
Schiittelfrost bis 37,8° gestiegen war. 

Wenn wir die Temper at urreaktion nach Injektionen der 
Chlornatriumlosung mit Zugabe von CaCl* mit der Reaktion, 
die nach Injektionen dei NaCl-Losung ohne CaCl* eintritt, ver- 
gleichen, gfewinnen wir den Eindruck, als wenn die Beimischung 
von CaCl* diese Reaktion etwas mildere: hohe Temperatur- 
anstiege werden seltener beobaehtet, der Organismus gewohnt 
sich schneller an die Losung, da bei Wiederholung der Injektionen 
Temperatursteigerungen seltener auftreten. Wir konnen jedoch 

1 ) L, Landois , Lehrbuch der Physiologic des Menschen. — Uebers. 
der 8. deutschen Auflage unter Redaction von W. Danilewsky, 2. Aufl. 
Charkow. 1894. S. 694. 


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64 O s s i p o w. Zur Frage iiber die Behandlung 

Wiener nicht beistimmen, daB die von ibm empfohlene Losung 
das Auftreten von Fieber beinahe ganz ausschlieBt. 

In den nachsten fiinf Fallen versuchten wir die Locke sche 
Fliissigkeit zu injizieren (Na Cl — 0,9 Proz., CaCl 2 —0,024 Proz., 
K Cl — 0,02 Proz., NaHCO 8 — 0,02 Proz., Traubenzucker 0,1 
Proz.). 

Der therapeutische Effekt war ein recht befriedigender, 
ungeachtet der Schwere und der Dauer der Erkrankungen. In einem 
Fall stieg die Temperatur nach der erstenlnjektion (60 ccm)bis 38,6°, 
in einem anderen bis 38,0°, in alien iibrigen Fallen, trotz mehrfacher 
Wiederholung der Injektionen, blieb die Temperatur in der Norm. 
Bei dem Kranken VIII, der im Januar und Februar 1911 wieder 
in Behandlung trat, stieg die Temperatur nur einmal bis 37,6°, 
wahrend bei der Behandlung mit Injektionen der Chlornatrium- 
losung die Temperatur 38,6°, bei den Injektionen mit Zugabe 
von Ca Cli beinahe 40° erreichte. 

Wir erhielten den Eindruck, als muBte man der Locke schen 
Fliissigkeit den Vorzug geben. 

Bleiben wir noch bei der Frage stehen, worin nun der Grund 
der wohltatigen Wirkung der erwahnten Behandlung von Neur- 
algien und Neuritiden, speziell des N. ischiadicus liegt. 

Wir heben der Reihe nach folgende Faktoren hervor: Ver- 
wundung des Nerven durch die Nadel, Druck der aus der Nadel- 
offnung herausfliefienden , auf 0° abgekuhlten Salzlosung , womit 
eine weitere traumatische Einwirkung auf den Nerven gegeben ist; 
mechanischer Druck der den Nerv umgebenden Fliissigkeit; die 
nach einigen Stunden auftretende Temperatursteigerung. 

Wiener , Nielssen und andere glauben, daB unter dem EinfluB 
des Druckes der injizierten Losung die entzundlichen Verwachsungen 
und Strange zerstort werden, die sich im Nerv gebildet haben; 
es ist moglich, daB es sich so verhalt; indem ferner die niedrige 
Temperatur auf den Nerv anasthesierend wirkt, erzeugt sie Ver- 
engerung seiner GefaBe, an deren Stelle spater eine Erweiterung 
derselben tritt; die Zirkulationsverhaltnisse und die Ernahrung 
des Nerven werden verandert; bis die injizierte Losung aufgesogen 
wird, stellen sich zwischen derselben und dem Entziindungs- 
exsudat durch die Scheiden des Nerven osmotische Strome ein; 
teilweise dringt die Losung auch in den Nerv an den Stellen, die 
durch die Nadel beschadigt waren, und in Folge hiervon treten 
Veranderungen der Blutzirkulation und der Ernahrung des Nerven 
ein; er wird von der physiologischen Losung durchspiilt. Nicht 
ohne EinfluB bleiben auch die Temperatursteigerungen, die den 
allgemeinen Stoffwechsel im Organismus heben. In den chroni- 
schen Fallen beobachtet man, wie wir es gesehen haben. zuerst 
ei neVerscharfungdesProzesses, der dannallmahlich in volleGenesung 
libergeht; jedoch in den meisten Fallen erleichtern schon die ersten 
Injektionen in bedeutendem MaBe den Zustand der Kranken. 

Auf Grund des Obenerwahnten fiihlen wir uns berechtigt, 
folgende Schliisse zu ziehen: 


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der Ischiasfalle mit Injektionen etc. 


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1. Die Behandlung der Neuralgien und Neuritiden des N. 
ischiadicus (Ischias) mit Injektionen von abgekiihlter Salz- 
losung (Na Cl) stellt an sich eine wertvoile Methode dar, welche sehr 
gute Resultate gibt, sogar bei Erkrankungen, die schon mehrere 
Jahre dauern. 

2. Giinstige Erfolge erzielten wir in unsren Fallen bei Er¬ 
krankungen versehiedenen Ursprungs: Erkaltungsinfektion, Alko- 
holintoxikation, Trauma. 

3. Diese Methode gibt gute Resultate auch in den Fallen, wo 
andere Verfahren im Stich lassen. 

4. Die Methode ist billig und bedarf keiner komplizierten 
Vorrichtungen, wie z. B. die Behandlung mit Schlamm und Salz- 
badern oder schottlandischen Douchen; dazu muB noch hinzu- 
gefiigt werden, daB die Schlammbehandlung nicht selten kontra- 
indiziert ist und einige nicht wiinschenswerte Folgen nach sich 
zieht. 

Zur erfolgreichen Behandlung kann die Losung in Mengen 
von 50 bis 60 ccm pro dosi injiziert werden; bei Anwendung von 
100 ccm pro dosi haben wir keine besseren Resultate beobachten 
konnen. 

6. Einige Stunden nach der Injektion werden die Schmerzen 
haufig starker. Diese Exazerbationen beobachtet man auch 
nach Wiederholung der Injektionen; haufig treten nach Ab- 
klingen der Schmerzen auf der Hohe des Oberschenkels heftige 
Schmerzen in der Wadengegend auf. 

7. Die Verscharfung der Schmerzen vergeht oft unter dern 
EinfluB warmer Kompressen oder Massage, welche Mittel vor der 
Injektion keine merkliche Wirkung ausuben konnten. 

8. Man kann die Injektionen nicht nur im Verlauf des N. 
ischiadicus ausfiihren, sondern auch entsprechend den Schmerz- 
punkten der Glutaalgegend iiberhaupt (Nn. glutaei, Nn. cutanei 
femoris posteriores). 

9. In chronischen Fallen, die hauptsachlich unser Material 
ausmachten, sind wir genotigt, wie es die Beobachtung an statio- 
naren Kranken zeigte, um vollen Erfolg zu erzielen, eine Reihe von 
Injektionen auszuftihren, und zwar in Mengen von 10—15—20 ccm 
und in einigen Fallen auch mehr. Bei akuten Fallen sind 
Injektionen nicht kontraindiziert, jedoch muB man zuerst andere 
Behandlungsmethoden versuchen. 

10. Auf Grund unsres Materials konnen wir Falle von Heilung 
chronischer Erkrankungen nach 1—2 Injektionen nicht bestatigen. 

11. Die bei dieser Behandlungsmethode erzielten Resultate sind 
dauerhaft; Rezidive sind jedoch selbstverstandlich nicht aus- 
geschlossen. 

12. Einige Stunden nach der Injektion treten gewohnlich bei 
den Kranken Fieber und Schiittelfrost auf, die von Temperatur- 
steigerung begleitet werden; es konnen sogar nach Injektion 
von 20 ccm bedeutende Temperaturerhohungen (bis 39°) be¬ 
obachtet werden; zuweilen steigt die Temperatur auch bei Wieder- 

Mouaf.sschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Pd. XXX. Heft 1. 5 


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XXXVI. Wanderversammlung der sudwestdeutschen 


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holung der Injektionen; Gewohnung an die Injektionen im Sinne 
des Fehlens von Temperatursteigerung tritt nicht immer auf; 
die hohe Temperatur halt sich einige Stunden, jedoch werden 
Schwankungen derselben nicht selten noch am nachsten Tage 
konstatiert. Das Maximum der von uns beobachteten Temperatur¬ 
steigerung betrug 39,6°. 

13. Es ist uns nicht gelungen, den Grad der Temperatur- 
reaktion mit einer bestimmten Konstitution der Kranken in 
Zusammenhang zu bringen. 

14. Die Temperatursteigerung wird durch den EinfluB des NaCI 
als solchen durch das Blut auf das Zentralnervensystem bedingt. 

15. Die Behandlung mit Salzinjektionen muB an stationiiren 
Kranken bevorzugt werden. 

16. Bei Anwendung der Chlornatriumlosung mit Zugabe 
von CaCl* (nach Wiener) gewinnt man den Eindruck, als verliefe 
die Temperaturreaktion etwas milder, jedoch sind Temperatur- 
steigerungen auch bei dieser Zusammensetzung der zu injizie- 
renden Losung durchaus nicht ausgeschlossen. Noch giinstiger 
scheint die Anwendung der Xoc/reschen Fliissigkeit. 

17. In den Fallen, wo die Temperatursteigerung infolge 
dieser oder jener Bedingungen gering ist, wie z. B. bei Tuberkulose, 
bei Storungen der Kompensationen der Herztatigkeit, bei stark 
ausgesprochener Arteriosklerose u. s. w., ist die Behandlung mit 
Injektionen der Salzlosung ebenfalls kontraindiziert. 

18. Die giinstige Wirkung der Salzinjektionen auf den Verlauf 
der chronischen Neuritiden des N. ischiadicus w'ird bedingt 
durch den EinfluB der Temperatur und die Zusammensetzung 
der zu injizierenden Losungen, so wie auch durch die Methode 
der Anwendung selbst; die sich dabei entwickelnden osmotischen 
Prozesse haben ohne Zweifel grofle Bedeutung; die Exazerbation 
des chronischen Prozesses und vielleicht auch die unter dem 
EinfluB der Injektionen auftretenden Temperatursteigerungen 
miissen als Faktoren betrachtet werden, die den Erfolg der Be¬ 
handlung begiinstigen. 


XXXVI. Wanderversammlung der sudwestdeutschen Neurologen 
und Irrenarzte in Baden-Baden am 20. und 21. Mai 1911. 

Referent: Hugo Levi- Stuttgart. 

Prof. Gerhardt -Basel eroffnete als 1. Geschaftsfiihrer die gut besuchte 
Yorsammlung. Er gedachte zunachst der Toten und unter ihnen besonders 
Leydens, der wahrend seiner StraBburger Zeit Mitglied der Gesellsehaft war. 

Den Vorsitz fiihrten AV6-Heidelberg in der 1. Sitzung, Sckultze -Bonn 
in der 2. und ifocfo-Freiburg i. B. in der 3. Sitzung. Als Thema fur die 
naehstjahrige wieder in Baden-Baden stattfindende Versammlung wurde 
bestimnit: „Die klinischen Friihsymptome der zentralen Arteriosklerose** 
und zum Referenten J?dcfce-Frankfurt a. M. bestellt. 


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Xeurologen und Irrenarztc in Baden-Baden. 


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Vortrage: 

Schultze- Bonn berichtet iiber neue Beobachtungen bei Tetanie, die 
zunachst bestatigen, daB wenigstens in den von ihm beobachteten Fallen 
stets das „Zungenphanomen“ vorhanden war, d. h. bei Beklopfung der 
Zunge auf der Zahnunterlage eine tiefe, lange andanernde Dallenbildung 
an der beklopften Stelle auftrat. Es handelt sich bei diesem Zungenphanomen 
also nicht um ein Symptom, das fiir die Thomsensche Erkrankung charakte- 
ristisch ist, auch nicht um die sogenannte idiomuskulare Zuckung. 

Sodann sah er von neuem in einem Falle von schwerem, lange 
andauemdem Darmleiden eine sehr lange Xachdauer von Muskelkontrak- 
tionen, besonders in den Gesichtsmuskeln, sowohl bei einmaligen, als auch 
bei sich summierenden geringeren mechanischen Reizen. Dabei war durch 
faradische Reize keine derartige Xachdauer zu erzielen; nur an einzelnen 
Armmuskeln gab es nach starken galvanischen Stromen eine geringe Xach¬ 
dauer. Eine Erklarung dafiir, daB sich summierende mechanische Reize 
eine Xachdauer hervorrufen, elektrische aber nicht, kann der Vortragende 
nicht geben. Autoreferat. 

Xonne-Hamburg-Eppendorf bespricht an der Hand eines Materials von 
167 Fallen von Tabes dorsalis, 

179 ,, ,, Paralyse, 

97 ,, verschiedenen Formen von Lues cerebri. 

Lues spinalis und Lues cerebrospinalis, 

68 ,, ,, multipier Sklerose, 

14 ,, ,, Tumor spinalis (extra- und intramedullar), 

38 ,, ,, Tumor cerebri, 

von denen die meisten zirka zwei Jahre unter Beobachtung gestellt resp. 
zur Sektion gekommen waren, den differentialdiagnostischen Wert der 
„vier Reaktionen". Es wird der Wert der 

1. Lymphozytose, 

2. Globulin- (Phase I) Reaktion, 

3. Wassermann-Reaktion im Blut, 

4. Wassermann-Reaktion im Liquor spinalis 
einzeln betrachtet. 

Die differentialdiagnostisch schwierigen Falle, fur welche der Wert 
der ,,vier Reaktionen 44 , an der Hand der Xachuntersuchungen betrachtet, 
sich als praktisch wertvoll ergibt, teilt N. ein in: 

1. Falle, die auf psychischem Gebiet leichte Anomalien bieten bei 
positiver Syphilis-Anamnese, ohne daB somatische Anomalien am Xerven- 
system sich finden, 

2. Falle, die somatisch und psychisch bei positiver Syphilis-Anamnese 
auf Paralyse verdachtig sind und auf Grund der Reaktionen sich als Xicht- 
Paralysen erwiesen, 

3. Falle, in denen Paralyse auf Grund der ,,vier Reaktionen 44 ganz 
friih diagnostiziert wurde, 

4. isolierte Pupillen-Anomalien ohne psychische Anomalien bei syphi- 
litischer Anamnese, 

5. Paralyse bei Alkoholisten oder Alcoholismus chronicus bei syphi- 
litisch Gewesenen ? 

6. Lues cerebri oder Paralyse ? 

7. Lues cerebri oder Tumor cerebri (mit und ohne Syphilis in der 
Anamnese) ? 

8. Lues cerebri als arteriitische Form oder Arteriosclerosis cerebri bei 
syphilitisch Gewesenen ? 

9. Gesellt sich zu eine» Tabes eine Paralyse ? 

10. Lues cerebrospinalis oder nicht-syphilogene Erkrankung des 
Zentralnervensystems bei syphilitisch Gewesenen? 

11. Tabes und Paralyse auf hereditarer Basis. 

N. kommt zu dem SchluB, daB die kombinierte Anwendung der „vier 
Reaktionen 44 in der Hand des Kundigen eine sehr wertvolle Forderung 
unseres differentialdiagnostischen Konnens darstellt. N. betont aber, daB 
die Klinik nach wie vor das erste Wort sprechen muB, und daB die neuen 

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XXXVI. Wanderversarmnlung der siidwestdeutschen 


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Untersuchungsmethoden die Rolle einer Dienerin. nicht einer Fuhrerin bei 
der Differentialdiagnose zu spielen haben. (Der Vortrag erscheint aus- 
fiihrlich in der ,,Deutschen Zeitschrift fur Nervenheilkunde‘\) 

Autoreferat. 

TreupeZ-Frankfurt: Die Salvarsan-Therapie bei Lues des Zentral- 
nervensystems, bei Tabes und progressiver Paralyse. 

Die klinische Priifung des Dioxydiamidoarsenobenzols hat in den 
verschiedenen Stadien der Lues so gute und prompte Wirkungen ergeben. 
dafi die Anwendung des neuen Arsenpraparates auch bei Lues des Zentral- 
nervensystems und weiterhin bei Tabes und Paralyse versucht wurde. Im 
ganzen sind auf der Klinik des Vortragenden bis jetzt 62 Falle mit liber 
100 Injektionen behandelt Worden, und zwar 14 Falle von Lues des Zentral- 
nervensys terns, 26 Falle von Tabes dorsalis und 22 Falle von Paralyse. 

Die besten und dauerhaftesten Erfolge waren bei frischer Hirnlues 
zu verzeichnen. Femer reagierten aueh solche Falle von Lues des Zentral- 
nervensysterns auf die Salvarsan-Injektionen noch gut, die vorher mit Hg 
\md Jod vergeblich behandelt waren. In anderen, besonders veralteten 
Fallen versagte aber auch das Salvarsan. 

Wo schon vorgeschriUene Degenerationen vorhanden sind. erscheint 
die Salvarsan-Therapie berechtigt nur von dem Gesichtspunkte aus, eventuell 
damit noch vorhandene Spirochaten abtoten und so einen Stillstand der 
Krankheit erreichen zu konnen. 

Bei Tabes wurden Bessenmgen der lanzinierenden Schmerzen, der 
Parasthesien, der Ataxie erzielt. Allein diese Bessenmgen waren nicht von 
langer Dauer. Die Reinjektion brachte dann wieder den wesentlich sub- 
jektiven Erfolg. Die Wtissermanmche Reaktion im Blut und im Punktat und 
Nonne Ph. I werden wohl vorubergehend durch die Injektionen beeinflufit. 
Doch zeigen diese drei Reaktionen nicht immer ein gleichsinniges Verhalten. 

Aehnlich liegen die Verhaltnisse bei der progressiven Paralyse , wo in 
einem Drittel der Falle Bessenmgen, d. h. Milderung des schroffen Stim- 
mungswechsels, Besserung der Sprache und Schrift beobachtet werden 
konnten. In alien Fallen hob sieh das, Allgemeinbefinden und trat eine nicht 
unwesentliche Geunchtszunahme ein. 

Alles in allem halt der Vortragende die Salvarsan-Therapie bei den 
organischen Erkrankungen des Xervensystems auf luetischer Gnmdlage 
fiir erlaubt, wenn die Zeit zwischen der urspriinglichen Infektion und dem 
Beginne des Leidens noch nicht zu lang und das Leiden selbst noch im 
Beginne ist. Die Injektionen, bis zu drei im Einzelfalle in einer Gesamtdosis 
von 1,2 g, wurden stets nur auf den ausdriicklichen Wunsch des Patienten 
oder der behandelnden Aerzte vorgenommen. Autoreferat. 

Eduard Midler- Marburg: Die Serodiagnose der epidemischen Kinder- 
lahmung. 

Die sogenannte spinale Kinderlahmung ist das Endprodukt einer 
akuten, ganz spezifischen Infektionskrankheit, die Immimitat zu hinter- 
lassen pflegt. Diese durch das Affenexperiment sichergestellte Immunitat 
lafit das Auftreten spezifischer Antikorper im Blutserum erwarten. Der 
Antikorpernachweis ist tatsachlich zunachst beim Affen gelungen, und zwar 
in gleicher Weise wie bei der Hundswut; das am Zentralnervensystem 
haftende Virus wird auf Affen intracerebral verimpft; die Tiere erkranken 
an Poliomyelitis. Werden aber gleiche Mengen von Poliomyelitis vorher 
im Reagenzglase mit dem Blutserum immuner Tiere zusammengebracht 
und erst dann verimpft, so bleiben die Tiere ganz gesund, das Virus wird 
eben durch das Immunserum in vitro seiner Infektionskraft beraubt. 

Mit Hilfe dieser Methode wurde in gemeinschaftlichen Versuchen mit 
Rdmer-Marburg und im Einklang mit gleichlaiitenden Befunden aus- 
landischer Autoren festgestellt, dali der Antikorpernachweis in gleicher Weise 
auch bei Menschen , die eine Poliomyelitis iiberstanden haben, gelingt, und 
damit die Mbglichkeit einer Serodiagnose der epidemischen Kinderlahmung 
gegeben ist. Die Antikorper fehlen (wenigstens in gleicher Menge und im 
normalen Serum des Sauglings- und Kindesalters) beim Gesunden, d. h. 
beim niemals Poliomyelitisinfizierten; im Gefolge der epidemischen Kinder- 


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Neurologen Lind Irremirzte in Baden-Baden. 


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lahmung pflegen sie bald im Blutsennn aufzutreten nnd sich jahrelang, 
ja vielieicht jahrzehntelang zu halten. In einem typischen Fall von dbortiver 
Kinderlahmung, d. h. einer Poliomyelitisinfektion, bei der sieh das Leiden 
ohne spatere Lahmungen gewissermaBen in den fieberhaften Vorlaufer- 
erscheinnngen erschbpfte. war die Serodiagno.se positiv. Sie hat damit den 
Beweis geliefert, daB es solche abortiven Fiille tatsaehJieh gibt. Der negative 
Ausfall sprach bei einer solchen auf abortive Kinderlahnmng verdachtigen 
Erkrankunggegendie Poliomyelitisinfektion. — Das Senimeinesabgelaufenen 
sporadischen Falles neutralisierte das Virus der epidemischen Kinderlahmung 
in gleicher Weise wie die epidemischen Falle; gleiehes fanden in Frankreieh 
Nelter und Levaditi. Die sehon aus klinisehen Griinden unwahrscheinliche 
Annahme einer prinzipiellen Wesensversehiedenheit zwisehen sporadischer 
und epideinischer Kinderlahnmng ist damit gef alien. Audi in einem typischen 
Fall von alter cerebraler Kinderlahnmng war die Serumreaktion positiv. 

Hinweis auf die Nachteile der Methode (Kostspieligkeit. technische 
Schwierigkeiten. lange Versuehsdauer. Besitz von vollvirulentem Virus, 
Fehlerquellen des Kontrollversuchs u. s. w.). Die klinische Beweiskraft 
der Methode erscheint in Fallen des friihen Kindesalters viel groBer als bei 
Erwachsenen; die letzteren reogieren mbglieherweise infolge einer friiheren 
abortiven und anamnestisch kaum feststellbaren Poliomyelitis positiv’. Die 
Serodiagnose eignet sich weniger fiir den Einzelfall und die Praxis als fiir 
die weitere wissenschaftliche Klarung klinischer und epidemiologischer 
Fragen (z. B. nach dem Vorkommen reiner ,.Virustrager“). In atiologisch 
nnklaren todlichen Fallen akuter Erkrankungen des Zentralnervensystems 
soli man sich nicht mehr nut der pathologisch-histologischen I ntersuchung 
begniigen, sondern zur Erkennung der klinisch so vielgestaltigen Infektion 
mit dem Virus der epidemischen Kinderlahnmng auch das Impfverfahren 
heranziehen und frische Partikel aus versehiedenen Abschnitten des Zentral- 
nervensystems fiir den spateren Affenversuch von vornherein in Glyzerin 
legen. Autoreferat. 

Paul H. Rdmer- Marburg: Experimented Beitrage zur Poliomyelitis- 

frage. 

Im ersten Teil seiner Mitteilungen geht der Vortragende auf einige 
Fragen der Poliomyelitisforschung ein. fiir die gerade die experimentslen 
Studien beachtenswerte Beitrage geliefert haben. und auf die bisher wenig 
geachtet wurde. 

Uebertragungsversuche des Poliomyelitisvirus auf den Affen haben 
ergeben. daB es durchaus nicht immer gelingt. mit (iehirn-Riickemnark 
poliomyelitischer Menschen den Affen zu infizieren, wahrend das eimnai 
im Affen angegangene Virus sich sehr konstant von Tier zu Tier weiter- 
verimpfen laBt. Daraus ergibt sicli die beachtenswerte SehluUfolgerung. 
daB man die Heine-Med ins die Krankheit nicht ausschlicBen dart', wenn in 
einem gegebenen Falle die IVbertragung auf einen Affen auch bei Benutzung 
optimaler Versuchsbedingungen olme Effekt ist. Weiter laBt sich der 
theoretische WahrscheinlichkeitsschluB ableiten. daB das Virus der Polio¬ 
myelitis bei der Uebertragung auf den Affen eine gewi.sse biologische 17/*- 
stimmung erleidel, eine Tatsache. die nicht nur biologisch interessant, sondern 
-eventuell auch fiir Fragen der Schutzimpfung von Bedeutung ist. 

Das klinische Bild der experimentellen Affenpoliomyelitis wiederholt 
sehr getreu die vielgestaltigen Symptomenbilder der Heine-Medinschen 
Krankheit des Menschen. Zwar ist die spinale Lahmung auch hier die 
haufigste Form, daneben kommen aber sehr haufig auch die unter dem Bilde 
der Landrysvhcn Paralyse verlaufenden Erkrankungen. sowie bulbar© und 
pontine (Facialis-. Hypoglossus- und Oculomotorius-Lahmungen). ferner 
auch rein cerebrale sowie endlieh die fiir die menschliche Epidemiologic 
so bedeutungsvoll gewordenen abortiven Formen vor (Demonstration der 
verschiedenen klinischen Formen im Bilde). Diese Erfahrungen am Affen 
bilden also einen erneuten Beweis dafiir. daB die spinale Kinderlahmung 
sensu strict iori nur eine Teilerscheinung eines atiologisch einheitlichen Krank- 
heitsprozesse-s mit sehr verschiedenartigen Symptomen ist. 


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XXXVI. Wanderversammlung der siidwestdeutschen 


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Die friiher viel diskutierte Frage, ob das Virus der Poliomyelitis primar 
in den Ganglienzellen oder primar im Interstitium angreift, mufi von der 
experimentellen Poliomyelitisforschung zunachst dahin beantwortet werden, 
daB es zweifellos ein primares Befallenwerden der Ganglienzellen gibt. 
Beweisend sind hierfiir die besonders in den sehr akuten Fallen beobachteten 
isolierten Neuronophagein der motorischen Vorderhomganglienzellen. In 
den langsamer verlaufenden Prozessen spielen aber auch die interstitiellen 
Prozesse eine bedeutsame Rolle und rufen vermutlich erst sekundar die 
Ganglienzellendegeneration hervor. Fur die akuten Falle ist demnach die 
alte Charcotsche Lehre zutreffend, wahrend in den langsamer ver¬ 
laufenden die interstitiellen Veranderungen fur das Zugrundegehen der 
Ganglienzellen maBgebend sind. Die besondere Bevorzugung der Vorder- 
horner erklart sich neben den elektiven Beziehungen des Virus zu den 
Ganglienzellen aus dem reichen Lymphgehalt des Vorderhorns; denn die 
experimentelle Poliomyelitisforschung hat neben der besonderen Affinitat 
des Virus zum Zentralnervensystem auch seine besonderen Beziehungen 
zum Lymphapparat nachgewiesen. 

Im zweiten Teil des Vortrags wird iiber die atiologische Aufklarung 
einer bis dahin unbekannten Meerschweinchenerkrankung berichtet. die in 
ihrem klinischen Verhalten (schlaffe Lahmungen, besonders der hinteren 
Extremitaten) sehr an das Bild der menschlichen Kinderlahmimg erinnert. 
Die Ursache der Erkrankung ist ein vom Vortragenden nachgewiesenes 
lebendes Virus, das durch die erkannten Eigenschaften einer betracht lichen 
Glyzerinwiderstandsfahigkeit sowie einer Filtrierbarkeit durch bakterien- 
dichte Filter zu der Gruppe der sogenannten filtrierbaren Virusarten gehort , 
dem auch der Erreger der Heine- Medinschen Krankheit angehort. Das Virus 
findet sich besonders im Zentralnervensystem der gelahmten Tiere und ist 
durch intracerebrale Verimpfung von Tier zu Tier leicht verimpfbar. Patho- 
Jogisch-histologisch findet sich eine Meningo-Myelo-Encephalitis infiltrativa 
von hauptsachlich lymphozytarem Typus. Wenn auch die Berv^orzugung 
der Meningen, sowie einige andere Befunde gewisse Unterschiede zum Bilde 
der menschlichen Poliomyelitis zeigen, so sind im ubrigen die Aehnlichkeiten 
doch frappant. 

Der Vortragende erhofft durch das Studium dieser neuen inter- 
essanten Tierkrankheit Fortschritte auch fiir die Erforschung und Be- 
kampfung der menschlichen Kinderlahmimg. Autoroferat. 

von Gratencr-Tiibingen zeigt: 1 . eine einfache Methode, durch welche 
man vermittels eines Farbenkreisels, auf dem moglichst genau die Spektral- 
farben in doppelter Reihenfolge aufgetragen sind. bestimmte Farben durch 
Verdecken mit dunklen Sektoren herausnehmen und die dann iibrigbleibenden 
Farben durch Drehung des Kreisels vorweisen kann. 

Lehrreich ist beispielsweise die Herstellung des Blutspektrums durch 
Verdeckung gewisser Abschnitte in Griin und Violett und das Uebrigbleiben 
einer Farbe, die einer verdiinnten Blutlosimg ahnlich ist; 

2. weist er darauf hin, da!3 man namentlich fiir Studierende einen 
sehr einfachen und billigen Zahlapparat fiir rote Blutkorperchen herrichten 
kann. wenn man sich eine feste Kammer von 0.1 mm Hohe herstellt imd 
die in sie gebrachten Blutkorperchen vermittels eines in das Okular des 
Mikroskops eingesetzten Diaphragmas zahlt. Das Diaphragma soli z. B. 
genau 1 / 400 mm des Objekts freilassen. Verschiebt man das Objekt in zweck- 
maBiger Weise. so gelingt es, die Zahl der Blutkorperchen durch vieifache 
Zahlungen genau festzustellen, indem iinmer die in einem quadratischen 
parallelepipedi8chen Kama von 0,1 mm Hohe und 1 / f0 nun Seite befind- 
lichen Blutkorperchen, welche eben in dem quadratischen Diaphragma 
erscheinen, ausgezahlt werden. Autoreferat. 

Rud. Laudenheimer- Alsbach-Darmstadt: Zur Symptomatologie und 
Behandlung des Morphinismus. 

Bei der Neigung des Morphiiunkranken, den Arzt zu tauschen, bei 
der Unsicherheit der zum Teil auch der Simulation zuganglichen sogenannten 
objektiven Abstinenzerscheinungen ist die Gewinnung wirklich objektiver 
Beobachtungsmethoden wichtig. L. fand eine solche in der regelmaBigen 


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Neurologen und Irrenarzte in Baden-Baden. 


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Bliltdruckmessung ( Riva-Rocci) wahrend der Abstinenzkur. Im Gegensatz 
zu Erlenmeyer, der in der Abstinenz Blutdruckverminderung (Angioparese) 
und nach Morphium Dmcksteigerung fand, stellte L. ein zunehmendes 
Steigen des Blutdruckes wahrend der Abstinenz fest. Bei raschen Ent- 
ziehungen (5 bis 10 Tage) zeigt eine durch tagliche Eintragung der Tono- 
meterzahlen und der Morphium-Tagesdosis hergestellte Kurve eine typische 
Gegenbewegung beider Linien: Abfall der Morphium-. Anstieg der 
Drucklinien. Bei langsamer Entziehung bezw. Reduktion ist diese Gegen- 
bewegimg im Gesamtverlauf nur angedeutet, aber doch erkennbar. Cha- 
rakteristischer ist hier die Tonometerwirkung der i^mzeZinjektion. Die 
Einzeldosis ruft eine um so starkere Druckemiedrigung hervor, je geringer 
die Tagesdosis im Verlauf der Entziehung wird. Die Zeiten der Hoch- 
abstinenz fallen immer auch mit hohen tonometrischen Werten zusammen. 
Aus diesen Tatsachen ergibt sich eine tonometrische Charakteristik der 
Morphiiunabstinenz. Abweichungen von dem typischen Kurvenverlauf 
geben begriindeten Verdacht auf heimliehen Morphiumgebrauch wahrend 
der Entziehungskur und fiihren, wie an einer Kurve demonstriert wird. zur 
Entlarvimg des Patienten. Es ergeben sich femer aus dem Druckabfall, 
der den einzelnen Injektionen folgt, wichtige Fingerzeige fur das Morph iuni- 
bediirfnis des Korpers, und damit fur das Tempo der Reduktion bei schwach- 
lichen Patienten. Autoreferat. 

Max Mei/er-StraBburg: Zur Frage der Toxizitat des Epileptikerblutes. 
(Autoreferat.) 

Zur Priifung der Frage des toxischen Verhaltens des Blutes genuiner 
Epileptiker wurde defibriniertes Blut, das diesen zu verschiedenen Zeiten — 
sowohl im Anfall, wie in anfallsfreien Intervallen — entnommen war, Meer- 
schweinchen intraperitoneal in Menge von 10—15 ccm injiziert. Gleich- 
zeitig wurden stets Kontrollversuche an Nicht-Epileptikem (Traumatikern 
oder Neurasthenikern) angestellt. Die bisher an 31 Versuchstieren vorge- 
nommenen Injektionen brachten folgendes Ergebnis: von 11 mit Normalblut 
behandelten ging eines nach wenigen Krampfen, ein anders infolge von 
Darmverletzung ohne Krampfe am nachsten Tage ein; die iibrigen neun 
zeigten keinerlei Erscheinimgen. Von lOTieren, denen Anfallsblut injiziert 
wurde, bekamen neun in einem Abstand von 1—5 Stunden nach der In- 
jektion — je nach Menge und je nach Schwere der Erkrankung — typische 
klonisch-tonische Krampfe unter Seitwartsfalien der Tiere, die serienweise 
6—12 an der Zahl, auftraten. Zwei Tiere, denen Blut von einem Kranken. 
der sich im postepileptischen Dammerzustand befand, injiziert wurde. 
blieben anfallsfrei. Wurde das Blut in den anfallsfreien Intervallen ent¬ 
nommen, so kam es darauf an. wie lange der letzte Anfall zuriicklag, und 
vor allem, wie schwer die Erkrankung des Betreffenden war — teils traten 
Krampfe ein mit anschlieOendem Exitus des Tiers, teils Exitus ohne Krampfe, 
toils keine Erscheinungen. Es wurden die Tiere. die am Leben geblieben 
waren, zum zweitenmal mit der gleichen oder einer groflerenDosis behandelt, 
und zwar in der Zeit zwischen dem zweiten und vierten Tag nach der ersten 
Injektion. Drei Tiere, die mit anfallsfreiem Blut gespritzt wurden, zeigten 
dabei gar keine Erscheinimgen; von 10 Tieren, die Anfallsblut bei der 
zweiten Injektion bekamen, zeigten sechs keine Reaktion — vier eine 
schwachere und spater auftretende, als bei der erstmaligen Injektion. Hin- 
Bichtlich der Deutung dieser Versuche iibt Verf. strengste Zuruckhaltung, 
glaubt aber, aus den Versuchen jedenfalls den SchluO ziehen zu konnen. 
daO die Annahme einer „toxamischen Epilepsie 44 nicht — wie das noch vor 
wenigen Jahren durch Kauftnann geschah — so kurz von der Hand zu weisen 
ist. Weitere Versuche, um dem Wesen der krampferregenden Substanz 
naher zu kommen und Analogien mit anderen Giften Kolloidartiger Natur — 
um ein solches diirfte es sich nach anderweitig gemachten Untersuchungen 
voraussichtlich handeln — sind bereits im Gange. 

Xoeu^e-Leipzig berichtet im AnschluO an den Afeyerschen Vortrag 
kurz, daO er bereits seit drei Jahren, in Anwendung eines Hofmeisterschen 
Ideenganges, die von Meyer berichteten Resultate mit dem kolloidalen Anted 
desEpileptikerbluts erzielte. Erfindet diesen An teil spezifisch toxisch und ruft 


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XXXVI. Wanderversammlung der siidwestdeutschen 


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mit ihm epileptiforme, serienweise auftretende Krampfe im Tierversuch 
hervor. und zwar mit Mengen, welche, vom Xorraalen gewonnen. niclit 
toxisch sind. wahrend er die gleichen Substanzen, von verschiedenen 
Psychosen gewonnen, zwar auflerordentlich toxisch, aber nicht krampf- 
erregend findet. L. verweist auf die bevorstehende Publikation seiner 
Untersuchungen. Autoreferat. 

Leopold Awer6ac/i-Frankfurt a. M.: Das Wesen der Neiirofibrillen. 

DaC die Neurofibrillen recht inkonstante Gebilde sein miissen, lehren 
schon die Angaben der Schule Cajals iiber die Uinformung jener Eiemente 
im Zustand der Ruhe und vornehmlich der Kaltestarre. W&hrend aber der 
Umwandlung bei Winterschiafern eine Einbutfe an funktioneller Leistungs- 
fahigkeit parallel geht, beobachtete der Vortragende an Froschnerven, 
welche er mit isotonischer oder hypertonischer NaCl - Losung be- 
handelte, wie umgekehrt eine ausgezeichnet erhaltene Erregbarkeit trotz 
einer geradezu erstaunlichen Auflosung des Strukturbildes fortbestehen 
kann. Demgegeniiber erhebt sich um so eindringlicher die Frage nach dem 
Wesen der normalen Neurofibrillen im Nervensystem der Vertebraten. 
In den hierauf gerichteten Untersuchungen ward der N. ischiadicus des 
Frosches teils in Osmiumsaurelosung von der Temperatur des Gefrier- 
punktes, teils in Osiniumsauredampf. der mit Kohlensaureschnee gekiihlt 
wurde, teils in 96 proz. Alkohol, der in gleicher Weise auf etwa — 50 bis 
60° C. gebracht wurde, fixiert und alsdann nach Bethes Vorschriften weiter- 
behandelt sowie mit Toluidinblau gefarbt. 

Es ergeben sich. wie die demonstrierten Zeichnungen dartun, im nicht 
geschrumpften Achsenzylinder neben typischen Fibrillen wechselnde Bilder, 
welche von einem mehr oder minder zarten Netzwerk bis zu den aller- 
feinsten Liniensystomen, an die Grenze der mikroskopischen Sichtbarkeit 
reichenden Striehelungen, aus subtilsten Fadchen nebst minimalenKornchen- 
reihen zusammengesetzten Schraffierungen herabgehen oder auch einen 
nahezu homogenen Charakter gewinnen. 

Wahrend man die letztere Form schon unwillkurlich als ein Gerinnungs- 
produkt auffassen wird, lassen auch die iibrigen Befunde, zwischen denen 
in einem und demselben Praparat bisweilen ein kontinuierlicher Uebergang 
vorhanden ist, keine andere Deutung zu, als dafi durch Entmischung aus 
einer urspriinglich im wesentlichen homogenen kolloidalen Masse je nach 
den aufleren Bedingungen die gewohnlichen Neurofibrillen oder zarte Netze 
oder ungemein feine Gerinnsel mit regelmafiiger, paralleler Streifung zur 
Abscheidung gelangen. Gegen den Ein wand, dafi bei solchem Verfahren 
praformierte Neurofibrillen dirrch das Gefrieren gesprengt und zerstort 
werden, sprechen folgende Griinde: 

1. An den betreffenden, von einem wohl konservierten Markmantel 
umhiillten Achsenzylindern fehlen Risse, Liicken, iiberhaupt jegliche Spuren 
einer Destruktion. 

2. Eine Zersplitterung kann nicht die Entstehung solcher regel- 
maBigen, parallelen Linien erklaren, die in ihrer Anordnung mit den Bethe- 
schen Fibrillen iibereinstimmen und sich von ihnen bio 13 durch ihr minimales 
Kaliber und ihre weit dichtere Lagerung unterscheiden. 

3. Auch an dem in iiblicher Weise osmierten Riickenmark (Fiscli: 
Warneke ; Taube: der Vortr.) lassen sich in mancher Hinsicht analoge Ge- 
rinnungen feststellen. 

Der Wert des Febrillenbildes als eines Aequivalentbildes wird hier- 
durch nicht angetastet, wahrend freilich die Neurofibrille zur Erklarung 
physiologischer Leistung nicht herangezogen werden darf. Autoreferat. 

Nach Herrn Edinger beweist die Methode, mit der A. nachweist, daO 
es keine Fibrillen gibt, gar nichts. 

Steiner- StraUburg: Untersuchungen an peripheren Nerven bei meta- 
luetischen Erkrankungen. 

Neben den bei Tabes und Paralyse am peripheren Nerven hinsiclitlich 
der eigentlichen Nervensubstanz von anderen Autoren beschriebenen Ver- 
anderungen (Fibrillenerkrankung, Faserschwund, Atrophie, Vermehrung 
der Elzholzschen Korperclien) ist eine krankliafte Veranderung auch am 


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interstitiellen (mesodermalen) Gewebe nachweisbar. Dies© Veranderung 
besteht in dem gelegentlichen Auftreten von Rundzelleninfiltrationen uni 
die GefaBe. Die Art der infiltrierenden Zellen laOt sicli folgenderma Ben 
eharakterisieren: Der groBte Teil der Zellen besteht aus mittelgrofien bis 
kleinen Lyinphozyten niit sparlichem Protoplasma. einzeln auftretenden. 
grobkornigen, meist rundlichen Mastzellen und bei Tabes ziemlich seltenen, 
bei Paralyse haufigeren typischen Plasmazellen. Die Mehrzahi der in¬ 
filtrierenden Zellen liegt in der Adventitialscheide, bei groBeren Infiltraten 
1st jedoch diese Lyinphscheide nicht mehr als Grenze des Infiltrates zu 
bezeichnen. Es finden sich auch metachromatisch (bei Farbung mit Toluidin- 
blau) sich farbende Abbauprodukte an den GefaBen. die keinen zellularen 
Charakter haben. Diese Prozesse betreffen vor allem das Endoneurium. 
Im tabischen Nerven findet sich hier auch eine Vermehrung der Mastzellen. 
die diffus und auBerst zahlreich, jedoch immer nur einzeln oder zu zweien 
auftretend, im ganzen Endoneurium verteilt sind; bei Paralyse tritt die 
V T ermehnmg mehr in einer Anordnung auf. die Beziehung zu den GefaBen 
hat. Auch im Epineurium befinden sich GefaBinfiltrate, diese sind jedoch 
von geringerer Intensitat. Neben diesen Krankheitsprozessen am Stiitz- 
gewebe sind auch degenerative Vorgange in der Nervenfaser nachweisbar. 
beide Alterationen stehen jedoch in keinem hLstoIogischen Parallelismus 
zueinander. Denn manchmal sind da, wo die Infiltrationen sehr stark auf¬ 
treten, die Nervenfasern kaum verandert. Die Art des pathologisch-ana- 
tomischen Prozesses ist nach dem Charakter der Infiltrationen (Plasmazellen 
an den Adventitialscheiden) doch in gewissem Sinne als spezifisch zu be¬ 
zeichnen. Beziehungen zwischen den pathologisch-anatomischen Befimden 
und klinischen Erscheinungen waren nicht nachweisbar. Autoreferat. 
Pfersdorff- Stra0burg i. Els.: Ueber Assoziationen bei Dementia praecox. 

Der Wert des Assoziationsexperiments wird verschieden eingeschatzt. 
Nicht bestritten wird die Brauchbarkeit desselben filr die Feststellung 
sprachlicher Storungen. Vortr. hatte bereits friiher (Arch. f. Psych., 1910. 
S. 36. Sitzungsbericht) auf das gehaufte Vorkoinmen von Worterganzungen 
und Wortzusammensetzimgen bei Dementia praecox-Kranken hingewiesen. 
Dieses Tatsache wurde auch von Marcus (Arch. f. Psych., 1911, S. 344) 
hervorgehoben. Vortr. ist jedoch nicht der Ansicht Marcus ', als sei dieser 
Assoziationstypus lediglich durch Storung der Aufmerksamkeit hervor- 
gemfen. sondern faftt diesen Typus als durch die motorische Erregung be- 
dingt auf (affenahnlich wi e Aschaffenburg die Ideenflucht bedingt betrachtet). 
Die Worterganzungen, Wortstammassoziationen und Wortzusammen- 
setzungen sind als sprachlieh-motorische Leistungen zu betrachten. Sie 
finden sich auch bei Manisch-Depressiven mit monotoner motorischer Er¬ 
regung (cf. Gaupps Zbl., 1906). Bemerkenswert ist, daB diese W T ortzusammen- 
setzungen sich finden bei Kranken, die in der Spontansprache und der 
Mitteilungssprache niemals Storungen zeigen. Der Assoziationsversuch 
dient also hier nicht dazu (wie das Marcus fur seine Gruppe 111 mit Sprach- 
verwirrtheit mit Recht behauptet). eine beginnende Sprachstorung friiher 
erkennen zu lassen wie in der Konversation des Kranken. Sein Vorkoinmen 
beF Kranken. die sonst keine Sprachstorungen bieten, ist ein Beweis, daB 
die sprachliche Reaktion im Assoziationsversuch nicht ohne weiteres der 
Spontansprache oder der Mitteilungssprache gleichzusetzen ist. Vortr. 
glaubt, daB an der Hand dieser sprachlichen Reaktionstypen sich Gruppen 
einteilen lassen W'erden, wie dies fiir die Spontansprache sich schon durch- 
fiiliren lieB. 

Die Angaben der Autoren {Jung. Marcus u. A.). daB bei Dementia 
praecox die optischen Vorstellungen besonders lebhaft scion, karm Vortr. 
durch Zeichnungen Katatonischer bekraftigen. die dadurch gewonnen 
wurden, daB die Ki-anken entweder spontan oder auf Anregung weiterzeichnen. 
Es kommen bei sehr vielen Dementia praecox-Kranken zeichnerische (iebilde 
zutage, die an ..Metamorphosen** erinnern. Jede Zeichnung hat mit der 
v r orhergehenden fonnale Bestandteile gemein, diese kehren stereotyp wieder; 
sie werden jedoch auch weiter entwickolt. rein formal, nicht inhaltlich. In 
clen Heilbronnerschen Zeichnungen zur Urteilspriifung, die verschieden© 


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XXXVI. Wanderversammlung der sudwestdeutschen 


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Stadien einer Zeichnung (Fisch, Miihle, Katze) darstellen, findet die Weiter- 
entwicklung iinter der VVirkung einer Obervorstellung, eben des darzu- 
stellenden Gegenstandes, statt. In diesen katatonischen Zeichnnngen fehlt 
die Obervorstellung. An ihre Steile tritt eine optische ideenfliichtige Ver- 
kniipfnng der formalen Elemente. Man findet deinnaeh auch in den Zeich- 
nungen der Katatoniker das gleichzeitige Vorkommen von Stereotypie und 
Ideenflucht. das fiir die sprachlichen Aeufierungen charakteristisch ist. Diese 
Ideenflucht kann man als graphische bezeichnen, da auBer den rein optischen 
Assoziationen, deren Pravalenz sie illustrieren, auch noch die motorische 
Leistung, die graphische in Betracht kommt. 

In der groGen Arbeit von Mohr (Journ. f. Psychol, u. Neuralgic, 1907) 
sind derartige Gebilde nicht erwahnt. 

Krankhafte Storung der optischen Assoziationen konnte Vortr. auch 
bei Dementia praecox nachweisen in Form von Lesestorungen. Lese- 
storungen sind bis jetzt nur bei Paralytikem, Delirium tremens und orga- 
nisehen Psychosen nachgewiesen worden ( Rieger , Kim, Wernicke , Cramer , 
Rabbas, Meringer und Mayer 1896). In den Fallen, die Vortr. untersuchen 
konnte, bestanden optische Halluzinationen iind Muskelsinnhalluzinationen, 
jedoch keine im Zimgemnuskelsinn (Cramer); auBerdem paranoide Um- 
deutung und Eigenbeziehung. In einem anderen Fall war illusionare Um- 
deutimg der optischen Wahmehmungen vorhanden; dieser Kranke erklarte, 
daB unter seinen Augen die Worte sich verwandeln, z. B. Stem, Sinn. Sirene. 
Stilet, Stiel. Stem. Ein anderer Kranker gab an, daB er alles. an was er 
denke, sofort deutlich sehe. Die Kranken boten alle Formen des Verlesens, 
die bis jetzt beschrieben warden. Ein Perseverieren mancher Worte war 
besonders deutlich. Die Kranken verlesen sich ohne Kritik, wie das auch 
von friiheren Beobachtem angegeben wird. Bei einem Kranken mit illu- 
sionaren Umdeutungen bestand eine gewisse Einsicht, er berichtete iiber 
die ,,Verwandlungen kt . Weitere Untersuchungen werden festzustellen haben, 
ob verschiedene Gruppen bestehen. Hervorzuheben ist, daB samtliche 
Kranken Einzelworte imd Buchstaben richtig lesen, sogar die StiUingschen 
Farbentafeln prompt entzifferten; nur bei der fortgesetzten Leistung des 
Lesens trat Verlesen auf. 

Als wesentliches Merkmal der besprochenen Storungen im Lesen, 
Zeichnen, Sprechen hebt Vortr. die Tatsache hervor, daB es sich hierbei 
1. um fortschreitende Leistungen handelt, 2. um Leistungen, die kom- 
plizierter Natur und durch jahrzehntelange Uebungautomatisiert sind. Krank¬ 
hafte Storungen der einzelnen Komponenten treten deshalb leichter zutage, 
wie in nicht eingeubteii Leistungen, die bei voller Aufmerksamkeit des 
Kranken ablaufen. Bei diesem Versagen der Aufmerksamkeit sind zu 
gleicher Zeit motorische Reizerscheinungen nachweisbar, von denen die 
Stereotypie am meisten hervortritt. 

Die Priifimg der eingeiibten Leistungen erscheint nicht aussichtslos; 
es ist kein Zufall, dafl der Wert der rein sprachlichen Storungen, die der 
Assoziationsversuch feststellen liiBt, auch von denjenigen Autoren anerkannt 
wird ( Kraepelin ), welche die vieldeutige Verwertung des Inhalts der 
Assoziationen mit einem gewissen MiBtrauen betrachten. Autoreferat. , 

Martin Bands- StraBburgi. Els.: Nachweis von Augenmuskellahmungen 
an Neugeborenen unmittelbar nach der Geburt. 

Durch friihere Untorsuchungen (s. Arch. f. Ophthalm., Bd. 76. S. 33, 
1910) hatte Bartels nachgewiesen. daB die Gegendrehungen der Augen bei 
Kopfdrehungen sehon bei den jiingsten Fnihgebiuten existierten. Diese 
Beobachtung kann man leicht benutzen, um bei Neugeborenen Lahmungen 
der seitlichen Augenwender (Extemus oder Internus) nachzuweisen. B. 
konnte auf diese Weise bei einer Friihgeburt im achten Monat eine links- 
seitige Abducenslahmimg immittelbar nach Gebiut demonstrieren. Drehte 
man namlich den Kopf des Neugeborenen nach links, so gingen prompt 
beide Augen nach rechts in Endstellung; drehte man den Kopf nach rechts, 
so ging nur das rechte Auge nach links, das linke ging nie iiber die Mittel- 
linie hinaus. Da die lx?im Drehen (also vom Ohrapparat) ausgelosten Be- 
wegungen der Augen stets beiderseits assoziiert sind, so lag bei dem unter- 


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suchten Kind eine linksseitige Abducenslahmung vor. B. nimrat an. daG 
sie durch eine Blutnng in den Abducenskern bedingt war, die infolge der 
sehr schweren Geburt (Extraktion 24 Stunden nach der Wendung. lang- 
dauemde Asphyxie) eintrat. 

Der Nachweis solcher Augenmuskellahmungen unmittelbar nach der 
Geburt ist wiehtig fiir die Genes© der sogenannten angeborenen Augen¬ 
muskellahmungen. Bei manchen hat es sich wahrscheinlich um solche 
Geburtslahmungen gehandelt. Denn nach Zerstorung des Nervenkemes 
konnte der Muskel atrophieren, so daG man zu der Zeit, in der man bisher 
diese Lahmungen untersuehte, nur einen abgelaufenen ProzeG vorfand. 

Die Untersuchungsmethode ist sehr einfach: Der Untersucher halt 
das Neugeborene senkrecht vor sich, so daG er die Augen beobachten kamu 
Dann dreht er sich einmal nach rechts, einmal nach links mit dem Kind. 
Die Augen des Kindes gehen dann wahrend des Drehens gegen die Dreh- 
richtung (vom Kind aus gerechnet) und bei Halt nach der anderen Seite. 
Am leichtesten lassen sich Friihgeborene oder Sauglinge im Schlaf unter- 
suchen, weil sie dann nur diese langsame Gegendrehung der Augen, aber 
keinen Nystagmus zeigen. Autoreferat. 

Kronfeld- Heidelberg: Zur Nonneschen Globulinreaktion. 

An der Hand des Materiales der Heidelberger psychiatrischen Klinik 
werden die Untersuchungen des Liquors nach Wassermann und Nonne . die 
Bestimmung des GesamteiweiGes und des Zellgehalts statistisch zusammen- 
gestellt hinsichtlich der Haufigkeit und der AusschlieGlichkeit positiver 
Ergebnisse bei progressiver Paralyse, sowie hinsichtlich des Parallelgehens 
pathologischer Befunde bei nichtparalytischen Gehimverander ungen. 
Resultat: die groGe diagnostische Bedeutung der Nonneschen Reaktion. 

Autoreferat. 

O. TFoZ^-Basel: Ueber Aphasie mit Ausschlufi einer isolierten Gruppe 
von Vorstellungen. 

Der Vortragende berichtet iiber eine aphasische Patientin, die er 
vom 3. I. 1906 bis zu ihrem am 1. III. 1911 erfolgten Tode beobachtet hat. 
Die im Jahre 1837 geborene Frau war eine schwere Alkoholistin, die wieder- 
holt ein Delirium alcoholicum durchgemacht nnd in der letzten Zeit auch 
mehrmals epileptiform© und apoplektiforme Anfalle gehabt hatte. Sie kam 
Ende Dezember 1905 wegen eines deliriosen Verwirrtheits- und Aufregungs- 
z us tan des in die Basler inner© Klinik, wurde aber wegen ihrer Unruhe am 
3. I. 1906 in die psychiatrische Klinik verlegt. Die akuten Erscheinungen 
gingen rasch voriiber. und nachdem die Patientin ruhig und klar geworden 
war, blieb als stationarer Zustand zuriick eine maGige senile Demenz. die, 
wahrscheinlich infolge einer friiheren Apoplexie. mit einer eigenartigen 
Form von Sprachstorung kompliziert war. Bei vollig erhaltenem Sprach- 
verstandnis und der Fahigkeit, nachzusprechen, bestand eine Herabsetzung 
der Spontansprache und ein fast volliger Verlust der Fahigkeit, den Namen 
fiir sinnlich wahrgenoinmene und riehtig erkannte Gegenstande zu finden. 
Diese Unfahigkeit erstreckte sich jedoch nicht auf die eigenen Korperteile 
der Patientin. die, sobald sie l^eriihrt wurden, von der Kranken augen- 
blicklich riehtig benannt werden konnten. AuGer den Korperteilen fanden 
sich nur noch zwei Gegenstande, fiir die von der Patientin der Name fast 
immer gefunden werden konnte, namlich: Nastuch und Parasol, letzteres 
Wort als Bezeichnung des Kegenschirms. Die Patientin fand auch die Namen 
fiir Korperteile, die an andern Personen von ihr walirgenommen wurden, 
doch brauchte sie hierzu l&ngere Zeit als zur Bezeichnung der eigenen, und 
noch viel groGere Schwierigkeiten machte das Auffinden der beiden Namen: 
Nastuch und Parasol. Die Sektion ergab einen Erweichimgsherd in der 
linken zweiten und dntten Schlafenwindung, also an derjenigen Stelle, an 
welcher einige englische Autoren ein Benennungszentrum (naming centre) 
lokalisieren wollen. Eine Benennungsimfahigkeit, die sich nicht auf Korper¬ 
teile erstreckte. ist friiher schon dreimal beschriel>en worden: zweimal vom 
Vortragenden (Klinische und kritische Beitrage zur Lehre von den Sprach- 
storungen, Leipzig. Veit & Co., 1904, S. 75 ff. und S. 83 ff.), und einmal 
von Mann , welcher die namliche Storung bei einer Patientin beobachtet e. 


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76 XXXVI. Wandei versammlung der siidwestdeutschen 

die wegen eines otitischen Piozesses im linken Parietallappen operiert 
woiden war (Deutsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 85. S. 96 ff.). 

Der Fall wild zusammen mit zwei weiteren Fallen von Sprachstorung 
an anderer Stelle ausfuhrlich beschrieben werden. Autoreferat. 

Q. L. Dreyfus und A . Gans: Zur Frage der Hirnpunktion. 

Dreyfus spricht liber die diagnostischen und therapeutischen Moglich- 
keiten der Hirnpunktion, die durch die Gefahr einer Blutung unter alien 
Umstanden zu einem gefahrlichen neurologischen Hiilfsmittel gestempelt 
wird. Abgesehen von der Mogliehkeit der Blutung aus einer Arterie oder 
einem Sinus, die wohl in den meisten Fallen umgangen werden kann, kann 
gelegentlich auch die Blutimg aus den Venen der Dura imd Pia, deren Verlauf 
und Beschaffenheit in dem einzelnen Falle nicht bekannt ist und nicht 
bekannt sein kann, zu schweren Folgeerscheinungen fiihren. Das wird an 
einem Fall von Gefdftlahmung nach Kopftrauma, bei welchem aus dia¬ 
gnostischen Grlinden die Hirnpunktion ausgefiihrt worden war (Moglich- 
keit eines Hamatoms), dargelegt. Wenn der Patient nicht an der ursprling- 
lichen Erkrankung zugrunde gegangen ware, hatte ihn die subdurale, 
subpiale und intracerebrale Blutung sicher schwer geschadigt. Ein Fall 
von Meningitis serosa mit schwerer Stauungspapille, liber die Dreyfus 
femerhin berichtet, der allein durch eine einmalige Hirnpunktion dauemd 
vollig geheilt wurde. beweist, daB die Punktion unter Umstanden von hohem 
therapeutischem Wert sein kann. 

Gans demonstriert die makroskopischen und mikroskopischenPraparate 
des ersten Falles. (Eine ausflihrliche Publikation wird in der Zeitschrift 
fiir die gesamte Neurologie imd Psychiatric erfolgen.) Autoreferat. 
TFeteeZ-Heidelberg: Zur Diagnose von Stuporen. 

An einer Reihe schwerer Stuporen wurde das psychogalvanische 
Reflexphanomen gepriift und zum Vergleiehe auch. an normalen V.-P., 
die sich unter den auBeren Bedingungen des Stupors in verschiedenartige 
psychische Zustande versetzten. Das psychogalvanische Reflexphanomen 
zeigte bei den Stuporen ein ganz verschiedenartiges Verhalten; fiir die genau 
registrierten Stromschwankungen ergibt sich aus den Resultaten bei 
normalen V.-P. die Mogliehkeit, den zugrundeliegenden psychischen Vor- 
giingen nachzugehen. 

Der Vortrag wird ausfuhrlich veroffentlicht werden. 

Autoreferat. 

0. l?anfce-Heidelberg: Histologisches zur Gliomfrage. 

Die Anschauimgen liber Histogenese, Histologic imd Histopathologie 
der Neuroglia haben sich seit Weigerts klassischer Arbeit sehr wesentlich 
gewandelt. Dieser Wandlung ist die Lehre von den gliomatosen Neubildungen 
des Zentralnervensystems bisher nicht gefolgt. Wenn wir mit den Methoden 
und nach den Gesichtspunkten. welche zur heutigen Entwickhmg der Lehre 
von der normalen und pathologischen Glia geflihrt haben, Gliome unter- 
suchen, so laBt sich in iliren Anfangsstadien ein synzytialer Bail konstatieren. 
Innerhalb des synzytialen Gliomprotoplasmas lassen sich hiiufig eigenartige 
pro topi asmatische Strukturen nachweisen, welche die reife Neuroglia weder 
unter normalen noch pathologischen Verhaltnissen bildet, die aber mit 
protoplasmatischen Strukturen der fotalen Neuroglia verwandt, wenn nicht 
identisch sein dlirften (, .spongioplasmatische Strukturen “). 

Das Wachstum der Gliome erfolgt selten ,,konzentrisch“ imd dann 
immer im synzytialen Verbande — meist ,. inf iltrierend “ und dann entweder 
in der Weise, daB die vordringenden Gliomeleniente mit dem synzytialen 
Verbande, von dem sie ausgehen, in Verbindung, bleiben oder aber so. daB 
sich die wuchernden Gliomelemente (wohl meist im Stadium der Mitose) 
aus diesem Verbande losen und wanderungsfahig werden. Bei diesem in- 
filtrierenden Wachstimi werden nicht nur Nervenzellen, sondem auch 
gliose Elemente der Nachbarschaft von den Gliomzellen umwachsen. Diese 
gliosen Elemente reagieren auf das Gliom mit denselben Wucherungs- 
erscheinungen, wie auf andere zu Proliferation fiihrende Reize: sie nehnien 
zu an Kern- und Protoplasmasubstanzen. und letztere differenzieren reich- 
liche Gliafasern. Je nach der Art dieser reaktiven Gliawueherung ist ein 


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Gliom faserreieh oder faserarm; das Gliomprotoplasma selbst beteiligt sich 
nicht oder nur in geringem MaBe an der Faserbildung. 

Die reaktive Wucherung der vom Gliom umwachsenen Gliaelemente 
erreicht manchmal sehr hohe Grade und ftihrt zu Kern- und Zellformen. 
wie wir sie bei anderen Wucherungsprozessen der Neuroglia nicht finden; 
es ist moglich, daB wir nach diesen Bildem eine . Jnfektion“ der Nachbar- 
schaft, wie Storch es genannt hat, annehmen diirfen, d. h.: daB auch von den 
Gliomzellen umwachsene Gliazellen sich (wenn iiberhaupt, dann wohl nur 
in geringem MaBe) an der Gliombildung beteiligen. Ein besonders hervor- 
zuhebender Unterschied zwischen der Gliomzelle und der reaktiv ge- 
wucherten Gliazelle besteht noch darin, daB letztere bei ihrer Wucherimg 
die Heldschen „Qrenzmerrbranen “ verstarkt (Fiiflchenbildung; Verstarkung 
der marginalen Faserung), wahrend die GliomzeUe die Tendenz hat, diese 
Membranen zu durchbrechen. So kommt es zu Einbriichen von Gliom- 
elementen in die GefaBwande, besonders haufig aber zu einem Durchbruche 
des Gliommaterials in die Pia. Die regressiven Veranderungen der Gliom¬ 
zellen sind sehr mannigfaltig. Besonders haufig scheint eine Ablosung 
regressiv veranderter Gliomelemente aus dem synzytialen Verbande zu 
sein nach Art der ,,gliogenen Komchenzellen 44 und der „amoboiden Glia¬ 
zellen 4 4 Alzheimer8. 

Der Vortrag wird anderen Orts ausfuhrlich publiziert werden. 

Autoreferat. 

Laquer- Frankfurt a. M.: Das bewegliche Lichtbild als Anreiz zu Ver- 
gehen im kindlichen Alter. 

In einer Sitzung des Jugendgerichts zu Frankfurt a. M. wurde ein 
12jahriger Zogling der Volksschule wegen Taschendiebstahls mit einem 
Verweise bestraft: vor dem Schaufenster eines Warenhauses auf der Zeil 
hatte er sich imter die groBe Menschenmenge gedrangt, das Handtaschchen 
einer Dame geoffnet und daraus ein Portemonnaie mit 8,97 Mark entwendet. 

Von einem Kriminalwachtmeister auf frischer Tat ertappt, sagte er 
vor dem Jugendrichter. der ihn in offentlicher Sitzung befragte, wie er in 
so friihem Alter zu diesem Vergehen kame, folgendes aus: 

,,Ich bin zufallig in das Gedrange hineingekommen, wo Frau Kr. mit 
ihrem Handtaschchen stand. Ich habe einmal in einem Kinematographen- 
Theater die Darstellung eines Taschendiebstahls mit angesehen. Dadurch bin 
ich veranlaBt worden, auch einmal so etwas zu versuchen. 44 

Auch in der Schule schon vorher dariiber verhort, hatte er ganz von 
selbst als Motiv fur seine Handlung das Erlebnis in einem Kinematographen- 
Theater angegeben. 

Bei arztlicher Untersuchung sind irgendwelche korperliche Anomalien 
auBer Kleinheit des Wuchses und auffalliger Unteremahrung, auch Ent- 
artungsmerkmale nicht beobachtet worden. 

Aus den sorgfaltigen Feststellimgen ist ersichtlich, daB ein schweres 
Eigent urns vergehen, das im Urteil des Jugendrichters mit Recht als ,,ver- 
schlagenes 44 bezeichnet wurde — ein Taschendiebstahl — von einem Knaben 
ausgefuhrt worden ist, der von Kindheit an gewisse seelische Entartvmgs* 
zeichen darbot: Beeinflussung durch schlechten Umgang. zeitweiligen Hang 
zur Unehrlichkeit und zum Schulschwanzen etc., bei dem also Mangel an 
kindlichem Pflichtgefiihl — aber ohne wesentliche intellektuelle Ausfalle, 
also ohne eigentlichen allgemeinen Schwachsinn etc. — vorhanden war. 

K8 handelt sich also um ein zu verbotenen. auch zu rechtswidrigen Hand - 
lungen disponicrtes hindliches Individuum . aus armlichem, nichtkriminellem 
und sittlich einwandfreiem hauslichen Milieu. Aikoholismus der Eltem 
lag nicht vor. Durch den Anblick eines Taschendiebstahls im Kinematographen 
hat der kleine Knabe einen Anreiz und die Anhitung zur Ausfiihrung des 
gleichen Vergehens empfangen. 

Unter ausfiihrlicher Darlegung der familiaren Verhaltnisse des jugend- 
lichen Missetaters erorterte L. die genauen psychopathologischen Zu- 
sammenhange zwischen den „Schundfilms 44 der Kinematographen-Theater, 
die eine so kolossale Verbreitung und volkswirtschaftliche Bedeutung erlangt 
haben, und der Kriminalitat im kindlichen Alter. — Er stellt die minder- 


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Therapeutisches. — Tagesgeschichtliches. 


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wertigen Kinos in eine Reihe mit den Warenhausem, Automaten etc., die 
ebenfalls zu kindlichen Diebstahlen anlocken. Er befurwortet nach einem 
Buche von Dr. jur. A. Hellwig die Reformbestrebnngen der Padagogen und 
auf dem Gebiete der Kino-Industrie polizeiliche Mafinahmen zur Ein- 
schrankung der Schundfilms, besonders bei den von Kindem besuchten 
Kino-Vorstellungen. Autoreferat. 

M. Gildemeister- StraCburg: Ueber einige neuere Ergebnisse der elek- 
trischen Reizphysiologie in ihrer Beziehung zur Elektrodiagnostik. 

Die elektrische Reizphysiologie hat auch fiir den Neurologen Interesse. 
weil sie die Grundlage fiir die Elektrodiagnostik bildet. In den letzten 
Jahren ist eine beangstigende Fiille von nenen elektrischen Reizmethoden 
in Aufnahme gekommen, z. B. die Franklinisation, Reizung durch Kon- 
densatorentladungen u. a. Fiir jede Metliode sollen nach Angabe der Autoren 
besondere Gesetze gelten. Der Vortragende glaubt ein neues Prinzip an- 
geben zu konnen, das alien elektrischen Reizen gemeinsam ist. 

Zunachst mufi man sich jedesmal Rechenschaft vom Verlaufe der 
Strome geben, indem man diese nach der Art von Temperaturkurven 
graphisch veranschaulicht. Dann kann man voraussagen. welcher von 
zwei Reizen der wirksamere sein wird. Ein Reiz mit gegebener Elektrizitats- 
menge wirkt desto starker, je naher sein Schwerpunkt dem Beginne der 
Reizung liegt. 

Femer ist erst in neuerer Zeit geniigend beachtet worden, daC der 
gereizte Nerv oder Muskel niir einen gewissen Teil der dargeboteneri Elek- 
trizitatsmenge ausnutzt. Diese Eigenschaft eifahrt eine sehr auffallige 
quantitative Veranderung l>ei der Entartung. Dadurch fallt ein neues 
Licht auf die Entartungsreaktion. 

Der Vortragende verweist auf seine ausfiihrliche Publikation in 
der Miinchener medizinischen Wochenschrift (Xo. 21 vom 23. Mai 1911). 
wo diese Verhaltnisse naher dargelegt werden. 


Therapeutisches. 


Hydropyrin-Grifa, das Lithiumsalz der Acetylsalizylsaure, wird gegen 
neuralgische und rheumatische Affektionen empfohlen. Nach der Anwendung 
tritt eine starke Diaphorese ein. Das Mittel ist in Wasser leicht losiich (im 
Gegensatz zur Acetylsalizylsaure). Magenbeschwerden treten nicht ein. 
Dosis 3—4 mal taglich 0,5—1,0 g in Pulver- oder Tablettenform. ( Fickler , 
Dtsch. med. Woch., 1910; Boruttau . Dtsch. med. Woch., 1911; Moller, 
Berl. Klin. Wochenschrift, 1911, No. 6. Burow . Med. Klinik, 1911, No. 9. 


Tagesgeschichtliches. 


Der III. Kongrefi der italienischen Nervenarzte tagt am 25. bis 
27. Oktober in Rom. Anmeldimgen werden bis zum 15. Jiili an Professor 
Panegro88i-Bom , Scuola di Neuropatologia-Policlinico, erbeten. Folgende 
Referate sind vorgesehen: Besta . Cerebro-cerebellare Assoziationsbahnen; 
Zalla . Geistesstorungen in Abhangigkeit von den Driisen mit innerer 
Sekretion; Bianchi , Rindenveranderungen bei Herderkrankungen und 
experimentellen Lasionen; MorseUi , Ueber das Wesen des Hysterismus; 
Medea , Kombinierte imd pseudokombinierte Riickenmarkskrankheiten; 
Roasenda , Cerebellare Lokaliiationen. 


Der 21. KongreO franzosischer Irren- und Nervenarzte findet am 
1.—6. August in Amiens statt. Maillard erstattet ein Referat liber die 
..psychopathischen Schmerzen 4 ', Courtellemont liber die Geschwiilste der 
Hypophysis, Lalanne iiber den Wert der Zeugenaussagen von Geistes- 
kranken. Anmeldungen zur Teilnahme sind an Dr. R. Charon, Amiens 
zu richten. 


Personalien. 

— -— » 

In Berlin hat sich Stabsarzt Dr. Stier fiir Psychiatric habilitiert. 


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(Aus der psychiatrischen Klinik zu Jena. 

[Direktor: Geh.-Rat Prof. Binswangzr. ]) 

Ueber einen Fall von Totalaphasie. 

Von 

Prof. HANS BERGER. 

(Hierzu Tafel IV—V.) 

Man kann zwar nicht behaupten, daB ein Mangel an Ver- 
offentlichungen in der Aphasie-Frage bestande, ini Gegenteil, 
die Aphasie-Iateratnr hat einen enormen Umfang erreicht. Dabei 
fallt jedoch auf, daB vor allem die theoretischen Erorterungen, 
welehe von den Autoren an die einzelnen Falle angekniipft werden, 
dieses Anschwellen der Liter at ur bedingt haben, und gar nicht 
selten ist der objektive Befund und namentlich die genaue mikro- 
skopische Bestimmung der zerstorten Herde dadurch in den 
Hintergrund gedrangt. Allerdings ist gerade in dieser Beziehung 
in den letzten Jahren durch die einen allgemeinen Widerspruch 
hervorrufenden Ausfiihrungen Maries Wandel geschaffen und 
die Theorie gegenuber den objektiven Feststellungen bei der 
Obduktion in das ihr gebiihrende Licht geriickt worden; trotzdem 
wird meiner Ansicht nach in den Aphasie-Fragen aber immer 
noch zu viel theoretisiert. Ich will daher im folgenden vor allem 
iiber den objektiven Befund in einem Falle berichten, in dem 
sich 7 Monate vor dem Tode eine sensorische Aphasie, auf deren 
klinische Erscheinungen ich nur ganz kurz eingehen will, eintrat, 
zu der sich dann 2 Monate vor dem Tode eine motorische Aphasie 
hinzugesellte. Da ich glaube, daB in dieser Zeit die indirekten 
Herdsvmptome wohl als geschwunden anzusehen waren, so besitzt 
der Fall doch immerhin ein gewisses Interesse, wenn er auch 
nichts wesentlich Neues zu bringen imstande ist. 

Klinischer Befund . 

Frau F., Bottchermeisterswitwe aus Biirgel, war 70 Jahre alt. als sie 
in die psychiatrische Klinik in Jena aufgenommen wurde. Es best and 
keine wesentlich© erbliche Belastung, ihr Vater war jung gestorben, dagegen 
hatte ihre Mutter ein Alter von 84 Jahren in voller geistiger Frisch© erreicht. 
Sie hatte in der Jugend sich normal entwickelt imd in dem 20. Jahre ge- 
heiratet. Sie hat 11 normal© Entbindungen gehabt. In der Ehe hatte sie 
viele Sorgen, da sich ihr Mann dem Trunke ergab und an chronischem Al- 
koholismus zugrunde ging. Mit 68 Jahren hatte Frau F. einen rechtsseitigen 
Schlaganfall, nach dem eine Lahmung des rechten Armes und des rechten 
Beines bestand und sie einige Tage nicht sprechen konnte. Jedoch schwan- 
den alle dLse Erscheinungen in kurzer Zeit und nur eine gewisse Unbehilf- 
lichkeit des rechten Armes Und eine leichte Schwache des rechten Beines 

Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 2. 6 


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Berger, Ueber einen Fall von Totaiaphasie. 


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soil nach Angabe der altesten Tochter damals zuriickgeblieben sein. Frau F. 
klagte aber seitdem auch iiber ein Nachlassen ihres Gedachtnisses. Im 
70. Lebensjahre, 2 Monate vor der Aufnahme in die Klinik, ereignete sich 
ein zweiter Schlaganfall. Frau F. war diesmal nicht gelahmt, jedoch als 
sie von der Benommenheit erwachte, „vem'irrt i \ sie sprach unaufhorlich, 
wenn sie wach war, und zwar ,,unzusammenhangendes Zeug“. Die Tochter, 
bei denen sie lebte, brachten sie in die Klinik, da sie sich nicht zu helfen 
wuBten. Die Untersuchung bei der Aufnahme ergab an den inneren Organen 
etc. auBer den Alters veranderungen einen normalen Befund. 

Am Nervensystem fand sich folgendes: 

Anconaeusphanomen: K. >L. 

Kniephanomene: Beiderseits gesteigert. 

Achillesphanomene: Ebenfalls symmetrisch gesteigert. 

Plantarreflex: Lebhaft; kein Babinski. 

Beruhrungs- und Schmerzempfindlichkeit anscheinend ohne Stoning. 

Der rechte Arm steht in rechtwinkliger Beugekontraktur im Ellen- 
bogengelenk, die Finger sind maBig volarwarts gebeugt. Der Gang ist un- 
sicher, Frau F.hangtnach rechts iiber undschleift auch das rechte Bein etwas 
nach. Es besteht Romherq sches Schwanken. Der Mundfacialis wird links 
ein wenig starker als rechts innerviert. Die Pupillen sind gleich weit, rund, 
reagieren dem Alter entsprechend etwas trage und wenig ausgiebig. 

Die Sprachartikulation ist eine normale. 

Frau F. schwatzt unaufhorlich. und zwar paraphasisch vor sich hin, 
dabei kommt das Wort ,,Wart6“ mit eigentiimlicher Betonung der letzten 
Silbe in fast alien ihren AeuBerungen vor. Es laBt sich feststellen, daB sie 
auf Gerausche reagiert, also nicht vollstandig taub sein kann, wenn auch 
das Gehor etwas herabgesetzt erscheint. 

Sie beantwortet keine der an sie gerichteten Fragen, sondem auBert, 
als immer wieder Versuche gemacht werden, sich ihr durch sprachliche 
Laute verstandlich zu machen: „Versteh’ ich nicht. “ Dagegen kommt sie 
ihr durch Zeichen vorgemachten Aufforderungen, wie Aufstehen aus dem 
Bett, sich auf einen Stuhl setzen etc. nach. Einfache Gegenstande, welohe 
ihr gezeigt werden, erkennt sie als solche sofort richtig, auBert z. B., als ihr 
ein Schliisselbund gezeigt wird: ,,Schliissel miissen schlieBen zu, wartA“ 
Wenn man ihr aber solche einfache Gebrauchsgegenstande in die nicht 
paretische linke Hand gibt, zeigt sie deutliche apraktische Storungen; sie 
fiihrt z. B. den Schliisselbund zum Munde, als ob er ein TrinkgefaB dar- 
stellte etc. Schriftliche Aufforderungen versteht Frau F. gleichfalls nicht 
und kann auch weder vorlesen noch schreiben. Sie begriiBt den Arzt bei 
der Morgenvisite mit ,,Guten Morgen“, sagt zum Abschied ,,Guten Abend 
stellt ihre sie besuchende alteste Tochter mit den Worten: „Meine Tochter 
Bertha“ dem Arzte vor imd freut sich sehr iiber deren Anwesenheit, er- 
kannte dieselbe auch sofort. Als ihr einmal ein Funfmarkstiick in die Hand 
gegeben wurde, gab sie dasselbe sehr erregt zuriick mit den Worten: ,,Nee, 
nee, nehmen Sie!“ Im iibrigen spricht 6ie paraphasisch, \md zwar je langer 
sie spricht, um so schwerer werden die paraphasischen Storungen, dabei 
kehren. wie schon oben erwahnt, bestimmte Worte wie: .,Warte“, femer 
,.Glas“. ,,Fische“, „Wolle“ etc. immer wieder. Sie schlief in der Nacht 
oft schlecht imd war auch wiederholt unsauber mit Urin. 

Nach alledem bestand kein Zweifel, daB bei Frau F. nach dem zweiten 
Anfall eine schwere sensorische Aphasie eingetreten war, welche infolge des 
paraphasischen Geplauders der Kranken von den Tochtem als Verwirrtheit 
gedeutet wrnde. Der Zustand biieb in der Anstalt etwa 2 Monate derselbe, 
dann trat am 29. Mai 1908 in der Nacht eine wesentliche Zunahme der Aus- 
fallserscheinungen ein. Frau F. konnte sich am Morgen nicht aus dem Bette 
erheben, die Parese des rechten Armes und des rechten Beines hatte zu- 
genomrnen. die sonst so gesprachige Patient in sprach gar nicht mehr imd 
biieb auch, als die schweren Erscheinungen zuriickgegangen waren tmd eine 
Benommenheit nicht mehr bestand, dauernd bis zu ihrem 2 Monate spater 
erfolgenden Tode wortstumm. Allerdings war auch ein weiterer wesent- 
licher Riickgang in alien psychischen Leistungen eingetreten insofem, als 


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Berger, Ueber einen Fall von Totalaphasie. 


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sie fur nichts mehr Interesse besaB, sich regelmaBig verunreinigte und auch 
von den besuchenden Angehorigen kaum Notiz nahm. Der objektive Be- 
fund am Nervensystem war dabei der gleiche geblieben: Die Kniephano- 
mene waren lebhaft, jedooh gleich auf beiden Korperseiten. Die Beuge- 
kontraktur des rechten Armes hatte zugenommen, der rechte Arm, die Hand 
und die Finger waren vollstandig gelahmt, das Anconaeusphanomen war 
rechts viel starker als links. Pat. konnte sich nicht mehr allein im Bett 
aufrichten, stehen und gehen. Die Patientin ging, nachdem sie in den letzten 
2 Monaten ihres Lebens diese vollstandige Aufhebung der Sprache darge- 
boten hatte, unter den Erscheinungen einer Bronchopneumonie zugrunde. 

Anatomischer Be fund. 

Bei der Sektion wurde Gehim und Riickenmark unzerschnitten der 
Leiche entnommen und sofort in Formalin eingelegt. 

An der Dura, dem Schadeldach etc. konnten keine pathologischen 
Befunde erhoben werden. Dagegen fanden sich eine eitrige Pleuritis auf 
der rechten Seite, bronchopneumonische Herde in beiden Lungen, eine 
Schwelhmg der Milz und starke allgemeine Atheromatose. 

Eine Besichtigung des geharteten Gehims ergab eine ausgedehnte 
Einsenkung im Gebiete der I., II. und z. T. auch der III. linken Temporal- 
windung. welche nach hinten zu schmaler werdernd bis in den linken Occipital- 
lappen hineinreichte. Femer fand sich eine eingezogene Narbe in dem oberen 
lateralen Teil der rechten Kleinhirnhemisphare in der Nahe des Sulcus 
horizontalis magnus, die basalen Arterien waren stark weiB gefleckt, starr- 
wandig. die weichen Himhaute zart. 

Nach vollendeter Hartung wurde das Gehim mit dem Makrotom in 
planparallele Scheiben zerschnitten und dann in der iiblichen Weise weiter 
behandelt. Die mit dem Mikrotom angefertigten Schnitte wurden nach 
Weigerts Methode gefarbt. 

Auf denselben konnte die Ausdehnung der zerstorten Gebiete genau 
festgestellt werden und vor allem fand sich ein groBer, in F, linksgelegener 
Herd, der einer makroskopischen Betrachtung ganz entgangen war. Ich 
will nur einige wichtige Schnitthohen herausgreifen und mich bei Beschrei- 
bung derselben wie bei anderen Gelegenheiten an Dejerines Schnittebenen 
anlehnen. 

Frontaischnitte bis zu einer Entfernung von 20 mm von dem Frontal- 
pol. die etwa 14 mm vor der Schnittebene, Fig. 279, S. 525, Dejerines liegen 
wurden, ergaben auf beiden Seiten ganz normale Verhaltnisse. In dieser, 
20 mm vom Frontalpol entfernten Schnittebene tritt zum ersten Male auf 
der linken Seite eine frische, scharf umgrenzte Zerstorung der Rinde und des 
Marklagers von F s , letzteres bis an den Uebergang in das zentrale Marklager 
betreffend, auf. AeuBerlich und makroskopisch bot diese Gegend ein ganz 
normales Aussehen dar. Auf der rechten Seite liegen normale Verhaltnisse 
vor. Etwa 5 mm weiter occipital warts ist auch der linksseitige Herd wieder 
verschwunden, imd erst auf einer Schnittebene, welche der Fig. 280, S. 525, 
Dejerines entspricht imd welche als Fig. 1 auf Tafel IV—V in verkleinertem 
MaBstabe reproduziert ist, treten wieder pathologische Veranderimgen auf. 
Die rechte Seite ist normal, dagegen ist links das Marklager von F s voll¬ 
standig zerstort, und zwar auch in den lateralen, der Orbitalflache zuge- 
horigenTeilen,ebenso istaber auch die untereHalfte des Marklagers von F, der 
markhaltigen Nervenfasem beraubt. Die Rinde ist dabei in ihrer Form 
erhalten und iiberhaupt die auBere Konfiguration gewahrt, so daB dieselbe 
eben bei einer oberflachlichen Betrachtung fiir normal gehalten werden 
konnte. Das Marklager ist tief hinein bis zu einer Entfernung von nur 
5 mm von den Ventrikeln zerstort. 

Auf den folgenden Schnitten tritt diese Zerstorung des Marklagers 
von F 4 und der unteren Halfte von F* noch scharfer hervor; in dem Mark¬ 
lager finden sich groBe Liicken, dabei ist die Rinde in ihrer Form und An- 
ordnung erhalten, jedoch aller Verbindungen beraubt. 


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Berger, Ueber einen Fall von Totalaphasie. 


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Eine als Fig. 2 auf Tafel IV—V dargestellte Schnittebene wiirde etwa 
der Fig. 281, S. 528. Dejerines entsprechen. Man sieht auf dem leider 
nicht ganz einwandfrei gefarbten Schnitt auf der rechten Seite einen groBen 
alten Herd im Nucleus caudatus, der zu einer narbigen Einziehung der Ober- 
flache dieses Kernes und dadiu*ch bedingter scheinbarer starkerer Ausdeh- 
nung des rechten Seitenventrikels geiiihrt hat. In dem Degenerationsherd 
ist ein Teil des vorderen Schenkels der inneren Kapsel mit einbezogen. Auf 
der linken Seite ist auch der Seitenventrikel deutlich erweitert. F a ist aller 
markhaltigen Fasem beraubt, ferner findet sich ein umschriebener, faser- 
armer Bezirk im untersten Teile von F. und sind auch die obersten Insel- 
teile, Claustrum und die Capsula externa, von der Zerstorung mitbetroffen. 
Eine altere, schon zu Schrumpfprozessen fiihrende Zerstorung findet sich 
ferner im linken Temporallappen in T lv 

Fig. 3, Tafel IV—V, entspricht ungefahr Dejerines. Fig. 283, S. 526. 
Man sieht hier rechts einen scharf umschriebenen, auch auf der Photographie 
deutlich hervortretenden Faserausfall im vorderen Schenkel der inneren 
Kapsel. Auf der linken Seite findet sich eine umschriebene. annahernd keil- 
formige, verhaltnismaBig frische Degeneration in der Mitte der vorderen 
Zentralwindung, welche hier in ihren unteren zwei Dritteln in die Schnitt¬ 
ebene fallt. Endlich kann man noch eine altere. sehr weitgehende Zer¬ 
storung von Tj und T 2 mitsamt des zugehorigen Marklagers auf der linken 
Seite feststellen. Nucleus lentiformis. Capsula externa, Insel etc. sind nor¬ 
mal, dagegen erscheinen auch hier die Seitenventrikel etwas erweitert. 
Die sonst noch im Marklager auf der Abbildung sichtbaren Liicken sind 
Kunstprodukte. 

Auf den folgenden Schnitten erscheint dann mitten im Marklager auf 
der linken Seite unter dem mittleren Teil der vorderen Zentralwindung 
eine scharf begrenzte Liicke, welche auf einer zwischen Fig. 283 und 284, 
S. 540, Dejerines gelegenen Schnittebene, welche in Fig. 4. Tafel IV—V, 
reproduziert ist, ihre grotfte Ausdehnung erreicht. An diesem Schnitt 
findet sich ferner wieder links die Zerstorung von T ; , T., imd zwar greift 
hier dieselbe auch auf den oberen Teil von T 3 iiber. Das Marklager des 
linken Temporallappens ist bis an das erweiterte Unterhorn heran in die 
Degeneration einbezogen. Die vordere Zentralwindung, der Linsenkern, 
die Insel etc. weisen keine Degenerationsherde auf, dagegen findet sich auf 
der rechten Seite ein kleiner Herd im unteren Teile des Claustrums. 

Auf den folgenden Schnittebenen nimmt der groBere alte Herd im 
Marklager an Ausdehnung ab, wahrend die Zerstorung im linken Temporal¬ 
lappen die gleiche bleibt. 

Aufldem in Fig. 5, Tafel IV—V. dargestellten Schnitte, welcher zwischen 
Fig. 286 und 287, S. 552, Dejerines liegend zu denken ist, sieht man auf der 
rechten Seite einen groBeren alteren Herd im Marklager dorsalwarts von 
dem oberen Schnitt des Nucleus caudatus, welcher bis an den erweiterten 
Ventrikel heranreicht, 2 kleinere. ebenfalls altere Herde finden sich im Mark¬ 
lager von T x des rechten Temporallappens. Auf der linken Seite ist T lf T 2 
imd die groBere Halfte von T 3 zerstort, auch hier reicht der marklose Bezirk 
bis an das erweiterte Unterhorn heran. 

Wahrend auf den folgenden Schnittebenen die Herde im linken 
Temporallappen unverandert bleiben, sind die eben besprochenen kleineren 
Herde im rechten Marklager nicht mehr nachweisbar. Dagegen tritt weiter 
hinten im rechten Occipitallappen, wie aus Fig. 6, Tafel IV—V. zu ersehen ist, 
die ungefahr S. 289, Fig. 558, Dejerines entspricht, ein neuer Degenerations¬ 
herd im Marklager lateral von dem erweiterten Hinterhom, dem oberen 
Teil des Fasciculus longitudinalis inferior noch mitbetreffend, auf. In der 
dieselbe Schnittebene darstellenden Fig. 7, Tafel IV—V. erkennt man, daB 
auf der linken Seite der streifenformige Degenerationsherd auch auf die 
lateralen Occipitalwindungen iibergreift und daB der Herd, das ganze laterale 
Marklager durchsetzend, bis an das ebenfalls erweiterte linke Hinterhorn 
heranreicht. 

Auf noch weiter nach dem Occipitalpol zu gelegenen Schnitten sehwin- 
den endlich auch diese Herde auf der linken Seite ganz. 


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Berger, Ueber einen Fall von Totalaphasie. 


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Wahrend im Himstamm auQer einer leichten Erweitenmg des Aquae- 
ductus Sylvii wesentliche Veranderungen und vor alien Dingen Degene- 
rationsherde sich nieht nachweisen lassen, findet sich ein keilformig das 
Mark lager bis zum Nucleus caudatus der rechten Seite zerstorender Herd 
in der rechten Kleinhimhemisphare, der bei der mikroskopischen Unter- 
suchung auch als ein Herd alteren Datums erkannt wird. 


Zusammenfassung. 

Die anatomische Untersuchung hat somit eine ganze Reihe 
von Herden ergeben, und zwar fanden sich zerstreute Herd© im 
Marklager der rechten und linken GroBhirnhalfte, ein Herd 
in der rechten Kleinhirnhemisphare und vor allem auch aus- 
gedehnte Herde, weiche die Rinde der linken Hemisphere zer- 
storten oder aber dieselbe aller ihrer Verbindungen beraubten, 
Diese Rindenherde lagen ausschlieBlich auf der linken Seite. 
ihre Ausdehnung und Anordnung ist aus dem Schema Textf igur 1 
sichtlich. 



Gehen wir auf den VeFsuch, eine Zuordnung der einzelnen 
Herd© zu den beobachteten klinischen Erscheinungen durch- 
zufiihren, ein, so hat anscheinend der Herd im Kleinhirn keine 
klinische Erscheinungen bedingt. Natiirlich ist es moglich, daB 
seine Begleiterscheinungen, da es sich um einen alteren, vor der 
Anstaltsbehandlung entstandenen Herd handelt, ubersehen 
wurden. Jedenfalls sind Ausfallssymptome, weiche auf einen 
solchen Herd hinweisen konnten, wie gar nicht selten bei diesen 
Kleinhirnherden, bei der genaueren neurologischen Untersuchung 
der Frau F. bei der Aufnahme in die Jenen§er Klinik nicht nach- 
weisbar gewesen. Ebenso wissen wir von der Entstehungszeit 
der Herde im rechten Nucleus caudatus, im rechtsseitigen Mark¬ 
lager nichts. Es handelt sich fast ausnahmslos um kleinere, alter© 
Herde, die also schon langere Zeit bestanden. Fur den von der 
Tochter in der Anamnese angegebenen, etwa 2% Jahre vor dem 


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Berger, Ueber einen Fall von Totalaphasie. 


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Tode der Frau F. aufgetretenen Schlaganfall mit rasch voriiber- 
gehender Aufhebung der Sprache, Lahmung des rechten Armes 
und Beines, welche bis auf eine leichte Unbehilflichkeit in dem 
rechten Arm zuriickgegangen sein sollte, jedoch objektiv noch 
in der Form einer deutlichen Parese und Beugecontraktur des 
rechten Armes und einer leichten Parese des rechten Beines nach- 
weisbar war, muB der altere zackige, das Marklager unter der 
vorderen linken Zentralwindung durchsetzende, in Fig. 4, Tafel 
IV—V, erkennbare Herd herangezogen werden. Denn andere Herde 
in der Capsula interna oder im Hirnstamm etc. sind nicht nach- 
weisbar und das Alter dieses Herdes wiirde zeitlich mit dieser 
Annahme harmonieren. Der zweite von der Tochter beobachtete, 
7 Monate vor dem Tode der Patientin auftretende Schlaganfall 
hatte die von den Angehorigen als Verwirrtheit gedeutete sen- 
sorische Aphasie zur Folge und ging ohne sonstige Ausfalls- 
erscheinungen einher. Diese Symptome deuten auf den, im Schema 
Fig. 8 als 1 bezeichneten groBen Herd im Temporallappen, welcher 
nach hinten zu auf die Occipitalwindungen iibergreift, hin. Die 
Wernicke sche Stelle liegt in dem zerstorten Bezirk. Die Ver- 
anderungen der betroffenen Windungen, die ausgepragten Schrump- 
fungsvorgange und die scharf begrenzte Faserdegeneration stimmt 
mit dem Bestehen des Herdes seit iiber y 2 Jahr bei dem Tode 
der Frau F.wohl iiberein, und die klinischen Ausfallserscheinungen, 
auf die wir absichtlich nur kurz eingegangen sind, sind die typischen. 
2 Monate vor dem Tode wird dann die sehr gesprachige, aber 
vollstandig paraphasische Patientin ganz wortstumm, und bei der 
Obduktion und der makroskopischen Betrachtung des Gehirns 
findet sich dafiir eigentlich keine rechte Erklarung, denn F, 
link* scheint unversehrt. Die mikroskopische Untersuchung 
des Gehirns auf Frontalschnitten klart diesen scheinbar ,,ana- 
tomisch negativen“ Fall, wenn ich mich Liepmanns treffender 
Bezeichnungsweise bedienen darf, auf. Es finden sich, wie aus 
denReproduktionen auf TafelNo. 1, Fig. 1 und2, auch fur den Kenner 
derartiger Herde leicht ersichtlich ist, relativ frische Herde 
in F, links, welche den hinteren Teil dieser Windung ihres ganzen 
Marklagers berauben und auch auf F* iibergreifen; gleichalterig 
mit diesem auf Schema Fig. 8 mit 2 befceichneten Herd erscheint 
der kleinere degenerierte Bezirk in den mehr frontalwarts ge- 
legenen Teilen von F„ der die Zahl 3 tragt. Der mit 2 bezeichnete 
Herd hat die Brocasche Region ausgeschaltet und ist zweifellos 
fur die zur sensorischen Aphasie hinzutretende Wortstummheit 
der Frau F. verantwortlich zu machen: Herd 1 und 2 haben 
zusammen die beobachtete Totalaphasie hervorgerufen. Der 
kleinere Herd 4 endlfch auf Fig. 8, dessen Lage man auf dem 
Frontalschnitt Fig. 3, Tafel IV—V, am besten erkennt, ist ebenfalls 
neueren Datums und wird wohl auch wie die Herde 2 und 3 bei 
jenem Einsetzen der Wortstummheit, 2 Monate vor dem Tode 
der Patientin, entstanden sein, denn es wurde damals bemerkt, 
daB die Lahmungserscheinungen in dem schon paretischen und 


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Berger, Ueber einen Fall von Totalaphasie. 85 

kontrakturierten rechten Arme zunahmen. Ich glaube, daB nach 
dem Alter der Herde, soweit sich dasselbe nach den sekundaren 
Veranderungen etc. bestimmen laBt, diese Zuordnung derselben 
zu den beobachteten Symptomen die richtige sein diirfte. Ich 
beschranke mich dabei vor allem auf die in dieser kurzen Mit- 
teilung im Vordergrunde stehenden Storungen der Sprache. 
Die anatomischen Befunde decken sich durchaus mit der alten 
Annahme der Bedeutung von F, links als motorisches Sprach- 
zentrum, denn obwohl es sich um relativ junge Herde in F* handelte, 
so lagen doch immerhin 2 Monate zwischen dem Eintreten dieser 
Veranderungen und dem Tod, und in der ganzen Zeit blieb 
die bis dahin fast standig paraphasisch schwatzende Kranke 
wortstumm. Wenn diesem Falle wegen der groBen Ausdehnung 
der Herde und der Vielheit der im Marklager nachgewiesenen 
Zerstorungen auch in der rechten Hemispare sonst eine groBere 
Bedeutung nicht beigelegt werden kann, so zeigt er aber doch 
wieder, daB der Linsenkern und seine Umgebung bis auf eine be- 
grenzte Degeneration der oberen Inselwindungen, wie sie aus 
Fig. 2, Tafel IV—V, ersichtlich ist, frei von Herden sein und doch 
eine ganz schwere Totalaphasie vorliegen kann. Diese von 
anderen Seiten Marie gegeniiber hervorgehobene Tatsache 
erfahrt auch durch diesen Befund ihre erneute Bestatigung. 


LitercUur- V erzeichnis . 

1. v. Monakow, Gehirnpathologie. II. Aufl. Wien 1905. 2. Spatte- 

hclz y Handatlas der Anatomic des Menschen. Bd. III. Leipzig 1903. 
3. Dejerine , Anatomie des centres nerveux. Tome I et II. Paris 1895 et 
1901. 4. Marburg , Mikroskopisch-topographischer Atlas des menschlichen 

Zentralnervensystems. Leipzig 1910. 5. P. Marie , Revision de la question 

de Taphasie. Semaine m6d. 19. Oktober 1906. 6. Dejerine , L’aphasie 

sensorielle et Taphasie motrice. Presse med. 1906. No. 55. 7. Henneberg % 
Totalaphasie bei erhaltenem Leseverstandnis. Ref. Neurol. Zentralbl. 
1906. S. 1161. 8. Liepmann , Zwei Falle von Zerstorung der unteren linken 
Stimwindung. Joum. f. Neur. u. Psych. Bd. IX. 1907. 9. Liepmann 

und Quensely Ein neuer Fall von motorischer Aphasie mit anatomischen 
Befund. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1909. 10. v. Monakow . Allgemeine 
Betrachtungen iiber die Lokalisation der motorischen Aphasie. Dtsch. med. 
Woch. 1909. No. 37. 11. Sitzungsberichte der Society de Neurologic de 

Pttris. Sitzung vom 11. Juni und 23. Juli 1908. Ref. Neurol. Zentralbl. 
1908. S. 843 ff. 12. Liepmann , Zum St&nde der Aphasie-Frage. Neurol. 
Zentralbl. 1909. S. 449. 


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H a e g e r , Ausgebreitetes Endotheliom 


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(Aiis dem pathologischen Institut zu Strassburg. 

[Direktor: Prof. H. Chiari .]) 

Ausgebreitetes Endotheliom der inneren Meningen 
des Gehirns. 

Von 

ERNST HAEGER. 

(Hierzu Tafel VI.) 

Dieser interessante Befund wurde in der Leiche eines 48- 
jahrigen Mannes, welche von der psychiatrischen Klinik des 
Herrn Prof. Dr. Wolleriberg am 7. IX. 1910 zur Sektion kam, 
erhobea. 

Ans der Krankengeschichte gebe ich nur einige Daten, die 
ich der Abhandlung des Herrn Oberarztes Dr. Heilig iiber Pigment- 
erythrozytose der Cerebrospinalfliissigkeit 1 ), in welcher unter 
anderen Fallen auch dieser Fall angefiibrt ist, entnehme. 

Im Jahre 1888 hatte der Patient eine Lues akquiriert, sich aber damals 
keiner intensiven antisyphilitischen Kur unterzogen. Bis vor 8 Jahren 
war er ziemlich beschwerdefrei geblieben, dann war Occipitalneuralgie 
eingetreten. Gegen diese war eine spezifische Behandlung eingeleitet 
worden. Ein Jahr spater waren Augenmuskelstdrungen zu verzeichnen 
gewesen. Diese waren bald wieder verschwunden. 

Das die letzte Lebenszeit beherrschende Krankheitsbild war erst 
im Juli 1910 aufgetreten. Neben Facialislahmung, Ohrensausen und Schwer- 
horigkeit rechterseits waren anfangs sonstige Storungen nicht zu verzeichnen. 
Einen Monat spater gesellte sich Horstorung und Facialislahmung auf der 
linken Seite hinzu. Auch starkere Sprach- und Schluckstorung trat auf. 

Am 4. IX. 10 fand die Aufnahme in die psychiatrische Klinik statt. 
AuOer den erwahnten Storungen konnte hier noch festgestellt werden, 
daB sich eine Gaumensegelparese fand, sowie, daO an den imteren Ex- 
tremitaten keine wesentlichen Storungen bestanden. Auch die Blasen- 
und Mastdarmfunktion war nicht gestort. Am Augenhintergrunde war 
normaler Befund. Samtliche Erscheinungen gingen ohne Fieber einher. 

Am 5. IX. 10 stellten sich geringe Schmerzen im Genick ein. In 
der folgenden Nacht wurde der Patient unter starker motorischer Unruhe 
bewuBtlos. Am Tage darauf besserte sich das BewuBtsein wieder etwas, in 
der folgenden Nacht aber trat um 3 80 Uhr morgens unter zunehmender 
Benommenheit der Exitus ein. 

Der Symptomenkomplex des letzten Krankheitsbildes lieB eine 
Affektion an der Himbasis vermuten. Klinisch wurde daher imter Riicksicht 
auf die Luesanamnese die Diagnose auf gummose Meningitis der Him¬ 
basis gestellt. 

Die Sektion wurde 7 Stunden nach dem Tode vorgenommen. AeuBerer 
Umstande wegen konnte sich dieselbe leider nur auf den Kopf erstrecken. 


x ) Monatsschr. f. Psych, u. Neur. Bd. XXIX. 1911. 


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der inneren Meningen des Gehims. 


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Wahrend sich hierbei an den auBeren Schadeldecken und am Schadel 
selbst sowie an der Pachymeninx im allgemeinen nichts Pathologisches 
fand. fielen sofort starke Verandenmgen an der Hirnbasis auf, die sich 
im Vorhandensein einer grau-braunlichen z. T. suizigen Aftermasse innerhalb 
der Leptomeningen zeigten. Dadurch erschienen diese getriibt und vielen 
Orts graulich verfarbt. Das Maximum ihrer Ausbreitung erreichte die 
Aftermasse an der Unterflache der rechten Kleinhirnhemispare. Hier hing 
ein Teil der stark erweichten Massen mit der Dura der hmteren Schadel- 
grube zusammen, so daB beim Herausheben dieser Kleinhirnhemispare 
ein Teil davon an der Dura haften blieb. Hier und dort konnte man auch 
einige frischere Blutungsstreifen bemerken. Dabei war es in der rechten 
Kleinhirnhemispare durch Einwucherung der Tumormasse zu ausgedehnter 
Zerstorung gekommen, die bis zur Grenze der Rinde gegen das Mark reichte. 
Sonst zeigten sich aber nirgendwo solche tiefgreifenden Zerstonmgen. 
In der Gegend des KJeinhimbriickenwinkels war auch eine betrachtlichere 
Menge dieser Aftermasse sowohl rechts wie links zu bemerken, ohne daB 
dabei die Kontinuitat der Meningen irgendwo unterbrochen war. Hier 
waren auch die N. n. trigemini, desgleichen die N. n. trochleares, acustici 
und faciales beiderseits sowie der N. glossopharyngens, vagus und facialis 
auf der rechten Seite ganz eingehiillt, so daB diese Nerven nur eben noch 
zu erkennen waren. Die schmutzig-graubraunliche Aftermasse setzte sich 
auch langs der betreffenden Nerven in ihre zugehorigen Foramina fort, 
wie dies besonders an der Durchtrittsstelle der N. n. trigemini und am 
Meatus audit, intern, beiderseits zu erkennen war. Ziemlich frei erschienen 
beide N. n. hypoglossi und der linke N. accessorius. An den inneren Me¬ 
ningen der Medulla oblongata zeigte sich nur geringe Triibung. Ebenso 
verhielt sich der Pons mit Ausnahme einer zart grauen Verfarbung in 
seiner Mittellinie. Wahrend beide N. n. oculo-motorii und abducentes keine 
Verandenmgen aufwiesen, fand sich am Stiele der Hypophysis wiederum 
eine weiche graubraunliche Infiltration. Diese blieb auf jenes Gebiet be- 
schrankt und setzte sich nicht auf die N. n. optici fort, die normales Aus- 
sehen zeigten. Dagegen waren beide Bulbi olfactorii verdickt, weich, zer- 
flieBend von schmutzig grauer Farbe, und die N. n. olfactorii zeigten das 
gleiche Verhalten, was bis zur Lamina cribrosa verfolgt werden konnte. 
Sonst war noch an der Unterflache des GroBhirns mu* hier und dort, meist 
an den tieferen Sulci, geringe braunliche Infiltration der inneren Meningen 
zu sehen. wahrend die diffuse Triibung derselben alienthalben auffiel. 
Diese setzte sich auch auf die ganze Groflhimkonvexitat und die obere 
Flache des Kleinhims fort. In unmittelbarer Nachbarschaft der ziemlich 
mit Blut gefullten Pialvenen fand sich an der Konvexitat beider GroBhim- 
hemisparen eine leichte, grau-braunliche Infiltration der inneren Meningen. 
Ebenso war diese stellenweise an den tieferen Sulci, besonders stark aus- 
gepragt in der Gegend der Inseln, zu konstatieren. In dem dem Sinus sa- 
gittalis superior entsprechenden Gebiete der GroBhimoberflache, zumal 
nach dem Occipitalhim zu, waren reichliche Pacchionische Granulationen 
zu bemerken. 

AuBer diesen oberflachlichen Verandenmgen konnte man bei ge- 
nauerer Betrachtung an einzelnen Stellen Herde, die in der Himsubstanz 
ihren Sitz zu haben schienen, durch die Leptomeningen durchschimmem 
sehen. So zeigte sich an der Konvexitat der linken GroBhirnhemisphare 
im Bereiche des unteren Abschnittes der vorderen Zentralwindimg ein 
grau-braunlicher, an der Oberflache etwa 1 qcm groBer Herd, der in der 
Tiefe frische Blutung erkennen liefl. Kleinere solcher Herde, etwa hanfkom- 
bis linsengroB, konnten im Bereiche der Unterflache des rechten und linken 
Hinterhauptlappens in der Rinde bemerkt werden. 

An dem Plexus der Ventrikel konnten keine Verandenmgen fest- 
geetellt werden. Die basalen Arterien waren zartwandig bis auf geringes 
Klaffen der Carotides intemae. 

Nach geniigender Hartung in 10°/ o Formalin wurde spater das GroB- 
him in zahlreiche Horizontalschnitte und das Kleinhirn durch einen Frontal- 
schnitt zerlegt. Sowohl in der Rinde, wie im Marke der beiden GroBhim- 


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Haeger , Ausgebreitetes Endotheliom 


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hemisparen zeigten sich mm hier und dort zerstreute Neoplasmaknoten. 
Meist waren dies© —1 ccm groB, von rundlicher Gestalt und von grau- 
brauner Farbe. Ihre Schnittflache erschien fein gekomt. Der groBte Herd 
fand sich im Mark© der rechten Gro Chimhemisphare, etwa in der Mitte 
der vorderen Zentralfurche. Er bestand aus einem graubraimen Knoten 
von 1 ccm GroBe, dem ein Herd von der Gestalt und der GroBe einer groBen 
Bohne angelagert war. Dieser war tiefschwarzbraun von ziemlich glatter 
Schnittflache und stach gegen die leicht braunlich-grau infiltrierte Um- 
gebung lebhaft ab. Er machte ganz den Eindruck eines Blutungsherdes. Ein 
ahnlicher solcher Herd zeigte sich, wie schon erwahnt wurde, in der Rinde 
und im anliegenden Mark© in der linken GroBhirnhemisphare im Bereiche 
des unteren Abschnittes der vorderen Zentralwindung. Durch die aus- 
giebige Lamellierung des GroBhims lieB sich feststellen, dafi samtliche 
Herde. auch die scheinbar frei in der Rinde oder im Mark© liegenden, mit 
den Leptomeningen, zum wenigsten mit der Pia, in Verbindung standen. 
Wenn auch ein solcher Markherd der einen Lamelle ganz im Marke lag, 
so zeigte die nachste Lamelle, daB er denn doch mit einem tiefen Sulcus 
und der Pia dieses Sulcus in Zusammenhang stand. An diesen Lamellen 
konnte femer bemerkt werden, wie in mehrere gro Cere Sulci, besonders 
in diederlnsel, einebetrachtlicheMenge von Aftermassehereingewachsenwar. 

Der Durchschnitt des Kleinhirns zeigte sehr deutlich die schon er- 
wahnte, bis an das Mark reichende Zerstorung an der rechten Hemisphare. 
Aber auch sonst, wenn auch in geringerem MaBe, war vielenorts auf diesem 
Schnitte die Zerstorung der auBersten Rindenpartien durch die von den 
inneren Meningen eingewucherte Aftermasse zu sehen. 

Durch die Zerlegung des GroBhims konnte jetzt auch das Ependym 
der Seitenventrikel einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Es 
wies hier und dort die Aftermasse in Form kleiner braunlicher Flecken auf 1 ). 

Wahrend so die makroskopische Betrachtung die Lokalisierung, 
Verbreitung und Ausdehnung dieser Aftermasse feststellen lieB, aber kein 
bestimmtes Urteil liber ihre Natur erlaubte, war es die Aufgabe der histo- 
logischen Untersuchung , hieriiber AufschluB zu geben. 

Zu diesem Zwecke wurden zunachst Stiicke von verschiedenen Tumoren 
entnommen, in Celloidin eingebettet und mit dem Mikrotom in Schnitte 
von 8—9 fi Dicke zerlegt. Dieselben wurden weiter mit Hamatoxylin- 
Eosin und mit der von Weigert modifizierten van Giesonmethode behandelt. 
Doch zeigte letztere vor der gewohnlichen Hamatoxylinfarbung keine 
wesentlichen Vorteile. 

Schnitte von einem etwa lccm groBen, graubraimen Herd© aus der 
Scheitelgegend der rechten Hemisphare gaben folgendes Bfld: Inmitten 
einer Masse von dicht aneinanderliegenden. epithelahnlichen Zellen befanden 
sich reichliche, stark mit Blut gefiillte GefaBe. Meist stellte ihre Wand 
eine einfache Endothelschicht dar, was auf stark erweiterte Kapillaren 
schlieBen lieB. Aber auch kleinere und nicht selten mittelgroBe Arterien 
und Venen waren vertreten. In der Wand aller dieser BlutgefaBe lieB sich 
nur selten eine Verandenmg finden. Nur an ganz vereinzelten Stellen war 
es zu einer ZerreiBung derselben mit nachfolgender Blutung gekommen. 

Schnitte von dem Herde der linken GroBhirnhemisphare, der schon 
makroskopisch durch seine schwarzbraune Farbe und seine relativ glatte 
Schnittflache aufgefallen war, lehrten dagegen, daB es hier zu starken 
Blutungen gekommen war. Denn ganze Gebiete waren so von Erythrozyten 
iiberschwemmt. daB zwischen denselben nur ganz veretreut Tumorzellen 
zu erkennen waren. 

Auch die Schnitte des zuerst erwahnten Tumors lie Ben eine bestimmte 
Gruppierung seiner Element© nur vermuten. Wahrend im Zentrum das 
Bild seines Aufbaues sehr ahnlich dem eines medullaren Karzinoms war, 
wo Zelle an Zelle gelagert ist, lieB sich nach der Peripherie zu erkennen, 
daB seine Element© in strangformigen Reihen angeordnet waren, die da 


1 ) Unter No. 6976 ist dieses Gehim in das Museum des patholo- 
gischen Instituts zu StraBburg eingereiht. 


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der inneren Meningen des Gehirns. 


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und dort kleinen GefaCen zu folgen schienen. In Schnitten von einem 
Tumor von HanfkomgroBe trat dies auch im Zentrum deutlich hervor, 
so daB man annehmen muBte, daB die Zellen in den grofieren Herden aus 
ihrer strangformigen Anordnung heraus in die karzinomahnliche Struktur 
gepreBt worden waren. Gegen die Himsubstanz waren diese Tumoren nicht 
scharf begrenzt, sondem sandten in jene an einigen Stellen Zellstrange 
hinein. 

Diese Tumorelemente bestanden in der Hauptmasse aus polyedrischen 
ziemlich groBen Zellen, die wie Epithelien aussahen. Der Protoplasmaleib 
war ziemlich dicht und hob sich scharf gegen den meist hellen, blaschen- 
artigen und recht groBen Kern ab. Allenthalben zeigte sich ein deutliches 
Chromatingeriist, in dem sich sehr oft ein mit Eosin sich lebhaft farbender 
Nucleolus leicht erkennen lieB. Auch zwei Nucleoli in einem Kerne konnten 
nicht selten angetroffen werden. Neben diesen ruhenden Kernen fanden 
sich solche mit alien Stadien der indirekten Teilung, toils in typischer, 
toils in atypischer Form. Moistens trat hervor das Knauelstadium und 
der Zustand, wo zwei Kerne gerade aus der Teilung hervorgegangen waren 
und semmelartig nebeneinander lagen. Die Anordnung ihres Chromatin- 
geriistes lieB noch auf kurz vorhergegangene Teilimg schlieBen. Auch 
die Monaster- und Diasterform war nicht sehr selten, jedenfalls aber nicht 
so haufig wie die anderen Formen. Es konnte also auf ein recht lebhaftes 
Wachstum der Aftermasse geschlossen werden. 

Neben diesen Zellen, die, wie erwahnt, die Hauptmasse der Tumoren 
ausmachten, traf man noch hier und dort zerstreute Zellen an, die 3- bis 
5 mal so groB wie jene waren und in ihrer Form keinem bestimmten Typus 
angehorten. Meist waren sie kugelig oder langlich, auch waren sie zuweilen 
polyedrisch konfiguriert; manchmal waren sie sogar von unregelmaBig aus- 
gebuchteter Gestaltung. Ebenso wie in ihren Formen waren diese Zellen 
auch in ihrer iibrigen Beschaffenheit nicht ganz einheitlich. Gemeinsam 
war ihnen aber alien, daB sie mindestens zwei groBe, runde, stark blasige 
Kerne aufwiesen, die nichts von Zerfall zeigten. Das Protoplasma war 
teils dicht mit feinsten hellbraunen Pigmentkomem versehen, toils lieB 
es plumpere tmd dunklere Pigmentkomer erkennen. Daneben waren 
auch Zellen zu finden, die gar kein Pigment aufwiesen. Ein groBer Teil 
dieser ,,Riesenzellen“ hatte noch Einschlusse aufzuweisen. Nicht selten 
konnte man zerfallende Kerne und Reste solcher Kerne von anderen auf- 
genommenen Zellen in ihnen bemerken. Oft traf man daneben noch starke 
Vakuolenbildung an, die einigen Zellen ein geradezu schaumiges Aussehen 
verlieh. Neben einem lebhaften Wachstum war also an diesen Zellen auch 
eine betrachtliche Phagocytose zu bemerken. 

Wahrend man solche Befimde in den Schnitten der erwahnten Tu¬ 
moren nur hier und dort machen konnte und diese Verhaltnisse durch 
die dichte Sehichtung der Zellmassen nicht immer scharf hervortraten, 
erwies sich ein Schnitt von der Tumormasse, die sich von der rechten Klein- 
himhemisphare bis zur Dura erstreckte, zum genaueren Studium als sehr 
wertvoll. Wie in der makroskopischen Beschreibung schon erwahnt, war 
diese Aftermasse wahrscheinlich durch die frischere Blutung stark gelockert, 
so daB einige Stellen des mikroskopischen Praparates gleichsam ein Zupf- 
praparat ersetzen konnten. Dort waren die einzelnen Zellelemente starker 
isoliert und konnten so besser einer genaueren Betrachtimg unterzogen 
werden. 

Auch hier traf man die gewohnlichen Tumorelemente meist in poly- 
edrischer Form an. Doch wiesen auch einige eine inehr kugelige Gestalt 
auf, so daB es den Eindruck machte, daB diese polyedrische Form der 
Zellen zum Teile auf Kompression zuriickzufiihren sei. 

Die „Riesenzellen“ traten hier in alien moglichen Formen zutage. 
Neben den oben erwahnten Gestaltimgen waren noch Zellen anzutreffen, 
die groBe, lange Spindeln darsteUten. Auch fanden sich Gebilde, die 
einem Syncytium nicht unahnlich waren, und deren Kerngruppierung 
meist ganz unregelmaBig war. Zuweilen war es ein Protoplasmastrang 
mit 3 bis 4 Kernen hintereinander. 


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Haeger, Ausgebreitetes Endotheliom 


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An diesem Praparate lieB sich die Phagocytose nooh deutlicher er- 
kennen. Man konnte Zellen bemerken, die bis 5 fremde Kerne in ihrem 
Protoplasma eingeschlossen hatten. Auch die Vakuolenbildung war hier 
sehr deutlieh. Besonders schon war das Bild einer „Riesenzelle“, die nach 
Art einer Amobe eine gewohnliche Tumorzelle umflossen hatte und sie 
nun in einer riesigen Vakuole einschloB. Sie war nicht unahnlich einem 
Siegelring, wo der Kern den Stein vertrat. 

Dieser Schnitt lieB nun femer erkennen, daB die Aftermaese ein 
Stroma besaB, das allerdings auBerst zart und sparlich war. Zwischen 
den Zellen lie Ben sich namlich ganz zerstreut Fasern eines sehr zarten, 
sich nur ganz schwach mit Eosin farbenden Bindegewebsgeriistes konsta- 
tieren. In den zuerst erwahnten Tumoren war nur in den Randpartien 
und dort nicht einmal sehr deutlieh eine Andeutung eines Stromas zu 
bemerken gewesen. 

Auch in bezug des Aufbaues der Geschwulstmasse verschaffte der 
in Rede stehende Schnitt 1 ) einige Klarheit. Es zeigte sich eine exquisite 
strangformige Anordnung der Zellen, die meist durch den Verlauf eines 
kleinen GefaBes bestimmt war. An vielen Stellen war deutlieh zu sehen, 
wie auf die AuBenseite einer ganz normalen BlutgefaBwand ein Raum 
folgte, der mit Lymphozyten erfullt und nach auBen von einer Schichte 
von Tumorzellen abgeschlossen war. Meist waren die Tumorzellen hier, 
wie sich bei starkerer VergroBerung erwies, von kubischer Gestalt imd 
hintereinandergelagert. Zuweilen waren aber auch die Zellgrenzen sehr 
undeutlich, so daB nicht selten das Bild eines langgestreckten Syncytiums 
entstand, in welchem die Kerne in gleichmaBigen Abstanden voneinander 
entfernt waren. 

Fast noch deutlicher trat dieses Verhalten der Geschwulstzellen in 
einem Schnitte vom GroBhirn hervor, wo ein tiefgehender groBer Sulcus 
getroffen war, den Aftermasse erfiillte. Von der Hauptmasse aus, wo ein 
dicht gedrangtes Zellager von groBeren GefaBen da und dort unterbrochen 
wurde, drangen Tumorstrange kammartig gegen die Hirnmasse vor. 
Ziemlich oft und deutlieh war zu sehen, daB ihre Achsen kleine BlutgefaBe 
oder Kapillaren waren. Anderseits wurden auch ganz solide Zellmassen 
in die Hirnsubstanz entsandt, die den Eindruck erweekten, als folgten sie 
Lymphspalten. Auffallend war es hierbei, daB gerade die pigmentierten 
,,Riesenzellen“ fast ganz auf die Peripherie verteilt waren. Ja, in einzelnen 
Strangen schienen sie geradezu die Fiihrerschaft iibemommen zu haben 
und drangen, sich den raumlichen Verhaltnissen anpassend. gegen die Him- 
substanz vor. In dieser sah man noch da und dort an der Grenze nach 
dem Tumor zu einige kleine BlutgefaBe im Querschnitte getroffen. Um 
die normale GefaBwand befanden sich in kranzartiger Gruppierung die 
Geschwulstzellen von kubischer Gestalt, deren Reihe hier und dort von 
einer Riesenzelle unterbrochen wurde. Verfolgte man den Sulcus nach der 
Himrinde zu, so sah man, daB die Arachnoidalraume meist ganz mit Tumor- 
masse ausgefiillt und die Endothelien der Arachnoidalbalkchen sowie 
der Pia mater zu typischen Geschwulstzellen entartet waren, so daB es 
wohl den Eindruck machte, als ob hier der Ausgangspunkt fiir die Neu- 
bildung sei. 

Die erwahnten Charakteristika des Tumors fiihrten zu der 
Anschauung, daB es sich hier um ein Endotheliom der inneren 
Meningen handle. Ribbert sagt in seinem Lehrbuche der all- 
gemeinen Pathologie unter anderem bei Besprechung des En- 
dothelioms, daB man zu seiner Diagnose da berechtigt sei, wo 
von den Oberflachen der Gehirnhaute Geschwiilste entstehen, 
deren zellige Elemente mit groBter Wahrscheinlichkeit von den die 


l ) Hierzu Fig.^1 auj Taf. VI. 


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der inneren Meningen des Gehims. 


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Flachen bekleidenden platten Endothelien ausgehen. Ferner fiihrt 
er an, daB man stets an Endotheliom denken musse, wenn es sich 
nm aus Strangen epithelahnlicher Zellen aufgebaute Geschwiilste 
handle an Stellen, an denen echtes Epithel in der Norm sich 
nicht findet, und an denen man es auch nicht als einen durch 
Verlagerung dorthin gelangten Bestandteil ansehen kann. Ferner 
ist die strang- oder schlauchformige Anordnung der Zellen nach 
vielen Autoren gerade fiir das Endotheliom charakteristisch. 
Blut- und LymphgefaBe bezeichnen den Weg der Ausbreitung; 
ihnen folgen die Tumorzellen. Auch das Vorhandensein der Ge- 
schwulstelemente in Lymphspalten ist nach v. Recklinghausen 
fiir das Endotheliom sehr bezeichnend. Er stellte nach Borst 
zuerst die Ansicht auf, daB die Endothelien der Saftbahnen das 
proliferierende und das die Geschwulst charakterisierende Element 
seien. 

Die Tumorzellen wiesen auch alle jene Eigenschaften auf, 
die man sonst bei aus dem Endothel entstandenen Geschwulst- 
zellen gefunden hat. Die so haufige polyedrische Form der Zellen 
der Endotheliome wird zumeist darauf zuruckgefiihrt, daB die 
entarteten Endothelien mit groBem Protoplasmaleib und groBem 
Kern dieselbe durch den gegenseitigen Druck angenommen haben. 
Von Stachel- und Riffbildung sowie von interzellularen Zell- 
briicken hatten die Zellen in dem Tumor nichts aufzuweisen. 
DaB mitunter die Zellgrenzen sehr verschwommen waren und so 
zuweilen strangformige Synzytien mit gleichmaBig hintereinander 
stehenden Kernen vortauschten, soil nach Borst und Ribbert 
gerade bei Endotheliomen nicht selten und in gewissem MaBe 
fiir sie charakteristisch sein. Borst ist ferner der Ansicht, daB 
bei den Endothelien eine gewisse Predisposition zu mangelhafter 
Abschniirung des Zelleibes nach erfolgter Kernteilung bestehe. 
So leitete er auch die Riesenzellen bei chronischen Entziindungen 
aus endothelialen Elementen ab. DaB dann dieses Verhalten 
bei maligner Entartung noch deutlicher zutage tritt, kann daher 
nicht wundernehmen. So sind denn auch die auffallenden Ge- 
bilde in unserem Tumor, die „Riesenzellen“ und die vielkernigen 
Protoplasmamassen endothelialen Ursprungs. AuBer Borst be- 
statigen noch sehr viele andere Autoren diesen Befund in 
Endotheliomen. Ja Klebs erwahnt in seiner allgemeinen Patho- 
logie (1889), daB Eberth meint, „daB die Anfange der Neubildungen 
der Pia in Gestalt weicher protoplasmareicher Massen wie eine 
Scheide die GefaBe deF Pia mater iiberziehen. In ihnen sind 
unregelmaBig Kerne verteilt; daneben kommen auch Riesen¬ 
zellen mit vielen Kernen und mit aufgenommenen Leukozyten 
vor.“ Gerade diese protoplasmatischen Massen sprechen nach 
Klebs ganz gegen Epithelentwicklung. DaB die Endotheliome 
der weichen Hirnhaute nur sehr sparliche Geriistmassen auf- 
weisen, wie dies deutlich an dem Tumor von der rechten Kleinhirn- 
hemisphare zu sehen war, wird noch besonders von Ribbert in 
dem Lehrbuche der pathologischen Histologie hervorgehoben. 


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Haeger , Ausgebreitetes Endotheliom 


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Es sind eben die auseinandergedrangten Fasern des vorher be- 
stehenden Bindegewebes. 

Ehe ich den Ausgangspunkt und die Verbreitungsweise 
unseres Tumors bespreche, will ich noch einiges liber die Herkunft 
des Pigments in den „Riesenzellen“ erwahnen. Das Nachst- 
liegende ist wohl, anzunehmen, daB diese Gebilde mit ihrem 
beweglichen Protoplasmaleib imd ihrer Phagozytose einfach 
Blutpigment in sich aufgenommen haben, das in den Tumor- 
massen von alteren Blutungen herriihrend hier und dort verstreut 
lag. Ich glaube, man wird mit dieser Annahme auch nicht fehl 
gehen, besonders wenn man die groberen Korner im Zellleibe 
fur hamatogenes Pigment halt. Aber anderseits ist zu bedenken, 
daB sich auch normalerweise in den Endothelien der Leptomeningen 
besonders in der Gegend der Hirnbasis, Pigment findet, wie dies 
Pol in seiner Arbeit liber die melanotischen Geschwiilste eingehend 
erortert. Zu diesem autochthonen Pigmente mochten jene Farb- 
stoffpartikelchen gehoren, die so fein verteilt waren, daB kaum 
einzelne Kornchen derselben erkannt werden konnten. Ober - 
Steiner fiihrt in seinem Buche iiber den Bau der nervosen Zentral- 
organe an, daB auch die Elemente der Adventitialscheide der Hirn- 
gefaBe nicht selten normalerweise Pigment besitzen. 

Was die Untersuchung unseres Tumors besonders interessant 
machte, war der Umstand, daB die Genese der Geschwulstzellen 
direkt beobachtet werden konnte, und daB man nicht allein auf 
die Gruppierung der Zellen, ihr Verhalten zu Blut- und Lymph- 
bahnen so wie auf ihr Aussehen angewiesen war, um die Diagnose 
Endotheliom stellen zu konnen. 

Die bei der makroskopischen Betrachtung auBer den Tumoren 
auffallende Triibung und stellenweise grauliche Infiltration der 
Leptomeningen erweckten die Idee, daB hier vielleicht die An- 
fangsstadien der Neubildung zu sehen sein konnten. 

Zunachst wurden solche Stellen der weichen Hirnhaute, die 
makroskopisch eine grauliche Verfarbung aufwiesen, daraufhin einer 
ausgedehnten Untersuchung unterzogen. Es zeigte sich aber dabei, 
daB diese Stellen zur Feststellung der Matrix des Neoplasmas 
doch nicht brauchbar waren. Man sah freilich, daB die Endothel- 
zellen der Pia und der Arachnoidalbalkchen neoplastisch entartet 
waren; jedoch fiillten auch hier dichte Massen von Tumorzellen 
die ganzen Maschenraume aus, so daB man immer noch einwenden 
konnte, die mit dem Liquor verschleppten Geschwulstzellen 
hatten sich in den Maschen zu diesen groBen Zellmengen vermehrt 
und dabei durch Druck das Endothel zum Schwund gebracht 
und sich auf dem Stroma festgesetzt. 

Es wurden daher weiter noch Schnitte von solchen Stellen der 
Leptomeningen angefertigt, wo makroskopisch gar keine Infil¬ 
tration zu bemerken war. Auch hier waren die meisten Stellen 
nicht geeignet, den Ausgangspunkt festzustellen, in dem man 
meist den gleichen Befund wie vorhin machte. Doch aber zeigten 
einige wenige Schnitte dieser Stellen die Anfange des Neoplasmas 


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in zweifelloser Weise 1 ). Es fanden sich Partien, wo die Maschen 
gar nicht mit Aftermasse vollgepfropft waren, wo das Stroma 
der Balkchen beiderseits mit einer einfachen Schicht zu kubischen 
Geschwulstzellen sich umwandelnder Endotheiien bekleidet war. 
Auch traf man Balkchen an, wo diese Zellen nicht kontinuierlich 
in Reih und Glied geordnet waren, sondern hier und dort durch 
mehr spindelige Elemente unterbrochen wurden, die nur etwas 
groBer als die normalen Endotheiien waren®). Sehr wichtig war 
der Befund von Balkchen, die auf einer Strecke ganz normales 
Endothel trugen, das weiterhin in mehr ovale Zellen iiberging, 
die sowohl an Protoplasma-, wie an Kernsubstanz groBer waren 
und schlieBlich als kubische Zellen den Belag der Balkchen bildeten. 
Teilweise waren schon in diesen Zellstrangen die Zellgrenzen 
etwas verwaschen. Damit war der Vorgang der Geschwulstzellen- 
bildung klargelegt und ihr Ausgangspunkt von den Endotheiien 
der Balkchen der Leptomeningen gefunden. 

DaB aus den Endotheiien der weichen Hirnhaute, und zwar 
aus denen des subarachnoidalen Balkenwerks, nicht zu selten 
Endotheliome hervorgehen, fand ich fast in alien neueren Lehr- 
bfichern der pathologischen Anatomie erwahnt, und ebenso hatten 
viele altere Autoren dies schon hervorgehoben. 

Nach Obersteiner stellen die mit Endotheiien ausgekleideten 
Arachnoidalmaschen weite Lymphraume dar, und finden die- 
selben nach dem Gehirne zu ihren AbschluB durch die Pia mater, 
die an der ihnen zugewandten Seite ebenfalls von Endotheiien 
iiberzogen ist. Schon die groBeren GefaBe, die sich meist in den 
der Pia benachbarten Maschen befinden, sind durch deren Balken- 
werk in einen ziemlich weiten Lymphraum eingeschlossen. Diese 
Endothelscheiden setzen sich auch auf die zahlreichen kleinen 
PialgefaBe fort. Selbst die intracerebralen GefaBe, die von dort 
ihren Ursprung nehmen, sind von solchen adventitiellen GefaB- 
scheiden begleitet, so daB die Muskelschicht derselben frei in 
einen Hohlraum ragt, der innen von Endotheiien ausgekleidet 
ist, und in dem sich ein Lymphstrom bewegt. Obersteiner ffihrt 
ferner an, daB nach einigen Autoren sogar die Kapillaren dieser 
adventitiellen GefaBscheiden nicht entbehren. Stellen wir uns 
nun, um mit Borst zu reden, alle diese endothelialen Anteile in 
geschwulstmaBige Wucherung geraten vor, so haben wir das 
Bild unseres Falles. Es entstanden Tumoren, welche aus einem 
labyrinthischen System von BlutgefaBen und Zellmassen zu- 
sammengesetzt waren, die, dem Verlaufe der BlutgefaBe folgend, 
alien zwischen diessn letzteren zur Verfiigung stehenden Raum 
besetzt hatten. Auch die mehr diffuse Wucherung der Endotheiien 
der Leptomeningen waren so zustande gekommen. 

Wenn man sich vor Augen halt, daB fiber die ganze Hirn- 
oberflache die Aftermasse verbreitet war, daB neben alteren 


*) Hierzu Fig. 2 auf Taf. VI. 
*) Hierzu Fig. 3 auf Taf. VI. 


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H a e g e r , AusgebreiU'tes Endotheliom 


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Stadien sich solche der Entstehung und der Entwicklung fanden, 
so wird man kaum daran denken konnen, daB die Geschwulst- 
elemente \on einem Punkte sich allmahlich in die einzelnen Lymph- 
spalten vorgeschoben hatten, sondern vielmehr meinen miissen, 
daB, wie schon Birch-Hirschfeld sagte, in unserem Falle ein groBer 
Teil des LymphgefaBsystems in der ganzen Ausdehnung der Lepto- 
meningen erkrankt war, ilnd daB in der Hauptsache die die 
Lumina erffillenden Zellen, an Ort und Stelle entstanden waren. 
So finde ich daher, daB das Verhalten unseres Tumors die An- 
gabe lpestatigt, die Rindfleisch betreffs der Endotheliome macht; 
namlich, daB die Ausbreitung der Endothelwucherung langs 
der Flache erfolgt und das Dickenwachstum sich an der ganzlichen 
Fiillung der Lymphraume erschopft. Ich stimme daher ganz 
der Ansicht von Rindfleisch bei, wonach die Bildung von groBeren 
Greschwulstzellenhaufen aus je einer Endothelzelle das Anfangs- 
stadium des Prozesses ist. these Art der Verbreitung gibt dem 
Endotheliom ein charakteristisches Geprage anderen malignen 
Tumoren gegenfiber. 

Jedoch noch eine andere Art der Verbreitung der gewucherten 
Endothelien war unserem Falle nicht fremd. Als ich das Ependym 
der Seitenventrikel einer mikroskopischen Untersuchung unterzog, 
das, wie anfangs hervorgehoben, schon makroskopisch sich stellen- 
weise, namlich durch fleckige braunliche Verfarbung, als verandert 
erwies, fanden sich bei schwacher VergroBerung Stellen, die an 
das Bild einer Ependymitis granularis erinnerten. Einzelne Par- 
tien des Ependyms sprangen fiber das normale Niveau hervor 
und entbehrten ihres Epithelbesatzes. Die Gehirnsubstanz war 
hier etwas aufgelockert und von zahlreichen runden Zellen durch- 
setzt. Bei starkerer VergroBerung erkannte man sofort, daB 
diese runden Zellen Tumor zellen waren, unter denen auch wieder 
groBere, pigmentierte ,,Riesenzellen“ sich fanden. Offenbar waren 
mit dem Liquor cerebrospinalis aus den Subarachnoidalraumen 
Tumorzellen in das Ventrikelsystem verschleppt worden und 
dort angewachsen. An einigen Stellen bemerkte man, wie sich 
Tumorzellen durch das zerstorte Ependym sogar in die Hirn- 
substanz eingegraben hatten 1 ). 

Dieser Befund von Metastasen der Tumorzellen im Ependym 
der Seitenventrikel lieB erwarten, daB sich solche vielleicht in 
noch reichlicherer Weise in den Telae chorioideae der Hirn- 
ventrikel zeigen wfirden. Schnitte von den Telae sowohl der Seiten¬ 
ventrikel als auch des IV. Ventrikels erwiesen aber, daB daselbst 
keine Veranderung zu konstatieren war. 

In der oben angeffihrten Arbeit von Dr. Heilig, in der unser 
Fall Erwahnung findet, ist die Angabe gemacht, daB sich im 
Lumbalpunktate groBere z. T. pigmentierte Zellen fanden, die 
offenbar den Tumorzellen unseres Falles entsprachen. Es waren 
also Geschwulstelemente auch in den Subarachnoidalraum des 


J ) Hierzu Fig. 4 auf Taf. VI. 


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der inneren Meningen des Gehims. 


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Rfickenmarks gelangt, und es ist sehr bedauerlich, daB dasRficken- 
mark nicht seziert werden konnte. 

In der Epikrise unseres Falles mochte ich mich also dahin 
aussprechen, daB es sich hier um ein sehr ausgebreitetes Endo- 
theliom von den Subarachnoidalraumen ausgegangen gehandelt 
hatte. Es kann dasselbe sehr wohl die einzige Geschwulstbildung 
im Korper gewesen sein; es kann aber bei dem Unterbleiben 
der iibrigen Sektion nicht absolut ausgeschlossen werden, daB 
sich sonst im Korper Herde der gleichen Geschwulstbildung 
entwickelt hat ten; sei es, daB Metastasen entstanden waren, 
oder daB an anderen Stellen des Korpers von den Endothelien 
dort befindlicher LymphgefaBe ebenfalls eine Endotheliom- 
bildung stattgefunden hatte. Freilich hatte eine solche Annahme 
wenig fur sich, da in der Krankengeschichte keinerlei pathologische 
Symptome von irgendeinem anderen Organe angegeben waren. 

Bei der Durchsicht der Literatur, die mir zur Verfiigung 
stand, stellte sich heraus, daB diese Art von Geschwulstbildung 
an den inneren Hirnhauten immerhin ziemlich selten angetroffen 
wird. Wenn auch nicht zu selten Neubildungen an den Lepto- 
meningen Erwahnung finden, so handelt es sich doch meist um 
Rund- oder Spindelzellensarkome oder um Cholesteatome, welche 
heutzutage nach Bostroem auf Ektodermverlagerungen zu be- 
ziehen sind und mit den Endothelien der Subarachnoidalraume 
in keiner Beziehung stehen. 

Eberth scheint der Erste gewesen zu sein, der auf die Endo- 
theliombildung der Leptomeningen die Aufmerksamkeit gelenkt 
hat. Im Jahre 1870 erschien im Virchowschen Archiv seine Ab- 
handlung: Zur Entwicklung des Epithelioms (Cholesteatoms) 
der Pia und der Lunge. Er berichtete dort uber die pathologisch- 
anatomischen Befunde, die in der Leiche einer 47jahrigen Frau 
gemacht wurden, die vor dem Tode fast dieselben Krankheits- 
erscheinungen gezeigt hatte, wie sie in unserem Falle bestanden 
hatten. Auch hier waren die intensiven Kopfschmerzen in den 
Vordergrund getreten. Der Sektionsbefund am Gehirne war dem 
in unserem Falle sehr ahnlich; auch hier waren allenthalben 
die Leptomeningen affiziert, jedoch waren die Neubildungsherde 
meist in bis linsengroBen Knotchen und Flecken angeordnet 
gewesen. Auch hier hatte am Kleinhirn die starkste Entwicklung 
des Neoplasmas stattgefunden. Bei der histologischen Unter- 
suchung machte Eberth die namlichen Befunde, wie sie in unserem 
Falle zu verzeichnen waren. Auch hier traf man diese eigenartigen 
epithelahnlichen Zellen mit den groBen blaschenformigen Kernen, 
mit den nicht ganz scharfen Zellgrenzen und mit dem charak- 
teristischen Verhalten zu den Lymphraumen. Auch die „Riesen- 
zellen“ fanden eingehende Erwahnung. Dieselben schienen be- 
deutend groBer und noch weit unregelmaBiger in ihrer Form 
gewesen zu sein, als es diese Zellen in unserem Falle waren; sowohl 
aus der Beschreibung wie aus den Abbildungen geht dies deutlich 
hervor. Ferner traten hier die synzytialen Protoplasmamassen 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologie. Bd. XXX. Heft 2. 7 


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Haeger, Ausgebreitetes Endotheiiom 


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mit den unregelmaBig verteilten Kernen durch Grofie und Haufig- 
keit besonders hervor. Eberth schildert, daB nicht selten die ganze 
GefaBscheide einen Protoplasmamantel mit unregelmaBig ver¬ 
teilten Kernen darstellte. Woher diese Neubildung ihren Ausgang 
nahm, dariiber weiB Eberth keine rechte Angabe zu machen, 
da er der Meinung war, daB die Subarachnoidalraume eines Zell- 
besatzes entbehrten. Aus seiner eingehenden Beschreibung geht 
aber, wie ich glaube, mit Sicherheit hervor, daB es sich auch in 
diesem Falle um ein ausgebreitetes Endotheiiom ausgehend von 
den Endothelien der Subarachnoidalraume gehandelt hatte. 

In diesem Falle fanden sich auch knotchenformige Infil- 
trationen in den Lungen, die nach der histologischen Beschreibung 
von Eberth ebenfalls wohl Endotheliombildungen entsprachen, 
wenn er auch diese Veranderung als Lungencancroid bezeichnete. 

Eppinger, der im Jahre 1875 in der Imager Vierteljahrsschrift 
einen ahnlichen Fall veroffentlichte und fur die Endothelaus- 
kleidung der Subarachnoidalraume lebhaft eintrat, gab in der 
betreffenden Arbeit: „Endotheliom der Meninx pia mit Metastasen 
in der Pleura, den Lungen und dem Perikard u eine eingehende 
Korrektion in der Deutung der Befunde, die Eberth in seinem 
Falle gemacht hatte. Er trat entschieden dafiir ein, daB es sich 
auch dort um ein Endotheiiom gehandelt hatte und nicht um 
eine Neubildung mit einem Ausgange von dem Epithel. In seinem 
Falle handelte es sich um einen 37jahrigen Mann, in dessen Krank- 
heitsbild heftige Kopfschmerzen, haufiges Erbrechen, Parasthesien 
an den Extremitaten sowie in den letzten Tagen vor dem Exitus 
noch Genicksteifigkeit besonders hervortraten. Bei der Sektion 
zeigte sich die Veranderung an den Leptomeningen meist in 
Knotchenform. Diese war sowohl am Gehirn 1 wie am Riicken- 
marke festzustellen imd hier allenthalben verbreitet. Die starkste 
Veranderung zeigte sich auch hier an der Hirnbasis. Sowohl an 
den Pleuren wie in den Lungen und sogar am serosen tlberzuge 
des Herzens fielen reichliche mihare Knotchen auf, die sich bei 
der histologischen Untersuchung gleichfalls als Endotheliome er- 
wiesen. Auch Eppinger gibt eine sehr eingehende Beschreibung 
der Tumorelemente der Leptomeningen. & hat so ziemlich die 
gleichen Befunde gemacht, welche ich in meinem Falle konstatieren 
konnte. 

Ferner brachte Lorrain einen Fall von Endothehom der 
Arachnoidea in der Sitzung der anatomischen Gesellschaft zu 
Paris vom 22. XI. 1895 zur Sprache. Hier handelte es sich um 
einen mehr zirkumskripten Tumor in der Gegend der dritten 
linken Frontalwindung von WalnuBgroBe, welcher der Dura 
leicht adhaerent war und sich durch starken GefaBreichtum 
auszeichnete. Mikroskopisch bestand er aus polygonalen Zellen, 
die konzentrisch angeordnet waren. 

In den Ergebnissen der allgemeinen Pathologie von Lubarsch- 
Ostertag (1898) fand ich das Referat iiber einen Fall von me- 
dullaren Endotheliomen, der 1896 von Makaritschew im Wratsch 


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der inneren Meningen des Gehims. 


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veroffentlicht wurde. Hier traf man bei der Sektion eines 48- 
jahrigen Weibes eine von den inneren Hirnhauten ausgehende 
walnuBgroBe Geschwulst an der Schadelbasis, welche Pons, 
Medulla oblongata und den obersten Teil des Riickenmarkes be- 
deckte. Dieselbe war mit der Pia in festem Zusammenhange und 
hatte den hinteren Teil des Foramen occipitale und den hinteren 
Bogen des Atlas usuriert. Mikroskopisch erinnerte die Geschwulst- 
bildung an Karzinom. Die Ziige der meist platten Zellen waren 
nach Art von LymphgefaBen angeordnet, und konnte die Zell- 
wuchenmg in den Lymphspalten der Hirnhaute direkt beobachtet 
werden. 

Einen weiter hierher gehorigen Fall beschrieb Lobeck in 
seiner Inaugural-Dissertation: ,,Beitrag zur Kenntnis der diffusen 
Sarkome der Pia mater“ im Jahre 1901. 

Bei dem 38jahrigen Manne waren die Hauptsyniptome des 
Krankheitsbildes vor dem Exitus starke Kopfschmerzen, Stauungs- 
papille, schlieBlich vollige Erblindung und zunehmende Be- 
nommenheit. Bei der Sektion fand man die Geschwulstbildung 
nur auf die Leptomeningen des Gehirnes und des Riickenmarkes 
beschrankt. Sie zeigte sich an den GroBhirnhemispharen in einer 
regellos angeordneten, fleckweisen Verfarbung der inneren Me¬ 
ningen, wahrend die Oberflache des Kleinhirns ganz diffus verfarbt 
war. Alle diese verfarbten Stellen erschienen etwas prominent 
und waren haufig um GefaBe angeordnet. Stellenweise griff die 
Aftermasse auch auf die Hirnrinde iiber, wie dies besonders deutlich 
sich an der oberen Halfte der rechten Kleinhirnhemisphare zeigte. 
Die gleichen Veranderungen bestanden auch am Riickenmarke, 
besonders stark in der Gegend der Hals-, Brust- und Lenden- 
anschwellung. Auch die Austrittsstellen der Nerven waren von 
einem Geschwulstmantel eingehiillt. An den iibrigen Organen 
konnten keine wesentlichen Veranderungen festgestellt werden. 

Mikroskopisch setzten endotheliale Rundzellen mit blaschen- 
formigen Kernen die Aftermasse zusammen. Auch hier fand sich 
ein sehr sparliches Stroma. Die reihenformige Anordnung der 
Geschwulstelemente war nur angedeutet. Als Ausgang der Ge¬ 
schwulst wurde der Zelliiberzug der feinen pialen Fasern erkannt. 
Es konnte beobachtet werden, wie dort die betreffenden Zellen 
plotzlich zahlreicher wurden, umschriebene Zellhaufen und Biindel 
auftraten, und wie diese in die Geschwulstmassen iibergingen. 
Auch wurde ausdriicklich hervorgehoben, daB die BlutgefaBe 
nicht vermehrt und die Wandungen derselben nicht verandert 
waren. Ebenso wurde die Multiplizitat der Neubildung, die iiberall 
ziemlich gleich vorgeschritten war, besonders betont. Lobeck 
stellte daher die Diagnose: primares Endothelioma sarcomatosum 
alveolare piae matris cerebri et spinalis. 

Der jiingste hierher gehorige Fall ist nach meiner Kenntnis 
der 1902 von Nonne veroffentlichte. Bei einem 16jahrigen Madchen 
hatten sich heftige Schmerzen im Kopfe, im Nacken, Riicken 
und Kreuze eingestellt. Bald war es zu plotzlicher Erblindung 

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Haeger , Ausgebreitetes Endotheliom etc. 


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gekommen, der sich nervose Storungen an den Extremitaten 
hinzugesellt hatten. SchlieBlich war unter Nacken- und Riicken- 
steifigkeit, unter Schlucklahmung sowie unter Pulsirregularitat 
und Zyanose der Exitus eingetreten. 

Der makroskopische Sektionsbefund aller Organe war negativ 
mit Ausnahme einer fleekweisen Triibung des Piaiiberzuges liber 
GroBhirn- und Kleinhimhemispharen sowie in der Gegend des 
Chiasmas an der Basis; ebensolche Veranderungen waren auch 
an der Hinterflache des Riickenmarkes festzustellen. Jedoch 
waren diese iiberall so gering, c}aB man sie makroskopisch nicht 
mit Sicherheit als pathologisch ansprechen konnte. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung zeigte sich aber eine 
diffuse Infiltration der Pia mit endothelialen Geschwulstzellen, 
die einen blaschenformigen Kern besaBen. Den Pialbalken folgend 
setzte sich diese Aftermasse in die Sulci und Spalten des Ge- 
hirnes hinein fort. Auch die die GefaBe umgebenden Lymph- 
sacke waren in geschwulstmaBige Wucherung geraten, und Nonne 
hielt die Endothelien derselben fur die Matrix der Aftermasse 
und meinte, daB die Bezeichnung Peritheliom hier ganz gut passen 
wiirde. Wenn auch hier die Infiltration von der gesamten Pia 
ziemlich gleichmaBig und diffus war, so war auch in diesem Falle 
wieder die starkste Veranderung am Chiasma und zu beiden 
Seiten der Briicke anzutreffen. 

Benutzte Literatur. 

Birch-Hirschfeld, Allgem. patholog. Anatomie. 1889. Borst , Die 
Lehre von den Geschwiilsten. 1902. Borst , Ueber Geschwiilste des Riicken- 
marks. — Ergebn. d. allg. Pathologie (Lubarsch-Ostertag). Bd. IX. 1904. 
Eberth , Zur Entwicklung des Epithelioma (Cholesteatoms) der Pia und 
der Lungen. Virch. Arch. Bd. 49. 1870. Eppinger, Endotheliom der Meninx 
pia mit Metastasen in der Pleura, den Lungen und dem Perikard. Prager 
Vierteljahrsschr. f. die prakt. Heilk. Bd. II. 1875. Heilig , Ueber Pigment- 
erythrozytose der Cerebrospinalfliissigkeit. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 
Bd. XXIX.*1911. Klebs, Allgem. Pathologie. 1889. Lobeck , Beitrag zur 
Kenntnis der diffusen Sarkome der Pia mater. Inaug.-Dissert. Leipzig. 1901. 
Lorrain , Endotheliom der Arachnoiden. Sitzungsbericht der anat. Ge- 
sellschaft zu Paris vom 22. Nov. 1895. Makaritschew , Die medullaren 
Endotheliome der Gehimhaute. — Wratsch 1896. — Referat in Ergebn. 
der allg. Pathol, von Lubarsch-Ostertag. 1898. Nonne , Ueber diffuse 
Sarkomatose der Pia mater des ganzen Zentralnervensystems. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 1902. Bd. 21. Obersteiner , Anleitung beim Studium 
des Baues der nerv. Zentralorgane. 1901. Pol , Zur Kenntnis der Melanose 
und der melanot. Geschwiilste im Zentralnervensystem. Ziegl. Beitr. Fest¬ 
schrift fur Arnold. — Suppl. VII. 1905. Bibbert, Lehrhuch der allgem. 
Pathologie. 1905. Bibbert , Lehrbuch der patholog. Histologic. 1896. Bind - 
fleich , Lehrbuch der patholog. Gewebelehre. 1871. 

Erklarung der Abbildnngen auf Taf. VI. 

Fig. 1. Partie aus einem SchniUe des Kleinhimtumors . B.Q. = Blut- 
geiaB; G. W. = Gefafiwand; P. L . = perivaskularer Lymphraum; N. E. 
= normale Endothelien, welche diesen Lymphraum nach au Ben abschliefien; 
E. E. = entartete Endothelien — Tumorzellen; B. Z. = Riesenzellen; St. 
= Stroma. 


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Fumarola-Tramonti, Globulinreaktion etc. 


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In dem Schnitte ist ein BlutgefaS der Lange nach getroffen, das 
nach aufien von dem mit Lymphozyten erf till ten perivaskularen Lymph - 
raume umgeben ist, den meist entartete Endothelien nach aufien begrenzen. 

Fig. 2. Neoplastisch entartete# Balkenwerk der Pia in einem kleineren 
Stdkus . G . = Gehirn; K. = Kapillaren; B. P . = entartete Piaibalken. 

Fig. 3. Partie aus dem Balkenwerk der inneren Meningen mit be- 
ginnender neoplastischer Entartung der Endothelien . K. = Kapillare; N. E. 
= normales Endothel der Balkchen; B. E. = Endothelien mit beginnender 
Entartung; E. E . == Strang von ganz entarteten Endothelien. 

Fig. 4. Implantation der TumorzeUen in das Ependym der Seiten- 
ventrikel . Gehirnsubstanz; Ep. = Schichte der Ependymzellen; A. O . 

= sich auf das Ependym lagernde Geschwulstzellen. E. G. = Geschwulst- 
zellen, die sich in die Himsubstanz eingegraben haben und an dieser Stelle 
das Ependym zum Schwunde gebracht haben. 


(Aus der Klinik der Nervenkrankheiten der kgL Universitat in Rom. 

[Vorstand: Prof. G. Mingazzini.]) 

Globulinreaktion, Albuminreaktion und Lymphozytose 
bei den organischen Erkrankungen des Nervensystems. 

Von 

Dr. G. FUMAROLA und Dr. E. TRAMONTI, 

Assiatenten. 

Bekannlich kann die Wassermannsche Reaktion, obgleich 
sie einen bedeutenden diagnostischen Wert fur die syphilitischen 
und parasyphilitischen Erkrankungen des Nervensystems hat, 
wegen der mit ihr verbundenen technischen Schwierigkeiten 
nicht als eine praktische, jedem Arzte gelaufige Methode be- 
zeichnet werden. Deshalb wurden in den letzten Jahren von 
zahlreichen Autoren, um zu dem gleichen Ziele zu gelangen, andere 
Untersuchungsmethoden vorgeschlagen und neue Reaktionen 
erprobt, die viel rascher und leichter auszufiihren sind. So wurde 
untersucht, welchen EinfluB die vorgeschrittene Lues auf die 
zytologische Formel und den Albumingehalt der Zerebrospinal- 
fliifisigkeit hat. Was die zytologische Formel betrifft, so sind 
zahlreiche Forscher ( Widal y Sicard, Ravaut, Nageotte , Schonborn, 
Siemerling , E. Meyer , Gerhardt, Nissl , Merzbacher , Henkel , Cimbal , 
Apelt y Nonne und ApeU) zu der SchluBfolgerung gekommen, 
daB eine stark positive Lymphozytose (uber 60 Lymphozyten 
im mikroskopischen Gesichtsfelde) nur bei der paralytischen 
Demenz, bei Tabes und bei angeborener Lues des Nervensystems 
vorkommt, wahrend bei Epilepsie, bei mit Syphilis zwar infi- 
zierten, aber augenblicklich von nervosen Krankheiten freien 
Personen, bei multipler Sklerose, Hirntumoren u. s. w. die Lympho¬ 
zytose positiv (20—60 Lymphozyten) oder schwach positiv 
(8—20) ist. 


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100 F umarola-Tramonti, Globulinreaktion, 

Beziiglich des Albumingehaltes hat man gefunden, daB auch 
dieser eine mehr oder minder betrachtliche Vermehrung bei den- 
jenigen Krankheiten des Nervensystems erfahrt, die mit Syphilis 
oder Parasyphilis im Zusammenhange stehen ( Marie - VioUet , 
Decombaix , Donath , Nissl). Die qualitativen Analysen wurden mit 
Magnesiumsulfat ausgefuhrt, und aus diesen Untersuchungen 
ergab sich, daB beim Erhitzen einer Mischung von gleichen Teilen 
von Zerebrospinalflussigkeit und konzentrierter Magnesium- 
sulfatlosung eine Opaleszenz oder Triibung in alien jenen Fallen 
auftrat, bei denen auch eine Vermehrung der Lymphozyten vor- 
handen war (Dementia paralytica, Tabes, zum Teil auch bei Lue- 
tikern, bei Epilepsie, bei Tumoren des Zentralnervensystems). 
Diese Methode hatte aber nur einen geringen Wert fur die Dif- 
ferentialdiagnose, insbesondere fur die sichere Unterscheidung von: 

a) beginnender Dementia paralytica und schwerer Neur¬ 
asthenic bei Luetikern; 

b) Tabes und schwerer sog. Spinalneurasthenie bei Lue¬ 
tikern ; 

c) epileptiformen Anfalien bei progressiver Paralyse und 
echten epileptischen Anfallen. 

Bei der quantitativen Bestimmung des Albumins folgten 
die Untersucher der von Nissl modifizierten Methode von Kjddahl 
und Esbach. Diese Methode besteht bekanntlich darin, daB man 
in einer hierzu bestimmten, graduierten Eprouvette zwei Teile 
Zerebrospinalflussigkeit (2 ccm) und einen Teil Esbach- Reagens 
(1 ccm) mischt und wahrend einer halben Stunde in einer elek- 
trischen Zentrifuge von 2000 Umdrehungen in der Minute zentri- 
fugiert. Die normale Zerebrospinalflussigkeit gibt im allgemeinen 
einen weiBen Niederschlag, dessen Hohe hochstens den dritten 
Teilstrich der erwahnten Eprouvette erreicht; hingegen gibt 
die Zerebrospinalflussigkeit von Tabikem (60pCt.) und Para- 
lytikern (75 pCt.) einen Niederschlag, dessen Hohe den zehnten 
Teilstrich dieser Eprouvette erreichen oder auch iiberschreiten 
kann. 

Neuerdings hat A pelt im Verein mit dem Chemiker Schumm 
zeigen konnen, daB beim Mischen ohne Erwarmen von gleichen 
Teilen gesattigter Ammoniumsulfatlosung und Zerebrospinal¬ 
flussigkeit letztere triibe oder opaleszierend wurde je nach der 
groBeren oder geringeren Menge des in ihr enthaltenen Globulins. 
Die ersten Untersuchungen zu diagnostischen Zwecken wurden 
mit dieser Reaktion (Globulinreaktion) von Apelt und Nonne 
am Liquor cerebrospinalis angestellt. 

Die von den Autoren empfohlene Technik ist auBerst einfach. Sie 
besteht bekanntlich aus zwei Phasen: 

1. (Phase I-Reaktion) Ammonii sulfxuici purissimi Merck 85,0 g, 
Aq. dest. 100,0 g werden ineinera Erlenmeyerschen Kolben gekocht, bis die 
Mischung vollkommen gelost ist (das Filtrat besteht aus einer gesattigten 
Losung von Ammoniuinsulfat), hierauf gleiche Teile dieses Reagens und 
der Zerebrospinalflussigkeit gemischt und drei Minuten gewartet. Die 
Mischung darf nicht sauer reagieren, und die Zerebrospinalflussigkeit darf 


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Albuminreaktion und Lymphozytose etc. 


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kein Blut enthalten. weil sonst das Serumglobulin und das Hamoglobin 
getrennt werden. Nach drei Minuten wird der Befund, d. h. die Durch- 
sichtigkeit notiert: 

Triibung I 

Opaleszenz > positive Reaktion, 

Schwache Opaleszenz J 

Spur von Opaleszenz = negative Reaktion. 

?. (Phase II-Reaktion.) Man filtriert die Mischung und an dem 
Filtrate wird die Albuminreaktion mittels Erwarmens und Zusatzes von 
Essigs&ure ausgefiihrt, die in jedem Fall eine Tnibung ergibt und daher 
keinen diagnostischen Wert hat. 

Nonne teilte die Resultate seiner ersten Untersuchungen 
in Form einer Statistik in der Sitzung vom 1. X. 1907 im arzt- 
lichen Vereine in Hamburg mit. In der darauf folgenden Diskussion 
am 6. I. 1908 erkannten Humber , Cimbal, Saenger einmiitig die 
Bedeutung der „Globulinreaktion“ als eines einfachen und sicheren 
klinisch - diagnostischen Hiilfsmittels an, das sogar anderen, 
strengeren Methoden iiberlegen sei. Saenger lieferte liber dies einen 
Beitrag nach seinen eignen Untersuchungen, welche die von 
Nonne erhaltenen Resultate vollkommen bestatigten. Letzerer 
schloB dann die Diskussion mit der Bernerkung, daB man fort- 
fahren miisse, die zweifelhaften Falle zu studieren, und daB ein 
endgultiges Urteil iiber seine Methode erst nach einigen Jahren 
gefallt werden konne. Seitdem gelangte diese Reaktion, die den 
Vorzug der Einfachheit hat, und man kann wohl sagen, alien 
zuganglich ist, zu fast allgemeiner Anwendung in den Kliniken. 
Wir wollen bei dieser Gelegenheit die neueste und wichtige Arbeit 
von Eichelberg und Pfortner erwahnen, die auf Grund langer und 
sorgfaltiger Untersuchungen zu folgenden SchluBfolgerungen ge- 
langten: a) Die sicherste Reaktion ist die Wassermannsche an 
der Zerebrospinalfliissigkeit ausgefiihrte; fast ebenso sicher ist 
die Reaktion von Nonne . Die Bestimmung des Albumingehaltes 
und der Lymphozytose ist praktisch von geringerer Bedeutung. 
b) Die leichter auszufiihrende Reaktion ist jene von Nonne , sie 
kommt unmittelbar nach der Bestimmung des Albumingehaltes 
und der Lymphozytose. Die Wassermannsche Reaktion ist auBerst 
schwierig, weshalb in der allgemeinen Praxis der Reaktion von 
Nonne und A pelt der Vorzug zu geben ist. 

Im Augenblick der Niederschrift dieser Arbeit ist eine Studie 
von Jawor&ki iiber den EinfluB der Quecksilberbehandlung auf die 
Zusammensetzung der Zerebrospinalfliissigkeit bei Erkrankungen 
des Nervensystems syphilitischer und parasyphilitischer Natur 
erschienen. Abgesehen von der Beleuchtung einer anderen Seite 
des Problems liefert diese Studie eine neue Bestatigung fiir die 
Brauchbarkeit der Globulin-Reaktion. Jaworslci hat acht Falle 
untersucht, sechs Falle von Tabe3 dorsalis und zwei Falle von 
Zerebrospinalsyphilis, und hat konstatieren konnen, daB die Nonne - 
sche Globulinreaktion in den beiden Fallen von Zerebrospinal¬ 
syphilis und in fiinf von den sechs Fallen von Tabes vorhanden 
war. Nach der Quecksilberbehandlung wurde in zwei Fallen das 
vollstandige Verschwinden der Globulinreaktion festgestellt, und 


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102 


Fumarola-Tramonti, Globuiinreaktion, 


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zwar gerade in denjenigen, wo sich keine betrachtliche Vermin- 
derung der Lymphozytenzahl zeigte; in den anderen Fallen trat 
nur eine Abnahme in der Intensitat der Reaktion ein. 

Im Hinblick auf die groBe praktische Bedeutung des Gegen- 
standes glauben wir im folgenden ebenfalis einen Beitrag zu dieser 
Frage liefern zu diirfen. Wir entsprechen damit einer Aufforderung 
von Herrn Prof. Mingazini, der uns gestattete, fur diesen Zweck 
das Material der Neuropathologischen Klinik zu benutzen. Dabei 
schicken wir voraus, daB wir keine Statistik zu liefern beabsichtigen, 
weil einerseits die Zahl der von uns beobachteten Falle nicht sehr 
betrachtlich ist, und weil wir andererseits nicht in die Ober- 
treibungen und Irrtiimer verfallen wollten, welche allzuoft, und 
nicht mit Unrecht. der statistischen Methode vorgeworfen werden. 
Zum besseren Verstandnisse des Lesers bemerken wir, daB die von 
uns fur die Lymphozytose gebrauchten Bezeichnungen ,,schwach 
positiv 44 , ,,positiv 44 , ,,stark positiv 44 einer Zahl von 8—15, resp. 
20—60, resp. 60 Lymphozyten und mehr im mikroskopischen 
Gesichtsfelde entsprechen. Fur diese Untersuchung haben wir 
die Zentrifugiermethode angewendet, da uns eine Fuchs-Rosen- 
thah che Rammer nicht zur Verfiigung stand. Der Albumingehalt 
wurde in ,,Teilstrichen 44 der graduierten Eprouvetten von Nissl 
ausgedriickt. Hierbei ist daran zu erinnern, daB der normale 
Gehalt nur 1—2 Teilstriche betragt. Wir haben also die Esbach- 
sche von Nissl modifizierte Methode .angewendet. Beziiglich 
der Nonne schen Reaktion ist endlich zu bemerken, dass ein + 
schwache Opaleszenz bedeutet, + + Opaleszenz und + + + 
Triibung. Das Zeichen — bedeutet Spuren von Opaleszenz oder 
keine Veranderung in der Durchsichtigkeit der Fliissigkeit. 

Wir wollen nunmehr die kurz zusammengefaBten Kranken- 
geschichten der von uns beobachteten Kranken mitteilen, mit 
besonderer Berucksichtigung der Untersuchung der Zerebro- 
spinalfliissigkeit beziiglich der Globuiinreaktion, der Lymphozytose 
und des Albumingehaltes. 

I. Beobachtung. Meningitis cerebralis serosa. 

C. A.. 13 Jahre alt. hereditar-luetiseh. Erkrankte vor sieben Monaten 
mit beiderseitiger Amblyopie und Kopfschmerzen. Niemals Erbrechen, 
niemals Diplopie. 

Der neurologische Befund ist. abgesehen von dem Augenbefund, 
vollkommen negativ. Visus sowohl rechts als links = V 20- Gesichtafeld 
beiderseits eingeengt. Augenhintergrund: Retrobulbar© Atrophie der Seh- 
nerven. links starker. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter erhohetem Druek zutage. Albumin: 10 Teilstriche; Lymphozytose: 
schwach positiv; Globuiinreaktion: Opaleszenz. 

Es wird eine Quecksilberschmierkur eingeleitet. Nach der fiinften 
Einreibung verschwinden die Kopfschmerzen. Visus rechts = Vi®r links 
= 3 / 5 . Nach der zehnten Einreibung Visus rechts = l /ft* links = 1. 

Es wird eine zweite Lumbalpunktion vorgenommen. Die hierbei 
gewonnene Fliissigkeit zeigtdasselbe Aussehen wie vorher, denselben Albumin¬ 
gehalt, denselben Grad von Lymphozytose, aber die Globuiinreaktion fallt 
negativ aus. 



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Albuminreaktion und Lymphozytose etc. 


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II. Beobachtung. Meningitis cerebralis serosa. 

(7. O., 5 Jahre alt, hereditar-luetisch. Mit vier Jahren begann er an 
Nack&naohmerzen zu leiden; sechs Monate spater trat Strabismus convergens 
des rechten Auges auf, nach weiteren zwei Monaten Anfalle von Kopf- 
schmerzen und Schwindel. Die objektive Untersuchung ergibt: Strabismus 
convergens des rechten Auges und Insuffizienz des rechten Rectus externus. 
Der iibrige neurologische Befund ist vollkommen negativ. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Flussigkeit 
unter erhohtem Drucke zutage. Albumin: 4 Teilstriche; Lymphozytose: 
nicht svorhanden; Globulinreaktion: schwache Opaleszenz. Es wird eine 
Queckilberschmierkur eingeleitet, worauf Kopfschmerzen und Schwindel. 
betrachtlich nachlassen. 

Eine zweite Lumbalpunktion ergibt eine Flussigkeit von den gleichen 
Eigenschaften wie vorher. 

Die spezifische Behandlung wird fortgesetzt: die Kopfschmerzen 
und die Schwindelanfalle verschwinden vollstandig. 

Die Untersuchimg der bei einer dritten Lumdalpunktion erhaltenen 
Zerebrospinalflussigkeit ergibt das Verschwinden der Nonne schen Globulin¬ 
reaktion. 

Beobachtung III. Meningitis cerebralis serosa. 

P. F. f 4 Jahre alt, hereditar-luetisch. Vor vier Monaten begann 
Patient liber Kopfschmerzen und Schwache in den Beinen zu klagen. Diese 
Schwache nahm innerhalb zweier Monate derart zu, daC er nicht mehr 
imstande war, sich aufrecht zu erhalten, und erstreckte sich dann auch auf 
die Arme und die Nackenmuskulatur. 

Die objektive Untersuchung ergab: Strabismus convergens des linken 
Auges, deutliche Parese der Extremitaten, insbesondere der unteren; 
tiefe Reflexe gesteigert. Augenhintergrund: Beginnende Atrophie der 
Sehnerven infolge von Neuritis optica. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter erhohtem Drucke zutage. Albumin: 5 Teilstriche; Lymphozytose: 
nicht vorhanden; Globulinreaktion: Triibung. 

Quecksilbereinreibungen werden verordnet; schon nach fiinf Ein- 
reibungen merkliche Zunahme der Kraft in den Gliedem, der Knabe beginnt 
ohne Beihiilfe aufzustehen. 

Bei einer zweiten Lumbalpunktion erhalt man eine klare Flussigkeit, 
die sonst die gleichen Eigenschaften wie vorher zeigt. nur ist die Globulin¬ 
reaktion weniger intensiv (Opaleszenz). 

Die spezifische Behandlung wird fortgesetzt. Der Patient steht sehr 
gut und gsht allein, die Kopfschmerzen sind vollstandig verschwunden. 
Die Untersuchung der bei einer dritten Punktion gewonnenen Zerebro- 
spinalfliissigkeit laOt eine ganz geringe Abnahme des Albumins ((4 Teil¬ 
striche) und schwache Opaleszenz bei der Globulinreaktion erkennen. 

Beobachtung IV. Meningitis cerebralis serosa. 

D . S., 13 Jahre alt, nicht hereditar-luetisch. Mit 9 Jahren Otorrhoe 
zuerst links, dann rechts. Vor 5 Monaten begann Patient iiber Kopfschmerzen 
und Schmerzen in der linken Regio mastoidea zu klagen. Zwei Monate spater 
beiderseitige Amblyopie, insbesondere rechts. Erbrechen, Schwindelanfalle, 
Diplopie, manchmal Anfalle von allgemeinem Tremor. 

Bei der objektiven Untersuchung findet man: Leichte Schwache 
im Bereiche des linken Mundfacialisgebiets; Insuffizienz des Rectus ex- 
temus rechterseits; Patellar- und Achillessehnenreflex rechts lebhafter 
als links. Gesichtsfeld beiderseits eingeengt, Stauungspapille beiderseits, 
insbesondere rechts. 

Erste Lumbalpunktion: klare, durchsichtige Flussigkeit unter er- 
hbhtem Drucke; Albumin: 6 Teilstriche; Lymphozytose: nicht vorhanden; 
Globulinreaktion: negativ. 

Nach 15 Quecksilbereinreibungen keine Besserung der Symptome. 

Zweite Lumpalpunktion: Gleicher Befund wie bei der ersten. 


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Fumarola-Tramonti , Globulinreaktion, 


Beobachtung V. Meningitis cerebralis serosa. 

C. A., 18 Jahre alt, nicht hereditar-luetisch. Die gegenwartige]Er- 
krankung begann vor einam Jahre mit rechtsseitiger Amblyopie. Nach drei 
Monaten traten anfallweise Kopfschmerzen, Erbrechen nnd linksseitige 
Amblyopie hinzu. 

Die objektive Untersuchung ergibt: Schwache des rechten unteren 
Facialisastes; Patellar- und Achillessehnenreflexe rechts lebhafter. Visus 
rechts = 0, links = */ J0 . Augenhintergnmd: Rechts weiBe Atrophie der 
Papille, links beginnende postpapillitische Atrophie. 

Erste Lumbalpunktion: klare, durchsichtige Flussigkeit nnter ge- 
ringem Drucke. Albumin: 3 Teilstriche; Lymphozytose: nicht vorhanden. 
Spur von Opaleszenz. 

Nach 12 Quecksilbereinreibungen keinerlei Basserung. 

Zweite Liunbalpunktion: derselbe Befund wie bei der ersten. 

Beobachtung VI. Meningitis cerebralis serosa. 

17. L., 10 Jahre alt, nicht hereditar-luetisch. Vor zehn Monaten 
erlitt sie ein Kopftrauma. Wenige Tage darauf begann sie an Brechreiz 
zu leiden. wozu sich bald Kopfschmerzen gesellten, dann Amblyopie, ins- 
besondere rechts, spater Diplopie, Schwindelanfalle, Schw&che in den 
Beinen. 

Die objektive Untersuchung ergibt eine leichte Anisokorie (r > 1), 
und eine Steigerung der tiefen Reflexe, insbesondero links. Visus rechts 
= 0, links — 7io. Augenhintergrund: weiBe Atrophie der Sehnerven. 

Erste Lumbalpunktion: klare, durchsichtige Flussigkeit unter er- 
hohtem Drucke; Albumin: 4 Teilstriche; Lymphozytose: nicht vorhanden; 
Globulinreaktion: negativ. 

Infolge Verminderung des endokranialen Druckes V. links = 1 / v Es 
wird eine spezifische Behandlung eingeleitet, aber nach 13 Einreibungen 
ist keine Besserung der Symptome zu konstatieren. Zwei weitere Lumbal- 
punktionen, die in Zwischenr&umen von je 7 Tagen ausgefiihrt wurden, 
ergeben einen vollkommen gleichen Befund wie die erste. 

Beobachtung VII. Meningitis cerebralis serosa. 

T. A ., 18 Jahre alt. nicht hereditar-luetisch. Vor 17 Monaten traten 
Kopfschmerzen auf, dann fortschreitende Amblyopie, anfangs mit Diplopie 
verbunden, spater beiderseitige Amaurose, zeitweilig Schwindelanfalle. 

Die objektive Untersuchung ergibt: Leichte Ptosis des linken oberen 
Augenlides, Parese des unteren Facialisastes links, leichter Paraspasmus. 
Die tiefen Reflexo rechts lebhafter als links. Die Pupillen sehr weit. weder 
auf Licht, noch auf Akkommodation reagierend, Beklopfen des Schadels 
schmerzhaft, insbesondere in der linken Stimschlafengegend. Augen¬ 
hintergnmd: schweres Oedem der Papille beiderseits. links starker, mit 
Zeichen beginnender weiter Atrophie. 

Erste Lumbalpunktion: klare. durchsichtige Flussigkeit unter er- 
hohtem Drucke. Albumin: Zwei Teilstriche; Lymphozytose: schwach 
positiv; Globulinreaktion: negativ. 

Die Quecksilberkur bringt gar keine Besserung. 

Zweite Lumbalpunktion ergibt den gleichen Befund wie die erste. 

Beobachtung VIII. Meningitis cerebralis serosa. 

P. M. y 18 Jahre alt, nicht hereditar-luetisch. Vor ungefahr anderthalb 
Jahren begann sie an Anfallen von Kopfschmerzen und Erbrechen zu leiden. 
Zwei Monate spater trat beiderseitige Amblyopie auf, vorwiegend linker- 
seits, wo innerhalb kurzer Zeit vollstandige Amaurose eintrat. 

Die objektive Untersuchung ergibt: Nystagmusartige Zuckungen, 
insbesondero links, bei forcierten Seitwartsbewegungen der Bulbi. PateDflur- 
und Achillesreflexe lebhaft, links starker als rechts. Visus rechts = 1 / 5 , 
links = 0. Gesichtsfeld rechts stark eingeengt. Augenhintergnmd: weisse 
Atrophie des Sehnerven links, vorgeschrittene postpapillitische Atrophie 
rechts. 


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Albuminreaktion und Lymphozytose etc. 


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Die Lumbalpunktion ergibt ein klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter leicht erhohtem Drucke. Albumin: 2 Teilstriche; Globulinreaktion: 
negativ. 

Es wird eine spezifische Behandlung eingeleitet, die aber sogleich 
wieder abgebrochen werden mufi, weil all© Symptom©, insbesondere die 
Kopfschmerzen. eine Verscblechterung erfahren. Die Lumbalpunktion 
wurde nicht wiederholt. 

Beobachtung IX. Neuritis traumatica nervi cruralis et ischiadici 
dextri. 

O. G ., 40 Jahre alt. Mit 35 Jahren Lues, welche gleich behandelt 
wurde. Yor sieben Monaten Trauma in der Lendengegend. Seitdem Schmer- 
zen in dieser Gegend, welche in die rechte imtere Extremitat ausstrahlen, 
die auch schwacher imd diinner als die andere geworden ist. Die objektive 
Untersuchung ergibt beziiglich der Himnerven. der oberen Extremitaten 
und der Jinken unteren Extremitat ein vollstandig negatives Resultat. 
Was die rechte untere Extremitat anbelangt, so ist eine betrachtliche 
Atrophie der Muskelmassen sowohl der Hiifte als auch des Beines zu kon- 
statieren und eine Einschrankung der aktiven Beweglichkeit, insbesondere 
im Bereiche der Hiifte und des FuBes. Druck auf den Ischiadicus imd den 
Cruralis ist rechts schmerzhaft. DeutJiche Hypasthesie der ganzen rechten 
unteren Extremitat. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter normalem Drucke zutage. Albumin: 2 Teilstriche; Lymphozytose: 
schwach positiv; Globulinreaktion: nicht vorhanden. 

Da alle anderen Kuren (Ruhe, Alkoholabstinenz, schmerzstillende 
Einreibungen u. s. w.) ohne Erfolg waren, wurde eine spezifische Behand¬ 
lung (Quecksilbereinreibungen) versucht, ohne jedoch eine Besserung zu 
erzielen 

Die Lumbalpunktion wurde nicht wiederholt. 

Beobachtung X. Meningomyelitis lumbalis luetica. 

Pr. R .. 25 Jahre alt. Lues, wahrscheinlich in der Ehe akquiriert. 
Vor 6 Monaten begann sie Schmerzen in der Lendengegend zu empfinden 
und Parasthesien in beiden Sehenkeln, insbesondere in dem linken. Zwei 
Monate spater trat Schwache in den unteren Extremitaten auf und nahm 
so sehr zu, daB die Patientin nahezu paraplegisch wurde. Zu gleicher Zeit 
bemerkte sie, daB sie den Urin nur schwer halten konnte und manchmal 
Urin verlor, ohne es zu bemerken. 

Die objektive Untersuchung laBt keinerlei Storung in der Motilit&t 
der Hirnnerven und der oberen Extremitaten erkennen. Untere Extre¬ 
mitaten: spastische Paraplegie, rechts fast vollstandig, links vollstandig. 
Die Patellar- und Achillesreflexe sehr lebhaft. insbesondere links, wo 
epileptoides Zittern und Klonus der Patella eintritt. Beiderseits FuBklonus. 
Deutliche Hypasthesie der unteren Extremitaten fur Beruhrungs-, Tem- 
peratur-, Schmerzempfindimg und Stereognose, insbesondere links. Druck- 
schmerzhaftigkeit im Bereiche des Lumbal- und Sakralteiles der Wirbelsaule. 

Erste Lumbalpunktion: klare, durchsichtige Fliissigkeit unter 
leicht vermehrtem Drucke. Albumin: 5 Teilstriche; Lymphozytose nicht 
vorhanden; Globulinreaktion: schwache Opaleszenz. 

Eine Quecksilberschmierkur bringt bedeutende Besserung des Be- 
findens der Kranken; aus der Paraplegie ist eine Paraparese geworden. 

Zweite Lumbalpunktion; Fliissigkeit von sonst gleicher Beschaffen- 
heit wie vorher, aber die Globulinreaktion fehlt. 

Die lange fortgesetzte Quecksilberbehandlung bringt die Blasen- 
storungen vollstandig zum Verschwinden, so daB zuletzt nur eine ganz 
leiehte spastische Paraparese zuriickbleibt. 

Beobachtung XI. Pachymeningitis lumbalis luetica. 

Tr. A., 53 Jahre alt. Mit 28 Jahren Lues, die gleich behandelt worden 
war. Vor 2 Monaten begann sie einen Schmerz entsprechend der rechten 
Lumbalgegend zu empfinden, der abends und nachts starker wurde. Sie 


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Fumarola-Tramonti, Globulinreaktion, 


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machte zehn Quecksilbereinreibungen, worauf der Zustand bedeutend besser 
wurde. Als aber mit dieser Behandlung ausgesetzt wurde, trat der Schmerz 
von neuem auf und strahlte in die Schenkel aus. Gleichzeitig traten Par- 
asthesien und Schwache der unteren Extremitaten, insbesondere rechts. 
auf. 

Die objektive Untersuchung ergibt beziiglich der Himnerven und 
der oberen Extremitaten einen negativen Befund. An der linken unteren 
Extremitat ist nur eine geringfiigige Vermehrung des Widerstandes bei 
passiven Bewegungen zu bemerken; die rechte untere Extremitat ist par- 
etisch imd zeigt deutlicheren Widerstand bei passiven Bewegungen. Die 
Patellar- und Achillesreflexe beiderseits sehr lebhaft, insbesondere 
aber rechts. Im Bereiche der ganzen rechten unteren Extremitat besteht 
Hypasthesie, in geringerem Grade im Bereich der linken. Druck auf die 
Paralumbalfurchen ist, insbesondere rechts, schmerzhaft. 

Erste Lumbalpunktion: leicht blutig tingierte Flussigkeit unter ein 
wenig erhohtem Drucke. Albumin: 10 Teilstriche; Lymphozytose: positiv; 
Globulinreaktion: Opaleszenz. 

Nadi wenigen Quecksilbereinreibungen verschwindet jedweder 
Schmerz in der Lendengegend und kurze Zeit darauf auch die spastische 
Monoparese der linken unteren Extremitat. 

Zweite Lumbalpunktion: Flussigkeit von gleichen Eigenschaften 
wie vorher, mit Ausnahme der Globulinreaktion, welche eine schwache 
Opaleszenz ergibt. 

Beobachtung XII. Meningomyelitis luetica. 

M. T., 34 Jahre alt. luetisch. Vor ungefahr acht Monaten begann 
sie an Riiekenschmerzen, besonders nachts, zu leiden. Nach wenigen Wochen 
trat eine deutliche Schwache in den unteren Extremitaten auf, die sich 
im Verlaufe eines Monats zu vollstandiger Paraplegic steigerte. In der- 
selben Zeit traten Hamverhaltung und hartnackige Stuhlverstopfimg ein. 
Femer hatte die Kranke in den gelahmten Gliedem weder Tast- noch 
Schmerzgefiihl. 

Die objektive Untersuchung ergibt keinerlei Stdrung im Bereiche 
der Himnerven und der oberen Extremitaten. Es besteht eine geringe 
Einschrankung in der Beweglichkeit des Rumpfes infolge der Schmerzen, 
die die Patientin im Rueken empfindet. Die unteren Extremitaten befinden 
sich in Equinovarus-Stellung und bieten den passiven Bewegungen einen 
enormen Widerstand. Die aktive Beweglichkeit ist in den Hiiften kaum 
angedeutet, vollkommen aufgehoben in den Beinen und den FiiBen. Flexion 
combin6e und Tibialisphanomen beiderseits. Patellar- und Achillesreflexe 
sehr lebhaft. FuBklonus und Babinski ebenfalls beiderseits. Sehr starke 
Hypasthesie der unteren Extremitaten mit Verlust des Lagegefiihls. 

Die Patientin bekommt drei Kalomelinjektionen. 

Hierauf Lumbalpunktion, die eine kiare, durchsichtige Flussigkeit 
unter leicht erhohtem Druck zutagefordert. Albumin: 2 Teilstriche; 
Lymphozytose: schwach positiv; Globulinreaktion: nicht vorhanden; 
Wosaermannsche Reaktion negativ. 

Dennoch erlangte die Patientin durch die spezifische Behandlung 
zum Teil wieder die Beweglichkeit der unteren Extremitaten und erfuhr 
auch eine Besserung aller iibrigen Storungen. Eine spastische Paraparese 
blieb zuriick. 

Beobachtung XIII. Tabes cum arthropathia secundae vertebrae 
lumbalis *). 

M. G., 45 Jahre alt. Lues wahrscheinlich in der Ehe erworben. Vor 
14 Jahren gastrische Krisen, drei Monate spater lanzinierende Schmerzen 
in den unteren Extremitaten und Amblyopie, zuerst rechts, dann links. 


l ) Die Krankengesehichte dieses Falles war Gegenstand einer be- 
sonderen Arbeit des Dr. Baschie.ri , Hiilfsarztes der Klinik. (Nouv. Icon, 
de la Salpetriere. 1910). 


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Albuminreaktion und Lymphozytose etc. 


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Vor 5 Jahren lanzinierende Schmerzen auch in den oberen Extremitaten 
und im Rurapf. Seit einem Jahre nach vome ausstrahlende Schmerzen 
in den Lenden, Giirtelgefiihl und unsicherer Gang. Seit demselben Zeit- 
punkte Schwierigkeiten bei der Harnentleenmg und Obstipation. 

Die objektive Untersuchung ergibt normale Beweglichkeit des linken 
Augapfels, wogegendiedes rechten nach aufwarts und einwarts eingeschrankt 
ist. Hypotrophie der linken Zungenhalfte. Facialis zeigt beiderseits nichts 
Besonderes. ebenso die oberen Extremitaten. Deutliche Hypotonie der 
unteren Extremitaten. Patellar- und Achillessehnenreflexe beiderseits 
aufgehoben, Ancorveusrefiexe vorhanden. Plantar- und Abdominalreflexe 
lebhaft. Pupillen migleich (rechts > links), auf Licht gar nicht, auf Akkom- 
modation nur sehr trage reagierend. Rombergsches Schwanken sehr aus- 
gesprochen. Gang ataktisch. Hypasthetische Zonen von Wurzeltypus 
an den Extremitaten und am Stamme. Fast totale Amaurose rechts; links 
Visus = l / 2 . Augenhintergrund: Rechts vollstandige Netzhautablosung, 
chorioiditische Plaques. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter normalem Drucke zutage. Albumin: 3 Teilstriche; Lymphozytose: 
positiv; Globulinreaktion: negativ. 

Zu bemerken ist, dafl Patientin friiher sich wiederholt Quecksilber- 
kuren unterzogen hat. 

Beobachtung XIV. Meningitis spinalis serosa circumscripta. 

A. D. f 45 Jahre alt, nicht luetisch. Vor einem Jahre Gefiihl einer 
schmerzhaiten Zusammenziehung des Thorax. 8 Monate spate r Giirtel- 
gefiihl am Abdomen und Schwache in den unteren Extremitaten. Seit 
einem Monat Verlust des Gefiihls in den letzteren und Paraplegic, ferner 
Storungen bei der Entleenmg der Hames (Retention) und des Stuhles 
(Obstipation), zuweilen klonische Zuckungen in den Muskeln der gelahmten 
Glieder. 

Die objektive Untersuchung ergibt ksinerlei Stoning der Motilitat 
im Bereiche der Hiranerven. Die passiven und aktiven Bewegungen des 
Halses sind etwas eingeschrankt, und zwar infolge der Schmerzen, welche 
Patientin in der Interskapulargegend empfindet. Auch die Streck- und 
Beugebewegungen des Rumpfes sind schmerzhaft. In den unteren Extre¬ 
mitaten besteht vollstandige. schlaffe Paraplegie. Patellar- imd Achilles- 
reflex links schwach, rechts fast fehlend. Plantar- und Abdominal¬ 
reflexe fehlen. Druck auf die Dorafortsatze des vierten und fiinften Brust- 
wirbels schmerzhaft, etwas weniger Druck auf diejenigen des dritten imd 
sechsten. Auch Druck auf die Paravertebralfurchen in gleicher Hohe ist 
schmerzhaft. Es besteht vollstandiger Verlust der Sensibilitat in alien 
ihren Qualitaten an den unteren Extremitaten und am Stamme bis zu 
einer kreisformigen Linie, welche in der Hohe der Brustwarzen verlauft. 
Unmittelbar oberhalb dieser Linie findet sich eine hyperasthetische Zone. 
Das Lagegefiihl der Extremitaten ist erloschen. 

Erste Lumbalpunktion: leicht gelblich tingierte Fliissigkeit unter 
niedrigem Drucke. Albumin: 6 Teilstriche; Lymphozytose: schwach 
positiv; Globulinreaktion: schwache Opaleszenz. 

Um alle Zweifel mit Sicherheit ausschliefien zu konnen, ob es sich 
um eine luetische Meningomyelitis handle, wurde eine Quecksilberkur 
versucht. Das Resultat war negativ. 

Zweite Lumbalpunktion: Man erhalt eine Fliissigkeit von sonst 
gleichen Eigenschaften wie vorher, aber mit starkerer Globulinreaktion 
(Opaleszenz). Da hierdurch der Verdacht auf eine Kompression der Me¬ 
dulla durch einen Tumor sich steigerte, wurde eine explorative La- 
minektomie ausgefiihrt. Diese zeigte, dass tatsachlich eine Kompression des 
Riickenmarkes bestand, aber nicht durch einen Tumor, sondem durch eine 
umschriebene Meningitis serosa. 

Beobachtung XV. Tumor lobi frontalis dextri. 

D. A ., 42 Jahre alt. Wahrscheinlich hereditar-luetisch. Seit ungefahr 
drei Jahren klagt Patient fiber Gefiihl von Druck im Kopfe und Schwindel- 


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Fumarola-Tramonti, Globulinreaktion, 


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anfalle. Vor einem Monat hatte er den ersten Anfall von Aphasie, der 
sich in mehrtagigen Intervallen noch zweiraal wiederholte. Nach dem 
dritten Anfalle traten Kopfschmerzen, insbesondere des Abends auf, mit 
vorwiegender Lokalisation in der rechten Schlafengegend, femer ein Ge- 
fiihl von geistiger Stumpfheit, auch vorwiegend abends. Zeitweise trat 
Erbrechen auf, niemals Diplopie. Seit einigen Monaten beiderseitige Ambly- 
opie, insbesondere rechts. Die objektive Untersuchung ergibt: Normale 
Augenbewegungen, Parese des oberen und starker© des unteren Facialisastes 
links, Parese der linken Halfte der Zunge und des Zapfchens; Dysarthrie; 
Schwache der linken oberen und unteren Extremitat. Patellar- und Achiiles- 
sehnenreflexe beiderseits prompt. Die groBe Zehe wird beim Streichen 
iiber die FuBsohle plantarwarts bewegt. Druck auf die Quintusaste, ins¬ 
besondere rechts schmerzhaft. Leichte Hemihypasthesie links. Beider¬ 
seitige Herabsetzung der Horscharfe. Visus rechts = 0. links = %. Augen- 
hintergrund: beiderseits Stauungspapille, insbesondere rechts. 

Die Lumbalpimktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter erhohtem Druck zutage. Albumin: 2 Teilstriche; Globulinreaktion: 
Opaleszenz. 

Es wurde eine Quecksilberbehandlung versucht, aber ohne jeden 
Erfolg. Die Lumbalpunktion wurde nicht wiederholt. Wir verloren den 
Kranken spater aus den Augen. 

Beobachtung XVI. Tumor duplex lobi temporalis sinistri. 1 ) 

L . R ., 38 Jahre alt, angeblich nicht luetisch. Erkrankte vor 6 Monaten 
an hartnackigen Kopfschmerzen. Dann traten Schwindelanfalle auf, 
zuerst in langen Intervallen, spater bis zu 6—7 an einem Tage. Vor zwei 
Monaten apoplektiformer Anfall mit nachfolgender Ptosis des linken 
oberen Augenlides. Seit ungefahr 15 Tagen befindet sich der Patient in 
einem fast stuporosen Zustande. 

Die objektive Untersuchung ergibt: Partielle bilateral© Ophthalmo¬ 
plegic, leichte Parese im Gebiete des rechten unteren Facialisastes. 
Nichts Besonderes beziiglich der Extremitaten der linken Korperhalfte. 
abgesehen von einer leichten Hypertonie. Hingegen besteht an den Extre¬ 
mitaten der rechten Korperhalfte eine deutliche Parese mit Hypertonie 
und klonischen Zuckungen. Der Pateilarreflex ist rechts lebhafter als 
links, der Achillesreflex auf beiden Seiten schwach. Der Anconeusreflex ist 
rechts lebhafter als links. Beim Bestreichen der FuBsohle bewegt sich die 
groBe Zehe beiderseits plantarwarts, Abdominalreflexe fehlen. Pupillen 
ungleich (links > rechts), lichtstarr. Zerebellare Gehstorung. Die Prdfung 
der Sensibilitat und der spezifischen Sinne ist wegen des stuporosen Zu- 
standes, in dem sich der Patient befindet, unmoglich; doch laBt sich kon- 
statieren, daB das Gehor erhalten ist, da Patient manchmal Befehle aus- 
fiihrt. Augenhintergnmd: beiderseitige Stauungspapille. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter betrachtlich vermehrtem Drucke zutage. Albumin: 2 Teilstriche; 
Lymphozytose: nicht vorhanden; Globulinreaktion: negativ. 

Im Anschluss an die Lumbalpunktion verschlimmerte sich der Zu- 
stand des Patienten, und nach einigen Tagen starb er. 

Die Autopsie ergab die Anwesenheit zweier Sarkome im linken Schlafe- 
lappen, eines im Gyrus hippocampi und eines zweiten im Gyrus tempo¬ 
ralis II. 

Beobachtung XVII. Cyste des linken Seitenventrikels. 

C. G., 39 Jahre alt, nicht luetisch. Leidet seit 6 Monaten an nacht- 
lichen Stimkopfschmerzen. Seit 5 Monaten beiderseitige, progrediente 
Ainblyopie, insbesondere links. Manchmal Diplopie. Seit einem Monate 
geistige Stumpfheit. 


x ) Die Krankengeschichten der Falle XVI bis XX sind Gegenstand 
einer besonderen, jiingst erschienenen Arbeit: Neue klin. und patho- 
logisch-anatomische Beitrage iiber die Grehimtumoren von Prof. Mingazzini 
(Archiv f. Psychiatrie). 


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Albuminreaktion und Lymphozytose etc. 


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Die objektive Untersuchung ©rgibt: partiell© bilateral© Ophthalmo¬ 
plegic, starker links. Leichte Pares© des linken unteren Facialisastes. 
Leichte Hypertoni© der rechten oberen Extremitat, leichte Bewegungs- 
einschrankung bei einigen aktiven Bewegnngen in den b9iden oberen Extre- 
mitaten, insbesondere rechts. Es besteht die Tendenz, die link© untere 
Extremitat nach auswarts zu rollen, doch sind die aktiven Bewegungen 
in den unteren Extremitaten erhalten; passive Bewegungen stoBen auf 
leichten Widerstand. Zerebellare Gehstorung. Patellar- imd Achillesreflex 
links lebhafter, Pupillen ungleich weit (rechts > links), reagieren weder 
auf Licht, noch auf Akkommodation. Bornbergsches Schwanken. Sensibilitat 
bietet nichts Besonderes. Schadelperkussion in der Stim- und Schlafen- 
gegend beiderseits schmerzhaft. Beiderseitige Hyposmie. Visus links = 0, 
rechts = 1 / 10 . Dyschromatopsie (griin-grau). Augenhintergrund: rechts 
Stauungspapille, links beginnende, postpapillitische Atrophie. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare. durchsichtige Flussigkeit 
unter erhohtem Druck zutage. Albumin: 2 Teilstriche; Lymphozytos©: 
schwach positiv; Globulinreaktion: negativ. 

Es wurde eine Quecksilberkur versucht, aber ohne jeden Erfolg. 

Die Lumbalpunktion wurde nicht wiederholt. 

Die Autopsie ergab entsprechend dem linken Foramen Monroi eine 
Zyste, die dem Kopfe des linken Nucleus caudatus adharent ist, und beider- 
seitigen enormen Hydrocephalus intemus. 

Beobachtung XVTII. Tumor lobi temporalis dextri. 

B. A., 30 Jahre alt, nicht luetiscli. Vor 6 Jahren begann er an Kopf- 
schmerzen zu leiden, die in groBen Intervallen auftraten, insbesondere, wenn 
er sich der Sonne a\issetzte. Weiterhin fluchtige und leichte Schwindel- 
anfalle. Spater nahmen diese Beschwerden spontan ab, bis sie schlieBlich 
fast ganz verschwanden. Vor 14 Mona ten nahmen aber die Kopfschmerzen 
von neuem zu, es trat Ptosis des rechten oberen Augenlides und eine leicht 
Schwache der gleichseitigen unteren Extremitat auf. Im Verlaufe von 
sechs Monaten wurde die Ptosis komplett, und allmahlich stellte sich ein 
neues Symptom, geistige Stumpfheit ein. Vor 2 Monaten trat beiderseitige 
Amblyopie auf, die binnen kurzem zu linksseitiger Arnaurose fiihrte, wahrend 
inzwischen die Schwache in den Extremitaten derselben Seite zunahm. 
In den letzten Monaten hatte Patient zeitweise Erbrechen. 

Die objektive Untersuchung ergibt: Ophthalmoplegia externa incom- 

f )leta rechterseits mit leichten nystagmusartigen Zuckungen, Pares© des 
inken \mteren Facialisastes. Die vorgestreckte Zunge weicht nach links 
ab. Aktive und passive Bewegungen des Halses leicht schmerzhaft. Leichte 
Pares© der oberen und der unteren Extremitaten. insbesondere links; 
Adiadochokinesis links, leicht zerebellarer Gang, beiderseits Babinskisches 
Phanomen, Patellar- und Achillesreflex links lebhafter, Komealreflex 
rechts schwacher. Hypogeusie und Hyposmie linkerseits. Beiderseitige 
Stauungspapille, links starker. 

Erste Lumbalpunktion: klare. durchsichtige Fliissigkeit unter er¬ 
hohtem Drucke. Albumin: 4 Teilstriche; Lymphozytose: schwach positiv; 
Globulinreaktion: negativ. 

Eine Quecksilberschmierkur braehte keinerlei Besserung. 

Zweite Lumbalpunktion: man erhaJt eine Flussigkeit von sonst 
gleichen Eigenschaften wie vorher, nur ist der Druck noch mehr erhoht 
(600 mm Wasser). und der Albumingehalt ist vermehrt (10 Teilstriche). 

Einige Tage nach der zweiten Pimktion starb der Patient. Die Autopsie 
ergab ein groBes Sarkom des rechten Schlafenlappens. 

Beobachtung XIX. Glioma subcortical© lobi fronto - parietal is 
dextri. 

P. P., 22 Jahre alt, nicht luetisch. Vor 4 Jahren begann er an Schwin- 
delanfallen und Kopfschmerzen, besonders in der Stimgegend, mit un- 
regelmaBigen Exazerbationen zu leiden. Fast gleiohzeitig trat beiderseitige 
Amblyopie auf. Seit wenigen Monaten rasch zunehmende Verschlimmening: 


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Fumarola-Tramonti, Globulinreaktion, 


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Erbrechen, insbesondere, wenn die Kopfschmerzen den Hohepunkt er- 
reichten, geistige Stumpfheit, unfreiwilliger Abgang von Ham und Kot. 
Ueberdies wrude er vollstandig amaurotisch; der Kopfschmerz ist fast 
konstant und wird bald in der Stim, bald in der linken Schlafengegend 
lokalisiert. Zeitweilig Singultus. 

Bei der objektiven Untersuchung zeigt Patient die Tendenz, auf 
der rechten Seite zu liegen. Leichter Exophthalmus rechts. Beiderseitige 
partielle Ophthalmoplegic, links starker. Ganze leichte Parese des linken 
oberen und untercn Facialisastes. Die vorgestreckte Zunge zeigt das Be- 
streben, nach rechts abzuweichen. Nackensteifigkeit und Schmerzhaftig- 
keit bei Bewegungen des Halses. Leichte Parese der Extremitaten links. 
Bei aufrechter Stellung Tendenz, nach riickwarts und nach links zu fallen. 
Patellar- und Achillessehnenreflex links lebhafter. Komealreflex rechts 
schwach. Pupillen gleich weit, vollkonunen lichtstarr. Schadelperkussion 
rechts schmerzhaft. Keine bemerkenswerte Stonrng der verschiedenen 
Formen der Sensibilitat. Komplette beiderseitige Amaurose, Gehor beider- 
seits gut. Geruch auf beiden Seiten erloschen, Geschmack erhalten. Augen- 
hintergrund: beiderseitige Stauungspapille. 

Die Luinbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter mafligem Drucke zutage. Albumin: 3 Teilstriche; Lymphozytose: 
nicht vorhanden; Globulinreaktion: negativ. 

Der Patient starb. 

Die Autopsie ergab das Vorhandensein eines weit ausgedehnten sub- 
kortikalen Glioms des rechten Stim-Schlafen-Lappens. 

Beobachtung XX. Tumor lobi frontalis utriusque et corporis callosr 
(fornicis). 

C. A., 35 Jahre alt. nicht luetisch. Vor einem Jahre begann sie an 
anfallweise auftretenden Kopfschmerzen zu leiden. Sechs Monate spater 
in Intervallen von wenigen Tagen drei epileptiforme Anfalle mit nach- 
folgender Verschlimmerung der Kopfschmerzen, Gefiihl von Stumpfheit, 
manchmal Erbrechen. Seit ungefahr einem Monate Diplopie, allgemeine 
Schwache, insbesondere auf der linken Korperhalfte, Amblyopie rechts, 
leicht taumelnder Gang, Neigimg nach rechts zu fallen. 

Die objektive Untersuchung ergibt beiderseits Parese des Rectus 
extemus, besonders rechts, Parese des unteren Facial isastes links, leichte 
Parese und Ataxie der linken Extremitaten, Adiadochokinesis links, 
zerebellaren Gang. Patellar- und Achillessehnenreflex rechts deutlicher, 
Kornealreflex rechts schwacher, Pupillen auf Licht und Akkommodation 
gut reagierend. Linksseitige Hypasthesie. Visus rechts = y 2 , links = 
Augenhintergrund: beiderseits Stauungspapille, rechts starker. 

Erste Lumbalpunktion: klare. durchsichtige Fliissigkeit unter er- 
hohtem Drucke. Albumin: 4 Teilstriche; Lymphozytose: nicht vorhanden; 
Globulinreaktion: schwache Opaleszenz. 

Es wurde eine Quecksilberkur versucht, die keinerlei Besserxmg 
brachte. Da der Zustand der Patientin sich verschlimmerte, so wurde 
ein chirurgischer Eingriff beschlossen. 

Eine zweite Lumbalpunktion, die am Schlusse der Quecksilberkur 
gemacht wurde, forderte eine Fliissigkeit von sonst gleichen Eigenschaften 
wie die erste zutage, nur daB die Globulinreaktion intensiver war 
(Opaleszenz). 

Der Zustand der Kranken verschlechterte sich rapid, und sie starb 
noch vor der geplanten Operation. 

Die Autopsie ergab ein Sarkom. welches die beiden Prafrontallappen 
und die zwei vorderen Drittel des Balkens einnahm. 

Beobachtung XXI. Encephalomalacie der rechten inneren Kapsel. 

M. E., 58 Jahre alt, nicht luetisch. Vor 6 Monaten verspiirte er plotz- 
lich wahrend des Ankleidens eine Schwache in den Extremitaten der linken 
Korperhalfte; das BewuBtsein verlor er nicht. Spater besserte sich sein 
Zustand, aber nur wenig. 


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Albuiniiireaktion und Lymphozytose etc. 


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Die objektive Untersuchung ergibfc eine ausgesprochene linksseitige 
spastische Hemiparese mit deutlicher Muskelatrophie. Samtliche Sehnen- 
reflexe links lebhafter. Leichte Hypasthesie der paretischen Glieder. Son- 
stiger neurologischer Befund negativ. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter normalem Drucke zutage. Albumin: 2 Teilstriche; Lymphozytose: 
nicht vorhanden; Globulinreaktion: negativ. 

Die Lumbalpunktion wurde nicht wiederholt. 

Die Obduktion bastatigte die Diagnose. 

Beobachtung XXII. Residuen einer Poliomyelitis acuta anterior 
des Lumbaimarks. 

P. G ., 8 Jahre alt. Im Alter von 2 Jahren bekam Patient hohes Fieber, 
das acht Tage dauerte. Am vierten Krankheitstage verspiirte er eine grofle 
Schwache in den unteren Extremitaten und zwei Tage spater auch in den 
obaren. In diesen kehrte die Beweglichkeit im Verlaufe von drei Monaten 
fast zur Norm zuriick, wahrend hingegen die Beweglichkeit der unteren 
Extremitaten sich nie mehr basserte. Der Patient ist fast ganz para- 
pleglsch. 

Bei der objektiven Untersuchung findet man eine leichte, schlaffe, 
atrophische Parese der baiden obaren Extremitaten, besonders der linken, 
und eine schlaffe, atrophische, fast vollstandige Paraplegia der Beine, ins- 
besondere links. Patellar- und Achillesreflex baiderseits aufgehoben. Der 
rechte Tricep3reflex ist kaum angedeutet, die iibrigen Sehnenreflexe fehlern 
Plantarreflexe schwatch, Abdominalreflexe lebhaft. Die elektro-diagnostische 
Untersuchung ergibt in einigen der paretischen Muskeln typische Ent- 
artungsreaktion. Der neurologische Befund ist negativ. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter normalem Drucke zutage. Albumin: 2 Teilstriche; Lymphozytose: 
nicht vorhanden; Globulinreaktion: negativ. 

Die Lumbalpunktion wurde nicht wiederholt. 

Beobachtung XXIII. Mem^resche Vertigo. 

Vor iy 2 Jahren traten bai der Patient in linksseitige Parakusien 
und Abnahme der Horscharfe auf. Seit 6 Monaten Schwindelanfalle, 
wahrend welcher die Parakusien zunehmen, Nausea und manchmal Er- 
brechen auftritt. Wahrend des Sohwindelanfalle3 hat die Patientin die 
Neigung, nach links zu fallen, der Boden scheint sich zu heban, und die 
Geganstande drehen sich um sie. 

Die neurologische Untersuchung ist, abgTsehen von der linksseitigan 
Schwerhorigkeit, vollstandig negativ. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit 
unter normalem Drucke zutage. Albumin: 2 Teilstriche; Lymphozytose: 
nicht vorhanden; Globulinreaktion: negativ. 

Beobachtung XXIV. Hemiparesis spastica sin. infantilis (Herd in 
der rechten inneren Kapsel). 

A. G. y 14 Jahre alt, Mit 4 Jahren hatte er eine fiebarhafte Krank- 
heit, die als Meningitis diagno3tiziert wurde, zehn Taga dauerte und von 
eklamptischen Anfallen bagleitet war. In der Rekonvaleszenz bemerkten 
die Eltern, daB die Extremitaten der linken Korparhalfte schwach waren 
und der Patient schlecht stehen konnte. In der Folga erfuhren die er- 
wahnten Extremitaten eine Entwickhmg?hemmung und bawahrten nur 
einen sehr geringen Teil ihrer Beweglichkeit. 

Die objektive Untersuchung ergibt eine bBtrachtliche spastische 
linksseitige Hemiparese mit Zuriickbleiben der Entwicklung und Atrophie. 
Samtliche Sehnenreflexe links lebhafter, die Sensibilitat auf derselben 
Seite etwas herabgasetzt. Der iibrig3 neurologische Befund ist negativ. 

Die Lumbalpunktion fordert eine klare, durchsichtige Fliissigkeit. 
unter normalem Drucke zutage. Albumin: 3 Teilstriche; Lymphozytose: 
nicht vorhanden; Globulinreaktion: negativ. 

Monatsschrlft f. Pdychiatrie u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 2. 8 


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Fumarola-Tramonti , Globulinreaktion, 


Wir konnen die 24 beschriebenen Falle in zwei Gruppen 
einteilen: 

Die erste Gruppe (9 Beobachtungen: I, II, III, IX, X, XI, 
XII, XIII, XV) umfaBt die Fade, in welchen ererbte oder er- 
worbene Lues manifest oder wenigstens wahrscheinlich ist, 

die zweite Gruppe (15 Beobachtungen: IV, V, VI, VII, VIII, 
XIV, XVI, XVII, XVIII, XIX, XX, XXI, XXII, XXIII, XXIV) 
die Falle, in welchen Lues mit Sicherheit nicht vorhanden ist. 

Wir wollen nun die Falle jeder Gruppe getrennt analysieren. 

a) Erste Gruppe: In sechs (I, II, III, X, XI, XV) von den neun 
Fallen der ersten Gruppe war die Nonne-A peteche Beaktion positiv; 
in drei (IX, XII, XIII) negativ. Doch handelte es sich bei einem 
dieser drei Falle (IX) um einen Luetiker mit einer sicher nicht 
syphilitischen Erkrankung. Nun ist es bekannt, daB bei Luetikern 
die Reaktion negativ sein kann. Im zweiten Falle (XII) wurde die 
Beaktion erst ausgefiihrt, nachdemdie Kranke bereits eine intensive 
Quecksilberkur (Kalomelinjektionen) begoimen hatte; der negative 
Ausfall der Wassermann schen Beaktion in solchen Fallen ist 
bereits bekannt. Im dritten Falle endlich (XIII) handelte es sich 
um eine tabische Kranke, die sich gleichfalls schon zu wieder- 
holten Malen einer antisyphiilitischen Behandlung unterzogen hatte. 
Von den sechs positiven Fallen bieten die ersten drei (I, II, III), 
Patienten mit seroser Meningitis, ein besonderes Interesse dar, 
weil sie zeigen, welchen EinfluB eine Quecksilberkur auf den Ver- 
lauf des Krankheitsprozesses, wenn dieser syphilitischen Ursprunges 
ist, und parallel laufend auf die Nonne sche Globulinreaktion hat. 

Aus diesen Beobachtungen ersieht man in der Tat, daB mit 
der betrachtlichen Bessenmg aller Symptome in zwei Fallen (I, II) 
diese Beaktion ganz verschwand und in einem (III) betrachtlich 
schwacher wurde. Hingegen war in den fiinf Fallen derselben Er¬ 
krankung bei Nichtluetikern (IV, V, VI, VII, VIII) die Queck¬ 
silberkur vollkommen ohne jeden Erfolg. Bei zwei von den drei 
anderen positiven Fallen (X, XI), Patienten mit luetischer Myelo¬ 
meningitis und Pachymeningitis, zeigte sich dieselbe soeben fur die 
serose Meningitis festgestellte Erscheinung, daB namlich die anfang- 
lich positive Globulinreaktion imGefolge der Quecksilberbehandlung 
verschwand oder schwacher wurde. Im letzten (XV) der positiven 
Falle endlich blieb, obgleich die Globulinreaktion vorhanden 
war, doch die Quecksilberbehandlung ohne jeden Erfolg. Die 
Sektion zeigte, daB es sich in diesem Falle um eine Erkrankung 
handelte, die mit Lues gar nichts zu tun hatte (Gehirntumor bei 
einem hereditar Luetischen). Hieraus laBt sich der SchluB ziehen, 
daB, wenn die Affektion luetischer Natur ist, die Globulinreaktion 
mit der Quecksilberkur schwacher wird oder verschwindet; wenn 
die Affektion selbst aber nicht luetischer Natur ist, sondern nur 
bei einem Luetischen auftritt, so wird die Beaktion durch die 
spezifische Behandlung nicht im mindesten beeinfluBt. 

b) Zweite Gruppe: Wir kommen nun zu den Fallen der zweiten 
Gruppe, d. h. zu denjenigen, die organische Affektionen des Nerven- 


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Albuminreaktion und Lymphozytose etc. 


117 


systems bei Nichtluetikern betreffen. Der Beweis dafiir, dab in 
diesen Fallen Lues nicht vorhanden war, oder, um genauer zu sein, 
daB der krankhafte ProzeB nicht von einer unbekannten Lues 
abhangig sein konnte, konnte mit Sicherheit erschlossen werden: 

a) aus der Abwesenheit anamnestischer Daten, welohe den 
Verdacht einer rezenten oder alten Lues rechtfertigen konnten; 

b) aus dem Fehlen aller fiir Lues sprechenden Symptome; 

c) aus der vollkommenen Unwirksamkeit der spezifischen 
Behandlung; 

d) aus der Sektion, die in einigen Fallen ausgefiihrt wurde. 

Bei den hierhergehorigen 15 Fallen war die Nonne sche 

Reaktion dreizehnmal negativ und nur zweimal positiv. Von 
den letzteren 2 Fallen bezieht sich der eine (XIV) auf eine 
Patientin mit Riickenmarkskompression infolge von Meningitis 
serosa circumscripta spinalis (durch Obduktion bestatigt). Da 
anfanglich eine Lues vermutet wurde, so unterzog man die Kranke 
einer Quecksilberbehandlung, die gar keine Besserung brachte, 
und die Vonnesche Reaktion, die schon vor der Behandlung 
positiv war (schwache Opaleszenz), wurde nach ihr noch starker 
positiv (starke Opaleszenz). In dem anderen Fall (XX) handelte 
es sich, wie die Autopsie zeigte, um einen Gehirntumor. Da man 
auch hier Lues vermutete, so wurde die Patientin einer spezifischen 
Behandlung unterzogen; aber auch in diesem Falle wurde keine 
Besserung erzielt, und die Nonnesche Reaktion, die bereits positiv 
war (schwache Opaleszenz), fiel nach der Behandlung noch starker 
positiv aus (Opaleszenz). Es zeigte mit einem Worte das therapeu- 
tische Kriterium ex juvantibus et laedentibus, daB in diesen 
Fallen die Globulinreaktion in keiner Beziehung zur Lues stand, 
sondern von anderen pathologischen Bedingungen abhing, wie 
meningitischen Prozessen und Veranderungen in der Zusammen- 
setzung der Zerebrospinalfliissigkeit, die durch eine Stauung 
derselben innerhalb der Riickenmarkshaute infolge von Kom- 
pression verursacht wurden. 

Aus dem oben Gesagten kann man schlieBen, daB die Nonne- 
sche Globulinreaktion sich hauptsachlich bei denjenigen Kranken 
findet, bei welchen Lues fast sicher vorhanden war. 

Was den Albumingehalt der Zerebrospinalfliissigkeit betrifft, 
so wurde er bei Luetikern funfmal (Beobachtung I, II, III, X, XI) 
vermehrt, und viermal (Beobachtung IX, XII, XIII, XV) normal 
gefunden. Bei den 15 Personen ohne Lues war der Albumingehalt 
in fiinf FaUen (Beobachtung IV, VI, XIV, XVIII, XX) erhoht, 
und in zehn FaUen (Beobachtung V, VII, VIII, XVI, XVII, XIX, 
XXI, XXII, XXIII, XXIV) normal. 

Lymphozytose wurde siebenmal (Beobachtung I, IX, X, XI, 
XII, XIII, XV) bei luetischen Patienten oder bei Personen mit 
aktiver Syphilis des Nervensystems angetroffen, wahrend sie zwei¬ 
mal nicht vorhanden war (Beobachtung II, III). Bei den von Lues 
freien Patienten war sie viermal vorhanden (Beobachtung VII, XIV, 


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118 Fumarola-Tramonti, Globulinreaktion etc. 

XVII, XVIII), und elfmal nicht vorhanden (Beobachtung IV, 
V, VI, VIII, XVI, XIX, XX, XXI, XXII, XXIII, XXIV). 

Wenn wir die Resultate unserer Untersuchungen betrachten, 
so konnen wir zusammenfassend sagen, daB bei organischen Er- 
krankungen des Nervensystems auf luetischer Basis sich am 
haufigsten die Nonne sche Globulinreaktion findet. Dann folgen 
hinsichtlich der Frequenz des Vorkommens die Lymphozytose und 
die Vermehrung des Albumingehalts. Der Anwesenheit von Globulin 
muB daher wahrscheinlich ein groBerer Wert als Folgeerscheinung 
der luetischen Infektion beigemessen werden. Trotzdem ist sie 
nicht immer imstande, zu beweisen, daB der KrankheitsprozeB 
von der Lues abhangig ist (Beobachtung XIV). In solchen zweifel- 
haften Fallen ist das einzige Kriterium, das uns Klarheit verschaffen 
kann, das klinische, d. h. das Kriterium ex juvantibus et laeden- 
tibus. Wenn infolge geeigneter spezifischer Behandlung der 
Globulingehalt abnimmt oder verschwindet, so ist die Rrankheit 
sicher luetischen Ursprungs; wenn der Globulingehalt hingegen 
trotz der spezifischen Behandlung stationar bleibt oder zunimmt, 
so hat der KrankheitsprozeB am wahrscheinlichsten mit der Syphilis 
gar niehts zu tun, auch wenn Syphilis in der Anamnese des Kranken 
eine Rolle spielt. Bei genauer Analyse bewahrheitet sich auch fur 
die Globulinreaktion das, was letzthinvon der Wassermannschen'Re- 
aktiongesagtwmrde, daBnamlichalledieseProben nicht absolute Kri- 
terien darstellen, sondern nur eine Wahrscheinlichkeit gewahren, daB 
eine Lues vorhanden ist, und in vielen Fallen nicht hinreichen, um 
uns Klarheit zu verschaffen, wofern uns die klinische Beobachtung 
nicht zu Hiilfe kommt. Die Losung der wichtigen Frage, ob es sich 
in einem gegebenen Falle um einen krankhaften ProzeB luetischer 
Natur oder um einen nichtluetischen ProzeB bei einem Luetiker 
handelt, bringt uns also auch die Globulinreaktion nicht, da sie, 
wenn auch selten, auch in der Zerebrospinalfliissigkeit von Luetikern 
und von Personen, die an ganz anderen Krankheiten litten (Be¬ 
obachtung XIV, XX), nachgewiesen werden konnte. Die Klinik 
behalt daher bei der Diagnose der syphilitischen und parasyphili- 
tischen Erkrankungen des Nervensystems ihr voiles Uebergewicht 
fiber die Reaktionen des Laboratoriums und wartet noch auf eine 
wirklich sichere Reaktion, die uns eine ahnliche Klarheit ver- 
schaffen wfirde, wie etwa ftir die Diagnose der Tuberkulose der 
XocAsche Bazillus. 


Literatur - Verzeichnis. 

Apelt, Zum Werte der Phase I (Globulinreaktion) fur die Diagnose 
in der Neurologie. Arch. f. Psych. 1909.| Bd. 46, No. 1. EicheJberg und 
Pfortner , Die praktische Verwertbarkeit der verschiedenen Untersuchungs- 
methoden des Liquor cerebrospinal is fur die Diagnostik der Geistes- und 
Nervenkrankheiten. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Juni 1909. Jaworski , 
Influence du traitement mercuriel sur la composition dujsysteme liquide 
c^phalorachidien dans les maladies du systcme nerveux de nature sjmhi- 
litique et parasyphilitique. Rev. neiu*ol. 15 sept. 1910. Merzbacher, Bull* 
importanza della puntura lumbare nella psichiatria e neurologia. Riv. di 
pat. neur. e ment. 1906. Fasc. 5. Nissl , Die Bedeuturg der Lumbal- 


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Steiner. Ueber die Beziehungen etc. 


119 


punktion fiir die Psychiatric. Zentralbl. f. Nervenkr. u. Psych. 1904. 
No. 171. Nonne und Apelt , Ueber Lymphozytose und Globulinunter- 
suehurgen der Spinalfliissigkeit bei organise hen Nervenkrankheiten. Aerzt- 
licher Verein in Hamburg. Sitz. vom 1. X. 1907. Neur. Zentralbl., 15. 
II. 1908. No. 4. Nonne und Apelt , Ueber graduierte EiweiBausfiillung 
in der Spinalfliissigkeit. Arch. f. Psych. Bd. XLII. S. 433. Nonne , Syphilis 
und Nervensystem. II. Aufl. Berlin 1909. Rehm , Die Zerebrospinal- 
fliissigkeit (Histologische Arbeiten fiber die Grofihimrinde. N. Nissl, 
Bd. III. S. 201. Roux , Ponction lombaire et syphilis nerveuse. Rev. 
neurol. 1909. No. 2. 


(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik zu StraBburg. 

[Prof. Dr. Wollenberg .]) 

Uefcer die Beziehungen der Epilepsie zur Linkshandigkeit 1 ). 

Von 

Dr. G. STEINER, 

Assistenten der Klinik. 


In der Epilepsie-Forschung, so, wie sie sich heute darstellt, 
lassen sich zwei Richtungen allgemeiner Art ganz deutlich erkennen: 
Eine, die darauf ausgeht, den Krankheitsbegriff der Epilepsie zu 
verallgemeinern und unter ihn eine ganze Reihe von speziellen Er- 
krankungen, die nicht weiter unterschieden werden, zu sub- 
sumieren. Erinnern wir uns z. B. nur an das im Jahre 1908 er- 
schienene Gowerssche Bucb fiber das Grenzgebiet der Epilepsie, 
in dem Ohnmachten, Vagusanfalle, Migrane, Vertigo, Scblaf- 
symptome als zur Epilepsie gehorig beschrieben werden, wobei aber 
nirgends eine strenge Unterscheidung einzelner Epilepsiearten vor- 
genommen wird, ferner an die Bemiihungen versebiedener Forscber, 
die ein typisches Bild rein psychiscber Epilepsie aufzustellen ver- 
suchen, an die Statuierung des Begriffs der Hysteroepilepsie, der 
ja auch dazu angetan ist, eine klare Trennung zwiseben den beiden 
grossen Krankheitssammlungen der Epilepsie und der Hysterie 
unmoglich zu machen, endlich an die Anschauung, die bei kind- 
lichen, epileptiformen und spasmophilen Zustanden alles mit der 
Etikette Epilepsie zu versehen geneigt ist. 

Auf der anderen Seite lafit sich eine Ricbtung verfolgen, der 
man vom Standpunkt heuristiseber Problemstellung aus viel mehr 
Berechtigung zusprechen muB. Die ganze Entwicklung der kb- 
nischen medizinischen Wissenschaft zielt ja auf Isolation bestimmter 
atiologisch einheithcher Krankheitsbilder ab. Aucb vom Sammel- 
begriff Epilepsie baben sich im Laufe der neueren Zeit manebe 


') Der Jrl.Hit dieser Albeit entspricht einem fiir die Jahresversaimnlung 
1911 des Deutschen Vereins fiir Psychiatrie bestinunten Vortrog, der aber 
wegen Zeiimangels nicht mehr zur Erledigung kommen konnte. 


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Steiner, Ueber die Beziehungen 


Krankheitsbilder abtrennen lassen. Ich brauche dies um so weniger 
auszufiihren, als das groBe Referat von Alzheimer- Vogt vor 4 Jahren 
bei Gelegenbeit der Versammlung des Deutschen Vereins fiir 
Psychiatrie eine Gruppierung der einzelnen Epilepsie-Erkranknngen 
gab. Als klinisch ganz gut von der genuinen Epilepsie abgrenzbare 
Erkrankungen nenne ich nur die Unverrichtsche Myoclonus-Epi¬ 
lepsie, die Narcolepsie Friedmanns, die psychasthenischen Krampfe 
Oppenheims, die affekt-epileptischen Anfalle von Bratz, die epilep- 
tischen Anfalle bei friiherer cerebraler Kinderlahmung. Ueber- 
haupt ist es ja doch wohl nach dem Stande des heutigen Wissens 
so, daB weniger der motorische Anfall als solcher ein Charakte- 
ristikum fiir die Krankheitsart abgibt, als die Aetiologie oder bei 
nicht bekannter Krankheitsursache die klinische Gruppierung der 
einzelnen Krankheitszeichen. Und das ist auch meiner Ansicht 
nach sehr am Platze. Nur miiBte diese klinische Unterscheidung 
auch sprachlich zum Ausdruck kommen, insofern man eben statt 
arteriosklerotischer oder Alkohol-Epilepsie epileptiforme Arterio- 
sklerose und epileptiformer Alkoholismus sagen miiBte, statt 
symptomatischer Epilepsie iiberhaupt epileptiforme Symptome. 

Im folgenden soli nun versucht werden, ein neues Symptom 
an dem immerhin noch groBen Formen- und Artenreichtum der 
Falle von genuiner Epilepsie hervorzuheben und einen kleinen 
Beitrag zur weiteren Prazision des Krankheitsbegriffes der genuinen 
Epilepsie zu geben. 

Als Vorarbeiter auf dem Gebiet meiner Untersuchungen 
lassen sich im ganzen nur drei Namen nennen. Es sind dies 
Lomhroso, Tonini und Redlich. Lombroso war der erste, der bei 
Epileptikern selbst ein viel haufigeres Vorkommen von Links¬ 
handigkeit feststellte, als es den Zahlen beim Normalen (ca. 2 bis 
5 pCt.) entspricht. Er fand namlich unter 176 Epileptikern 
18 Linkser = 10 pCt. und noch 9 Ambidexter. Tonnini konstatierte 
bei 40 pCt. aller von ihm untersuchten Epileptiker eine morpho- 
logisch-anatomische Differenz zugunsten der linken Seite und 
ferner auch ein besseres physiologisches Verhalten dieser Seite. 
1908 befaBte sich dann Redlich eingehender mit der Frage der 
Epilepsie und Linkshandigkeit; er untersuchte 125 Epileptiker 
und fand darunter 22 Linkshander = 17,2 pCt., wahrend unter 
300 anderen Kranken, hauptsachlich Geisteskranken, nur 24 Links¬ 
hander = 8 pCt. vorkamen. Redlich gibt nun selbst zu, bei 
seinen statistischen Untersuchungen sich nicht ausschlieBlich auf 
juvenile oder aus der Kindheit stammende Epilepsien beschrankt, 
sondern auch Epileptiker, alkoholischer, traumatischer, syphi- 
litischer Genese herangezogen zu haben. Er veroffentlicht aus- 
fiihrlicher 5 Falle von Epilepsie mit singularer Linkshandigkeit, 
den ersten mit rezenter Lues, wo im Verlauf der energischen anti- 
luetischen Behandlung die Anfalle vollstandig ausblieben und auch 
eine Neuritis optica auf die spezifische Behandlung zuriickging. 
Im zweiten Falle ist hereditare Lues mit allergroBter Wahrschein- 
lichkeit im Spiel; im dritten ist hereditare Lues nicht unwahr- 


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der Epilepsie zur Linkshandigkeit. 


121 


scheinlich, der vierte Fall zeigt die Erscheinungen einer leicht 
ausgesprochenen rechtsseitigen Hemiparese, den fiinften Fall 
endlich kann man als genuine Epilepsie auffassen. Die Anschauung, 
die Redlich vom Zusammenhang zwischen Epilepsie und Links¬ 
handigkeit hat, ist kurz folgende: Bei vielen Epileptikern sei Links¬ 
handigkeit die Folge einer wenn auch nur angedeuteten rechts¬ 
seitigen Hemiparese. Es lasse sich ein flieBender Uebergang von 
den Fallen angeborener reiner Linkshandigkeit, die wir auf eine 
Lasion der linken Hemisphare zuriickzufiihren hatten, bis zu den 
unzweifelhaften rechtsseitigen cerebralen Kinderlahmungen fest- 
stellen. Gegen diese Anschauung ist zweierlei zu erwidem: erstens 
einmal findet die Tatsache, daB im nachsten Familienkreis rechts- 
hdndiger, an genuiner Epilepsie erkrankter Individuen auffallend 
haufig gesunde, linkshdndige Familienmitglieder sich finden, durch 
den Redlichschen Versuch, die Linkshandigkeit der Epileptiker auf 
eine Art cerebraler Kinderlahmung zuriickzufiihren, gar keine Er- 
klarung. Allerdings war diese Erscheinung Redlich auch nicht 
bekannt; sie ist erst durch die an der StraBburger Klinik vorge- 
nommenen Untersuchungen zutage getreten. Zweitens aber muBten 
vielleicht etwas weniger haufig, aber doch auch ganz zahlreich 
Falle von deutlich vorhandener rechtsseitiger Hemispharenlasion 
bei der genuinen Epilepsie sich nachweisen lassen; dies ist aber 
nach meinen Untersuchungen keineswegs der Fall. 

Die Untersuchungen wurden an alien im Laufe des ver- 
gangenen und des jetzigen Jahres in der StraBburger psychiatrischen 
Klinik zur Beobachtung gekommenen Fallen von genuiner Epilepsie 
angestellt. Zunachst war die Abgrenzung der Falle mit genuiner 
Epilepsie von anderen Epilepsie-Erkrankungen vorzunehmen. Falle 
von sogenannter traumatischer, alkoholischer, arteriosklerotischer, 
hereditar-luetischer und von Jackson-Epilepsie bei sicher nach- 
weisbaren Herderkrankungen (HirnabszeB u. dgl.) wurden von 
vornherein ausgeschlossen. Etwas schwieriger war die Frage, ob 
die Art von Epilepsie, bei der affektive Einflusse in der Auslosung 
groBer Anfalle eine wesentliche Rolle spielen, mit zur genuinen 
Epilepsie zu rechnen sei oder nicht. Die von mir vorgeschlagene 
und auch mehrmals versuchte Methode durch Darreichung groBer 
Kochsalzgaben Anfalle zu diagnostischen Zwecken auszulosen, 
ergab insofern kein Resultat, als die genuin epileptischen, moto- 
rischen Krampfanfalle ebenso wie Krampfanfalle bei symptoma- 
tischer Epilepsie mit Hiilfe groBer Kochsalzzufuhrungen auftraten, 
dagegen war bei funktionell-hysterischen Anfallen ein Ergebnis 
vorhanden, indem namlich hierbei kein krampferregender EinfluB 
bei Darreichung groBer Kochsalzgaben nachweisbar war. Hin- 
sichtlich des Vorkommens der Linkshandigkeit wurde in der Familie 
des Epileptikers nachgefragt, und zwar war dabei sehr haufig die 
Beobachtung zu machen, daB das erkrankte Familienmitglied 
selbst iiber das Vorkommen der Linkshandigkeit in seiner Familie 
nichts auszusagen wuBte, wahrend gesunde Angehorige die Er¬ 
scheinung der Linkshandigkeit bei einem oder mehreren Familien- 


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122 


Steiner, Ueber die Beziehungen 


mitgliedern sofort angaben. Die Nachfrage nach Linkshandigkeit 
wurde auf die direkten GroBeltern, Geschwister der El tern und auf 
die Eltern selbst, auf die direkten Geschwister und Kinder des 
Erkrankten beschrankt. Zur sicheren Ermittlung der Linkshandig¬ 
keit wurden soweit als moglich die betreffenden linkshandigen 
Familienmitglieder selbst untersucht; dabei kam das brauchbare 
Stierzche Schema in Anwendung. Ueberhaupt wurde auch die 
ganze Entwicklung der Linkshandigkeit, die immer sich gegen den 
EinfluB der Erziehung ausbildete, in Betracht gezogen. Zu Ver- 
gleichszwecken muBte auch eine Gegenstatistik aufgestellt werden, 
die sich mit dem Vorkommen der Linkshandigkeit bei den Familien 
gesunder Individuen in der obengenannten Begrenzung befaBte. 
Natiirlich durften diese Personen nicht mit einander verwandt sein. 
Es wurde nun festgestellt, daB bei gesunden Individuen verschie- 
denen Alters und Geschlechts, sowie aus verschiedenen Standen 

10 pCt. Linkshandigkeit in der oben verlangten familiaren Um- 
grenzung vorhanden war. 

Unter der Diagnose ,,Epilepsie“ wurden im Laufe der ge- 
nannten Zeit 99 Falle klinisch und poliklinisch behandelt. Von 
diesen konnten 14 nicht melir iiber die uns hier interessierenden 
Tatsachen befragt werden, da sie schon entlassen und unbekannt 
wohin verzogen waren. 26 Falle waren als nicht epileptische Er- 
krankungen des Nervensystems, bei denen aber epileptiforme 
Symptome im Vordergrund des Krankheitsbildes standen, aufzu- 
fassen (Arteriosklerose, epileptiforme Erscheinungen nach Schadel- 
trauma, nach operiertem HirnabszeB, nach luetischer Infektion, 
Falle von Schwachsinn mit Krampfen, epileptiforme Anfalle nach 
in kindlichem Alter durchgemachter Hirnentziindung, epilepsie- 
-artige Anfalle bei hereditar-luetischer Erkrankung, chronischer 
Alkoholismus, im Verlauf dessen es zu epileptiformen Anfallen 
gekommen war, 2 Falle mit ausgesprochen vasomotorischem 
Symptomenkomplex in Verbindung mit seltenen motorischen 
Krampfanfallen, Falle von sicher erweisbarer Hysterie). Besondere 
Beriicksichtigung fanden auch die in geringer Anzahl (2) nach- 
weisbaren affektepileptischen Erkrankungen, ferner Falle, die 
nach paroxysmellen Attacken ausgesprochene motorische Ausfalls- 
erscheinungen (Hemiparesen) iiber langere Zeit zuriickbehielten 
{ebenfalls nur 2). Wurden diese Falle alle ausgeschaltet, so blieben 
59 Falle von genuiner Epilepsie zuriick. Zwei Falle davon konnten 
wohl selbst untersucht werden, sie waren beide Rechtshander, 
dagegen konnten diese Kranken nichts iiber ihre hier in Frage 
kommenden Familienverhaltnisse angeben, der eine war Waisen- 
knabe; der andere, schon erwachsen, hatte in jungen Jahren die 
Mutter verloren, vom Vater wuBte er nichts anzugeben, da er 
unehelich geboren war. Bei den iibrigbleibenden 57 wurde die 
Nachfrage nach Linkshandigkeit in der Familie wie bei den 
Kranken selbst unternommen: sie ergab bei 40 rechtshandigen 
Epileptikern ein Vorkommen von Linkshandigkeit in der Familie, 

11 Epileptiker waren selbst Linkshander, 9 davon ohne daB in der 


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der Epilepsie zur Linkshandigkeit. 


123 


Familie sonst Linkshandigkeit vorhanden war. Auf die Gesamt- 
zahl der untersuchten Falle von genainer Epilepsie berechnet, 
ergeben sich folgende Prozentzahlen: 

Linkshandigkeit in der Familie bsi Rechts- 

handigkeit des Kranken.70,18 pCt. 

Linkshandigkeit des Erkrankten bei nur 
rechtshandigen Familienmitgliedern . . 15,8 „ 

Linkshandigkeit des Kranken mit auch in 
der Familie vorkommender Linkshandig¬ 
keit .3,5 ,, 

Zusammen 89,5 pCt. 

Linkshandigkeit in der Familie des rechts¬ 
handigen Kranken und Linkshandigkeit 
beim Kranken selbst. 

Folgende Tabellen sollen das Vorkommen der Linkshandig¬ 
keit in der Familie des rechtshandigen Kranken veranschaulichen: 


Vereinzeltes Vorkommen von Linkshandigkeit in der Familie 
des rechtshandigen Epileptikers. 


Gesundes, linkshandiges 

Mannliche 

F 

Weibliche 

Familienmitglied 

Kranke 

j Kranke 

Schwester. 

2 

3 

Bruder. 

6 

2 

Mutter. 

— 

3 

Vater. 

3 

— 

Vatersmutter. 

1 

1 

Muttersvater. 

— 

2 

Mutters {Schwester. 

2 

1 

— 

Vatersbruder . 

3 1 

— 


in Summa: 29 Kranke (18 mannl., 11 wbl.). 


Gehauftes Vorkommen familiarer Linkshandigkeit bei rechts¬ 


handigen Epileptikern. 

Gesunde linkshandige Familienmitglieder Kranke 

Vater und 1 Bruder.2 mannliche 

Vater und 3 Bruder.1 weibliche 

Bruder, Vater, GroBvater.1 mannlicher 

Mutter, 3 Bruder, 1 Schwester.1 weibliche 

Vater und Sohn.1 weibliche 

Bruder und GroBvater.1 mannlicher 

Bruder, Sohn einer Vatersschwester, Vaters- 

bruder.1 mannlicher 

Schwester und Schwester der GroBmutter . 1 weibliche 

Vatersbruder und GroBmutter .1 weibliche 

Bruder und Oheim.1 mannlicher 


In Summa: 11 Kranke 

(5 weibl., 6 mannl.) 


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124 Steiner, Ueber die Beziehungen 

Das Verhaltnis von singularem zu gehauftem Vorkommen 
familiarer Linkshandigkeit beim rechtshandigen Kranken gestaltet 
sich wie 100 : 37,93. Bei den beiden linkshandigen Epileptikem, 
die auch in ihrer Familie Linkshandigkeit aufzuweisen hatten, 
waren 1 Bruder, 1 Stiefbruder, 3 Tanten in dem einen Fall links- 
handig, in dem anderen Fall waren die Mutter des Vaters des 
Kranken, sowie 3 Kusinen von Vaters Seite Iinkshanderinnen. 
Von den 51 untersuchten Epileptikem mit Linkshandigkeit in 
der Familie und beim Kranken selbst waren innerhalb des ersten 
und zweiten Lebensjahrzehnts 44 (24 im ersten, 20 im zweiten 
Lebensjahrzehnt) erkrankt. Innerhalb des 20.—25. Lebensjahres 
erkrankten 4 Epileptiker, nach zuriickgelegtem 25. Lebensjahr 3 
(1 mannlicher Kranker mit 32 Jahren, 2 weibliche Rranke mit 28 
und 35 Jahren). 94,11 pCt. der Kranken waren also innerhalb 
der ersten 25 Lebensjahre erkrankt, 86,27 pCt. innerhalb der 
ersten 20. 

Beziiglich einer gleichartigen Hereditat ist zu betonen, daB 
im ganzen nur 4 mal (bei einem Geschwisterkind der Mutter, bei 
einer Stiefschwester der Mutter, bei einer GroBmutter miitterlicher- 
seits, bei einer Schwester) von Anfallen etwas berichtet wurde. 
92,16 pCt. der untersuchten Kranken hatten demnach keine gleich- 
artige Hereditat aufzuweisen. Auffallig ist bei Betrachtung dei 
ersten Tabelle, daB die Linkshandigkeit der Mutter nur bei weib- 
lichen, die Linkshandigkeit des Vaters nur bei mannlichen Kranken 
vorzukommen scheint, wenigstens was das singulare Vorkommen 
von Linkshandigkeit in der Familie rechtshandiger Epileptiker 
angeht. Und auch in der zweiten Tabelle tritt die Erscheinung 
ziemlich deutlich hervor, daB die gesunden linkshandigen Familien- 
mitglieder sehr haufig gleiches Geschlecht wie die erkrankten 
rechtshandigen epileptischen Individuen haben. Ein Fall (43) 1 ) 
von Linkshandigkeit bei genuiner Epilepsie kam zur Autopsie. 
In diesem erwies sich das linke Ammonshorn mehr sklerotisch, 
als das rechte. Wir diirfen nun annehmen, daB Veranderungen 
des Ammonshorns in gewissem Sinne einen Hinweis auf die Starke 
der Erkrankung der ganzen Hemisphare geben, dafiir sprechen 
manche pathologisch-anatomischen Erfahrungen. Weiter konnen 
wir in der Erscheinung der Linkshandigkeit einen Ausdruck fur 
eine minderwertigere Anlage der linken Hemisphare gegeniiber der 
rechten sehen, diese Anlage fiihrt dann auch dazu, daB der Krank- 
heitsprozeB gerade in dem minderwertigen Organkomplex einen 
starkeren Grad annimmt, und das wiirde dann mit der verschie- 
denen Starke der Gliose in den Ammonshornern iibereinstimmen. 
Beziiglich der beiden linkshandigen Epileptiker (50 und 51)1) 
mit Linkshandigkeit in der Familie ware zu erwahnen, daB die 
Linkshandigkeit bei den beiden Kranken selbst keine sehr aus- 
gesprochene war — eine Tatsache, auf die wir nachher zuriick- 


l ) Die in Klanunem angefuhrten Zahlen beziehen sich auf die im 
Anhang beigegebenen Krankengeschichtenausziige. 


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der Epilepsie zur Linkshandigkeit. 


125 


kommen miissen, da sie zur Klarung der ganzen Frage vielleicht 
auch von Wert ist. Von den restierenden 6 Erkrankungen, die als 
genuine Epilepsie aufgefaBt waren, und bei denen keine Links¬ 
handigkeit in der Familie oder bei den Kranken selbst sich fand, 
konnten bei genauerer Untersuchung 3 Falle immerhin als zweifel- 
haft beziiglich einer sicheren Diagnose auf genuine Epilepsie be- 
zeichnet werden. 

Es wird sich nun darum handeln, eine Anschauung von der 
Bedeutung der neuen Tatsache zu gewinnen, daB an genuiner 
Epilepsie erkrankte, rechtshandige Individuen in ihrer Familie 
sehr haufig linkshandige Familienmitglieder aufzuweisen haben, 
und ist damit das seit Lombroso bekannte Faktum in Einklang zu 
bringen, daB auch die Linkshandigkeit beim Epileptiker selbst 
haufiger als beim Normalen vorkommt ? 

Wir fragen uns: ist das so haufige Vorkommen der Linkshandig¬ 
keit bei genuiner Epilepsie ein Zufall ? Oder ist diese Erscheinung 
als Degenerationszeichen aufzufassen ? Oder bestehen andere mit 
der Patbogenese der Erkrankung selbst in Beziehung zu setzende 
Zusammenhange ? 

Von einem Zufall kann meiner Ansicht nach nicht die Rede 
sein. Dagegen spricht schon das so iiberaus haufige Vorkommen 
in 89,5 pCt. der Falle. Vielleicht liegt aber eine Degenerations- 
erscheinung vor ? Demgegeniiber ist zu betonen, daB die Links¬ 
handigkeit in der Mehrzahl der Falle (70,18 pCt.) gerade bei den 
Kranken selbst nicht vorhanden ist, sondern nur in deren Familie. 
Allerdings hat es ja den Anschein, daB die Ueberwertigkeit der 
rechten Gehirnhemisphare gegeniiber der linken, auf der ja die 
Linkshandigkeit beruht, verglichen mit der Ueberwertigkeit der 
linken Hemisphere, wie sie bei alien Rechtshandern vorhanden ist, 
eine Minderwertigkeit des Gehirns darstellt. Zum Beweis dafiir 
mochte ich folgendes anfiihren: Nach Sikoraki, Liiddeckens, He.il- 
bronner, Qutzmann u. A. sind Sprachstorungen (Stottem und 
Stammeln) bei Linkshandern haufiger als bei Rechtshandern; 
weiter ist von Marro, Wey, Ellis, Stier u. A. nachgewiesen worden, 
daB bei degenerierten Menschen (Verbrechern, Homosexuellen) 
Linkshandigkeit haufiger als bei Normalen vorkommt. Links¬ 
handigkeit ist also wohl meist als Degenerationserscheinung auf¬ 
zufassen. Unerklarlich bleibt aber da bei, warum gerade diese 
Form einer Degenerationserscheinung haufiger nicht bei den 
Epileptikern selbst, sondern in deren Familien auftritt. Ich glaube, 
der Zusammenhang liegt tiefer. 

Beim rechtshandigen normalen Individuum gehen die Impulse 
fiir die ganze Motorik zunachst von der linken GroBhirnhemisphare 
aus; sie verteilen sich dann auf die Projektionszentren im rechten 
wie im linken Hirn. Beim gesunden Linkshander geht alles ex¬ 
pressive Geschehen zunachst von der rechten GroBhirnhemisphare 
aus, es verteilt sich dann ebenso iiber die Innervationsstatten im 
rechten, wie im linken Hirn. Es besteht also iiberhaupt normaliter 
eine verschiedenee funktionelle Wertigkeit der rechten und der 


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126 


Steiner, Ueber die Beziehungen 


linken Hemisphare. Der viel haufigere Fall der Rechtshandigkeit 
beruht auf einer funktionellen Ueberordnung von bestimmten Teilen 
der linken Hemisphare fiber die samtlichen motorischen cerebralen 
Funktionen rechts, wie links. Der in ca. 2—5 pCt. vorkommende 
Fall der Linkshandigkeit beruht auf einer Ueberordnung von 
bestimmten Teilen der rechten Hemisphare. Ein solcher Mecha- 
nismus ist nun fur die Rechts- bezw. fiir die Linkshandigkeit als 
normal anzunehmen. Jetzt konnen wir mit unserem Erklarungs- 
versuch einsetzen. A priori laBt sich dann als weitere Folgerung 
die Vorstellung bilden, daB es auch eine Pathologie dieses Ueber- 
ordnungs-Mechanismus geben muB. Die funktionelle Ueberordnung 
kann fehlen oder kaum angedeutet vorhanden sein. Etwas der- 
artiges (Ambidextrie, mangelhafte Sprachentwicklung) treffen wir 
ja haufig bei Entwicklangshemmungen des Gehirns. Aber auch 
bei der genuinen Epilepsie scheint eine mangelhafte Ueberordnung 
bestimmter Teile des rechten oder des linken Hirns fiber das iibrige 
Gehirn vorzuliegen. Als Hinweis auf eine geringe Festigung dieser 
Ueberordnung bei der genuinen Epilepsie mochte ich die am 
Material der StraBburger Klinik festgestellten Tatsachen anfiihren: 

Erstens einmal: die bisher unbekannte Tatsache, daB beim 
rechtshandigen genuinen Epileptiker Linkshandigkeit in der 
Familie gehauft oder einzeln in fast alien Fallen vorkommt. Es 
besteht also in den Familien der genuinen Epileptiker die Tendenz 
zur Vererbung von Linkshandigkeit. Nun ist aber scharf zu trennen 
zwischen einer angeborenen und einer ererbten Anlage. Irgend eine 
Anomalie z. B. kann angeboren sein und braucht noch keineswegs 
ererbt zu sein. So konnen wir uns ganz gut vorstellen, daB eine 
durch Keimesvergiftung bewirkte brankhafte Anlage angeboren 
ist, sie ist aber deshalb durchaus noch nicht als ererbt zu be- 
zeichnen. Auf der anderen Seite ist es sehr wohl moglich, daB in 
bestimmten Familien eine Vererbungstendenz fiir irgend ein Merk- 
mal sich findet, ohne daB gerade ein spezielles Individuum dieser 
Familie mit dem Merkmal behaftet ist; eine gewisse Zahl von 
Familienmitgliedern muB freilich mit diesem Merkmal versehen 
sein. Bei unseren rechtshandigen Epileptikern steht nun die Ver¬ 
erbungstendenz in einem gewissen Widerspruch zur angeborenen 
individuellen Anlage: die Vererbungstendenz spricht zugunsten 
der Linkshandigkeit, die angeborene Anlage des Epileptikers ist 
die der Rechtshandigkeit. Es ware also leicht moglich, daB gewisse 
Unstimmigkeiten in der Ueberordnung der einen Hemisphare iiber 
die andere auftreten, die ihren Grund in der Diskrepanz zwischen 
Vererbungstendenz und angeborener Anlage finden. 

Zweitens: Beim linkshandigen genuinen Epileptiker war in 
9 von unseren samtlichen 11 Fallen nur Rechtshandigkeit in der 
Familie vorhanden. Die Vererbungstendenz zielt also hier in der 
Mehrzahl der Falle auf eine Ueb9rordnung des linken Hirns ab, 
der Kranke selbst weist eine angeborene Anlage auf, die zu einer 
Ueberordnung des rechten Hirns fiihrt. Wir haban also auch hier 
wieder den Wettstreit zwischen Vererbungstendenz und angeborener 


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der Epilepsie zur Linkshandigkeit. 


127 


individueller Anlage. In zwei Fallen von Linkshandigkeit des 
Epileptikers tritt die Linkshandigkeit gehauft in der Familie auf. 
Hier besteht eine Vererbungstendenz zugunsten einer reehts- 
hirnigen Ueberordnung. Der Kranke selbst laBt nun ebenfalls 
eine Ueberordnung des rechten Hirns erkennen. Vererbungstendenz 
und angeborene individuelle Anlage sind also hier in diesem Punkt 
gleichgeartet. Interessant ist nun aber, daB die Linkshandigkeit 
der beiden in Betracht kommenden Kranken keine sehr ausge- 
sprochene ist, jedenfalls nicht so deutlich, wie bei vielen gesunden 
Familienmitgliedern der Kranken. Wir haben also auch hierbei 
die Berechtigung, einen graduellen Unterschied anzunehmen 
zwischen der Vererbungstendenz, die die Ueberordnung des rechten 
Hims im Individuum herbeifiihren will, und der angeborenen 
individuellen Anlage der Kranken, bei denen eine mehr zur Ambi- 
dexteritat neigende Linkshandigkeit nachzuweisen war. 

Immer besteht also eine gewisse Heterogenitat zwischen der 
angeborenen Anlage des an genuiner Epilepsie erkrankten Indi- 
viduums und der Vererbungstendenz, natiirlich nur in der einen 
Hinsicht der rechtshirnigen oder linkshirnigen Ueberordnung. 
Viel zahlreicher ist das Vorkommen des prinzipiellen Unterschiedes 
zwischen Vererbungstendenz und angeborener individueller Anlage: 
da, wo die Vererbungstendenz zugunsten einer rechtshirnigen Pra- 
valenz sprechen wiirde, tritt beim Erkrankten selbst Rechtshandig- 
keit, also linksseitige Pravalenz, auf, wenn die Vererbungstendenz 
eine linkshirnige Ueberordnung erwarten laBt, findet sich beim 
Kranken Linkshandigkeit, d. h. eine rechtshirnige Ueberordnung. 
Und nur in zwei Fallen konnten wir diese letztere Annahme nicht 
bestatigt finden, aber auch hier war doch ein gradueller Unter¬ 
schied in der Erscheinung der Vererbungstendenz bei gesunden 
gegeniiber von kranken Familienmitgliedern nachweisbar. 

Die obigen theoretischen Ausfiihrungen finden ihre Berechti¬ 
gung in der Tatsache des iiberaus zahlreichenVorkommens familiarer 
Linkshandigkeit bei rechtshandigen genuinen Epileptikern und des 
gegeniiber dem normalen viel haufigeren Vorkommens von Links¬ 
handigkeit bei den genuinen Epileptikern selbst. Es ist nun zu 
wiinschen, daB auch andere Untersucher sich mit dieser Frage 
befassen und ein groBeres statistisches Material herbeischaffen 
helfen. Nur dann konnen wir die Berechtigung eines diagnostischen 
Postulates anerkennen, wonach bei der genuinen Epilepsie sich 
entweder Linkshandigkeit in der Familie des Erkrankten oder 
beim Kranken selbst finden muB. Zu betonen ist hierbei, daB das 
Vorkommen der Linkshandigkeit beim Kranken oder in der Familie 
des Kranken selbstverstandlich kein absolutes Differential - 
diagnostikum fur genuine Epilepsie abgibt — Linkshander und 
Individuen, in deren Familie Linkshandigkeit vorkommt, konnen 
an alien moglichen anderen Krankheiten leiden —; verlangt ist 
nur, daB eine Diagnose auf genuine Epilepsie erst dann als voll- 
standig gesichert betrachtet werden soli, wenn in der nachsten 

Mon&tsschrift f. Psychiatric ti. XiMiroloprie. Bd. XXX. ITcft 2. 9 


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128 Steiner, Ueber die Beziehungen 

Familie des Kranken oder beim Kranken selbst Linkshandigkeit 
vorkommt. 

Meinem hochverehrten Chef, Herrn Professor Dr. Wollenberg , 
sage ich fur die giitige Ueberlassung des Materials, sowie fur das 
Interesse, das er dieser Arbeit entgegengebracht hat, meinen 
besten Dank. 


Auszuge aus den Krankengeschichten. 

/. Rechtshdndige Kranke mit Linkshandigkeit in der Familie . 

1. Mii... A1..17 Jahre, Eisendreher. Nichts von Nerven- oder Rrampf- 
krankheiten in der Familie. Eine Schwester schneidet und naht links. 
Mit 8 Jahren Beginn der Anfalle. Einzelner Anfall fangt mit Schwindel- 
gefiihl an. dann tritt BewuBtlosigkeit ein. der Kranke fallt um, hat Schaum 
vor dem Mimd, Zuckungen. Vom 14.—16. Lebensjahr sistierten die groBen 
Anfalle; dagegen blieben absenzenartige Zustande wahrend dieser Zeit 
bestehen nnd treten auch jetzt noch hier imd da auf. Nach den groBen 
Anfallen starke Ermiidiing. Mittelmafiiger Schuler, kam aber immer ganz 
gut mit. Neurologisch: ohne Besonderheiten. 

2. Bre .... Ge . . ., 29 Jahre. Nichts von Nerven- oder Krampf- 
krankheit in der Familie. Mutter vor 4 Jahren an Kehlkopfschwindsucht 
gestorben. Ein Bruder Linkser (Brotschneiden, Nadeleinfadeln links). 
Pat. lernte gut in der Schule. Seit dem 13. Lebensjahr Anfalle. Ein paar 
Tage vor Auftreten der Anfalle gereizt. Beginn eines Anfalls mit Rote im 
Gesicht, fangt zu schreien an. fallt um imd zuckt dann an alien Gliedem. 
Nach dem Anfall matt, oft auch verwirrt. GroBe ZimgenbiBnarbe auf der 
linken Seite der Zunge. Neurologisch: ohne Besonderheiten. 

3. Ri . . . . Em . . . ., 18 Jahre alt, Dienstmadchen. Schwester hat 
Basedoios che Krankheit (forme fruste). Mutter Linkshanderin (schneidet 
Brot mit der linken Hand, Einfadeln links, auch alle anderen wichtigeren 
Verrichtungen links, Schreiben rechts). Seit dem 8. Lebensjahr Anfalle. 
GroBe motorische Krampfanfalle. Neurologisch: ohne Besonderheiten. 

4. Me ... Lu . . ., 18 Jahre alt. GroBmutter miitterlicherseits hatte 
Anfalle vom 11.—19. Lebensjahr, von da ab sistierten die Anfalle derselben 
und kamen auch nicht mehr wieder. Schwester der Pat. Linkshanderin 
(naht links, schneidet Brot links, Einfadeln links); auBerdem noch die 
Schwester der GroBmutter miitterlicherseits (Untersuchung dieser nicht 
moglich). Pat. hat seit dem 7. Lebensjahre Anfalle. Dann vom 7.—11. 
Lebensjahr sistierten die Anfalle. Jetzt 3—4 mal monatlich Anfalle. Friiher 
kurze Absenzen, jetzt groBe motorische Anfalle, fallt um, ist bewuBtlos, 
zuckt mit den Gliedem. Nachher langere Zeit nicht bei sich. Hat sich 
schon dfters schwer an der Hand verletzt, auch am Kopf; Zungenbisse. 
Neurologisch: ohne Besonderheiten. Psychisch: epileptischer Charakter. 

5. Kr .... Lu . ...» 18 Jahre alt, Gartner. Nichts von einer Krampf- 
krankheit in der Familie. Ein Bruder im Alter von 14 Jahren will alles 
linkshandig arbeiten. Sohn einer Vatersschwester ausgesprochener Links- 
hander. Vatersbruder wollte friiher linkshandig werden. Pat. hat seit dem 
15. Jahre Anfalle. die zirka alle 10 Tage einmal auftreten. GroBe motorische 
Anfalle mit Zungenbissen. Reizbarkeit als eine Art von Aura. Neurologisch: 
Facialis rechts schwacher innerviert, als links. 

6. Ba.Ka. 32 Jahre, Fabrikarbeiterin. Vater aus¬ 

gesprochener Linkshander, ebenso ein Sohn der Kranken. Keine hereditare 
Belastung in der Familie. Seit dem 4. Lebensjahr hat Pat. Anfalle. Vor 
dem Anfall Ameisenlaufen in den FiiBen, dann unter BewuBtlosigkeit 
Zuckungen. Oefters schon Kopfverletzungen wahrend der Anfalle. Neuro¬ 
logisch: Tremor der Zunge, leichtes Schwanken bei Augen-FuBschluB. 

7. Mu . . . . A1. . .. 21 Jahre alt. Ein 23 jahriger Bruder (Holz- 
bildhauer) ist Linkser (Einfadeln, Hammerschlagen. Brotschneiden. Peit- 


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der Epilepsie zur Linkshapdigkeit. 


129 


schenknallen links). Sonst nichts in der Familie von Linkshandigkeit, und 
auch nichts von Krampf-, Nerven- oder Geisteskrankheiten. Die Anfalle 
des Pat. bestehen seit dem 13. Lebensjahr, sie treten nachts im Bett ge- 
wohnlich auf. GroBe motorische Krampf anfalle mit schweren Zungen- 
bissen; daneben noch ganz kurze Absenzen. Bemerkt morgens an der 
Zunge, daB er Anfalle gehabt hat. Fuhlt sich dann miide und matt beim 
Aufwachen. Neurologisch: ohne Besonderheiten. Psychisch: leichte epilep- 
tische Demenz. 

8. Ve . . . . Lu . . . ., 14 Jahre alt. Nichts von Nerven- oder Geistes- 
krankheiten in der Familie. Vatersbruder linkshandig (Brotschneiden, 
Einfadeln, Hammerschlagen, Peitschenknallen mit der linken Hand). Pat. 
hat von seiner Kindheit an Anfalle, die in kurzen Dammerzustanden und 
motorischen Krampfen bestehen. Etwas dementer Gesichtsausdruck, 
soil aber gut gelemt haben. Neurologisch: ohne Besonderheiten. 

9. Sa.Sa.. 16 Jahre alt. Eine Totgeburt der Mutter. 

6 Geschwister leben und sind gesund. Nichts von Nerven- oder Krampf- 
krankheiten in der Familie. Ein Bruder Linkshander, schneidet links. 
Nadeleinfadeln links, Hammerschlagen links. Der Kranke hat seit seinem 
7. Lebensjahr Anfalle, zunachst ganz kurze Absenzen bis zum 9. Lebens¬ 
jahr, vom 9. Lebensjahr bis vor 2 Monaten sistierten die Anfalle; jetzt 
treten sie 7—8 mal amJTag auf und gehen mit Schwindel einher. Neurologisch 
findet sich eine Steigerung der Reflexe der .unteren Extremitaten; links 
Andeutung von Patellarclonus. 

10. Go.Ot.. 49 Jahre alt. Nichts von Nerven-, Geistes- 

oder Krampfkrankheiten in der Familie. Die Mutter der Patientin ist aus- 
gesprochene Linkshanderin. Seit dem 19. Lebensjahr hat die Kranke 
Anfalle von BewuBtlosigkeit mit Zuckungen. Zur Zeit bestehen 2 bis 
6 absenzenartige Zustande taglich. Die Kranke steht plotzlich auf, ver- 
farbt sich im Gesicht, wird rot, macht einige Schritte ohne bestimmtes 
Ziel, greift an die Stuhllehne, macht mit der rechten und der linken Hand 
an der Lehne zuckende Bewegungen; gleichzeitig damit sind schnalzende 
Laute zu horen imd eine tonische Kontraktion im linken Mundfacialis zu 
bemerken. Die Dauer betragt ca. % Minute. Wahrend des Anfalls besteht 
Reaktionslosigkeit der Pupillen auf Lichteinfall. Neurologisch findet sich 
eine deutliche Facialisdifferenz. die linke Nasolabialfalte ist besser aus- 
gesprochen als die rechte. Psychisch besteht ziemlich hochgradige Demenz. 

11. B1. . Ma .... 20 Jahre alt. Uneheliches Kind. In der Familie 
nichts von Nerven-, Geistes- oder Krampfkrankheiten. Ein Bruder ist 
ausgesprochener Linkser. Mit 14 Jahren zum erstenmal Anfalle, damals 
alle 14 Tage bis 3 Wochen auftretend. Vollstandige BewuBtlosigkeit dabei. 
Haufige Zungenbisse. Untersichlassen wahrend des Anfalls. Nachtliche 
Anfalle. Psychische Aequivalente. Anfall im linken Arm beginnend, dann 
generalisierte motorische Krampferscheinungen. Neurologische Unter- 
suchung ergibt leichte Facialisschwache rechts und FuBclonus beiderseits. 

12. Sch . . . Ro. 31 Jahre alt. In der Familie nichts von 

Nerven-, Geistes- oder Krampfkrankheiten. Der Vater und ebenso drei 
Bruder sind Linkser in ausgesprochenem Grade. Angeblich erst seit der 
ersten Schwangerschaft 1902 sind bei der Patientin Anfalle beobachtet. 
22 Jahre alt. Die Anfalle beginnen mit Schnalzlaut, der Kopf wird nach 
der linken Seite gedreht, BewuBtseinsstorung. Monatlich zirka ein An¬ 
fall. In der letzten Zeit auch Zuckungen klonischer Art. In der Klinik 
wurden auch groBe motorische Krampfanfalle mit schwerem BewuBtseins- 
verlust und Aufhebung der Pupillenreaktion beobachtet. Die Aufnahme 
erfolgte in einem Dammerzustande. Neurologisch: kein abnormer Befimd. 

13. Hu .... R6 . ., 16 Jahre alt. Der Vater sei Trinker. Ein Bruder 
soil ,,sehr nervos“ sein. Sonst nichts von Nerv'en-, Geistes- oder Krampf¬ 
krankheiten in der Familie. Der Vater ist ausgesprochener Linkser, er 
schneidet mit Messer und Schere links, fiihrt beim Nadeleinfadeln den 
Faden mit der linken Hand. Ballwerfen und Hammerschlagen ebenfalls 

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130 


Steiner, Ueber die Beziehnngen 


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mit der linken Hand. Seit dem 8. Lebensjahr Anfalle mit initialem Schrei, 
groBen allgemeinen Zucknngen. Im Anfall Zungenbisse. Schaum vor 
dem Mund. War vom 11.—13. Lebensjahr in der Epileptikeranstalt Kork. 
Neurologisch: gesteigerte Achilles- und Patellarsehnenreflexe. FuBclonus 
rechts starker als links. 

14. Ma.So .... 11 Jahre alt. Eine Fehlgeburt der Mutter. 

4 Geschwister leben und sind gesund. Vatersmutter Linkshanderin in aus- 
gesprochenem MaBe. Seit einem Vierteljahr Anfalle mit 14tagiger bis 
4 wochentlicher Dauer. Im Anfall wird der Mund nach rechts verzogen. 
dann treten klonische Krampfe der Arme und Beine auf und Kollen der 
Augapfel. Nach dem Anfall Amnesie fiir denselben. Neurologisch: ohne 
Besonderheiten. 

15. Ko .... Lu .... 11 Jahre alt. Mutter viel Crampi in den Beinen. 
Nichts von Nerven- oder Krampfkrankheiten in der Familie. Vater der 
Mutter ausgesprochener Linkshander. Seit dem 2. Lebensjahr Anfalle, 
jetzt auch oft, wenn Pat. allein ist und ihre Aufgabe lemt. Nachtliche 
Anfalle, in denen sie sich schiittelt, laut spricht, singt. Morgens weiB sie 
nie von den Anfallen. Wacht nicht auf, wenn der Anfall voriiber is:. Neuro¬ 
logisch: ohne Besonderheiten. 

16. Jii. Be.40 Jahre alt. Nichts von Nerven- oder Geistcs- 

krankheiten in der Familie. Ein Bruder und der Vater sind ausgesprochene 
Linkser. Keine Krankheit bis zum Jahre 1902. April 1902 Zuckungen im 
rechten Bein. Dann auch Anfalle. beginnend mit schmerzhaften Zuckungen 
im rechten Bein und bei Allgemeinwerden der Krampfe BewuBtseinsverlust. 
GroBe Anfalle mit ZungenbiB und motorischer Aura im rechten Bein. Neuro¬ 
logisch: rechter P. S. K. lebhafter wie links. FuBclonus rechts angedeutet, 
kein Babinski. 

17. Ze.Jo .... 14 Jahre alt. Keine Nerven- oder Geistes- und 

auch nichts von Krampfkrankheiten in der Familie. Ein jiingertr Bruder 
linkshandig, sonst nichts von Linkshandigkeit in der Familie. Mit 4 Jahren 
zum erstenmal Anfalle. GroBe Krampfanfalle mit Verletzungen und Zimgen- 
bissen. Auch Absenzen. Epileptische Demenz. Neurologisch: ohne Be¬ 
sonderheiten. 

18. Eb .... Ca.. 9 Jahre alt. Mutter eine Fehlgeburt. Sonst 

nichts in der Familie von Nerven-, Krampf- oder Geisteskrankheiten. 
Oroflmutter miitterlicherseite Linkserin. Bis zur 2. Klasse unter den mitt- 
leren Schulem. Seit 1 Jahr schlechter. Seit 1 Jahr bestehen auch Anfalle, 
5—8 —lOmal taglich, stiert dabei vor sich hin. Keine Zuckungen. LaBt 
wahrend der Absenzen unter sich. 

19. Kn .... Ka ... 21 Jahre alt. Geschwisterkind der Mutter hat 
Anfalle. Sonst nichts von Geistes-, Nerven- oder Krampfkrankheittn in 
der Familie. Bruder der Mutter Linkser, Nadeleinfadeln. Hammerschlagen, 
Brotschneiden, Kartenmischen links. Seit 13 Jahren Anfalle. Auch sehr 
viel psychotische Zustande, postepileptisch und auch selbstandig als 
Aequivalente. GroBe Anfalle. Neurologisch: ohne Besondeiheiten. 

20. Pf.Le ., 37 Jahre alt. Mutter sehr nervos. Nichts von 

Krampf-, Nerven- oder Geisteskrankheiten sonst in der Familie. Schwester 
der Mutter Linkserin (Nahen, Schneiden mit Schere und Messer, Nadel¬ 
einfadeln links). Seit seiner Kindheit leidet Pat. an Anfallen. wurde deshalb 
militarfrei. Zirka alle 10 Tage groBe Krampfanfalle. Alte ZungenbiBnarbe. 
Sonst somatisch ohne Besonderheiten. Psychisch: Andeutung von epi- 
leptischem Charakter. 

21. Bo . . Ma . . ., 11 Jahre alt. Nichts von Nerven-, Geistes- oder 
Krampfkrankheiten in der Familie. GroBmutter Linkserin. Vatersbruder 
ausgesprochener Linkser. Seit 1 Jahr Anfalle. etwa alle 6—7 Wochen. 
Fangt an zu starren, weiB nichts von sich. lauft dann im Zimmer irniher 
oder rutscht auf den Knien. In der letzten Zeit haufige Anfalle, fast taglich 
einmal. Rechts zeitweise nach Anfallen Babinski. 


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der Epilepsie zur Linkshandigkeit. 


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22. Ri.Jo., 13 Jahre alt. Bruder, Vater, Vater des 

Vaters sind ausgesprochene Linkshander. Hereditat: Vater war 1897 wegen 
Melancholic in der Klinik. in der Irrenanstalt Stephansfeld gestorben. 
Vatersbruder infolge Suizid gestorben, ein anderer Vatersbruder nerven-, 
jedoch nicht krampfkrank. G-esund bis zum 7. Lebensjahr. Seitdem Anfalle. 
Anfallsverlauf: Schrei, drangt aus dem Bett, Spasmen der Muskulatur. 

Klonische Konvulsionen. Rotung des Gesichts. Neurologisch: nihil. 

23. La.Ju.56 Jahre ait. Nichts von Nerven- oder Ge- 

miitskrankheiten in der Familie, auch nichts von Krampfkrankheiten. 

Vater und Bruder ausgesprochene Linkshander (Schneiden mit Schere 
und Messer, Peitschenknallen, Kartenmischen, Node le infade In links). Seit 
dem 23. Lebensjahr Anfalle. erst Schwindelgefuhl und Absenzen. Seit 
ca. 11 Jabren grosse motorische Anfalle. Korperlicher Befund: ohne Be- 
sonderheiten. Epileptischer Charakter. 

24. St.Ot. ., 32 Jahre alt. In der Familie nichts von Nerven- 

krankheiten. Vater Linkshander. Mitte September 1910 erster groBer 
epileptischer Anfall, seit dem 11. Lebensjahr kleine Aoquivalente. Neuro- 
logischer Befimd: ohne Besonderheiten. Etwas manirierte Sprachweise; 
jedoch keineswegs dement, sehr arbeitsfahig. 

25. Le . . Pa.. 31 Jahre alt. Keine Epilepsien oder Geistes- 

bezw. Nervenkrankheit in der Familie. Eine Schwester ausgesprochene 
Linkshanderin. Mit 17 Jahren zuerst Anfalle. Die Anfalle beginnen mit 
Schreien; fiihlt die Anfalle nicht kommen. verliert das BewuBtsein; nachher 
Amnesie. Verletzungen im Anfall sind vorgekommen. In der Klinik sind 
sch were motorische Anfalle und Damme rzustande beobachtet. Neuro- 
logischer Befund: ohne Besonderheiten. - 

26. St.Au.6 Jahre alt. Niemand in der Familie hat 

Anfalle; auch nichts von Gemiits- oder Nervenkrankheiten in der Familie. 

Bruder der Mutter arbeitet alles links und iBt auch links. Seit 4—6 Monaten 
Anfalle, 1 mal Einnassen dabei, gewohnlich abends im Bett. Keine Gichter. 

Lief mit 9 Monaten. Als Kinderkrankheiten hatte Pat. nur Keuchhusten. 
Neurologischer Befund: ohne Besonderheiten. 

27. Ma.Ba.37 Jahre alt. Keine Nerven- oder epileptische 

Krankheiten in der Familie. Bruder der Kranken Linkshander; wenn er 
irgend etwas Feines zu arbeiten hat, beniitzt er nur die linke Hand. Erster 
Anfall mit 24 Jahren. GroBer Anfall. Anfangs nur nachts. in letzter Zeit 
auch tags liber. Vor dem Anfall sehr haufig traurige Verstimmung. Dammer- 
zustande. Psychische epileptische Aequivalente. Neurologischer Befund: 
ohne Besonderheiten Psychisch: leichte Demenz. 

28. He ... R.. 22 Jahre alt. Schwester linkshandig (kehrt 

und schneidet links). Erster Anfall im 16. Lebensjahr, als er morgens zur 
Schule ging. GroBe Anfalle, Schwindelanfalle. Verletzungen im Gesicht. 
Neurologischer Befund: ohne Besonderheiten. 

29. Ba.Ro ... 40 Jahre alt. Nichts von Nervenleiden in der 

Familie; auch keine Krampfkrankheiten. Schwester Linkshanderin in aus- 
gesprochenem MaBe. Seit dem 13. Lebensjahr Anfalle, stiirzt hin, ist be- I 

wuBtlos, hat sich auch dabei schon verletzt. Oefters Zungenbisse. Nach dem 

Anfall Dammerzustand mit Aengstlichkeit und trager Pupillenreaktion. 

Vollige Amnesie. Neurologisch: keine Besonderheiten. 

30. Scho.Ca.. 32 Jahre alt. Vater und Bruder an 

Suizid gestorben. 1 Bruder linkshandig; iBt und arbeitet links. GroBe 
motorische Anfalle; deshalb invalidisiert. 

31. Vil . . . . Ma.18 Jahre alt. Vatersbruder in Irrenanstalt 

verblodet. Stiefschwester der Mutter (Rechtshanderin) hat Anfalle. Mutter 
der Kranken Linkshanderin. Die Geschwister der Kranken haben, mit 
Ausnahme der Kranken selbst und des altesten Bruders, alle die Tendenz 
zur Linkshandigkeit gezeigt, im ganzen 5. Josef Vil., 15 Jahre alt, Rechtsh. 

— A b Vil., 13 Jahre alt, Linksh. in vieler Beziehung. — Anna Vil., 11 Jahr 
alt, Rechtsh. -— Alfr. Vil , 8 Jahre alt, Linksh. — Ther. Vil., 6 Jahre alt. 


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Steiner. Ueber die Beziehungen 


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Linksh. — Char. Vil., 2 Jahre alt, Linksh. — Beginn der Anfalle mit 
11 Jahren. Verschlimmerung mit 16 Jahren. Psychische Aura. Aequivalente 
Schwindelanfalle. Dammerzustande. Auch groBe Anfalle mit ZungenbiB. 
Neurologisch: Zeitweise nach Anfallen Babinski beiderseits; sonst ohne 
Besonderheiten. 

32. Ke .... So . . .. 30 Jahre alt. Nichts von Nerven-. Krampf - 
oder Geisteskrankheiten in der Familie. Mutter naht links, schneidet links. 
Seit dem 14. Jahre Anfalle von BewuBtlosigkeit mit Zuckungen. Hie und 
da Schwindelanfalle. Neurologischer Befund: ohne Besonderheiten. 

33. Schm . . . Go. 41 Jahre alt. Vater an Riickenmarks- 

krankheit gestorben Sonst nichts von Nerven-, Geistes- oder Krampf- 
krankheiten in der Familie. Ein Bruder ausgesprochener Linkser (Nadel- 
einfadeln. Hammersehlagen, Peitschenknallen. Kartenmischen links]. Seit 
dem 18. Lebensjahr Anfalle. Wird dabei bcwuBtlos. fallt hin. Etwa 10 Mi- 
nuten dauemder Anfall wurde klinisch beobachtet. Sch. schlug mit den 
Armen um 9ich, reagierte nicht auf Anrufen. Pupillen reaktionslos dabei. 
Vor 6—7 Jahren sch we re Verletzung infolge eines Anfalls. Neurologisch: 
ohne Besonderheiten. 

34. Vo .... Ge .... 16 Jahre alt. Mutter etwas nervos. Sonst nichts 
von Nerven-, Geistes- oder Krampfkrankheiten in der Familie. Vater 
ausgesprochener Linkshander. Im Alter von 6 Monaten Konvulsionen. 
Zeitweise alle 2—3 Tage 1—3 mal taglich Konvulsionen. Seit 2—3 Jahren 
fallt Pat. hin, ist bewuBtlos und hat Zuckungen, hat sich dabei verletzt. 
Neurologisch: ohne Besonderheiten. Psychisch: geringe geistige Regsam- 
keit, leichte geistige Schwache. Im Anfall klonische Zuckungen, volliger 
BewuBtseinsverlust, trage Pupillenreaktion. 

35. We . . . Ka . ., 9 Jahre alt. In der Familie nichts von Nerven-, 
Krampf- oder Geisteskrankheiten. Aeltester Bruder des Vaters ausge¬ 
sprochener Linkshander. Der Pat. hat erst seit diesem Jahre Anfalle. 
Er bekommt die Anfalle im Schlaf, verdreht die Augen, ballt die Hande und 
hat Zuckungen in den Gliedem. Bis jetzt 8 mal solche Zustande. Geht 
jeden Tag in die Schule. Lemt gut. wird aber leicht miide. Neurologisch: 
ohne Besonderheiten. 

36. Wa .... Ka . ., 10 Jahre alt. Nichts von Nervenleiden in der 
Familie. Bruder des Vaters Linkshander. Seit einigen Jahren Anfalle 
von BewuBtlosigkeit, Schaum vor dem Mund, Zungenbisse, Zuckungen an 
Handen und FiiBen. Neurologisch: ohne Besonderheiten. 

37. He . . . Lu . . . ., 12 Jahre alt. Vater und Patient selbst lungen- 
leidend. Sonst nichts von Krankheit. in der Familie. auch nichts von Nerven-, 
Krampf- oder Geisteskrankheiten. Vor 1*4 Jahren Beginn der epileptischen 
Erkrankung mit Absenzen, blieb stehen, reagierte auf Rufen nicht. In letzter 
Zeit auch motorische Anfalle mit BewuBtseinsverlust. Zuckungen in den 
Handen, Verdrehen der Augen. Poriomanische Zustande. Neurologisch: 
ohne Besonderheiten. 

38. Ha.Be . . . ., 30 Jahre alt. Nichts von Nerven-, Krampf - 

oder Geisteskrankheiten in der Familie. Eine Schwester ausgesprochene 
Linkshandorin. Seit 2 Jahren Anfalle, beginnend mit sensorischer Aura, 
fallt um und zuckt mit Handen und FiiBen. Vollstandige BewuBtlosigkeit 
wahrend des Anfalls. Nach dem Anfall Kopfschmerzen und starke Er- 
miidung, wie auch Amnesie. Somatisch: ZungenbiBnarben; neurologisch: 
ohne Besonderheiten. 

39. He . . . Ka.. 15 Monate alt. Nichts von Nervenleiden in 

der Familie. Vater der Mutter Linkshander. Hat rechtzeitig laufen und 
sprechen gelemt. Seit dem 4. Lebensmonat nach Angabe des behandelnden 
Arztes epileptische Anfalle. Korperlich gut entwickelt, geistig ebenfalls. 

40. Fr.A1.4 Jahre alt. In der Familie nichts von Nerven- 

oder Geisteskrankheiten. Ein 6 Jahre alter Bruder und der GroBvater sind 
ausgesprochene Linkshander. Seit 3 Monaten Anfalle mit schwerem Be¬ 
wuBtseinsverlust, Zuckungen, Schaum vor dem Mund. Zungenbisse und 


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der Epilepsie zur Linkshandigkeit. 


133 


Untersichlassen ist bei den Anfallen auch schon vorgekommen. Sehr leb- 
hafter, seinem Alter nach gut entwickelter Junge. Sornatisch und neuro- 
logisch: ohne Besonderheiten. 

II, Linkshandige Kranke, 

4 a) Ohne Linkshandigkeit in der Familie. 

41. St. . . Ka., 22 Jahre. Eine Schwester litt an Veitstanz 

sonst nichts von Nerven-, Krampf- oder Geisteskrankheiten in der Familie. 
Die Kranke selbst ist ausgesprochene Linkshanderin, naht, schneidet links 
und gibt bei feirreren zweihandigen Verrichtimgen immer der linken Hand 
die Fiihrung. Die Kranke war im Jahre 1895 schon einmal in klinischer 
Behandlung hier. Die damalige Diagnose lautete auf Epilepsie (petit mal). 
Auch fjetzt wieder sind wahrend der Schwangerschaft charakteristische 
epileptische Anfalle aufgetreten. Neurologisch: ohne Besonderheiten. 

42. Je . . . Em.29 Jahre alt. In der Familie nichts von Krampf-, 

Nerven- oder Geisteskrankheiten, auch nichts von Linkshandigkeit in der 
Familie. Die Kranke selbst ist ausgesprochene Linkshanderin. Der erste 
Anfall trat mit 14 Jahren auf. Jetzt bestehen groBe und auch abortive 
Anfalle. Hie und da ZungenbiB im Anfall. Vor dem Anfall zeigt sich haufig 
eine sensible Aura, die vom rechten FuB ausgeht. Nach dem Anfall manchmal 
Erbrechen. Neurologischer Beftmd: ohne Besonderheiten. 

43. Ha .... An . ., 27 Jahre alt. In der Familie angeblich nichts 
von Nerven-, Krampf- oder Geisteskrankheiten. Die Patientin selbst ist 
ausgesprochene Linkshanderin, sonst ist in der Familie alles rechtshandig. 
Seit dem Eintritt der Periode im 13. Lebensjahr bestehen Anfalle, groBe 
motorische Anfalle, auch Schwindelanfalle und Dammerzustande. Sensible 
Aura vor den groBen Krampf anfallen. Nach den Anfallen immer Amnesie. 
Postepileptische, religios gefarbte Psychosen. Sornatisch: ZungenbiBnarbe. 
Neurologisch: ohne Besonderheiten. Psychisch: epileptischer Charakter, 
leichte Demenz. 

Tod im Status epilepticiis. Bei der Autopsie starkere sklerotische 
Vorgange im linken Ammonshom nachweisbar. 

44. Ho . . . Xa ...» 30 Jahre alt. Eine Sch wester hat angeblich epi¬ 
leptische Anfalle. Sonst nichts in der Familie von Nerven-, Krampf- oder 
Geisteskrankheiten. Der Kranke selbst ist ausgesprochener Linkshander, 
sonst in der Familie nichts von Linkshandigkeit. Seit 4 Jahren sollen erst 
Anfalle bestehen. Der Kranke wurde jedoch schon friiher nach 9 mona- 
tigem Dienst vom Militar entlassen. GroBe Krampf anfalle mit Kopf- 
verletzung. Nach dem Anfall vollstandige Amnesie. Sonst haufig Ameisen- 
laufen im linken Arm. Neurologisch: Zunge weicht nach rechts ab. Grober 
Tremor der Hande. 

45. Tr . . . . He . . . ., 30 Jahre. Nichts von Nerven-, Geistes- oder 
Krampfkrankheiten in der Familie. Pat. ist ausgesprochene Linkshanderin. 
sonst nichts von Linkshandigkeit in der Familie. Hat in der Schule gut 
gelemt. Seit ihrem 20. Lebensjahr hat sie Anfalle, bei denen sie umfallt, 
das BewuBtsein verliert und Zuckungen hat. Schaum vor dem Mund und 
ZungenbiB wahrend des Anfalls. Nach dem Anfall starke Ermiidimg und 
Kopfschmerzen. Neurologisch: ohne Besonderheiten. 

46. Ma .... Vi.46 Jahre alt. In der Familie nichts von Nerven- 

leiden. Patient ist selbst linkshandig (Einfadeln, Schneiden, Hammer- 
schlagen mit der linken Hand). Sonst in der Familie nichts von Links¬ 
handigkeit. Der erste Anfall trat, wie Patient 18 Jahre alt war, auf. GroBe 
Anfalle alle 3—4 Monate. Dann auch Angstanfalle, Schwindelanfalle und 
Aura, die in Schwindel besteht. Epileptische Psychosen. Aequivalente. 
Praepileptisch haufig Euphorie oder Angst, postepileptisch Verwirrtheit 
auftretend. Epileptische Charakterdegeneration. Sornatisch Narben von 
Verletzungen, ZungenbiBnarben. Neurologisch: ohne Besonderheiten. 

47. Ba . . Ka.35 Jahre alt. Linkshanderin. In der Familie 

nichts von Linkshandigkeit. Seit 3 Monaten Anfalle von BewuBtlosigkeit 


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134 


R 6 p e r . Heilerfolge bei Neurasthenic. 


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mit Zuckungen. WeiB iiber die Art der Anfalle nichts Naheies anzugeben. 
Neurologisch: ohne Besondcrheiten. 

48. Th .... Vi.26 Jahre. In der Familie nichts von Nerven - 

oder Krampfkrankheiten. Ausgesprochener Linkshander. Sonst in der 
Familie nichts von Linkshandigkeit. Mit 19 Jahren der erste Anfall; 
seitdem groBe Anfalle mit schweren Verletzungen. Sehr leicht reizbnr. 
schreckhaft, sehr umstandlich; queruliert. Zeitweise verstimmt. Neuio- 
logisch: ohne Besondcrheiten. 

49. Ve . . . . Fr., 32 Jahre alt. Schon im Jahre 1899 hier 

in Behandlung wegen Anfalle. die seit dem 20. Jahr bestehen sollen. In 
der Familie nichts von Nerven- oder Krampfkrankheiten. Pat. ist ausge- 
sprochener Linkser. Sonst in der Familie nichts von Linkshandigkeit. 
4 Jahre sistierten die Anfalle. Mit-te April 1911 wieder ein heftiger Anfall 
mit BewuBtseinsverlust. Zuckungen und ZungenbiB. Starke Erntiidung 
nach dem Anfall. Sonst hie und da Angstzustande; erschriekt leicht. Neuro- 
logisch: ohne Besondcrheiten. 

b) Mit Linkshandigkeit in der Familie . 

50. Eh. Pa . .. 10 Jahre. In der Familie nichts von Nerven-. Krampf- 
oder Geisteskrankheiten. Patient selbst ist Linkser; jedoch nicht in dem 
ausgesprochenen Malle, wie viele seiner Gesehwister und Verwandten (Nadel- 
einfiideln rechts, Brotschneiden. Hammersehlagen links). 1 Bruder und 
3 Tanten. 1 Stief bruder des Ration ten sind ausgesprochene Linkshander. 
Seit diesem Jahre bestehen bei dem Kranken Anfalle. die nachts auftreten. 
Im Beginn der Anfalle Zittem, dann Schaum vor dem Mund, Iiocheln. 
BewuBtseinsverlust und Zuckungen. dabei grofie Blasse. Nach dem Anfall 
Miidigkeit. Neurologisch: ohne Besondcrheiten. Psychisch: gute Intelligenz. 
ist leicht zornig. 

51. Ste.Jo.9 Jahre alt. Nichts von Ner\’en-, Krampf- 

oder Geisteskrankheiten in der Familie. 1st selbst Linkshander (zur Ambi- 
dextrie neigend). die Mutter des Vaters des Patienten. sowie 3 Cousinen 
von Vatei*s seite ausgesprochene Linkshiinderinnen. Pat. selbst ist ein 
..Siebeninonatskind 44 . Die Anfalle bestehen seit 2 Vo Jahren. zuerst 2—3 mal 
am Tage, dann steigend bis 10 Anfalle taglieh. Die Beobachtung der Anfalle 
ergiebt. daB sie 15 Sekunden dauern. sie bestehen in klonischen Zuckimgen 
der linken Gesichtsmuskulatur. besonders des Mimdes. der Kopf wird nach 
links geneigt und ruckweise bewegt. Nach dem Anfall besteht fiir denselben 
Amnesic. Wahrend des Anfalls BewuBtseinstrubung. jedoch kein voll- 
stiindiger BewuBtseinsverlust. Neurologische Untersuchung: ohne Be- 
sonderheiten. Psychisch: ('benfalls ohne Besonderheiten. 


(Aus der Nerve'iiabteilung der psychiatrisehen Klinik in Jena. 

[Geh. Rat Binsuanger .]) 

Heilerfolge bei Neurasthenie. 

Von 

Dr. ERICH ROPER, 

Nachdem durch die Errichtung von Volksnervenheilstatten 
die klinische Behandlung der Neurasthenie einen weit groBeren 
Umfang angenommen hat, und die Landesheilanstalten und 
Krankenkassen auch fiir diese Kranken groBe Geldmittel auf- 


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Roper, Heilerfolge bei Neurasthenie. 


135 


wenden, ist die Frage eine brennende geworden, inwieweit wirk- 
liche Dauererfolge erzielt werden. Es erheischte deshalb eine Arbeit 
groBes Interesse, die aus der Volksnervenheilstatte ,,Haus Schonow“ 
in Zehlendorf bei Berlin erschien und die Erfolge dieser Anstalt 
behandelte. Es ist dies die Arbeit: ,,Ueber Heilerfolge bei nervosen 
Invalidenversicherten“ von Julius Hallervorden. 

Das Fazit seiner Arbeit zieht Hallervorden wie folgt: 

1. Bei den von den Landesversicherungsanstalten der Heil- 
statte Schonow iiberwiesenen Patienten mit funktionellen Nerven- 
erkrankungen sind bei 

55 pCt. Mannern und 
30 pCt. Frauen 

Heilerfolge von 4—7 Jahren Dauer erzielt worden. 

2. Aus diesen Zahlen ergiebt sich, daB auffallenderweise die 
Erfolge bei Frauen hinter den bei Mannern erreichten erheblich 
zuriickstehen. 

3. Eine Untersuchung iiber die etwaigen Einflusse der erb- 
lichen Belastung auf den Erfolg des Heilverfahrens hat ergeben, 
daB die erblich belasteten Patienten keinen schlechteren Heilerfolg 
aufzuweisen haben als die nicht belasteten. 

Immerhin handelt es sich hier um ein etwas einseitiges Material, 
da es sich hier ja nur um Kranke der unteren sozialen Stande 
handelt. Es erschien daher die Aufgabe verlockend, die Heil¬ 
erfolge bei der Neurasthenie an einem Material zu priifen, das sich 
a,us alien Standen zusammensetzt. Von Herrn Geheimrat Bins- 
wanger wurde ich beauftragt, die in den Jahren 1898—1908 in 
der Jenaer Klinik wegen Neurasthenie behandelten Patienten in 
Hinsicht auf die bei ihnen erzielten Heilerfolge einer Priifung zu 
nnterziehen. 

Es wurden die Krankengeschichten samtlicher wegen Neur¬ 
asthenie in den Jahren 1898—1908 aufgenommenen Patienten 
durchgesehen und ausgezogen. Es handelt sich insgesamt um 
1008 Krankengeschichten. Die Zahl hatte leicht um ein Bedeutendes 
vermehrt werden konnen, wenn man die Falle der beiden letzten 
Jahre noch hatte hinzunehmen wollen. Durch die vor einigen 
Jahren errichtete Nervenabteilung, welche ein eigenes, von der 
psychiatrisehen Klinik unabhangiges Gebaude darstellt, ist die 
Zahl der wegen funktioneller Neurosen aufgenommenen Patienten 
standig gestiegen. Es schien unratsam, iiber das Jahr 1908 hinaus- 
zugehen, denn um von einem Heilerfolg sprechen zu konnen, muB 
die Behandlung doch mindestens zwei Jahre zuriickliegen, sonst 
haben die Katamnesen keinen rechten Wert. Patienten, die vor 
1898 behandelt waren, noch in die Betrachtungen. mit hinein- 
zuziehen, erwies sich als unzweckmaBig; schon bei den Patienten 
aus den Jahren 1898—1900 steht, besonders bei den Frauen, die 
Zahl der beantworteten Umfragen in gar keinem Verhaltnis zu 
der darauf verwandten Miihe. 

Durch die bedeutend groBere Zahl der Falle und dadurch, 
daB ein sehr groBer Teil der Behandelten den sogenannten besseren 


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136 


Roper, Heilerfolge bei Neurasthenie. 


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Standen angehort, hat diese Arbeit fraglos einen Vorzug vor der 
aus „Haus Schonow“, die nur Invalidenversicherte beriicksichtigt* 
Ein Nachteil ist, daB im Verhaltnis sehr viel weniger Kata- 
mnesen vorliegen. 

Von den in den Jahren 1898—1908 in der hiesigen Psych- 
iatrischen Klinik beziehungsweise deren Nervenabteilung wegen 
Neurasthenie behandelten Frauen waren mir 201 Kranken- 
geschichten zuganglich. Eine groBe Anzahl dieser Falle erwiesen 
sich als ungeeignet zur Betrachtung der Heilerfolge. Zunachst 
muBte ich 15 Falle ausschalten, in denen es sich um traumatische 
Neurasthenie handelte, da deren Aetiologie eine ganz andere ist 
als die der gewohnhchen Neurasthenie, und die traumatische Neur¬ 
asthenie sich in Bezug auf die Heilerfolge, vornehmlich wegen der 
Rentenanspriiche, wesentlich anders verhalt. In Bezug auf die 
Prognose der traumatischen Neurosen ist dasselbe Material von 
Dr. Friedel einer Bearbeitung unterzogen; naheres hieriiber 
findet sich in der Monatsschrift fur Psychiatrie und Neurologie, 
Band XXV, 1909. 


In einer Reihe von Fallen hat sich die Diagnose im weiteren 
Verlaufe der Behandlung, bei spateren Aufnahmen, oder wie sich 
bei den Umfragen herausstellte, geandert und zwar in 

Hysterie.bei 17 Fallen 

Melancholie . ,, 8 . 

Paranoia.. 2 ,, 

Zirkulares Irresein.. 2 ,, 

Hebephrenie.. 1 Falle 

Morbus Basedowii .,, 1 ,, 

Organische Herderkrankung des Gehirns. ,, 1 ,, 

Irresein aus Zwangsvorstellungen .... ,, 1 ,, 

Dementia paralytica . 1 ,, 

Tetanie.. 1 „ 

Diese 35 Falle sind bei den Betrachtungen der Heilerfolge 
ausgeschaltet. Da sie jedoch in manchen Fallen als Vorstufe der 
spateren Erkrankung, in anderen als unabhangig davon angesehen 
werden miissen, habe ich sie in die iibrigen Betrachtungen mit 
einbegriffen. Als Minimum der Behandlungsdauer habe ich drei 
Wochen gesetzt; es muBten aus dieisem Grunde weitere 47 Falle 
ausgeschaltet werden. Verschiedentlich war die Neurasthenie mit 
anderen Krankheiten kompliziert, und zwar mit 

Debilitat.in 5 Fallen 

Morphinisms. 1 Falle 

Nephritis. 1 ,, 

Adenoiden Vegetationen.„ 1 „ 

Vitium cordis.. 3 Fallen 

Tuberculosis pulmonum.,, 1 Falle 

Migrane.„ 1 „ 

Vaginismus. 1 „ 

Thrombose . 1 „ diese Pat. 

ist an einer Lungenarterienembolie ad exitum gekommen. 
Adnexerkrankung .in 1 Falle. 


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Roper, Heilerfolge bei Neurasthenie. 


137 


Ausgeschaltet sind ferner 7 Falle, bei denen die Patientinnen 
zur Zeit derUmfrage iiber 65 Jahre alt sein wiirden, und 5 Patienten, 
die inzwischen gestorben sind. Anch die, in denen die Kranken- 
geschichte den Vermerk ,,ungebessert entlassen“ trug; in letzterem 
Falle lautet die Diagnose meist: Konstitutionelle Neurasthenie. 
Es sind dies 11 Falle. Nach Ausschaltung der nach den oben 
angegebenen Gesichfcspunkten ungeeigneten Falle bleiben fur unsere 
Betraehtungen nur noch 81 Falle. 

Die nach Abzug der 15 traumatischen Neurasthenien ver- 
bleibenden 186 Falle ergaben iiber die personlichen Verhaltnisse 
der Patientinnen folgendes: es waren 


verheiratet.96 

verwitwet.19 

geschieden.5 

ledig.65 

getrennt lebend.1. 


Also verheiratete oder verheiratet gewesene Frauen 121, 
ledige 65. 

Unter den 65 Unverheirateten waren 43, die sich ihren Lebens- 


unterhalt selbst erwarben, und zwar als: 

Arbeiterinnen, Naherinnen, Schneiderinnen, Dienst- 

madchen und dergleichen.23 

Lehrerinnen, Gouvernanten, Musiklehrerinnen und 

dergleichen.15 

Krankenschwestern.2 

Verschiedenes.3. 


Unter den 22 als Haustochter, Rentieren und ohne Beruf 
Angefiihrten sind den Anamnesen nach noch eine ganze Reihe 
solcher, die hart arbeiten miissen. Man geht wohl nicht zu weit, 
wenn man hieraus den Schlufl zieht, daB die ledige, im Kampf 
ums Dasein alleinstehende Frau, die sich selbst ihr Brot verdient, 
fiir die Neurasthenie besonders empfanglich ist. Auffallend ist 
auch die groBe Zahl der Lehrerinnen, Gouvernanten und Musik¬ 
lehrerinnen; hier wird der Keim fiir die spatere Neurasthenie in 
vielen Fallen wohl in der Seminarzeit gelegt, in der die zum groBen 
Teil schonungsbediirftigen jungen Madchen in anstrengendster 
Weise fiir ihren spateren Beruf vorbereitet werden. Besonders 
fiir nicht sehr begabte junge Madchen fehlt in diesen Jahren die 
ihnen so notige Zeit zur Ruhe, Erholung und korperlichen Aus- 
bildung. Man sagt nicht zu viel, wenn man behauptet, daB so gut 
wie jedes junge Madchen, welches sein Lehrerinnenexamen be- 
standen hat, nervos, blutarm oder zum mindesten korperlich 
sehr herunter ist. Die Mehrheit wird diesen Zustand bald iiber- 
winden, doch bei einer nicht unbedeutenden Zahl ist hierin der 
Grand fiir die Neurasthenie gelegt. Die neurasthenischen Lehre¬ 
rinnen sind alle paar Jahre mit ihren Kraften zu Ende und miissen 
dann eine langere Zeit ausspannen, um wieder Krafte zu sammeln. 
Ich folgere diese Behauptung nicht nur aus den erwahnten fiinfzehn 


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138 ft ;> }> < *• . U-i Neurfist'lv-iiit:. 

Fallen. Hie bieteu lu'» t.Hnpoi'iire ein Objekt; 

unter moisu-n Fallen i*\ kerne, die uieht, gebor^ert. da* mmtt'n angAr 
wesfiitlkvli g»k«*.wri. eftUasxon wurden Use atnd in j'kvn 

11 J«Viren SSw^mfrage ko.nnten 

jedoeb nur 8 Fiilk hera>igev.ogen wmtan. in 3 Failed teutete die 
sfbjf.ere iliagjwwe- Alel&nchohe. bet alien dreien vrar orbliehc Be- 
lastung d&elnvci^bar, in eipedi amjered Manic. ejlietn weiieckw 
I iysu-i ie. die \ieiicreit xeigten cine zn kurze • Be.liW\iUunjg»--. 
datier Pie Fdifrftgen el'gaten imr bei aim Lehi^fikneni/jfosdilfc&te, 
m daB hieraus «k<hfc >?e*(-lit- Hddusse gmrgen warden kbimsn Per 
einerv geht ea rdllig »ut, de rersieht. ihren Diend; die amiere >.-t 
roller KJagen urn! nntll uawikI Knrefi jnaeHcn, id aueh, hiiufsg 
dien.dnnf&mg. 


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Pit;. 1. 

- r -v rrr V wete'hotri. d# 16®’ remer Nsui^stberiie aiifgonoirrn ten^n 

FrHijoxi im VitH- Atifrt'ahmn:Maudeji 4 . XiicK dojd Mat prial dec Jen»«r Ivliuik 
; ■-••> - v* Al£-§r< hi XtflOhem r^^a^kranidi^itcn dfaerhaupt mbtndtfti. dar- 
tvAellfc na^h drr jtiif £ > fo♦»U t*r» ?.4utgo*tofJt»?h Statistik. S. jPriimritf, *S. 17b. 
AMf i IMT iirif^rhiv>t, e'r- r ^ m 

Lehp‘p*jnl>hpr, durfeekMb nivA[ ri«r Stiuistik dev fv>mkr\i.n^v SCrnnkeit- 
kvtKsp ».; Pi imim K. la?. K* ■. !»•■■■AM.du.-.kioh nur a«f ejrv^^hsujrdaU\^o wHitiche 
bet iiu-M ‘1 K»ir\ e sutd in truer’ i5 r/ruzriz&h !<;>*);, die..- m ^u&d> mu dtk 
)i-i t*rhvzuig Zahlen rrtft uwiiww ^Kebni^vu in ein. «ns< >nm- 

fudiM* Vi-rhalmis zii ^'tzen. 

Abnjtui&p; l,0bni)Bjrtltr; Ordinates AniSitlii dv*r iJrkr^ixJcph^lftjk 1 :. •. 









Roper, Heilerfolge bei Neurasthenic. 


139 


In den 186 Fallen lag erbliche Belastung vor bei 75 Patienten, 
keine Belastung bei 95 Fallen, in 16 Fallen lieB diese Frage sich 
nicht mit Sicherheit aus den Krankengeschichten entnehmen. Es 
sind demnach 44 pCt. der wegen Neurasthenie aujgenommenen Frauen 
erblich belastet. Interessant scheint mir, daB bei den 15 Fallen von 
traumatischer Neurasthenie nicht ein einziger Patient erbliche 
Belastung aufweist (siehe hierzu die obenerwahnte Friedel sche 
Arbeit). Ich habe mich dann der Frage zugewandt, in welchem 
Alter die meisten Neurasthenien zur Behandlung gekommen sind 
und gefunden, daB das Maximum im 35.—45. Lebensjahre erreicht 
wird. In der nebenstehenden Kurve habe ich dies graphisch ver- 
anschaulicht. In demselben Verhaltnis habe ich eine Kurve ein- 
gezeichnet, die zeigt, in welchem Alter Geisteskrankheiten iiber- 
haupt auftreten. Diese Kurve ist nach dem Handbuch der medi- 
zinischen Statistik von Dr. med. Friedrich Priming angefertigt 
und betrifft die PreuBischen Irrenanstalten in den Jahren 1889 
bis 1891. Die dritte Kurve betrifft die Erkrankungshaufigkeit 
iiberhaupt, sie hat die Frankfurter Krankenkasse als Grundlage 
und ist ebenfalls dem Prinzingschen Buche entnommen. AuBer- 
ordentlich bemerkenswert ist, daB die beiden ersten Kurven sich 
fast vollig decken. Man geht wohl nicht fehl, wenn man hieraus 
den SchluB zieht, daB Neurasthenie und Geisteskrankheiten oft 
dieselben Entstehungsbedingungen haben und iiberhaupt manche 
Analogien darbieten. Geisteskrankheiten — Neurasthenie und bei 
Frauen auch alle anderen Erkrankungen nehmen mit zunehmendem 
Alter an Haufigkeit rapid ab; dies veranschaulicht die dritte 
Kurve. 

Nach Ausschaltung der wegen zu kurzer Behandlungsdauer, 
Diagnosenanderung und zu hohen Alters ungeeigneten Falle 
blieben 81 als fur die Umfrage in Betracht kommend. Von diesen 
waren 11 mit dem Vermerk ungebessert entlassen und warden 
aus diesem Grunde noch von der Umfrage ausgeschlossen. Von 
den verbleibenden 70 Fallen trugen 60 den Entlassungsvermerk 
gebessert, 8 geheilt und 2 gar keinen Vermerk. 

Da sich bei friiheren Umfragen der Klinik herausgestellt hatte, 
daB mechanische Vervielfaltigungen sehr schlecht beantwortet 
wurden, sind alle Umfragen als personlich gehaltene Briefe fort- 
geschickt worden. Die Briefe hatten etwa folgenden Wortlaut: 

Sehr geehrte Frau! 

Sie sind im Jahre.in unserer Klinik wegen Neurasthenie 

behandelt worden. Es liegt uns daran, zu erfahren, von wie 
langer Dauer die durch unsere Kur erzielte Besserung gewesen 
ist. Wurden Sie uns giitigst mitteilen, wie Ihr Gesundheits- 
zustand jetzt ist. Konnen Sie Ihre Arbeiten verrichten ? Wie 
lange haben Sie den EinfluB unserer Behandlung gespiirt ? 
Haben Sie spater noch Kuren durchgemacht ? 

I. A.: 

Kuvert zur Riickantwort liegt bei. 


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140 


Roper, Heilerfolge bei Neurasthenie. 


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Auf 52 Briefe sind 28 Antworten eingetroffen; bei 4 Patienten 
konnte ein Urteil iiber den weiteren Krankheitsverlauf aus den 
Akten der Thiiringischen Landesversicherungsanstalt gezogen 
werden, iiber den Krankheitsverlauf von 6 Fallen konnte ich durch 
den seinerzeit behandelnden Arzt, der mit den betreffenden Pa¬ 
tienten noch im Briefwechsel steht, genaue Auskunft erhalten. 
In 4 Fallen konnte man aus wiederholten Aufnahmen und spaterem 
bei den Akten liegendem Briefwechsel geniigend ersehen. Es gelang 
so, iiber 40 Krankheitsverlaufe sichere Nachricht zu erhalten. Bei 
den 26 Patienten, an die nicht geschrieben wurde, lieB sich'die 
Adresse nicht in Erfahrung bringen. Um eine Uebersicht iiber die 
Heilerfolge zu gewinnen, habe ich den einzelnen Fallen Nummern 
gegeben von I bis IV. 

I. bedeutet vollig geheilt ohne jegliche Beschwerden, kann 
die ihr obliegenden Pflichten erfiillen; 

II. zuweilen noch einige Beschwerden, kann jedoch ihre 
Obliegenheiten vollig verrichten; 

III. noch allerlei Beschwerden, ist nur mit Unterbrechungen 
imstande zu arbeiten; 

IV. noch eine Fiille von Beschwerden, kann weder Beruf aus- 
fiillen noch Hauslichkeit vorstehen. 

Wie man sieht, lege ich den Hauptwert darauf, ob die Be- 
handlung den Erfolg gehabt hat, daB die Betreffende ihre Pflichten 
wieder erfiillen kann. Sei es nun, daB ein Beruf ausgefiillt wird, 
daB sie einer Hauslichkeit vorzustehen hat oder sich sonstwie 
niitzlich macht. Eine Besserung im medizinischen Sinne liegt 
doch sicher vor, wenn nur einige unangenehme Krankheits - 
symptome verringert sind, das ist fast bei alien, auch bei denen, 
die das Pradikat IV erhalten haben, der Fall. 

Von den 40 Fallen haben 10 die Nummer I erhalten; diese 
Patientinnen sind bemerkenswerterweise bis auf eine alle in der 
ersten Klesse verpflegt worden. 

In 13 Fallen wurde das Pradikat II erteilt, in 10 Fallen die III 
und nur bei 7 Patienten lag vollige Arbeitsunfahigkeit vor. Einer 
von diesen war mit einer recht ausgesprochenen Debilitat gepaart. 
Fiinf von den iibrigen sind erblich belastet. Von den 10 mit dem 
Pradikat I versehenen Patienten sind 5 belastet, von den 13 mit 
dem Pradikat II sind nur 2 nicht belastet; in der nachsten Gruppe 
sind 6 nicht Belastete und 4 Belastete, einer war nicht zu eruieren. 
Es scheint hiernach also, daB die hereditare Belastung die Prognose 
des Heilerfolges nicht wesentlich ungiinstig beeinfluBt. In diesem 
Sinne spricht sich auch Hallervorden aus. 

Von den in den Jahren 1898—1908 wegen Neurasthenie auf- 
genommenen Mannern waren 806 Krankengeschichten zuganglich. 
Bei oberflachlicher Durchsicht muBten zwecks Betrachtung der 
Heilerfolge ausgeschaltet werden: 328 traumatische Neurasthenien, 
ebenfalls von Friedel bearbeitet ; in 57 Fallen anderte sich im Laufe 
der Behandlung, bei spateren Aufnahmen, oder wie die Umfrage 


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Roper, Heilerfolge bei Neurasthenie. 


141 


ergab, die Diagnose. Einige Falle wurden ferner ausgeschaltet, 
weil ein die Neurasthenie komplizierendes organisches Leiden zu 
sehr iiberwog. Es blieben demnach 273 Falle zur Betrachtung der 
Heilerfolge iibrig. Die Diagnose wurde geandert in: 


Melancholie . 

Paranoia. 

Irresein aus Zwangsvorstellungen . . . 
Hysterie oder hysterische Psychose . . 

Dementia praecox . 

Genuine Epilepsie. 

Jacksonsche Epilepsie. 

D6g6n6r6 . 

Paralyse. 

Luesphobie. 


in 9 Fallen 


7 

3 J * 33 

„ 7 „ 

„ 6 „ 

„ 6 „ 

33 33 

9 

33 “ 33 

9 

33 ^ 33 

„ 2 „ 

») 2 ,, 


Bei je einem Falle in: Tabes, Lues cerebri, Chorea, multiple 
Sklerose, Dementia senilis, Paralysis agitans, Erschopfungs- 
psychose, Masochismus und Simulatio. Kompliziert war die 
Neurasthenie mit: 


Debilitat.in 15 Fallen 

Alkoholismus.„ 10 „ 

Lungentuberkulose.,, 4 ,, 

Nephritis chronica.,, 3 ,, 

Migrane.. 3 „ 

Arteriosklerose.,, 3 ,, 

Arthritis urica ..,, 2 ,, 

Cholelithiasis.. 2 „ 


In je einem Falle mit: Morphinisms, Mitralinsuffizienz, Morbus 
Basedowii, Arthritis deformans und Vagabondage. 

Bei der traumatischen Neurasthenie waren Diagnosen- 
anderungen sehr viel seltener, obgleich gerade diese fast alle mehr- 
mals in der Anstalt waren. In 3 Fallen wurde die spatere Diagnose 
auf Paralyse gestellt, einer dieser Falle wird direkt als traumatische 
Paralyse bezeichnet. In einem Falle auf Tabes dorsalis, in einem 
weiteren auf organische Hirnverletzung. 

Kompliziert war die traumatische Neurasthenie mit: 

Debilitat.in 12 Fallen 

Alkoholismus.,, 3 Fallen. 

Arteriosklerose, Erweichungsherde im Gehirn, Morbus Base¬ 
dowii in je 2 Fallen. In je 1 Falle mit: genuiner Epilepsie, Angina 
pectoris, Phthisis pulmonum, Emphysema pulmonum, post- 
apoplektischer Demenz und BlutergufJ in die Riickenmarkshaute. 

Nach Abzug von 328 traumatischen Neurasthenien und 
29 Fallen, in denen sich aus der Diagnosenanderung annehmen 
laBt, daB die damals diagnostizierte Neurasthenie nicht lediglich 
eine Vorstufe der spateren schwereren Erkrankung war, auch nicht 
unabhangig von ihr bestanden hat, kommen fur die allgemeinen 


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142 


Roper, Heilerfolge bei Neurasthenic. 


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Betrachtungen noch 449 Krankengeschichten in Betracht. Ueber 
diese ist zu bemerken, daB sie 290 verheiratete, 155 unverheiratete 
und 4 verwitwete Patienten betreffen. Das Verhaltnis der erblich 
Belasteten zu den nicht Belasteten ist ahnlich wie bei den Frauen. 
Es waren 180 Manner belastet, 269 nicht belastet; das ergibt eine 
erbliche Belastung von 40 pCt. bei Neurasthenikern. Bei den Frauen 
hatten wir in 44 pCt. der Falle erbliche Belastung gefunden. Bins - 
ivanger gibt in seiner Pathologic und Therapie der Neurasthenie, 
Seite 43, an, daB sich eine kongenitale Veranlagung zur Neurasthenie 
noch nicht einmal bei der Haifte der neurasthenischen Patienten 
nachweisen laBt. Er fand bei den klinisch beliandelten Kranken 
49 pCt. der mannlichen und 35,5 pCt. der weiblichen Patienten 
erblich belastet. Ich weiB nicht, auf eine wie groBe Zahl von 
Krankengeschichten sich diese Beobachtung stutzt; mit dem 
ersten, allgemein gehaltenen Satze stimmen meine Resultate jeden- 
falls iiberein. Der groBte Teil der Behandelten gehort dem Arbeiter- 
stande an, doch auch die gebildeten Stande sind auBerordentlich 
haufig vertreten. Unter diesen nehmen mit 48 die Lehror, und zwar 
meistens seminaristisch gebildete Lehrer, die erste Stelle ein. Der 
seminaristisch gebildete Lehrer scheint ebenso wie die Lehrerin 
eine gewisse Predisposition zur Neurasthenie zu haben. In der 
hie&gen medizinischen Poliklinik wurden im Jahre 1910 bei einer 
Frequenz von 2930 nicht weniger als 21 seminaristisch gebildete 
Lehrer wegen Neurasthenie behandelt; wollte man zu dieser Zahl 
noch diejenigen hinzunehmen, bei denen eine neurasthenische 
Gefiihlsbetonung ihrer Leiden besteht, so wiirde die Zahl sich wohl 
so ziemlich mit der Anzahl der uberhaupt behandelten Lehrer 
decken. Die Ursache des so gehauftenVorkommens der Neurasthenie 
im Lehrerstande liegt wohl zu einem Teil in den anstrengenden 
Seminarjahren, zum anderen Teil wohl in einer starken Ueber- 
biirdung durch Ueber- und Privatstunden. Auffallend war ferner, 
daB 18 Pastoren sich unter den Patienten fanden. Hier liegen 
wohl ahnliche Ursachen zugrunde. Hinzu kommt wohl noch, daB 
viele dieser Herren in ihrer Studienzeit sich sehr kiimmerlich haben 
durchschlagen miissen. Sehr groB ist auch die Anzahl der Patienten, 
die wahrend ihrer Behandlung zwischen dem 15. und 25. Lebens- 
jahre standen. Es sind Schuler, Studenten und junge Kaufleute 
und sehr vereinzelt dem Arbeiterstande angehorende Patienten. 
Bei alien spielt die Furcht vor den Folgen der Onanie eine groBe 
Rolle. Haufig stehen Examina bevor, die gesteigerte Arbeitslast 
und die Angst bringen die Neurasthenie zum Ausbruch. Die 
meisten dieser Falle bieten eine giinstige Prognose, nur wenige 
sind es, bei denen es sich um den Anfang zu einer schweren de- 
generativen Neurasthenie oder einer Dementia praecox handelt. 

Auch bei den Mannern bin ich wieder der Frage nachgegangen, 
in welchem Alter die Patienten bei Beginn ihrer Kur standen. 
Wie bei den Frauen ergab sich auch hier, daB die meisten Neur- 
astheniker imkraftigstenMannesalter standen. Auch dies s Kur ve(—) 
zeigt eine auffallende Symmetric mit derjenigen (.), 


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RWtteffoljw? tie*:. ItfeWHstheftfe 


welch*.* davstells.. in vvc-khfijj Alter i h i-re.-krankfaeiteii iiberhaupt 
auftreten. Die drittc Korve xeigt die Erb&ukungritiaufig- 

kei>; iiberhaupt ’m d«m ver.-ehiedenen Lebensaltern, die?-;*; .ssdgt 
mid unserer Kijri''er oSckfesfSyTWmctTi^lieii. Die zweite and drifcte 
Kyrve siad nack dent Handbneh von Printing gezeicimet. 


Fig. -i\ 

saw. •Darstcllvir^g AFt-hrs dflt’ 'wegon Nviirasthenio luifgenof&meneri 
Manner. t^klarrijig: $ieh$ Fig. 1. 


Vou 273 getdgmHvtv Fallen gdang es in 3(»7 Fallen, tiber den 
weiteren Era nkheiuver laid sjotier^' &Mjhrk*hfc zu erbalten. \At*; 
geeignet gait pit wu-der die Fialle, die ndMesd^tp drt«i Wonhon- idfig 
boitandeit and wit item Vrimerk ,,gebe****ert.' : oder ..gehrilt." etu- 

Fasyen waren. zap bthfrage nopjtt rtinitt F5& JabrdHlt vvareo, 

and bei denen die Diagnose* skill' nieht geandert hatttv i n 4 Fallen 
ttg&b die Katamflese noth pine Diagno^cmaudennig. namltclt in 
je etatnit Faiie in: Paranoia, Lm« 5 cerebri; Epilepsie bud hysteriseber 
P^ychose bei Arteriosklerow im 8eniutn fi Patiord ; pn warpo- ***» 
z.wisoh(*M verstorben. Mit dern Verjoerk „geb : id|P' .<ind 74 Patieut en 
potiH'se?!. 2.0 mit deni Yertiierk ..angfber>«ort k l (fcroiz gvniigerid 
Fangor Behandlung), die iibrigen al« gebossarti Did Art der Zen- 


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144 


Roper, Heilerfolge bei Neurasthenie. 


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fahigt mich, das hiesige Pfarramt mit fast 5000 Seelen zu Ostem definitiv 
zu iibemehmen. Spatere Kuren habe ich nicht durchgemacht. . . .“ 

J.-N. 5483. 17 mf rage der Thuringischen Landes versicherungsanstalt, 
betreffend den Fabrikarbeiter Hugo M., z. Zeit der 28 tagigen Behandlung 
37 Jahre alt, nicht belastet: Voll arbeitsfahig. Keine Rente. Allgemein- 
befinden gut. 

II. J.-N. 7610. Ober-Postassistent, z. Z. der 58 tagigen Behandlung 
im Jahre 1908 36 Jahre alt, erblich belastet, schreibt: 

„1. Die durch IhreKur erzielte Besserung ist von anhaltender Dauer 
gewesen, wesentliche Beschwerden, wie ganzliche Schlaflosigkeit und uner- 
tragliche Kopfschmerzen, sind nicht wieder aufgetreten. 

2. Mein Gesundheitszustand ist nicht vorziiglich, aber zufrieden- 
stellend. 

3. Meinen Dienst habe ich bald nach Beendigung der Kur wieder 
aufgenoramen, und seitdem versehe ich ihn ohne nennenswerte Unter- 
brechung. 

4. Siehe unter Nr. 1. 

5. Im Jahre 1909 habe ich wahrend meines Urlaubs in Bad Steben 

einige Bader genommen, die Kur muBte ich aber des schlechten Wetters 
wegen bald wieder abbrechen. Im vorigen Jahre habe ich mich 14 Tage 
im Luftkurorte Be meek im Fichtelgebirge aufgehalten. Sonstige Kuren 
habe ich seitdem nicht durchgemacht.“ 

J.-N. 2809. Wissenschaftlicher Lehrer. 1898 28 Tage lang behandelt, 
damals 36 Jahre alt, erblich belastet, schreibt: 

,.Dem geehrten Direktorium teile ich auf sein Schreiben vom 11. Marz 
mit, daB ich zwar von dem neurasthenischen Leiden nicht vollig geheilt 
bin und auch niemals davon werde befreit werden. Aber ich kann mit 
bestem Gewissen bestatigen, daB die Kur, die ich in Jena durchgemacht 
habe, von den denkbar besten Erfolgen begleitet gewesen ist. Besonders 
bin ich dem Herm Geheimrat Binsuxinger auBerordentlich dankbar dafiir, 
daB er mich geradezu dazu erzogen hat, meiner neurasthenischen Beschwerde 
Herr zu werden .... Ich habe seit meinem Aufenthalt in Jena niemals 
wieder ein Sanatorium aufgesucht und habe ohne Unterbrechung mich 
meinem Berufe widmen konnen. Wenn ich jetzt noch neurasthenische Be¬ 
schwerden habe, so liegt der Grund dafiir lediglich in meinen personlichen 
Verbaltnissen und in der Schwere meines Berufes.“ 

Umfrage der Thiiringischen Landesversicherungsanstalt betreffend 
J.-N. 6372, Metalldreher, 1906 60 Tage lang behandelt, damals 26 Jahre 
alt, nicht erblich belastet: Voll arbeitsfahig. Keine Rente. AeuBerung 
liber das Allgemeinbefinden: „Ich bin soweit zufrieden, habe nur noch 
etwas Kopfschmerz und unruhigen Schlaf.“ 

III. J.-N. 2859. Weber, 1898 zum ersten Male in die Klinik aufge- 
nommen, damals 21 Jahre alt, 71 Tage lang behandelt. Patient ist dann 
im Jahre 1901 wieder 105 Tage und im Jahre 1902 nochmals 89 Tage in 
der psychiatrischen Klinik in Jena behandelt worden. Die Kranken- 
geschichte ergibt, daB Patient nach seiner Kur jedesmal wieder arbeits¬ 
fahig war. Die Leistungsfahigkeit sank allmahlich mehr und mehr, bis 
wieder eine Kur notig war. Ein Auszug aus den Akten der Thuringischen 
Landesversicherungsanstalt gibt hieriiber ein sehr instruktives Bild. 
1898 nach 71 tagige r Kur in Jena mit 4 wochiger Schonung arbeits¬ 
fahig entlassen. 

Patient ist dann zwei Jahre lang arbeitsfahig imd klebt Marken. 

1901 Heilverfahren. 105 tagige Kur in Jena. Patient wird wesent- 
lich gebessert und arbeitsfahig entlassen. Patient arbeitet dann wieder 
und fiihlt sich, wie aus einer Umfrage hervorgeht, korperlich wohl. November 
1902 wieder 89 tagige Kur in Jena. Nach Ablauf derselben wird Patient 
noch fur 4 Wochen dem Erholungsheim in Klosterlausnitz uberwiesen. 
Patient wird dort arbeitsfahig entlassen. Er fiihlt sich wohl und kraftig, 
klagt nur iiber etwas unruhigen Schlaf und haufig auftretende Pollutionen. 


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Roper, Heilerfolge bei Neurasthenie. 


145 


1904 schreibt Patient auf einer Umfragekarte: „Voll arbeitsfahig! 44 
Ueber sein Allgemeinbef inden: „Durch Ueberanstrengung geht es wieder 
abwarts, mein letzter Aufenthalt in Klosterlausnitz hatte mich so weit 
wiederhergestellt. Mochte die Versicherung bitten, diesen Sommer 4 Wochen 
nach Klosterlausnitz mich zu schicken.“ 

Der Bitte wird Folge geleistet. Patient wird arbeitsfahig entlassen. 

1909 schreibt Patient auf einer Umfragekarte: „Voll arbeitsfahig!“ 

Ueber sein Allgemeinbefinden: ,,Seit % Jahre bin ich in arztlicher Behandlung 
da sich mein altes Leiden verschlimmert hat. Bin sehr nervos. Nachtliche 
Pollutionen, viel Kopfschmerzen, wenig Schlaf und Korperschwache. Mein 
groBter Wunsch ware, dieses Jahr wieder einmal 6—8 Wochen eine Erholung 
in einer Anstalt zu haben, damit mein Korper wieder zu Kraften kommt.‘‘ 

Patient wird 1909 6 Wochen lang im Augustusbad bei Radeberg behandelt 
und arbeitsfahig entlassen. 

Diese Kur hat bis jetzt vorgehalten. 

J.-N. 4424. Postschaffner. 1902 39 Tage lang behandelt. damals 
41 Jahre alt, nicht belastet, schreibt: Ich habe mich nach der Kur zwei 
Jahre lang wohl gefiihlt, dann habe ich in der Nervenklinik des Herm 
Dr. Panaow in Meiningen eine 4 wochige Kur wieder durchgemacht, 
und dann habe ich alle Jahre etliche Wochen aussetzen miissen. In einer 
Klinik bin ich seitdem nicht wieder gewesen. Der Arzt hat mir stets den 
Rat gegeben, mich genau zu verhalten. wie in Jena, das hat mir stets wohl- 
getan und auch geholfen. Ich bin bis heute noch im Dienst, aber lange werde 
ich meinen Dienst nicht mehr machen konnen, da mein Gedachtnis jetzt 
nachlaBt imd ich noch stark mit Rheumatismus behaftet bin. 44 

IV. J.-N. 4195. Kontorist, 1901/02 25 Tage lang behandelt, damals 
47 Jahre alt, erblich belastet, schreibt: ,,Auf Ihre w. Anfrage teile Ihnen 
zur Frage 1 mit, dafl die Besserung nur einige Wochen angehalten hat, 
denn am 28. II. 1902 muBte ich meine Stellung wegen Arbeitsunfahigkeit 
schon wieder verlassen. Zu 2: Ich leide jetzt an allgemeiner Nervenschwache. 

Zu 3: Meinem Beruf konnte ich seitdem nicht wieder nachgehen. Zu 4: 

Ich habe seitdem medizinische und Wasserkuren gemacht. 44 

J.-N. 5357. Lehrer, im Jahre 1904 39 Tage lang behandelt, im Jahre 
1906 und 1909 wieder behandelt, z. Z. der ersten Aufnahme 39 Jahre alt, 
erblich belastet, schreibt: ,,Hirer Anfrage zufolge teile ich Ihnen mit, daB 
ich trotz der bei Ihnen gebrauchten Kuren und trotz vieler anderer Kuren, 
die ich nach meinem Weggang von Jena gegen mein Leiden angewandt 
habe, keine wesentliche und besonders keine dauernde Besserung meines 
Zustandes erfahren habe imd deshalb noch immer berufsuntauglich bin.“ 

Umfrage der Thiiringischen Landesversicherimgsanstalt, betreffend 
J.-N. 6649. Schmied, 1907 49 Tage lang behandelt, damals 32 Jahre alt, 
nicht belastet, seinerzeit geheilt entlassen: ,,Beschrankt arbeitsfahig. Schon 
jahrelang voriibergehend ganzlich arbeitsunfahig. Keine Rente. Beruf 
unbestimmt, kann nur gelegentlich arbeiten. Das Allgemeinbef inden hat 
sich seit der Entlassung allmahlich verschlimmert und leide stark unter 
dem EinfluB der kalten Jahreszeit.“ 

Nach den weiter oben ausgefiihrten Grundsatzen wurden die 
Nummern wie folgt verteilt: 

I. 29 Pat., dav. belastet: 6, d. i. 20,7 pCt.; nicht belastet: 33, d. i. 79,3 pCt. 


II. 71 „ „ 

33, ,, ,, 46,5 pCt.; ,, 

5 5 

38, „ 

,, 53,5 pCt. 

III. 35 „ „ 

„ 17, „ „ 48,6 pCt.; 

>> 

18, „ 

„ 51,4 pCt. 

IV. 22 „ 

„ 11, „ „ 50 pCt.; „ 

>> 

11, „■ 

„ 50 pCt. 


Von den verschiedenen Autoren wird die erbliche Belastung 
als die Prognose wesentlich verschlechternd angesehen. Die aus 
dem vorliegend bearbeiteten Material gezogenen Erfahrungen be- 

10 * 


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boi ^.urdsthepi^ 


statigen das nicht ttn v'olfen tanfangc. Fur m\t vottige Heiluug 
haben die Neurastheiiiker ohne iiereditare IhAasiung ja augeu- 

tS l ' •• __ aoheinUi„;h’be*»ere * 'h;un e«» dock der weit- 

4f4- -TX-4-4117 rf H 4 gehcndeten Besoming beide in ziem- 
TTi".Lj ii:<L 1-1 lich gleiebenti Made^ zttgiinglteb. Die 

. schlecbtfefl Kalle ohne langcre Zeit an* 

. . Lj haltendiv Bevsemng gieidiviel Be- 

;• • ••]-' ^_j_ In-defce trie I'nbela^fetp. 

| - Zur besseitai Veran^kauiiehang wag 

v j 4 [ 4 : ^4 j j 1' die neben^h«^id i & Kutve die^veii. Die 
Ordinate gi'W die in Pfuzenten ausge- 
. drupkte Zahtder JMastelen uud nicht 
., a-ki^-4-4444 4 Belastetm an, die AfozbrSO, die nach 
iTiT 4 '~”, r unseren Cinmds&tzeii von l -IV nomc- 
■ ~ —r~*~— f- riertcn Detiertdige. Die •> - - - - Korve be* 

zeichnet dfo erblieh BeJasteten, die- 

Kurve die oiuu* Hewlital. 

Von der Anfortigungeiner ebensolehcn 
Kurve a us do m Fraue n in a! er 1 a I vntrdo Ab- 
stand genonttoen, Weil dort die Zalilen zu 
klein waren. Hinge wiesen mag nur noch 
einmal daranf vverden, dad <iort unter 
den nut j bezetehneteo Heilejr|oigen5l)pOfc. 
Belastete uftd 50 pCt.: nicht Bela^tgte 
waren. 

Kurz mag -ndch auf din Hpilerfoige 
bei den tjehrern Inngewiesen w'etdeB. tite-,- 
selben aind im aligemeinen Veebt gulp, 
tloch erkennt keiner reebt an, daS er die 
Besserung der Behaudiung verdaukfc- Fast 
alle fuhreti sie ihr jetzigea VVoblbefindeU 
daratif. zuriiok, daB aie es veretanden 
haben, ihrer Beachwerden 5 ,Herr zu wer- 
den“, otter ,,skh durchWillen-uitarke selbst 
in Gewaii zu Imben4\ aider „de» Kdrger 
dem Gb-mfe untertan zu maciwn" 1 . Kin* 
zusehen, ilaBda* wfedsergewonnwiv $elbst- 
A*ertra\um da* ersle Prodhkt. vi^aTbertipifr 
1st. reicbt- nicht jede.- Horn Get 

Originalittit Iiatber se| bier Pin dtnftrtigtH? 
Schreiben mitgetetH : ,,, zv'eivHei 
Gutee hat- tnbib ‘ Aufebjtiiaie in il ena ge-* 


km 


Ba|asU*U\ 
nicht liotetoto. 






Roper, Heilerfolge bei Neurasthenie. 147 


Heilerfolge 

der in den Jahren 1898—1908 wegen Neurasthenie mit Erfolg behandelten Patienten. 
(Es sind nur die Patienten beriicksichtigt, von denen eine Katamnese vorliegt.) 



Gesamtzahl der 









An fane 1911 

Im Sinne 


Entlassenen 

Bei der Umfrag 

e mit folgenden Nummem 

der Invalidengesetz- 

Jahr der 

Ungebesserte 




versehen. 



1 


gebung: 


Aufnahme 

nicht 

beriicksichtigt 

I. ! 

jl ; 

III. j 

iv- ! 

erwerbsfahig 

nicht er¬ 
werbsfahig 


Manner 

Frauen 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. | 

M. 

Fr. 

1898 

9 


2 


5 


2 


... 


9 




1899 

14 

2 

1 

_ 

7 

i 

5 

i 

i 

— 

13 

2 

i 

— 

1900 

4 

3 

— 

i 

3 

— 

1 

i 

— 

i 

4 

2 

— 

i 

1901 

7 

5 

2 

— 

2 

3 

2 

i 

i 

i 

6 

4 

i 

i 

1902 

9 

3 

3 

— 

4 

1 1 

1 

i 

— 

i 

8 

2 

— 

i 

1903 

8 

4 

1 

— 

2 

2 

2 

i 

3 

i 

5 

3 

3 

i 

1904 

6 

10 


4 

4 

3 

— 

2 

2 

i 

4 

9 

2 

i 

1905 

23 

— 

5 


9 

— 

7 

— 

2 

— 

21 

— 

2 

— 

1906 

26 

6 

6 

3 

11 

1 

5 

1 

4 

i 

22 

5 

4 

i 

1907 

20 

6 

5 

2 

7 

2 

3 

2 

5 

— 

15 

6 

5 

— 

1908 

31 

1 

4 

— 

17 


7 

— 

4 

i 

28 

— 

4 

i 

Zusammen 

157 

40 . 

29 

1 io 

71 

13 

35 

1 io 

22 

7 

135 

33 

22 

7 

Maimer u. 
Frauen 















zusammen 

197 

39 

84 

45 

29 

168 

29 












= 85,3 pCt 

-14,7pCt. 


Die Thiiringische Landesversicherungsanstalt macht von dem 
ihr zustehenden Recht, ein Heilverfahren einzuleiten, um einer 
Invaliditat vorzubeugen, gerade bei Netirastheniker'n den weit- 
gehendsten-Gebrauch. Sie hat liber die in den Jahren 1905—1909 
in der Nervenabteilung der psychiatrischen Klinik in Jena unter- 
gebrachten Nervenkr^nken, also nicht nur Neurastheniker, eine 
Statistik angefertigt. Aus dieser ergibt sich, daB bei den „mit 
Erfolg" entlassenen Patienten in 74 pCt. der Falle der Heilerfolg 
noch insoweit bestand, daB sie voil erwerbsfahig waren. Die 
obenstehende Tabelle gibt iiber die Gewinnung dieser Zahl ein 
sehr anschaulicbes Bild. 

Wir haben mit unserem Material eine analoge Tabelle ange¬ 
fertigt, auch nur mit Beriicksichtigung der mit Erfolg entlassenen 
Patienten und derer, von denen eine Katamnese vorlag. Nach 
der von uns in dieser Arbeit durchgefiihrten Zensierung sind 
hochstens die mit einer IV versehenen Patienten erwerbsunfahig 
im Sinne des Gesetzes. Wir kommen zu dem Resultat, daB nach 
einer Reihe von Jahren — eine genaue Zahl will ich nicht geben, 
da die groBte Anzahl der Nachrichten aus den letzten Jahren 
stammt — noch 85,3 pCt. der Behandelten erwerbsfahig waren. 


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Heilerfolge 

der in den Jahren 1905—1909 in der Nervenabteilung der psychiatrischen Klinik in Jena 


148 


Roper, Heilerfolge bei Neurasthenie. 



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Roper, Heilerfolge bei Neurasthenic. 


149 


Nur 14,7 pCt. waren nicht erwerbsfahig. Ich mochte noch darauf 
binweisen, daB meine Arbeit die im Jahre 1909 Behandelten nicht 
mehr beriicksichtigt, wahrend gerade diese in der ersten Tabelle 
das Resultat sehr giinstig beeinflussen. Naturlich muB das Resultat 
der Behandlung in meiner Statistik ein besseres sein als in den 
Statistiken, die nur Invalidenversicherte beriicksichtigen, da sich 
unter meinem Material sehr viele Menschen befinden, denen der 
Kampf ums Dasein leichter gemacht wird als den Versicherungs- 
pflichtigen. 

Haltervorden hat bei 55 pCt. Mannern und 30 pCt. Frauen 
Heilerfolge von 4—7 Jahren Dauer. Der wesentliche Unterschied 
zwischen diesen Zahlen und den von der Thiiringischen Landes- 
versicherungsanstalt gefundenen ist wohl in erster Linie darin zu 
suchen, daB letztere Statistik nur die mit Erfolg entlassenen 
Patienten beriicksichtigt, ebenso wie ich das tue. Hatte die 
Thiiringische Landesversicherungsanstalt alle in der Nerven- 
abteilung untergebrachten Patienten in ihrer Statistik berxick- 
sichtigt, sowiirde diese nach meinem Dafiirhalten vollig unbrauchbar 
sein, denn sehr viele von diesen sind zur Begutachtung und 
eventuellen Behandlung nur wenige Tage dort gewesen. Es wird 
namlich bei den Patienten, bei denen die Wahrscheinlichkeit fiir 
einen langere Zeit anhaltenden Heilerfolg nicht besteht, sobald 
sich diese Ueberzeugung gebildet hat, das Heilverfahren wieder 
abgebrochen. In der richtigen Auswahl der zu Behandelnden 
liegt nach unserm Dafiirhalten iiberhaupt die groBte Schwierigkeit. 
Viele Formen der schweren hereditaren degenerativen Neurasthenie 
werden von vornherein nur geringe Chancen fiir langanhaltende, 
den Anforderungen des Lebens standhaltende Besserungen geben; 
die schaltet man, wenn es sich um Invalidenversicherte handelt, 
besser aus. Ein zweiter sehr wichtiger Faktor fiir die Erzielung 
guter Heilerfolge ist die geniigend lange Ausdehnung der Be¬ 
handlung. Nachdem das Selbstvertrauen wiedergewonnen ist, 
muB durch eine richtig angewandte Arbeitstherapie zur vollen 
Arbeitsfahigkeit langsam iibergeleitet werden. 

Die vorstehenden Ausfiihrungen haben gezeigt, daB die Heil¬ 
erfolge bei der Neurasthenie auBerordentlich giinstige sind, und 
daB die groBen Aufwendungen, die von Landesversieherungs- 
anstalten und Krankenkassen gemacht werden, vollauf gerecht- 
fertigt sind. Glaube ich auch nicht, daB unser Volk, wie von 
manchen Schwarzsehern behauptet wird, einer raschen Entartung 
entgegenschreite,und daB dieZahl der ,,Nervosen ct in erschreckender 
Weise von Jahr zu Jahr zunehme (siehe hierzu Martins: Neur- 
asthenische Entartung einst und jetzt), und daB deshalbdie Neur¬ 
asthenie dringend einer Behandlung bediirfe, so bin ich doch der 
Ansicht, daB die Behandlung der Neurasthenie ebenso viel Be- 
achtung verdient, wie etwa die der Tuberkulose. Denn eine mog- 
lichst groBe Anzahl von Menschen arbeitsfahig zu erhalten, scheint 
mir eine unschatzbare VergroBerung des Nationalvermogens. 


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150 


XXXVI. Wanderversammlung der siidwestdeutschen 


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XXXVI. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen 
und Irrenarzte in Baden-Baden am 20. und 21. Hai 1911. 

Referent: Hugo Levi-Stuttgart. 

(SchluB.) 

In der 2. Sitzung erstattet zunachst 1 . Spielmeyer - Freiburg i. Br. 
das Referat: Ueber die Alterserkrankungen des Zentralnervensystems. 

Die anatomischen Arbeiten der letzten Jahre haben gerade auf dem 
Gebiete der Alterserkrankungen des Nervensystems wiehtige neue Tatsachen 
ermittelt. Die Basis fur eine zusammenfassende Betrachtung der Alters- 
prozesse liefem vor allem die Untersuchungen Alzheimers und seiner Schuler 
und die Arbeiten Fischers. Ref. hat an seinem Material die Feststellungen 
dieser Autoren nachgepnift und zu erganzen versucht. Den wichtigsten 
Teil seines Vortrages bildet die Schilderung des histologischen Substrate 
der senilen Demem. Im histologischen Gesamtbild der senilen Demenz 
scheinen nach neueren Untersuchungen die Bedlich-Fischerschen Plaques 
eine hervorragende pathognomonische Bedeutimg zu besitzen. An einer 
Reihe von Tafeln demonstriert Ref. die Struktureigentiimlichkeiten dieser 
senilen Plaques und ihre Verteilung liber die Gehimrinde. Eine Erganzung 
der charakteristischen Bilder, welche das Alzheimer-Mann- Praparat und 
das Biel8cho\v8ky-Pvikpa,Ts.t liefem, geben Alkohol-Toluidinblau-Praparate, 
in denen dem Ref. die Darstellung der Plaques und ihres Hofes gelang. 
Gerade an diesen Bildem lieB sich die Ansicht begriinden. daB der Hof der 
Plaques aus einer Verdichtung des gliosen Retikulums besteht, in welches 
die kristallinische Masse des Kernes der Plaque abgelagert wird. Auch 
unabhangig von solchen Plaques kommt es in senilen Rinden zu Fer- 
dichtungen des Gliaretikulums. In charakteristischer Weise rea^iert das 
umgebende Gewebe auf die Plaques: die Gliazellen senden breite Fort- 
satze zu deren Kem, und die Gliafasem bilden nicht selten ein Geflecht zur 
Abkapselimg der Plaques; auch die Achsenzylinder produzieren in der 
N&he der Plaques eigenartige Bildungen in Kolben- und Oesenform. Die 
Plaques finden sich fast ausschlieBlich in der Rinde, besonders in deren 
mittleren Schichten, selten sind sie im Himstamm und Kleinhim; nur ein- 
mal wurden sie von Alzheimer im Riickenmark gesehen. 

Die Plaques sind als eine Begleiterscheinung der senilen Involution 
aufzufassen; im Stoffwechsel des senil veranderten Himes werden eigen- 
tiimliche Substanzen abgelagert, die den Kem der Plaques bilden. 

Im Verhaltnis zu diesen Plaques sind die iibrigen Veranderungen des 
senil erkrankten Gehims nicht von gleich wesent-licher diagnostischer Be- 
deutung; das gilt sowohl fiir die Veranderungen im Markscheiden-. Glia- 
und Zellbilde, wie auch mit Riicksicht auf das Verhalten der mesodermalen 
Bestandteile des Gehimes. Nur die Alzheimerache FibriUenveranderung 
der Rindenzellen scheint nach den Untersuchungen der letzten Jahre 
pathognomonisch zu sein fiir den senilen ErkrankungsprozeB imd fiir solche 
Erkrankungen, die diesen dem Wesen nach verwandt sein diirften. Die 
Alzheimersche FibriUenveranderung besteht darin, daB die Fibrillen eine 
abnorm starke Impregnation zeigen und sich zu Biindeln. Schlingen und 
korbartigen Durchflechtungen zusammenlagem. Diese V T eranderung ist 
am haufigsten im Ammonshom (Simchoivicz). Unter 44 Fallen, welche 
anatomisch das Bild einer reinen senilen Demenz boten, fand Ref. diese 
Alzheimersche Zellerkrankung nur zehnmal und davon in grofierer Haufig- 
keit nur viermal. 

Der senile DegenerationsprozeB ist in den verschiedenen Abschnitten 
des GroBhimmanteJs von ganz verschiedener Intensitat. Die Unter- 


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Neurologen und Irrenarzte in Baden-Baden. 


151 


suchungen des Ref. bestatigen die Ergebnisse von Simchorvicz , wonach der 
ProzeB am ausgesprochensten im Stimhirn und Ammonshom, am ge rings ten 
im Hinterhauptslappen ist. Von dieser gewohnlichen Verteilung der senilen 
Himerkrankung weichen andere Falle dadurch ab, daB der ProzeB in be- 
8timmten Teilen besonders akzentuiert ist. Nur in einem Teil dieser atypi- 
schen senilen Demenzen handelt es sich jedoch um eine starkere Efffcipick- 
lung der senilen Himdegeneration; haufig ist die Ursache einer Lappen- 
Atrophie die arteriosklerotische Erkrankung eines groOeren HimgefaBastes 
(Alzheimer), 

An dem zentralen ProzeB, welcher der senilen Demenz zugrunde liegt, 
beteiligen sich auBer dem GroBhirnmantel auch die tieferen Abschnitte des 
zentralen Nervensystems; dabei besteht kein Parallelismus in der Intensitat 
der Erkrankung des Himmantels und der der tieferen Himabschnitte und 
des Riickenmarkes. Die diffusen Lichtungen in den Hinter- und Seiten- 
strangen des Riickenmarkes sind haufig abhangig von arteriosklerotischen 
Verander ungen, sie kommen aber auch unabhangig da von als selbstandige 
Altererscheinung vor. 

Die Abbauvorgange bei der senilen Demenz unterscheiden sich wesent- 
lich von dem ektodermalen und auch von dem amoboiden Typus; sie ent- 
sprechen vor allem dem vierten Alzheimerschen Typ. 

Fiir die anatomische Diagnose der senilen Demenz geben die Plaques 
den wichtigsten Anhaltspunkt, da sie offenbar immer vorhanden sind, wo 
es sich um eine senile Demenz handelt. Die Plaques sind nicht charakte- 
ristisch fur eine besondere Form der senilen Demenz, etwa fiir die Presbyo- 
phrenie oder presbyophrene Demenz, wie es Fischer meint, sie kommen 
vielmehr auch m den Fallen vor, die als einfache senile Demenz zu bezeichnen 
waren, und bei denen eine vonviegende Stbrung der Merkfahigkeit nicht 
beobachtet wurde. 

DifferenticUdiagnostisch ist die Tatsache von Bedeutimg, daB auch bei 
hochbetagten Individuen ganz ahnliche Bilder gefunden werden wie bei senil 
Dementen. Es bestehen nur quantitative Unterschiede zwischen den 
krankhaften senilen Veranderungen und den physiologischen Riickbildungs- 
erscheinungen imGehim; eine solche quantitativeAbschatzung erlaubt keine 
scharfe Grenzbestimmung. Es scheint danach, daB die senile Demenz blofi 
ein besonders intensiver und rasch verlaufender RiickbildungsprozeB des 
Zentralorgans ist (Simchovncz). 

In der Differentialdiagnose kommt weiter der sog. Alzheimerschen 
Krankheit “ eine besondere Bedeutung zu. Es sind das jene Falle, die von 
dem gewohnlichen Typus der senilen Demenz dadurch abweichen, daB sie 
vor dem eigentlichen Senium auftreten und daB sich bei ihnen rasch eine 
schwere Verblodung entwickelt neben Herderscheinungen asymbolischer und 
aphasischer Art. Anatomisch finden sich in solchen Fallen die Plaques 
und die Alzheimer&che Fibrillenverandemng in besonders grofiartiger Form. 
Gegen die Absonderung dieser Prozesse, als einer speziellen Krankheitsart, 
spricht sich Alzheimer aus, der in ihnen eine atypische Form der senilen 
Demenz sieht. Man konnte vielleicht diese Friihfalle sender Himerkrankung 
in Parallels setzen zu den iiberstiirzten Formen der Abnutzungserkrankung 
am GefaBsystem, namlich der Fruh-Arteriosklerose. 

Die Paralyse seniler Individuen ist anatomisch leicht erkennbar und 
einfach abzugrenzen. Andere Prozesse wie die Dementia praecox und die 
Epilepsie, welche uns ihrem anatomischen Substrat nach in den Einzel- 
heiten noch nicht bekannt sind, konnen dann der anatomischen Diagnose 
Schwierigkeiten machen, wenn es sich um senile Gehirne handelt; denn die 
charakteristischen Plaques konnen eben iiberhaupt bei der senilen Riick- 
bildung des Gehimes auftreten. Auffallend haufig sieht man sie im Gehim 
solcher senilen Individuen, die an schweren korperlichen Krankheiten ge- 
litten haben. 

Prinzipiell unterschieden von der einfachen senilen Himerkrankung 
sind die arteriosklerotischen Prozesse, deren ausfiihrliche Schilderung wir 
Alzheimer verdanken. Von den verschiedenen Formen der arteriosklero¬ 
tischen Himerkrankung bespricht Ref. die sog. senile Rindenverodung, 


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152 


XXXVI. Wandeiversammlung der siidwestdeutschen 


die sich haufig mit gewohnlichen senilen Riickbildungserscheinungen ver- 
bindet; und femer jene arteriosklerotischen bezw. arteriofibrotischen Er- 
krankungen, bei denen es iiberhaupt nicht zu /icrdformigen Ausfallserschei- 
niingen des zentralen Gewebes koramt, sondern bei denen die Rinden- 
erkranknng mehr diffusen Charakter (im Bereiche eines erkrankten GefaO- 
gebietes) besitzt. Auffallend ist in den Gehimen, welche die ietztere Form 
arteriosklerotischer Gef aBerkrankung zeigen, die Bildung groBer plasma- 
re icher, Fasern produzierender Gliazellen in der Nahe der Gefafle und schwere 
Untergangserscheinungen der markhaltigen Rindenfasem, die haufig auf- 
fallende Quellungen und Inkrustationen zeigen. 

Wie es reine Falle von seniler Himerkrankung gibt, bei denen arterio- 
sklerotische Prozesse ganzlich vermiBt werden, kommen auch reine arterio- 
8klerotische Erkrankimgen im Gehim vor, bei denen die charakteristischen 
senilen Zeichen im anatomischen Bilde vermiflt werden, bei denen also 
speziell die Plaques und die Alzheimersche Fibrillenveranderung fehlen. Von 
grundsatzlicher Bedeutung ist femer, daB sich die arteriosklerotische Him¬ 
erkrankung an bestimmte GefaBbezirke bindet, wahrend der gewohnliche 
senile ProzeB von diffuser Art ist, dabei aber besondere PradilektionssteUen 
hat. Die Erkrankung des zentralen Gewebes bei der einfachen senilen De- 
menz ist unabhangig von einer primaren Arteriosklerose; sie kann sich natiir- 
lich mit einer solchen verbinden, da eben das GefaBsystem und das nervose 
Gewebe in der Regel am friihesten dem Aufbrauch zu erliegen pflegen. 

AuBer diesen beiden Hauptgruppen der Altersprozesse des zentralen 
Nervensysterns gibt es noch eine Reihe von andersartigen Erkrankungen, 
die ihrem anatomischen Wesen nach noch nicht klar sind. Ref. schildert 
besonders zwei Prozesse, die ihm ais eigenartige zentrale Krankheiten 
charakteristisch erscheinen. Der eine ist vomehmlich durch die elektive 
Erkrankung bestimmter Zonen des GroBhirnmantels und durch eine eigen- 
tUmliche Gliawucherung bestimmt. Der andere ProzeB zeichnet sich durch 
eine diffuse liber die GroBhimrinde und die motorischen Keme verbreitete 
Zellerkrankung a us. 

Fiir die verschiedenen Befunde, welche bei der Paralysis agitans 
erhoben und als fiir diese Krankheit charakteristisch bezeichnet wurden, 
gelten auch heute die Einwande, welche Schulize , Fiirstner imd WoUertberg 
gegen derartige Feststellungen gemacht haben: sie sind fur diesen ProzeB 
nicht charakteristisch. Eigentumlich erscheint dem Ref. nur die Art der 
Gliawucherung im RiickenmarksweiB, die von ihm friiher beschrieben 
worden ist und die er an seinen neuen Fallen wiederfand; sie deutet auf eine 
besondere Art des Abbaues hin. Sie gibt natiirlich keinen Einblick in das 
Wesen des Prozesses, welcher der Paralysis agitans zugrunde liegt. Das 
Positive, was bei der Durchsicht der Literatur imd vor allem bei der exakten 
Untereuchung des Ref. in sechs Fallen dieser Erkrankung festgestellt werden 
konnte. ist diirftig; wichtiger erscheint. daB durch die Untersuchimgen des 
Ref. jene Ansicht widerlegt werden konnte, wonach die Paralysis agitans 
eine besonders frvihzeitige. intensive und bestimmt lokalisierte senile Degene¬ 
ration sein soli und wonach die nervosen Veranderungen abhangig sind von 
einer primaren GefaBerkrankung. Dafiir fanden sich ebensowenig An- 
haltspunkte wie fiir die Theorie, dafl das anatomische Substrat der Paralysis 
agitans im Zwischen- und Mittelhirn zu suchen sei; jedenfalls lieB sich an 
den letzteren Stellen auch mit den modernen Methoden keine Akzentuierung 
des Prozesses erweisen. Welches auch das schlieBliche Ergebnis jener 
Studien ist, die die Abhangigkeit der Paralysis agitans von einer Storung 
der inneren Sekretion dartun wollen, neurohistologisch bleibt die Aufgabe 
die gleiche; denn wie etwa beim Kretinismus imd beim Myxodem miissten 
wir auch bei der Paralysis agitans nach den histopathologischen zentralen 
Veranderungen suchen, die etwa durch die fragliche Sekretionsanomalie be- 
dingt waren. 

AuBer der Ermittlimg der Anatomie der Paralysis agitans bleibt dem- 
nach die wichtigste Aufgabe einer weiteren Erforschimg der zentralen Alters- 
erkrankungen eine Sicherting der anatomischen Dtfferentialdiagnose der 


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Neurologen und Irrenarzte in Baden-Baden. 153 

senilen Demenz und vor allem die Aufteilung der senilen Verblddung in natiir- 
liche Krankheitseinheiten. 

(Der Vortrag erscheint in der Deutschen medizinischen Wochenschrift.) 
Alzheimer-Mnnchen: Ueber die anatomische Grundlage der Huntington- 
sehen Chorea und der choreatischen Bewegungen iiberhaupt. 

Es kann heute kaiun einem Zweifel mehr unterliegen. daB sich bei 
der Huntingtonschen Chorea regelmaBig schwere degenerative Veranderungen 
in der Himrinde nachweisen lassen. Strittig scheint nur noch, ob neben 
diesen auch eine Entwicklungshemmung der Himrinde festzustellen ist. 

DaB aber die Rindenerkrankung als Substrat der choreatischen Be¬ 
wegungen anzusehen ist. muB schon deswegen bezweifelt werden, weil 
wir eine Reihe von Erkrankungen kennen, die die Rinde aufs schwerste 
schadigen, ohne von choreatischen Bewegimgen begleitet zu sein. Dazu 
lassen sich auch bei der Huntingtonsc hen Chorea schwere Degenerations- 
vorgange in anderen Gehirnteiien nachweisen, die wahrscheinlicher nach 
unseren sonstigen Erfahrungen als Ursache derselben anzusehen sind. 

In drei Fallen Huntingtonschev Chorea fanden sich die schwersten 
Veranderungen im Corpus striatum, im Nucleus caudatus sowohl wie im 
Nucleus lentiformis. In zwei von diesen Fallen, bei welchen die Krankheit 
besonders vorgeschritten war. war hier kaum mehr eine Zelle zu sehen. 
der man eine Funktion hatte zutrauen konnen. Daneben fand sich eine 
enorrae Vermehrung kleiner glioser Kerne ohne Gliafaserbildung. Lipoide 
Stoffe verschiedener Art waren in den degenerierten Ganglienzellen, den 
Gliazellen und in den Zellen der GefaBwande in auBerordentlicher Menge 
angehauft. Auch in der Regio subthalamica waren die Kerne stark degene- 
riert, weniger im Thalamus, in der Briicke und der Medulla, wenn schon 
sich bis ins Ruckenmark leichtere degenerative Veranderungen nach¬ 
weisen lieBen. 

Man wird also die Huntingtonsche Chorea verursacht ansehen miissen 
durch einen degenerativen ProzeB am Nervengewebe der Himrinde und 
besonders auch des Corpus striatum und der Regio subthalamica mit ge- 
ringerer Beteiligung anderer Teile des Zentralnervensystems. 

Auch in zwei Fallen von Chorea bei Sepsis und in zwei Fallen von 
rheumatischer Chorea waren Veranderungen besonders im Corpus striatum 
und der Regio subthalamica nachzuweisen. Sie bestanden aus kleinen 
Herden gewucherter Glia, manchmal untermischt mit stabchenzellenartigen 
Elementen, die regelmaBig in der Umgebimg von GefaBen lagen. Bei den 
Fallen von Sepsis fanden sich Kokkenhaufen, welche die GefaBe embo- 
lierten. Bei der rheumatischen Chorea waren die Herde ganz ahnlich, nur 
lieBen sich keine Bakterien farben. 

Man wird also wohi annehmen diirfen, daB die Chorea septica und 
rheumatica mit embolischen Herden in Zusammenhang zu bringen ist, die 
auch wieder besonders in der Gegend des Corpus striatum und der Regio 
subthalamica ihren Sitz haben. 

0. Bumke und W. Trendelenburg- Freiburg i. B.: Beitrage Zlir Kenntnis 
der Pupillarreflexbahnen. 

Die Zahl der Moglichkeiten, die fiir den Verlauf der Pupillarreflex¬ 
bahnen in Frage kommen, ist durch systematische Arbeit des letzten Jahr- 
zehnts sehr wesentlich vermindert worden. Wir wissen heute, daB der 
Reflexbogen im Mittelhim geschlossen wird, und kennen auch den Ort der 
Uebertragung vom sensiblen auf den motorischen Abschnitt der Bahn 
mit ziernficher Genauigkeit. Die Differenz, die zwischen Bemheimer und 
Tsuchida hinsichtlich der Lage des Sphinkterkemes noch besteht, lauft 
auf eine anatomische Detailfrage hinaus. Die Westphal-Edingerschen Kern- 
gruppen und die frontalsten Abschnitte des lateralen Hauptkemes des 
Oculomotorius stoBen unmittelbar aneinander und lassen sich nicht scharf 
voneinander abgrenzen. Eine Verletzung des einen Kernes ohne Schadigung 
des andem ist also unmoglich. Das gesamte auf experimentellem Wege 
gewonnene Tatsachenmaterial, das fiir Bemheimers Auffassung spricht, laBt 
sich ohne weiteres auch fiir die Ansicht Tsuchidas in Anspruch nehmen. 


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XXXVI. Wanderversammlung der siidwestdeutschen 


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Dagegen ist die Frage noch vollkommen ungelost, welche anatomi- 
sehen Verbindungen zwischen dem Opticus und diesen Sphinkterkemen 
bestehen. Die Befunde Bemheimers , nach denen Fasem vom Tractus 
opticus bis in die unmittelbare Nahe der Edinger- W estphalschen Kem- 
gruppen ziehen sollten, konnten durch Dimmer . Bach und neuerdings (an 
Katzen. Hunden und bei Menschen) durch Bumke nicht bestatigt werden. 
Durch die experimentellen Untersuchungen von Gudden , Hensen und 
Volckers , sowie namentlich von Lewinsohn ist es aber auch sehr unwahr- 
scheinlich gemacht- worden. daB zentripetale Pupillenfasem iiberhaupt in 
das Vierhiigelgebiet gelangen. Die vorderen Vierhiigel konnen bis zum 
Aquadukt abgetragen werden, ohne daB die Lichtreaktion Not leidet. 

Die Vortragenden haben nun einen Gedanken wieder aufgenommen, 
den schon Bechterew vertreten hatte. Dieser Autor hatte angegeben, die 
Pupillenfasem verlieBen den Sehnerven schon unmittelbar hinter dem 
Chiasma. Der Autor hat diese Ansicht spater wieder zuruckgenommen, 
aber seitdem liegen neue anatomische Daten vor, die eine nochmalige 
Priifung der Frage notwendig erscheinen lassen. Durch Bogrow , Bechterew 
und Andere waren Fasern nachgewiesen worden. die sich vom Opticus 
aus in das zentrale Hohlengrau verfolgen lieBen. Moeli sah diese Fasem 
bei Opticus-Atrophie verschwinden. Und Edinger und Bumke (dieser an 
Katzen und Himden) sahen sie nach Enukleation eines Auges degenerieren 
(M archi-M.e t hode). 

Trendelenburg hat nun bei Katzen diese Fasem durchschnitten, d. h. 
das Chiasma vom zentralen Hohlengrau getrennt. Der Erfolg war ein 
vollkommen negativer. Die Pupillen der so operierten Tiere reagierten nach 
wie vor vollkommen gut. Dagegen trat Pupillenscarre (richtiger beider- 
seitige Reflextaubheit) ein, wenn beide Tractus durchschnitten wurden. 
Wurde diese Operation nur einseitig ausgefuhrt, so konnte hemianopische 
Pupillenstarre und eine Erweiterung derjenigen Pupille beobachtet werden, 
die der operierten Seite gegeniiber lag. 

Die Pupillenfasem sind also im Tractus opticus sicher noch vor- 
handen. Da sie im Vierhiigelgebiet nicht mehr gelegen sein konnen, so 
muB eine anatomische Verbindung angenommen werden, die den Him- 
schenkelfuB passiert oder doch umgreift. Die Moglichkeit einer solchen Ver- 
bindung ist durch die Existenz des von Edinger und Marburg besonders 
beschriebenen Tractus peduncularis transversus gegeben. 

Magnus-Alsleben- Basel: Das Verhalten organischer und anorganlscher 
Brompraparate im Tierkdrper. 

Fiitterung von Kaninchen mit Bromnatrium. Bromipin und Bromo- 
koll bis an die Grenze der Intoxikation ergab, daB in alien Fallen das Brom 
fast nur in Haut, Blut und Muskulatur deponiert wurde. Femer waren in 
Anbetracht dessen. daB in den verschiedenen Praparaten ja sehr verschieden 
groBe Brommengen zugefiihrt werden konnten (in den Salzen natiirlich er- 
heblich mehr), die retinierten Brommengen auffallend ahnlich. 

Determann- Freiburg i. B.-St. Blasien: Welchen EinfluB hat die Be- 
handlung friiherer Lues auf die Zeit der Entstehung der Tabes dorsalis? 

Determann berichtet iiber Untersuchungen seines Assistenten Weil. 
Derselbe verwertete an einem Material der letzten 15 Jahre von 173 Tabikern 
100 sicher luetisch gewesene. Es trat in diesen Fallen die Tabes 
ein 1. bei den 14 gar nicht behandelten nach 11,8 Jahren; 2. den 22 frag- 
lich oder ungeniigend behandelten nach 13,3 Jahren; 3. den 64 sorgfaltig 
behandelten nach 14 Jahren. Wenn auch derartigen Statistiken groBe 
Unsicherheiten anhaften, so scheint doch die Behandlung friilierer Lues 
fur die Zeit der Entstehung der Tabes keine bedeutende Kolle zu spielen, 
Besser ware es ja fur die Entscheidung der Frage des Nutzens antisyphiliti- 
scher Behandlung, bei der Statistik von den Luetikern auszugehen. Solche 
Statistiken sind jedoch begreiflicherweise sehr schwer aufzustellen. Der 
Umstand, daB in manchen weniger kultivierten Landern Syphilis zwar sehr 
haufig und meistens schlecht behandelt, Tabes aber selten ist, sprache 
ebenfalls dafiir. daB die Behandlung der Lues keinen so groBen EinfluB 
hat, als man bis jetzt meinte. 


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Neurologen und Irrenarzte in Baden-Baden. 


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Ob die Behandlung mit Salvarsan eine prinzipielle Aenderung bringt, 
erscheint mindestens zweifelhaft, zumal eine Therapia magna sterilisans 
wohl kaum vorhanden ist und sich das Gift moglicherweise schon sehr friih- 
zeitig an das nervose Gewebe fest zu verankern scheint. 

Aktuelles Interesse hat die Ventilierung der Frage, welchen Nutzen 
die Behandlung friiherer Lues fiir die Tabes hat, auf alle Falle schon des- 
halb, weil die in den nachsten 10—15 Jahren entstehenden Falle von Tabes 
Leute betrifft, die wohl nur mit Quecksilber behandelt waren. 

Auch die Wassermannsche Reaktion gibt uns keinen sicheren Hin- 
weis darauf, ob man antisyphilitisch behandeln soli oder nicht. Bei nega- 
tiver Wassermannscher Reaktion des Blutes ist erst die Reaktion des 
Lumbal punk tats von Bedeutung. 

Bei der Unsicherheit des Nutzens bei der bisher iiblichen kausalen 
Behandlung ist die Beriicksichtigung anderer Schadlichkeiten bei der pro- 
phylaktischen imd aktuellen Behandlung der Tabes dorsalis von groBter 
Wichtigkeit. Der Umstand, daB Frauen und Naturvolker selten an Tabes 
erkranken, ist moglicherweise auf groBere Vermeidung von Ueberanstrengun- 
gen, Strapazen etc. zuriickzufiihren. 

Es scheint also, daB die Gefahr spate re r Tabes bei Luetikem mehr 
von zu groBen Anspriichen an gewisse geschadigte Teile des Zentralnerven- 
systems abhangt, als von der Behandlung friiherer Lues. 

In der daran anschliefienden kurzen Diskussion wamt Erft-Heidel- 
berg vor Ueberschatzung der Statistik. Gar nicht Behandelte erkranken 
doch friiher. Die gut Behandelten, die nachher doch Tabes bekommen 
haben, sind auch deshalb so gut behandelt worden, weil sie eine besonders 
schwere Lues hatten. Die Ansicht, daB erst durch den ,, Wassermann “ seine 
Lehre bewiesen worden sei, sei nicht richtig! Die Wassermann -Statistiken 
beweisen weniger als seine eigenen Statistiken. 

Nonne muB Erb widersprechen. wenn heute gesagt werde, daB bei 
Tabes Wassermann nur in 60—70 pCt. positiv sei; im Liquor weise man 
durch die neue Methode ihn bei Tabes in 100 pCt. nach. 

Determann (SchluBwort) hat gefunden, daB die schlecht Behandelten 
besonders Auslander waren. Die besonders gut Behandelten seien mehr 
sorgsame Leute gewesen. Eine Fiihrerin in Prognose und Therapie kann 
uns die Wassermannaekie Probe nicht sein. 

Hindelang (Baden-Baden); Weiteres tibcr den Nucleus intermedius 
sensibilis (Kohnstamm). 

Vortragender berichtet iiber die gemeinschaftlichen Fortschritte der 
Untersuchungen, iiber die im vorigen Jahre Kohnstamm an gleicher Stelle 
gehandelt hat, und die zur Entdeckung des als Nucleus intermedius sensibilis 
bezeichneten Kerns im Halsmark gefiihrt haben. 

Dieser Kern fand sich in Tigrolyse zuerst in einem Falle, bei dem die 
eine Seite der untersten Oblongata zerstort war, mit Ausnahme der medial- 
sten dorsalen und ventralen Partien; die Tigrolyse befand sich ausschlieB- 
lich auf der zur Verletzung gekreuzten Seite. Etwas unterhalb der Pyra- 
midenkreuzung, in einer Hohe, wo der dorsale Vaguskern noch vorhanden 
ist, findet sich der Kern lateral von ihm als groBes, auffallendes Gebilde. 
Dorsolateral von ihm liegen die letzten Reste des Solitarbiindels; dorso- 
medial von ihm das kaudalste Ende des Soiitarbundelkernes. Dieser Rest 
des Solitarbiindels ist aber nur erkennbar, wenn man Marchi -Praparate zu 
Hilfe nimmt, die nach Durchschneidung des Vagus zentral vom Ganglion 
gewonnen sind. 

Da sich die Untersuchungen auf Kaninchen beziehen, so weist Vor¬ 
tragender auf eine Abbildung vom Menschen hin, welche der Fig. 16 des 
Marburgschen Atlas (1. Auflage) entspricht. 

Die betreffenden Zellen sind da als Columna Clarkii bezeichnet. DaB 
diese Zellen nichts mit der Clarkachen Saule zu tun haben, geht schon daraus 
hervor, daB die betreffende Gruppe auf der operierten Seite ganzlich intakt 
erscheint. Etwas weiter unten, da, wo kein dorsaler Vaguskern mehr vor¬ 
handen ist, liegt er cm der Stelle, die aus der Fig. 27 von Kohnstamms Studien 
zur Physiologie des Himstammes (III) ersichtlich ist. 


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XXXVI. Wanderversammlung der siidwestdeutschen 


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Wahrend Kohnstamm im vorigen Jahre bestimmte Angaben nur iiber 
den Nucleus intermedius sensibilis im Halsmark machen konnte, haben 
die weiteren Untersuchimgen gezeigt, daB der Kern auch in den kaudaleren 
Partien des Riickenmarkes immer an derselben Stelle nachzuweisen ist. 

Was den Verlauf der aus diesem Kern entspringenden Bahnen be- 
trifft, so ist klar, daB dieselben gekreuzt verlaufen miissen; denn die tigro- 
lytischen Zellen liegen fast ausnahmslos gekreuzt. 

Wenn der ganze Vorderseitenstrang von der Verletzung verschont 
blieb, so fehlt auch die Tigrolyse des Nucleus intermedius, oder sie ist auf 
ein Minimum beschrankt. Hingegen ist die Tigrolyse nachweisbar, wenii 
auch der eigenartige Fissurenstrang intakt blieb. 

Als das Oebiet, dessen Zerstorung die Tigrolyse des Nucleus intermed. 
sens, nach sich zieht. bleibt also der eigentliche Tractus antero-lateralis 
ascendens (der Gowers sche Strang) iibrig. 

Wie Kohnstamm im Jahre 1900 mit der .Marcfo’-Methode gezeigt hat, 
verlaufen diese Fasem im Halsmark durch die vordere Kommissur zura 
gekreuzten Vorderstrang und ziehen langs der Peripherie in das Areal des 
Oower^schen Stranges (Fig. 28, Kohnstamm , Studien zur Physiologic des 
Himstammes III). 

Diese aus dem Jahre 1900 stammende Abbildimg deutet in der Tat 
auf den Ursprung einer gekreuzt aufsteigenden Bahn aus dem Nucleus 
intermedius. 

In demselben Sinne spricht auch die Arbeit von Salusbury , Me Nalty 
und Horsley (Brain, 1909). 

Kohnstamm und Hindelang haben somit einen neuen sensiblen Kern 
des Riickenmarks aufgedeckt, als welcher bisher nur der Clark-Stillingsche 
Kern bekannt war, aus welchem die Kleinhimseitenstrangbahn entspringt. 
Da aus dem Nucleus intermedius sensibilis gekreuzt aufsteigende Fasem 
entspringen, diesem aber unbestritten die Leitung des Temperatur- und 
Schmerzsinnes obliegt, so muB diese Funktion auch dem Nucleus intermedius 
sensibilis zukommen. 

Fiir diese Aufgabe kommt noch ein anderer Kem in Betracht, auf den 
Kohnstamm bereits in seinem vorjahrigen Vortrag hingewiesen hat. Der 
Oblongata-Anteil der gekreuzten sekundaren Trigeminusbahn von Wallen¬ 
berg entspringt aus groBen Zellen, welche der Substantia gelatinosa medial 
und ventral anliegen, was mit der Nifihchen Methode von Kohnstamm und 
Quensel nachgewiesen und von v. Monakow bestatigt wurde. 

Die Fortsetzung dieser Zellen nach dem Riickenmark hin bildet der 
groBzellige Hinterhornkem, welchen Kohnstamm vorschlagt als Nucleus 
sensibilis comus posterioris zu bezeichnen. 

Ebenso wie im Trigeminusgebiet soil dieser Kem fur Temperatur und 
Schmerz in der Haut in erster Linie in Betracht kommen. Zur Lasion ge- 
kreuzte Tigrolysen sind in ihm auch neuerdings von Kohnstamm aufgefunden 
worden. 

Es bleibt also fiir den Nucleus intermed. sensibilis die Fortleitung 
viszeraler Sensationen; doch ist aus seiner Machtigkeit zu schlieBen, daB er 
sich an den vorhin vermuteten Funktionen des sensiblen Hinterhomkemes 
beteiligt. 

Im Sinne viszeraler Funktionen kame noch in Betracht, daB er in der 
unteren Oblongata dem sensiblen Vaguskeme sehr benachbart liegt. 
Thomsen (Bonn): Demonstration von Blutdruck-Kurven. 

RegelmaBige, durch Monate hindurch fortgesetzte tagliche Blut- 
druckmessungen nach Riva-Rocci bei funktionellen Neurosen haben folgen- 
des Resultat ergeben: 

Der Blutdruck schwankt ohne nachweisbare Ursache erheblich von 
einem zum anderen Tage. Die Beziehungen zu den subjektiven und ob- 
jektiven Symptomen bei Neurosen sind noch diuikel und lessen sich nicht 
genau prazisieren. Bei der weitaus groBeren Anzahl der Individuen ergibt 
eine doppelseitige Messung den gleichen Blutdruck auf beiden Seiten; bei 
einer kleinen Anzahl (Demonstration der Kurven von 5 Patienten) besteht 


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Neurologen und Irrenarzte in Baden-Baden. 


157 


eine fortdauemde Differenz beider Seiten. Diese Differenz bleibt meist 
deutlich zu gunsten einer Seite, schwankt aber in hoherem Grade bis zu 
20 mm Hg und kehrt sich zeitweise fiir kurze oder langere Zeit um. Meist 
besteht auf der Seite des hoheren Blutdrucks eine Erhohung der Haut- 
temperatur um 0,5—3 Grad C, gelegentlich ist es umgekehrt. Mit Links- 
handigkeit hat die Sache nichts zu tun. Subjektive Symptome konnen 
dabei ganz fehlen, oder aber sie sind sohwer zu deuten. Die Differenz be- 
ruht wahrscheinlich auf angeborenen oder meohanischen Verhaltnissen. 
l^ a g e g en sind die Schwankungen der Differenz resp. ihre Umkehr doch ner- 
vosen Ursprungs. Dafiir spricht das meist parallele Verhalten der Haut- 
temperatur. Weitere Schl isse lassen sich wohl erst nach weiteren Beob- 
achtungen ziehen. 

Dinkier -Aachen berichtet iiber folgenden Fall von multiplen Er- 
weichungsherden im Gehirn auf karzinomatOser Basis. 

67 jahrige Dame, welche 1906 an schwerer Cholecystitis gelitten, 1907 
wegen Carcinoma mammae radikal operiert wurde und danach vollkonunen 
gesund gewesen war, erkrankte Oktober 1910 unter dyspeptischen und all- 
gemein neurasthenischen Erscheinungen; Untersuchungsbefund an den 
inneren Organen, abgesehen von einer Druckempfindlichkeit in der Magen- 
gegend, negativ. 

Allmahlich traten zu den nervosen auch psychotische Krankheits- 
erscheinungen hinzu, unter lebhaften Klagen von Kopfschmerzen, Schwindel, 
Hitzegefiihl, Durst und Uebelkeit. Auffallender Stimmungswechsel, 
Patientin liegt tagelang in einer Art Stupor mit motorischen Reizerschei- 
nungen: Stereotypien, Negativismus, Verbigeration etc.; dann treten Er- 
regungserscheinungen auf, sie wird heftig und beleidigend; keine rechte 
Einsicht nach solchen Anfalien. Nahrungsaufnahme sehr ungleichmaBig, 
ungeniigend, Gewichtsabnahme, Angstzustande, Erscheinungen immer 
schwerer, tagelang anhaltendes Erbrechen, schlieBlich tiefer Sopor. Ueber 
beiden Unterlappen Dampfung, Bronchialatmen, Temporatur 40,7, Exitus. 
Diagnose unsicher. Anfang3 war an eine rein nervose Erschopfungsstorung 
funktioneller Art gedacht worden, dabei Verdacht auf beginnende meta- 
statische Karzinomerkrankung immer erwogen. SchlieBlich wurde mit 
Riicksicht auf den ausgesprochenen Wechsel von Depressions- und Ex- 
zitationserscheinungen, den progressiven Stupor, die Kopfschmerzen, den 
Schwindel, das Erbrechen, den Verlauf in Schiiben, das hohe Alter, das 
Fehlen von cerebralen Herderscheinungen eine diffuse Arteriosklerose mit 
multiplen kleinen Erweichungsherden angenommen. Es fanden sich bei der 
Sektion auBer einer Verdichtung beider Unterlappen in den Lungen mehrere 
bis hiihnereigroBe Karzinomknoten und im GroBhirn und Kleinhim zahl- 
reiche im Marke, seltener in der Rinde liegende, unregelmaBig geformte bis 
kirschengrofle Cystenbildungen mit hockeriger Wand. Mikroskopisch sind 
arteriosklerotische Veranderungen in maBiger Form nachweisbar, die Cysten- 
wand besteht zum groBten Teil aus Karzinomgewebe. Anscheinend ist die 
Erscheinimg so zu erklaren, daB von den krebsigen Lungenherden Pajtikel 
durch das linke Herz m die Gehimarterien schubweise eingeschwemmt 
sind, welche weiterhin im Gehirn durch Verstopfung der GefaBe zur Nekrose 
und Erweichimg fuhrten, wahrend gleichzeitig der obturierende Karzinom- 
pfropf metastatisch wuchs und die Cystenwand mit Karzinomgewebe aus- 
kleidete. Es scheint hiernach, daB, auBer der Entwicklimg der diffusen 
metastatischen Karzinose der Meningen und der soliden Karzinomknoten 
in cerebro. auch eine cystische Form der Gehimkarzinose vorkommen kann. 
Jamin-Erlangen: Ueber Spasmophilie. 

Unter den eklamptischen ELrampfanfallen der kleinen Kinder sind drei 
Formen zu unterscheiden. Die eine kommt der Tetanie der Erwachsenen 
nahe: sie befallt Kinder im Alter von 5 Monaten bis 2 Jahren und ist ge- 
kennzeichnet durch den Gesichtsausdruck, die Karpopedalspasmen. die 
mechanische Uebererregbarkeit der peripherischen Nerven (Facialisphano- 
men, Trousseau etc.) und die Steigerung der galvanischen Erregbarkeit 
derselben (KOZ unter 5 MA, AOZ groBer als ASZ und gleichfalls unter 


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158 XXXVI. Wanderversammlung der siidwestdeutschen etc. 


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5 MA). Die Aetiologie ist noch unklar; fur alle in Betracht kommenden 
Faktoren: hereditare Veranlagung, Epithelkorperchenschadigung bezw. 
deren relative Insuffizienz, Nahrungsschadigung fehlen noch die zwingenden 
Beweismomente. Kuhmilchmolke kann gelegentlich in minimalen Mengen 
y krampfsteigemd wirken, doch ist weder der Kalk noch das Natrium noch 
nach des Vortr. eigenen Untersuchungen das Calcium direkt anzuschuldigen. 
Die klinische Beobachtung, an Kurven demonstriert, laBt auf eine Vergif- 
tung in doppelter Hinsicht. schlieBen: qualitativ — die Ueberempfindlich- 
keit gegen Kuhmilch iiberhaupt, quantitativ — die Ueberempfindlichkeit 
gegen geringe Mengen, die erst nach langerer Behandlung groBerer Toleranz 
weicht. Als eine zweite Form kann die Krampfneigung, besonders bei 
Mehlnahrschaden, von Hochsinger Myotonie genannt, gelten. Endlich 
kommen eklamptische Zustande schon in den ersten Lebenstagen imd im 
Sauglingsalter als Ausdruck der infantilen Empfindlichkeit des Gehims 
bei alien lokalen Reizzustanden, auBer der Encephalitis. Meningitis und 
Meningitis serosa nach Art des Meningismus der Erwachsenen und groBeren 
Kinder bei Traumen und Infektionen vor: auBer Syphilis, Miliartuber- 
kulose sind besonders die haufigen Falle von okkulter Nabelsepsis zu be¬ 
ach ten. Auch hier sieht man Karpopedalspasmen. Laryngospasmen. 
Mechanische Uebererregbarkeit im Facialisgebiet kann durch die mehr 
tonischen Lippenreflex-Phanomene vorgetauscht werden. Die elektrische 
Erregbarkeit ist voriibergehend etwas erhoht, doch kommt es nicht zur 
KOZ unter 5 MA. Nahrungsanderung ist olme EinfluB auf die Wieder- 
kehr der oft einseitig lokalisierten Krampfanfalle. 

In der Praxis ist zunaehst jeder unklare Fall von infantiler Eklampsie 
als Vergiftung mit Hungerdiat, Darmspiilung, Narkoticis zu behandeln, 
weil daaurch am besten der Lebensgefahr bei den tetanischen Zustanden 
vorgebeugt wird. Tetanie wird zweckmaBig molkefrei mit Mehl- und Milch- 
mischungen emahrt. Auch Frauenmilch beseitigt nicht immer die Ueber¬ 
erregbarkeit und die Krampfe. Phosphorlebertran ist geeignet, die Toleranz 
gegen Kuhmilch in mehreren Wochen bis zum normalen Verhalten zu 
heben. 

Mugdan-Fr eiburg i. B.: Zum Begriffe der Periodizitat. 

Verf. definiert zunaehst den fiir die Mathematik und die exakte 
Naturwissenschaft giiltigen Begriff der Periodizitat in folgender Weise: 
Einem Systeme von Ereignissen kommt die Eigenschaft der Periodizitat 
zu, wenn in gleichen zeitlichen Intervallen gleiche Ereignisse eintreten. 
Hierbei ist der Begriff der Gleichheit im mathematischen Sinne und der 
Begriff Ereignisse als reine Quantitat zu verstehen. Dieser fur die Mathe¬ 
matik giiltige Periodizitatsbegriff bedarf nun, um fiir die Biologie brauchbar 
zu werden, folgender Umgestaltungen: Erstens muB der Begriff der gleichen 
Ereignisse durch den der logisch verwandten, zweitens der der gleichen 
Intervalle durch den der regelmaBigen Intervalle ersetzt werden. Drittens 
muB durch eine Kausalbestimmung festgelegt werden, daB die Wiederkehr 
der Ereignisse aus endogenen Griinden erfoige, daB sie, wie Hoche es aus- 
gedriickt hat, ohne auBeren AnlaB oder doch ohne entsprechenden auBeren 
AnlaB erfoige, aus Griinden, die in der Organisation des Betroffenen liegen. 
Verfasser glaubt, daB diese Umgestaltungen geniigen, um den Begriff der 
Periodizitat fiir die Biologie und auch fiir die Medizin und ihre Untergruppen 
brauchbar zu machen. 

GerharcU- Basel: Ueber Hamatomyelie. 

G. berichtet iiber einen Fall von rohrenformiger Riickenmarksblutung, 
verursacht durch Blutung in einen intramedullaren Tumor. Trotzdem die 
Kombination von vorwiegend linksseitiger schlaffer Lahmung mit linker 
totaler, rechter dissoziierter sensorischer Lahmung darauf hinzuweisen 
schien, daB ausgedehnte Zerstorimg der linken grauen Substanz die klinischen 
Symptome bedinge, muBte auf Gnmd des Sektionsbefundes angenommen 
werden, daB in diesem Falle hauptsachlich eine Schadigung der Leitungs- 
bahnen (weiBe Substanz) jenen der Syringomyelie ahnlichen Symptomen- 
komplex verursacht habe. 


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(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik zu StraSburg. 

[Direktor: Prof. Wollenberg.]) 

Ueber die Verlaufsarten der Dementia praecox. 

Von 

Privatdozent Dr. PFERSDORFF. 

Die Wandlungen, welche in der Lehre von der Dementia 
praecox innerhalb der letzten Jahre sich vollzogen haben (die 
Bornstein (2) eingehend geschildert hat), bezogen sich in der Haupt- 
sache auf die Definition der Symptome, die als katatonisch anzu- 
sehen sind, sowie auf die Abgrenzung der Dementia praecox vom 
manisch-depressiven Irresein. Die Beantwortung der ersten Frage 
hat zu der Erkenntnis gefiihrt, daB die Inkongruenz, die Dishar- 
monie der Leistungen (intrapsychische Ataxie Gro/3, Stransky, 
Verlust der Zielstrehigkeit Loewy, Verlust der Zielvorstellung 
Kraepelin) auf motorischem Gebiet sowie affektive Ausfalls- 
erscheinungen die wesentlichen Merkmale der Verblodung darstellen. 
Die eigentlich katatonischen, ausschlieClich motorischen Reiz- 
erscheinungen wurden, weil auch bei anderen Psychosen vor- 
kommend, nicht mehr als ausschlieBlich maBgebend erachtet; 
andererseits wurden Zustande ohne motorische Reizvorgange be- 
obachtet, die zu spezifisch hebephrenem Schwachsinn fiihren 
(Wieg-Wickental, Stransky, Fuhrmann u. A.). Immerhin ist das ge- 
haufte Vorkommen der sogenannten katatonischen Symptome 
charakteristisch fiir Dementia praecox; einzelne dieser Symptome 
(Wortneubildung, athetoide Fingerbewegungen) diirften sogar nur 
ganz ausnahmsweise bei anderen Psychosen sich finden. 

Was die Abgrenzung gegen das manisch-depressive Irresein 
anlangt, so muB hervorgehoben werden, daB von seiten mancher 
Beobachter mit Entdeckerpathos die bereits von Kahlbaum 
formulierte und von Kraepelin stets betonte Tatsache unter- 
strichen wurde, daB manisch-depressives Irresein und Dementia 
praecox ahnliche Zustandsbilder bieten! Und das diagnostische 
Versagen im Einzelfalle wurde der Kraepelinschen Lehre zum Vor- 
wurf gemacht. 

Die Erkenntnis von der nicht spezifischen Natur der meisten 
sogenannten katatonen Symptome und die Beobachtung der Ver¬ 
laufsarten, die in einem sehr groBen Prozentsatz periodischen Typus 
darbieten, hat zu dem Versuch gefiihrt, die alten Einteilung in 
Hebephrenie, Katatonie und paranoide Formen durch neue zu er- 
setzen. Raecke hat neue Typen fiir die Initialstadien aufgestellt, 

Monat88ohrlft f. Psychiatrie u. Neurologie. Bd. XXX. Heft 3. 11 


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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


auf die wir spater noch zuriickkommen werden. Diese Typen 
sollen der Einteilung der akuten Formen dienen. Prognostische 
Bedeutung wollen und konnen sie vorlaufig noch nicht haben, 
denn von dem Ziele, aus dem Anfangsstadium die Prognose zu 
stellen, sind wir noch weit entfernt, konnen uns jedoch in dieser 
Beziehung mit dem Hinweis auf jede andere medizinische Disziplin 
trosten. Ungleich klarer wird die Uebersicht iiber die Verlaufsarten 
und ihre Beziehung zu Anfangs- und Endzustand, wenn es sich, 
diese Binsenwahrheit muB betont werden, um bereits beobachtete 
Falle handelt, die in ihrer Entwicklung ganz vor uns liegen. So 
ist denn auch der Eindruck, den man von der Schilderung der 
Dementia praecox in dem Referat Bleuler8 (1) bekommt, nicht der, 
daB ein weiteres Bemiihen auf diesem Gebiet aussichtslos sei. Diese 
in jeder Beziehung ausgezeichnete Darstellung bringt eine Reihe 
von Tatsachen uber den Verlauf der Psychose, die die Berechtigung, 
so viele scheinbar heterogene Zustande unter einem Sammelnamen 
zu vereinigen, vollauf beweisen. Der Zusammenhang der Verlaufs¬ 
arten mit den Anfangsstadien und den Endausgangen ist jedoch 
noch nicht hergestellt. Die Arbeit Kraepelins hat bewiesen, daB 
die Betrachtung der Endausgange fruchtbar gewesen ist fur die 
Symptomatologie der Dementia praecox. Diese ,,Ausgangsformen“ 
bestehen noch immer zu Recht, nur ist der Weg zu ihnen noch 
nicht freigelegt. Einige dieser recht zahlreichen und verschlungenen 
Wege hat Bleuler beschrieben. Ankniipfend an Kraepelin sagt er (1) 
S. 446 : Kraepelin hat die Vermutung ausgesprochen, daB der Aus- 
gang mit ein Charakteristikum natiirlicher Untergruppen sei. In 
Bezug auf die Art und die Richtung des Verlaufs ist das selbstver- 
standlich zutreffend, wenn es iiberhaupt natiirliche Untergruppen 
der Dementia praecox gibt.“ Nur fiir den Grad der Verblodung 
sei das nicht zutreffend, was ja auch nicht zu erwarten stand. ,,Wer 
das vergiBt, wird Gefahr laufen, die Streckenprognose mit der 
Gruppenprognose zu‘ verwechseln.“ Auch spater (S. 449) betont 
Bleuler : „Die quantitative Streckenprognose kann nicht scharf 
genug getrennt werden von der qualitativen Richtungsprognose.‘‘ 
Letztere, als die einzig aussichtsvoile, verdient unser Interesse. 
Wir wollen uns in dieser Arbeit nur mit denjenigen Formen be- 
fassen, die dem manisch-depressiven Irresein ahnliche Zustands- 
bilder bieten. Und dies zwar nicht bloB in Bezug auf die Periodizitat 
der Symptome, denn diese Erscheinung kommt alien Formen zu, 
die nicht sofort extrem und ,,stumpf“ verbloden, sondern auch in 
Bezug auf die Gestaltung der akuten Stadien der Psychose. Diese 
Falle diirfen also das nicht zeigen, was Bleuler bei verschiedenen 
Formen betont; sie diirfen nicht die Richtung der Verblodung 
andern; es diirfen im spaten Verlauf nicht z. B. katatone Symptome 
auftreten, wahrend anfangs paranoide oder andere sich fanden. 
Die manisch-depressiven Verlaufsarten haben von jeher das Inter¬ 
esse der Beobachter auf sich gezogen, man hat auch stets von 
jeher betont, daB nicht alle manisch-depressiven Symptome 
gleichwertig sind. So fiihrt Bleuler (S. 456) aus: ,,Eine ganz be- 


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der Dementia praecox. 


161 


sondere Stellung nehmen die manischen und melaneholischen 
Affektschwankungen ein; sie haben gar nicht in alien Fallen die 
gleiche Bedeutung. In selteneren Fallen machen sie den Eindruck 
einer zufalligen Komplikation der Schizophrenie mit manisch- 
depressiven Erscheinungen. 

Manchmal scheinen sie durch den schizophrenen Krankheits- 
prozeB ausgelost, die Haufigkeit der manisch-depressiven Syndrome 
bei der Schizophrenie iiberhaupt und bei den Schiiben im speziellen 
spricht mit Deutlichkeit dafur.“' 

S. 441 betont er: ,,Wir sehen also auch hier, daB die manisch- 
depressiven Formen entweder in den anfallsfreien Zeiten sich 
drauBen halten konnen, oder dann ganz verbloden. Der melan- 
cholische Symptomenkomplex hat Tendenz zu einem ahnlichen 
Verhalten. 

Der Gedanke, daB den sogenannten manisch-depressiven 
Symptomen nicht in alien Fallen die gleiche Bedeutung zukomme, 
vor allem aber auch nicht die gleiche Bedeutung wie andersartigen 
Symptomen, ist scharf zum Ausdruck gebracht in der Arbeit 
Loewys (4), auf die ich eingehend zuriickkommen werde. 

Vorerst mochte ich die eigenen Beobachtungen bringen. Die 
Faile sind ausgesucht aus den Dementia-praecox-Fallen, die von 
1902 bis jetzt einen oder mehrere akute Erregungszustande in der 
Klinik erlebt haben. Die Katamnesen sind samtlich durch personliche 
Untersuchung der Kranken gewonnen; ich will bei der Gelegenheit 
nur beilaufig erwahnen, daB ich vollkommene Heilungen bei 
personlicher Untersuchung auch dieses Mai nicht feststellen konnte 
(cf. 5). Es stimmen diese Angaben mit denen Bleulers iiberein. 

Die Katamnesen und Krankengeschichten derjenigen Falle, 
welche sich voriibergehend oder dauernd in der unterelsassischen 
Bezirksheilanstalt Stephansfeld aufhielten, hat Herr Direktor 
Dr. Ransohoff in dankenswerter Weise uns zur Verfiigung gestellt. 
Es ist mir eine angenehme Pflicht, ihm an dieser Stelle fur das stets 
bewiesene groBe Entgegenkommen meinen aufrichtigen Dank aus- 
zudriicken. 

Gruppe I. 

Fall 1 . Karoline H., geb. 1853, verw. Rentnerin. (1. 1889; 2. 16. XII. 
1902—15. VIII. 1903; 1903—1906 in Stephansfeld ;j| 1909 in Stephansfeld). 

Hereditat ist nicht vorhanden. Pat. lemte schwer in der Schule; mit 
14 Jahren wurde sie aus der Schule entlassen; mit 15 Jahren Totgeburt 
eines unehelichen Kindes. 1872 Heirat. 4 Kinder, wovon 3 gestorben sind. 

1889 erste psychische Erkrankung: ,,es trieb mich fort. 44 Pat. wollte 
in Paris ein Geschaft griinden; bemerkte dort, dafi die Leute es auf sie ab- 
gesehen hatten; hatte eine .,Wahnverfolgung“; horte keine Stimmen; hat 
in der Zwischenzeit nicht gearbeitet. 

1901 zweite Erkrankung; hatte viel ,,Aufregungen beim Bau ihres 
Hauses 44 . Bemerkte. dafi ..etwas vorging; man wollte immer darauf hin- 
weisen, dafl ich vom Lande bin; die Geschichte meines unehelichen Kindes 
wurde aufgewarmt; das mufi jemand sein, der mir spinnefeind ist. Es 
•wurden Sachen getrieben. die ich nicht auf mir ruhen lassen kann. Man 
macht mich kaput, auch jetzt noch. Man wollte mich erschrecken, es klopfte, 
es gingen Kanonen los. die Oefen brannten schlecht 44 . Am Tage vor der 
Aufnahme war Pat. erregt. tobte. 

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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


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16. XII. 1903. Aufnahme in die Klinik. Pat. ist ortlich und zeitlich 
orientiert; rechnet schlecht; die Kenntnisse entsprechen dem Stande; die 
Stimmung ist indifferent mit oberflachlichem Wechsel; kein starker Affekt. 
Pat. spricht zusammenhangend; gelegentlich absonderliche Ausdriicke. 
Hort „Heimchen im Ohr 44 . Wurde im Innern befragt: ..Das Gewissen 
sprach, besser kann ich das nicht ausdriicken. das miissen Sie wissen, Herr 
Doktor. Wurde hypnotisiert ,wie im Traum‘. Die Pfortnerin war unge- 
horsam und schaute mich frech an. Ich dachte. ich bin doch nicht in anderen 
Umstanden; dann dachte ich an mein uneheliches Kind. Dann ging’s los.“ 

Pat. war zumeist inaktiv und indifferenter Stimmungslage; es bestand 
Neigung zu lappischer Depression. Anfallsweise (ca. alle 3—5 Wochen> 
traten Erregungszustande auf, in denen Pat. laut queruliert, sich die Ver- 
folgimgen verbittet. ,,Sie vollfiihrt hierbei absonderliche, meist symmetrische 
Bewegungen der Arme. 44 Nach der Erregiuig, die gewohnlich l / 2 Tag an- 
dauert. auflert sich Pat. folgendermaCen: ..ich spurt e ganz genau, wenn es 
fiber mich kommt, es treibt mich, es macht mich alle Figuren machen; spater 
erkenne ich klar, daB ich hypnotisiert wurde. Wenn es vorbei ist. bin ich wieder 
Mensch wie vorher; fiir mich ist es wie ein Traum.“ Starke persekutorische 
Eigenbeziehung. ,.sogar die Kleider werden angepackt und verandert. 4t 
In diesen Erregimgszustanden sind die Halluzinationen starker entwickelt; 
Pat. antwortet den Stimmen. ,,Ich war gezwungen, zu antworten; ich horte 
nicht deutiich sprechen, es war leise, ich fiihlte mich befragt und muBte ant¬ 
worten, es trieb mich; ich wurde gefragt, ob ich mein uneheliches Kind um- 
gebracht habe. 44 In diesen Erregungen schimpft Pat. anfallsweise auBerst 
heftig und laflt sich nicht unterbrechen. 

Bei der Entlassung ist Pat. ortlich und zeitlich orientiert; rechnet gut; 
ist zuganglich. Die Stimmung ist indifferent mt Neigung zu Depression. Der 
Affekt ist gering. Sinnestauschungen bestehen zurzeit nicht. ,,Es ist moglich, 
daB das Klopfen, das ich horte, Krankheit war; das Sausen in den Ohren 
war sicher krankhaft; es ist auch moglich, daB es krankhaft war, zu glauben, 
die Leute lebten mir zu leide; man hat mich aber auch sehr gekrankt.“ 
Es besteht ein gewisses Krankheit sgefiihl. ,.Als ich letzthin ruhig am Fens ter 
stand, kam es plotzlich wieder iiber mich, wie wenn mich alle verfolgten, und 
das ist Krankheit. Ich habe auch ganz gute Momente. 44 

Nach der Entlassung war Pat. inaktiv und vollig interesselos. Sie be- 
schaftigte sich gelegentlich mit Handarbeit, jedoch ohne Konsequenz. In 
der Folgezeit traten mehrere akute Stadien auf, die zu inehrjahriger Inter- 
nierung in Stephansfeld fiihrten. Diese akuten Stadien wurden immer 
frequenter, so daB Pat. zurzeit dauemd interniert ist. Das jetzige akute 
Zustandsbild (1911) unterscheidet sich nicht von der ersten Erkrankung, nur 
sind die Sinnestauschungen starker ausgepragt. 

FaU 2. Luise B., geb. 1858, ledig, Naherin. (13. VII. 1898—22. VIII. 
1898; 9. XII. 1903—11. VI. 1904.) 

Der Vater ist an Schlaganfall gestorben; Geisteskrankheiten sind in der 
Familie nicht vorgekommen. Pat. war bis jetzt nie krank; hat immer alles 
,,schwer aufgenommen 14 . In den letzten Monaten hatte Pat. einen Erb- 
schaftsstreit; im AnschluB an die hiermit verbundenen Erregungen wurde 
sie schwermutig. auflerte LebensiiberdruB, Selbstanklage, „die Polizei 
kommt und holt mich 44 . Am 1. VII. 1898 lief sie von Hause weg, ging ins 
Wasser bis zum Hals, ging dann wieder heraus, ,,weil sie lieber zu Hause 
sterben wollte 44 . Seit der Zeit ist sie noch starker depressiv, bedauert, daB 
der Selbstmordversuch mifigliickte. In der Klinik war Pat. dauernd orientiert. 
Es bestand eine maBig starke Depression mit leichter Gebundenheit. Ge¬ 
legentlich klagte die Kranke liber MiBempfindungen im Epigastrium. Sinnes¬ 
tauschungen scheinen nicht bestanden zu haben; ein leichter Grad von 
Schwachsinn wurde bei der Entlassung festgestellt. 

In der Zwischenzeit war Pat. nach Aussage der Angehorigen nicht ge- 
sund. Sie arbeitete nur anfallsweise. In unregelmaBigen Perioden wurde sie 
erregt, veriibte Streiche, zerschnitt z. B. die Wasche. In manchen Gewohn- 
heiten war sie ,,peinlich genau 44 . Mitte November 1903 wurde sie erregt und 


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der Dementia praecox. 


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wieder depressiv; auBerte Beziehungsideen, ,,wird scheel angesehen 44 . Zur 
Zeit der Regel war sie besonders erregt. Horte ,, Stimmen, Klopfen und 
Hammem. 44 Gelegentlich sang sie. Wiederholte oft ihre AeuBerungen. 

In der Klinik bot Pat. in dem ersten Moment dauernd dasselbe Bild: 
sie war ortlich und zeitlich orientiert; die zeitliche Orientierung war jedoch 
zumeist unsicher. Rechnen schlecht. Die Stimmung war indifferent mit er- 
leichtertem Umschlag in Depression; in der depressiven Stimmungslage war 
der Affekt noch ziemlich stark, jedoch monoton in seinem Ablauf. 

Sinnestauschungen bestanden in den ersten Tagen (Stimmen von An¬ 
gehorigen). Die Kranke war inaktiv und beschaftigte sich nur gelegentlich. 
Ende Mai 1904 trat eine ausgesprochene depressive Phase auf mit monotoner 
AffektauBerung. Pat. war ortlich orientiert, zeitlich unsicher. Produziert 
depressive Wahnideen, ,.es ist alles umgebracht“ und lappische Selbst- 
vorwfirfe. Es bestand lebhafte depressive Eigenbeziehung mit Umdeutung 
der Ereignisse. Hort elementare Sinnestauschungen, Knallen, SchieBen. 
,,wie wenn man mit der Sage an der Bettstelle ratzte“. AuBerdem affektiv 
gefarbte Sinnestauschungen. hort die Stimmen der Angehorigen, die um- 
gebracht werden. AuBerdem bestanden Muskelsinnhalluzinationen, ,.muB 
zucken mit den Armen, ein paar mal, auch mit dem ganzen Korper in die 
Hohe schnellen, wie aus Schreck 44 ; ,,ich glaube, daB es gemacht wird 44 ; Pat. 
demonstriert, wie sie „gestupst“ wird. 

Im Juni 1904 wurde Pat. nach der Bezirksheilanstalt Stephansfeld 
iibergeffihrt. 1905 wurde sie wieder entlassen. 

Katamnese 1910. 

Pat. ist ortlich und zeitlich orientiert; das Rechenvermogen ist intakt; 
die allgemeinen Kenntnisse sind nicht herabgesetzt. Die Stimmung ist in¬ 
different mit Neigung zu Depression. Die Kranke ist interesselos; beschaftigt 
sich nur gelegentlich mit Handarbeit. Zirkumskripte psychotische Zustands- 
bilder sind seither nicht mehr aufgetreten. 

Fall 3. Friederike, W. ledig, Lehrerin, geb. 1864. (29. IV. 1890 bis 
26. VIII. 1890; 25. IV. 1899—11. VII. 1899.) 

Hereditat ist nicht vorhanden. 

Pat. ist intellektuell sehr gut veranlagt gewesen; war eine vorziigliche 
Schfilerin, sollte Lehrerin werden. Hatte sehr viel Interesse, las viel Bucher. 
Zu Beginn des Jahres 1890, 3 Monate vor der Aufnahme, wurde Pat. gleich- 
giiltig, besorgte ihre Arbeit nicht mehr, sang und weinte abwechselnd, 
auBerte, daB sie ,.noch mehr Geschwister 44 habe, wollte nach Paris und 
Versailles reisen. Sprach nachts mit Abwesenden, ,,die vor der Tiire stehen 44 . 

In der Klinik ist Pat. anfangs erregt und halluziniert lebhaft, optisch 
und akustisch; spricht von einem Mikrophon und einem Teleskop. Voll- 
fiihrt gelegentlich zuckende Bewegungen 44 . In den letzten Wochen wird 
Pat. ridiiger. klagt iiber Mattigkeit. 

Nach der Entlassung 1890 war Pat. noch mehrere Monate krank, 
wurde jedoch nachher ,,fast gut 44 ; arbeitete wieder, besorgte die Haus- 
haltung. jedoch nicht mehr wie friiher. 1894 trat ein eintagiger Erregimgs- 
zustand auf. Anfang 1895 lieC sich Pat. in der Poliklinik behandeln; sie 
im AnschluB an einen Streit mit den Angehorigen erregt geworden, klagte 
liber Klingen und Brausen in den Ohren. 

1898 kam Pat. abermals in poliklinische Behandlung; sie war damals 
mehrere Wochen depressiv; klagte viel fiber Herzklopfen, errotete leicht. 
war ,,empfindsam 44 . Die Herzaktion war beschleunigt imd labil. 

Im April 1899 brachte Pat. ..hypochondrische 44 Klagen imd intestinale 
Wahnideen vor. ,,hat Wasser in der Lunge 44 ; auch depressive Wahnideen 
wurden geauflert. ..der Bruder ist gestorben 44 . 

Bei der Aufnahme in die Klinik ist Pat. ortlich und zeitlich orientiert; 
ein Intelligenzdefekt laBt sich nicht feststellen. Zunachst auBert Pat. nur die 
eben erwahnten hypochondrischen Wahnideen. In den folgenden Tagen 
jedoch auBert sie zahlreiche Sinnestauschungen aus alien Sinnesgebieten 
und Verfolgimgsideen; sie ist ,,gereizt“ worden; „es hat Erschiitterungen 


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Pfersdorff, Ueber die Verlaiifsarten 


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gegeben; ein hoheres Wesen hat es gemacht“; hort Stiinmen Angehoriger. 
,,Es wird mit der elektrischen K1 ingel gemaeht.** Hat Verfolgungen aus alien 
umliegenden Ortschaften zu erdulden. Das motorische Verhalten wechselt 
zwischen ablehnendem Benehmen und anfallsweise auftretenden Erregungs- 
zustanden, in denen Pat. schimpft und an die Tiiren schlagt; queruliert gegen 
die Behandlung. Sie ist durch Fragen nicht zu unterbrechen; spricht vor 
sich hin. In der letzten Zeit ist die Kranke inaktiv, liegt herum, vemach- 
lassigt sich vollstandig. Am 11. VII. 1899 wurde sie nach Stephansfeld 
iibergefiihrt. Im Dezember 1899 wurde Pat. nach Hause entlassen; sie war 
damals noch „schwach“. 

Die Katamne8e ergibt: Pat. ist ortlich und zeitlich orientiert; rechnet 
gut; es besteht keine Stoning des Gedachtnisses; eine Einbufie an Kennt- 
nissen ist nicht festzustellen. Die Stimmung ist leicht gehoben oder in¬ 
different mit Neigung zu Umschlag; der Affekt ist gering; Pat. „nimmt alles 
leichter als friiher“. weint leicht. aber vergifit es wieder rasch; ,.es ist vor- 
libergehend“; ist gleichgiiltiger geworden. ..das ist fur die Gesundheit gut“. 
Kann nicht mehr so gut arbeiten als friiher, kann nur etwas Gartenarbeit 
leisten; es besteht eine gewisse Vorliebe fur Spriiche und Redensarten. 
Zur Zeit der Regel ist Pat. ,,nervos“; andere periodische Erscheinungen be- 
stehen nicht. 

Fall 4. Marie G., geb. 1860, verheiratet, Bauemfrau (1909; 6. IX. 
1905—27. X. 1905.) 

Die Mutter war „nervenleidend “. 

Pat. war geistig gut veranlagt; 5 Entbindungen ohne Besonderheiten. 
Mit 38 Jahren erste psychische Erkrankung. Nahere Angaben liber die Ge- 
staltung der Geisteskrankheit sind nicht zu erlangen. Die Angehorigen konnen 
nur angeben. dafl Pat. seither noch mehrmals psychiseh erkrankte. Sie 
wurde jedoch noch nicht in einer Anstalt behandelt. Ende Juli 1905 setzte 
die diesmalige Erkrankung ein. Pat. wurde unruhig. konnte nicht schlafen 
und nicht essen. Lief nachts auf der StraOe hemm. stieg im Hemd aus dem 
Fenster. Erinnerte sich nachher nicht an das Vorkommnis. Setzte sich den 
Deckel eines Kochtopfes auf den Kopf und lief so auf die Strafle. Die 
Stimmung war zumeist depressiv. Pat. hatte Ohrenbrausen; horte viel reden, 
horte von den Stimmen, daO sie sterben miisse und nicht mehr lange leben 
wiirde. Gesichtshalluzinationen sollen nicht bestanden haben. Vergiftungs- 
ideen und Nahrungsverweigerung. Anfallsweise trat Angst auf. 

Bei der Aufnahme am 6. IX. 1905 ist Pat. ortlich orientiert, zeitlich 
nicht (Tag, Monat und Jahr falsch angegeben). Rechnet nur ganz einfache 
Multiplikationen rich tig; 6x12= 62. 7x7 = 28 nein 47. Die Stimmung ist 
depressiv ohne starken Affekt. Hat Sausen in den Ohren, ,.wie von einem 
Eisenbahnzug 44 . Eine Stimme ruft zum Fenster herein, sie solle zu den 
Kindern kommen. 

10. IX. Oertlich imd zeitlich orientiert; rechnet falsch; lappische 
Euphorie; hort die Stimme der Schwester, die sie holen kommt. Klagt liber 
Ohrensausen. 

27. IX. War diese Nacht erregt, stand auf; meinte, dafl jemand an 
die Decke klopfe, daB Schwefeldampf im Zimmer sei. Horte Stimmen vom 
Fenster hereinrufen; ist ortlich und zeitlich orientiert am Morgen; rechnet 
falsch; halluziniert lebhaft den ganzen Tag liber; hort Stimmen aus dem 
Fenster. aus den Heizklappen. Es wird ihr etwas an den Kopf geworfen von 
einer Person, die in der Heizung sitzt. Es riecht nach Schwefel. Beschiitzt 
sich den Kopf mit den Handen. ,,Jetzt, Herr Doktor, splire ich etwas. “ 
Die Stimmen in den Heizklappen sagen; „Du wirst umgebraeht. 44 Die 
Stimme befiehlt ihr. zu sagen: ,,Dummer Kerl. sie haben dich eingesperrt. 4 ‘ 
Splirt deutlich, daO sie am Rlicken beworfen wird. 

29. IX. ..Man wirft Raketen durch die Heizklappe und durchs 
Fenster und durch Schlauche. Es kommt durchs Fenster etwas gegen das 
Herz geflogen.“ Hort die Stimmen ihrer Geschwister rufen ..der Vater 
ist tot“. 


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der Dementia praecox. 


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30. IX. Die Stimme befiehlt, dem Doktor auf die Backe zu spucken, 
..damit er auch etwas spurt. 44 Halluziniert links starker (akustisch) als 
rechts. 

8. X. Sagt zur Wache: „Die Stimme hat gesagt, morgen werde ich 
tot sein.“ 

10. X. Stets zuganglich. Physikalischer Verfolgungswahn. „Es sind 
Verwandtenstimmen da, man will mich besuchen. 44 Die Stimmen sind nicht 
ganz laut. 

17. X. Zuganglich; liegt inaktiv im Bett; die Stimmungslage ist in¬ 
different. „Ich habe gehort, meine Kinder waren tot auf dem Kirchhof, 
auch der Onkel ist tot; ob die Stimmen recht haben, ob es wahr ist, weiB 
ich nicht. 44 Heute keine elementaren Halluzinationen. 

26. X. Lebhafte intestinale Sensationen. Verfolger werden nicht 
prazisiert. „Die Stimmen sind noch vorhanden, sie sprechen Satze; wenn ich 
lese, lesen viele Stimmen mit; ich meine, auf beiden Seiten ist Jemand, der 
mitliest. 44 Hort Angehorige im Keller; von drauBen wird ein Gestank 
heruntergeschickt. 

27. X. Gegen Revers entlassen. 

Katamnese August 1907 . 

Pat. ist ortlich und zeitlich orientiert; rechnet schlecht. Das Gedachtnis 
hat abgenommen. Die Stimmung ist indifferent oder leicht gehoben. Pat. 
ist ,,kalter wie friiher“, bekiimmert sich weniger; ist jedoch im Moment 
reizbarer. ,,geht gleich in die Hohe 44 . Erschrickt sehr leicht. weint leicht; 
Intoleranz gegen starke Sinneseindrucke (z. B. Pfeifen der Lokomotive). 
Bisweilen tritt Angst mit depressiver Eigenbeziehimg auf. Die Stimmung 
zeigt dann eine deutliche Tagesschwankung. Die Stimmung schwankt auch 
nach ganzen Tagen. Physikalischer Verfolgungswahn besteht zurzeit nicht. 
Pat. sieht nachts ,,Xebel und Totenkopfe 44 , hort ihren Namen rufen. Hort 
Stimmen auch in der Kirche, schaut sich nach den Stimmen um. Hort 
„Reden und Klingeln wie ein manege 44 . Die Stimmen sind in den Ohren, 
,,vielleicht sind es auch andere Leute 44 . Die Stimmen sagen allerhand 
Dummheiten; was ich hore, muB ich reden, was die Stimme sagt. Hat manch- 
mal das Gefiihl, reden zu miissen. Pat. arbeitet im Haushalt, ist jedoch er- 
miidbarer fils fruher, „ist leicht angegriffen 44 . Ist „nicht ganz gesund 44 . 
Gelegentlich treten somatische Sensationen auf, ,,Anfalie vonHerzschwache 44 . 

Fall 5, Karo line M., geb. 1858, verheiratet. Bauemfrau (1900; 6. I. 
1903—6. III. 1903.) 

In der Familie sind schon mehrfach Geisteskrankheiten aufgetreten; 
nahere Angaben sind nicht zu erhalten. Pat. ist intellektuell sehr gut ver- 
anlagt; 1880. 1882, 1888 und 1895 Entbindungen ohne Besonderheiten. 
1900 erkrankte Pat. zum ersten Male psychisch; sie konnte 3 Wochen lang 
nur wenig schlafen, war depressiv; sie arbeitete etwas wahrend dieser Zeit. 
Sinnestauschungen sollen damals nicht bestanden haben. 

1902 Anfang Oktober setzte ein depressiver Zustand ein. Pat. arbeitete 
anfangs noch. 8 Tage vor der Aufnahme traten Stimmen auf, ,.im obem Stock 
wird gescholten, die Leute verachten sie; sie wird bestohlen 44 . Der Schlaf 
war wahrend dieser Zeit gestort. Die Kranke wollte plotzlich nach Amerika. 
Im Essen war Gift. Die Milch schmeckte anders. Gelegentlich trat Brech- 
reiz auf. 

Bei der Aufnahme ist Pat. ortlich und zeitlich orientiert, zeitlich jedoch 
unsicher; rechnet gut; die Kenntnisse entsprechen dem Stande. Es besteht 
eine maBig starke Depression, ohne betrachtliche AffektauBerung, „es ist 
mir alles einerlei 44 . Verlangt ohne Nachdruck nach Hause. AeuBert intestinale 
Sensationen und Wahnideen, „hat Gehirnerweichung‘% der Kopf ist wie 
Stein. Hort jetzt keine Stimmen, „ich horte auch zu Hause nicht rufen, 
sondem auf dem Hof e hin-und herlaufen; ich horte reden und nachts poltem 44 . 

8. I. Liegt inaktiv im Bett; produziert heute Beeintrachtigungs- 
ideen. nennt aber die Verfolger nicht; spricht nicht spontan. 


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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


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15. I. Oertlich orientiert, zeitlieh nicht (1904 ? 1905?); rechnet gut; 
keine ausgepragte Stimmungslage. ,.ich kann selbst nicht sagen, wie es mir 
ist“. Stiminen sind nicht festzustellen, hingegen Geruchshalluzinationen. 
,,ich rieche immer etwas. und weil die Na.se mit dem Gehirn zusammenhangt, 
habe ich Gehimerweichung“. Beeintrachtigungsideen werden geauBert, 
,.hier habe ich noch nicht s gehort; ob man zu Hause noch gegen mich schafft, 
weiB ich nicht. Die kamen ins Ha us. auch wenn man alles zugeriegelt 
hatte“. 

23. I. Ruhig; iBt wenig; spricht nicht spontan; weint gelegentlich. 

30. I. Oertlich orientiert, zeitlieh unsicher (Wochentag falsch an- 
gegeben). Rechnet ausgezeichnet. Kenntnisse entsprechen dein Stand. Der 
Tonfall ist monoton, Pat. spricht leise. Ziuneist ist die Stimmungslage in¬ 
different; bisweilen tritt eine leichte depressive Schwankung voriibergehend 
auf, ohne starke AffektauBerung. Klagt liber Sausen in den Ohren „und im 
ganzen Kopf“. Hort hier selten Stimmen. Geruehstauschungen, ,.es ist ein 
dummer Geruch‘\ Intest inale Sensationen. Wird hier nicht verfolgt, aber 
,,iiberall hat man etwas gegen mich, man macht mir alles zuleid; die Haupt- 
anstifter waren wohl die Juden, aber ich WeiB nicht warum, wir hatten doch 
keine Schulden. Den Hauptanstifter kann ich nicht anzeigen, weil ich meiner 
Sache nicht sicher bin. Ich lebte gut mit alien Leuten, ich mufl ,verbabbelt‘ 
worden sein. Es ging jemand in unserem Haus umher, wissen Sie nicht, wer 
das war ? Wir hatten eine Frau zur Aushilfe, ich glaube, dafl die uns viel 
geschadet hat, iiber uns sc-hlecht redete. das kommt mir so ein. Die Haupt¬ 
anstifter wohnen gerade uns gegeniiber, d. h. ich weiB ja nicht, ob es die 
Hauptanstifter sind; ich glaube, daB ich im Kopf krank bin, aber nicht ge¬ 
rade verriickt.' 

6. II. Ruhig; produziert nichts; schreibt einen Eilbrief nach Hause, 
in dem sie ein Gebetbuch verlangt. Bisweilen tritt spontanes Weinen auf. 

8. II. Oertlich und zeitlieh orientiert; rechnet gut. MaBige Depression 
mit gelegentlichen AffektauBer ungen; mono toner Tonfall. Horte verfolgende 
Stimmen, die sie ungliicklich machen wollten, hat hier in der Klinik noch 
keine gehort. ,.Es ist ein Feind, der unsverfolgt.“ Hort Sausen in den Ohren; 
keine Gesichtstauschungen. Multiple intestinale Wahnideen und Befiirch- 
tungen; hat keinen Stuhlgang; ,dch glaube, der After ist zugewachsen" ; wird 
blind, bekommt Gehirnerweichung; ,,ich weiB nicht, was die Verfolger jetzt 
machen; Sie diirfen sicher sein, es sind Feinde, die uns verfolgen. Man ver- 
leumdet mich.“ Ist nervenkrank, wird im Kopfe schwach durch das viele 
Liegen. 

19. II. Oertlich orientiert, zeitlieh unsicher; rechnet gut. Indifferente 
Stimmungslage oder leichte Depression, keine Neigung zu lebhafteren 
Stimmungsschwankimgen; es besteht eine leichte motorische Gebundenheit; 
der Tonfall ist monoton. Hort manchmal Stimmen mit ,.unangenehmem 4 ‘ 
Inhalt; prazisiert nicht weiter. W r eiB nicht. ob die Verfolger noch am Werke 
sind; befiirchtet, daB dem Mann ein Ungluck zustoBt. 

23. II. Ruhig; leicht depressiv, ohne Affekt; leicht lappisches Be- 
nehmen; bleibt am Tische stehen, setzt sich nicht zum Essen nieder; bittet 
um Entschuldigung, wenn sie das Klosett benutzt. Stimmen sind nicht 
sicher festzustellen. 

5. III. Oertlich und zeitlieh orientiert; rechnet gut. Merkfahigkeit 
und Gedachtnis sind nicht gestort. Leichte Depression ohne starkeren 
Affekt; lachelt bisweilen. Hort ,,hier und da Stimmen“; prazisiert nicht. 

13. III. Seit 18 Tagen gebunden; ist ortlich orientiert, zeitlieh unsicher; 
indifferente oder leicht depressive Stimmungslage; keine Selbstvorwiirfe, 
monotone Sprechweise, spricht selten spontan; gibt heute an, daB sie hier 
auch schon Stimmen gehort habe, wird heute nicht verfolgt; intestinale 
Wahnideen. ..der Stuhlgang geht nicht durch“. Keine Krankheitseinsicht. 

16. III. Etwas weniger gebunden; verlangt nach Hause; ist ortlich 
orientiert; zeitlieh nicht. Hort keine Stiminen heute. Leicht lappisch depres¬ 
siv; anfallsweise tritt monotone depressive AffektauBerung auf. 

17. III. Verlangt ohne Nachdruck nach Hause; Wechsel von Ge¬ 
bundenheit und leichter Dnruhe. 


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der Dementia praecox. 


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18. III. Manieren beim Handgeben; monotone Unruiie; lappischer 
depressiver Affekt; Geschmackshalluzinationen. ,,Im Essen schmecke ich 
immer etwas. “ 

19. III. Indifferente Stimmungslage; leichte motorische Unruhe; ver- 
iangt nach Hause; riecht nachts „komische Sachen“; hort keine Stimmen. 

20. III. Klagt iiber Kopfschmerzen; leicht depressiv, ohne Affekt. 

23. III. Verlangt monoton nach Hause; ,.ich will heim ich habe ja 
nichts angestellt; lappisch depressiv, keine starke Affektautferung, Grimassen 
angedeutet; spricht spontan mono ton einige Satze vor sich hin. 

24. HI. Gibt die linke Hand; ist depressiv; etwas gebunden, mono- 
toner Tonfall. 

25. III. Oertlich orientiert, zeitlich nicht; verlangt monoton nach 
Hause. Gebundenheit wechselt mit Unruhe. Horte heute friih Stimmen 
,,singen“. 

31. III. Heute ablehnend, gibt keine Auskunft. 

1. IV. Etwas erregter; lauft monoton und leise jammernd im Ziimner 
auf imd ab; klagt iiber MiOempfindungen im Leib; zupft, trommelt mit den 
Fingem, vollfiihrt wippende Rumpfbewegungen; wenig spontane sprach- 
liche AeuOerimgen. 

3. IV. Steht herum. ist nicht im Bett zu halten; gibt die Hand mit 
Manieren und erst nach mehrfacher Aufforderung. 

Oertlich orientiert, zeitlich nicht, „die Kalenderzahl ist falsch. so lange 
bin ich noch gar nicht hier“. Rechnet gut; wippende Rumpfbewegungen. 
Leichte Gebundenheit mit raschem Intensitatswechsel. 

6. IV. Gibt die Hand manieriert. Gebundenheit wechselt rasch. 

8. IV. Unverandert; leicht gebunden, lappisch. 

10. IV. Leichte motorische Unruhe; lappische Selbstvorwiirfe; 
Reibebewegungen der Hande. 

16. IV. Lappisch depressiv; Manieren beim Handgeben; nestelt 
dauemd an ihren Zopfen. Sinnestauschungen bestehen heute nicht. 

17. IV. Oertlich orientiert, zeitlich nicht; verlangt nach Hause; leichte 
motorische Unruhe; Atembeschleunigung wie beim Schluchzen, jedoch ohne 
depressiven Affekt; ist leicht ablehnend. 

18. IV. Erregter; dauernd unruhig; nicht gebunden; flicht ihre Zopfe 
zusammen und trennt sie wieder. Keine Sinnestauschungen. 

19. IV. Lauft anfallsweise im Zimmer auf und ab, stohnt leise. 

20. IV. Unverandert, lauft im Zimmer umher, nestelt an ihren 
Kleidem, monotone AffektauOerung von mafiiger Starke. 

21. IV. Standige motorische Unruhe mit Intensitatswechsel; queruliert 
leise; wippende Rumpfbewegungen; nestelt an den Kleidem. Leichte Erreg- 
barkeit der Vasomotoren; errotet leicht. . 

22. IV. Gibt keine Auskunft; verlangt monoton nach Hause. Ist 
ruhiger, jedoch besteht nahezu dauernd Unruhe der Hande. 

23. IV. Ruhiger, nestelt an den Kleidem; monotones leises 
Wimmern. 

29. IV. Morgens erregter, jedoch ist diese Tagesschwankung nicht 
konstant. 

25. IV. Gibt nur die Fingerspitzen beim Handgeben. Leichte Un¬ 
ruhe; monotones Stdhnen. 

27. IV. Schone Manieren beim Handgeben; ist etwas ruhiger. 

28. IV. Queruliert auf Entlassung; ist zeitlich nicht orientiert; gibt 
keine Auskunft. Vorbeiantworten; monotones Jammern. 

29. IV. Weint „stoBweise“ ohne starken Affekt; ablehnend. 

30. IV. Gibt keine Auskunft; verlangt monoton nach Hause. 

1. V. Gibt die Hand nicht; beantwortet alle Fragen mit ,.ich weiB 
nicht“; ist bisweilen leicht lappisch depressiv. 

3. V. Wird gegen Revers von den Angehorigen herausgeholt. 

Katamnese November 1910. 

Ist ortlich und zeitlich orientiert; rechnet schlecht. Das Gedachtnis 
hat abgenommen. Die Stimmung ist indifferent mit oberflachlichein Wechsel 


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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


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ohne starken Affekt. Sinnestauschungen und Wahnideen bestehen nicht. 
Pat. arbeitet nioht spontan; fiihrt jedoch Auftrage richtig aus; mufl aber 
hierzu angetrieben werden. 1st interesselos, „kalter“ geworden. Zirkum- 
skripte Stimmungsschwaiikungen werden nicht angegeben. 

Das akute Stadium dieser Gruppe ist durch die starke Aus- 
bildung der Sinnestauschungen charakterisiert. Diese betreffen 
samtliche Sinnesqualitaten; und zwar sind es vorwiegend elemen- 
tare Sinnestauschungen aller Sinnesgebiete, die zu gleicher Zeit 
auftreten. Es finden sich auBerdem noch „affektiv gefarbte 
Stimmen 44 (Stimmen Angehoriger, Stimmen. deren Inhalt Selbst- 
vorwxirfe etc. darstellt); seltener finden sich imperative Stimmen. 

Bemerkenswert ist das Vorkommen von Muskelsinnhallu- 
zinationen in nahezu alien Fallen. Im Fall 4 sind die CVaraerschen 
Zungenmuskelsinnhalluzinationen, ebenso die gewohnlich damit 
verbundenen Begleitsymptome des Mitlesens der Stimme. Aber 
Gedankenlautwerden oder Gedankenabziehen auBert diese Kranke 
nicht. Bei anderen Kranken (2, 3,1) waren rein psychomotorische 
nicht sprachliche, Halluzinationen vorhanden, die gelegentlich zu 
motorischen EntauBerungen fiihren. Diese Kranken geben an, 
daB sie bestimmte, meist symmetrische Bewegungen ausfiihren 
mussen. So muBte die Pat. 9 mit den Armen ein paar mal ,,in die 
Hohe schnellen, wie aus Schreck“; eine andere (3) fiihrte gelegent¬ 
lich ,,zuckende Bewegungen 44 aus. Im Fall 4 war dies Symptom 
besonders stark ausgebildet. Im Fall 5 endlich finden wir 
stereotype Bewegungen (Nesteln, Mischen, Reibebewegungen, 
wippende Rumpfbewegungen), denen wir in manchen seltenen 
Mischzustanden des manisch-depressiven Irreseins begegnen; auf 
diese Analogien wird spater noch zuriickzukommen sein. 

Zu gleicher Zeit mit den Sinnestauschungen wird von den 
Kranken physikalischer Verfolgungswahn produziert, es wird 
zwar die korperliche Beeinflussung von ihnen angegeben, auch von 
Verfolgem gesprochen, diese werden jedoch nicht prazisiert; eine 
Kranke sprach von Verfolgiing , ? von mehreren Ortschaften“, eine 
weitere Verarbeitung dieses BewuBtseinsinhaltes findet jdoch 
nicht statt, zur Entwicklung eines sogenannten „Wahnsystems“ 
kommt es nicht. Dies ist um so auffallender, als eine Funktion, 
die beim Zustandekommen zusammengesetzter Wahngebilde von 
groBer Bedeutung ist, hier auch durchweg vorhanden ist. Dies ist 
die depressive und die persekutorische Eigenbeziehung. Eine 
Verarbeitung dieser Umdeutung der Erfahrungen findet jedoch 
ebensowenig statt wie bei den Wahnideen der korperlichen 
Beeinflussung. 

Neben den erwiihnten Wahnideen werden von alien Kranken 
dieser Gruppe intestinale Wahnideen produziert (Wasser in der 
Lunge; Gehirnerweichung, der Kopf ist wie Stein; es geht kein 
Stuhlgang durch etc.). AuBerdem klagen die Kranken liber zahL 
reiche MiBempfindungen im Korper. Sexuelle Halluzinationen 
fehlen. 


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der Dementia praecox. 


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Die Affektlage ist zumeist indifferent mit Neigung zu Um- 
schlag in Depression. Der hierbei produzierte Affekt kann ziemlich 
stark sein, wird jedoch stets monoton geauBert; die AffektauBerung 
ist leicht zu unterbrechen und ist wenig steigerungsfahig. 

Anfallsweise treten starkere Erregungen ,,Angstanfalle“ oder 
Anfalle auf, in denen die Kranken ,,schimpfen“. Zu Affekt- 
handlungen kommt es jedoch selten; eine Kranke beging bei der 
ersten Erkrankung einen lappischen Selbstmordversuch (ging aus 
dem Wasser wieder heraus, weil sie lieber zu Hause sterben wollte). 

Auffassung und Urteilsbildung sind nicht gestort; Gedachtnis- 
storungen und EinbuBe an Kenntnissen lassen sich nicht nach- 
weisen. Das Rechenvermogen pflegt nicht zu leiden. 

Die Remission. 

Diese Gruppe zeigt die wesentliche Stoning auf affektivem 
Gebiet. Die Stimmungslage ist indifferent mit Neigung zu kurz- 
dauemden Stimmungsschwankungen, die spontan oder nach 
Veranlassung auftreten. Diese Affektschwankungen sind seicht, 
„es ist vorfibergehend“; die Kranken sind „kalter“ geworden. Von 
manchen wird angegeben, daB sie intolerant gegen starke Sinnes- 
eindrficke geworden sind. 

Die Kranken sind gleichgiiltiger geworden; sie arbeiten, jedoch 
nicht mehr so viel wie friiher, sie sind ermiidbarer. Die Orientierung 
ist stets erhalten. 

Die Kenntnisse pflegen nicht abzunehmen. Bei einzelnen 
Kranken besteht eine Herabsetzung des Rechenvermogens sowie 
des Gedachtnisses. 

Die Remission kann jahrelang (liber 10 jahre) dieses Bild 
bieten. 

Bei einzelnen Kranken treten die Schwankungen deutlicher 
hervor als kurz dauemde Erregungs- und Depressionszustande. 
Diese stellen, je nach dem Grade ihrer Entwicklung, Abortiv- 
anfalle des akuten Stadiums dar. Eigenbeziehung, elementare 
Sinnestauschungen, intestinale Wahnideen und Sensationen sind 
in diesen Anfallen ebenfalls vorhanden; sie treten nicht in regel- 
maBigen Perioden auf und konnen jahrelang ausbleiben. 

Die Verblodung entwickelt sich allmahlich und auBert sich 
wesentlich in einem Nachlassen der Arbeitsfahigkeit. Diese kann 
isoliert auftreten oder bedingt sein durch das haufige Auftreten von 
Stimmungsschwankungen. Letztere, die wie soeben erwahnt dem 
akuten Stadium sich nahern, werden, wie auch die akuten Stadien 
selbst, in spateren Jahren haufiger, so daB schlieBlich freie 
Remissionen nicht mehr zustande kommen. 

Gruppe II. 

Fall 0. Henrietta M., 37 Jahre alt, ledig. Arbeiterin. (23. VI. 1903 
bis 13. VIII. 1903. 

Eine Schwester der Pat. leidet an Basedow. 


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Pfersdorff. Ueber die Verlaufsarten 


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Pat. war intellektuell gut veranlagt; zur Zeit der Regel war sie stets 
etwas reizbar. 

1896 iiberstand Pat. einen 6 wochentlichen Erregungszustand; ist 
seither ..schwacher im Kopf, vergefllich“. 

1901 und 1902 traten mehrtagige kurzdauemde Erregungs- 
zustande auf. 

Am 17. VI. 1903 wurde Pat. plotzlich nachts erregt, sohrie. zitterte, 
sprach andauernd, ,,gab Antwort“; handelte „verkehrt“. Sah Gestalten, 
,.es ist Krieg, sie kopfen die Leute“, schimpfte, aB wenig. 

Bei der Aufnahme ist die Kranke leicht motorisch erregt; ortlich und 
zeitlich orientiert; rechnet gut. Gibt die Antworten in Frageform; spricht 
dauemd geziert Hochdeutsch, hort Stimmen, „Gutes und Boses, aber das 
Bose schlage ich weg. Das Gute handelt von Naturschonheit, vom lieben 
Gott. von den Vogeln, aber die Natur im Fruhling habe ich nicht geschaut. 
Ich war krank.“ 

In der Folgezeit ist die Stimmung dauemd leicht gehoben ohne starken 
Affekt und ohne Stimmungswechsel. Die Kranke ist dauemd orientiert, 
rechnet gut. Es besteht ein leichter Rededrang, mit Vorliebe fiir Spriiche 
und Redensarten. Bisweilen sind die sprachlichen AeuBerungen ohne er- 
kennbaren Zusammenhang; Pat. queruliert bisweilen. „Ich begehre Luft. 
eine Beichte. einen Geistlichen. einen schonen Wald, einen Tannenwald, aber 
keine sehone Kirche, sie fallt zusammen. Soli ich reden von der Urzeit, von 
der alten Zeit ?“ Gelegentlich spricht Pat. in singendem Tonfall mit nicht 
sinngemaBer Betonung; gebraucht verschrobene Ausdriicke. Hort „zeit- 
weise Stimmen, manchmal Gutes, manchmal Schlechtes. aber sie schelten 
mich nicht mehr“. Vereinzelt Sensationen, „es zappelt iiberair‘. Kurz vor 
der Entlassung arbeitete Pat. etwas, jedoch ohne Konsequenz. Pat. wurde 
ohne Krankheitseinsicht entlassen. 

Katamnese September 1907. 

Pat. ist orientiert; rechnet schlecht. 

Die Stimmung8lage ist indifferent, schlagt leicht in weinerliche 
Depression um. Es besteht eine deutliche Tagesschwankung mit abendlicher 
Euphorie. In unregelma Bigen Intervalien. auch zur Zeit der Regel treten 
mehrtagige depressive Stimmungsschwankungen auf. Pat. nimmt alles 
schwer auf; ist sehr zuganglich, nicht indifferent. Ist unschliissig bei Uner- 
wartetem. Gedachtnisdefekt ..hat keine Gedanken mehr“. Ist unfahig zu 
jeglicher Anstrengung wegen der sehr groflen Ermiidbarkeit. (Wurde von 
Ref. auf dem Felde getroffen, wo sie sitzend den andem bei der Arbeit 
zuschaut.) Keine Cyanose der Hande. Leidet an Kopfschmerzen. Keine 
S innest auschungen. Krankheitseinsicht. 

Fall 7. Katharina G., 29 Jahre alt, verheiratet, Bauernfrau. 

(1. XI. 1903—15. I. 1904.) 

Die Mutter des Vaters ist geisteskrank. Beide Eltem der Pat. sind 
Alkoholiker. 

Bis zur jetzigen Erkrankung hat Pat. psychisch keine Besonderheiten 
geboten; ist intellektuell gut veranlagt. 

1899 heiratete Pat. Im Jahre 1900, 1901, 1903 erfolgten Entbindungen. 
die letzte im Mai 1903. Pat. stillte das Kind bis vor 8 Tagen. Seit 5 Wochen 
war Pat. depressiv, schlief nicht mehr, sprach „verkehrt“; sie auBerte zu- 
meist religiose depressive Wahnideen; in der letzten Zeit horte Pat. Stimmen 
in der Brust. 

Bei der Aufnahme ist Pat. ortlich und zeitlich nicht orientiert; rechnet 
nur mit dem kleinen Einmaleins; die Kenntnisse sind nicht zu priifen. Horte 
drauBen ..Stimmen in der Brust. nicht imOhr“, prazisiert denlnhalt nicht. 
Die Stimmung ist leicht depressiv, ohne starke AffektauBerung. ist angstlich 
bisweilen. Es besteht depressive Umdeutung von Sinneseindriicken. 
..Brennt es denn ? Was lautet es denn ? Ach wie wird es mir ergehen.“ Pat. 
ist leicht gebunden. spricht leise. 


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der Dementia praecox. 


171 


Dieser Zustand hielt, mit leichten Intensitatsschwankungen, ungefahr 
4 Wochen an. In den ersten 14 Tagen war die Orientierung mangelhaft, 
spater nicht mehr; ebenso besserte sich das Rechenvermogen. Gelegentlich 
traten Sinnestauschungen auf. ,.Gedankenreden und Vorsagen in der Brust, 
keine Stimmen in den Ohren. 44 Bisweilen war Pat. subjektiv ratios. Die 
Stimmungslage war uberwiegend indifferent nnd zwar war die Af fek tail Her ung 
sehr gering, auch als die motorisehe Gebundenheit nachgelassen hatte. Es 
besteht dauernd depressive Umdeutung der Ereignisse. ..Was fahren sie 
drauBen ? was tikt die Vlir so ?“ Gelegentlich waren die sprachlichen AeuBe- 
rungen ohne erkennbaren Zusammenhang. Die Kranke war stets zuganglich. 
Andeutung von Vorbeiantworten war vorhanden. Beim Handgeben Manieren. 
Gegen Anfang des Dezember lieB die Gebundenheit nach; die Stimmungs¬ 
lage war indifferent, gelegentlich traten kurzdauernde Angstanfalle auf. bis¬ 
weilen auch war eine deutliche Tagesschwankung mit abendlicher Euphorie 
nachweisbar. In dieser angstlichen Erregung auBerte Pat.: ..Ich meine immer, 
es sei etwas passiert. es muB doch etwas an der Sache sein. 44 Bisweilen wiu*de 
jetzt die Affektauflerung leicht lappisch. Der Tonfall war meist mono ton. 
Einmal schrieb Pat. auf einen Zettel, ..wir miissen alle begraben werden, wir 
Lutherischen 44 . Spater querulierte die Kranke hie und da. jedoch ohne 
Affekt und ohne Naehdruck. Auch wenn Affektauflerungen erfolgten, so 
waren diese auBerst monoton. Nach diesem Stadium, das 1 Monat dauerte, 
in welchem also nur leichte Gebundenheit mit Intensitatsschwankungen bei 
indifferenter Stimmungslage bestand und in welchem Angstanfalle gelegent¬ 
lich auf traten. fogte eine kurze Periode, in der starkere Affektausbriiche bis¬ 
weilen erfolgten, die Stimmung zumeist jedoch indifferent war bei Fehlen 
jeglicher Gebundenheit. Nur klagte die Kranke hie und da liber ..erschwertes 
Denken 44 , rechnet umstandlicher als friiher, jedoch auch jetzt ganz rich tig. 
Die Orientierung war vollkommen. Sinnestauschungen fehlten, nur einmal 
sprach Pat. ..von der Stimme Gottes, die ihr zu Hilfe gekommen ist“. In der 
letzten Zeit klagte Pat. liber Druck im Epigastrium. „ich kann schier nicht 
atmen 44 . Pat. versuchte zuletzt mehrmals, zu arbeiten; sie wurde ungeheilt 
entlassen. 

KcUamnese September 1907. 

Pat. ist ortlich und zeitlich orientiert; rechnet schlechter als friiher, 
besonders im Subtrahieren. Sinnestauschungen bestehen nicht. Die 
Stimmung ist leicht gehoben. ohne starken Affekt. Pat. gibt an. daB sie 
meist ..heiter ist; ohne Grund bin ich nicht traurig; nimrat sich nichts sehr zu 
Herzen; ist im Moment reizbar, aber es halt nicht an 44 . Das Gedachtnis ist 
schlechter geworden; Pat. verlegt oft Gegenstande, „ich sollte weniger 
zu denken haben.“ Ist bei Unerwartetem fassungslos, „ich kann nicht mehr 
auf den Markt, wenn etwas mehr dazu kommt, weiB ich mir nicht zu helfen, 
kann nicht geschwind genug denken 44 . 

Pat. arbeitet in der Haushaltung, ist leicht ermiidbar. Bei Ermiidung 
Anfalle von Herzklopfen. 

Gelegentlich Anfalle von HeiBhunger oder Gefiihl von Vollsein nach 
geringer Nahrvmgsaufnahme. 

Krankheitseinsicht, ..ist schwach im Kopf, es sind die Nerven. 44 Pat. 
schlaft gut. Zur Zeit der Regel ,.krank 44 . 

Fall 8. Aurelie M., 44 Jahre alt, verheiratet, Kochin. (18. X. 1902 
bis 8. H. 1903.) 

Eine Cousine (miitterlicherseits) erkrankte psychisch im Wochenbett. 
Pat. war eine mafiige Schiilerin; spater als Kochin in Stellung. Heiratete mit 
24 Jahren. 3 Entbindungen ohne Besonderheiten; die letzte im Jahre 1893. 

Seit imgefahr einem Jahre auBert Pat. Beeintrachtigungsideen. ,,Die 
Leute sind gegen inich, man verspottet mich. 44 Seit einigen Tagen akut ein- 
setzender Erregungszustand; Pat. lief im Zimmer auf und ab; aB nicht mehr; 
seit 24 St unden sprach Pat. nicht mehr. 

Bei der Aufnahme in die Klinik bestand eine hochgradige motorisehe 
Erregung, die nicht zu beeinflussen war. Pat. muBte mehrere Tage kiinstlich 
emahrt werden. Sie sprach tagelang nicht. Akustische Sinnestauschungen. 


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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


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,,alles ruft.“ Bisweilen antwortete Pat. den Stimnien. Vereinzelte somato- 
psychische Wahnideen. „hat einen anderen Kopf erhalten“. Xach dieser 
Erregung trat ein Zustand von Gebnndenheit auf mit geringem depressivem 
Affekt. Pat. hort schimpfende Stimnien, ,.die haben vielleicht recht 44 . Hort 
Stimmen ..hier und dort 44 . Hierbei ist die Kranke ortlich nnd zeitlich nicht 
orientiert; rechnet nicht; ist zuganglich; spricht mit Fliisterstimme. Ge- 
iegentlich ist sie leicht manieriert. grimassiert. Auch nach Xachlassen der 
Gebnndenheit blieb die Orientierung unsicher. Die Stimmung wurde in¬ 
different, gelegentlich Jacht Pat. ohne Affekt; benimmt sich lappisch, bis- 
weilen noch mutacistisch. Die Sinnestauschungen fcestanden bis zum SchluB. 
vorwiegend akustisch, hie und da treten optische Sinnestauschungen auf. 
Die Kranke wurde in die Bezirksirrenanstalt iibergefiihrt. 

Kaiamnese im September 1907. 

Pat. wurde Pfingsten 1903 aus Stephansfeld entlassen; hat dort sehr an 
Gewicht zugenommen. 

Ist ortlich und zeitlich orientiert; rechnet schlecht; die Kenntnisse ent- 
sprechen dem Stande. Sinnestauschungen fehlen. 

Pat. ist indifferent geworden oder leicht euphorisch; ,.ich war friiher 
viel weichherziger 44 . Spricht nicht viel. Gelegentlich treten Verstimmungen 
mit Angstanfallen auf; ist jedoch „nicht richtig traurig, eher matt 44 . Herz- 
klopfen und Kopfschmerzen treten auch vereinzelt auf. Pat. ist schreck- 
haft geworden ,,es sind die Xerven 4 *, ist vergeBlich, schwer besinnlich ge¬ 
worden; verlegt Gegenstande. Besorgt die Haushaltung mit Interesse, kann 
aber lange nicht mehr so viel arbeiten wie friiher. 

Pall 9. Marie R, 26 Jahre alt, verheiratet, Fabrikarbeiterin. 
(4. I. 1903—1. III. 1903.) 

Keine Hereditat. 

Pat. war eine maBige Schiilerin; mit 14 Jahren iiberstand sie einen Ge- 
lenkrheumatismus. Seitl896 6Entbindungen. Der letzte Partus erfolgte im 
Marzl902; kurz vor demselben starb der Vater der Kranken. In den 2 letzten 
Wochen der Schwangerschaft war Pat. erregt; sie fiihlte sich ,,fortgetrieben“. 
Litt, nach der Entbindung. viel an Kopfschmerz, auBerte hypochondrische 
Sensationen, weinte viel, jammerte mono ton, horte Stimmen. Gelegentlich 
1—2 Tage ruhiger. Am 4. VIII. 1902 schwerer Selbstmordversuch; Pat. 
legte sich auf die Schienen; wurde leicht am Kopf verletzt. Wahrend der 
ganzen bisherigen Dauer der Krankheit traten 2—3 tagige Remissionen auf. 
Die akustischen Sinnestauschungen bestanden dauernd. In den letzten Tagen 
vor der Aufnahme unternahm Pat. mehrere Suicidversuche. Bei der Auf- 
nahme war die Kranke ortlich und zeitlich nicht orientiert; rechnet nicht; 
die Kenntnisse sind nicht zu priifen. Die Stimmung ist indifferent, starkere 
Affektau Oerungen fehlen bei bestehender leichter Gebundenheit. Manieren 
beim Handgeben. Hort dauernd Stimmen in den Ohren, ,,geh fort 44 . Auch 
Ohrensausen. Pat. war langere Zeit noch nicht orientiert, rechnete gut hier¬ 
bei. Die Stimmen lie Ben rasch nach. Die Stimmung war indifferent. Xach 
einem Monat laBt die motorische Gebundenheit nach. Die Kranke ist in¬ 
different, ,,ich frage nach nichts, friiher war ich nicht so“. Ein oberflach- 
licher Stimmungswechsol ist leicht zu erzielen, tritt bisweilen auch spontan 
auf. Pat. gibt Auskunft iiber die Stimmen, die im linken Ohr saBen. ,,Als 
ich damals mich auf die Schienen warf, horte ich deutlich rufen ,,Geh. du 
muBt es n\achen.“ Pat. auflert vereinzelte hypochondrische Sensationen. 
Der oberflachliche Stimmimgswechsel tritt in der Folgezeit noch deutlicher 
hervor. AuBerdem stellen sich kurzdauemde Angstanfalle ein, welche-Pat. 
wie folgt schildert: „Es beginnt mit Unruhe am Herzen, es zieht wie ein Ge- 
wichtsstein, es klopft, ich habeMiihe, zu atmen. ich hore Surren im Ohr und 
Stimmen; nachher bin ich wie dumm.“ Keine Krankheitseinsicht. 

Die Kranke wurde gegen Revers aus der Klinik genommen. 

Kaiamnese September 1907. 

Pat. hat seither 3mal geboren; war im Puerperium jedesmal schwer- 
miitig. 


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der Dementia praeoox. 


173 


Pat. ist leicht ermiidbar; ,.ich kann nicht mehr die Halfte schaffen 
wie friiher, besonders nicht mit dem Kopf“. GroBes Ruhebediirfnis. 

Pat. rechnet schlechter als friiher. 

Ist indifferent, „ich nehine nichts mehr schwer auf“. 

Gedachtnisschwache, „ich vergesse alles sofort“. 

Die Stimmung ist leicht gehoben bei augenblicklicher Reizbarkeit. 
..Weint fiir jede Kleinigkeit, aber es geht raseh vorbei.“ In unregelma Bigen 
Intervallen, besonders zur Zeit der Regel. treten mehrtagige Depressionen 
mit Eigenbeziehung auf; ,.vor der Krankheit hatte ich das nicht 

Tagesschwankung mit abendlicher Besserung. Druckgefiihl im Epi¬ 
gastrium. In der Depression und auch ohne diese haufig Kopfschmerzen. 
Andeutung vasomotorischer Storungen; „die Hande schlafen leicht ein 4 \ 

Gewichtsschwankungen fehlen. Sinnestauschungen sind nicht mehr 
aufgetreten. 

FaU 10. Karoline B., geboren 1870, ledig, Kochin. (1905; 1908.) 

Hereditat ist nicht nachweisbar. 

Pat. ist intellektuell gut veranlagt; zeigte keine Charakteranomalien. 
1905 wurde Pat. 2 Monate in der StraBburger Klinik behandelt. Bei der Auf- 
nahme war sie ortlich und zeitlich orient iert. Die Stimmung ist mono ton 
depressiv ohne starken Affekt. Pat. auBert depressive Vors tell ungen, „es ist 
Krieg“. Gelegentlich treten Angstzustande auf, Angst, sterben zumiissen. 
Es sind Stimmen vorhanden. Pat. prazisiert jedoch den Inhalt nicht. Pat. 
klagt liber zahlreiche intestinale Sensationen. In den ersten Wochen des 
Aufenthaltes in der Klinik bestand eine monoton motorische Erregung 
(,.Unruhe“); spater trat ein Stadium mit motorischer Gebundenheit auf. 
Wahrend der Erregung bestand eine starke persekutorische Eigenbeziehung, 
..es sindFeinde iiberall“. Bei derEntlassung bestand indifferente Stimmungs- 
lage mit Neigung zu Depression. Die Kranke ist orientiert, rechnet schlecht; 
es besteht Schwerbesinnlichkeit; Sinnestauschungen und Wahnideen fehlen. 
Nach der Entlassung hat Pat. gearbeitet, ist jedoch viel enniidbarer ge- 
worden als friiher. Es traten bei ihr periodisch (gewohnlich 1 mal im Jahr) 
Zustande von Gebundenheit imd depressiver Verstimmung auf. 1908 
steigerten sich die Symptome; es trat ein akuter Anfall auf, der die Kranke in 
Anstaltsbehandlung fiihrte. 1911 wurde Pat. invalidisiert. Die Arbeitsfahig- 
keit war in den letzten Jahren starker geworden. Nach geringfiigiger Arbeits- 
leistimg ermiidet Pat. Die Stimmung ist indifferent mit Neigung zu l T m- 
schlag in Depression. Die AffektauBerung ist monoton. Es besteht eine ge- 
ringe Gedachtnisschwache. Pat. ist schwerbesinnlich; sie ist fassungslos 
bei unerwarteten Ereignissen. Es besteht Krankheitseinsicht. 

Das akute Stadium 

ist charakterisiert durch die depressive Stimmungslage. Der 
Affekt ist nicht sehr stark. Wir konnen 2 Arten der Affekt- 
produktion unterscheiden, die natiirlich ineinander iibergehen. 1. die 
depressive Erregung, in der eine auBerst monotone, nur maBig 
starke AffektauBerung zu beobachten ist, die sich leicht unter- 
brechen laBt; 2. anfallsweise auftretende angstliche Erregung. 
In diesen letzten Fallen pflegt in der Zwischenzeit eine ausgepragte 
Stimmungslage zu fehlen, zum Teil wegen der gleichzeitig be- 
stehenden motorischen Gebundenheit. 

Das motorische Verhalten auBert sich entweder als monotone 
Erregung, als ,,Unruhe“, oder es besteht Gebundenheit. In den 
Zustanden von Gebundenheit bestehen keine negativistischen 
Symptome. 

Charakteristisch ist das massenhafte Auftreten von Sinnes¬ 
tauschungen, vorwiegend auf akustischem Gebiete. Optische 


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174 


Pferadorff, Ueber die Verlaufsarten 


Sinnestauschungen finden sich nur vereinzelt. Die akustischen 
Sinnestauschungen stellen Stimmen beschimpfenden Inhalts dar 
oder sind depressiv gefarbt; es findet sich auch Gedankenlaut- 
werden und Zwiesprache fiihrende Stimmen. Wichtig sind die ver- 
einzelten, aber ziemlich lange vorhaltenden intestinalen Wahn- 
ideen. 

Hervorzuheben ist femer die in unseren Fallen stets vor- 
handene depressive Eigenbeziehung bei relativ geringem depres- 
sivem Affekt; die symbolische Andeutung der Wahmehmungen, die 
uns von der klimakterischen Melancholie her bekannt ist, dort 
jedoch mit lebhaftem Affekt einhergeht, finden wir auch hier. 
Die Orientierung, insbesondere die zeitliche, ist im akuten 
Stadium unserer Falle dauernd gestort. Die rein intellektuellen 
Leistungen, insbesondere die Reproduktion eingelernter Asso- 
ziationen, sind nicht herabgesetzt, auch nicht wesentlich in ihrem 
Ablauf verlangsamt. Die Auffassung ist nicht gestort. Es be- 
stehen depressive Wahnideen bei geringem Affekt und fehlenden 
Hemmungsvorgangen; auchBefiirchtungen fiir dieZukunft kommen 
vereinzelt vor. 

Der weitere Verlauf der Psychose stellt sich nun dar wie folgt: 
Die Gebundenheit oder die depressive Erregung laBt unter Schwan- 
kungen, die meist nach Tagen sich bemessen, allmahlich nach, 
jedoch kehren die AngstanfaUe ziemlich lange wieder. 

Die Remission 

ist ausgezeichnet durch eine indifferente Stimmungslage, welche 
die Kranken selbst als Gleichgiiltigkeit bezeichnen. Diese in¬ 
differente Stimmung schlagt sehr rasch in weinerliche Depression 
um. In unregelmaBigen Perioden treten spontan oder nach aus- 
losenden Momenten langer dauernde Depressionszustande auf, die 
sich in ihrer Symptomatologie mit dem ersten Anfall decken. 

Auf intellektuellem Gebiet auBert sich der Defekt in einer ge- 
ringen Herabsetzung des Rechenvermogens, in einer Erschwerung 
der Gedachtnisleistungen, in der Unfahigkeit, sich ,,rasch zu fassen“. 

Weit wichtiger als die eben envahnt-en Defektsymptome ist der 
NachlaB der psychischen Leistungsfahigekit, dem die Kranken mit 
voller Kritik gegeniiberstehen. Die Kranken ermiiden viel rascher 
als friiher, konnen ihren Beruf, dessen Anforderungen sie qualitativ 
nach wie vor gewachsen sind, quantitativ nicht mehr ausfullen. 

Im Laufe der Jahre nimmt die Steigerung der Ermiidbarkeit 
zu, so daB die meisten Kranken vollig arbeitsunfahig werden; die 
iibrigen Symptome vertiefen sich nicht. Der intellektuelle Defekt 
pflegt iiberhaupt sehr gering zu sein. 

Gruppe III. 

Fall 11. Sophie Sp., Landwirtstochter, geb. 1865, ledig. (15. XI. 
1897—20.III. 1898; 27.III. 1899—1. IV. 1899; 20. VIII. 1905—15. XI. 1905.> 

Hereditat ist nicht vorhanden. Pat. ist intellektuell gut veranlagt; 
lemte gut in der Schule; sie bot psychisch keine Anomalien, war sehr 
.,frornm“. 


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der Dementia praecox. 


175 


Mai 1897 fiel den Angehorigen ein haufiger Wechsel der Stimmimg auf. 
Die Kranke klagte iiber MiBempfindungen im Korper, Miidigkeit imd Kalte- 
gefiihl. In den letzten Wochen verschlimmerte sich der Zustand; Pat. 
auBerte Suizidideen, sprach viel von religiosen Dingen. 

In der Klinik wurden keine korperlichen Krankheitserscheimmgen 
festgestellt. Es bestand eine maBig starke Gebundenheit; die Kranke auBerte 
,,religiose Verstindigungsideen, hatte keine Hoffnung mehr 44 . AnBerdem 
auBerte sie Sensationen in Kopf imd Brust und klagte iiber Herzklopfen. 
In der Folgezeit wechselte das Befinden. Zeit-weise trat Verstimmung auf 
mit Selbstvorwiirfen wie z. B. sie sei nicht aufrichtig. habe einen ganz ver- 
anderten. ,,verschlechterten“ Charakter; dabei auBerte Pat. Klagen iiber 
MiBempfindungen im Korper. Nach 1—2 Tagen trat dann wieder Wohl- 
befinden auf, Pat. war heiter, still, beschaftigte sich mit Arbeit und Lektiire. 
Dieser Stimmungswechsel war wahrend der ganzen Dauer des Aufenthaltes 
in der Klinik zu beobachten, ohne daB hier eine regelmafiige Periodizitat zu- 

S getreten ware. In einer depressiven Phase gab Pat. spontan an, daB sie 
Selbstvorwiirfe wegen eines Fehltritts im 17. Lebensjahre mache. Im 
iibrigen war Pat. energielos und beschaftigte sich nicht; zur Zeit der Regel 
.,krank“. In den manischen Phasen ist Pat. ,,ausgelassen“. Die Stimmung 
schlagt jedoch leicht in Depression um. 

Am 20. III. 1898 wurde Pat. entlassen. Zu Hause war Pat. zunachst 
wieder arbeitsf ahig; sie beschaftigte sich mit Krankenpflege und schreibt 
einmal einen ,,zufriedenen 44 Brief an den Arzt. Wahrend des Winters 
auBerte Pat. wiederholt die Furcht, an einem Himschlag sterben zu miissen. 
Anfang Februar 1899 starb die Mutter der Kranken plotzlich an Pneumonic. 
Infolge der Aufregung und der erwachsenden Mehrarbeit wurde Pat. wieder 
reizbar, leicht verstimmt und auBerte spontan, sie fiihle sich schlecht, sie 
miisse nach StraBburg zuriick. Bei dem diesmaligen Anstaltsaufenthalt war 
Pat. vorwiegend depressiv, jedoch war der Stimmungswechsel stark ausge- 
pragt; in der expansiven Stimmung war Pat. erotisch und wollte Mitkranke 
zu ihrer Religion bekehren. Nach der Entlassung am 10. IV. 1899 schrieb 
Pat. einen sehr verschrobenen Brief an den Arzt mit stark entwickelter Eigen- 
beziehung und wahnhafter Umdeutung der Ereignisse. 


Bei der Aufnahme 1905 ist Pat. ortlich imd zeitlich orientiert; rechnet 

f ut, auch Subtraktionen. Die allgemeinen Kenntnisse entsprechen dem 
tande. Die Stimmung ist leicht gehoben mit Neigung zu Stimmungswechsel. 
Der Affekt ist gering. Es besteht ein leichter Rededrang mit Ideenflucht, die 
im Verhaltnis zum Rededrang sehr stark ausgepragt Lst. Es besteht Neigung 
zu Wortzusammensetzung. z. B. ..Wechsel, Wechselbalg und Wechselbank 44 . 
Die Betonung wechselt nicht sinnentsprechend; auch die Schnelligkeit der 
Wortfolge entspricht nicht dem Inhalt der AeuBerimg; Pat. dehnt plotzlich 
die Silben. wie „klagend“. Krankheitseinsicht besteht nicht. Der Zustand 
anderte sich wahrend des Aufenthaltes in der Klinik nicht wesentlich, nur 
wurde spater die Stimmung indifferenter. Es bestand eine Vorliebe fiir 
allgemeine Redensarten. Bei intaktem Satzbau war die Ausdrucksweise 
nicnt prazisierend. Pat. gab auf Befragen an. dafl bisweilen beim Sprechen 
das ,,richtige“ Wort ihr nicht einfallt. Von Zeit zu Zeit ,,versteht“ Pat. auch 
gesprochene Worte nicht. Wahnideen und Sinnestauschungen bestanden 
nicht. Bei der Entlassung bestand eine gewisse Krankheitseinsicht. 

Seit der Zeit war Pat. mehrere Jahre zu Hause, arbeitete jedoch sehr 
wenig. vollfuhrte Handl ungen ohne ausreichendes Motiv, untemahm zweck- 
lose Reise; die Stimmimg war zumeist lappisch heiter. 

1908 wurde sie wieder starker krank und in die Anstalt Stephansfeld 
aufgenommen. Sie war zunachst depressiv. hierauf manisch; querulierte an- 
fallsweise (,,schimpft 44 ). Bei der Exploration am 28. 1. 1908 war sie ortlich 
und zeitlich orientiert; rechneto gut; die allgemeinen Kenntnisse haben nicht 
abgenommen. Sinnestauschungen bestehen nicht, ebenso wenig Wahnideen. 
Pat. gibt an, daB sie friiher einmal Stimmen gehort habe. Die Sprechweise ist 
leicht geziert, der Tonfall getragen; bisweilen spricht Pat. wie ,,miide‘\ 


MonaUschrift f. Psyohiatrie u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 3. 


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176 Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 

Gelegentlich spricht sie nicht; andere Male besteht ein innerer Zwang zum 
Sprechen; es kann jedoch nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob es sich 
urn Zungenmuskelsinn-Halluzinationen handelt. Pat klagt iiber intestinale 
Sensationen; Wahnideen bestehen auch auf diesem Gebiete nicht. 

Fall 12. Carl W.. Kaufmann, geb. 1855. verheiratet. (28. XI. 1888 
bis 16. XII. 1888; 2. II. 1892—10. II. 1892.) 

Yater starb dnrch Suizid; ein Bruder leidet an Schwermut. Pat. war 
in seiner Jugend psychisch nicht auffallend; er war intellektuell gut veran- 
lagt. Nach seiner Riickkehr a us Amerika vor 14 Jahren war er verandert; 
klagte viel liber Kopfschmerzen. Beschwerden im Hals und im Leib; er war 
scheu und ..ging nicht gem unter die Leute“. Briitet oft stumm vor sich hin. 
ist reizbar und zum Streit geneigt. 1888 wurde er wegen eines Depressions- 
zustandes 4 Wochen in der hiesigen Klinik behandelt und vom Anfall geheilt 
entlassen. 1892 trat wieder eine depressive Verstimmung auf; Pat. sprach 
von Selbstmord. machte jedoch keinerlei Versuch. 

In der Klinik war Pat. ortlieh imd zeitlich orientiert; das Rechen- 
vermogen Lst auffallend schlecht; die allgemeinen Kenntnisse sind vorhanden. 
Wahnideen imd Sinnestauschungen fehlen. Es besteht wahrend der ganzen 
Dauer des Anstaltsaufenthaltes eine lebhafte motorische Unruhe verbimden 
mit starkem Angstgefiihl. Pat. auBert hypochondrische Klagen, die Zunge 
brennt vor Hitze. er verpsiirt Stiche im Kopf. Eigenbeziehimg ist vorhanden. 
Gibt an. dafl er von den Wartern bestohlen worden sei. Gelegentlich Selbst- 
anklagen. darliber, daB er nicht die richtigen Heilverfahren gewahlt 
habe. Pat. wurde ungeheilt entlassen. Auf korperlichem Gebiete waren keine 
krankhaften Erscheinungen festzustellen. Es bestand in den Angstanfallen 
ein geringer Tremor der Finger und der Zunge. 

Katamnese 1904. Die Stimmungslage ist indifferent, bisweilen leicht 
gehoben. Es besteht etwas Gedachtnisschwache; der Kranke spricht hastig, 
mit Yorliebe fur allgemeine Redensarten und Spriiche. Ticartige Bewegungen 
der Gesichtsmuskeln V r olle Arbeitsfahigkeit (Kaufmann auf dem Lande). 

1905 psychische Erregung im AnsehluB an einen Bruch des linken 
Untorarmes. Pat. wurde mehrmals in der psychiatrischen Poliklinik unter- 
sucht. Er war ortlieh und zeitlich orientiert. Reehnet sehr langsam, aber 
richtig. Die zeitliche Orientierung schwankte. Sinnestauschungen und 
Wahnideen bestanden nicht. Es war wahrend 3 Wochen eine depressive 
Erregung vorhanden. wahrend welcher eine starke motorische Unruhe mit 
lebhaften mimischen Bewegungen bestand. Die sprachlichen AeuBerungen 
waren umstandlich, umschreibend. bei starkerer Erregimg ohne erkennbaren 
Zusammenhang. so daB stellenweise ,,Wortsalat“ bei erhaltenem Satzbau 
produziert wurde. Korperliche Storungen fanden sich nicht. Pat. arbeitet 
seither; ist jedoch leichter ermiidbar wie frliher imd reizbar. Periodische 
regelmaBige Symptome fehlen. Pat. klagt viel iiber Kopfschmerzen imd 
Mattigkeit der Beine. 

Fall 13. Magdalene M.. geb. 1860. ledig, Dienstmagd. (17. X. 1883 
bis 12. II. 1884.) 

Keine Hereditat. 

Pat. war von jeher leicht schreckhaft. Im 13. Jahre war Pat. imAnsch lull 
an einen Schreck 6 Wochen lang angstlich erregt. Korperliche Krankheiten 
fehlten; auBer der erwahnten Schreckhaftigkeit bot Pat. psychisch keine Be- 
sonderheiten. 1882—1883 als Dienstmadchen in Stellimg. Von Ostem 1883 
ab blieb sie zu Hause; sie wurde allmahlich ,.phlegmatisch“. hatte keine 
Lust mehr zur Arbeit. Als sie im August 1883 nach Paris in Stellung ge- 
gangen war, blieb sie nur 8 Tage dort. Nach der Riickkehr war Pat. erregt. 
sang. Dann trat eine depressive Verstimmung auf mit angstlicher Erregung. 
Die Kranke produzierte Selbstvorwiirfe. Der Schlaf war unregelmaflig. 
Pat. vollfiihrte Streiche. ..stahl 44 sich die Nahrung zusammen. Kurz vor der 
Aufnahme war Pat. schon ruhiger. 

In der Klinik war Pat. dauemd ortlieh und zeitlich orientiert; Sinnes- 
tauschungen und Wahnideen wurden nicht beobachtet. Die Stimmung war 
auBerst labil mit maBig starkem Affekt. Zur Zeit der Regel steigerte sich die 


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der Dementia praecox. 177 

Erregung. Es bestand eine gewisse Krankheitseinsicht fur die Stimmungs- 
schwankungen. 

Die Katamnese , die 1904 (20 Jahre nach der Entlassung) erhoben wurde, 
ergab. daB Pat. bis in die letzten Jahre gearbeitet hatte. jedoch auBerst 
hanfig die Stellung wechselte. 1m Jahre 1890 trat eine starke Gewichts- 
zunahme auf. 1904 wurde Pat. polizeilieh in die Heimat befordert, weil sie 
sich herumtrieb. Sie arbeitete zu Hause nicht; ist vollig indifferent, eupho- 
risch ohne Umschlag und ohne Affekt; ist orientiert, rechnet nieht. Wahn- 
ideen und Sinnestauschungen bestehen nicht. Die sprachlichen AeuBerungen 
sind bei erhaltenem Tonfall vollig inkoharent (Wortsalat 

Fall 14. Celine Ch., geb. 1880, ledig, Lehrerin. (13. XII. 1905 bis 
10. II. 1906.) 

Keine Hereditat. 

Pat. war intellektuell gut veranlagt; sie bestand das Lehrerinnen- 
examen mit 16 Jahren; war hierauf 3 Jahre Lehrerin in einem Schlosse in 
Frankreich; in der Nahe befand sich ein Kloster. Pat. lief nun in der letzten 
Zeit sehr oft in das Kloster. betete viel auf den Knien, „scheuerte sich die 
Knie wund 44 . Betete ..fiir alle Sunder der Welt 44 ; fastete; las ein Buch „iiber 
das Leben der Schwester Ste. C61ine de Bordeaux 44 . Seit 3 Monaten auBert 
Pat. religiose Selbstvorwiirfe, ,,befleckt alles 44 , wollte nicht mehr essen; die 
Stimmung war zumeist depressiv; Pat. auBerte Beeintrachtigungsideen. 
..Die Gendarmen stehen vor dem Haus und stechen mir die Augen aus. 44 
Pat. auBerte femer somatopsychische Wahnideen, ,,die Gestalt ist verdreht**, 
,,wenn ich esse, zerspringe ich“. Der Zustand war auBerst wechselnd, jedoch 
meist depressiv, ,.das Haus springt in die Luft, die Angehorigen sind Teufel 44 . 

In der Klinik ist Pat. ortlich orientiert, zeitlich nur zum Teil; kann 
den Wochentag nicht angeben; rechnet richtig, auch Subtraktion. Die ail- 
gemeinen Kenntnisse sind vorhanden (Lehrerin!) Die Stimmung ist depressiv 
ohne starke AffektauBerung; Pat. auBert Versiindigimgsideen und Selbst- 
vorwiirfe, ..ist unkeusch 44 ; hat sich vor 3 Monaten in ihren Beichtvater ver- 
liebt und es ihm auch gebeichtet; ist deshalb „impure‘ 4 . Glaubt peschwangert 
zu sein durch den Beichtvater. Es bestehen MiBempfindungen lm Unterleib, 
die Pat. jedoch nicht we iter prazisiert. Akustische oder optische Sinnes¬ 
tauschungen fehlen. 

19. XII. Oertlich orientiert; zeitlich Tag nicht gewuBt. Rechnet 
richtig, auch Subtraktion. Pat. ist leicht gebunden, etwas manieriert. Die 
Stimmung ist gehoben ohne Aftekt; Pat. auBert somatopsychische Wahn¬ 
ideen. ,.ist zwar nicht mehr schwanger, wird aber zerspringen; ist ganz aus 
Eisen. ,,je suis un etre fait de fer“. Sinnestauschungen sind nicht fest- 
zustellen. 

20. XII. AeuBert somatopsychische Wahnideen; ,,AJle meine Glieder 
sind fort; ich kann nicht sterben; vor 3 Monaten gehorte ich noch zu den 
Sterblichen; meine Arme sind zwar beweglich, aber doch aus Eisen; bisweilen 
ist der Arm jedoch ganz steif. Ich lache gegen meinen Willen; ich bin ge- 
zwungen. zu lachen. ..Ich bin gezwungen durch ein auBerordentliches 
Wesen; es muB eine auBerordentliche Welt geben, die ich nicht kenne. 
Wollen Sie mich erspringen lassen ? Ich fiihle, daB ich zerplatzen werde. 44 

25. XII. Oertlich orientiert, zeitlich Tag falsch angegeben; rechnet 
richtig. Pat. ist meist lappisch euphorisch und auBert bei dieser Affektlage 
somatopsychische Wahnideen: „Ich glaube, daB ich nachstens zerspringen 
werde; ich wiirde lieber leben, als zerspringen; ich bin aus adliger Famflie, 
aus einer Familie von Herzogen; ich war mein ganzes Leben lang verfolgt 
(prazisiert die Verfolger nicht). Ich glaubte, ich ware vom Beichtvater 
schwanger, hierauf vom Teufel, dann von einem Schwein. Man hat mir ge- 
sagt, es sei nicht wahr, aber mein Herz schwoll an. Ich lache, ohne es zu 
wollen. 44 

2. I. Die Wahnideen wechseln nach Tagen; das Benehmen ist leicht 
gebunden, die Sprechweise geziert, ,,Mon corps se fortifie et l’eclatation 
(Wortneubildung!) va devenir de plus en plus difficile. Der Oberkiefer ist 
vorgeriickt, der Kopf dreht sich um, und ich bekomme Knochenbriiche an 

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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


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beiden Ohren. Das Knochenskelett ist zwar nicht aus Eisen. aber es ist 
Eisen in meinem Korper; wenn ich etwas einnehme, ist es iramer wie eine 
Maschine, die auf- und zugeht, ich spiire stets den Larynx. Mein Kopf halt 
beinahe nicht mehr, er hat keine Stiitze mehr am Korper. 4 * 

16. I. Oertlich und zeitlich orientiert; rechnet richtig. Die Stimmungs- 
lage ist indifferent oder lappisch gehoben. Pat. auBert Selbstvorwiirfe ohne 
starken Affekt. ,,Es sind kontinuierliche Profanierungen. die Personen, mit 
denen ich spreche, profaniere und impragniere ich. Deshalb hat mein Korper 
auch diese Gestalt angenommen. Die ganze Welt wird zerstort werden. 
Als ich Rennes verlieB. habe ich die Sprengkraft (la force dilatation) ver- 
spiirt. In Kolmar habe ich die Sprengung zuriickgehalten. * ‘ 

Katamnese im November 1907 . 

Pat. ist ortlich und zeitlich orientiert; rechnet gut; es besteht kein 
Gedachtnisdefekt nach EinbuBe an Kenntnissen. Die Stimmungslage ist in¬ 
different, eher leicht gehoben. Pat. ist gleichgultiger geworden gegen 
Fremdes. Anfallsweise tritt Herzklopfen sowie Kopfschmerzen und MiB- 
empfindungen in den Armen auf. Pat. ist nicht imstande, auch nur kurze 
Zeit sich geistig anzustrengen; sie gibt hie und da eine englische Stunde- 
RegelmaBig periodische Symptome fehlen. 

Katamnese im November 1908. 

Arbeitet mehr, jedoch lange nicht so viel wie vor der Psychos©; ist er- 
miidbarer wie friiher. Die Stimmungslage ist indifferent, eher leicht eupho- 
risch; Pat. ,,weint nicht leicht; ist ,harter‘ geworden wie fruher“; ,.je suis 
devenue plus stolque. 44 Zur Zeit der Regel keine Besonderheiten. Ge- 
legentlich treten Kopfschmerzen und MiBempfindungen im Korper aufeine 
Schwere im Kopf, eine Spannung in den Augen und in den Armen 44 . Hat an 
Gewicht zugenommen. Das Benehmen ist leicht geziert; es besteht 
Vorliebe fiir allgemeine Redensarten. Pat. ist fassungslos bei Unerwartetenu 

Spontan treten keine Schwankungen des Zustandes auf. 

Katamnese Mdrz 1911 . 

Hat im Jahre 1910 eine mehrmonatliche (4) Depression iiberstanden 
mit somatischen Sensationen; ohne Sinnestauschungen. Ist jetzt in- 
differenter Stimmung ohne Schwankungen; das Benehmen ist leicht geziert. 
Pat. ist ortlich und zeitlich orientiert. Die Kenntnisse sind vorhanden. Pat. 
gibt an, bisweilen „schwerbesinnlich“ zu sein. Gelegentlich treten MiB¬ 
empfindungen im Kopf und in den Extremitaten auf. Pat. arbeitet, ist aber 
sehr ermiidbar; ist gleichgultiger geworden. 

Fall 15. Irma Bl., geb. 1873, verheiratet, 3 Kinder. (25. IX. 1902 bis 
26. XI. 1902.) 

Eine Schwester des Vaters ist geisteskrank gewesen; die Mutter der 
Pat. ist ,,nervos“. 

Pat. ist intellektuell gut veranlagt. War zur Zeit der Regel stets etwas 
reizbar. Anfang September 1902 wurde Pat. ohne erkennbare Veranlassung 
nachts plotzlich erregt, hielt ihr Kindans Fenster imd schrie: ,,Der Mond 
scheint, man muB beten.“ Starrte stundenlang auf das Fenster. Be- 
schaftigte sich nicht mehr. Rief nachts nach den Kindem. Sprach ohne 
ieglichen Zusammenhang; Wahnideen wurden nicht geauBert. Trank viel 
Wasser. 

Wahrend des Aufenthaltes in der Klinik war Pat. dauemd ortlich und 
zeitlich orientiert. Es bestand eine maBige motorische Erregung, die sich 
wesentlich als Rededrang auBerte. Die Aussprache war scharf artikuliert, der 
Wortabstand etwas verlangert; der Tonfall war ..gemessen 44 . Die Aus- 
drucksweise periphrasierend, mit umschreibenden Wendungen und Wahl ab- 
sonderlieher Ausdriicke;,,will hermetisch geheilt werden 44 ; es bestand Vor¬ 
liebe fiir allgemeine Spriiche und Redensarten. Die Bewegungen waren etwas 
verlangsamt und geziert. An manchen Tagen bestand deutliche Gebunden- 


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der Dementia praecox. 


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heit mit Nahrungsverweigerung. Pat. muBte mehrmals mit der Schlundsonde 
emahrt werden. Pat. beschaftigte sich nicht. Die Stimmungslage war zu- 
meist leicht gehoben ohne Neigung zu Schwankung und ohne Starke des 
Affekts. Wahnideen und Sinnestauschungen fehlten stets. Gelegentlich 
traten intestinale Sensationen auf. 

Bei der Entlassung war ein Ausfall an Kenntnissen nicht nachweisbar. 

Katamnese. 

Pat. hat seither nur nach Tagen sich beschaftigt. 1st in unregelmaBigen 
Intervallen, meist zur Zeit der Regel, reizbar. 1st ,,launisch‘\ schwerbeein- 
fluBbar. Halt peinlich an ihren Gewohnheiten fest. Von Sinnestauschungen 
oder Wahnideen ist nichts festzustellen. Ein Ausfall an Kenntnissen laBt 
sich nicht feststellen. In den letzten Monaten sind die Zeiten von motorischer 
Erregimg und von Gebundenheit haufiger geworden, so daB die Erziehung der 
Kinder aer Kranken genommen werden muBte. Die motorischen AeuBe- 
rungen, auch die sprachlichen, sind manieriert und gebunden. Pat. gebraucht 
absonderliche Ausdriicke; eigentiiche Wortneubildimgen fehlen jedoch. Nach 
Aussage der Angehorigen hat eine allmahliche Verschlimmerung statt- 
gefunaen. 

Fall 16. Frau Albertine Fr., geb. 1876. 15. VII. 1907—10. X. 1907; 
26. VI. 1910—24. IX. 1910.) 

Hereditat ist vorhanden; die Mutter der Kranken soil hysterisch ge- 
wesen sein; die Groflmutter war ,,geistig nicht normaleine Nichte der 
Kranken beging Selbstmord. 

Pat. soil geistig gut veranlagt gewesen sein. In der Pubertatszeit war 
sie 3—4 Wochen lang ,,tiefsinnig . Vor 4 Jahren (1903) wurde sie 4 Monate 
in der Irrenanstalt zu Nancy behandelt. Derdamalige Zustand war ahnlich 
wie der jetzige. 

Die diesmalige Erkrankung setzt mit einem Erregungszustand unver- 
mittelt ein. Pat. sprach verwirrt, schrie, tanzte, las alte Briefe vor; las viel. 
Schlief nicht mehr. Sie soil in den letzten Tagen viel Alkohol genossen 
haben. Sinnestauschungen sind nicht festgestellt worden. 

Bei der Aufnahme war Pat. ortlich und zeitlich orientiert. Die Kennt- 
nisse sind nicht sicher zu priifen. Die Stimmung ist zumeist gehoben mit 
Neigung zu Umschlag, ,, Angst “; der Affekt ist nicht stark. Es besteht zu¬ 
meist eine motorisehe Unruhe von wechselnder Intensitat; zeitweise tritt 
auch Gebundenheit auf. Die mimischen Gesichtsbewegungen sind sehr 
stark ausgepragt. Sinnestauschungen undWahnideen sind nicht festzustellen. 
Das Verhalten ist auBerst wechselnd, insbesondere was die Stimmungslage 
betrifft; die Tagesschwankung ist deutlich: morgens besteht manische t Ver- 
stimmung mit Rededrang und Ablenkbarkeit, abends angstlicheVerstimmung 
mit geringer Affektstarke. Auch die Zulanglichkeit wechselt; bisweilen ist 
Pat. sehr erotisch. 

Bei der Einzeluntersuchung ist ebenfalls das Verhalten wechselnd. 
Pat. kommentiert und spricht spontan, wird jedoch unvermittelt ablehnend 
und queruliert. Meist pflegt sie jedoch ihr ablehnendes Verhalten zu moti- 
vieren. Die Mimik ist sehr lebhaft (Stimrunzeln). Beim Sprechen ist der im 
allgemeinen sinngemaBe haufige Betonimgswechsel auffallend; bisweilen ist 
der Tonfall auch monoton, ,.murmelt“. Die Bewegungen der Extremitaten 
sind nicht manieriert; es treten unvermittelt Handlungen auf, so steht z. B. 
Pat. mitten in der Untersuchung plotzlich auf und ordnet die Blumentopfe 
am Fenster; stiehlteinen Perkussionshammer; veriibt gelegentlich Streiche. 
Affekt und Vorstellungsinhalt sind koharent, jedoch ist die Affektstarke 
gering; ,,ich mochte Ihnen die Brille herunterrreiBen; jetzt sagt er mir auch 
noch Sie; er schreibt Spiegelschrift; ich mochte wissen, ob man jetzt im 
Himmel ist, oder auf der Welt, aber das Rohr mochte ich nicht mehr durch 
den Hals; ich mochte Ihren Kneifer stehlen; heute ist der 7. August, am 
15. Mai habe ich Geburtstag“. Am 10. X. 1907 wurde Pat. nach Stephansfeld 
iibergefiihrt, von wo sie nach 2 Monaten entlassen wurde. 


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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


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Am 11. VIII. 1908 stellte sie sich in der Klinik vor. Sie ist ortlich und 
zeitlich orientiert; rechnet nicht. Die Stimmimgslage ist indifferent oder 
leicht gehoben; die Affektstarke ist gering; der Tonfall ist monoton. ..gleich- 
gultig 44 . Es besteht Neigung zu allgemeinen Redensarten; die Sprechweise ist 
leicht geziert, die Ausdrucksweise unprazis mit absonderlicher Wortwahl. 
,,Aber es ist nichts in der regelmaBigen Zeit. aber ich mochte trotzdem das 
Familienleben durchsetzen; in pekuniarer Hinsicht kann ich nicht genug 
erhalten. Ich glaube nicht, daB der ReligionshaB mit dem Lebensunterhalt 
so sehr zusammenhangt. Kann einem das GebiB gepfandet werden ?“ 
Sinnestauschungen und Wahnideen fehlen. Am 26. VI. 1910 erfolgte die 
zweite Aufnahme. Pat. hatte inzwischen nur wenig gearbeitet. „sie fangt alles 
an, bringt aber nichts richtig zu Ende 44 ; sagt-e vor 14 Tagen: ..Ich muB wieder 
in die Irrenanstallt. 44 Einige Tage vor der Aufnahme wurde Pat. erregt, hatte 
nachts vielleicht Gesichtstausch ungen, auBerte expansive Ideen, ,,ist sehr 
reich 44 . Sprach viel vor sich hin, sprang im Zimmer umher. 

In der Klinik gestaltet sich das Krankheitsbild wie das erstemal: Pat. 
ist ortlich und zeitlich orientiert; die Auffassung ist nicht gestort. Die 
Stimmungslage ist wechselnd ohne starken Affekt. Pat. kommentiert die 
Umgebung: ,,Wie nennt man die Schrift, die Sie jetzt schreiben ? Hiero- 
glyphen, nein das ist ja a^yptisch, die Mumien und die Sphinx, die sitzt am 
Landgericht; Sie haben eme Krawatte grim und weiB. 44 Bisweilen sind die 
AeuBerungen ohne erkennbaren Zusammenhang. Wahnideen und Sinnes¬ 
tauschungen bestehen nicht. 

Bei der Ueberfiihrung nach Stephansfeld war kein grober Intelligenz- 
defekt nachweisbar, auch eine EinbuBe an Kenntnissen liefl sich nicht fest- 
steilen; Pat. rechnet einfache Exempel gut; erklart Sprichworter richtig. Es 
besteht ein gewisser Grad von Krankheitseinsicht: .,Ich habe keine Gewalt 
liber mich, es treibt mich. 44 

Fall 17. Anna H., geb. 1867, verheiratet. (3. VIII. 1902 bis 15. XI. 
1902; 12. H. 1906—21. VI. 1906.) 

Hereditat ist vorhanden; eine Schwester der Mutter soil geisteskrank 
gewesen sein. 

Pat. war geistig nicht unter der Norm stehend; war eine mittlere 
Schiilerin; die Regel trat im 13. Jahre auf. 1894 heiratete Pat. 1895 erster 
partus. 2 Monate nach der Entbindimg trat ein ,,Schwachezustand 44 auf; 
Pat. wurde erregt, sprach viel. Sinnestauschungen bestanden nicht. Die 
Psychose dauerte 2—3 Monate. Seit jener Zeit hat das Gedachtnis abge- 
nommen, ,,ich konnte denken, aber manchmal war es mir wie weggeflogen 44 . 
1902 erfolgte die zweite Entbindung. In den letzten Monaten der Sehwanger- 
schaft hatte Pat. schon iiber ,,Schwache 44 geklagt. Vier Wochen nach der 
Entbindung wurde sie erregt, schimpfte. 

Bei der Aufnahme in die Klinik ist Pat. ortlich und zeitlich orientiert; 
rechnet gut; die Kenntnisse entsprechen dem Stande. Die Stimmung ist 
indifferent ohne Umschlag. Wahnideen und Sinnestauschungen fehlen. Die 
Ausdrucksweise ist verschroben, Wahl absonderlicher Ausdriicke; die Sprech¬ 
weise ist leicht manieriert; Pat. spricht getragen mit etwas verlangerten 
Wortabstanden. Es besteht Vorliebe fur allgemeine Spruche und Redens¬ 
arten. Gelegentlich sind die sprachlichen AeuBerungen ohne erkennbaren 
Z usammenhang. 

,,Dem Zorn kann ich mich nicht so ubergeben, dazu muB man Kraft 
haben, etwas Eigenes fur sich haben. Ich muB es nachlassen. Man ist jeden 
Tag in seinem Fach, dann ist es aber nicht gestattet. Im Geschaft ware ich 
sehr beleidigt gewesen dariiber, iiber meine Handlungen. ich hatte es nicht 
konnen fortfiihren. Nicht wahr. wenn man noch Herzklopfen hat, das ist 
das Aergste; wenn das Herz keinen Mut mehr hat, kann man sich 
noch etwas aufregen oder etwas anstrengen. ist doch sehr schlimm nicht ? 
Kann’s moglich sein, daB ich ein wenig weine oder sonst, s’ ist traurig. Es 
gibt auch Herzkranke, die sich belustigen. die suchen ihre Freude, und 
das ist gerade das Gegenteil. Ich glaube, daB etwas schuld ist, nicht wahr ? 


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der Dementia praecox. 


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Ich gab nur, was einer gesunden Person gehort. Ich bin nicht bedeutend 
krank, non, angestrengt lm Nacken. Im Verstand bin ich ziemlich heiter.“ 

Am. 15. XI. 1902 wnrde Pat. nach Hause entlassen. Sie hat nur ge- 
legentlich gearbeitet im Haushalt, war meist untatig. Keine ausgepragte 
Stimmimgisage; deutliche periodische Erscheimmgen wurden von den An- 
gehorigen nicht beobachtet. Zu Beginn des Jahres 1906 wurde Pat. erregter. 
Ansatze zu Handlungen. Legte z. B. einen Ziegelstein aufs Fenster. um ihn 
auf Passanten hinimterfallen zu lassen; fiihrte jedoch dieses Vorhaben 
nicht aus. 

Am 12. II. 1906 erfolgte die abermalige Aufnahme in die Klinik. Die 
Kranke ist ortlich und zeitlich orientiert; eine nachweisbare Einbufle an 
Kenntnissen besteht nicht. Die Stimmung ist indifferent, eher leicht gehoben 
ohne Neigung zum Umschlag. Die Sprechweise ist leicht geziert, die Aus- 
drucksweise durch absonderliche Wortwahl ausgezeichnet. In der Klinik ist 
Pat. meist ruhig und inaktiv. Das Verhalten gestaltet sich genau wie bei der 
ersten Aufnahme. Bei Assoziationsversuchen ist eine Neigung zu Wort- 
zusammensetzungen. zu Uebersetzungen und zu sinnvollem Perseverieren zu 
beobachten. Eingeiibte Reihen werden glatt produziert. 

Am 21. VI. 1906 wurde Pat. nach Hause entlassen; ihr Zustand hat 
sich seither nicht verandert. 


Akutes Stadium. 

Im Vordergrund steht die eigenartige motorische Erregung. 
Diese beschrankt sich im wesentlichen auf die sprachlichen und 
mimischen Bewegungen. Die iibrige Psychomotilitat ist nicht 
beteiligt. Die Kranken bleiben ohne Zwang ruhig im Bett. Die 
Bewegungen sind leicht manieriert, ,,stilisiert“. Ausgesprochene 
Parafunktionen werden nicht beobachtet (kein Regalismus etc.). 
Die sprachlichen AeuBerungen haben stets denZweckderMitteilung, 
es handelt sich also nicht um primaren Rededrang selbst dann, 
wenn die sprachlichen AeuBerungen, wie dies in manchen Fallen 
zu beobachten ist (13, 12, 17), ganz unverstandlich werden. Die 
Sprechweise ist geziert; die Kranken artikulieren scharf, verlangem 
die Wortabstande gleichmaBig. Der Tonfall ist nicht sinngemaB 
oder wechselt oft auch fur den Fall, daB er noch dem Wortinhalt 
entsprache. Der Satzbau ist erhalten. Die Wortwahl (insbesondere 
der Substantiva) ist absonderlich mit Neigung zu nicht prazisen 
oder selten gebrauchten Ausdriicken (z. B. „eclatation“ oder ,,ich 
soil hermetisch geheilt sein“); eine Kranke (11) gibt an, daB ihr das 
,,richtige“ Wort nicht einfalle. Durch die Erschwerung der Wahl 
des prazisen Ausdrucks wird die Ausdrucksweise ungenau, um- 
schreibend, manchmal wird auch der Satz nicht ganz gebildet. Bei 
starker Erregung (12) oder bei vorgeriickter Schwache (13) kann die 
sprachliche AeuBerung vollkommen inkoharent und unverstandlich 
werden, so daB eine Art Wortsalat produziert wird. 

Es besteht auBerdem Vorliebe fur allgemeine Redensarten und 
Spriiche (Sentenzen). 

Bei Assoziationsversuchen tritt eine auffallende Mehrung der 
sprachlich motorischen Reaktionen (Wortstammassoziationen, 
Wortzusammensetzungen, Perseverieren) zutage. 

Die beschriebenen, vorwiegend sprachlichen und mimischen 
Leistungen zeigen einen haufigen Intensitatswechsel der Erregung. 


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182 Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 

Bisweilen ist eine leichte motorische Gebundenheit vorhanden; 
der Stupor ist jedoch nie exzessiv. Zumeist ist der mit dem 
motorischen Verhalten koharente Affekt sehr gering. In den Fallen 
14, und 11 ist er besonders in der depressiven Phase starker gewesen, 
die Art seiner AeuBerung ist jedoch stets lappisch. Stimmungs- 
wechsel tritt spontan sehr haufig auf. Bei einer Kranken (11) 
wurden ,,Schimpfanfalle“ beobachtet. Wahnideen und Sinnes- 
tauschungen fehlen volUtandig. Die Halfte der Falle etwa produziert 
intestinale Sensationen; eine Kranke auBerte intestinale Wahn¬ 
ideen. Auffassung, Kenntnisse, Gedachtnisleistungen zeigen im 
akuten Stadium keinerlei Storungen. 

Die Remission. 

Hier findet sich auf motorischen Gebiet die Manieriertheit stets 
angedeutet in umstandlicher Ausdrucksweise, in hastigem Sprechen, 
in etwas „scheuem“ Benehmen. 

Das Verhalten des Affekts ist in den einzelnen Fallen ver- 
schieden, so daB wir 2 Gruppen unterscheiden mussen: 1. Es treten 
spontan Oder nach Veranlassung mehrtagige bis mehrwochentliche 
Stimmungsschwankungen auf. Die Stimmung ist zumeist leicht 
gehoben mit oberflachlichem Wechsel. 2. Es besteht indifferente 
Stimmungslage; die Kranken sind gleichgiiltiger geworden (plus 
stolque, F. 14). 

Die Arbeitsleistung ist natiirlich je nach dem Stadium der 
Demenz eine verschiedene, nahezu aufgehoben war sie jedoch 
nur im Fall 17 nach 8 jahriger, im Fall 13 nach 20 jahriger Er- 
krankung. 

Die Storung der Arbeitsleistung erfolgt in einzelnen Fallen 
durch diePeriodizitatder affektiven und motorischenErscheinungen, 
so daB die Kranken nach Tagen arbeiten (15, 13, 16, 11, 17). Bei 
der anderen Gruppe (12, 14) mit indifferenter Stimmungslage findet 
kontinuierliche Arbeitsleistung statt, die Kranken werden jedoch 
durch die erhohte Ermiidbarkeit an der vollen Arbeitsleistung ver- 
hindert. Diese letzte Gruppe zeigt auch eine geringe Abnahme 
des Gedachtnisses, die von den Kranken als Schwerbesinnlichkeit 
geschildert wird; sie sind ,,fassungslos bei Unerwartetem“, sub- 
jektiv ratios. 

Auffallenderweise finden wir bei diesen 2 Kranken im akuten 
Stadium die intestinalen Sensationen und Wahnideen viel starker 
entwickelt als bei den anderen Kranken dieser Gruppe. Die sub- 
jektive Stellungnahme zu den Defektsymptomen ist auch eine 
andere. Die Kranken mit intestinalen Wahnideen zeigen ein ge- 
wisses Krankheitsgefiihl und empfinden ihre Insuffizienz in der 
Arbeitsleistung recht wohl, wahrend die Kranken mit lappischem 
Stimmungswechsel ihrer Insuffizienz gegeniiber vollig gleich- 
giiltig sind. 

Ein weiterer Unterschied ist im Verhaltnis der Remission zum 
Rezidiv gegeben: 


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der Dementia praecox. 


183 


In der ersten Untergruppe (15, 13, 16, 11, 17) finden nahezu 
kontinuierlich die erwahnten Schwankungen des Affekts und der 
Motilitat statt. Die akuten Stadien stellen dann lediglich eine 
Steigerung dieser Symptome dar und heben sich nicht scharf von 
der Remission ab. 

In der zweiten Untergruppe (12, 14) tritt ein akutes Stadium 
erst nach jahrelanger indifferenter Remission auf und hebt sich 
dann scharf von dieser ab. 

Trotz dieser Unterschiede in der Gestaltung der Remission 
halte ich die Zusammenfassung dieser Falle zu einer Gruppe fur be- 
rechtigt wegen der Gleichartigkeit der motorischen, insbesondere 
der sprachlichen Leistungen, wegen der Manieriertheit, die ihnen 
eignet. Wir trennen ja auch im manisch depressiven Irresein die 
Falle mit intestinalen Wahnideen nicht von den anderen Verlaufs- 
arten ab, weil die motorischen Symptome und das affektive Ver- 
halten bei beiden identisch sind. 

Gruppe IV. 

Fall 18. EugenK.,ledig, Ackerer, geb. 1875. (15.X. 1891—15. XI. 1891.) 

Keine Hereditat. 

Pat. lemte erst mit 3 Jahren laufen; lemte schwer in der Schule. 
Seit Beginn des 16. Lebensjahres trat eine Charakterveranderung auf. 
Pat. las viel ,,Raubergeschichten“, machte allerhand Dummheiten, sonderte 
sich von der Familie ab; arbeitete nur gelegentlich. Ging am Pfingst- 
sonntag mit 5 Mark nach Basel, nahm dort eine Stelle an, kehrte jedoch 
nach 8 Tagen wieder ins ElsaB zuriick. 14 Tage vor der Aufnahme reiste 
er nach StraBburg und verlangte am Bahnhof ein Billett nach Lourdes und 
Amerika; kehrte dann zuriick. ,,weil er keine Papiere hatte“. Einige Tage 
spater lief er in den Wald und kam erst nach 2 Tagen zuriick. 

Bei der Aufnahme ist Pat. ortlich und zeitlich orientiert, rechnet gut. 
Die allgemeinen Kenntnisse entsprechen dem Stande. Wahnideen und 
Sinnestauschungen bestehen nicht. Die Stimmungslage ist indifferent. 
Der Kranke ist gleichgiiltig, interesselos. Er gibt an, daB von Zeit zu Zeit 
eine innere Unruhe ihn befalle, die ihn forttreibe. Er erzahlt die Anamnese 
mit alien Details, auch seine Reisen mit Motivierung (keine Amnesie!). 
Auf korperlichem Gebiete lassen sich keine Storungen nachweisen. In der 
Klinik ist Pat. indifferent, beschaftigt sich nicht. auch nicht mit Lektxire. 
Bisweilen tritt eine innere Unruhe bei ihm auf, die in der Klinik jedoch 
nicht zu Handlungen fiihrt. Angst ist nicht vorhanden. 

Nach der Entlassung war Pat. 2 Jahre zu Hause, hierauf 1 Jahr in 
Stephansfeld; er wurde von dort bald entlassen. 

Katamnese. 

Oertlich und zeitlich orientiert; rechnet gut, kein Jntelligenzdefekt. 
Es bestehen Schwankungen im Verhalten; Pat. arbeitet tourenweise und 
„er geht mit dem Mond“, dann „ganz unsinnig; pfliigt in fremde Acker 
hinein“. Andere Male .,tragt er das Gerat aufs Feld und lauft weg“; auch 
in der Nahrungsaufnahme bestehen exzessive Schwankungen. Die Stimmung 
ist wechselnd; Pat. lacht bisweilen grundlos. Er ist reizbar und neigt zu 
Gewalttatigkeiten. Es besteht Alkoholintoleranz. 

Wahnideen und Sinnestauschungen fehlen. In den letzten Jahren 
sind die Erregungszustande haufiger geworden. 

Fall 19. Eugenie L., geb. 1878, Bottcherstochter. (17. VII. 1895 
bis 15. X. 1895; 1903.) 

Ein Vetter des Vaters ist geisteskrank, sonst keine Hereditat. Pat. 


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184 


Pfersdorff. Ueber die Verlaufsarten 


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war friiher geistig gesund, war ,,eigensinnig“, die Hegel trat zum ersten 
Male irn 16. Lebensjahre auf; Pat. war damals mehrere Wochen erregt. 
War dann 11 Monate gesund. Vor 4 Wochen abermals Erregungszustand. 
Es bestand eine dauemde motorische Erregung; Pat. spricht bestandig, 
lacht viel, weint. In den letzten Tagen Steigerung der Symptome, Bei der 
Aufnahme in die Klinik konnten keine korperlichen Symptome festgestellt 
werden. Es besteht eine starke motorische Erregung; Ideenflucht ist deut- 
lich. die Kranke ist jedoch wenig produktiv. Schreit, singt, zieht die Kleider 
aus, walzt sich am Boden. In der Folgezeit wird Pat. zeitweise ruhiger, 
fangt auch gelegentlich an zu arbeiten, jedoch dauert dies Verhalten nie 
langer wie einige Tage, dann setzt die Erregung wieder ein; Pat. ist dann 
gelegentlich aggressiv. Wahnideen und Sinnestausch ungen wurden nie 
beobachtet. Pat. zerstorte Bettzeug. ist aggressiv gegen Mitkranke, ist 
nicht zu fixieren. Sie wurde gegen arztlichen Rat aus der Klinik geholt. 

Zu Hause besserte sich der Zustand, Pat. wurde jedoch ,,nicht mehr 
ganz richtig, blieb in ihrem Wesen gestort“. Sie arbeitete bis zum Herbst 
1896, jedoch unregelmaBig. Sie lief ofter von Hause weg, aB unregel¬ 
maBig. Einmal lief sie ins Kloster auf dem Odilienberg, um Nonne zu werden. 
Ende 1896 steigerten sich die Symptome. Pat. tat nur, ,,was sie wollte‘% 
blieb oft bis Mittag im Bett liegen, schimpfte unflatig. Juni 1897 wurde 
sie sehr erregt. schrie, zerriB, zertriimmerte die Mobel, sprang zum Fenster 
hinaus. sagte, sie wolle sich aufhangen, schmierte. 

Bei der Aufnahme in Stephansfeld am 23. VII. 1897 besteht eine 
hochgradige motorische Erregimg. Trotz einer bestehenden Malleolarfraktur 
tanzt Pat. auf einem Be in, lacht bestandig. Ist nicht zu fixieren; gibt sinn- 
lose Antworten. Auf die Frage. ob sie aus Rosheim sei. antwortet Pat.; 
..Es gibt Rosenkranze weit hinaus, lieber will ich saufen.“ Bis Marz 1898 
besteht eine lappische Manie, wahrend welcher Pat. vollig inkoharent sich 
auBert, schreit, springt. zerstort. Sinnestausch ungen und Wahnideen 
bestehen nicht. Bis Januar 1899 halt noch ein hypomanisches Stadium an r 
indem eine starke motorische Unruhe mit Gewalttatigkeit besteht. Pat. 
wird in diesem Stadium entlassen (beurlaubt). 

Nach der Entlassung war Pat. 1 Jahr lang bei ihrer Schwester in 
Dienst, dann bei fremden Leuten; wechselte oft den Platz. Seit April 1902 
zu Hause, ruhig, aber nicht normal; arbeitete nur, wenn sie wollte, nicht 
regelmaBig. Jimi 1903 erregt, zog sich nackt aus, wollte so fortlaufen. 
Sprach viel fur sich. Lachte, fluchte, weinte ohne auBeren Grund; unver- 
mittelter Stimmungswechsel. Staunte, starrte stundenlang in eine Ecke. 
Nachts unruhig. 

Bei der Aufnahme am 27. VI. 1907 in Stephansfeld ist Pat. lappisch 
heiter erregt, tanzt herum. zieht sich nackt aus, legt sich auf den Boden, 
kriecht auf Handen und FiiBen umher. Keine einzige verstandige Antwort. 
Sagt, sie sei 8 Jahre alt, der Arzt sei der Sohn Gottes; Personenverkennung ; 
erotisch. Organisch nichts Pathologisches. Keine Sinnestausch ungen, 
keine Wahnideen. In der Folgezeit nimmt die lappische Erregung langsam 
ab; die elementare motorische Erregung steht im Vordergrund der Sym¬ 
ptome. Die Aeuflerungen sind zumeist ohne erkennbaren Zusammenhang; 
Pat. ist interesselos, nicht zu fixieren. Gelegentlich gewalttatig; wirft 
Gegenstande zum Fenster hinaus. Bisweilen Grimassieren. Einige Wochen 
vor der Entlassung arbeitete Pat. etwas, jedoch stets nur ganz kurze Zeit, 
..sie hielt es bei keiner Arbeit aus“. Am 11. VII. 1904 wurde Pat. beurlaubt. 

Nach ihrer Entlassung ging Pat. in Dienst; wechselte jedoch alle 
8 Tage die Stellung, war kindisch, mutwillig, ruhelos. Warf ihr Geld und 
ihre Kleider weg. 

Kommt in sehr verwildertem Zustand. Zieht sich aus, ist in standiger 
Unruhe. Hat unterwegs Hut und Sonnenschirm fortgeworfen. Lief zu 
Hause nackt im Hofe herum, warf die Kleider zum Fenster hinaus. Bei der 
Aufnahme lappisch. euphorisch, ortlich orientiert, zeitlich nicht genau. 
Gehobene Stimmung, lappischer Affekt, starker Bewegungsdrang; Rede- 
drang mit inkoharenten AeuBerungen. Kein Umschlag der Stimmung, 
jedoch Intensitatswechsel der motorischen Erregung. 1st besonders nachts 


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der Dementia praecox. 


185 


sehr erregt. Im Oktober tritt voriibergehend eine leichte Beruhigung auf, 
zu geregelter Beschaftigung konnte Pat. jedoch nicht verwandt werden. 
Anfallsweise ist Pat. gewalttatig gegen die Umgebung. Liegt viel auf dem 
Boden herum. ist unrein. Bisweilen tritt Grimassieren auf. Im April 1911 
ist Pat. imraer noch stark erregt, zumeist im Dauerbad; verlafit oft das Bad. 
Schreit und singt laut. priigelt sich mit anderen Kranken. Schlagt Fenster- 
scheiben ein. 1st zeitlich und ortlich nicht orientiert. Spricht sinnlose 
Worte durcheinander, wobei diesel ben Worte und Wendungen wiederholt 
werden. Ist nicht zu fixieren; schimpft zum Fenster hinaus. Versucht, vor- 
gesprochene Worte niederzuschreiben; kommt aber damit nicht zu Ende. 
Einfache Rechenaufgaben werden nicht gelost. Schriftliche Rechen- 
aufgaben schreibt sie nieder, rechnet sie aber nicht aus; schreibt inuner 
diesel ben Zahlen hintereinander auf. Versucht, eine Zahlenreihe sehrift- 
lich zu addieren, hort aber sofort wieder auf. Unvermittelt treten Erregungs- 
zustande auf, in denen Pat. gewalttatig ist. Wahnideen und Sinnestauschun- 
gen sind nicht nachweisbar. 

Fall 20. Margarete H., geb. 1876, ledig, Bauemmadchen. (1899; 
23. V. 1905 bis 17. VII. 1905.) 

Hereditat ist nicht vorhanden. 

Pat. lemte schlecht in der Schule. 1894 trat ein mehrmonatlicher Zu- 
stand von ,,Schwermut“ auf. Seither ist Pat. psychisch verandert, launisch, 
arbeitet nur anfallsweise; ist streitsiichtig, rechthaberisch. In der letzten 
Zeit gehobene Stimmung; gilt im Dorfe nicht als geisteskrank. 

Bei der Aufnahme ist Pat. ortlich und zeitlich orientiert; rechnet un- 
sicher. Sinnestauschungen und Wahnideen bestehen nicht. Die Stimmung 
ist gehoben ohne Umschlag; es besteht etwas Rededrang mit Vorliebe fur 
Sprnche und allgemeine Redensarten; bisweilen queruliert die Kranke; 
beschaftigt eich nicht. Nachschrift: Der Apfel fallt nicht weit vom Stamm, 
was soil ich sagen ? Wir werden zu gemem miteinander. Was wollen Sie 
wissen ? Ich weiB nicht viel. Es paOt mir nicht alles. Ich und Sie tanzen 
miteinander ohne Musik, das heiBt, wenn wir dazu kommen. Reden ist 
Gold, Schweigen ist Gold, nein, Silber. Mit dem Stillschweigen kann man 
vieles verantworten. In 2 Jahren habe ich vieles gelernt. Ich liige nicht. 
Besser kann ich nicht sagen, dazu bin nicht gewachsen. In der Folgezeit 
liegt Pat. meist zu Bett, ist interesselos, beschaftigt sich nicht. Wahnideen 
und Sinnestauschungen fehlen. Anfallsweise tritt motorische Erregung 
auf. in der Pat. queruliert und schimpft. Hierbei tritt eine Vorliebe fiir 
allgemeine Redensarten und Spriiche zutage. Pat. ist meist zuganglich; 
halt gelegentlich Mitkranken Reden mit „Vorschriften und Spriichen“. 
Sinnestauschungen und Wahnideen fehlen. Bisweilen auOert Pat. hypo- 
chondrische Sensationen. 

Am 17. VII. 1905 wurde Pat. nach Stephansfeld ubergefiihrt. Hier 
bietet sie zunachst dasselbe Zustandsbild wie in der Klinik. Sie ist ab- 
lehnend, leicht manieriert; gibt vollig zusammenhangslose Antworten. 
Im November 1905 steigerte sich die Erregung; die sprachlichen AeuBerungen 
sind ohne erkennbaren Zusarnmenhang; Pat. beantwortet keine Frage 
sinngemaO. Stereotype Handbewegungen; bringt das Bett in Unordnung. 
Grimassiert, gestikuliert lebhaft, spricht dabei wenig oder „faselt“ vor sich 
hin. Queruliert bisweilen; produziert ungeordnete zwecklose Bewegungen. 

Im Laufe des Jahres 1906 tritt langsame Beruhigung ein. Pat. be¬ 
schaftigt sich fliichtig; eine vollkommene Krankheitseinsicht besteht 
jedoch nicht. Im Friihjahr 1907 leichte Depression ohne starken Affekt; 
ist zuganglich. Im Jahre 1907 tritt diese Depression starker auf, ein richtiger 
depressiver Affekt ist jedoch nie vorhanden. Die Kranke ist zumeist 
ablehnend. miirrisch verstimmt. 1908 arbeitet Pat. periodisch. 1909 ist 
Pat. weniger ablehnend; beschaftigt sich mit Gartenarbeit. 1910 treten 
die Zeiten ablehnenden Verhaltens wieder mehr in den Vordergrund; 
mehrfach Vorbereitungen zu Suizid ohne Ausfiihrung. 1911 tritt eine 
lappische Hypomanie auf; Pat. lacht viel vor sich hin. Zerzupft Bettstiicke. 
Bisweilen depressive Eigenbeziehung. Im April 1911 ist ein Zustand 


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186 Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarfcen 

mafiig starker Gebundenheit vorhanden. Pat. ist ortlich und zeitlich 
nicht vollig orientiert; platzt aus; eine ausgesprochene Affektlage besteht 
nicht. Gelegentlich kurzdauemde depressive Schwankungen, jedoch kein 
starker Affekt; ,.ich raache mir keine Gedanken dariiber“, rechnet vorbei; 
allgemeine Kenntnisse sind nicht zu priifen; keine Wahnideen, keine Sinnes- 
tausehungen. 

Pat. liegt zumeist mit starrer Korperhaltung im Bett, la fit den Kopf 
nach einer Seite herabhangen. Die Gesichtsziige sind starr, die Mund- 
winkel herabgezogen, die Lippen zusammengeprefit. Die Augen werden 
,.angstlich“ nach beiden Seiten bewegt. Bewegungen des Korpers sind selten 
und koramen nur langsam und zogemd zustande. Die Sprache ist leise, 
tonlos und ebenfalls zogemd. Bisweiien tritt Angst auf. ohne starke Affekt- 
aufierung. 

Fall 21. AlbertineM., geb. 1875, Orgelbauersfrau. (28. I. 1893 bis 
15. II. 1896.) 

Die Schwester des Grofivaters miitterlicherseits ist geisteskrank ge- 
wesen. Pat. war geistig immer gesund bis jetzt; etwas eigensinnig von 
jeher. Vor 3 Monaten Heirat. Letzte Regel vor 10 Tagen. Im Anschlufi 
an dieselbe zeigte sich eine psychische Veranderung. Pat. war anfangs 
ganz vorstort, ,,tiefsinnig‘\ weinte viel, war „duram“ in den einfachsten 
Verrichtungen; dann war sie wieder erregt, lachte imd sang, wollte immer 
hinaus. Am 21. I. 1893 gelang es ihr, aus dem Hause zu entkommen; sie 
wurde erst am folgenden Tage mit wundgelaufenen Fiifien im Freien auf- 
gefunden. Sie war ganz verwirrt und wufite nicht anzugeben, wo sie die 
Nacht verbracht hatte. AC sehr \iel in der letzten Zeit. Drangte hinaus. 

In der Klinik wird stomatisch nichts Krankhaftes festgestellt. Bei 
der Aufnahme besteht eine starke motorische Gebundenheit. Pat. aufierte 
sich wieder spontan noch auf Anreiz. 

31. I. Heute Morgen starke angstliche Erregung; Pat. sprang aus 
dem Bett und schrie laut. so dafi sie isoliert werden mufite. 

7. -II. War einige Tage stuporos, dann trat haufiger Stimmungs- 
wechsel auf. Keine sprachlichen Aeufierungen. Seit 2 Tagen ruhig im 
Bett; gibt an, dafi sie die Mutter Gottes und den heiligen Joseph gesehen 
habe. 

8. II. Ist heiter; lacht auf alles, was man zu ihr sagt, spricht aber 

nicht. 

14. II. Pat. ist wieder ganz verworren. Drangt sich an den Arzt 
heran, indem sie immer die Silbe „die“ wiederholt; mit dieser Silbe beant- 
wortet sie auch alle Fragen. 

20. II. Sehr wechselndes Verhalten, bald angstlich. bald \ergniigt, 
immer ruhelos, auch nachts. Geringe Nahrungsaufnahme. 

1. III. Etwas ruhiger. Spricht in abgerissenen Satzen und Silben, 
stockend; einzelne Wcrte oder Silben, z. B. ,,Ma“, wiederholt sie haufig. 
Ist nicht orientiert; verkennt Personen. 

2. III. Heute starke motorische Unruhe; lauft an den Tiiren herum; 
lauft dem Arzt nach, bringt aber nur etwa fclgendes herausi ,.Doktor — 
ham — Doktor — ham — mit dem Vater — der Mutter — Mann — Mann 
— mein Mann“. Echolalie angedeutet. Ansatze zum Sprechen. 

7. JII. Mutazistisch; ifit nicht. Zieht sich oft aus; kriecht unters 
Bett. Spricht wenig, inkoharent mit monotonem Tonfall. 

11. IV. Me ist mutazistisch; schreit gelegentlich laut. 

14. IV. Klinische Vorstellung. Mutazistisch. Befolgt Aufforde- 
rungen sehr langsam. Flexibilitas cerea. 

17. V. Wird lebhafter, lacht viel; spiicht einige Worte. 

22. VI. Lappisch euphorisch; beschaftigt sich mit Stricken. 

1. VII. Allmahlich ruhiger; lappisch euphorisch; beantwortet ein- 
fache Frage sinngemafi. 

Von August oisOktober arbeitet Pat. gelegentlich. Ist immer lappisch 
und ,,verschlossen“; schreibt Briefe mit inkoharentem Inhalt, ist bisweiien 
leicht reizbar, lauft umher imd scbimpft. Im Oktober setzt eine neue Er- 


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der Dementia praecox. 


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regimg ein. 1st aggressiv gegen die Umgebung; spuckt viel; schmiert. 
Die AeuBerungen sind ohne erkennbaren Zusammenhang. Dieser Zustand 
bis Januar 1894, bis zur Ueberfuhrimg naoh Stephansfeld. 

Bei der Aufnahme in Stephansfeld spricht Pat. nioht spontan und 
reagiert nicht auf Anreden. Verhalt sich abweisend Oder indifferent. Am 
auffallendsten ist der haufige rapide Stimmungswechsel. Bald weint und 
jammert sie, lafit den Kopf zwischen die Knie sinken, wirft sich auf den 
Boden, bald lacht sie laut auf. Liegt in den ,,indezentesten“ Stellungen 
herum, speit haufig auf den Boden oder in die Hande und salbt damit die 
Haare em. Eine Intelligenzpriifung etc. ist wegen des ablehnenden Ver- 
haltens der Pat. nicht moglich. 1st oft unrein. 

25. IV. Vollig haltlos. Im Mai 1894 steigert sich die Erregung. 
Pat. zerreiflt ihre Kleider, speiohelt, lacht viel, zeigt stark sexuelle Erregung; 
tobt mit fliegenden Haaren im Hof herum, schimpft in schamlosen Aus- 
driicken auf das Personal. LaBt sich nicht fixieren. Im Oktober 1894 
tritt eine leichte Beruhigung ein. Pat. ist lappisch euphorisch, arbeitet 
jedoch etwas. grimassiert viel, lacht oft stundenlang ununterbrochen. 
Anfang 1895 tritt eine wesentliche Besserung ein, so da 13 Pat. entlassen 
werden kann. 

Nach der Entlassung konnte sich Pat. draufien halten bis 1897. Sie 
gebar 2 mal, ohne psychisch zu erkranken; stillte nicht. War „nicht ganz 
normal 44 , hatte kurze Gedanken, war vergefilich und st/eitsiichtig; arbeitete 
jedoch. Weihnachten 1897 wurde sie reizbar, beschuldigte den Mann der 
Untreue, man hat ihr Blut fortgenommen und ill ihr den Kopf abschneiden. 
Neigung zum Vagieren; schimpft iiber den Pfarrer. Sprach 1 Woche lang 
nicht. Arbeitet nicht mehr. spricht verkehrt. Schlug ihre Schwagerin. 
Keine Suizidideen. 

Am Tage der Aufnahme in Stephansfeld (30. I. 1897) ist Pat. vollig 
apathisch. Der Gesichtsausdruck ist leer, die Korperhaltung schlaff und 
energielos. Pat. laBt sich gleichgiiltig auf die Abteilung fiihren, gibt kein 
Zeichen des Wiedererkennens. Auf Fragen gibt sie keine Antwort; nach 
der Jahreszahl gefragt, bringt sie nur 18 . . . heraus und stockt dann; hin 
und wieder lacht sie vor sich hin ohne ersichtlichen Grund. Der Aufforde- 
rung. die Zunge herauszustrecken, kommt sie nicht nach. Bis Herbst 1898 
dauerte der Stupor an. Pat. ist unrein. Von Zeit zu Zeit treten raptus- 
artige Erregungszustande von kurzer Dauer auf. Ende 1898 wurde Pat. 
leicht erregt, blieb jedoch ablehnend, arbeitete etwas. Dieser Zustand 
dauert bis Juli 1900. Dann wird Pat. gebessert entlassen. 

Nach dieser Entlassung war Pat. 9 Jahre zu Hause. Sie gebar wahrend 
dieser Zeit 6 gesunde Kinder. Die Entbindungen waren etets ohne Einflufi 
auf die Psyche. Wahrend dieser Remission wurde Pat. 1904 von Ref. be- 
sucht und damals folgender Befund erhoben: Oertlich und zeitlich orientiert; 
keine Wahnideen, keine Sinnestauschungen; indifferente oder leicht ge- 
hobene Stimmungslage bei augenblicklicher Reizbarkeit, oberflachlicher 
Wechsel; Pat. ist irUeressdos; arbeitet, jedoch nur Eingelemtes; kiimmert 
sich nicht um Haushalt und Kuche; ,,sorgt fur nichts, hat Freude an schonen 
Kleidem 44 . Wenn sie arbeitet, arbeitet sie „hastig“; ist schwer ablenkbar. 
Gelegentlich spricht Pat. „verkehrt“. In unregeimaBigen Perioden treten 
Veratimmungen auf. 

Mai 1909 horte Pat. plotzlich auf zu arbeiten; wenn sie es versuchte. 
ging es nicht; sie sagte selbst, „ich weifi nicht, was das ist, ich bin so dumm“. 
Dann traten heftige Erregungszustande auf, in denen Pat. gewalttatig gegen 
die XJmgebung wurde. Die Nahrungsaufnahme war ausreichend. 

Bei der Aufnahme am 11. VI. 1909 wurden keine korperlichen Krank- 
heitssymptome festgesteUt. Pat. ist schwer zu fixieren; es gelingt nicht, 
sie zum Herausstrecken der Zunge zu bewegen. Sie spricht wahrend der 
Untersuchung fortwahrend mit Flusterstimme; die Aeufierungen sind voll- 
kommen inkoharent. Pat. reagiert nicht auf Nadelstiche. Pat. ist ortlich 
orientiert. zeitlich nicht. Bei Prufung des Rechenvermogens gelingt es nur 
einmal nach wiederholtem Befragen, wahrend sie immer wieder abschweift. 


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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


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die richtige Losung von 5 X 6 zu eruieren. Intelligenzpriifung ist nicht 
durchzufiihren. Wahnideen und Sinnestauschungen sind nicht festzustellen. 

In der Folgezeit ist Pat. zunachst stark gebunden; reagiert nicht. Der 
Gesichtsausdruck ist heiter, Pat. spricht nicht oder nur in Fliistersprache. 
Weint bisweilen ohne starke Affektproduktion. Gelegentlich treten kurz- 
dauemde Erregungszustande auf, in denen Pat. sinnlose Streiche veriibt. 

1910 dauert der Stupor an; Pat. ist unrein; es treten unvermittelte 
Erregungszustande auf, in denen Pat. gewalttatig ist. Pat. ist zumeist 
mutazistisch; anfallsweiee in der Erregung tritt Schimpfen auf. 1911 be- 
steht der Stupor noch. 

Fall 22. Franziska Sp., Fabrikarbeiterin. (17. I. 1898 bis 30. V. 
1898; 5. I. 03 bis Marz 1903.) 

Der Vater ist starker Potator. 

Die Kranke selbst war bis zum 14. Jahre stets gesund, war als Fabrik¬ 
arbeiterin tatig. 8 Wochen etwa vcr der Aufnahme in die Klinik trat, 
naoh einem „Verweis“ in der Fabrik, ein akuter Erregungszustand auf. 
Pat. behauptete, die Mutter Gottes gesehen zu haben, lief zum Pfarrer; 
dann wurde sie „versehlossen“ in ihrem Benehmen, sprach 14 Tage lang 
nicht. Die Nahrungsaufnahme war ausreichend, der Schlaf nicht gestort. 
In der letzten Zeit trat ein grofies Schlafbediirfnis zutage. Gelegentlich 
war Pat. unrein. 

Bei der I. Aufnahme bestand eine starke motorische Gebundenheit. 
Negativismus bei passiven Bewegungsversuchen; keine Abwehrbewegungen 
bei Nadelstichen; iBt nicht spontan. laOt Urin unter sich. Dieser Zustand 
dauert nahezu 2 Mon ate. Naeh dieser Zeit traten Tage mit geringerer 
Gebundenheit auf; wahrend derselben erfolgten auch vereinzelte sprach- 
liche AeuBerungen, wie ,,ich will arbeiten“, „Verzeihen Sie mir“. Auch in 
diesem Stadium ist Pat. noch unrein. 

In der folgenden Zeit tritt eine lappische Euphorie auf. Pat. lacht 
viel. zeigt Vorliebe fur verschrobene Stellungen, Echopraxie und rhythmische 
Bewegungen. IBt reichlich. Spricht nicht spontan. liest einmal, auf Be- 
fehl. monoton laut ab. Im April steigerte sich die motorische Erregung 
noch mehr, jedoch wurden alle Bewegungen etwas schwerfallig ausgefiihrt. 
Naeh 16 kg Gewichtszunahme wurde Pat. in einem leicht manischen Zu¬ 
stand entlassen. 

In der Zwischenzeit arbeitete Pat. Nahere Angaben liber diese 
I. Remission sind nicht zu erlangen. 

Naeh rasch einsetzender Erregung im Beginn des Januar 1903 wurde 
Pat. zum zweiten Male in die Klinik aufgenommen. Bei der Aufnahme ist 
Pat. ortlich und zeitlich orientiert; rechnet gut; Kenntnisse entsprechen dem 
Stande. Es besteht gehobene Stimmung mit Rededrang; Pat. ist zu fixieren, 
singt manche Antworten. Die sprachlichen AeuBerungen sind ohne erkenn- 
baren Zusammenhang; Pat. spricht in kurzen, abgerissenen Satzen, ,.stoB- 
weise*\ Beantwortet selbstgestellte Fragen. Wortumstellungen; rhythmi¬ 
sche Betonung des Gesprochenen. Kommentiert die Umgebung; nennt 
z. B. irgendeinen Gegenstand und ira AnschluB hieran samtliche ihm zu- 
kommenden Pradikate. Negativismus angedeutet. Stimmen sind nicht 
festzustellen, gibt die linke Hand. 

Wahrend der Folgezeit hielt die motorische Unruhe an, bisweilen 
durch kurzdauemde Zustande von Gebundenheit unterbrochen. Die Stim¬ 
mung ist dauemd gehoben. lappisch; depressive Schwankungen fehlen. 
In den Stadien von Gebundenheit kauert Pat. stundenlang in einer Ecke; 
ist leicht negativistisch. Anfallsweise verstarkt sich die motorische Unruhe. 
Die sprachlichen AeuBerungen sind ohne erkennbaren Zusammenhang; 
kurze Satze; keine Stereotypie. Negativismus angedeutet. Pat. spricht 
jneist erst, wenn man sie verlaBt. Sinnestauschungen sind nicht festzustellen. 
Die Nahrungsaufnahme war hinreichend. Pat. wurde entgegen arztlichem 
Rat aus der Klinik genommen. 


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der Dementia praecox. 


189 


KcUamnese September 1907. 

1st ortlich und zeitlich orientiert; die Kenntnisse haben keine EinbuUe 
erlitten; die Stimmung ist leicht gehoben; Sinnestauschungen sind nicht fest- 
zustellen: Zyanose der Hande; Labilitat der Vasomotoren. Nach Aussage 
der Angehorigen arbeitet Pat.; ist jedoch viel ermiidbarer als friiher. Das 
Gedachtnis ist schlechter geworden, „sie hat kurze Gedanken 44 . ,.Verlegt die 
Gegenstande. 44 

Die Stimmung ist dauemd gehoben. „sie ist nicht krank. aber sie ist 
nicht, wie sie sollte 44 . Pat. ist im Moment sehr reizbar. In unregelmaBigen 
Intervallen treten Zustande auf, in denen Pat. ,,vor sich hinstaunt 44 , bisweilen 
tritt „Atemnot 4 \ anfaJlsweise, ein. 

Pat. ist intolerant gegen starke Sinnesreize. 

Indifferent fur Angelegenheiten anderer; spricht wenig spontan. Ist 
sehr erotisch, „geht mit jedern, wiirde all ihr Geld an einem Tage hinaus- 
werfen. 44 Gelegentlich Alkoholexzesse. 

Fall 23. Georg Sehr., geb. 1883, ledig, Ackerer. 

Die Mutter ist geisteskrank gewesen wahrend einer Schwangerschaft. 
Pat. ist intellektuell gut veranlagt. Wahrend des Militardienstes 1903—1904 
erkrankte er an ..Heimweh 44 imd lief von der Truppe weg. kehrte nach 
10 Tagen wieder zuriick; er wurde wegen Geisteskrankheit damals nicht 
bestraft. Seit der Militarzeit ist Pat. nicht mehr wie friiher. J2r arbeitet 
weniger wie friiher und nach ..Touren 44 . wie die Angehorigen sich ausdriicken. 
Alle 4—5 Wochen treten mehrtagige Erregungszustande auf, in denen Pat. 
gegen die Angehorigen gewalttatig wird. Pat. zeigt im Benehmen Auf- 
falligkeiten; iOt gem allein. steht sehr spat auf; ist gemiitlichs ehr reizbar. 
..tragt aber nichts nach 44 . Er veriibt gelegentlich Streiche; lieB ein FaB Wein 
auslaufen. In unregelmaBigen Perioden treten Zustande von Unfahigkeit mit 
Neigung zu trauriger Verstimmung auf. Wahnideen und Sinnestauschungen 
wurden nicht beobachtet, auch keine Verfolgungsideen. In den letzten Tagen 
trat eine stark motorische Unruhe auf. Pat. lief mehrfach von Hause weg. 
..bat um Verzeihung. weil er vorher den Vater geschlagen, wollte fortreisen. 44 
Am Morgen vor der Aufnahme Strangulationsversuch; wurde vom Bruder 
abgeschnitten. sagte diesem: „Du hattest mich ruhig hangen lassen sollen“. 
Bedankte sich jedoch nachher. 

Am 7. IV. bei der Aufnahme ist Pat. ortlich und zeitlich orientiert. Das 
Rechenvermogen steht nicht unter der Norm. Die allgemeinen Kenntnisse 
enteprechen dem Stande. Wahnideen und Sinnestauschungen fehlen voll- 
kommen. Es besteht eine starke motorische Gebimdenlieit; die sprachlichen 
Aeufierungen erfolgen, jedoch nicht spontan. Kein Negativismus. keine 
Vorbeireaktionen. Assoziationspriifungen lassen ein auffallendes Hervor- 
treten von Wortzusammensetzungen feststellen. Der Kranke wurde in 
stuporosem Zustand nach der Bezirksanstalt Stephansfeld iibergefuhrt im 
Mai 1911. 

MaBgebend fur die Gestaltung des akuten Stadiums ist die 
motorische Erregung. Diese prasentiert sich als Bewegungsdrang. 
Oft werden elementare BewegungsauBerungen beobachtet (Walzen, 
Fortbewegungen auf Handen und FiiBen, Schmieren, dauerndes 
Grimassieren), die wenig beeinfluBbar sind und Neigung zur 
Stereotypic zeigen. Vorbeireaktionen werden nicht beobachtet. Auf 
sprachlichem Gebiete ist Inkoharenz der AeuBerungen mit Neigung 
zu perseverieren und Stereotypien (bisweilen von Silben, „die'\ 
Fall 21) festzustellen. AuBerdem besteht Vorliebe fur allgemeine 
Spriiche und feststehende Redensarten. Was den Ablauf dieser 
motorischen Leistungen anlangt, so ist derselbe charakterisiert 
durch unvermitteltes Ansteigen der Erregung, durch das Auf- 
treten von Paroxysmen. Diese konnen rein psychomotorisch sich 


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190 


Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


darstellen, bei Beteiligung der Sprache kommt es zur Entwicklung 
von sogenannten „Schimpfanfallen“, in denen die Kranken maBlos 
schimpfen mit starker Stimmentwicklung und lebbaften mimischen 
AeuBerungen. Sie sind in diesen Zustanden noch weniger beein- 
fluBbar wie sonst. 

Die motorische Erregung wechselt, bisweilen unvermittelt, mit 
motorischer Gebundenheit ab. Diese Stuporzustande sind durch 
eine gleichmaBige Verlangsamung der motorischen Leistungen aus- 
gezeichnet, soweit sie befallen sind. Die sprachliehen Leistungen 
sind nicht in demselben MaBe gebunden wie die nicht sprachliehen^ 
jedoch kommt gelegentlich auch Mutazismus vor. Vorbeireaktionen, 
Querimpulse werden hier ebensowenig beobachtet wie in der 
Erregung. 

Der Affekt, soweit er beteiligt ist, halt in seinem Auftreten 
durchaus Schritt mit den motorischen Symptomen. In einzelnen 
Stadien besteht Indifferenz oder lappische Euphorie ohne Um- 
schlag, verbunden mit groBer augenblicklicher Reizbarkeit, in 
anderen Stadien wechselt die Stimmung sehr hiiufig. Die Neigung 
zu Paroxysmen besteht auch hier. 

Die Starke des Affekts richtet sich nach dem Stadium der Er- 
krankung; sie kann in den Paroxysmen sehr stark sein bei sonstiger 
scheinbarer Affektlosigkeit, die jedoch lediglich ais Interesselosig- 
keit zutage tritt. Der Affekt wird nur selten von den Kranken. 
als Angst bezeichnet. Depressive Eigenbeziehung wurde nur in 
einem Falle beobachtet. 

Wahnideen und Sinnestauschungen fehlen vollstandig. 

Die Remission. 

ist charakterisiert durch Phasenwechsel samtlicher Symptome. 
Die Kranken arbeiten tumusweise, manche nach Tagen, manche 
nach langeren Zeitabschnitten (Stellenwechsel). Exzessives Ar¬ 
beiten wechselt ab mit Nichtstun. Vereinzelte Absonderlichkeiten 
werden auch beobachtet. In Intervallen, die bisweilen regelmaBig 
periodisch sind, treten Zustande von Gebundenheit auf („Staunen“) 
oder starkere Erregungen, in denen die Kranken schimpfen, ge- 
walttatig werden oder „verkehrt sprechen u . (Die Angehorigen 
bezeichnen dies oft als ,,Rappel“.) 

Die Stimmung ist entweder dauemd gehoben oder zeigt ober- 
flachlichen Wechsel bei fehlendem Interesse. 

Es besteht starke augenblickliche Reizbarkeit mit Neigung 
zu exzessiven Affektausbriichen. 

Die Schwankungen des Affekts schlieBen sich denjenigen der 
motorischen Erscheinungen an. 

Eine EinbuBe an Kenntnissen ist nicht nachweisbar. Wahn¬ 
ideen und Sinnestauschungen fehlen auch in der Remission. 

Zumeist besteht eine geringe Schwache des Gedachtnisses. 
Im Initialstadium pflegt Interesse fiir die Beschaftigung vorhanden 
zu sein. 


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der Dementia praecox. 

Der Verlauf. 

Die Psychose zeigt in einzelnen Fallen von einem bestimmten 
Zeitpunkt ab (nach 10—15 Jahren nach der erstmaligen Er- 
krankung) ein Aufhoren der Remissionen, ein Chronischwerden des 
akuten Stadiums, so daB dauernde Internierung eintreten muB, 
Die Kranken sind in der Anstalt bisweilen Monate hindurch unter 
Anleitung arbeitsfahig. 

Diese starkere Entwicklung der Reizsymptome stellt ein Fort- 
schreiten der Demenz dar, die also von einem bestimmten Zeit¬ 
punkt ab in dieser Gruppe manifester wird wie in andern, immerhin 
jedoch noch auBerst chronisch sich entwickelt. DaB gerade die 
Kranken dieser Gruppe das starkste Kontingent zu den dauernd 
der Anstaltspflege Bediirftigen abgeben, beruht auf dem Verhalten 
der Motilitat. 

Die 4 Gruppen zerfallen in Falle mit und ohne Sinnes¬ 
tausehungen. Die Wahnideen zeigen dieselbe Gruppierung, nur die 
intestinalen bilden in einem Fall (14) eine Ausnahme. 

Wir betrachten zunachst die Gruppen I und II, die mit Sinnes¬ 
tausehungen und Wahnideen einhergehen. 

Die Sinnestausehungen betreffen alle Sinnesgebiete in der 
Gruppe I, wahrend in der Gruppe II vorzugsweise oder aus- 
schlieBlich akustische Sinnestausehungen beobachtet werden. In 
der Gruppe I treffen wir infolgedessen auch sehr haufig physi- 
kalischenVerfolgungswahn undMuskelsinnhalluzinationen,und zwar 
nicht bloB Zungenmuskelsinn-Halluzinationen (Cramer), sondern 
auch nichtsprachliche Bewegungshalluzinationen. Diese Kranken 
vollfiihren anfallsweise symmetrische ,,zuckende“ Bewegungen der 
Extremitaten, die sie, falls sie Auskunft geben, als durch fremde 
Beeinflussung hervorgerufen darstellen. Diese Bewegungen sind 
stereotyp. Das motorische Verhalten zeigt im iibrigen in dieser 
Gruppe keine formalen Anomalien. Die Ausdrucksbewegungen sind 
„natiirlich“, ungebunden. Eine formale Stoning zeigen nur die 
sprachlichen Leistungen der Gruppe II. Hier sind die AeuBe- 
rungen bisweilen ohne erkennbaren Zusammenhang, ohne daB 
Ideenflucht nachweisbar oder auch nur wahrscheinlich ware. Diese 
Falle der Gruppe II sind auch zumeist ortlich und zeitlich nicht 
orientiert, wahrend in I die Orientierung erhalten ist. 

Beide Gruppen auBem intestinale Sensationen, intestinale 
Wahnideen werden jedoch nur in der Gruppe I produziert. 

Auf dem Gebiete des Affekts bieten beide Gruppen die groBte 
Aehnlichkeit. In der Depression ist die maBig starke Affekt- 
produktion monoton, jedoch leicht zu unterbrechen. Bei beiden 
Gruppen ist die depressive Eigenbeziehung, die symbolische 
Deutung der Wahrnehmungen in depressivem oder persekutori- 
schem Sinn stark ausgepragt. 

Die depressive Stimmungslage ist in der Gruppe I oft lange 
fixiert; in der Gruppe II steht der oberflachliche Wechsel der 

Monats8chrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 3. 13 


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192 


Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


Stimmung mehr im Vordergrunde. Angst tritt bei beiden ge- 
legentlich auf. 

Hand in Hand mit diesem Wechsel des Affekts geht der 
Wechsel des motorischen Verhaltens. Die motorische Erregung 
wechselt oft mit Gebundenheit, Vorbeireaktionen sind jedoch nicht 
zu beobachten; daB die sprachlichen AeuBerungen bisweilen in- 
koharent sind. haben wir oben schon hervorgehoben. 

Das motorische Verhalten, Gebundenheit und Erregung stehen 
in der Gruppe II im Vordergrunde des akuten Zustandsbildes, die 
Affektschwankungen sind frequent, jedoch nicht stark ausgepragt. 
Die depressive Eigenbeziehung ist im Verhaltnis zur Affektstarke 
stark entwickelt. In der Gruppe I ist der Affekt viel starker aus¬ 
gepragt, die mimischen Bewegungen sind stark entwickelt, und nur 
von Zeit zu Zeit treten ,,anfallsweise“ die stereotypen, durch Hallu- 
zinationen bedingtenBewegungen auf oder paroxysmale Erregungen. 
Diese Differenz des motorischen Verhaltens zeigen auch die 
Remissionen dieser beiden Gruppen. 

In der Gruppe I hebt sich das akute Stadium scharf von der 
Remission ab, wahrend in der Gruppe II sich Intensitatsschwan- 
kungen im motorischen Verhalten stets nachweisen lassen. Diese 
Tatsache kommt in der Arbeitsleistung gut zum Ausdruck insofern, 
als die Kranken der Gruppe II stets wieder versuchen, zu arbeiten, 
aber durch die erhohte Ermiidbarkeit an ersprieBlicher Arbeits¬ 
leistung verhindert werden. Die Falle der Gruppe I sind zumeist 
inaktiv und interesselos. 

Mit diesem Unterschied im motorischen Verhalten paart sich 
eine Differenz auf affektivem Gebiet. Gruppe II zeigt Stimmungs- 
schwankungen, die sich nur gradweise von denen des akuten 
Stadiums unterscheiden. Die Kranken der Gruppe I hingegen sind 
vollig indifferenter Stimmung. Diese Indifferenz ist wohl das auf- 
fallendste Symptom, und so hebt sich denn das akute Stadium mit 
den zahlreichen Sinnestauschungen scharf von der Remission ab. 

Die Affektschwache betrifft auch die als ,,Interesse“ be- 
zeichneten Affektnuancen. Die Kranken der Gruppe I sind inter¬ 
esselos und empfinden ihre Unbrauchbarkeit nicht als storend. 
Die der Gruppe II hingegen klagen iiber ihre Insuffizienz nach Art 
der Neurastheniker. 

Eine merkliche EinbuBe an Vorstellungen ist nicht nachweis- 
bar; bei II ist das Gedachtnis etwas herabgesetzt; beide Gruppen 
sind „fassungslos“ bei unerwarteten Ereignissen. 

Die beiden Gruppen III und IV sind frei von Sinnestauschungen 
und Wahnideen. Die wesentliche Storung stellt das Verhalten der 
Motilitat dar. In der Gruppe III sind diese Storungen manifest 
katatonischer Art. Die Bewegungen sind gebunden, manieriert, 
stilisiert; Negativismus oder Vorbeireaktionen sind jedoch nicht 
vorhanden. In den sprachlichen AeuBerungen ist der Tonfall unver- 
mittelt wechselnd und nicht immer sinngemaB. Die Wortabstande 
sind verlangert, der Satzbau ist korrekt. Die Wortwahl ist nicht 


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der Dementia praecox. 


193 


direkt falsch oder sinnwidrig, sondem unprazis; auch besteht Vor- 
liebe fiir seltene Ausdriicke, allgemeine Redensarten und Spriiche. 
Bei starkerer Erregung oder ,,anfallsweise“ werden die sprach- 
lichen AeuBerungen inkoharent und unverstandlich, obwohl der 
Satzbau erhalten ist (Wortsalat). 

Die Manieriertheit ist in jedem Stadium ohne weiteres auffallig 
und erweckt sofort den Verdacht auf Dementia praecox. Anders 
verhalt es sich mit den motorischen AeuBerungen der Gruppe IV. 
Diese zeigen gar keine spezifisch katatonischen Symptome, wenn 
man sie auch friiher als spezifisch katatonisch betrachtet hatte 1 ). 
Hierzu gehoren die elementaren symmetrischen Bewegungen, Walz- 
bewegungen, Stereotypien. Diese letzteren treten besonders 
sprachlich hervor, ebenso die Vorliebe fiir allgemeine Redensarten 
und Spriiche. Man hat bekanntlich in den letzten Jahren all diese 
Bewegungsstorungen auch bei anderen Psychosen nachgewiesen, 
und nur ihr gehauftes Auftreten ist der Dementia praecox eigen- 
tiimlich. Typischer noch ist wohl der rasche Intensitatswechsel der 
Symptome; die motorische Erregung tritt anfallsweise auf; es be¬ 
steht Neigung zu paroxysmalen Steigerungen (Schimpfanfalle). 
Wohl tritt vereinzelt Ideenflucht auf, sie ist jedoch wenig reich- 
haltig, monoton. 

Der Erregung entsprechen Phasen von Gebundenheit, die be¬ 
sonders in den spateren Stadien der Krankheit auftreten. Diese 
Phasen sind jedoch nur in der Gruppe IV stark entwickelt; hier 
kommen Stuporzustande zustande. In diesem Stupor zeigen die 
Kranken keinerlei Vorbeireaktionen, sondem lediglich Gebunden¬ 
heit; auch fehlt jegliche ausgepragte Stimmungslage. In der 
Gruppe III findet sich Stupor nur andeutungsweise. Dort ist der 
Kontrast zwischen Erregung und Gebundenheit iiberhaupt nicht 
exzessiv, sondem die Manieriertheit der motorischen AeuBerungen 
beherrscht das Bild. Zu gleicher Zeit finden mehr AffektauBe- 
mngen statt. 

Was den Affekl anlangt, so steht dieser durchaus nicht im 
Vordergrunde des Krankheitsbildes. Es besteht zumeist in- 
differente Stimmungslage mit oberflachlichem Stimmungswechsel. 
In der Gruppe III kann ziemlich lange noch eine gewisse Affekt- 
starke sich geltend machen; die AffektauBerung jedoch ist ge- 
wohnlich, schon wegen der Manieriertheit, leicht lappisch. Es 
kommt eine Nuancierung der AffektauBerungen zur Darstellung, 
jedoch keine exzessiv ausgepragten Affektlagen. Anders in der 
Gruppe IV. Hier besteht, wie gesagt, oft indifferente Stimmungslage 
mit oberflachlichem, lappischem Wechsel. In der unvermittelt ein- 
setzenden motorischen Erregungszustanden treten auch Affekt- 
schwankungen auf, die man aber weder als expansiv noch als 
depressiv bezeichnen kann, sondem als Mischung, als zornmutige 
Erregung. Die elementare motorische Erregung geht ohne Affekt- 
schwankung einher. 


Siehe Ur steins Zusammens tel lung 10, S. 2, Anmerkung 2. 

13* 


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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


Angstanfalle finden sich in beiden Gruppen. 

Die Remissionen sind, graduell verschieden von den akuten 
Stadien und gehen kontinuierlich in diese iiber. 

Wir haben soeben versucht, die Gruppen I. II und III, IV zu 
beschreiben, die durch das differente Verhalten der Sinnes- 
tauschungen und der Wahnideen sich unterscheiden. Wir sind bei 
dieser Schilderung, um eine einigermaBen einheitliche Darstellung 
zu geben, auch auf das Verhalten der Motilitat und des Affekts ein- 
gegangen und werden im folgenden diese Symptome nicht mehr 
ausfiihrlich zu erortern brauchen. Wir werden jedoch jetzt noch auf 
sie einzugehen haben, weil sich eine andere Einteilung der Gruppen 
ergibt, wenn man die 4 Verlaufsarten nach der Motilitat oder nach 
dem Verhalten des Affekts betrachtet. 

Beriicksichtigt man das motorische Verhalten, so ergeben sich 
ebenfalls 2 Gruppen, I, II, IV und III. 

Betrachten wir zunachst I, II und IV, so lassen sich die 
motorischen Storungen als Erregung und Gebundenheit charakte- 
risieren; besonders auf sprachlichem Gebiet tritt Stereo typie auf; 
auBerdem Inkoharenz und Vorliebe fiir allgemeine Redensarten. 
Bisweilen sind die sprachlichen AeuBerungen ohne Zusammen- 
hang. In der Gruppe I tritt die motorische Erregung nur anfalls- 
weise in den Paroxysmen auf, die von den Kranken alsBeeinflussung 
geschildert werden; auf sprachlichem Gebiet finden wir Cramers 
Zungenmuskelsinn-Halluzinationen, ohne daB jedoch die sprach¬ 
lichen AeuBerungen selbst eine krankhafte Modifikation erfiihren. 

Die Gruppe III zeigt im Gegensatz zu den anderen Manieriert- 
heit der motorischen AeuBerungen. 

Wenn wir versuchen, nach dem Affekt einzuteilen, so ergibt 
sich fiir die akuten Stadien gleichmaBiges Verhalten fiir alle 
4 Gruppen. Aengstlicher Affekt tritt bei alien anfallsweise auf. 
Im iibrigen wechselt die Stimmung leicht und haufig bei zumeist 
indifferenter Stimmungslage oder leichter Depression. Bei IV und I 
kommen langere Zeit fixierte Stimmungslagen (meist Depression) 
zur Beobachtung. 

Man kann sagen, daB Affekt und Motilitat eine Einteilung in 
I, II, IV und III gleichermaBen erkennen lassen. 

In der Remission nimmt I eine Sonderstellung ein insofern, als 
hier jahrelang Inaktivitat und Interesselosigkeit bestehen kann. 
In den anderen 3 Gruppen findet Arbeitsleistung statt, sie wird 
jedoch gestort, und zwar 

bei II durch Ermiidbarkeit (NB. in den Fallen der Gruppe I, 
die arbeiten, ist auch Ermiidbarkeit vorhanden, ebenso im Fall 14, 
der intestinale Wahnideen produzierte); 

bei III und IV dadurch, dasB die Remissionen sehr kurz sind; 
in den freien Phasen wird jedoch vollgiiltige Arbeit geleistet. Wir 
sehen also, daB die als Interesse bezeichnete Affektnuance an die 
motorische und affektive Erregung gebunden ist. 


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der Dementia praecox. 


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Eine besondere Erwahnung verdienen noch die intestinalen 
Sensationen und Wahnideen. Diese kommen in alien Gruppen vor 
mit Ausnahme der Gruppe IV. Am starksten sind sie ausgepragt 
in der Gruppe I; hier sind besonders auch die Wahnideen vorhanden, 
die sich in anderen Gruppen blofi vereinzelt finden (III, 14, II, 8). 
Intestinale Sensationen hingegen finden sich, wie gesagt, in alien 
Gruppen. 

Storungen der Orientierung finden sich nur in II. Diese Gruppe 
zeigt auch eine leichte Herabsetzung der Gedachtnisleistungen. 
Letztere findet sich jedoch auch vereinzelt in anderen Gruppen. 

Wenn wir die alien Gruppen gemeinsamen Merkmale zu- 
sammenfassen, so ergibt sich: 

1. in der Regel keine starke Demenz; 

2. allmahliche Entwicklung der Demenz; 

3. identische Gestaltung der akuten Stadien; 

4. das akute Stadium unterscheidet sich nur durch die In¬ 
tensity der Symptome von der Remission. 

4. gilt nur fur die Gruppen II, III und IV, wahrend 

in der Gruppe I das akute Stadium durch die Sinnes- 

tauschungen auf alien Gebieten sich scharf von der 

Remission abgrenzt. 

Differentialdiagnose. 

Da die akuten Stadien symptomatologisch verschieden sind, 
so mitssen sie bei der Besprechung der differentialdiagnostischen 
Merkmale auch getrennt erortert werden. Differential-diagnostisch 
kommen vorwiegend ahnliche Zustandsbilder der Dementia praecox 
und manisch-depressive Anfalle in Betracht. 

Gruppe I. 

Das akute Stadium laBt sich nicht unterscheiden von den- 
jenigen Formen, die in der Remission Residual symptome darbieten 
mit fortschreitender Wahnbildung, Falle also, die man friiher als 
chronische halluzinatorische Paranoia bezeichnete. Vielleicht ist 
der depressive Affekt in unseren Fallen starker ausgepragt; vor 
allem fehlen Vorbeireaktionen und Wortneubildungen. Bei der 
halluzinatorischen Paranoia pflegt auch die Wahnbildung im akuten 
Stadium sofort starker einzusetzen. 

Ferner gibt es, allerdings ziemlich selten, Anfalle des manisch- 
depressiven Irreseins, die mit „physikalischem Verfolgungswahn" 
einhergehen; es pflegen jedoch zu gleicher Zeit auch Hemmungs- 
erscheinungen vorhanden zu sein. Immerhin sind es gerade diese 
Zustandsbilder, die mit unseren Fallen die groBte Aehnlichkeit 
bieten, schon des periodischen Verlaufs wegen. 

Manche prasenile und senile Depressionen, Spatanfalle des 
manisch-depressiven Irreseins zeigen ein Hervortreten der Sinnes- 
tauschungen sowie anfallartige rhythmische Bewegungen, die auf 
fremde Beeinflussimg zuriickgefiihrt werden (cf. Qaupps Centralb latt, 


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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


1906, Sept.); es fehlen aber die Sinnestauschungen auf samt- 
lichen Sinnesgebieten, die sich in den hier beschriebenen Fallen 
finden. 

Dem Lebensalter nach sind einige unserer Falle den Spat- 
katatonien zuzurechnen. DaB diese von den friiheren Erkrankungen 
nicht zu trennen sind, hat neuerdings Sommer (7) hervorgehoben. 
Andererseits diirfte ein Teil der bis jetzt als Spatkatatonien auf- 
gefaBten Psychosen dem prasenilen Irresein (Kraepelin) zuzurechnen 
sein. Es ist daher moglich, daB auch einige unserer Falle dieser Form 
zuzurechnen sein wtirden. Dieser Umstand andert jedoch an der 
Symptomgruppierung unserer Falle nichts, und diese ist, wie wir 
noch sehen werden, das Wesentliche an unseren Fallen. 

Gruppe II. 

Das akute Stadium bietet groBe Aehnlichkeiten mit manisch- 
depressiven Anfallen des Ruckbildungsalters, in denen akustische 
Sinnestauschungen auftreten. Der Inhalt der Stimmen entspricht 
hierbei den depressiven Vorstellungen der Kranken und ist demnach 
affektiv gefarbt (Stimmen Angehoriger etc.). Auch die depressive 
Eigenbeziehung ist deutlich ausgepragt. Der Affekt ist jedoch in 
der Gruppe II weniger intensiv wie in den Depressionszustanden 
des Ruckbildungsalters; die mimischen Bewegungen sind sehr viel 
weniger ausgepragt, die Affektproduktion ist monoton und leicht 
zu unterbrechen; sie zeigt nicht die Steigerungsfahigkeit, das 
,,lawinenartige Anschwellen“ des Affekts im manisch-depressiven 
Irresein (scil. bei fehlender Hemmung). In Zustanden von Ge- 
bundenheit ist die Entscheidung selbstredend schwieriger. 

Die Tatsache, daB die ortliche und zeitliche Orientierung in 
unseren Fallen nahezu dauernd gestort ist, bei fehlender Hemmung, 
ist differentialdiagnostisch wertvoll. Auch sind die sprachlichen 
AeuBerungen bisweilen ohne Zusammenhang, ohne daB Rededrang 
oder Ideenflucht bestiinde. 

Gruppe III. 

Dem motorischen Verhalten (Manieriertheit) nach kann das 
akute Zustandsbild vielen anderen katatonischen Zustandsbildern 
ahnlich sehen ; es fehlen jedoch Vorbeireaktionen und Negativismus. 
Zudem pflegen in den ahnlichen katatonen Zustandsbildern auch 
Sinnestauschungen und Wahnideen vorhanden zu sein. 

Die eigenartige Gestaltung der motorischen Erregung be- 
schrankt sich hier auf die sprachliche und mimische Ausdrucks- 
weise und auf zweckmaBige Bewegungen. Isolierte ,,sinnlose“, 
rein motorische Reizvorgange werden hier nicht beobachtet. 

Gruppe IV. 

Diese Gruppe bietet differentialdiagnostisch groBere 
Schwierigkeiten, da in einzelnen Fallen erst die nach Jahren auf- 
tretende Demenz die Entscheidung bringt. 


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der Dementia praecox. 


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Die wesentlichen Merkmale gegeniiber dem manisch-depres- 
siven Irresein sind folgende: 

1. ein rascherer Wechsel des motorischen Verhaltens und der 
Stimmung; 

2. ein Hervortreten der motorischen Symptome bei Zuriick- 
treten des Affekts. Wir konnen in dieser Gruppe von motorischer 
Erregung und Gebundenheit sprechen, nicht von manischer oder 
trauriger Verstimmung. 

Wenn wir die Zustandsbilder dieser Gruppe mit typisch 
manisch-depressiven Anfallen vergleichen, so ergibt sich folgendes: 
In den manisch-depressiven Zustanden laBt sich stets nachweisen, 
daB mehrere Symptomengruppen beteiligt sind (z. B. psycho- 
motorische Erregung + Rededrang -f Ideenflucht), auBerdem 
spielt der Affekt eine hervorragende Rolle. In sehr vielen Fallen 
lassen sich auch Symptome nachweisen, die der entgegengesetzten 
Phase des manisch-depressiven Irreseins entstammen, eine Sym- 
ptomenverkuppelung, die in den Mischzustanden ihren Ausdruck 
finden. In unseren Fallen ist eine Beschrankung der Erregung auf 
einzelne Symptomengruppen nachweisbar, ohne daB noch weitere 
Gruppen beteiligt waren, und ohne daB das Ausbleiben dieser Be- 
teiligung durch Hemmungssymptome eine Erklarung fande. Wenn 
demnach unsere Falle besonders den Mischzustanden ahnlich sehen, 
so ist doch der Nachweis der Kreuzung der Symptomentrias 
(WeygancU) nicht zu erbringen. 

Als Beispiele der Beschrankung der motorischen Erregung 
mochte ich anfiihren: 

Im Fall 20 ist eine sprachliche Erregung vorhanden, die, wenn 
man nur die Nachschrift beurteilt, von jeder Manie produziert 
werden konnte; nur fehlt hier bei der Produktion der Affekt, der 
Stimmungswechsel, fehlt auch der Beschaftigungsdrang und vor 
allem die Ideenflucht; auBerdem tritt eine Vorliebe fur allgemeine 
Redensarten und Spriiche zutage. 

Ferner kommt bei anderen Fallen lediglich ein elementarer Be- 
wegungsdrang mit Walzbswegungen und symmetrischen Be- 
wegungen zur Entwicklung. Ist die Sprache beteiligt, so treten 
Stereotypie, sinnlose AeuBerungen oder allgemeine Redensarten auf. 

Ich weiB wohl, daB auch der manisch-depressive Anfall diese 
Lokalisation der Erregung bieten kann, und daB es in diesen Stadien 
nicht immer gelingt, alle anderen Symptome nachzuweisen. Was 
unseren Fallen, neben den bereits besprochenen Merkmalen 
(Affekt!) eigentiimlich ist, das ist die Tatsache, daB auf Jahre 
hinaus die motorischen Storungen auf dieselbe Art lokalisiert sind, 
bei Fehlen jeglicher anderen Symptome (auch Sinnestauschungen 
und Wahnideen fehlen!). 

DaB in spateren Jahren ein Hervortreten der elementaren Be- 
wegungen sich geltend machen kann, haben wir bereits hervor- 
gehoben. Es ware dies eine Parallelerscheinung zu der bei anderen 
Verlaufsarten der Dementia praecox beobachteten Tatsache 


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Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


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(cf. 1, S. 448), daB motorische Symptome sich in spateren Jahren 
vordrangen konnen. 

Wenn wir im vorstehenden auch versucht haben, das akute 
Zustandsbild unserer Falle differentialdiagnostisch von anderen 
Psychosen abzutrennen, so muB doch betont werden, daB identische 
Stadien sich in jeder Verlaufsform der Dementia praecox finden 
konnen. Fur unsere Falle ist aber charakteristisch, daB die folgenden 
akuten Stadien, der zweite Anfall, genau dieselbe Symptomatologie 
zeigen wie das erste, was doch bei der Mehrzahl der Dementia- 
praecox-Falle, insbesondere bei den rasch Verblodenden, selten der 
Fall ist. Ich weiB wohl, daB noch andere Formen als die vier hier 
beschriebenen Gruppen ,,periodisch“ auftreten, so insbesondere 
solche mit motorischen „Neubildungen“, Wahnideen und Sinnes- 
tauschungen. Bei diesen ist jedoch eine freie Remission selten zu 
beobachten, auBer nach dem ersten Anfall, nach welchem eine freie 
Remission von 4—5 Jahren auftreten kann; nach dem zweiten An¬ 
fall pflegt jedoch gewohnlich dauernde Internierung notwendig zu 
werden. Wenn ich mich auf die hier geschilderten 4 Gruppen be- 
schranke, so ist der Grand hierzu der Umstand, daB sie aus dem mir 
zu Gebote stehenden Material sich ergeben haben. 

Unsere Falle nehmen eine Sonderstellung dadurch ein, daB die 
Symptomatologie des akuten Stadiums sich stets identisch bleibt, 
und daB unter diesen konstant bleibenden Symptomen die Ver- 
blodung ganz allmahlich, meist nach einem Jahrzehnt sich ent- 
wickelt. 

Wenn wir auch in Gegenwart des ersten Anfalls die Verlaufs- 
art nicht mit Sicherheit diagnostizieren konnen und der pessi- 
mistische Satz Bleulers (1), S. 447: ,,ich glaube, daB man es aufgeben 
sollte, mit den jetzigenMitteln undBetrachtungsweisen nachKrank- 
heitsbildern innerhalb der Dementia praecox zu suchen“ fiir die 
Initialstadien wohl zu Recht besteht, so bietet doch die Auswahl der 
Symptomengrappen in unseren Fallen ein groBes Interesse, weil 
dieses Zutagetreten der durch Sejunktionsvorgange isolierten 
Symptomenkomplexe einen besseren Einblick in die Assoziations- 
storungen iiberhaupt gestattet; ahnlich deckt ja auch das Studium 
der angeborenen Schwachezustande, der Minderwertigkeiten, 
Symptomenverkuppelungen auf, welche die Psych.'logie des „Ge- 
sunden“ nicht erwarten laBt. 

Die Komplexe, die in unseren Fallen zutage treten, lassen sich 
allerdings mit den von Hoche vorgeschlagenen aprioristischen 
Syndrombezeichnungen nicht etiquettieren. Der hierher gehorigen 
Entgegnung Alzheimers auf Hoehes Vorschlage ist nichts hin/.uzu- 
fiigen. Wohl jedoch muB an dieser Stelle eingegangen werden auf 
die Ansichten und Tatsachen, die Loewy in seiner ausgezeichm ten 
Arbeit „Ueber Demenzprozesse und ihre Begleitpsyehosen nebst 
Bemerkungen zur Lehre von der Dementia praecox“ (4) niedergelegt 
hat. Unsere Krankheitsbilder bieten ja zahlreiche Beriihrungs- 


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der Dementia praecox. 


199 


punkte mit den Begleitpsychosen, mit dem manisch-depressiven und 
neuropathischen Typus. 

Wir geben diejenigen Stellen wieder, die zur Erorterung unserer 
Falle von Wichtigkeit sind. 

Auf Seite 378 findet sich: 

Einem allgemeinen Grundgesetze nach haben alle Arten von 
Demenzprozessen Begleitpsychosen, d. h. funktionell - psycho- 
tische Bilder, als von der Demenz, von den EinbuBeerscheinungen, 
unabhangige Teilerscheinungen dei* Demenzprozesse. Die Begleit- 
psychosen beruhen wohl auf der Erwerbung psyehotischer (d. h. 
im weiteren Sinne psychopathischer) Konstitutionen. Die Ver- 
schiedenheit der Verlaufsformen der Demenzprozesse erklart sich 
“zum Teil durch den Hinzutrtitt der erworbenen psychotischen 
Konstitutionen und der aus diesen erwachsenden Begleit- 
psy chosen. 

S. 368 wird ferner gesagt: es bleibt unberuhrt meine Lehre: 
fiber die Existenz der echten Begleitpsychosen. als vom Dement- 
werden generell verschiedene Produkte des zu Grunde liegenden 
Hirnprozesses. Denn die Lehre von den Begleitpsychosen stfitzt 
sich auf die Erkenntnis, daB der Verlauf des Dementwerdens mit 
dem Krankheitsverlaufe des Hirnprozesses (welcher sowohl die 
Demenz als die funktionell psychotischen Bilder als die korper- 
lichen Erscheinungen liefert) nicht ganz identisch ist, und daB die 
verschiedenen Erscheinungsformen in der Tat recht haufig nicht 
parallel gehen. 

Die Begleitpsychosen (S. 374) bieten 2 Typen: den manisch- 
depressiven und den neuropathischen Grundtyp. 

Die Charakteristik dieser ,,Typen“ ist im Original nachzulesen; 
ich mochte hier nur auf die klinische Dignitat eingehen, die ihnen 
der Autor zuteilt. Er betrachtet (S. 368) als koordinierte Ausdrucks- 
formen des zugrunde liegenden Demenzprozesses (Hirnprozesses) 
sowohl die charakteristischen Demenzsymptome als auch die ihrem 
Ursprung nach von den ersteren unabhangigen Begleitpsychosen. 
Auf S. 376 findet sich die AeuBerung: ,,auch die verschiedenartigen 
funktionellen Psychosen im Verlaufe der Dementia praecox sind 
sonach nur Begleitpsychosen des grundlegenden Demenzprozesses 4 *, 
und schlieBlich S. 355: ,,Die letzterwahnten ,funktionellen 4 ge- 
schlossenen Zustandsbilder nun erklaren sich nicht einfach durch die 
gleichzeitig festzustellende Demenz, wenn sie auch von ihr gefarbt 
werden, sondern sie stellen Begleitneurosen oder Begleitpsychosen 
des vorliegenden Demenzprozesses dar.“ 

Es ist ein Verdienst Loetvys , sich nicht damit begnugt zu haben, 
wie andere Autoren bis zum UeberdruB zu wdederholen, daB bei der 
Dementia praecox manisoh-depressive Symptome vorkommen, und 
diese Momente als Kampfmittel gegen die Dementia praecox ins 
Feld zu ffihren; er hat vielmehr, wie wir gesehen haben, kritisch ge- 
sichtet und die einzelnen Typen der Begleitpsychosen aufgestellt. 
Ganz abgesehen davon, daB die von Loewy gebrachten Be- 


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200 


Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


obachtungen wertvoll sind, so ist auch die Aufstellung der Lehre der 
Begleitpsychosen praktisch brauchbar, insofern die ,,Typen“ 
pragnant eine Anzahl von Symptomen zusammenfassen, und diese 
rasch bezeichnen lassen. Natiirlich birgt diese Bezeichnung von 
Symptomen mit ,,Typen“ eine Gefahr, denn sie stellen Vergleiche 
dar, die ja nie erschopfend sein konnen, und Loewy gibt selbst zu, 
daB die ,,Demenzsymptome“ durchschimmern auch in den Begleit¬ 
psychosen. Nichtsdestoweniger wird bei Betrachtung des Verlaufs 
vieler Falle von Dementia praecox die Auffassung Loewys vollauf 
gestiitzt. Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal dariiber, ob 
ein akutes Stadium als Rezidiv der Hauptpsychose oder als 
Schwankung der Begleitpsychose aufzufassen ist, dient wohl der 
Nachweis, ob die Demenz nach dem akuten Stadium sich vertieft 
hat oder nicht. Fur fortschreitende, nicht allzu chronische Ver- 
blodungsprozesse ist. wie gesagt, Loewys Auffassung berechtigt. 
Anders verhalt es sich jedoch, wenn nur ein Anfall der Psychose 
iiberhaupt auftritt und durch diesen einen Anfall eine psychotische 
Konstitution, wie Loewy treffend sagt, erworben wird. Es stellt in 
diesen Fallen die psychotische Konstitution die einzige Wirkung der 
akuten Psychose dar. Nun kann ich mich nicht der Auffassung an- 
schlieBen, daB ein erworbener,, manisch-depressiver“ Typus oder 
neurasthenischer Typus nicht auch ebenso viel Anspruch auf den 
Titel Defektsymptom haben sollte, wie etwa der Verlust einiger 
Vorstellungen oder einige aus dem akuten Stadium als Residual- 
symptom persistierenden Sinnestauschungen und Wahnideen. Ich 
gebe gern zu, daB da, wo all diese Symptome (Demenz, Wahn¬ 
ideen, Sinnestauschungen, Stimmungsanomalien) vereint sich 
finden, Stimmungsschwankungen weniger sich ,,vordrangen“ wie 
die anderen Symptome. Aber da, wo sie allein sich finden und sie 
die alleinige Wirkung der akuten Psychose darstellen, kann man sie 
nicht als Begleitpsychose bezeichnen, denn sie sind allein vor- 
handen. Die Affektschwaehe wird von den meisten Autoren (ins- 
besondere Kraepelin) als wesentliches Demenzzeichen erachtet. 
Wenn sie sich in einer erworbenen krankhaften Labilitat der 
Stimmung auBert, so ist dies doch auch ein primares, kein Begleit- 
symptom. Ich habe oben die ,,Falle“ (mit fortschreitender Ver- 
blodung) erwahnt, in deren Symptomatologie Loewys Begleit¬ 
psychosen ihre Berechtigung haben. Wiirde man seine Auffassung 
auf unsere Gruppen iibertragen, so wiirden die Psychosen lediglich 
aus Begleitpsychosen bestehen. Die Demenzsymptome schimmern 
allerdings auch in unseren Zustandsbildern hindurch, sie sind jedoch 
hauptsachlich durch Affektschwaehe (I, II) und Zerfahrenheit 
(III, IV) vertreten, durch die 2 Symptome, die auch Loewy als die 
wesentlichen DefektauBerungen der Dementia praecox betrachtet. 
Und wie auBert sich das Fortschreiten der Demenz ? Durch eine 
Zunahme der akuten Stadien, der intensiven Schwankungen, einer- 
seits, durch eine Zunahme der Affektschwaehe andererseits. Andere 
Symptome kommen gar nicht in Betracht. Wenn der Effekt 
der Demenz sich lediglich in der Sejunktion auBern wiirde, so konnte 


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der Dementia praecox. 


201 


die einmal stattgehabte Schisis nicht mehr vertieft werden, die Falle 
miiBten also stationar bleiben; und es gibt tatsachlich solehe Falle. 
In unseren Gruppen aber auBert sich das Fortsehreiten der Ver- 
blodung durch eine Weiterentwicklung des Krankheitsprozesses 
innerhalb einzelner durch die Sejunktion losgelosten Komplexe. 
Wenn dieser Vorgang auch dem manisch-depressiven Irresein 
symptomatisch ahnlich sieht, so stellt er deshalb doch nicht eine 
Begleitpsychose dar; man ware sonst berechtigt. ahnliche Zustands- 
bilder in der progressiven Paralyse ebenso zu benennen. 

Wenn wir die Stellung unserer 4 Gruppen zu den ubrigen Ver- 
laufsarten zu definieren suchen, so kann hierbei die alte Einteilung 
in Hebephrenie, Katatonie und paranoide Formen natiirlich nicht 
beriicksichtigt werden. Unter den Autoren, die in jiingster Zeit nicht 
bloB die eben erwahnte Einteilung angegriffen, sondern ihrerseits 
neues Material herbeigeschafft haben, ist Raecke hervorzuheben. 
Auf S. 15 des 1. Hefts des Archivs fur Psychiatrie 1910 gibt er 
5 Verlaufstypen fur den Beginn der Dementia praecox. 

Mit unseren akuten Stadien zeigen diese Typen folgende Be- 
riihrungspunkte: 

I. Die depressive Form der Katatonie: aus der fast regelmiiBig 
vorhandenen leichten initialen Verstimmung entwickelt sich ein an 
Melancholie erinnerndes Bild mit einzelnen Versundigungs- resp. 
Verarmungsideen und vielfach hypochondrischer Farbung. Dem- 
nach fehlt ein wirklich starker Affekt. Das Jammern ist eintonig. 

Unsere Gruppe II bietet im akuten Stadium ein ahnliches Zu- 
standsbild; nur fehlt der Negativismus; die triebartigen Verkehrt- 
heiten. Statt dessen treten bei Gruppe II anfallsweise stereotype 
,,zuckende“ Bewegungen auf, die auf fremde Beeinflussung zuriick- 
gefiihrt werden. 

Die Gruppe V. Die Katatonie in Schiiben beriicksichtigt in 
erster Beziehung den Verlauf: Kurzdauernde Anfalle geistiger 
Stoning, namentlich von Stupor und Erregung, setzen nachein- 
ander ein und sind oft durch jahrelange Pausen getrennt. Diese 
Schilderung wiirde mit der Gruppe IV wohl in Einklang zu bringen 
sein, nicht jedoch das Folgende: Es konnen sich voriibergehend 
auch Ziige aller ubrigen Verlaufstypen hier vorfinden. 

Was unsere Falle, insbesondere die der Gruppe I, II, von den 
eben erwahnten Depressionsformen Raeckes unterscheidet, das ist 
die geringe Beteiligung der Motilitat. In dieser Hinsicht sind unsere 
Falle viel eher in Beziehung zu bringen zu der depressiv-paranoiden 
Form, die Wieg- Wickental (11) 1908 beschrieben hat, und die zu den 
Fallen, die Fuhrmann als akute juvenile Verblodung, Stransky als 
Dementia tardiva abzusondern versucht haben. Das akute Stadium 
der Gruppe I deckt sich symptomatologisch vollkommen mit der 
depressiv-paranoiden Form Wieg-Wickentals. Katatone Symptome 
kommen in diesen Zustandsbildern nicht zur Beobachtung. Wieg - 
Wickenthal rechnet sie trotzdem zur Dementia praecox, weil der 
konsekutive Schwachezustand identisch ist mit den Remissionen 


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202 


Pfersdorff, Ueber die Verlaufsarten 


anderer Verlaufsarten, und er hat hierin vollkommen recht. Das 
Zustandsbild, das nach Wieg- Wickental ,,gewaB jedem Psychiater 
aus eigener Erfahrung bekannt ist“, ist in der Schilderung 
Kraepelins selbstredend schon enthalten. Charakteristisch ist die 
vorzugsweiseBeteiligung der Sinnestauschungen und der Depression 
mit Beziehungswahn. Wenn nun auch das Zustandsbild von ver- 
schiedenen Seiten ausfiihrlich geschildert worden ist, so ist doch 
iiber den weiteren Verlauf kein Anhaltspunkt zu gewinnen. Es 
konnen sich aus einem solchen akuten Stadium, dessen Aehnlichkeit 
mit der Alkoholhalluzinose Fuhrmann mit Recht betont, „chro- 
nische halluzinatorische Paranoia“-Formen entwickeln. Es kann, 
wie Wieg-Wickental dies schildert, nach kurzem Stupor eine ausge- 
pragte Schwache zur Ausbildung gelangen. Es kann endlich, wie 
unsere Gruppe I zeigt, mit unregelmaBiger Periodizitat ein akuter 
Anfall sich einstellen, der dem akuten Stadium analog verlauft. 

Aehnlich wie mit diesem halluzinatorischen akuten Stadium 
(mit dem Wahn der korperlichen Beeinflussung) verhalt es sich 
auch mit dem depressiven akuten Stadium der Gruppe II. Ich 
mochte an dieser Stelle hervorheben, daB es akute Stadien gibt, die 
sich nicht mit Sicherheit einer der beiden Gruppen zuteilen lassen. 
AuBerdem kann jede andere Verlaufsart der Dementia praecox 
voriibergehend dieses depressive Zustandsbild mit Halluzinationen 
und Beziehungswahn bieten. Ich habe im Gauppsehen Zentralblatt 
1905, Oktober, bereits diese eigenartige Depression in der Dementia 
praecox zu schildem versucht; die Falle, die ich damals anfiihrte, 
lassen sich der Gruppe II zurechnen; man kann aber, w r ie das auch 
nicht anders zu erwarten ist, das Zustandsbild auch bei vielen 
anders gearteten Verlaufsformen beobachten. Charakteristisch fur 
die Verlaufsform der Gruppe II ist aber die identische Gestaltung 
der akuten Stadien und ihr Verhaltnis zur Remission, das war oben 
eingehend erortert haben. 

Falle, die der Gruppe III, insbesondere jedoch der Gruppe IV 
nahestehen, sind schon von jeher beschrieben worden. 

Die Beriihrungspunkte mit dem manisch-depressiven Irresein 
woirden sogar so sehr hervorgehoben, daB Kraepelin hiergegen 
Front machen muBte und erklarte, die Bezeichnung zirkulare 
Katatonie sei nicht statthaft. Wiegental beschreibt ebenfalls 
zirkulare Formen, ,,ebenso entpuppen sich viele Falle von 
periodischer Manie spater als eine in Schiiben verlaufende 
Dementia praecox 44 . Er schildert (nach dem Vorgange Kraepelins 
u. A. )imakuten Stadium WahnideenundGehorstauschungen. Diese 
fehlen in unseren Fallen. Die Gruppe III ist durch die Manieriert- 
heit charakterisiert, die Gruppe IV durch elementaren Bewegungs- 
drang, Inkoharenz der sprachlichen Leistungen und Stereotypien. 
Das ist ja eines der interessantesten Merkmale unserer Falle, die 
Beschrankung des Krankheitsprozesses auf einzelne Komplexe, die 
durch die Dissoziation isoliert w arden; diese dauernde Isolierung 
kann klinisch ahnlich sich gestalten wie die voriibergehende Ab- 


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der Dementia praecox. 


203 


trennung der Symptomenkomplexe durch gleichzeitig vorhandene 
Hemmungs- und Erregungsvorgange im manisch-depressiven Irre- 
sein (insbesondere in den Mischzustanden). 

Wirsehen,daBdiesenabgespaltenen Komplexen, falls es sichum 
motorische Leistungen handelt, nur einzelne der sogenannten 
katatonen Symptome zukommen. Gruppe III Manieriertheit. 
Gruppe IV Stereotypie und Inkoharenz. 

Die rein motorische Inkoordination (8), die zu ausgepragten 
Vorbeihandlungen fiihren in alien ihren Modifikationen, findet sich 
hier nicht; es pflegen mit diesen Reizerscheinungen auch Hallu- 
zinationen, Wahnideen aufzutreten; der Verlauf dieser Falle ist 
viel seltener periodisch mit freien Zwischenzeiten, wenn auch die 
erwahnten motorischen Reizsymptome periodische Intensitats- 
schwankungen zeigen, wie dies ja bei alien Defekterscheinungen der 
Fall ist. Ich mochte hier nur anhangsweise einen Komplex erwahnen, 
der selten periodisch auftritt, sich jedoch in Endzustanden oft als 
Dauersymptom findet. Es sind dies auf motorischem Gebiete an 
Athetose erinnerndeFingerspreizbewegungen; dieKranken sprechen 
zu gleicher Zeit sinnlose Silben stereotyp aus und auBern Ver- 
folgungsideen mit Sinnestauschungen. Ich werde auf diese Falle, 
die sprachlich ein groBes Interesse bieten, an anderer Stelle im Zu- 
sammenhang zuriickkommen. Erwahnen muB ich hier noch, daB 
die Falle der Gruppe III auf sprachlichem Gebiet interessante 
Assoziationen bieten, ein Beweis fur meine schon an anderer Stelle 
aufgestellte Behauptuug, daB die Dissoziation auch zu einem Zerfall 
der sprachlichen Assoziationen fiihrt, die fiir die Gruppen charakte- 
ristisch sich gestalten konnen. So kommen in dieser Gruppe III 
nahezu ausschlieBlich Wortstammassoziationen zur Beobachtung. 
In anderen, nicht zu unseren 4 Gruppen gehorigen Verlaufsarten 
(vergl. Sitzungsbericht Baden-Baden 1910 und Marcus , Arch, 
f. Psych. 48. 1. S. 344) findet sich jedoch diese Reaktionsweise auch. 

Bei einem Vergleich der Remissionen der 4 Gruppen mit den 
Remissionen samtlicher Verlaufsarten der Dementia praecox (cf. 5). 
lassen sich schon mehr Beriihrungspunkte nachweisen, schon des- 
halb, weil der Vergleich der Remissionen klarer sich gestaltet wie 
die Synopsis der akuten Stadien, ahnlich wie ja auch die End- 
zustande AufschluB gegeben haben fiber die wesentlichen Symptome 
(Kraepelin). 

Von den 5 Remissionen diirfte die Gruppe I und II in ihrer 
Remission der Remission V zuzurechnen sein, III der Remission III, 
die IV. Gruppe schlieBlich der Remission II. 

Es konnen aber verschiedene Verlaufsarten die gleiche Ge- 
staltung der Remission darbieten, ebenso wie sie ja auch in den 
akuten Stadien sich voriibergehend ahnlich sein konnen. 

Unsere 4 Gruppen nehmen insofern eine Ausnahmestellung ein, 
als Remission und akutes Stadium nur Intensitatsunterschiede 
darbieten bei den Gruppen, die vorwiegend mit motorischen Er- 


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204 


O s s o k i n , Experimenfceller Beitrag ziir Wiederkehr 


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scheinungen einhergehen; fur die Gruppe I, in der nur anfallsweise 
die Motilitat beteiligt ist, gilt das eben Gesagte nicht in gleichem 
MaBe. 

Literatur - Verzeichnis. 

1. Bleuler , Die Prognose der Dementia praecox. Ztschr. f. Psych. 
H. 65. 1908. 2. Bom8tein , Alzheimers Ztechr, V. H. II. 3. Kraepelin . 

Lehrbuch. 4. Loewy, Ueber Demenzprozesse und ihre Begleitpsychosen 
nebst Bemerkungen zur Lehre von der Dementia praecox. Jahrb. f. Psych. 
1911. 5. Pfer8dorff , Die Remissionen der Dementia praecox. Ztschr. f. klin. 
Med. Bd. 55. Naunyn-Festschrift. 6. Raecke , Zur Prognose der Katatonie. Arch, 
f. Psych. 1910. H. I. 7. Sommer . Zur Kenntnis der Spatkatatonie. Ztschr. 
f. Neurol, u. Psych. 1910. Bd. 1. H. 4. 8. Stransky , E ., Zur Kenntnis ge- 
wisser erworbener Blodsinnsformen. Jahrb. f. Psych. 1903. 9. Thomsen , 
Manisch-depressives Irresein und Dementia praecox. 1910. 10. Urstein , Die 
Dementia praecox und ihre Stellung zum manisch-depressiven Irresein. 1909. 
11. Wieg-Wickental , Zur Klinik der Dementia praecox. 


<Aus der experimentell-biologisclien Abteilimg des pathologischen Institute 

der Universitat Berlin.) 

Experimenteller Beitrag zur Wiederkehr des Knie- 
phanomens nach Pyramidenl&sion bei Tabes dorsalis. 

Von 

Dr. N. OSSOKIN. 

Falle von zerebralen Apoplexien im Verlauf der Tabes, die 
schon an and fur sich eine relativ nieht seltene Erscheinung sind, 
erlangen besonderes Interesse in physiologischer Beziehung dann, 
wenn die infolge des tabischen Prozesses verschwundenen Sehnen- 
reflexe nach dem Eintritt der Hemiplegie wiederkehren. Eine 
solche Wiederkehr der Reflexe fand in den Fallen von Jackson , 
Marinesco, Taylor , Raichlin , Gold flam, Mamlock , Westphal u. A. 
statt, wobei die Mehrzahl der aufgezahlten Autoren 1 ), desgleichen 
Sternberg in seiner groBen, der Frage der Sehnenreflexe gewidmeten 
Monographie bei der Erklarung dieser Erscheinung von der An- 
nahme ausgeht, daB das Fehlen der Kniereflexe in vielen Fallen, 
namentlich bei nicht besonders stark fortgeschrittenem Tabes- 


l ) Jackson , Brit. med. Joum. 1892. 

Marinesco , Soc. de biol. 1893. 

Taylor , Brit. med. Journ. 1894. 

Raichlin , Soc. de biol. 1893. Zit. nach Cestan. 

Ooldflam , Berl. klin. Woch. 1891. 

Mamlock . Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 43. 

A. Westphal , Charit6-Annalen. 1899—1900. 

Sternberg , Die Sehnenreflexe und ihre Bedeutung fur die Pathologie 
des Nervensysterns. 1893. 


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des Kniephanomens nach Pyramidenlasion bei Tabes dorsalis. 205 


prozeB hauptsaehlich durch die hemmenden Einfliisse bedingt 
ist, die vom Gehirn zum reflektorischen Zerebrospinalzentrum 
der Pyrainidenbahn entlang gehen, aus welchem Grunde beim 
Ausfall der Funktion der Pyramidenfasern im reflektorischen 
Mechanismus sozusagen Gleichgewicht eintreten kann, worauf 
die Kniereflexe wiederkehren. 

Man kann nicht umhin, hier eine gewisse Analogie mit dem 
festzustellen, was von dem Mechanismus der Hypertonie als Folge 
einer Unterbrechung der kortikospinalen Fasern and Abschwachung 
derselben unter dem Einflusse einer Durchschneidung der Hinter- 
wurzeln bekannt ist, was in der von Forster zur Behandlung von 
spastischen Paralysen (namentlich der Little&oYien Krankheit) 
vorgeschlagenen Operation praktischen Ausdruck fand. 

Andere Autoren, wie Pick , Dejerine , Cestan , Noiga 1 ) verhalten 
sich dieser Erklarung gegeniiber ablehnend und lassen die in 
Rede stehende Erscheinung ohne bestimmte Erklarung. Es ist 
klar, daB unter diesen Umstanden diejenigen experimentellen 
Beobachtungen von besonderem Interesse sein miissen, die den 
in Rede stehenden klinischen Fallen analog sind. Bekanntlich 
bieten die Tiere, bei denen die Hinterwurzeln des Riickenmarks 
durchschnitten sind, sowohl hinsichtlich der klinischen Er- 
scheinungen als auch hinsichtlich der Lokalisation der unmittelbar 
nach der Durchschneidung der Wurzeln im Riickenmark ein- 
tretenden Veranderungen ein Bild dar, welches demjenigen der 
Tabes ahnlich ist. A. Bickel hat bei einem Hunde unmittelbar 
nach der Durchschneidung der Hinterwurzeln das Bild der Ataxie 
mit tiefer Sensibilitatsstorung sowie Fehlen der Kniereflexe 
beobachtet. Nach 5 Monaten schnitt er demselben Hunde das 
Riickenmark im oberen Brustteil durch, und nun kehrten un¬ 
mittelbar nach der zweiten Operation die Reflexe zuriick. 

Durch seine Beobachtung hat der Autor die zuvor von den 
Klinikern festgestellten Tatsachen bestatigt und ist zu dem 
Schlusse gelangt, daB nach der Durchschneidung der dem einen 
oder anderen Reflex entsprechenden Hinterwurzeln die Erregung 
von dem peripherischen sensiblen Neuron auf das Riickenmark 
auch den Fasern entlang iibertragen werden kann, die den be- 
nachbarten Segmenten angehoren. Augenscheinlich erreicht diese 
Erregung auch bei unverletzter Pyramidenbahn das Riickenmark 
teils auf diese Weise. Aber dann ist sie an und fiir sich nicht 
imstande, das Riickenmark zu beeinflussen, und zwar infolge des 
hemmenden Einflusses von seiten des Gehirns. 

Bei meinen im Laboratorium des Herrn Prof. A . Bickel 
ausgefiihrten Experimenten habe ich in einem Falle, dessen Be- 

1 ) Pick , Beitrage zur Pathologie und pathologischen Anatomie des 
Zentralnervensystems. 1898. 

Dejerine , 1895. Zit. nach Cestan . 

Cestan , Le Progres med. 

Noiga , Joum. de neiu’ol. 1907. 

A, Bickel, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 1901. 


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206 O s s o k i n , ExperimenteUer Beitrag zur Wiederkehr etc. 


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schreibung im nachstehenden folgt, eine neue Bestatigung fur das 
erhalten, was oben vom Mechanismus der Wiederkehr der er- 
loschenen Sehnenreflexe gesagt wurde. Die Einzelheiten dieses 
Experiments sind kurz folgende: 

Am 13. VI. 1910 wurden einem mittelgroBen Hunde in Aether- 
Morphium-Narkose die 2.—5. Lumbalwurzel beiderseits durch- 
schnitten. Nach der Operation konnte der Hund sich nicht mehr 
aufrichten. Auch fiel er, wenn er aufgerichtet wurde, auf die Seite. 

14. VI. Beim Aufstehen stiitzte er sich nur auf die vorderen 
Extremitaten, die hinteren befanden sich in spastischem Zu- 
stande und schleiften bei den Bewegungen des Tieres am Boden. 

Im Bereich der hinteren Extremitaten ist die Sensibiiitat 
erloschen. Die Kniereflexe fehlen gleichfalls. 

22. VI. Die Wunde heilt regelmaBig. Vonseiten der hinteren 
Extremitaten fast vollstandige Paraplegie. Kniereflexe fehlen. 

27. VI. Der Hund beginnt sich auch auf die hinteren Ex¬ 
tremitaten zu stiitzen, halt sie aber stets mit der Dorsalflache 
dem Boden zugewandt. Beim Gehen schleifen die hinteren Ex¬ 
tremitaten nach wie vor am Boden. Kniereflexe fehlen. 

4. VII. Die ataktischen Storungen haben unwesentlich nach- 
gelassen. Kniereflexe fehlen. 

5. VII. In Aether-Morphium-Narkose wurde mittels Gal- 
vanokauters nach der Methode von Rothmann eine Pyramiden- 
lasion in der Medulla oblongata hervorgebracht. 

Zwei Stunden nach der Operation konnte sich der Hund 
nicht aufrichten; er kratzte bei Aufrichtungsversuchen hilflos 
mit den Pfoten am Boden. Dasselbe wurde am Abend desselben 
Tages, fiinf Stunden nach der Operation, konstatiert. An beiden 
Seiten sind die Kniereflexe wiedergekehrt. 

6. VII. Der Hund zeigt noch keine regelmaBigen Bewegungen 
in den Extremitaten, vermag aber eine ihm beigebrachte 
abnorme Lage zu korrigieren; von Zeit zu Zeit macht das Tier 
Rotationsbewegungen um seine Korperachse. Die Richtung 
dieser Bewegungen ist jedoch von links nach rechts. Die Knie¬ 
reflexe lassen sich hervorrufen, man kann sie aber nicht als ge- 
steigert betrachten. An den vorderen Extremitaten sind die 
Reflexe gesteigert. 

7. VII. Der Hund beginnt zu gehen, indem er sich regel¬ 
maBig auf die Palmaroberflache der vorderen Extremitaten stiitzt. 
Die hinteren Extremitaten befinden sich in spastischem Zustande 
und sind an der Lokomotion aktiv fast gar nicht beteiligt. 

Die Kniereflexe lassen sich an beiden Extremitaten hervor¬ 
rufen. 

10. VII. In der Sakralgegend stellt sich Dekubitus ein. 
Beim Gehen funktionieren nur die vorderen Extremitaten, wahrend 
die hinteren am Boden schleifen. Schmerzgefuhl und Muskelsinn 
bleiben nach wie vor gestort. 

12. VII. Der Dekubitus entwickelt sich weiter; der Hund 
verfallt. 


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Maas, Ueber eine besondere Form etc. 


207 


12. VII. Tod. 

Autopsie. Die Operationsoffnungen sind im Lumbalteil 
der Wirbelsaule und in der Hohe der Medulla oblongata ver- 
wachsen. In der Hohle des Canalis vertebralis fand sich Eiter 
nicht vor. Die Medulla oblongata wurde samt dem Riickenmark 
aus dem Wirbelkanal herausgeholt, in Mullers cher Fliissigkeit 
fixiert und dann nach der Methode von Marchi bearbeitet. AuBer- 
dem wurden einige Segmente nach der Methode von Busch be¬ 
arbeitet. 

Die mikroskopische Untersuchung ergab, daB die Verletzung 
in der Gegend der Medulla oblongata in der Hohe der Pyramiden- 
kreuzung den linken Vorderstrang einnahm und von hier aus in 
schrager Richtung zum rechten Vorderhorn verlief. 

Infolge dieser Lokalisation durchschnitt die Verletzung die 
Fasern der beiden Pyramiden. Auf den von den hoher liegenden 
Segmenten der Medulla oblongata gefertigten Schnitten konnte 
man noch eine Verletzung der rechten Pyramide und der rechten 
Olive im Mittelteil derselben wahrnehmen. 

Im Riickenmark waren in aufsteigender Richtung die Fasern 
der beiden Hinterstrange, in absteigender Richtung die Fasern 
der Vorderseitenstrange und der Pyramidenseitenstrangbahnen 
gleichmaBig auf beiden Seiten degeneriert, wobei bemerkt werden 
muB, daB das beschriebene Bild an den nach Marchi bearbeiteten 
Praparaten deutlicher hervortritt als an denjenigen Praparaten, 
die nach Busch bearbeitet waren. 


Aus dem Hospital Buch (Berlin). 

Ueber eine besondere Form der Encephalopathia saturnina 
[Meningitis serosa] 1 ). 

Von 

Dr. OTTO MAAS. 

(Hierzu Tafel Vll—VIII.) 

Wenn auch schon zuvor vereinzelt Falle von Hydro¬ 
cephalus bei Erwachsenen beschrieben waren, so ist doch erst durch 
die Arbeit von Quincke 2 ) iiber „Meningitis serosa“ lebhafteres In- 
teresse fiir diese Krankheit erweckt worden. Das Leiden ist, dem 
genannten Autor zufolge, eine Krankheit des jugendlichen Alters, 

*) Nach einem Vortrag in der Berliner Gesellschaft fiir Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten am 12. VI. 1911. 

’) Valkmanns Sammlung klinischer Vortrage. 1893. 

Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 3. 14 


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Maas, Ueber eine besondere Form der 


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kommt aber ,,bis in das dritte Jahrzehnt hinein“ vor. Als Ursachen 
fiihrt Quincke an: Kopftraumen, anhaltende geistige Anstrengung, 
akute und chronische Alkoholwirkung, akute fieberhafte Krank- 
heiten (und Schwangerschaft), Otitis media, Influenza, Durch- 
nassung. 

In den folgenden Jahren sind dann zahlreiche, zum Teil durch 
Operation oder Sektion bestatigte Falle von Meningitis serosa ver- 
offentlicht worden, in denen recht verschiedene Schadlichkeiten als 
Ursache des Leidens angesprochen wurden. — Fuchs 1 ) bezeichnet 
in seinem kiirzlich erschienenen Lehrbuch den Hydrocephalus 
chronicus idiopathicus adultorum als eine ,,atiologisch ganz unklare 
Erkrankung“. — 

Im Laufe der letzten Jahre habe ich eine Reihe von Fallen 
zu beobachten Gelegenheit gehabt, bei denen ich die Diagnose: 
Hydrocephalus acquisitus stellte, und bei denen ich Bleiintoxikation 
als atiologisches Moment anschuldigen zu miissen glaubte. 

Mit der Veroffentlichung meiner Falle, von denen ich die 
Mehrzahl zuerst 1904 und 1905 untersucht habe 2 ), habe ich bis jetzt 
gewartet, weil mir bis vor kurzem ein Autopsiebefund nicht zur 
Verfugung stand. Nachdem jetzt wenigstens in einem der Falle die 
Diagnose durch die Sektion vollig sichergestellt ist, mochte ich 
dieselben bekannt geben. 

Fall I. Erste Untersuchung am 25. VIII. 1904. 44 jahrige Patientin 
Anna Gl., friiher Verkauferin. 

Anamnese : Zwei Briider sollen an Gehimerweichung, elner an Lungen- 
schwindsucht gestorben sein. Patientin war friiher stets gesund, hatte zwei 
Kinder, die beide, ca. 8 Monate alt, an unbekannter Krankheit starben; 
Ausschlag sollen dieselben nicht gehabt haben. 

Patientin selbst hat, soweit ihr bekannt ist, Syphilis nicht gehabt. 

Im Jahre 1892 erkrankte die damals 32 jahrige Patientin plotzlich mit 
Kopfschmerzen, SchivindelgefiiM und Unsicherheit auf den Beinen. Im 
Krankenhaus wurde Schwache der rechtsseitigen Extremitaten und Sprach- 
storung festgestellt. aber schon nach 14 Tagen konnte Patientin als geheilt 
entlassen werden. Sie nahm ihre Tatigkeit als Verkauferin wieder auf; doch 
schon nach weiteren.14 Tagen bemerkte sie, da 13 ihr Sehvermogen nachliefi, 
es wurde im Jahre 1893 Selmervenatrophie festgestellt; im September 1894 
hatte das Sehvermogen schon so weit abgenommen, dafi jPatientin nur noch in 
der Nahe der Nasenspitze Lichtschein erkennen konnte, und Ende 1894 war 
sie vollig blind. — Im Dezember 1894 bestand zeitweilig starke Diarrhoe 
mit Magenschmerzen. 

Seit Ende 1892 klagt Patientin dauemd — auch jetzt noch immer — 
liber starke Kopfschmerzen, zeitweilig auch liber SchwCnddanfaRe , wahrend 
der letzten zwei Jahre auch liber Brechcmfdlle. Weitere Krankheits- 
erscheinungen sind niemals aufgetreten. Menses regelmaOig, keine Urin-, 
keine Stuhlbeschwerden. 

Von Schadlichkeiten, die auf die Patientin eingewirkt haben konnten, 
lieB sich nur feststellen, dafi Patientin ein Jahr vor Beginn ihrer Krankheit 
begonnen hatte , sich die Haare zu fdrben. 


0 Fuchs, Einfiihrung in das Studium der Nervenkrankheiten. 
Wien 1911. 

*) Herm Sanitatsrat Dr. Qraeffner bin ich fur die Erlaubnis zur Ver- 
offentlichung derjenigen Falle, die ich im Siechenhaus in der Frobelstrafie 
beobachtet habe, zu bestem Dank verpflichtet. 


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Encephalopathia satumina (Meningitis serosa). 


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Status : Die Pupillen sind weiter als normal, reagieren nicht auf Lieht- 
einfall; Augenhintergrund: beiderseits genuine Opticus-Atrophie; beider- 
seits vollige Amaurose; Augenbewegungen sind frei, doch tritt bei Konver- 
genzbewegungen das rechte Auge nicht in den inneren Augenwinkel. Rechter 
Mundwinkel steht vielleicht eine Spur tiefer als der linke, im iibrigen ist der 
Facialis intakt. ebenso der Hypoglossus. 

Sensibilitat im Gesicht normal, Comealreflex beiderseits vorhanden, 
Kaumuskulatur kraftig. 

Gehor fiir Fliistersprache links intakt, rechts wird Flustersprache nicht 
gehort, angeblich soli die Storung erst seit der Erkrankung bestehen. 

Geruchsvermogen scheint gestort zu sein, wen igstens wird Baldrian 
rechts uberhaupt nicht gerochen und links nicht identifiziert. 

Geschmack nicht gestort. 

Gang bietet nichts Abnormes, normalerMuskeltonus, normales Muskel- 
volumenandenBeinen,Kniephanomen deutlich vorhanden, beiderseits gleich, 
Achillessehnenphanomen nach Babinski ebenfalls. Zehenreflexe plantar. 

Aktive Beweglichkeit beider Beine intakt, beiderseits gleich. 

Gefiihl fur Beruhrung und Schmerzreize ist erhalten, es scheint sogar 
ein gewisser Grad von Hyperalgesie am ganzen Korper zu bestehen. 

Kniehackenversuch prompt. 

Bauchreflexe beiderseits lebhaft. 

Keine Sensibili tats storung am Rumpfe. Muskulatur an den oberen 
Extremitaten gut entwickelt, normaler Muskeltonus. Beide Hande sind 
leicht cyanotisch. Supinatorphanomen schwach vorhanden, Tricepsreflex 
nicht sicher auslosbar. 

Aktive Beweglichkeit der oberen Extremitaten intakt. Handedruck 
beiderseits gleich und kraftig. Beim Erheben der Arme kein Zuriickbleiben 
einer Seite. 

Gefiihl fiir Beriihrung, Schmerzreize und Lageveranderung an den 
oberen Extremitaten intakt, bei Zielbewegungen beiderseits vielleicht eine 
Spur Wackeln. 

Kleine Gegenstande werden in beiden Handen durch Betasten prompt 
erkannt. Bewegungsfolge in beiden Handen nicht verlangsamt. 

Urin ist frei von EiweiB imd Zucker. 

Am Zahnfleisch kein Bleisaum. 

Die Intelligenzprufung ergibt keinen Defekt. Patientin benimmt sich 
auf der Abteilimg geordnet, macht sich sogar trotz ihrer Blindheit dadurch 
niitzlich, daB sie hinfalligen Patientinnen behilflich ist. Die bei spateren Ge- 
legenheiten ausgefiihrte Untersuchung ergab stets den gleichen Befund; die 
Klagen iiber Kop fschmerzen , namentlich im Hinterkopf, sowie iiber Schwindel - 
gefiihl sind dauernd die gleichen geblieben, neue Symptome sind bis jetzt 
(Juni 1911) nicht hinzugetreten. 

Epikrisc: Von objektiven Symptomen haben wir im wesent- 
lichen nur die Opticusatrophie, die bekanntlich bei einer groBen 
Zabl von Krankheiten auftreten kann, doch schrankt sich die Zahl 
der differentialdiagnostisch hier in Betracht kommenden Krank¬ 
heiten dadurch auBerordentlich ein, daB das Leiden nun schon 
18 Jahre besteht, ohne daB neue Symptome aufgetreten waren. 
Die subjektiven Angaben liber haufige Kopfschmerzen, Schwindel 
und zeitweiliges Erbrechen sprechen fiir das Bestehen eines intra- 
kraniellen Leidens. 

Von diesen kann die Lues cerebri als recht unwahrscheinlich 
bezeichnet werden, da einmal die Anamnese keinen Anhaltspunkt 
fiir diese ergibt und auch ein luetischer ProzeB, der in keinem 
anderen Grebiete als am Opticus objektiv nachweisbare Ausfalls- 
erscheinungen hervorrufen wiirde, auBerordentlich wenig Wahr- 
scheinlichkeit fiir sich hat. 

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Maas, Ueber eiiie besonder© Form der 


Eher noch konnte man an einen Tumor innerhalb der Schadel- 
hohle denken, da wir ja gerade die Allgemeinsymptome des Gehirn- 
tumors: Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen vorfinden, doch aucb 
diese Diagnose hat wegen der mangelnden Progression des Leidens 
wenig Wahrsche nlichkeit fiir sich. 

Dagegen stimmen die Symptomatologie und der Verlauf in 
unserem Falle vollig iiberein mit dem Krankheitsbild der Meningitis 
serosa, bei der bekanntlieh die Allgemeinsymptome die gleichen wie 
beim Tumor cerebri sind, Lokalsymptome gar nicht oder nur an- 
deutungsweise auftreten und stationarer Verlauf geradezu ein 
Charakteristikum des Leidens ist. 

Ob die im Anfang voriibergehend aufgetretene Hemiparese mit 
Sprachstorung ebenfalls auf den Hydrocephalus zu beziehen ist, 
oder ob diese Symptome auf eine selbstandige Encephalitis zuriick- 
zufiihren sind, laBt sich meines Erachtens nicht entscheiden. 

Was nun die Atiologie des Leidens betrifft, so nehme ich an, 
daB Bleiintoxikation durch Gebrauch eines Haarfarbemittels an- 
zuschuldigen ist. Es lieB sich bei der Patientin, die als Ver- 
kauferin in einem Lebensmittelgeschaft tatig gewesen, beruflich 
mit Giften, soweit sich nachweisen lieB, nicht in Beriihrung ge- 
kommen war und auch sonst sich keinen schadlichen Einfliissen aus- 
gesetzt hatte, nur feststellen, daB die Patientin wahrend des letzten 
Jahres vor Beginn ihrer Erkrankung sich die Haare gefarbt hatte. — 
In zahlreichen Werken, die ich darauf hin durchgesehen habe, wird 
auf das Vorkommen von Blei in Haarfarbemitteln hingewiesen, so 
im Handbuch der Therapie innerer Krankheiten (3. Aufl., Bd. II, 
S. 438), femer im Lehrbuch der Intoxikationen von Robert 
(2. Auf.., S. 359), sodann im Handbuch der speziellen Pathologie 
und Therapie, herausgegeben von Nothnagel (4. Bd., 3. Teil 
4. Abt: Remak: Neuritis und Polyneuritis, S. 652); weiter sprechen 
von bleihaltigen Haarfarbemitteln Paschkis 1 ), Erben 2 ), Jaksch 8 ). 
Eingehende Angaben uber bleihaltige Haarfarbemittel habe ich in 
den Werken von Weyl 4 ) und Eulenburg 6 ) gefunden, die eine groBe 
Reihe bleihaltiger Haarfarbemittel anfiihren. Da ich keine Gelegen- 
heit hatte, das von der Patientin verwandte Haarmittel zu unter- 
suchen, so kann ich, wie ich zugeben muB, nicht dafiir einstehen, 
daB dieses bleihaltig war. Ich muB auch zugestehen, daB ich bei 
der Untersuchung der Patientin keinen Anhaltspunkt fiir Blei¬ 
intoxikation nachweisen konnte; die Patientin hatte keinen Blei- 
saum, Blutuntersuchung kam nicht in Frage, da die Erkrankung 
vor 19 Jahren eingetreten war, und nach den Angaben von Orawitz 
die bei Bleiintoxikation beobachteten punktierten Erythrocyten 
einige Wochen, nachdem die Patienten der Bleieinwirkung entriickt 

x ) Kosmetik fiir Aerzte. Wien 1890. 

*) Handbuch der Sachverstandigen-Tatigkeit. 1909. S. 386. 

8 ) Die Vergiftungen. Wien 1910. 8. 186. 

4 ) Handbuch der Hygiene. Bd. 3. 1893. S. 387. 

6 ) Realenzyklopadie. 2. Aufl. Bd. 4. 1885. Artikel Kosmetika von 
Bernatzik. 


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Encephalopathia satumina (Meningitis serosa). 


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sind, zu verschwinden pflegen; auch Nachweis von Blei im Ham 
und Kot muBte so lange Zeit nach der Intoxikation aussichtslos 
erscheinen. 

Nun kommen allerdings in Haarfarbemitteln noch andere 
giftige Bestandteile vor, aber anscheinend Blei besonders haufig, 
und es ist ja vom Blei bekannt, daB es eine hervorragend deletare 
Wirkung gerade fur das Nervensystem besitzt. Ich glaube daher, 
daB Bleiintoxikation dutch Haarfdrbemiitd als Ursache des Krank- 
heitsprozesses groBe Wahrscheinliehkeit fur sich hat, urn so mehr, da 
das klinische Bild mit den weiter unten zu besprechenden Fallen 
ubereinstimmt, in denen die Beschaftigung im Buchdruckergewerbe 
kaum einen Zweifel an der Bleiintoxikation zulaBt. 

Fall II. Erste Untersuchung der damals 45 jahrigen Patientin 
Johanna Kr. im Januar 1905. 

Familienanamnese ohne Belang. 

Patientin hatte 2 Kinder, die bald nach der Geburt starben; sie hat 
viele Jahre bis zum Beginn ihrer Erkrankung in einer Druckerei gearbeitet; 
sie selbst hatte dort nur Papier zu verpacken, es wurde aber in dem Raum, 
in dem sie arbeitete, mit Blei gearbeitet. Im Januar 1901 erkrankte 
Patientin plotzlich mit Kopfschmerzen , MaUigkeit . Schvrindel und Er- 
brechen; eine Ursache fiir die Beschwerden weiB sie nicht. Die genannten 
Beschwerden hielten an, fiinf Wochen spater wurde in dem Kranken- 
haus, das sie aufsuehte, taumelnder Gang, Steigerung des Kniephanomens, 
Stauungspapille und Sehstarung festgestellt. Zwei Monate spater wurde 
Patientin aufgeregt und reizbar; bald danach steigerte sich die Seh- 
storung zu volliger Amaurose, und es wurde ferner Riickwartsfalien, be¬ 
sonders nach der rechten Seite, bei Geh- und Sitzversuchen festgestellt. In 
psychischer Hinsicht machte sich in den nachsten Wochen immer mehr zu- 
nehmende Unldarheit und Teilnahmlosigkeit bemerkbar. Auch traten aus- 
gesprochene Verfolgungsideen zutage; die Sprache war dabei zeitweilig 
nahezu unverstandlieh, und es traten wiederholt Krampfanfalle auf, liber 
deren Natur aber aus der Krankengeschichte nichts zu entnehmen ist. 
Einige Monate spater wurde die Stimmung der Patientin euphorisch, 
zeitweilig sah man leichte Zuckungen in den Armen und im Gesicht; 
die vollige Amaurose blieb dauernd bestehen, die Pupillen waren weit, 
Lichtreaktion fehlte, das Geruchsvermogen war herabgesetzt, Gesicht etwas 
gedunsen, an Facies leonina erinnemd. Einige Monate danach Klagen fiber 
imangenehme Geruchsempfindungen, spater Verlust der Sprache wahrend 
einer halben Stunde. Einige Tage danach deutliche Paraphasie, die am 
nachsten Tag schon wieder vollig versehwunden war; die Klagen fiber Verfol¬ 
gungsideen und qualende Geruchshalluzinationen wiederholten sich, Un- 
sicherheit und Schwanken beim Gehen wurde ebenfalIs wiederholt konstatiert. 

Im Juli 1902 Steigerung des Knie- imd Achillesphanomens, links mehr 
als rechts, links Patellar-, beiderseits FuBclonus. 

Zehenreflex links deutlich dorsal, rechts zweifelhaft. 

Psychisch allmahlich Besserung; es wurde im November 1904, auBer 
einer leichten Erregbarkeit bei kleinen Anlassen, MiBtrauen gegen die Um- 
gebung undBeeinfluBbarkeit, nichts Auffallendes mehr bemerkt; im ganzen 
ist Patientin zufrieden, fast euphorischer Stimmung. November 1904 war das 
8chwindelgefiihl vollig versehwunden; linke Lidspalte war enger als rechte, 
es bestand ein leichter Grad von Nystagmus, die Blickbewegung nach oben 
war beschrankt, linke Pupille etwas weiter als rechte, etwas verzogen; 
Pupillen-Lichtreaktion fehlte beiderseits. Der linke Mundfacialis war etwas 
schwacher innerviert als der rechte. 

Rorribergsohes Phanomen sehr deutlich; geht Patientin, so verliert sie 
nach wenigen Schritten das Gleichgewicht und wurde ohne Unterstiitzung 
hinfallen. Aktive Beweglichkeit der unteren Extremitaten in der Riicken- 


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Maas, Ueber eine besondere Form der 


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lag© nicht gestort. Zehenreflex links dorsal, rechts plantar. Sensibilitat an 
den unteren Extremitaten intakt. Kein© Druckempfindlichkeit der Nerven- 
stamme. Gedachtnis fiir Langst- und Jiingstvergangenes intakt, Orien- 
tierung gut, etwas abweisendes Verhalten. 

Ophthalmoskopisch: neuritische Atrophie. 

Die Patientin, bei der im Krankenhaus die Diagnose auf Hirn- 
tumor gestellt worden war, wurde von mir zuerst im Januar 1905 
rmter8ucht, und es wurde folgender Befund erhoben: 

Patientin kann iiber ihr© Vorgeschicht© gut Auskunft geben, ihr© An- 
gaben iiber Entstehung \md Verlauf ihrer Krankheit, soweit dieselben 
kontrolliert werden konnten, erwiesen sich als rich tig. Abgesehen von Stuhl- 
verstopfung und Blindheit hatte sie keine Klagen. 

Status: Untere Extremitaten in gutem Emahrungszustand, im linken Be in 
vielleicht etwas Rigiditat, Kniephanomen beiderseits sehr lebhaft, Achilles- 
sehnenphanomen vorhanden. Beiderseits FuBclonus, der sich nicht erschopft, 
kein Patellarklonus. Zehenreflex rechts typisch dorsal, links unbestimmt. 
Sensibilitat fiir Beriihrung und Schmerzreize intakt, ebenso Lagegefuhl, keine 
Ataxie beim Kniehackenversuch. Der Gang ist hochgradig unsicher, von an- 
gedeutetspastischemCharakter; Patientin kann nur mitUnterstiitzung gehen; 
Bombergsches Phanomen deutlich. Bauchreflex beiderseits schwach vor¬ 
handen, keine Rumpfzone. Sehnenphanomene an den Armen vorhanden, 
Fingemasenversuch beiderseits prompt. Tastvermogen in den Handen nicht 
gestort. Leichte Asymmetrie im Facialis, Masseterphanomen vorhanden, 
nicht gesteigert, Comealreflex beiderseits vorhanden. Linke Pupille etwas 
weiter als rechte, Licht- und Konvergenzreaktion fehlen, es besteht beider¬ 
seits vollige Atrophie des Sehnerven. Bei der Geruchspriifung kann Patientin 
die Namen der ihr vorgehaltenen Substanzen nicht benennen, sie versagt 
schon bei einfachen Rechenaufgaben, fiihrt das aber auf momentane Er- 
regung zuriick. 

XJrin enthielt weder Albumen noch Saccharum, hatte ein spezifisches 
Gewicht von 1019; Urinmenge war nicht vermehrt. 

Die Diagnose stellte ieh auf erworbenen Hydrocephalus , da das 
Leiden mit dentypischenHimdrucksymptomen eingesetzt hatte und 
der stationare Verlauf mit Riickgang mancher Symptome meines 
Erachtens gegen eine Hirngeschwulst sprach. 

Auch an Lues cerebri muBte gedacht werden, indessen ware 
doch auch bei dieser das Fehlen aller Symptome, die nicht direkt 
als Drucksymptome gedeutet werden konnen, recht ungewohnlich 
gewesen. 

Bei der — wie die Sektion bewies, richtigen — Annahme eines 
Hydrocephalus geben nur die Erscheinungen von seiten der unteren 
Extremitaten zu Bemerkungen AnlaB. Schwache der Beine ist 
mehrfach bei Hydrocephalus beobachtet worden, ob auch FuB- 
clonus und dorsaler Zehenreflex, ist mir nicht bekannt. Das Auf- 
treten dieser Symptome konnte auf den Druck des Hydrocephalus 
zuriickgefuhrt werden; es ware aber auch denkbar, daB das schad- 
liche Agens, nach meiner Annahme Blei, direkt schadigend auf die 
motorischen Bahnen gewirkt hatte. 

Die Patientin wurde von mir im Lauf der folgenden Jahre wiederholt 
untersucht, ohne dafi eine Aenderung in ihrem Befinden zu konstatieren 
gewesen ware. 

Am 8. II. 1911 wurde Patientin plotzlich bewuOtlos; das Gesicht war 
stark cyanotisch, der Kopf nach links gedreht, und es traten Zuckungen in 
beiden Armen ein. DerZustcmd blieb unverandert, bis nach 24 Stunden der 
Exitus erfolgte. 


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Encephalopathia satumina (Meningitis serosa). 


213 


Aus dem Sektionsprotokoll (Dr. Mangold) sei folgendes erwahnt: 

Bei der Herausnahme des Gehims reifit ein an der Gehimbasis ge- 
legener diinnwandiger Cystensack ein, und es entleert sich aus ihm klare, 
farblose Flussigkeit. Durch die Cyste ist das Chiasma stark komprimiert und 
ist, ebenso wie die Nervi optici, wesentlich diinner als normal. Die noch teil- 
weise gefullte Cyste hat etwa die GroBe einer WalnuB; siehe Phot. I 1 ) (nach 
Zeichnung); ihre seithche Begrenzung bilden die beiden Schlafenlappen; 
nach vom reicht sie bis zur Substantia perforata anterior, nach hinten ixber- 
ragt sie die Corpora mamiUaria. Im Bereiche des linken Schlafenlappens 
ist die Pia etwas getriibt, sonst ist auBerlich am Geliim nichts Pathologischea 
zu sehen, speziell ist die Pia an der Basis cerebri nicht verdickt, und es ist 
auch die Rinde des Gehims nicht plattgedriickt. 

Am Riickenmark makroskopisch nichts Pathologisches zu sehen. 

Das Herz war von normaler GroBe, Muskulatur etwas braunlich ver- 
farbt, Klappen zart. 

Im Anfangsteil der Aorta ausgedehnte Sklerosen und Triibungen. 

Lungen: ohne Besonderheiten. 

Milz: auf der Konvexitat zahlreiche Verwachsungen, maBige Peri¬ 
splenitis; Pulpa graurosa. Netz an zahlreichen Stellen mit dem vorderen 
Peritoneum parietale und den Organen des kleinen Beckens verwachsen. 

Nieren: Oberflache zeigt beiderseits narbige Einziehungen. 

Beckenorgane: beiderseits Hydrosalpinx, rechts groBer als links. 
Hinterflache des Uterus mit dem Rectum fest verwachsen. 

Leber: sehr klein, breite Verwachsungen auf der Konvexitat. Auf dem 
Querschnitt narbige Bindegewebsziige; sehr deutliche Lappchenzeichnung. 

'H Magen, Darm, Pankreas ohne Besonderheiten. Zunge: keine glatte 
Atrophic des Grundes. — 

Naohdem das Gehim einige Tage in Formol gehartet war, wurde ein 
Querschnitt unmittelbar vor der Briicke angelegt. 

Man Bah jetzt (s. Phot. II auf Taf. VII—VIII) — Phot. Ill zeigt zum 
Vergleich den Durchschnitt durch ein normales Gehim — starke Er- 
weiterung beider Seitenventrikel so wie namentlich auch des 3. Ventrikels, 
dessen Basis stark vorgewolbt ist, wodurch wie oben beschrieben, der 
Eindruck einer Cyste entstand. 

Der Balken ist auBerordentlich verdiinnt und fast ganz vom Fornix 
getrennt, so daB die beiden Seitenventrikel in groBer Ausdehnung mitein- 
ander kommunizieren. 

Infolge der Ventrikelerweiterung lieB sich das Ependym in weiter Aus¬ 
dehnung iibersehen und abtasten; es erschien iiberall vollig glatt und eben. 

Auf einem in der Mittellinie durch den hinteren Teil des Gehims an- 
gelegten Sagittalschnitt sieht man auch starke Erweiterung des Aquaeduotus 
Sylvii und des 4. Ventrikels. 

Mikroskopische Untersuchung. 

Zur Anwendung kamen Nissls che Zellfarbung, Bielschoivsky&che 
Fibrillenfarbung, Weigertsche Markscheidenfarbung, mn Gfiesonache 
Orcein- und Resorcinfuchsinfarbung, Herxheimersche Scharlachfarbung 
und Mannsche Flussigkeit, die beiden letztgenannten Methoden ent- 
sprechend den Alzheimerschen Angaben (Histologische und histopatho- 
logische Arbeiten iiber die GroChimrinde. Bd. III. H. 3. Methode 1 
und 5). — Herr Kollege Bielschowsky hatte die Freundlichkeit, die 
Praparate mit mir zusammen durchzusehen, wofiir ich ihm auch hier 
meinen verbindlichsten Dank sage. 


*) Fur die Anfertigung der Photographien bin ich Herm Sanitatsrat 
Dr. Reuter zu bestem Dank verpflichtet. 


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Maas, Ueber eine besondere Form del 


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Die Pia ist deutlich, wenn auch nicht hochgradig verdickt, man sieht 
in ihr teils langgestreckte Bindegewebszellen, teils kleine runde Zellen 
mit dunklem Kem. Die PialgefiiBe sind nicht infiltriert. An einzelnen 
Stellen der Pia sieht man groBe Mengen von Pigment, das im Nissl- 
Praparat meist einen griinen Farbenton hat ; dasselbe liegt zum Teil 
im Innem von Zellen, zum Teil hatte man den Eindruck, daB es frei 
im Gewebe liegt. 

Die Cytoarchitektonik ist im allgemeinen in normaler Weise er- 
halten, doch sieht man an einzelnen Stellen quer oder schragstehende 
Zellen. 

In der ganghenzellfreien Schicht erscheint das Gewebe an manchen 
Stellen bei der Nissl schen Farbung glasig geschwollen und von leicht 
grauem Farbenton, die Glia ist hier deuthch gewuchert, und es ist viel- 
fach das Protoplasma der Gliazellen weiterhin sichtbar, als normaler- 
weise. 

Die GefaBe der Rinde, ebenso wie die der weiBen Substanz, sind 
leicht verdickt, nirgends aber sieht man zellige Infiltration des 
adventitiellen Lymphraums, und man sieht nirgends sogenannte GefaB- 
pakete. 

Mit der Nisslfarbiing sieht man, daB die Ganglienzellen der Hirn- 
rinde zum Teil abnorm weithin sichtbare Fortsatze haben. Der Kem 
vieler Ganglienzellen ist abnorm dunkel gefarbt und geschrumpft. Im 
Ammonshom sah man um viele Ganglienzellen herum zahlreiche 
Trabantzellen, mehrfach konnten 5—6 gezahlt werden. 

Die Bielschowskysche Methode laBt vielfach das Bild der Pigment- 
sklerose erkennen, wie das von Simchowicz 1 ) ausfiihrlich geschildert 
wurde. Im Innem der Zellen ist oft nichts von Fibrillen zu sehen, 
wahrend dieselben in den Zellfortsatzen deuthch vorhanden sind. Diese 
Pigmentsklerose findet sich an Zellen aller Schichten, und ich hatte nicht 
den Eindruck, daB eine der Schichten besonders stark getroffen war. 

Mit der Herxheimerschen Scharlachfarbvng sieht man Fett in 
groBen Mengen um BlutgefiiBe in der Gehirnrinde herum, wo es 
groBe Klumpen bildet; in Foim von kleinen Komchen sieht man es 
im Protoplasma zahlreicher Ganglienzellen, in recht verschieden groBer 
Menge, ebenso haufig in der Nahe des Kerns wie in den peripheren 
Teilen der Zellen; vereinzelt sieht man es auch um Gliakeme herum. 

Mit der Spielmeyerachen Markscheidenfarbung ist nichts Patho- 
logisches an der Himrinde zu sehen. 

Farbung mit der Manmchen Fliissigkeit ergibt in der weifien 
Substanz das Vorhandensein zahlreicher Gliazellen mit groBem Proto- 
plasmaleib. Eine grofle Anzahl derselben sind zweifellos amoboide 
Ghazellen, sie haben einen kleinen dunkeln Kem, das Protoplasma 
ist glasig homogen; an einzelnen sieht man auch kleine Vakuolen und 
sie haben die typische Amobenform, wie das von Alzheimer eingehend 
beschrieben wurde. 


*) Histologische und histopathologische Arbeiten iiber die Groflhim- 
rinde. Herausgegeben von Nissl und Alzheimer. Bd. IV. H. 2. 


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Encephaiopathia satumina (Meningitis serosa). 


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Von Driisen ist weder mit dieser noch mit der Bielschowskyschen 
Methode etwas zu sehen. 


2. Ruckenmark . 

Auch hier ist die Pia leicht verdickt, sie enthalt wenig Kerne und 
erscheint in groBer Ausdehnung glasig homogen. 

Die Zahl der Vorderhornzellen ist nicht vermindert; die Zellfortsatze 
sind in normaler Weise sichtbar. Kem und Kernkorperchen sind er- 
halten. In vielen Zellen ist aber die Pigmentmenge ganz auBerordentlich 
vermehrt; bei Anwendung der Fettfarbung scheint das Fett in solcher 
Menge vorhanden zu sein, daB man geradezu iiberrascht ist, daB mit der 
iVm/methode der Kern iiberall deutlich sichtbar wird. 

Die GefaBwiinde sind zum groBen Teil verdickt, aber nur zum 
kleinen Teil zellig infiltriert; unter den Infiltratzellen sind nur ganz 
vereinzelt Plasmazellen zu sehen. 

Mit der Bielschowskyschen Methode sieht man wieder an vielen 
Zellen das typische Bild der Pigmentsklerose. In der weiBen Substanz 
kann man an verschiedenen Stellen amoboide Gliazellen erkennen. 

Farbung mit der Jtfannschen Flilssigkeit {Alzheimer8 Methode 5) 
ergibt in der weiBen Substanz das gleiche Bild; auch sieht man deutliche 
Vermehrung der faserigen Glia in alien Strangen, besonders in den 
Go/tochen; an den betreffenden Stellen ist auch die Zahl der Nerven- 
fasem etwas vermindert, nirgends aber sieht man Strangdegeneration. 

Die Untersuchung des einen N. opticus auf dem Querschnitt mittels 
der Mannschen Methode ergab, daB von Nervenfasem iiberhaupt nichts 
zu sehen war, man sieht nur verdickte Bindegewebsziige und zwischen 
diesen Gliafasern und Gliakeme, auch mit der Bielschowskyschen 
Methode sind nirgends im Querschnitt des N. opticus Achsenzylinder 
zu sehen. 

Ein Stuck vom Balken, mit der Mannschen Fliissigkeit gefarbt, lieB 
nur wenige Nervenfasem, dagegen zahlreiche Gliafasern und Gliazellen, 
unter diesen auch wieder amoboide erkenen. 

Die Gefa/ie der Gehirnbasis haben zum Teil verdickte Wandungen, 
und es besteht leichte Aufsplitterung der Elastica interna, nirgends aber 
sieht man fur Lues charakteristische Befunde. 

Sehr schwere Veranderungen finden sich an Praparaten von der 
Aorta ascendens und zwar an der Adventitia, Media und Intima. Die 
Adventitia ist stark verfettet, die Oberflache ist sehr uneben und zum 
Teil vorgewolbt; in ihr sieht man an manchen Stellen kleinzellige 
Infiltration. — Die Media erscheint in weiter Ausdehnung strukturlos, 
homogen gelb (bei der van Giesem-Farbung); in der homogen gelben 
Grundsubstanz sieht man unscharf begrenzte, rote Fasem, auch in der 
Media sieht man Einlagerungen von kleinen Rundzellen; desgleichen 
auch in der Intima, die zum Teil narbig eingezogen ist. Die Vasa 
vasorum haben stark verdickte Wandungen. Der Befund ist ein 
solcher, wie er bei Arteriosklerose haufig erhoben wird, nirgends aber 
fanden sich fur Lues charakteristische Veranderungen. 

Auch Leber, Milz und Niere boten keine als luetisch zu deutende 
Veranderungen. 


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Maas, Ueber eine besondere Form der 


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Fassen wir den histologischen Befund am Nervensystem kurz 
zusammen, so hat sich folgendes ergeben: die Pia ist leicht ver- 
dickt, die GefaBe sowohl im Gehirn wie im Riickenmark sind uberall 
verdickt, die Ganglienzellen zeigen die Veranderungen der Pigment- 
sklerose, sehr ausgesprochen besteht Wucherung der Glia mit 
Bildung amoeboider Gliazellen, besonders in der weiBen Substanz 
der Gehirnrinde. 

Die an den einzelnen Gebilden des Zentralnervensystems 
in meinem Fall nachweisbaren Veranderungen sind bei den 
verschiedensten Krankheitsformen beobachtet worden. Ob die 
Kombination derselben als charakteristisch fur Bleiintoxikation 
anzusehen ist, wage ich nicht zu entscheiden; fraglich ist auch, 
welche Veranderungen direkt auf Bleieinwirkung zu beziehen sind 
und wieweit dieselben vielleicht Folge des Hydrocephalus sind, 
eventuell mit dem terminalen Krampfanfall zusammenhangen. 
Namentlich muB meines Erachtens sehr mit der Moglichkeit ge- 
rechnet werden, daB die Bildung der amoboiden Gliazellen mit dem 
Krampfanfall in Zusammenhang steht, da nach den Feststellungen 
von Alzheimer (Histolog. u. histopath. Arbeiten, III, 3) das Auf- 
treten amoboider Gliazellen der Ausdruck akuter Prozesse ist* 

Fall III. Erste Untersuchung am 16. II. 1905. 24 jahrige Fabrik- 

arbeiterin Minna Sch. 

Als Kind litt Patientin an chronischer FuBgelenkentziindung, seit dem 
14. Lebensjahr sieht Patientin schlecht infolge von Homhautentziindung. 

Patientin hat 6 Jahre lang als Anlegerin in einer Druckerei gearbeitet 
und hatte viel mit Blei zu tun. 

Im Marz 1903 machte Patientin eine Entbindung mit starkem Blut- 
verlust durch, wurde aber als ,,geheilt“ aus der Klinik entlassen. 

Ungefahr seit der gleichen Zeit — ganz genau hat sich der Beginn nicht 
feststellen lassen — stellten sich Kopfschmerzen, Schwindel imd Erbrechen 
ein. Ohne daB das seit dem 14. Lebensjahr schlechte Sehvermogen eine Ver- 
ringerung erlitten hatte, trat im Februar 1904 plotzlich volligeErblindungein. 

Als ich die Patientin im Februar 1905 sah, klagte sie noch immer liber 
heftige Kopfschmerzen imd Schwindelgefuhl, sowie iiber Uebelkeit beim Auf- 
richten aus der Ruckenlage. 

Status : Das Geruchsvermogen ist beiderseits deutlich gestort. 

Augenbefund (Dr. Schultz-Zehden): Alte Keratitis parenchymatosa 
(Lues ?), Chorioretinitis centralis links, beiderseits Atrophia nervi optici 
sekundarer Natur. 

Beim Blick nach rechts besteht Blickparese, im iibrigen sind die 
Augenbewegungen frei. 

Die Sensibilitat im Gesicht ist intakt; der Cornealreflex ist beiderseits 
vorhanden. 

Keine Deviation des Unterkiefers beim Oeffnen des Mundes, die Kau- 
muskulatur ist kraftig. 

Am Zahnfleisch des I T nterkiefers einige auf Bleisaum verddchtige 
SteUen. 

Beim Zahnefletschen iiberwiegt der linke Facialis etwas, Augen- und 
MundschluB erfolgen kraftig, beiderseits gleich. 

An den Extremitaten ergab die Untersuchung durchweg normale Ver- 
haltnisse in Bezug auf Rcflexe, Motilitat imd Sensibilitat fiir alle Qualitaten. 
Der Gang ist imgestort, das Rombergsche Phanomen ist nioht nachweisbar. 

Der Bauchreflex ist vorhanden, am Rumpf finden sich keine Sensibili- 
tats8torungen. 


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Encephalopathia saturnina (Meningitis serosa). 


217 


Wahrend der Zeit, wahrend der ich die Patientin zu beobachten Ge- 
legenheit hatte, d. h. bis zum Oktober 1905, blieb der Befunddauemd der 
gleiche, auch die Beschwerden, Kopfschmerzen etc. blieben unverandert 
bestehen. 

Auch bei einer im September 1910 von Herm Kollegen Cassirer vor- 
genommenen Untersuchung wurde der gleiche Befund erhoben. 

Die Patientin starb am 2. X. 1910 im Augusta-Hospital, nachdem, 
urn ihr wegen der dauemden heftigen Kopfschmerzen Erleichterung zu 
verschaffen, eine Trepanation vorgenommen worden war. 

Das mir von Herm Professor Oestreich giitigst zur Verfiigung gestellte 
Sektionsprotokoll lautet: 

,3©cbte Hemisphere kleiner als linke. Im Gebiet der hinteren Teile des 
rechten Stimlappens eingesunkene Stelle. Daselbst fehlt Zeichnung der 
Gyri und Sulci, die Arachnoidea ist dort sehr dick, weiB, mit Dura ver- 
wachsen. Beide N. optici schmal, grauweifi. GefaBe der Himbasis zart. 
Das Oehim wird nicht zerlegt . 

Die inneren Organe bieten keine Besonderheiten, namentlich keine 
Tuberkulose. 

Atrophie der rechten Gehimhemisphare. Encephalitischer Herd im 
rechten Stirnhim. Sehnervenatrophie beiderseits.“ 

Das Gehim sollte von anderer Seite mikroskopisch untersucht werden, 
durch ein Versehen wurde es nicht in geeigneter Weise konserviert, so daB die 
histologische Untersuchung unmoglich war, jedenfalls ist es wichtig, daB 
beim Durchschneiden des Gehims, das einige Tage spater erfolgte, ein Tumor 
nicht gefunden wurde. 

Wenn also dem histologisch nicht untersuchten Fall gegeniiber 
eine gewisse Reserve geboten ist, so hat doch die von mir gestellte 
Diagnose „Meningitis serosa“ zweifellos am meisten Wahrschein- 
lichkeit fiir sich. 

Was die Aetiologie betrifft, so glanbe ich auch hier, daB Blei- 
intoxikation anzuschuldigen ist, zu der Patientin durch die jahre- 
lange Arbeit in einer Druckerei reichlich Gelegenheit hatte; auch 
fanden sich bei ihr, wie erwahnt, auf Bleisaum verdachtige Stellen. 

Der Fall liegt allerdings atiologisch insofem nicht ganz einfach, 
als Patientin in der Kindheit die erwahnte Augenaffektion so wie 
ein lange dauerndes Gelenkleiden durchgemacht hat, so daB an die 
Moglichkeit einer hereditaren Lues sowie an Tuberkulose gedacht 
werden muB. 

Bis zu einem gewissen Grade spricht aber gegen die Annahme 
hereditarerLues oderTuberkulose, daB, wie aus dem Sektionsbericht 
von Herm Professor Oestreich hervorgeht, an den inneren Organen 
nichts Pathologisches gefunden wurde. 

Dazu kommt, daB Patientin bei der Entbindung einen starken 
Blutverlust erlitten hat, und es ist behauptet worden, daB auch ein 
solcher Ursache einer Meningitis serosa sein konne. Aus den An- 
gaben der Patientin geht nicht mit voller Sicherheit hervor, ob die 
ersten Erscheinungen des Meningitjs serosa nicht schon vor der 
Entbindung eingesetzt haben; es spricht aber mit hoher Wahr- 
scheinlichkeit gegen die Berechtigung, den Blutverlust als Ursache 
der Meningitis serosa anzusehen, daB die Patientin nach der Ent¬ 
bindung aus dem Krankenhaus als ,,geheilt“ entlassen wurde. 

Es darf hier vielleicht daran erinnert werden, daB Oppenheim 1 ) 

Berl. klin. Woch. 1891. Allgemeines und Spezielles iiber die 
toxischen Erkrankimgen des Nervensystems. 


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Maas, Ueber ©in© besondere Form d©r 


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schon vor 20 Jahren auf die Schadlichkeit kombinierter Wirkungen 
bei der Entstehung von Nervenkrankheiten hinge wiesen hat; es ist 
also wohl mit der Moglichkeit zu rechnen, daB eines oder mehrere 
der genannten Momente mit zur Entstehung von Meningitis serosa 
hier beigetragen haben; ein sicherer Anhaltspunkt hierfiir liegt aber 
nicht vor, und ich glaube, daB die wesentlichste Ursache der 
Krankheit in der Bleiintoxikation zu suchen ist. — 

Die Wahrscheinlichkeitsdiagnose: „Meningitis serosa“ durch 
Bleiintoxikation muB meines Erachtens auch in folgendem, jetzt 
bald ein Jahr in meiner Beobachtung stehenden Fall gestellt werden. 

Fall IV. 26 jahriger Fabrikarbeiter. 

Vater starb durch Suizid. Patient hat auf der Schul© schwer gelemt, 
ist friiher stets gesund gewesen. 

Vom 14.—16. Lebensjahre hat Patient als Maler gearbeitet, hat aber 
dann die Tatigkeit auf arztlichen Rat aufgegeben. Patient hat dann ver- 
schiedenartig© Tatigkeiten gehabt, sicher hat er spater noch ©inmal wahrend 
% Jahr mit Blei zu tun gehabt. 

Seit 6—7 Jahren klagt Patient liber Kopfschmerzen, Magendriicken. 
Mattigkeit in Armen und Beinen, spater kam auch Schwindelgefiihl hinzu, 
zeitweilig auch Uebelkeit und Erbrechen. Wahrend der letzten Monate will 
Patient auch einige Male etwas Blut erbrochen haben. 

Die objektive Untersuchung ergibt durchweg normalen Befund, 
Pupillen reagieren prompt, der Augenhintergrund ist normal, Sehnen- 
ph&nomene sind an Arm und Beinen in normaler Weise vorhanden; Zeichen 
von Hysterie fehlen. 

Auch die Untersuchung des Blutes, des Urins und des Mageninhalts 
nach Probefruhstuck ergibt nichts Pathologisches, desgleichen die Lumbal- 
punktion. Patient ist aber durch sein Leiden vollig arbeitsunfahig; die 
ganze Art, wie er seine Klagen vorbringt, ist durchaus verschieden von 
der von Neurasthenikem und sonstigen Neuropathen, und der ganze Ein- 
druck, den der Patient macht, ist der eines Gehimkranken. 

GewiB, der Beweis laBt sioh nicht fiihren, daB hier eineMenin- 
gitis serosa — wie ich annehme, infolge von Bleiintoxikation — 
vorliegt; es ist aber schon von Quincke die Annahme geaiiBert 
worden, daB manchen Fallen von Kopfschmerzen, die als 
neurasthenische gedeutet werden, eine Meningitis serosa zugrunde 
liegen diirfte. — 

Wie vorsichtig man mit der Diagnose ,,Meningitis serosa“ sein 
muB, so lange der anatomische Befund nicht vorliegt, ist ja seit 
langem bekannt, ich mochte indessen doch uber einen — streng ge- 
nommen nicht zu unserem Thema gehorenden — von mir be- 
obachteten Fall berichten, bei dem ich irrtumlicherweise die 
Diagnose Meningitis serosa stellte, die auch noch nach mir von 
anderer Seite gestellt worden ist. 

Fall V. Erste Untersuchung am 17. XII. 1907. 44 jahriger Schlosser 
Oskar S. 

Ueber Eltem und Geschwister ist nichts Wesentliches bekannt. 

Patient ist verheiratet, 4 Kinder sind gesund, 1 starb an Krampfen, 
1 an Gehimentztindung, 2 mal hat die Frau abortiert. 

Patient war bis zu seinem 43.Lebensjahre gesund, nur soil schon in der 
Kindheit vermehrter Urindrang bestanden haben; er hat als Schlosser auf 
der Telegraphenabteilung gearbeitet und hatte dort mit Blei und Messing 
zu tun. 


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Encephalopathia satumina (Meningitis serosa). 


219 


Ira Mai 1906 erkrankte er plotzlioh mit Kopfschraerzen in der Stirn- 
gegend und allgeraeiner Mattigkeit. Vorubargehend lieOen die Kopf¬ 
schraerzen nach, aber ira November des gleiehen Jahres traten sie heftiger 
auf; zugleich verraehrtes Durstgeflihl und verraehrte Urinmenge, sowie Ab- 
nahme des Sehverraogens auf beiden Augen. Im Februar 1907 kara es zu 
volliger Erblindung, auch trat. angeblich im AnschluB an eine Lumbalpunktion, 
taubes Gefiihl in alien vier Extremitaten sowie Schwache in denselben ein. 

Zurzeit (Dezember 1907) klagt Patient, abgesehen von der volligen 
Blindheit, nur liber taubes Gefiihl in den FiiSen. 

Status : Beiderseits an den Beinen leichter Grad von Hypotonie. 

Das Kniephanoinen ist rechts rait Jendrassik deutlich, links nicht 
nachweisbar; Achillesreflex fehlt in der Riiekenlage. 

Zehenreflex ist plantar, beiderseits besteht Plantarhyperasthesie. 

Aktive Bewegungen beider Beine werden rait guter Kraft ausgefiihrt, 
Gefiihl fur Beriihr tings- und Schmerzreize sowie Lageveranderungen ist 
intakt, es besteht keine Bewegungsataxie in den Beinen. Gang ohne Be- 
sonderheiten. 

Kremasterreflex fehlt beiderseits, Bauchreflex ist beiderseits deutlich, 
am Rumpf ist keine Sensibilitatsstorung nachweisbar. 

An den oberen Extremitaten sind die Sehnenphanomene deutlich vor- 
handen, der Handedruck ist kraftig, Fingemasenversuch gelingt ohne 
Storung. 

Facialis und Hypoglossus sind frei, ebenso die Augenbewegiragen, nur 
haben die Augen beim Seitwartsblicken die Tendenz, bald wieder nach der 
Mittellinie abzuweichen. 

Das Gefiihl im Gesicht ist intakt, der Comealreflex ist prompt. 

Geruchsempfindung ist beiderseits aufgehoben,Geschmackserapfindung 
ist intakt. 

Augenhintergrund: Opticusatrophie e neuritide. 

Ich verlor dann den Patienten aus den Augen; aus einem im Marz 1910 
kurz vor dem Tode im Krankenhaus Moabit aufgenommenen Status ergibt 
sich das Bestehen deutlicher linksseitiger hemiparetischer Symptome. Ueber 
den Autopsiebefund habe ich dank der Liebenswiirdigkeit von Herm Prof. 
Benda folgendes erfahren: ..Cystischer Tumor der rechten Hemisphere 
(teleangiektatisches Gliom), Durametastasen. Hydrocephalus. Lungen- 
schrumpfung 44 . 

Wenn also auch ein Hydrocephalus gefunden wurde, der 
iibrigens, wie ich mich iiberzeugen konnte, im Vergleich zu dem 
Fall Kr. nur gering war, so kann derselbe doch fur die Beurteilung 
des Falles nicht verwertet werden. — Vielleicht hatte sich die 
Diagnose durch Gehirnpunktion schon in einem so friihen Stadium 
stellen lassen, daB durch operativen Eingriff Heilung moglich ge- 
wesen ware. — 

Kurz mochte ich noch einen Fall erwahnen, der daran denken 
laBt, daB auch eine Bleiintoxikation des Vaters Hydro¬ 
cephalus hervorrufen kann, wie das auch von Erben 1 ) berichtet wird. 

Fall VI. Untersuchung der 29 Jahre alten Else St. am 13. IV. 1909. 

Anornmese : Vater war Maler, hatte mit Blei zu tun; doch weiB Patientin 
nichts darliber, ob er je Bleivergiftung gehabt hat. 

Sonst ist iiber die Familie von der leicht dchwach#innigen Patientin 
nichts zu erfaliren. 

Patientin htt im Alter von 2 Jahren an Krampfen, sie lemte erst 
mit 5 Jahren laufen, kam im Alter von 10 Jahren tur Schule (Nebenklasse). 

Status: Kopfumfang iiber den Tubera frontalia betragt 59% °m; die 
Stim springt stark vor. 


*) Handbuch der Sachverstandigen-Tatigkeit. Herausgegeb. von 
Dittrich , Prag. Bd. Vn. 1909. S. 409. 


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Maas, Ueber eine besondere Form der 


Die korperliche Untersuchung ergibt einen etwas watschelnden und 
stampfenden Gang, rechts dorsalen, links zweifelhaften Zehenreflex, im 
iibrigen vollig normalen Befund. Die Diagnose auf Hydrocephalus kann mit 
Sicherheit gestellt werden. 

DaB keineswegs der Beweis erbracht ist, daB derselbe auf Blei- 
intoxikation zuriickzufiihren ist, bedarf keiner weiteren Ausein- 
andersetzung, auf der anderen Seite erscheint es mir aber nicht 
allzu fernliegend, auch in diesem Fall an die Bleiatiologie zu denken, 
nachdem wir bei den zuvor besprochenen Fallen von erworbenem 
Hydrocephalus diese Aetiologie zum mindesten sehr wahrsche nlich 
maehen konnten. Die Bedeutung des Bleis fur die Entstehung von 
Nervenkrankheiten ist in zahlreichen Arbeiten erortert worden, 
aber seine Bedeutung als Ursache der Meningitis serosa scheint mir 
bisher keine Beachtung gefunden zu haben. Soweit ich die Literatur 
iiber Meningitis serosa durchgesehen, habe ich wenigstens 
keinen speziellen Hinweis auf Bleiatiologie gefunden, und doch ver- 
mute ich, daB die Falle nicht so selten sein werden, da das 
von mir beobachtete Material ausschlieBlich den Siechenan- 
stalten entstammt, und anzunehmen ist, daB die Meningitis 
serosa im allgemeinen nur dann den Patienten ins Siechenhaus 
fiihren wird, wenn vollige Erblindung eingetreten ist. Unter nur 
klinisch beobachteten Fallen von Bleivergiftung habe ich in der 
Literatur einige gefunden, die den meinigen nahe stehen, z. B. ein 
von Jolly beobachteter (Charite-Annalen, XIX, 1894) sowieein von 
Mannaberg beschriebener (Wien. klin. Woch., 1896, No. 52); doch 
ist in beiden die Diagnose Meningitis serosa nicht gestellt worden. — 
In Sektionsprotokollen von Fallen von Encephalopathia saturnina 
wird zwar einige Male das Vorhandensein von Hydrocephalus er- 
wahnt, ich habe aber nirgends einen Hinweis darauf gefunden, daB 
die klinischen Symptome Folge des Hydrocephalus sein konnten. 
Erwahnenswert erscheint mir ein von Jaksch beobachteter Fall 1 ) 
von rasch todlich verlaufener Bleivergiftung, wo bei der Sektion 
Hydrocephalus gefunden wurde; der Autor nimmt hieran, daB ein 
chronischer Hydrocephalus unter der Bleieinwirkung exazerbiert 
sei. Aus der nur kurz mitgeteilten Krankengeschichte laBt sich 
nichts entnehmen, warum der Hydrocephalus nicht durch die Blei¬ 
einwirkung entstanden sein sollte. Hinweis auf die Meningitis 
serosa finde ich nur in einer Arbeit iiber Bleivergiftung, allerdings 
in ganz anderem Sinne, als es meiner Auffassung entpricht. 

Erben a ) schreibt namlich bei Besprechung der Differential- 
diagnose der Bleivergiftung, daB die Bleivergiftung oft schwer von 
anderen Nervenleiden zu unterscheiden sei, insbesondere aber von 
sogenannter Meningitis serosa, die wohl oft falschlich statt 
Satumismus angenommen werden diirfte. 

Aus meinen vorhergehenden Ausfuhrungen ergibt sich, daB 
ich auf dem Standpunkt stehe, daB die Meningitis serosa durch 
Bleiintoxikation hervorgerufen werden kann. 

x ) Jaksch , Die Vergiftungen. S. 189. II. Aufl. 

*) Handbuch der Sachverstandigen-Tatigkeit. Herausgegeb. von 
Dittrich. Bd. VII. 1909. S. 41J. 


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Encephalopathia saturnina (Meningitis serosa). 


221 


Was nun die Frage betrifft, durch welche anatomische Ver¬ 
anderungen die vermehrte Fliissigkeitfcansammlung im Innem des 
Gehirns hervorgerufen wird, so laBt sich meines Erachtens eine 
sichere Entscheidung vorlaufig nicht fallen. Fur moglich halte ich 
es, daB durch entziindliche Prozesse in der Pia. die haufig bei Blei- 
vergiftung gefunden wurden, z. B. in einem vo nQuensel untersuchten 
Fall (Arch. f. Psych., Bd. 35, 1902) und die ja auch in unserem histo- 
logisch untersuchten Fall nachweisbar waren, die Resorption des 
Liquor cerebrospinalis erschwert resp. verhindert wird. 

In den Arbeiten, die sich mit den Einwirkungen des Bleis auf 
das Gehirn beschaftigen, wird stets auf die besondere Bedeutung 
fur den Opticus hingewiesen, so schreibt z. B. A. Westphal 1 ): ,,Dieser 
toxische EinfluB macht sich durch allgemeine cerebrale Symptome, 
wie durch Herderscheinung geltend. Gleichzeitig konnen dabei an 
einzelnen Himnerven (besonders am Opticus) durch die In- 
toxikation bedingte anatomische Veranderungen zum Ausdruck 
kommen.“ 

Auch Vhthoff 2 ) fiihrt die bei Bleivergiftung auftretenden Seh¬ 
storungen in einer Reihe von Fallen auf direkte Lasion der peri- 
pherischen optischen Leitungsbahnen zuriick; von weiteren Ur- 
sachen der Sehstorungen nennt er: Veranderungen durch primare 
GefaBinfiltrationen, ferner cerebrale intrakranielle Veranderungen, 
welche sekundar Sehstorungen herbeifiihren, und endlich sekundare 
Opticusveranderungen nach Nierenerkrankung. 

In unserem anatomisch untersuchten Fall haben wir keine Ver- 
anlassung, eine direkte Beteiligung des N. opticus anzunehmen, 
und konnen die Sehstorung rein sekundar auf den Hydrocephalus 
zuriickfiihren, sie also als mechanisch bedingt auffassen. Ob der 
Vorgang in unsem anderen Fallen, in denen Erblindung eingetreten 
war, der gieiche ist, laBt sich nicht entscheiden. Mechanische Ur- 
sache der Opticusaffektion wird auch von Chvostek *) in einem von 
ihm beobachteten Fall angenommen. Dieser Fall ist auch deshalb 
bemerkenswert, weil bei der anatomischen Untersuchung kein 
Hydrocephalus, wohl aber starke Schwellung der Gehirns ge¬ 
funden wurde, wodurch es zu Kompression basaler Himnerven 
gekommen war. 

Meines Erachtens muB man an dieMoglichkeit denken, daB hier 
das friiheste Stadium der Encephalopathia saturnina zur Be- 
obachtung kam, aus dem sich dann allmahlich ein Hydrocephalus 
entwickelt. Dieser ware dann allerdings streng genommen kein 
primares Leiden, wie das Quincke fur die Meningitis serosa annimmt, 
indessen wissen wir ja nicht, ob nicht auch sonst der scheinbar 
primaren Meningitis serosa andere Veranderungen im Gehirn vor- 
angehen. 


l ) Arch. f. Psych. 1888. S. 665. 

*) Handbuch der gesamten Augenheilkunde. Herausgegeben von 
'Oraefe und Saemisch. 

*) Wien. klin. Woch. 1896. No. 52. 


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222 


Maas. Ueber eine besondere Form etc. 


Aehnlich wie Chvosteks Fall ist wohl auch der erste von Manna - 
berg beschriebene aufzufassen, der typische Hirndrucksymptome 
und spater auch komplette rechtsseit’ge Facialis ahmung bot; 
Verf. bezeichnete den Fall als Polyneuritis cerebralis auf saturniner 
Basis. 

Psychische Symptome, wie sie unser Fall II bot, wurden bei 
Bleiintoxikation mehrfach beschrieben; es hat sich in den publi- 
zierten Fallen um recht verschiedenartige Symptome gehandelt. 
In einer sehr groBen Zahl von Fallen, in denen Bleikolik, Radialis- 
lahmung u. a. sicher durch Blei bedingte Symptome auftreten, 
bleibt aber das Gehim vollig unbeteiligt; die Griinde, warum so 
auBerordentlich verschiedenartige Symptomkomplexe unter Blei- 
einwirkung auftreten, kennen wir nicht. Einerseits besteht die 
Moglichkeit, daB in den verschiedenen Fallen das eine oder das 
andere Organ einen Locus minoris resistentiae darstellte, es ware 
aber auch denkbar, daB die chemische Verbindung, in der das 
Blei aufgenommen wird, von Bedeutung fur die Angriffstelle im 
Korper ware. 

Die von mir beschriebenen Falle legen es meines Erachtens 
nahe, zu erwagen, ob nicht vielleicht manche Falle der ratselhaften, 
namentlich durch Nonne bekannt gewordenen Affektion ,,Pseudo- 
tumor cerebri 44 auf Bleiintoxikation zuriickgefiihrt werden konnten. 
Nonne hat ja selbst die Frage eingehend erortert, ob seine Falle 
nicht als Meningitis serosa zu deuten seien, meint aber, daB zum 
mindesten kein Anhaltspunkt dafiir zu finden war. Ich bin nun 
keineswegs der Meinung, daB sich alle Falle von Pseudotumor auf 
Bleiintoxikation zuriickfuhren lassen werden, halte es aber fur 
moglich, daB ein oder der andere Fall so zu erklarensein wird, und 
glaube jedenfalls, daB stets auf Blei, das ja in so auBerordentlich ver- 
schiedener Weise in den Korper gelangen kann, zu fahnden ist. Der 
Nachweis desselben ist allerdings oft dadurch so erschwert, daB im 
einzelnen Fall alle die als charakteristisch bekannten Zeichen 
fehlen konnen. 

In therapeutischer Hinsicht fordern unsere Falle auf, iiberall 
da, wo die Diagnose Meningitis serosa gestellt wird, nachzuforschen, 
ob Bleiintoxikation in Betracht kommt, um dieser eventuell ent- 
gegenzutreten, und ferner lassen sie es geboten erscheinen, da, 
wo sich nach Bleiintoxikation rasch fortschreitende Sehstorung 
einstellt, Ventrikelpunktion oder Balkenstich vorzunehmen, da 
ja die Sehstorung rein mechanisch durch Hydrocephalus bedingt 
sein kann und demnach durch einen derartigen Eingriff gebessert 
werden konnte. 

Kurz zusammengefaBt ist das Resultat unserer Ausfiihrungen 
das folgende: auf dem Boden der Bleiintoxikation 
kann Meningitis serosa auftreten, dabei 
konnen auch Symptome wie das Babinskische 
Zeichen auftreten, von denen es noch nicht 
sicher ist, ob sie direkte Folge der Menin¬ 
gitis serosa sind oder auf direkte Einwirkung 


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B i o n d i , Paranukleolen und hyaline Schollen etc. 


223 


des Bleis zu beziehen sind. Sonst als fur 
Bleiintoxikation charakteristisch angesehene 
Symptome, wie Bleisaum . periphere A r m - 
lahmung etc. konnen dabei vollig vermiBt 
werden. 

Erklarung der Abbildungen auf Taf. VII—VIII. 

Pig. l. Gehimbasis des Falles II (Photographie einer Zeichnung, die 
sofort nach der Herausnahme des Gehims angefertigt wurde). Man sieht 
die oystenartige Vorwolbung des 3. Ventrikels. 

Fig. 2. Frontalscbnitt durch das Gehirn des Falles II. Man sieht 
starke Erweiterung der Ventrikel. 

Fig. 3. Frontalschnitt durch ein normales Gehirn, zum Vergleich 
mit Fig. 2. 


(Aus dem anatoraischen Institute der konigl. Universitat in Palermo. 

[Direktor: Professor R. Versari.]) 

Paranukleolen und hyaline Schollen des Karyoplasma 

der Nervenzelle. 

Von 

Dr. GIOSUE BIONDI, 

Assistant. 

(Hierzu Tafel IX.) 

Timofeew (9) lenkte im Jahre 1898 die Aufmerksamkeit der 
Forscher auf die Tatsache, daB in den Kemen der Nervenzellen der 
Spinal- und der sympathischen Ganglien der Vogel sich zwei 
Nukleolen befinden, welche verschiedene tinktorielle Eigenschaften 
besitzen. 

Bei Anwendung von Doppelfarbungen (Toluidinblau-Erythro- 
sin nach Lenhossek , Safranin-Lyonblau) nimmt der eine Nukleolus 
die saure, der andere die basinche Farbe auf. Auf Grand dieses ver- 
schiedenartigen mikrochemischen Verhaltens bezeichnete Timofeew 
den ersten als acidophilen, den zweiten als basophilen Nukleolus. 
Die Unterscheidung der beiden Nukleolen ist sehr leicht. So wird 
z. B. in den mit Toluidinblau und Erythrosin gefarbten Praparaten 
der acidophile Nukleolus vom Erythrosin rot und der basophile 
vom Toltiidinblau blau gefarbt. Die Acidophilie des ersten 
Nukleolus kann man als fast absolute bezeichnen, insofern er sich 
mit basischen Farben nur blaB farbt, wahrend das iibrige Gewebe 
intensiv liberfarbt erscheint. Der basophile Nukleolus enthalt in 
seinem Innern kleine mit der Lenhossekschen Methode dunkelblau 
sich farbende Kornchen oder Schollen, deren einige in den ober- 
flachlichen Schichten des Kernkorperchens liegen und nach 
Timofeew den Schollen von Levi entsprechen. Der acidophile 
Nukleolus ist von ganz homogenem Aussehen. 

Monatssohrift f. Psychiatric u. Neorologie. Bd. XXX. Heft 3. 15 


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2 24 


B i o n d i , Paranukleoien und hyaline Schollen 


Die beiden Nukleolen nehmen im Kerne eine zentrale Lage ein 
und beriihren einander manchmal, wahrend sie hinwiederum andere 
Male durch einen kleinen Zwischenraum voneinander getrennt sind. 
Sie sind ungefahr gleich groB, von regelmaBigem Aussehen und 
recht scharfen Umrissen. Nur in den Fallen, wo die Fixation nicht 
vollkommen gelungen ist, verliert der acidophile Nukleolus seine 
scharfen Umrisse und verschmilzt scheinbar mit dem Kemgeriist. 

Das Vorkommen der beiden Nukleolen in den Nervenzellen der 
sympathischen und spinalen Ganglien der Vogel ist nach Timofeew 
konstant. Man findet sie auch in vielen anderen Zellen des Nerven- 
systems der Vogel, doch ist dieser Befund nicht so typisch wie in den 
Zellen der Ganglien. 

Was fur eine Bedeutung haben nun diese beiden Nukleolen ? 

Timofeew ist der Ansicht, daB der basophile Nukleolus der 
eigentliche Nukleolus der Nervenzelle der Vogel ist, somit dem 
gewohnlichen groBen charakteristischen Kernkorperchen der 
Nervenzellen bei anderen Wirbeltieren entspricht. Dem acido- 
philen Nukleolus konnte er keine bestimmte Bedeutung zuschreiben. 

Lenho88ek stellt in einer Note zur Arbeit von Timofeew die 
Hypothese auf, daB die Anwesenheit des acidopliilen Nukleolus in 
den Nervenzellen der Vogelganglien den Zweck habe, ein Gegen- 
gewicht gegen die groBe Menge basophiler (tigroider) Substanz zu 
bilden, die sich in ihrem Zytoplasma befinde. Der acidophile 
Nukleolus wurde in der Folge auch mit dem Namen Paranukleolus 
belegt, da eranalogeEigenschaften besitzt, wie die von Montgomery , 
0b8t u. A. untersuchten Paranukleoien im Keimblaschen des Eies 
vieler Tiere. 

Eine andere, von jener Timofeews vollkommen abweichende 
Auffassung vertritt Athias (1). Nach diesem Autor ware der eigent¬ 
liche Nukleolus der Nervenzelle der Vogel der acidophile, und der 
basophile Nukleolus soil aus Basichromatin bestehen und die baso- 
philen Schollen von Levi reprasentieren. 

Beobachtungen fiber Korperchen, welche die Bedeutung von 
Paranukleoien haben, wurden auch von Lache (5) in den Nerven¬ 
zellen der Vogel und Reptilien und von Collin (4) in jenen der 
Saugetiere gemacht. Letzterer beobachtete im Kerne der groBen 
Nervenzellen (Somatozellen) des Meerschweinchens derartige 
Korperchen in der Anzahl von 4—5 pro Kern. Sie besitzen ver- 
schiedenartige und unregelmaBige Formen, sind acidophil, far ben 
sich griin mit einer Mischung von Lichtgrfin und Safranin, und 
wurden von Collin als akzessorische Nukleolen bezeichnet. 

Cajal (2) spricht sich in seiner Arbeit fiber die Natur der Para- 
nukleolen nicht aus. Er sagt, daB er keinen neuen Beitrag zu ihrer 
Kenntnis bringen konne, weil sie in den Kernen der Pyramidenzellen 
der Saugetierhirnrinde, mit der er sich befaBt habe, nicht vorkamen. 
Doch macht er darauf aufmerksam, daB man sehr leicht in den 
Irrtum verfallen kann, Paranukleoien oder akzessorische Nukleolen 
mit den sogenannten hyalinen Schollen zu verwechseln. 


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d©8 Karyoplaema der Nervenzelle. 


225 


Mit dieeem Namen bezeichnete Cajal kJeine, blasse, viereckige 
oder polygonale Massen von homogenem Aussehen, die sich in ver- 
Fchiedener Anzahl hie und da im Karyoplasma zerstreut vorfinden. 
Mit reduziertem Silber werden sie deutlich sichtbar gemacht, ins- 
beeondere, wenn man die Stiicke, ehe man sie ins Silberbad bringt, 
mit einer Losung von Thiokarbamid und Formalin und dann mit 
Ammoniakalkohol behandelt (Formel 9 von Cajal). 

Cajal spricht sich fiber die Natur dieser Korperchen, die er 
fibrigens nur im Kerne der Nervenzellen der Himrinde des Menschen 
und einiger Saugetiere studiert hat, nur reserviert aus. Er halt ihr 
Vorkommen in der lebenden Zelle ftir zweifelhaft und schlieBt nicht 
aus, daft sie postmortale Koagulationsprodukte irgendeiner Protein- 
substanz darstellen. 

Wie man sieht, sind unsere Kenntnisse bezfiglich der Para- 
nukleolen und der hyalinen Schollen sowie ihrer morphologischen 
Bedeutung sehr lfickenhaft und unsicher. 

Die von Athias ausgesprochene Ansicht wfirde dem acidophilen 
Nukleolus den Wert eines besonderen Kembestandteiles, dessen 
Natur und Bedeutung zu erforschen ware, nehmen und ihm nur 
die Bolle eines gewohnlichen, aus Pyrenin zusammengesetzten 
Nukleolus zuteilen. 

Nach Athias bestande in den Somatozellen der Vogel nur eine 
von den anderen Vertebraten abweichende, besondere Beziehung 
des Basichromatins zu dem Pyrenin, insofem das erstere bei den 
Vogeln nicht kleine, der Peripherie des Pyrenin-Nukleolus ange- 
lagerte Schollen (eine konstante, zuerst von Levi (6), (7), (8) be- 
schriebene Erscheinung in den Somatozellen der Vertebraten), 
sondern ein Kfigelchen bilden wfirde, welches neben dem Pyrenin- 
kfigelchen liegt und dieselbe Grofie wie dieses hat. 

Abgesehen davon, dab die Deutung von Athias schwerlich auf 
die in den Kernen der Somatozellen der Saugetiere beobachteten 
Strukturen anwendbar ist, habe ich mich fiberzeugen konnen, dafl 
sie auch bezfiglich der Paranukleolen der Nervenzellen der Vogel 
den tatsachlichen Verhaltnissen nicht entspricht. 

Vor allem farbt sich der echte (aus Pyrenin bestehende) 
Nukleolus der Nervenzellen der Saugetiere und der anderen Verte¬ 
braten nach der Methode von Lenhossek blau, d. h. er verhalt sich so, 
wie der basophile Nukleolus der Nervenzellen der Vogel. Anderer- 
seits wird wie das Pyrenin (der wahre Nukleolus) auch das Basi- 
chromatin (Levis Schollen) mit dieser Methode blau gefarbt; zu- 
weilen kann das letztere einen dunkleren Farbton annehmen. 

Interessante, der Ansicht von Athias aber stets wider- 
sprechende Daten lieferte mir die Untersuchung der Praparate von 
Nervenzellen der Vogel, welche nach vorangegangener Fixation in 
Alkohol oder gesattigter Subhmatlosung mit der Unna-Pappen- 
Aetmschen Losung gefarbt wurden. In solchen Praparaten 
(Fig. la) sieht man sowohl im Karyoplasma der Zbllen der Spinal- 
ganglien als auch der anderen somatochromen Nervenzellen 

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226 


B i o n d i, Paranukleolen und hyaline Schollen 


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(Purkinje sche Zellenusw.) zwei Kiigelchen von gleichem Volumen: 
das eine ist lebhaft rot gefarbt und von 2—3 halbmondformigen, 
basichromatinhaltigen, blau gefarbten Schollen umgeben; das 
zweite ist ganz blaB rosa (Pyrenin) gefarbt, nur schwer zu sehen 
und nicht immOr mit scharfen Konturen gegen das Lininnetz ab- 
gegrenzt. Die beiden Kiigelchen entsprechen nun beziiglich der 
Form, des Volumens und des gegenseitigen Verhaltens den beiden 
Nukleolen, welche man in den nach Lenhossek gefarbten Praparaten 
sieht und welche von Timofeew beschrieben worden sind. 

DaB das erste (lebhaft rot gefarbte) Kiigelchen der echte 
Nukleolus der Zelle ist, also dem Nukleolus entspricht, der sich 
in den Nervenzellen der anderen Vertebraten vorfindet, ist 
unbestreitbar. Tatsachlich hat es dasselbe Aussehen, dieselbe 
Farbbarkeit, dieselben Beziehungen zum Basichromatin (Schollen 
von Levi). 

Das zweite Kiigelchen entspricht offenbar dem Paranukleolus 
oder acidophilen Nukleolus von Timofeew und besitzt dessen samt- 
liche charakteristischen Eigenschaften: es ist nicht immer deutlich 
vom Kemnetze unterscheidbar und zeigt, sofern die Fixation nicht 
ganz tadellos gelungen ist, unbestimmte und verwaschene Umrisse; 
es laBt sich mit Methylgriin iiberhaupt nicht farben. 

DieDeutung von Athias ist demnach offenbar unricbtig, und die 
Befunde bei der Farbung nach Unna-Pappenheim liefem den klaren 
Beweis hierfiir. Sie zeigen mit der groBten Evidenz, daB das Basi¬ 
chromatin in den Somatozellen der Vogel halbmondformige, um den 
pyreninhaltigen Nukleolus gelagerte Schollen bildet, wie bei den 
Saugetieren, undnicht, wie Athias behauptet, ein Kiigelchen, das an 
das an den echten Nukleolus angelagert ist. 

Der basophile Nukleolus von Timofeew ist demnach, wie auch 
dieser Autor meint, der echte Nukleolus der Nervenzellen der Vogel 
und al8 solcher zusammengesetzt aus einem zentralen aus Pyrenin 
bestehenden Teile (der sich bei den Farbungen nach Unna- 
Pappenheim und Ehrlich-Biondi-Heidenhain als acidophil erweist) 
und aus peripheren, aus Basichromatin bestehenden Schollen. 

Was fiir einen Wert und welche morphologische Bedeutimg 
hat aber dann der zweite Nukleolus, der Paranukleolus oder acido- 
phile Nukleolus von Timofeew ? 

Ich will zunachst bemerken, daB die von Timofeew gelieferte 
Beschreibung und die seiner Arbeit beigefiigten Figuren exakt, 
aber nicht vollstandig sind. 

Wenn man die Kerne der groBen Nervenzellen der 
Taube in Praparaten, welche mittels der von Timofeew angewandten 
Technik (Methods von Lenhossek) gefarbt sind, aufmerksam 
untersucht, so bemerkt man namlich auBer dem acidophilen 
Nukleolus, welcher dem basophilen angelagert ist, noch das Vor- 
handensein einer gewissen Anzahl von rundlichen Korperchen 
(Fig. 2, 3). Sie sind von geringerer GroBe als der Paranukleolus, 
besitzen aber dieselben tinktoriellen Eigenschaften wie dieser. In 
den nach Lenhossek gefarbten Praparaten nehmen sie eine rote 


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des Karyoplasma der Nervenzelle. 


227 


Farbung von demselben Tone wie der Paranukleolus an, wahrend 
sie in den nach Unna-Pappenheim gefarbten Praparaten sich nur 
ganz blaB rosa farben, so daB sie sich bei ihrer winzigen GroBe in 
der groBeren Anzahl der Falle leicht der Beobachtung entziehen. 
Auch die Morphologie dieser Korperchen erinnert in jeder Beziehung 
an jene des Paranukleolus. Wenn die Fixation nicht vollstandig 
gelungen ist, so verschmelzen die Umrisse dieser Korperchen mehr 
oder weniger mit dem Kemnetze. Ist die Fixation gut gelungen,. so 
gleichen ihre Umrisse denen des Paranukleolus und sind ganz deut- 
lich. Diese Daten lassen es sehr wahrscheinlich erscheinen, daB 
diese Korperchen ebenso viele Paranukleolen von geringerer GroBe 
sind. Andere Tatsachen, die ich alsbald vorbringen will, liefem den 
zweifellosen Beweis fiir die Richtigkeit dieser Annahme. 

Wenn man die eben beschriebenen, sowohl in den Zellen der 
Spinalganglien als auch in den Purkinje schen Zellen des Klein- 
hims konstatierten Befunde mit jenen vergleicht, welche man 
an den gleichen Zellen bei Anwendung der Cajalscheix Methode nach 
derFormel 9 (Fixation in einer Losung von Formalin und Thiokarb- 
amid, darauffolgende Behandlung der Stiicke mit Ammoniak- 
Alkohol, Silberbad u. s. w.) erhalt, so gelangt man zu interessanten 
Resultaten. Diese Technik wurde von Cajal (3) als besonders ge- 
eignet bezeichnet, um die besonderen, von ihm als hyaline Schollen 
bezeichneten Gebilde im Karyoplasma sichtbar zu machen. Mittels 
dieser Methode werden die hyalinen Schollen in der Tat leicht und 
konstant sichtbar gemacht. 

In den Zellen der Spinalganglien und den Purkinje schen Zellen 
des Kieinhims des Meerschweinchens findet man die hyalinen 
Schollen in der wechselnden Anzahl von 5—8 pro Kern (Fig. 7). Es 
sind rundliche, unregelmaBig konturierte Korperchen. Die Mehrzahl 
von ihnen hat ein gleich groBes Volumen, die anderen sind hingegen 
kleiner. 

In den Zellen der Spinalganglien und den Purkinje schen Zellen 
des Kieinhims der Taube haben die mittels der gleichen Technik 
sichtbar gemachten hyalinen Schollen (Fig. 5, 6) die Eigentiimlich- 
keit, daB sie mehr rund und regelmaBiger konturiert sind, und 
konstant findet man, daB eine von ihnen groBer ist als die anderen. 
Die Form und der Umfang dieser groBeren hyalinen Scholle ent- 
spricht einem Nukleolus, sein Farbenton hingegen stimmt mit 
dem der iibrigen hyalinen Schollen iiberein. Man konnte nun zu- 
nachst glauben, daB dieses Kiigelchen nicht eine hyaline Scholle 
darstellt, sondern dem echten Nukleolus der Zelle entspricht, der, 
wie ich manchmal bei Saugetieren gefunden habe, sich gleichzeitig 
mit den hyalinen Schollen, wenn auch in einem anderen Farben- 
tone, farben kann. Aber dem ist nicht so. Vor allem laBt der 
gleiche Farbenton des groBeren und der kleineren Kiigelchen an- 
nehmen, daB sie auch sonst von gleicher Beschaffenbeit sind. 
Ueberdies gelingt es (und das betrachte ich als einen zwingenden 
Beweis), wenn man dieselben Scbnitte von Spinalganglien und 
Himrinde der Vogel, nach vorhergehender Behandlung nach der 


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228 


B i o n d i, Paranukleolen und hyaline Schollen 


Ca/afechen Methode (Formel 9), mit einer basischen Anilinfarbe 
(Toluidinolau, Thionin) farbt, ein zweites an das erste angelagerte 
Kiigelchen von gleicher Form und GroBe sichtbar zu machen, 
welches dadurch, daB es von den eben erwahnten Farbstoffen 
intensiv blau gefarbt wird, seinen basophilen Chararakter erweist 
(Fig, 8, 9). Es muB betont werden, daB beide Kiigelchen dieselben 
Dimensionen, dieselbe Lage, dieselben gegenseitigen Beziehungen 
haben wie die von Timofeew beobachteten Nukleolen (der acidophile 
und basophile), und es ist gar kein Zweifel, daB sie ihnen voll- 
kommen entsprechen. Das Kiigelchen, welches sich mit Thionin 
oder Toluidinblau blau farbt, kann offenbar nur dem echten 
Nukleolus (basophilen Nukleolus von Timofeew) entsprechen, da 
der Paranukleolus fast absolut acidophil ist. Das gToBe Kiigelchen, 
welches sich mittels der Oo/ofechen Methode (Formel 9) farbt, ent- 
spricht ganz zweifellos dem Paranukleolus (acidophilen Nukleolus 
von Timofeew). 

Wenn somit die Identitat des Paranukleolus mit der groBeren 
hyalinen Scbolle erwiesen ist. so diirfen wir das gleiche Verhaltnis 
fiir der kleineren, nach der Go/oZschen Methode farbbaren hyalinen 
Schollen zu den oben erwahnten, nach der Methode von Lenhossek 
gefarbten acidophilen Korperchen annehmen. Die Befunde in den 
beiden Serien von Praparaten decken sich vollkommen. Wir be- 
finden uns offenbar den gleichen Gebilden gegeniiber, die in dem 
einen Falle vom Silber und in dem anderen vom Erythrosin ge¬ 
farbt werden. Wie es keinem Zweifel unterliegt, daB die kleineren 
hyalinen Schollen im Karyoplasma der Nervenzelle der Vogel von 
gleicner Natur sind wie die groBere, ebenso ist es auch ganz zweifel¬ 
los, daB die kleineren acidophilen Korperchen ebenso viele Para¬ 
nukleolen von geringerem Volumen sind. 

Mit anderen Worten; Im Kerne der Nervenzellen der Vogel 
gibt es nicht einen, sondern mehrere Paranukleolen, und anderer- 
seits sind Paranukleolen und hyaline Schollen nur verschiedene Be- 
zeichnungen fiir ein und dasselbe Gebilde. Im Karyoplasma der 
Nervenzelle der Saugetiere begegnen wir denselben Gebilden 
(Paranukleolen und hyalinen Schollen), die in chemischer Beziehung 
identisch sind mit den im Karyoplasma der Nervenzelle der Vogel 
vorkommenden, wenn sie auch bezuglicb der Form und der GroBen- 
verhaltnisse sich von ihnen unterscheiden. 

Im Kerne der Nervenzellen der Saugetiere lassen sich, wie oben 
gesagt, bei Anwendung der Formel 9 von Cajal die hyalinen 
Schollen darstellen. Diese (Fig. 7) kommen in der Zahl von 6—6 
pro Kem vor, sind rundlich und von unregelmaBigen Konturen. 
Gewohnlich sind drei oder vier von ihnen von ungefahr gleicher 
GroBe, die anderen etwas kleiner. Der Unterschied zwischen diesen 
und den analogen Bildungen des Kernes der Nervenzellen der Vogel 
besteht darin, daB bei den Saugetieren sich nie (oder nur ganz aus- 
nahmsweise) eine hyaline Scholle vorfindet, welche konstant die 
anderen an GroBe iibertrifft und konstant dem echten Nukleolus 
angelagert ist. 


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dea Karyoplasma der Nervenzelle. 


229 


Nach der Methode von Lenhossek (Fig. 4) farben sich Korper- 
chen rot welche dasselbe Aussehen und identische morphologische 
Eigenschaften besitzen wie die hyalinen Schollen, welche man in 
den mittels reduzierten Silbers gefarbten Praparaten sieht 1 ). Auch 
hier erscheint die Identitat der beiden Bildungen klar. 

Solche Korperchen (Paranukleolen) wurden, wie ich schon oben 
sagte, von Collin bei dem Meerschweinchen beobachtet and 
akzessorische Nukleolen genannt. Aach die Figuren, welche dieser 
Autor bringt, sind sehr ahnlich jenen, welche Cajal von den hyalinen 
Schollen liefert. 

Demnach ist der sogenannte acidophile Nukleolus, den Timo~ 
feew im Karyoplasma der Nervenzelle der Vogel beschrieben hat, 
nichts anderes als eine hyaline Scholle, die amfangreicher und 
rundlicher ist als die anderen. ' 

Ich glaube damit summarisch die Griinde angefiihrt zu haben, 
denen zafolge, nach meiner Ansicht, nicht daran gezweifelt werden 
kann, daB die hyalinen Schollen und die Paranukleolen (acidophile 
Nukleolen von Timofeew , akzessorische Nukleolen von Collin) 
identische Gebilde sind. 

Erklarong der Abbildungen ant Taf. IX. 


Fig. 1. Purkinje sche Zelle a us der Kleinhirnrinde der Taube. 
Fixation in geeattigter Sublimatlosung. Farbung mit der Karbol-Methylgrun- 
Pyroninlosung nach Unna-Pappenheim. 

Fig. 2. Zelle aus dem Spinalganglion der Taube. Fixation wie oben. 
Farbung mit Toluidinblau- und Erythrosinlosung nach Lenhossek. 

Fig. 8. Purkinje sche Zelle aus der Kleinhirnrinde der Taube. 
Fixation und Farbung wie oben. 

Fig. 4. Purkinje sche Zelle der Kleinhirnrinde des Meersohweinchens. 
Fixation und Farbung wie oben. 

Fig. 5, 6. Purkinje sche Zelle der Kleinhirnrinde der Taube. Methode 
von Cajal (Formel 9). 

Fig. 7. Purkinje sche Zelle der Kleinhirnrinde des Meerschweinchens. 
Technik wie oben. 

Fig. 8. Zelle aus dem Spinalganglion der Taube. Ca/aZsche Methode 
(Formel 9). Nachtragliche Farbung der Schnitte mit Thioninlosung. 

Fig. 9. Purkinje sche Zelle der Klinhimrinde der Taube. Technik 
wie oben. 

Literatur- Verzeichnis . 

1. Athia8 y Anatomia da cellula nervosa. Lisboa 1905. 2. Cajal , 

El nucleo de lew celulas piramidales del cereb ro h umano y de algunos mami- 
feros Trabajos del lab. de inv. biol. T. VIII. 1910. 3. Derselbe, Las 
formulas del proceder del nitrato de plata reducido y sus efectos sobre los 
factores integrantes de las neuronas. Ibidem. 4. Collin, Les variations de 
structure a l’6tat normal du noyau de la cellule nerveuse somatochrome chez 


Marinesco (Zeitschr. f. Allgem. Physiol., 1903) hat in den Kemen 
der Nervenzellen der Substantia nigra Korperchen beschrieben, die er 
acidophile, paranukleolftre Korperchen nannte. Ich besitze liber diese be- 
sonderen Korperchen gar keine Erfahrung und kann daher nichts Be- 
stimmtes liber ihre Natur aussagen. 


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230 


Buoh&nzeigen. 


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le cobaye. C. R. de l’Ass. des Anat. 10. Reunion Marseille 1908. 5. Lache , 
Siir le nucl^ole de la cellule nerveuse. Joum. de neurol. Brux. 1905. 6. Levi , 
Su alcune particolaritk di struttura del nucleo delle cellule nervose. Riv. 
di pat. nerv. e ment. Vol. 1. 1896. 7. Derselbe. Ricerche citologiche compa- 
rate sulla cellula nervosa dei vertebrati. Riv. di patol. nerv. e ment. Vol. II. 
1897. 8. Derselbe. Considerazioni sulla struttura del nucleo delle cellule 

nervose. Riv. di patol. nerv. e ment. Vol. III. 1898. 9. Timofeew . Be- 

obachtungen iiber den Bau der Nervenzellen der Spinalganglien der Vogel. 
Intern. Monatsschr. f. Anat. u. Phys. Bd. XV. 1898. 


Buchanzeigen. 


0. Bumke : Die PupiUenstorungen bei Geistes - und Nervenkrankheiten. 
2. vollstandig umgearbeitete Auflage. Jena 1911. 

DasBuchdesVerf. ist jedenfalls fur den Neuropathologen und Psychiater 
zur Zeit dasjenige, welches iiber die Pupillensymptome die vollstandigste 
Auskunft gibt. Gegeniiber der 1. Auflage sind zahlreiche Veranderungen 
und Erganzungen hinzugekommen. Auch neue eigene Untersuchungen des 
Verf. sind an vielen Stellen verwertet worden. Die elektive Wirkung des 
metasyphilitischen Virus auf die Reflexkollateralen des Lichtreflexzentrums 
der Pupille (S. 149) habe ich schon seit vielen Jahren in meinen Vorlesungen 
gelehrt und auf die Analogic mit dem Untergang der Reflexkollateralen 
des Vorderhorns hingewiesen 1 ). Dem pathognomonischen Charakter der 
vom Verf. u. A. der Dementia praecox zugeschriebenen Pupillenanomalien 
stehe ich noch erheblich skeptischer gegeniiber. Ebenso ist das Vorkommen 
absoluter Pupillenstarre bei unkomplizierter Hysterie mir noch immer 
sehr verdachtig. Das Literaturverzeichnis umfaOt 1014 Arbeiten. Z. 

Ddllken, Die* grofieri Problems in der Geschichte der Himlehre . Akadem. 
Antrittsvorle8ung. Leipzig 1911. Veit & Co. 

Ddllken gibt in seiner Antrittsvorlesung eine vorziigliche geschicht- 
liche Darstellung, welche von jedem, der Interesse fiir die Geschichte der 
Medizin hat, studiert zu werden verdient. Levi- Stuttgart. 

Kleist, Weitere Untersuchungen bei Geisteskranken mil psychomotorischen 
Storungen . Leipzig 1910. W. Klinkhardt. 

Dew Ergebnis der ersten Untersuchungsn des Autors war kurz dies: 
Die psychomotorisch bedingte Akinese, Aphasie und Apraxie sind Sym- 
ptome einer frontalen Bewegungsstorung. In dem zweiten Teil stellt sich 
Verfasser die Aufgabe, auch die Erscheinungen der Hyperkinese him- 
pathologisch zu verstehen. Die Frage nach der klinischen Stellung der 
Psychosen wird dabei nicht beriihrt. Die Untersuchungen stiitzen sich 
auf Wernickeache Theorien. Dabei versuoht Verfasser aber auch, neu- 
psychologische Arbeiten ( Ach . SchuUze , Buhler) zu verwerten. Er ver- 
wendet fiir die Denkvorgange, die sich zwischen Erkennen und Handeln 
einschalten. Wernickes Bezeichnung ..intrapsychische Vorgange“. An 
der Hand einer eingehenden Analyse eines akinetischen Kranken kommt 
K. zu dem Resultat, daB infolge der primaren Bewegungsstorung auch die 
Einstell- und Mitbewegungen beim Wahrnehmen, Vorstellen und Denken 
geschadigt sind. Er lehnt es ab, diese Storung eine Aufmerksamkeits- 
storung zu nennen, weil dieser Begriff ein zu unklarer sei. Nach ihm 
ist die Aufmerksamkeit nur das Resultat bestimmter Bedingungen: 


*) Dabei mochte ich zu einiger Vorsicht gegeniiber der neuerdings 
aufgetauchten Hypothese einer Beziehung des Tractus pedimcularis trans- 
versus zu diesen Reflexkollateralen warnen. Die vergleichende Anatomie 
ist dieser Hypothese sehr ungiinstig. 


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Buchanzeigen. 


231 


1. der allgemeinen Eigensohaft der nervosen Vorgange, sich untereinander 
hemmend und fordernd zu beeinflussen, 2. der Einstellvorgange, 3. der 
affektiven Momente. Bei den Akinetischen ist die psychomotorische 
Komponente der Anfmerksamkeit verandert. — Im zweiten Abschnitt 
be8prichfc der Verfasser die hypochondrischen und affektiven Begleit- 
erscheinungen bei der Akinese. Die hypochondrischen werden nur in 
Form der Anstrengungsempfindungen erortert, die beim Einstellvorgang 
eintreten. Die affektiven Storungen gruppiert K. in Ausfall von Gefiihlen, 
Negativismus, negativistischer Unschliissigkeit und Angst. Die Definition 
des Gefuhls schlieBt sich eng an die physiologischen Auffassimgen Forsters 
an. VermiBt wird bei den sonst sehr eingehenden Ero ter ungen die deut- 
liche Trennimg zwischen affektiven und Einstellungs-Denkstdrungen. 
Wenn bei der psychomotorischen Akinese in erster Linie die Einstellungs- 
vorgange verandert sind, aber auch auBerdem affektive Storungen auf- 
treten, so muB man verlangen, daB Verfasser das Verhaltnis dieser beiden 
Formen klarlegt. Aber gerade diesen Nachweis bleibt er ims schuldig. 

Im zweiten Teil werden zunachst die einzelnen Formen der Hyper- 
kinese beschrieben. Die erste Hauptgruppe enthalt die parakinetischen 
Bewegungsformen, die bald an athetotische, bald an choreatische oder 
an Zwangsbewegimgen erinnem. Gerade diese Ahnlichkeit mit organisch 
bedingten Motilitatsstorungen stempelt sie zu Erscheinimgen, die von 
Storungen der Gefiihle oder des Denkens oder von Halluzinationen un- 
abhangig sind. Eine andere Form von Bewegungen fast Verfasser als Re- 
aktionen auf Korperempfindungen auf. Aber auch bei diesen sind, wie 
ihre parakinetischen Eigenschaften beweisen, psychomotorische Storungen 
mitbeteiligt. Die Gruppe der expressiv-hyperkinetischen Zustande stellt 
eine Verbindung von rein psychomotorischen und affektiven Veranderungen 
dar. Als besonders bemerkenswert sind hier die sogenannten Erganzungs- 
bewegungen zu nennen. Im AnschluB an eine primare Innervation, z. B. 
Erheben des Armes erfolgte eine GefiihlsauBerung wie ,.ich bin ein stolzes 
Madchen“, unter Entwicklung der Haltung und des Gesichtsausdruckes 
des Stolzes. Das Auftreten von Expressivbewegungen als direkter moto- 
rischer Phanomene glaubt K. ablehnen zu miissen, abgesehen vom Lachen 
Weinen, Schreien. Dabei bestimmen ihn physiologische Momente. Die 
einfachen Ausdrucksbewegimgen kommen ja auch bei Sehhiigelerkran- 
kungen vor, wahrend die komplizierten nicht als Ganzes durch einen An- 
trieb entstehen. Die letzte Form der hyperkinetischen Zustande wird 
als KurzschluB-Akt bezeichnet. Sie stellt eine Bewegung dar, die auf 
auBere Eindrucke hin erfolgt. Massenhafte Halluzinationen an sich bilden 
noch nicht die zureichenden Bedingungen fiir diese Form der Hyperkinese. 
Ihr Merkmal ist: die stereotype Wiederkehr in demselben ZeitmaB. Die 
zufalligen Sinnesreize geben dem motorischen Erregungszustand nur die 
Form und Richtung, in der er sich gerade auBert. Endlich gehoren hierher 
die impulsiven, komplizierten Handlungen im Wemickeschen Sinne. K. 
nimmt fiir die hyperkinetischen Zustande als Ort ihrer Stoning das Stim- 
him-Kleinhimsy8tem an. Er glaubt diese Auffassung u. a. auch dadurch 
stiitzen zu konnen, daB frontal© Herderk rank ungen psychomotorische 
Symptom© hervorrufen sollen (Deutimg von Apraxiefallen Goldsteins 
und Hartmanns). Die Denkstorung der Hyperkinetischen wird dahin 
gedeutet, daB dies© Kranken unfahig sind. anders gerichtete Einstellungen 
zu hemmen. Es bestehen hier zwei Erklarungsmbglichkeiten: entweder 
liegen Ausfallserscheinungen im Bereich der Einstellungsmechanismen 
vor, oder die Einstellbewegungen durchbrechen fortwahrend die richtigen 
Einstellungsversuche der Kranken. Damit ist im Groben der Inhalt der 
wertvollen Arbeit gegeben. Man mag sich zu der Gesamtanschauung des 
Verfassers oder zu der Auffassung einzelner Probleme ablehnend verhalten- 
immer gewahrt die Lekture reiche Anregung. Kutzinski. 

A. Holler : Die Zdhlung der geistig gebrechlichen Kinder des schidpflichtigen 
Alters im Kanton Appenzell a. Rh. vom Herbst 1907. Jena 1911. (Sonder- 
abdruck a. d. Zeitschr. f. d. Erf. u. Beh. d. jug. Schwachs.) 

Auf diese sorgfaltige statistische Arbeit sei hiermit ausdriicklich hin. 


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232 Baohanzeigen. 

gewi©8en. Namentlich auch fur die Aetiologie der Imbezillitat bietet sie ein 
wertvolles Material. 

Arbeiten a. d. Hirnanatomischen I as ti tut in Zurich. Herausgegeben von 
C. v. Monakow H. 5. 

Die erste Arbeit stammt von Monakow selbst nnd behandelt den 
„Aufbau und die Lokalisation der Bewegungen beim Menschen“. M. wendet 
sich gegen die ,.Lehre von einer inself ormigen Lokalisation von Bewegungs- 
vor8teUungen“ und versucht, eine ,,Lokalisation der Bewegungen auf zeitlich 
differenzierten Komponenten ‘‘ aufzubauen. Er unterscheidet daher auBer 
der ,.gliedtopographischen“ Lokalisation und der „fokalen“ (kortikalen, 
Bubkortikalen und spinalen) Representation, welch letztere durch besondere 
Projektions- und Assoziationssysteme ausgebaut ist, noch andere Lokaii- 
sationsarten, welche den Bewegungsaw&zetfwonen entsprechen (Prinzipal- 
und Zielbewegungen). Mit Bezug auf alle einzelnen Ausfiihrungen mutt 
auf das Original verwiesen werden. 

Eine zweite Arbeit von St. Borowiecki betrifft vergleichend-anatomische 
und experimentelle Untersuchiuigen iiber das Briickengran und die wichtig- 
sten Verbindungen der Briicke. Der vergleichend-anatomische Teil bringt 
namentlich eine ausfiihrliche Schilderung des Briickengraus von Kaninchen 
und Katze, ist sonst aber etwas diirftig und ohne geniigende Beriicksichtigung 
der Literatur verfafit. Um so wertvoller ist der experimentelle bezw. patho- 
logisch-anatomische Teil. Im Gegensatz zu Mingazzini fand Verf. nach ein- 
seitiger Zerstorung des Briickenarms stets nur kontralatcrale Zelldegenerati- 
onen, und zwar namentlich in der lateralen Gruppe samt den peri- und 
intrapedunkularen Geflechten, in geringerem MaBe in der laterodorsalen 
Gruppe und in den lateralen Teilen der paramedialen. Nach Kontinuitats- 
unterbrechung des Pedunculus (bei neugeborenen Tieren!) waren iiber- 
jaschenderweise teilweise die namlichen Zellgruppen befallen wie nach 
Briickenarmzerstorung. Da die Pedunculuszerstorung bei einem 5 Wochen 
alten Tier nur zu einfacher Atrophie derselben Zellen fiihrte, so wiirde 
nach den von Monakow aufgestellten Kriterien anzunehmen sein, daB die 
Pedunculusfasem vom Cortex entspringen und sich im Briickengrau 
aufsplittem, und daB im Briickengrau ein neues Neuron seinen Fortsatz 
durch den gekreuzten Briickenarm in das Kleinhim sendet. Jedenfails 
nimmt Verf. an. da 15 nur wenige Zellen des Briickengraus ihre Axone in den 
Pedunculus cerebri kortikalwarts senden. Fiir die mediale Gruppe. den 
groBten Teil der paramedialen, ferner die ventrale Gruppe und den kaudo- 
lateralen Fortsatz, die lateralen und teilweise auch die dorsolaterale Gruppe 
waren direkte Beziehungen weder zum GroBhirn noch zuin Kleinhirn nach- 
zuweisen. Die ebenfalls sehr interessanten Auseinandersetzungen fiber den 
Haubenanteil des Briickenarms und des Briickengraus miissen im Original 
nachgelesen werden. 

Die letzte Arbeit von K. Lowenstein „Z ir Kenntnis der Faserung des 
Hinterhaupts- \md Schlafenlappens“ nebst klinischen Bemerkungen iiber 
Tumoren des rechten Schlafenlappens gibt einen wertvollen Beitrag nament¬ 
lich zur Topographic der Sehstrahlung, des unteren Langsbiindels und des 
Tiirckschen Biindels. Kiinisch wird das Auftreten des thalamisohen Syn¬ 
droms bei Tumoren des rechten Schlafenlappens erortert. Z. 

M. Reichardt, Uniersuchungen iiber das Oehim. I. Teil: Ueber Todesarten 
und Todesursachen bei Himkrankheiten. (Arbeiten aus der Psychiatr. 
Klinik zu Wiirzburg. 6. Heft.) Jena. G. Fischer. 

In der Einleitung kritisiert R. die bisherigen Forschungs- und Dar- 
stellungsmethoden in der Psychiatric und begriindet die Notwendigkeit 
der Anwendung exakter naturwissenschaftlicher Methoden auch fiir das 
Gebiet der Psychiatric. Dem Einwand, der ihm schon gemacht worden ist. 
daB man auch bisher die Kranken gewogen, ihre Korpertemperatur gemessen, 
bei ihnen Stoffwechsehmtersuchungen angestellt habe, begegnet er mit den 
Worten: daB nach seiner Ansicht bis jetzt die psychiatrische Wissenschaft 
noch gar nicht so weit war. so komplizierte und detaillierte Stoffwechsel- 
erkrankungen bei Himkranken mit Aussicht auf wirklichen Erfolg anstellen 


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23a 


jeu konnen. Hierzu fehlte es an den notigen Voruntersuchungen und vor- 
bereitenden Mefchoden, da die gleiche Himkrankheit bei versehiedenen 
Kranken und auoh zu versehiedenen Zeiten bei dem gleichen Kranken den 
Stoffwechsel in verschiedenster Weise beeinflussen kann. 

In dem vorliegenden I. Teil seiner groO angeJegten Untersuchungen 
iiber das Gehim behandelt B. Todesarten und Todes ursachen bei Him- 
krankheiten. 

Die Ergebnisse seiner Untersuchungen, denen ein Kapitel iiber die 
Wichtigkeit der zahlenmaftigen und graphischen Darstellung der Korper- 
gewichtsverhaltnisse Vorausgeschickt ist mit Hervorhebung der Notwendig- 
keit, das Korpergewicht in ein gewisses prozentuales Verhaltnis zur Korper- 
grofie zu setzen, faflt B. selbst wie folgt zusammen; 

Er stellt folgende Todesarten zusammen: 

1. Tod nach voraufgegangener endogener, wahrscheinlich cerebraler 
Abmagerung, aueh wenn das Maximum der an sich todlichen Abmagerung 
nicht erreicht ist, 

2. Tod im cerebrospinalen sogenannten Marasmus, 

3. Tod nach trophischen Storungen, 

4. Tod nach auffallenden Temperaturerscheinungen, 

5. Tod nach starken anfallartigen Storungen (manchmal gleichzeitig 
abnormes Verhalten des Korpergew ichtes), 

6. Tod nach starken und charakteristischen (anscheinend) psychi- 
schen Symptomen, 

7. Tod ohne alle auffallenden akuten klinischen Symptome. 

Diese offenbar prinzipiell versehiedenen Todesarten konnen bei der 
gleichen, wohlcharakterisierten Himkrankheit vorkommen. Auch zeigt 
sich bei dem Auftreten derselben kein prinzipieller Unterschied zwischen 
der progressiven Paraylse und den Herdkrankheiten des Gehims unter- 
einander und andererseits zwischen den sogen. organischen imd den sogen. 
funktionellen Hirnkrankheiten. Diese klinischen Todesarten konnen femer 
offenbar kombiniert auftreten (z. B. echte cerebrale Hyperthermie mit 
cerebralen trophischen Storungen etc.)* Eine weitere wichtige Eigen tiim- 
hchkeit dieser Todesarten ist, dafl ihr Auftreten (abgesehen von dem Tode 
an Abmagerung) nicht zusammenfallt mit einem in sehr ungiinstigem 
Korpergewichte sich kundgebenden, besonders schlechten Korper- 
zustande und infolgedessen durch letzteren auch nicht verursacht sein kann. 
Sowohl der cerebrospinale sogen. Marasmus wie die cerebralen trophischen 
Storungen imd die cerebralen Temperaturanomalien konnen eintreten bei 
sehr giinstigem Korpergewicht. 

B. glaubt, daS man durch die Konstatierung solcher Todesarten auch 
dem Verstandnis fiir die jeweilige Todes ursache sehr nahe kommt. Nur 
Bind hierzu noch sehr eingehende weitere Untersuchungen no tig. Die 
klinischen Tatsachen der ,,Auflosimg des Korpers im cerebrospinalen sogen. 
Marasmus, die schweren Storungen der korpererhaltenden und korper- 
temperaturreguliecenden Funktionen des Zen tralnervensys terns “ sind be- 
ziiglich der Frage der cerebralen Todes ursache nach B. s Ansicht ebenso 
wichtige Fingerzeige wie die empirisch gef undone Tats ache der quoad 
vitam emsten Prognose gewisser katatonischer Symptome und speziell 
der psychisch nicht oder nicht hinreichend motivierten Nahrungsverweige- 
rung bei einer Anzahl akuter Hirnkrankheiten. Es scheint, als ob alle diese 
genannten klinischen Symptome auf eine schwere Schadigung des eigent- 
lichen ,,Lebenszentrums“ hindeuteten, als welches wir vielleicht das BaiUen- 
fyim und die Himteile um den 3. Ventrikel ansehen diirfen. Solche. Him- 
kranken sterben offenbar nicht an Veranderungen im ,,Himmanter*. B. tritt 
hier den Anschauungen Alzheimers entgegen. Vielleicht ist auch fiir den 
Menschen — wenn auch nicht der vdllige Wegfail — so doch eine diffuse 
schwere Erkrankung der Himrinde und des Himmantels mit dem Fort- 
bestande eines langen korperlichen Lebens sehr wohl denkbar. Nur so 
wird es verstandlich, dafl die ,,Geisteskrankheit 4k im engeren Sinne nicht 
totet. Der Ausdruck ,.Tod an oder dxuch Himlahmung“ ist eine viel zu 
unbestimmte, wissenschaftlich nicht verwertbare Bezeichnung. Die tod- 


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234 


Buohanzeigen. 


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lichen anfallartigen Storungen nehmen eine Sonderstellung ©in: bei ihnen 
kann die physikalische Himuntersuchnng ganz unmittelbar dartun, welche 
gewaltigen krankhaften Veranderungen in kurzer Zeit im Gehim vorgehen 
konnen als Ursache jener Erscheinungen, nnd wie die nachweisbare akute 
Hirnschwellung reap, der Himdruck oder der akute Liquoriiberdruck mog- 
Jicherweise mit als direkte uninittelbare cerebrale Todesursache angesehen 
werden diirfen. Levi-Stuttgart. 

0. Schellong, Die Neuralgien der taglichen Praxis . Berlin 1911. Springer. 

Verf. gibt eine Schilderung der Neuralgien vom Standpunkt des 
praktischen Arztes, nicht des Nervenarztes. Das Buch enthalt zweifellos 
eine Reihe interessanter, auch fur den Spezialisten wertvollerBeobachtungen, 
wenn sich uns freilich auch oft genug bei der Lektiire die Ueberzeugung 
aufdrangt, dafi es sich bei vielen der vom Verf. angefiihrten Faile nicht um 
Neuralgien handelt. Schon die einfache Zahlenangabe: ,,von 2631 beobach- 
teten Personen erkrankten 458 Personen =17 pCt. an Neuralgien “ zeigt, 
dafl der Verf. die Diagnose haufiger stellt, als wir sie sonst zu stellen 
gewohnt sind. Auffallend ist auch die rasche, leichte Heilung, welche fast 
all© diese Neuralgien gefunden haben: Warm© imd irgend ein Antineuralgi- 
kum haben fast immer geniigt, um in 2—3 Tagen, bei ,,Ischias“ in durch- 
schnittlich 14 Tagen die Schmerzen und die Krankheit zu beseitigen. Neur¬ 
algien fast in jedem Hautnerven werden beschrieben: Neuralgic des N. ilio- 
hypogastricus, charakterisiert durch lebhafte Kreuzschmerzen. welche aus- 
strahlen 1. nach der Auflenflache des linken Oberschenkels imd 2. nach der 
Blasengegend und die init Urindrang verkniipft sind, 7 Falle von ,.Neuralgic 
der Bauchhaut“, welche haufig zu Verwechslungen mit Appendicitis An- 
lafl geben. ,,linksseitige Interkostalneuralgie des VTI. Interkostalnerven 
nach abgelaufener Gallensteinkolik mit Ikterus“. ,,Neiuralgie des N. tibialis 
ram. calcan. med.‘\ ,,periphere Peroneus-Neuralgie der Fuflriickenastchen 
infolge von kalten FuOen“, Neuralgie des N. cut. surae medialis, des N. cut. 
dors, lateral., des Tibialis u. s. w. 

Beachtenswert erscheint uns besonders die Besprechung des tatsaeh- 
lich noch nicht geniigend geklarten Lumbagogebietes. 

Levi- Stuttgart. 

W. Spielmeyer, Technik der mikroskopischen .Untersuchung des Nerven- 
systems. Berlin 1911. Jul. Springer. 

Die vorliegende Technik stellt die v ichtigsten Untersuchungsmethoden 
ziemlich vollstandig zusammen. Die Darstellung ist iiberall klar und rich tig. 
Auch die zytologische Untersuchung der Cerebrospinalfliissigkeit wird kurz 
beriicksichtigt. Z. 

J. Wickman, Die akute Poliomyelitis bezw. Heine-Afedinsche Krankheit. 
Berlin 1911. Jul. Springer. 

Das Buch bildet einen unveranderten Abdruck des gleichnamigen 
Abschnittes aus dem Handbuch der Neurologic. 

Bei der grofien eigenen Erfahrung des Verf.s., die er seit der groOen 
schwedischen Epidemie von 1905 gesaimnelt hat. konnte im voraus auf eine 
vorziigliche Darstellung der in den letzten Jahren im Vordergrund des 
Interesses stehenden Krankheit gerechnet werden. Und die Erwartungen 
wurden nicht getauscht. W. gibt in seiner Monographic einen vorziigliehen, 
auf eigener Erfahrung wie griindlichein Liter at urstudium beruhenden I T eber- 
blick iiber den derzeitigen Stand unserer Kenntnisse von der langst ge- 
kannten und doch oft verkannten Heine-Medinschen Krankheit. Instruk- 
tive Tafeln illustrieren den histologischen Befund. Aus der Symptomato- 
logie sei nur hervorgehoben, daQ W. teilweise im Anschlufi an Medin folgende 
Formen unterscheidet: 

1. Die spinale, poliomyelitische Form, 

2. die unter dem Bilde einer Landryschen Paralyse verlaufende Fonn, 

3. die bulbare (Medin) oder pontine Form ( Oppenheim ), 

4. die encephalitisclie Form. 

5. die ataktische Form, 


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Tagesgeschichtliches. 


235 


6. die neuritische (oder neuritisahnliche) Form. 

7. die meningitische Form, 

8. die abortiven Formen. 

Diagnose und Differentialdiagnose erfahren eingehende Darlegung. 

Bei Besprechimg der Prophylaxe hebt W. hervor, daB als naturliche 
Konsequenz der Lehre von der Kontagiosit&t der Krankheit von den Aerzten 
und Behorden dieselben Mafinahmen gefordert werden miiBten, die bei 
anderen iibertragbaren Krankheiten in Frage kommen: Isolierung der 
Kranken, Desinfektion etc. Dies stoflt aber, zumal da die abortiven Falle 
und die Virustrager nicht so leicht wie bei den anderen Infektionskrankheiten 
festzustellen sind, praktisch auf sehr groBe Schwierigkeiten. 

Levi- Stuttgart. 


Tagesgeschichtliches. 


Die 6. Tagung Deutscher Berufsvormiinder findet am 17.*—19. Sept, 
statt. Referste haben Crcwemonn-Hamburg und Weygandt- Hamburg iiber- 
nommen. 

Programm der 5. J&hresversammlung der Gesellsehaft Deutscher Nervenarzte 

zu Frankfurt a. M. 

I. Referate. I. Ueber Wert und Bedeutung der modemen Syphilis- 
therapie fur die Behandlung von Erlcrankungen des Nervensystems. (Referent 
A 7 onne-Hamburg.) II. Ueber den Einflufi des Tabakrauchens auf die 
Entstehung von Nervenkrankheiten. (Referenten: v. Frankl - Hochivart- 
Wien und A. Frohlich- Wien.) — II. Vortrage. 1. Eduard Muller- Mar¬ 
burg: Die bulbare Form der epidemischen Kmderlahmung (nebst Bemer- 
kimgen iiber die Friihdiagnose des Leidens). 2. Schlesinger- Wien: Ueber 
Polyneuritis cutanea. 3. Marburg- Wien: Zur Klinik imd Pathologic der friih- 
infantilen Muskelatrophien. 4. Saenger- Hamburg: Ueber forme fruste des 
Myxodems. 5. F. Krause und Oppenheim- Berlin: a) Cystische Entartung des 
Seitenventrikels mit Hemiplegie und Epilepsie. Heilung durch breite Er- 
offnung. b) Cyste im Oberwurm, Operation, Heilung. 6. Anfcm-Halle a. S.: 
Ueber einige Methoden der Himdruckentlastimg. 7. Albrecht-Graz: Neue 
Analysen des psyehogalvanischen Reflexphanomens. 8. Boettiger-Hamburg: 
Einiges aus dem Gebiete der Elektrodiagnostik. 9. Rosenfeld- StraBburg: 
Die Verwertbarkeit des kalorischen Nystagmus in der psychiatrisch-neuro- 
logischen Diagnostik. 10. A. Barany- Wien: Vestibularapparat imd Zentral- 
nervensystem. 11. Mendel und Tohicw-Berlin: Die Syphilisatiologie der 
Frauentabes. 12. Benario-Frankfurt a. M.: Ueber die sog. Neurorezidive, 
deren Aetiologie, Vermeidung imd therapeutische Beeinflussung. 13. Erben- 
Wien: Ueber das Graefesche Symptom. 14. Tromner-H amburg: Ueber 
normale imd pathologische Extremitatenreflexe. 15. Lowy- Wien: Zur Frage 
der Lokalisation im Kleinhim. 16. Rothmann- Berlin: Zur Frage der 
Sensibilitatsleitung im Riickemnark. 17. Bayerthal-Worms: Ueber den 
gegenwartigen Stand der Frage nach den Beziehungen zwischen HimgroBe 
und Intelligenz. 18. Ed. Lindon-Melius- Baltimore: Die Differenzen im 
zellularen Bau der Brocoschen Windung der rechten und linken Hemisphare. 
19. Julius Bauer- Wien: Ueber Quellung im Nervengewebe. 20. Heinr. Vogt- 
Wiesbaden: Psychoanalyse und Kinderpsychopathologie. 21. E. Beyer- 
Leichlingen: Prognose und Therapie bei den Unfallneurosen der Telepho¬ 
nist innen. 22. Xofowtomm-Konigstein: Zum System der Neurosen. 23. Fried- 
Idnder- Hohe Mark: Wert und Unwert der Hypnose. 24. Berkovits-Nagyvarad: 
Epilepsie: ein neuer Gesichtspunkt in der Epilepsiefrage. 26. E. Redlich-Wien : 
Tetanic und Epilepsie. 26. O. Fischer- Sanat. Weleslawin: Beitrage zur Patho- 
logie der hemiathetotischen Bewegimgsstdrungen. 27. L. Laquer-Frank- 
furt a. M.: Sind nervose Unfallsfolgen heilbar ? 

Die BegriiBung der Teilnehmer findet am 1. Oktober im Hotel 
Imperial (Opernplatz), abends 8 Uhr statt. 


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Fersonalien. 


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Der I. Deutsche KongreB fiir Jugendbildung und Jugendkunde tagt 
am 6.-—8. Oktober 1911 in Dresden (u. a. Vortrage von W . Sfem-Breelau, 
Meumann- Leipzig, TTeygrafu^-Hamburg). 

Der zweite Knrs und erste KongreB fur Familienforschung, Ver- 
erbungslehre und Rassenhygiene wird im April 1912 in GieBen unter Leitung 
von Professor Sommer stattfinden. Wie bei dem ersten Kurs iiber dieses 
Gebiet im August 1908 sollen dabei die Beziehungen von Genealogie, 
Psychiatrie, Vererbungslehre unter Beriicksichtigung verwandter Er- 
scheinungen aus der Botanik, Zoologie und Anatomie in systematischen 
Vortragen von Fachmannem dargestellt und eine methodische Einfiihrung 
in das gauze Gebiet gegeben warden, wobei Regeneration und Rassen¬ 
hygiene besonders beriicksichtigt werden. An den zirka dreitagigen Kurs 
schlieBt sich dann ein ebenfalls dreitagiger KongreB, urn eine freie Teil- 
nahme an Vortragen und Verhandlungen zu ermoglichen. Das genaue 
Programm wird im Herbst d. J. erscheinen. Anmeldungen sind an 
Professor Sommer in GieBen zu rich ten. 


Die 83. Versammlung deutscher Naturforseher und Aerzte tagt vom 
24.—30. September in Karlsruhe, und zwar die Sektion Psychiatrie und 
Neurologic gemeinsam mit der 41. Versammlung siidwestdeutscher Irrenarzte. 
I. Referat: Ueber nervose Entartung. a) Allgemeiner Teil. Referent: 
O. Bumke-Freiburg i. Br. b) Spezieller klinischer Teil. Referent: A. Schott- 
Stetten. II. Vortrage: 1. «7. Bauer \md B. LeicUer- Wien: Ueber den EinfluB 
der Ausschaltung verschiedener Hirnabschnitte auf die vestibul&ren Augen- 
reflexe. 2. E. Bleider-Zixrich: Ueber autistisches Denken. 3. M. Fischer - 
Wiesloch: Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 4. M. Friedmann - 
Mannheim: Zur Kenntnis der Absenzen oder Petit-mal-Anfalle nicht- 
epileptischer Art bei Kindem. 5. A. Homburger- Heidelberg: Entmundigung 
bei krankhafter Haltlosigkeit imd verwandten Formen der Psychopathie. 
6. E. Hufler-Chemnitz; Ueber den EinfluB des Salvarsans auf progressive 
Paralyse. 7. A. Kronfeld- Heidelberg: Experimentelles zum Mechanismus 
der Auffassung. 8. F. iW/?/-Heidelberg: E xper iment ell ana to mis che Unter- 
suchungen liber die Himrinde. 9. O.itan&e-Heidelberg: Die Gliomzellen und 
ihre Beziehimgen zur foetalen und ausgereiften Ghazelle. 10. H. Romer - 
Illenau: Zur Methodik der psychiatrischenUrsachenforschung. 11. E. Thoma - 
Hlenau: Untersuchungen an Zwangszoglingen in Baden. 12. A . Wetzel- 
Heidelberg: Ueber Amentia. AuBerdem ist die Besichtigung der Anstalt 
Wiesloch vorgesehen. 


Personalien. 


In Heidelberg hat sich Dr. A. Hamburger als Privatdozent fiir 
Psychiatrie habilitiert. 

Dr. F. S. Meijers in Amsterdam hat sich als Privatdozent fiir gericht- 
liche Psychiatrie habilitiert. 

Dr. E. Rossi , bisher Privatdozent in Neapel, hat sich in Pavia fiir 
Psychiatrie habilitiert. 

Privatdozent Dr. P. A . Ostankow ist zum Oberarzt der Psychiatrischen 
Klinik in St. Petersburg emannt Worden. 

In Moskau hat Priv.-Doz. Dr. Rostolimo die Erlaubnis zur Begriindung 
eines Psychoneurologischen Institute erhalten. 

Gestorben sind Dr. M. Panizza , Professor der Neuropathologie ^in 
Rom, 66 Jahre alt, imd Dr. P. Funaioli , o. Professor der Psychiatrie 
in Siena. 


Drucklehler-Berichtigung. 

In der Diskussionsbemerkung des Dr. Lowe zum Vortrag von M . Meyer 
(Versammluug in Baden-Baden) muB es heifien: Die kolloidalen Bestand- 
teile des Epileptikerharnes (statt Epileptikerblutes). 


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(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Kgl. Charity in Berlin. 

[Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen.']) 

Die Ulnarislahmung. 

Von 

Dr. KURT SINGER, Berlin. 

I. 

Anatomie.und Physiologic des N. ulnaris. Motorische und sensible 

Funktionen. 

Der N. ulnaris entspringt mit seinen Fasem aus dem (VII. 
und) VIII. Cervikal- und I. Dorsalsegment des Riickenmarks, und 
zwar erhalt er von beiden Segmenten ungefahr gleich viele Fasem. 
Nach Scott vereinigen sich die vorderen Wurzeln des VIII. Cervikal- 
und I. Thorakalnerven und teilen sich dann in 3 Teile, einen 
vorderen Ast, der den inneren Kopf des Medianus, einen mittleren, 
der den Ulnaris und Cutan. brach. med. bildet, und einen hinteren, 
der sich an der Bildung des N. radialis beteiligt. Der Ulnaris 
bezieht gelegentlich auch aus dem VII. Cervikalsegment einen 
Zuschufi. Sehr interessant und aufklarend sind die anatomischen 
und physiologischen Untersuchungen von Bolk, Holl, Wichmann 
und Schumacher fiber die Art der Arm-Innervation nach spinalen 
Segmenten. Zum Teil kamen die einzelnen Autoren dabei 
zu etwas abweichenden Resultaten. Speziell fiber den Ulnaris 
und sein Verbreitungsgebiet herrscht neurophysiologisch noch keine 
voile Uebereinstimmung. Das Wesentlichste und auch oft praktisch 
Wertvollste will ich hier herausschalen. Entwicklungsgeschichtlich 
zerfallt der Plexus brach. in einen ventralen Teil ffir die Beuge- 
muskulatur (Nn. musculocutan., med., uln.) und einen dorsalen 
ffir die Streckmuskulatur (Nn. axillaris und radialis). Diese 
Schichtung nach dorsalen und ventralen Teilen, die nach Streeter 
bereits am Ende des ersten embryonalen Monats durch Abgrenzung 
zweier Nervenfaser-Lamellen nachweisbar ist, ffihrt Bolk auch 
ffir die Muskeln der oberen Extremitaten durch. Jedes Myotom 
scheint in einen dorsalen und einen ventralen Abschnitt geteilt, 
und jeder Nerv, der zum Arm zieht, zerfallt ebenso in einen dorsalen 
und einen ventralen Ast. Die Nn. spinales des Riickenmarks treffen 
die Extremitaten genau der Reihe nach in kranio-kaudaler Rich- 
tung, wenn man den Arm in embryonale Stellung bringt, d. h. 
wenn man ihn bis zur Horizontalen abduziert und die radiate 
Seite nach oben stellt (Holl). In dieser Stellung schwindet jede 

Monatsschrift f. Pflyohiatrie a. Nearologie. Bd. XXX. Heft 4. 16 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


Torsion der Nervenbiindel, und man sieht, daB die Badialseite 
von den obersten proximalen, die Ulnarseite von den untersten 
distalen Nervenfasem versorgt wird. (Siehe Figur 1.) 



Die Schichtung in dorsale und ventrale Fasem ist schon 
an den Austrittsstefien der vorderen Wurzeln angedeutet. Jeder 
Nerv des Plexus enthalt entweder dorsale oder ventrale Fasem. 
Nur der Ulnaris bildet nach Bolk insofern eine Ausnabme, als 
er ventrale und dorsale Fasem enthalt. Gelegentlich sondem 
.sich namlich aus dem Radialis nach dessen Abgang aus dem 
Plexus Fasemziige ab, die dem Ulnaris beitreten, so daB dieseralso 
auch aus CVII Fasern enthalt. Im iibrigen sind die individuellen 
Verschiedenheiten der Segmentbeziige nicht sehr bedeutend. In 
den auBersten kranialen und kaudalen Grenzen kommen Schwan- 
kungen vor, der mittlere „Kem“ ist konstant. 

Fiir den Ulnaris speziell fanden W ichmann-Renz: 

C VII, C VIII, Th. I = 89 mal 
C VIII, Th. I = 41 „ 

C V, C VI, C VII, Th. I = 19 „ 

C VI, C VII, C VIII 10 „ 

C V, C VI, C VII, C VIII 6 ,. 

C VII, C VIII 3 „ 

C VIII 3 „ 

Schumacher dagegen: 

C VII, C VIII, Th. I = 9 „ 

CVIII, Th. 1= 1 „ 

d. h. also: der Ulnaris wird pluriradikal versorgt, und zwar immer 
von den Nn. spin., die hintereinander wurzeln. Spriinge kommen 
nie vor (etwa Beziige nur aus C VII und Th. I). Vergleicht man 
die Segmentbeziige fiir die ventrale und dorsale Gruppe der Ober- 
armnerven, in der Reihenfolge, die sie bei embryonaler Haltung 
einnehmen, so ergibt sich folgendes Bild: 


Ventral ,1 

I 






Dorsal ! 

Muscu Incut an., 

(C IV) 

C V 

C VI 

CVII 



Axillaris i C V ' C VI 

Media n us 


(C V) 

CVI 

CVII 

C VIII 


Radialis C V 1 C VI 

Ulnaris 




CVII 

C VIIII 

ThI 

i 

Cut. ant. med. 





C VIII ! 

Th I 



VIII Tli 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


239 


Hier ist das Gesetz der pluriradikalen Innervation geradezu 
abzulesen. Jeder Muskel wird dabei (siehe auch Figur) von min- 
destens zwei Nn. spin, versorgt. Sano hat jedem Muskel ein ganz be- 
stimmte8 Kemgebiet im Vorderhom des Riickenmarks angewiesen 
Nach den Untersuchungen von Sano (im AnschluB an die Arbeiten 
von Marinesco, Parhon, Knape u. A.) reagieren ganz bestimmte 
Zellengruppen des Vorderhoms auf die Exstirpation einzelner 
Nerven oder Muskeln hin mit Degenerationserscheinungen. ,,A 
chaque muscle stri6 correspond un noyau m^dullaire, k chaque 
groupement de muscles un groupement de noyaux.“ 

Die sensiblen Fasem stammen aus denselben Segmenten, 
wie die entsprechenden motorischen. 

Nach Schumacher verhalten sich die Ulnarismuskeln in 
Bezug auf ihre Segmentinnervation folgendermaBen: 


M. flex. carp. uln.: 

CVIII 

ThI 


(nach Wichmann auch C VII) 

M. adduct, poll.: 

C VII C VIII 

ThI 

M. flex, dig.: 

C VII C VIII (C IX) 


M. oppon. dig.: 

C VII C VIII (C IX) 


M. abduct, dig. quint.: 

C VII C VIII (C IX) 


Mm. inteross.: 

C VII € VIII 

ThI 

Mm. lumbricales: 

C VII C VIII 

ThI 


In dem sogenannten vorderen medialen Strang des Plexus 
brachialis liegt der N. uln. am lateralsten, wahrend sich medial- 
warts an ihn die zu demselben Strange gehorenden Nn. cutan. 
antibrach. med. und cutan. brach. med. anschlieBen. Er verlauft 
in der Achselhohe vor und medial von der Art. axillaris (praaxial). 
Lateral von ihm zieht der dickere N. medianus, von dessen innerer 
Wurzel er sich unterhalb der Clavicula abzweigt, um sich in seinem 
Verlaufe dann immer mehr von ihm zu entfemen. Er legt 
sich am Oberarm dem M. triceps an, von dem er nur durch das 
diinne Septum intermusculare mediale getrennt ist. Dieses durch- 
bohrt er 4 cm oberhalb des Ellenbogens, z>eht zum Epicondylus 
medialis und lagert sich hier in den sogenannten Sulcus ulnaris 
zwischen Olekranon und Condylus internus humeri. Er durch- 
bohrt die Ursprungssehne des M. flex. carp. uln. und geht zwischen 
diesem und dem Flex. dig. commun. prof, zum Vorderarm iiber, 
wo ihm und der A. ulnaris der Flex. carp. uln. als Leitmuskel 
dient. Im oberen Teil des Vorderarms ist er ganz von Muskeln 
bedeckt, weiter unten tritt er (zugleich mit der Art. uln., die nun 
radialwarts liegt), oberflachlich. Am Vorderarm gibt der Ulnaris 
nur einige Fasem fiir die Kapsel des Ellenbogengelenks ab (Rami 
articulares), einige Muskelzweige fiir den Flex. carp. uln. und 
Flex, digit, prof., sowie den Ram. cutan. palmar., der in der Mitte 
des Vorderarmes entspringt und sehr diinne Faserchen zur A. uln., 
zur Haut des Kleinfingerballens und unteren Drittels des Vorder¬ 
arms schickt. 

Ziemlich nahe dem Handgelenk teilt der Ulnaris sich in 2 Aeste, 
einen dickeren, der volar bleibt und dicht am Erbsenbein, 

16* 


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Singer, Die Ulnarielahmung. 


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zwischen Flexor und Abduct, dig. V mit dem Endast der A. uln. 
zur Hohlhand zieht, und einen diinneren, der unter der Sehne des 
Flex. carp. uln. zur Dorsalseite der Hand geht und sich hier in 
5 Aestchen spaltefc, die Nn. dig. dors. n. uln. fur die ulnare Rficken- 
flache des kleinen Fingers, die Radialflache der V. und Ulnar- 
flache der IV. Grundphalanx, die einander zugekehrten Flachen 
der III. und IV. Grundphalanx. Das letztgenannte Aestchen ana- 
stomosiert mit dem Ram. superfic. rad. Der volare Ast teilt sich auf 
dem Lig. carp, transvers. wieder in einen oberflachlichen und einen 
tiefen Ast, sogen. Endaste des N. uln., so daB wir an der Hand 
4 Aeste zu unterscheiden haben: den Ram. palmaris, den Ram. 
dorsalis, den volaren Ramus superficial^ und den volaren Ramus 
profundus. Der dorsale Ast ist, wie schon auseinandergesetzt 
wurde, rein sensibler Natur. Der volare oberflachliche Ast versorgt 
den kleinen M. palmaris brevis und die Haut des Kleinfinger- 
ballens. 2 Auslaufer von ihm, die Nn. dig. volar, commun., ziehen 
zum 5. und zum ulnaren Rand des 4. Fingers. Der volare tiefe 
Ast ist rein motorisch und versorgt alle Kleinfingermuskeln, die 
beiden ulnarsten Lumbricales, samtliche Interossei und den 
Adduotor pollicis. AuBerdem versorgt er mit kleinen Faserchen 
den benachbarten Bandapparat und schickt einen dfinnen Ram. 
perforans zur Oberflache der Spatia interossea dorsal.; letzterer 
anastomisiert mit dem N. inteross. antibrach. 

Fiir die Verletzung des Ulnaris ist der hier skizzierte Verlauf 
natfirlich von groBer Wichtigkeit. Viel bedeutungsvoller aber 
fiir das Nichtfunktionieren des Ulnaris bei den verschiedenen 
Lahmungen ist seine Beziehung zu den von ihm versorgten Muskeln 
und die Art, wie Nervenabzweigungen sich zu diesen Muskeln und 
dem vom Ulnaris versorgten Hautgebiet verhalten. Ich will daher 
zunachst ausffihrlich fiber die Funktionen der einzelnen Ulnaris- 
muskeln, fiber ihre Innervierung und die Bedeutung der Hautaste 
sprechen. Daneben will ich sogleich auf die haufigsten und am 
meisten beobachteten Variationenen in Verlauf und Verteilung 
des Nerven eingehen. Ist fiber die Wirkung des normalen Nerven 
ein klares und erschopfendes Bild gezeichnet, so ist es eine ein- 
fache Aufgabe, sich nach den Ausfallserscheinungen motorischer und 
sensibler Art fiber den Sitz einer Ulnarislahmung, sowie fiber den 
Grad des Nichtfunktionierens zu orientieren. 

Die Ulnaris-Muskeln sind 1 ): 

I. M. flexor carpi ulnaris. 

Er bewirkt eine kraftige Handbewegung im Sinne der Ulnar- 
abduktion und Ulnarflexion, wie sie am schonsten beim Schlagen 
einer Tiefquart zum Ausdruck kommt. Diese Bewegung kommt 
nur durch die hinteren Btindel des Muskels zustande, wahrend 


*) Ich folge bei Auseinandersetzung der Muskelfunktionen im wesent- 
lichen dem Lehrbuch von Frdnkel-Frohse. 


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Singer, Die UlnarislAhmung. 


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die vorderen an einer Radial- und Dorsalflexion der Hand teil- 
haben. Seine Aufgabe ist also eine kombiniert dreifache: 

a) Ulnar- und Dorsalflexion der Hand (hintere Biindel). 

b) Radial- und Volarflexion der Hand (vordere Biindel). 

c) Ulnarabduktion der Hand (bei Zusammenarbeiten der 
vorderen und hinteren Biindel, d. h. bei Kontraktion des ganzen 
Muskels). 

Diese Zweiteilung des Muskels kommt auch in seiner In¬ 
nervation zum Ausdruck. Bald nach seinem Durchtritt durch den 
Flex. carp. uln. senkt sich der N. ulnaris mit 2 Aesten in diesen 
Muskel ein (mitunter auch 3 Aesten). Da eine Anastomose zwischen 
diesen beiden Aesten nie gefunden wurde, ist die Annahme berech- 
tigt, daB der Muskel wirklich aus 2 Abteilungen besteht. Einen 
ev. 3. Nervenast erhalt er, wenn er vorhanden ist, fast stets aus dem 
Medianus. Ein kleiner, nicht seltener Nebenmuskel ist der sogen. 
M. epitrochleo-anconaeus, der am Epicond. med. entspringt und 
iiber den Sulc. uln. zur Ulna zieht. 

Bei dieser Gelegenheit erinnere ich an die Arbeiten von Earner und 
semen Schiilem Lederer-Lemberger iiber das Problem der doppelten In¬ 
nervation. Die Versorgung eines Muskels durch 2 Nerven kann in zweierlei 
Weise geschehen: entweder versorgt der 1. Nerv einen Teil der Muskel- 
fasem imd der 2. den Rest, oder jeder der beiden Nerven teilt alien Muskel- 
fasem Zweige zu. Lederer und Lemberger fanden, daB fur den von ihnen 
untersuchten M. flex. dig. prof, die 2. Art zutrifft (und wahrscheinlich 
ist das iiberhaupt die gewohnliche Art der doppelten Innervation) Elek- 
trisch muB sich das so auflem, daB bei Keizung des einen Nerven genau 
wie bei der des anderen Zuckungen im ganzen Muskel erfolgen. Bei der 
Verletzung einer Faser miiBte also die Funktion des Muskels dennoch 
erhalten bleiben. Es handelt sich bei der doppelten Innervation vieleicht 
urn Arbeitserspamis. Reizte man in dem zitierten Fall den VIH. C und 
I. Thor, isoliert, so erfolgten Ausschlage des Spannungsmessers, die 
genau so groB waren, als wenn man beide Nerven zugleich reizte. 

Fiir die Ulnarislahmung ist es von groBer Wichtigkeit, zu 
wissen, daB der Muskelast zum Flex. carp. uln. sich sehr oft schon 
im Oberarm, ja selbst hoch in der Achsel vom Stamme des Ulnaris 
trennt. Es kann in solchen Fallen der Stamm des Ulnaris ladiert 
sein, ohne daB der Flex. carp. uln. in seiner Funktion gestort 
wird. 

Segmentbeziige: C VIII, Th I. 

IL M. flexor digitorum profundus (seu perforans). 

Nur der mediale Bauch des Muskels wird vom Ulnaris ver¬ 
sorgt (der laterale vom Med.). Er beugt die Nagelphalanx; indirekt 
wird durch die Beugung der Endphalanx auch die II. Phalanx 
mit in die Beugestellung hineingezogen. Dem Ulnaris gehoren 
nur Finger III, IV und V an; ja, haufig greift bei dem Mittelfinger 
schon der Medianus mit seinen motorischen Fasem iiber. Der 
Muskelast des Ulnaris geht ungefahr an derselben Stelle vom 
Hauptnerven ab, wie der fiir den Flex. carp. uln. 

Segmentbeziige: (C VI), (CVII), CVIII, Th I. 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Sonstige Varietaten des N. ulnaris am Ober- undUnterarm sind 
relativ selten. Frdnkel-Frohse erwahnen einen Fall, in dem der 
Uln. zugleich mit dem Med. einen Teil des Flex. dig. sublim. ver- 
sorgte. Clason teilt einen Sektionsbefund mit, in dem der Uln. 
alien 3 Kopfen des Triceps Aeste lieferte, dem Cap. long, und lat. 
je einen, dem Cap. med. 2. Fagan sah eine Kommunikation 
zwischen U. und M. im Unterarm. Einen an den Clasons chen 
Fall erinnemden Befund erhob Smith: An beiden Armen eines 
Sudannegers bestand eine Kommunikation zwischen Rad. und 
Uln. Der Radialis gab beiderseits unter dem Teres major einen 
starken Ast ab; dieser teilte sich in zwei Zweige; einer ging in den 
medialen Tricepskopf, einer verband sich mit dem Ulnaris. Die 
Fasem beider Nerven waren aber zu isolieren. Nach Thompson 
und anderen sind Anastomosen zwischen Uln. und Med. sehr 
haufig; an 406 Vorderarmen fand er sie 63 mal. Die sogenannte 
hohe Unterarmanastomose zwischen Uln. und Med. fand Gruber 
unter 250 Fallen 38 mal, Kolliker bei 68 Extremitaten 8 mal, 
Vereb&re unter 15 Fallen 11 mal. Auch am Oberarm kommt nach 
Letievant eine solche Anastomose vor. In einem Fall Turners gab 
der Uln. einen starken Hautast fur die Hinterflache des Vorder- 
arms ab. 


III. M. adductor pollicis. 

Seine Funktion besteht, wie sein Name besagt, hauptsachlich 
in der Adduktion des freistehenden Daumens; daneben ist er auch 
ein wenig bei der Flexion desselben beteiligt (bewirkt durch den 
friiher zum Flex. poll. brev. gerechneten Muskelbauch). Der Ad- 
duktor besteht anatomisch aus 2 Bauchen, in deren jeden sich ein 
Faden des Ram. prof. n. uln. einsenkt. Man kann den Adduct, 
poll, als M. inteross. volaris I. auffassen. Dafiir spricht seine Lage, 
seine Funktion, die derjenigen der Interossei (siehe unten) ahnelt, 
und der Umstand, daB er allein von alien Daumenballenmuskeln 
regelmaBig vom Ulnaris versorgt wird. 

Segment: CVII, C III, Th I. 

Der Adduct, poll, fehlt an der Hand nie. Brown und Frommont 
beschreiben einen Fall, in dem alie anderen Daumenballenmuskeln 
nicht vorhanden waren. Beide Bauche sollen auch noch vom 
Radialis Fasem zuerteilt bekommen. Intramuskulare Anasto¬ 
mosen zwischen Uln.- und Med.-Fasern, die vom Daumenballen 
herziehen, finden sich haufig. Nach Brooks war der Adduktor 
unter 31 Fallen 26 mal doppel innerviert. 

Ilia. M. flex. poll. brev. 

Der friiher als Cap. prof, des Flex. poll, brevis bezeichnete 
Teil dieses Muskels wird jetzt allgemein zum Adduktor gerechnet. 
Der ganze Flex. brev. kann fehlen oder mit dem Abduct, poll, 
verschmolzen sein. Brooks beschreibt einen Fall, wo Flex, brev., 
Abduct, und Oppon. poll, vom Ram. prof. n. uln. innerviert wurden. 


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IV. M. palmaris brevis. 

Sehr kleiner, oberflachlicher Muskel, der eigentlich nur eine 
schwache Muskelhaut im Hypothenar darsteilt und keine eigenen 
Funktionen besitzt. Das Nervenzweigchen, das ihn versorgt, 
lost sich aus dem Bam. volar, superfic. n. uln. ab. 

Segment : CVII, C VIII, (ThI). 

V. M. abductor dig. V. 

Seine Wirkung ist die Abduktion des kleinen Fingers. Da- 
neben beteUigt er sich — nach Franlcel-Frohse — in geringerem 
Grade auch an der Beugung der Grundphalanx, der Streckung 
von Mittel- und Endphalanx des kleinen Fingers. Nerv: Bam. prof. 

Segment: CVII, C VIII, (Th I). 

VI. M. flexor brevis dig. V. 

Beugt die Grundphalanx; ist haufig mit dem Abduktor 
verschmolzen. Nerv: Bam. prof. 

Segment: CVII, CVIII, (Th I). 

VII. M. oppon. dig. V. 

Er nahert den 5. Mittelhandknochen der Handachse, die man 
sich durch die Mitte des 3. Fingers gelegt denken kann, und beugt 
ihn dabei etwas nach vorn und radial. Die dabei zustande kommende 
Botationsbewegung wird eben Opposition genannt. Sie ist am 
besten zu priifen, wenn die Kuppe des kleinen Fingers gegen die 
Kuppe des Daumens gefuhrt wird. Nerv: Bam. prof. 

Segment: CVII, CVIII, (ThI). 

VIII. Mm. lumbricales. 

Sie beugen die Grundphalanx der Finger und strecken die 
beiden anderen Phalangen, unterstiitzen also die Tatigkeit der 
Interossei. Nur Lumbricales III und IV werden vom Ulnaris 
innerviert (Bam. prof.). 

Segment: CVII, CVIII, (ThI). 

Nach Frankel-Frohse wird der Lumbricalis des III. Fingers 
halb vom Uln., halb vom Med. versorgt. 

IX. Mm. interossei. 

Sie zerfallen in Interossei dorsales und volares. Der Int. vol. I 
ist mit dem Adduct, poll, identisch. Ihre Wirkung ist, je nachdem 
die dorsalen und volaren gemeinsam oder isoliert wirken, eine 
verschiedene. 

a) Sie ziehen bei einseitiger Kontraktion die Finger zur Seite, 
und zwar entweder von der durch den Mittelfinger gelegten Achse 
der Hand fort oder zu ihr hin. 

b) Sie beugen die 1. Phalanx zur Vola manus hin, bei einseitiger 
Wirkung ziehen sie dieselbe nur in seitliche Flexionsstellung. 

c) Sie strecken die 2. und 3. Phalanx. 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Diese dreifache Wirkung der Interossei und damit ihre 
tminente Bedeutung bei alien Handfunktionen erkannten zuerst 
AJbinu8 und Sabatier , von Neurologen: Duchenne . Die Interossei 
sind also zunachst Abduktoren und Adduktoren. Auch hier 
muB man wieder von der Mittelachse der Hand ausgehen. Die 
dorsalen Interossei wenden die Finger von dieser Achse fort 
(Abduktoren), die volaren zu ihr hin (Adduktoren). Da die dors&le 
Muskelmasse starker entwickelt ist, so ist auch die Abduktion 
normaliter energischer. 

Auf die Extension der 2. und 3. Phalanx, die eben erst die 
Interossei besorgen, wirkt der eigentliche Strecker, der Extensor 
digitorum nur sehr wenig ein. Seine Hauptfunktion ist vielmehr 
nur die Streckung der Grundphalanx. Das sieht man deutlich 
bei Lahmung des Extensor. Man braucht nur die Grundphalanx 
passiv dorsalwarts zu beugen, um zu sehen, daB die Streckung 
in Phalanx 2 und 3 so prompt und kraftig erfolgt, als sei der 
Extensor intakt. Dagegen kann der Extensor in geringem MaBe die 
Ab- und Adduktion der Finger unterstiitzen. Die Interossei 
abduzieren und adduzieren die Finger nur dann, wenn diese im 
Metacarpophalangealgelenk extendiert sind. Nerv: Ram. prof, 
n. uln. fur samthche Interossei. 

Segment: (C VII), C VIII, Th I. 


Sensibilitat. 

Der dorsale Ast, der sich zwischen Mittelarm und unterem 
Drittel des Unterarms dorsalwarts begibt, innerviert die ulnare 
dorsale Halfte des Handriickens und teilt sich gewohnlich in 
5 Zweige, je 2 fur den IV. und V. Finger und einen fur die ulnare 
Halfte des III. Der volare Ast der Oberflache versorgt die Haut 


Dorsal 



Volar 



des ganzen Kleinfingerballens und zerfallt dann in 2 Zweige. Der 
eine zieht zum ulnaren Rand des V. Fingers und versorgt diesen, 
der andere zu den einander zugekehrten Flachen des IV. und 


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Singer, Die Ulnarialahmung. 


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V. Fingers. Nach dieser iiblichen Beschreibung stelit sich das 
Sensibilitatsschema fiir den Ulnaris so dar, wie es die Figuren 
2 und 3 zeigen. 

Die genauen Sensibilitatspriifungen ergeben ein von diesem 
etwas abweichendes Schema: 

Volar versorgt der Ulnaris durch den Ram. superficialis den 
Kleinfingerballen, den kleinen Finger und die ulnare Halfte des 
IV., daneben eine kleine rhomboidformige Flache dicht iiber dem 
ulnaren Handgelenk durch den Ram. cutan. palmar, des Ulnaris. 

Auf der dorsalen Seite werden versorgt: Die ulnare Halfte 
des Handriickens bis zur Handachse, welche man sich durch die 
Mitte des III. Fingers gelegt denken muB; der ganze kleine Finger; 
vom IV. Finger die ganze Grundphalanx und ulnare Halfte der 
II. und III. Phalanx; vom Mittelfinger nur die ulnare Halfte der 
Grundphalanx. (Vergl. Figg. 4 und 5.) 

Dorsal Volar 




Doch bietet die Pathologie der kompletten Ulnarislahmungen 
Bilder, die sehr haufig von dem vorstehend skizzierten Schema 
abweichen. Im Verlauf der Arbeit wird noch oft davon die Rede 
sein. Hier erwahne ich nur, daB (nach Hedon) besonders gem die 
Sensibilitat des Radialis auf Kosten des Ulnaris im Handriicken 
ausgebreitet ist, ja daB gelegentlich der dorsale Ulnarisast fast 
zu fehlen scheint. Es finden sich auch zahlreiche Anastomosen 
zwischen Radialis- und Ulnarisfasern, sowie zwischen Ulnaris- und 
Medianusfasera in der Hohlhand. Selbst der N. musculocutaneus 
soli sich gelegentlich an der Innervation der Hand beteiligen. 

Seine vasomotorischen Fasem erhalt der Ulnaris aus den 
vorderen Wurzeln der mittleren Dorsalsegmente. Vermittelst der 
Rami communicantes ziehen sie bis zum ersten Thorakalganglion 
des Sympathikusgrenzstranges und von hier in den Plexus brach. 
Die Aeste vom Ulnaris an die GefaBe sind relativ dick; ein sehr 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


konstanter findet sich oberhalb des Handgelenkes, vom N. zur 
A. ulnaris hinziehend. Vasokonstriktoren und Vasodilatatoren 
scheinen (nach Goltz) in den Extremitatenstammen nebeneinander 
zu liegen; die Wirkung der ersteren iiberwiegt. Erweiterung der 
GefaBe, Rotung und Erwarmung der Haut konnen ebenso eine 
Folge von Reizung der Vasodilatatoren, wie von Lahmung der 
Vasokonstriktoren sein. Bei den vasomotorischen Erscheinungen 
nach Ulnarislahmungen (resp. alien peripheren Lahmungen) muB 
aber auch daran gedacht werden, daB dieselben nicht peripher 
sondern zentral bedingt sind; namlich durch reflektorische Reizung 
eines dem Zentrum der Medulla oblongata iibergeordneten spinalen 
Zentrums. Nach Simons ist von den Nerven des Arms nur der 
Radialis vasomotorisch unwirksam. 

II. 

Das Bild der kompletten und partiellen Ulnarislahmung. 

Nach dem vorstehend Mitgeteilten laBt sich das Bild der 
kompletten Ulnarislahmung leicht darstellen. Die ulnare Ab- 
duktion sowie die Beugung der supinierten Hand ist herabgesetzt 
oder aufgehoben. Beim Versuch, die Hand zu beugen, weicht 
dieselbe radialwarts ab. Der kleine Finger kann (bis auf minimale 
Extension) iiberhaupt nicht bewegt werden. Die Beugung der 
Endphalangen in Finger IV und V ist ungeniigend, die Daumen- 
adduktion iiberhaupt nicht moglich; die haufig trotzdem beob- 
achtete Annaherung des Daumens an die Hand ist dann nur durch 
die Funktion des Opponens pollicis vorgetauscht; auch diese ist 
abgeschwacht, da sich an der Opposition normaliter auch der 
Flex. poll. brev. beteiligt. Die Finger konnen nicht gespreizt 
und auch nicht einander angenahert werden, die basalen Phalangen 
werden nicht gebeugt, die Mittel- und Endphalangen, besonders 
der Finger IV und V nicht gestreckt (nach Oppenheim kann ge- 
legentlich bei nicht vollstandiger Leitungsunterbrechung die 
Streckung der Phalangen bei Unmoglichkeit der Seitwartsbewegung 
erhalten bleiben). Meist findet man nun diesen Zustand der voll- 
standigen Paralyse nicht so komplett, wie ich ihn geschildert 
habe. Selbst in ziemlich ausgesprochenen Fallen handelt es sich 
mehr um Paresen, Schwache in der Funktionsleistung der Muskeln. 
Besonders fur den M. flex. carp. uln. trifft das zu, vielleicht weil 
der ihn versorgende Ast, wie schon erwahnt, sehr haufig hoch oben 
im Arm vom Stamm des N. uln. abzweigt und bei Lasionen seltener 
mitbetroffen wird. Selbstverstandlich werden auch je nach Sitz und 
Ausbreitung einer Lasion die motorischen Ausfallserscheinungen 
variable sein. Es ist z. B. denkbar, daB durch einen Stich in den 
Unterarm nur der Ast fur den Flex. dig. prof, getroffen wird. Daraus 
resultiert dann eben nur die Unfahigkeit, die letzte Phalanx zu 
beugen, eine Ausfallerscheinung, die, wie Gowers bei einem derartigen 
Fall bemerkt, besonders das Klavierspielen erschwert. Auch die 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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isoliert sich abzweigenden Muskelaste zum Flex. carp. uln. konnten 
die einzige Lasionsstelle abgeben, wenn sie nicht so dicht von 
Muskelmassen bedeckt und dadurch geschiitzt waren. 

Die sehr interessanten, aber noch lange nicht spruchreifen 
Untersuchungen Stoffels iiber die topographische Anordnung 
der Fasern im Nerven will ich hier nur kurz erwahnen. Legt man 
in der Mitte des Oberarms einen Querschnitt an, so verhalt sich 
die Topographie im Nerveninnern foIgendermaBen: dorsal und 
dorsolateral liegen die Fasern fur den Flex. carp. uln. und Flex, 
dig. prof., die Hypothenarmuskulatur, ulnar und volar sensible 
Fasern. Im Vorderarm liegt ulnar warts im Stamm der sensible 
Ram. dors, man., dorsal die motorischen Fasern fur Hypo- 
thenar, Interosseus III und IV, Adduct, poll, und tiefen Kopf 
des Flex. poll. brev. Volar liegen die sensiblen Fasern des Ram. 
superfic. Die Isolierung des Ram. prof, gelingt nicht vollstandig. 
Praktisch ist die ganze Untersuchung von groBter Wichtigkeit, 
besonders fur die Frage der Nervenplastik. Man konnte bei 
Atrophien der kleinen Handmuskeln durch Lappenimplantation 
(dorsal in den Nervenstamm an Ober- und Unterarm ?) eine 
Neurotisation und damit eine Gebrauchsfahigkeit der Hand 
erzielen. 

Haufiger und daher von praktisch groBerer Wichtigkeit als 
die komplette ist die inkomplette Ulnarislahmung. Sie kommt 
besonders bei Verletzung des Nerven unmittelbar iiber dem Hand- 
gelenk vor, wo der Ast fur den Flex. dig. prof, nicht verletzt werden 
kann. Es handelt sich dabei also besonders um die Lahmung der 
Interossei. Da diesen bei der Bewegung der Finger eine wichtige 
und umfangrdche Aufgabe zufallt, so ist auch der Ausfall ihrer 
Funktion durch besonders hervorstechende Merkmale charakte- 
risiert. Wie bei vollstandiger, so leidet auch bei unvollstandiger 
Ulnarislahmung der kleine Finger am meisten. Von hier nach 
der Radialseite zu nimmt die Intensitat derLahmungserscheinungen 
stufenweise ab; besonders der II. und III. Finger leiden relativ 
weniger, da ja die vom Medianus innervierten Lumbricales II 
and III vikariierend fur die gelahmten Interossei eintreten. In 
frischen, leichten Fallen von Parese der Interossei fallt besonders 
bei dem Versuch, die Finger zu strecken, die Unfahigkeit aaf, im 
V. und (weniger) im IV. Finger die beiden Mittel- und End- 
phalangen in horizontale Extensionsstellung zu bingen. Die 
Hand nimmt dann bei dem Versuch, die Finger zu strecken, 
folgende Stellung ein: 

Sind die Falle alter, so fiigt sich diesem Bilde noch die Ab- 
flachung der Zwischenknochenraume und des Kleinfingerballens 
bei. Die Sehnen des Extens. dig. treten dann scharf auf dem 
Dors. man. hervor. 

Auf Fig. 9 ist auch das stufenweise Abklingen der Interosseus- 
Parese von der ulnaren nach der radialen Seite hin deutlich. Der 
V. Finger und der Daumen (Figur 8) stehen auch beim Versuch, 


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I 

Frisohe. iinvoUfetindigt- Fara- 
tier Intfcimsei iufal^ 
>StH v hwuiido detK K&?Y,. wbwjs: 
ihf V&Wwiit lior St^enkf^hig- 
keif. der boid<m ieixten 

Finger 1 and o 

'•;■'■ fJitchonm), 


(Eig-Hte s'nu ii t Inara- 

Laiiraung.} Wrsmoh. i\u>. F)nfc**r am smrkf.n. 


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(E j t<ei i^v M&} * vg.-** lie?; 

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(Ei.vco no Box i 1 jfu ■ 1 11 u tig.) V'. *i-n i to) i 

cik Fiti^r z\* adcUmertm. 


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S i ilg # i? 'v 33^- UltiftnalSbnuficjg;. iJ4§ 

klaue, Kr&llcnlrondj. Bie koroml- irordaroio (lurch die be? alien 
Lahmupgen beubwebtete Mchrld^tunjt der -AntagmiMtet'' and 'lie in ,. 
diesfm m-.eirou- Vfr4ark««g dee Mn-kehonro.. Bet chstalen Idn&ris- 
UdrotJupgcK srdtl da* afcc<r tlyt M, extent, dig, comniun- und din 
uiuci schrl' gebUebeisen Flex. dip. sublim, mid pwf. ' Dnrch die 
Lahronng i*i die- Brugnng 4er Gmndphnianx f Mjis. intetms. \md 
lumorie.) unti die SiTcdumg von Mittd- umi Endpbalaiix {Mm. 
interop.) bajhbgiidv gewovdeu. Lhirch antagonist >«che Gegeo 
wirkwng w&ndtan d&b^r die ^t^n Ph^ngen ^perextiendiertii' 
die 2. Uftd <k PUalanxetli flektieri. 


Fig, io,. 

Alte- Lahnwng Wet'. Jntoroesoi 
Had ftntagofiistii?che Kentraktur; 
l'et»rextenaion4ef‘e p *<teri,^Flexion 
tier beidwi fatzhsO Phalangen 
f naeb tfww«-) 

(EigtftiC, IVoob'«?Ji tni)g.) KlauenhtHXl • 

IWese Peformitat. die xwroebst. sieh nur bei cbm BexvegDitg 
geltend maeht, bleibt altta&bliefc auch ip der BtikeytftUuftg betdgJteto 
Ja, die IJclHucKtensinji deft Grnndpkulangen kann zu finer form- 
lichen. Hubluxatkm der Geleftkkppfbhetv fnliroft. itaxh fedmmt uoch, 
dal! wick bei der l-lidon des Nerven fcitfc -«f»efes aekv bald der tfo- 
pkd^b?' iEdifhifl auf die Muekuiatur Bemerkbar di&eJdh Die. Mob 
interop, schrurapfen ein. der KJeifdrogfrl.vdl.en Uftd kum Teii aueb 
da Daumenbalteu atrephleren (s. P*.gg. 8 u. 8), die soiist dm-eh 
Mtutkniatur zierolicb geglatteten Interossealramne werden alkiiefe : 
Einsenkniigeo Hiehtbar '(*, Fig, 8) the iland harm m. nelir in- 

vet.ei-iert.f.‘*i Paiii-vi *i* Kkdettiert ausseheijubinders aneh dadureh, • 
dati die SelmeJi des Itbcien*. dig, ccunftron, deuthcb xmd gespmmt 
auf deffi Haridrbekdn hervdttretei!. Man hat diese iforgegclurittenste 
Form dec ,,Main en gri£i<?“ such a Is ,,Vogolk!aut' M be?.eichnek Die 
AehniiehkeitmiteioE>r6o!eheJi wird beftoaders ouifaHeadj tveimdureh 
das t Vdjergcwiejit der Plexuren -lie stark flektierten lindphalartgen. 
der Finger -job fbr/olifth in die Vela roanu«. einhohien (*. Pig, 12}, 
Eine garro .seltyne ilftd ^onst our bei Hysterischen gefemdene 

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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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lahmungen gesehen und beschrieben (2 Falle). Daumen und 
Zeigefinger sind frei beweglich; wenn man die in Flexionskontraktur 
stehenden Finger III, IV und V passiv streckt, so kehren sie nachher 
langsam und intensiv in ihre Beugestellung zuriick and bohren 
sich in die Hohlhand ein. Die 1. und 2., aber auch die distalen 
Phalangen sind extrem gebeugt, letztere am allerstarksten. Es 

handelt sich folglich auch um einen 
Kontrakturzustand im Flex. dig. subl., 
also im Gebiet des Medianus, der sonst 
motorisch, sensibel und elektrisch ganz 
frei gefunden wird. de Leon sucht die 
Erklarung dafiir in der Insertion der 
Lumbricales an den Sehnen des tiefen 
Beugers. Gegen die DiagnoseHysteric 
in diesem Falle verwahrt sich de Leon. 
Die Hypasthesie imUlnarisgebiet spricht 
dagegen; auch sind die Kontrakturen, 
wie bei echten hemiplegischen, durch 
Gegendruck zu beseitigen, wahrend die 
der Hysteriker gleichzeitig Flexoren und Extensoren betreffen, 
also unausgleichbar fixiert sind. de Leon nennt diese Stellung 
der Hand ,,Main en pince“; die (wohl reflektorisch bedingte) 
Kontraktur erinnert an die in den gelahmten Facialismuskeln 
auftretende. (Abbildung siehe bei de Leon.) 

Bei isolierter Lasion des Ram. vol. prof. n. uln. bleibt der 
Kleinfingerballen verschont und die Sensibilitat intakt, wahrend 
die Interossei lumbricales III und IV sowie der Adduct, poll, atro- 
phisch und paretisch werden. Da fur den Flex. carp. uln. und Flex, 
dig. prof, die Ulnarisaste hoch oben im Unterarm abgehen, so 
bleiben diese Muskeln bei der Lasion des Nerven oberhalb des 
Carpus verschont. Sind sie bei hohergelegenen Lasionen ebenfalls 
verschont, so muB an eine abnorme Abzweigung der betreffenden 
Nervenaste aus dem Ulnarisstamme im Oberarm oder Plexus 
brach. gedacht werden. Findet die Lasion des Ulnaris unterhalb 
des Punktes statt, wo sich der sensible oberflachliche Palmarzweig 
vom Nerven trennt, wo der tiefe motorische Ast sich aber noeh 
nicht in seine verschiedenen Muskelaste aufgelost hat (Durchtritts- 
stelle zwischen Ursprungssehnen des M. abductor und flex. brev. 
dig. V),so resultiertdaraus eine atrophischePareseder kleinenHand- 
muskeln mit elektrischer Veranderung, aber ohne jede Sensibilitats- 
storung (Falle von Hunt). Gelegentlich der Besprechung einzelner 
Falle werde ich noch ofters auf derartige besondere Storungen 
der motorischen Funktion zu sprechen kommen. Ich will hier 
auch darauf hinweisen, daB das Messen der ,,Spreizweite“ oft 
ein sehr gutes Zeichen fur leichtere oder schwerere Ulnaris- 
parese ist. Man bestimmt dieselbe, indem man die Entfemung 
zwischen Kuppe des kleinen Fingers und Kuppe des Daumens miBt. 
Ziehen , der diese Methode wohl zuerst systematise!! anwandte, 
betont in seinen Vorlesungen, daB man, um einen einheitlichen 



Fig. 12. 

Paralyse des Ulnaris (nach 
Verletzung am Handgelenk). 
Klauenhand durch Kon¬ 
traktur des Extens. digit, 
commun. und der langen 
Flexoren der Finger und des 
Daumens (nach Duchenne). 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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MaBstab zu haben, vom AuBenrand der Kuppe des kleinen Fingers 
bis zum auBeren Rand der Kuppe des Daumens messen muB. 
Diese Strecke ist auf der erkrankten Seite wegen Lahmung der 
Interossei und des Abduct, dig. V kleiner als auf der gesunden. 
Die Differenz betragt im Durchschnitt 1—2 cm. Ich habe aber bei 
Patienten, die eine erhebliche Atrophie des Abduct, dig. V und 
der Interossei hatten, doch auf der kranken Seite gelegentlich 
einen gleichen oder sogar einen groBeren Wert gefunden als auf 
der gesunden. Die Erklarung dafiir scheint mir folgende zu sein: 
AuBer den genannten Muskeln wirkt bei der Spreizung auch in 
hervorragendem MaBe auf der Radialseite der Abductor pollicis 
mit. Dieser ist bei Daumenbewegungen gleichsam der Antagonist 
des Adduktor poll, und wird durch den Gegenzug dieses Muskels 
gewohnlich vor einer groBeren extremen Abduktion bewahrt. Ist 
nun der Adductor paretisch, so fallt diese Gegenkraft weg und 
die Abduktion des Daumens kann in ergiebigerem und unein- 
geschranktem MaBe erfolgen. Durch diese ITeberabduktion des 
Daumens wird dann der Mangel in der Spreizung der anderen 
Finger paralysiert. Die groBere Spreizweite auf der Seite der 
Lahmung ist also hier gar nicht auf das Konto der Ulnarismuskeln 
zu setzen. Die Tauschung kommt nur durch den hochgradigen 
Abstand der Kuppe des Zeigefingers von der Kuppe des Daumens 
zustande. In einem meiner Falle betrug dieser Abstand auf der 
gesunden Seite 16 cm, auf der paretischen 18 cm! 

Mindestens so wichtig, wie die Spreizweite ist die Spreizkraft, 
weil man schon ein Nachlassen derselben meist sehr bequem 
durch den Vergleich mit der anderen Hand konstatieren kann. 
Da wir aber nicht fahig sind, die Finger mit ganzer Kraft zu 
spreizen, wenn dieselben im Grundgelenk gebeugt sind, so laBt man 
zur Priifung am besten die Hand auf einen Tisch legen und kon- 
statiert durch seitlichen Eruck auf den II. und V. Finger die Kraft 
der Spreizung. Die Kraft dc r Adduktion priift man, indem man 
die eigenen Firger zwischen die gespreizten Finger des Pat. legt 
und ihn auffordert, kraft:g zuzudriicken. 

Auch der dynamometnsche Druck leistet fur die Diagnose der 
Ulnarisparese (wie auch der Parese des Med. und Rad.) Dienste. 
Er ist immer abgeschwacht, weil bei dieser Probe u. A. be- 
sonders der Flex. carp, uln., die Interossei, der Flex, digitor. prof, 
und die Muskeln des Kleinfingerballens in Anspruch genommen 
werden. 

Elektrisch bestehen je nach Dauer und Schwere des Prozesses 
alle Formen der Veranderung, von der gesteigerten, normalen oder 
leicht herabgesetzten Zuckung (bei sehr vielen neuritischen Lah- 
mungen, besonders nach Kompression) bis zur kompletten EAR. 

Gerade die Ulnarislahmung hat iibrigens zu merkwiirdigen 
gelegentlichen Beobachtungen der elektrischen Reaktion gefiihrt. 
Vierordt sah trage Zuckung bei indirekter Reizung mit dem 
faradischen Strom, Bernhardt langsame, trage Zuckung in den 
durch Funkenentladung einer Influenzmaschine zur Kontraktion 


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Singer, Die UlnarislShmung. 


gebrachten gelahmten Ulnarismuskeln (Franklinsche EAR.). Ich 
glaube beobachtet zu haben, daB bei den Ulnarislahmungen 
schneller als bei anderen peripheren Lahmungen sowohl Atrophie 
in den Handmuskeln als auch elektrische Storungen im Sinne 
partieller oder kompletter EAR eintreten. Dagegen kann aber 
auch selbst bei kompletter Lahmung der Ulnaris ausnahmsweise 
elektrisch keine oder nur unbedeutende Veranderungen zeigen. 
Einmal sah ich im nicht atrophischen Adduct poll. Umkehrung 
der Zuckungsformel bei normaler Zuckung; 3 Wochen spater EAR 
in demselben Muskel, so daB also das Uberwiegen der ASZ iiber 
die KSZ hier schon als Entartungszeichen gelten konnte. 

Bei Priifung mit der Normalelektrode von 3 qcm soli nach 
Stintzings Tabelle der Grenzwert der elektrischen Erregbarkeit, 
d. h. der galvanische Ausschlag bei minimaler KSZ fur den Ulnaris 
im Oberarm zwischen 0,2 und 0,9, im Unterarm zwischen 0,6 
und 2,6 schwanken, im Mittel also bei Ulnaris I (Oberarm) 0,55, 
bei Ulnaris II 1,6 betragen. Nur quantitative Veranderungen 
der elektrischen Erregbarkeit ohne qualitative werden in frischen 
Fallen von degenerativer Ulnarislahmung sowie in veralteten 
Fallen oft konstatiert. 

Die urspriinglich etwa vorhandene Steigerung der galvano- 
muskularen Erregbarkeit macht nach 3—6 Wochen meist einem 
Absinken derselben Platz. Fur das Eintreten partieller oder 
kompletter EAR ist nur die Schwere der Lahmung, nicht aber 
irgfcnd ein atiologisches Moment verantwortlich zu machen, denn 
sie findet sich sowohl nach mechanischen Verletzungen als auch 
bei den Neuritiden der allerverschiedensten Art. Wesentliche 
Unterschiede bietet die elektrische Reaktion bei Ulnarislahmungen 
gegeniiber der bei anderen peripheren Lahmungen natiirlich nicht 
dar. Der Fall, daB bei leichter Drucklahmung und erhaltener 
Motilitat und Sensibilitat, wo nur subjektiv Parasthesien vor- 
handen waren, doch partielle EAR in den ulnaren Handmuskeln 
nachgewiesen werden konnte ( Oppenheim ), gehort zu den Selten- 
heiten. Allerdings kann aber, wie ich haufig gesehen habe, die 
elektrische Veranderung der sichtbaren Atrophie vorhergehen. 

Man reizt den Ulnaris entweder im Sulcus ulnaris oder 1—2 cm 
oberhalb des Condyl. int. hum. Man kann ihn auch im ganzen 
Sulcus bicip. int. gut treffen. Der Effekt ist eine Ulnarabduktion 
der Hand, Adduktion des Daumens, Spreizen der Finger, Volar- 
flexion der Grundphalangen bei Extension der Mittel- und End- 
phalangen. (Gelegentlich sieht man auch Beugung in Endphalanx 
IV und V: M. flex. dig. prof.) 

Eine 2. Reizstelle liegt dicht iiber dem Handgelenk, neben 
der Sehne des Flex. carp. uln. Man erhalt von hier isolierte Zuckun- 
gen in den kleinen Handmuskeln: Beugen der Grundphalanx, 
Extension der anderen Phalangen, Adduktion des Daumens 
(eventuell Spreizen oder SchlieBen der Finger). Die Interossei und 
Lumbricales werden gemeinsam vom Handriicken aus gereizt. In 
dem bekannten Er&schen Schema stellen sich die Reizpunkte des 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


253 




M. abduct, dig. V. 

} Mm. interossel dors. 


III. IV. 


Ulnaris und seiner Muskeln folgendermaBen dar. (Es sind nur die 
Ulnarismuskeln eingezeichnet). 

' Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 4. ]7 


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254 


Singer, Die Ulnarislahmung. 


Sensible und vasomotorische Storungen bei Ulnarislahmung. 

Was die Sensibilitat bei der Ulnarislahmung betrifft, so 
laBt sich ein allgemeines Schema nicht geben. Entsprechend der 
Hautversorgung der Ulnarisaste (siehe oben) konnen natiirlich auch 
die Ausfallserscheinungen ausgesprochen sein. Sehr oft ist dem 
aber nicht so. Besonders fehlt ein regelmaBiges Korrespondieren 
der motorischen und sensiblen Symptome meist. Die starksten 
Lahmungen konnen ohne schwere Sensibilitatsstorungen verlaufen, 
wahrend andererseits auch zuweilen die sensiblen Storungen vor 
leichten und nur undeutlich nachweisbaren motorischen das Bild 
beherrschen. Das Erstere ist, wie bereits angedeutet, das Regel- 
maBigere bei den Alterationen peripherer Nerven. Man spricht 
daher auch von der groBeren Widerstandskraft der sensiblen 
Fasem, ohne daB damit mehr gesagt wird, als daB eben gewohnlich 
motorisch die Erscheinungen deutlicher sind. Doch hat Liideritz 
diese vermehrte Resistenz auch experimentell festgestellt. Zudem 
ist daran zu denken, daB einzelne Hautgebiete, besonders die 
an der Hand, sehr haufig von Nervenendigungen mehrerer Nerven 
versorgt werden, daB also die Unterbrechung eines einzelnen 
Nervenastes noch nicht die vollstandige Anasthesie des von ihm 
normaliter bedachten Ausbreitungsgebietes nach sich ziehen muB. 
DaB Bild gestaltet sich zuweilen sogar derart, daB in groBeren Teilen 
des betreffenden Innervationsbezirkes die Sensibilitat intakt bleibfc 
(aus oben genannten Griinden), daB aber bei langerem Suchen doch 
kleine zirkumskripte ,,inselformige“ hypasthetische Bezirke ge- 
funden werden. Gerade die Literatur der Ulnarislahmungen ist 
reich an derartigen, mannigfach variierten BMern von Austausch 
sensibler Fasem, z. B. des Med. und Uln. oder des Uln. und Rad. 
(siehe die Schemata bei Head). Manche Autoren sprechen daher auch 
von vikariierender Sensibilitat oder, das Bild der GefaBersetzung 
nachahmend, sogar von Kollateralinnervation der Haut. Bemerken 
will ich noch, daB bei den Neuritiden die Sensibilitatsstorungen 
doch oft dominieren, ja daB man hier auch gelegentlich eine 
Hypasthesia dolorosa beobachten kann, in dem Sinne, daB 
bei lebhaften subjektiven Schmerzen im Ulnarisgebiet doch in 
der Ausbreitung desselben Herabsetzung der Empfindung kon- 
statiert wird, wahrend gewohnlich, am ausgesprochensten bei den 
perineuritischen Formen, die spontanen Schmerzen mit Uber- 
empfindlichkeit des betreffenden Hautbezirkes zusammenfalien. 

. DaB die Verletzung des Nerven oberhalb des Handgelenks 
keine Sensibilitatsstorungen auf dem Dorsum manus hervorruft, 
geht aus der anatomischen Lage des Ram. dors, hervor, welcher 
schon zwischen II. und III. Drittel des Unterarms dorsalwarfcs 
zieht. Gerade bei den Ulnarislahmungen, auch wenn sie als ganz 
isoliert zu betrachten sind (nach den motorischen Erscheinungen 
osw.), bietet sich, wie gesagt, oft ein sehr buntes Bild von sensiblen 
Storungen. Sehr oft ist eine Storung nur im kleinen Finger und dem 
Kleinfingerballen nachweisbar. Haufig fehlt dieselbe gerade an 
der Haut des Antithenar. Jedenfalls entspricht die Hypathesie 

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Singer, Die UlnarislaLhmung. 


255 


nur selten genau dem Gebiet, das man anatomisch erwarten sollte, 
selbst wenn (experimentell) der Nerv ganz durchschnitten ist. 
Die Untersuchungen des merkwiirdigen Verhaltens der Sensibilitat 
sind durch die klassischen Arbeiten Heads in ein neues Stadium 
getreten. Fur das Erhaltenbleiben oder schnelle Sichausgleichen 
der Sensibilitat nach Durchtrennung eines gemischten Nerven 
hatte man friiher als Erklarung angegeben: es bestehen peripher 
an den Hautnervenendigungen mannigfache Anastomosen; es 
wachsen sehr schnell Nervenfasem aus anderen Nerven in die 
anasthetischen Partien ein, es werden durch den peripheren Reiz 
Tastkorperchen anderer Nerven miterregt usw. usw. Nach Heads 
Untersuchungen bestehen Anastomosen nur fur die Fasern, welche 
die „protopatbische“ Sensibilitat leiten (Schmerz und extreme 
Temperaturen) wahrend sie fiir die ,,epikritische“ (Beruhrung) 
nicht vorhanden sind. Nach Durchtrennung eines Nerven besteht 
in Wirklichkeit nie eine normale Empfindlichkeit. Die falschen 
Resultate kommen durch zu grobe Priifungen zustande. Head 
untersuchte die Beruhrungsempfindung mit einem Wattebausch, 
um jeden Drack zu vermeiden, den Temperatursinn mit Wasser 
von mittleren Temperaturgraden. Besonders die Storungen der 
epikritischen Sensibilitat bleiben sehr lange, auch nach der Nerven- 
naht bestehen (zuweilen jahrelang). Die tiefe Sensibilitat bleibt 
erhalten bei Durchtrennung eines Nerven, da die Fasern fiir Druck 
und tiefe Reize nicht mit den Hautnerven, sondern in den Gelenken, 
Sehnen und Muskeln verlaufen; Schmerz und extreme Tempera¬ 
turen sind in geringerer Ausdehnung nicht fiihlbar; Beruhrungen 
und mittlere Temperaturen in dem Innervationsgebiet des Nerven 
ebenfalls nicht. Hier wird auch falsch lokalisiert (die Prufung auf 
Erkennen zweier Zirkelspitzen ist von Head nur ungenau vorge- 
nommen worden). Im Zusammenhang hiermit moge auch die 
alte Anschauung von Krause und Friedldnder Platz finden, wo- 
nach auch bei vollstandiger Durchtrennung eines Nerven sich die- 
jenigen Sensibilitatsfasern erhalten, welche mit trophischen 
Zentren der Peripherie — also etwa den Tastkorperchen — in 
Verbindung stehen. Ebenso degenerieren periphdr von der Schnitt- 
stelle alle motorischen Fasern, alle zu Knochen, Gelenken, Sehnen, 
Faszien ziehenden und alle frei endigenden Hautnervenfasem. Diese 
Ansicht wurde aber durch die Praxis nicht iiberall bestatigt. 
Natiirlich sind bei den sensiblen Storungen im Ulnarisgebiet 
quantitativ und qualitativ die weitesten Moglichkeiten und Grenzen 
gegeben. Alle sensiblen Leistungen konnen zugleich gestort sein. 
Die Lokalisation ist, wie ich beobachtet zu haben glaube, besonders 
nach Durchtrennung des Nerven und nachfolgender Naht schlecht. 
Nach Erbs FeststeHungen ist auch eine Verlangsamung der 
Empfindungsleitung bei Lasion des Ulnaris und anderer Nerven 
ofters zu konstatieren. Dieses Symptom weist also nicht, wie friiher 
stets angenommen wurde, auf eine Alteration der grauen Substanz 
des Riickenmarks hin. Kraussold publizierte z. B. einen Fall von 
Ulnarislasion, bei dem 3 Tage nach erfolgter Nervennaht Beruhrung 

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Singer, Die Ulnarislahmung. 


schwach, aber prompt empfunden wurde, wahrend der Schmerz- 
reiz erst nach 6—8 Sekunden iiberhaupt zum BewuBtsein kam. 
Nach wenigen Tagen war die Tastempfindung ganz normal, 
wahrend die Verlangsamung der Schmerzleitung erst nach Wochen 
schwand. In einem2.Falle desselben Autors fand sieh4Monate nach 
Verletzung verlangsamte Schmerzleitung bei exakter Tastemp¬ 
findung im ulnaren Teil des Handriickens. Die Verlangsamung 
betrug 3—4 Sekunden. Einen ahnlichen praktischen Beitrag zu 
* dieser Frage liefert Erb, einen experimentellen Liideritz . Was die 
Riickbildung der sensiblen Schadigung anbelangt, so sind dafiir 
Heads Untersuchungen maBgebend. Danach kehrt zuerst die 
tiefe Sensibilitat wieder (Druck, Lokalisation des Druckes, Vi¬ 
bration), an 2. Stelle die protopathische (Schmerz, Kalte unter 
26 Grad, Hitze iiber 38 Grad), zuletzt erst die epikritische (leise 
Beriihrung, Temperatur zwischen 26 und 38 Grad, das Erkennen 
zweier Zirkelspitzen, Lokalisation). DaB die Regeneration in 
zwei scharf getrennten Perioden verlauft, wie Head annimmt, daB 
namlich zuerst nur flachenhafte Kalte- und Warmereize empfunden 
werden, spater erst punktformige, bestreitet Goldschevder auf 
Grund eigener Untersuchungen und Beobachtungen ganz ent- 
schieden. 

Ziemlich konstant ist bei Ulnarislahmungen die Lagegefiihls- 
storung, besonders in den Gelenken des kleinen Fingers, aber auch 
im proximalen Gliede des IV. Ich habe unter 20 traumatischen 
Ulnarisparesen nur 8 mal das Lagegefiihl ganz intakt gefunden. 
Schon Bouchand hat im Jahre 1876 darauf gelegentlich einer trau¬ 
matischen Lahmung des Ulnaris aufmerksam gemacht und schlieBt 
daraus, daB der „Muskelsinn“ nicht im Muskel selbst sitzt, sondem 
in den in Bewegung gesetzten Teilen: Haut, Unterhaut, Gelenk. 
Gewohnlich sind die einzelnen Qualitaten der Empfindung so 
betroffen, daB am meisten (in ausgesprochenen Fallen) die Be- 
riihrungsempfindung, weniger die Temperatur-, noch weniger 
die Schmerzempfindung gehtten hat. Doch wechseln auch hier 
die Befunde, wie in der Ausdehnung der Schadigung, in der Inten¬ 
sity der Storung mannigfach. Meist korrespondieren Storungen 
der Beriihrungs- und Schmerzempfindung. Eine Andeutung 
von dissoziierter Empfindungsstorung sah ich bei einem Fall von 
Lahmung des Uln., Rad. und Med. (Kalluslahmung), und zwar im 
Gebiet des Ulnaris: intakte Beriihrungsempfindung bei schwer ge- 
schadigter Temperaturempfindung. Bei der leprosen Neuritis stehen 
Beriihrungs- xmd Schmerzempfindung nicht in Kongruenz mitein- 
ander, und zwar im Sinne einer wirldichen Dissoziation. Ist sonst 
Temperatur- und Schmerzsinn erheblich gestort bei erhaltener 
Beriihrungsempfindung, so muB immer der Verdacht auf Syrin- 
gomyelie wach werden. Oppenheim sah den seltenen Fall, daB es 
bei einer peripheren Ulnarislahmung durch komplette Thermana- 
sthesie zu einer Verbrennung gekommen war. Ich selbst sah 3 mal 
bei Ulnarislahmungen schwere Brandwunden, ohne daB der 
Patient viel da von gemerkt hatte. 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


257 


Subjektive Sensibilitatsstdrungen fehlen fast nie, wenig- 
stens nicht im Anfang der Erkrankung. Sie fehlen selbst dann 
nicht, wenn von objektiven Storungen nichts nachzuweisen ist. 
Sie sind gerade bei den Lahmungen des Ulnaris besonders 
charakteristisch und werden auch von den Laien genau ent- 
sprechend dem Verlauf des Nerven lokalisiert, d. h. vom Ellen- 
bogen im Sulcus ulnaris bis in den kleinen Finger und die ulnare 
Flache des IV. Fingers. Da leichte Lasionen des Ulnaris fiberaus 
haufig sind, und Kribbeln, Taubsein und andere Sensationen sehr 
oft in den genannten Gebieten hervorgerufen werden, so hat der 
Volksmund die Hauptstelle dieser Empfindung, die Ellenbeuge, 
auch mit dem Namen „Musikantenknochen“ belegt. In alten, 
abgeheilten Fallen von Ulnarislasion ist die friihere Lasion oft nur 
noch daran zu erkennen, daB die Patienten den Arm nicht ohne 
derartige Paraesthesien oder spontane Schmerzen strecken konnen. 

Wie die geringe Beteiligung (Vulnerability) der sensiblen 
Fasem bei der Ulnarislahmung auffallend ist, so auch das friihe 
Verschwinden der Storungen nach Heilung der Lasion. Die Leitung 
scheint sich sehr oft, auch bei operativem Verfahren (Naht) wunder- 
bar schnell wieder herzustellen. Nach Verletzung des Ulnaris sah 
Routier die Storung der Empfindung nach 3 Monaten vollkommen 
gehoben (imGegensatz zuden motorischenErscheinungen). Kennedy 
wies am 1. Tage nach einer Ulnarisnaht die vorher ganzlich auf- 
gehobene Sensibilitat wieder nach, Heath 40 Tage nach sekundarer 
Nervennaht. Im Gegensatz dazu sah ich einen Patienten, der 
4 Jahre nach Verletzung des Ulnaris noch dieselben Sensibilitats¬ 
storungen aufwies, wahrend die motorischen Erscheinungen im 
Uln. und Med. sich fast vollstandig zuriickgebildet hatten. (Patient 

A.) 

Experimented wies Perroncito nach, daB die Regeneration 
der durchschnittenen Nerven mit unglaublicher Schnelligkeit 
vor sich geht, daB schon 3 Stunden post operationem Seiten- 
zweige und Astchen aussprossen. Zuerst tritt zwar zentral eine 
Degeneration der Fasem ein, aber bereits nach 24 Stunden haben 
die regenerierten neuen Fasem den alten Stumpf iiberschritten 
und wachsen nun peripherwarts rasch weiter. Die Wiederherstellung 
der Funktion hangt sowohl von diesen frisch wachsenden Fasem 
als von der Ausbildung der Kollateralen ab. 

Sind schon die rein sensiblen Storungen nicht immer sehr aus- 
gesprochen (obschon ich sie bei Ulnarislahmungen gerade haufiger 
fand als z. B. bei Radialislahmungen), so fehlen die vasomotorischen 
sehr haufig ganz. In der Literatur finden sich wenige Angaben 
fiber vasomotorische Erscheinungen bei Ulnarislahmung. Gelegent- 
lich wurden (auch von mir selbst) Storungen der Hauttemperatur 
d. h. Herabsetzung der Temperatur in den gelahmten Gebieten 
bemerkt. Abgesehen von der durch die Anasthesie bedingten 
leichteren Verletzbarkeit der Haut findet sich bei den Lahmungen 
auch eine geringere Widerstandsfahigkeit der von den Ulnaris- 
asten versorgten Oberflache. Namentlich niedrige Temperaturen. 


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258 


Singer, Die Ulnarislahmung. 


die vom Normalen ohne Beschwerde ertragen werden, oder 
Wechsel von warm und kalt bewirken (nach Bernhardt) leicht 
Blasen und Verschwarungen. Hesse stellte thermometrisch Er- 
niedrigung der Temperatur an der Innenflache der gelahmten 
Ulnaris-Muskeln fest. 

Vor ihm hatte Ashurt schon 1868 den Versuch gemacht, durch 
genaue Temperaturmessungen und durch auBere Beeinflussung 
der Temperatur an der gesunden und an der kranken Hand die 
vasomotorischen Funktionen des Ulnaris zu kontrollieren. Er 
veroffentlichte dariiber folgende interessante Tabelle, an der die 
Unterschiede der Temperaturgrade (in Fahrenheit) zwischen 
links und rechts leicht abzulesen sind. 



Der ausgleichende und abandernde EinfluB der Elektrizitat, 
der Luft sowie der trockenen und feuchten Warme sind hiernach 
besonders eklatant. 

In einem Falle von kombinierter Ulnaris- und Medianus- 
lahmung, den ich sehr genau beobachten konnte, erkannte man die 
Abgrenzung der normalen und der gestorten Partien deutlich 
an der haarscliarfen Zeichnung; die anasthetisch hypalgetischen 
Zonen waren tiefblau zyanotisch gefarbt; man konnte die Storung 
in diesem Gebiet sogar tasten, die Hand fiihlte sich hier eiskalt 
an. Gelegentlich sieht man im gelahmten Gebiet auch eine mit 
Temperaturerhohung einhergehende Rotung, der spater Blau- 
farbung und Herabsetzung der Temperatur folgt (lokale Asphyxie.) 

Ein Patient mit traumatischer Uln. und Med.-Parese, den 
ich selbst untersuchte, klagte dariiber, daB sich seit Beginn der 
Lahmung sehr oft spontan Blutblasen am IV., III. und II. Finger 
oben an der Kuppe bildeten und platzten. Auch behauptete er, 


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Singer, Die UTriarialfthmmig. 


259 


daB die Gelbfarbung des Nagels am V. Finger erst seit Beginn 
der Lahmung bestande. Der Nagel war zudem briichig, rissig 
und quer gefurcht, er fiihlte sich weicher als die anderen an. 

Anomalien der SchweiBsekretion im gelahmten Gebiet sind 
bei Ulnarislahmungen, soviel mir bekannt, nicht beobachtet, 
auch keine Odeme. Ein Patient, den ich selbst beobachtete, 
glaubte einen Ausfall der Haare an der ulnaren Seite des Hand- 
riickens mit der Lahmung (Medianus -und Ulnarislahmung) in 
Verbindung bringen zu miissen. Ichthyosis in einem Falle von 
Uln.-Med.-Lahmung (infolge Armluxation) sah Eulenburg. Ich 
selbst sah 2 mal, daB bei Med.-Uln.-Lahmung die Lanugoharchen 
auf der gelahmten Hand verschwanden, und einmal, daB die er- 
krankte Hand dorsal eine feine Abschuppung in Form der Ichthy¬ 
osis zeigte. Head fiihrt die Anomalien im Haar- und Nagel- 
wachstum auf die geringe Beweglichkeit zuriick. Oppenheim 
sah sie besonders haufig bei partieller Lahmung peripherer Nerven, 
die mit wenig Ausfallserscheinungen und starken Schmerzen 
einhergingen, z. B. bei Glassplitterverletzungen des Med. u. Uln. 
Nach unserer Anschauung handelt es sich dabei um Storungen, 
die durch vasomotorische Einfliisse und durch das Ausbleiben 
von Wachstumsreizen (im Sinne Roux's) zu erklaren sind. Auch 
Veranderungen der Knochen sind festgestellt worden. Brauer 
sah im AnschluB an eine durch Chinininjektion hervorgerufene 
Ulnarislahmung neben starker Atrophie der kleinen Handmuskeln 
im Rontgenbild starke Verkleinerung der Phalangen des IV. 
und V. Fingers im Quer- und Langsdurchmesser. Die Knochen- 
kompakta der Diaphysen waren auf die Halfte verdiinnt. In einem 
Falle von Kalluslahmung des Uln. und Med. konnte ich rontgeno- 
logisch Osteoporose samtlicher Phalangen feststellen. 

Eine besonders bei der neuritischen Form der Uln.-Parese, 
aber auch bei anderen Ulnarislahmungen haufig beobachtete 
trophische Storung ist die als glossy skin bezeichnete Veranderung 
der Haut des Kleinfingerballens. Die Haut sieht in dem affizierten 
Gebiet blaurot-marmoriert aus, sie ist glanzend und dunn, wie 
gefimiBt. 

Wahrscheinlich ist auch die von Loewenfeld beschriebene 
,,neuritische Platthand“ (Wucherung des subkutanen Binde- 
gewebes der Hohlhand im Verbreitungsgebiet des entziindeten 
Nerven) bei neuritischen resp. perineuritischen Affektionen des 
Uln., so wie die von Eulenburg , Cenasvt. A. gelegentlich im Verlauf 
derselben beobachtete Dupuytrensche Faszienkontraktur als 
trophische Erscheinung aufzufassen. Eulenburg , Feindel , Oppen¬ 
heim u. A. haben dieses Symptom in ursachlichen Zusammenhang 
mit der Uln.-Neuritis gebracht. In dem etwas dunklen Falle Cinas 
trat nach SchuBverletzung des rechten Ulnaris Muskel-Atrophie der 
rechten Hand und dauernde Flexionskontraktur in den letzten drei 
Fingern auf. 8 Jahre spater entwickelte sich Dupuytrensche 
Kontraktur an der linken Hand. Die Kontraktur des Patienten 
Fetndels war atypisch. Remak bezweifelt mit Recht den ursach- 


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260 


Singer, Die Ulnarial&hmung. 


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lichen Zusammenhang zwischen Ulnaris-Neuritis und Dupuytren- 
scher Kontraktur. Unter 43 Fallen von Ulnaris-Neuritis war die 
Kontraktur nur einmal typisch vorhanden; in 2 Fallen von Kon¬ 
traktur war eine Perineuritis des N. ulnaris wahrscheinlich, einmal 
wurde auBerdem der Ulnaris schmerzhaft, einmal geschwollen ge- 
funden. In 10 anderen typischen Fallen von Dupuytren war 
dieselbe jedenfalls nicht Folge einer Ulnarisaffektion. Ich habe bei 
8 typischen Fallen von Dupuytrenscher Kontraktur eigener Be- 
obachtung eine Ulnaris-Atiologie nicht herausfinden konnen, und 
bei 12 mehrere Monate lang beobachteten Fallen von Ulnaris- 
Neuritis entwickelte sich eine Dupuytrensche Kontraktur nicht. 


Wenn ich im Vorstehenden auch die Hauptsymptome der 
Ulnarislahmung gekennzeichnet habe, so erfahrt diese doch in 
den verschiedensten Fallen erhebliche quantitative und qualitative 
Veranderungen. Diese Variationen werden in den weiteren Aus- 
fiihrungen noch oft und geniigend deutlich betont werden. Vor 
allem wichtig scheint mir jetzt die Darlegung der atiologisch 
fiir die Ulnarislahmung maBgebenden Momente. Dabei soil nach 
folgender Anordnung verfahren werden. 

III. 

Die Aetiologie der Ulnarislahmung. 

A. Mechanische Ursachen. 

1. Akut: 

a) annexes direktes Trauma (betreffend Schulter, Oberarm, 
Ellenbeuge, Unterarm, Hand); 

b) aufieres indirektes Trauma (angeb. und erworb. Ulnaris- 
Luxat., Fraktur oder Luxat. an Knochen oder Gelenken 
des Arms). 

2. SvJbakut und chronisch : 

a) anhaltender Druck oder Zerrung (Schlaf, Narkose, Esmareh- 
schlauch, Gipsverband, Krucken, Fessel, Druck auf 

kl. Handmuskeln oder Os pisiforme); 

b) veralteteEUenbogenerkrankungen,8pdt-Ldhmung durchKaUus 
und Narben. 

c) Tumoren des Ulnaris. 

B. Neuritische Ldhmungen. 

1. Traumatisch (Kompressions-Neuritis). 

2. Infektids: 

I. nach auBeren Verletzungen und bei infizierten Wunden. 

II. Gelenkentziindungen. 

III. Typhus abdominalis. 

IV. Rheuma und Erkaltung. 

V. Perityphlitis. 

VI. Giirtelrose. 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


261 


VII. Influenza. 

VIII. Chorea. 

IX. Malaria. 

X. Lepra. 

XI. Septisches Puerperalfieber. 

XII. Tetanus. 

3. Toxisch: 

I. Alkohol. 

II. Blei. 

III. Cu (?). 

IV. Arsen. 

V. Co («). 

VI. Schwefelkohlenstoff. 

VII. Nikotin (?). 

4. Autotoxisch: 

I. Diabetes mellitus. 

II. Gicht. 

III. Graviditat und Puerperium. 

5. Professional. 

6. Dyskrasisch: 

I. Syphibs. 

II. Tuberkulose. 

III. Arteriosklerose und Senium. 

IV. Carzinom. 

C. Kombinierte Ulnar islahmungen : 

1. Ulnarisbeteihgung bei Polyneuritis u. Plexuslahmungen. 

2. Ulnaris — in Verbindung mit Medianuslahmung. 

D. Ulnarislahmung als Teilerscheinung anderer organ. Krankheiten 

(Tabes, Paralyse, Syringomyelie usw.). 

Es soil nicht unbetont bleiben, daB diese Aufstellung nur 
als Schema gilt, von dem gelegentliche Abweichungen und Ande- 
rungen unvermeidbar sind. Auch sind nicht alle, besonders die 
ganz seltenen atiologischen Momente hier aufgezahlt, um die 
Tabelle nicht zu iiberlasten. 

Eine andere Einteilungsform ware vielleicht auf den Grad 
der Lahmung, also die Intensitat der motorischen und sensiblen 
Erscheinungen zu griinden gewesen. Als Haupteinteilung habe ich 
sie verworfen, als Nebeneinteilung aber laBt sie sich aus der 
Beschreibung der einzelnen Krankheitsfalle noch erkennen. Akute 
und chronische Ulnarislahmung lassen ebenfalls ein besonderes 
Einteilimgsprinzip zu; fur die nicht neuritischen Paresen habe 
ich dies auch, ohne die Ubergangsfalle zu erwahnen, getan. Fur 
die Neuritis wiederum ware eine Einteilung in akute Perineuritis 
(oder interstitielle Neuritis), chronische Perineuritis und degenerativ 
parenchymatose Mononeuritis moglich gewesen. Ich habe sie nicht 
getroffen, weil die Auswahl der zu den einzelnen Formen gehorenden 
Falle der Literatur zu schwer geworden ware, weil femer die 
reine Perineuritis viel seltener ist als die parenchymatose Ent- 




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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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ziindung, und so die Okonomie der Arbeit gestort worden ware, 
weil schlieBlich die degenerative Neuritis sich sehr oft an 
eine akute Perineuritis anschlieBt. Ich werde aber im Laufe 
der Arbeit auf alle diese Punkte mehrfach zu sprechen kommen. 

Anatomisch mag die Gegeniiberstellung der Gruppen: akut- 
chronisch, neuritisch-perineuritisch, parenchymatos-interstitiell 
statthaft sein, fur die klinische Gesamtdarstellung ist sie ge- 
zwungen und muB der atiologischen weichen. Auf mehrfache 
atiologische Einfliisse bei ein und derselben Lahmung komme 
ich auch im Laufe der Arbeit zu sprechen. Die Rubrik traumatische 
Neuritis habe ich beibehalten in Ubereinstimmung mit den Ein- 
teilungen anderer Autoren. Ich hatte diese Falle aber auch schon 
im ersten Teil miterwahnen konnen (unter Kompressions- 
lahmungen). 

Die anatomischen Veranderungen sind hauptsachlich: bei 
der traumatischen Kontusion, ZerreiBung oder Durchschneidung 
des Nerven sowie bei der parenchymatosen Neuritis Verdickung, 
eventuell Rotung des Nerven, Zerfall der Primitivbiindel 
des Achsenzylinders, Auflosung und Zerkliiftung der Markscheide, 
Zerfall in Tropfen und Schollen; dabei Vermehrung der Kerne 
der Schwannschen Scheide. Im AnschluB daran als Folgeerschei- 
nung der Degeneration in den motorischen Fasem Verschmalerung 
der nicht mehr quer gestreiften Muskelfasem, Vermehrung der 
Kerne des Sarkolemms, Wucherung des intramuskularen Binde- 
gewebes. Bei akuter Perineuritis: Rotung des Perineuriums, Ein- 
schlieBen der Nervenfasern in seros-fibrinoses Exsudat, Verdickung 
der GefaBe, gelegentlich spindelformige Auftreibungen des Nerven. 
(Neuritis nodosa disseminata.) Bei der interstitiellen Neuritis 
kommen zu einzelnen entziindlichen exsudativen Veranderungen im 
Zwischengewebe fast stets Alterationen der Nervenfasern selbst. 
In chronischen Fallen sieht man Ablagerungen von Pigment um die 
GefaBe herum und Ablagerungen von Fett. Anatomische Unter- 
suchungen bei peripheren Lahmungen sind iibrigens relativ selten 
angestellt worden, so daB auch aus diesem Grunde auf eine 
pathologisch-anatomische Einteilung verzichtet werden muBte. 

A. 

Mechanische Ursachen. 

Der Ulnar is ist zwar durch seine oberflachliche Lage im 
Ellenbogen dem Druck, StoB und anderen traumatischen Ein- 
fliissen leicht ausgesetzt, aber die Hauptschadigungen bei Traumen 
des Armes treffen nicht ihn, sondern den Radialis. Das liegt 
zum Teil daran, daB der Ulnaris an Ober- und Unterarm zwischen 
Muskelmassen verborgen und geschiitzt liegt und nur im Sulcus 
ulnaris an die Oberflache tritt, zum Teil auch daran, daB er mehr 
an der Innenflache des Armes verlauft und * o traumatischen Ein- 
fliissen von auBen her weniger ausgesetzt ist. Auch kommt bei 


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Singer. Die Ulnari^lahmung. 


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dem Versuch, Stich und Hieb zu parieren, viel mehr die Streck- 
seite des Armes und damit der Radialis in die Gefahr, gefcroffen 
und verletzt zu werden. Dennoch gehoren die Ulnarislasionen 
traumatischen Ursprungs nieht zu den Seltenheiten. Hauptsitz 
derselben ist die Ellenbeuge und der Unterarm. DaB bei den viel- 
fachen, den Ellenbogen treffenden Traumen starkerer und gering- 
fiigigerer Art nicht noch mehr Lahmungen zustande kommen, 
liegt wohl daran, daB der Nerv hier ziemlich frei gebettet ist 
und einem Impuls gef chmeidig ausweichen kann. 

Eine mechanische Verletzung des Ulnaris kann natiirlich an 
jeder Stelle seines Verlaufes stattfinden. Nur sind isolierte Lasionen 
in der oberen Schliisselbeingrube bei der dichten Nebeneinander- 
folge der Plexusstamme natiirlich seltcn. Bernhardt erwahnt aber 
einen Fall, in dem durch Stich in die linke Fossa suprascapularis 
der Ulnaris allein gelahmt wurde. In einem Fall von Bloch war 
durch Aufladen eines schweren Sackes auf die linke Schulter eine 
besonders erhebliche Zerrung im Ulnaris aufgetreten (u. A. Ab- 
magerung des III. und IV. M. interosseus und des Kleinfirger- 
ballens). Der Plex. brach. kann auch gelegentlich durch eine ab- 
norme Halsrippe, besonders in seinem unteren Teile, komprimiert 
werden. In einem solchen Falle, der von Thomas und Cushing be- 
schrieben wird, bestand auBer Schwache im Arm Atrophie und EAR 
in den kleinen Handmuskeln und an der Ulnarisseite des Unterarms 
Anasthesie. Eine schmerzhafte Stelle in der rechten oberen Schliissel- 
beingrube wurde manuell und rontgenologisch als Halsrippe ge- 
deutet. Die Operation ergab: Kompression des unteren Plexusteils 
durch ein dichtes fibroses Band, das von der Spitze der rudimentaren 
Rippe bis zum Ansatz an die erste Rippe ging. Uber dieses Band 
lief der Plexus spitzwinklig hinweg. Nach Entfemung des Bandes 
schwanden die Anasthesien, die Atrophien aber blieben bestehen. 

Ebenfalls einen Fall von Ulnarislahmung nach Halsrippe be- 
schrieb Nasse. 

Die Schwere der Erscheinung richtet sich hier wie bei alien 
traumatischen Nervenlahmungen damach, ob der Nerv durch- 
trennt oder nur gepreBt, gezerrt, vielleicht mit einem kleinen 
Teile seiner Fasern zerrissen ist. Im Falle einer schweren Lasion 
(vollstandiger ZerreiBung) muB sich das Bild der kompletten 
Lahmung einstellen. Einen mittelschweren Fall von Ulnaris¬ 
lahmung nach Verletzung in der Plexusgegend teilt auch Janzer mit: 

1. Ein 43 jahriger Bauer wurde von einem Eisvragen gegen einen Tor- 
weg gepreBt. die rechte Schulter dabei gequetscht. Im Anfang trat Sohwindel, 
Ubelkeit, iokaler Schmerz auf. 4 Monate spater klagt Patient liber Schmerzen, 
die von der rechten Schulter bis zur ulnaren Seite des Unterarms in den 
kleinen Finger ausstrahlen, dabei Sehwachegefiihl in der rechten Hand. 

Der rechte Arm ist aktiv und passiv nur wenig iiber die Horizontal© 
hebbar (Schmerz?). Motilitat des Armes sonst intakt. Spreizen und 
SchlieBen im IV. imd V. Finger unmoglich, im II. und III. schlecht. Ad- 
duktion des Dauraens prompt mit guter Kraft. Uln. und Med. druckerap- 
findlich. Pinselberiilirungen am Kleinfingerballen sowie am TV. und V. 
Finger volar nicht gefiihlt, dorsal Hypalgesie, ulnar bis zum II. Finger 
reichend; hier auch kalt und warm verwechselt. Tremor der Hand. Rechter 


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Singer. Die Ulnarislahmung. 


Unterarm 25,5 cm, linker 27 cm (nach 3 Wochen). I. Metakarpalraum 
eingesunken, Opposition des V. Fingers unmoglich. Indirekt galvanisch 
ist nur der Addukt poll, erregbar. Direkt galvanisch: in alien Ulnar- 
Muskeln parti ©lie EAK. 

Bemerkenswert an diesem Falle ist auch auBer der seltenen 
Atiologie (Druck auf den Plex. brach.), daB der Adduktor poll, 
frei geblieben ist. Da man kaum annehmen kann, daB bei 
einer Quetschung, die der Ulnaris erlitten hat, gerade die Nerven- 
fasern dieses Muskels verschont bleiben, so muB wieder daran 
gedacht werden, daB hier der Adduktor durch intramuskulare 
Anastomosen, wie so haufig, auch vom Medianus versorgt wird. 
Auch elektrisch ist er weniger als die anderen Ulnarismuskeln 
geschadigt. Die Abnahme des erkrankten Unterarms an Umfang 
ist wahrscheinlich durch die Atrophie des Flex. carp. uln. bedingt. 

Beriihmt geworden ist der Fall Seeligmiiller , bei dem durch 
SchuB in die linke Oberschliisselbeingegend von dem ganzen 
Plexus brachialis nur der Ulnaris getroffen war und eine ent- 
sprechende Lahmung erzeugte. Die Kugel war 3 cm iiber der 
Klavicula eingedrungen und trat am Riicken in der Hohe des 
IV. Brustwirbels heraus. 9 Monate nach dem Trauma hatte sich 
neben der Ulnarislahmung eine Sympathikuslahmung ausgebildet. 
Linke Iidspalte und linke Pupille waren bedeutend enger als 
rechts, die linke Konjunktiva stark gerotet, das linke Auge trante 
mehr, die linke Wange wurde magerer, kurz, alle oculopupillaren, 
vasomotorischen und trophischen Erscheinungen der Sympathikus¬ 
lahmung waren vorhanden, die Sensibilitatsstorung der Hand zog 
sich merkwurdigerweise ulnarwarts streifenformig bis zur Achsel him 

Ebenso selten oder noch seltener sind isolierte Ulnarislahmun- 
gen durch Verletzung am Oberarm. Hier kommt es meist zu kom- 
binierten Nervenlahmungen des Med. und Uln. oder zur Lasion des 
Radialis. Ich konnte in der mir bekannt gewordenen Literatur 
keinen hierher gehorenden Fall eruieren. 

Der Hauptsitz der traumatischen Ulnarislahmung ist die 
Ellenbeuge und der Unterarm. Fur den Ellenbogen nenne ich aus 
der Literatur nur die Falle: Janzer f, Genas, Addicks ; fur den 
Unterarm: Janzer II, Sczypiorski , Ranzi. Die Verletzungen 
sind hier so haufig, daB iiberhaupt nur wenige Falle publiziert 
werden. Besonders die Unfalle durch Sturz in Glasscheiben, 
Porzellan usw. und dadurch veranlaBte Paresen im Ulnarisgebiet 
gehoren zu den alltaglichen, ebenso die leichten durch StoB und 
Fall auf den Ellenbogen verursachten motorischen und sensiblen 
Alterationen des Nerven. 

Das Wesentlichste der genannten Falle und gleichzeitig einige 
selbst beobachtete, hierher gehorende Falle seien hier kurz 
skizziert: 

2. Janzer I. 

Aetiologie: Messerstich. Ort der Lasion: rechte Ellenbeuge. 

Ulnarbefund: IV. und V. Finger konnten sofort nach Unfall nicht 
gebeugt werden. Uln. in Narkose freigelegt. Nerv mit Narben verwachsen. 


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Singer, Die Ulnarislahmimg. 265 

Anasthesie im IV. und V. Finger sowie Hypothenar. Parese in Finger 
IV und V. 

Besonderes : Spontane Blasen am IV. und V. Finger. 

3. C6nas. 

Aetiologie : Schutt. Ort der Lasion: rechte Ellenbeuge. 

Ulnar-Befund: Typische Beugekontraktur der letzten III Finger. 

Besonderes : Nach 6 Jahren Schmerz rechte und beginnende^Dupuytren- 
sche Kontraktur der linken Palmar-Fascie. Linker Daumen atrophjsch. 
Geringe Beteiligung des Med. und Rad. 

4. Addicks. 

Aetiologie : RevolverschuB. Ort der Lasion: rechte Ellenbeuge. 

Ulnar-Befund: Unertragliche Schmerzen im rechten Unterarm bis 
zum kleinen Finger. Uln. sehr empfindlich. Alle Ulnarismuskein rechts 
schwacher als links. Dorsal 2 %, volar 1 y 2 Finger ganz anasthetisch. 

Besonderes: Operation, N. uln. durchschossen. Im Nerv ein Spalt 
von 1 cm Lange. 

5. Janzer II. 

Aetiologie: Glasscheiben-Verletzung. Ort der Lasion: Volarseite des 
Unterarm8. 

Be fund: Adduktion des Daumens gleich Null. Abduktion ebenfalls 
gleich Null. Spreizen und SchlieCen der Finger sowie Streckung der End- 
phalangen gleich Null. Kleinfingerabduktion unmoglich. Partielle EAR 
in alien kleinen Handmuskeln des Uln. Im II.—V. Finger volar und dorsal 
Anasthesie und Hypalgesie. 

Besonderes : Nach 1 Monat Operation. Uln. axis fester Verwachsung 
gelost. Adduktion des Daumens schwach ausfiihrbar, Abduktion gut. Ab¬ 
duktion des kleinen Fingers gleich Null. Leichte Anasthesie im IV. und 
V. Finger. Partielle EAR in den ulnaren Handmuskeln. 

6. Sczypiorski. 

Aetiologie: Schnittwimde. Ort der Lasion: Unterarm. 

Befund: Atrophie des Hypothenar und der Interossei. Paralyse 
der Ulnarismu skein, Anasthesie besonders im kleinen Finger. Nach 
2 y 2 Monaten typische Klauenhand. 

Besonderes: 3 Monate nach Trauma Operation. 1 Jahr nach der 
Operation normale Handstellung. Atrophie ausgeglichen. Bewegung der 
Finger gut. Nur Adduktion und Abduktion im IV. und V. Finger schlecht. 
Sensibilitat und elektrisches Verhalten normal. 

7. Ranzi. 

Aetiologie: Stich. Ort der Lasion: distaler Unterarm. 

Befund: Parese im IV. und V. Finger, besonders Streckung im 
Interphalangealgelenk schlecht, ebenso Ab- und Adduktion der Finger IV 
und V, hier auch Hypasthesie. 

Besonderes: Adductor poll . vollstandig frei. Operation: Ulnaris 
fast vollkommen durchtrennt. 17 Tage nach Naht IV. und V. Finger vollig 
beweglich. 

8. Marshal. 

Aetiologie: Wunde. Ort der Lasion: Ellenbeuge. 

Befund : Add. poll, und Flex. poll. brev. paralytisch und atrophisch, 
hier auch partielle EAR. 

Besonderes: Freibletben der Interossei und des Kleinfingerballens. 

9. Eigene Beobachtung I (Patient Ri.). 

Aetiologie: Fall auf scharfe Kante. Ort der Lasion: Linker Unterarm. 

Befund: Subjektiv Taubheit ulnar an Unterarm und Hand, Kraft- 
losigkeit im IV. und V. Finger. Objektiv IV und V. Finger leicht 
flektiert, V. abduziert, ebenso Daumen abduziert. Dyn. rechts 160, links 
80. Strecken der Endphalangen sehr schlecht. Beugen in I. Phalanx von 
Finger IV und V schlecht. Adduktion und Abduktion des Daumens L < R. 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Opposition im Finger V links schlechfc. ebenso Spreizen. Elektrisch 
partielle EAR in den Muskeln des Kleinfingerballens. Sensibilitat: nur 
volar Hypasthesie im Kleinfingerballen und kieinen Finger. Hypalgesie 
ebendort und in der ulnaren Halfte des IV. Fingers. 

Besonderes: Die dorsale Sensibilitat ist ganz intakt. Abduktion 
des Daumens L<R (angeblich hier Schmerz). 

10. Eigene Beobachtung II (Patient Li.). 

Aetiologie: Schufl. Ort der Lasion: Linker Unterarm. 

Befund: Nach Freilegung des SchuCkanals motorische Parese des 

III. , IV. und V. Fingers. Typisehe Beugekontraktur im IV. und V. Finger. 
Spreizen hier gleich Null. Adduktion des Daumens geschwacht. Klein¬ 
fingerballen atrophisch, ebenso die Interossei. Spreizweite links 19 cm, 
rechte 21,5 cm. Dyn. rechts 45, links 15. Hypasthesie im V. und halben 

IV. Finger volar und dorsal. Subjektiv Taubheit im ulnaren Unterarm. 
(wo sich eine 14 cm lange Narbe befindet) und in den beiden letzten Fingem. 
Elektrisch: galvanisch und faradisch indirekt Erregbarkeit des Ulnaris 
erloschen, galvanisch direkt nur Interosseus. I. erregbar: bei 3,5 MA 
trage Zuckung. 

Besonderes: 0. 

11. Eigene Beobachtung III (Patient F.). 

Aetiologie : Fall in?Glasscheibe. Ort der Lasion: innere Ellenbogenpartie. 
Befund, : Atrophie des Hypothenar und Add. poll.; Parese des kieinen 
Fingers und Adduct, poll.; leichte Parese des Flex. carp. uln.; partielle 
EAR in samtlichen Interossei, dem Abduct, dig. V und Adduct, poll. 
Die Finger stehen dauernd in Spreizstellung, besonders der IV. und V. 
Im Grundgelenk des IV. und V. Fingers Hyperextension. Anasthesie, 
Hypalgesie und Termhypasthesie dorsal : kleiner Finger und ulnarer 
Rand des IV., sowie die dem kieinen Finger entsprechende Handpartie; 
volar : kleiner Finger und ulnare Halfte des IV., Hohlhand bis zur Mitte 
des III. Metacarpus. 

Besonderes: EAR in den Interossei ohne sichtbare Atrophie. Abnorme 
Lokalisation der Sensibilitatsstorungen. 

12. Eigene Beobachtung IV (Patient Ko.). 

Aetiologie : Scherbenschnitt. Ort der Lasion: ulnare Seite des Hand- 
gelenks, rechts. 

Befund: Hand nach Unfall geschwollen. Nerv genaht. IV. und 

V. Finger in Krallenstellung. Atrophie des Hypothenar. Beugung der 
Grundphalangen paretisch. Strecken der Endphalangen in Finger V und 
IV aufgehoben, in II und III schwach. Adduktion des Daumens gleich Null. 
Sensibilitat: Anasthesie im ganzen V. Finger. Analgesic daselbst auch 
bei Summation der Reize. Lagegefiihl im kieinen Finger aufgehoben. 
Elektrisch: faradisch direkt Unerregbarkeit der Interossei. Galvanisch: 
trage Zuckung in den kieinen Ulnarismuskeln. 

Besonderes: 0. 

13. Eigene Beobachtung V (Patient Fi.). 

Aetiologie: Messerstich. Ort der Lasion: linker Ellenbogen. 

Befund: Kleiner Finger stand sofort nach Trauma weit ab. Subjektiv 

kein Gefiihl im V. und halben IV. Finger, sowie Hypothenar. Objektiv 
Adduktion des kieinen Fingers gleich Null. Beugen leidlich gut. Spatia 
inteross. eingesunken. Operation: Vor 1 Jahr Ulnaris genaht. Kleiner 
Finger konnte wieder adduziert werden. Kraft in linker Hand immer 

f leich schlecht. Sofort nach Operation Kribbeln im V. Finger. Linker 
Tlnaris sehr druckempfindlich und als deutlicher Knoten zu fiihlen. 

Samtliche Ulnarismuskeln, auch Flex. carp. uln. paretisch. Atrophie 
samtlicher Interossei und des Hypothenar, besonders Interosseus I. Sen¬ 
sibilitat: dorsal und volar, im V. und IV. halben Finger Unempfindlich- 
keit fur Beriihrung, Stich und Temperatur. Volar wird bei tiefem Stich 
ein Kribbeln empfunden. Elektrisch: faradisch indirekt N. uln. erregbar. 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 267 

Galvanisch direkt in Inteross. I, II und III Erregbarkeit herabgesetzt. 
Zuckungen fraglich. 

Besonderes : Narbenfibrom des Ulnaris ? 

14. Eigene Beobachtung VI (Patient W.). 

Aeiiologie: Stich mit Messer. Ort der Lasion: Handbreit iiber rechtem 
Ellenbogen. 

Befund : Taubes Gefiihl im rechten KleinfingerbaUen, kleinen Finger 
und halben Ringfinger. Wunde heilte in einigen Wochen ab. Bewegung 
leidlich intakt: nur Finger IV und V schlecht beweglich. Wegen des Taub- 
heitsgefuhls Ulnaris genaht vor 3 l / 2 Monaten. Subjektiver Befund: der- 
selbe wie vor der Operation. Vor 2 Wochen und vor 2 Tagen je eine groCe 
Brandwunde an der Kuppe des kleinen Fingers. 2 Narben oberhalb des 
EUenbogens, sehr sehmerzhaft. Hypo thenar abgeflacht. Interossei normal 
gerundet. Parese im Flex. carp. uln. und Add. poll. Leichte Parese bei 
der Flexion der Grundphalanx V und der Endphalangen IV und V. 
Elektrisch EAR im Interosseus IV und Abd. poll., ASZ > KSZ. Im 
Add. poll. Zuckung prompt. ASZ > KSZ. Sensibilitat: Lagegefuhl im 
V. Finger aufgehoben. Hypasthesie fiir Beriihrung. Stich und Temperatur 
im KleinfingerbaUen und 1*4 ulnaren Fingern, dorsal und volar. Im 
kleinen Finger Empfindung ganz aufgehoben. 

Besonderes: Im Abduct. V ASZ > KSZ, ohne daB im Muskel Atrophie 
sichtbar ist. Zuckung prompt. Nach 3 Wochen im Abduct, dig. minim, 
typische EAR. Brandblase am V. Finger. Im IV. Finger Empfindlichkeit 
herabgesetzt. Beriihrungen und Stiche werden im schraffierten Gebiet 
(der Figg. 15 und 16) zwar schwacher als links empfunden, aber als sehr 
sehmerzhaft bezeichnet. 




Eine eigene atiologische Kategorie bilden die nicht seltenen Falle 
von Ulnarisl&hmung nach Sabelhieben beim Fechten. 

15. Eigene Beobachtung VII (Patient Ch.). 

Aetiologie: Sabelhieb. Ort der Lksion: Rechter Unterarm. 

Befund: Durchtrennung des Flex. carp, uln., Flex. dig. subl. und 

C rof., der A. und V. imd des N. uln. Naht des Nerven und der Mm., Unter- 
indung der GefaBe. 

Ulnaris-Befund: Leichtes Odem im Handriicken. Druck auf Ulnaris 
lost Kribbeln im IV. und V. Finger aus; rechter Ulnaris im Handgelenk 
empfindlich. Hand ulnarwarts abduziert. Strecken imd Beugen gut, 
ebenso Ulnarabduktion (nach Operation) gut. Endphalanx in Finger III 
bis V gebeugt. passiv streckbar. Spreizen und Adduzieren in Finger V 
und IV gleich Null, in Finger I—III schlecht. Abmagerung des I. Interosseus. 
Opposition des Daumens cut. Herabsetzung der Beugekraft in Grund¬ 
phalanx IV imd V. Sensibilitat: Lagegefuhlsstorung in Finger V. An- 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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asthesie im V. und halben IV. Finger. Legalisation sehr schlecht. Verlang- 
samte Empfindung auch bei Summation der Reize. Stark verspatetes 
Nachbrennen bei Stich. Elektrisch: faradisch indirekt keine Reaktion 
in den Interossei. Galvanisch indirekt keine Reaktion im IV. und V. Inter- 
osseus. Direkt galvanisch trage Zuckung im III.—V. Interosseus, 
ASZ = KSZ. 1 Monat spater Strecken der Endphalangen V und IV fast 
unmoglich. Spreizen in V und IV gleich Null. Adduktion des Daumens 
schwach moglich. 

Besond^res : Verlangsamung der Empfindungsleitung. 

16. Eigene Beobachtung VIII (Patient stud. W.). 

Aetiologie: Sabelverletzung. Ort der Lasion: Rechter Vorderann 

Ulnaris-Befund: Grofle Narbe an der Innenseite des Unterarms. 

Ulnaris durchschnitten und genaht. Ebenso Flex. carp, uln., Flex. dig. 
subl. und prof. % Jahr Schienenverband. Hand anfanglich geschwollen. 
Starke Atrophie des Spat. int. I, in geringem Grade auch der iibrigen Spatia, 
des Hypo thenar und Thenar. Umfang des linken Vorderarms 27, des rechten 
30 cm (10 cm unter Condyl. ext.). V. Finger in Beugestellung. Spreizen aktiv 
nicht moglich. Strecken der Endphalangen leidlich gut. Opposition des 
Daumens gut, Adduktion unmoglich. Beugen der Grundphalangen aktiv 
nicht moglich. Sensibilitat: Lagegefiihlsstorung im kleinen Finger, volar 
Anasthesie in Finger V, dorsal auch IV. und der Halfte des HI. Fingers. 
Stiche am kleinen Finger nur als Druck gefiihlt, Temperatur wird hier nicht 
unterschieden. Elektrisch komplette EAR in samtliohen Ulnarismuskeln. 

Besonderes : — 0. 

Auf die bereits erwahnte Anderung des Befundes nach Ope- 
rationen komme ich noch zu sprechen. In keinem Falle (auBer dem 
auch sonst seltsamen Fall C4nas) fehlen die Sensibilitatsstor ungen 
ganz. In einer eigenen Beobachtung (Fall 8) ist die Sensibilitat 
merkwiirdigerweise nur volar gestort. Das Freisein des Add. poll, 
im Fall Ranzi ist sicher wieder auf Doppelinnervation dieses 
Muskels zuriickzufuhren. Die spontane Blasenbildung bei Janzer I 
ist eine von den selteneren trophischen Storungen. 

Auf die Frage, wie die Beteiligung des linken Ulnarisgebietes 
nach Verletzungen des rechten zu erklaren ist (C6nas) werde ich bei 
Besprechung der aszendierenden Ulnaris-Neuritis kurz zuriick- 
kommen. Im Fall Mar6chal fallt die Auswahl der Muskeln Flex, 
poll. brev. und Adduct, poll, bei der Ulnarislasion auf. DaB die 
Beugung des Daumens geschadigt war, beruht entweder darauf, 
daB der Adduktor in geringerem Grade auch diese Funktion 
ausxibt, oder daB der Flex. poll. brev. (sein Caput prof, gehort 
zum Adduktor!) oft mit vom Ulnaris innerviert wird. Bemerkens- 
wert ist, daB hier bei der Lasion des Ulnaris nur die Fasem be- 
teiligt sind, die den genannten beiden Daumenballenmuskeln 
ihre Innervation zufiihren. 

DaB ein stumpfes Trauma gegen den Ellenbogen, wenn die 
Reize sich durch Wiederholung des an und fur sich belanglosen 
StoBes summieren, dort zu einer wirklichen Ulnarisparese fuhren 
kann, will ich an einem Fall zeigen, den ich selbst beobachtete. 

17. Eigene Beobachtung IX (Patient Li.).' ^ , fcf.. v » 

Patient ist ,,Wickler“ und stoOt sich bei seiner Arbeit sehr oft mit 

dem Ellenbogen an Holzkanten. Seit Monaten hat er daher Schmerzen 
von der Schulter bis zum Ellenbogen. Vor 8 Wochen bekam er einen be- 
sonders heftigen Schlag gegen den Musikantenknochen, so daB der ganze 
Arm \*ie abgestoroen war Er hatte im kloinen Finger kein Gefiihl, cie Hand 


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Singer, Die Ulnarisl&hmung. 


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wurde schwach. Vor 3—4 Wochen Schlag mit Hammer auf den Daumen. 
Jetzt klagt Patient iiber Schwach© in den Fingerspitzen bei feinerer Arbeit. 
Der iinke Daumen soil etwas abgemagert sein. 

Befund: Spreizweite links 22,5 cm, rechts 23% cm; Spreizen und 
Adduzieren der Finger links sehr mangelhaft; der Daumen steht weit ab 
und kann iiberhaupt nicht adduziert werden. Die Grxmdphalangen sind 
hyperextendiert, die Mittelphalangen gebeugt. Linker Daumenballen 
etwas flacher als rechts. Sensibilitat und elektrisches Verhalten normal. 
Nut das Lagegefiihl im V. Finger ist abgeschwacht. Der Ulnaris ist nicht 
auf Druck empfindlich. Beugen und Strecken der Endphalangen schwach. 

Da Patient Rechtshander ist und mit der rechten Hand auch 
bei der Berufsarbeit mehr leistet, da iiberdies auch eine noch so 
leichte Druckempfindlichkeit des Ulnaris fehlt, so ist an eine Neu¬ 
ritis durch Berufsschadigung nicht zu denken. Der Schlag mit dem 
Hammer auf den Daumen wiirde allein wohl die Atrophie und 
Parese des Adduktor, nicht aber die iibrigen motorischen Aus- 
fallserscheinungen erklaren. Als Ursache ist also hier ein sich 
wiederholendes leichtes Trauma verantwortlich zu machen. 

Bei Verleizungen der Hand sind Lasionen von Ulnarisasten 
iiberaus haufig. Besonders bei Hieben und Stichen, die unmittel- 
bar iiber dem beim Parieren besonders vorgestreckten Handgelenk 
erfolgen, fehlen sensible Storungen im Kleinfingerballen und dem 
kleinen Finger sehr selten. Von den wenigen in der Literatur 
vorhandenen Fallen von Lahmungen isolierter Ulnarisaste sei 
hier besonders der von Gortz erwahnt. Seinem Patienten hatte 
eine herabfallende Heugabel mit einer ihrer Zinken die rechte Hand 
vom Riicken zur Hohlhand durchbohrt. Allmahlich wurden das 
Spreizen und SchlieBen der Finger sowie feinere Griffbewegungen 
schwer und ungeschickt, der Kleinfingerballen magerte ab, ebenso 
die Interossei. Faradisch und galvanisch war die Erregbarkeit 
herabgesetzt. Die Sensibilitat verhielt sich ganz normal. Gortz 
n&hm an, daB es sich um eine isolierte Verletzung des Ram. prof, 
nervi uln. handelt, eine Annahme, fiir welche das Intaktsein der 
Sensibilitat spricht (da der tiefe Ast nur motorische Fasem fiihrt). 

Ebenfalls um eine ziemlich isolierte Lasion des tiefen Ulnaris- 
endastes handelt es sich im Falle Bregman: nach Schnittver- 
letzung der Hand Atrophie und Parese der Interossei, des Add. 
poll., des Kleinfingerballens mit Kontrakturstellung der beiden 
letzten Finger. Da auch die Opposition im Daumen, wenn auch 
wenig, gestort war, so muBte an Mitbeteiligung des Flex. poll. brev. 
gedacht werden. 

In dem Fall von Decroly war der Ulnaris durch einen Schnitt 
iiber dem Handgelenk verletzt, ebenso der Medianus. Die Ulnaris- 
muskeln waren paretisch, im Daumenballen entwickelte sich 
Atrophie und Lahmung, nachdem der Nerv schon genaht und die 
Motilitat in den iibrigen Muskeln zuriickgekehrt war. Sonst bietet 
die Verletzung des Ulnaris dicht iiber der Hand kein besonderes 
Interesse; sie zeigt dieselben Erscheinungen wie die nach Verletzung 
des Ulnaris im Arm, nur mit dem Unterschiede, daB der Ast fur 
den Flex. dig. prof. u. Flex. carp. uln. nicht mitverletzt ist. 

MonatMGhrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 4. 18 


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S i n g © r , Die Ulnarialahmung. 


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Von solchen hierher gehorenden Fallen will ich nur einen aus- 
fiihrlich wiedergeben, der in beinahe klassischer Form das B Id 
der Ulnarislahmung bietet. 

18. Eigene Beobachtung X (Patient Fe.). 

Patient hat sich mit dem Messer in die rechte Hohlhand nahe dem 
Handgelenk gestochen. Es erfolgte starke Blutung. Patient merkte so- 
fort, dafl die Finger ,,zusammenklappten‘*, und er sie nicht strecken konnte. 
Seitdem Reifien im rechten Unterarm. Kein Kribbeln, nur Abgestorben- 
heit im V. Finger. Objektiv besteht rechts Andeutung von Krallenhand, 
IV. und V. Finger stehen abduziert. Die rechte Hand ist blaurot verfarbt, 
Temperatur rechts gleich links. Dyn. rechts 0. links 15. Thenar und Anti¬ 
thenar abgeflacht, ebenso die Interossei, besonders I. Die Streckung der Hand 
ist rechts vielleicht etwas schwacher ausfiilirbar als links, Beugen beiderseits 

gut. Beugen der Finger im Grundgelenk gut, 
Strecken vielleicht etwas herabgesetzt. Strecken 
der Endphalangen gleich 0, Beugen mit leidlicher 
Kraft. Spreizen und Spreizkraft rechts minimal. 
Adduktion des Daumens gleich 0; Opposition und 
Flexion etwa normal. Ulnarabduktion der Hand 
rechts schwacher als links. Faradisch ist der 
N. uln. indirekt prompt erregbar. Faradisch direkt 
sind Flex. dig. V, Add. poll, und Oppon. dig. V 
rechts nicht erregbar, ebenso von den Interossei 
der ulnarste. Galvanisch direkt EAR in samt- 
lichen Interossei, im Adduct, poll, und Abduct, 
dig. V., Umkehrung der Zuckungsformel. Sen¬ 
sibilitat: Anasthesie und Hypalgesie volar im 
schraffierten Gebiet der Zeichnung (Fig. 17), 
dorsal im V. und der ulnaren Halfte des 
IV. Fingers. Lagegefiihl im V. Finger aufgehoben. 

Die Sensibiiitatsstorung ist auch in den ulnaren Partien des 
Unterarms andeutungsweise zu konstatieren; da dieselbe hier 
sehr inkonstant ist, so kann man sie wohl als funktionell betrachten. 
Auch die leichten motorischen Differenzen im Radialisgebiet 
sind wahrscheinlich funktionell supraponiert. 

19. Eigene Beobachtung XI (Patient Fr.). 

Vor 4 Jahren Glassplitter iiber dem linken Handg;elenk; darauf 
Atrophie im Adduct poll, und geringere in den Interossei. Ausfall der 
Daumenadduktion und der Adduktion des V. Fingers links. Elektrisch sind 
beide Muskeln nicht erregbar. Die Sensibilitat ist intakt. hi 

Ich will hier auch einen Fall erwahnen, bei dem es nach einer 
Operation im Handgebiet zur Lahmung von Ulnarisasten ge- 
kommen war. 

20. Eigene Beobachtung XIII. (Pat. He.) 

Der Patient hatte eine MiCbildung an der linken Hand, namlich 
Synostose der Metacarpi IV und V. Vor 3% Monaten operative Trennung. 
Die Beugesehnen der Hand waren stark miteinander verwachsen und 
wurden getrennt. 2% Monate spater bemerkte Patient Schwache und 
Atrophie in der Hand. Objektiv fand sich Atrophie des Add. poll, und des 
II. und III. Interosseus. Parese in diesen Muskeln. Der V. Finger bewegt 
sich mit normaler Kraft, nur seine Beugung ebenso wie die dee IV. Fingers 
ist herabgesetzt. Die Radialis-Muskulatur funktioniert normal. Sensibilitat 
intakt, nur geringe Hypalgesie im IV. Finger ulnar. Elektrisch partielle 
EAR im Add. poll., Interosseus II und HI. 

Die bisher genannten atiologischen Momente treffen den 
N. uln. an irgend einer Stelle seines Verlaufes direkt und bewirken 



Fig. 17. 


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Singer, Die Ulnarisl&hmung. 


271 


•dadurch Ausfallserscheinungen. Die Nervenfasem werden hier 
meist zerrissen oder zerschnitten, jedenfalls irgendwie materiell 
geschadigt. 

Nun gibt es auch Falle, bei denen von solch einem Trauma 
nicht die Bede ist und lahmungsartige Erscheinungen im Ulnaris- 
gebiet doch dadurch auftreten, dafi der Nerv aus seinem Lager 
herausgehoben, luxiert oder subluxiert wird. Diese Lasion kann 
durch ein stumpfes Trauma, das die Ellenbogengegend trifffc, ein- 
treten, besonders leicht dann, wenn der Patient kachektisch ab- 
gemagert ist und der Nerv nicht mehr durcb reichliche Fett- 
und Muskelmasse in seinem engen Lager im Sulcus uln. geniigend 
fixiert ist. Der Mechanismus der Lasion ist meist der, daB bei der 
Flexion des Ellenbogens der angespannte Rand des Biceps den 
Ulnaris auf die volare Seite des Epicondylus intemus hiniiber- 
schiebt. Die Luxation kann der Behandlung lange trotzen, ja sehr 
oft muB man operativ eingreifen, um dem Nerv einen neuen Sulcus 
zu schaffen, so in dem Falle von Jopson, dessen kleiner Patient 
erst durch diesen Eingriff die Gebrauchsfahigkeit seiner Hand 
wiedergewann, und in vielen anderen Fallen. Bei sehr abgemagerten 
Individuen geniigt als auslosende Ursache der Lasion schon eine 
briiske Bewegung. Dafiir liefert WaUenberg einen kasuistischen 
Beitrag. Sein Patient war nach einem schweren Scharlachfieber 
sehr abgemagert; bei einer schnellen Beugung des Ellenbogens 
sprang der Ulnaris heraus, und es trat sofort Schwache der Hand 
ein. In diesem Falle konnte der Nerv manuell reponiert werden 
und bekam durch elastische Binden Halt. 

Auch als angeborenes Leiden kommt die Ulnarisluxation 
vor. In diesen Fallen handelt es sich um schlecht entwickelten 
Condylus intern, humeri oder eine zu enge Rinne zwischen Epikon- 
dylus und Olekranon. Ich sah einen Patienten, bei dem selbst 
physiologisch starke Beugebewegungen im Ellenbogen gelegent- 
lich den Ulnaris luxierten. Der junge Mann hatte das Leiden von 
Jugend an und hatte gelemt, durch geeignete Bewegungen die 
Luxation zu beseitigen. Im Moment des Herausspringens 
de3 Nervs klagte er iiber Schmerzen, Parasthesien und Schwache im 
Kleinfingerballen und V. Finger. Auch Haim erwahnt einen solchen 
Fall, ebenso Pliques u. A. Auf die Lasionen, die nach Knochen- 
verletzungen im Ellenbogen zustande kommen, werde ich spater 
eingehen. 

Von den traumatischen Ulnaris-Luxationen, die mir in der 
Literatur bekannt wurden, nenne ich hier als wichtig nur Rosen- 
bach, Peyer III, Lozano, Kissinger (2 Falle), Cotto (3 Falle), Zucker- 
kandl, Mac Cormac (2 .Falle), Drouard, Smith (3 Falle), Quadjlieg, 
Schwartz, Wharton, Haim (2 Falle), Pliques, Collinet (15), Orunert, 
J erusalem- Porges. 

Drouard hatte im Jahre 1896 aus der Literatur 40 Falle 
zusammengestellt, Haim im Jahre 1896 dazu noch 14 = 54 Falle. 
Hinzu kommen noch zu den eben genannten Autoren die in den 
Statistiken von Drouard und Haim nicht genannten Autoren 

18 * 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Jopson , Wallenberg , Rosenbach , Peyer , Lozano , Kissinger und 
Quadjlieg. Darnach sind bis heute etwa 62 Falle von Luxation des 
Ulnaris beschrieben. Einen Fall sah ich selbst. 

AuBer dem Sturz auf den Ellenbogen werden fiir die Luxation 
auch oft gewisse Turnvbungen atiologisch verantwortlich gemacht, 
z. B. im Falle Rosenbach das Unterarmstiitzen mit Schwingen 
des Korpers iiber den Barren; ebenso bei Blattmann, dem ersten 
derartigen Fall, der in der Literatur zu finden ist (1851). Des- 
wegen begegnet uns die habituelle Ulnarisluxation auch haufig bei 
Soldaten. Nach einer Statistik Momburgs fand sie sieh bei 116 
Soldaten 23 mal, d. h. in 20 pCt. Momburg selbst rechnet diese 
Falle alle zu den kongenitalen; doch kommt hier jedenfalls ein 
Trauma oft als mitbedingendes und auslosendes Moment in Frage. 
Collinet fand bei 500 Menschen 13 mal kongenitale Luxation, 
7 mal beiderseits Subluxation und 33 mal einseitige Subluxation, 
Drouard unter 200 Personen 3 mal Luxation, 9 mal einseitige und 
6 mal doppelseitige Subluxation, Colb unter 125 Personen 50 mal 
Subluxation, 1 mal Luxation, Haim unter 350 Personen 70 mal 
Subluxation und niemals Luxation. Manche Autoren, z. B. 
Schwartz , Lauterbach u. A. bestreiten iiberhaupt das Vorkommen 
rein traumatischer Luxation des Ulnaris; sie soli vielmehr nur 
auf Grand kongenitaler Anlage zum Ausdrack kommen. Ich 
halte diese Ansicht fiir falsch. Wenigstens ist nicht bei all den 
obengenannten kasuistischen Beitragen von einer solchen kon¬ 
genitalen MiBbildung die Rede; wohl aber halte ich es fiir moglich, 
daB oft (oder immer?) ein schlecht entwickelter Epikondylus 
oder ein Cubitus valgus bessere Gelegenheit schafft, den Nerven 
bei einem Trauma aus seinem festen Lager herauszuheben, so 
daB man dann von einer kombinierten Ulnarisluxation sprechen 
konnte. 

(Fortsetzung folgt.) 


(Aus der peychiatrischen und Nervenklinik der Koniglichen Charity. 
[Direktor: Geh. Med. Rat Prof. Dr. Ziehen.]) 

Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 

Von 

Dr. med. MAX ROHDE, 

Oberzarat im 7. Rhelnisohen Infanterie-Regiment No. 69, 
kommandiert xur Hellst&tte fiir Nervenkranke Haas Sohftnow in Zehlendorf. 


Seitdem man eingesehen hat, wie unzuverlassig und durftig 
alle Zeugenaussagen sind und wie mangelhaft der Mensch imstande 
ist, jener seiner Funktion gerecht zu werden, „die gegenwartige 
oder vergangene Wirklichkeit durch eben seine BewuBtseins- 
tatigkeit zur Wiedergabe zu bringen sucht“ (Stem), seitdem hat 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


273 


man unablassig an der Vervollkommnung des Aussageproblems 
gearbeitet. Von den verschiedenen Richtungen, auf denen ein 
Vordringen in dieses bisher so gut wie unbekannte Gebiet versucht 
worden ist, gehort wohl mit zu den wichtigsten die im wesentlichen 
von W. Stern ins Leben gerufene und ausgebildete Methode, auf 
experimentellem Wege Aussageversuche anzustellen und uber 
Bilder, belebte Vorgange u. a. eine vollstandige Aussage zu er- 
langen, wie sie etwa vor Gericht verlangt werden wiirde. Parallel 
aber damit beg'nnt sich auch mehr und mehr eine Methode ein- 
zubiirgern, die an sich schon viel alter ist, auch von wesentlich 
anderen Gesichtspunkten ausgeht, und doch in mancher Hinsicht 
mit der eben erwahnten zusammengehort, auch nicht minder in- 
teressante Einblicke in das menschliche Seelenleben gestattet, 
die Assoziationsmethode. Man hat von ihr viel fiir die forensische 
Praxis erwartet, erwartet es wohl zum Teil auch jetzt noch, und so 
hat denn auch sie, ahnlich wie das Aussageexperiment, gerade von 
juristischer Seite manche Forderung erfahren; ich weise hier nur 
kurz auf H. Croft hin. Wichtiger aber diirfte sie als Hiilfsmittel 
bei der Diagnose der Geisteskrankheiten, teils als Stiitze des bereits 
Bekannten, teils auch zur Enthullung noch unbekannter Gedanken- 
gange aufzufassen sein. Speziell in den letzten Jahren hat diese 
Methode die mannigfachsten Ausgestaltungen erfahren, und die in 
dieser Zeit dariiber entstandene Literatur hat einen betrachtlichen 
Umfang angenommen, und doch ist noch recht Vieles uber die 
Assoziationen, fiber die geheimen Denkprozesse des menschlichen 
Gehims unklar geblieben, entsprechend der Unberechenbarkeit und 
Mannigfaltigkeit der psychischen Geschehnisse. 

Eine genaue Uebersicht fiber die geschichtliche Entwicklung 
der Assoziationstheorie zu geben, wiirde zu weit fiihren, eriibrigt sich 
auch wohl, schon mit Riicksicht auf die kiirzlich erschienenen, 
diesen Gegenstand behandelnden Abhandlungen, von denen ich 
hier nur auf die Ausfiihrungen in Oregors Lehrbuch der psycho- 
pathologischen Untersuchungsmethoden sowie auf die Arbeit von 
QdUus, Ueber Assoziationspriifung (Ztschr. f. Psychotherapie u. 
med. Psychol.) hinweisen will. So kann ich mich kurz fassen und 
mochte nur bemerken, dab die Assoziationstheorie auf den be- 
sonders von Kraepelin, Ziehen, Sommer gegebenen Grundlagen 
aufbaut und, wie Hans Oroft hervorhebt, von Wertheimer und 
Klein durch die wichtige Tatsache erganzt worden ist, dab Asso¬ 
ziationen oft zwingend sind und geradezu zu Zwangsvorstellungen 
werden konnen. Es werde sich demgemab jeder Mensch, wenn man 
ihn durch verschiedene Assoziationsworte auf die fragliche Stelle 
bringe, zum Schlusse dadurch verraten miissen, dab er Asso- 
ziat onsantworten gebe, welche er nicht hatte geben konnen, wenn 
ihm der betreffende Sachverhalt nicht ware bekannt gewesen. 
W. Stem druckt das Verhaltnis bcider Richtungen zueinander so 
aus: „Beziehen sich unsere Aussageversuohe auf dasjenige, was 
gewisse Personen von einem Tatbestand zu wissen glauben, so 
sollen sich die neuen (Assoziations-) Versuche darauf beziehen. 


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Rohde, Assozirttionsvorgange bei Defektpsy chosen. 


dafi gewisse Personen von einem Tatbestand nichts zu wissen be- 
haupten“, und er bezeichnet sie als „eine Art Ueberlistung der 
Versuchsobjekte“. Wahrend nun aber Wertheimer und Klein diese 
Tatsache mehr oder fast ausschlieftlich fur die forensische Praxis 
benutzt haben, indem sie versuchten die Frage der Schuld oder 
Unschuld eines Menschen dadurch zur Losung zu bringen (Tat- 
bestandsdiagnostik), haben Fuhrmann, vor allem aber Wreschner, 
Blender, Jung, Ricklin von der forensischen Seite abgesehen und 
anschlieOend an die vorher gegebenen Grundlagen sich auf das 
psychologische bezw. psyclnatrisch-psychologische Gebiet be- 
geben. Fuhrmann steilte zuerst an Epileptikem Versuche an, 
fiber die er in seiner Arbeit ..Analyse des Vorstellungsmaterials bei 
epileptischem Schwachsinn“ berichtet. Er hat seinen Versuchen 
das von R. Sommer benutzte und bereits im ..Lehrbuch der psycho- 
pathologischen Untersuchung. methoden“ angegebene Schema zu- 
grunde gelegt, mit der Absicht, ..differential-diagnostisch verwert- 
bare Momente fur das klinische Krankheitsbild der genuinen 
Epilepsie zu finden“, und hat damit einer wichtigen neuen Unter- 
suchungsform Eingang in die Psychiatrie verschafft, die zwar vor- 
handen, aber leider viel zu wenig, wenn iiberhaupt benutzt war. 
Zugleich aber, vor allem dann aber auch in der Folgezeit sind femer 
namentlich von Wreschner sowie von Jung und Ricklin systematische 
Untersuchungen angestellt worden, die auch jetzt noch fortgefiihrt 
werden. Als grundlegend hebe ich speziell das Werk von Wreschner 
„Die Reproduktion und Assoziation von Vorstellungen“ hervor. 
Auf die zahlreichen anderen Untersuchungen, insonderheit auch 
die von Isserlin werde ieh spater kurz zuriickzukommen Gelegenheit 
haben. 

So sind auch in der psychiatrischen Klinik der Koniglichen 
Charity seit mehreren Jahren derartige Versuche mit recht gutem 
Erfolge angestellt worden, und diesen Erfolgen hatte ich es wohl 
zu danken, wenn Herr Geheimrat Professor Dr. Ziehen mir seinerzeit 
die Anregung dazu gegeben und mich in weitgehendstem MaiJe 
dann unterstiitzt hat, derartige Assoziationsversuche systematisoh 
an dem dort vorhandenen Krankenmaterial anzustellen. 

Ich habe diese Versuche in der Zeit von Februar bis Juni 

1908 angestellt und diesen weitere Erganzungsversuche im Februar 

1909 folgen lassen. Versuchsbedingungen und Versuchsanordnung 
waren in beiden Fallen gleich. Ich werde daher auch diese zeitlich 
getrennten Versuche hier nicht trennen, sondern ohne weitere 
Unterscheidung im folgenden zusammen erortem. Die Versuche 
mit Hebephrenikem habe ich fast samtlich bereits in meiner 
Dissertation „Assoziationsvorgange nach der Methode Fuhrmann 
bei Dementia hebephrenica s. praecox“ (Berlin 1909) besprochen, 
ich will der Vollstandigkeit halber das dort Auseinandergesetzte 
mit manchen Erganzungen und Umanderungen in den Rahmen 
meiner jetzigen Darlegung hineinziehen und kann speziell das 
dort liber Verfahren und Versuchsanordnung u. s. w. Ausgefiihrte 
hier im wesentlichen nur wiederholen. 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychoesn. 


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Inzwischen sind, wie ich schon hervorhob, sehr zahlreiche 
Untersuchungen auf demselben Gebiete veroffentlicht worden, 
und Manches, was mir bei Anstellung der Versuche neu und lehr- 
reich erschien, ist dadurch bereits bekannt gegeben, manche Er- 
fahrungen sind inzwischen gesammelt worden, die ich damals 
leider noch nicht habe beriicksichtigen konnen. Durch Zeitmangel 
und Abwesenheit von Berlin bin ich erst jetzt in der Lage gewesen, 
meine Ergebnisse zusammenzustellen, die nach so langer Zeit 
zwar nicht mehr allzuviel Neues zu bieten vermogen, die aber, wie 
ich hoffe, einen weiterenBeitrag zu diesem wichtigen Kapitel werden 
liefern konnen, um so eher vielleicht, als, was schon Rittershaus 
hervorhebt, dieVeroffentlichungen sich sonst meist auf nur einzelne 
oder wenige Falle beziehen, wahrend ich hier eine, wenn auch immer- 
hin noch kleine, so doch wieder eine relativ groBe Anzahl von 
Kranken derselben Krankheitsformen untersucht habe. 

Das Verfahren. 

Ich habe mich bei meinen Versuchen im wesentlichen dem 
Sommer-Fuhrmannschen Verfahren angeschlossen, da ja eben der 
Erfolg seine Brauchbarkeit erwiesen hat, habe allerdings dabei 
mancherlei Modifikationen vorgenommen. So war es mir einmai 
nicht moglich, bei entsprechend groBererZahl derVersuchspersonen 
eine so lange Reihe von Reizworten ihnen entgegenzuhaiten, 
andererseits Melt ich es auch gar nicht einmai fur vorteilhaft, da ja 
durch die Lange der Zeit eine gewisse Ermiidung der Patienten 
unvermeidlich gewesen ware, die, wenn auch vielleicht keine groBe, 
so doch immerhin eine gewisse Bolle spielen und die Ergebnisse 
modifizieren kann. Ich hielt es fur dringend notig, das Reizwort- 
schema in einer Sitzung zu erledigen, da sonst eventuell ganz andere 
Verhaltnisse (StimmungJage u. s. w.) bei der Fortsetzimg der Ver¬ 
suche hatten vorhanden sein konnen, also schon insofern eine Un- 
gleichheit des Resultats unvermeidlich gewesen ware. Daher habe 
ich statt der von Fuhrmann gewahlten Reihe von 142 Reizworten 
nur eine solche von 30 Reizworten gewahlt, von denen sechs bereits 
zu Anfang entgegengehaltene am Schlusse noch einmai wieder- 
kehrten. N 

Rein grammatikalisch habe ich 1. Substantiva, 2. Adjektiva, 
3. Verben und ein Zahlwort benutzt. 

Bei der Auswahl der 30 Reizworte habe auch ich, wie es 
Fuhrmann getan hat, die Unterscheidung zwischen 1. Eigenschafts- 
worten, 2. Abstraktis und 3. Konkretis innegehalten, dagegen nioht 
die Unterscheidung der Untergruppen. Ich habe mich im iibrigen 
bemiiht, die Reizworte den verschiedensten Vorstellungsgruppen zu 
entnehmen und habe es femer fiir vorteilhaft gehalten, die Reiz¬ 
worte der erwahnten 3 Gruppen nicht fiir sich den Versuchspersonen 
entgegenzuhaiten, sondem durcheinander gemischt. Denn meines 
Eraohtens bietet das erstere Verfahren mancherlei Gefahren, so 
vor allem die, daB eine zu starke Schematisierung hervortritt, die 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsy chosen. 


die Versuchsperson an einen einzelnen Gedankenkreis zu sehr 
bindet und am Ende einer Unterreihe dem Willen der Person einen 
zu whiten Spielraum laBt. 

Dieser Ansicht geben auch schon Jung und Ricklin Ausdruck, 
indem sie glauben, die Versuchsperson konne sich nach 2 bis 3 
Reaktionen auf jenes bestimmte Gebiet einstellen, ahnlich auBern 
sich Pototzky, Aschaffenburg, Gregor u. A. 

Ich selbst habe, nebenbei bemerkt, dies bei Versuchen, die im 
Gamisonlazarett T. bestimmungsgemaB nach dem Sommerschen 
Reizwortschema vorgenommen werden muBten, deuthch wahr- 
genommen. Hier konnte ich fast stets ein Fortleben der Reizworte 
der vorhergehenden Gruppe in der folgenden feststeden und zugleich 
eine Verlangerung der Reaktionszeit, ein Stutzen beim Beginn der 
neuen Gruppe, wie ich meine, infolge erhohter Arbeitsleistung 
durch eine gewaltsame neue Einstedung der Psyche auf ein ganz 
neues Gebiet. Daneben trat auch stets am Schlusse der Liste eine 
Abflachung des Reaktionstypus als Ermiidungserscheinung hervor. 
Es war mir das ein Beweis dafiir, daB — entsprechend meinen obigen 
Ausfiihrungen—, wenn die Assoziationspriifungen wirklich brauch- 
bare Resultate hefern sollen, die Priifung nicht zu lange ausgedehnt 
werden darf. Gallus hebt in dieser Hinsicht noch hervor, daB der 
Sommersche Fragebogen durch seine starre Gliederung zu Perse- 
verationen fiihrt, und daB der abstrakte Inhalt zahlreicher Reiz¬ 
worte — ich mochte hinzufiigen: in groBer Zahl zusammenstehend 
— namentlich Ungebildeten intellektuelle Schwierigkeiten macht. 
So glaube ich, daB eine Reihe von 30 Reizworten vollauf geniigt 
und zuverlassigere Resultate zu liefem vermag als eine langere. 
Ein Schema meiner Versuchsliste findet sich spater. 

Ich mochte meinerseits neben der Sommer-Fuhrmannschen 
mehr auBerlichen Einteilung zwei speziell bei Geisteskranken sehr 
wesentliche Unterabteilungen unterscheiden, die sich mehr auf ihr 
Gefiihlsleben beziehen, die Einteilung in gefiihlsbetonte und nicht 
gefiihlsbetonte Reizworte. Zu den neutralen Reizworten gehoren 
hier meines Erachtens Worte wie z. B. Fisch, zu den gefiihlsbetonten 
zunachst schwachere wie z. B. Tod und dergleichen, und zu den 
direkt positiv gefiihlsbetonten Worte wie z. B. Hochzeit und der¬ 
gleichen bei der Mehrzahl der weiblichen Individuen. Es ist ja nur 
natiirlich, daB sich eine strenge Scheidung in dieser Hinsicht kaum 
wird durchfiihren lassen, denn fiir einen Melancholiker mit Todes- 
gedanken ist der Tod sehr stark gefiihlsbetont, fiir den Neur- 
astheniker und Hypochonder das Wort Krankheit, Begriffe, die 
bei einer hyperthymischen Maniaca nur eine minimale Gefiihls- 
betonung hervorrufen werden. Ich hoffe indessen, daB in meinem 
Schema sich fiir jede Krankheitsform einige neutrale und einige 
gefiihlsbetonte Reizworte finden werden, die einander ein ge- 
wisses Gleichgewicht halten. Ich bemerke noch, daB schon Jung 
gefiihlsbetonte Worte in sein Schema eingestreut hat und auch 
seinerseits ihnen „eine ganz eigenartige Bedeutung“ zuschreibt, 
ebenso tun es andere Autoren. Gerade diese gefiihlsbetonten Worte 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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sind es ja auch, auf die Jung seine Lehre von den Komplexen in- 
zwischen aufgebaut hat. Sie fiihren zu einer Aenderung der 
Reaktionszeit, sind gefolgt von flachen Reaktionen, fallen in der 
Reaktionsliste auf und ermoglichen das Hervorziehen mancher 
Gedankengange, die sonst vielleicht verborgen bleiben wiirden. 
Ich habe spater noch darauf zurackzukommen. 

Versuchsanordnung. 

Fiir die Ausfiihrung der Versuche habe ich mich im wesentlichen 
an Ziehen und die Einleitung seiner Kinderassoziationsversuche 
gehalten. Es ist wohl anzunehmen, daB fast jedes Wort bei der Mehr- 
zahl der Kranken eine andere Vorstellung wachrufen wird, mag nun 
der auBere Reiz auf akustischem oder ogtischem oder auf sonst 
einem Gebiete ausgeubt werden, mag die Person das Reizwort 
horen, mag sie es sehen, mag eine Geschmacks- oder eine sonstige 
Empfindung in ihr wachgerufen werden. Mit Recht hebt nun 
Ziehen hervor, daB die akustische oder, wie er sagt, die indirekt 
durch eine Wortempfindung geweckte Anfangs,Vorstelhing eine 
unendlich viel groBere Auswahl moglich mache. X)as gilt meines 
Erachtens in ganz besonderem MaBe fiir Geisteskranke. Ein 
apathisches Individuum z. B. braucht trotz aller Aufforderungen 
einen optischen Eindruck noch lange nicht aufzunehmen, indem 
es einfach nicht hinsieht, einem Klangbild dagegen, einem 
akustischen Reiz gegeniiber ist es lange nicht so widerstandsfahig. 
Zudem wiirde bei einem optischen Reiz die Lange der zur Wahr- 
nehmung und Auffassung erforderlichen Expositionszeit bei den 
einzelnen Krankheitsformen doch wohl recht verschieden sein 
miissen. Aus solchen Erwagungen habe ich dann auch das Reiz¬ 
wort der Versuchsperion entgegengerufen, ein Verfahren, das sich 
ja bei alien Versuchen bisher durchaus bewahrt hat und dem auch 
Wreschner im Gegensatz zu Cordes den Vorzug gibt, und zwar auf 
Grand von vergleichenden Versuchen. Er meint dazu, der Grand 
fiir das bessere Ergebnis der akustischen Methode liege wahr- 
scheinlich darin, daB die Assoziation zwischen dem Horen eines 
laut gesprochenen Wortes und seiner lauten Beantwortung eine 
innigere, im Alltagsleben mehr geiibte sei als die zwischen dem 
stillen Lesen und der lauten Beantwortung. 

Ich habe meinen Versuchspersonen das, was ich von ihnen 
verlangte, an vier Reizworten klar zu machen gesucht und wahlte 
hierzu die Worte: gehen, Wiese, Zucker, dunkel, und zwar nahm 
ich hier absichtlich so verschiedene Beispiele, um moglichst 
verschiedene Reaktionsbedingungen vorfiihren zu konnen, speziell 
wahlte ich auch ein Verbum, weil die auf ein solche erfolgendens 
Reaktionen ja nach den gemachten Erfahrungen mehr Schwierig- 
keiten zu bereiten pflegen als bei den mehr gelaufigen Substantivis 
und Adjektiv is. Im iibrigen sagte ich zur Erklarang des Verfahrens: 
„Sagen Sie mir, was Ihnen zuerst dabei einfallt“, eventuell fiigte 
auch ich, wie es auch Ziehen seinerzeit getan hat, ,,noch die 
Mahnung hinzu, keine Zwischenvorstellungen fortzulassen", eine 


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278 


R ohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


Mahnung, deren Befolgung sich ja im wesentiichen aus der 
Reaktionszeit kontrollieren lie 6. Ich habe dann, ebenfalls Ziehen 
folgend, nach jeder Reaktion genau nachgeforscht, ob dabei an 
etwa3 Bestimmtes gedacht war. £s ist meines Erachtens bei meinen 
Versuchspersonen dabei eine Gefahr, namlich die, daB sie sich naoh- 
traglich etwas zurechtlegen konnten, ich glaube aber, daB diese 
Gefahr nicht sehr groB ist, denn einmal wirkt die erfolgte Asso- 
ziation ziemlich nachhaltig fort und verhindert in maBigem Grade 
eine Verschleierung des wirklich Gedachten, andererseits aber 
glaube ich auch, daB ein dementes Individuum oft gar nicht in dem 
MaBe wie ein anderes dazu imstande ist, etwas anderes anzugeben 
als die Vorstellung, die das Reaktionswort hervorgerufen hat — und 
um demente — ich bemerke: meist hoheren Grades — handelt es 
sich ja in erster Linie bei meinen Versuchen — ausgenommen viel- 
leioht die schwer gehemmten Kranken, die infolge ihrer Apathie es 
nicht sagen konnten. Hier war anzunehmen, daB solche Individuen 
entweder wirklich ihre Vorstellung sagten oder aber, wenn ihnen 
diese nicht geniigend zum BewuBtsein gekommen war, auch ruhig 
sagten: „Ich habe mir nichts dabei gedacht." Ich habe andererseits 
auch geglaubt, diese Nachforschung nicht unterlassen zu dfirfen, 
da gerade dadurch meines Erachtens ein Einblick in das Seelen- 
leben jener Individuen erst recht eigentlich ermoglicht wird. 

Ich mochte bei dieser Gelegenheit auch dem Einwand begegnen, 
der sehr wohl gemacht werden kann, daB namlich bei der Aus- 
fiihrung solcher Verouche stets die Gefahr der Unterdriickung von 
Assoziationen besteht, und diese Gefahr ist in der Tat bei einem Teile 
der Versuchspersonen nicht zu gering anzuschlagen. Meines Er¬ 
achtens sind solche Unterdriickungen vorwiegend aufgetreten, 
nachdem bei vorhergegangenen Proben eine sehr lebhafte, eine 
iiberlebhafte Reaktion erfolgt war, gewissermaBen eintretend aus 
einem Gefiihl der Scham fiber das damals Gesagte. In solchen 
Fallen konnte ich das aber immer durch Vergleich mit der damaligen 
Reaktionsliste feststellen, zudem ermoglicht meines Erachtens die 
Lange der Reaktionszeit eine ziemlich genaue Kontrolle darfiber, 
ob wirklich eine Assoziation unterdrtickt ist oder nicht. Meist sind, 
so oft ich es habe feststellen konnen, dann auch gleich mehrere 
Assoziationen unterdrfickt, wodurch die Kontrolle noch weiter er- 
leichtert wurde, und endlich sind diese nicht fiber die psychische 
Schwelle nach auBen gehobenen Reaktionen durch dieFrage: Haben 
Sie an etwas Bestimmtes gedacht ? in der Regel zu ermitteln. Ich 
stehe nicht an der Ueberzeugung nochmals Ausdruck zu geben, 
daB weniger das erfolgende Reaktionswort als die anknfipfende 
Frage ein Eindringen in das Seelenleben und den Gedankengang 
der Versuchspersonen gestattet. Ich habe mitunter gerade dadurch 
so manche Wahnideen von Patienten hervorziehen konnen, die 
aus dem Reaktionswort nicht ohne weiteres klar wurden. Ich habe 
demzufolge auch stets die AnschluBfrage gestellt und sie nur bei 
ganz inkoharent denkenden Individuen unterlassen — den Ver- 
such, sie zu stellen, habe ich aber auch dort gemacht. Und so 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 27 9 

meine ich, dafi diese Anschlufifrage nie unterlassen werden sollte, 
da erst durch sie — zusammen mit der erfolgten Beaktion — ein 
richtiges Eindringen in den Gedankengang der Versuchsperson er- 
moglicht, zumindest erleichtert wird; das Reaktionswort allein ist 
nnr mehr ein Bruchstiick, das fur uns sehr wertvoll ist, oft aber 
ohne die angeschlossene Frage ein Bruchstiick bleibt und als solches 
oft sinnlos erscheint, wo de facto eine sinnvolle Beaktion dahinter 
schlummert und nur nicht ausgesprochen wird. Wenn Scholl nur bei 
„auffalligen Reaktionen" diese Anschlufifrage stellt und auch Stock- 
mayer ahnlich verfahrt, so mag das in mancher Hinsicht ja aus- 
reichen, ich meine aber, man mufidannlieberkonsequent bei alien Re- 
aktionen dasselbe V< rfahren durchfiihren • auch bei an sich nicht auf- 
falligen habe ich oft den Nut zen der Anschlufifrage feststellenkonnen. 
Zudem besteht doch auch sonst meines Erachtens leicht die Gefahr 
des Uebersehens. Ueberhaupt habe ich — hauptsachlich auf dieser 
Basis — gefunden, wie recht Oregor hat, wenn er hervorhebt: 
„Zurfickhaltend mufi man aber auch in der Erteilung des oft nahe- 
liegenden Pradikats „sinnlos“ sein, da z. B. Geffihlstone mitunter 
Verkniipfungen zwischen scheinbar ganz disparaten Gliedern her- 
stellen. Aus diesen Griinden werden die Einteilungsprinzipien 
von Assoziationen, die sich blofi auf das Verhaltnis des Reizwortes 
zum Reaktionswort aufbauen, einen nicht ganz gerechtfertigten 
logischen Charakter gewinnen miissen.“ Und schon aus diesem 
Grande ergibt sich — was Gregor allerdings nicht in der Weise 
anerkennen kann — die Wichtigkeit der Anschlufifrage als Binde- 
glied. Ich folge damit Ziehen, ebenso wie es in neuerer Zeit Wimmer 
getan hat, der meines Erachtens sehr richtig hervorhebt, dafi die 
Beaktion nur der Ausdruck einer ganz zufalligen Schlufivorstellung 
ist, wahrend wir — ich fiige hinzu: ohne die Kontrollfrage — tat- 
sachlich nichts fiber etwa dazwischenliegende und vielleicht be- 
deutend zahlreichere Vorstellungen erfahren. Wichtig ist meines 
Erachtens die Anschlufifrage auch schon mit Rficksicht auf das, 
was Wreschner speziell hervorhebt, dafi namlich oft die erste Silbe 
des Reizwortes eine irrige Erwartung ffir die folgende Silbe des- 
selben hervorraft und die Beaktion der irrigen Antizipation ent- 
sprechen kann. Als eines der von Wreschner genannten Beispiele 
ffihre ich an „ranzig — schrifirt“ (an Ranzen gedacht). So ist 
das zugleich eine weitere Erganzung ffir das Zustandekommen der 
scheinbar sinnlosen Reaktion, hinter der sich eine sinnvolle verbirgt, 
was aber nur die Anschlufifrage klaren kann. 

Nun ist mit gewissem Recht demgegenfiber geltend gemacht 
worden, dafi es bedenklich erscheint, der Selbstbeobachtung der 
Versuchsperson eine so grofie Rolle zuzuweisen, dafi sie im wesent- 
hchen die Einteilung in das System bewirke, zumal wenn es sich 
um Kranke handele, und daher ist die Wimmersche Einteilung in 
erinnerungsbestimmte und nichterinnerungsbestimmte Asso¬ 
ziationen angegriffen worden. Mir scheint diese Gefahr nicht so 
grofi zu sein; die Reaktion ist ja erfolgt, wird eben durch die Kontroll¬ 
frage, die Selbstbeobachtungsangabe der Versuchsperson nur be- 


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280 Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 

ziiglich ihres Wertes genauer analysiert und kontrolliert, es handelt 
sich also gar nicht um e ne reine Selbstbeobachtung, zudem habe 
ich bei logisch denkenden Individuen, also auch bei funktioneUen 
Psychosen, die Garantie des logischen Aufbaus, der eine nachtrag- 
liche Verfalschung hindert, und bei Dementen ist meist — wie ich 
schon hervorhob — nicht die Moglichkeit vorhanden, sich so rasch 
etwas zurechtzulegen, was nicht tasachlich vorgestellt ist. Auch 
Wreschner weist auf die Notwendigkeit der Selbstbeobachtung hin 
fur die Entscheidung dariiber, ob eine Reaktion automatisch er- 
folgt sei oder nicht. Man konne der Reaktion nie ansehen, ob sie 
automatisch erfolgt sei. Das ergebe sich nur auf Grand der Selbst¬ 
beobachtung. Ohne ihre Aussage seien wir zur Annahme eines 
Automatismus nie berechtigt. 

Auch diese Ausfiihrungen decken sich meines Erachtens mit 
dem oben Ausgefiihrten. Wreschner hebt im weiteren dann aber 
hervor, daB die Angaben der Selbstbeobachtung — meine An- 
schluBfrage — oft mit groBer Kritik aufzunehmen seien. Auch das 
gebe ich zu, ja, ich meine, daB bei einer Kategorie von Geistes- 
kranken die AnschluBfrage keinen Zweck hat, ja, vielleicht sogar 
imstande i t, irrefiihrend einzugreifen, namlich bei Erregungs- 
zustanden, besonders bei denen der Defektpsychosen, die irgend 
etwas — allerdings meist ganz Charakteristisches — hinreden, ohne 
auf die Frage einzugehen, hier aber braucht der Gedankengang 
auch gar nicht klar gelegt zu werden, denn hier fehlt ja mehr oder 
weniger jeder Gedankengang, und selb^t schon die Reaktionen 
sind oft nichts mehr als ein bloBes Hinschwatzen. Und so schlieBe 
ich mich Wreschners Mahnung zur Vorsicht an und gebe Wimmer 
recht, wenn er sagt: ,,In ethchen Fallen kann indessen die Form 
der Reaktionen das erwahnte Ausfragen mehr oder weniger iiber- 
fliissig machen.“ Sonst tritt mir aber aus alien Arbeiten der letzten 
Zeit die Wichtigkeit der Frage nach der Selbstbeobachtung ent- 
gegen. Ich habe sie daher fast durchgangig gestellt. 

Ich bin im iibrigen mit Wehrlin der Ansicht, daB es besser ist, 
nicht bestandig auseinanderzusetzen: So oder so sollt ihr es machen! 
Nachdem es an den vier Beispielen einmal erklart war, habe ich im 
allgemeinen inzwischen nicht ermahnt, sondem den Versuchs- 
personen vollig freie Hand gelassen und ihnen die Moglichkeit ge- 
geben, bald in die ihnen passendere Reaktionsweise — meist des 
Erklarens — zu verfallen. Aber selbst wenn ich hin und wieder eine 
neue Erklarang einschaltete, erfolgt e im allgemeinen keine Aende- 
rang der Art der Reaktion, und damit erledigt sich ein zweiter Ein- 
wand: der einer etwaigen BeeinfluBbarkeit und zu starken Lenk- 
barkeit der Versuchspersonen durch die etwa eingefiigten Er- 
mahnungen. Ich habe also im allgemeinen nach dem Zurafen 
des Reaktionswortes in keiner Weise die Kranken zu ermuntern 
gesucht, vielmehr rahig abgewartet. War bis dahin noch keine 
Reaktion erfolgt, so rief ich nach 30 Sekunden noch einmal das 
Reaktionswort. War sie nach 1 Minute noch nicht eingetreten, so 
brach ich ab und vermerkte: Keine Reaktion. Fiir besonders 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


281 


wichtig habe ich es gehalten auch den Gesichtsausdruck des 
Patienten zn beobachten: Sehr oft wurden Reaktionen unterdrfickt, 
dann pflegte in der Regel aber eine wohl meist unbewuBte auBere 
Reaktion wie ein Lacheln, ein Achselzucken und dergleichen ein- 
zutreten, dann bemerkte ich im Protokoll z. B.: ,,Lficheln nach 
2 Sekunden, Reaktion in Worten nach z. B. 27 Sekunden.** Ich 
forschte dann gewohnlich besonders eingehend nach und habe auf 
Grand der Beobachtung des Lachelns und ahnlicher derartiger 
„AffektauBerangen“, wie sie Stockmayer nennt, noch manche 
wichtige Zwischenassoziation feststellen konnen. Auch Isserlin 
bezeichnet diese mimischen Reaktionen als vollgiiltige. So hebt 
auch Jung in „Assoziation, Traum und hysterisches Symptom** das 
laute Lachen als Komplexzeichen hervor, und auch Nunberg hat 
bei seinen Untersuchungen fiber Atmung, Zitterbewegungen des 
Armes und psycho-galvanisches Phanomen stets charakteristische 
Veranderungen bei Komplexen gefunden. So spielen die korper- 
lichen Begleiterscheinungen eine wichtige Rolle bei psychischen 
Reaktionen, und so erscheinen auch in meinen Versuchen die 
mimischen Reaktionen, die unbewuBten motorischen Entladungen 
geheimer psychischer Vorgange, eben weil sie unbewuBt gescheh n, 
als AusfluB und Deckmantel oft besonders tiefgehender und daram 
lautlich gehe m bleibender Reaktionen. Ich habe im fibrigen stets 
nachdem ich die Zeit des Eintritts einer solchen AffektauBerung 
notiert hatte, die als Grenzzeit mir gesetzte Minute abgewartet. 
Meist trat dann — und auch das deckt sich mit Jungs Ergeb- 
nissen — noch eine lautliche, in der Regel mehr indifferente Re¬ 
aktion auf, wahrend die ursprfingliche, latent gebliebene dann auf 
Grand der mimischen AeuBerang mittels der AnschluBfrage sich 
unschwer hervorziehen lieB. 

In der Zeit vor dem Zurufen eines neuen Reaktionswortes habe 
ich mehrfach besonders apathische und gehemmte Kranke aufge- 
muntert und aufgerfittelt. 

Was die Messung der Reaktionszeit anbetrifft, so bin ich auch 
hierin Jung und Riclclin gefolgt: „Es wurden die Reaktionszeiten 
mit der Ffinftelsekundenuhr gemessen, wobei jeweilen mit dem 
Wortakzent der Zeiger losgedrfickt und mit dem Aussprechen die 
Reaktion gestellt wurde.“ 

Was die Zeiten der Vemehmung anbetrifft, so habe ich die 
Versuche im allgemeinen vormittags angestellt, also unter relativ 
gfinstigen Bedingungen ffir die Versuchspersonen, die dann noch 
nioht ermfidet waren. An die erste Versuchsreihe habe ich nach 
2 x 24 Stunden eine zweite und, sofem das moglich war und die 
Kranken nicht inzwischen entlassen Oder in andere Anstalten 
fiberffihrt waren, auch noch nach weiteren vier Tagen eine dritte 
Versuchsreihe angeschlossen. Doch habe ich mich innerhalb ge- 
wisser Grenzen nicht so sehr an diese Zeiten gehalten, sondem bin in 
bestimmten Fallen nicht unbedeutend davon abgewichen. Ich habe 
mich dann von dem Gesichtspunkte leiten lassen, in mogliohst ver- 
schiedener Stimmungslage die Versuche anzustellen. Das gait be- 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


Bonders fiir die mit epileptischen Dammerzustanden angestellten 
Versuche, dann aber auch fiir den Fall von Manie sowie einen Fall 
von Dementia hebephrenica (Font.). 

Krankenmaterial. 

Was die Versuchspersonen anbetrifft, so habe ich sie durchweg 
dem Krankenmaterial der Koniglichen psychiatrischen Klinik der 
Charity entnommen, und zwar habe ich Versuche angestellt mit: 
13 Fallen von Dementia hebephrenica s. praecox; 

17 Fallen von Dementia paralytica (einschlieBlich 2 Fallen von 
Dementia arteriosclerotica), femer mit 

13 Fallen von Epilepsie und Dementia epileptica sowie epilep- 
tisohen Dammerzustanden, und zwar teils mit ausgesprochenen, 
teils mehr im Anfangsstadium der Krankheit stehenden 
Fallen. 

AuBerdem habe ich noch zum Vergleich einige funktionelle 
Psychosen untersucht, und zwar: 

1 Fall von Manie; 

2 Falle von Melancholie; 

1 hysterischen Dammerzustand; 

1 po8tdiphtherische Stupiditat, und habe femer versucht — 
aUerdings ohne Erfolg — Beaktionen bei einer mongolo.den Im- 
bezillitat zu erzielen. 

Ich habe meine Untersuchungen sowohl an mannlichen wie an 
weiblichen Individuen angestellt, und zwar an 31 Mannem und 

18 weiblichen Personen. 

Was die Bildungsverhaltnisse derselben anbetrifft, so gehorten 
sie im wesentlichen den niederen Kreisen an. Nur 6 Versuchs¬ 
personen hatten eine etwas bessere als Volksschulbildung. 

Bewertung der Ergebnisse. 

Entsprechend der relativ groBen Zahl der Versuchspersonen 
muB ich mir es leider versagen, die einzelnen Versuchsprotokolle 
genau mitzuteilen, ich muB mich vielmehr darauf beschranken, 
diese im Auszuge wiederzugeben. Dementsprechend will ich auch 
von mehr allgemeinen Gesichtspunkten die Ergebnisse betrachten. 
Was die Einteilung anbetrifft, so bieten sich hier meines Erachtens 
recht viele Schwierigkeiten. Ohne die Vorteile des Wundt- 
Kraepelin-Aschaffenburgschen Schemas zu verkennen,, erscheint 
mir seine allgemeine Anwendung bei meinen Versuchen nicht wohl 
angangig; und zwar mochte ich mich dem vor allem anschlieBen, 
was Wekrlin und Nathan in Uebereinstimmung mit Wimmer in- 
zwischen gesagt haben: „Die haufigen Satzreaktionen erschweren 
die Einteilung der imbezillen Assoziationen betrachtlich“ — und 
die meiner Versuchspersonen verhalten sich ahnlich. ,,Mit der 
Kraepelin-Aschaffenburgschen Einteilung kann man sich nur aus- 
nahmsweise behelfen, fiir die Hauptzahl der Falle verbietet sich 


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aber die logisch-sprachliche Einteilung von selbst, da sie Satzen 
gegeniiber nur mit viel Zwang angewendet werden kann.“ Infolge 
dieser Eigenart fallen manche Vorteile dieses Schemas in sich zu- 
sammen, zudem meine ich, spielt die psychologische Entstehung 
der Reaktionen eine zu groBe Rolle, als daB man sie iibergehen 
konnte. Dem wird meines Erachtens das ZteAewsche Schema mehr 
gerecht, und die Modifikation von Wimmer erscheint mir in ihrer 
Einfachheit gerade fiir dieses Material besonders geeignet, wie ich 
schon oben ausfiihrte. Ich habe auch schon da von gesprochen, 
daB und weshalb ich meine, daB der Demente gar nicht in der Lage 
ist, sich nachtraglich etwas zurechtzulegen. Und so meine ich, daB 
man nicht wohl sagen kann, daB die Ver»uchsperson allein iiber die 
Zuordnung der Assoziationen entscheidet, wie es Gregor meint; 
eher konnte man vielleicht sagen, sie unterstiitze oder konne 
wenigstens den Untersucher dabei unterstiitzen. So will ich im 
wesentlichen die Einteilung Wimmer8 in erinnerungsbestimmte 
und nicht erinnerung^ bestimmte d. h. Symbolasf oziationen an- 
nehmen. Diese Einteilung laBt sich, wie ich vorweg bemerken 
will, auch bei Klangassoziationen und formalen Assoziationen 
durchfiihren. Wenn diese im allgemeinen wohl nicht erinnerungs- 
bestimmt sind, so ist es meines Erachtens doch noch ein Unter- 
schied, ob die betreffende Versuchsperson bei z. B. Stock—Stein 
sich dessen bewuBt ist, daB sie an die gelaufige Redewendung 
gedacht hat, oder ob sie es ohne diese Reminiszenz rein mechanisch 
hinspricht. 

Im iibrigen aber will ich von allgemeinen tabellarischen Ueber- 
sichten absehen, und zwar mit Riicksicht darauf, daB ein groBer 
'Teil der Falle sich rechnerisch uberhaupt nicht einbeziehen lieBe, so- 
dann weil nach meinem Dafiirhalten bei der so groBen Verschieden- 
heit der einzelnen Krankheitsformen untereinander, die durch die 
Unterschiede der einzelnen {Stadien und den jeweiligen Krankheits- 
zustand bedingt ist, eine einheitliche Zusammenfas. ung unmoglch 
ist, ja, eventuell nur das Gesamtbild verschleiem wiirde. Es deckt 
sich das im wesentlichen mit dem, was ich anlaBlich meiner Ver- 
suche iiber „Zeugenaussagen Geisteskranker“ fand und auch dort 
speziell iiber die Tabelle der nicht vollentwickelten Psychosen aus- 
gesprochen habe, nur mit dem Unterschied, daB es hier, wo ich 
leichtere und ganz schwere Falle habe, wahrend sie dort noch immer 
mehr gleichmaBiger sich verhielten, auch fiir die vollentwickelten 
Psychosen gilt. Die groBe Anzahl der Falle zwingt mich dazu, sie 
mehr allgemein zu beurteilen, zwingt mich auch dazu, manches 
auBeracht zu lassen, was andere hervorheben, wo es sich um einen 
einzelnen oder nur wenige Falle handelt. Endlich muB dabei eine 
Rolle — leider — das Moment spielen, daB ich die Versuche lange 
vor Kenntnis mancher Ergebnisse angestellt habe, die heute als 
wichtig hervorgehoben sind. 

Nach diesen einleitenden Erorterungen will ich im folgenden 
zunachst die einzelnen Falle betrachten. 


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Dementia hebephrenica s. praecox. 

Beziiglich der Falle von Dementia praecox will ich mich kiirzer 
fassen, da ich sie ja, wie erwahnt, schon friiher zusammengestellt 
habe. Ich hob dort hervor, daB sie — so verschieden sich auch die 
einzelnen Falle verhalten mogen — doch durchweg die Zeichen des 
Schwachsinns zeigen, und daB vor allem Stereotypien und 
Perseveration hervortreten. Eine groBe Rolle spielt der Nega- 
tivismus, der zu Reizwortwiederholungen, ja, zu Versagen jeder 
lautlicher AeuBerung fiihrt und besonders in dem einen Falle sich 
geltend macht, wo bei einer ersten Vernehmung in der iiblichen 
Weise reagiert wurde, wahrend bei einer zweiten spateren Priifung 
das Verstummen sich geltend machte in dem MaBe, wie die 
motorischen Stereotypien zugenommen hatten. Die lautlichen waren 
von diesen unterdriickt worden. Ich habe von alien diesen Verhalt- 
nissen noch eingehender spater zu sprechen. Es finden sich zuweilen 
ganz leidliche Reaktionen. Es sind in der Regel formale Assoziati- 
onen im Sinne Wreschners , die Reaktionen sind meist nicht er- 
innerungsbestimmt. Verschwindend wenig finden sich springende 
Assoziationen. Wenn sie da sind, treten sie unvermittelt auf. 

Es scheint mir, als ob der Hebephreniker wenig dazu neigt — 
dazu hangt er, abgesehen von den Erregungszustanden und selbst 
da noch in gewissem MaBe, viel zu sehr am Wort; er kann sich da von 
nicht losmachen von einem Sprung, einem weniger mechanischen 
ProzeB kann bei ihm nur dann die Rede sein, wenn z. B. Erregungs- 
zustande die Hemmung etwas herabmindern. Es ist im Grunde 
genommen dasselbe, was Wehrlin sagt, daB der Schwachsinn eine 
ausgesprochene Tendenz zur Erklarung hat. Aber diese Er- 
klarungstendenz zeigt sich hier nur in einzelnen Fallen, meist siild 
die Reaktionen kurz, und die Erklarungstendenz tritt zuriick oder 
verschwindet im Wort^alat. Im allgemeinen folgen immer mehxere 
Assoziationen derselben Gattung auf einander, es ist das auch eine 
Perseveration, die Perseveration der Assoziationsform, wie es Ziehen 
nennt. Hervorheben will ich noch kurz, daB sich auch hier schon 
das von Kraepdin hervorgehobene Spielen mit Silben und Worten 
geltend macht, sowie die Ueberfiihrung des Reizwortes in das 
Diminitivum (Kaiser—Kaiserlein). 

Wenn ich die Falle im einzelnen hier anfiihre, so zeigt das 
Protokoll der Pat. Th .. vorwiegend, ja, fast durchweg die Ueber- 
fiihrung des Reizwortes in den Plural bezw. bei Adjektiven in den 
Komparativ, z. B.: Fisch — Fische; Stock — Stocke; schlecht — 
schlechter; recht — rechter und dergleichen. 

Hierher gehoren wohl auch Reaktionen, wie „Kaiser — 
Kaiserin“; „Schlaf — schlafen“; ,,Verstand — verstanden“. 
Wehrlin meint zu dieser Form: ,,Es bleibt die Ausfiihrung und 
Satzbildung in den primitivsten Tautologien stecken“, und er meint 
femer dazu: „diese Phanomene deuten eine gewisse Assoziations- 
leere an, wie sie der emotionellen Stupiditat eigentiimlich ist. Es 
fallt eben dem Patienten einfach nichts Neues ein ; es geht ihm, wie 
dem erschrockenen Kandidaten im Examen.“ 


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Es ist das wie mit der Ueberfiihrung des Reizwortes in das 
Diminutivum. Beides verlangt kein Denken, geschieht rein 
mechanisch und trotz — vielleicht richtiger gesagt infolge — der 
Apathie. Es ist, so mochte ich mich ausdriicken, hier eine etwas 
verfeinerte Echolalie, gewissermaBen — etwas laienhaft ausgedriickt 

— das Vorstadium der reinen Echolalie; es ist derselbe Klang, das- 
selbe Wort, und so gehoren alle diese Bildungen den Kiang- 
assoziationen zu, ebenso wie Armut — arm. Aueh Wreschner faflt 
diese alle zusammen zu der 2. Gruppe seiner formalen Assoziationen 
als durch Erganzung bedingte. Ich werde bei der allgemeinen 
Analyse darauf zuriickkommen, ebenso noch genauer iiber Klang- 
assoziationen und die Jung- Ric Wische Ansicht von ihrem Auftreten 
als Zeichen einer Abflachung des Reaktionstyps sprechen. Sie sind 
meines Erachtens hier ein AusfluB reiner Gedankenleere. Das zeigt 
mir auch die Beantwortung der AnschluBfrage: Woran dabei ge- 
dacht ? Diese Pat. Th. gab mir gerade bei diesen Pluralreaktionen 
die Antwort: ,,Mir fallt wirklich nichts Anderes ein“, „ich kann 
nicht anders, mir fallt nichts ein.“ Zwischendurch finden sich bei 
dieser Patientin auch wieder bessere, kompliziertere Reaktionen, 
gleichsam als Ueberrest der friiheren Denkfahigkeit, z. B. Zucker J 

— Mehl. Woran gedacht ? ] Mehl ist auch weiB wie Zucker. 
Schlange] — Hering. Der sieht auch so aus, so grau. 

An bestimmte Gegenstande hat die Versuchsperson nur 
zweimal gedacht: Patientin hat bei „Stock“ an einen braunen 
Spazierstock gedacht, den sie kiirzlich im Schaufenster sah. Statt 
nun aber mit ,,braun“ oder ,,Schaufenster“ zu reagieren, 
uberwiegt die Perseveration der Assoziationsform, sie reagiert mit 
der so oft angewandten Pluralform ,,Stocke“. 

Die zweite Individualassoziation ist Tod — Kirchhof, von der 
ich gleich sprechen will. 

Eine weitere Individualassoziation tritt bei der zweiten Ver- 
suchsreihe, die sich sonst wie die erste verhalt, hervor. Sie reagiert 
auf „Fisch“ mit ,,der Fisch schwimmt im Wasser“, und zwar hat 
sie an die Goldfische im Tiergarten gedacht, wo sie kiirzlich mit der 
Mutter war. 

Von alien 36 Assoziationen sind 17, also fast die Halfte, ein- 
fache Ueberfiihrungen in das Verbum, Adjektivum oder dergleichen. 
Bei diesen ist die Reaktionszeit meist relativ kurz, am kiirzesten 
bei Stock — Stocke mit 3,1”, am langsten bei Krankheit — krank 
sein mit 35,1” (wobei sie angeblich nicht an sich dachte). Am 
langsten ist die Reaktionszeit bei Tod—Kirchhof (58”) entsprechend 
einer gewissen Gefuhlsbetonung, wie es zuerst schien. Allerdings 
wird der Wert der Reaktion erheblich eingeschrankt durch die 
AnschluBfrage („Ich dachte an die schonen Kreuze, die sahen schon 
aus!“). Dadurch erscheint die Gefuhlsbetonung gering, die 
Reaktion als solche bleibt an sich auBerlich gut, wenn sie auch ihrem 
Wert nach tiefer steht, als es scheint, indem auch hier wieder das 
rein AeuBerliche das MaBgebende ist. 

Monatssohrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXX. Hoft 4. 19 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Wahrend sich bei Th. vorwiegend formale Assoziationen 
durch Erganzung fanden, traten bei dem 23 jahrigen Tischler We., 
der der Typus eines Katatonikers ist, statt ihrer mehr die durch 
klangliche Aehnlichkeit bedingten formalen Reaktionen hervor. 
Hier wie dort sind es meist einfache Wortreaktionen. 

Ich werde der Kiirze halber die erste Vernehmung stets mit VI 
die zweite mit V2 u. a. w. bezeichnen. We. war bei VI in einem Zu- 
stand der Erregung maCigen Grades, iu dem er manches inkoharente 
Zeug redete. In diesem Stadium nun liefert er Reaktionen, wie z. B. 
„Fisch — Schiff, Fisch — frisch, Wald — alt, Schlaf — Schaf, 
rot — esse Brot“; auch „Gift — gibt“ gehort wohl hierher. 

Noch interessanter sind aber einige reine Klangast oziationen 
wie z. B. ,,Hochzeit — Hoheit hat Zeit, das ist Hochzeit“, wobei 
entschieden eine erklarende Tendenz sich geltend macht, ebenso 
bei „hungrig — hungere ich“. Hierher gehort wohl auch ,,schmerz- 
haft — heftige Schmerzen, das ist der Marz“, ,,Verstand — Stand 
verkehrt auf“, Gehirn — gern hor ich“, „Krankheit — heile Krank- 
heiten“. Es sind dies meines Erachtens Assoziationen, die rein auf 
den Gleichklang aufbauen und die Neigung zum mechanischen 
Zergliedem, auf das rein AeuBerliche zeigen, wahrend ein innerer 
Sinn, sofem er iiberhaupt da ist, das nebensachliche Moment 
bildet. Ein Spiegelbild der motorischen Katatonie ist die Assoziation 
„Armut — links der Mut, der linke Arm hat Mut, d. h. Armut“, 
und zwar ist diese Reaktion insofern ein Spiegelbild der motorischen 
Handlung, als der Patient dauemd den linken Arm in Schwur- 
stellung erhoben hielt. Als Klangassoziationen im Verein mit 
Verbigeration sind wohl die aufeinanderfolgenden Reaktionen auf- 
zufassen: 

„Sunde] — ich bin gesund; 

Tod] gesund dem Tode gefolgt“; 

„Uhr] — Uhr; 

zwolf] — Zeiger hat die Uhr.“ 

Hier wirkt die Reaktion fort, ebenso wie bei ,,Hochzeit 
-— Hochzeit halten die Roten“, nachdem vorher das Reaktionswort 
rot gerufen war. 

Diese Perseveration von Wortelementen ist eine Iterativ- 
erscheinung, die auch von Sommer als charakteristisch fur 
Katatonie bezeichnet wird. 

Zwischen derartige Reaktionen eingestreut findet man nun 
plotzlich ganz unerklarliche, so z. B. „schon — ja“, ,,rot — bleibe 
— blau“. Es ist diese letzte Reaktion hochstens als eine Art Gegen- 
teilsassoziation aufzufassen, die durch das unverstandliche ,,bleibe“ 
eventuell durch Allitteration, also Gleichklang eingeleitet ist; 
ebenso unerklarlich, aber der eben genannten Reaktion ent- 
sprechend ist wohl „Recht — in, nie, niemals“. 

Zwischendurch findet man dann einfache Wortwiederholungen, 
fehlende Reaktionen und ganz verstandige. Fast alle Reaktionen 
sind kurz. Die Reaktionszeiten schwanken zwischen 3 und 46,2", 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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iibersteigen aber nur vereinzelt die Zeit von 10". 3 Tage spater 
war die denkbar ungiinstigste ,,Konstellation“. Hier erfolgte 
keinerlei lautliche AeuBerung, und auch nach weiteren 3 Tagen 
fehlte meist die Reaktion. Doch wiederholte der Patient fiinfmal 
einfach das Reizwort und lieferte sonst nur folgende Assoziationen: 
,,Fisch-Schiff“, Professor — ich weiB schon“, ,,Hochzeit — Hoch- 
zeit, Gleichgewicht“, ,,Armut — Arm, mutig“, ,,schlecht — es ist 
zwei“. Diese letzte zuerst sinnlos scheinende Reaktion entpuppt 
sich bei der Frage: ,,Woran gedacht?“ auch als Klangassoziation. 
Denn damit zusammen heiBt sie: ,,schlecht — es ist zwei. Das ist 
die JahresVende von zwei Geschlechtern“ Es erfolgen also auBer 
der sinnlo3en Reaktion bei Professor stets Klangassoziationen, 
und zwar stets in relativ kurzer Zeit, durchschnittlich in sechs 
Sekunden. Als eine Wiederholung bezw. Umwandlung eines sinn- 
lichen Reizes in eine motorische Handlung ist es wohl aufzufassen, 
wenn er bei ,,stinkend“ nach vier Sekunden die Nase riimpft, ohne 
auch bei langerem Warten eine sprachliche AeuBerung von sich 
zu geben. 

Wahrend er dann nach 14 Tagen wieder vollig versagte, 
lieferte er nach weiteren 14 Tagen einen inkoharenten Wortsalat, 
der an das Reizwort ankmipft und in dem alte mechanisch fest- 
sitzende gelaufige Liederverse, die modifiziert und kritiklos anein- 
andergereiht wurden, eine Rolle spielten. Als Beispiel fiige ich an: 

Gott] — deutscher Aar, o schwinge mit dem Liede kuhn — dieh 
empor, wo Lieder bluh’n. Heil dir, Immanuel. Die Stimme des Wortes 
Gottes in der — (schlagt mit dem Loscher auf). Leme — (nickt) — zu ihm 
kommen wir getreten. Du Quell draus alleWeisheit fleuBt, die sich in fromme 
Seelen geuOt (deklamiert den Vers weiter). 13" 

Doch reagierte er nur auf einzelne Reizworte hintereinander, 
sehr bald losten die Reizworte dann keine Reaktion aus, es trat 
wieder volliges Verstummen ein, das nur noch einmal bei dem Worte 
Armut folgende Reaktion ausloste: 

,,Armut] — Von — einem. Das Wort Gottes — geht zu seinen Toren 
ein, denn er tut Wunder. Bis hierher hat mich Gott gebracht durch seine 
grofie Giite (deklamiert den Vers weiter). Hab Ehr und Dank fur deine Treue. 
Durch mein Gedachtnis schreib ich an: bis hierher und nicht weiter. Ich 
kann nicht anders. Die Gemeinschaft des heiligen Geistes ist mit uns (steht 
auf). Friede sei mit uns, fur Konig und Vaterland mit Gott. Die Hand dem 
Armen zum Abschied.“ 

So sieht man, wie bei diesem im allgemeinen sprachlich 
vollkommen gehemmten Patienten zwischendurch sehr reichliche 
Wortreihen auftreten, sinnlos, meist schon in der Konstruktion des 
Satzes erinnemd in mancher Hinsicht an das spater zu erorternde 
hebephrene Erregungsstadium, zu dem es iibrigens nicht viel spater 
auch bei diesem Patienten gekommen ist. Er zeigt, wie Ziehen 
es nennt, ein Hervortreten „unverstandener Plagiate von anderen". 
Ich finde bei diesem Hebephreniker das, was Heilbronner und 
Goldstein festgestellt haben (siehe auch GaUus , Ueber Assoziations- 
priifung), wenn auch mehr fiir Depressionen, daB gehemmte Kranke 
unter Umstanden sprachliche Produkte vom Charakter der Ideen- 

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Rohde.. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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flucht liefem konnen. Es ist ja in diesem Falle manches anders, 
und doch glaube ich ihn dazu heranziehen zu konnen. Ich finde 
als das Charakteristischste bei ihm den plotzlichen Wecbsel von 
Verstummen und Stupor mit Bildung inkoharenter Reihen in der- 
selben Sitzung. 

Eine sehr schwere Apathie, die iiberhaupt keine lautliche 
AeuBerung zulaCt, zeigt die Patientin And., eine ahnliche zeigen die 
Patientin Kle. und Ko. Die Patientin And. saB vollig teilnahms- 
los da, ohne jede Reaktion, gab keine Zeichen eines Auffassens des 
Reizwortes von sich, so daB ich von dem Versuche abstehen muBte. 
Und ahnlich war es bei dem Patienten Ko. 

Ko. reagiert zuerst mehrfach mit einfachen Wiederholungen, 
dann, indem er das fiir intellektuelle Apathie so bequeme „Ich 
weiB nicht“ gebraucht, dann ist von ihm iiberhaupt keine Auskunft 
mehr zu erhalten, er reagiert nicht mehr, wenigstens nicht so, daB 
man es kontrollieren konnte. Er sitzt teilnahmslos da, den Kopf in 
die Hand gestiitzt, mit geschlossenen Augen. Bei Zurufen erfolgt 
nur eine leichte motorische Entiadung: er zuckte fortgesetzt die 
Achseln, um schlieBhch aufzufahren: „Ach, lassen Sie mich zu 
Bett.“ Hier gilt meines Erachtens, was Ziehen hervorhebt: ,,Reize 
wecken keine Vorstellungen“, und zwar beruhe das zum Teil auf 
der allgemeinen Apathie, zum Teil sei es aber auch als primare 
Assoziationsstorung aufzufassen. 

Die gleich im Anfang aufgetretenen Reaktionen: 

,,Tod] — Tod, ja, ist bald so. Woran gedacht ?] — DaB mir 
hier was eingegeben ist; solange wars nicht schlimm. Jetzt ists 
schlimmer. Das ist beinahe Tod“ und die unmittelbar darauf 
folgende: 

„schon] — so eine verfluchte Blase", 

„Gift] — das verfluchte Gift, was ich hier kriegte" stellen 
meines Erachtens auch nichts anderes vor als eine Gedanken- 
perseveration. 

Spater konnte ich weder mit And. noch mit Kow. Versuche an- 
stellen, da beide inzwischen in andere Irrenanstalten iiberfuhrt 
waren. 

Was den Patienten Kle. anbetrifft, so wiederholte er fast stets 
einfach das Reizwort, seine einzige bessere Reaktion ist: „Wald — 
Wiese, Wald, Feld“ nach 22,4". Hier sind aber selbst, wenn er die 
Reizworte einfach wiederholt, die Zeiten so lang, daB er entschieden 
entweder Assoziationen unterdriicken muB, was wohl kaum an- 
zunehmen ist, oder es diirfte ihm nichts anderes einfallen, trotz 
eines gewissen Bemiihens. Ich glaube an das Letztere, ich glaube, 
daB der Patient die Wahrheit sagt mit seinem immer wieder- 
kehrenden Worte: ,,Ich denk an nichts." Er sitzt eben stumpf und 
teilnahmslos da. Als Perseveration ist es vielleicht aufzufassen, 
daB die Reaktionsworte, die keine Reaktion hervorrufen, hinter- 
einander stehen, es ist also auch eine Perseveration der Asso- 
ziationsform oder hier vielmehr ein perseverierendes Fehlen jeder 
Assoziation. 


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Rohde. Assoziationsvorg&nge bei Defektpsychosen. 


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Er liefert im ganzen 30 einfache Wortwiederholungen, 5 mal 
fehlt jede Reaktion, 1 mal (siehe oben) liefert er eine Erganzung 
zu gelaufiger Redewendung. 

Alles dieses waren Falle, welche sich im Stadium des hoch- 
gradigsten Stupors befanden, bei der zuerst genannten Patientin 
Th. bestand die Krankheit nachweisbar ca. 3 Jahre. 

Ein sehr interessantes, meines Erachtens typisch hebephrenes 
Resultat liefert der 19 jahrige Hermann Sch., dessen Dementia 
hebephrenica auf dem Boden einer Lues heredetaria entstanden ist. 
Dieser Patient, der mit halbjahriger Unterbrechung seit Januar 
1907 in der Klinik behandelt wird und hochgradig verblodet, zu 
irgendeinem verniinftigen Tun nicht zu gebrauchen ist, liefert trotz- 
dem noch manche recht verniinftige Assoziationen: So reagiert er 
nach 4" auf Siinde mit: „Wer Siinde tut, der ist der Siinde Knecht“, 
auf siiB mit: ,,SuI3 ist der Honig“, und auch in der zuerst unver- 
standlichen nach 4,1" auftretenden Reaktion ,,lieben] — lieben ist 
zweierlei“ steckt ein gewisser Sinn, indem er die Begriindung dafiir 
gibt: ,,Wenn Sie ’ne Braut haben und setzen sich mit ihr in den 
Humboldthain, und die Luden hauen Ihnen dann in die Fresse, 
wie gefallt Ihnen das!“ Man sieht, wie weit bisweilen die Phantasie 
noch zu gehen vermag. Bei V2 erfolgt nach 9“ bei lieben die 
Reaktion: ,,Wenn man drauBen ist, und macht es doch“, womit 
meines Erachtens wohl dasselbe wie bei V1 gemeint ist. Sch. reagiert 
mit ,,ist zweierlei“ noch bei Fisch, hier aber ist das ,,zweierlei“ 
wohl mehr ein fortlebendes Wort; er vermag es auch nur mit Achsel- 
zucken und Lachen zu begriinden. Eine langere Reihe tritt wieder 
n V3 auf bei ,,gehen — das ist zweierlei, der eine sagt jehen, der 
andere, wenn er fein sein will, gehen. Man sieht dann, wie die Weiber 
so fein die Rocke hochheben und fein sein wollen.“ Er bewegt sich 
bei alien diesen Reaktionen nur in dem einen beschrankten Ge- 
dankenkreis. Eine ziemlich weitgehende Assoziation erfolgt auch 
bei „Schlange — falsch ist sie. Es ist besser, wenn man einem 
Menschen direkt etwas sagt, als hinter dem Riicken, aber zuletzt 
wird er barbeiBig.“ 

Im iibrigen perseveriert bei dem Patienten eine Vorstellung, 
und zwar, so mochte ich sagen, eine Klangvorstellung: ,,rot, Tod, 
T6pfertod.“ Es ist dies eine sinnlose Wortzusammensetzung, wie 
ich sie beim hebephrenen Erregungsstadium noch mehrfach ge- 
funden habe. Dieser unklare Begriff, von dessen Entstehung er 
f elbat — ob auf Grund eines friiheren Erlebnisses oder ohne Grand 
war leider trotz eingehender Fragen nicht sicher zu kontrollieren — 
angibt: „Er hat eins iibern Kopf gekriegt, auch das Riickgrat ging 
entzwei“, finden wir noch sehr oft, er klebt an dieser einen Vor- 
stellung und kommt trotz mancher Zwischenvorstellungen immer 
wieder darauf zuriick. DaB er bei ,,rot“ und „Tod“ damit reagiert 
ist ja erklarlich, aber auch sonst tritt er, meist in inkoharente Form 
und zum Teil auch modifiziert, hervor: z ; B.: 

hungrig] — hungrig, Hahn, Topfertun. 

Krankheit] —• Schande. 


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R o h d e , Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Woran gedacht ? ] rot, tot, Topfertod u. s. w. Es ist das jeden- 
falls eine Iterativerscheinung. Welche Ursache hat aber wohl die- 
selbe ? Und da gibt meines Erachtens die Umbildung dem Klang- 
bild entsprechend einen gewissen Anhalt. Er reagiert z. B. bei 
„Tod“ — mit ,,rot, tot, Topfertod“, bei hungrig mit ,,hungrjg, 
Hahn, Topfertun“, er andert also die Redewendung durch Anklang. 
Und so meine icb, es wirkt also eine vorher gebeferte Reaktion 
fort, aber sie wird modifiziert durch auBere neue Einfliisse. Als 
Paralogie sie zu deuten, halte ich nicht fiir angebracht. Ich glaube 
vielmehr hier eine Abart dessen zu baben, was Sommer als sub- 
jektiv praformierte Reaktion bezeichnet. Sommer definiert diese 
dahin, daB das Reaktionswort weder mit dem Reizwort noch mit 
einem friiheren in assoziativem Zusammenbang steht, sondern 
ein im BewuBtsein des Individuums haufig anwesendes Element 
darstellt, welches sich infolge des Reizes ohne assoziative Beziehung 
auf diesen in den Vordergrund drangt. Das trifft meines Erachtens 
an sich hier zu, aber doch nicht vollig, indem dieses sich in den 
Vordergrund drangende Element dem Klange des Reizwortes sich 
auch eventuell anpaBt. Es ist aber subjektiv praformiert im 
Sinne Sommers, weil es auch zu anderen Zeiten hervortrat; in 
mancher Hinsicht konnte man es wohl auch den sprunghaften 
Assoziationen zurechnen, aber denen, die stabile Vorstellungs- 
gruppen darstellen, deren Inhalt durch feste im Zentrum der Per- 
sonlichkeit wurzelnde Ideenverbindungen pradisponiert wird 
(Nathan). 

Aehnlich perseveriert ein zweiter Ausdruck, „der Gedanke“: 
schon in der Krankengeschichte tritt er ofters hervor, viel mehr 
aber noch hier, und zwar ohne jeden Zusammenhang. 

Z. B.: Professor] — da ist nun wieder der Gedanke, Stock] — ist ,ti¬ 
rade. als ob ieh keine Gedanken habe, Gehirn] — Gedanke, geht. ja so weiter. 

Wald] — da ist der Gedanke weg u. s. w. 

Eine reine Klangassoziation ist z. B. recht — rechts; der 
Patient liefert auch mehrere Worterganzungen, z. B. Fisch — 
Fischschuppen, Gewitter — Gewitterschwiile, und auch Hochzeit 
— Hochzeit zu Kanaan mochte ich hierher rechnen. Wortwieder- 
holungen sind sehr selten, Gegenteilsassoziationen finden sich so 
gut wie gar nicht. Ganz sinnlos sind Reaktionen wie „Uhr — ja, 
ja, kommtauch“, ,,Verstand — ja ja so ist det“ unddergleichen. 

Sie beweisen mir eine zweifellos bestehende Gedankenleere, 
die durch nichtssagende Redensarten verdeckt ist. Und diese Ge¬ 
dankenleere verhindert auch das Auftreten von hoherstehenden, 
z. B. logischen Assoziationen. 

Die erwahnten Assoziationen entsprechen wohl den Allgemein- 
assoziationen Wimmers mit ganz unbestimmten adjektivischen und 
ahnlichen Zufiigungen, und zwar jenen Allgemeinassoziationen, die 
nach Wimmer sehr unbestimmt und verblichen sind. Die Reaktion 
oj&j ja, so ist det“ gerade bei Verstand, wie iiberhaupt das Vor- 
kommen solcher Reaktionen gerade bei hoher stehenden Reiz- 
worten entspricht wohl auch der Feststellung Wreschners, die ich 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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auch sonst bestatigt gefunden habe, daB die „ Qualitat der Reaktion 
um so minderwertiger wird, je holier die des Reizwortes war.“ 
Die Reaktionszeiten hierbei sind nicht anders wie sonst, sonst 
wiirde ich hier eine Reaktion auf einen anderen Reiz — unabhangig 
vom zugerufenen Reizwort — annehmen. Immerhin halte ich es 
auch hier nicht fur ganz ausgeschlossen. Als etwas Mechanisches 
oder richtiger Altgewohntes ist es wohl aufzufassen, wenn er auf 
,,Berlin“ mit „Berlin, den 10.“ reagiert. 

Auch bei V2 tritt ,,der Topfer“ wieder hervor; hier liefert 
der Patient eine relativ groBe Menge von Wortwiederholungen, 
bei VI war er mehr hyperthymisch, bei V2 iiberwiegt die Apathie. 
Bei V2 tretens onsfc viele gleiche Reaktionen auf wie bei VI. Neu 
sind Reaktionen wie „Professor — Dr. N.“ (der ihn bisher be- 
handelt hatte), ,,Schlange — blind“, ebenso wie die ganz sinnlose, 
echt hebephrene Reaktion: 

„Kaiser] — Kaiser Karl X., der wird von der Seite gednickt und 
dadurch wird die Erde gehoben“ und die fast an Ideenflucht erinnemde, 
aber nicht minder sinnlose Reaktion: 

„stinkend — na, ja, etwas angstlich war ich als 5jahriger Junge. 
In die BadstraOe trug Vater Sack und Beil, und wir gingen vorbei, da 
sagt er: Das weifi ich nicht. Da gingen vor uns drei feine Damens, und 
der eine hebts hoch, der andere nicht, und da duftets.“ 

So kommt hier ganz zum SchluB der Begriff des Reizwortes 
doch noch zum Vorschein. Es scheint mir fast so als ob das 
bei VI bei ,,Gehen“ GeauBerte: ,,Man sieht, wie sie'so fein die Rocke 
hochheben u. s. w.“ hier wieder zum Vorschein kommt. Sinnlos 
ist die Reaktion ,,schon — na ja, Zwimsfaden, wenns nun aber so 
ist, dann schmeiBt der eine mit Dreck, der andere mit Draht.“ 

So tritt auch hier wieder, wie uberhaupt bei sehr vielen meiner 
Versuche mit Dementia praecox die Tendenz der Aneinander- 
reihung sinnloser Wortreihen hervor, die teils sofort durch das 
Reizwort, zum kleineren Teile durch die AnschluBfrage, zum Teil 
wohl auch unabhangig von beiden manifest wird. 

Neben teils weniger sinnlosen, teils sogar recht vemiinftigen 
Reaktionen wie ,,Stock — Wandern ohne Rast“ treten also auch 
hier ganz inkoharente zwischendurch auf, ferner Wortwiederholungen, 
Klangassoziationen und einige perseverierende Vorstellungen. In- 
dividualassoziationen gehoren zu den groBten Seltenheiten, sind 
uberhaupt kaum nachzuweisen. 

Die Reaktionszeiten schwanken hier nicht so stark, sie sind 
fast nie langer als 10". 

Eine auBerordentliche Armseligkeit in der Ausdrucksform 
zeigen die Patienten Mo. (Dementia paranoides) und Kl., bei welch’ 
letzterem eine sichere Entscheidung dariiber, ob es sich um eine 
Dementia hebephrenica oder eine Stupiditat handelte, nicht 
moglich war. 

Die Patientin Mo. zeigt an sich gar nicht so schlechte 
Reaktionen, sie reagiert aber fast immer in derselben ungeschickten 
Form, z. B.: 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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,,Berlin] — das Wort Berlin 1st die Hauptstadt. <( 

„ Verstand] — das Wort Verstand ist im Gedachtnis.“ 

,,8iifi] — das Wort siifl ist im Zucker “ u. s. w. 

Wenn man von der fast durchweg angewandten Form „das Wort 
kommt vor“ ab3trahiert, so sind die Reaktionen gar nicht so 
schlecht (Verstand — Gedachtnis, suB — Zucker, Hochzeit — 
Unschuld, schlecht — Kost u. s. w.). Es ist dies meines Erachtens 
ein Ueberwiegen der debilen Ausdrucksform, eine Verbigeration, 
die die vorhandenen Reaktionen sehr stark beeinfluBt, aber nicht 
so stark ist, daB diese verschwinden. Es leuchtet mir durchaus ein, 
daB bei weiterem Fortschreiten des Krankheitsprozesses die wirk- 
hchen Reaktionen auf diesem Wege latent bleiben und erdriickt 
werden konnten von dem stereotypen: ,,Das Wort kommt vor“, 
ohne Zusatz. Zum Teil ist das wohl auch bereits geschehen, 
wenigstens mochte ich in diesem Sinne Reaktionen auffassen, wie 
,,Hochzeit — das Wort Hochzeit kommt vor“, ,,rot — rot kommt 
oft vor“ u. s. w. Diese Reaktionen treten hier nur vereinzelt auf. 

Haufiger finden sich solche verstummelten Assoziationen bei 
Kl. Er gebraucht statt ,,das Wort kommt vor“ die Redewendung 
„der Mensch ist“, und so reagiert er bei „Verstand“ mit ,,Der 
Mensch hat Verstand“, ,,Schlaf — der Mensch ist im Schlaf“, 
,,Recht — der Mensch macht was richtig“. Weitergehend ist schon 
„Armut — der Mensch ist arm, wenns ihm schlecht geht“ (21“); 
als sinnvolle Reaktion kann man z. B. ,,tanzen — Musik“ auffassen, 
eine Reaktion, die er aber wieder einkleidet in ,,der Mensch 
tanzt, wenn Musik ist“. Hier ist die eigentliche Reaktion ,,wenn 
Musik ist“ nicht unterdriickt, die intellektuelle Apathie ist hier 
durch das fiir ihn gefiihlsbetonte Wort iiberwunden, die bei den 
fur ihn neutralen Reizworten im Vordergrund stand. So bleibt bei 
diesen die Reaktion latent, hier ist sie liber die psychische Schwelle 
gehoben. Im iibrigen bevorzugt der Patient die Satzform; daB das 
,,der Mensch ist u. s. w.“ wirklich nur als rein mechanische Reaktion 
erfolgt, zeigt sich wohl am besten in: 

,,Tod — Wenn der Mensch stirbt, ist er tot. 

Woran gedacht ?] An bestimmten Menschen nicht; es kann ja auch 
ein Tier sein. 

Weshalb denn Mensch gesagt ?] — Das kam mir so ein. 4 4 

Sehr vereinzelt findet man hier sinnvolle Reaktionen (,,schmerz- 
haft — die Wunde ist schmerzhaft“, ,,siiB — Zucker ist siiB“), wohl 
aber sehr viel rein schwachsinnige, wohin ich z. B. ,,Schlaf — der 
Schlaf ist gut“ rechnen mochte. 

Individualassoizationen sind hier gar nicht hervorgetreten, 
direkte Wiederholungen nur sehr selten. 

Ich glaube nach diesem Protokoll doch mehr an eine Apathie 
mit hebephrenem Defekt als an eine stuporose Sperrung. Ich komme 
spater noch auf die Assoziationen des reinen Stupors zuriick. 

Diesem apathisch-stupiden Zustand gegeniiber, der sich bei v 2 
ganz ahnlich verhalt, nur daB hier Reaktionen auftreten, die deutlich 
ein Steckenbleiben in der Reaktion zeigen (Fisch — der Fisch ist“, 


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Rohde, Assoziationsvoi gunge bei Defektpsychosen. 


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„rot — der“), verhalt sich die schon erwahnte Dementia paranoides 
Mo. doch wesentlich anders. Auch sie hat, wie schon erwahnt, eine 
Aehnlichkeit in der Ausdrucksform mit Kl., aber wahrend hier die 
Hemmung die Hauptrolle spielt, sind bei ihr die paranoiden Vor- 
stellungen im Vordergrund. Sie gibt mehrfach an Individual- 
vorstellungen zu haben, zum Teil mag das richtig sein, zum Teil 
aber sind sicher keine vorhanden, und es tritt nur ein nachtraglich 
sich einstellendes fast ideenfliichtiges durch die zusammenhangs- 
und systemlosen Wahnideen hervorgerufenes Geschwatz hervor. 
Diese Wahnideen beeinflussen demgemaB die Reaktionen oder 
weniger die Reaktionen selbst als die Ergebnisse der Rubrik 
„Woran gedacht ?“ Die eine Wahnidee perseveriert, sie beherrscht 
die Patientin aber nicht so vollstandig, wiees z. B. beim Paranoiker 
der Fall ware, sie laBt eine rein auBerliche, ohne Beteiligung des 
Denkens erfolgende Reaktion zu. Bei der angeschlossenen Frage 
troten nun die perseverierenden Wahnideen hervor. So reagiert 
sie z. B.: 

.,Schlaf] — Schlaf ist niitzlich. 

Woran dabei gedacht?] — An die 12. Stunde in meinem 21. Jahre. 
Das Wort heiOt einsehen. Ich bin Elja, Fiirsten zum letzten Weltende mit 
Christus zu einer Kindheit. Liebe Mama, du sollst mit mir fliehn zum 
Ehestande zu Eurem Herrn Kronprinz. Um 12 Uhr gehort. In Konigshutte, 
Beuthen a. Oder. In Schlesien, den 3. Juli 1900. Ich hab den Satz einmal 
verbrannt. Wieder hinausgehoben aus dem Feuer des Ofens. Dem Pflege- 
haus der Heilanstalt in Lublinitz. 4 * 

Man sieht, wie durch die angeschlossene Frage dieses in- 
koharente, durch Wahnideen beeinfluBte Geschwatz sich hervor- 
locken laBt. 

Diese Ideen wiederholen sich fortgesetzt, neue kommen nicht 
hinzu; sie treten auf bei ,,Recht“, bei ,,Gift“ und noch an manchen 
anderen Stellen. Hier bei ihr findet man wieder mehr Individual- 
vorstellungen, aber diese zeigen durchweg ein egozentrisches 
Moment; teils denkt sie an ihr Leben, teils an ihr Besitztum, teils 
sind es die Wahnideen, in denen aber das Ich auch wiederum eine 
Rolle spielt, sofern iiberhaupt ein Leitmotiv daraus hervortritt. 
Allen diesen Ideen fehlt aber jede Gefiihlsbetonung, und das auBert 
sich auch in der Reaktionsweise. 

Die Reaktionszeiten sind im allgemeinen nie langer als 20“, 
meist kiirzer als 10". Ganz interessant ist es, wie bei dieser Patientin 
korperliche Zustande bei der Assoziation mitunter mitwirken, 
z. B. ,,stinkend — stinkender Stuhl des Leibes“ (geht gleich darauf 
zum Klosett), ,,hungrig — hungrig ist jeder. Ich hab noch nicht 
Kaffee getrunken“ und dergleichen mehr. 

Ein Vortreten des egozentrischen Moments bei hochgradiger 
Apathie zeigt die Patientin Gi.: Siestarrte fortgesetzt blode vor sich 
hin, und dem entspricht auch ein Fehlen jeglicher Reaktion an fiinf 
Stellen mit einer sehr langen Reaktionszeit (meist 20" und mehr, 
ja, bis 1 Minute) sonst. An Individualassoziationen liefert sie bei 
„schon — der neue Hut ist schon“ (ihr eigner Hut, schwarz aus 
Sammet), ,,rot — die Bluse ist rot u (ihre Bluse). Sie denkt bei 


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294 Rohde, Assoziationsvorgang© bei Defektpsychos© n. 

schmerzhaft an ihre Zahnschmerzen, die sie vor einiger Zeit gehabt 
hat, iiberhaupt drehen sich bei ihr alle Individualassoziationen um 
die Patientin selbst. Ich mochte bei dieser Gelegenheit darauf 
hinweisen, daB meines Erachtens dieses Oberwiegen des 
egozentrischen Moments — wenigstens so ausgesprochen — 
entschieden als degenerativer ProzeB aufzufassen ist. Verworn 
hebt hervor, daB sich schon beim Kinde der ,,Ich“vor- 
stellungskomplex besonders tief ausschleife, im Gegensatz zu 
anderen Vorstellungen, die immerfort wechseln. Diesem 
,,primaren Ich“begriff mischten sich unwillkiirlich auch 
andere Bestandteile bei, die sich ihm durch die Erfahrung 
ankristallisierten, und so komme zu dem primaren Ich ein 
sekundares Ich hinzu, das ohne Grenze in die umgebende Welt 
zerflieBe. Verworn meint, daB jede Erkenntnis darauf beruhe, daB 
sich zwischen meinem Ich und dem betreffenden Ding ein solcher 
Beziehungskomplex herstelle, daB Empfindungen, Vorstellungen, 
Gedankengange entstanden. 

Beim Hebephreniker ist nun dieser Beziehungskomplex fast 
vollig ausgeloscht, jedenfalls stark verarmt, er wird vollig von 
seiner Apathie und dem Fehlen tiefergehender Affekte beherrscht, 
und so kommt es hauptsachlich auf dieser Basis zu einer Unmoglich- 
keit Vorstellungen, Gedankengange u. s. w. zu bilden, oder wenn es 
geschieht, so kommen nur sehr diirftige Vorstellungen zustande; 
das einz ge, was geblieben ist und durch die Reizworte sich hervor- 
rufen laBt, ist das tief eingeschliffene primare Ich. An dieses kniipfen 
die wenigen ihm nahestehenden Vorstellungen an, alle weiter- 
gehenden, auch an andere Ichs ankniipfenden sind verloren ge- 
gangen bezw. bleiben latent. So darf es nicht Wunder nehmen, 
wenn das egozentrische Moment beim Hebephreniker in dieser 
Weise pravaliert. Er erinnert sich wohl mancher Dinge, die in- 
tellektuelle Apathie ist aber zu groB. Ihm fehlt die kombinatorische 
Assoziationsfahigkeit nahezu vollig, sein Denken ist fast absolut 
unproduktiv, wie Ziehen hervorhebt. Seine Gedanken treten fast 
immer auf derselben Stelle. Und zwar ist es meines Erachtens das 
zuerst Entstandene, das am scharfsten Ausgebildete oder, um 
Verivorn zu folgen, das am tiefsten Ausgesehliffene das primare Ich, 
bei dem er perseveriert und das manifest wird. 

Wenn die Patientin Gi. sonst Reaktionen liefert, so erfolgen 
diese meist in Satzform, sind auffallend einfach, zeigen jedenfalls 
auch eine sehr starke Denkunfahigkeit und kniipfen besonders 
geme an vorhergegangene Reizworte an, sie zeigen also eine sehr 
haufig erfolgende Nachwirkung alter Reaktionen und Reizworte. 
Eins der vielen Beispiele dafiir: 

,,rot — die Bluse ist rot“, 

,,lieben — ich liebe die Bluse.“ 

Alle weitergehenden Assoziationen fehlen, sie klebt an dem 
Vorhergegangenen. Rein mechanisch, als ein Erinnerungsbild alter 
Zeit, als ein Ueberbleibsel des Schulwissens, ohne jede Zuhilfenahme 
der Denktatigkeit ist wohl auch die Reaktion ,,Zwolf! 9+3 = 12“ zu 


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Rohde, Associations vorgange bei Defektpsychosen. 


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erklaren. Ich glaube, daB es sich bei dieser Patientin um einen 
ziemlich weit vorgeschrittenen ProzeB handelt. Bei leichteren 
Fallen wird alles nicht so ausgepragt und von dem sekundaren Ich, 
von der umgebenden Welt noch mehr vorhanden sein bezw. iiber 
die psychische Schwelle gehoben werden konnen. 

So ist denn die Patientin Roe. schon ein leichterer Fall. Auch 
sie klebt sehr an vorhergegangenen Reaktionen (Fisch — Gold- 
fisch 44 , ,,Wald — Fisch 44 u. s. w.), aber es ist das doch nicht so stark 
ausgesprochen. Recht schwachsinnig ist bei ihr auch wieder die 
Reaktion ,,schmerzhaft — schmerzhaft sind Schmerzen“, ebenso 
wie ,,Uhr — die Uhr ist sehr notig 44 . Sie liefert auch direkte Wieder- 
holungen der Reizworte mit zwischendurch auftretenden ganz 
sinnlosen Reaktionen, wie z. B. ,,Professor — ach 44 , ,,Gehim — ist 
ein 44 . Diese letzte Assoziation hielt ich zuerst fur eine unvollstandige, 
wenn ich auch eine bestimmte Auskunft zuerst nicht erhalten 
konnte. Wenn die Patientin auch spater angab, sie habe an einen 
beliebigen klugen Kopf gedacht, so glaube ich — speziell mit 
Riicksicht auf das ,,beliebig 44 — doch, daB das ,,ist ein 44 mehr ein 
rein sinnlos gesagtes Wort ist, an das die Patientin etwas, was ihr 
erst einfalien sollte, anschlieBen wollte, ohne daB ihr momentan 
etwas eingefallen ware. Im xibrigen treten bei ihr doch noch etwas 
haufiger Individualassoziationen auf, wenn sie auch durchweg 
recht diirftig sind. Auch die Definitionstendenz macht sich bei 
ihr geltend, z. B. in ,,Siinde — Siinde ist, wenn man was nicht tun 
soil 44 , und zwar ist es eine Definitionstendenz mit alien Zeichen des 
Schwachsinns in der Ausdrucksweise. Hierher gehort auch ,,Gift 
— Gift ist, wenn man sich vergiftet hat. 44 

Die Reaktionszeiten sind sehr wechselnd, und zwar sind sie 
im allgemeinen bei Individualassoziationen kiirzer als bei den 
anderen. Ich glaube das so erklaren zu sollen, daB hier gleich etwas 
Bestimmtes einfallt, wahrend dort eine Leere, eine Liicke ist, die 
der Ausfiillung harrt, d. h., daB nur unbestimmte Vorstellungen vor¬ 
handen sind, wozu noch oft ein Haften an der Reizvorstellung 
kommt, dem Patienten fallt nichts ein, und die naturgemaBe Folge 
da von ist eine sehr lange Reaktionszeit. 

Ein anderer Hebephreniker Gra. liefert zunachst einige der 
von Ziehen als orthographische Assoziationen bezeichneten 
Reaktionen, z. B. ,,Professor — mit ss 44 , ,,Fisch — Fisch, mit f, 
Fische 44 . Bei dieser letzten Reaktion tritt also sekundar auch noch 
eine Uebertragung in den Plural ein, also eine Flexion. 

Ebenso ist wohl auch ,,Schlaf — Schlaf, mit kleinem sch 
(mir fiel schlafrig ein) 44 aufzufassen. Hierher gehort wohl auch 
,,Gewitter — gewittern 44 . DaB derartige Reaktionen auf eine ge- 
wisse Gedankenleere hinweisen, geht meines Erachtens aus dem 
Zusatz hervor: ,,Nun weiB ich nichts mehr. 44 Aehnlich ist auch 
„hungrig — hungrig, der soli tiichtig essen, mit weichem s. 44 Als 
grammatikalische Assoziation ist wohl bei V2 „Fisch — Fisch 
ist ein Hauptwort 44 aufzufassen. Der Patient liefert dann eine ganze 
Menge einfacher Wiederholungen; zwischendurch sind auch hier 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


wieder ganz zusammenhangsloseReaktionen eingestreut, wie ,,Recht 
— krieg ich den Nasenschlauch daraufhin“, ,,Verstand — ja, be- 
nedeien“, ,,lieben — ja“. Auch eine assoziative Worterganzung im 
Sinne Ziehens ist vorhanden: ,,Gehirn — Gehimerweichung“. 
Etwas Sprunghaftes tritt hervor in „ Stock — Renntier“. 

„Woran dabei gedacht ?] — Kaiser Maximilian war auf der Martins- 
wand und traf da ein Renntier", ferner bei 

,,tanzen — tanzen. 

Woran gedacht ? ] An das grofle Schisma, den Abfall der Kirche. 
Denn Tanz ist ein Liebesopfer, das Jimo brachte der Gottlichkeit, und das 
ist Kirche. 

Aehnlich ist auch: 

,,12] 12 ist = 0, denn man kann eine Zahl auf 0 reduzieren, weil sie 
erst nichts war.“ Diese Sprunghaftigkeit ist, wie ich schon hier erwahnen 
will, rein auBerlich und inWahrheit mehr Inkoharenz. Ich werde darauf noch 
z uriic kkommen. 

Eine noch ziemlich weitgehende Assoziation ist meines Erachtens 

„Uhr — Uhr, Ur, Weltstadt geworden bei den Phdniziem.“ 

Ueberhaupt tritt bei diesem Patienten neben den genannten 
Reaktionen manchmal das Heranziehen ziemlich weit entlegener 
Reaktionen, die zum Teil einen etwas gesuchten Charakter tragen 
und fast ideenfliichtig anmuten, hervor. Hierher gehort auch 
Brot (— wie er statt rot verstand —) — Opferschale nach schon 4" 
u. a. Auch sonst zeigt sich noch ein ahnliches Verhalten. Es war 
dies ein Fall, der am folgenden Tage einen Erregungszustand hatte. 
und darin sehe ich die Erklarung fiir dieses fast manische Ver¬ 
halten, das neben den iiblichen hebephrenen Assoziationen hervor- 
tritt. Erwahnen will ich hier nur noch, daB auch die Reaktions- 
zeiten relativ sehr kurz sind, im allgemeinen zwischen 2 <# und 8" 
schwanken. Nur 2 Reaktionen haben eineZeit von 32,2° bezw. 29,4." 
Und diese beiden stehen hintereinander. Die Reaktion war bei beiden 
eine einfache Wiederholung, der im ersten Faile noch eine ortho- 
graphische Erklarung folgte. Es ist die schon erwahnte Reaktion 
auf ,,hungrig“. Hinter beiden Reaktionen steckte ziemlich sicher 
keine tiefergehende, auch lieB sich eine solche weder in den vorher- 
gehenden noch den folgenden Reaktionen nachweisen. Es handelt 
sich also wohl wieder urn eine voriibergehende Schwerfalligkeit. 

Nicht uninteressant ist die Versuchsliste des Patienten Pak., 
dessen Krankheit eine Dementia paranoides ist. Von seinen Wahn- 
vorstellungen beeinfluBt ist schon die Reaktion ,,Gehim — 
Schleim“. Der Patient glaubt sich namlich von den,,Gredanken“ ver- 
folgt, die er als mystische Personen ansieht, und denen er, wie er 
schon bei der Aufnahme der Krankengeschichte mir angab, ,,ein 
grimes, schwefliges Aussehen“ beilegte, ,,sowie von ausgeflossenem 
Gehirn, griinem Schleim 44 . Damit paBt die angegebene Reaktion 
zusammen. .Er selbst gibt dazu an: ,,Ich weiB nicht, ich muBte es 
sagen, mir fiel das so ein.“ Aber auch andere bisher unbekannte 
Ideen werden durch die Reizworte bei ihm ans Tageslicht gezogen, 
z. B. ,,Schlange — Zunge. u ,,Ich hatte mal vor acht Tagen ge- 
traumt, da sah ich nachher eine Schlange, die brachte die Zunge 
irnmer so vor; die Zunge war schwarz, und dann schlief ich nochmal 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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ein, und nachher da war sie sehr freundlich und leckte mich mit der 
Zunge, und sie war wirklich da.“ Die ,,Gedanken“,die ihn verfolgten, 
treten auch sonst hervor, so in: ,,schmerzhaft — Ruhe“. 

,,Woran gedacht?] — Wie man sich mit der Nadel in den 
Finger piekt, und das tut gerad’ so weh, wie wenn man nicht Ruhe 
hat vor den Gedanken.“ Der Patient liefert auch sonst ganz ver- 
standige Reaktionen, und das entspricht der Intelligenzpriifung, die 
keinen nachweisbaren Defekt ergeben hatte. Der Patient zeigt im 
ailgemeinen eine erklarende Tendenz sowie eine gewisse Neigung 
farbig zu sehen. Letzteres finde ich — von anderen Reaktionen ab- 
gesehen — besonders in ,,Kaiser — Gensdarm“. ,,Ich habe nur an 
die Farbenspiegelung dabei gedacht; blaue Streifen, griine Streifen, 
das spielte so riiber, ich dachte an die Uniform.” Ich glaube in 
dieser Vorhebe fur das Farbige das paranoische Element zu sehen, 
wie ich iiberhaupt bei Paranoikem stets eine gewisse Neigung fur 
Farben gefunden habe. Pak. bringt auch mehrere gelaufige Wort- 
verbindungen z. B. ,,Stock — Stein”, ,,Recht — Freiheit” u. s. w. 
Versiindigungsideen treten hervor in „Siinde — Dummheit”, denn 
,,Ich habe daran gedacht, daB Siinde mit Dummheit bestraft wird, 
bei mir selber.” 

,,Wieso gesiindigt?] — Weil ich onaniert habe.” Als eine 
etwas komphzierte Klangassoziation stellt sich ,,Krankheit — 
Heilung” heraus, denn: ,,Ich dachte an die Tumerei (Patient fiihrt 
seine Krankheit auf einen Unfall beim Turnen zuriick), und da 
fiel mir gut Heil ein.” 

Hierher gehort wohl auch ,,Armut — Mut, Hut”. Eine 
unvollstandige Gegenteilsassoziation, die erst durch die an- 
geschlossene Frage als solche sicher gestellt ist, ist „lieben — und”. 

„Woran gedacht ? ] — Ich dachte: lie ben und hassen paBt 
aufeinander. . Das fiel mir so ein”. Ueberhaupt treten hier mehr- 
fach Gegenteilsassoziationen auf, besonders bei V2, das sich gan:: 
ahnlich wie VI verhalt. Die Reaktionszeiten betragen im Durch- 
schnitt 4", iibersteigen nur einmal 10". Hier treten drei Ge- 
dankenkreise hervor, namlich: 

1. Der Unfall beim Tumen mit der darausfolgenden Krankheit, 

2. ' Farbenvorstellungen, 

3. Wahnideen. Es macht sich hier auch eine gewisse Ge- 
dankenleere, ein Kleben an wenigen Gedankenkreisen geltend. 

Hervorheben mochte ich noch die Reaktion Hochzeit — Klos 
(6,4"). Woran gedacht?] ,,Das ist ein kranker Kollege von mir. 
Mir fiel das so ein.” Auf weiteres Befragen gab er an, mit Hochzeit 
habe der nichts zu tun, er wisse selb&t nicht, wie er darauf ge- 
kommen sei. Bei naherer Betrachtung stellt sich die Reaktion als 
Perseveration dar. Es pravaliert der Krankheitsgedanke, der fort- 
gewirkt hat und das neue Reizwort nicht hat aufkommen lassen. 
Es ist aber insofern interessant, als die Perseverationserscheinung 
erst hervortritt, nachdem auf zwei Zwischenreizworte ganz ver- 
standig reagiert war. Der Untergedanke Krankheit tritt erst wieder 


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298 Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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beim 3. Reizwort hervor, wird aber auch noch verschleiert durch 
das anfangs unverstandliche, erst dureh die AnschluBfrage aufge- 
klarfce Reakt ions wort. 

Die Reihenfolge der Reizworte war: 

33. Krankheit 4,2" — Heilung. 

34. Schlaf 5.x" — Nacht. 

35. Wald 4,2" — Feld. 

36. Hochzeit 6,4" — Klos (soil, kranker Kollege). 

Ein wesentlich anderes Bild liefert der Patient Font. Ich habe 

von ihm in verschiedenen Stimmungslagen Reaktionen erhalten, 
nnd aus der Reaktionsliste ist deutlich der jeweilige Krankheits- 
zustand zu erkennen. Ich habe in meiner Dissertation ihn sehr aus- 
fiihrlich behandelt, speziell das Protokoll des Erregungsstadiums 
vollig angefiigt. Ich will mich hier kiirzer fassen und mich darauf 
beschranken, hier einige charakteristische Beispiele und die all- 
gemeinen Erorterungen vorzubringen. 

Er war bei VI ziemlich ruhig. Wodurch er sich hier von den 
bisher besprochenen Htbephrenikem hierbei unterscheidet, ist die 
Satzreaktion, die fast durchweg angewendet wurde. Er gebrauchte 
mehr den Reaktionstyp des Schwachsinns, und zwar des an- 
geborenen Schwachsinns. Ich mochte fast glauben, daB es sich 
bei ihm um eine Pfropfhebephrenie handelt. Leider fehlte eine 
Anamnese von den Angehorigen. Fiir Debilitat sprach auch das 
Vorhandensein gewisser Defekte im Farbensinn. Von seinen 
Reaktionen mochte ich hervorheben, daB erinnerungsbestimmte 
Reaktionen sehr sparlich sind. Auf „siiB“ reagiert er mit ,,Zucker 
schmeckt nicht“ (2,1“), gibt dabei aber zu, Zucker und SiiBigkeiten 
sehr gerne zu essen. So ist es eine mechanische, eine Verlegenheits- 
assoziation, er sagt irgend etwas hin, um die Armseligkeit des Vor- 
stellungsschatzes zu verdecken. Es ist damit ebenso, wie es von 
einem schwachsinnigen Knaben durch Landmann berichtet wird, 
daB er oft von seiner Gewitterfurcht sprach, es aber gar nicht 
weiter b3merkte, als ein Gewitter tobte. Es ist auch hier ein bloBes 
Hinreden. Aehnlich diirftig sind die anderen Reaktionen, z. B.: 

Kaiser 1,4" — der Kaiser ist schon. 

Fisch 2,11" — der Fisch ist blaulich (Hering). 

Schlange 9" — die Schlange ist falsch u. 8. w. 

Es sind allereinfachste Satzreaktionen, ohne besondere 
Charakteristika. Bei V2 — 3 Tage spater — anderte sich der 
Charakter der Reaktionen, es traten mehr verbale und formale 
Reaktionen auf, es trat der Satzcharakter zuriick. So reagierte er 
z. B. bei V2 in folgender Weise, die der der anderen Hebephreniker 
gleichkommt: 

Z. B. Schlange — sohlangelt, Wald — weit, Siinde — Siinde ver- 
sendet u. s. w. 

Es zeigten sich mehr Klangassoziationen und mehr Wort- 
reaktionen — ein Hervortreten des hebephrenen iiber den schwach- 
^innigen Typus, wie ich heute sagen mochte, ein Hinweis auf das 
b3vorstehende Erregungsstadium. 


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Dieses Erregungsstadium zeigt nun V3, 14 Tage spater. Hier 
schlug der Patient um sich, tobte, schimpfte in den gemeinsten 
Ausdriicken, schwatzte unaufhorlich und war kaum zu beruhigen. 
Die vorher eingeschlafenen Affekte waren durch starker h error- 
tretende Wahnvorstellungen aufgeriittelt worden, und so war es 
meines Erachtens zu diesem Zustand gekommen. Gerade in diesem 
Stadium babe ich nun einen Versuch angestellt, und er lieferte ein 
sehr interessantes Resultat. Es war insofem nicht ganz einfach die 
Versuche anzustellen, als der Patient mich fortgesetzt dabei uiit 
Piiffen und StoBen traktierte oder mich bespuckte oder dergleichen 
tat; ihn irgendwie festhalten zu lassen, wollte ich indessen ver- 
meiden, da dadurch eine Ablenkung hatte eintreten konnen bezw. 
ein unreines, nicht vollig klares Bild. 

Aus dem Protokoll fiige ich hier nur folgende charakteristische 
Beispiele an, auf die ich nachher gleich zuriickgreifen werde: 

No. 18. Krankheit 1,1". Ich habe keine Krankheit, nein. Wer an mir 
studieren will! Ich will zeigen, wer meine Familie war. Wir waren in 70/71. 
Ihr Schweinhunde, ich bin Kupferberg von Gold. Ihr sollt vor Gott. 

No. 35. Fisch 0,2“. Ich bin kein Fisch, nein, ich bin ein Fisch, ein 
Silberfisch im Hotel zum braunen Baren. Wanzen wollen mich zerfressen. 
Ihr Doktoren, die Ihr studieren wollt, leckt mir am Arsch, Ihr Lumpen- 
hunde. Wir Japanesen. 3X3 ist 9. 

No. 39. Wald 1,1". Unsere Gewalt! Wehe Euch, Ihr Chineeen. 
Ihr sollt zeigen, auf daB die Welt soli untergehen. Meine Husarenstreiche.^ 
Aus dem Grabe kommt der Hunnenkonig Alarich. Ich habe Riesenkraft 
Ihr Lumpen. Ich Don Carlo bleibe. Ich denke, daB ein Berliner ist im 
chinesischen Wald, und da gehe ich in den Baumtod. DaB ich nicht dump* 
bin, ist kugelrund, ist kugelrund. > 

No. 40. Hochzeit 4,1". Das hab ich nicht verdient, und der Teufel 
lacht dazu. Ihr Schweinhunde von Doktoren; eisera ist mein Leib. Wer 
will mich vergiften ? Tod, wo ist dein Stachel, Kase, wo ist dein Sieg 1 Das 
hab ich nie erlebt. In meinen Harem sollt ihr alle kommen. Ich bin 
Aegypter, nicht Mumie. Wer so geschafft wie ich. 3X3 ist 9. 

Man findet also hier bei V3 ein fortwahrendes Reden, auf den 
ersten Blick eine hochgradige Ideenfliichtigkeit. In Wahrheit aber 
stellt sich heraus, daB diese nur vorgetauscht ist. Es sind im Grande 
genommen nur sehr wenig Vorstellungen vorhanden, und diese 
werden meist ohne Sinn und Zusammenhang aneinander gereiht, 
kehren aber stets wieder. Man konnte diese wenigen Vorstellungen 
als relativ iiberwertige bezeichnen, sie allein fesseln, um Wernickes 
Definition der fixen Ideen zu folgen, die meines Erachtens auch 
hier zutrifft — wenigstens relativ — die Aufmerksamkeit des Hebe- 
phrenikers, nehmen den Wellengipfel der psychophysischen Be- 
wegung fur sich in Ansprach und schlieBen damit ohne weiteres 
korrigierende Vorstellungen oder Wahrnehmungen aus. DaB dies 
alles hier nur relativ gilt, liegt auf der Hand. Hier ist ja jede Denk- 
fahigkeit an sich stark herabgesetzt, und das macht sich natiirlich 
auch bei diesen seinen „iiberwertigen Ideen“ in der Weise geltend, 
daB hier die Ueberwertigkeit im Sinne der Demenz beeinfluBt wird. 
Immerhin wird der Hebephreniker so davon beherrscht, daB er an 
den vorhandenen Vorstellungen klebt und in gewisser Hinsicht 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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daneben auch an den Klangbildern. Und dieses Haften an Klang- 
bildem ist wohl auch als eine Art Perseveration aufzufassen, indem 
es zu einem Wechsel der motorischen Sprachinnervation, wie er 
normalerweise eintritt und eintreten miiBte, hier nicht oder nur in 
beschranktem MaBe kommt. Die Apathie hintertreibt das, lenkt 
ihn immer wieder auf die alten gleichsam ausgeschliffenen Bahnen 
und innerviert immer nur die alten, die gleichen Sprachgebiete. So 
kommt es zu dem Haften an den Klangbildern. Dadurch, daB 
sich die inkoharenten Wortreihen Font.s sofort ablosen, erhalt man 
ein Bild, das rein auBerlich dem der Manie zuerst sehr nahe kommt. 
Wahrend das Ausschlaggebende bei der Manie aber die Ideenflucht 
ist, fet es hier die Inkoharenz; wahrend dort stets neue Asso- 
ziationen auftreten, die einen gewissen Zusammenhang haben, 
findet man hier fortgesetzte Wiederholungen, Stereotypien und 
dergleichen. Selb&t wenn der Kranke einmal etwas Neues bringt, 
so kehrt er doch sofort wieder zum Alten zuriick. Er zeigt, um 
Ziehen zu folgen, ein Klebedenken, eine tautologische Ideen- 
aseoziation. Ich glaubte oft, das Reizwort sei iiberhaupt nicht auf- 
genommen. Es stellte sich aber, wenn man ihn nur weiterreden 
lieB, fast stets heraus, daB das Reizwort nicht nur gut aufgenommen 
war, sondern auch eine Reaktion hervorrief. Allerdings wurde sie 
zuerst durch die an sich nicht sehr zahlreichen inkoharenten 
Phrasen verdeckt und kam meist erst spater zum Vorschein. Diese 
•eigentlichen Reaktionen sind zum Teil vollkommen vemiinftig, ja, 
stellenweise sogar recht gut, ich erinnere nur an die Reaktion 35 
bei V3: hier lost der Begriff Fisch gleich eine ganze Reihe von Tier- 
begriffen aus, ,,Baren“, ,,Wanzen“. Man findet femer — wenn man 
eben immer von der inkoharenten Einkleidung abstrahiert — 
Gegenteilsassoziationen z. B. bei 38: ,,Schlaf — wach“. Auch 
Klangassoziationen finden sich, so lost bei 31 Schlaf das Wort 
Graf aus, bei 26 Stock — Storch, bei 17 Recht — Rechte, bei 39 
Wald — Gewalt u. s. w. Stereotyp kehren die absurdesten Be- 
griffe besonders in dem inkoharenten Beiwerk hervor, das meines 
Erachtens vorallem ein egozentrisches Moment und damit verbunden 
unbestimmte GroBenvorstellungen hervortreten laBt. Im all- 
gemeinen zeigt sich auch hier die Unproduktivitat seines Denkens, 
trotz des groflen Wortschwalls, und von ihm erdriickt oder verdeckt. 
Ziehen hebt hervor: ,,Es ist charakteristisch, daB die einzelne Vor- 
stellung, die im Laufe der Ideenassoziation auftritt, die folgenden 
Vorstellungen wohl dem Wortlaut nach, aber fast gar nicht in- 
haltlich beeinfluBt. So kommt es, daB der Hebephreniker oft die 
sinnlosesten Wortverbindungen zusammenbringt.“ Auchdavonfinde 
ich bei V3genugendeBeispiele,ich mochtehier nur alstypisch hervor- 
heben das ,,da gehe ich in den Baumtod“ in 39, ferner in 9 das 
„Todsichel“ u. s. w. Und auch ein Agrammatismus im Sinne eines 
Herausfallensausder Satzkonstruktion trittauBerordentlichdeuthch 
hervor. Das, was er gesagt hat, ist ihm viel zu trivial, er vergifit es, 
aber nicht, weil das Gedachtnis schlecht ist — das ist im Gegenteil 
ausgezeichnet —, sondern weil ihm alles zu gleichgiiltig ist. So laBt 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 301 

er es auBer Acht, wie er den Satz begonnen hat, und so kommt es 
zum Agrammatismus. 

Dazu kommt, daB ihm eine eigentliche Zielvorstellung fehlt, 
und dieses Fehlen der Zielvorstellung fiihrt zum Wortsalat, der ein 
Hinschwatzen darstellt, wie es nur moglich ist durch das Fehlen 
einer Kritik der Urteilsassoziationen. Es ist ein Drauflosreden im 
AnschluB an den durch das Reizwort gesetzten Ausgangspunkt, und 
doch wirkt letzteres nach, und zwar finde ich in diesem Wortsalat 
in Uebereinstimmung mit Stransky und Pelletier hier vorwiegend 
Assoziationen nach der Aehnlichkeit, Koexistenz, sprachlich 
motorischer Verbindung und Verkniipfung nach dem Klang, zu- 
sammen mit Perseverationen und Stereotypien. 

Es sei mir gestattet hier als Gegensatz zu dem hebephrenen 
Erregungsstadium noch den mit einer im Erregungsstadium befind- 
lichen Manie angestellten Versuch anzufiigen. Schon die ganze 
Stimmungslage war hier anders. Dort beim Hebephreniker fand ich 
kritikloses Schimpfen, ein Hinwegsetzen iiber alle Regeln des An- 
standes, wie es sich in der schamlosen Onanie wahrend des Versuchs, 
wie es sich in dem fortwahrenden Schlagen nach mir ohne Grand 
dokumentiert; hier beim Maniakus zeigt sich zwar auch mitunter 
Schimpfen, aber motiviertes, nicht kritikloses — „Weshalb 
machen Sie das mit mir, ich verbitte es mir“ — ohne daB er ge- 
schlagen hatte. Dazu hat er sich zu sehr in der Gewalt, und dazu ist 
auch bei ihm die Hyperthymie zu groB. Diese hindert ihn auch 
daran nachhaltig entriistet zu sein. Ich glaube, daB mein Fall in 
dieser Hinsicht eine Abweichung von der Norm darstellt. In der 
Regel wird der Maniakus nachhaltig entriistet sein, entsprechend 
dem Hauptcharakteristikum seiner Krankheit (im Gegensatz zur 
Dementia hebephrenica), der adaquaten und konsequenten Ge- 
fiihlsbetonung, die sonst aber auch bei diesem Falle iiberall hervor- 
tritt. Sein Mienenspiel war fortgesetzt lebhaft, das des Hebe- 
phrenikers trotz aller motorischen Erregung gleichgiiltig, seine Be- 
wegungen waren fortgesetzt wechselnd, die des Hebephrenikers mehr 
monoton, nicht passend zu dem Inhalt der jeweiligen Vorstellungen 
und Empfindungen. Dort beim Hebeplieniker sind iiberhaupt 
keine Gefiihlstone oder jedenfalls keine bestimmt ausgesprochenen 
oder sinngemaBen vorhanden, hier ganz bestimmte positive Gefiihls- 
tonc. Der Patient (Schm.) lachte fortgesetzt, machte sich vielleicht 
auch iiber meine Versuche lustig und erdriickte mich fast mit seinem 
Wortschwall, aber stets in der Weise, daB er sinngemaB, jedenfalls 
nicht so inkoharent antwortete wie Font. 

Es iiberwiegen bei meinem Maniakus auBerordentlich stark die 
Klangassoziationen, und zwar tritt in besonderem MaBe die Neigung 
zur Reimbildung hervor. Ich habe spater bei der allgemeinen 
psychologischen Analyse darauf genauer einzugehen. Hier will 
ich nur einige Beispiele dafiir anfiihren. So reagiert er z. B. auf 
,,Zucker“ mit der zweifellos sehr weitgehenden, ideenfliichtigen, 
zweifellos obszonen, aber zweifellos auch sinnvollen Reaktion: 

,,Essig schmeckt sauer, Zucker schmeckt siiB, 

Monatsschrlft f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 4 . 20 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Wenn einer in die Stiefel scheiBt, stinken die FviB." 

Eine sinnvolle, recht weitgehende Reaktion ist es meines Er- 
achtens auch, wenn er auf „Armut“ in folgender Weise reagiert: 

„Armut" — ,,Armut, Frohsinn, reich, Gestank, 

Kommt alles ja auf eine Bank.“ 

Er gibt im AnschluB daran zu an sich gedacht zu haben, „denn 
ich bin ein armer Jup. So sagen sie bei uns. Denn Jup war doch 
der Aussatzige bei der Geschichte des alten Testaments." Ich finde, 
daB diese Reaktion etwas aus dem Rahmen der maniakalischen 
Hyperthymie herausfallt; es klingt ein leicht deprimierter Zug 
daraus hervor. Ich glaube indessen, daB diese Anspielung darauf, 
daB er als Geisteskranker gelte und demgemaB „aussatzig“ sei, 
mehr eine Verhohnung darstellt als wirklich einen AusfluB einer 
Depression. Er lachte auch dabei: Er halt sich ja nicht fur krank, 
er ist ja gesund, und unter Beriicksichtigung dessen ist die Reaktion 
sicher sinnvoll. Hierher paBt auch ausgezeichnet eine dritte 
wiederum in ,,Poesie‘‘ erfolgende Reaktion: 

,, Stock — Stock, Bock, Affe, Esel, Schwein, verriickt soil 
ich sein.“ 

Es klingt gleichsam daraus hervor: „Wie kommt ihr dazu, 
mich fiir verriickt zu halten“, aber eben wohl im Sinne des Hohnes 
und der Hyperthymie. 

Statt einer einzelnen Reaktion liefert er ganze Reihen, mit- 
unter auch „gelaufige Wortreihen, die durch ein Element ausgeldst 
sind“ z. B. ,,Hochzeit — Hochzeit machen und kein Geld im 
Sack", ,,rot — rot, Brot, Brot schlagt den Hunger tot." Eine 
langere Reihe liefert er bei „Fisch", namlich ,,Fisch, Wasser, 
Badehose, schwimmen, ersaufen, verraufen", ebenso bei der 
Wiederholung von ,,rot“ — 

„Wenn wir backen, haben wir Brot, 

Wenn wir sterben, sind wir tot." 

Alle diese Reaktionen zeigen kein sinnloses Hinschwatzen, 
sondem sind stets assoziativ verkniipft. Eine sehr hochgradige 
Sprunghaftigkeit zeigen Reaktionen wie bei V 2 „stinkend — 
Schinken, still, Morphiumspritze". Auch hierbei kann man das 
Zustandekommen der Reaktion* deutlich erkennen. Das Wort 
„8tinkend“ lost die Klangassoziation „Schinken" und ,,still" aus, 
und an diese zweite Klangassoziation kniipft an: „Um still zu sein, 
habe ich neulich eine Morphiumspritze bekommen." Ein Hebe- 
phreniker wiirde zweifellos nicht so reagieren konnen, nicht einen 
so logischen Aufbau der Assoziationen zeigen konnen. Im ubrigen 
neigt dieser Patient zu Worterganzungen und Gegenteilsasso- 
ziationen. Zu den ersteren glaube ich u. a.: ,,Faust — Faustrecht", 
„Schlaf — Trunk", „Schlaf — Pulver", „Schlange — Schlangen- 
bifi", „Gift — Nudel" rechnen zu durfen, und auch das Weiter- 
fiihren der einzelnen Worte zu gebrauchlichen Redewendungen 
und Sprichwortem gehort wohl hierher, so z. B. „Kaiser — mit 
Gott fiir Kaiser, Thron und Reich", „Stock — Stein" (V 3), ,,Sonne 
— Sonne, Mond und Sterne". 


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Zu den Gegenteilsassoziationen gehort z. B. „Tod — Leben“’ 
„Krankheit — Gesundheit“, ,,Verstand — Dummheit“, ,,Recht — 
Unrecht“, „stinkend — wohlriechend“ und dergleichen mehr. 

Bei V 1 und V 2 findet man eine sehr groBe Zahl von Klang- 
assoziationen, entsprechend der besonders hochgradigen motorischen 
Erregbarkeit, einige derselben habe ich schon genannt. Als eine 
eolche, bei der schon ein kleiner Teil des Wortes eine Klangasso- 
ziation auslost, mochte ich noch ,,Fisch — sum fidelis“ nennen, 
zumal sich in ihr ja auch die Stimmung des Patienten wieder- 
spiegelt, er ist eben ,,fidel wie ein Fisch im Wasser“. Im iibrigen 
spielt auch bei diesem Patienten das egozentrische Moment eine 
nicht geringe Rolle, aber, wie ich meine, in wesentlich anderer Art 
wie bei Font. Bei diesem war es bedingt durch eine Verarmung der 
Ideenassoziation, hier beim Maniakus durch das gesteigerte Selbst- 
bewuBtsein. Er hat einen sehr weitgehenden sekundaren Ichbegriff, 
das zeigt sich schon darin, daB er oft zu dem sekundaren iiber- 
springt, aber das primare Ich 6teht doch im Vordergrunde, beim 
Hebephreniker war es eigentlich allein da, jedenfalls war das 
sekundare Ich hier sehr stark verarmt. Den Hohepunkt erreichte 
die Erregung wohl bei V 2, und hier findet man zwar auch Hyper- 
thymie, aber auch eine starkere Neigung zu groben Schimpfworten 
wodurch der Kranke so recht das Fortfallen der normalen Hem- 
mungen dokumentiert. Hierher gehort wohl ,,Sunde — Arschloch, 
Wasser, Fisch, ScheiBe,“ wobci das ,,Wasser, Fisch“ wohl als eine 
Pseudostereotypie aufzufassen ist, er hatte kurz vorher bei ,,Fisch“ 
mit ,,Arschloch, Wasser“ reagiert. Ziehen erklart solche Pseudo- 
stereotypien damit, daB der Vorstellungsschatz fur den sprachlichen 
Bewegungsdrang nicht geniige. Der Patient reagiert auch oft ganz 
sinnlos, aus Freude mich zu verhohnen, z. B.: 

„Tod — Heringskopf“, 

„Gehirn — Kreuz Sac re nom de Dieu, ich geb 100 Millionen Mark", 
,,Krankheit — Schnauze. ich hau alles zusammen, verriickt", 
„zwolf — kann 30 000 Zentner heben“, 

„Hochzeit — bonum abfahren“. 

Fur die Ablenkbarkeit und zugleich die Fahigkeit auf alles, 
was in der Umgebung geschieht, zu achten, spricht die Reaktion 
„Krankheit — feg aus“ (es wurde gerade der Saal ausgefegt). Im 
allgemeinen kommen, wenn man von der Einkleidung in Schimpf- 
worte abstrahiert, und zum Teil von ihnen verdeckt, auch ziem- 
lich weitgehende Assoziationen bei V 2 vor, z. B. ,,rot — hetzen“ 
in 1,2“. Ich glaube, daB hier die Zwischenassoziation ,,Sozial- 
demokraten“ nur nicht ausgesprochen ist, oder richtiger gesagt, 
er hat nicht die Zeit gefunden, sie auszusprechen. Der zweite 
Begriff ,,hetzen“ jagte den ersten und verhinderte ein Aussprechen 
desselben. Hervorheben mochte ich noch die Reaktion bei V 2 
„Wald — (1,4") na ja, guten Tag, Hase, bellum, Siidwestafrika". 
Diese lange Begriffsreihe sprudelte er formlich hervor; und wieviel 
Zwischenassoziationen sind da notig gewesen! Vor allem der Begriff 
des SchieBens, der schieBenden Person, der des Soldaten, und dann 

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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


erst kann sich, eventuell mit weiteren Zwischenassoziationen, der 
Krieg in Siidwestafrika angeschlossen haben. 

Auffallend ist es mir, daB bei V 2 und V 3 noch viele Reaktionen 
von V 1 auftreten, oft wortlich. Ich glaube, daB hier das intakte 
Gedachtnis eine Rolle spielt, es beweist mir aber auch, daB V 1 bei 
ihm ein gewisses Verstandnis und Interesse geweckt hat. Ich habe 
leider nur im Verlauf von acht Tagen mit ihm Versuche angestellt, 
immerhin war es bei V 3 zu einer hochgradigen Besserung gekommen, 
und zwar machte diese sich in folgender Weise geltend: Vor allem 
tritt im Vergleich zu den sehr kurzen Reaktionszeiten bei V 1 und 
V 2 eine hochgradige Verlangerung hervor. Der Patient hatte auch 
bei V 3 noch eine sehr lebhafte Assoziationstatigkeit, die cr aber im 
allgemeinen auBerlich unterdriickte, das Vorhandensein der leb- 
haften Assoziationstatigkeit kam aber doch zuweilen zum Durch- 
bruch und zugleich zeigte sich, daB noch ein Teil der normalen 
Hemmungen fehlte, wie es sich in manchen obszonen Reaktionen 
auBert („Ueben — die Liebe und der DiinnschiB, die machen beide 
groBe Schmerzen“ u. a.), im allgemeinen aber machte V 3 den Ein- 
druck, als schame er sich des friiher Gesagten. Er hatte noch zum 
Teil dieselben Reaktionen, aber er sagte sie jetzt nicht, sondern 
wahlte erst andere gleichgiiltigere. Und demgemaB findet man hier 
Reaktionszeiten bis zu weit fiber 10“. Der Patient war aber, wie ich 
hervorheben mochte, noch nicht so vollig Herr seiner selbst, daB er 
jene Reaktionen vollig unterdrficken konnte. Das Mienenspiel wurde 
wieder zum Verrater, ein Lacheln, ein Verziehen des Gesichtes, kurz, 
eine Muskelkontraktion, eine auBere—wie ich glaube, unwillkfirliche 
— Handlung zeigte den Eintritt des inneren Vorgangs deutlich genug 
an. DaB ihm zum Teil dieselben Reaktionen wie bei V1 und V 2 ein- 
fielen, ergab die AnschluBfrage, bei der dann in der Regel unter teils 
verschamtem, teils erfreutem Lachen es spontan zugegeben wurde. 

Und in dieser Hinsicht mochte ich die Verlangerung der 
Reaktionszeit als einen Heilungsvorgang auffassen, insofern als er 
das Wiederauftreten von normalerweise vorhandenen Hemmungen 
anzeigte. DaB die Manie noch vorhanden war, zeigte sich aber 
deutlich in der Freude, mich sozusagen etwas zappeln zu lassen, 
in der hin und wieder hervortretenden Neigung in Wortreihen zu 
reagieren, in der mitunter noch hervortretenden Obszonitat. Die 
Abnahme des Erregungsstadiums zeigt sich in dem Auftreten von 
Hemmungen, in einer Vermehrung der Wiederholungen und einer 
schon von Sommer hervorgehobenen Abnahme der Klang- 
assoziationen. So wird allmahlich eine Rfickkehr zur Norm an- 
gebahnt. 

Im AnschluB an diese Falle mochte ich noch einen weiteren 
Fall von Dementia praecox hier kurz erortem, der zunachst unter 
dem Bilde eines Dammerzustandes aufgenommen wurde und auch 
mehrere Tage lang die Moglichkeit des Vorliegens eines solchen hot, 
im fibrigen aber doch dem Bilde Font’s sich sehr nahert; dieser 
Fall zeigte, wenigstens anfangs, daB die Assoziationsproben nicht 
immer leicht zu verwerten sind, und schon deshalb ffige ich ihn an. 


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Ro hde , Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


305 


um so mehr, als er ja auch gerade differentialdiagnostisch nicht 
znwichtige Momente gegeniiber dem epileptischen Dammer- 
uustand bietet. 

Es fand sich bei dieser 21 jahrigen Patientin Wier. eine hoch- 
gradige Unorientiertheit und Zusammenhanglosigkeit ihrer Asso- 
ziationen, die in mancher Hinsicht direkt als Paralogien zu deuten 
waren, wie sie, wie Sommer besonders hervorhebt, ja von Katatonen 
oft bewuBt zur Anwendung kommen. Man konnte in ihren Asso- 
ziationen, die fast taglich von mir gepriift wurden, daneben aber 
auch das Ueberwiegen einiger wenigen Begriffe feststellen, die in 
pathetisch theatralische Redensarten eingekleidet und sinnlos 
rasch aneinandergereiht wurden bei zeitweise auftretendem Rede- 
drang. Sie kehren stets wieder und sind so als Gedanken- 
perseveration infolge Gedankenleere zu deuten, wahrend zu anderen 
Zeiten ein volliges Verstummen sich geltend machte oder auch das 
Reizwort einfach wiederholt wurde, auch vereinzelt sehr sparliche, 
ganz verstandige Reaktionen geliefert wurden. AuBerdem machte 
sich ein fortgesetzter Stimmungswechsel geltend, der sich in 
einer scheinbar unmotivierten Heiterkeit zeigte, die plotzlich von 
schwerer Angst und Hemmung abgelost wurde, scheinbar auch 
begleitet von Sinnestauschungen. 

Und dieser plotzliche Wechsel ohne jeden Uebergang bei der 
Priifung der Assoziationen, das Fehlen jeder Motivierung fiir den 
Wechsel, das Fehlen tiefer gehender Affekte beim Wechsel, wenn 
iiberhaupt Affekte sich zeigten, ja, die hochgradige Gleichgiiltig- 
keit, die von einem zum andem Stadium iiberleitete, wiesen auf 
einen Defekt hin und gaben ein anderes Bild, als es die spater 
zu erorternden Dammerzustande liefern. 

Der Zustand selbst hatte nach Angabe der Angehorigen akut 
eingesetzt, eine Epilepsie-hereditat oder friihere Anfalle waren nicht 
nachzuweisen. Korperlich bestand Hypalgesie. Am 13. II. war Pat. 
im allgemeinen ruhig, die Stimmung war deprimiert, sie be- 
schrankte sich an diesem Tage im wesentlichen darauf, auf alle 
Reizworte gleichmaBig „Vater“, ,,Schwester“, ,,Brautigam“ zu 
rufen, dann wieder schluchzte sie bloB krampfhaft, doch wurden 
im allgemeinen die Reizworte aufgenommen, wie es mir fest- 
zustellen gelang. Es blieben also erfolgende Reaktionen latent, 
oder es bestand hochgradige Gedankenleere, also entweder Repro- 
duktionsstorung oder Assoziationsstorung zugleich mit Aufmerk- 
samkeitshinderungen. Dazwischen traten nun aber zeitweise 
passende Reaktionen auf (z. B. Suppe — hungrig, schlecht — sehe 
schlecht u. a). Ich hatte im allgemeinen den Eindruck, daB unter 
dieser, wie mir aber trotz allem schien, nicht tiefer gehenden, mehr 
auBerlich bleibenden Depression die etwa auftretenden Reaktionen 
latent blieben und gar nicht iiber die BewuBtseinsschwelle gehoben 
wurden. Dafiir wurden sie meine6 Erachtens durch andere als 
AusfluB eines gewissen auBeren Affekts oder richtiger der gegen- 
wartigen Stimmungslage aufzufassende, teils wohl auch mechanisch 
hingesprochene ersetzt, die stellenweise so den Charakter der 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Paralogien zu tragen schienen. Fur den Defekt sprach auch, dafl 
Reaktionen auf Reizworte, die zweifellos bei echter innerer 
Depression hatten stark gefuhlsbetont sein miissen, in keiner Weise, 
weder was Reaktionszeit noch Reaktionswort anbetrifft, von den 
librigen abweichen und, wenn sie iiberhaupt erfolgten, stets in der 
iiblichen inkoharenten oberflachlichen Form der Schwatzerei ein- 
gekleidefc waren. Geltend machten sich in meinem Assoziations- 
bogen an diesem Tage Vergiftungs-, Verfolgungs-, Versiindigungs- 
ideen. Sie wollte bald von ihren Angehorigen vergiftet sein, bald 
rief sie — l angeregt durch den Zuruf des Reizwortes, das sie 
vielleicht als drohend auffaBte, — diese zu Hiilfe; der Gedanken- 
gang dabei war vollig inkoharent. Zwisehendurch trat fortgesetztes 
Schwatzen auf. 

Am 15. II. war der Zustand etwa derselbe, entgegengehaltene 
Reizworte wurden abwechselnd mit ,, Vater “, ,,Wo Gretchen“, 
,,Auch dann nicht ,, Julius, mein Schatz“, ganz zusammenhanglos 
beantwortet, so daB ich von einer weiteren Prxifung Abstand nahm. 

Am 16. II. dagegen bestand eine hochgradige Aufgeregtheit 
mit Euphorie, die wieder fiir Momente von Depression abgelost 
wurde. Sie sang zunachst fortgesetzt in monotonem Tonfall ein 
Gemenge allermoglicher ohne Satzkonstruktion an einander ge- 
reihter Phrasen, in denen aber immer wieder die Gedanken — sofern 
man von Gedanken reden kann — der letzten Tage wiederkehrten, 
heute mit entschieden erotischem Beigeschmack. Heute ging sie 
aber — wenn auch nicht immer — auf die Reizworte ein, und so 
ahnelt das Ergebnis dieses Tages bis zu einem gewissen Grade dem 
des geschilderten Falles Font, in seinem Erregungsstadium. Ich 
fxige hier als Beispiel einige Stellen an, die durch den Zuruf aus- 
gelost wurden: 

Siinde — 1,2" — Einen Kufl, sag es mir, denn Du weiBt ja schon, was 
mein Herz verlangt, einen Schatz und weiter nichts. Einen KuB ja durch den 
Schornstein, nur ein KiiBchen, und mein Schatzchen ist nicht da. 

Tod — 1,3" — ne, den nicht. Einen KuB. Warum weinst du denn; 
ura die Blume, die so riecht. Nein mein Schatzchen, ich muB sterben, imd 
mein Schatzchen ist schon da. Einen KuB und ich muB sterben, hubsche 
Zahne ( ? — oder so ahnlich) hatte ich stets u. s. w. 

schon — 0,4" — am Altar ist‘s schon. Lieber Friihling komm doch 
wieder, gibt ein KiiBchen nur im Mai. Warum weinst du denn mein Schatz ? 
Weil ich Dich am Grabe gestem sah. Vater, Vater, Du muBt sterben. Und 
mein Liebchen mit dem Griibchen hat ein KiiBchen, hat der Vater mein 
euch verlassen auf den Gassen, als es wehte durch die Tore in den Wagen. 
und ich konnte gamicht fahren. Wie heiBt denn heute der Papa, und wie 
bist Du geboren. Ich muB scheiden aus dem Grabe und der Roland lacht 
dazu. 

tanzen — 1,3" — ja, ja, tanzen, kiissen, franzen tat ich lange, kiissen. 
kiissen, weiter nichts. Und das Schatzchen kann die Myrte weiter tragen. 
warum hat es in dem Wagen mich verraten. 

Gift — 2,1" — nein, nein (schlingt den Zopf um den Hals) — 
— schschschsch. Vater vergib, denn ich weiB nicht was ich am Grabe durch 
die Siinde der Engel meiner Tochter verlor. Ein KiiBchen, und der Verrater 
bringt heute den Friihstiicksbeutel zum Tanze, Weil ich mir gestem vor 
Weihnachten nicht konnte ein Baumchen machen. Wo ist heute der Sabel 
u. s. w. 


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R o h d e , Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 307 

Es folgte dann wieder ein volliges Verstummen, sie reagierte 
auf nichts. Auch als ich nachmittags noch einmal mich mit ihr zu 
unterhalten versuchte, bekam ich keine Antwort, dagegen gelang 
es mir durch Zuruf von Reizworten sofort wieder einen dem obigen 
entsprechenden Wortsalat auszulosen, der meines Erachtens zeigt, 
wie rein auBerlich die zngerufenen Reizworte sich sinnlos dem Wort¬ 
salat beimengen und in ihm nachwirken. 

Und so mochte ich den Assoziationsversuclien in diesen Zu- 
standen doch einen Wert beimessen, weil es mit ihrer Hiilfe gelingt, 
— was ich schon bei den friiheren Fallen kurz hervorhob — mit- 
unter sprachlich gehemmte Patienten zu einer AeuBerung zu ver- 
anlassen. In meinem Falle wurde durch sie die seit dem Vormittage 
bestehende Hemmung durchbrochen. 

Ich glaube kaum, daB das in einem epileptischen Dammerzustand 
in dieser Weise moglich ist; hier beim Hebephreniker handelt 
es sich groBtenteils um Apathie, so daB ein Aufrutteln, wie es die 
Reizworte in unauffalliger Weise tun, hilft, dort mehr um absolute 
Hemmung. Im ubrigen gilt auch hier das bei Font. Gesagte. 

Aehnlich verhalt sich die Kranke in der Folgezeit. Um nicht 
zu weitschweifig zu werden, habe ich den Fall im Auszug angefuhrt, 
ich will nur noch bemerken, daB sich allmahlich auch katatonisohe 
Symptome ausbildeten. 

Im AnschluB hieran will ich zunachst iiber einige 

Dammerzustande 

berichten, die ich in diesem Zustand selbst untersucht habe und die 
meines Erachtens recht gut den Unterschied gegeniiber dem eben 
beschriebenen Typus der assoziativen Reaktion zeigen. Ich habe vier 
epileptische und einen hysterischen Dammerzustand untersucht. 

Wenn ich zunachst den letzteren betrachte, so finde ich auch 
in ihm einen hochgradigen Rededrang, der im ersten Augenblick 
den Eindruck der Inkoharenz und Sinnlosigkeit macht. Bei 
naherer Betrachtung aber tritt bei den meisten Reaktionen ein 
Sinn hervor, man kann einen Zusammenhang der Vorstellungen fest- 
stellen, daneben aber als Leitmotiv das Prinzip moglichst sinnlos 
zu antworten, ohne daB der Pat. dies ganz konsequent durchfiihren 
kann. Das Inkoharente ist das Beiwerk, das anfangs die sinnvollen 
Reaktionen unterdriickt, die aber schlieBlich doch hervortreten. 
Fur das sinnlose Beiwerk gilt meines Erachtens zunachst die Be- 
zeichnung des Drauflosredens, aber nicht im Sinne des Drauflos- 
redens lernender Kinder, um dieses in anderem Zusammenhange 
gebrauchte Wort Westphals hier anzufiihren, sondem mehr im 
Sinne des Drauflosredens ungezogener Kinder, um im Vergleich zu 
bleiben. Die erfolgenden Reaktionen sind sehr lang, auBern sich in 
einem Redeschwall, in dem sich sogar meist mehrere richtige 
Reaktionen finden, die wieder, wie besonders bei dem geschilderten 
manischen Erregungszustand (Schm.). in das genannte Phrasen- 
beiwerk eingekleidet sind. Zeitweise sind es ausgesprochen be- 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsy chosen. 


wuBte Paralogien. Entsprechend der hochgradigen Logorrhoe findet 
sich auch in diesen Reaktionen, besonders aber im Beiwerk 
Neigung zu Wortspielen und Wortverbildungen, sowie fortgesetzt 
auftretende Klang- und Aehnlichkeitsassoziationen, die zum Teil 
wieder durch andere Bestandteile des Beiwerks ausgelost sind, 
wie iiberhaupt dasselbe in keiner Weise die Eintonigkeit des 
hebephrenen Beiwerks zeigt. Das Verhalten ist etwa folgendes: Die 
ersten Reizworte rufen reines Vorbeireden hervor (Beiwerk allein, 
AssoziatiQnen sind durch dasselbe erdriickt), allmahlich aber ge- 
winnen die letzteren unbewuBt Boden, es treten zunachst nur 
schiichtem, spater haufig diese in dem entsprechend zuriick- 
tretenden Beiwerk hervor, zuerst sind es dann noch mehr Klang- 
assoziationen, dann auch weitergehende inhaltliche Assoziationen, 
und so wird die Reaktionsliste allmahlich immer besser, was in den 
hebephrenen und manischen Erregungsstadien nicht der Fall war. 
Bei diesen war die Affektlage stets gleich, hier beim Hysterischen ist 
sie es zwar auch, aber die Hemmungen werden, was dort nicht mog- 
lich war, durch die Biegsamkeit der Phantasie, die gesteigerte Pro- 
duktivitat allmahlich unterdriickt. So ahneln sich zwar der manische 
Erregungszustand und dieser hysterische Dammerzustand rein 
auBerlich, was sie aber unterscheidet und was die Reaktionslisten 
deutlich zeigen, das ist auch hier meines Erachtens die adaquate 
und konsequente Gefiihlsbetonung des Maniakus im Gegensatz zur 
variablen des hysterischen Dammerzustandes. Dazu kommt der 
verminderte Grad in der Sprunghaftigkeit der Reaktionen des 
Hysterischen und sein mehr albernes Wesen im Gegensatz zu der 
Witzigkeit des Maniakus. Allerdings fiihrt in beiden Fallen die 
Witzigkeit des einen ebenso wie die Albemheit des anderen zu 
einem ahnlichen Bilde infolge des Gemeinsamen, des Fortfalls 
der entsprechenden Hemmungen, der korrigierenden Assoziationen. 
und dieser Fortfall fiihrt in beiden Fallen speziell auch oft zu einer 
gewissen Obszonitat. So tritt wieder manches Gemeinsame hervor, 
das eine Differentialdiagnose zwischen beiden aus dem Assoziations- 
protokoll erschwert. Und das wird meines Erachtens bei alien Er- 
regungszustanden mehr oder weniger der Fall sein, wenn nicht ge- 
rade das Vorliegen eines Defekts sich zeigt, der gewisse Anhalts- 
punkte bietet. Das ist aber auch gar nicht notig, da ja die 
Assoziationspriifung nur die Diagnosenstellung unterstiitzen soli, 
das aber kann sie speziell bei solchen Zustanden meines Erachtens 
auch dann, wenn die Uebergange oft so spielend fein sind, 
daB man die Anamnese und die sonstigen Uuntersuchungen als 
Grundlage und ausschlaggebend hinzunehmen muB. Es ist meines 
Erachtens entschieden auffallend, daB das Bild eines Dammer¬ 
zustandes dem einer funktionellen Psychose, ja, in mancher Hin- 
sicht auch dem der hebephrenen Psychose ahnelt. Allerdings 
handelte es sich im vorliegenden Falle um einen protrahierten 
Dammerzustand in seinem Erregungsstadium, der sich aber schon 
auBerlich insofem vom manischen unterschied, als er nur den 
sprachlichen, nicht aber auch den motorischen Bewegungsdrang 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei DefektpBychosen. 


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zeigte. Er lag bei der Aufnahme des Assoziationsprotokolls stets 
ruhig im Bett, zudem sprach er bei aller logorrhoe leise, fast aus- 
druckslos, gleichmutig, im Gegensatz zum Maniakus. Ich fiige nun 
einige kurze Proben an: 

Siinde •— 2,3" — Das war schon so. Gebetbuch. Wenn der 
Englishman Sport braucht und dabei umkippt; Bivouak, Zwieback, Zwiebel, 
Zwebel, Bebel. 

Tod — 1,2 11 — Salz kann doch nicht riechen nach Rum, der sieht 
schwarz aus. Daher der Name Weberlein. Was niitzt es einem, wenn man 
nichts dagegen tun kann. 

8chdn — 1" — machts der Hund von vorn. Schon ists gestochen zu 
werden. Tamtatem, sind ja schon drin im Kopf, tatata. Jagerlein, 
Beyerlein (pfeift). 

schlecht — 2,4" — zwei eins (zuckt die Aohseln); erst kommt der 
Geruch. 

Recht —• 1,1" — Otto ists nicht rechts, ists links rum. Feine Dame, 
die Frau Biinger. 

stiff — 2,4" — lieber sauer wie siiC, daher der Name Unzucht. Warum 
ifit er nicht Friihstiick ? Weils gleich Mittag gibt. 

Kaiser — 1" — stiller und leiser, o schade, bin so lang. 

Auch Perseveration tritt deutlich hervor, so z. B. in den drei 
aufeinanderfolgenden Reaktionen: 

Stock — 1,1" — Fenster, weifi, blau (wohl noch eine Perseveration von 
dem vorhergehenden durch bereits 4 andere Reaktionen getrennten Reizwort 
rot), Bismarck, Eiche, konnt nicht besser werden. 

Berlin — 2,1" — Luft, Lump, lideldum, Tramway, Zelte, Henners- 
dorf, dann kommt Ella. 

Wenn das ist ? (Singt); O alte Burschenherrlichkeit. wo bin ich her- 
gekommen. 

8chmeizhaft — 3,1" — schmerzhaft ist, wenn man zu viel solche 
Schmerzen hat. Das kommt wie der Harzstock zu Weihnachten, lum- 
dideldum). 

Ich fiige auch noch die sich daran anschlieOenden Reaktionen 
an (No. 25—28 des Protokolls), von denen die erste besonders deut¬ 
lich die Neigung zu obszoner Kleinmalerei zeigt: 

Hochzeit — 1" — Freunde, jetzt sing ich und ich schauder. 1st schon 
gut, Mannchen, ach Mannchen,i st schon gut. LaB. Daher der Name Kloset- 
papier, la paloma, Stereoskop. 

Oehim — 2,3" — Wie mein Bauch. Die Hauptsache ist, daB man ver- 
kohlt wird. Es krankt und strahlt in Hypochondrie. Zu Leib zu Leib. Der 
Hund kam erst. Rettet, rettet (lacht). Das heiBt Papier. 

Schlaf — 2" — schade drum, ist nicht egal, Petroleum immer bon. 
SchlieBe die Augen, daher der Name Bierfisch. Beim Kaufmann ists gut. 
Holdrio! Ganz leise, ja freilich, daher der Name Kartagena. 

Durchaus nicht sinnlos ist meines Erachtens auch die De¬ 
finition von Verstand in 

No. 28. Verstand — 3,1" — Omnibus, per Cotillon, gon, gon, lala. 
Schorscherl, ach kauf mir doch ein Auto (singend). Aber er tuts nicht. 
Siehste, da hast Du’s. 

Endlich mochte ich noch No. 33 wegen der Klangbilder 
hervorheben: 

Krankheit — 1,5" — Luftveranderung, wenn man sich immer mehr 
Freunde macht — Geist, Geist, geistlich; Hauptsache ist. daB das Ding nen 
Haken hat und dann hakelts, daher Hakchen. 


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310 Rohde, Aasoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 

Meines Erachtens reicht die Beaktion bis Geist (durch seine 
,,Freunde“ hat er eine Luftveranderung wegen Krankheit des 
Geistes bekommen), daran kniipfen nun in ideenfliichtiger Art alle 
moglichen Klangassoziationen an. Dementsprechend ist die ganze 
Reaktionsliste. 

In scharfstem Gegensatze hierzu stehen nun die Ergebnisse der 
nut epileptischen Dammerzust&nden angestellten Versuche. Hier 
sind ja unendlich viele Vorstellungskreise ausgeschaltet, und es 
scheint daher oft, als ob gar keine Vorstellungen da sind. Ziehen 
liebt in diesem Sinne hervor: 

,,Richtunggebende, dominierende Zielvorstellungen treten vie! 
sparlicher auf, in schweren Fallen fehlen sie ganz; bald brechen die 
Kranken im Satz ab, bald wiederholen sie sinnlose Wortver- 
bindungen unzahlige Male. Echolalie und Perseveration kommen 
vor.“ Das alles tritt nun auch in den Assoziationsprotokollen 
meiner untersuchten Dammerzustande hervor, und bei jedem 
dieser Kranken, doch in besonderer Weise. 

Was die erste Patientin Ad. anbetrifft, so ahnelt sie in ihrem 
Y'erhalten mehr den genannten Erregungszustanden, insofem als 
sich im Dammerzustand eine gewisse Logorrhoe geltend macht. 
Wahrend aber dort neue Assoziationen auftraten, auch selbst noch 
beim Hebephreniker bis zu einem gewissen Grade, ist hier die 
Phantasie bei allem Rededrang fast erloschen. Die Reaktionen 
sind monoton, ohne Zusammenhang, abgerissen, zudem zuweilen 
ganz kurz, so daB der Rededrang zwischendurch erlischt. Es 
ist hier wie mit einem aufgezogenen Uhrwerk, das plotzlich aus- 
setzt, bis es dann wieder neu aufgezogen ist. Auch tritt schon in- 
sofern eine schwere Unbesinnlichkeit, eine Hemmung, ein Ringen 
mit dem Worte dabei auf, als sie stets zuerst das Reizwort wieder- 

holt und Reaktionen liefert, wie z. B. „Schlange — Schlange- 

heiB ich nicht.“ Ich will auf diesen Fall nicht naher eingehen, um 
lieber die anderen vollstandiger zu erortern, da er sonst nichts Be- 
sonderes bietet. Hervorheben will ich nur, daB entsprechend dem 
einen genannten Beispiel die Reaktionen selbst so diirftig und so 
armselig sind, wie sie selbst der hochgradigste Hebephreniker nicht 
liefert. Bei diesem ist das Denken fur immer herabgesetzt, beim 
Dammerzustand dagegen fur kurze Zeit vollig ausgeschaltet. 
DemgemaB, entsprechend der volligen Ausschaltung der Leitungs- 
drahte tritt die Storung viel krasser hervor. Das zeigt am deut- 
lichsten eine andere Patientin Lo. Diese wiederholte — ahnlich 
wie mein Hebephreniker Kle. — sofort prompt das Reizwort, oft 
mehrmals, lieB sich aber auf weitere AeuBerungen nicht ein. So 
zeigt sie auf der Hohe des Dammerzustandes eine ausgesprochene 
Echolalie als Zeichen der Ausschaltung des Denkens, die nur ganz 
vereinzelt abgelost wurde von der dem Epileptiker so gelaufigen 
,,Wennform“, wovon ich spater noch eingehend zu sprechen habe. 
Diese stellt meines Erachtens eines der Charakteristika der 
epileptischen Reaktionsweise in Zeiten der Klarheit vor, ihr ver- 
einzeltes Auftreten auch im Dammerzustand spricht meines Er- 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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achtens in besonderem MaBe dafiir, daB auch selbst in der 
„Dammerung“ der unbewnBte Leitstem des Epileptikers — die Er- 
klarungstendenz — sein Him in Beschlag nimmt, es ist ein Ueber- 
rest des aus der Zeit der Klarheit ubemommenen Denkens. Und 
daher mochte ich auch auf diese an sich so geringfugig scheinende 
Tatsache besonderes Gewicht legen. Dieses Verhalten trat wahrend 
des ganzen Dammerzustandes zutage; nach dem Erwachen lieferte 
sie meist die, wie ich meine, typisch epileptischen Reaktionen 
(Wennform usw.), und zwar kommt hier merkwiirdigerweise ge- 
nau dieselbe Beaktion zweimal vor, die sie schon im Dammerzu- 
stand geliefert hatte; namlich: ,,tanzen — na, tanzen ist, wenn 
Musik gemacht wird“ und ferner, ,,Wald — Wald ist, wo Baume 
wachsen." UnbewuBt gleitet das Reizwort in dieselbe schon im 
Dammerzustand befahrene Bahn und holt eine schon in demselben 
gelieferte Assoziation, eine Dammerzustandsassoziation hervor. 
Man konnte fast glauben, daB man trotz der Amnesie eine leichte, 
wenn auch unbewuBte Erinnerung findet, und es konnte auf diese 
Weise vielleicht nicht unmoglich sein, Geschehnisse des Dammer¬ 
zustandes unter Umstanden hervorzuholen, die, mechanisch unbe- 
wuBt deponiert, jetzt nach dem Erwachen ebenso mechanisch unbe- 
wuBt reproduziert werden. Ein Erinnerangsbild — hier wohl dann 
ein gefiihlsbetontes — ist im Dammerzustand niedergelegt; es kann 
unter Umstanden bei dem gleichen AnstoB, dem gleichen Reizwort, 
bei denkbar giinstigster Konstellation spater nach dem Erwachen 
hervorgeholt werden. Es wirft das vielleicht auch ein Streif- 
licht auf das Zustandekommen solcher Assoziationen und legt mir 
den Gedanken nahe, daB die motorische Innervation, das Aus- 
schleifen alter Bahnen in unserem Denkprozesse eine groBere Rolle 
spielt, als man annehmen sollte. Schon Fuhrmann hebt hervor, wie 
beim Epileptiker das Mechanische, das Automatische des Vor- 
stellimgsablaufs das freie Spiel der Phantasie verdrange, wie das 
Reizwort immer und immer wieder dieselben Seiten der affektiven 
oder sprachlichen Gebiete in Erregung setze. So ist es meines Er- 
achtens sehr charakteristisch, daB meine Patientin im wachen Zu- 
stande eigentlich auf ,,tanzen“ hatte mit ,,Hochzeit“ reagieren 
wollen, indessen: ,,ich weiB selbst nicht, wieso ich eigentlich das 
andere sagte.“ Es ist ein innerer Zwang, sie verfallt in die alte, ihr 
unbewuBt im Dammerzustand schon einmal befahrene Bahn, die 
dadurch kiirzlich erst wieder neu ausgeschliffen ist, und dadurcli 
wird der ProzeB ein mechanischer (,,Ueberlistungsversuche“). Es 
ist auch hierbei, wie Riehl hervorhebt: ,,Und wenn wir auch nicht 
zweifeln konnen, daB der Wille EinfluB auf den Verlauf und die 
Ordnung unserer Gedanken nimmt, so verhalt er sich auch hier nur 
als auslosende Bedingung; der Gang der Gedanken im einzelnen 
bleibt dabei dem Mechanismus der Vorstellungen iiberlassen. Die 
Gedanken kommen nicht, wenn wir wollen, sondern wenn sie 
wollen, und nicht wir geben den Gedanken Audienz, die Gedanken 
geben uns Audienz. “ Erwahnen will ich noch, was Haymann von 
Epiloptikem hervorhebt und was meines Erachtens auch dafur 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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spricht, daB dieselbe Reaktion im Dammerzustand und gleichsam 
wider Willen der Person auch nach dem Aufwachen auftritt: „Es 
konnen Traumerinnerungen, die mit der Wiederkehr des BewuBt- 
seins vollig geschwunden waren, durch zufallige spatere Sinnes- 
eindriicke — in meinem Falle das erneute Einwirken desselben 
Reizwortes — wieder geweckt werden.“ Fuhrmann hebt beim 
Epileptiker die Monotonie in der sinngemaBen Bedeutung hervor, 
die soweit gehe, daB oft durch 4 Versuchsreihen hindurch dasselbe 
Reizwort inhaltlich dieselbe Reaktion auslose. Jsserlin kommt auf 
Grand eines Falles, bei dem er nach 6% Jahren zum Teil dieselben 
Reaktionen erhielt, zu dem SchluB, daB das sicher keine mechanische 
Fixation sei, sondern daB sie durch die spezielle Individuality be- 
dingt seien. Ich will demgemaB in meinem Falle, wo Dammer- 
zustandsreaktion und Normalzustandsreaktion gleich sind, zugeben, 
daB innere Momente sehr oft mitspielen mogen, indessen ist doch 
der Unterschied zwischen dem Dammerzustand, in dem die Per- 
sonlichkeit so gut wie vollig untergeht, und der Zeit nach dem 
Aufwachen viel zu erheblich, als daB hier innere Momente 
wirklich ausschlaggebend sein konnten. Hier spielt doch wohl 
das Mechanische die Hauptrolle, es wirken hochstens inneTe 
Momente wie die Personlichkeit mit, die aber dann im epileptischen 
Dammerzustand zum Teil doch erhalten sein miiBte. Dafiir wiirde 
das gleichartige Auftreten der typischen Wennform im Dammer¬ 
zustand und nach dem Erwachen sprechen, doch wiirde das auch 
mechanische Prozesse nicht ausschlieBen. 

Nach diesem Exkurs komme ich auf die Ergebnisse der Ver- 
nehmung nach dem Aufwachen zuruck. Hier wiederholt die Pat. 
zuerst immer das Reizwort, es stellt das meines Erachtens bei ihr 
ein Suchen nach der Reaktion dar, im iibrigen pravaliert dann die 
Erklarangstendenz, es iiberwiegt das egozentrische Moment, ,,der 
festeste und starkste Komplex, der sich durch alle psychologischen 
Stiirme hindurch behauptet“, wie Jung sagt, und zwar in der 
engeren Form, die Wresrhner verlangt, daB die Ichbeziehung in der 
Reaktion durch das Pronomen der ersten Person, wie ,,ich“, 
,,mir“, ,,mein“ u. s. w. direkt zum Ausdrack kommt. Sie bleibt 
auch bei der Wennform, trotzdem ihr wiederholt gesagt wurde, es 
sei kein ganzer Satz notig. Sie unterbricht diese Wennform nur 
bsi besonders fur .sie gefiihlsbetonten Worten, die an das Ich 
ankniipfen, z. B. 

Berlin — 0,4" — Stadt Berlin, da bin ich ja geboren in der 
Waldemarstr. 71. 

Um die Wennform der Patientin zu illustrieren, fiige ich 
einige Beispiele an: 

Schmerzhaft — 2,2' — schmerzhaft . . . schmerzhaft ist, wenn mir 
was weh tut. 

Hochzeit — 1,4“ — Hochzeit — ja, das ist, wenn einer groBe Hochzeit 
macht. 

Gehirn —-2,1“ — Gehim . . Gehirn . . ja. das ist, wenn der Mensch. 
ein Vieh eins hat. 

Schlaf — 1,1" — Schlaf . . . na, wenn ich viel schlafe u. s. w. 


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Rohde, Assoziations vorgange bei Defektpsychosen. 313 

6anz vereinzelt tritt Reihenbildung auf, sofern man das als 
Reihenbildung bezeichnen kann, da es sich eigentlich immer nur 
um einen Begriff handelt, z. B. Kaiser — 1,3" — Kaiser, es gibt 
Kaiser, Konig, Kronprinz. Ich sprach schon davon, dad die 
Patientin vor jeder Reaktion zuerst das Reizwort wiederhoit. 
Das ist meines Erachtens einmal ein Zeichen von Gedankenleere, 
andererseits aber auch ein Versuch zu denken. Nun hat sie im 
Dammerzustand ebenfalls das Reizwort wiederhoit, aber wahrend 
nach dem Aufwachen eine weitere Reaktion folgt, ist es im Dammer¬ 
zustand meist bei der einfachen Wiederholung geblieben. So kann 
man fast schlieden: Wenn man im Dammerzustand hatte warten 
konnen, und wenn das Reizwort so lange als Reiz fortgewirkt hatte, 
was allerdings fraglich ist, so ware das, was jetzt nach Sekunden 
der ersten Wiederholung des Reizwortes folgte, vielleicht im 
Dammerzustand nach soviel Stunden oder Minuten erschienen. 
Und zu diesem gewid kiihnen Schlud leitet auch die schon erwahnte 
Tatsache hin, dad 2 mal im Dammerzustand und nach dem Auf¬ 
wachen die gleiche Reaktion erfolgte. Dann ware also die Normal- 
zustandsreaktion bei den anderen Reizworten im Dammerzustand 
infolge Stupors ausgeblieben. 

Hatte diese Patientin Loe. im Dammerzustand das Reizwort 
noch wiederhoit, abgesehen von den erwahnten 2 Reaktionen, also 
eine Echolalie gezeigt, so fehlt selbst diese vollig bei einem anderen 
Dammerzustand Mei. Dieser blieb auf der Hohe seines 8 Tage 
dauemden Dammerzustandes stumm. Ihm fehlte hier neben dem 
Denken auch die motorische Kraft des Nachsprechens — hier ist 
eben beides ausgeschaltet, er ist absolut gehemmt. Vorher zu 
Hause war er sehr erregt gewesen, das Verstummen und Stumm- 
bleiben selbst auf Reizworte stellt meines Erachtens eine Gegen- 
reaktion darauf dar, eine Abspannung. Und wie der normale 
Mensch, der sich in Wut geredet hat, schliedlich verstummt, weil er 
ermattet, so mag es auch bei diesem Dammerzustand sein. Es 
wechseln eben, wie Ziehen hervorhebt, oft stuporose, agitierte und 
scheinbar normale Zustande im epileptischen Dammerzustand ab. 
Dafiir spricht, dad er am nachsten Tage (4. IV.) auf viele Reiz¬ 
worte r stumm bleibt, auf einzelne aber doch bei zum Teil stark 
verlangerten Reaktionszeiten reagiert. Ich fiige dieses Pro to koll hier 
an. Es zeigt andeutungsweise das Hervortreten eines uberwertigen 
Affektes, der aus der gesunden Zeit in die Zeit des Dammerzustandes 
mit hinubergenommen ist, die Liebe zur Nichte seines Meisters. 
Im Beginn des Dammerzustandes hatte er, um dies hier vorweg- 
zunehmen, in das Schlafzimmer derselben eindringen wollen, hatte 
dauemd davon gesprochen, er wolle sie heiraten. Eine nach dem 
Erwachen von ihm erhobene Anamnese ergab, dad das, was er 
wiinschte und im Stillen hoffte, aber nicht zu sagen gewagt hatte, 
die Verbindung mit der im Geheimen Geliebten im Dammer¬ 
zustand hervorgetreten war. Es herrschte ein iiberwertiger Affekt, 
der durch seine Brutalitat und in mancher Hinsicht auch Mono- 
tonie auffallt, und dieser Affekt tritt im Protokoll vom 4. IV. 


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314 Rohde, Assoziationsvorgiinge bei Defektpsychosen. 

bereits wieder hervor (Reaktionen No. 12, 23, 32, 33, 35). Die 
Tatsache, daB ein Affekt wieder da ist, weist meines Erachtens 
darauf hin, daQ einmal der Dammerzustand seinen Hohepunkt 
beteits wieder iiberschritten hat,dann aber auch, daB es einleichterer 
Fall ist. Das Wiederhervortreten des einen Affekts, der vorhanden, 
aber inzwischen nicht mehr hervorgetreten war, deutet auf ein Ab- 
klingen hin. Im allerersten Beginn des Zustandes trat er brutal auf, 
es war gleichsam das Stadium des Reizes, die gefahrliche Zeit fiir 
Gewalt- und Strafhandlungen. Die Vergewaltigung des Madchens 
wurde hier durch das Dazwischentreten anderer verhindert, es 
folgte die Erschlaffung, sowohl motorisch, als im Denken, damit er- 
reichte der Dammerzustand seine Hohe; der Pat. ware bier meines 
Erachtens relativ ungefahrlich gewesen, auch wenn er nicht in¬ 
zwischen in die Anstalt gebracht ware, jetzt am 4. IV. bricht der 
Affekt noch einmal schwach hervor, auch kommt hier wieder eine 
leichte motorische Entladung (Parademarsch, Pfeifen u. s. w.), es 
folgt auf den Mutismus ein Ueberleitungsstadium, das Stadium 
der Inkoharenz und des Mutismus zusammen, und dieses Stadium 
leitet innerhalb von 4 Tagen uber zu einzelnen wahnhaften Ge- 
danken und fiihrt zur Angst, die Reaktionen aber zeigen im Asso- 
ziationsprotokoll bereits zusammenhangendes Denken; und dies 
SchluBstadium hielt noch 2 Tage an. Es ist dies meines Erachtens 
auffallend und paBt nicht recht zu dem sonstigen brusken Auf- 
horen eines epileptischen Dammerzustandes, ich mochte daher nach 
den Protokollen fast annehmen, daB hier der Verlauf etwas modi- 
fiziert ist, etwa im Sinne einer nicht mit absoluter Sicherheit aus- 
zuschlieBenden Hysterie, bei der ja das Ende ofter mehr allmah- 
lich kommt. DaB es ein epileptischer Dammerzustand war, war 
nach Anamnese u. s. w. sicher, es fragt sich nur, und meines Er¬ 
achtens legt gerade das Assoziationsprotokoll den Verdacht nahe, 
ob nicht daneben noch eine mehr latente Hysterie mitspielt. 

Von den Reaktionen des 4. IV. mochte ich noch besonders 
hervorheben No. 14: Krankheit — Krankheit ist mein Tod; diese 
Reaktion weist auf die hypochondrische Gefiihlsrichtung hin, die 
Pat. in normalem Zustande hatte. Diese Reaktion stellt demnach 
einen Ueberrest der Personlichkeit. vor, er kommt also auch hier 
in die alten ausgeschliffenen Assoziationsbahnen. Was das gleich- 
falls angefiigte Protokoll vom 8. IV. anbetrifft, so besteht hier noch 
Angst und noch Hemmung, vor allem aber tritt hier die Wahnidee 
hervor, er sei hier, weil er gegen Kaiser und Reich gesundigt habe. 
Diese Versiindigungsideen sind meines Erachtens bedingt durch 
seinVerhalten zur Geliebten. Er, der normalerweise sehr schuchteme 
Mensch, hat gewagt, die Augen zu der Nichte des Meisters zu er- 
heben, die er als weit fiber sich stehend auffaBt. Normalerweise 
wiirden eventuell Selbstvorwiirfe eintreten, im Traum dagegen — 
und so ist es meines Erachtens auch mit diesem Dammerzustand — 
sind die Dimensionen verzerrt, es erscheint gleich alles riesengroB, 
extrem; daher wird daraus eine Schuld gegen Kaiser und Reich, 
und daraus erklart sich dann zwanglos das, was bei No. 5 am 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


315' 


8. IV. hervortritt, das Auftreten von Gehorshalluzinationen: „der 
wird erschossen“. Im iibrigen verweise ich auf das Protokoll. 


Protokoll vom 4. IV. 


No. 

Reizwort 

| Zeit 

Reaktion 

1 

Fisch. 

*1 2 Min. 

, 

2 

Schlange .... 

27.2" 

Schlange. 

3 

Wald. 

2 Min. 

— 

4 

Siinde. 

I 39,1“ 

Ehre. 

5 

Tod. 

2 Min. 

6 

Schon. 

2 „ 

— 

7 

Tanzen .... 

54,1" 

Bettdecke. 

8 

Stinkend . . . 

39.1" 

Mein Freund. 

9 

Gift. 

2 Min. 

— 

10 

Sonne. 

1 26 ., 

Sonne. 

11 

Professor . . . 

2 Min. 

1 — 

12 

Schlecht .... 

52,1“ 

Sie liebt mich. 

13 

Recht. 

54,2“, 

i Ehre. 

14 

Krankheit . . . 

4.3“ 

Krankheit ist mein Tod. 

15 

Sufi. 

i 1,31 Min. 

Die Wahrheit. 

16 

Kaiser ..... 

31,3" 

i Hoch 

17 

Rot ...... 

1 Min. 5,2“ 

1 Kling. 

18 

Lieben .... 

2 Min. 

— 

19 

Armut. 

2 Min. 


20 

Uhr. 

2 Min. 


21 

Zwolf. 

i 27,1“ i 

' Hoch 

22 

Stook ..... 

23,1“ 

| Pfui Deiwel (spuckt aus). 

23 

Berlin. 

24,1 

| Sie liebt mich nicht. 

24 

Schmerzhaft . . 

44,3“ 

Einmal. 

25 

Hochzeit .... 

1 Alin. 9“ 

| Weg 

26 

Gehim .... 

41.4“ 

| Na, Na, zu hause. 

27 

Schlaf. 

1 2 Min. 

Beginnt nach 10,1“ zu pfeifen. 

28 

Verstand . . . 

2 Min. 

1 ‘ 

Beginnt plotzlich in der Stub© heruui- 
i zumarschieren (Parademarsch). 

29 

Gewitter .... 

2 Min. 

— 

30 

Hungrig .... 

8,4“ 

Ab. 

31 

Fisch. 

13,2“ 

Ab. 

32 

Rot. 

51,1“ i 

Sie ist treu. 

33 

Krankheit . . . 

23 2“ 

Sie liebt mich. 

34 

Schlaf. 

2 Min. 

— 

35 

Wald. 

51.3" 

Sie liebt mich nicht. 

36 

Hochzeit .... 

2 Min. 

ll 

Nach 54,1“: Steht plotzlich auf, macht 
Parademarsch. 


Protokoll vom 8. IV. 

Mai. 8. 4. Aengstlich, weinerlich. 

No. 1. Fisch — 4“ — der schwimmt. 

No. 2. Schlange — 2,2“ — ist falsch. 

No. 3. Wald — 4,1" — da stehen Baum© drin. 

No. 4. Siinde — 10,2“ — Wer Siinde tut, der mufi bestraft werden. 

No. 5. Tod — 4“ — Der wird erschossen, a. B.rlch hab hier immer 

gehort: „Der wird erschossen**. (Hat auch jetzt noch Angst). Woven 
Angst ?] Daft ich noch mufi im Bett liegen und nicht gehen. 

No. 6. Schbn — 1 Min. 31“ — schon ist, wenn man seine Freiheit 
hat. A. B.: Jetzt hab ich sie nicht, ich mufi immer im Bett liegen (a. B.: 
Auf Befragen, d. h. Anschlufifrage: Woran gedacht). 


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316 


Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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No. 7. Tanzen — 2,2" — tanzen geh ich nicht. 

No. 8. Stinkend — 34,4" — wenn man die TJnwahrheit sagt. 

No. 9. Gift — 10,1" — Gift ist Morphium. A. B.: Weil ich hier die 
Flasche sehe (auf dem Tisch steht ein GefaO fiir Pil. camphor, monobrom.). 

No. 10. Sonne — 13,2" — die scheint (draufien Regen). 

No. 11. Professor — 19,3" — der hat die Universitat unter sich. 

No. 12. Schleoht — 15,3" — schlecht sind die. Wer?] Wer was 
verbrochen hat. Ich. 

No. 13. Recht — 12" — Recht fiir alle. 

No. 14. Krankheit — 8,3" — Krankheit, da mufi man wieder ge- 
sund werden. (An sich und seinen Kopf gedacht.) 

Spontan: Ich hab doch nichts gegen Kaiser und Reich verbrochen. 
Das bin ich so gefragt. Ich denke, dafi ich deswegen hier bin (a. B.: Niemand 
gesagt, glaubt es. Weint.). 

No. 15. Sufi — 6,1" — siifi ist die Liebe. 

No. 16. Kaiser — 5,2" — Der Kaiser ist gut, und ich habe nichts 
verbrochen. 

No. 17. Rot — 10" — rot ist der Sozialdemokrat. (Ist es nicht 
selbst, ,,ich bin Schneider“, „ich wahle nicht, ich halte doch zu Kaiser und 
Reich. “ 

No. 18. Lieben — 4,4" — man soil Kaiser und Reich lieben, a. B.: 
an mich. .„Ich habe es doch getan. 

No. 19. Armut — 12,1" — wenn man nichts zu essen hat. A. B. ■ An 
mich, wenn ich hier fortkomme. 

No. 20. Uhr — 11,1" — Uhr ist ein Gegenstand. 

No. 21. Zwolf — 16,1" — 12 ist mittags und in der Nacht. 

No. 22. Stock — 26,1" — ich habe keinen Stock. 

No. 23. Berlin — 2,3" — Berlin ist eine grofie Stadt. 

No. 24. Schmerzhaft — 9,1" — schmerzhaft ist, wenn man leiden 
mufi. A. B.: An mir selbst, weil ich leiden mutt, weil ich hier bin und weifi 
nicht warum. Ich hab doch nichts verbrochen gegen Kaiser und Reich. 

No. 25. Hochzeit — 8.3" — ich hab keine Hochzeit gemacht. 

No. 26. Gehirn — 17,1" — weifi nicht, ich denk nichts. 

No. 27. Schlaf — 11,3"" — hier kann ich iiberhaupt nicht schlafen. 

No. 28. Verstand — 44,1" — zuckt die Achseln — 18,2" — den 
mufi man zusammen nehmen. 

No. 29. Gewitter — 2,3" — Gewitter schlagt oft ein. 

No. 30. Hungrig — 5,1" — Hungrig ist der Mensch, wenn er 
nichts iflt. 

No. 31. Fisch — 10,1" — den kann man essen. 

No. 32. Rot — 1 Min. 11,2" — rot ist Feuer; starrt oft zur Seite, wie 
geistesabwesend. 

No. 33. Krankheit — 2 Min. — A. B.: Ich denk an nichts. 

No. 34. Schlaf — 2 Min — 

No. 35. Wald — 1,2" — ich kann hier nicht schlafen. 

No. 36. Hochzeit — 50,1" — ich hab keine gemacht. 

Ueberhaupt erinnert dieser Dammerzustand in seinen Phasen 
sehr an den Traum. Gerade bei diesem Fall mochte ich 4 Stufen des 
Schlafes und Traumes als Analoga gegeniiberstellen, wie sie 
Samuely hervorhebt: 

1. der halbtiefe Schlaf mit Herabsetzung der Reizschwelle 
bis nahe an das Minimum. 

2. der tiefe Schlaf als Steigerung der vorhergehenden 
Stufe mit vorzugsweise auBerlichen Merkmalen (tiefer Afcmung 
u. s. w.). Diese Stufe mochte icli dem lautlichen Verstummen 
Mei’s gleichsetzen; 


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Protokoll vom 12. IV. 


HIT 


Xo.i 

Ji 

Name 

Zeit 

Diagnose 

Reaktion j Woran da-bei gedacht ? 

1 

Fisch. 

1,1" 

Schwimmt. 

_ 

■) 

Schlange . . . 

0,4“ 

Wenn man falsch ist. 

—- 

3 

Wald. 

3,1“ 

Wo Baume drin stehen. 

— 

4 

Siinde. 

3,2“ 

Siinde, wenn man Falsches tut. 


5 

Tod. 

3,1“ 

Tod, da kann man nicht melir 
sprechen. 

Da denk ich mir iiberhaupt nichts. 

6 

Schon. 

7,2“ 

Wenn’s draussen schon ist. 

Ich mochte ’raus. 

7 

Tanzen .... 

4,1" 

Tanzen — kann ich nicht. 

—- 

> 

Stinkend.... 

3,1“ 

Stinkend ist, wenn Fleisch in 
Faulnis iibergeht. 

— 

y 

Gift. 

8,1“ 

Gift ist Morphium, Phosphor. 

— 

1U 

Sonne. 

3,4“ 

Die Sonne die scheint. 

— 

It i 

1 

Professor . . . 

2“ 

Professor ist Angestellter der 
Universitat. 

-—* 

12 | 

Schlecht .... 

3,3“ 

Schlecht ist, wenn man Falsches 
macht. 

— 

13 f 
1-1 ! 

Recht .... 

11,2“ 

Recht. 


Krankheit . . . 

4,1“ 

Krankheit ist nicht gut, wenn 
man sie hat. 

An mich, ich mochte ? raus. 

15 

Sufi. 

1,2“ 

Honig. 


16 

Kaiser .... 

2,1“ 

Ist gut. 

—- 

17 

Rot. 

3,1“ 

Rot ist Blut. 


1* 1 

1 Lieben .... 

7“ 

Lieben tut man die Frauen. 

An mein junges Madel zu Hause. 

tM j 

j Armut .... 

3,1“ 

Armut ist, wenn man nichts zu 
essen und zu trinken hat. 

An mich. 

20 ! 

IllJhr. 

2,3“ 

IJhr ist ein Gegenstand. 


21 

Zwolf. 

2,1“ 

12 ist mittags und in der Nacht. 

— 

22 

1 Stock. 

1,2“ 

Damit schlagt man. 

Wie ich zu Hause Priigel kriegte. 

23 

Berlin. 

1,3“ 

Berlin ist eine grofie Stadt. 

— 

24 

! 

j Schmerzhaft . . 

5,1“ 

Schmerzhaft ist, wenn man ge- 
schnitten wird. 

An mich. Ich sollte mal wegen 
eines Bruches in die Warschau- 
straBe. 

25 | 

| Hochzeit . . . 

14" 

Hochzeit ist schon, wenn man sie 
machen kann. 

Ich mochte es, aber ich muB es 
mir aus dem Sinn sehlagen. 

26 | 

i 

| Gehim. 

i 

4,1“ 

Gehim das muB man zusammen- 
nehmen, sonst wird man ver- 
riickt. 

An mir. 

27 

Schlaf. 

3,3“ 

Schlaf ist gut. 

Ich kann es nicht. 

28 1 

Verstand . . . 

1,4“ 

Verstand muB man zusammen- 
nehmen. 

— 

20 

! Gewitter . . . 

2,2“ 

Gewitter schlagt oft ein. 

Als zu Hause Scheune abbrannte. 

30 

1 Hungrig . . . 

54“ 

Hungrig ist, wenn man nichts zu 
essen hat. 

— 

31 

Fisch. 

3,2“ 

Fische ifit man. 

i 

32 

Rot. 

4,1“ 1 

Rot ist die Liebe. 

— 

33 

Krankheit . . . 

4,2“ | 

Krank, das bin ich jetzt. 

— 

34 

Schlaf. 

2,2“ 1 

Schlaf ist sufi. 

— 

35 , 

[Wald. 

2“ 

Wald ist griin. 

— 

36 

! Hochzeit . . . 

4,1" 

Hochzeit ist gut, wenn man sie 
machen kann. 

— 


3. gegen das letzte Viertel der Schlafzeit wird der Schlaf 
wieder oberflachlicher. Als Kennzeichen hebt Samuely eine ge- 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 4. 21 


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318 


Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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wisse Unruhe hervor. Im Laufe des Schlafes habe eine vollstandige 
Erholung des Muskelsystems stattgefunden, die latente Arbeits- 
energie erzeuge Bewegungsenergle. Zwischen diese Stufe und 
das Erwachen schiebe sich die Zeit der Traume. Dem wiirde 
in meinem Fall von Dammerzustand das Auftreten von 
Halluzinationen am Tage vor dem Erwachen entsprechen. 
Was im Schlaf sich in einer Nacht vollzieht, das geschieht 
in meinem Falle Mei. in analoger Weise in Tagen des patho- 
logischen Schlafes, des Dammerzustandes: Der Erregung folgt 
der tiefe Schlaf, das Verst ummen, dies wird abgelost von ver- 
einzelten AeuBerungen des Bewegungsdranges, des Sprechens 
(4. IV.) Dieser nimmt zu und fiihrt zu Halluzinationen (8. IV.). 
Dieses Stadium leitet das Erwachen ein. Es liegt mir fern, den 
Dammerzustand fur einen Schlafvorgang erklaren zu wollen, ich 
moehte nur auf das in diesem einen FaLe hervortretende Analoge 
hinweisen. 

Am. 9. IV. war Mei. klar, er entsann sich auf nichts, und das, 
was den Dammerzustand beherrscht hatte und so brutal hervor- 
getreten war, die Liebe zu dem Madchen, muBte ihm miihsam durch 
Befragen entlockt werden. Die Hemmungen waren wieder da. In 
dem 3. Protokoll vom 12. IV., das also in normalem Zustand auf- 
genommen wurde, weist No. 18 darauf hin, aber unter der Maske 
der Gleichgiiltigkeit. Im iibrigen ist es mir auffallend, daB sehr 
viele Reaktionen an diesem Tage sich wortlich mit Dammer- 
zustandsreaktionen vom 8. IV. decken. Und das bestarkt mich in 
meiner oben geschilderten Auffassung von dem Mechanischen 
dieser Prozesse. Im iibrigen zeigt dies Protokoll am 12. IV. eine 
gewisse Schwerfalligkeit der Ausdrucksweise und Andeutung von 
Erklarungstendenz, und doch ist es trotz mancher Ueberein- 
stimmungen anders wie die spater zu besprechenden typischen 
Epilepsieprotokolle. Es ist eben wohl kein reiner Fall, vielmehr 
eher der Affektepilepsie im Sinne von Bratz zuzurechnen. Und so 
steht das Ergebnis auch dem Protokoll eines weiteren Dammer¬ 
zustandes, einer Alkoholepilepsie, entschieden naher wie den 
anderen. 

Ich hob hervor, daB entsprechend der Hohe des Dammer¬ 
zustandes im allgemeinen sich wohl mehr ein Verstummen geltend 
mache, jedenfalls eine Herabsetzung der assoziativen Reaktion. 
Etwas anders verhalt sich der Alkoholepileptiker Gom. in seinem 
Dammerzustand. Er liefert ein Resultat, das im wesentlichen dem 
Mei’s vor dem Aufwachen ahnelt. Die diesem Stadium bei Mei. 
vorhergehenden Erregungszustande und das Stadium des Mutismus 
sind bei Gom. nicht hervorgetreten, scheinen auch nach der von 
den Angehorigen gegebenen Anamnese nicht dagewesen zu sein. 
Dieser Patient litt bereits seit 8 Jahren an Dammerzustanden und 
epileptischenKrampfen, bei Mei. war es der erste derartige Zustand; 
bei diesem dauert er lange, hier bei Gom. nur 4 Tage. Bei Mei war 
ein gewaltiger Affekt, der zur Entladung drangte und latent, ihm 
unbewuBt. im Dammerzustand sich zu entladen suchte, anders war 


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R o h d e . Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


319 


es bei Gom. Er ist Alkoholepileptiker, der, wenn er nicht gewalt- 
tatig ist, und das war Gom. nicht, in der Regel mehr euphorisch, 
lustig ist. So fehlt bei ihm das Erregungsstadium, so das Reaktions- 
stadium darauf, der Mutismus; der Dammerzustand flieJBt hier 
mehr in ruhiger Bahn. So liefert er, trotzdem der Dammerzustand 
noch frisch war, er bestand bei Aufnahme des Protokolls 1—2 Tage, 
ein relativ normales Versuchsprotokoll; es traten zum Teil durchaus 
verniinftige Reaktionen auf, daneben aber auch entschieden 
dissoziative, z. B. rot — rot ist ’ne Farbe, denn mein Bruder ist 
Zahnarzt. Im iibrigen iiberragt im ersten Versuchsprotokoll vom 
13. II. vor allem der Gedanke an seine Krankheit, was ja gerade fur 
den Epileptiker so typisch ist, alle anderen, und dieser zusammen 
mit einer Logoklonie sind das Hervorstechendste. Auch in diesem 
Dammerzustand tritt wieder die ,,Wennform“ hervor sowie ent- 
sprechend der trotz derKrankheitsgedanken bestehendenEuphorie 
ein Rededrang, der gepaart ist mit Schwerfalligkeit der Ausdrucks- 
weise; er tritt in besonders hohem MaBe bei dem Versuch vom 15. II. 
hervor, wo bei sonst wenig verandertem Befund die Reaktionsliste 
eine leichte Zunahme der Dissoziation gepaart mit einem Kleben 
am Wort aufweist sowie eine gewisse Sprunghaftigkeit der Rede 
hervortritt. Die Protokolle vom 13. II. und 15. II. decken sich 
etwa, nur ist am 15. II. der Wortschwall groBer. 

Ich fiihre aus diesem Protokoll einige Proben an: 

No. 1. Fisch — 1,1" — Fisch schwimmt. 

No. 2. Schlange — 1,3" — Die Schlange ist rund. Es gibt Schlangen, 
vor die sich der Mensch hiiten muB. Ich bin ja schon 15 Jahre hier, ich habe 
bei meinem Bruder gelernt, der die Backware geliefert hat. Meister L. weiB 
es. Ich bin nach dem Virchow-Krankenhaus gefahren. Meine Mutter ist 
83 Jahre, lebt heute noch, ist 20 Jahre alter wie ich. 

No. 3. Wald — 1" — Der Wald ist griin, da wachsen Baume. 

No. 4. Siinde — 2,1" — Wenn man Untaten begeht, betriigt. 

No. 5. Tod — 0,4" — Wenn man tot ist. Ich werde nicht mehr lange 
leben, ich bin mit meinen Kraften so abgefalien, daB ich nicht weiB, wie. Ich 
bin 43 Jahre (r. v. 36 J.). Da kann ich alt werden. Mein Bruder ist 20 Jahre 
alter, der ist Zahnarzt (r. v. ist jener 8 Jahre jiinger). 

No. 6. Schon — 2,4" — schon ist, wenn man sauber und rund ist. 
A. B.: An meine Frau, als sie hier war (r. v. war sie nicht hier). 

No. 7. Tanzen — 4.2" — tanzen ist rund, man dreht sich rund, man 
kann auch Contre tanzen. Ich hab schon 20 Jahre nicht getanzt. 

So geht es weiter. Diese Reaktionen zeigen entschieden 
Perseverationen einzelner Begriffe, so ,,das 20 Jahre alter“, so den 
Begriff ,,rund“ u. s. w. Die spateren Reaktionen zeigen das gleich- 
falls, dazu kommt ,,die eigene Krankheit“ und ,,der Zahnarzt“. 
Es ist hier ein Abschweifen und ein Rededrang bei aller Per¬ 
severation, sodaB er ins Tausendste kommt. Anders verhielt sich 
der hysterische Dammerzustand, wo an sich zahlreiche sinnvolle 
Reaktionen auftraten, die nur unterbrochen wurden durch sinnlose 
Phrasen, die aber ein Fortfuhren der begonnenen Reaktion nicht 
hintertreiben konnten. 

Nach dem Aufwachen am 17. II. lieferte er nun relativ gute 
Reaktionen, die zum groBen Teil nicht in Satzform erfolgen, auch 

21* 


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320 


Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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sehr oft erinnerungsbestimmt sind. Die Wennform tritt zuriick, 
die Reaktionen sind im ailgemeinen kurz. 

Ich hebe z. B. hervor: 

No. 1. Fisch — 1,1" — schwimmt (an Karpfenteich zu Haase gedacht). 

No. 2. Schlange — 1,4" — ist rund (daran gedacht, daB Schlange 
ein Fisch ist!) na ja, der Aal ist auch rund, das dachte ich vorher). 

No. 3. Wald — 2,3" — Weihnachtsbaume. 

No. 4. Siinde — 1,4" — strafbar. 

No. 5. Tod — 2,1" — sterben (daran gedacht, daB sein Vater seit 
10 Jahren tot ist). 

No. 6. Schon — 4" — (lacht): junges Madel. An ein bestimmtes 
Madchen gedacht, das er vor Jahren kannte. 

No. 7. Tanzen — 2,2" — im Saal. 

No. 8. Stinkend — 3,2" — na, Kloset. 

No. 9. Gift — 5,4" — Schlange u. s. w. 

Aus dem Dammerzustand iibernommen, d. h. meines Erachtens 
unbewuBt aufgetreten und unbewuBt weiterlebend ist wohl z. B.: 
rot — schwarzweiBrot ist die deutsche Farbe. Erwahnen mochte 
ich, daB diese dem Dammerzustand und der normalen Zeit 
entsprechenden Reaktionen fur ihn neutral, nicht gefiihlsbetont 
sind, und das bestarkt mich in meiner Ansicht, daB es mehr 
mechanische als in der Personlichkeit beruhende Vorgange sind, 
die das bewirken. Von Logorrhoe u. s. w. findet man am 17. II. 
nichts, sein Protokoll ist kein sehr hochstehendes, aber doch ab- 
weichend von den sonstigen Epilepsieprotokollen, und zwar, wie 
ich meine, weil es eine Alkoholepilepsie ohne Defekt ist. Es traten 
tiefstehende, schwachsinnige Reaktionen hervor, in Satzform u.s.w., 
aber nicht so ausgesprochen wie sonst. So halte ich den ganzen Fall 
fur einen leichteren. Ich glaube fast, daB ein epileptischer Dammer¬ 
zustand ein leichterer ist, wenn er mit Rededrang einhergeht; es 
fehlt — um den geschildertenVergleich mit dem Schlaf beizubehalten 
— das Stadium der Schlaftiefe, wie es die anderenDammerzustande 
hatten, und dieses Fehlen der Schlaftiefe modifiziert das Bild dahin, 
daB der Dammerzustand im ganzen in mehr gleichmaBigen Bahnen 
verlauft. Das Vorstadium des Halbschlafs geht gleich iiber in das 
Nachstadium des schon wieder oberflachlichen Schlafs, und zwar ist 
dieses charakterisiert durch eine mehr gleichmaBige Unruhe. Diesem 
Fall Gom. konnte der Alkoholcharakter den Stempel aufdriicken, 
und dieser wiirde dann auch die Reaktionen nach dem Auf- 
wachen beeinflussen. Die alkoholistisch-psychopathische Konsti- 
tution drangt eben hervor, beeinfluBt den Dammerzustand in seiner 
Reaktionsweise, verdunkelt den Epilepsiecharakter der Wach- 
assoziationen. Und das wiirde ja auch der Feststellung Liepmanns 
entsprechen, wonach die Alkoholepilepsie sich nie in echte Epilepsie 
umwandelt, wonach also Alkoholepilepsie und echte Epilepsie im 
Grunde doch etwas Verschiedenes sind, analog wie es Bratz von der 
Affektepilepsie unter ausdriicklichem Hinweis auf Liepmann 
hervorhebt. Dafiir sprechen auch die spater von mir zu erortemden 
Protokolle von zwei anderen Alkoholepileptikem. Und selbst wenn 
die Alkoholepilepsie, wie es Rittershaus annimmt, eine durch Alkohol 
ausgeloste angeborene Epilepsie ist, so ware es doch noch sehr wohl 


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Kryzan , Ueber den anatomisclien Befund etc. 


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verstandlich, wenn ausgedehntere Untersuchungen eine Modi- 
fikation der Assoziationen durch den Alkoholcharakter ergaben, 
urn so mehr, als ja solche Individuen besonders stark auf selbst 
geringe Mengen Alkohol reagieren. So wiirde der dem Dammer- 
zustand vorangegangene AlkoholgenuB auch mit heranzuziehen 
sein, der nach Rittershaus allerdings die epileptische Reaktionsart 
noch verstarken soli. Ich finde hier jedoch die Assoziationen wesent- 
lich anders. Ich bemerke, daB es sich um einen recht sehweren 
Alkoholiker handelte. 

Im iibrigen zeigte Gom. leicht angedeutet ein Klebedenken 
(z. B. in No. 1, 2, 9). Hervorheben will ich noch besonders No. 2. 
Er sagt, die Schlange sei rund, meint aber gar nicht die Schlange, 
sondem Aal. Die eigentliche Reaktion ist also ,,Aal“. Es ist dem- 
nach eine Reaktion in der von Sommer hervorgehobenen Weise, 
daB Reizwort und Reaktionswort durch ein nicht ausgesprochenes 
Bindeglied zusammenhangen, nur hier mit dem Unterschied, 
daB das Bindeglied ausgesprochen wird, das eigentliche Reaktions¬ 
wort latent bleibt. Diese Form wird von Sommer als typisch fur 
Schwachsinn bezeichnet. 

In den weiteren nicht angefiihrten Reaktionen tritt sein Beruf 
als Backer und seine Krankheit besonders hervor. 

(Fortsetzung im nachsten Heft.) 


(Aus der Psychiatrischen Klinik zu Jena. 

[Direktor: Geh.-Rat Prof. Binsuxmger.]) 

Ueber den anatomischen Befund in einem Falle von 
mikrocephaler Idiotie. 

Von 

Dr. S. KRYZAN, 

Assistenzarzt der Klinik. 

(Hierzu Taf. IX.) 

Im Folgenden werde ich einen Fall von einfacher mikro¬ 
cephaler Idiotie beschreiben. Die Krankengeschichte ist uns 
durch Herm Dr. Volland-Bethel zur Verfiigung gestellt worden, 
dem wir auch die Ueberlassung des sehr interessanten Materials 
verdanken. 

Krankengeschichte. 

Adele M. wiirde am 23. Juni 1885 geboren. Ihre Mutter lebt und ist 
gesund, der Vater ist an einer unbekannten Krankheit gestorben. Ein 
Bruder des Vaters hatte auch ein idiotisches Kind. Ein 7 Jahre alterer 
Bruder der Adele war Idiot und Mikrocephale imd starb im 29. Lebens- 


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Kryzan, Ueber den anatomischen Befnnd 


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jahre an Lungenentziindung. Ihre zweitalteste Schwester hat langere Zeit 
an hysterischen Erscheinungen gelitten. 

Von Geburt an war Adele idiotisch. Ihre Korperbildung war zwerg- 
haft und miBgestaltet. Der Kopf war ansgesprochen mikrocephalisch, mit 
niedriger Stirn und kleinem Gesichtswinkel. Die Extremitaten waren hoch- 
gradig rachitisch verkriimmt, die Gelenke kontrakturiert, die Wirbelsaule 
stark kyphoskoiiotisch. Das Korpergewicht betrug 15 kg. 

Sie lag hilflos im Bett und muOte gefiittert werden. Im neunten Lebens- 
jahre traten, fast nur gruppenweise einsetzende, Krampfanfalle typLschen 
Charakters auf. Starb im 21. Lebensjahre an Pneumonie. 

Makroskopischer Be fund. 

Das Kleinhim ist von dem GroBhim nicht bedeckt und steht auffallend 
steil. Die beiden Hemispharen lassen im Ganzen eine symmetrische Glie- 


derung erkennen. Das Gehim wiegt 407 g. 

Linke Hemisphare.161 g 

Rechte Hemisphare . . . . 159 g 
Stamm und Cerebellum . . 87 g 

407 g 


Die rechte Konvexitat miBt im groflten Langsdurchmesser ll 1 / 4 cm, 
die groBte Hohe betragt 5 die groBte Breite der Hemisphare 4% cn *- 

Der Stimlappen ist verhaltnismaBig gut entwickelt. Auffallend plump 
imd breit erscheint die erste Stimrindung. Linkerseits ist die erste Stim- 
furche durchbrochen. Nach hinten miinden die Stimfurehen in die Zentral- 
furche. 

Die zweite Stimfurche ist seicht und kurz. Die dritte Stimwindung 
ist mangelhaft entwickelt und laBt sich als einheitliches Gebilde von der 
zweiten gar nicht abgrenzen. Ventral setzt sie sich in die ganz an der Ober- 
flache liegende Insel imd nach hinten in die Postzentralwindung fort. 
Die drei Abteilungen der Brocaschen Windung sind zu erkennen, lassen 
jedoch infolge der Verkiimmerung der dritten Stimrindung die typische 
Anordnung vermissen. 

Die Insel liegt frei, ist sonst von normaler Beschaffenheit und wird von 
dem Sulcus Reilii umzogen. 

Die Fissura Silvii hat einen steilen Verlauf. Ihr parallel ist der reduzierte 
Schlafenlappen angeordnet. Die erste Schlafenfurche schneidet nach hinten 
die sog. Affenspalte ein. Die zweite Schlafenfurche ist nur angedeutet; ee 
ist somit auch im Schlafenlappen die AusbiIdung der dritten Windung 
ausgeblieben. 

Der Parietailappen ist verkiirzt. Die hintere Zentralwindung ist durch 
die gleichnamige zugehorige Furche gut abgegrenzt. Auf der linken Kon¬ 
vexitat wird letztere von der Interparietalfurche geschnitten. Nach hinten 
mxindet die Fissura interparietalis in die Affenspalte ein. 

Wohl am meisten reduziert erscheint der Hinterhauptslappen. Die 
Fissura parietooccipitalis greift liber die Innenflache hinaus und verlauft 
iiber die Hemisphare als sogenannte Affenspalte. Auf der Innenflache fallt 
der sehr kleine Praecuneus, der nur durch eine schinale Windung angedeutet 
ist, auf. Dagegen ist der Lobulus paracentralis entsprechend entwickelt 
und abgegrenzt. Der Gyrus fusiformis ist durch eine seichte Furche kaum 
als einheitliche Bildung zu erkennen und geht in die untere Temporal- 
windung ohne Abgrenzung fiber. — 

Im Allgemeinen sind die Windungen des Gehims wenig differenziert, 
plump, an Zahl vermindert, aber frei von Deformitaten und Defekten. 

Mikro8kopi8cher Befund. 

Der erste Frontalschnitt (siehe Tafel IX, Fig. 5), geht durch die Stim- 
und Orbitalwindungen der linken Hemisphare. Die Markstrahlen erscheinen 
verkiirzt und die Rindensubstanz verschmalert. In dem Fasergewirr der 
Corona radiata, bevor sie sich hier in die Markstrahlung der ersten Stirn- 


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in einem Fall© von mikrocephaler Idiotie. 


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windung aufsplittert, fallen auf den ersten Blick zahlreiche lichte Stellen 
auf. Es handelt sich hier ura eingesprengte graue Substanz, vora Bau etwa 
der vierten Schicht des normalen Rindenbildes, sogenannte Heterotopien 
der grauen Substanz. 

Der zweite Schnitt (siehe Tafei IX, Fig. 6) ist in der Gegend des Balken- 
knies angelegt und veranschaulicht die drei Stim- und die Orbitalwind ungen. 
die Insel und das Balkenknie. Auch hier findet man schon bei makro- 
skopischer Betrachtung dieselbe sparliche Faserung im Bereich der Stirn- 
rundimgen und eigentiimliche kleine Herde in der Markstrahlung. Die Insel 
wird nur unvollstandig von der untersten Stimwindung bedeckt und durch 
einen deutlich hervortretenden Sulcus von der Umgebung abgegrenzt. Der 
Balken ist von entsprechender GroBe. Die Markstrahlen des Gyrus fornicatus 
legen sich dem Faserverlauf des Balkens auf, mn schlieBlich in demselben 
aufzugehen. Der Seitenventrikel zeigt normale Verhaltnisse. Dorsal wird 
er zum Teil von dem Stratum subependymale abgeschlossen, an das sich 
lateral Biindel von im Querschnitt getroffenen Fasem des Fasciculus 
fronto-occipitalis anschlieBen. Der Kopf des Schwanzkernes ist in einer 
groBen Ausdehnung getroffen. Lateral von ihnx liegen Biindel, im Quer¬ 
schnitt getroffen, die der inneren Kapsel angehoren. 

In dem dritten Schnitt (siehe Tafei IX, Fig. 7), tritt die Markarmut der 
Stimwindungen ganz besonders stark hervor. Er durchquert die Stim- 
windungen, die erste Temporal- und die Orbitalwindungen. Die Mark¬ 
strahlen des Gyrus fornicatus schmiegen sich der Balkenfaserung auch hier 
an und verschmelzen mit derselben. Das Stratum subependymale bildet 
hier einen sehr schmalen. hellen Saum. Die innere Kapsel ist normal ent- 
wickelt und trennt den machtigen Kopf des Nucleus eaudatus vom Putamen. 
An das letztere legen sich die Langsfasem der Capsula externa und weiterhin 
der Capsula extrema, die im Bogen bis zur Radiatio corporis callosi hinab- 
ziehen. Hier liegt auch die Riechwurzel, zu der vom Fornix Langsfasern 
herabsteigen. Der Sehnerv ist entsprechend markhaltig. 

Der folgende Schnitt (siehe Tafei IX, Fig. 8) geht durch die Zentral- und 
Schlafenwindungen, die Insel imd den Uncus. Die Markstrahlung des Gyrus 
fornicatus ist hier deutlich von der Balkenfaserung getrennt und verlauft 
mehr dorsalwarts. Der Thalamus ist entsprechend entwickelt imd in seine 
drei Kerne deutlich differenziert. Vom Nucleus dorsalis strahlt ein Biindel 
horizontal gestellter Fasem zur inneren Kapsel. Die Lamina medullaris 
medial is teilt den Thalamus in den Nucleus medialis und lateralis. Weiter 
ventral durchziehen Fasem der Ansa lenticularis den Thalamus. Das Corpus 
mamillare ist von entsprechender GroBe. Von seiner medialen Peripherie 
geht das ziemlich starke Vicq d'Azyr&che Biindel nach oben. Der Seiten¬ 
ventrikel ist nicht erweitert. Zwischen innerer und auOerer Kapsel liegt 
der Nucleus lenticularis mit seinen beiden Bestandteilen, dem Globus 
pallidus imd dem Putamen. Ventral von dem Linsenkem liegen die Schrag- 
schnitte des Tractus opticus. In der Tiefe des Uncus liegen machtige graue 
Massen. der Nucleus amygdaliformis. 

Der folgende Schnitt (siehe Tafei IX, Fig. 9) durchquert die obere und 
untere Parietal-, zwei Schlafenwindiingen, das Ammonshom, das Pulvinar 
und die Himschenkel. Die Rinde ist hier in alien Windungen hochgradig 
verschmalert. Der Seitenventrikel ist stark erweitert und nach innen 
durch den Plexus chorioideus abgeschlossen. Die Corona radiata bietet ein 
dichtes Fasergewirr dar, in dem der Verlauf einzelner Faserbiindel nicht 
mehr erkennbar ist. Der Nucleus eaudatus ist verhaltnismaBig groB. Ventral 
vom Pulvinar befindet sich das Corpus geniculatum medial© imd laterals. 

In dem letzten Frontalschnitt (siehe Tafei IX, Fig. 10) sieht man das 
erweiterte Hinterhom. Die Himrinde ist hier hochgradig verschmalert. 

Die Himrinde ergibt im groflen und ganzen eine normale Schichtung. 
Besonders schmal erscheinen die oberen Rindenschichten. In dem Rinden- 
bild der Zentralwindung folgen auf die plexiforme Schicht gleich die mittel- 
groBen Pyramidenzellen. Die kleinen Pyramidenzellen sind auBerst sparlich. 
Die Zahl der Zellelemente ist iiberhaupt mangelhaft. Rindenbilder aus dem 


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Kryzan, Ueber den anatomisehen Befund etc. 


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Schlafenlappen und der Sehregion zeigen ebenfalls tvpische Anordnung 
nebst Reduktion in der Zahl der Zellen. 

Epikrise. 

Unser Fall gehort zur Gruppe der einfachen oder reinen 
Mikrocephalie, deren Hauptmerkmal in dem Fehlen von Residuen 
pathologischer Prozesse im Gehirn be^teht. Den wichtigsten 
Befund stellt die Kleinheit des GroBhirns im Gegensatz zum 
Kleinhirn, das an der Verkleinerung verhaltnismaBig nicht teil- 
genommen hat, dar. Dem Gewicht nach reiht sieh das in Rede 
^tehende Gehirn den Mikrocephaliefallen hohen Grades an. In 
Antons Tabelle werden noch niedrigere Hirngewichte von er- 
wachsenen Idioten angegeben: das kleinste Gewicht bei einer 
weiblichen Mikrocephalen von Gore-Mar shall, 42 Jahre alt, 283 g. 
Wenn man bedenkt, daB das Gehirn des neugeborenen Kindes 
384 g betragt und daB dasselbe am Ende des ersten Monats auf 
402 g steigt, so konnen wir die Bedeutung dieser Gewichtsabnahme 
ermessen. Vom vergleichend anatomisehen Gesichtspunkt sei 
hier darauf hingewiesen, daB das Gehirn des Gorilla auf 425 g 
angegeben wird. 

Auf dem Querschnitt zeigt sich das Stratum der Assoziations- 
bahnen, der Balken, die Windungen reduziert. Dagegen sind die 
basalen Ganglien nicht an der Verkleinerung beteiligt. Asymmetrien 
der Hemispharen sind nicht vorhanden. Die Furchen und 
Windungen lassen sich mit Leichtigkeit erkennen und auf den 
Typus des Normalen zuruckfiihren. Der Stirnlappen ist nicht 
besonders verkiirzt, wie es in den meisten Fallen von 
Mikrocephalie hohen Grades der Fall ist, er ist auch nicht 
zugespitzt und affenahnlich. Die dritte Stirnwindung ist nur 
rudimentar ausgebildet. Die vordere Zentralwindung fehlt. 
Die Rolandosche Spalte hat abnorm steilen Verlauf. Die 
Insel ist fast vollstandig unbedeckt, sonst aber von normalem 
Bau. Die mangelhafte Bedeckung der Insel wird durch die unvoll- 
standige Entwicklung des Stirn-, Schlafen- und Scheitellappens 
bedingt. Die hintere Zentralwindung ist gut ausgebildet und deut- 
lich abgegrenzt. Der Scheitellappen ist verkleinert, desgleichen 
der Schlafenlappen, letzterer steil gestellt und auf zwei Win¬ 
dungen beschrankt. Der Hinterhauptslappen ist ganz besonders 
hochgradig verkiirzt und verkleinert. Die Parietookzipitalfurche 
setzt sich von der Medialseite weit in die Konvexitat als sog. 
Affenspalte fort. Der Seitenventrikel ist im Hinterhorn er- 
weitert. 

Die ganze Rindensubstanz ist relativ und absolut vermindert. 
Die Zellelemente sind, wenn auch an Zahl vermindert, in der 
normalen Anordnung vorhanden. Die Markstrahlung ist be¬ 
sonders im Bereich des Stirnlappen faserarm, stark gelichtet und 
weist zahlreiche Heterotopien auf. Nach Martel muB diese Storung 
vor Ende des sechsten Fotalmonats entstanden sein, weil erst 
nach diesem Zeitpunkt die scharfere Abgrenzung von Rinde und 


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Marksubstanz erfolgt. Im Fotalleben wachsen die Wandungen 
der Windungsfurchen in einigen Fallen zusammen, wodurch dann 
die Mogliehkeit der Abschniirung von Rindensubstanz gegeben 
wird. Diese Annahme liegt beeonders in den Fallen nahe, wo ein 
teilweiser Zusammenhang der Heterotopien mit der Rinde noch 
besteht. 

Literatur- Verzeichnis . 

M. Probst , Zur Lehre von der Mikrocephalie und Makrogyrie, Arch. f. 
Psych., Bd. 38. — Flatau-Jacobsohn , Handbuch der pathologischen Anatomie 
des Nervensystems. — G. Montesano , Ueber einen Fall von Mikrocephalie, 
Zeitschrift fiir die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwach- 
sinns, Bd. I. 


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Paul Bauer, Dr. phil., Haben die Kampfesmethoden der Abstinenten einen 
einwand/reien wissenschajtlichen und kulturellen Wert ? 2. Auflage. Berlin. 
1911. Paul Parey. 107 Seiten. 

Mit einem gewissen Geschick hat Verf. aus der reichen Alkoholliteratur 
diejenigen Behauptungen der Alkoholgegner herausgesucht, die das be- 
rechtigte MaO iiberschreiten und durch wissenschaftliche Erfahrungen nicht 
be\^eisbar sind. Er beschrankt sich jedoch nicht auf eine Widerlegung 
dieser Uebertreibungen, sondern behauptet seinerseits zum Lobe des Alkohols 
manches, das gleichfalls einer strengen Kritik nicht standhalt oder, wie 
seine Bemerkungen iiber den Alkoholauschank in den Kantinen und die 
Erfahrungen. die dabei gemacht sind. geradezu den Tatsachen wider- 
spricht. Inunerhin ist die Arbeit eher lesbar als die meisten zu ahnlichen 
Zwecken geschriebenen Aufsatze. Stier. 

Rob. Bing, Aphcuie und Apraxie. Wiirzburger Abhandlungen aus dem 
Gesamtgebiet der praktischen Medizin X 11. Wurzburg 1910. Curt 
Kabitzsch. 

Verf. gibt einen zusammenfassenden Ueberblick iiber den modemen 
Stand der Lehre von der Aphasie und Apraxie. einschlieBlich der ver- 
schiedenen jetzigen Theorien, so wie der geschieht lichen Entwicklung der 
Lehre. — Wenn der Vortrag, wie in der Einleitung gesagt wird, es dem all- 
gemeinen Praktiker ermoglichen soli, sich iiber diese Dinge ein abgerundetes 
Urteil zu verschaffen, so ist dieser Zweck wohl nicht vollig erreicht, und 
es wird dem Nichtneurologen auch nach dem Studium der schwer zu lesenden 
Abhandlung noch vieles aus dem bezeichneten Gebiete dimkel bleiben. Es 
liegt dies aber daran, daB es unmoglich sein diirfte, ein so ausgedehntes 
Gebiet auf wenig Seiten zusanimenzufassen. *Sei^e-Berlin. 

Georg Hirth, Der elektrochemische Betrieb der Organismen und die Salzlosung 
als Elektrolyt. Eine Programmschrift fiir Naturforscher und Aerzte. 
Miinehen 1910. G. Hirths Verlag. 

Die Schrift enthalt eine Menge kiihner \md wissenschaftlich so gut 
wie gar nicht begriindeter Hypothesen auf alien moglichen Gebieten der 
Naturwissenschaften, die im Original nachgelesen werden miissen. 

Es kann nicht genug bedauert werden. daO der so verdienstvolle \md 
in seiner ganzen Lebensarbeit so sympathische Schriftsteller sich immer 
wieder auf Gebiete begibt. auf denen er nicht zu Hause ist tmd auf denen 
man eben nur gestiitzt auf das griindlichste Fachstudmm Neues schaffen 
kann. /Set^e-Berlin. 


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Juristisch-Psyehiatrische Grenzfragen VII. 4. Vereinigung fur gerichtliche 
Psychologie und Psychiatric im Groflherzogtum Hessen: Die Abtreibung 
der Leibesfrucht vom Standpunkte der lex ferenda. Referate. erstattet 
in der Versammlung vom 4. VI. 1910 zu Mainz durch Justizrat Dr. Horch 
in Mainz und Professor I)r. Otto von Franquc in GieBen. 

Es wurde nach den beiden Referaten imd der sich anschlieBenden 
Diskussion, in der tfomwcr-GieBen auch den psychiatrischen Standpunkt 
zu der Frage betonte, eine Resolution angonommen des Inhalts. daB unter 
Beibehaltung der grundsatz lichen Strafbarkeit des Aborts die Schwangere 
selbst mogliclist zu sehonen. das erwerbsmaOige Abtreibertum aber mbglichst 
scharf zu bestrafen sei; auch sollte im Gesetz die grundsatzliche Berechtigung 
des Arztes zur Schwangerschaftsunterbrechung wegen schwerer Erkrankung 
der Mutter ausgesprochen werden, was im Vorentwurf zum neuen St.-G.-B. 
noch nicht ausreichend geschehen ist. Slier. 

Hans Kurella, Cesare Lombroso als Mensch und Forscher. Wiesbaden 1910. 
J. F. Bergmann. 

In begeisterter Anhangerschaft an die Ideen Lombrosos . die um so 
fester ist. als sie sich nicht gegen manche Schwachen des Meisters ver- 
schlieBt, entwirft Verfasser ein Lebensbild des italienischen Forschers und 
seines Werkes. Bei aller Wertschatzung fiir temperamentvolle Verteidigung 
erkampfter imd erworbener Ueberzeugungen kann man den SchluBfolge- 
rungen, die hier gezogen werden. nicht ohne Widerspruch folgen. Heraus- 
gefordert wird dieser geradezu, wenn mit einer gewissen Zuriicksetzung von 
der deutschen Psychiatric gesprochen wird, ,,die alles am Bette des einzelnen 
Individuums in der Klinik oder am Gehim des verstorbencn Individuums 
im Laboratorium zu entratseln bestrebt war, iiberhaupt nicht verstanden 
hat und verstehen konnte, worauf Ijombroso mit seiner .Anthropologie^ 
eigentlich hinaus wollte“. Das heiBt denn doch eine Umkehr aller Werte 
treiben. Wenn Lombroso als ordentlicher Professor der Psychiatric und 
Direktor der psychiatrischen Klinik „die klinische Beobachtung voriiber- 
gehender Krankheitsvorgange nicht verschmaht, aber nicht mit Vorliebe 
betrieben hat“, so ist das kennzeichnend fiir seine Forschungsweise und 
macht das Fehlgehon seiner Ergebnisse in mancher Hinsicht erklarlich. 
Die deutsche Psychiatric ist dadurch, daO sie den oben bezeichneten Weg 
ging, davor bewahrt geblieben, daO sie auUeren Begleiterscheinungen eine 
JBedeutung beilegte, die nur verwirrend fiir die Erforschung eines so schwie- 
rigen Gebietes, wie die des menschlichen Seelenlebens. wirken kann. Ihr 
ist es erstrebenswertes Ziel. den Bau des Organs, des Gehirns. kennen zu 
lemen und seine krankhaften Verandenmgen an den Krankheitserschei- 
nungen zu studieren, bis beide in Einklang gebracht werden konnen. Daa 
ist aer Grund, auf dem alle weitere Forschung aufgebaut werden kann. 
Dieser Grund muB erst gelegt sein. Richard. 

Grund-Schema der Geisteskrankheiten. Zusammengestellt nach den Vor- 
tragen des k. k. Hofrates Prof. Dr. J. Wagner von Jauregg von George 
Stein. 6 Tabellen. Wien. 1911. Josef Safar. Mk. 1.40. 

In 6 Tabellen sind die wichtigsten Geisteskrankheiten nach ihrer 
Symptomatologie, Aetiologie, Prognose imd Therapie geordnet und in Stich- 
worten kurz skizziert. Ob der Anfanger von einem solchon Schema wesent- 
lichen Nutzen ziehen kann, diirfte diskutabel sein; wenn man ihn iiberhaupt 
zugeben will, diirfte er nur nach Beondigung regelmaQiger Vorlesungen 
fiir die Vorbereitung zur Priifimg anzuerkennen sein. Stier-Berlin. 

C. V. Monakow, Ueber Lokalisation der Himfunkiionen. Wiesbaden 1910; 
J. F. Bergmann. 

Den (iedankengangen des Verfassers zu folgen. bereitet nicht nur 
wissenschaftlich fesselndes Interesse. sondem auch hohen asthetischen 
GenuB, sei es daB er in umfassenderForm die Pathologic deaGehims schildert, 
sei es daB er wie in vorliegender, einen Vortrag wiedergebender Schrifi 
die Hauptergebnisse neuester Forschungen scharf und prazise zusammen- 
faBt. In meisterhafter Darstellungsform sieht man das in mancher Hinsicht 


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noch unentwirrbar scheinende Gebiet der Himforschung sich klaren und 
folgt, gefesselt von der Klarheit und logischen Scharfe der SchluBfolgerungen, 
vertrauensvoll dieser Fiihrung. 

In einer entwicklungsgeschichtlichen Einleitung schildert Verfasser 
das ,,Wandern der Funktion nach dem Kopfende 44 . das in der Herausbildung 
des zeitlichen Momentes gegeniiber dem ortlichen auf der kortiko-assozia- 
tiven Stufe seine Kronung findet, er hebt dann andererseits hervor, in welch 
wimderbarer Weise die verschiedenen Systeme des Zentralnervensystcins 
ineinandergreifen und sich erganzen, und exemplifiziert die phylogenetische 
Wanderung an der Entwicklung der optischen Bahnen und Zentren. Nach- 
dem weiter die Herdsymptome in dauemde oder residuare und in temporare 
differenziert sind, besehaftigt Verfasser sich besonders mit den letzteren, 
wendet sich gegen die Substitutionshypothese, ,,die so weit geht. daB sie 
Bildung neuer Werkstatten an einem der verloren gegangenen Funktion 
urapriinglich fremden Ort verlangt 44 , und erklart die Wiederkehr verloren 
gegangener ortlicher Funktionen nach Zerstorung der entsprechenden 
Zentren vielmehr dadurch, daB „eine im Prinzip temporare Funktions- 
einstellung (passive Hemmung), welche an selbst gesund gebliebenen. aber 
mit dem Herd durch Fasem verbundenen Nervenzellenkomplexen ihren 
Angriffspunkt hat, allmahlich zuriickgeht 44 . Auf dieser Erkliirimg baut 
Verfasser seine Lehre vom Shock auf imd schlieBt an sie die Erlauterung 
der Diaschisis an imd ihrer Bedeutung fur die temporare Funktionseinstellung 
im gesamten Zentralnervensystem. Indem er diese von den Elementar- 
leistungen zu den hochsten psychischen Funktionen aufsteigend entwickelt, 
kommt er zu dem SchluB, daB ,,die Diaschisis in Verbindung mit den ubrigen 
Formen des Shocks ein Grundprinzip darstellt, daB sie die Briicke zwischen 
den einer scharferen Lokalisation zuganglichen und einer solchen nicht zu- 
ganglichen nervosen Phenomenon bildet. Sie ist in Wirklichkeit nichts 
anderes als ein im Prinzip temporarer Einbruch in die aufs feinste organi- 
sierte Tatigkeit der Himstrukturen, ein Einbruch, der sich an den anatomisch 
nicht gescheidigten Nervenzellen (aufierhalb des Herdes) abspielt“. 

Richard. 

B61& R6v6sz, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen und ihre Lehren. 
(Sonderdrack aus den Beiheften z. Arch. f. Schiffs- u. Tropenhyg. 
Bd. 15), Leipzig 1911. J. A. Barth. 

Auf Grund eigener Erfahrungen und umfassender Literaturstudien 
gibt uns Verf. ein ausgezeichnetes und ziemlich vollstandiges Bild der Ver- 
breitung der Geisteskrankheiten in fast alien Landern und bei den ver¬ 
schiedenen Rassen unter Beriicksichtigung der atiologischen Faktoren. Die 
Ergebnisse sind groBtenteils sehr interessant. Ubiquitare Psychosen wie 
Neurosen existieren nach Verf. ebensowenig wie Psychosen und Neurosen, 
die ausschlieBlich fiir einzelne ethnische Gruppen spezifisch waren, wohl 
aber bestehen interessante Pradilektionen fiir bestimmte Krankheiten imd 
Symptome bei den einzelnen Gruppen (S. 186 ff-)- Z. 

Kiinik fiir psychische und nervdse Krankheiten. Herausgegeben von Robert 
Sommer. V. Band. 1910. Preis 12 Mk. Halle. Carl Marhold. 

Der vorliegende Band der bekannten Zeitschrift enthalt 10 Arbeiten 
vom Herausgeber selbst iiber forensische, soziologische und vor allem iiber 
Erblichkeitsfragen, denener in letzter Zeit in besonderem MaBe sein Interesse 
zugewandt hat und iiber die er wieder eine Reihe neuer Gedanken und An- 
regungen bringt. Die ubrigen Arbeiten sind teils psychologischer Natur 
( Romschburg , Nathan , Klett ). teils werden forensische oder rein klinische 
Fragen behandelt ( Steinbrecher , Berliner , Weinberg). Auf die Arbeiten 
im einzelnen einzugehen, ist an dieser Stelle naturgemaB nicht moglioh. 

Stier. 

R. Zander, Vom Nervensystem , seinem Ban und seiner Bedeutung fiir Leib 
und Seeie im gesunden und kranken Zustande. 2. Auflage. (Aus Natur 
und Geisteswelt. Sammlung wissenschaftlich-gemeinverstandlicher Dar- 
stellungen. 48. Bandchen.) Leipzig 1910. G. B. Teubner. 


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Personal ieh. 


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Die Sammlung. der das vorliegende Bandchen angehdit, hat in ihrem 
mehr als lOjahrigen Bestehen schon eo Tranches, gute Frucht tragendes 
Samenkom ausgestreut, dafi man sich immer von neuem gem von ihrem 
erfolgreichen Wirken iibeizeugt. Die Aufgabe einer popular-wissenschaft- 
lichen Darstellung unserer Kenntnisse vom Nei vensystem «— sicher in diesem 
Rahmen beim heutigen Stand dieser Wissenschaft eine der schwierigsten — 
ist hier in gliicklicher Weise gelost. Die iibersichtliche Ordnung des viel- 
gliedrigen Stoffes erleichtert das Verstandnis des fur Laien schwierigen 
Gebietes; die Art der Darstellung macht die Lektiire auch fur den Kenner 
zur Freude. Man kann dem Buch nur weite Verbreitung wiinschen, damit 
die Lehren. die jeder insbesondere aus dem letzten von der Hygiene des 
Nervensystems handelnden Kapitel ziehen kann, genutzt werden und bo 
das Ganze den Zweek, dem es gewidmet ist, zur Gesundung des Volkes 
beizutragen, erfiillen kann. Richard. 

E. Becker, Gehirn und Seele. Heidelberg 1911. Carl Winters Universitats- 
buchhandlung. Preis 5,40 M.. geb. 6,40 M. 

Verf. behandelt im ersten Hauptteil seines Buches in gemeinverstand- 
licher Form die fur das Leib-Seele-Probiem wichtigsten Kenntnisse iiber 
das Nervensystem. Im zweiten Teil kommt er auf die physiologischen 
Erklarungen psychischer Erscheinungen zu sprechen, um im Sell luB teil 
auf das Leib-Seele-Probiem einzugehen. Es fallt beim Lesen des Buches auf, 
daB Verf. sich namentlich von naturphilosophischen Tendenzen hat beein- 
flussen lassen. Er selbst sagt auch: ,,Meine Stellung zu ihnen ergibt fiir 
mich eine wesentliche Grundlage fiir die Auffassung, die ich als Versohnung 
von Parallelismus und Wechselwirkungslehre bezeichne“. 

Das Buch kann, zumal es kiar und flieBend geschrieben ist ( nur emp- 
fohlen werden. Otto Schiitz- Hartheck. 

Georg Dobrick, Die Not der Psychiatrie. Lissa i. P. Oskar Eulitz. 

,.Zwischen unserem Wissen imd Konnen klafft eine ungeheure Diffe- 
renz. Das ist unsere Not.“ So sagt Verf. 

Ref. kann dem Verf. in seinen oft recht pessirnistischen Ausfuhrungen 
nicht folgen. Namentlich wird die Bedeutung der pathologischen Anatomie 
fiir die Psychiatric von ihm unterschatzt. Die Griindung eines .,groB- 
ziigigen Forschungsinstituts fiir die Psychiatrie 4 \ das nach dem Vorschlag 
von Verf. in erster Linie therapeutische Fragen zu losen hatte, scheint Ref. 
in der vorgeschlagenen Form undurchfuhrbar. Ein derartiges Forschungs- 
institut wiirde sich wieder zunachst mit pathologiscber Anatomie. physio- 
logischer Chemie, Serologie u. s. w. zu befassen haben, ehe therapeutischen 
Fragen naher getreten werden konnte. Und das will ja gerade Verf. nicht. 

Otto ScM/z-Hartheck. 

H. StrauB, Praktische Winke fiir die chlorarme Emdhrung. Berlin 1910. 
S. Karger. 

Bei der groBenRolle. die heute die chlorarmeErnahrung in der Therapie 
\-erschiedener Krankheiten spielt, kann vorliegendes, rein praktischen 
Zwecken dienendes Biichlein nur empfohlen werden. Es enthalt u. a. zahl- 
reiche erprobte Koclu'ezepte fiir die verschiedenen Arten chlorarmer Er¬ 
nahrung sowie eine schematische Zusammens tel lung des Gehaltes an NaCl 
der verschiedenen Nahrungsmittel. ^etge-Berlin. 


Personalien. 


Dem Privatdozenten fiir Psychiatrie Dr. Martin Reichardt in Wiirz- 
burg wurde der Titel und Rang eines auBerordentlichen Professors ver- 
liehen. 

Privatdozent Dr. Rybakow in Moskau wvirde zum Professor emannt. 

Tn Rom hat sich Dr. A. Fitia als Privatdozent fiir Psychiatrie 
habilitiert. 


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(Aus dem neurologischen Institut in Frankfurt a. M. 

[Direktor: Prof. Dr. Edinger. 

Abteilung fur Himpathologie: Prof. Dr. H. Vogt.\) 

Hirnmifibildungen von menschlichen Foeten 
nebst Bemerkungen fiber die Genese der Gehirnbrfiehe 
und der Spaltbildungen an Him und Schadel. 

Von 

Dr. MASl'DA 

in Tokio. 

(Hierzu Taf. X—XI.) 

Die angeborenen Verbildungen von Schadeldach und Gehirn- 
anlage sind mit Bezug auf Gestalt und Grad sehr umfangreich. 
Diese Fehler kommen in vielfacher Kombination mit anderen 
MiBbildungen vor. In einem Teil dieser Bildungen besteht ein 
ausgebuchteter Bruchsack, der verlagerten Schadelinhalt oder 
Fliissigkeit birgt. Aus der Schadelspalte ragen nur Gehirnhaute 
heraus: Meningocele resp. Meningohydrocele; wenn die Liicke 
groB ist, verlagert sich der Gehirnteil und seine Haute: Encepha- 
locele, zuweilen ist dabei auch Ventrikelraum beteiligt: Hydro- 
encephalocele. 

Die folgenden 2 Falle von Anencephalie bezw. Encephalocele 
und vielfachen Komplikationen sind wertvoll deshalb, weil wir 
damit friihzeitige MiBbildungen vor Augen bringen konnen, sie 
stammen beide von menschlichen Foeten des 4. bezw. 5. oder 
6. Embryonalmonats; wegen dieser friihen Stadien erklaren sie 
uns teilweise den Mechanismus dieser Bildungen. 

Fall I. Abort 5. Fotalmonat. Von Lues der Mutter nichts bekannt. 
Der Schadel (Fig. 1, 2) ist flach, schinal und nach hinten abfallend. Die 
Scheitelgegend ist besonders vertieft, die Stimverknocherung im vordersten 
Teil erhalten, nach hinten setzt sich der Kopf in eine groBe mehr langliche 
bimenformige Ausbuchtung fort, die fast ein Drittel der ganzen Kopfkuppe 
einnimmt und aus einem derben, membranosen, faltenreichen Sack besteht. 
Es besteht ein Okzipitaldefekt, der sich nach unten noch in die offen 
gebliebene Riickenmarkshohle einige Zentimenter lang fortsetzt. Nach 
diesern Befunde ist der Fall eine unvollstandige Anencephalie (Amyelie) 
mit partieller Riickenspalte und einer Fortsetzung der Spalte nach vome 
in einen teilweise zerschlissenen encephalocele-artigen Himbruchsack. 
AuBerdem bestand eine MiBbildung des Ohres und der oberen Extremitaten, 
wie die Figuren zeigen. 

Mikroskopisch zeigt (Fig. 3) die Anlage (Serienschnitte) im Stimteil 
die Anlage von weiBer und grauer Substanz als soliden Massen. Prinutiv 
kann man Haut, Schadeldach, Him und Ventrikel erkennen. In der Scheitel- 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurolog'ie. Bd. XXX. Heft 5 . 22 


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330 Mas u da, Hirnmiflbildungen von nienschlichen Foe ton 


gegend fangt eine Spaltbildung im zentralen Gehimteil an, die allmahlich 
nach hinten sich vergroBert; die Hirmnasse ist hier nach oben geschoben, 
wohl dnrch basale Fliissigkeitsansammlungen. Der Meehanisinus dieser 
kombinierten Encephalocele ist wohl so zu erklaren, daB, nachdem das 
Gehim einen ziemlich groBen Umfang erreicht hatte, von der Substanz 
der Hirnwand ein diinner Teil in die Hohle einbezogen wurde; dieser ist 
nur wenig an der oberen Seite angeheftet. Der Bruchsack der groBen Hohle 
ist aus der Kopfhaut und den Hirnhauten gebildet, deren hinterer Teil 
durch ein groBes Loch unterbrochen wird. Die im Bruchsack befindlichen 
Teile der Himrinde und Meningen zeigen nur stellenweise einen Zusammen- 
hang mit dem iibrigen Gehim. Nach hinten zu offnet sich der Spalt in 
der Mitte. seine Teile weichen auseinander und gehen im Okzipital- und 
oberen Halsteil in eine vollige Area medulio-vasculosa iiber. Hier besteht 
also eine Amyelie (Anencephalie). Nach unten (Dorsalteil) schlieBt sich das 
Riickenmark normalerweise. 

Fall II. Menschlicher Fotus, 4. Monat: Fig. 4 und 5. Schadel 
niedrig und flach; aus der Scheitelgegend hebt sich der Schadelteil mit 
breiter Basis zopfartig hoch heraus; wir haben hier eine sackartige Bildung. 
die seitwarts in die auBere Haut sich fortsetzt, vor uns. Unterhalb der 
Spitze war der Bruchteil tief eingeschniirt. Die Form der Basis war sehr 
merkwiirdig, sodaB sie einerseits gerade von dem Schadeldach ausging, 
andererseits aber von der Kopfkuppe aus in einem scharfen Winkel stark 
geknickt war. Das wurde nach der einen Seite durch Verwachsung bewirkt. 
Die obere tiefe Furche war vielleicht eine sekundare Wachstumshemmung. 

Mikroskopisch war (Serienschnitte) die Masse im Bruchsack ganz 
solid. Knochen und Muskeln am Schadeldach zeigen unvollstandige Anlage. 
Die Knochenanlage ging nach einer Ausbuchtung allmahlich auf das Schadel¬ 
dach iiber. In der Bruchsackspitze fand sich Hirnmasse, v r on Muskelfasern. 
Knochenanlage und Hautgewebe bedeckt. Die Muskelfaser- und Binde- 
gewebsziige der Bruchmasse umgeben die Knochenanlage sehr koinpliziert. 
An der auBersten Stelle der Bruchsackspitze erscheint ein langlicher Gehim¬ 
teil. der in maBigem Umfang die zentrale Spalte erreicht. Der bei der 
Verwachsung verlagerte Gehirnteil wurde in dem Bruchgewebe in rudi- 
mentaren Stiicken gefunden, nur weiBe und graue Teile ohne Architektonik 
konnte man darin unterscheiden. Im Gehirn in der Schadelhohle konnte 
man deutlich differenzierte weiBe und graue Substanz und komige 
Schichten konstatieren, aber sie waren uberall unregelmaBig durcheinander 
gelagert. Also die Bruchpforte war durch Gewebe ganz verstopft. Der 
Zusammenhang des Bruchsackgewebes mit der iibrigen Gehirnanlage 
wurde hier iiberhaupt nicht gefunden. An der unvollstandigen Knochen¬ 
anlage der Bruchspitze konnten wir eine Art Verwachsungsflache von 
Bindegewebe deutlich konstatieren, die als Fetzenmasse nach oben hin 
ragte. Auch hier setzte sich der Bruchsack nach hinten in einen Schlitz 
fort, der sich allmahlich zu einer typischen Area medullovasculosa ver- 
breiterte; im Bereich des ganzen Riickenmarks bestand Amyelie. 

Die beiden Falle erscheinen von Interesse fur die Frage 
des Mechanismus derartiger MiBbildungen, ferner fiir die Frage 
der primaren oder sekundaren Entstehung der Spaltbildungen 
(Anencephalie etc.) 

Beide Falle zeigten neben encephalocelenartiger Bildung 
eine damit zusammenhangende Spaltbildung des Neuralrohres. 
Die Encephalocele diirfte friih entstanden sein, jedenfalls vor 
der Verknocherung und der Ausbildimg des spateren Innendrucks 
im Schadel. Das Loch ist bei beiden unregelmaBig rundlich und 
zeigt abgerundete Ecken. Das Loch des ersten Falles war gegen 
den Bruchsack scharf begrenzt und verhaltnismaBig eng, aber 
das des zweiten Falles war breitbasig. seine Rander gingen eigen- 
artig in den Bruchsack einerseits gerade, andererseits geknickt 


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nebst Bemerkungen uber die Genes© der Gehirnbriiche etc. 331 

iiber. Der Bruchsack war beim zweiten Fall eine solide Masse, 
in der alle Arten Gewebe und Gehirnteile in unregelmaBiger 
Lage gefunden wurden. Beim ersten Fall fand man eine Jiautige 
Primordialwandung mit Fliissigkeitsansammlung und wenig Ver- 
knocherung des anderen Teils. In der Hautkuppe war auBer der 
Pforte die diinne Epidermis mit Papillen nachweisbar. Bei beiden 
Fallen ist eine Verwachsungsflache an der auBeren Bruchsack- 
wand zu konstatieren. In jedem Fall war das Gehirn sehr un- 
regelmaBig aufgebaut, sodaB es eine einheitliche Definition nicht 
zulaBt. Die Hemispharenwande zeigten den schwersten Grad von 
Entwicklungshemmung, insofern nur stellenweise unregelmaBige 
Kornerschichten und Ganglienzellenanlagen nachweisbar waren. 
Einzelne bestimmt differenzierte Hirnabschnitte waren nicht 
festzustellen. Die weichen Hirnhaute waren iiberall gebildet und 
mit der Hirnoberflache verwachsen. Die Dura ist nicht klar nach- 
gewiesen (Marchand u. A. fanden Differenzierung), was eine be- 
sondere Bedeutung hat, da ihr Verhalten fur den Vorgang, durch den 
der Schadelinhalt aus der Liicke herauskam, ja grundlegend ist. 

Als erster Anhaltspunkt fur unsere Falle ergibt sich also 
eine Verwachsung des Schadeldaches mit der Umgebung; dieses, 
dem sein Inhalt nachfolgt. wird in einen Sack ausgezogen; viel- 
leicht reiBt dieser dann spater an einer Stelle ein, und es kommt 
so zu einer Spaltung der bereits im SchluB befindlichen Neural- 
anlage. Die Veranlassung kann in entziindlichen, vielleicht syphi- 
litischen Veranderungen gegeben sein. Es ist ja wohl moglich, 
daB in der Beriihrungsstelle ein spezifischer entziindlicher ProzeB 
durch Zirkulationsstorungen hervorgerufen wurde. Von dem 
bisherigen Standpunkt aus faBt man die Entwicklungsweise 
der Gehirnbriiche unter zwei Gesichtspunkten auf. Man nimmt 
an, daB zuerst die primare Spaltbildung des Schadels entsteht 
und daraus eine Hernie (durch eine Ausstiilpung des Schadel- 
inhalts) hervorgehen kann, wie Morgagni , Haller , Virchow , 
Forster , Berger u. A. zuerst behaupteten. Man fiihrt also die 
Ursache auf einen Bildungsfehler des Schadels zuriick, der durch 
ungeniigende Verknocherung lokal zustande kommt. Diese 
Knochendefekte findet man in Niemeyers partiell rachitischem 
Schadel, oder in Siegenbecks Fall von ungeniigender Differen¬ 
zierung des Mesoblast, oder in den Fallen von Forster und Dareste 
(Verwachsung der Eihaut mit der Schadeloberflache). Durch 
eine praformierte Spalte oder die mangelhafte Entwicklung der 
Raphe und des benachbarten Teils (Dareste und Recklinghausen) 
kommt die Verlagerung an der Stelle des geringsten Widerstandes 
bei gleichzeitig entstandenem Hydrocephalus, oder durch die 
Erhohung der intrakraniellen Druckverhaltnisse (Forster und 
Muscatello) zustande. Dagegen betrachtete Zingerle die Schadel- 
verbildung als eine sekundare Erscheinung der GehirnmiBbildungen, 
resp. des inneren Drucks durch abnormes Wachstum des Gehirns. 
Eine einheitliche Genese der Gehirnbriiche ist noch nicht festge- 
stellt, vielleicht auch gar nicht in alien Fallen denkbar. 

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332 


M a m 11 cl a , HirnmitibiJdimgen von menschlichen Foe ten 


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Bei unseren Fallen haben wir eine Verwachsungsstelle nachge- 
wiesen, an der der Schadel wohl mit Eihaut, Amnion, Nabelschnur 
oder Plazenta verwachsen war. Es ist ja moglich, daB der Schadel- 
teil wahrend des fotalen Lebens bei abnormen Lageverhaltnissen 
und bei den eigentiimlichen Kriimmungen des Fotus mit miitter- 
lichen Anlagen in Beriihrung kommt. Warum die Verwachsungen 
gerade an bestimmten Stellen, besonders in der Mittelbnie 
meist vorkommen, konnen wir vielleicht aus der Kriimmung 
und der eigentiimlichen embryonalen Korperhaltung erklaren, 
nach der die hintere mittlere Linie als auBerste Stelle des Fotus 
zuerst den Amnionsack beriihrt. Durch abnorme Lagen kommen 
auch ungewohnliche laterale Lokalisationen der Briiche zu Stande. 
Ein Fall von Billard mit Narbe und ein Fall von Bedard mit einem 
adharenten Nabelstrang und eine Synencephalocele von Spring 
und Hydromeningocele von Miller , eine obere und eine untere 
Okzipitalhernie bei Neugeborenen von Larger , ferner ein Amnion- 
strang von Baake zwischen Plazenta und Dura mater und die Ence- 
phalocele von Heim beweisen das samtlich. 

Wenn bei dieser Beriihrung eine feste Verwachsung mit der 
miitterlichen Anlage entsteht, so muB gerade die Differenzierung 
des Mesoblast zur Entwicklungshemmung beitragen, denn die 
Bindegewebshaute konnen dann mit der Gehirnoberflache ver¬ 
wachsen. Nach erfolgter fester Verwachsung wiirde die Ver- 
wachsungssteUe bei jeder Bewegung durch die Lage verzogen. 
Wenn die Spalte klein ist und sich keine Verwachsung mit 
dem Gehirn zeigt, entsteht die Meningocele. Wenn die Spalte 
groB ist, muB das Gehirn durch die eigene Schwere sich durch 
den Knochendefekt Bahn brechen und ausdehnen, ohne Mit- 
wirkung des intrakraniellen Druckes. Wenn sich das Gehirn 
durch diesen Mechanismus nach auBen in die Lange zieht, so 
wird der im Schadel gebliebene Teil des Gehirns durch Dehnung 
und Zirkulationsstorung eine Entwicklungshemmung erfahren. 
Nach diesem Mechanismus konnen Encephalocele \md Hydrocele 
als sekundare Folgeerscheinung erklart werden. Wenn die Liicke 
breitbasig und die Stauung gering ist, wie beim zweiten Fall, 
sammelt sich keine Stauungs- und Transsudationsfliissigkeit im 
Gehirnbruch mehr an. Wenn dagegen der Bruchinhalt stark 
in die Lange gezogen wird, so kann durch starke Stauung in der 
Sinusanlage eine groBe Fliissigkeitsansammlung zustande kommen. 
Durch ein Platzen oder EinreiBen des Sackes kommt es weiter 
durch allmahliche Ablosung der Epidermisbedeckung des Him- 
bruches zu einer Fortsetzung dieser Erscheinung auf benachbarte^ 
an sich vielleicht intakte Teile der Neuralanlage. So haben 
wir bald eine vollige Spaltung dieser Teile: Anencephalie und 
Amyelie. Innere Faktoren des erhohten Druckes etc. scheinen 
dabei nicht mitzuwirken, denn aus der Schadelform kann man eher 
auf eine Verminderung des intrakraniellen Druckes als auf Ver- 
mehrung schlieBen, und primare Defekte miissen in friihester Zeit 
(im ersten Monat) im membranosen Schadel schon vorkommen 


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nebst Bemerkungeii iiber die Genese der Geliimbriiche etc. 333 


konnen. Die Entwicklung des Grehirns ist in gewissem Grade an 
die Form des Schadels gebunden. 

Forster hatte eine partielle hydropische Veranderung des 
Schadels bei MiBbildungen nachgewiesen. Es ist aber schwer denk- 
bar, den Gehirndefekt auf den gleichmaBig erhohten inneren Druck 
zuruckzufiihren, wenn kein Hinweis auf eine allgemeine Hirndruck- 
steigerung bei Gehirnbriichen gefunden worden ist. Nach Zingerle 
kommt die Wandverdiinnung bei Hydrozephalus als Entwicklungs- 
hemmung im friihesten Stadium vor, und es wurde oft die Ventrikel- 
erweitenmg durch die Hemmung des Dickenwachstums der Wande 
hervorgerufen. Demnach kann auch der Hydrozephalus eine Folge 
von Entwicklungshemmung sein. Wenn plotzlich nach einer 
Richtung durch feste Verwachsung des Schadels eine groBe Aus- 
dehnung und Zerrung des Grehirns erfolgt, so kommt durch Stauung 
des eingekeilten Gehirns und seiner Haute (durch dazutretende 
groBe Fliissigkeitsmengen) eine schwere Deformierung der Hirn- 
anlage und eine Hemmung ihrer weiteren Entwicklung zustande. 

Das Beachtenswerte an unseren Fallen ist: 

1. Der Nachweis, daB der Himbruch durch eine Verwachsung 
der Schadeloberflache (mit miitterlichen Teilen) erfolgen kann. 

2. Die Kombination von Hirnbruch mit Spaltbildungen 
der Neuralanlage (Anencephalie und Amyelie). 

3. Der eingerissene und geplatzte Hirnbruchsack setzt sich 
in die Rander der Area medullovasculosa fort. 

4. Diese Momente sprechen fur einen inneren Zusammenhang 
beider Storungen, beide sind sekundar entstanden. 

5. Es gibt demnach (neben einer primaren) auch eine sekundare 
Entstehung der Amyelie und Anencephalie durch ein Wiederauf- 
platzen der im SchluB begriffenen Neuralanlage. 

Literatur - V erzeichnis . 

Heubner , MiBgeburt mit vollstandigem Mangel des Groflhirns. Charit4- 
Ann. XXXIII. Jahrg. — Rech r Him- und Riickenmarkshernien. Inaug.-Diss. 
Heidelberg 1896. — Spring , Monographie de la hemie du cerveau et de 
quelques lesions etc. S. 7. — Virchow . die bosartigen Geschwiilste. 1863. 
I. 171, 176. —- Forster , die MiBbildungen des Menschen. —- Dareste C., Rech. 
sur la production artificielle des inonstruosit4s ou essais de teratog&ue 
exp^rim. 1877. 190, 246, 250, Compfces rendus de l’acad. d. sc. 1879. 
LXXXIX, 1042; XCV1, 511. — v. RecMinghausen . Virchow’s Arch. 1886. 
IM. C, V, 2. und 3. H. — Hofmokel , Wien. med. Jahrb. 1878. — De Ruyter , 
Arch. f. klin. Chir. 1882. — Mirtsch. Dissertation Konigsberg 1898. — 
Peruet . Gazette m6d. de Paris 1866 Nr. 86. — Houel , Gazette m6d. de 
Paris 1886 Nr. 6. — Baake , Dissertation Konigsberg. 1889. — Hein , 
.Ztechr. f. Geb. VI. —* Herter . Dissertation Berlin 1872. — Baumgartner , 
nach Ahlfelds MiBbildungen zit. —• Lichtenberg, Transaction of the Path. 
Society, London XVTII. 1868. — Joly , Compt. rend. LXII. Nr. 21. 1866. — 
Siegenbeck , Arch. f. Entwicklungsraechamk. Bd. IV. — Heinecke. — 
Hir8ch8prung y Ugeskrift for Laeger 1867, nach Virchow-Hirsch’s Jahresb. —• 
D&paul , Gaz. de3 Hop. 1867, Nr. 111. — Ernst . Beitr. z. pathol. Anatomie 
und z. allgem. Pathologie, 25, 1899. — Zingerle , Ztschr. f. d. Erforsch. u. 
Behandl. d. jugendl. Schwachsinns, I. Bd. 1907. S. 273. — Fischel , Alfred , 
Beitr. z. pathol. Anatomie u. z. allgem. Pathologie 41. Bd. 1907. S. 636. — 
Wichura , Max , Inaug. Diss., Dresden 1902. — Vogt , H. f Jahreskurse f. 
arztl. Fortbild. 1910. H. 5. S. 19. — Vogt , H ., Ziiricher Arbeiten, H. 1. 1905. 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Kgl. Charite in Berlin 
[Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen ].) 

Die Ulnarislahmung. 

Von 

Dr. KURT SINGER 

in Berlin. 

(Fortsetzung.) 

Aetiologisch interessant ist besonders der Fall Payr III. Ini 
AnschluB an eine Weichteilverletzung im Ellenbogen trat Ulnaris¬ 
lahmung auf. Der Nerv war mit der am Condylus intern, gesetzten 
und vernarbten Schnittwunde zusammengewachsen und an die 
Spize der Epitrochlea durch Narbenzug verlagert. Dadurch kam 
eine ziemlich scharfe Abknickung des Nerven zustande. Quetschung 
des Ellenbogen war bei Quadflieg Ursache der Luxation. Der Pat. 
hatte unmittelbar nach dem Trauma das Gefiihl der Taubheit 
und Lahmung im IV. und V. Finger. Er konnte selbst das Hin- 
und Hergleiten eines Stranges liber der Ellenbeuge konstatieren und 
hatte Schmerzen im Arm, die bei Bewegung zunahmen. Es fand 
sich Druckempfindlichkeit und Lahmung des Ulnaris. Bei Flexion 
im Ellenbogen glitt der Nerv aus dem Sulkus heraus, bei Extension 
wieder zuriick. Die Operation bestatigte die schon durch bloBes 
Tasten gestellte Diagnose der Ulnarisluxation. Schwere Traumen 
waren auch bei Cotton , Haim , Wharton fur die Luxation ver- 
antwortlich zu machen. Bei Lozano rissen die im Condylus intern, 
haftenden sehnigen Muskelansatze bei einem Fall auf den Arm, 
und der Ulnaris schllipfte aus seinem Kanal heraus. Nach Haim 
soli die Erkrankung im 3. Dezennium am haufigsten sein. Vor 
dem 15* Jahre hat er sie nie beobachtet (siehe aber Falle Jopson 
und Wallenberg). Sehr oft wird sicher die Ulnaris-Luxation oder 
Subluxation nicht bemerkt. AuBer Parasthesien, momentanem 
Schwachegefuhl und vorubergehendem, kurzdauemdem Schmerz 
macht die Luxation meist keine Beschwerde; erst wenn der Nerv 
sich entziindet, was bei seiner jetzt exponierten und alien mog- 
lichen Insulten ausgesetzten Lage ofters vorkommt, entwickeln 
sich heftige Lahmungserscheinungen. Im Falle Jerusalem-Porges 
kam es sogar (was sonst fast nie aufzutreten pflegt)zu Atrophien des 
II. und III. Interosseus. Da dieselben Erscheinungen auch bald 
an der anderen Seite auftraten, so ware hier allerdings auch an ein 
spinales Leiden zu denken. 

Fahndet man darnach, so wird man wohl die spontane Luxation 
haufiger finden, als man gemeinhin annimmt. Ich selbst fand unter 
150 daraufhin untersuchten Patienten 9 mal Subluxation des 
Ulnaris, 1 mal beiderseits Subluxation, 1 mal eine echte Luxation. 
Ein Trauma wirkt besonders dann luxierend auf den Nerven ein. 


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Singer, Pie Ulnarisl&hmung. 


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wenn der StoB.den gebeugten Eilenbogen in der Richtung von 
unten nach oben innen trifft. Auch gewaltsame Streckbewegungen 
des Trizeps werden verantwortlich gemacht; doch ist das nicht, 
wie Wilms annimmt, die einzige Ursache. Wenn Haim in seiner 
ausfiihrlichen Arbeit iiber Ulnaris-Luxationen das Bestehen 
kongenitaler Ulnaris-Luxationen vollstandig in Abrede stellt, 
so geht er ebenso zu weit wie Schwartz mit der umgekehrten An- 
sicht. Wenn nur ein Trauma diese Affektion bewirken kann, so 
sind 20 Falle seiner Statistik unerklarlich. Es ist schlieBlich kein 
sehr groBer Unterschied, ob man nun einen Fall von Ulnaris- 
Luxation, der bei vorhandenem Cubitus valgus mit ausgesprochener 
Verschieblichkeit des Nerven durch einen geringen StoB auf den 
Eilenbogen entstanden ist, zu den spontan kongenitalen oder zu den 
traumatischen zahlt. Man muB nur (wie Haim das iibrigens selbst 
angedeutet hat) keine zu scharfe Grenze zwischen Subluxatio 
und Luxatio n. uln. congenita aufstellen oder kiinstlich kon- 
struieren. Wenn Haim weiter sagt, bei den 20 Fallen, wo die trau- 
matische Atiologie fehlt, seien die beruflichen Anstrengungen, also 
sozusagen chronische Traumen verantwortlich zu machen, so ist 
dem zu erwidem, daB doch bei den meisten Polierern, Drechslern, 
Schustem, FaBbindern u. s. w. (die hier in Betracht kamen), 
die alltagliche Beschaftigung nicht zur Ulnaris-Verrenkung fiihrt, 
in den genannten Fallen also wohl die angeborene leichte Verschieb¬ 
lichkeit des Nerven die Subluxation auf eine echte Luxation vor- 
bereiten konnte. Wenn man sich auf diese Nomenklatur einigt: 

a) kongenitale Subluxation oder Luxation des Ulnaris, 

b) traumatische Luxation, 

so ist sicher zuzugeben, daB alle Falle derLiteraturindiesenGruppen 
unterzubringen sind. Auffallend bleibt immerhin, daB Collinet 
unter 15 Fallen nur 4 mal ein Trauma als Ursache angibt. 42 Falle 
der Literatur gehoren dann zu den traumatischen. Bei den iibrigen 
lost vielleicht oft ein leichtes, unbeachtetes Trauma die &ub- 
jektiven Erscheinungen der Luxation aus. Als disponieren- 
des Moment fur diese Formen nennt Haim auBer dem Cubitus 
valgus noch mangelhafte Entwicklung und Schwache des fibrosen 
Gewebes, angeborene abnorme Lage des N. uln., abnorme Klein- 
heit des Epicondylus internus (Zuckerkandl). Interessant ist 
die Aetiologie bei dem Fall von Hacker. Hier war der Epikondylus 
durch Tbc-Prozesse vergroBert und drangte im Wachsen den 
Ulnaris aus seinem Lager heraus. Einen ganz ahnlichen Fall von 
Ulnaris-Luxation sah ich bei abnorm starker Kallus-Entwicklung 
am Eilenbogen. 

Die Luxation des Ulnaris ist auch vom Standpunkt der Unfall- 
frage interessant. Da der luxierte Nerv leicht gequetscht und ladiert 
ward, so wird man beim Festsetzen des Prozentsatzes der Erwerbs- 
unfahigkeit stets daran denken miissen, ob nicht eine habituelle 
Luxation der Wirkung des Traumas Vorschub geleistet hat. 

Ein sehr groBes Kontingent der Ulnarislahmungen stellen die, 
welche durch Verletzung der Arm - und Schulter-Knochen oder Gelenkc 


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Singer, Die Ulnarisl&hmung. 


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zustande kommen. Auch hier nimmt die Haufigkeit der Lahmung 
von den distalen zu den proximalen Armpartien hin ab. Es sind 
hier nur die Falle gemeint, in denen die Paralyse des Nerven sich 
akut entwickelt, d. h. ziemlich gleichzeitig mit der Knochen- 
oder Gelenkaffektion entsteht. Bei Frakturen und Luxationen 
im Schultergelenk wird allerdings meist der Druck nicht isoliert 
den Ulnaris treffen konnen und daher ofter eine kombinierte 
Armnerven- oder Plexuslahmung zutage treten lassen. Ich 
habe einen Patienten gesehen, bei dem 14 Tage nach Einrenkung 
einer Luxatio humeri dextra eine schwere Lahmung des Ulnaris 
mit Atrophie der Interossei und des Kleinfingerballens mit elek- 
trischer EAR im Flex. carp, uln., Adduct, poll., samtlichen Inter- 
ossei und im Abduct dig. V, daneben eine weniger schwere Lah¬ 
mung des Extens. dig. commun. und Oppon. poll, auftrat. Bern¬ 
hardt sah eine isolierte Ulnarislahmung infolge Bruchs des rechten 
Schlusselbein8. Zum Teil handelt es sich hier um einfache Kom- 
pressionen, zum Teil aber auch, wie man bei den haufigen Ope- 
rationen schon gesehen hat, um AufspieBung des Nerven durch 
spitze Knochenvorspriinge. Druck der dislozierten Knochenenden 
auf die Nervenstamme war auch im Falle Middeldorpf Ursache 
der (Ulnaris- und Radialis-) Lahmung. Sitz der Fraktur war der 
Humerushals dicht unter dem unteren Armkopf. Einem ganz 
reinen und isolierten Fall von Ulnarislahmung bei Briichen des 
Oberarmschaftes bin ich in der Literatur iiberhaupt nicht begegnet. 
Haufiger dagegen ist dieselbe bei Frakturen und Lasionen im 
Ellenbogengelenk, an den unteren Epiphysen des Humerus oder 
an den proximalen Enden des Radius und der Ulna. Bei akuter 
Einwirkung und bei normalem Heilungsverlauf der Knochenwunde 
ist der Nerv hier im Wesentlichen 2 Schadigungen ausgesetzt: 
1. der Kompression, 2. der Luxation. Die Kompression erfolgt 
durch die verlagerten Knochenenden analog wie bei den Frakturen 
an anderen Knochen; nur ist durch die ungeschiitzte Lage am 
Ellenbogen gerade die Gefahr fiir den Ulnaris eine doppelte. 
Die Luxation kommt entweder so zustande, daB der Nerv aus 
seinem Lager durch ein Knochenstiick direkt herausgehoben wird, 
oder daB der Nerv durch Absprengung eines ihm anlagemden 
Knochenvorsprungs (Epitrochlea) seinen Halt verliert; oder 
seltener schlieBlich auch dadurch, daB der Nerv durch Narben- 
gewebe aus dem Sulkus entfemt und an falscher Stelle fixiert 
wird. Zu der Luxation kann dann noch eine Kompression des 
Nerven leicht hinzutreten, so bei Payr I, wo die Epitrochlea 
durch Fall gebrochen und auf die Vorderseite der Trochlea ver- 
lagert war, so daB zwischen beiden der luxierte Ulnaris einge- 
schlossen wurde. Eswar.diese Quetschung des Nerven erfolgt durch 
eine unvollkommene Seitwarts-Luxation beider Vorderarmknochen. 
Die sehr schweren Lahmungserscheinungen verschwanden 4 Wochen 
nach dem Unfall. Sitzt der Bruch des Knochens etwas hoher als 
an dem kolbigen Ende von Ulna und Radius, namlich (wie 
ziemlich haufig) an der unteren Epiphyse des Humerus, so ist meist 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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der Medianus mitbefalien oder sogar mehr betroffen als der Ulnaris. 
(Siehe z. B. die beiden Falle von Miihsam). Dem eben zitierten 
Falle Payrs entspricht auch der von Quadflieg. Auch hier war 
nach schwerer Kontusion des Ellenbogens (siehe oben) der Ulnaris 
luxiert worden. In der Literatur finden sieh von Fallen der Ulnaris¬ 
lahmung nach Ellenbogenverletzung (Ellenbogen im weiteren 
Sinne) noch die Falle Curtis , Bernhardt-Zonder , Pauchet y Ponzey. 

Einen ahnlichen Fall habe ich auch selbst beobachtet. 

21. Eigene Beobachtung XIII (Patient A.). 

Vor 2 Monaten beim Tumen hingestiirzt und anf den rechten Ellen¬ 
bogen aufgestoBen. Dabei war das rechte Olecranon ulnae abgesprengt 
worden imd das Radiuskopfchen verschoben. Eine halbe Stunde spater 
warden die Knochen eingerenkt. der Arm in Starke, nach einigen Tagen 
in Gips ruhig gestellt. Bei Abnahme des Verbandes merkte Patient, dati 
er kein Gefiihl im IV. und V. Finger hatte, ebenso an der Kleinfinger- 
seite der Hand; der IV. und V. Finger waren allmahlich ,,krunun“ ge- 
worden. Vor 6 Woohen verbrannte sich Patient, ohne es zu merken, am 
V. Finger. Er hatte absolut kein Schmerzgefiihl dabei. Patient merkt auch, 
daC der Nagel des IV. Fingers nicht mehr wachst und dafi sich das zu- 
gehorige Nagelbett stark verdickt hat. Die rechte Hand ist schwacher 
geworden. 

Befund : Die Sensibilitat ist fur alle Qualitaten in dem geschwarzten 
Gebiet der Zeichnungen (18 und 19) gestort. Das IV. Nagelglied ist ver- 



Fig. 18. Fig. 19. 


dickt und auf Druck schmerzhaft, der V. Nagel weifilich, der IV. braun 
verfarbt. Bei Druck auf den Ulnaris Parasthesien im IV. Finger und im 
ulnaren Handgebiet. Spreizen sehr schwach, besonders Finger IV und 
V konnen weder ab- noch adduziert werden. In Ruhe Spreizstellung. In 
Finger IV und V ist die Beugung der Grundphalanx sehr mangelhaft, im 
H. imd HI. etwas besser. Adduktion dee Daumens paretisch, etwas 
schwach auch die Opposition. Die Ulnarabduktion ist durch geringen Druck 
zu iiberwinden. Die rechte Hand ist kalter als die linke. Schwere Lage- 
gefiihlsstorung im V., leichtere im IV. Finger. 

Elektrisch: faradisch direkt sind die Ulnarismuskeln nicht erregbar, 
indirekt von einer 8telle oberhalb des Ellenbogens faradisch und galvanisch 
erregbar. Direkte galvanische Erregbarkeit gesteigert. K8Z = ASZ. 
Exquisit trage Zuckimg in samtlichen Interossei, Kleinfingerballen- 
muskeln. Flex. carp. uln. und Adduct, poll. 

November 1910 (7 Monate spater). Ab imd zu fallen dem Patienten 
noch Gegenstande aus der rechten Hand. Die Kraft ist bedeutend besser 


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geworden. Das Taubheitsgefiihl besteht noch weiter. Objektiv ist nur die 
Spreizung der Finger und Adduktion des Daumens leicht herabgesetzt. 
Die Sensibilitat ist noch genau dieselbe wie oben. Dorsal wird nur meist 
im ganzen IV. Finger die Beriihrung nicht erapfunden. Elektrisch: nur 
leichte quantitative Herabsetzung bei direkter galvanischer Reizung. 
Keine trage Zuckung mehr. 

Es konnte daran gedacht werden, daB in diesem Falle der 
Gipsverband auf den Nerven gedriickt und so ein neues Trauma 
gesetzt hatte, welches erst die Lahmung verursachte. Dem ist aber 
nicht so. Wie Nachforschungen ergeben haben, lag der Verband 
sehr locker und wurde auch mehrfach gewechselt. Auch kamen 
die ersten Schwacheerscheinungen und sensiblen Ausfallserschei- 
nungen dem Patienten schon sehr bald nach dem Trauma zum 
BewuBtsein, so daB a priori nur eine schwere Uinarislahmung 
durch Kontusion des Ellenbogens im Frage kommt. Sie ist bemer- 
kenswert, weil schwere vasomotorisch-trophische Storungen zutage 
traten und weil der Temperatursinn hier so erhebhch gestort war, 
daB es zu einer Brandverletzung kam. Interessant ist auch, daB 
die sensible Leitung sich nach Jahr und Tag noch nicht wieder 
hergestellt hat, wahrend die motorischen Funktionen wieder an- 
nahemd normal ge worden sind. 

Bei einer Lahmung, die durch Knochenwunden im Ellen- 
bogen und seiner Umgebung zustande kommt, fehlt sehr oft schon 
die Funktionsstorung im Flex. carp. uln. (Die Begriindung siehe 
oben.) Fiir die Lahmung waren in den einzelnen Fallen verant- 
wortlich zu machen: Gelenkfraktur im Ellenbogen bei Curtis , 
Luxation des Vorderarms nach hinten und Bruch des Processus 
coronoideus bei Pauchet (entstanden durch einen Fall beim Tumen). 
Die Reposition war bei letzterem Patienten ohne Erfolg. Es 
entwickelte sich sehr bald Anasthesie und Atrophie im ganzen 
Ulnarisgebiet. Die Operation ergab, daB der Ulnaris nach vom 
luxiert war; er wurde nach Bildung eines neuen Sulkus reponiert. 
Fast augenblicklich kehrte die Sensibilitat zuriick; nach 3 Wochen 
die Motilitat. Im Unterarm wird von den Nerven bei Fraktur der 
Knochen meist der Radialis betroffen, seltener schon der Medianus 
(oder Med. + Uln.), ganz selten isoliert der Ulnaris. Bei Bern¬ 
hardt-Zondek war nach der Fraktur der distalen Epiphysen des 
Radius und der Ulna durch Zerrung oder direkte Lasion der 
Ulnaris und der Medianus gelahmt. 

Am interessantesten scheint mir der Fall Thon zu sein. Er 
beweist, wie kompliziert zuweilen der Mechanismus bei Erzeugung 
der Uinarislahmung sein kann. Sie kam bei Thon zustande durch 
eine typische Radiusfraktur, die mit einer volaren Ulna-Luxation 
kombiniert war. Es fand sich 1 Monat nach der Fraktur: Krallen- 
stellung der Finger IV und V, Empfindungslahmung in diesen 
beiden Fingern und an der Kleinfingerseite der Hand fur alle 
Qualitaten, motorische Parese im Hypothenar und in den Interossei, 
EAR der letzteren. Jedenfalls war der Ulnaris durch, den Bruch 
des Radius gezerrt und dann durch das luxierte Ulnariskopfchen 


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ill seinem distalen Verlauf komprimiert worden. Es ist bemerkens- 
wert dabei, daB die Lahmung eine schwere war, obschon die 
Kompression des Nerven bis zur Reposition der Knochen nur 
2 Stunden gedanert hatte. 

Ich selbst sail folgenden Fall: 

22. Eigene Beobachtung XIV Patient Gu. Bei dem Pat. 
waf nach Vorderarmbruch die Benihrungsempfindlichkeit an der Klein- 
fingerseite aufgehoben, die Interossei III und IV sowie der Add. poll, voll- 
standig atrophisch. Der kleine Finger war dorsal und volar, die Halfte des 
IV. Fingers volar gegen Stich unempfindlich, der Deltoideus (durch In- 
aktivitat ?) etwas atrophisch. 

Mit dem vorhin zitierten Fall (Thon) von Ulnarislahmung 
haben wir schon das Gebiet der akuten mechanischen Nervenlasion 
verlassen. Er steht an der Grenze zu den subakuten. Ich zahle 
dazu alle die Falle, in denen das atiologische Moment nicht einen 
kurzen Augenblick einwirkt, wie bei den ZerreiBungen und Lasionen 
des Ulnaris, sondern das Trauma stundenlang hintereinander 
den Nerv trifft. Meist ist das Trauma in diesen Fallen, absolut 
genommen, nicht sehr heftig, und die Schadigung wiirde bei vor- 
iibergehender Einwirkung auch voriibergehend gering sein. Da- 
durch aber, daB ununterbrochen der Nerv denselben mechanischen 
Insulten ausgesetzt ist, summiert sich die Wirkung doch so, daB 
erhebliche funktionelle Ausfallserscheinungen zutage treten. Wenn 
wir ein paar Minuten lang den Arm mit dem Ellenbogen auf eine 
etwas scharfe Kante stiitzen, so zeigen sich sehr bald leichte sensible 
und motorische Storungen des Ulnaris, in Form von Parasthesien 
und Anasthesien, sowie Schwache im kleinenFinger. Diese Storungen 
verschwinden wenige Minuten nach Aufhoren des Insults. Setzten 
wir das Aufstiitzen des Arms mehrere Stunden fort, so wiirden 
die Ausfallserscheinungen lebhafter und bestandiger — wir hat ten 
das Bild der Ulnarisparese vor uns. So kann der dauernde Druck 
auf den Nerven z. B. wahrend des Schlafens eine Lahmung hervor- 
rufen. 

Das typische Bild der sogenannten ,,Schlaflahmung“, die 
zustande kommt, wenn der Oberarm mit der Streckseite iiber 
die Kante des Bettes, eine harte Stuhllehne u. s. w. herunterhangt, 
oder wenn der Arm auf dem Tisch ruht und dabei vom Kopf des 
Schlafenden lange gedriickt wird, ist allerdings nicht die Ufinaris- 
sondem die Radialislahmung. Der Druck kommt dann meist da 
zustande, wo sich der Radialis um den Humerusknochen herum- 
schlingt, ziemlich oberflachlich unter der Haut. Dieses atiologische 
Moment geniigt auch vollkommen zur Erklarung der haufig sehr 
hartnackigen Lahmung. Weniger einleuchtend ist es, daB der 
Druck, den die Korperlast an sich auf den unter den Kopf gelegten 
Arm ausiibt, gelegentlich auch eine Ulnarislahmung bedingen soli, 
ohne daB sonstige traumatische Anlasse wie Kanten und Harten 
der Bettstelle u. s. w. dabei im Spiele sind. Es scheint nicht moglich 
zu sein, daB der Ulnaris im Schlaf von auBen her ohne derartige 


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Einflusse eine so heftige Kompression erleidet, daB er gelahmt 
wird. Braun bezweifelt auch, daB Ulnarisschlaflahmungen auf 
diese Weise iiberhaupt zustande kommen; er denkt vielmehr an 
Kompression des Nerven durch den Gelenkkopf des Oberarms bei 
stark nach riickwarts gebeugtem und abduziertem Arm. Fur manche 
Falle mag dieser Mechanismus zutreffen, fiir alle sicher nicht. 
Lediglich den Druck des Korpers machen fiir die seltene Ulnaris- 
schlaflahmung Erb und Gowers (3 Falle) verantwortlich. In den 
wenigen anderen Fallen der Literatur, bei denen dieselbe Atiologie 
in Betracht kame, sind jedenfalls andere Ursachen nicht ganz aus- 
geschlossen. Vor alien Dingen glaube ich, daB man den Alkoholis- 
mus und die Erkaltung der Potatoren nie ganz auBer acht lassen soli 
(Fall Janzer 4). Kachektische Individuen setzen den Ulnaris eher 
einem Druck im Schlaf aus (SeligmiiUer). Auch die Falle von 
Manouvriez , Gerest , Scheiber sollen im Schlaf entstanden sein. 
Bei dem Patienten Scheibers waren alle 3 Armnerven paretisch 
nach einem Schlaf von nur 2 Stunden. Der linke Arm war im 
Ellenbogen gebeugt, die Hand lag unter dem Kopf, der Oberarm 
unter der Brust. Ein einmaliger AlkoholexzeB war dem Schlaf 
voraufgegangen. Auch Arteriosklerose und Tabes sind pradis- 
ponierende Momente fiir die Entstehung der Schlaflahmungen 
(s. eigene Beobachtung XV). 

Ein Patient Oppenheims, ein Arbeiter, der' kein Potator war, 
bekam eine Ulnaris-Parese, als er mit aufgestiitztem Ellenbogen 
seinen Mittagsschlaf hielt. Bei Gerest war die Ulnarislahmung 
doppelseitig. Der Patient hatte mit unter dem Kopf gekreuzten 
Armen auf dem Boden gelegen. Im allgemeinen ist die Lahmung 
um so schwerer, je langer der Druck anhalt, und der Druck braucht 
um so geringer zu sein, um eine Lahmung zu erzeugen, je langere 
Zeit er anhalt. ( Vvlpius .) 

Ziemlich einwandfrei scheinen mir 2 Falle reiner Ulnaris- 
Schlaflahmung zu sein, die ich selbst beobachtete. 

23. Eigene Beobaehtung XV (Patient Lo.). 

Vor 8 Tagen wachte Patient friih mit vollkommenem Taubheits- 
gefiihl im IV. und V. Finger der rechten Hand auf. ReiBen bis zum Ellen¬ 
bogen. Finger IV und V konnten nicht gestreckt werden. Patient hatte 
die Nacht auf der rechten Seite geschlafen und gab spontan an, die Muskeln 
und die Knochen im Ellenbogen seien, als er erwachte, sehr schmerzhaft 
gewesen. 

Objektiver Be fund: Finger IV und V konnen nicht gestreckt werden. 
Adduktion des Daumens sowie der iibrigen Finger und Spreizen sehr 
paretisch, etwas schwach auch die Ulnarabduktion der Hand. Keine 
sichtbaren Atrophien, keine EAR. Sensibilitatsstorung typisch begrenzt, 
Hypasthesie. Hypalgesie, Thermhypasthesie. 

Es mag hervorgehobenwerden, daB Patient keinPotator ist und 
daB er am Abend vor Eintritt der Lahmung keinen Alkohol zu 
sich genommen hatte, der bekanntlich die Nerven gern im Sinne 
der leichteren Verletzbarkeit affiziert. Es steht auch fest, daB 
hier der Druck auf den Ulnaris ein direkter, durch den Druck 
der Bettkante hervorgerufener war. Das gibt Patient selbst an, 


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und dafiir spricht auch die Schmerzhaftigkeit der knochernen 
und muskuloeen Umgebung des Nerven. Vielleicht hatte aber 
dieser Druck fiir eine so vollstandige motorische und sensible 
Lahmung bei einem iiberkraftigen Menschen (Patient ist Athlet) 
nicht ausgereicht, wenn Patient nicht auf andere Weise fiir die 
Lahmung pradisponiert gewesen ware. Patient litt an einer 
typischen Tabes (anaranestisch unsicherer Gang, lanzinierende 
Schmerzen, Parasthesien in den Beinen; objektiv: Differenz der 
Pupillen, Pupillenstarre, Fehlen der Patellar- und Achillesreflexe, 
Ataxie beixn Gehen, J?ora6ergrsches Schwanken, Hypalgesie der 
Unterschenkel und Hitzigsche Zone in der Gegend der Brust- 
warzen. 

24. Eigene Beobachtung XVI (Patient Pe.). 

Patient erwaohte eines Tages mit Taubheit ini IV. und V. Finger 
rechts, konnte die Finger nicht strecken. Ursache unbekannt, Lahmung 
unmittelbar nach Schlaf bemerkt. Objektiv: Kiauenhand ini IV. und V. 
Finger rechts. Strecken aktiv moglich. Ab- und Adduktion in Finger 
IV” und V unmoglich, desgl. in II und III. Adduktion des Daumens schwach. 
Opposition gut. rechts etwas schwacher als links. Mechanisch ist der Ulnaris 
leicht erregbar. Sensibilitat: Hyperalgesie im Ulnarisgebiet. Elektrischr 
Herabsetzung der Erregbarkeit in den kleinen Handmuskeln, direkte galvan. 
Zuckung in den Ulnarismuskein etwas langsam. 

Eine Ursache fur die Lahmung (Neuritis) war trotz langen Fragens 
nicht zu eruieren. Autter der Lahmung befand sich Patient ganz gesund. 

Per exclusionem konnte man also auch hier die Diagnose „ Schlaf - 
lahmung 44 stellen. 

Sehr viel zitiert und als typischer Fall von Schlaflahmung 
angesprochen wurde der Fall Seeligmiiller. Auch dieser Autor glaubt> 
daB bei schwerfalligen Personen, die lange Zeit in Riickenlage 
zubringen miissen, eine Drucklahmung des Ulnaris durch die 
Korperlast zustande kommen konne. Ich habe schon oben erwahnt, 
daB ich diesen atiologischen Zusammenhang fiir unwahrscheinlich 
oder unmoglich halte, speziell im Sedigmullemc^n Falle (eine 
an Mamma-Karzinom operierte Frau, die motorische und sensible 
Ausfallserseheinungen im Ulnaris bekam) lieBe sich an Druck des 
Humeruskopfes denken oder auch vielleicht an eine im Verlauf der 
langwahrenden Erysipelerkrankung entstandene Neuritis. Gerade 
dieser Fall ist geeignet, zu jener Form der Lahmungen uber- 
zuleiten, die man als Narkose-Lahmungen bezeichnet. 

Wir verstehen darunter Lahmungen, welche ohne augen- 
scheinliche auBere Momente nach Operationen auftreten, die unter 
Narkose vorgenommen wurden. Dabei fallen die paretischen Teile 
gar nicht in das Operationsgebiet, d. h. es entwickelt sich eine 
Lahmung an Nerven und Muskeln, mit denen das Messer des 
Chirurgen gar nicht in Beriihrung kam. Zwischen leichten moto- 
rischen Paresen und kompletten Lahmungen mit EAR finden sich 
alle Uebergange. Dem Studium der Ursachen und Entsteliung 
dieser interessanten Lahmungen sind viele Arbeiten und experimen- 
telle Forschungen gewidmet worden. Hochstens etwa die so- 
genannten Entbindungs - Lahmungen sind ebenso eingehend 
studiert und diskutiert worden. Wir konnen um so weniger darauf 


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verzichten, diese Losungsversuche zu beriihren als auch fur die 
(immerhin seltenen) Ulnaris-Narkose-Lahmungen ahnliche mecha- 
nische Momente mitzusprechen scheinen oder wenigstens mit- 
sprechen konnen, wie bei den viel haufigeren Narkose-Plexus- 
Lahmungen. Die Plexuslahmung, kann man sagen, ist die typische 
Form der Narkoselahmung; und der erste Fall dieser Art, der 
iiberhaupt bekannt wurde (Bernhardt 1892), war eine doppel- 
seitige Parese des Plex. brach. 2 Jahre spater stellte Braun 
den Entstehungsmechanismus und damit das Wesen der von ihm 
sogenannten ,,Narkoselahmung“ fest. 

Es war aufgefallen, daB nicht bei alien Arten ehirurgischer 
Eingriffe, die unter Chloroformnarkose vorgenommen wurden, 
direkte Lahmungen auftraten, oder daB sie doch wenigstens 
hautiger beobachtet werden konnten bei Operationen am Abdomen 
oder an den Mammae. Der Grund lag darin, daB gerade bei diesen 
Operationen sowohl zur Freilegung des Operationsgebietes als 
zur Vermeidung jeder Bewegung die Arme des Narkotisierten meist 
in eine extreme Abduktion und Hyperextension gebracht wurden. 
Gelegentlich wird auch der iiberdehnte Arm straff unter den 
Kopf gelegt oder der Arm in der Achsel uber metallene Armhalter 
heriibergespannt. Durch diese und ahnliche Prozeduren werden 
nun die Armnerven in der Achselhohle auBerordentlichen trauma- 
tischen Einflussen ausgesetzt. Erstens wird die Spannung und 
Dehnung eine iibernormale, und zweitens geraten die Plexusnerven 
mit Knochen in Beriihrung, die durch Elevation des Armes eine 
direkte Kompression ausiiben konnen. Nach Braun soil ein Druck 
auf den Plexus zwischen Schliisselbein und 6. resp. 7. Halswirbel 
stattfinden konnen; der Plexus oder seine einzelnen Teile miiBten 
also da komprimiert werden, wo er aus der Skalenuslucke austretend 
zwischen Klavikula und I.Rippe liegt. Braun nimmt an, daB durch 
Elevation und Abduktion die Klavikula hochgedriickt und an 
die unteren Halswirbel gepreBt wird, wodurch die unteren Cervikal- 
nerven ladjert werden. Dieser Ansicht Brauns schlossen sich 
Bernhardt , Hoedemaker , Nonne uneingeschrankt an. Alle traten der 
Auffassung Biidingers entgegen, der experimented zu einer ganz 
anderen Ansicht beziiglich des Mechanismus der Lahmungen ge- 
kommen war. Seine Versuche lehrten, daB nicht die Halswirbel- 
Querfortsatze, sondern die I. Rippe den Plexus oder einzelne 
Nerven desselben gegen die Klavikula zu drucken imstande ist, 
wenn der Arm geniigend stark eleviert wird. 

Er entbloBte zu seinen Experimenten die Klavikula an der Leiche 
von allem umgebenden Periost, Faszien- Muskel- und Sehnengewebe. Er 
hob den Arm der Leiche dann horizontal in die Hohe, indem er zugleich 
den Finger seiner Hand unter die Mitte des Schliisselbeins legte. Noch 
bevor der Arm um 90° abduziert war, wurde der Finger stark gequetscht. 
Eine Protuberanz, die den Querfortsatzen der Halswirbel etwa ent- 
sprochen hatte, fiihlte er nicht. Der Knochen, auf den der geklemmte Finger 
zu liegen kam, war die glatte I. Kippe. Als der Arm bis zu einem rechten 
Winkel eleviert war, lagen die Knochen dicht beieinander; wurde der Arm 
noch weiter erhoben, dann drehte sich die Klavikula so, daB die hintere 


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Flache zur unteren wnrde nnd stemmte sich an die I. Rippe. Die beiden 
Knochen waren hier nur durch den Plexus voneinander getrennt. 

Bei diesem Mechanismus kommt alles darauf an, ob der Plexus 
oder einzelne Nerven desselben geniigend schnell dem Druck aus- 
weiehen konnen. Die unteren Wurzeln konnen das bequem nach 
der medialen Seite, denn der Winkel, unter dem die Klavikula 
zu ihnen steht, ist ein stumpferer als bei den oberen Plexus wurzeln. 
Der Meinung Bildingers schlossen sich Kron und Gaupp , bedingungs- 
weise auch Kruvnm an. Letzterer macht auf Grund von Leichen- 
experimenten die Einschrankung, daB bei Kindern der eine wie 
der andere Mechanismus eintreten konne, bei Erwachsenen die 
Kompression aber immer zwischen Klavikula und I. Rippe statt- 
finde. 

Es ist kein Zweifel, daB, wenn der Plexus auf diese Weise 
komprimiert wird, auch gelegentlich der I. oder II. Nerv desselben 
isoliert befallen sein konnen, und ich glaube, daB der Fall Braun 
(Narkoselahmung des Uln. und Med.) so zu erklaren ist. Es kommt 
dazu, daB sehr oft bei der Brechneigung der narkotisierten Patienten 
der Kopf extrem nach einer Seite gedehnt und gestreckt wird. 
Auch hierbei kann ein Nerv durch Lage und zufallige Komplikation 
der Umgebung einmal isoliert gelahmt werden. Was speziell noch 
die Drehung desKopfes anbelangt, so gehen franzosische Autoren wie 
Mailly, Guillain-Mailly, Duval so weit, daB sie auf Grund von 
Experimenten an der Leiche behaupten, die Nervenlahmung der 
Narkotisierten komme uberhauptnur durchDrehung undZerrungder 
Wurzeln zustande. Ich glaube nicht, daB man diesem prinzipiellen 
Standpunkt in alien Fallen beipflichten kann. Viel wesentlicher ist, 
worauf Windscheid und Littauer hinweisen, daB namlich auch 
gewisse Begleitmomente bei der Entstehung der Lahmung teil- 
haben. Die Nerven des Plexus sind eher traumatischen Schadi- 
gungen ausgesetzt, wenn sie oberflachlich liegen; die Zerrung 
ist eine ergiebigere, wenn das umhiillende Fettpolster gering ist, wie 
bei anamischen und kachektischen Individuen. Vielleicht kommen 
fordernd auch Anomalien der Knochen und abnormer Verlauf der 
Nerven mit in Betracht. Wesentlich scheint mir auch, daB die 
Nervenstrange, wenn sie gedehnt sind, viel weniger leicht aus- 
weichen und den Insulten entgehen konnen. Da zudem auch der 
Muskeltonus in der Narkose herabgesetzt ist, so leisten die den 
Nerven vorliegenden Muskelbiindel wenig Schutz und wenig 
Widerstand. In den meisten Fallen — bei einigermaBen gut ge- 
nahrten Menschen — wird wohl das Trauma, das in einer Kombi- 
nation von Armabduktion und -elevation und Kopf drehung besteht, 
ohne EinfluB auf die Nervenstamme bleiben. Schon die Seiten- 
heit der Narkoselahmung beweist das. Dennoch ergibt sich fur die 
Prophylaxe dieser Erkrankungen den Operateuren die Aufgabe, 
Vorsicht anzuwenden bei alien die Achselhohle und den Arm be- 
treffenden mechanischen Manipulationen. Der Arm darf nicht 
extrem emporgezogen werden, der Kopf bei Brechneigung nur 
nach der Seite des erhobenen Armes hin. DaB wirklich die Elevation 


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der Arme eine iibernormal starke weraen kann, zeigt deutlich 
der Fall Sarbo, wo die Hande des zu Operierenden wegen heftiger 
Exzitation in der Narkose riickwarts zusammengebunden wurden; 
es entwickelte Rich eine Plexuslahmung. 

Nun ist aber auBer den beiden schon besprochenen Ent- 
stehungsarten sicher noch ein dritter (und wahrscheinlich haufiger) 
Mechanismus bei den isolierten Narkoselahmungen moglich. Bei 
den Radialislahmungen ist das der Druck auf die Umbiegungs- 
stelle am Oberarm durch die harte Tischkante, bei der Ulnaris¬ 
lahmung die Kompression des Ulnaris in der Achselhohle durch den 
Gelenkkopf des Humerus. Braun hat schon 1894 auf diese Ent- 
stehung hingewiesen, die durch die nahe Lage der Nerven zum 
Knochen noch besonder serklarbar und natiirlich erscheint. Auch 
der Umstand, daB bei forcierter Erhebung des Armes der Radial- 
puls in dem 2?ratmschen Falle verschwand, spricht dafiir, daB in 
der Achselhohle der Gelenkkopf die Arteria axillaris durch Druck 
abplattete und dabei natiirlich auch die gabelformig sie um- 
fassenden Nn. uln. und med. komprimierte. Im einzelnen Falle laBt 
sich wohl nie entscheiden. ob dieser Mechanismus oder der andere 
obwaltet. Vielleicht ist aber auch die Vermutung nicht unberech- 
tigt, daB es sich haufig um Kombination beider Arten handelt. 

Somit sind also die Narkoselahmungen Drucklahmungen. 
Manche Autoren geben dem Narkotisierungsmittel Schuld an dem 
Entstehen derselben und leugnen jede Druckursache. Es fiel 
ihnen auf, daB eine Lahmung auch ohne die mechanische Rotation 
und Abduktion des Armes auftreten konne. So sah Ca^se einen 
Fall von kompletter Ulnaris- und Medianuslahmung bei einem 
Menschen, dessen Arm wahrend der Operation ruhig parallel der 
Langsachse des Korpers gelegen hatte. Ahnliche Beobachtungen 
machten Verhoogen und Vantrin . Gelegentlich wurde auch der 
Aether als Lahmungsursache beschuldigt. 

Auch experiinentell 1 ) ergriindeten einzelne Autoren dieseMoglichkeiten. 
Verhoogen gab Mausen Chloroform in reichen Mengen. Lange vor dem 
Exit us waren die grofien Nervenstamme weder durch Druck noch durch 
Elektrizitat. Kompression, Durchschneiden erregbar. 

Stefanowsky und Jotetzko lieBen Chloroform und Ather auf entbloBte 
Nervenstamme auftropfeln: die elektrische Erregbarkeit erlosch schlieB- 
lich. Setzte man die Gifte ab, so stellte sich die Erregbarkeit langsam 
vvieder her. 

Ware das Chloroform wirklich, wie die^e Autoren annehmen, 
die eigentliche und einfache Ursache der Narkoselahmung, so 
ware die Seltenheit des Krankheitsbildes schlechtweg nicht erklar- 
bar. Man miiBte dann schon annehmen, daB bei der Narkotisierung 
schlechtes Chloroform, d. h. direkt imd in kleinen Mengen toxisch 
wirkendes verwandt wurde in den Fallen, in denen nach der 

J ) Ich glaube nicht, daB das Experiment, das mit viel zu groBen Gift- 
mengen arbeitet, hier iiberhaupt etwas Wesentliches leisten kann. Die 
durch direkte Chloroform- oder Athereinwirkvng experimentell erzeugten 
.Paresen der Nerven ahneln doeh hochstens den bekannten Lahmungen 
nach Ather-Injektion. 


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Narkose Lahmung auftrat. Mit Reserve darf man aber viel- 
leicht den Standpunkt Casses teilen, daB das Chloroform die Nerven 
zur Drucklahmung geeignet macht. sie sozusagen durch Vorarbeit 
pradisponiert. 

Obschon gerade die reinen Ulnarislahmungen unter den 
Narkoselahmungen sehr selten, ja am allerseltensten angetroffen 
werden, bieten sie doch so viel prinzipielles, theoretisehes und — 
schon durch die notwendige Prophylaxe — praktisches Interesse, 
daB ich die Frage ihrer Enfcstehung nach alien Seiten hin be- 
leuchten wollte. Balakian fand unter 90 Narkoselahmungen 
reine Ulnarislahmung nur 1 mal und auch nur einmal kombinierte 
Ulnaris-Medianuslahmung. 

Weyert spricht von 3 Fallen von Uln.-Med.-Narkoselahmung. 
Mir selbst sind aus der Literatur 4 Falle bekannt geworden. 

1. Braun : Rechter Ann war iiber den Kopf geschlagen. Chloroform- 
narkose von 1 % Stunden. Rechtsseitige Lahmung des Uln. und Med. 

2. Benyier: Reine Ulnarislahmung nach Kieferoperation (Reeektion 
dee Unterkiefers). Arm an Korper angepreBt. 

3. Casse . KompletteUlnaris-undMedianuslahmung. Arm nicht eleviert. 

4. Lion. Ulnarislahmung mit vollstandiger EAR und starker Beuge- 
kontraktur der letzten 3 Finger. Main en pince. 

Wenn im wesentlichen bei den subakut verlaufenden Schlaf- 
und Narkoselahmungen als atiologisches Moment (wenn auch 
nicht immer auBerlich sichtbar) nur die Kompression des Ulnaris 
in Frage kommt 1 , so wird diese Atiologie ganz unzweifelhaft 
deutlich bei gewissen anderen Formen der Ulnarislahmung, die 
man damach auch als spezifische Drucklahmung bezeichnen 
kann. Hierher gehoren beispielsweise die gar nicht so seltenen 
Lahmungen, die nach Anlegung des iS.swarcAschlauches auftreten 2 . 
Diese Lahmungen wurden zuerst von Langenbeck erwahnt. Als 
Ursache sah er das Andriicken der Nerven an die Knochen an. 
Auch hier ist die Mononeuritis viel seltener als die gleichzeitige 
Affektion mehrerer Nervenstamme; so Fall Kobner (Lahmung 
des Rad., Med., Uln.) und Bernhardt 1888 (Lahmung des Uln. und 
Med.). Isoliert fand ich die Ulnarislahmung nur in Fall 2 von Braun . 

Nach Frey ist nur die mechanische Schadigung des Nerven 
Ursache der Lahmung; nach anderen Autoren (wie Lapinsky) 
hangt das Schicksal des Nerven von dem BlutzufluB ab. Stockt 
dieser, so leidet der Nerv und wird paretisch. Wir sahen einen 
Patienten (Patient Fo.) der seit 6 Jahren an Ulnarislahmung mit 
schwerer EAR, Kontraktur in den Phalangealgelenken und Ulnaris- 
Sensibilitats-Storungen zu leiden hatte; Ursache fur die Parese 
war ein Gipsverband, der wegen einer Oberarmverletzung einige 
Wochen fest angelegt worden war. 

*) Ich erwahne hier nochmals, daB rnanche Autoren, (wie Gowers , 
Scheiber) die Schlaflahmung als Erkrankung sui generis ohne jede andere 
Aetiologie als die im Namen enthaltene ansehen. 

*) Wenn auch diese Erkrankungen meist nach Narkose auftreten. so 
rechnet man sie doch nicht zu den Narkoselahmungen s. str. 

Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurol ogle. Bd. XXX. Heft 5. 23 


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Singer, Die Uinarislahmung. 


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Die typische Arrestantenlalunung ist die des Radialis ( Brenner , 
Erb , Gower8 , Oppenheim). In den kultivierten Landern ist sie 
seltener. Gelegentlich findet sie sich nur noch in RuBland, wo 
die Polizeidiener dem Arrestanten beide Arme mit bleifederdicken 
Hanfschniiren oberhalb der Ellenbogen fesseln und auf dem 
Rficken zusammenbinden. Kombinierte Nervenlahmungen sind 
dabei oft beobachtet; eine fast isolierte Uinarislahmung durch 
Polizeifesseln beschreibt Oberndorffer. 2 Stunden waren die Arme 
gebunden; danach rechts eine sehr leichte Medianusschwache 
und eine schwere Paralyse des Ulnaris mit partieller EAR. 

Ulnaris-Drucklahmung durch schlecht in der Achselhohle 
sitzende Krficken beschreibt Maccabruni. Ich selbst sah bei einer 
Kriickenlahmung schwerste Beteiligung des Ulnaris (der Medianus 
war ebenfalls stark befallen); die typische Kriickenlahmung ist 
die Medianuslahmung. 

Auch der Druck auf die Muskeln der Hand kann eine Parese 
im Ulnarisgebiet erzeugen, wenn er lange fortgesetzt einwirkt, so 
in dem sehr eigenartigen Fall Kelloggs , wo motorische und sensible 
Storungen im Ulnaris durch zu enge Rockarmel erzeugt waren. 
Moglicherweise driickte hier das beengende Kleidungsstfick direkt 
den Nerven im Ellenbogen oder fiber dem Handgelenk. Nach 
Beseitigung des Hindernisses schwanden die Beschwerden. 

Der Druck auf die Handmuskulatur schadigt natfirlich 
auch die letzten Endigungen und Auffaserungen der Nerven. 
So werden die trophischen und motorischen Storungen verstand- 
lich, die Eulenburg in den Mm. inteross. auftreten sah, als sein 
Patient langere Zeit den Ellenbogen auf den Handrficken gestfitzt 
hatte. Auch in den Fallen von Simpson und Destot ist Druck 
auf die Hand (Kleinfingerballen oder Os pisiforme) Ursache der 
Ulnarisparese gewesen. 

25. Destot beobachtete an sich selbst, da0 er nach langem Radfahren 
Parasthesien im IV. und V. Finger spfirte. Hier fand sich objektiv Hypa- 
sthesie und Hypalgesie. Allmahlich zeigte sich Atrophie der Interossei, 
Lumbricales und des Add. poll, mit Schwache in diesen Muskeln. 

Destot erklart die Parese selbst als entstanden durch den 
Druck auf einen kleinen Ast des Ulnaris zwischen dem Os pisiforme 
und der Eisenstange des Fahrrades. Die Beschaffenheit der Lenk- 
stange begfinstigt und steigert den Druck auf den Hypothenar. 
Auch der 64 jahnge Patient von Bernhardt-Zondek hatte sich durch 
anhaltenden Druck bei Ffihrung des Rades eine lahmungsartige 
Schwache der kleinen Ulnarishandmuskeln zugezogen (ebenfalls 
Druck zwischen Eisenhandgriff und Os pisiforme). Von einem 
ahniichen Fall von Ulnarisparese spricht Curschmann. Hier kam 
die Atrophie und partielle EAR in den vom linken Ulnaris ver- 
sorgten Muskeln durch Einwirkung einer stumpfen, mit Elektrizitat 
betriebenen, bestandig erschfitterten Fraseglocke zustande. Die 
Heilung erfolgte einige Wochen nach Entfernung der Glocke. 

Diese durch subakute Druckwirkung entstehenden Lahmungen 
des Ulnaris fallen zum Teil schon in das Gebiet der sogenannten 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Ueberanstrengungs- oder professionellen Lahmungen oder der 
neuritischen Paresen. Es handelt sich hier entweder um eine 
durch Kompression der Muskeln erzeugte Blutzirkulationsstorung 
und dadurch erfolgte Unterernahrung des Nerven oder wahr- 
scheinlich um eine direkte Schadigung der Nervenendfasern. In 
den leichtesten Formen sehen wir sie bei der poliklinischen Klientel 
ungemein haufig. Zu einer ausgesprochenen Parese kommt es 
seltener. 

Typisch ist die Ulnarislahmung schlieBlich fur die Nerven- 
erkrankungen, die nach veralteten Ellenbogenfrakturen und 
Entziindungen beobachtet werden. Diese Falle verlaufen ungemein 
ehronisch. Die ersten Erscheinungen entwickeln sich erst Jahre 
und Jahrzehnte nach iiberstandener und geheilter Gelenkaffektion; 
es ist nichts Ungewohnliches, daB zwischen Trauma und Ulnaris- 
parese ein Zeitraum von 10 bis 25 und 30 Jahren liegt. Von den 
Neuritiden (siehe unten) sind diese Drucklahmungen schwer ab- 
zutrennen und zu unterscheiden; auch Remak macht diese Unter- 
scheidung nicht, zahlt sie aber (mit dieser Reserve) bei den Neuriti¬ 
den auf. 1 ) Das Wesen dieser Lahmung ist, daB durch langsam 
und standig wachsende Kallusmassen an den Orten veralteter 
Frakturen der Ulnaris leicht in seinem Lager gequetscht oder 
aus seinem Lager herausgehoben wird. Dadurch kommen Zerrungen, 
Abplattungen, Verlagerungen, Verdunnungen und vielleicht auch 
partielle ZerreiBungen des Nerven zu stande. Oftmals wachst der 
Kallus um den Nerv herum, und in operierten Fallen trifft man nicht 
selten den Nerv tief in Knochenmasse eingebettet. Der Nerv ist 
dann verdiinnt und abgeplattet. Gelegentlich allerdings sieht 
man ihn auch angeschwollen, dick und gerotet, im Stadium der 
Entziindung. Ein direkter AnlaB fur das Ausbrechen dieser Spat- 
lahmung wird meist nicht gefunden. In manchen Fallen konnte 
allerdings Ueberanstrengung (Remak), eine plotzliche Zerrung, 
ein Fall, langer einwirkender Druck auf den Ellenbogen (Peltesohn) 
eine bruske Bewegung (Oppenheim) als auslosende Ursache be- 
schuldigt werden. Die Kallusmasse muB den Nerven in den Jahren 
ihres Wachstums so geschadigt haben, daB zwar ein objektives 
Ausfallssymptom und schwerere subjektiv bemerkbare Sensationen 
in der ganzen Zeit ausblieben, daB aber ein sonst sehr geringes 
Trauma die Lahmung in die Wege leiten konnte. DaB gerade 
der Ulnaris hier ,,ausgewahlt“ scheint, liegt in der Haufigkeit der 
Fraktur des Condyl. int. hum. und der Fraktur dicht liber den 
Kondylen, wo der Ulnaris dem gebrochenen Knochen am nachsten 
liegt. Die Verdickungen am Knochen sind meist deutlich zu pal- 
pieren; wo nicht, so klart das Rontgenbild in alien Fallen uber 
die Atiologie der Lahmung auf. 

Der erste derartigeFall wurde von Panas 1878 beschrieben. Eine 

x ) Die Fall© von Ulnaris-Kail us- Lahmung, bei welchen die neuritische 
Komponente besonders vorwiegt, will ich mit Ausrufungszeichen versehen, 
-da sie eigentlich an spatere Stelle gehoren, der Uebersicht halber aber hier 
•angefiihrt werden. Eine scharfe Abgrenzung ist nicht moglich. 

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Singer. Die Ulnarislahmung. 


von der Ulna ausgehende Exostose driickte bei Beugung den Uinaris. 
Bei der Operation zeigte sich ein ins Ligamentum lat. int. hin- 
eingewachsenes Sesambein. Die Fraktur hatte vor 12% Jahren 
stattgefunden. Ein 2. Fall von Ulnarislahmung war 12% Jahre nach 
Ellenbogenfraktur entstanden, der Sulc. uln. mit Knochenmasse 
angefullt, der Uinaris knotig geschwollen zu fiihlen. Nach Panas 
haben von diesen Kalluslahmungen in Deutschland gesprocheni 
Seeligmuller, Remak , Oppenheim , Flatau, Weber , Schreuer, Bern¬ 
hardt , Schmidt , Payer , Peltesohn , Burchardt, von Franzosen: Mouchet, 
Broca , Huet , Guillain-Mailly , Vacquerie , Savariand. 

Ich selbst habe ebenfalls 3 Falle beobachtet. Im wesentlichen 
stimmen alle diese Beobachtungen miteinander iiberein in Bezug 
auf die Symptomatologie der Lahmung; ein besonderes Interesse 
verleiht ihnen erst die Freilegung des Nerven durch die Operation. 
Nach Ausdehnung, Schwere und Dauer unterscheiden sich die 
Lahmungen selbst verst andlich. Befordert wird die Lahmung durch 
Ausbildung oder Vorhandensein eines Cubitus valgus. Je friih- 
zeitiger die Patienten zur Beobachtung kommen, um so weniger 
bildet sich die Paralyse aus. Von dem Schwachegefiihl im kleinen 
Finger und Kribbeln bis zur schweren Lahmung des Uinaris mit 
EAR finden sich alle Sehattierungen. Das Narbengewebe, das bei 
dem chirurgischen Eingriff oft um den Nerv herum gefunden 
wird, scheint immer fur eine neuritische Entstehung der Lahmung 
zu sprechen, besonders dann, wenn nicht, wie meist, eine Fraktur 
im Gebiet des Ellenbogengelenks fiir die Lahmung verantwort- 
lich gemacht werden kann, sondern eine (eitrige) in der Jugend 
iiberstandene Gelenkentzundung (Falle: Oppenheim 3, Weber 2, 
Peltesohn 1). 

Sehr oft wird die Lahmung erst erkannt, wenn "neuritische 
Reizerscheiungen hinzutreten und nun die Aufmerksamkeit auf 
die vorher unbeachteten geringen motorischen Storungen gelenkt 
wird ( Momburg , Haim). Ware friiher untersucht worden, so 
waren sensible und motorische Ausfallerscheinungen auch ohne 
Reizsymptome sicherlich gelegentlich gefunden worden. Und 
auch aus diesem Grunde kann man gerade hier die Neuritiden 
nicht von den Kallusdrucklahmungen absondem. Erwahnenswert 
ist noch die Angabe von Broca-Mouehet, dall auBer der mecha- 
nischen Kompression des Nerven auch gelegentlich die Ent- 
wicklung eines Cubitus valgus zu einer Luxation des Uinaris 
fiihren und dadurch die Lahmung auslosen kann. Nach Savariand, 
der 4 Falle von Ulnarisspatlahmung gesehen hat, ist die Quetschung 
des Nerven die haufigere Ursache der Lahmung, seltener SpieBung 
oder ZerreiBung. Es ist zu erwahnen — und Mouchet hat es be¬ 
sonders betont — daB die Ulnarislahmung erheblicher wird in den 
Fallen, wo die Humerusfraktur im kindlichen Alter stattgefunden 
hat. Da hier die Knochenentwicklung noch nicht beendet ist, so 
bildet sich leichter eine Knochendeformitat des Ellenbogens, eben 
in Form des Cubitus valgus aus. Mouchet berichtet von 2 solchen 
Fallen, deren einer im Alter von 2, der andere im Alter von 


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Singer , Die Ulnarislahmung. 


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Jahren die Fraktur erlitt. Ausgelost wird die Lahmung meist 
durch eine Trauma. Die iibrigen mir bekannten Falle aus der 
Literatur verhalten sich wie folgt: 

26* Ponas( !): 19 jahriger Mann. Fraktur des unteren Humerusendes vor 
12 ^2 Jahren. Muskelatrophie im Ulnarisgebiet. Seit 1 Jahr spindelformige 
Anschwellung des Nerven. Exostose an der Ulna. 

27. Fiction I: 42 jahriger Arbeiter. Vor 27 Jahren Sturz vom Pferde. 
Kallusentwicklung am Condyl. int. hum. 10 Jahre spater nachjAnstrengung 
Atrophie in den Ulnarishandmuskeln. 

28. Fiction II (!): 31 jahriger Backer. Vor 22 Jahren Fall auf den 
rechten Ellenbogen. Kallusbildung am Condyl. int. Vor 1 Jahre beim 
Holzhauen plotzlich Schmerzen und Parasthesien im Arm. Fortschreitende 
neuritische Lahmung des Ulnaris. 

AuBerdem beobachtete derselbe Verfasser noch 3 weitere Kallus- 
Ulnaris-Neuritiden. 

29. Weber I (Oppenheims Falle): 75 jahriger Mann; vor 27 Jahren 
Luxation des rechten Ellenbogens; durch Schafer eingerenkt. Ziemlich 
plotzlich typische Ulnarislahmung mit to taler EAR. Schwache in der 
Hand, Kribbeln in den Fingern. Deformitat im Ellenbogen. Ulnaris ver- 
dickt, auBerhalb des Kanals fiihlbar. Ausgesprochene Thermanasthesie 
im gelahmten Gebiet. 

80. Weber II. Frau, im Alter von 6 Wochen Pocken und doppelseitige 
durch Inzisionen behandelte Ellenbogengelenk-Entziindung. 30 Jahre alt 
rechtsseitige Ulnarislahmung; 2 Monate spater auch links. Rechts Atrophie 
der UTnarismuskulatur und partielle EAR, links nur leichte Reiz- 
erscheinungen. Die Gelenke im Zustande der Arthritis deformans atro¬ 
phica (rechts typische Ulnarislahmung, links Neuritis uln. incipiens). 

81. QuiUain - MaiUy. Im 6. Jahre linksseitige EUenbogenfraktur; 
nach 26 Jahren entwickelt sich innerhalb 4 Wochen vollkommene Ulnaris¬ 
lahmung. Bei der Operation wird der verdickte Nerv in einer komprimieren- 
den fibros-knochigen Masse gefunden und daraus befreit. 

82. Payr. Schlecht geheilte Fraktur der unteren Humerus-Epiphyse. 
Der Ulnaris in narbigen Kallus eingebettet und an die Epitrochlea gedriickt. 

88. Bernhardt-Zondek. Als 6 jahriges Kind Ellenbogenverletzung; jetzt 
nach ca. 32 Jahren, etwa seit 12 Mona ten Schmerzen im Ulnarisgebiet 
und Abmagerung der UlnariBhandmuskeln. 

34. Peltesohn I . Eine im 4. Lebensjahre durchgemachte Fraktur des 
Condyl. ext. hatte, da nicht sachgemaB behandelt, zur Entstehimg eines 
Cubitus valgus gefuhrt. Spater Ellenbogenentziindung. Nach mehr als 
30 Jahren Atrophie zwipchen Daumen und Zeigefinger. Schwache und 
Taubheit im kleinen und halben IV. Finger. Beim Schreiben war fort- 
wahrend ein Druck auf die Innenseite des Ellenbogens ausgeiibt worden. 

35. Peltesohn II (!). 15 jahr. Madchen. Als Kind von 5 Jahren Bruch 
des linken Ellenbogens. Entwicklung von Cubitus valgus. Beim Schreiben 
jetzt Parasthesien hinter dem medialen Condyl. (leichte Ulnaris-Neuritis). 

36. Schmidt. Bruch des Condyl. int.; linksseitige Kalluslahmungfdes 
Ulnaris mit Atrophie der kleinen Handmuskeln. 

37. Ponzey. Fraktur beider Vorderarmknochen durch Maschinenver- 
letzung. Ulnaris-Konsolidation monatelang verzogert. Schmerzen und 
Parasthesien im Ulnarisgebiet. allmahlich immer starker werdend. Nach 
Heilung der Knochenwunde sensible und motorische Ulnarislahmung. Nach 
6 Monaten Operation: Ulnaris iiber starke Kallusmasse herubergespannt, 
durch fibrose Strange eingeschniirt, abgeplattet, diinn. 

38. Sherren (!). 2 Falle. Im 1. Falle Cubitus valgus nach Verletzung. Im 
2. ebenfallsEllenbogendeformitat durchKallusbildung. Sc hie Bend e Schmerzen 
im Ulnarisgebiet. Atrophie der kleinen Handmuskeln. In beiden Fallen 
spindelformige Schwellung des Ulnaris. In beiden Fallen allmahliches Auf- 
ireten der L&hmung in sehr vorgeriicktem Alter (ITlnaris-Neuritis). 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Aus unserer Poliklinik seien dazu noch folgende Falle bei- 
gebracht. 

39. Eigene Beobachtung XVII (Patientin Br.). 

30 jahrige Arbeiterin. Iin Alter von 6 Jahren brach sie den Arm in der 
Nahe des Ellenbogens reehts. Im Friihjahr 1907, also nach 23 Jahren. 
schon nach leichter Arbeit Einschlafen des IV. und V. Fingers, dabei 
unangenehmes Kaltegefiihl. Im August 1907 wurden diese beiden Finger 
allmahlich krumm. Der II. und III. waren etwas schwach. Patientin 
konnte Gegenstande schlecht in der Hand halten. Allmahlich nahm die 
Kraft wieder etwas zu. Die Finger schlafen aber noch haufig ein. Patientin 
hat sehr viel gestrickt. Objektiv rechter Unterarm, 10 cm imterhalb dea 
Olekranon 24% cm, links ebenfalls. Die Hand steht reehts in maBiger 
Krallenhandstellung. Atrophie des Antithenar, der Inteross., des Add. 
poll. Die Adduktion des Daumens ist unmoglich, die Abduktion abge- 
schwacht. Strecken in den Grundphalangen vielleicht reehts eine Spur ge- 
ringer als links. Streckung der Endphalangen = 0. Spreizweite links = 20. 
reehts = 17 % cm. Die Dorsalflexion der rechten Hand wird mit geringerer 
Kraft ausgeiibt als die der linken. AuBerlich sichtbare und palpable diffuse 
Verdickung an der Ulnarseite des Ellenbogengelenks. Diese ganze Gegend 
ist iiberaus druckempfindlich. Sensibilitat: Hyperasthesie im ganzen 
Ulnarisgebiet; in der Hohlhand ulnarwarts auch Hypalgesie. Partielle 
EAR in den Interossei und im Extensor dig. comm. Temperatur. Ent- 
wicklung der Nagel, Schwei Bsekretion beiderseits gleich. 

Da die leichte Radialisparese, die neben der Ulnarislahmung 
besteht, nicht aus der alten Ellenbogenfraktur ohne weiteres zu 
erklaren ist, so wurde angenommen, daB dieselbe sich durch 
Ueberanstrengung beim Stricken entwickelt hat. 

40 . Eigene Beobachtung XVIII (Patient H.). 

45 jahriger Steindrucker. Vor 40 Jahren hat Patient den linken Arm 
gebrochen. Die Heilung erfolgte spontan ohne arztliche Hilfe. Vor 7 Jahren 
verspiirte Patient ein merkwiirdiges Kribbeln und Einschlafen in der 
rechten Hand, und zwar nur iin kleinen und in der Halfte des IV. Fingers. 
Die Hand wurde diinn. die Kraft lieB nach. Objektiv ist der linke Ulnaris 
druckempfindlich. Der linke Ellenbogen steht im stumpfen Winkel nach 
auBen, im Ellenbogen kann der Arm nicht gestreckt werden, da die Arm- 
beuger kontrakturiert sind. Der Unterarm miBt 15 cm unter dem Olekranon 
reehts 24, links 21 cm; der Handumfang betragt reehts 23, links 20 cm. 
Der Kleinfingerballen und die Muskulatur zwischen Daumen imd Zeige- 
finger sind stark atrophisch. Motorische Kraft im Unterarm symmetrisch 
gut. Dynamometerdruck reehts 110, links 75. Opposition des Daumens. 
gut, ebenso Strecken der Hand und der Finger. Adduktion des Daumens, 
Ab- und Adduzieren der Finger sehr schlecht, Adduzieren sogar fast un- 
moglich. Ulnarabduktion der Hand leicht unterdriickbar. Beim Spreiz- 
versuch tritt lebhafter Tremor ein. Sensibilitat: nur tiefe Stiche werden 
im linken kleinen Finger schlechter gefuhlt als reehts. Elektrisch: voni 
Nerven aus faradisch und galvanisch prompte Zuckung. Galvanisch direkt 
Erregbarkeit herabgesetzt, Zuckungsformel normal. Nur im Abductor dig. V. 
ASZ trage. In Inteross. I und V ist eine Zuckung isoliert nicht zu erzielen. 

Nach diesen Fallen und auch dem 1. TFc&erschen aus Oppen- 
heiins Poliklinik kann man wohl daran denken, daB die kunst- 
fertig behandelten Armfrakturen oder -luxationen weniger leicht 
zu Cubitus valgus und damit zu Ulnarislahmungen fiihren. Diese 
Falle bieten daher ein besonderes chirurgisch-praktisches Interesse. 

41 . Eigene Beobachtung XIX (Patient Ge.). 

25 jahriger Lehrer. Im 7. Jahre fiel Patient vom Zaun und brach 
den linken Arm. Heilung glatt ohne Folgen. Als der Arm noch in der 


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Singer, Die Ulnarisl&hmung. 


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Mitella lag, erneuter Fall. Oberarm quer durchbrochen. Die Ellenbogen- 
kugeln sprangen auseinander. Die Beweglichkeit war nach der Verheilung 
gut, Schmerzen traten nicht auf. 1 Jahr spater rechter Arm an der Ellen- 
beuge gebrochen. Arm gut geheilt, nur blieb rechts und links eine Sehwache 
in den Muskeln zuriick. die nicht zunahm. Vor 3 Jahren bemerkte Patient, 
dafi er an der linken Hand den III. Finger nicht an den IV. heranbringen 
konnte. 4 Wochen spater fiel ihm eine Sehwache des linken Daumens auf. 
Trotz Gymnastik und Massage nahmen die Beschwerden zu. Die Muskeln 
schwanden mehr und mehr, besonders auch die am Handriicken. Am 
Unterarm bemerkte Patient keine Veranderungen. Die objektive Unter- 
suchung ergab am linken Arm starke Verbreiterung und Auftreibung der 
Kondylengegend. Der aufiere Kondylus ist nach oben disloziert, beweglich 
gegen den Humerus. Das Radiuskopfchen ist leicht beweglich. Diagnose 
der Chirurgen: alte auOere kondylare Schragfraktur des Humerus mit 
Pseudarthrosenbildung geheilt, habituelle Luxation des Radiuskopfchens. 

Die Ulnar-Abduktion der linken Hand ist schwach; der linke Ulnaris 
sehr druckempfindlich, beiderseits stark fiihlbar und verdickt. Bei Druck 
beiderseitig Parasthesien bis in die Fingerspitzen. Rechts mechanisch 
bei Druck auf den Ulnaris starke motorische Effekte in alien Ulnaris-Hahd- 
muskeln. Links Atrophie samtlicher Interossei, des Adduct poll, und 
des Kleinfingerballens; der Daumenballen ist auch etwas diinner als rechts, 
doch soli dies immer so gewesen sein. Umfang der Hand, in der Mitte des 
Handtellers gemessen, rechts 20%, links l? 1 /* cm. Auch die Knochen der 
linken Hand sind etwas schwach er entwickelt als rechts. Zeigefinger- 
umfang im distalen Interphalangealgelenk rechts 7, links 6 V 4 cm. Spiel 
der Finger links langsamer als rechts. Schwere Parese samtlicher Interossei 
und des kleinen Fingers links. Adduktion des Daumens leidlich gut. Strecken 
und Beugen der Finger und Hand normal, ebenso alle anderen motorischen 
Akte Elektrisch: Komplette EAR im Kleinfingerballen, Interosseus II 
und III. Interosseus IV uberhaupt nicht mehr erregbar. Die Sensibilitat 
ist fiir alle Qualitaten intakt. Bei der erfolgten Operation wurde der Nerv 
aus dichter Kallusmasse herausgeschalt. Er war geschwollen und ent- 
ziindlich gerotet. 

Hier fallt, wie in so vielen Fallen, die Nichtbeteiligung der 
sensiblen Fasem im ladierten Ulnaris auf. Sonst bietet der Fall 
das typische Bild der reinen Ulnarislahmung dar. 

DaB auch eine am Ellenbogen gemachte Operation einmal 
den Ulnaris ladiert, gehort nicht zu den allergroflten Seltenheiten, 
besonders wenn es sich um Resektionen oder Ausschalungen des 
dem Knochengewebe adharenten oder eingewachsenen Nerven 
handelt. 

Nach einer wegen tuberkuloser Prozesse gemachten Resectio 
cubiti bekam ein Patient meiner Beobachtung (De.) Sehwache in 
der linken Hand. Beugen, Ab- und Adduzieren des kleinen Fingers 
war sehr paretisch, die Handmuskulatur im Ganzen atrophisch. 
Die Sensibilitat und die elektrische Reaktion blieb normal. 

Schon an der Auswahl der Ulnaris-Muskeln sieht man, daB 
es sich nur um eine Teillasion, wa'hrscheinlich um Zerrungen des 
Nerven gehandelt hat beim Versuch, ihn zu reponieren. 

Recht ungewohnlich, wenn auch nicht gerade iiberaus selten 
sind die Ulnaris-Lahmungen durch Druck von Tumoren. Im 
Grande genommen ist ja auch die Kallusmasse nicht anders denn 
als Tumormasse zu verstehen, die den Nerven komprimiert. Aber 
auch solide, vom Nerven ausgehende Geschwiilste sind im Ulnaris 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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beobachtet. Ich lasse hier noch die im Verlauf der sekundaren 
Syphilis gelegentlich entstehenden spindelformigen Anschwellungen 
beiseite, die meist neuritischen Ursprungs sind. Es finden sich 
in der Literatur einige Falle von Ulnaris-Tumoren, bei denen die 
fremde Masse unmittelbar vom Nerven ausgeht oder fest mit 
ihm zusammenhangt. Entweder ergibt die palpatorische Unter- 
suchung, oder aber das Rontgenbild resp. die Operation diesen 
Refund. 

Gourvoisier hatte in einer Statistik von 164 Einzel-Neu- 
romen der Literatur 18 im Ulnaris festgestellt (davon 10 am Ober- 
arm, 3 am Vorderarm, 2 an der Hand, 1 am Daumen, 2 mit frag- 
lichem Sitz). Die Reihenfolge der Frequenz war: Medianus, 
Ulnaris, Ischiadicus, Radialis. Meist handelte es sich um (falsche) 
Solitar-Stamm-Neurome, die Form ist gewohnlich die einer 
Spindel; die gutartigen erreichen hoc listens die GroBe einer 
HaselnuB. Sie sind in der Richtung des Nerven nicht verschieb- 
lich, wohl aber in der entgegengesetzten. Die Solitar-Neurome 
werden falsche genannt (von Courvoisier schlechthin chirurgische), 
weil sich die Ulnaris-Fasern nicht primar selbst an ihrer Bildung 
beteiligen, sondern die bindegewebige Substanz derselben. Das 
relative Verschontbleiben der Nervenfasem gibt sich dann auch 
klinisch durch geringe objektive Erscheinungen zu erkennen. 

Beobachtet wurden auBer Neuromen Cysten, Sarkome, 
Gummata, Dermoide, Neurofibrome. Ich selbst habe einen Patien- 
ten mit Neurofibrom mid einen mit Cyste des Ulnaris gesehen. 
Die Falle verlaufen sehr chronisch und progressiv bis zu einem 
gewissen, dann Jahre oder Jahrzehnte stationar bleibenden Stadium; 
wenigstens gilt das von den benignen Tumoren, wie sie fast durch- 
weg im Ulnaris beobachtet wurden. Die Neurome haben oft die 
Eigentiimlichkeit an sich, daB sie absolut keine Schmerzen ver- 
ursachen, trotz schneller Progression im Wachstum. Schon 
Bertrand beschrieb im Jahre 1837 einen Fall von Neurom des 
Ulnaris, von dem er berichtet ,,Der Patient konnte bis zu seinem 
Tode Geige spielen“. Auch in einem Falle von Bruns (Ulnaris- 
Medianus-Neurom) fehlte intra vitam jedes subjektive und objektive 
Zeichen der Geschwulst. Meist aber klagen die Patienten zu Beginn 
der Erkrankung iiber schieBende Schmerzen oder Parasthesien langs 
des Nerven bis zur Hand, oft von neuralgischem Charakter. 
Bewegungen der Arme konnen die Schmerzen zu besonders heftigen 
Attacken steigern. Der Druck auf den Tumor ist meist schmerzhaft, 
und die Parasthesien entsprechen der Ausbreitung des Ulnaris 
(IV. und V. Finger). Eine weitere Eigentiimlichkeit ist die, daB 
die Tumoren, besonders die Neurome, selbst wenn sie eine ziemliche 
GroBe erreicht haben, dennoch sehr wenig funktionelle Storungen 
sensibler oder motorischer Art sowie elektrische und trophische 
Veranderungen machen. Falle, wie der von Duplay und zum 
Busch, in welchen der Tumor eine komplette Ulnaris-Lahmung 
verursachte, sind selten. Bei ersterem handelte es sich um ein 
Narben-Fibrom, das sich im AnschluB an eine entziindliche 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Schnittwunde der Hand, aber erst viele Jahre nach dem Trauma 
entwickelt hatte. Die Operation stellte (nach 10 Tagen) die voll- 
standig erloschene Erregbarkeit der Mm. interossei wieder her. 

Die Storungen entsprechen meist nicht den Ausfalls-Erschei- 
nungen, die man erwartet hatte, wenn man spater operativ die 
Geschwulst entfemt. Die Fasern scheinen oft zum groBen Teil 
sogar zerstiirt, die Funktionshemmung ist trotzdem eine ziemlich 
geringe. Je inniger der Nerv mit der Tumor masse verwachsen 
ist, desto schwerer treten natiirlich die Storungen der Innervation 
zutage. In dem Falle Ooldmann (siehe unten) soil sogar seltsamer- 
weise nach einer Nerven-Resektion von 5 cm die sensible und 
motori8che Funktion intakt gebheben sein, ein Phanomen, das 
selbst durch anatomische Anomalien im Nervenverlauf und durch 
doppelte Innervation nicht ganz erklarbar ist. 

Multiple Tumoren im Nervenstamm des Ulnaris beschrieben 
Keen und Spiller. Bei der Entwicklung der Tumoren spielt das 
Trauma sicher eine Rolle; gerade in der Ellenbogengegend, dem 
Lieblingssitz der Ulnarisgeschwiilste muB man wohl daran denken, 
daB Unfalle und Insulte chronisch den Nerven treffen. Der 
Nerv reagirt darauf, wie auch andere Organe auf chronische 
Reize reagieren: sein Gewebe wird hypertrophisch. So entstehen 
auf traumatischem Wege die Neurome und die Cysten. In letzteren 
findet man zuweilen peripher die sehr weit auseinander gedrangten 
und degenerierten Nervenfasem. Bei jugendlichen Individuen 
sind neugebildete Nervenfasem in den kolbigen Geschwiilsten 
gefunden worden. Geht die Neubildung vom Endoneurium aus, 
so erhalten sich meist die Fasern (daher auch das Intaktbleiben 
der Funktion), in anderen Fallen laufen die Fasern an der 
Anschwellung vorbei oder iiber dieselbe hinweg (Kaufmann). 
Fast stets sind die Geschwiilste des Ulnaris gutartig, primar. 
Doch kommt es gelegentlich vor, daB Fibrome sarkomatos entarten. 
Die Krankengeschichten der Ulnaris-Tumor-Falle bieten auBer 
den obengenannten Momenten keine Besonderheiten dar und 
sind einander so ahnlich, daB ich auf die Beschreibung einzelner 
verzichte; vielmehr will ich dann iiber den von mir selbst be- 
obachteten Fall umso ausfiihrlicher berichten und kurz auch noch 
einmal den seltsamen Fall Goldmann zitieren. Die von mir in der 
Literatur gefundenen Ulnaris-Geschwiilste sind: 

Neurom: Wulzer, Jestop, Alexander, Duplay .Laforgue,Cheselden, 
Erb, Billroth, Duchenne; 

Neurofibrom: Bertrand, Keen-Spiller, Auerbach-Brodnitz, Pean 
(letztere 3 multipel), Weil (cystisch entartet), Goldmann; 

Gumma: Luzet; 

Sarcom: Kredel-Bennecke , Levrey und Pillier (teleangiek- 
tatisch mit fibroser Scheide) Bruns; 

Dermoid: Bernhardt; 

Cyste: Bowtby, zum Busch und Raymond . 

42 . Fall Goldmann: 48 jahr. Patient. Seit 6 Jahren kleine 
Geschwulst am rechten Ellenbogen. bei Bewegung Schmerzen bis in die 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Hand. Geschwulst im Sulcus uln. walnuBgrofl. niittelhart, schmerzhaft au£ 
Druck, Sensibilitat und Motilitat intakt. 

Operation: spindelformige Auftreibung des Nerven; Isolierung un- 
moglich. 5 cm vom Nervenstarrun reseziert; Kontinuit&tstrennung nach 
LHemants Lappchenmethode beseitigt. Gleich nach Operation geringe 
Sensibilitatsstorung im kleinen Finger; Motilitat ganz intakt. 2 Wochen 
spater ebenfalls Motilitat vollstandig intakt, keine Muskelatrophie; Hand- 
stellung normal. Ulnar is im Unterarm faradisch erregbar (allerdings mit 
starkerem Strom als links), in den Ulnarismuskeln keine EAR. 

Sensibilitat: Im Unterarm normal, leichte Hypasthesie im kleinen 
Finger und Kleinfingerballen. Spater entwickelt sich eine desmogene 
Flexionskontraktur des kleinen Fingers. Auch im nachsten Jahre Motilitat 
intakt auBer im Flex. carp, uln., der galvanisch und faradisch nicht er¬ 
regbar ist. 

Pathologisch-anatomisch stellt sich die Geschwulst als Neurofibrom dar. 

Auffallend und schwer erklarbar ist, dafi nach der Resektion keine 
Motilitatsstorungen und nur geringe Sensibilitatsstorungen aufgetreten sind. 
Die Moglichkeit, daB ein Teil des Ulnaris, der motorische Fasem enthielt, 
stehen geblieben sei. lehnt Goldmann ab, da die Reizung des Ulnaris 
im Oberarm keine Ulnarisreaktion erzeugt hatte; ebenso eine etwaige 
Anastomose mit dem Med., denn von diesem Nerven aus war elektrisch 
nur Med.-Reaktion zu erzieleri. An eine hohere Teilung des Ulnaris war 
deswegen nicht zu denken. weil nirgends im Ober- oder Vorderarm die 
Ulnarismuskeln vom Nerven aus zu erregen waren (auBer dem Ulnaris- 
punkt im Handgelenk). 

Auch in einem 2. Falle fehlten bei 5 cm Defekt typische 
motorische Lahmungs-Erscheinungen. Goldmann denkt, daB 
es sich bei diesen Geschwiilsten um kongenitale MiBbildungen 
handelt, an deren Entstehung einzelne Nervenbiindel beteiUgt 
sind. Auch der Fall Auerbach-Brodnitz zeichnet sich dadurch 
aus, daB nach Resektion ernes taubeneigrossen Neurofibroms im 
Stamm des Ulnaris und nach Vereinigung durch Lappenbildung 
Lahmungserscheinungen absolut fortblieben. VieUeicht finden 
sich, da die Neurome als kongenitale Anomalien anzusehen sind, 
in diesen Fallen auch an den Plexus-Stammen Abweichungen von 
der Norm, innigere Verbindung der Hauptstamme, zahlreichere 
Anastomosierungen. Ich darf hier im Zusammenhang wohl noch 
einmal erwahnen, daB nach zahlreichen anatomischen Unter- 
suchungen die Fingerbeuger z. B. fast immer vom Med. und Ulnaris 
versorgt werden (was sich in pathologischen Fallen allerdings durch 
die elektrische Untersuchung ergeben muB, wenn die Anastomose 
nicht gerade ganz oben im Plexus liegt. S. auch anatom. Teil.) 

43 . Eigene Beobachtung XX (Pat. Otto L.). 

18 Jahre alt. Vor mehreren Mona ten fiel Patient vom Stuhl im Lokal 
und stieB mit dem linken Ellenbogen auf eine Glasscherbe, so daB er eine 
blutende Wunde davon trug. Eine Scherbe war ins Fleisch gedrungen, doch 
blieb nichts in der Wunde stecken, denn das betreffende Glas war nicht 
zerbrochen. Am nachsten Tage kein Gefiihl in den beiden letzten Fingem 
der linken Hand, in der ganzen Hand Schwache. am meisten im IV. und 
V. Finger. Die Wunde heilte bald wieder; aber die Schwache besteht dauemd 
unverandert fort, nicht ausgesprochener, aber auch nicht geringer werdend. 
Auch das Gefiihl ist im IV. und V. Finger nicht wiedergekommen. All- 
mahlich magerte die linke Hand, etwas auch der linke Unterarm ab. In 
der ganzen Zeit gar keine Schmerzen oder Parasthesien. 

Am linken Ellenbogen findet sich eine 1 cm lange. ziemlich breite 
Narbe, die sich hart anfiihlt. Oberhalb des Olekranon ist eine kugelige 


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Singer. Die 'Ulnarislahmung. 


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Verdickung unter der Haut fiihlbar, die mit dem Ulnaris verschieblich ist 
und sich nieht von diesem abgrenzen laBt. Dies© Geschwulst ist, selbst bei 
starkstem Druck nicht schmerzhaft, sie ist quasi eine eingelagerte Verdickung 
des Nerven (BohnengroBe). An Schulter und Oberarm keine Atrophien. 
Links ist die Ulnarismuskelgruppe unterhalb des Ellenbogens weicher als 
rechts. Die Spatia interossea und der Kleinfingerballen sind enorm atrophisch. 
ebenso der Adduct, poll. Die Hand miBt an den Metakarpo-phalangeal- 
Gelenken rechts 21, links 19% cm. Spreizweite rechts 21 cm. links 20 cm. 
Der kleine Finger rechts steht in Flexionshaltung. Hautfarbe rechts und links 
symmetrisch. Temperatur links geringer als rechts. Reflexe beiderseits 
symmetrisch vorhanden. Von den Bewegungen des Unterarms ist links die 
Ulnarflexion des Karpus leichter zu unterdriicken als rechts (und als die 
Radialflexion). Die Extension der Grundphalangen ist vielleicht in Finger 
VI und V etwas herabgesetzt. Die Extension der Endphalangen links be- 
deutend schwacher als rechts, ebenso die Abduktion und Flexion des kleinen 
Fingers und die Abduktion des Daumens. 

Dynamometer rechts 115, links 70. Der Sensibilitatsbefund ist, in 
eine Zeichnung gebracht, volar folgender: Im schraffierten Gebiet Ajiasthesie 
fiir Beriihrung, Hypasthesie fur Schmerz und Temperatur. Dorsal analog© 
Storung genau dem Ulnar-Gebiet entsprechend. 

Elektrisch: faradisch indirekt fallt die 
Reaktion in Interosseus IV und V, Abduct, 
dig. V und Adduct poll. aus. Letzterer ist auch 
galvanisch direkt nicht zu erregen. In den 
Mm. inteross. Ill und IV. sowie im Abd. dig. V 
trage Zuckung. In Inteross. I und II Zuckung 
prompt, Zuckungsformel normal. Nach 14Tagen 
(14. X.) Spreizweite beiderseits 21 cm. Die Ge¬ 
schwulst ist kleiner geworden. Keine Druck- 
schmerzhaftigkeit. 17. X.: Refund wie oben. 

Beim Oppositionsversuch des kleinen Fingers 
bleibt die opponierende Bewegung der Grund- 
phalanx absolut aus. 9. XI.: Die Geschwulst ist 
erheblich kleiner geworden, nicht schmerzhaft, 
selbst wenn sie zwischen 2 Finger gefaBt und 
lebhaft komprimiert wird. Auch subjektiv 
keine Schmerzen und Parasthesien 17. XI.: Fig. 20. 

Die ehemalige Geschwulst kann nur noch als 

spindelformige Erhebung gefiihlt werden. 1. XII.: Spreizen rechts 
21 , links 21; (es wird beim Spreizen der 5. Finger links erheblich weniger 
abduziert als rechts; diese Differenz wird aber ausgeglichen durch erheblich 
ausgiebigere Abduktion des Daumens; der Abstand zwischen Kuppe des 
Daumens und des Zeigefingers betragt links 18. rechts 16 cm). Isolierte 
Beugung der Grundphalanx ist nur in Finger II gut ausfiihrbar. Bei 
Finger III und IV findet dabei ausgiebige Flexion der Mittel- und End- 
phalangen statt. Bei Strecken und Spreizen der Finger sind die Grund¬ 
phalangen besonders in Finger IV und V hyperextendiert. Pat. gibt an. daB 
die Fingernagel in letzter Zeit schneller gewachsen sind. Auch die objektive 
Untersuchung bestatigt dies. 4. XII.: Die Geschwulst ist fast vollstandig 
geschwunden, so daB Pat. entlassen werden kann. Die Beweglichkeit der 
Finger ist objektiv etwas kraftiger, subjektiv bedeutend besser geworden. 

Es wurde in diesem Falle die Diagnose auf eine traumatische 
Cyste gestellt. Einmal hatte das Trauma sicher den AnlaB gegeben 
(was bei Cysten ein sehr haufiges kausales Moment ist); vor allem 
aber sprach dafiir die spontane Verkleinerung und Abheilung, 
die wahrend der Beobachtung eintrat, als man schon daran dachte, 
den Tumor zu exstirpieren. Therapeutisch war leichte Massage 
und Galvanisation angewendet worden. Wahrscheinlich hatte 
die Glasscherbe einen Teil der Nervenfasern durchschnitten. 



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Singer, Die TJInarislahmung. 


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wodurch die partielle motorische Lahmung eintrat. Das Trauma 
bewirkte gleichzeitig ein entziindliches Exsudat, in weLchem die 
zerstorten Fasem einer Erweichung anheimfielen. In der so entstan- 
denen Cyste wurden die Nervenfasern vielleicht durch den Druck 
des Exsudats weiter komprimiert. DaB der Verlauf ein vollkommen 
schmerzloser war, daB gleich im Beginn keine Schmerz-Sensationen 
oder Parasthesien vorhanden waren, ist an dem Fall bemerkens- 
wert. Ich stelle mir vor, daB es 3ich dabei gleichsam um eine 
lokale Anasthesierung der Nervenfasern gehandelt hat, welche 
durch den die geschwoUenen Nervenfasern umgebenden Cysten- 
Inhalt hervorgerufen war. Im Gegensatz zu dem Fehlen sensibler 
Symptome sind die degenerativen Storungen der motorischen 
Fasern sehr erhebliche gewesen, so daB die Annahme moglich ist, 
daB es sich bei der Lasion topographisch mehr um die motorischen 
Fasem des Nerven gehandelt hat. 

Karzinom-Metastasen sind, soweit ich sehe, im Ulnaris nie be- 
obachtet worden, wohl aber degenerative, mikroskopisch wahr- 
nehmbare Veranderungen sowie neuritische Paresen bei Menschen, 
die an Karzinom innerer Organe erkrankt waren und starben 
(siehe we'.ter unten Audit). 

Kurz will ich hier gelegentlich der Besprechung der Ulnaris- 
Geschwiilste darauf hinweisen, daB auch die allgemeine Neurofibro- 
matose im Arm mit Vorliebe den Ulnaris und Medianus betrifft. 

B. 

Neuritische Lahmungen. 

1. Traumatische Formen. 

Die weitaus groBte Zahl aller Ulnaris-Lahmungen wird durch 
die bisher aufgezahlten mechanischen Ursachen veranlaBt. Bei 
den durch eine Neuritis bedingten Paresen spielen die Nerven 
der oberen Extremitaten nicht die hervorragende Rolle wie die 
der Beine. Speziell der Ulnaris isoliert ist nicht sehr haufig Sitz 
der Erkrankung; viel haufiger schon ist die Kombination der 
Ulnaris- und Medianus-Neuritis, wie sie von vielen z. B. fur die 
Puerperal-Affektion der Nerven als typisch angesehen wird. 
Man muB sich wahrscheinlich vorstellen, daB ein bestimmtes 
Gift im Blut des Korpers kursiert und nur an Stellen, die besonders 
durch Mehrfunktion, Ueberanstrengung etc. disponiert sind, seine 
elektive Wirkung entfaltet. Auch andere Krankheiten, Tabes 
z. B., konnen fiir die Neuritis solche Disposition setzen. 

Die Ursachen der neuritischen Lahmungen sind zum groBten 
Teil Gifte, die in den Korper aufgenommen worden sind (Blei, 
Alkohol), oder bakterielle resp. aus Bakterien hervorgehende 
toxische Schadlichkeiten (Typhus) oder Stoffwechsel-Produkte 
eines kranken Korpers, die sich selbst wieder als krankmachende 
Gifte bewahren (Gicht, Diabetes). 


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Auch leichte Traumen derart, wie wir sie im ersten Teil 
unserer Arbeit als mechanische Ursachen gekennzeichnet haben,. 
kdnnen gelegentlich, auch ohne daB eine Infektion hinzukommt, 
eine Neuritis des Ulnaris bewirken. Man kaim dann die einfache 
traumatische Lahmung von einer neuritischen nicht gut unterschei- 
den oder trennen. Die motorischen und degenerativen Erschei- 
nungen konnen dieselben sein. Von einer neuritischen Parese 
wird man dann sprechen, wenn zu den motorischen Ausfalls- 
erscheinungen auch Reiz-Symptome und sensible Ausfallserschei- 
nungen hinzutreten, besonders Zuckungen in den dem Nerven 
entsprechenden Muskelgebieten, Schmerzen, die einen nach 
der Peripherie hin ausstrahlenden Charakter tragen, Druck- 
empfindlichkeit des Nervenstammes, oft mit deutlich fiihlbarer 
Verdickung des Nerven verbunden. Bei der perineuritischen Form 
findet man Hyperalgesie und Hyperasthesie im Hautausbreitungs- 
Gebiet des Nerven. Gerade beim Ulnaris lassen sich infolge seiner 
der Palpation so sehr gut zuganglichen Lage alle diese Symptome 
deutlich nachweisen. Bei Vorwiegen der Reizsymptome wird die 
Diagnose immer mehr der Ulnaris-Neuritis zuneigen, wenn auch 
zugegeben werden muB, daB beide Lahmungs-Formen in einander 
ubergehen konnen und niclit immer deutlich unterscheidbar 
sind. Fur die neuritische Ulnaris-Parese halte ich nach vielen 
Beobachtungen (auBer den iiblichen motorischen und sensiblen 
Erscheinungen) auch die leichte und gesteigerte mechanische 
Erregbarkeit des Nerven fiir charakteristisch. In normalen Fallen 
ruft der Druck oder besser das Unter-dem-Finger-rollen-lassen 
des Ulnaris im Sulcus bicipitalis intemus und an der Ellenbeuge 
nur sensible Reizerscheinungen oder hochstens geringe Bewegungen 
im Sinne einer Finger-Ab- oder Adduktion hervor. Bei der Ent- 
ziindung des Nerven wirkt die Kompression ahnlich wie der 
faradische Strom: es erfolgt eine ziemhch schmerzhafte Beugung 
der Grundphalangen, besonders kraftig in Finger IV und V sowie 
Ab- und Adduktion der Finger. Man kann dieses Symptom 
der mechanischen t)bererregbarkeit allerdings aueh bei abge- 
arbeiteten und miiden Individuen konstatieren; bei diesen laBt 
es aber nach einigen Stunden der Ruhe nach. Findet es sich aber 
regelmaBig und kombinieren sich mit ihm die sonstigen Zeichen 
der Parese, so scheint dieses Symptom mir gerade fiir die neu¬ 
ritische Form pathognomonisch zu sein. Oft findet man, wie schon 
oben erwahnt, bei den Neuritiden den Ulnaris im Condylus intemus 
spindelformig angeschwollen. So, um nur einen Autor hervor- 
zuheben, in den beiden Fallen Sherrens. Hier hatte der Cubitus 
valgus keine Luxation, sondem durch Gelegenheits-Ursache 
eine interstitielle Neuritis des N. uln. mit heftigen, schieBenden 
Schmerzen und Atrophie der kleinen Handmuskeln herbei- 
gefiihrt. Auch hier war die Schadigung, ahnhch, wie wir das 
bei den Ulnaris-Luxationen beobachtet haben, erst Jahrzehnte 
nach der Armfraktur entstanden, die zum Cubitus valgus gefuhrt 
hatte. 


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Singer, Die Uinarislahmung. 


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Ich habe schon darauf hingewiesen, daB haufig die Neuritis 
lange nach dem faktischen Auftreten der Ulnaris-Lahmung zur 
Beobachtung kommt, ja daB durch sie eine Parese zuweilen erst 
kenntlich wird. Sind auBer heftigen Schmerzen, die dem Aus- 
breitungsbezirk des Ulnaris entsprechen, keine Reiz- oder Aus- 
falls-Symptome vorhanden, so kann man von einer Lahmung, 
auch von einer neuritischen, natiirlich nicht mehr sprechen. Es 
handelt sich dann lediglich um eine Perineuritis, welche die Achsen- 
ZyUnder intakt laBt. Gewohnlich ist (das sei hier nochmals betont), 
die traumatische Lahmung eine nicht-neuritische, wenn nur eine 
auBere Verletzung vorUegt. Die reinen Lahmungen geben meist 
einen deutUchen objektiven, die neuritischen und perineuritischen 
oft nur einen subjektiven Befund im Ulnaris-Gebiet; bei der 
Neuritis sind die SensibiUtatsstorungen ausgesprochener. 

44 . Remak I. Ulnarisneuritis bei 68 jahrigem Potator nach einer ge- 
waltsamen Bewegung in der Narkose. 

45 . Remak II. Neuritische Atrophie der Ulnar ismuskeln bei 35 jahriger 
Frau, zuriickgefiihrt auf brtiske Bewegung des Ellenbogens vor 10 Jahren. 

46 . Raymond: Briiske Streckung im Ellenbogen. danach motorische 
Reizerscheinungen im Ulnaris. 

47 . Flatau: 69 jahriger Patient; seit 26 Jahren eine Kriicke tragend; 
degenerative Muskelatrophie im Ulnarisgebiet links; Schmerzen bis zur 
Schulter und Druckempfindlichkeit des Ulnaris. 

Ich selbst sah einen Patienten, der nach Fall auf den Oberarm 
wochenlang heftige Schmerzen sowie subjektive und objektive 
SensibiUtats-Storungen im ulnaren Handgebiet hatte. Uber 
3 weitere Falle traumatischer Ulnaris-Neuritis berichte ich im 
Folgenden. 

48 . Eigene Beobachtung XXI (Pat. W.). 

30 Jahre alt. Vor 6 Jahren Fall auf die rechte Hand. Jahr spater 
Einschlafen der rechten Hand und schmerzhaftes Stechen im Handgelenk 
allmahlich immer heftiger werdend, so daB die Arbeit — Schneidern — 
unmoglieh wurde. Objektiv; Atrophie im Thenar und Hypo thenar rechts; 
auch die Interossei sind etwas atrophisch. Dynamometerdruck rechts 35, 
links 75. Leichte Andeutung von Krallenhand; Spreizen sehr schlecht 
moglich. Partielle EAR in den Interossei, sowie im Abduct, dig. V. Sensi- 
bilitat ganz intakt. 

Aetiologisch kam in diesem Falle aufier demTrauma noch die Beschaf tigung 
und Ueberanstrengung in Betracht. Ganz rein ist der Fall in Anbetracht 
der leichten Mitbeteiligung des Medianus nicht. 

49 . Eigene Beobachtung XXII (Patient L.). 

Pat. (32 jahrig.) verungliickte bei dem Versuch, die Spannkette eines 
Zementtonnenwagens zu losen, indern seine rechte Hand zwischen Hebei 
und Haken der straff gespannten Kette geriet. Die Hand blieb eine Viertel- 
stunde lang eingeklernmt. Sie war zwischen den Endgliedern der Finger 
und dem Handwurzelgelenk stark geschwollen imd druckempfindlich. An 
der Radialseite befand sich ein *4 cm langer, tiefer. blutunterlaufener 
Fleck. Keine Knochenverletzung. Wahrend der ersten Behandhmg wurde 
konstatiert, dafl keine Abmagerung derHandmuskeln und keine EAR vor¬ 
handen war; einige Monate spater werden in einem Gutachten Thenar und 
Hypothenar als schlaff bezeichnet. Noch 4 Monate spater deutliche Ab¬ 
magerung der Hand. Jetzt klagt Patient iiber heftige Schmerzen im rechten 
Arm, die bis zur Schulter ziehen. Seit er arbeitet, bemerkt er eine deutliche 
Schwache. Der Umfang der Fingerglieder im IV. und V. Finger ist links 
etwa um 1 cm groOer als rechts. Die passive Beweglichkeit von Hand und 


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Fingem links ist nicht beschrankt. Bei Druck im ulnaren Teil des 
Handgelenks rechfcs heftige Schmerzauflerung. Die Muskeln des rechten 
Armes sind nicht atrophisch, jedoch fiihlt sich der rechte Daumenballen 
schlaffer als der linke an. Triceps- und Radius-Periostreflexe symmetrisoh. 
Aktive Bewegungen nehmen rechts distalwarts an Kraft ab; besonders 
IV. und V. Finger sind bei Beugung funktionsuntiichtig. Dynamometer- 
druck rechts 20, links 100. Hyperasthesie fiir Warme im ulnaren Handgebiet 
rechts. Rechter Ulnaris stark druckempfindlieh. Elektrisches Verhalten: 
bei indirekter faradischer Reizung keine Reaktion in Interosseus IV und V. 
Reizt man indirekt galvanisch oberhalb des Handgelenks, so erhalt man links 
bei 2 y 2 MA Beugung des V. Fingers, rechts bei 5*4 MA noch keine Zuckung. 
Bei direkter Reizung rechts und links bei gleichem Strom starke Beu¬ 
gung des V. Fingers. Keine EAR. 

Wir haben es hier also mit einer durch heftige Schmerzen 
mehr nach Seiten der Neuritis betonten Kontusions- resp. Kom- 
pressions-Lahmung des Ulnaris zu tun. Der Nerv wurde ober¬ 
halb des Kleinfinger-Ballens komprimiert und zwar anscheinend 
mit iiberaus groBer Heftigkeit. DaB bei indirekter galvanischer 
Reizung der rechte V. Finger nicht zur Beugung kam, selbst 
bei 5 MA, bei direkter Reizung aber ebenso prompt wie links, 
laBt vielleicht darauf schlieBen, daB sich zwischen Nerv und Muskel 
eine durch die Neuritis erzeugte Gewebsmasse von erhohtem 
Leitungswiderstand eingelagert hatte. 

60, Eigene Beobachtung XXIII (Patient Kl.). 

Vor 3 Wochen stieO sich Pat. an der Sehraube eines Dampfkessel- 
beckens mit dem linken Ellenbogen. Seit der Zeit heftige Schmerzen imd 
Parasthesien im Ulnargebiet. In den letzten 3 Fingern nehmen die Krafte 
etwas ab. Hier findet sich objektiv Hypalgesie fiir Stiche und Beriihrung, 
auBerdem schlechte Lokalisation. IV. und V. Finger stehen im Grund- 
gelenk leicht iiberstreckt, in 2. und 3. Phalanx gebeugt. Strecken der End- 
phalangen, Spreizen der Finger und Adduzieren des Daumens etwas herab- 
gesetzt. Die Hypothenarmuskulatur fiihlt sich links etwas teigig an. N. uln. 
stark druckempfindlieh. Elektrischer Befund normal. 

Ob die friiher sehr haufigen Ulnaris-Lahmungen nach sub- 
kutanen Aether-Injektionen traumatischen oder toxischen Ur- 
sprungs sind, bleibe dahingestellt. Die meisten Autoren nehmen 
das erstere an; dafiir spricht, daB bei diesen oft sehr langwierigen 
Paralysen die Beteiligung des der Injektionsstelle entsprechenden 
Ram. prof, vorwiegend ist. Immerhin mag daran gedacht werden, 
daB (wie Brieger betont) Aether bei 35 Grad schon siedet und 
im gasformigen Zustand die Nerven-Endigungen schadigen kann. 
Fiir den Ulnaris kommt diese Entstehungsart der Lahmung (durch 
Aether-Injektion) seiten in Betracht. Einen derartigen Fall be- 
schrieb Bernhardt , einen analogen beobachtete ich selbst. 

51. Eigene Beobachtung XXIV (Pat. Frau Cy.). 

40 Jahre. Pat. klagt seit 15 Jahren iiber Schmerzen im linken Arm, 
besonders im Ellenbogengelenk. Im rechten Arm Schmerzen nach an- 
gestrengtem Nahen. Vor einigen Tagen wurde ihr in einer Klinik eine 
Einspritzung wegen der Schmerzen gemacht. Pat. gibt an, daB die Flussigkeit 
Aether gewesen sei. Eingespritzt wurde ziemlich genau in der Mitte zwischen 
Condylus intern, und Olekranon. Sofort darauf trat ein Schmerz im IV. 
und V. Finger der rechten Hand auf. ebenso ziemlich unmittelbar nach der 
Injektion Schwache der Hand, besonders im IV. und V. Finger. Hier hatte 
vorher gar kein Schmerz bestanden. Alhnahlich magerte die Hand ab und 
wurde immer schwacher, das Taubheitsgefiihl starker. Objektiv Atrophie 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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samtlicher Interossei und des Hypo thenar. Samtliche ersten Phalangen 
hyperextendiert. Im IV. und V. Finger sind die 2. und 3 Phalangen extrem 
gebeugt, im Finger II und III gestreckt (Klauenhand). Spreizen der Finger 
rechts sehr paretisch. Spreizweite rechts 18, links 31. Die Adduktion dee 
Daumens geschieht mit normaler Kraft. Der Ulnaris ist in seinem Sulkus 
druckempfindlich. Faradisch indirekt sind die Nerven nur mit starken 
Stromen erregbar. Dabei ist die Kontraktion sehr gering, ebenso galvanisch 
indirekt. Galvanisch direkt in samtlichen Interossei und im Adduct, dig. V 
trage Zuckung, KSZ = ASZ. Sensibilitat: Anasthesie. Hypalgesie und 
Thermhypasthesie dorsal und volar im V. und der Halfte des Iv. Fingers. 

2. Infektiose Formen. 

Ich gehe nun zu den Neuritiden liber, die sich im Verlauf 
von gewissen Infektionskrankheiten entwickeln. Es gibt kaum 
eine fieberhafte Krankheit, in deren Gefolge Nervenl&hmungen 
nicht auftreten konnen. Bei den meisten ist der mononeu- 
ritische Typus, speziell auch der auf den Ulnaris beschrankte, 
sehr selten; es entstehen vielmehr dtirch die Infektion aus- 
gebreitete polyneuritische Erscheinungen, Nervenentziindungen, 
also Paresen an Beinen und Armen mit konsekutiver Muskel- 
atrophie, Sensibilitatsstorung, elektrischer Entartungsreaktion 
(in leichteren Fallen ohne Atrophie und Entartung). Die An- 
nahme, daB es sich hier um Einwirkung spezifischer Erreger 
handelt, also gleichsam um Spezial-Infektionen im infizierten 
Korper, hat man aufgegeben. Die meisten post infektiosen 
Neuritiden, wie schon der gebrauchliche Name sagt, erscheinen 
nicht in der Krankheit im fieberhaften Stadium, sondem nach 
Abklingen der schweren Erscheinungen, in der Rekonvaleszenz* 
Es miissen also auch bei den infektiosen Neuritiden abnorme 
Stoffwechselprodukte vorhanden sein, die eine besondere 
Affinitat zu der Nervensubstanz besitzen und so zu Entziindungen 
AnlaB geben. Man kann diese Infektionen also auch toxamische 
nennen. DaB bei der Auswahl der Nerven durch die Giftstoffe 
auch auBere Momente, wie Ueberanstrengung der betreffenden 
Nerven und Muskeln, mitsprechen, scheint mir ganz sicher. 

Mit Eiterkokken infizierte Wunden konnen in seltenen Fallen 
die naheliegenden Nervenfasern mitinfizieren. Es kann die Er- 
krankung dann sogar von der Peripherie aus zentralwarts weiter 
fortkriechen. Man merkt die Nervenbeteiligung daran, daB die 
anfanglichen Schmerzen, obschon die Wunde langst geheilt ist, 
noch anhalten, ja in das zustandige Nervengebiet weit hinein- 
strahlen. Die Narbe bleibt oft druckempfindlich; im Laufe von 
Monaten entwickeln sich auch gelegentlich Atrophien in den 
Handmuskeln. Eine ,,ratselhafte Tendenz zum Wandem u hat 
die Neuritis deswegen noch nicht. Es handelt sich (besonders 
in den Fallen von eitrigen Panaritien) nur um Mitaffektion der 
Nerven, um Uebergreifen des Hautprozesses auf die Nerven- 
endigungen. Von einem ,,Wandern“ des Prozesses kann man 
vielleicht im Falle Cinas sprechen. Nach SchuBverletzung 
des rechten Ulnaris trat auBer rechtsseitigen Lahmungserschei- 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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nungen auch links Atrophie in den Ulnarismuskein der Hand, 
Anasthesie, Retraktionen der Palmar-Aponeurose auf. Da fiir 
die linksseitige Affektion absolut kein AnlaB vorlag, so konnte 
man allerdings vermuten, daB sich hier die Neuritis vom rechten 
Ulnaris durch den Quersehnitt des Riickenmarks hindurch nach 
dem linken Ulnaris hin verbreitet hat. Ich beschreibe einen hierher 
gehorigen Fall, den ich selbst beobachtet habe. 

51. Eigene Beobachtung XXV (Patientin H.). 

Stenotypistin. 24 Jahre alt. Seit 3 Jahren stenographiert Pat. 
taglich ca. 8 Stunden. Vor 5 Jahren Fall auf die rechte Hand in ein Stuck 
Glas, so daB das Handgelenk verletzt wurde. Wunde entziindet. Seit der 
Zeit Schmerzen im rechten Unterarm. Als sie zu arbeiten anfing, spiirte 
sie auch Parasthesien in der rechten Hand. Allmahlich Atrophie in der 
Hand. Die Schmerzen horen etwas auf. wenn Pat. nicht arbeitet. Sitz 
derselben: Kleinfingerseite. Narbe an der Basis des Dauinenballens rechts. 
(siehe Figur 21), auf Druck nicht empfindlich. Hechter Ulnaris am Unter¬ 
arm und Handgelenk sehr druckempfindlich. Dynamometer rechts 30. 
links 50; statischer Tremor der Hand beiderseits. Umfang des Interarms 
10 cm unterhalb des Olekranons rechts 18 r 2 cm. Jinks 19 3 4 cm. Handdruck 
rechte erheblich schwacher als links. Tricepsreflex rechts = links, ebenso 
Radius-Periostreflex. Beugen und Strecken des Interarms rechts schwacher 
als links. Sensibilitat: siehe Figur 22 u. 23. 

Elektrisch: EAR im Abduct, dig. V. den Mm. inteross. und im Flex, 
poll. brev. 



Fig. 21. Fig. 22. Fig. 23. 


Die Neuritis im Ulnarisstamm war also durch Ubergreifen 
eines Prozesses (Entziindung ?) von der Haut oder distalen Nerven- 
astchen auf groBere proximale Ulnarisaste entstanden; anders 
kann man sich die Druckempfindlichkeit des Ulnaris, die Schmerzen 
und Parasthesien vom EUenbogen zur Hand und die Atrophie des 
Unterarms nicht erklaren. Nach dem ganzen Gebahren der Patientin 
und auch nach dem iiber das Ulnarisgebiet ausgedehnten Sen- 
sibilitatsbefund (Hypasthesie ulnar im Unterarmgebiet) ist ein 
leichter hysterischer Einschlag unverkennbar. Immerhin ist die 
Ulnarisstorung sehr deutlich ausgesprochen und abgegrenzt, trotz 
eines Uebergreifens der Sensibilitatsstorung und der motorischen 
Parese auf Unterarm und andere Nervengebiete (leichte Unter- 
empfindlichkeit im Med. Gebiet). 

Aehnlich zu beurteilen sind auch die Neuritiden und Peri- 

Monatsechrift f. Psychiatrie u. Nearoloffie. Bd. XXX. Heft 5. 24 


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Singer. Die Ulnarislahmung. 


neuritiden des Ulnaris, die sich an eitrige Gelenksentziindungen 
anschlieBen. Gerade der Ulnaris ist hier durch die benachbarte 
Lage zum Ellenbogen, der am haufigsten befallen ist, bevorzugt. 
Manche Autoren nehmen die Inaktivitat als atiologisches Moment 
fiir die Nervenschadigung und Muskelatrophie an. Manche sprechen 
von Reflexeinfliissen, die vom kranken Gelenk auf die Zellen 
des Spinalganglions iibergehen. Am einfachsten ist die Annahme 
einer direkten Mitbeteiligung der Muskeln bei Atrophie in der 
Nahe des erkrankten Gelenks ( Strumpell ). Panas sah Ulnaris- 
Neuritis nach Arthritis sicca des Ellenbogengelenks, Bury Ver- 
dickung und Schmerzhaftigkeit des Ulnaris bei Polyarthritis acuta 
(mit Schwellung des Ellenbogens). Ja, er betrachtet leichte 
Atrophie der Interossei mit Hyperextension in den Grundphalangen 
IV und V und Hypasthesie im Ulnarisgebiet als sehr gewohnliche 
Symptome der „rheumatischen Hand“. Remak spricht aber 
auch von einigen Ulnarisparesen bei Gelenkrheumatismus, wo 
gerade der Ellenbogen frei war. Hier muB also eine Infektion 
per contiguitatem ausgeschlossen werden; vielmehr scheint hier 
Gelenkaffektion und Neuritis durch ein und dieselbe infektiose, 
uns unbekannte Ursache bedingt. Experimentell suchten East 
und Rosenbach der Frage beizukommen. Sie fanden, daB bei streng 
aseptischer Verletzung die schnell vemarbende Entziindung 
lokalisiert bleibt; wurden eitrige Entziindungen durch das Ex¬ 
periment erzeugt, so erfolgte Eiterung im perineuritischen Binde- 
gewebe, die sich zentralwarts weiter ausdehnte. Meuser fand, 
daB am haufigsten die fortkriechende Entziindung im AnschluB 
an infizierte offene Wunden entsteht (so auch Mobius). 

Wenn ich oben im Allgemeinen sagte, daB bei Infektions- 
neuritiden die singulare Form gegeniiber der multiplen sehr selten 
ist, so muB ich hier zu Beginn gleich eine entschiedene Ausnahme 
festsetzen, namlich in Bezug auf die Lahmungen nach Typhus 
abdominalis. Auch insofern muB hier eine weitere Ausnahme 
konstatiert werden, als der Typhus mit besonderer Vorliebe 
die Nerven der oberen Extremitaten befallt. Man kann sagen, 
die eigentliche nervose postyphose Erkrankung ist die Ulnaris- 
neuritis. Leyden hatte wohl zuerst 1875 auf die typhose Lahmung 
aufmerksam gemacht. Krafft-Ebing zahlt die Ulnarislahmung 
im Gefolge des Abdominaltyphus noch zu den groBen Seltenheiten. 
Er fand sie ausgesprochen nur einmal unter 212 Fallen aus dem 
Kriege, einmal Anasthesie im Ulnarisgebiet. Spater haben sich 
die Beobachtungen und Publikationen sehr gemehrt. Bis 1901 
existierten 10 Falle (nach FriecUdnder), 1902 nach Liepelt 16. 

Mir sind folgende Neuritiden nach Typhus aus der Literatur 
bekannt geworden: 

NoUhnagd (4), Wolf (1), Berger (1), Handford (2), Bernhardt (3), 
Vulpian (1), Remak (3), White (1), Liepelt (1), Piliotis (1), Aldrich 
(1), Lloyd (1), Lasarew (5). Doppelseitig war die Affektion in 
je einem Falle von White, Bernhardt, Handford, Remak, Liepelt. 
Beginn und Verlauf der Erkrankung sind ziemlich charakteristisch. 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Zuerst treten immer heftige Schmerzen oder zum mindesten 
schmerzhafte Parasthesien im Ulnaris auf. Ganz vermiBt wurden 
dieselben nur im Falle Wolf und Handford. Dieselben ziehen 
sich deutiich an der Innenseite des Vorderarms zum Ellenbogen 
bin. Allmahlich und nachtraglich tritt dann eine unvollstandige 
Lahmung des IV. und V. Fingers hinzu, ebenso Atropbie und 
objektive Sensibilitatsstorungen. Gelegentlicb scbreitet die Atro- 
phie sogar bis zur Krallenbildung fort. Von 20 Fallen, die aus- 
fiihrlicher pubbziert wurden, begann die nervose Nacbkrankbeit 
17 mal in der Rekonvaleszenz nach dem Abfall des Fiebers; 
das kiirzeste Intervall zwiscben Entfieberung und Labmungsbeginn 
waren 3 Tage (Liepelt), das langste 13 Wochen ( Remak ). Es bandelt 
sich also wahrscheinlich bier um eine Lahmung, bei der die Unter- 
emabrung als atiologisches Moment mitwirksam ist. Es ist aber 
darauf aufmerksam zu machen, daB gelegentlich wohl aucb einfaob 
der Druck auf den Ulnaris bei den benommenen Patienten eine 
Rolle spielt. Man kann aber auch dann (wie bei Lloyd und 2 mal 
bei Lasarew) die infektiose Aetiologie nie ganz ausschlieBen. Be- 
sonders Lloyd bat das mechanische Moment betont. Fur die 
Kompressionsneuritis bei Typhus sprache das Vorwiegen der 
subjektiven Sensibilitatsstorungen, bei geringen objektiven Er- 
soheinungen; gegen dieselbe die sehr lange Dauer. Gelegentlich 
wollen Forscher, wie Ausset und andere den Eberth’schen Typbus- 
bazillus direkt in den Nervenscheiden gefunden baben, ein Be¬ 
hind, der die infektiose Entstehung der Typhusneuritis stiitzen 
.wiirde. 

ErkaUung kann wohl erschwerend als atiologiscbes Moment 
bei Entstehung der Neuritis mitwirken, daB sie aber allein eine 
Ulnarislahmung erzeugt, ist sehr unwahrscheinlich. In den 
Fallen Janzer VII und Rieder-Aynaud wurde sie aber fiir die 
Neuritis verantwortlich gemacht. Im ersten Falle ist an die 
toxische Wirkung des Nikotins, im zweiten an die psycbische 
Wirkung eines Schrecks (?) zu denken. Immerhin ist das Moment 
der Erkaltung bei Schlaflahmungen und anderen zu beachten. 

Von einem Patienten, bei dem auBer der Aetiologie einer 
Erkaltung oder eines rbeumatischen Einflusses nichts Ursachliches 
zu eruieren war, kann ich selbst berichten. 

52. Eigene Beobachtung XXVI (Patient C.). 

29 Jahre alt. Seit 2 Jahren ReiBen in bsiden Armen, rechts bedeutend 
starker als links. Seit 2 Monaten rechter Arm vor Schmerzen kaura zu 
heben. Schmerzen, ,als ob jemand schnell mit dem Messer von unten nach 
obsn sohneidet 11 . Objektiv Ulnaris im Sulcus bioip. beiderseits auBerst 
empfindlioh, rechts mehr als links. Dynamometer rechts 50, links 75. Der 
Patient hat schon friiher viel an ReiBen gelitten. Die Hauptbe3chwerden 
schlossen sich an eine frische Erkaltung an. 

Janzer bescbrieb eine Ulnarislahmung bei einem 71jahrigen 
Forster, die 7 Wochen nach abgelaufener Perityphlitis aufgetreten 
war; Oumpertz eine solche mit Andeutung von ,,main en griffe“, 
Atrophie in Interosseus III und IV, Thermhypasthesie und Hypal- 
gesie im Ulnargebiet, EAR in Interosseus III, Fehlen der elek- 

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trisehen Erregbarkeit in Interosseus IV bei einem 67jahrigei> 
Mensohen nach einer Giirtelrose. 

Auch in einem Fall von Curschmann spielt die Erkaltung 
neben anderen Ureachen eine atiologische Rolle. Besonders 
ist auch bei den viel in Wasstr arbeitenden Menschen (Wascherin- 
nen) an eine Berufsschadigung durch refrigeratorische Einfliiss-e 
zu denken. 

Nach Influenza sah Remak bei einer 88jahrigen Frau Ulnaris- 
neuritis auftreten. Es ist dies, soviel ich sehe, der einzige derartige 
Fall in der Literatur. 

Die nicht seltenen postgripposen Neuritiden verteilen sich 
gewohnlich auf Kopfnerven und Plex. brach., wobei dann aller- 
dings auch der Ulnaris mitbeteiligt sein kann. In Janzers Fall 8 
wird die Influenza neben anderen Momenten atiologisch ver- 
antwortlich gemacht. 

2 Falle leichter Ulnarisneuritis nach Chorea teilen Simpson 
und Bury mit. Beide Male schloB sich die Chorea an Gelenk- 
rheumatismus an, der Fall Simpsons ist nicht rein (Radialis- 
beteiligung). 

Die nervosen Nachkrankheiten der Malaria sind meist 
Polyneuritiden; die Zerebralnerven werden haufiger befallen 
als die spinalen, immerhin relativ am haufigsten von letzteren 
nachst dem Peroneus isolirt der Ulnaris. Nach Strachau finden 
sich dabei ziemlich regelmaBig Verdickungen beider Ulnares 
und Druckempfindlichkeit, in mittelstarken Fallen auch leichte 
trophische Storungen der Haut. Remlinger berichtet ebenfalls 
von einer doppelseitigen, auBerst schmerzhaften Ulnarisneuritis 
nach Malaria. ] 

Auch die Lepra macht nach Laehr im Ulnaris gelegentlich 
sensible Reizerscheinungen resp, motorische Ausfallserscheinungen. 
Besonders im Anfang sind schieBende Schmerzen haufig. Nachst 
dem Trigeminus ist der Ulnaris am oftesten betroffen. Zuerst 
ist (nach Laehr) der Ulnaris druckempfindlich, spater unempfindlich. 
In etwas vorgeschrittenen Fallen war an der Hand der Medianus 
stets mit betroffen. Einmal sah Laehr Atrophie des Flex. carp. uln.; 
main en griffe ist haufig. Auch Schulze beschrieb Ulnarisneuritis 
bei Lepra. 

Nachst dem Typhus abdominalis ist das Puerperium die 
wichtigste und haufigste Aetiologie der postinfektiosen Neuritiden, 
speziell der Ulnarisneuritis. Es handelt sich hier um Nerven- 
entziindungen, die auf dem Boden einer Allgemeininfektion 
zustande kommen im AnschluB an septisches Puerperalfieber 
und puerperale Entziindungsprozesfe (Parametritis). Von solchen 
postinfektiosen, puerperalseptischen Lahmungen kann natiirlich 
nur die Rede sein, wenn wirklich ein Infekt, wenn Fieber vor 
Entstehung der Lahmungserscheimmgen bestanden hat. Es ist 
daher vom atiologischen Standpunkt aus nicht angangig, allgemein 
von Schwangerschafts-, Geburts- oder Entbindungslahmungen 


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zu sprechen. Das fieberhafte Wochenbett bietet ganz andere 
Gelegenheit zur Entwicklung von Neuritiden als das fieberfreie, 
normale Wochenbett. Remak und Eulenburg haben diese Trennung 
nicht durchgefiihrt. Von Hoesslin hat in seiner Monographic 
-aber strong geschieden zwischen postinfektioser und toxischer 
Puerperal- resp. Graviditatsneuritis. Ich werde ebenso verfahren - 
und die Ulnarislahmungen, die zu der zweitgenannten Gruppe 
gehoren, erst spater besprechen. 

Die erote genaue Schilderung puerperaler Neuritiden gab 
wohl Mobius im Jahre 1887, doch sollen ahnliche Beobachtungen 
schon friiher von Schnitzer, East, Cazeaux, Tarnier, Lloyd, WinckeL, 
Hunermann gelegentlich gemacht worden sein (nach Eulenburg). 
Sehr bekannt ist diese Erkrankung jedenfalls vor der Arbeit 
von Mobius nicht gewesen, denn Leyden, Starr und andere erwahnen 
sie iiberhaupt nicht. Ein Verdienst von Mobius ist es auch, als 
erster auf den sogenannten Brachial-Typus der Neuritis im Gegen- 
satz zur (haufigen) Polyneuritis, zur generalisierten puerperalen 
Lahmung hingewiesen zu haben. Diese von vielen Autoren als 
typisch angesehene Form auBert sich in einseitiger oder (seltener) 
doppelseitiger, kombinierter Ulnaris- und Medianus-Neuritis. Die 
ganzreinenMono-Neuritiden, z. B. die des Ulnaris, sind sehr selten. 
Die Entstehung ist meist so, daB eine Frau post partum Frost 
oder Fieber bekommt und dann heftige, bei Bewegung zunehmende 
Schmerzen im Arm fiihlt. Die Schmerzen lassen langsam nach, 
an ihre Stelle tritt Schwache der Hand, Abmagerung der Musku- 
latur des Thenar und Antithenar, je nach der GroBe der Schadigung 
mit Ausblldung von Kontrakturen, EAR etc. Der Ulnaris und 
Medianus sind geschwollen und druckempfindlich. 

Man hat behauptet, diese Lahmungen kamen iiberhaupt nur 
durch Druck, Ueberanstrengimg etc. zustande. Wenn auch bei 
■der Auswahl der Nerven meines Erachtens sicher diese Faktoren 
eine Rolle spielen, so sind sie doch nicht allein bestimmend. Druck, 
Ueberanstrengung sind Ursachen, mit denen man bei jeder Woch- 
nerin, bei jeder Gebarenden vor allem zu rechnen hat. Es ware, 
wenn lediglich diese Momente verantwortlich gemacht werden, 
nicht zu erklaren, warum die Affektion so gar selten auftritt. 
AuBerdem liegt der AnalogieschluB gegeniiber der Infektion 
zu nahe, als daB an dem atiologischen Faktor Puerperalfieber 
gezweifelt werden konnte. 

Wie bereits erwahnt, ist die Mono-Neuritis selten. Sie findet 
sich im Ulnaris, Ischiadicus, Peroneus. Die Kombination von 
Med. und Uln.-Neuritis konstatierte Sanger unter 47 Fallen llmal 
(inkl. Graviditats-Neuritiden). 

Bemerkenswert und im Gegensatz zu anderen Neuritiden 
intere 3 sant ist das regelmaBige Freibleiben des Radialis, selbst 
bei generalisierten Formen. Es kommt auch vor, daB sich anfanglioh 
eine Polyneuritis entwickelt, dann aber noch im Entstehen abbricht 
und das Bild lokalisierter Nervenentziindung zuriicklaBt. Auch 


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366 Singer, Die Ulnarislahmung. 

dann sind Ulnaris und Medianus besonders gem und besonders 
heftig befallen. 

Von den echten Neuritiden der Literatur nach Puerperal- 
fieber ist 3 (resp. 4 mal) der Ulnaris allein (resp. fast ausschlieBlich) 
befallen gewesen. Es war das in den Fallen Mobius (1892 Fall 2), 
Remak (Fall 3), Turney. (Vielleicht kann man eben noch den Fall 
Mobius 1887 No 2 hierher zahlen, wo neben schwerer Atrophie 
der kleinen Ulnarismuskeln, EAR hierselbst und Anasthesie in 
Finger IV und V eine sehr maBige Atrophie des rechten Daumen- 
ballens bestand.) Mitbeteiligt war der Ulnaris zusammen mit 
dem Medianus an der neuritischen Lahmung bei Mobius 1887 
No. 1, East, Tuillant, Bernhardt 1894 (lund 2), Matiesen und 
in den Fallen Mobius 1887, No. 2 und 5. Wenn das eine 
verhaltnismaBig kleine Zahl fur eine typische Lahmung ist, so 
kommt das erstens daher, daB iiberhauptdie isolierten Puerperal- 
nervenlahmungen, wie schon oben gesagt, selten sind; zweitens 
aber haben wir hier augenblicklich nur die Falle aufgezahlt, bei 
denen wirklich von einer septischen Erkrankung, von einer In- 
fektion gesprochen werden konnte; die anderen werden in einem 
spateren Abschnitt besprochen. 

Die reinen Ulnarislahmungen verhielten sich wie folgt: 

53 . Mobius. 42 jahrige Frau. Nach 3 Tagen des Wochenbetts heftige 
Leibschmerzen mit Fieber. 14 Tage spater Hyperasthesie des Ulnarrandes 
der linken Hand. Ziehende Schmerzen im ganzen Aim. Schwache der 
Hand. Die objektive Untersuohung (die Mobius 13 Jahre post partum vor- 
nahm) crgab: Atrophie samtlicher Ulnarismuskeln, leichte Abmagerung 
des Daumenballens (Add. poll. ?) Sensibilitat: elektrische Erregbarkeit 
normal, Motilitat ziemlich gut. 

64 . Remak. 32 jahrige Frau. Hohes Fieber im Wochenbett. Schmerzen 
im rechten Aim, darauf alhrahliche Abmagerung und Schwache der Hand. 
Ulnaris sehr empfindlich auf Druck. Samtliche Interossei atrophisch, 
Flex. dig. V. paretisch. Krallenstellungder letzten beiden Finger. Faradisch 
indirekt Ulnaris uber dem Handgelenk unerregbar. In den Interossei 
partielle EAR. Sensibilitat im kleinen Finger herabgesetzt. 

55. Turney . 37 jahrige Frau. Normale Geburt. 14 Tage spater 

Fieber, Taubheit und Ameisenkriechen in Finger IV und V rechts, in ge- 
ringerem MaCe auch links. Links heilt es bald ab, rechts bleibt Taubheit 
und Schwache zuriick. Krallenstellung der letzten Finger, starke Atrophie 
der Ulnarismuskeln. Keine absolute Lahmung in denselben, aber schwere 
Parese. Faradische Erregbarkeit des Nerven = 0. Keine EAR, aber in 
den kleinen Handmuskeln direkt galvanisch KSZ kleiner als ASZ. Keine 
Sensibilitatsstorung. Ulnaris nicht empfindlich, nach 6n or.atlicher Galvani¬ 
sation Heilung. 

Bei den iibrigen kombinierten Fallen bestand neben der Hypo- 
thenar-Atrophie auch deutliche Atrophie und Parese des Daumens. 

Bemerkenswert ist nur der Fall Tuillant , weil hier} eine 
trophische Storung an den Fingerspitzen bestand: blaschen- 
fonnige Eruptionen mit Abschalen der Haut an der Fingerkuppe. 
Eine sehr schwere Sensibilitatsstorung (ganzliche Aufhebung 
der Beriihrungs- und Schmerzempfindung im Ulnaris und Medianus) 
fand sich als Residuum einer postinfektiosen Polyneuritis bei 
Matiesen. 


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Singer, Die Ulnaristfihmung. 


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Von einem Falle von Ulnaris-Neuritis nach fieberhaftem 
Abort kann ich selbst berichten. 

56. Eigene Beobachtung XXVII (Patientin R.). 

4 Aborte, 3 nonnale Geburten. Nach 1. Abort 1896 mit leichtem Fieber 
Ausschabung in Narkose. Pat. bemerkte ,.Locher“ ira 1. und 2. Interossealraum 
und Kleinfingerballen rechts. Allgemeine Schwache und abnorme Finger- 
stellung. Nach Anstrengung krampfhafte, unvrillkurliche Fingerbewegungen, 
Ilnarabduktion der Finger links. Objektiv beide Ellenbogen durch alte 
arthrogene Proaesse im Strecken beschrankt. Sulcus uln. sehr flach. rechts 
fast verstrichen. An der rechten Hand Atrophie des 1. und 2. Interosseus 
und Kleinfingerballens. Klauenhandstellung in Finger IV und V. Beugung 
in der Grundphalanx schlecht; IV. und V. Finger konnen nicht gespreizt 
und adduziert werden; der V. Finger kann nicht aliein, sondem nur mit den 
anderen zusammen gebeugt werden. Die Daumenopposition ist leicht 
eingeschrankt Rechts Beriihrung im Kleinfingerballen abgeschwacht, 
links normal. Die atrophischen Muskeln sind direkt faradisch und galvanisch 
nicht erregbar. 

DaB bei diesen Lahmungen nach dem Puerperium die Kachexie 
eine Rolle spielt, werde ich weiter unten noch einmal hervorheben. 
Es ist moglich, daB die eigentliche Ursache aller dyskrasischen 
Neuritiden eine Erkrankung der Vasa nervorum ist, wie man 
sie pathologisch-anatomisch fiir gewisse andere Krankheiten 
(z. B. Beri-Beri) nachgewiesen hat. Durch diese Emahrungs- 
storung kommt dann erst die Degeneration der Nerven zustande. 

Bei Tetanus hat Achard sowohl klinisch wie pathologisch- 
anatomisch Ulnaris- (und Medianus-)Storungen nachgewiesen. 
Ueber den Zusammenhang zwischen Tetanus-Virus und Nerven- 
schadigung ist man sich noch nicht ganz klar. Um eine direkte, 
lokale Schadigung durch das Gift kann es sich jedenfalls nicht 
handeln, da auch die Nerven, die nicht im Gebiet der Wunde 
hegen, mitaffiziert sind. Der Ulnaris war besonders in den Fallen 
I, El und IV Achard''8 beteiligt. Die einfachste Erklarung scheint 
uns die einer von der Wunde her aufsteigenden Neuritis zu sein, 
die sich eventl. durch Anastomosen auch benachbarten Nerven 
mitteilt. Nach Achard ist die Alteration der Nerven reflektorisch 
bedingt durch Reiziibertragung auf das Riickenmark. 

3. Toxische Formen. 

Was die toxischen Reize anbetrifft, so spielt der Alkohol, 
bekanntlich das scharfste Gift der peripheren Nerven, bei der 
Aetiologie der isolierten Ulnarislahmung gar keine Rolle. Der 
Alkohol verursacht in der Regel eine Polyneuritis. Wohl aber 
wirkt er mit bei den Neuritiden anderen Ursprungs, indem er 
die Nerven insgesamt schwacht und so in jedem einzelnen die 
Disposition fiir andere toxisch-traumatische oder infektiose Er- 
krankungen setzt. Auch ist gelegentlich einmal der Ulnaris ein- 
seitig oder doppelseitig bei Akoholikem besonders stark affiziert. 
So sah ich einen Patienten, der Druckempfindlichkeit aller Arm- 
nerven und des Tibialis zeigte bnd eine deutliche Parese im rechten 
Peroneusgebiet und eine Einschrankung des Gesichtsfeldes im 
Sinne des zentralen Skotoms hatte. Bei ihm fand sich eine genau 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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dexn Verteilung8gebiet des Ulnaris entsprechende Hypasthesie und 
Hypalgesie rechts. Hier klagte er auch iiber Taubheitsgefiihl; im 
iibrigen war die Sensibilitat vollstandig intakt. Als sicher ist auch 
anzusehen, daB Potatoren im allgemeinen schon durch leichte 
Lasionen eine Ulnarislahmung davontragen konnen. In sehr vielen 
Fallen der Literatur spielt der Alkohol diese atiologische Rolle. 
(Schlaflahmungen bei Potatoren, Traumen im Ellenbogen, Er- 
kaltungen.) 

57. Eigene Beobachtung XXVIIT. 

Ein anderer Patient (Pat. J.). der an Polyneuritis alcohol, litt. (leichte 
Schwache im Peronealgebiet, Druckempfindlichkeit des Tibialis und 
Peroneus beiderseits. Fehlen der Achillesreflexe) klagte seit 4 Jahren. lange 
bevor er Schwache und Schmerzen in den Beinen hatte, iiber Taubheits- 
gefiihl und Schwache im IV. und V. Finger der rechten Hand. Seit 4 Wochen 
erneutes Auftreten derselben Beschwerden, die jahrelang geschwunden 
waren. Taubheitsgefiihl in der rechten Hand, hauptsachlich im IV. iind 
V. Finger sowie im ulnaren Teil der Volarflache der Hand. Objektiv im 
rechten Arm Weichheit und undeutliche Atrophie des Hypothenar. Spreizen 
rechts erheblich schwacher als links, Strecken der Endphalangen ebenfalls. 
Leichte Einschrankung der motorischen Kraft bei Opposition und Beugen 
der Finger. Ulnarabduktion der Hand leidlich gut; Sensibilitat: Hyp¬ 
asthesie und Hypalgesie im rechten Ulnargebiet, besonders volar. Elektrisch: 
quantitative Herabsetzung der faradischen indirekten Erregbarkeit im 
rechten Ulnaris. 

58. Eigene Beobachtung XXIX. 

Ganz isolierte Ulnaris-Sensationen hatte ein dritter Patient, der in der 
Charity beobachtet wurde (Pat. B.). Er klagte seit drei Monaten fiber Taub- 
heitsgefiihl in der rechten Hand. Objektiv fand sich neben lebhaftem 
statischen Tremor (der Pat. wurde wegen drohenden Deliriums aufge- 
nommen) Herabsetzung der Sensibilitat fiir alle Qualitaten im V., sowie 
auf dem Kiicken imd der ulnaren Flache des IV. Fingers und ulnar am 
Kleinfingerballen und Handgelenk. 

Wie eigentlich eine Lahmung durch chronischen Gebrauch 
von Giften zustande kommt, ist noch unklar. Es ist miBlich 
anzunehmen, daB Gift und Nerv sich unmittelbar vereinigen, 
wie Leyden behauptet. Jedenfalls aber sind die schadlichen 
Wirkungen chemischer Natur. 

Die Bleilahmung kommt durch dauernde Beruhrung mit 
BleiweiB, Mennige, Bleirot, Lotmasse, Bleiplatten u. a. zustande, 
in friiheren Zeiten auch durch Trinken von Wasser, welches durch 
Blei enthaltende Rohren geleitet war. In Betracht kommen 
besonders Maler, Schriftsetzer, Weber, dann Ziegenfellarbeiter, 
Blumenarbeiter, Feilenhauer. 

DaB bei der typischen Bleilahmung die kleinen Handmusketn 
freibleiben, hatte zuerst Duchenne behauptet. Wurde hier eine 
Atrophie bemerkt, so sollte sie nicht toxischen Ursprungs sein, 
sondern nur durch Druck (des Pinselstiles etc.) entstanden sein. 
Spater gab Duchenne an, daB in vorgeriicktem Stadium nach volliger 
Entwicklung des ,,Vorderarmtypus <4 Remaks auch im Adduct, 
poll., Interosseus I und Kleinfingerballen Bleiatrophien auftreten 
konnen. Auch Gower.s erwahnt die Form der Bleilahmung, bei 
der zu der Extensoren - Affektion noch eine solche in den 
kleinen Handmuskeln hinzutritt. 


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Singer. Die Ulnarislahniung. 


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Remak sah einen Fall, in dem nur die lnterossei gelahmt 
waren (von der Feilenhauerlahmung will ich spater noch einmal 
sprechen). Bernhardt's Falle von Ulnarisbeteiligung bei Blei- 
l&hmung resp. echter isolierter Ulnaris-Bleilahmung, teile ich hier 
in extenso mit: 

59.1. 19 jahriger Maler. OftKoliken. Refund rZittem der ausgentreckten 
Hand und Finger beiderseits. Motorische Kraft links intakt; rechts tiefe 
Delle im Spat, inteross. I; Daumenballen atrophlseh. Opposition des Danmens 
kaum moglich, ebeiwo Adduktion an den Zwischenhandknochen. Keine 
elektrische Erregbarkeit bei starken faradischen Stromen, keine bei in- 
direkter galvanischer Reiznng. Direkt galvanisch trage Zucknng, 
ASZ = KSZ im Add. poll., Oppon. poll., Inteross. I. 

50. II. 41 jahriger Maler. Intaktheit samtlicher Radialmuskeln. Rechter 
H. Finger steht vora III., V. von IV. weit ab. Annaherung nur mit groBer 
Miihe; etwae besser Abduktion. Vom Ulnaris im Ellenbogen aus prompte 
Reaktion in den linken Hand- und Fingerbeugern. Vom Ulnaris am Hand- 
gelenk aus Kontraktion im Kleinfingerballen, starker© Strome als links er- 
forderlich. Deutliche EAR in den lnterossei. Sensibilitat intakt. 

Wenn ich hier auch etwas abschweife oder vorgreife, so 
will ich doch kurz darlegen, wie ich mir die fast alleinige Auswahl 
des Radialis bei den gewohnlichen Bleilahmungen der Maler vor- 
stelle. Ich glaube, daB dabei die Anstrengung und Nervenfunktion 
die Hauptursache ist. Das Fiihren des Pinsels bedeutet fur die 
Hand zwar eine abwechselnde, aber auch eine sehr ungleich- 
massige Extension und Flexion, indent namlich der Radialis 
bedeutend mehr in Anspruch genommen wird. Zunachst ist, 
wie man an der eigenen Hand nachpriifen mag, die Extension 
an sich schwieriger ausfiihrbar, d. h. es muB mehr Kraft angewendet 
werden, um eine energische Extension als um eine ebensolche 
Flexion auszufiihren. Der gesunde Arm spurt das nicht so wie 
der ermiidete; nach langerem Schreiben oder Geigenspielen aber 
gelingt der Versuch sehr prompt. Zweitens ist bei der Fuhrung 
des Pinsels die Extension quantitativ erheblicher, wenigstens 
bei den nicht kiinstlerisch arbeitenden Anstreichern. Ja, die 
Flexion der Hand ist genau betrachtet. gar keine aktive Bewegung, 
sondem ein passives Zuriicksinken. Die Hand kehrt nach dem 
Gesetz der Elastizitat und Schwerkraft durch Erschlaffenlassen 
der Extensoren, kaum durch Anspannen der Flexoren in die 
Mittelstellung zwischen Pronation und Supination bezw. Streckung 
und Beugung zuriick. Und wenn selbst ein aktives Moment mit 
dabei im Spiele ist, so verteilt sich der Bewegungsimpuls hief 
doch auf 2 Nerven, die auch an Dicke dem Radialis einzeln iiber- 
legen sind. Durch die Mehrfunktion des Radialis also konnte 
hier der Locus minoris resistentiae entstanden sein. Der schwachere 
und geschwachte Nerv reagirt prompter auf toxische Insulte als 
der relativ unbeschaftigte kraftige Ulnaris oder Medianus. Zum 
Teil gehort also auch die Bleilahmung meines Erachtens mit zu 
den Beschaftigungslahmungen (siehe auch weiter unten). Es ist 
bekannt, daB bei Rechtshandern zuerst die rechte, mehr gebrauchte, 
bei Linkshandem die linke erkrankt, wenn auch schlieBlich die 
Erkrankung eine doppelseitige wird (nach Tanquerel von 97 Fallen 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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51 mal). AuBer den Bernhardtschen Fallen ist noch der von Janzer 
publizierte Nr. 14 zu nennen. Hier waren aber auch die Exten- 
soren der Hand gelahmt. Patient war Potator und arbeitete 
seit Jahren in einer GieBerei. Da das Messing der Drehbanke 
zirka 1—2 pCt. Blei enthalt, so sind auch die Messingarbeiter 
der Gefahr der Bleiintoxikation ausgesetzt. Doch wird dabei 
die angestrengte Handarbeit die wichtigste Ursache sein. Immerhin 
ist an die Atiologie Blei z. B. in 3 Fallen von Walton-Carton zu 
denken. Remak nimmt an, daB hier das Kupfer der hauptsachlich 
giftige Stoff gewesen ist. 

Die Arsenlahmung beschrankt sich fast nie auf einen Nerven; 
selten betrifft sie die oberen Extremitaten. Die eigentliche 
Arsenlahmung ist die Polyneuritis rait vorwiegender Beteiligung 
der Beine. Im Gegensatz zur Bleilahmung sind hier Sensibilitats- 
storungen sowie vasomotorisch-trophische neben den motorischen 
haufig. Zur Intoxikation kann der chronische medikamentose 
GenuB und die auBer'iche Wundbehandlung rait Atzpaste fiihren; 
besonders aber kann Arsen staubformig in Fabriken die Schleim- 
haute des Mundes und des Rachens treffen. Grime Tape ten, 
Schweinfurter Griin, das Praparieren von Tierbalgen fiihrt gelegent- 
lich zur Intoxikation. Die allerhaufigste Ursache der As-Intoxi- 
kation aber ist der Suicidversuch. Sind die Arme von dem Intoxi- 
kationsprozeB ergriffen, so pflegen allerdings meist neben den 
Handstreckem die kleinen Handmuskeln beteiligt zu sein. Die 
Lahmung entsteht hier unter Schmerzen und Parasthesien. Ich 
habe einen Fall von Arsenvergiftung gesehen, wo neben schwerster 
Peroneus- und Radialislahmung Atrophie der Interossei, Parese 
des Add. poll., EAR in den Muskeln des Kleinfingerballens bestand; 
dabei zeigte die Haut des Patienten an Bauch und Oberschenkeln 
die charakteristische Verfarbung des Chloasma arsenicosum. 

Janzer teilt 2 Falle mit, in denen Arsen vielleicht fiir die 
Ulnarislahmung mit verantwortlich zu machen ist. In dem einen 
(VI) handelt es sich um einen WeiBgerber, der eine Wunde an der 
Vola manus links hatte und viel mit Kalkwasser arbeitete, in dem 
reichlich Arsen war. (Subjektive Gefiihllosigkeit in Finger IV und V, 
Spreizen und Adduktion links schwacher als rechts, auch Daumen- 
opposition links schwacher. Strecken der Endphalangen links 
erheblich schwacher, Ulnaris druckempfindlich, elektrisches Ver- 
halten normal). Allerdings arbeitete der Patient mit der linken 
Hand kraftiger. Der 2. Patient hatte friiher viel Vogel mit Arsen 
gestopft. Er zeigt noch deutliche glossy skin; im AnschluB an 
Perityphlitis Auftreten einer Ulnarislahmung (siehe oben) mit EAR 
im Abd. dig. V., Interosseus I, II und Add. poll., Hypalgesie fiir 
Stiche im kleinen Finger und Lagegefiihlsstbrung in IV. und V. 
Finger. Bei Beteiligung der oberen und unteren Extremitaten 
bilden sich im allgemeinen die Erscheinungen an den Armen viel 
schneller zuriick. 

Kohlenoxyd wird von den meisten Autoren auch zu den Giften 
gerechnet, die Neuritiden verursachen konnen. Andere geben 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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an, daB es sich dabei um Drucklahmungen handelt, die im Koma 
entstanden sind. Da aber auch im Facialis und Trigeminus CO- 
Lahmungen beobachtet sind, so kann man die Drucklahmung 
nicht als alleinige Ursache betrachten. Die gedriickten Partien 
(meist nicht nach Nerven, sondem nach Gliederabschnitten verteilt) 
sind allerdings bevorzugt. AusschlieBen wird man die Aetiologie 
auch in dem Falle von Bregman-Gruzewsky nicht, bei dem die 
Ulnaris- imd Medianusmuskulatur und die entsprechende Sen- 
sibilitat erheblich gelahmt waren. Der Arm der betreffenden 
Frau hatte wahrend ihrer Asphyxie unter dem Rumpf einer 
toten Genossin gelegen. Unmittelbar nach dem Koma zeigte 
sich die Storung; sicher wirkten hier beide Faktoren zusammen. 
In einem Fall schwerer Rauchvergiftung, den ich selbst beobachtete, 
konnte man u. a. motorische und sensible Parese im Ulnaris 
und Medianus beiderseits nachweisen. 

Unter den Schwefelkohlenstoff- Intoxikationen, die besonders 
bei Arbeitem in Kautschuk-Vulkanisierungs-Betrieben auftreten, 
findet sich eine Ulnarisneuritis bei Lindenheimer , und zwar waren 
die rechten Ulnarismuskeln paretisch, im Interosseus IV fand sich 
Andeutung von EAR. Der Patient arbeitete seit langem in einer 
Gummifabrik und hatte regelmaBig und haufig bei seiner Be- 
schaftigung die rechte Kleinfingerseite in Vulkanisierungsfliissig- 
keit zu tauchen. Koster hat experimented Tiere CS 2 inhalieren 
lassen und fand dabei, daB bei der chronischen Intoxikation die 
neuritische Degeneration nicht sehr erheblich ist. 

Auch die Ai&o^VUlnarisneuritis ist nur einmal beschrieben 
worden; bei der Haufigkeit des Nikotinabusus im Volk, speziell 
auch bei den die Poliklinik in groBer Zahl besuchenden Russen, 
ist dieser TaHJanzer einzig dastehend, und man darf diese Aetiologie 
umsomehr anzweifeln, als der Verbrauch von 9 Zigarren taglich 
zwar schon zum Abusus, aber noch nicht zum exquisitesten MiB- 
brauch des Nikotins gehort, den man doch hier erwarten sollte. 
Auch fehlen Angaben iiber sonstige Nikotin-Intoxikations-Er- 
scheinungen, die eine solche Aetiologie auch fur die Ulnarisneuritis 
wahrscheinlich machen konnten. Dasselbe Bedenken kann man 
einem Falle von Ulnarisneuritis gegeniiber laut werden lassen, 
der in unseren alten Registem als Nikotin-Ulnarisneuritis gefiihrt 
wird. 

61. Eigene Beobachtung XXX (Patient B.). 

Seit 8 Wochen beim Schreiben Schwache des rechten Zeigefingers, der 
kieine Finger ,,rutscht aus“. Schwache in samtlichen Fingem bei Spreizen 
und Schliefien. Ursache unbekannt. Vor 7 Jahren Leistendrusenanschwellung, 
kein Geschwiir. Potus 0; Nikotin: taglich 9 Zigarren, 2 Pfeifen, fiir 5 Pfg. 
Kautabak. Urin frei von Eiweifi und Zucker. Objektiv Abflachung und 
Schwache des rechten Add. poll., Parese der Interossei; der kieine Finger 
kann uberhaupt nicht adduziert werden, die iibrigen Finger nur in Beuge- 
stellung. Elektrisch: Mittelform der EAR imAbd. dig. V und den iibrigen 
Kleinfingerballenmuskeln. Indirekt faradisch Ulnaris erregbar. Im Flex. 
C€up. uln. Steigerung der galvanischen Erregbarkeit. Dynamometer links 95. 
rechts 90. Sensibilitat am ulnaren Handrand herabgesetzt. Nerv [nicht 
dnickempfindlich. Lagegefuhl im V. Finger gestort. 


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Singer, Die Uinarislahmimg. 


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In der Krankengeschichte. wird ausdriicklich starker Foetor 
nicotianus notiert; bei Mangel aller sonstigen atiologischen 
Momente wurde per* exclusionem das Nikotin allein fur die 
Lahmung verantwortlich gemacht. 

Bei alien diesen Intoxikationen sind (das sei nochmals be- 
sonders hervorgehoben) die isolierten Neuritiden, besonders die 
im Ulnaris, auBerst selten. Speziell kann von einer auch nur 
annahernd spezifischen Auswahl (wie fiir den Ulnaris etwa beim 
Typhus und beim fieberhaften Puerperium, fiir den Radialis 
beim Blei) durchaus nicht die Rede sein. 

4. Autotoxische Formen. 

Werden bei den soeben besprochenen toxischen Ulnaris- 
Neuritiden die Giftstoffe auf dem Wege des Respirations- oder 
Digestions-Traktus von auBen her dem Blut und somit den 
Nervenelementen zugefuhrt, so gibt es auch Neuritiden, bei denen 
das schad'gende G.ft von innen her dem Nerven appliziert wird. 
Der Korper des Menschen selbst bildet hier in krankhafter Weise 
unnormale Stoffwech=elprodukte, denen dieselben toxischen Eigen- 
schaften zuzukommen scheinen, wie den Giften Blei, Arsen u. s. w, 
Vielleicht spielen diese Stoffwechselanomalien auch bei Ent- 
stehung der Neuritiden im Verlauf von Infektionskrankheiten 
neben dem Infekt eine gewisse Rolle, denn im Fieber ist ja der 
EiweiBstoffwechsel auch wesentlich vom normalen verschieden. 
Bei den Neuritiden, die man auf Stoffwechselanomalien und 
konstitutionelle Erkrankungen zuriickfuhren kann, spricht man 
von autotoxischen. Sehr bekannt sind die Schadigungen des 
Zentralnervensystems durch den Diabetes mellitus. Claude 
Bernard glaubte sogar, im Riickenmark, in der Medulla oblongata, 
im GroBhxm die eigentliche Ursache der Zuckerharnruhr gefunden 
zu haben. DaB Diabetes periphere Nervenstorungen machen 
konne, hat zuerst Ziemssen behauptet; ihm schlossen sich Althaus, 
Bouchard, Leyden u. A. an. von Hoesslin hat sogar von einer 
Pseudo-Tabes diabetica gesprochen. Auch beim Diabetes werden 
bei der Auswahl der affizierten Nerven die Beine bevorzugt. 
Im allgemeinen ist die Lahmung mehr sensibel als motorisch, 
oder es handelt sich nur um sensible Reiz- und Ausfallserschei- 
nungen. Richtig ausgesprochene motorische Paralysen kommen 
auBerst selten vor. Auch bei den wenigen Ulnarisfallen der Literatur 
kann man hochstens von Schwache oder leichter Parese sprechen. 
Spontane Schmerzen sind im Beginn der Erkrankung haufig; 
weniger ausgesprochen sind die objektiven sensiblen Storungen. 

Es ist am natiirlichsten, anzunehmen, daB der Zucker selbst 
der toxische Faktor im Blut ist. Gelegentlieh sind auch nach 
Entziehung des Zuckers durch antidiabetische Kost die neu- 
ritischen Erscheinungen zuriickgegangen. Oft aber hat die Diabetes- 
kur gar keinen EinfluB auf die Nerven. Ja, die Neuritis besteht 
lange fort, auch ohne daB der Zucker im Urin mehr nachweisbar 


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Singer, Die Ulnarislalunung. 


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ist. In diesem Falle muB man annehmen, daB der selbstandige 
Charakter der toxischen Schadigung ihr eine besondere intensive 
Nachwirkung verliehen hat und daB die materielle Lasion fur 
die prompte Regeneration schon zu weit vorgeschritten war. 
In Kiirze seien die 3 Falle von Ulnaris-Neuritis diabetica hier 
mitgeteilt. 

62. ton Ziemssen: Frau von 50 Jahren. im 1 rin 1—1,5 pCt. Zucker. 
Schwachegefiihl in der linken Hand, keine Schmerzen. Objektiv: Linker 
Tlnaris verdickt und druckempfindlich, glanzende Haut am Kleinfinger- 
ballen und V. Finger. KJeinfingerbaJlen und Interossei matiig atrophisch. 
Nach einem Jahre Kontrakturstellung im Bereich der atrophischen Muskeln. 
Seit einigen Monaten Beginn der Atrophie auch rechts. 

63. Remak. I. Der 52 jahrige Patient hatte fruher Zucker im Vrin. Jetzt 
nach antidiabetischer Kur 0. Pat. halt nach Entzuckerung keine Diat mehr 
inne. Seit 6 Monaten Stechen und Prickeln in der linken Hand. Hier auch 
Schwache. TTrin enthalt wieder 3,89 pCt. Zucker, 0.1 pCt. Albumen. Linker 
Ulnaris druckempfindlich. Die Ulnarismuskulatur paretisch und atrophisch. 
Partielle EAR. Sensibilitat im Ulnarisgebiet herabgesetzt. Nach 4 Monaten 
wurden die Parasthesien geringer, die Abmagerung aber erheblicher. Eine 
antidiabetische Diat war nicht durchgefiihrt worden. 

64 . Remak. II. In beiden Ulnares. in geringem Mafle auch in beiden 
Mediani neuritische Muskelatrophie. Dupuytrensche Kontraktur am kleinen 
Finger. Am Kleinfingerballen ist die Empfindlichkeit fiir Beriihrung 
herabgesetzt, die Schmerzleitung verlangsamt. 

In dem Ziemssenschen Falle begegnet uns jene eigentiimliche 
glanzende Spannung der Haut im ladierten Nervengebiet 
wieder (siehe Seite 259). Diese Veranderung (die ich selbst 
auch einige Male bei peripheren Lahmungen gesehen habe) ist 
sicher als trophisches Zeichen zu deuten. Sowohl in diesem 
Falle als auch in Fall 2 von Remak , ist die Affektion doppel- 
seitig, was besonders auf den allgemeinen toxischen Charakter 
der Lahmung hinzuweisen scheint. Andererseits ist zu bemerken, 
daB im Falle Remak Zunahme und Abnahme der neuritischen 
Symptome willkiirlich und ohne sichtbaren Zusammenhang mit 
der Grundkrankheit wechselte. Der zweite Fall Remaks ist iibrigens 
durch Mitbeteiligung des Medianus nicht rein. Oppenheim sah 
doppelseitige Ulnarislahmung bei einem Diabetiker; hier kam 
aber daneben (oder vor allem) Alkoholismus und die Berufs- 
schadigung ursachlich in Betracht (Patient war Telegraphist). 

Analog der diabetischen Neuritis muB man auch annehmen, 
daB bei einer anderen konstitutionellen Krankheit, der Oicht, die 
Nerven autotoxisch affiziert werden konnen; meist geschieht 
dies in Form der Neuralgien, von denen aber oft die Perineuritiden 
nicht scharf abgrenzbar sind. Wahrscheinlich handelt es sich 
ursachlich urn direkte entziindliche Reizungen der Nervenstamme 
durch Urate. Schon der oft neuralgiforme Charakter belehrt 
daruber, daB Schjnerzen ein hervorstechendes Symptom der 
gichtischen Neuritis sind. Sensible Storungen sind auch nach 
den Angaben vieler Autoren haufiger als motorische und trophische. 
Im ganzen sind die Falle auBerst selten. Und noch mehr als bei 
anderen Poly- und Mononeuritiden ist an die Moglichkeit von 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Alkohol-Exzessen zu denken. Isolierte gichtische Uinaris-Neuritis 
findet sich in der Literatur nureinmal, namiich bei Remak; wohl 
aber ist gelegentlich bei Plexus-Neuritiden der Ulnaris besonders 
beteiligt, so bei Ghrube , CorniUon (in letzterem Falle sogar An- 
deutnng von Klauenhand) und Ebstein. In alien diesen Beobach- 
tungen finden sich auch sensible Storungen und Atrophien 
im Gebiet des Medianus und Radialis. 

65. Bei Remak handelt es sich um einen 58 jahrigen Mann, der seit 
4 Jahren an Gicht der FiiBe, Kniee und Schultern leidet. Seit 4 Wochen 
hftufiges Einschlafen der letzten beiden Finger der rechten Hand. Der 
rechte Ulnaris liber dem Ellenbogen i3t deutlich ge3chwollen und druck- 
empfindlich. Objektiv sind keine Sensibilitatsstorungen und Pare3en nach- 
weisbar. Galvanisation brachte Besserung. 

Ich selbst kann von einem Falle von (?icfa-Neuritis im Ulnaris 
beriohten, der in der Charity beobachtet wurde. 

66. Eigene Beobachtung XXXI (Patient S.). 

53 Jahre alt. Pat. (nichtPot.) leidet seit vielen Jahren an Gicht, be¬ 
sonders im rechten Hand- und FuBgelenk. Im Urin finden sich viele harnsaure 
Salze. Seit 8 Tagen schmerzhaftes Kriebeln der rechten Hand, besonders im 
V. Finger, weniger im III. und IV, gar nicht im Daiunen und Zeigefinger. Im 
III. und IV. Finger fiihlt er mehr eine gewisse Schwache. Seit einigen 
Tagen kann er die Finger der reohten Hand nicht mehr ordentlich gerade 
bekommen; er bemerkte das, als er mit kaltem Wasser zu tun hatte. Heute 
kann er die Finger wieder strecken. aber mit etwas geringerer Kraft als 
sonst. Jetzt hat er taubes Gefiihl in der Hand, gastern gelegentlich auch 
heftige Schmerzen und Brennen. Objektiv: rechter IV. und V. Finger im 
Grundgelenk leicht gebeugt. Strecken erfolgt hier mit leidlicher Kraft. 
Beugung im rechten kleinen Finger schwacher als links, Spreizen und 
Adduzieren der Finger links schwacher als rechts. Beim Zusammenschlieflen 
der Finger beugen sich spontan die Grundphalangen etwas. Adduktion des 
Daumens gut. Keine Atrophien, Nervenstamme nicht empfindlich. Be- 
riihrungsempfindlichkeit im linken Ulnargebiet deutlich herabgesetzt. 
Elektrisches Verhalten normal. Bei den spateren Untersuchungen ist der 
X. uIn. am rechten Ellenbogen stark druckempfindlich. links nicht. 

Wir haben es hier also mit einer doppelseitigen leichten 
Uinaris-Neuritis zu tun, die wahrscheinlich gichtischen Ursprungs 
ist. Rechts sind die subjektiven Reizsymptome und die Schwache 
des kleinen Fingers besonders ausgesprochen, links die Schwache 
der Interossei und die objektive Sensibilitatsstorung. Rechts ist 
der Radialis auch ein wenig geschadigt. Diese Schadigung hatte 
den Patienten zum Arzt getrieben. Er konnte namiich nicht 
mehr die Finger ,,ordentlich aufmachen“. In der Tat standen 
die Grundphalangen IV und V rechts zum Metacarpus bei der 
Untersuchung in leichter Dauerflexion (Schwache des Extensor 
dig.). Diese Radialisparese kam auch dadurch schon zum Ausdruck, 
daQ bei der Adduktionsbewegung derFinger, die rechts mit normaler 
Kraft erfolgte, die Grundphalangen besonders deutlich in ihre 
Flexionsstefiung sich zuriickbegaben. Um zu entscheiden, ob 
die Interosseus-Funktion hier nicht auch geschadigt sei, brauchte 
man nur die Hand auf den Tisch flach aufzulegen und dann Ab- 
und Adduktion zu priifen: sie erfolgte dann ohne jede Storung. 

Zu erwahnen ist auch noch das kalorische Trauma in Gestalt 
des kalten Wassers. Sicher ist dieses Moment nicht ganz gleich- 


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Singer, Die Uinarislabmung. 


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giiltig gewesen, delin unmittelbar nach Einwirkung der Kalte 
entstanden subjektive und objektive Storungen. 

Es sei an dieser Stelie auch darauf hingeweisen, daB durch 
gichtische Veranderungen im Ellenbogengelenk ein direkter Druck 
aaf den Ulnaris ausgeiibt und dadurch eine Kompressions-Neuritis 
erzeugt werden kann. 

Wenn ich von den autotoxischen Neuritiden im Ulnaris spreche, 
so muB ich noch einmal zu jenem Faktor zuriickkehren, der uns 
bereits friiher bei Bearbeitung der fieberhaften infektiosen Nerven- 
entziindung beschaftigt hat: dem Wochenbett. Es ist namlich 
bekannt, daB die Wochnerinnen, ja selbst die Schwangeren, 
auch ohne daB sie einer septischen Infektion anheimfallen, an 
Neuritiden erkranken konnen. Man kann nicht umhin, diese Falle 
ebenfalls zu den toxischen zu rechnen und demgemaB von den 
bereits besprochenen infektiosen Puerperal-Neuritiden als toxische 
Oraviditats- und Puerperal-Neuritiden abzutrennen. Ohne daB 
die Patienten fiebern, ohne daB sich iiberhaupt em anderes atio- 
logisches Moment finden laBt als die normale Schwangerschaft, 
das normale Wochenbett, entwickeln sich bei manchen Geba- 
renden schwere Mono- und Polyneuritiden. Man kann nicht ein¬ 
mal eine Scheidung zwischen Schwangerschafts- und Puerperal- 
Neuritis hier treffen. Denn zuweilen entstehen dieselben wohl 
vor der Geburt der Frucht, erreichen aber den Kulminationspunkt 
erst im Puerperium; zuweilen sind sie wahrend der Graviditat 
schon voll entwickelt; zuweilen schlieBlich erfolgt ihr Einsetzen 
so unmittelbar nach der Geburt, daB man sie beiden Momenten 
hinzurechnen kann. Als Ursache kommen gewiBe, uns unbekannte 
Toxine in Frage, welche wahrend der Graviditat durch veranderten 
Stoffwechselumsatz und nach AusstoBung der Frucht durch 
Involution des Uterus erzeugt werden. Nach Mill, Lunz, Eulenburg 
sollen diese ohne Infektion entstehenden Neuritiden besonders heftig 
und hartnackig sein. von Hoesslin hat geglaubt, die Hyperemesis 
gravidarum fur die Entstehung derselben verantwortlich machen 
zu konnen, weil unter 92 Fallen der Literatur 19 mal das unstill- 
bare Erbrechen besonders schwere Neuritis erzeugt hatte. Nach 
Roster sammeln sich durch die Hyperemesis und die daraus re- 
sultierende Stoffwechselherabsetzung toxische Produkte in reichem 
MaBe im Korper an. Andere Autoren meinen, die in der Graviditat 
entstehenden Stoffwechselprodukte erzeugten zugleich Hyper¬ 
emesis und Neuritis. Wenn man bedenkt, daB es sich in diesen 
Fallen stets um schwache anamische Individuen handelt, so 
wird man es auch billigen konnen, daB die Puerperal-Neuritiden, 
die nicht infektios entstehen, von anderen Autoren zu den so- 
genannten kachektischen gerechnet werden. 

Eine bestimmte Lokalisation findet nicht statt, wohl aber 
ist an den oberen Extremitaten der Ulnaris und der Medianus 
gegenuber dem Radialis bevorzugt. Das legt den Verdacht nahe, 
daB noch mehr als bisher angenommen wurde, Ueberanstrengung, 
forcierte Muskelaktion bei dem Entstehen der Neuritis atiologisch 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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beteiligt sind. Bei dem krampfartigen Zusammenziehen der 
Arme, bei dem Zerren an Gegenstanden, Bettpfosten, dem Ziehen 
an Handtiichem und Seilen, wie es bei den in Schmerzen sich 
windenden Frauen iiblich ist, werden ja besonders oder fast aus- 
schlieBlich Ulnaris und Medianus angestrengt. Bei Rechtshandern 
wird im allgemeinen die Zug- und Kraftanstrengung rechts erheb- 
licher sein. In der Tat findet sich die Ulnaris- und Ulnaris-Medianus- 
Neuritis bei alien Patienten (auBer der Patientin Eulenburgs) auf der 
rechten Seite. Gerade dieser Umstand auch laBt mich auf dieses 
atiologische Moment mit besonderem Nachdruck hinweisen. Auch 
andere Momente konnen im Puerperium begiinstigend fiir die 
Neuritis einwirken: Erkaltung, sehr starker Blutverlust, Gelenk- 
rheumatismus, Absterben der Frucht, Parotitis u. a. 

Munchmeyer behauptet, daB stillende Mutter ofter an Neu- 
ritiden erkranken als nichtstillende. Einmal will er sofort nach 
Absetzen der Brust Riickgang aller neuritischen Symptome 
beobachtet haben. Die Beobachtung ist singular geblieben, 
und man wird daher hieraus keine Schliisse ziehen. Vielleioht 
aber sind in derartigen Fallen versteckte Mastitiden nicht unbe- 
teiligt an der Entstehung der Nervenentziindung. Reine Ulnaris- 
Neuritiden bei fieberfreiem Puerperium beschrieben Mobius (1887, 
No. IV), Aldrich, Remak. 

67. Mobius. 32jahr. Frau. Seit Geburt desKindes Taubheitsgefiihl in 
der rechten Hand. Schmerzen vom Ellenbogen in den IV. und V. Finger 
ausstrahlend. Die ulnare Seite der Hand ist immer kalt. Es findet sich ob- 
jektiv Parese samtlicher Ulnarismuskeln an Vorderarm und Hand mit par- 
tieller EAR, Anasthesie des ulnaren Hautgebietes und Druckempfindlichkeit 
des Ulnaris. 

68. Aldrich. Unmittelbar nach der Geburt Kraftlosigkeit in der Hand. 
Die Geburt soil sehr schwer gewesen sein. Parasthesien im kleinen Finger, 
objektiv leichte Parese im Ulnarisgebiet. 

69. Remak. *25 jahrige Frau. Beim Erwachen nach Zangengeburt Ein- 
schlafen des rechten IV. und V. Fingers. Links Taubheitsgefiihl am ulnaren 
Rand des Vorderarms. Hier war Aether injiziert worden. Rechts Parese 
und Atrophie der Ulnarishandmuskeln. Herabsetzung der faradischen 
Errogbarkeit, EAR im Abd. dig. V. 

Besonders beim Fall Remak ist meines Erachtens auch an 
Schlaf- resp. Kompressionslahmung zu denken, die dann der oben 
besprochenen Narkoselahmung gleichzusetzen ist. 

Munchmeyers Fall ist dadurch ausgezeichnet, daB auBer 
sensiblen Ausfallserscheintmgen in beiden Ulnares die Unter- 
schenkel besonders schwer betroffen waren. Ebenso waren in 
2 Fallen von Mobius neben den Interossei die Nerven der Seine 
schwer geschadigt. 

Kombinierte Ulnaris-Medianus-Neuritis ex puerperio findet 
sich auBerdem noch bei Bernhardt, Mobius (1887, V), Remak (2c), 
Sanger, Hebestreit, Evlenburg, Mattiesen, Turney. 

Von einem Fall leichter Ulnaris - Neuritis nach normalem 
Wochenbett will ich selbst noch berichten. 


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Singer, Die Ulnarislalimung. 


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70. Eigene Beobachtung XXXII (Patientin W.). 

Vor einem Monat hat Patientin eine normale Geburt durchgemacht. 
Vorher bereits 5 Geburten und 3 Aborte, die ohne Folgeerscheinungen ver- 
liefen. Am Tage nach der Entbindung hatte Patientin Kriebeln und taubes 
Gefiihl im IV. und V. Finger der reehten Hand, Schwache im Arm. Wenn 
sie angestrengt arbeitet. fiihlt sie das Kriebeln auch in der reehten Hand 
und Vnterarm. Keine Schmerzen. Wahrend der ersten Halfte der Schwanger- 
schaft stets morgens Erbrechen. Die Unterarme messen beide 12 cm untor 
dem Olekranon 2HU, cm. Dynamometer rechts 20, links 52 (Kechtshander), 
beide Ulnares sind extrein druckempfindlich. Der IV. und IV. Finger stehen 
dauernd in den Interphalangealgelenken leicht volarflektiert. Aktiv 
konnen die Finger im II. und HI. Gelenk nicht ganz gestreekt werden, 
passiv. gelingt die Streckung gut. Spreizen leidlich gut. Adduktion des 
Dftiiinens und Kleinfingerbewegung normal. Keine Atrophie. keine Sensi- 
bi 1 it atss toning. 

6 . Professionelle Formen. 

Bei der atiologischen Gruppierung und Besprechung der 
bisher erwahnten Falle von Ulnarislahmung ist mehrfach schon 
eines Faktors gedacht worden, der zwar nicht als allein ausschlag- 
gebend in Anrechnung kommen konnte, bei der Forschung nach 
dem ursachlichen Moment der Lahmung aber als mitbestimmend 
genannt werden muBte: die Ueberanstrengung. Da dieses arztlich 
wie sozial gleich wichtige und gleich interessante Moment auch 
ohne jede andere Beiursache allein Paresen erzeugen kann, die 
durch Neuritis bedingt sind, so muB dariiber besonders gesprochen 
werden. Die Lahmungen, die durch Ueberanstrengung in der 
Arbeit und im Beruf bedingt sind, nennen wir auch professionelle. 
Es handelt sich dabei um vorzagsweise degenerative Lahmungen 
mit Sensibilitatsstorungen. Sie kommen zustande, indem ent- 
weder Nerven und Muskeln gewohnheitsgemaB bei der Arbeit 
gedriickt werden, oder indem, wie bei der Technik mancher Berufs- 
zweige, gewisse Muskeln besonders stark und anhaltend ange¬ 
strengt werden. Nicht alle hierher gehorenden Falle sind nun 
reine Neuritiden. Schmerzen und Druckempfindlichkeit der 
Nerven fehlen sehr haufig. Aber auch die Falle, bei denen eine 
Berechtigung dieser Neurubrizierung bestritten werden kann, 
wollen wir der Einfachheit halber hierzu rechnen. Die Ueberan¬ 
strengung driickt beiden Gruppen jedenfalls atiologisch das 
Merkmal auf. Man konnte sich, um sie zu erklaren, vorstellen, 
daB, wie bei den gewohnlichen Kompressionslahmungen, auch 
hier als Substrat der Parese eine mechanische, durch chronischen 
Druck gesetzte Lasion der Nervenstamme oder Nervenendzweige 
bestande. Oder man kann annehmen, daB durch den Druck auf 
die arbeitende Muskulatur die Blutzirkulation, die schon an sich 
in den peripheren Korperpartien nicht sehr rege ist, noch mehr 
gehemmt wird und es so zu Schwund der Muskelfasern kommt. 
In diesem Falle ist das nosologische und pathologische Bild der 
professionellen Parese natiirhch von dem der gewohnlichen Berufs- 
Neuritis verschieden. Wenn man, wie Friedreich das tat, an- 
nimmt, daB die mehr gebrauchten Muskeln leichter erkranken 
und atrophieren, so kann man mit Bemak wohl einwenden, daB 

Monatssohrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 5. 25 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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analog vielen anderen pathologischen Erscheinungen in unserem 
Korper dann doch der Atropine erst eine Hypertrophie der 
Muskeln vorhergehen musse; das aber geschieht nie. Dennoch 
spricht die Erfahrug fiir die Riehtigkeit der Friedreichschen 
Anschauung. Und auch die bekannte Edingersche Ersatztheorie 
(soviel sie auch an iibertreibender Verallgemeinerung an sich 
hat) liefert ihr neue Stiitzkraft; denn wenn schon die normale 
Funktion eines Nerven fiir diesen eine Schadigung darstellen 
kann dadurch, daB der durch die Arbeit entstehende Verlust 
an Substanz nicht reichlich gedeckt wird, um wieviel mehr^dann 
bei einem iibermaBig angestrengten Nerven oder Muskel, der 
in seiner Tatigkeit ubernormale Mengen von Substanz verausgabt. 
Selbst wenn dann der Ersatz der Norm entspricht, reicht er doch 
fiir die materiellen Schaden der Ueberfunktion nicht aus. Die Folge 
ist Zerfall der Nerven, Untergang der Achsenzylinder und Mark- 
scheiden, daraus resultierende Muskelatrophie und Paresen. Ueber- 
arbeitung bestimmter Nervengebiete kann also in den diesen 
Nerven entsprechenden Muskeln eine Paralyse auch bei gesunden 
Arbeitem herbeifiihren, bei kachektischen, anamischen, durch 
Potatorium oder Krankheit geschwachten Individuen erst recht, 
weil bei diesen auch die inneren Organe Ersatz fiir die durch 
abnorme Stoffwechselvorgange bedingten Substanzverluste ver- 
langen. 

Fiir beide Gruppen der professionellen Lahmungen, fiir 
die durch Ueberanstrengung entstandenen Neuritiden sowohl 
als auch fiir die durch Druck entstehenden Atrophien scheint 
der Ulnaris mit seinem Innervationsgebiet besonders empfanglich 
zu sein. Das liegt erstens an seiner exponierten Lage im Sulcus 
olecrani, die es ermoglicht, daB bei Berufsarbeitern, die gewohn- 
heitsmaBig den Arm aufstiitzen, der Ulnaris einer dauemden 
Druckwirkung ausgesetzt ist; zweitens aber an der iiberragenden 
Stellung, welche den vom Ulnaris versorgten kleinen Handmuskeln 
bei fast alien Berufsarbeiten zukommt. Man denke z. B. nur an 
die Interosseusfunktion beim Auf- und Abfiihren der Feder, 
an die zwischen Medianus und Ulnaris geteilten Funktionen der 
Hand beim Klavierspielen, an den kraftigen Druck, den der 
Add. poll, und der Kleinfingerballen bei Fiihren des Platteisens, 
des Hobels etc. leisten muB. Mitunter kommen auch beide Arten 
der professionellen Schadigung zusammen vor, namlich Neuritis 
mit elektrischen Storungen und objektiven Sensibilitatsstorungen 
und eine durch konstanten, einformigen Druck auf die Hand 
entstandene Atrophie der kleinen Handmuskeln. Zuweilen auch 
in der Reihenfolge, daB zuerst Druck-Atrophie und dann Neuritis 
entsteht. 

Zuerst beschrieben wurde diese professionelle Ulnaris-Neuritis 
von Leudet (spater von Ballet , Schwendener) bei Olasarbeitern, 
die durch Aufstiitzen des rechten Ellenbogens taglich den Ulnaris 
im Ellenbogen durch Druck belasten. Sehr deutlich sind dabei 
Schmerzen und Paresen im Gebiet des Ulnaris, sowie leichte 


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Singer, Die Ulnarisiahmung. 379 

trophische Storungen gewesen. Im Sulkus war der Nerv verdickt 
zu fiihlen. 

Aehnliche Beschaftigungsparesen durch gewohnheitsmaBiges 
Aufstiitzen des EUenbogens sah auch Remak , und zwar bei 
2 Graveuren, 1 Glasblaser, 1 Drechsler und 1 Arbeiter einer Stahl- 
federfabrik, Gongolf bei Glasschneidem. Dieselben beruflichen 
Schadigungen beschrieb auch Menz bei Telegraphistinnen. Diese 
hedienen einen Apparat, dessen Horer sie mit auf die Tischplatte 
gestiitztem Arm an das linke Ohr halten. Oppenheim erwahnt 
Ulnaris-Parese als Folge der Ueberanstrengung beim Rudern. 
Dasselbe hat — ohne daB er gerade von professionelien Lahmungen 
spricht — schon Panas im Jahre 1879 beobachtet. Nach iiber- 
maBigem Rudern trat Parese im rechten Oberarm und 7 2 Jahr 
spater eine fortschreitende Lahmung der Ulnarismuskeln ein. 
Panas rechnet den Fall zu den traumatischen Neuritiden. Bruns 
hat darauf aufmerksam gemacht, daB bei Xylographen die Arbeits- 
paresen im Ulnarisgebiet durch Druck auf den Ellenbogen ziemlich 
haufig sind. Die Patienten klagen iiber sehr zirkumskripte Parae- 
sthesien, spater auch Schmerzen im ulnaren Arm- und Handgebiet. 
Die Beweglichkeit des kleinen Fingers ist beschrankt, der Add. 
poll, oft leicht atrophisch. Gelegentlich tritt EAR in einzelnen 
Ulnarismuskeln auf, die Sensibilitat ist herabgesetzt. Die Stoning 
findet sich bei Xylographen nur links, denn der linke Arm liegt 
mit der Innenseite des EUenbogens auf der Tischplatte, mit dem 
KleinfingerbaUen der Hand auf einem Kissen, wahrend der Unter- 
arm in der Luft schwebt. Ein Druck ist also nur im Ellenbogen 
moglich. Wie intensiv der Druck wirken muB, sieht man auch 
daraus, daB gelegentlich am Ellenbogen dicke Schwielen in der 
Haut oder sogar Auftreibungen des Knochens gefunden wurden. 
Auch das Schreiben kann beruflich zu Paresen im Ulnarisgebiet 
fiihren; zu echten Neuritisformen dann, wenn der Arm am 
Stehpult auf die Kante mit dem EUenbogen aufgesetzt wird. 
Janzer beschreibt einen solchen FaU (5). Der Patient war aller- 
dings einige Wochen vorher mit dem Unterarm auf dem 
Tisch liegend eingeschlafen. 

71 . Jcmzer. Es fand sich hier deutlich Parese der Interossei, leichte 
Atrophie im I. Interossealraum; Herabsetzung der Beriihrimgs- und Schmerz- 
empfindung in IV. und V. Finger, ebenso Herabsetzung der Temperatur- 
empfindung. In den Interossei und im Add. poll. Herabsetzung der faradi- 
schen Erregbarkeit, trage Zuckung bei direkter galvanischer Reizung. 
Indirekt galvanisch starke Herabsetzung der Zuckungsstarke. 

Die neuritische Parese durch Ueberanstrengung beim Schreiben 
betrifft iibrigens meist den Ulnaris und Medianus zugleich, z. B. in 
dem FaU von Gowers, ebenso iibrigens bei Schneidern und Naherinnen, 
bei denen ich 3 Beschaftigungsparesen sah. 

72 — 74 . Eigene Beobacht ungen XXXIII bis XXXV. 

1. Pat. G. Patientin naht und stickt berufsmaCig viele Stunden 
am Tage. Seit 2 Jahren klagt sie iiber Gefiihllosigkeit und Steifheit in 
den beiden letzten Fingern der rechten Hand. In der Kalte nehmen die Be- 
schwerden zu. Objektiv findet sich auCer einer Druckempfindlichkeit des 

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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Ulnaris und einer leichten Schwache der Interossei nichts iin Ulnarisgebiet.. 
(Doch leidet die Patientin an Tabes! Siehe spater). 

2. Patientin E. 57 Jahre. Auftreten von Kriebeln nnd Prickebi ini 
linken Ellenbogen und in den Fingem. Die Finger links sind kalt. Objektiv 
Dynamometerdruck rechts 51, links 25. Reflexe rechts starker als links, Med. 
und Uln. druckempfindlich. 4 Monate spater Schmerzen und KaltegefiihL 
in den Fingern der linken Hand. Allmahliches Einstellen der Arbeit (Pat. 
naht taglich viele Stunden), da jeder Versueh sehr schnell Schmerzen er- 
zeugt. Objektiv keine Atrophie, keine Sensibilitatsstorung. Dynamometer 
rechts 35, links 120. Elektrisch kein abnormer Befund. 

3. Patientin W., Schneiderin; vor 6 Jahren Fall auf die rechte Hand. 
% Jahr spater Einschlafen der rechten Hand, Schmerzen, Stiche im Gelenk, 
allmahlich heftiger werdend, so dafi die Arbeit schwer wurde. Objektiv 
Atrophie des Thenar und Hypothenar rechts, ebenso Abflachung der 
Interossei. Dynamometerdruck rechts 35, links 75. Andeutung von Klauen- 
hand, Spreizen sehr schlecht, Kraft des Daumens etwas herabgeeetzt. 
Elektrisch partielle EAR in den Interossei rechts und im Abd. dig. min. 
Sensibilitat ganz intakt. 

Im letzteren Falle hat also ein Trauma den Boden vorbereitet 
fur die Auslosung einer Beschaftigungs-Neuritis. 

75. Auch bei einem Schuster (eigene Beobachtung No. XXXVI, 
Patient Li.) sah ich langsam eine Parese und Atrophie im Ulnarisgebiet 
entstehen, so dafi er die Zange nicht mehr in der rechten Hand festhalten 
konnte. Im Interosseus I und Hypothenar fand sich partielle EAR; die 
Sensibilitat im kleinen Finger war herabgesetzt, das Lagegefiihl erloschen. 
Die Haut des Kleinfingerballens war blau und rot marmoriert, glanzend 
(glossy skin). 

Haufiger als die Neuritiden sind die einfachen primaren 
Druckatrophien im Ulnarisgebiet. Zu den trophischen Storungen 
kann sich dann immer noch fortgeleitet eine Nervenentziindung 
hinzugesellen, wie ich das bereits oben erwahnt habe. In diesem 
letzteren Falle sind dann auch Muskeln bei der Parese beteiligt,. 
die keinem direkten Druck bei der Berufstatigkeit ausgesetzt sind. 
Es handelt sich dann eben um eine durch starken Druck erzeugte 
echte Entziindung in den kleinen Endasten des Ulnaris, die weiter- 
schreitend auch die groBen Aeste und schlieBlich den Stamm er- 
greift. Sicher spielt auch die durch Druck und Mehrarbeit bewirkte 
Veranderung der Blutzirkulation (Blutafflux in dem einen, Stauung 
in dem anderen Gebiet) eine Rolle bei Entstehung der Berufs- 
lahmung. Besonders die Platterinnen haben durch den Druck, 
den sie dauernd auf das Biigeleisen mit Daumenballen und Hohl- 
hand ausiiben, schnell und haufig Atrophie im Add. poll, und 
Inteross. primus ( Bernhardt ); daneben besteht meist Medianus- 
Neuritis. Die Atrophie in den genannten Muskeln aber ist lediglich 
durch die direkte Kompression der Muskeln bedingt, was auch 
noch in der starken Druckempfindlichkeit der Muskeln zum 
Ausdruck kommt. Die ersten atrophischen Erscheinungen werden 
oft gar nicht beachtet, erst die durch akzidentelle Neuritis deutlich 
werdenden subjektiven Storungen fiihren die Patienten zum 
Arzt. Gerade bei Platterinnen findet sich die Kombination der 
lokalen Atrophie und der fortgeleiteten Neuritis haufig. Zu 
diesen Fallen gehoit auch der FaU Oppenheims , wo eine Patientin^ 


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Singer, Die Ulnar is lahmung. 


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die wegen langjahriger, in der Kindheit erworbenen Medianus- 
lahmung das Bugeleisen in den letzten 3 Fingern halten muBte, 
eine Ulnaris-Neuritis bekam. 

Lannois zeigte, daB bei Glasarbeitern lahmungsartige Schwache 
und Abmagerung der Ulnarismuskeln vorkommt. Die Arbeiter 
halten, um den Flaschenhals anzufertigen, eine schwere, heiBe 
Zange mit der rechten Hand; der eine Zangenarm preBt sich 
an die Palmarseite von Zeige- und Mittelfinger, der andere an 
den Kleinfingerballen, kurz unterhalb des Os pisiforme. Hier 
war in einem Falle eine deutiiche derbe Schwiele zu sehen. 

Kombination von Ulnaris- und Medianusparese, von Neu¬ 
ritis und mechanischer Druekatrophie findet sich auch bei dem 
ersten Patienten Schafers , einem Hutmacher, der 11 bis 16 Stunden 
taglich biigelte. Ueber dem Handgelenk war der Nerv druck- 
empfindlich. Coester beschrieb Ulnaris-Neuritis mit Schmerzen 
und Parasthesien, Atrophie der Interossei, des Daumens und 
Kleinfingerballens, Druckempfindlichkeit des Ulnaris und Herab- 
setzung der elektrischen Erregbarkeit bei Zigarrenarbeiterinnen. 
Die Beschaftigung derselben besteht im Hersteflen der sogenannten 
„Wickel“, d. h. im Zusammendriicken des Inneren einer Zigarre. 
Von solchen Wickeln fabriziert die Arbeiterin taglich ca. 800—900 
Stuck. Auch bei dem Zeitungsfalzer aus Schafers Beobachtungen, 
der 9 Stunden lang taglich Zeitungen falzte (zuletzt zirka 2000 
Exemplare), stellte sich eine den Ulnaris mitbetreffende Arbeits- 
parese ein. In den letzten drei Fingern der rechten Hand spurte 
Patient Kribbeln und Steifheit, die Finger waren schwach. Eine 
leichte Ulnaris-Neuritis fand sich bei desselben Autors Patient 4, 
der als Steindrucker eine Handpresse stundenlang zu bedienen 
hatte. Salomonson beschrieb linksseitige Ulnarisparese bei 
Diamantschleifern. Diese mii^en in der linken Hand einen 
Stab, auf den der zu schleifende Diamant aufgekittet ist, mit 
den Fingern unbeweglich festhalten, wahrend ein ahnlicher beweg- 
licher Stab rechts gehalten wird. Links miissen dabei Zeigefinger 
und Daumen sehr stark gegen den Stab und gegen ein Holzkastchen 
gepreBt werden, iiber dem das Schleifen erfolgt. Bei den 3 Diamant- 
schleifem seiner Beobacht ungen entwickelte sich Atrophie und 
Parese im Interosseus I und II links. Ich selbst habe noch 
3 Patienten (eigene Beobachtung No. XXXVII) gesehen. bei denen 
die Ueberanstrengung eine mechanische Druekatrophie resp. eine 
leichte Neuritis im Ulnaris erzeugte. Der eine war ein Reklame- 
zettelkleber, der gewohnt war, beim Ankleben an die LitfaB- 
saulen mit dem Kleinfingerballen die Blatter festzudriicken. 
Er hatte eine deutiiche Atrophie im Antithenar und entsprechende 
motorische Schwache. (Auch Janzers Patient 11 war Zettelkleber!) 
Der zweite war ein Sandstampfer, der mit der rechten Faust 
ca. 9 Stunden lang taglich einen schweren Holzstamm zu heben 
und mit Kraft niederzusetzen hatte. Er klagte iiber Schmerzen 
und Parasthesien, die ziemlich genau dem Ulnarisverlauf ent- 
sprachen, und Schwache in der rechten Hand. Objekti v fand sich eine 


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Singer. Die LTnarislahmung. 

erhebliche Druckempfindlickheit der Ulnares, rechts mehr als 
links. Die Beweglichkeit des kleinen Fingers schien rechts abge- 
schwacht. 

Der dritte Patient war von Beruf Stdlmacher und hatte 
9 Stunden am Tage angestrengt in der Werkstatt zu hobeln, wobei 
die Kleinfingerballen beftig auf das Holz aufgestemmt werden 
muBten. Er hatte Schwindelanfalle (vertigo ex aure laesa) und 
klagte ganz nebenbei iiber kribbelndes Gefiihl im IV. und V. Finger 
beiderseits. Es fand sich leichte Druckempfindlichkeit des Ulnaris 
beiderseits und ebenfalls beiderseits dorsal vollstandige Anasthesie 
und Hypalgesie auf der ulnaren Halfte der Hand, sowie an Finger 
IV und V. Volar bestand links Anasthesie und Hypalgesie am Klein¬ 
fingerballen sowie in Finger V und IV und auf der ulnaren Seite des 
III. Fingers, rechts am Kleinfingerballen und Finger IV und V. 
Motilitat und elektrisches Verhalten waren normal, trophische 
Storungen nicht vorhanden. So ausgesprocben wie hier sind die sen- 
siblen Ausfallserscheinungen selten. 

Bei den Metalldrehern sind von Whalton-Carton die schon 
erwahnten progressiven Atrophien der kleinen Ulnarishand- 
muskeln beobachtet worden. Wieweit hierbei die toxischen 
Einfliisse des Bleis anzurechnen sind (das Messing der Drehbanke 
enthalt 1—2 pCt. Blei), laBt sich schwer entscheiden. Ich glaube, 
daB die Ueberfunktion der kleinen Handmuskeln die Hauptschuld 
an der Atrophie tragt. Auch bei den Feilenhauem, bei denen 
M chins zuerst, spater Bernhardt Ulnaris-Paresen sah, spielt wohl 
das Bleigift eine gewisse ursachliche Rolle. Man muB das besonders 
deshalb annehmen, weil gelegentlich (z. B. bei Patient 1 von Bern¬ 
hardt) eine Ueberanstrengung direkt ausgeschlossen werden kann. Es 
handelt sich dann also um einen bestimmten Lokalisationstypus der 
Bleilahmung, bei welchem der Badialis verschont bleibt, Medianus 
und Ulnaris aber deutlich befallen sind. Besonders stark befallen 
ist der Daumenballen der linken Hand; aber bei Mobius so wohl 
als auch bei Bernhardt u. A. findet sich dabei ziemlich 
amgesprochen Atrophie der Interossei und des Hypothenar. 
Im Fall 2 von Bernhardt waren sogar nur die Interossei geschadigt 
(auch elektrisch), ebenso fand sich in Fall 4 linksseitig fast nur 
Parese des Add. poll, und der Interossei. 

Noch jiingst sah ich einen Patienten, der seit einigen Wochen 
iiber Schmerzen im Ulnargebiet und Parasthesien in der Gegend 
der Gelenkmaus rechts klagte. Zwar fanden sich an den Beinen 
ausgedehnte und ausgesprochene polyneuritische Symptome 
(Lasegue, Druckempfindlichkeit des Tibialis und Peroneus, Fehlen 
der Patellar- und Achillesreflexe, Parese der Beine). Ich nahm 
aber fiir die leichte Atrophie und Schwache im Add. poll, in Ver- 
bindung mit den gerade hier sehr ausgesprochenen Sensationen 
doch als ursachliches Moment die Beschaftigung des Patienten 
an. Er war Kellner in einem Weinrestaurant und hatte taglich 
ca. 25—30 Sektflaschen zu offnen, wobei er, wie er selbst spontan 
angab, den Flaschenhals mit ziemlicher Kraft gegen die Muskulatur 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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zwischen rechtem Daumen und Zeigefinger zu pressen and in 
diesem Hebei fest zu drehen hatte. 

Zuletzt erwahne ich noch die von Huet und Guillain be- 
schriebene professionelle Ulnarislahmung bei Backergesellen, welche 
den Brotteig auf einem Tisch mit Hilfe des ulnaren Vorderarms 
and der Hand (Kleinfingerseite) mit festem Druck spalten miissen. 

Man sieht, daB in der Aetiologie der Ulnaris-Neuritis die Profes¬ 
sion eine sehr groBe Rolle spielt. Zuweilen ist die Ueberanstrengung 
als einzige Ursache von sensiblen, motorischen und trophischen 
Erscheinungen zu eruieren. Zuweilen allerdings — und das will 
ich hier besonders hervorheben — hat sie nur als unterstiitzendes 
Moment in der Aetiologie eine Bedeutung. Die Beobachtungen 
der Literatur, die ich durch eigene reichlich stiitzen konnte, sind 
iiberaus zahlreich, wo eine Ulnaris-Neuritis anderen atiologischen 
Ursprungs dadurch manifest oder auch dadurch verstarkt wurde, 
daB der Patient beruflichen Schadlichkeiten ausgesetzt war. 
Ich nenne von diesen Berufen nur die wichtigsten: Platterinnen, 
Schneiderinnen, Buchbinder, Metalldreher, Tischler, Schlosser 
und Stenographer Man wird im allgemeinen gut tun, nur dann 
die Diagnose einer Berufslahmung zu stellen, wenn ein anderes 
ursachliches Moment nicht in Frage kommt. DaB geschwachte 
Individuen, besonders Potatoren, dabei bevorzugt sind, habe ich 
bereits erwahnt. 

76. Eigene Beobachtung XXXVIII (Patient Kl.). 

Buchbinder, 30 Jahre. Patient spiirt seit 8 Wochen, daB die linke 

Hand schwacher wird. Er kann die Finger nicht mehr ordentlich gebrauchen. 
Der linke kleine Finger ist ohne Gefuhl, etwas weniger der IV. Wenn Pat. 
auf die Kleinfingerkuppe driickt, zieht ein stechender Schmerz zum Ober- 
arm herauf. Vor 8 Jahren hat Pat. Malaria gehabt. Objektiv findet sich 
leichte, aber deutliche Atrophie des linken Kleinfingerballens, des Add. poll, 
und derinterossei. Die Mittel-und Endphalangen sind leicht gebeugt. Pares© 
des kleinen Fingers, des Add. poll, und der Interossei. Opposition des Daumens 
ganz intakt, ebenso Extension der Hand und der Grundphalangen. 2£r6scher 
Punkt links druckempfindlich, der Ulnaris nicht. Keine Halsrippe fuhlbar. 
Im Ulnarisgebiet der Hand ab imd zu Beriihrungen ausgelassen, ebenso 
gelegentlich Temperatur und Nadelstiche nicht erkannt. Partielle EAR 
im Kleinfingerballen und den Interossei. 

Da die genaue neurologische Untersuchung jeden Verdacht 
eines spinalen Leidens ausschloB, und da andererseits zu wenig 
Anhalt vorlag, die alte Malariainfektion als Ursache der Ulnaris- 
Neuritis anzusehen, so haben wir eine Berufsneuritis angenommen. 
Erkundigungen bei diesem und anderen Buchbindem ergaben, 
daB in der Tat durch Pressen, Streichen und Driicken viel mit 
dem Kleinfingerballen beider Hande gearbeitet wird. 

77 . Eigene Beobachtung XXXIX (Patient H.). 

Mechaniker, 54 Jahre alt. Als Kind hat Patient sich mit einer zer- 

brochenen Glasflasche tief in die Fingerkuppe des rechten Mittel- und IV. 
Fingers geschnitten. Seit 14 Tagen fiihlt Pat. ab und zu einen stechenden 
Schmerz in der rechten Hand, der manchmal auch von der Innenseite der 
Schulter oder des Ellenbogens nach abwarts zieht. Neben der Hohlhand ist 
der Schmerz im III. und IV. Finger am starksten, seltener geht er auch 
auf den Daumen iiber. Bei Finger be wegung besteht dauemd dorsal und 


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384 Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 

volar Kriebeln an der Kleinfingerseite. Schwacher ist die Hand nicht gc- 
worden. Pat. schneidet seit 2 Jahren Tag fiir Tag hartes Leder, wobei er 
das Messer sehr fest in die rechte Hand pressen mufl. Bei dieser Anstrengung 
hat Pat. auch schon friiher Schmerzen gehabt und das Gefiihl, als ob ihm 
die ulnaren Finger und die entsprechende Hohlhandpartie eingasehlafen 
seien. Der rechte Ulnaris ist im Elienbogen sehr druckempfindlich; Uinfang 
des Unterarms 10 cm oberhalb de3 Handgelenks, rechte 21, links 20 cm. 
Dynamometer rechts 135. links 114. Sonst laBt sich weder sensibel noch 
motorisch noch elektrisch irgend eine Storung nachweisen. 

Der Fall erinnert in der Art der Entstehung etwas an den 
Fall des Schusters L. (siehe vorher). Ueberhaupt scheinen die 
Leute, welche mit hartem Leder und Schuhwerk zu arbeiten 
haben, einer Berufsschadigung durch Einpressen der Messer 
in die Hohlhand leichter ausgesetzt. In jenem Falle war es dabei 
zu einer ausgesprochenen degenerativen Neuritis gekommen. 
Hier kann man — bei dem Fehlen aller Ausfallserscheinungen — 
nur von einer Perineuritis im Ulnaris sprechen. Die alte Schnitt- 
wunde hat mit der Erkrankung nichts zu tun. (Narben sind 
zudem nicht sichtbar gewesen.) 

(SehluB im nachsten Heft.) 


(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Koniglichen Charite. 
[Direktor: Geh. Med. Rat Prof. Dr. Ziehen.]) 

Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 

Von 

Dr. med. MAX ROHDE, 

Oberarzt im 7. Rheinischen Inf an terie-Regimen t No. 69, 
kommandiert zur Heilstfttte ftir Nervenkranke Hans Schdnow in Zehlendorf. 

(Fortsetzung.) 

Ich will hier nicht noch genauer darauf eingehen, vielmehr 
jetzt zunachst diejenigen Versuchsprotokolle besprechen, die ich 
in Fallen von 

Epilepsie 

in ihrer klaren Zeit aufgenommen habe. Auf die zahlreichen friiheren 
Ergebnisse von anderenUntersuchern hier einzugehen, kann ichwohl 
unterlassen, ich verweise speziell auf die eingehende Zusammen- 
stellung, die Rittershaus in seiner Arbeit „Zur psychologischen 
Differentialdiagnose der einzelnen Epilepsieformen“ gegeben hat. 
Ich werde im iibrigen darauf noch weiter zuriickkommen. 

Was die von mir untersuchten Epileptiker anbetrifft, so will 
ich zunachst 5 Falle von echter Epilepsie besprechen. 


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Rohde. Assoziationsvorgange l>ei Defektpsychosen. 


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Die erste dieser Kranken, die damals 44jahrige Frau Kr., 
die aeit 26 Jahren Anfalle hatte, — Demenz war klinisch sicher 
nachweisbar — erklarte, tun das gleich vorweg zu bemerken, auf 
diesbeziigliche Vorhaltungen stets: ,,Ich denk’ nur immer an das 
Wort, ich kann nicht anders, mir fallt nichts ein.“ Die Gedanken- 
leere trat in sehr deutlicher Weise immer wieder hervor, sehr 
charakteristisch war es auch, wie sie auf meine Zwischenbemerkung, 
sie brauche nicht immer zu erklaren, mir sagte: ,,Ich muB immer 
denken, was dasWort ist. Mein Kopf ist so leer, mir iallt nichts ein“. 
Sie, die friiher eine gute Schiilerin, in der Schule stets die erste 
war, liefert, um einige besonders charakteristische Reaktionen her- 
vorzuheben: 

No. 26. Gehirn—10.2"—- Gehirn .... ist ... . <>in Gegenstand. 

No. 27. Schlaf — 9.2“ -— Schlaf. Schlaf . . . ist . . . eine Zeit. 

No. 28. Verstand — 3,4“ — .... ist . . . auch ein Gegenstand. 

No. 29. Gewitter — 17,1" — . . Gewitter . . . ja . . .. das ist . . . 

das ist . . abwechselndes Wetter. 

No. 30. Himgrig — 4,3“ -—- hungrig . . . das ist ein sehlechtes 
Gefiihl. 

Neben der Gedankenleere tritt ein Ringen mit dem Worte 
hervor, schon in den genannten Reaktionen, besonders deutlich 
aber zusammen mit etwas Geziertheit in: 

No. 4. Siinde . . . ist eine, wie soli ich sagen. ich kanns nicht 
ausdriicken, eine Sache . . . die man nicht tun soli. 

Hierher gehort wohl auch 

No. 19. Armut ... ist eine Eigenschaft (vorher Stohnen). 

Sie ringt mit dem Worte, dabei kommt es auch zum Ver- 
sprechen, das als solches gar nicht empfunden wird, z. B. in 

No. 33. Krankheit ... ist eine Leidenschaft. Sie will wohl 
sagen Leiden, sagt aber Leidenschaft. Und dies Versprechen an 
dieser Stelle ist mir besonders wichtig, umso wichtiger, als es sicli 
um ein fur sie sehr stark gefiihlsbetontes Wort handelte. Sie war 
in depressiver Stimmungslage, ihre Gedanken waren dauernd von 
der Krankheit beherrscht. So reagierte sie bei dem erstmaligen 
Zuruf von Krankheit (No. 14) — ,,Krankheit“ kommt im Asso- 
ziationsprotokoll zweimal, in No. 14 und No. 33 vor—mit „Gegen- 
teil von Gesundheit; ich will ja selbst gesund werden, ich finde 
keinen Ausweg. Selber will ich mir das Leben nicht nehmen, 
und meinem Manne bin ich eine Last u. s. w.“ Auch im AnschluB 
an die schon genannte Reaktion No. 19 (Armut) folgte noch auf 
die Reaktion ,,ist eine Leidenschaft* 4 der Zusatz: ,,Ich stehe selbst 
so da, ich hab den Kopf nicht beisammen.“ So geben diese fiir sie 
sehr stark gefiihlsbetonten Worte das Leitmotiv ihres Denkens 
im Protokoll wieder. Erwahnt sei dabei, daB ihre stockende Sprache 
wohl auch mit beriicksichtigt werden muB: die Gedankenasso- 
ziation ist zugleich mit der motorischen Innervation gehemmt. 
Ihre negative Stimmungslage verschlechtert entschieden das 
Resultat, wie es ja bei dem Krankheitsbilde am deutliohsten hervor- 
tritt, das die negative Stimmungslage als ihr Charakteristikum 


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3S(i R o h d e , Assoziationsvorgange tx>i Defektpsychosen. 

hat, und bei dem a Is hochster Grad der Denkhemmung die Apathie 
infolge einseitiger Gefiihlsbetonung des Negativen sich zeigt, bei 
der Melancholie. Wahrend aber dort nur mechanisch-funktionelle 
Denkhemmung herrscht, ist hier Gedankenleere intolge Gedanken- 
verarmung als AusfluB der Demenz, wozu hier sekundar mehr 
auBerlich, wenn auch zugleich innerlich bedingt die Depression 
hinzukommt. Und dies mehr AuBerliche der Depression tritt darin 
hervor, daB nur die gefiihisbetonten Worte sie zeigen, wahrend 
bei anderen neutralen Reizworten die Depression selbst nicht her- 
vortritt, vielmehr eine Unfahigkeit bei erhaltenem Bemiihen. Sie 
zeigt eine geschraubte Redeweise neben der, so mochte ich sagen, 
pathologischen Erklarungstendenz, die alles andere erdriickt. 
Hierher gehoren auch 

No. 3. Wald — 3,4" — Wald ist eine mit Baumen bewachsene Erd- 
flache. 

No. 16. Kaiser — 4" — ist . . . wenn einer Hauptherr iin Land ist. 

No. 20. Uhr — 3,2" — Uhr . . . das ist ein zeitangebender Gegen- 
stand. 

No. 13. Recht — 5.1" — Recht. das 1st eine Sache, die man . . . 
eben . . . recht tut. 

No. 25. Hochzeit — 3,4" — Hochzeit . . . das ist eine gemiitliche 
Beisammenkunf t. 

Frau Kr. bietet das meines Erachtens sehr ausgesprochen, 
worauf Rittershaus das Hauptgewicht legt, ,,die spezifische Um- 
standlichkeit, die Erschwerung der Wortfindung, die sprachlichen 
Entgleisungen, namentlich beim Kleben an einer Ausdrucksform.“ 

In anderer Weise auBert sich die Gedankenleere bei der 
30 jahrigen Patientin Mes. Hier iiberwiegt die debile Einkleidungs- 
form: Bildung Ton ganzen Satzen, Ueberfuhren des Substantivs 
ins Adjektiv und dergleichen. Bei 10 von 30 Reaktionen — wenn 
ich die 6 Wiederholungsreizworte nicht mit einbeziehe — reagiert 
sie mit einer einfachen Wiederholung unter Zusatz des stereotypen 
,,der Mensch“. 

Siinde — 4,3" — Siinde, das tut der Mensch. 

Tod — 3" — tot ist der Mensch. 

Schon — 12“ — schon . . . der Mensch ist schon. 

Schlecht — 5" — der Mensch ist schlecht u. s. w. 

Am deutlichsten aber tritt diese Gedankenleere, die sich in 
dieser Perseveration der Assoziationsform auBert, doch wohl her¬ 
vor in 

24. schmerzhaft — 3" . . . Die Menschen! Hier bleibt es 
dabei, es folgt keine weitere Reaktion. Nur ganz vereinzelt treten 
entsprechend dieser Gedankenleere Individualassoziationen hervor, 
und diese wenigen erinnerungsbestimmten Assoziationen stehen 
stets in Beziehung zu dem ,,Ich“ und stehen weiter untereinander 
in Beziehung, gewissermaBen als erotischer Komplex. Ich fiihre 
diese Reaktionen an: 

No. 18. Lieben — 2" — die Menschen lieben sich untereinander. 

No. 7. Tanzen — 1,3" — tanzen ist ein Vergniigen. Sonntag war 
mein Schatz und ich in den Brunnensalen. da hab ich mich amiisiert. be- 
sonders als wir nachher allein waren. 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


387 


No. 22. Stock — 2,4“ — der Herr hatte einen Stock in der Hand. 
A. B.: ,,Der Schatz. Sein Stock ist dunkelbraun.“ 

No. 25. Hochzeit — 1,4“ — Hochzeit, das ist eine Feier. An die 
Schauspielerin gedacht, ..die bei uns wohnt, die will bald Hochzeit machen, 
und ich nicht!“ 

Die einzige andere Individualassoziation ist noch 

No. 17. Rot — 2,2“ — rot ist die Farbe (ihres Kleides). 

Die Einkleidung in „der Mensch ist“ tritt auch bei der 
Patienbin Dry. (23 Jahre alt; Debilitat, puberale Epilepsie, mit 
Dementia epileptica incip.) haufig hervor, in 17 von 30 Reaktionen 
in derselben Weise wie bei Mes. oder in der Weise, daB sie statt 
,,der Mensch ist“ die Form: ,,viele sind“ wahlt. Sonst liefert sie 
meist die Ueberfiihrung des Hauptwortes in das Verbum, iibersetzt 
auch 1 mal das Reizwort ins Polnische. Ein fiir sie stark gefiihlsbe- 
tontes Wort ist ,,rot“ als ihre Lieblingsfarbe, trotzdem findetsienur 
die Reaktion ,,No. 17 rot — 5,1" — rot ist . . . ja, das ist, wenn 
man schon ist“, und bei der Wiederholung desselben Reizwortes: 

No. 32 rot — 4" — rot — ja, wie soil ich da sagen, rot ist...., 
rote Schiirzen und Rocke hab ich. 

Die einzigen weitergehenden Reaktionen sind: 

No. 8 stinkend — 12,1" — stinkend ist, ja, wenn der Kase 
stinkt und 

No. 26 Gehim — 3" — Das ist . . . das sind Nerven. 

Dem Protokoll der Frau Kr. sehr nahe kommt in mancher 
Hinsicht, wenn es auch nicht ganz so diirftig ist, das des 30 jahrigen 
Patienten Gr. Dieses zeigt wiederum sehr deuthch den Erklarungs- 
typ gepaart mit einer sehr ausgesprochenen Umstandlichkeit und 
Ohnmacht seine Gedanken in Worte zu kleiden; er ringt mit dem 
Worte, gibt weitschweifige gesuchte Erklarungen, die in mancher 
Hinsicht — wenn sie auch sinnvoller sind — an die sinnlosen Wort- 
zusammensetzungen des Hebephrenikers erixmem. Ich hebe hervor: 

No. 3. Wald —- 8,1“ -— Wald, das ist ein vielfaltiger Baumbestand, 
A. B.: Zuerst wollte ich Baume sagen, aber ich wollte es allgemeiner haben 
(was meines Erachtens das Suchen nach dem Ansdruck und das Bemiihen 
sehr deutlich charakterisiert). 

No. 14. Krankheit — 3“ — Krankheit. das ist ein schlechter Zustand 
des Menschen. 

No. 15. SuB — 2,3“ — suB, ja, suB, das ist ein wohlschmeckender 
GenuB. 

No. 16. Kaiser — 2,4“ — Kaiser, der ist unser Kronenhaupt. 

No. 18. Lieben — 3,4“ — lieben, das ist ein erfreuliches. ein schones, 
ein angenehmes Zusammensein. 

No. 20. Uhr — 2,4“ — Uhr, das ist das zeitangebende Instrument, 
das die Zeit zeigt. 

No. 21. Zwolf — 3,3“ -— zwolf ist, so mochte ich sagen, die Zeit, die 
die mittagliche Essenszeit ist. 

No. 22. Stock — 3,1“ — Stock, das ist ein Instrument. 

Hier wirkt meines Erachtens in No. 21 und 22 deutlich die 
Reaktion von No. 20 nach. 

No. 25. Hochzeit — 3“ — Hochzeit, das ist die Feier von 2 Menschen. 

No. 26. Gehim — 4.2“ — Gehirn, das ist der Hauptherd, in welchem 
das BewuBtsein ist. 


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388 


K o h d e , Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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No. 28. Verstand — 3,3“ — das 1st das. was der Mensch, was die 
Menschen, ja . . . ja. das ist des Menschen Begriffsvermogen. 

Ich bemerke, daB in jedem Fall die AnschluBfrage gestellt ist, 
daB doiffc, wo ich nichts weiter bemerke, die Reaktion stets nicht 
erinnerungsbestimmt ist. Auch alle anderen Reaktionen sind Er- 
klarungen, zum Teil in der Weise wie 

Zu No. 12. Schlecht — 2,4" — schlecht ist, wenn jeinand schlecht 
ist, oder 

No. 24. Schmerzhaft — 3“ — schmerzhaft, das ist ein Gefiihl, was 
Schmerzen bereitet u. s. w. 

Etwas weitergehend allein sind die 3 Subsumptionen, wie 
Wreschner diejenigen Reaktionen nennt, bei denen der tiber- 
geordnete, der hohere Begriff zum Reizwort gegeben wird: 

No. 10. Sonne — 3" — das ist ein Fixstem der Erde. 

No. 2. Schlange — 3,4" — Schlange ist ein Reptil. 

No. 1. Fisch — 5" — das ist ein im Wasser lebendes Geschopf. 

Die AnschluBfrage ergab eine Mitwirkung des Schulwissens 
hierbei. 

Aehnlich verhalt sich ein 3 Tage spater aufgenommenes 
Protokoll, indessen tritt hier die geschraubte Redeweise entschieden 
etwas zuriick, ich glaube, vielleicht weil sie die Versuche jetzt schon 
kannte. Doch ist sie immer noch recht ausgesprochen. Die 
Reaktionen sind im ganzen etwas kiirzer, entsprechen sonst in- 
haltlich denen von V v Hervorheben will ich hiervon noch 

No. 20. Armut — 4“ — Armut ist nichts Besitzendes. 

Das Protokoll des 14 jahrigen Knaben Greg, (friihpuberale 
Epilepsie mit leichtem Defekt, trotz seiner 14 Jahre noch Schuler 
der III. Klasse einer Gemeindeschule) zeigt noch sehr deutlich den 
EinfluB der Schule in der rein grammatikalischen Form der Ein- 
kleidung und erinnert an ein spater noch zu besprechendes Protokoll 
eines Lehrers, worauf ich dort noch zuriickkomme. Er denkt gleich- 
sam stets an Satze aus seinem Lesebuche und reagiert mit diesen 
auf die Reizworte. Er zeigt das — zum Teil hier vielleicht auf 
physiologischer Grundlage als AusfluB seines Schiilerberufs —, was 
Fuhrmann bei seinem 2. Fall hervorhebt: ,,Auch in der auBer- 
ordentlichen Gleichformigkeit in der grammatikalischen Fassung 

der meisten Reaktionen.zeigt sich die stark beschrankte 

Assoziationsfahigkeit unserer Versuchsperson; fast alle diese 
Reaktionen sind weiter nichts als Satzbildungen, in denen das Reiz¬ 
wort als Subjekt oder Objekt mit ,ist\ ,hat‘, ,bekommt‘ und 
anderen trivialen Zeitwortern verarbeitet wird, wie in einer Schiiler- 
aufgabe aus der deutschen Grammatik.“ Diese Reaktionen ver- 
langen bei Greg eine zum Teil recht lange Reaktionszeit. was 
namentlich bei den abstrakten Reizworten hervortritt. Ich will 
nicht zu weitschweifig werden und daher nur einige Beispiele an- 
f iihren: 

No. 8. Stinkend — 4,1" — das Ei ist stinkend. 

No. 9. Gift — 3.2" — das Gift ist gefahrlich. 

No. 10. Sonne — 3.1" — die Sonnenstrahlen scheinen hell in die 
Stube. 


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R o h cl e , Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


389 


No. 16. Kaiser — 11.1“ — Vnser Kaiser hat ein SchloB in Potsdani. 

No. 17. Rot — 2,1“ — der Himmel war rot wie Feuer. (Geschichte 
aus Lesebuch.) 

No. 30. Hungrig — 8,1“ — das Madchen war so hungrig, daB es 
zusammenbrach (Geschichte aus Lesebuch). 

Bei No. 13 Recht, bei No. 24 schmerzhaft und bei No. 28 
Verstand sagte er nach 1 Minute: ,,Mir fallt nichts ein“. Irgend- 
welche gefiihlsbetonten Reaktionen waren nicht vorhergegangen. 
Er liefert einige Individualassoziationen, die in der iiblichen Form 
sich um seine Schwester, an der er sehr hing, und um seine Freunde 
drehten, diese bezieht er aucli in die Reaktionen selbst ein, wie 
z. B. in 

,,No. 12 schlecht — 40,2“ — meiner Schwester war gestem 
schlecht“, was er gar nicht wissen konnte, da er sie nicht gesehen 
hatte. Es ist also eine Verlegenheits-, eine Fiillreaktion. 

Weitergehend ist wohl nur ,,No. 19 Armut — 7,1“ — In 
manchem Hause in Messina herrscht jetzt Armut - ', wobei ich es 
aber auch noch unentschieden lassen will, ob das nicht auch Schul- 
wissen war. In der Zeit der Versuche war, soweit ich mich entsinne, 
gerade jenes Ungliick gewesen. 

Das Fortleben eines Klangbildes zeigen deutlich No. 6 und 7: 

No. 6. Schon — 3,4“ — Der Wald ist schon. 

No. 7. Tanzen — 7,1" — Der Wal = (hier folgt eine langere 
Pause) zertanz ist schon. 

Diese fiinf geschilderten Falle zeigen ein sehr ahnliches Bild. 
Ich hebe als besonders charakteristisch hervor das Ringen mit 
dem Worte, die Erklarungstendenz gepaart mit Umstandhchkeit, 
die ja auch schon Wimmer als typisch fiir Dementia epileptica 
hervorhebt, Gedankenleere, demnach Satzform, Neigung' zu 
Satzen mit ,,Wenn“ und ,,Der Mensch ist“, Kleben an der gewahlten 
Reaktionsart, Verlangerung der Reaktionszeit mit Neigung zu 
Schwankungen. 

Ein erheblich anderes Bild hefem die Protokolle von vier 
anderen Epileptikern, die ich untersuchte und von denen zwei 
Alkoholepileptiker waxen und die anderen zwei Epileptiker ohne 
besonderen Defekt. 

Den geschilderten fiinf echten Epileptikern am nachsten kommt 
das Protokoll des Patienten Riid., der 60 Jahre alt war und 
einen Tag vor Aufnahme des Protokolls aus einem Dammerzustand 
erwacht war. Auch er gebraucht in jedem Falle die Satzform, auch 
er sucht nach der Reaktion, wie es sich in dem stets erfolgenden 
Wiederholen des Reizwortes und dem Auftreten einer Pause vor der 
eigentlichen Reaktion zeigt, auch reagiert er etwas umstandlich, 
zum Teil wohl auch gesucht mit leichtem Anklang ans Phrasenhafte, 
aber es ist doch nicht das Ringen mit dem Worte, das unvollkommen 
gelange, jedenfalls gelingt es ihm besser wie den 5 anderen Fallen. 
Und so ist das Bild, wenn es sich diesen auch nahert, doch weniger 
ausgesprochen. Ich hebe von diesen etwas gesuchten Reaktionen 
hervor: 


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Rohde, Assozirttionsvorgange bei Defektpsychosen. 


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No. 17. Brot — 3.4“ — Brot ist Lebensnahrung. 

No. 26. Gehirn — 4,4“ — Gehim gibt uns das Verstandnis aller 
Dinge, femer 

No. 29. Gewitter — 3,2“ —- Gewitter bringt Segen, weil durch den 
Regen die Erde befruchtet wird. 

Diese Reaktionen sind aber doch recht gute. Die einzige Ver- 
bildung ist 

No. 22. Stock — 5“ — Stock, der ist zum Stocken. 

Es klingt aus vielen seiner Reaktionen die Resignation, die 
Erfahrung des Alters hervor, z. B.: 

No. 14. Krankheit — 4,1“ — Krankheit ist doch ein trauriges Los 
(„an meine Krankheiten muB ich denken 44 ). 

No. 18. Lieben — 3,2“ — lieben ist besser denn hassen (,,das weiB 
ich aus Erfahrung 4 ‘). 

No. 19. Armut — 4,4“ — Armut ist ein trauriges Los der Menschheit. 
(,,Das habe ich in meinem Leben genug kennen gelernt 44 .) 

No. 5. Tod — 4,4“ — Tod ist die Erlosung des irdischen Lebens. 
A. B.: „Ich wollte, ich ware auch tot, denn wenn man soviel Schweres erlebt 
hat, da sehnt man sich nach der Ruhe. 

Diese Reaktion wirkt nach, und so folgen auf dieselbe 3 gleich- 
giltige mit auffallend gesteigerter Reaktionszeit, namlich als 
,,Deckreaktionen“: 

No. 6. Schon — 9,5“ — schon ist nicht haBlich. 

No. 7. Tanzen — 9“ — tanzen macht lustig (a. B.: ..Ich habe nie in 
meinem Leben getanzt 44 ). 

No. 8. Stinkend — 21,1“ — Was stinkt. kann nicht wohlriechen. 

Nach dieser besonders langen Reaktionszeit scheidet der durch 
das fur ihn stark gefxihlsbetonte „Tod“ ausgeloste Komplex 
aus, es folgen nun wieder durchweg die gewohnlichen Reaktions- 
zeiten von etwa 3". 

Was sonst seine Reaktionsform anbetrifft, so sprach ich schon 
davon, daB er stets die Satzform gebraucht. Diese Satze klingen 
aber anders und sind hoherstehend wie z. B. bei Greg, sie klingen 
fast etwa wie Lebensweisheiten. Ich fiige zur Erlauterung einige 
Beispiele an. Ihnen entspricht das iibrige Protokoll: 

No. 26. Schlaf — 3,2“ — der Schlaf erquickt die Glieder. 

No. 27. Verstand — 4,1“ — Verstand ist besser denn Dummheit. 

No. 29. Himgrig — 7,1 — Hunger bringt bose Stunden (an sich 
selbst gedacht). 

Hier wirkt diese Reaktion nicht nach. Wenigstens folgen keine 
Anderungen der Reaktionszeit, wenn auch die Reaktionen an sich 
gerade danach recht oberflachlich sind: 

No. 30. Fisch — 3,1“ — der Fisch bewegt sich im Wasser. 

No. 31. Rot — 3,1“ — rot ist eine Farbe. 

No. 32. Krankheit — 3,3“ — Krankheit bringt Traurigkeit u. s. w. 

Die erinnerungsbestimmten Reaktionen kniipfen meist an das 
,,Ich“, und zwar speziell an das Ungliick des Patienten an. 

Riid. selbst zeigte auch nicht den leistesten Defekt, hatte auch 
nur relativ wenig Krampfanfalle gehabt, die stets in der Zeit des 
Ungliicks oder der Krankheit auftraten. Er hatte eine schwere 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Chorioretinitis, an der er jahrelang behandelt war, hatte viel Un- 
gliick, Enttauschungen iiberstanden, hatte alle moglichen Krank- 
heiten durchgemacht, so vor allem vor Jahren eine Apoplexie, da- 
her mochte ich diesenFall doch, trotz mancher gemeinsamenPunkte 
mit den echten Epilepsiefallen, ihnen nicht ohne weiteres zurechnen. 
Das Protokoll unterscheidet sich meines Erachtens doch recht er- 
heblich von jenen. Vielmehr fasse ich den Fall einerseits als dem 
Gebiete der Affektepilepsie nahestehend, andererseits mehr als 
symptomatische Epilepsie auf dem Boden einer Arteriosklerose auf, 
und schiebe manche Punkte, die das Protokoll inhaltlich herab- 
driicken, dem Senium zu. Ziehen hebt fiir das Senium hervor die 
egozentrische Einengung des Gefiihlslebens, das Aufhoren der 
Produktivitat der Ideenassoziation. So wiirde sich das zwanglos 
erklaren, was im Sinne eines Defekts hier erscheint. 

Auch der Patient Sann. weicht in seinem Versuchsprotokoll 
von den 5 erstgeschilderten Epilepsieprotokollen ab, speziell in- 
sofem, als auch hier nicht die Satzform, sondem die einfache 
Wortreaktion die gewohnliche ist. Ich halte das fiir auffallend. 
Klinisch lieB sich kein Defekt im Sinne einer Demenz nachweisen, 
wohl aber bestand eine Debilitat bei ihm, zu der allgemeinere 
nervbse Storungen (schlechter Schlaf, Mattigkeit, vasomotorische 
Erscheinungen) neben Neigung zu Jahzom hinzukamen. So bot et^ 
das Bild des Neurasthenikers, hatte aber auch sichere epileptische 
Krampfanfalle. 

Das Protokoll selbst zeigt durchweg verlangerte Reaktions- 
zeiten, die bei abstrakten Reizworten besonders hervortreten. So 
reagierte er bei 

No. 5. Tod nach 28,1" mit ,,Ich weiB da nichts“, bei 

No. 28. Verstand — 25" — mit ,,guter Verstand“. 

Hierher gehort wohl auch 

No. 33. Krankheit — 12,1" — wenn man miide ist. 

Diese 3 Reaktionen haben, abgesehen von No. 17, von der ich 
noch sprechen werde, als einzige eine Reaktionszeit iiber 12". Bei 
den iibrigen schwankt sie zwischen 1,4" und 11,3". 

Individualassoziationen sind relativ oft vorhanden, namlich 
12 mal, aber wo sie aufgetreten sind, sind sie meist diirftig und dem 
Schnlwissen entnommen, oder es sind Reaktionen, in denen sich 
das Ich zusammen mit dem gegenwartigen Zustand widerspiegelt. 

Schon die erwahnte Reaktion 

No. 33. Krankheit — wenn man miide ist (an sich gedacht) 
gehort zu diesen letzteren, ferner 

No. 12. Schlecht — 5,1" — wenn mir schlecht ist, hab ich 
Kopfschmerzen und muB mich iibergeben (war gestem der Fall). 

Eine Andeutung des Hinredens, auch wohl der Paralogie bietet 
No. 17 rot (wo er statt dessen Brot verstand) — 13“ — Siinde. 
Woran gedacht?] An das Sprichwort: ,,Das Brot ist der Siinde 
Sold.“ Diese Reaktion ist meines Erachtens insofem interessant, 
als sie zeigt, wie die eigentliche Reaktion auf ,,Brot“, namlich die 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Klangassoziation ,,Tod“ latent bleibt. An diese kniipft das bekannte 
Sprichwort an, in diesem aber wird Tod wieder durch das Reizwort 
ersetzt. 

Scheinbar weitgehend ist No. 27. Schlaf — 6,4“ — Bild des 
Todes. Aber die Anschlufifrage zeigt, daB es sich doch nur um 
eine oberflachliche Assoziation handelt, denn: ,,So steht es in 
meinem Lesebuche.“ 

Ich fiihre die ersten Reaktionen an: 

No. 1. Fisch — 1.4“ — sehwimmen. 

No. 2. Schlange — 7.1“ — wenn die Schlange kriecht (im Berliner 
Aquarium). 

No. 3. Wald — 4.1“ — grune Baume. 

No. 4. Siinde — 6.4“ — Siinde. 

No. 5. Tod — 28,1“ — weiC ich nichts. 

No. 6. Schon — 10.2“ — Der Topf. 

No. 7. Tanzen — 8.2“ — schoner Tanz. 

No. 8. Stinkend — 10.2“ — stinkend. 

No. 9. Gift — 6.1“ — Lysol. 

No. 10. Sonne — 3.1“ — die brennt (an sein Brennglas gedacht). 

So ist das ganze Protokoll. Es zeigt entschieden einen ziemlich 
weitgehenden Defekt, einen geistigen Tiefstand, es zeigt Schwan- 
kungen der Reaktionszeit, Oberflachlichkeit der Reaktionen, Ein- 
engung des Gedankenkreises, Egozentrizitat. Es weicht insofem 
aber von den anderen Epilepsieprotokollen ab, als es weder ein 
deutliches Ringen mit dem Worte noch die Erklarungstendenz 
zeigt, die man um so mehr erwarten sollte, als es sich zugleich um 
Debilitat handelte. Auch die einfachen Wortwiederholungen sind 
auffallend. Es klingt dies Protokoll mehr an die hebephrenen 
Protokolle an, zeigt jedenfalls nichts sicher Epileptisches. Es 
bestanden die Krampfe erst kurze Zeit, eine epileptische Charakter- 
veranderung war nicht nachzuweiseu, auch fehlte noch jede 
epileptische Demenz; ich finde dies Protokoll sehr auffallend und 
mochte fast annehmen, daB irgendein anderer, vielleicht noch 
iatenter ProzeB das Bild komplizierter macht, als es klinisch sich 
deuten lieB. Sann. war 21 Jahre alt. 

Es bleibt noch die Besprechung der beiden Versuchsprotokolle 
mit Alkoholepileptikern iibrig. 

An dem Protokoll des Patienten Fisch. fallt zunachst auf, daB 
er ofters Reaktionen liefert, die garnicht seinem Vorstellen ent- 
sprechen. Angedeutet war das schon bei dem Patienten Gom. 
Dammerzustand, Alkoholepilepsie), von dem ich schon sprach, 
speziell in der Reaktion No. 2 (siehe dort). Hier bei Fisch. ist das 
viel ausgesprochemr. Dies Dahinreden wird erst deutlich durch die 
Anschlufifrage, bei der er dann zugab; er habe das bloB so hin- 
gesagt. Ich hebe z. B. hervor: 

No. 7. Tanzen — 3,1“ — Tanzen ist mein Vergniigen (tanzt 
^elbi-t gar nicht), 
femer 

No. 4. Siinde — 2,2“ — Diebstahl hab ich schon ofters ge- 
maclit. 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Auf Befragen: ,,Ach wo, das hab ich blofi so gesagt.“ 

Diesem ,,Nursohinsagen“ entsprechen dann auch relativ 
kurze Reaktionszeiten, als hochste 7,1", in der Regel bewegen 
sie sich zwischen 1" und 3". Weshalb er so rasch antwortet, geht 
aus der Antwort auf die von mir gestellte Frage, was die Probe 
wohl fur einen Zweck gehabt habe, hervor. „Sie wollten sehen, 
wie schnell ich iiberlegen kann, sonst hatten Sie nicht so mit der 
Uhr geknipst.“ So sind auch diese durch bloBes Hinreden ent- 
standenen Reaktionen keine eigentlichen Deckreaktionen im Sinne 
Ricklins, wie er sie bei der Hysterie fand, daB sie namlich das Auf- 
treten starker Gefiihlstone verbergen, hier erfolgen sie vielmehr als 
AusfluB des eben genannten Leitmotivs. Diesem Leitmotiv ent- 
spricht denn auch wieder das Vordrangen des Erklarungstyps, 
der in den ersten 10 Reaktionen nur vereinzelt hervortritt, in den 
weiteren aber fast durchgangig sich zeigt. So fasse ich hier die an 
sich ganz gleiche Form („ist, wenn“ u. s. w.) doch etwas anders auf 
als bei dem Schwachsinn und der echten Epilepsie schlechthin. Bei 
diesen ist es Fiillreaktion, hier Schnellreaktion, bei beiden aber 
eine primitive Form der Reaktion. Wahrend sie beim Schwachsinn 
und der echten Epilepsie aus dem unbewuBten Leitmotiv eintritt: 
„Ich muB erklaren“, tritt sie hier ein aus demselben Grunde, vor 
allem aber doch wohl als unbewuBter AusfluB des Leitmotivs, 
moglichst schneU etwas zu sagen, und so kommt dort die Reaktion 
zustande in langer Reaktionszeit bei Gedankenleere, hier bei kurzer 
Reaktionszeit, weil die vorgefaBte Meinung weitere Assoziationen 
hintertreibt. So ist mir hier die Erklarungstendenz ein AusfluB des 
Leitmotivs, das selbst zwischendurch eingeschaltete Mahnungen, 
zu erklaren sei nicht notig, fruchtlos macht. Beim Schwachsinn 
prallen sie ab, weil nichts anderes da ist, hier zunachst jedenfalls, 
weil nichts anderes aufkommen kann. So ist es mit der Erklarungs¬ 
tendenz wie mit dem Droschkengaul, der mechanisch den einmal 
eingeschlagenen Weg heruntertrabt, auch ohne Mitwirkung des 
Kutschers. So ist bei dem Schwachsinn schlechthin und hier diesem 
Alkoholepileptiker das sprachliche und inhaltliche Resultat das 
gleiche, nur die Lange der Reaktionszeit ist das Verschiedene. Da- 
her ist es bei diesem Protokoll schwer zu entscheiden, wie eigentlich 
die Assoziationsfahigkeit ist, diese Priifungsmoglichkeit ist durch 
den Leitgedanken hintertrieben oder doch erschwert. Und so kann 
ich dies Protokoll nur schlecbt mit den anderen in Parallele setzen. 
Andererseits aber ist das erwahnte Hinreden doch ein Zeichen 
eines gewissen Defekts, zumal doch die Zeiten bis 7" fiir relativ 
primitive Reaktionen immerhin noch als nicht besonders kurz 
gelten miissen. 

Ich will mich bei diesem Protokoll aus den obigen Griinden 
kurz fassen und fiihre als Beispiele an: 

No. 13. Recht — 3" ■— Recht ist Richtiges, was man tun soli. 

No. 14. Krankheit — 2,3“ — Krankheit ist, wenn der Mensch 
unpa&lich ist. 

Honatasohrift f. Psychiatrie u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 5. 26 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Do. 15. SuC — 3,1" — suB ein angenehmer Geschmack. 

No. 16. Kaiser — 2,1" — Kaiser ist ein Herrscher. 

No. 17. Rot — 1,2" — rot ist ne Farbe. 

No. 18. Lieben — 2,4" — lieben ist gut sein u. s. w. 

Diese letzte Reaktion ist insofem ganz interessant, als er be ; 
der AnschluBfrage angibt, ,,an seine Frau, Vogel, Katzen und 
Mause“, die er liebe, gedacht zu haben. Ich meine, daB diese 
Wendung eine fur den Alkoholiker typische ist, wenn sie hier auch 
sicher wohl nur als AusfluB des Hinreden-, nicht der Empfindung 
vorgebracht wird. 

Es fehlen die inbaltlichen Assoziationen, einmal infolge des 
Leitmotivs, dann aber wohl auch entsprechend dem, was als 
charakteristisch fur die Alkoholintoxikation gilt und was ich aus der 
Zusammenstellung von Richter hier ubernehme: Die Zuverlassigkeit 
der Auffassung wird geschadigt, die Zahl der inhaltlichen Asso¬ 
ziationen nimmt ab, die Selbstkritik leidet in hohem MaBe.“ Und 
wenn Richter auch eineNeigung zu vorschnellenBewegungen hervor- 
hebt, so mochte ich das hier bei Fisch. auf das sprachliche Gebiet 
iibertragen und die vorschnellen ohne Selbstkritik vorgebrachten 
sprachlichen Darbietungen hierher rechnen. 

Auch der andere Alkoholepileptiker Fri. zeigt diese Ober- 
flachlichkeit. Ihm fehlen vollig die Individualassoziationen, er 
liefert einfache Wort-, nie Satzreaktionen und neigt sehr zu Gegen- 
teils- und Erganzungsreaktionen, besonders im Anklang an gelaufige 
Redewendungen. 

Ich fuhre als Beispiele an: 

No. 3. Wald — 3" — Wald, Feld. 

No. 4. Siinde — 2" — Schande. 

No. 5. Tod — 2,1" — Leben. 

No. 6. Schon — 4,1" — schlecht. 

No. 7. Tanzen — 7,1" — tanzen, Vergnugen. 

No. 8. Stinkend — 2,3" — riechend. 

No. 9. Gift — 20,1" — Gift, Gift-Pulver. 

No. 10. Sonne — 0,8" — Sonne, Mond. 

No. 11. Professor — 2,1" — Doktor. 

No. 12. Schlecht — 1" — gut u. s. w. 

Die Reaktionszeiten sind durchweg kurz. Lange Reaktions- 
zeiten finden sich nur bei den beiden ersten Reaktionen, wo das 
Ungewohnte des Versuchs noch hemmend wirkt: 

No. 1. Fisch — 15,1" — Vogel. 

No. 2. Schlange — 10,2" — Reptl. 
femer in der erwahnten Reaktion 

No. 9 und bei 

No. 21. Zwolf — 14.3" — da kann ich nichts sagen. Sonst 
bietet dies Protokoll nichts Besonderes. 

Es scheint mir — allerdings ist das nur eine wenig gestutzte 
Vermutung —, daB der chronische Alkoholismus entsprechend einer 
durch denselben gesetzten Hast und Unruhe auch bei den Asso- 
ziationsversuchen zur Schnelligkeit drangt und dadurch die 
epileptische Reaktionsart mehr unterdruckt. Es ist einmal Euphorie 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 395 

zusammen mit Hast und andererseits Epilepsie, das erstere aber 
iiberwiegt, so kann die Umstandlichkeit sich nicht geltend machen; 
statt dessen macht sich bei meinen 3 Fallen von Alkoholepilepsie 
der Hast entsprechend das Vordrangen rein formaler Assoziat'onen 
geltend, im Gegensatz zu den Protokollen der echten Epilepsie. 

Damit komme ich zu den Versuchen, die ich mit an 

Dementia paralytica 

leidenden Kranken angestellt habe. 

Ein relativ gutes Resultat lieferte der Patient Blum. Es handelte 
sich hier um einen beginnenden Fall, bei dem sich klinisch noch kein 
Defekt nachweisen lieB. Dieser ergab sich vielmehr erst durch 
spezielle Untersuchungen und aus der Anamnese. Dementsprechend 
macht sich auch im Assoziationsprotokoll der Defekt nur wenig 
geltend, indessen findet sich doch auch hier bereits Manches, was 
so zu deuten ist. Die Reaktionszeiten sind — um das gleich vorweg 
zu nehmen — in keiner Weise verlangert, sie schwanken zwischen 
1,2“ und 4". Dafiir aber tritt hier die Definitionstendenz hervor 
oder richtiger noch das Bestreben, als Reaktion einen anderen Aus- 
druck fur das Reizwort zu finden. Auch bei ihm tritt auf Vorhalt. 
wie bei manchen schon geschilderten Fallen, immer wieder die An- 
gabe herVor: ,,Ich kann nicht anders, ich muB erklaren“, so z. B. in 
,,Gehirn — 4,1“ —. Ich kann nicht definieren, was Kopf ist.“ Hier ist 
de facto mit Kopf reagiert, die tatsacMich erfolgte Reaktion aber 
wird ihm nicht bewuBt infolge der Zielvorstellimg. Diese hindert 
natiirlich auch das Auftreten vollwertiger Reaktionen. Andererseits 
liefert er auch mehrfach Reaktionen, bei denen ein sprachliches 
Bindeglied unterdriickt ist, hierher gehort z. B. No. 33, Krank- 
heit 2,1". Das bin ich (Bindeglied = krank); interessant ist dann 

Recht — 5" — diirre Worte. 

A. B.: „Ich kann’s nicht mit diirren Worten sagen.“ Auch 
hier will er erklaren, aber zur Definition abstrakter Begriffe reicht 
seine Denkfahigkeit nicht mehr aus, so erfolgt eine allgemeine 
Redewendung. So ist hier die Phantasietatigkeit, die Assoziations- 
tatigkeit auBer Uebung gesetzt, sie schlaft ein infolge der Ziel- 
vorstellung, der Definitionstendenz. Es ist dies ein beginnender 
Fall, anders ist es meines Erachtens bei vorgeschritteneren Fallen. 
Bei diesen ist die als Einleitung auftretende Erklarungstendenz 
in das Stadium iibergegangen, wo alle im Anfangsstadium etwa 
vorhandenen Reaktionen fehlen und nur die Definitionstendenz 
als Ueberrest zuriickgeblieben ist. Blum, sucht fiir das Reizwort 
vielfach einen anderen Ausdruck, und dabei kommen relativ oft 
ungeschickte Wortbildungen vor, die in mancher Hinsicht den bei 
der Epilepsie geschilderten nahestehen. Ich fiihte hier an: 

No. 9. Gift — 2“ — totend wirkend. 

No. 16. Kaiser — 2 " — hochste Person des Reichs. 

No. 20. Uhr — 1,2“ — Gehwerk. 

No. 26. Gehim — 7,1 — Gedankenwerkzeugsmaschine. 

No. 28. Verstand — 2“ — Gedankenwerkzeug. 

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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsy chosen. 


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Es ist sonst wenig aus dem Protokoll von Blum, zu bemerken- 

Weit ausgesprochener ist die Gedankenleere schon bei dem 
Patienten Bri. (Dementia paralytica juvenilis). Hier tritt der 
Defekt in Inhalt und Ausdnicksweise sehr deutlich hervor. 

Als Beispiele fiihre ich an: 

No. 1. Fisch — 2,2“ — im Wasser. 

No. 2. Schlange — 9“ — Schlange ist schlank. 

No. 3. Wald — 4“ — griiner Wald (angeblich an Grunewald gedacht). 

No. 4. Siinde — 11“ — wie soil ich das verstehen, ich denk mir nichts. 

No. 5. Tod — 2,1“ — ist der Mensch tot. 

No. 6. Schon — 7“ — schon ist es. 

No. 7. Tanzen — 3,1 “ — tanzen ist schon. 

No. 8. Stinkend — 6,1“ — was soil das sein ? 

No. 9. Gift — 4,1" — denn vergiftet man sich. 

No. 10. Sonne — 2,3“ — schon. 

No. 11. Professor — 2“ — ist ein Mann. 

No. 12. Schlecht — 2,4“ — schlecht. 

No. 13. Recht — 3“ — Recht u. s. w. 

In den folgenden Reaktionen macht sich relativ haufig die 
Wennform geltend. 

Das Protokoll bei einer Vemehmung 3 Tage spater, am 
4. IV., ist etwas anders. Es handelte sich um eine deprimierte 
Paralyse. Die Depression hatte inzwischen etwas zugenommen, 
und beeinfluBt die Reaktionen. Zunachst reagiert er meist mit 
einzelnen Worten, nur die in diese Stimmung passenden Reizworte 
losen meist Satze oder langere Wortreihen aus, z. B.: 

No. 5. Tod — 3,4“ — blafl. ,.Als meine Mutter vor 2 Jahren starb, 
sah sie so aus.“ 

No. 9. Gift — 8,1“ — manche vergiftet. „An mich gedacht, ich 
wollte mich mit Lysol vergiften. Ich war 13 Jahre alt, ich war da so un- 
gliicklich, bins auch heute noch.“ 

No. 13. Recht — 4,1“ — derjenige, der recht hat. ,,Ich habe dfters 
recht und kriege unrecht, zu Hause, iiberall.“ 

No. 17. Rot — 5,1“ — rote Rose (angeblich ans Grab der Mutter 
gedacht). 

No. 19. Armut — 8.2“ — arm bin ich. 

Dabei fehlte jede eigentliche Gefuhlsbedeutung, er reagierte 
dabei mehr gleichgiiltig. Auch er zeigte deutliche Egozentrizitat. 

In weit hoherem MaBe ist dies der Fall bei dem Patienten Zu., 
und zwar insofem, als er mcht nur als Reaktion sagt, was er ist, was 
er fiihlt, sondem auch das, was er nicht fiihlt, z. B. 

No. 30 hungrig — 4° — ich bin nicht hungrig. Die Reaktions- 
liste zeigt neben dieser Egozentrizitat eine nur zum Teil dadurch 
bedingte Einengung des Gedankenkreises und lange Reaktionszeiten 
Er zeigt den Versuch nachzudenken, aber der Versuch miBlingt r 
weil nichts da ist. Das Ausfiillen von Liicken, das bloBe Hingerede 
geben z. B. No. 8, stinkend — 33,3“ — dieser Baum. Auf Befragen: 
der Baum stinkt doch. 

Femer: 

No. 24. schmerzhaft — 8“ — mein FuB schmerzt (r. v. der 
FuB tat gar nicht weh). 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Diese Reaktion zeigt wieder die Wichtigkeit der AnschluBfrage. 
Dieser Wert ist aber doch wohl bei Paralytikern nur relativ und 
•darf nicht zu hoch bemevssen werden, wie ich nach No. 36 an- 
nehme: 

Hochzeit — 4,3" — Hochzeitmachen, das ist schon. A. B.: 
,,An nichts gedacht.“ 

Auch nicht an das Lied ? ] Nein, an nichts. Hochstwahr- 
scheinlich hat er doch daran gedacht. Es kann aber sehr wohl sein, 
daB der Gedachtnisdefekt es ihn verkennen laBt, daB es ein solches 
Lied gibt, wahrend im Gegensatz dazu die motorische Innervation 
doch geschieht. Von seinen sonstigen Reaktionen hebe ich hervor, 
daB er mehrfach vor das Reizwort den Artikel setzt, und, da er 
diesen betont, erscheint der Artikel als Reaktion. z. B.: 

No. 1. Fisoh — 1,4" — der Fisch. 

No. 2. Schlange — 1,2" — die Schlange. 

No. 3. Wald — 1,1" — der Wald u. s. w. Sonst liefert er primitive to 
Satzbi Id ungen, z. B. 

No. 11. Professor — 3,4" — der Professor ist gut. 

No. 12. Schlecht — 2,2" — mir gehts schlecht. 

No. 13. Recht — 4" — ich habe Recht. 

No. 14. Rrankheit — 3,4" — die Krankheit ist schlecht. 

No. 15. SUB — 4" — die Bonbons sind suB. 

No. 16. Kaiser — 11,4" — der Kaiser ist gut u. s. w. 

Wie zuerst die Artikelreaktionen zusammen auftraten, so 
stehen die Satzreaktionen ebenfalls zusammen, es ist also eine 
Perseveration der Assoziationsform. 

Das fehlende KrankheitsbewuBtsein zeigt: 

No. 33. Krankheit — 3" — das ist keine ansteckende Krank¬ 
heit, die ich habe. Ich bin nervenkrank in die Hande, aber nicht 
im Kopf. 

Sehr iange Reaktionszeiten hat auch die Patientin Schm. 
(Taboparalyse im melancholischen Stadium). Hier tritt als Leit¬ 
motiv alien Denkens das ,,Ich hahe gesiindigt“ hervor. Derartige 
Reaktionen aber, in denen dieser Leitgedanke unter scheinbar er- 
heblichem Affekt hervortritt, werden dann sofort wieder abgelost 
von ganz gleichgiiltigen, oberflachlichen. Es ist kein nachhaltiger 
Affekt; immerhin aber ist es nach der Reaktionsliste ein mehr be- 
ginnender KrankheitsprozeB, weil, so mochte ich mich ausdriicken, 
doch fiber dem Ganzen noch ein Leitmotiv schwebt, das die 
Reaktionen zu beeinflussen vermag. 

Als Beispiele fiihre ich an: 

No. 1. Fisch — 12,2“ — Fisch e!3 ich gem. 

No. 2. Schlange — 30,1" — ja, ja. Schlange (Stohnen nach 2“). 

No. 3. Wald — 1.2" — Urwald. 

No. 4. Siinde — 11" — Siinde bin ich. Weinend: Ach Gott, ich 
hab so gesiindigt. 

No. 5. Tod — 7,1" — tot werden sie wohl alle sein zu Hause 
(schluchzend). 

A. B.: Ich weifl nicht. sie werden wohl noch alle leben. 

Speziell diese Reaktion mit den Angaben auf die AnschluB- 
fragen zusammen beweist meines Erachtens, daB der Affekt nur 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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oberflachlich ist und zu dem entsprechenden Hinreden fiihrt und 
so die Reaktionen beeinfluBt. 

No. 6. Schon — 5,3“ — schon ist anders. A. B.: Aufenthalt hier. 
(Schluchzen wird abgelost von Lachen). 

No. 7. Tanzen — 4,4“ — ich kann nicht mehr tanzen. 

No. 10. Sonne — 9“ — na, ja. 

Der Grund der Selbstvorwiirfe, zugleieh die AetioJogie des Leidens tritt 
in No. 13 und 14 hervor: 

No. 13. Recht — 23“ — was recht ist, ist gut. A. B.: .,DaB ich's 
nicht recht gemacht habe“ (weint). 

No. 14. Krankheit — 5“ — ja, ja, krank sein ist schlimm. A. B.r 
..Ich hab die Wahrheit zu Hause verschwiegen. Hatte ichs erzahlt. so hatten 
wir nicht geheiratet. Ich war geschlechtskrank, bekain ein Geschwiir 
(weint). 

No. 18. Lieben — 13“ — ja, geliebt hab ich mehr, wie mir dien- 
lich war. 

Zwischen diesen Reaktionen finden sich ganz oberflachliche, 
die nicht den Charakter von Deckreaktionen tragen und ohne 
bzw. mit positivem Affekt vorgebracht wurden. Bei den letzten 
Reaktionen schluchzte sie dauernd, stieB mich fort und gab keine 
Auskunft. 

Das vollkommene Gegenstiick inReaktionsweise undStimmung 
war der Patient Schw., bei dem Dementia paralytica und Dementia 
arteriosclerotica sich nicht sicher trennen lieBen. Er befand sich 
im manischen Stadium, redete dauernd, erzahlte allerhand GroBen- 
ideen, wollte demnachst nach Heringsdorf ins Bad und wollte mich 
dazu um 5 Mark anborgen, gleichzeitig stellte er Sektdiners imd 
dergleichen in Aussicht. Dieser Stimmung entspricht zunachst 
No. 33, Krankheit — 1,4" — ja, ja, der Mensch ist zufrieden, 
wenn er gesund ist. Ich bin ja jetzt gesund. Ich mochte nicht 
mehr ins Krankenhaus. Seit ich in der Charit6 bin, bin ich gleich 
gesund geworden. 

Von seinem typischen Geschwatz hebe ich hervor: 

No. 6. Schon — 1,3" — schon ist ein groBer, schoner 
Garten, eine Blume, and in Wannsee, da ist solch’ Garten, und 
hatten wir im vorigen Jahre ein Sonntagsvergniigen, 
femer 

No. 17. Rot — 0,4“ — grim. 

A. B.: ,,Ans Maigriin im Grunewald gedacht. Im vorigen April 
Sonntags, da war ich mit ein paar Freunden da, und da haben wir 
Schweinebraten gegessen und Bier getrunken im Lokal Zur griinen 
Eiche. 

Es stellt dies Protokoll ein Krankenblatt fiir sich vor. Er 
sieht alles im rosigsten Lichte und als AusfluB dieser Euphorie 
hochsten Grades stellt sich ein schwachsinniger Rededrang ein. 

Ein AusfluB dieser Stimmung ist auch z. B. 

No. 30. Hungrig — 1,1" — nicht immer ist er hungrig, wenn 
er gesattigt ist; a. B.: ,,an mich gedacht, ich habe im Winter ver- 
schiedeneTage gehungert, aber jetzt bin ich iiberreichlich gesegnet.“ 


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Hierher gehort auch 

No. 22. Stock — 4,1““ — der ist lang oder kurz. Meiner hat 
eine schwere goldene Kriicke, ist lang. 

So schmiickt ihm die Phantasie alles aus, und dem entspricht 
das Protokoll, das im iibrigen speziell das Hervortreten zweier 
perseverierender Begriffe zeigt, namlich: 1. Grunewald und 2. Sonne. 
Die Reaktionszeiten sind entsprechend dem Rededrang, der Gre- 
schwatzigkeit sehr kurz, sie schwanken zwischen 0,4“ und 5,2“. 

AuBerordentlich diirftig ist die Reaktionsliste von Ber . . Hier 
besteht eine sehr hochgradige Gedankenleere, wie sie sich zunachst 
schon darin auBert, daB er alle Reizworte erst einmal wiederholt. 
Er denkt dann naeh, kommt aber in der Regel immer wieder zu dem 
Resultat: ,,Es fallt mir nichts ein, mein Kopf ist leer.“ Wenn er 
dann schlieBlich reagiert, so sind die Reaktionen diirftig, und je 
nachdem ihm mehr oder weniger schnell etwas einfallt, sind die 
Reaktionszeiten kiirzer oder langer. Sie unterliegen daher auch 
enormen Schwankungen, bewegen sich zwischen 2 “und 53,1“, 
meist aber betragen sie uber 10“. Bei abstrakten Reizworten und 
dergl. erfolgt meist liberhaupt keine Reaktion. Gegen SchluB der 
Reaktionsliste erfolgt wieder die Erklarungsform als ultima ratio 
des Schwachsinns. 

Ich greife nur einige Reaktionen heraus: 

No. 9. Gift — 18" — ©s gibt ’n© ganze Menge Sorten Gift. 

No. 10. Sonn© — 1 Minute — keine Reaktion. 

No. 11. Professor — 14" — ist Lehrmeister. 

No. 12. Schlecht — 36,2" — schlecht. 

No. 13. Recht — 1 Minute — recht schlecht. Mir fallt auch nichts ein. 

No. 14. Krankheit — 13,2" — ungem gesehener Gast. 

No. 15. SiiO — 11,2" — suB ist das Leben. 

Hervorheben will ich noch No. 18: lieben — 52,2“ — lieben, 
ja, das ist ’ne Tugend. 

Hier tritt meines Erachtens deutlich hervor, wie der Sinn der 
Begriffe bereits verloren gegangen ist. 

In noch weit hoherem MaBe tritt das bei der Patient in Schn. 
hervor. Diese bqfand sich in sehr hyperthymischer Stimmung und 
starker maniakalischer Exaltation. Bei ihr pravaliert der eine Be- 
griff ,,griin“, der immer wieder vorkommt, sei es auch nur im 
Klangbild Grunewald. 

No. 3. Wald — 3,2" — da ist det grim drin. A. B.: ,.Gedacht, wie 
ich im griinen Grunewald mit meinem Mann Kaffee trank und mich 
schaukelte (vor 8 Wochen)“. 

No. 9. Gift — 2,2" — aus der Apotheke. Lachend: Solch grimes 
Gift, mit dem ich mich in voriger Woche habe vergiften wollen (wovon 
nichts bekannt ist). 

Vor allem gehort hierher: 

No. 17. Rot — 3.1" — grime Rose. 

- Es fallen hier 2 Reaktionen meines Erachtens zusammen, die 
an sich gute Reaktion ,,rote Rose“ und die an sich auch gute 
Reaktion ,,rot — griin“. Wir haben also zunachst eine springende 
Assoziation und zugleich eine homosensorielle Vorstellungs- 


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400 Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychoeen. 

verkniipfung. Was aber den Defekt verrat, ist die Verbindung 
beider Reakfcionen zu dem einen Begriff ,,griine Rose“. Es fallt der 
Patientin gar nicht auf, daB das sinnlos ist, um so weniger, als ja 
der Begriff ,,griin“ sowieso scheinbar bei ihr eine groBe Rolle spielt. 

Ihr fehlt das eigentliche Begriffs- und Wortverstandnis, das 
durch den paralytischen ProzeB bereits affiziert ist, daher kommt 
es auch bei ihr zu sinnlosen Wortzusammensetzungen, ahnlich wie 
es bei den Hebephrenikern und auch bei Epileptikern der Fall war, 
wenn auch dort zum Teil aus anderer Ursache. 

Hierher gehoren z. B. 

No. 19. Armut — 3,2" — kommt her von Reichmut. 

No. 21. Uhr — 3" — eine Uhr ist ein Knnststiick. 

No. 13. Recht — 2.3" — Recht kommt her von Rachen. 

Zugleich zeigt diese Patientin eine gewisse Geschwatzigkeit, 
die man wohl auf ihr Alter zugleich mit dem Defekt und eine g€- 
wisse Konfabulationsneigung zu schieben hat. 

Hierher gehort wohl auch die schon erwahnte Reaktion No. 9 
(Gift), wo sie die Geschichte von dem griinen Gift erzahlt, hierher 
gehort wohl auch No. 20, hungrig — 5" — hungrig kommt von 
Hungem. 

A. B.: „Ich habe gestern 4 mal Mittag gegessen [Quetsch- 
kartoffeln, griine Bohnen, griinen Spinat, grime Mohrriiben(!)], und 
ich hab so viel nehmen konnen, wie ich wollte.“ Richtig hiervon 
ist nur, daB es beim Mittagessen Mohrriiben gab, denen sie infolge 
der perseverierenden Vorstellung ,,griin“ auch diese Farbe beilegt. 
Auch die Reaktion No. 25 gehort hierher, die zugleich die Urteils- 
losigkeit zeigt, da Pat. behauptet, 3 mal mit Myrte und Schleier 
getraut zu sein. 

No. 25. Hochzeit — 2" — da muB man mit der Kutsche in 
die Kirche fahren. Ich mochte nochmal Braut sein. Dann hab ich 
’nen schonen Myrtenkranz und Schleier, wie ich ihn alle 3 mal 
hatte, als ich mich 3 mal verheiratete (war r. v. nur 1 mal ver- 
heiratet). 

So liefert sie noch mehrere derartige Beispiele. Ich komme 
spater noch auf das Fabulieren der Paralytiker zuriick. 

Eine gewisse Koketterie spricht vielleicht aus No. 18, lieben 
— 2,2" — lieben kommt von Liebe. 

Woran gedacht ? ] „Das kann ich doch nicht sagen (ver- 
schamt, gleich darauf gleichgiiltig): Ich denke mir uberhaupt 
nichts.“ 

Sonst liefert das Protokoll eine gewisse Stereotypie der Satz- 
form, besonders in der Ausdrucksweise ,,kommt vor“. Sie neigt 
ferner zu Erklarungen. Die Reaktionszeiten sind relativ kurz, 
schwanken zwischen 2,2" und 11,2", meist betragen sie 3". Ich 
beziehe die Lange der Reaktionszeiten iiberhaupt weniger auf die 
Krankheit als solche, als vielmehr auf das jeweilige Stadium der- 
selben. Im erregten hyperthymischen Zustand, wie im geschilderten 
Falle, sind sie kurz, in der depressiven Phrase infolge gewisser 


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Rohde, Asaoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Hemmungen lang, wenn auch bei derartigen Zustanden auf 
organischer Basis das Konsequente und Adaquate der Gefiihls- 
betonung fehlt und daher Schwankungen in der Reaktionszeit 
sehr oft in erheblichem MaBe sich geltend machen. 

Der Patient Brun . . (typische Paralyse, geb. 1864) behauptet 
■yon alien Reizworten, sie seien schon dagewesen. Bei ihm spielt 
in besonderem MaBe seine VergeBlichkeit mit, es lebt meist das 
Klangbild, das er selbst an irgend einer Stelle als Beaktion fiir ein 
anderes Reizwort gebraucht hat, fort. Er weiB davon aber nichts 
mehr, er weiB auch, wahrend er reagiert, schon nicht mehr, worauf 
er reagieren soli, dafiir redet er dann irgend etwas hin. So kommen 
zum Teil recht entlegene Reaktionen vor, die als Paralogien er- 
scheinen miissen, z. B.: 

No. 26. Gehirn — 16,1“ — Ueberzieher; ferner No. 12: 
Schlecht — hatten wir schon; Himmel (36,3“) u. s. w. 

Er hatte bei No. 6, ,,sch6n“ nach 19,2" mit ,,schlecht“ reagiert. 

Er wiederholt stets das Reizwort, braucht dann enorme Zeiten, 
wahrend deren er es vergiBt, findet zum Teil auch keine Worte 
■und liefert durchweg oberflachliche in keiner Weise tiefer gehende 
Assoziationen. Die bestehende Leere und die der ,,Reaktion“ 
vorangehenden langen Pausen fullt er meist durch die Interjektion 
„ja“ aus. 

Ziemlich weitgehend ist die Reaktion No. 20: Uhr — ja 
Uhr — Bild (12,2"). Woran gedacht ? Weil man die Uhr an der 
Wand hat und das Bild auch. Ein ahnliches relatives Springen 
zeigt auch noch 

No. 30 Hochzeit — 24" — Pferd. Da braucht man welche. 
wenn man hinfahrt. 

Hervorgehoben sei auch 

No. 2. Schlange — 12,1" — Schlange, Lowe, Krokodil. 

Hier denkt er ganz allgemein ans Tierreich, greift aber kritiklos 
einige beliebige, grundverschiedene Vertreter heraus. Dabei perse- 
veriert er, und so reagiert er iiber 3 Reizworte hinweg nachher bei 
No. 5, „Tod“ nach 17,1" wieder mit ,,Lowe“. Hier trat auch der 
zu der Gedankenleere passende stets monotone Gesichtsausdruck 
hervor. 

Relativ gute Resultate liefert demgegeniiber der 1878 geborene 
Eae., dessen Paralyse seit ca. 2 Jahren bestand. Er war im ganzen 
leicht hyperthymisch. Sein Protokoll zeigt eine sehr ausge- 
sprochene Neigung zu Worterganzungen, d e ja nach Wimmers 
Ergebnissen bei einzelnen Schwachsinnigen als die ganz iiber- 
wiegende Assoziationsform auftreten, und die Wimmer als die 
plattesten Verbalassoziationen auffaBt. 

Ich hebe hervor: 

No. 3. Wald — 2,3" — des rauschen. 

No. 4. Siinde — 4,3" — Siindenbock. 

No. 5. Tod — 3" — Todeslist. 

No. 6. Schon — 5,1" — ner Traum. 

No. 9. Gift — 9,1" — Giftmischer. 

No. 10. Sonne — 3.4" — Sonnenlicht. 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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No. 12. Schlecht — 1.2“ — tes Wetter. 

No. 14. Krankheit — 3“ — Krankheitsaussichten. 

No. 27. Schlaf — 3.2“ — lose Nacht u. s. w. 

Solche Worterganzungen liefert er im ganzen in 75 pCt. Die 
Reaktionszeiten schwanken zwischen 1,1“ und 9,1". 

Dem Patienten E. . (49 Jahre alt, beginnende Paralyse, Tabes) 
driickt sein Beruf als Regisseur und Redakteur den Stempel auf. 
Er zeigt besonders die nach Fuhrmann fur Paralytiker so typische 
Sucht in pomphaften tonenden Worten zu reden, doch mache ich 
in diesem speziellen Falle auch den Beruf etwas mit verantwortlich. 
Entsprechend der genannten Sucht neigt auch er wieder zum 
Fabulieren, er will in Spanien, in Frankreich, iiberall gewesen sein,. 
er spricht von Biichem, die er geschrieben hat, und derartiges 
mehr. Seine Reaktionen tragen durchweg erklarenden Charakter, 
er weicht in keinem Falle davon ab. Und die Erklarungen klingen 
gesucht phrasenhaft, z. B.: 

No. 7. Tanzen — 1.2“ — tanzen ist das Rundbewegen und Fort- 
bewegen irn Saal. wenn es nicht gerade Ballet ist. 

No'. 8. Stinkend — 3,2“ — stinkend ist ein unangenehmes, durch 
schlechten Geruch offenbarendes Unbehagen. 

No. 10. Sonne — 1,4“ — ist das belebende Gestim des Firmaments. 

No. 13. Recht — 1,4“ — Recht ist dasjenige, das in Gerichtssachen 
gesprochen imd als die hochste Pflicht eines jeden Menschen erscheint. 

No. 18. Lieben — 3,4“ — Lieben ist der Ausdruck seiner Verehrung 
und Zuneigung einem Weibe gegeniiber. 

No. 20. Uhr — 3,2“ — Uhr ist ein Zeitanzeiger. 

No. 29. Gewitter — 2“ — Gewitter ist Entladung von Elektrizitat 
am Firmament durch Donner und Blitz. 

Wiese — 2,3“ — Wiese ist ein landwirtschaftliches Dings. 

AeuBerlich ahnelt dies Protokoll in mancher Hinsicht denen 
der Epileptiker; was es aber von diesen unterscheidet, ist das 
Fehlen des Ringens mit dem Worte. des Suchens. Er reagiert zu- 
sammenhangend, schnell, ohne Stocken bei sehr kurzen Reaktions¬ 
zeiten, die 5,1" nicht uberschreiten. Auch ist hier mehr das Pomp- 
hafte, dort bei den Epileptikern das Ringen ausgesprochen. 

Ein besonders typisches Resultat liefert in seinem Versuchs- 
protokoll der damals 46 jahrige Kranke Mii. 

Dieser kommt bei den Reaktionen vom Hundertsten ins 
Tausendste, dabei aber zeigt er dasselbe Verhalten wie E.er 
reagiert mit oft ganz ungeschickten, aber klingenden phrasenhaften 
Redewendungen, die er zum Teil sinnlos gebraucht. So liefert er 
z. B. bei ,,rot“ eine langere Reaktion, die das Phrasenhafte sehr 
deutlich zeigt: Rot — 7,1" — rot, ja, was meine Einheitlichkeit 
bei der Arbeit der demokratischen Stellung anbetrifft, da beteilige 
ich mich wenig, als nicht direkter Sozialdemokrat, aber ich wahle ihn. 

Die Reaktion ,,Sozialdemokrat“ auf ,,rot“ ist sinnvoll, das 
Beiwerk, die Einkleidung aber mehr allgemeines Phrasenwerk. 

Mii. liefert rein egozentrische Gedankenverbindungen, auch 
bei ihm steht die Autophilie im Vordergrunde, er redet sehr viel, 
er definiert, aber nicht klar und prazise, sondem ungeschickt^ 
in schiefen Ausdriicken bei flieBender, nicht stockender Sprache,. 


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R o li d e , Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 403- 

und selbst in diese Definitionen bringt er das primare Ich hinein. 
Dabei aber verliert er sich wieder in allgemeinen Erorterungen, 
und wahrend er diese gibt, vergiBt er das Reizwort und schweift 
ab. Dadurch unterscheidet sich sein Wortsalat von dem des 
Hebephrenikers (z. B. Font.), bei dem das Reizwort doch im all¬ 
gemeinen immer wieder zum Vorschein kommt, wahrend hier der 
Paralytiker es zwar hort, es wirkt aber nicht nach, es verschwindet, 
sobald er es gehort, sobald es seinen RedefluB ausgelost hat. 
Und das ist der groBe Unterschied zwischen dem Protokoll des 
Hebephreniker Font, bei V 3 und dem dieses Paralytikers Mu. Dort 
beim Hebephreniker bleibt das Reizwort wahrend der ganzen 
Reaktion entsprechend dem guten Gedachtnis als Reiz bestehen, 
und diese Wirkung kann eventuell hochstens durch die Apathie, 
die Gleichgiiltigkeit herabgemindert werden, beim Paralytiker wirkt 
es nicht nach, es regt nur an und lost aus. Sobald die Walze auf- 
gezogen ist, geht sie von selbst. Wie die Spieluhr aufgezogen 
werden muB, damit der Mechanismus von selbst geht, so ist es auch 
hier mit der Spieluhr des Gehims. Aber wie die Spieluhr, wenn 
sie in Ordnung ist, den auf der Walze vorgeschriebenen Weg geht, 
so geht es nur beim normalen Gehim; hier bei der Paralyse sind 
einzelne Teile der Walzen unterbrochen, in Unordnung, daher geht 
das durch das Reizwort zwar aufgezogene Uhrwerk los, aber 
es ist so in Unordnung, daB man keine Melodie hort. Das Leit¬ 
motiv der Melodie, die Zielvorstellung, in diesem Falle das Reiz¬ 
wort geht in dem Chaos falscher Tone unter, beim Hebephreniker 
dringt es trotz der falschen Tone durch dieselben durch. Es ent- 
spricht das auch dem, was Wvlj hervorhebt: ,,Dem Paralytiker 
fehlt das Organ, um die Stimme der Wirklichkeit zu horen, es 
ist durch die Krankheit zerstort, beim Hebephreniker wird die 
Stimme der Wirklichkeit durch die innere iibertont. Bei ihm ist die 
Auffassung erschwert, aber nicht unmoglich, wenn ein lichter 
Moment kommt.“ 

Ich fiihre als Beispiel solcher paralytischen Reaktionen an: 
gehen — 4" — ja, da geh ich lieber zwischen Wiese, Wald, Wasser 
(hierbei spielt wohl der Gleichklang, die Allitteration mit), denn in 
meiner Heimat, da stehen Eichen, Pappeln, und da kann ich 
baden u. s. w. Was zugerufen ? ] Stutzt: Das weiB ich nicht. 

Dies mechanische Hinreden bewirkt nun, daB die AnschluB- 
frage hier nur sehr beschrankten Wert hat und mit Vorsicht zu 
benutzen ist. Und doch hat sie r och immer Wert, indem gerade 
durch sie oft das Inkonsequente hervortritt. 

Als Beispiel hierfiir sei angefiihrt No. 4 Siinde — 6,1 <# — Siinde 
ja, da gibts ’ne ganze Masse. Wenn alle zusammengezahlt wiirden, 
das ist schrecklich. Da eB ich und spiele u. s. w. Woran bei Siinde 
gedacht?] An mich. Haben Sie denn gesiindigt?] Nein. An 
diesem Beispiel sieht man iibrigens auch, wie das Reizwort anfangs 
wirkt, wie es aber plotzlich im wirren Chaos paralytischen Denkens 
verschwindet, wie nun die Geschwatzigkeit des Schwachsinns eir- 


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404 


Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsy chosen. 


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setzt und das Ich hervorholt, wie Mu. dann vom ideellen, ab- 
strakten Begriff iibergeht zum materiellen, zum konkreten, zum — 
Essen. 

Das Fabulieren tritt am deutlichsten hervor in 

No. 31. Fisch — 3,1" — ja, da eB ich gem Weififisch. Und das ist 
Rotfisch, solche Art Schneider. Die leben fortwahrend im Wasser, und in 
Breslau, dahab ich ’ne Mutter, die noch lebt, und die hat ’ne Schwester, da 
bin ich 86 hingekommen. Und Mutter war nicht da und Amalie sah zum 
Fenster ’raus. und der Leutnant war gut und gab mir ’nen Zivilanzug, und 
da ging ich in die Herberge u. s. w. 

Aehnlich ist es bei 

No. 9. Gift — 4" — das hab ich schon genommen. Als Soldat war 
ich zum RoBarzt kommandiert, und da nahm ich Tropfen, das war fur die 
Diarrhoe furs Pferd, und das biB auf die Ziuige. Und da bin ich 2 mal tot 
gegangen und hab noch 100 mal Gift genommen. 

Hier ist es Konfabulation zusammen mit weitgehendster 
Kritiklosigkeit. 

Zwischendurch treten bei Mii. einfache Interjektionen anf, und 
zwar als Fehlreaktionen einerseits z. B. bei 

No. 21. Zwolf — 4,4“ — na ja. Anders ist es meines Erachtens 

bei auBerlich fast gleicher Reaktion bei 

No. 33. Krankheit — 6,2“ — acb ja (seufzt). 

A. B.: „An mich und mein Leiden gedacht.“ Bei der Ver- 
wertung dieser beiden Reaktionen ist meines Erachtens die An- 
schluBfrage unerlaBlich. Denn dadurch, daB bei No. 21 („zwolf“) 
die Antwort: ,,An nichts dabei gedacht“ erfolgt, erweist es sich, daB 
es eine ganz unbestimmte Allgemeinassoziation im Sinne Wimmers 
ist, eine reine Erinnerungslosigkeit, eine Assoziationsliicke, wahrend 
im Gegensatz dazu No. 33 (Krankheit — ach ja) als eine unvoll- 
standige Assoziation aufzufassen ist, die mehr enthalt, als aus- 
gesprochen wird, und bei der nicht eine Liicke durch die Interjektion 
ausgefiillt, sondem die erfolgte Reaktion durch sie nur verdeckt ist. 
So meine ich, muB man bei Allgemeinassoziationen dies stets mit 
beriicksichtigen, denn sonst konnte man auch No. 33 leicht zu 
den schlechten Reaktionen rechnen, wahrend doch hier tatsachlich 
eine ausreichende Assoziation erfolgt ist, aber die Verbindungs- und 
besonders die motorischen Bahnen nicht eingeschaltet werden, 
vielleicht weil die negative Gefiihlslage es verhindert. Und so 
schlieBe ich — nicht nur auf Grund dieses einen Beispiels —: Die 
negative Stimmungslage vermag bei fur sie gefiihlsbetonten Worten 
die motorische Entladung, das Aussprechen der vielleicht zahlreich 
erfolgendenReaktionenzu hintertreiben und hinter ganz allgemeinen 
Redensarten zu verbergen, es tritt dabei eine gewisse Stagnation 
ein, dem Verstummen oder Hinreden beim Qriibeln, wenn man an 
etwas anderes denkt, entsprechend. Umgekehrt — um das hier 
mit zu erwahnen — rufen positiv gefiihl .betonte Worte zuweilen 
ein UebermaB sprachlicher Innervation hervor, welches auch das, 
was sonst latent bliebe, mit einbezieht. So kommen wohl auch 
die verschiedenen Reaktionsweisen im gleichen Protokoll zustande, 
auch bei der Paralyse, hier allerdings modifiziert durch das, was 


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Rohde, Assoziationsvorg&nge bei Defektpsychoeen. 405 

ioh oben auseinandersetzte. So will ich auch hier die Wichtigkeit 
der Unterscheidung von positiv und negativ gefiihlsbetonten Reiz- 
worten betonen. 

Die Reaktionszeiten bei Mii. sind wiederum relativ kurz 
( 2 “— 12 "). 

Im Gegensatz zu dem Wortreichtum Mii.s steht die Ein- 
silbigkeit des Patienten Schn. Er liefert im ganzen 3 erinnerungs- 
bestimmte Assoziationen egozentrischer Natur, sonst liefert er stets 
unbestimmte Assoziationen, vorwiegend als Gegensatzassoziationen 
oder als solche, die sich in einem gleichen beschrankten Gedanken- 
kreis bewegen. Es ist mehr ein Bewegen in konkreten Komplexen 
derselben Art : z. B. 

Schlange — 2,1" — Eidechse. 

Tod — 2,1" — lebendig. 

Sonne — 1,3" — Mond. 

siiB — 1,2" — sauer. 

Schon — 3,2" — haBlich. 

Tanzen — 2" — springen u. s. w. 

Ganze Satze treten hier gar nicht auf, es sind nur Wort- 
reaktionen. Hier fehlt die Erklarungstendenz, und wo diese auf- 
tritt, ist sie nun einmal gepaart mit Wortreichtum und Um- 
standlichkeit; wo das eine fehlt, bleibt auch das andere fort. Schon 
der Gesunde kann nicht ohne weiteres in 2 Worten erklaren, um 
so mehr Worte braucht der geistig Defekte. Schn. erklart nicht, 
daher erfolgen kurze Wortreaktionen, die allerdings deutlich das 
Fehlen aller weiter gehender Assoziationen zeigen. 

Bei der 2. Vemehmung — 3 Tage spater — hat sich das Bild 
etwas geandert, und zwar dadurch, daB ein Komplex, um diesen 
Ausdruck ganz allgemein zu benutzen, seine Heimat Anhalt-Dessau 
auftritt; und dieser „Komplex“, der sehr oberflachlicher Art ist, 
dient als ein bequemes Auskunftsmittel, besonders bei der An- 
schluBfrage. So erscheint es mir merkwiirdig, wenn er bei 
No. 31 Fiech — 4" — Hecht daran denken will, daB in Anhalt 
viele Hechte gefangen werden, wenn er bei No. 2 Schlange — 2" — 
Eidechse, bei No. 4 Wald — 4" — Hirsch u. s. w. stets daran 
denken will, daB es ,,in Anhalt viele gibt.“ Und so ist meines Er- 
achtens das Resultat bei V 2 doch nicht viel anders wie bei V 1 . Els 
besteht eben bei der Paralyse besonders die Gefahr des nach- 
traglichen Zurechtlegens oder Hinredens bei der AnschluBfrage. 
Und doch ist es dann wenigstens hier meist so durchsichtig, daB die 
Gefahr, dies Zurechtlegen zu verkennen, nur verschwindend gering 
ist. Neu ist es bei Vj, daB Schn. auf. 

No. 25 ,,Hochzeit“ nach 2,1" mit ,,Hochzeit und kein Priem 
auf dem Tisch“ (angeblich an ein altes Sprichwort gedacht) und bei 
der Wiederholung desselben Reizwortes bei No. 36, Hochzeit 
— 4,4" — mit ,,Kindtaufe“ (,,manche feiern beides zusammen“) 
reagiert. 


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Rohde, Assoziationsvorg&nge bei Defektpsychosen. 


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Ganz anders ist es bei der Patientin Kn. Bei ihr falit 
besonders aaf, daB sie ganz etwas anderes sagt, als sie denkt. Dies' 
kann aber meines Erachtens auch darauf beruhen, daB sie zwar 
zuerst als Beaktion das ausspricht, was sie assoziert hat, daB sie 
aber infolge der paralytischen, gerade bei ihr sehr hochgradigen 
VergeBlichkeit das, was sie eben gesagt und gedacht hat, bei der 
AnschluBfrage schon wieder vergessen hat. So sagt sie hierbei etwas 
anderes, redet es hin. In solchen Fallen ware dann die AnschluB¬ 
frage als solche wertlos, hochstens muBte man sie stellen, urn 
eben diese Gegensatze hervortreten zu lassen; ich glaube, daB bei 
Frau Kn. die geschilderten Verhaltnisse vorliegen, denn andemfalls 
miiBte man annehmen — wenn sie namlich mit BewuBtsein anders 
reagierte, als sie dachte —, daB es sich dann um besonders gefiihls- 
betonte Worte handelte, bei denen Deckreaktionen gegeben wiirden. 
Dann aber miiBten die Reaktionszeiten verandert, speziell verkiirzt 
sein, weil ja eben eine Deckreaktion geliefert wird, um schnell Ruhe 
zu bekommen und unabhangig vom Untersucher die Saite, die das 
Reizwort in der Versuchsperson angeschlagen hat, weiter klingen 
zu lassen. Dementsprechend — und das habe ich auch bei funktio- 
nellen Psychosen, nicht in dem vorliegenden Fall von Paralyse, der 
sich ja anders verhalt, gefunden — ist in der Regel die Reaktions- 
zeit bei einem gefiihlsbetonten Wort meist sehr kurz, weil die 
Reaktion nur ein Hinreden ist, wahrend dann bei dem folgenden 
Reizwort die Zeit abnorm verlangert war oder gar keine Reaktion 
erfolgte, weil eben die vorher erfolgte, nicht ausgesprochene 
Reaktion das neue Reizwort nicht aufkommen lieB. Ich werde 
davon noch bei entsprechenden Beispielen sprechen. Es deckt 
sich das im wesentlichen mit den Ergebnissen von Jung und 
anderen Untersuchem. 

Um nach diesem Exkurs auf Frau Kn. zuriickzukommen, so 
zeigt sie in ihrer Reaktionsweise Satzform, auch Stereotypie der 
Satzform, die ihr selbst auffallt und die sie zuriickdrangen will, 
ohne daB es ihr infolge Gedankenarmut gelingt, z. B. 

No. 26. Gehim — 4,1" — Jeder Mensch hat eins. 

No. 27. Schlaf — 1,4" — Jeder Mensch braucht Schlaf. 

No. 28. Verstand — 6,1" — Jeder Mensch hat Verstand. 
Spontan: ,,Jetzt hab ich schon 3 mal ,,jeder“ gesagt. Was soli ich 
bloB sagen.“ So erklart sich auch hier die wechselnde Reaktionszeit, 
je nachdem sie mehr oder weniger lange dazu gebraucht, ehe eine 
Assoziation erfolgt, bezw. weil sie wie bei No. 28 die diirftige 
Reaktion durch eine bessere ersetzen will. Sonst bietet ihr Protokoll 
nichts Besonderes, es sind meist diirftige Satzreaktionen vom ge- 
nannten Typus. 

Ein ungeschicktes Formulieren, das fast als Paralogie erscheint, 
ahnlich wie in den bisherigen Fallen, zeigt besonders der Patient 
Ba .... Er bildet bei flieBender Sprache besonders gem Worte mit 
der Endsilbe ,,ung“, z. B. 

No. 22. Stock — 18,1" — Stock, ja, Unterstutzimp des Menschen. 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsy chosen. 


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No. 28. Verstand — 4,1“ — wenn der Mensch gesund ist. hat er voile 
Einsehung. Auch 

No. 20. Uhr — 2,3“ — Uhr ist ein Gehwerk, ist wenig geschickt. Bei 
No. 8 verspricht er sich, verbessert sich aber nicht: 

Stinkend — 35,1“ — stinkend, ja, altes Luder. 

A. B.: „An altes Pferdeleder gedacht. Ich meinte eigentlich Leder.“ 

Fur die Diirftigkeit seiner Ideenassoziation typisch ist meines 
Erachtens auch — um dies eine Beispiel herauszugreifen: rot — 
6,3" — rot sind verschiedene Gegenstande auf der Welt. 

Mir fiel bei seinem Protokoll auf, daB abgesehen von den 
zwei schon genannten Worten Stock und stinkend nur noch bei 
relativ wenigen Worten, die einem bestimmten Gedankenkreis an- 
gehoren, die Reaktionszeit stark verlangert war, wahrend sie sonst 
durchweg relativ kurz war. Bei diesen wenigen Worten schwankte 
sie zwischen 15,2" und 31,2", sonst ging sie nie iiber 8,3". Diese 
Beaktionen sind: 

Wald — 15,2“ — ich bin oft durch den Eichenwald (bei Br.) gegangen. 

Siinde — 19,3 — ist manchmal schon, aber auch gefahrlich. 

Schon — 20,2“ — ist, wenn man durch schonen Wald spazieren geht. 

Schlecht — 32,1“ — schlechtes Gewissen haben manche Leute. 

Krankheit — 16,1“ — wenn man krank ist, ist man nicht auf dem 
Posten. 

Schlaf — 31,2“ — wenn man nicht gesund ist, kann man nicht schlafen. 

Dieser Patient befand sich in einem leichten Depressions- 
stadium, und bei genauerer diesbeziiglicher Untersuchung konnte 
ich feststellen, daB die Reaktionszeit bei diesen Reizworten nicht 
rein akzidentell verlangert war, daB es sich vielmehr bei ihm durch¬ 
weg um gefiihlsbetonte Worte handelte. Entsprechend meinen 
obigen Darlegungen hatte die Reaktionszeit sich allerdings dann 
anders verhalten miissen. Hier ist es anders. Sein Gedankengang 
war folgender: Er hing hypochondrischen Ideen nach, wie sie ja 
im Beginn der Paralyse — es war noch immerhin ein nicht weit vor- 
geschrittener Fall — sehr oft auftreten, und glaubte, eine chronische 
Gonorrhoe zu haben (was nicht der Fall war). Diese fiihrte er auf 
den Geschlechtsverkehr mit einem Madchen zuriick, das er beim 
Tanze in seiner Heimat Br. kennen gelernt und mit dem er auf dem 
Nachhausewege, der durch Eichenwaldungen fiihrte, verkehrt hatte. 

.Auf diese eingebildete Krankheit gingen seine hypochondrischen 
Ideen zuriick; und auf diese Gedankengange, die bis dahin uns 
noch unb -kaiint waren, wiesen die verlangerten Reaktionszeiten 
in dem Assoziationsprotokoll hin. Die Verlangerung der Asso- 
ziationszeit auch bei ,,Stock“ wiirde ja nach Freud auch nichts 
Verwunderliches haben; denn das Ganze ist ja ein Freudscher 
Sexualkomplex, und Stock ist ja nach Freud ein Symbol fiir 
Penis. Es ist nun interessant festzustellen, wann dieser Komplex 
aufgetreten ist. Auf diesbeziigliche Fragen gab mir Ba . . . . an, 
jenes Ereignis liege 1 Jahr zuriick. Zu dieser Zeit bestand aber, 
wie sich anamnestisch sicher feststellen lieB, bereits die Krankheit, 
so daB also dieser Komplex eher eine Folge als eine Ursache der 
Krankheit ware. Jung legt ja dem Komplex nur fiir die Dementia 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


hebephrenica eine atiologische Bedeutung bei; es ist in meinem Falle- 
an sich genau so wie dort, nur daB es sich hier eine Paralyse handelt* 
Fiiglich konnte ich verallgemeinemd schlieBen: also spielt auch 
bei diesem Fall von Paralyse der Komplex eine Rolle. Es bestehen 
ja mehrere Moglichkeiten: 1. dieser ganze Komplex ist Pbantasie, 
ist Fabulieren. Ich balte das fiir unwahrscheinlich, gerade weil der 
Komplex sich aus den verlangerten Reaktionszeiten erscbliefien 
lieB. Die 2. Moglichkeit ist die, daB der Komplex eine Folge der 
schon bestehenden Krankheit ist, daB die bestehende Krankbeit 
den Komplex als auslosendes Moment fiir die hypochondrischen 
Ideen beputzfc hat. Dann ware der Komplex bei der Krankheit als 
solcher unbeteiligt, er ware aber auf Grund der Krankbeit, auf 
Grund einer infolge der Krankbeit verminderten geistigen Wider- 
standsfahigkeit gebildet und fest deponiert und zugleich mit ver- 
antwortlich fiir die depressive Stimmungslage, oder aber er ware 
ein AusfluB derselben. Und so meine ich, daB Komplexe — und 
so konnte es ja auch bei der Dementia praecox sein — zwar sehr 
wichtig sind, aber weniger fiir die Krankbeit selbst und ihre Ent- 
stebung, als vielmehr fiir die Stimmungsrichtung, das auBere Bild 
der Krankheit. Und zwar meine ich das, weil in diesem Fall das 
dem Komplex zugrunde liegende Ereignis erst in die Zeit fallt, wo 
die Krankheit schon bestand. Es deckt sich das — ohne zu sehr 
verallgemeinern zu wollen — meines Erachtens mit dem im wesent- 
lichen, was E. Meyer im Gegensatz zu Jung hervorhebt: , Alles 
kommt aber doch darauf hinaus, daB nicht die Komplexe die Ur- 
sache der Krankheit sind, sondem die Krankheit die Ursache der 
Komplexe, indem sie dieselben ungehindert hervortreten laBt.“ 
Sei dem, wie es sei. Das Vorkommen eines derartigen Komplexes 
bei der Paralyse und Auftreten und Bildung desselben zur Zeit 
des Bestehens des Leidens ist meines Erachtens jedenfalls be- 
merkenswert. 

Wenn ich das Protokoll von Ba.... sonst ins Auge fasse, so ist es 
auch abgesehen von dem schon erwahnten Ringen mit dem Worte 
sehr diirftig; stets sind es ganze Satze, Erklarungen, allgemein ge- 
haltene, nichtssagende Redensarten. So erscheint der Defekt nach 
dem Protokoll groBer als nach dem klinischen Bilde, wo derselbe 
noch relativ wenig hervortrat. 

Bei Ger. (geboren 1875, Schlosser) tritt das fiir Paralyse so 
typische Hinreden ganz beliebiger, jeder Tatsache entbehrender 
Dinge hervor, z. B. 

No. 15. SuB — 4" — Bier schmeckt suB. A. B.: ,,Ich sag 
das ;o.“ 

No. 22. Stock — 34,1" — Ich kaufte mir gestem einen Stock 
(was r. v. nicht der Fall war). 

Gerade dies Hinreden zeigt das Fehlen der eigentlichen 
Reaktion, zeigt aber auch zugleich eine Urteilslosigkeit, vielleicht 
mit auf dem Boden der VergeBlichkeit. Die Reaktionszeiten sind 
sehr lang, wechselnd, schwanken zwischen 1,3" und 58", und zwar 


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Rohde, Assoziotionsvorgange bei Defektpsychoeen. 


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unabhangig von dem Wert des Reizwortes, auch bei absolut gleich- 
giiltigen neutralen Worten. Diese Differenz diirfte hier dem zu- 
zurechnen sein, daB er bald mehr vor sich hinstarrte, bald mehr auf- 
merkte. Bei „Siinde“ erfolgte keine Reaktion, auf Befragen gab 
er an: ,,Ich daehte an nichts, mir fiel niehts ein“, eine Angabe, der 
sein absolut stupider Gesichtsausdruck entsprach. Um sicher zu 
gehen, daB sich dahinter nichts verbarg, da es das einzige reaktions- 
los gebliebene Wort war, rief ich es am Schlusse noch einmal und 
jetzt lieferte er nach 3,3“ in monotonem Tonfall: ,,Sxinde ist ein 
Laster.“ Auch bei ihm ist wieder durchweg Satzform, meist recht 
diirftiger Inhalt. Den ersten Reaktionen, die ich hier anfiihre, 
entsprechen die weiteren: 

No. 1. Fisch — 2,2“ — lebt im Wasser. 

No. 2. Schlange — 1,3“ — es gibt giftige und unschadliche. 

No. 3. Wald — 3,2“ — es gibt verschiedene Arten von Waldem u. s. w. 

Ein nicht sicher zu verwertendes Resultat lieferte der Patient 
Du. Bei diesem handelte es sich wahrscheinlich um eine Dementia 
arteriosclerotica; er hatte sich als jiidischer Kantor sexuelle Ver- 
gehen zuschulden kommen lassen, und wurde daher im Auftrage 
des Gerichts auf der Station beobachtet. Neben der klinisch wohl 
zweifellos bestehenden Demenz bestand aber auch das, was ja 
ziemlich oft bei kriminellen Fallen als Begleiterscheinung auch bei 
tatsachlich bestehendem Defekt, zu finden ist, die Aggravation. 
Ich mochte bei dieser Gelegenheit einige Worte iiber Assoziations- 
versuche mit Simulanten sagen. Ich habe mehrfach derartige Ver- 
suche angestellt, wenn auch nicht systematisch, und habe auch 
bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, daB in solchen Fallen 
meines Erachtens die Verlangerung der Reaktionszeit recht 
charakteristisch sei. Ich fiihrte dort aus: 

,,Lange Reaktionszeiten hat die Dementia epileptica, hat auch 
eventuell die Dementia paralytica, aber hier ist nichts da, kein Er- 
innerungsbild wird iiber die psychische Schwelle gehoben; eine 
lange Reaktionszeit fand ich auch bei abklingenden Erregungs- 
zustanden z. B. einer Manie (— z. B. Schm. cf. oben), gewissermaBen 
als Gegenreaktion durchUnterdruckung frtiher gesagter Reaktionen. 
und insofem hat dieser Fall Aehnlichkeit mit dem Simulanten. 
Hier — beim Simulanten — treten Reaktionen auf, aber sie werden 
unterdriickt, er muB ja iiberlegen, was er sagen will, er muB aus 
zahlreichen de facto auftretenden Reaktionen die heraussuchen, die 
ihm als fur seine Zwecke besonders geeignet, also als sehlecht er- 
scheint, und so kommt es hier zur Verlangerung der Reaktionszeit. 
DaB diese aber mehr oder weniger freiwilhg war, konnte ich leicht 
feststellen durch eine genaue ihm unbewuBte Beobachtung seines 
Gesichts und Mienenspiels". 

Etwas anders verhalt sich der zu schildernde Fall Du. Auch 
er liefert sehr lange Reaktionszeiten, im Durchschnitt zwischen 
20“ und 30“ schwankend, aber bis 42,2“ hinauf, bis 8,1“ hinunter- 
gehend. Sonst liefert er besonders haufig Worterganzungen. z. B. 
Fisch — 18,4“ — = schuppen, 

Monatsschrlft f. Psychiatrie u. Neurol ogie. Bd. XXX. Heft 5. 27 


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410 


K o h ci e , Assoziatioiisvorgange bei Defektpsychosen. 


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Siinde — 41,3" — Siindenfall. 

Gehim — 22,2" — = sc hale. 

Auch Stock — 17,1" — Rohrstock und ahnliche gehoren wohl 
hierher. 

Individualassoziationen sind nicht sehr haufig, aber doch 
haufiger wie bei den geschilderten Paralytikern, so sind doch 
12 von 36 Reaktionen, also ein Drittel Individualassoziationen, die 
durchaus nicht besonders egozentrisch, vielmehr zum Teil ziemlich 
weitgehend sind. Er reagierte kurz mit einem Worte, lieferte sonst 
haufig Gegenteilsassoziationen, auch reagierte er auf Allgemein- 
vorstellungen mit Partialvorstellungen; dazu zeigt die Reaktions- 
liste ein Hervortfeten seines Berufes. Abgesehen von der sehr er- 
heblichen Verlangerung der Reaktionszeit ist die Reaktionsliste 
eine relativ recht gute. Bedenkt man nun aber, daB Du. bei der 
Intelligenzprufung angeblich nicht die einfachsten Fragen beant- 
worten konnte, ja, sich angeblich nicht darauf besinnen konnte, daB 
er Kantor der jiidischen Gemeinde sei, wahrend in den Reaktionen 
jetzt der Beruf immer hervortritt („Gehirn — 22,2" — Gehirn- 
schale. Ich habe friiher Vieh rituell schlachten miissen, daran 
dachte ich“, ,,Hochzeit — 17,2“ — Trauung. Ich selbst habe friiher 
getraut“ u. s. w.), so stellt das einen schwer in Einklang zu bringen- 
den Widerspruch dar. Entweder 1. er weiB wirklich nicht, daB er 
Kantor war (was meines Erachtens unwahrscheinlich ist), dann 
ware das Hervortreten im Assoziationsprotokoll rein mechanisch 
zu erklaren, die Assoziationen waren als Reste vergangener Er- 
innerungsbilder reproduziert, oder aber 2. er hat bei der In- 
telligenzpriifung simuliert, und das scheint mir wohl sicher zu 
sein, dann aber haben die Assoziationsproben als Ueberlistungs- 
yersuche im Sinne von H. Or oft gewirkt, und zwar haben sie es so 
ausgesprochen tun konnen, da einmal diese neue Art der Priifung 
ihm ungewohnt ist und daher sein Interesse so in Anspruch nimmt, 
daB er unbewuBt die Aggravationstendenz vernachlassigen muB, 
und dann, weil er tatsachlich geistig defekt ist, also nicht Kritik 
und Konsequenz genug hat, um auch jetzt ebenso wie damals 
zu iibertreiben. 

Dies Protokoll kann natiirlich nicht fur die Allgemein- 
beurteilung der Versuche verwertet werden, ich fiihre es hier nur 
des Interesses halber an. 

Es bleibt noch iibrig, ein Protokoll einer Dementia para¬ 
lytica im melancholischen Stadium anzufiihren. Im Gegensatz dazu 
will ich dann noch die mit zwei rein funktionellen Melancholien an- 
gestellten Versuche erortern. Bei der Dementia paralytica Hei. 
handelte es sich um eine juvenile Form. Die 25 jahrige Patientin 
selbst war gravide, zeigte korperlich besonders fehlende Pupillen- 
reaktion und lieB sich zweifellos als Paralyse diagnostizieren. 

Ihre Reaktionsliste wird beherrscht von dem ,,Ich“, dem 
primaren Ich und dem Gedanken an die eigene Siinde. Es 
gilt fur sie etwa das, was Kraepelin iiber die paralytischen 
Depressionszustande sagt: ,,Auf Anreden wendet sie kaum den 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


411 


Kopf, gibt aber, wenn auch mit leiser Stimme, und sehr worfckarg 
Auskunft. Die Kranke spricht wenig und leise, aber offenbar well 
sie gar nicht das Bedurfnis fiih.lt sich mitzuteilen, nicht, weil sie 
auBerstande ware, entgegenstehende Hindemisse zu iiberwinden.“ 

So ist es ziemlich natiirlich, daB Frl. Hei. sehr oberflachliche 
Reaktionen liefert, besonders auch solche wieder, die an ein Lehr- 
buch der Grammatik erinnern. Man konnte bei ihr, auch ohne 
die AnschluBfrage zu stellen, nahezu mit GewiBheit sagen, jetzt 
komme das stereotyp stets wiederkehrende ,,An mich selbst ge- 
dacht.“ Das auBere Bild —auch in den Reaktionen —war ahnlich 
dem der Melancholie, speziell in dem bei beiden hervordrangenden 
Ichbegriff — ich werde davon noch genauer sprechen —, aber die 
Reaktionsweise ist doch auch wieder bei beiden so verschieden, bei 
Frl. Hei. so typisch fur den Defekt, daB schon nach der bloBen 
Reaktionsliste mit S.cherheit gesagt werden kann: es besteht hier 
ein Defekt. Einige Reaktionen seien angefiigt: 

No. 5. Tod — 5.2" — meine Mama ist schon gestorben. 

No. 6. Schon — 9,1" — es gibt schone Menschen. 

No. 8. Stinkend — 1 Minute — lautlich stumm. Nach weiteren 1.2" 
Verziehen des Gesichts. 

Woran gedacht ?] mit gleichgiiltigem Gesicht: an meine Siinde. 

No. 13. Recht — 48.2"—wenn die Menschen recht haben. Man hat 
mich gewamt (anfangs weinend, gleich aber wieder gleichgiiltiger Gesichts- 
ausdruck). 

Immerhin treten hier aber Gefiihlstone hervor, wenn auch nur 
sehr fliichtig und nicht nachhaltig. 

No. 30. Hungrig — 23,1" — wenn man hungrig ist. 

No. 31. Fisch — 11,1" — hab ich lange nicht gegessen. 

No. 32. Rot — 7,1" — etf ich. 

Diese letzte Reaktion ist sinnios, auch AnschluBfragen andern 
daran nichts, und so muB das ,,eB ich“ bei No. 32 als reine Perse¬ 
veration aufgefaBt werden im AnschluB an die beiden vorher- 
gehenden Reaktionen No. 30 und No. 31. 

Die Reaktion No. 30 bei ,,hungrig 6 6 fasse ich als eine besonders 
diirftige auf, es ist die typische Reaktionsweise des Schwachsinns 
zusammen mit einfacher Wiederholung des Reizwortes. 

Diese wenigen Reaktionen mogen als Beispiele geniigen. Die 
Reaktionszeiten sind wieder erheblichen Schwankungen unter- 
worfen, und zwar im wesentlichen unabhangig davon, ob es Worte 
sind, die in die negative Stimmungslage hineinpassen, oder ob es 
neutral© Reizworte sind. 

So bleiben Reaktionen aus auch bei ,,Kaiser* 6 und ,,schmerz- 
haft 6 *, sie braucht bei Reaktionen wie Stock — Vater („Mein Vater 
hatte gestem einen Stock* 6 ) — 28,2", — bei „Zwolf — ’ne Zahl — 
22,1" — u. s. w., wahrend z. B. bei dem relativ recht gefiihlsbetonten 
Wort ,,Tod* 6 (cf. oben) schon nach 5,2" eine verhaltnismaBig affekt- 
lose Reaktion erfolgt. Auch hier bei ihr, wie bei manchen anderen 
der geschilderten Falle, fanden sich Anklange an ein Lehrbuch der 
Grammatik, wie ich schon hervorhob. 

(SchluB im n&chsten Heft.) 

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83. Versummlung deutscher Naturforscher 


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83. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerate 
in Karlsruhe vom 24.—29. September 1911. 

Bericht von Dr. Lilienstein -Bad Nauheim. 

Von den neurologisch und psychiatrisch interessierenden Vortragen 
kann nur fiber die nachstehenden berichtet werden: 

24. Abteilung fiir Neurologie und Psychiatric. 

Einfiihrender: iVeumonn-Kaxlsruhe. Vorsitz: Bleuler- Zurich. 

Sitzung am 25. September nachmiUags. 

Max Fischer- Wiesloch: Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. (Dio 
ausfiihrliche Veroffentlichung erfolgt in der ,,Allgem. Zeitschr. f. Psychiatr.“.) 

Zu den beiden einzigen staatlichen Heil- und Pflegeanstalten fiir 
Geisteskranke, die das badische Land zur Zeit des ersten in Karlsruhe 
abgehaltenen Naturforschertages (1858) besaB. namlich Illenau und Pforz¬ 
heim, sind seither neu hinzugekommen die beiden Irrenkliniken in Freiburg 
und Heidelberg, die groBe Heil- und Pflegeanstalt bei Emmendingen und 
neuerdings die Anstalt bei Wiesloch, mit deren Ausbau man noch beschaftigt 
ist. 

Die miBlichen Zustande in der badisehen Irrenfiirsorge — unaus- 
gesetzter starker Zudrang von Kranken zu den Anstalten, Platzmangel 
und Ueberfiillung in alien vorhandenen Asylen, wie auch die Notwendigkeit,. 
die veraltete Pforzheimer Anstalt aufzuheben — drangen aber Regierung 
und Volk zu immer neuen groBen Anstrengungen im Ausbau des Anstalts- 
wesens. 

Die nachste Aufgabe ist die zur Zeit eifrig betriebene Erstellung der 
neuen Anstalt bei Konstanz, wo von bis zum Herbst 1913 die Halfte der 
Anstalt mit etwa 500 Betten betriebsfertig erstehen soil, wahrend bis 1917 
die ganze Anstalt mit 900 bis 1000 Betten fertiggestellt werden wird. Der 
Kostenaufwand ist fiir die ganze Anstalt auf 5,8 Millionen Mark berechnet. 
Sie wird als Fiirsorgegebiet den Seekreis und das nachstgelegene Oberland 
erhalten. 

Auch damit werden wir aber zu keinem Abschlufl kommen, wir miissen 
uns vielmehr, um kiinftigen Notstanden vorzubeugen, ebenso aber auch um 
die langst veraltete Pforzheimer Anstalt endlich ganz aufheben zu konnen, 
so fort an ein neues Projekt, das einer groBen Anstalt fiir das MiMeUand y 
die Kreise Karlsruhe und Baden, heranmachen. 

Da hier fiir ein engumgrenztes Gebiet eine sehr ausgiebige Platze- 
beschaffung von 1700 bis 2000 Platzen notig war, entschlofl man sich zur 
Ausarbeitung eines ungewohnlich groflen Projekts, namlich einer Doppel- 
an8talt von 2000 Platzen. Waren auch vom arztlichen Standpunkte aus 
gegen einen derartigen GroBbetrieb im Krankenhauswesen groBe Bedenken 
geltend zu machen, so bot doch das Projekt in finanzieller Beziehung sowohl 
hinsichtlich der Kosten der Erstellung wie des dauernden Betriebs so groBe 
Vorteile, daB eine gewissenhafte Regierung aus Riicksicht auf die Steuer- 
kraft des Volkes an die Verwirklichung herantreten muBte, zumal man 
hoffen darf, daB durch eine geeignete. gut durchdachte Organisation des- 
Ganzen die befiirchteten Sch&dlichkeiten ausgeschaltet werden konnen. 

Die Doppelanstalt zerfallt in zwei gleiche Unteranstalten fiir 1000 
Manner und fiir 1000 Frauen, denen eine groBe Anzahl von in der Mitte 
gelegenen zentralen Anlagen und Einrichtungen gemeinsam ist. so zum 


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und Aerzte in Karlsruhe. 


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Beispiel: Verwaltungsgebaude, Kochkuche. Wasehkiiche, Werkstatten, 
Magazin, Kirche, Festsaal, Wasserversorgung, Beleuchtung, Heizung und 
andere mehr. 

Jede Teilanstalt fiir Frauen resp. fur Manner erhalt einen eigenen 
selbstandigen arztlichen Direktor, wahrend ein iibergeordneter Direktor. 
gleichfalls ein Arzt, die allgemein-arztliche und psychiatrische, hygienische 
und administrative Oberleitung des Ganzen, also der beiden Unteranstalten 
und der zentralen Einrichtungen zusammen besorgt. Duroh eine derartige 
Centralisation, verbunden zugleich mit einer Teilung der Direktions- 
geschafte auf drei verschiedene Schultern, hofft man die arztliche und ad¬ 
ministrative Verwaitung zu einem einheitlich wirkenden Ganzen zu ge- 
stalten. 

Im ganzen wird die Anstalt aus etwa 17 Gebauden fiir zentrale ge- 
raeinsame Anlagen, 20 Beamtenwohngebauden mit 52 Dienstwohnungen 
und 39 Krankenpavillons bestehen, zusammen aus 76 Gebauden. Man darf 
wohl sagen, daB damit der Charakter der Pavillonanstalt im ganzen gewahrt 
worden ist. 

Die Krankenhausbauten dieser ausgedehnten Anstalt konnen nun nioht 
aus lauter kleinen Pavilions bestehen, da sonst ihre Anzahl viel zu groB 
wiirde; sondern es war, um dies zu vermeiden, zum Teil eine Zusammen- 
fa8sung in groBere Baukomplexe notig. So wurde ein Lazaretthaus zu 150 
bis 200 Betten und Doppelpavillons von 50—80 Betten Belegziffer kon- 
struiert. Im iibrigen wird aber auch eine nicht geringe Anzahl von kleinen 
Landhausern und Villen hauptsachlich fiir das behagliche Wohnen der frei 
zu verpflegenden ruhigen und harmlosen Kranken zu 30—35Platzen erstehen. 

Der Bau dieser siebenten badischen Irrenanstalt wird schatzungsweise 
einen Aufwand von mindestens 10 Millionen Mark erfordem. Als Erstellungs- 
ort wird die Gegend um Rastatt. weil etwa der Mitte des Fiirsorgegebiets 
entsprechend, am geeignetsten anzusehen sein. 

Nachdem der badische Staat in den letzten 25 Jahren fiir das Anstalts- 
bauwesen — Neuerstellung von Emmendingen und Wiesloch, bauliche 
Neuerungen in den alten Anstalten — ungefahr 15 Millionen hat ausgeben 
miissen, sieht er sich also nun vor der Aufgabe, fiir die im Bau befindliche 
Anstalt bei Konstanz und fiir das hier skizzierte Projekt einer groBen 
Anstalt im Mitteliande von neuem die gleiche Summe von 15 Millionen, und 
zwar in der Halfte der Zeit aufzubringen — gewiB hohe Anforderungen an 
die Staatsfinanzen und an die Steuerkraft des Volkes. Dadurch war auch 
die ungewohnliche Form des neuen Bauprojektes. das einen bedeutend 
geringeren Aufwand erfordem soil, als zwei oder gar drei getrennte Anstalten 
mit je den gleichen zentralen Anlagen, begriindet und berechtigt. Die Opfer 
miissen aber gebracht werden, um in der Irrenfiirsorge des Landes endlich 
einmal mit der Beschaffung des unbedingt notigen Platzebedarfes in Irren- 
asylen zu klaren und gesunden Verhaitnissen zu kommen. Spaterhin bleibt 
dann zur Vervollstandigung der richtigen regionaren Verteilung der Heil- 
und Pflegeanstalten im Lande noch die Erstellung einer weiteren, ach ten 
Anstalt im nordostlichen Teile des Landes vorbehalten, hoffentlich erst als 
ein Werk der nachsten Greneration. 

0. jRonfce-Heidelberg: Die Gliomzelle und ihre Beziehung zur lotalen 
und ausgereiften Gliazelle. 

Unter den Neubildungen der Neuroglia miissen scharf unterschieden 
werden: 

1. deutlich begrenzte, fast immer derbe, faserreiche, an Mitosen arme. 
in den strukturellen Eigenschaften ihres Zellmaterials von anderen patho- 
logischen Prozessen der Neuroglia nicht wesentlich verschiedene Tumoren 
(zirkumskripte Gliosen, nach ihrem histologischen Verhalten gutartige 
Gliome); 

2. unscharf in die Umgebung iibergehende, wegen relativer Faserarmut 
und haufiger regressiver Veranderungen weiche, zell- und mitosenreiche, 
sp>eziell durch ihre Kemstrukturen von den Bildern bei alien sonst be- 
kannten Gliaprozessen verschiedene Tumoren (eigentliche, maligne Gliome). 


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414 83. Veisa nun king clout.seller Xaturforscher 

Die Zellen der letzteren unterseheiden sich durch gewisse morpholo- 
logische Eigenschaften, welche sie mit den Zellen anderer maligner Neu- 
bildungen teilen (absolute und relative GroBe, Chroma tin vert eilung. atypische 
Mitosen und Amitosen der Kerne, Tendenz, ein ungeheuer proliterations- 
fahiges, aus dem synzytialen protoplasm at ischen Verbande losgelostes 
Zellmaterial zu bilden, Neigung dieser Elemente, die gliosen Grenz- 
membranen zu durchbreehen), von alien sonst bekannten Biidungen sowohl 
der fotalen als der ausgereiften Neuroglia, unter normalen sowohl wie unter 
pathologischen Bedingungen. 

Strukturelle Eigenschaften. welche sie als in ihrer embryonalen 
Differenzierung gestort betrachten lieBen, sind an ihnen nicht zu konstatieren. 
In einem Fa He, in welchem sich ■— wozu weitaus die Mehrzahl maligner 
Gliome ungeeignet ist — die erste Bildung solcher Gliomzellen beobachten 
lieB, fehlte jeder morphologische Hinweis darauf, daB das sie produzierende 
Muttergewebe ein in seiner Fotalentwicklung gestortes sei; es land sich auch 
keine primare Verlagerung dieses Muttergewebes. Die Beobachtungen an 
diesem Falle machen es wahrscheinlich, daB es sich auch bei der Bildung 
maligner Gliome — wie bei der Karzinombildung (nach Hauser) — um die 
durch eine uns noch vollig unbekannte Ursache bedingte Entstehung einer 
besonderen, morphologisch und biologisch von ihrem Muttergewebe weit 
abweichenden ,,neuen Zellrasse 4 * handelt. 

BfewZer-Burgholzli: Das autistische Denken. 

Unter autistischem Denken versteht Bl. ein Denken, das unabhangig 
ist von logischen Regeln und an deren Stelle durch affektive Bediirfnisse 
dirigiert wird. 

Es kommt am ausgesprochensten bei der Dementia praecox und im 
Traum vor, dann in Mythologie und Aberglauben, in den Tagtraumen der 
Hysterischen und Gesunden und in der Poesie. 

Das autistische Denken kann fur seine Zwecke ganz unlogisches 
Material benutzen; Klangassoziationen, zufalliges Zusammentreffen von 
beliebigen Wahrnehmungen und Vorstellungen konnen an Stelle logischer 
Assoziationen treten, unvollstandig gedachte Begriffe, falsche Identi- 
fikationen. Verdichtungen, Verschiebungen, Symbole, die den Wert von 
Realitaten bekommen, und ahnliche abnorme Psychismen bilden zu einem 
Teil das Material, das vom antistischen Denken benutzt wird. Normales 
Material und normale Gedankengange kommen aber selbstverstandlich 
neben den abnormen vor. 

Das logische, der Realitat entsprechende Denken ist eine gedankliche 
Reproduktion solcher Verbindungen, wie sie uns die Wirklichkeit bietet. 

Das autistische Denken wird durch die Strebungen dirigiert; im 
Sinne der Strebungen wird gedacht ohne Rucksicht auf Logik und Wirk¬ 
lichkeit. Die den Strebungen zugrunde liegenden Affekte bahnen nach den 
bekannten Gesetzen ihnen entsprechende Assoziationen und hemmen 
widersprechende. 

Zu unseren Tendenzen gehort es, nicht nur den von auBen kommenden 
Schmerzen auszuweichen, sondem auch denen, die durch bio Be Vorstellungen 
erzeugt werden. So besteht der Erfolg des autistischen Denkens zunachst 
hauptsachlich darin, angenehme VorsteUungen zu verschaffen, unangenehme 
zu verdrangen. Spezielle W^iinsche als erfiillt sich zu denken, ist eine Haupt- 
tatigkeit des Autismus. 

Wo aber negative Stimmung vorhanden ist, kann es auch zu negativen 
autistischen Strebungen kommen. Das ist der Fall einerseits bei melan- 
cholischer Verstimmung und andererseits, wenn die Konflikte der autistischen 
Vorstellungen mit der Wirklichkeit empfunden werden. 

In der melancholischen Verstimmung schafft der Autismus depressive 
Wahnideen, die sich von dem gewohnlichen depressiven Wahn nur dadurch 
unterseheiden, daB sie leicht ganz unsinnig w'erden. 

Das unangenehme Gefiihl des Konfliktes mit der Wirklichkeit fiihrt 
zu Verfolgungswahn. . 


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und Aerzte in Karlsruhe. 


415 


Das autistische Denken kann bewuBt oder unbewuBt sein, ganz wie 
das logische. In der Dementia praecox aber treten mit einer gewissen 
Vorliebe fertige Resultate desselben als Halluzinationen, primordiale Wahn- 
ideen, Erinnerungstauschungen ins BewuBtsein. Die Ausarbeitung ist dann 
im Unbewu Bten geschehen. 

Das autistische Denken ist nicht eine primitive Denkform. Es konnte 
sich erst entwickeln, nachdem einmal das Denken mit bio Ben Erinnerungs- 
bildern die sofortige psychische Reaktion auf aktuelle aufiere Situationen 
stark iiberwog. 

Das gewohnliche Denken, die .,fonction du r^el“, ist das Primare und 
kann so wenig wie das der Realitat entsprechende Handeln von einem 
mit Psyche ausgestatteten Geschopf entbehrt werden, das lebensfahig ist. 

DaB die Sehwachung des logischen Denkens zum Vorwiegen des au- 
tistischen fiihrt, ist dennoch selbstverstandlich. weil das logische Denken 
mit Erinnerungsbildem durch die Erfahrung gelemt werden muB, wahrend 
das autistische angeborenen Mechanismen folgt. Diese konnen beliebiges 
Vorstellungsmaterial verwerten nach jedem Wesen innewohnenden Gesetzen. 

DaB das autistische Denken eine so groBe Rolle spielt und nicht durch 
die Auslese vernichtet ist, wird einerseits davon herriihren, daB es fiir einen 
endlichen Verstand unmoglich ist, eine Grenze zu ziehen zwischen realistischer 
und autistischer Phantasie, und andererseits davon. daB auch der rein© 
Autismus seinen Nutzen hat als Denkiibung, ahnlich wie das korperliche 
Spiel als tlbung korperlicher Fahigkeiten. 

Immerhin ist uns seine phylogenetische Bedeutung in manchen Be- 
ziehungen noch unklar, z. B. in seiner Ausdehnung auf die Kunst. 

Sitzung am 26. September vormittags. 

Vorsitz: &c/wiZe-Illenau. 

M. Friedmann-Mannheim (Autoreferat): Zur Kenntnis der gehauften 
nichtepileptischen Absenzen im Kindesalter. 

Bei der traurigen Prognose der Epilepsie erscheint es wichtig, die 
epilepsieahnlichen Erkrankungen, welche im iibrigen relativ gute Heilungs- 
aussichten darbieten, von jenen zu trennen. Eine solche neue Gruppe hatte 
Vortr. vor 4 Jahren beschrieben unter dem Tit el der kurzen narkoleptischen 
Anfalle, die sowohl bei Erwachsenen wie bei Kindern beobachtet werden. 
Bei letzteren treten die Anfalle in besonders charakteristischer Art auf, und 
hier ist die prognostische Frage iiberaus wichtig. Deshalb kommt jetzt Vortr. 
auf diese Krankheitsfalle zuriick, und dies auch darum, weil inzwischen 
zwar vereinzelt zustimmende AeuBerungen zu seiner Aufstellung laut ge- 
worden sind ( Heilbronner , Qruhle, ganz neuestens auch L. Mann), im all- 
gemeinen aber die Epilepsieforschung sich sonst wenig mitfder Frage befaBt 
hat. In den 4 Fallen bei Kindern, welche Vortr. damals beobachtet hatte. 
waren jedesmal die Anfalle relativ friih, zwischen dem 4. bis 7. Lebensjahre, 
zuerst aufgetreten, es waren eigentiimliehe Starrezustande in der Dauer 
von 10 bis 20 Sekunden, die Augen waren nach oben gedreht, der Korper 
schlaff und zu spontaner Bewegung unfahig (doch event, zu automatischer), 
dabei war BewuBtsein und Erinnerung voll erhalten. Sie traten jedesmal 
taglich in groBer Zahl wieder auf. zwischen 6 bis 40 mal und mehr, meist 
auch einige Male in der Nacht, dann unter Erwachen. Im iibrigen waren 
die Kinder geistig sehr lebhaft, sonst aber normal, und blieben auch 
weiterhin in ihrem Nervenleben ganz intakt. Dabei erwies sich das Leiden 
als hartnackig und dauerte 2 mal 7 bis 8 Jahre unverandert fort; in dreien 
der Falle verschwand es schlieBlich. Da nun auBerdem Vortr. 2 Falle bei 
Erwachsenen kennen lernte, die in der Kindheit an den Anfalien gelitten 
hatten und nun gesund waren; da er femer zahlreiche Falle im reifen Alter 
beobachtete, wo die Anfalle sich erst herausgebildet Flatten imd in der 
Melirzahl offenkundig auf dem Boden der Neurasthenie, niemals aber bei 
Epileptikern sich entwickelt hatten, so hielt sich Vortr. fiir berechtigt, die 
ganze Erkrankimg grundsatzlich von der Epilepsie zu trennen. Immerhin 


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83. Yersammlung deutscher Naturforscher 


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war zuzugeben. daB auch bei kindiichen echten Epilepsien einigermaflen 
ahnliche Anfalle ab und zu vorkommen, in denen das BewuBtsein partiell 
erhalten bleibt; doch kommen stets daneben die gewohnlichen Absenzen 
vor, und erstere sind auch nie nur annahemd so gehauft wie bei der narko- 
leptischen Form. Inzwischen hat Vortr. noch drei fernere Falle der letzteren 
Art zu beobachten Gelegenheit gehabt. Beim ersten. einem 6 jahrigen. 
klugen, lebhaften Madchen brachen die typischen Anfalle (20 bis 30 mal 
taghch) aus, anscheinend durch die Aufregung vor dem Schulanfange; sie 
wurden durch zwei Landaufenthalte merklich gebessert und horten 
nach 2 Jahren definitiv auf. Im 2. Falle kamen sie bei einem kraftigen, gut 
begabten, aber belasteten Madchen nach einer Nasenoperation, verloren 
sich 2 mal nach 7 bis 9 monatlicher Dauer etwa 1 Jahr lang, kehrten zum 
dritten Male zuriick (mit relativ zahlreichen nachtlichen Anfallen) und ver- 
schwanden vor 8 Monaten wiederum, und zwar nach einer Luftveranderung. 
Beide Kinder haben sich dabei sehr gut entwickelt. Im 3. Falle, bei einem 
8 jahrigen erregbaren, sonst normalen Knaben traten nach einem voraus- 
gehenden 1 stiindigen Schlafanfalle die Starrezustande besonders morgens 
beim Betreten der StraBe auf und im iibrigen jedesmal, wenn das Kind 
aufwarts in das Sonnenlicht blickte. AuBer der Drehung der Augen nach 
oben erfolgten noch ein paar Nickbeweg ungen des Kopfes. Nach 5 Monaten 
war eine Veranderung seither nicht eingetreten. AuBer den 6 Fallen des 
Vortr. sind noch von Heilhronner und ganz neuestens von L. Mann (Breslau) 
je 2 weitere beobachtet worden. In alien waren die Anfalle gleich, d. h. ein- 
fache Starrezustande von der Dauer einiger Sekunden, iinmer traten sie 
taglich und jeweils in groBer Zahl auf, nie wurden Krampfanfalle gesehen. 
und nie wurde die korperliche und geistige Entwicklimg gestort. Die Dauer 
des Leidens schwankte von 2 bis zu 8 Jahren, dann erfolgte meist Heilung 
ohne Residuen. Die Anfalle zeigten wieder die Eigentiimlichkeit, daB sie 
auf Bromsalze absolut nicht reagierten, dagegen wurden sie gewohnlich 
durch eine starke Gemiitsbewegung ausgelost, die einzelnen Anfalle aber 
scheinen erst durch Erwartung und Autosuggestion bei dem Kinde herbei- 
gefiihrt zu werden. Doch zeigten sie sich vereinzeit auch in der Nacht 
(unter Erwachen) bei den meisten der Kinder. Die Therapie erwies sich bis 
jetzt al8 machtlos. Bei langerer Ruhe, so bei Bettlage wegen interkurrenter 
Krankheit und bei Landaufenthalt, verschwanden die Anfalle indessen 
wiederholt und wochenlang vollig. Auf Grund der genannten Eigenschaften 
halt sich Vortr. auch jetzt fur berechtigt, das Leiden grundsatzlich von der 
Epilepsie zu trennen. Verwandt ist es sicherlich mit der Narkolepsie 
G&ineaus; ob es mit der Hysterie oder der Neurasthenic zusammenhangt, ist 
zweifelhaft; bei Erwachsenen allerdings sind die Beziehungen zur Neur¬ 
asthenic zweifellos in ausgepragter Art vorhanden. 

Nisei- Heid^berg: Experimentell-anatomische Untersuchungen liber 
die Hirnrinde. 

(Erscheint in extenso in der Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych.) 

J. Bauer und R. Leidler: Ueber den Einflufi der Aussehaltung ver- 
schiedener Hirnabschnitte auf die vestibularen Augenreflexe. 

Die vorliegenden Untersuchungen haben den Zweck, festzustellen. 
wo und wie die vom Vestibularapparat ausgelosten Augenreflexe zustande 
kommen und welchen Einflufl die verschiedenen Teile des Gehims auf diese 
Reflexe haben. Die von den Vortragenden an Kaninchen ausgefuhrten 
Versuche betreffen Ausschaltungen des Kleinhims bezw. einzelner Teile 
desselben, femer Lasionen im Bereich des Reflexbogens, Vestibularis-Augen- 
rnuskelkerne und schlieBlich Ausschaltungen der oral von diesem Reflex- 
bogen gelegenen Abschnitte des Zentralnervensystems (GroBhim, Thalamus). 
PA? •’ Die Kleinhimversuche ergaben ganz allgemein, daB nach Aussehaltung 
des KJeinhimwurms, und zwar mit EinschluB der Dachkeme, eine hoch- 
gradige Uebererregbarkeit des Vestibularapparates auftritt, und daB der 
Drehungsnachnystagmus dann nicht nur viel intensiver und langer anhaltend 
ist, sondem auch qualitative Abweichungen von der Norm zeigt. Spontan- 
nystagmus tritt niemals als Folge reiner Kleinhimverletzungen auf, sondem 


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und Aerzte in Karlsruhe. 


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ist immer auf Mitbeteiligung der bulbaren Vestibulariszentren zuriick- 
zufiihren. Nach halbseitiger Wurmlasion ist die Vestibularisiibererregbarkeit 
auf den gleichseitigen Vestibularapparat beschrankt. 

Nach Durchtrennung der Fasem zwischen kaudalem Drittel der 
Vestibularisendkeme und Fascic. longitud. poster., ferner nach Lasion im 
kaudalen Anteil des Deitermchen Kernes wurde spontaner Nystagmus zur 
ladierten Seite, nach intramedullarer Durchtrennung der Vestibulariswurzel 
vor deren Eintritt in die Endkerne wurde spontaner Nystagmus zur gesunden 
Seite beobachtet. In den ersten beiden Fallen handelt es sich um ein Reiz-, 
im letzteren um ein Ausfallssymptom. Die neben dem Spontannystagmus 
bestehende Deviation der Bulbi scheint auf eine Lasion des zentralen 
Otolithenapparates hinzuweisen, dessen Lokalisation derzeit vollig un- 
bekannt ist. 

Die vollstandige Ausschaltung des GroBhims. des Thalamus, ja sogar 
eine weitgehende Zerstorung des Mittelhirns bringen den vestibularen 
Nystagmus nicht zum Schwinden. Die Ausschaltung einer GroBhirn- 
hemisphare pflegt eine allmahlich vorubergehende, maBige Uebererregbarkeit 
des gleichseitigen und Untererregbarkeit des kontralateralen Vestibular- 
apparates zur Folge zu haben. Die gleichzeitige Entfernung beider GroBhim- 
hemispharen hat hingegen auf die Erregbarkeit der beiden Vestibular- 
apparate keinen EinfluB, imd der Drehimgsnachnystagmus wenige Stunden 
nach totaler GroBhirnexstirpation unterscheidet sich in keiner Weise von 
dem vor der Operation beobachteten. 

Damit ist sicher erwiesen, daB der Nystagmus resp. seine rasche 
Komponente nicht in der Himrinde zustande komint. wie dies von einigen 
Forschem behauptet wird. 

(Erscheint ausfuhrlich in Obersteiners ,,Arbeiten aus dem Wiener 
neurologischen Institute Bd. 19. H. 2. 1911.) 

J?omer-Hlenau: Zur Methodik der psychiatrischen Ursachenforschung. 

I. Der jetzige Stand der deutschen Irrenstatistik kann wissenschaft- 
lichen Anspriichen in keiner Weise geniigen. 

H. Die Bediirfnisse der Staatsverwaltungen wie die offentlichen In- 
tereesen in volkshygienischer, nationalokonomischer und sozialer Beziehimg 
erfordem dringend deren modeme Umgestaltung. 

HI. Fur die psychiatrische Forschung ist die Statistik als formale 
Arbeitsmethode unentbehrlich. Als exakte OeseUschaftsunssenschaft hat sie das 
wichtige demographisch-psychiatrische Grenzgebiet mit ihr gemeinsam. 

IV. Die psychiatrische Statistik hat sich zimachst auf die Anstalts- 
insassen eines Landes zu beschranken. Sie findet ihre Grimdlage in der 
Verwaltimgsstatistik, ihre organisatorische Zentrale in den statistischen 
Landesamtern. Ihre technische Durchfuhrung ist an das knappe Zdhl- 
blattchen gebunden; dieses allein gewahrleistet statistisch verwertbare Er- 
hebungen und ist zugleich zuverlassiger als die ausfuhrliche arztliche 
Fragekarte. 

Das Zahlblattchen soil enthalten: a) die ausfuhrlichen PersonaUen; 

b) die Diagnose nach einem zu vereinbarenden differenzierteren Schema ; 

c) die hauptsdchlichsten dtiologischen Moments; die statische Verwendbarkeit 
der letztgenannten hangt zum groBen Teii von weiteren Spezialunter- 
suchungen ab. 

V. Die Anstaltsstatistik eines Landes bedarf fur die Zwecke der 
Verwaltung sowie der Wissenschaft der Erganzung durch die Statistik der 
freilebenden Geisteskranken. Die einwandfreie Durchfuhrung einer solchen 
ist zur Zeit in Deutschland nicht moglich. Einen annaherungsweisen, aber 
dafiir zuverlassigen Ersatz bietet die von mir vorgeschlagene zentrale Stamm - 
lists alter amtlich bekannt werdenden Falle von Geisteskrankheit innerhalb 
eines Territoriums. 

Die Ausfiihrungen werden durch die Diagramme, die die Ergebnisse 
einer eigenen Statistik iiber 2770 Falle darstellen. unterstiitzt. a j 


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S3. Versammlung deutscher Nat-urforscher 


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Diskussion. 

Schule-IWtmnu. 

Arthur Kronfeld-Heidelberg: Experiment©lies zum Mechanismus der 
Auffassung. 

Fragestellung: 1st bei dem Zustandekommen von Auffassungsakten 
die Einstellung der Aufmerksamkeit (subjektiv), die Richtung der Ver- 
gegenstand 1 ich lings tendenz (objektiv) durch assoziative Mechanismen be- 
wirkt (Roll© der Konstellation fiir die Auffassungsakte) ? 

Experimented© Beantwortung: Methoden: tachistoskopische Lese- 
versuche und Bilderkennungsversuche verschiedenster Arten nach voraus- 
gegangenem Reizwort, das mit dem beabsichtigten Auffassungsergebnis 
(oder Fehlauffassungsergebnis) in bestiinmtem assoziativem Zusammen- 
hang steht. 

Resultat: Bejahung der Frage. Aufweisung von fiinf versehiedenen 
Auffass ungs typen: dem normalen, dem manischen. dem psychopathischen, 
dem „kritischen“, dem refraktaren Typ (Epilepsie. Katatonie). Diese Typen 
differieren in charakteristiseher Weise hinsichtlich des Anteiis exogen (durch 
das Reizwort) und endogen (affektiv) erwirkter Konstellationseffekte. 
hinsichtlich des Anteiis mangelhafter Auffassungsbildungen (Kennzeichen 
des ,,kritischen“ Typs). hinsichtlich der zeitlichen Auffassimgsschwelle. der 
Schwankungsbreite der Auffassungszeiten und hinsichtlich subjektiver Be- 
gleitumstande. Diese Differenzen konnen restlos auf allgemeine Eigenschaften 
im psychischen Habitus des jeweiligen Typus zuruckgefiihrt werden. Auch 
haftet den Formen assoziativer Beziehung an sicli jeweils verschiedene kon- 
stellierende Wirksamkeit bei den einzelnen Auffassungstypen an. 

Die konstellative Wirkung von Assoziationsmechanismen hangt femer 
in berechenbaror Weise von den Gestaltsqualitaten des gerade aufzufassenden 
Bild- oder Wortganzen ab. Sie greift an einzelnen Stellen des Wortes mit 
verschiedener Intensitat an, die sich zahlenmafiig darstellen lafit, und wirkt 
in dreifacher Weise: erganzend, transformierend, austilgend. Die analogen 
Verhaltnisse gelten fiir die Bildauffassungspr(ifungen. 

Von der Suggestion unterscheidet sich die Konstellation doppelt: die 
Konstellation erwirkt die Einstellung des Vorstellungsablaufes in eine be- 
stimmte Richtung durch assoziative, die Suggestion durch affektive exogene 
Mechanismen. Suggestiv werden nicht nur Auffassungsakte, sondem wird 
generell Ueberzeugung von der Giiltigkeit eines Tatbestandes erwirkt. 

Vix - Darmstadt: Psychiatrisch - neurologische ^ Untersuchungen an 
Schlafkranken in Deutsch-Ostafrika. 

Vortr. hat in dem deutschen Schlafkrankenlager Kigarama am West- 
ufer des Viktoria-Nyanza 70 Kranke mit Symptomen seitens des Zentral- 
nervensystems untersucht und beobachtet und in dem Lager Usambara 
am Tanganjikasee 3 Sektionen gemacht. Die Kranken in Kigarama hatten 
sich auf britischem Gebiet, in Uganda, infiziert. Das Westufer des Viktoria- 
sees scheint innerhalb der deutschen Grenze seuchenfrei zu sein. Die Ufer 
des Tanganjika sind stark verseueht. Das Hauptheilmittel ist irruner noch 
das Atoxyl. Es scheint in frischen Fallen in ca. 25 pCt. Heilung zu bringen. 
Unter Heilimg ist Freibleiben desBlutes vonTrypanosomen, bei korperlichem 
Wohlbefinden eine Beobachtungszeit von damals mindestens 2 Jahren 
hindurch zu verstehen. Wichtig erscheint auch die Kontrolle des Liquor, der 
manehmal Trypanosomen bei negativem Blutbefund enthalt. — Die nervosen 
Symptom© treten oft erst langere Zeit nach den Storungen des Allgemein- 
befindens und der Driisenschwellung auf. Psychische Storungen sind oft 
schon vor den somatischen da. Sie bestehen in Benommenheit von den 
leichtesten Graden bis zur tiefen Somnolenz. Doch wurde ausgesprochene 
Schlafsucht relativ selten und dann in den terminalen St€idien beobachtet. 
Abnahme der Intelligenz, der Denkfahigkeit imd des Gedachtnisses ent- 
sprechen der Regel. Die meisten Kranken haben Krankheitsgefiihl, viele 
sind depressiv, manche gehemmt. Schwere hypochondrische Verstimmung 
mit Suizidversuchen wurde beobachtet. Oft treten Erregungszustande 
mit manischem Zustandsbild^ auf. Schwere zommiitige Erregimg mit 


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Aggressicmen war inehrmals Folge von Verkennungen und Mi Bde ut ungen 
der Situation. Ein Fall wurde als Dammerzustand gedeutet. Halluzinationen 
waren nur in einem Fall wahrscheinlich. Auch funktionelle Abasie und 
Aphonie kommen vor. erstere namentlich bei Atoxylblinden. — Sehr haufig 
treten kortikale Anfalle von epileptiformem Aussehen auf. Danach bleiben 
bisweilen passagere Heiniplegien und psychische Storungen. wie delirante 
Zustande, Asymbolie, Aphasie zuriick. 

Paresen im Facio-lingualgebiet und hemiplegische Reste gehoren 
zu den haufigsten Ausfallerscheinungen. Pupillarreaktion und Augen- 
bewegungen sind nicht gestort. Artikulatorische Sprachstorungen finden 
sich nicht selten. Die oft bestehende Ataxie hat cerebellaren Charakter. 
Tremor und choreatische Bewegungen. letztere meist voriibergehend nach 
Anfallen, fanden sich ebenfalls haufig. Bulbare Symptome waren nicht 
mit Sicherheit nachzuweisen. Die Sensibilitat war intakt. Spinale Symptome 
finden sich sehr selten, kommen aber vor. Haufiger ist koinplizierende 
Neuritis. — Ein haufiges Syndrom ist Exophthalmus mit Pulsbesehleunigung 

— Der Exitus erfolgt nach meist hochgradiger Abmagerung imd in tiefer 
Verblodung. bisweilen auch im Status. — Die makroskopischen Obduktions- 
befunde seitens des Cerebrum waren gering: leichte Triibung der Pia, ge- 
ringer Hydrocephalus int. et. ext. und Ependymgranulation. Die mikro- 
skopische Untersuchung ergab im wesentlichen die gleichen Resultate wie 
die von Spielmeyer mitgeteilten. In einem Fall fand sich sekundare Dege¬ 
neration der GroWschen Strange und der Kleinhirnseitenstrangbahn. 

Wetzel- Heidelberg: Ueber Amentia. Der Vortrag ist zu kurzem Referat 
nicht geeignet. 

Sitzung am 26. September nachmittags. 

O. Bumke -Freiburg i. B.: Ueber nervdse Entartung. 

Die Frage, warum Familien und Volker zugrunde gehen, hat die 
Menschen von jeher beschaftigt. Insofern handelt es sich um ein geschicht- 
liches Problem. Heute ist es besonders die soziale Stromung unserer Zeit, 
die die Degenerationsfrage immer wieder an die Oberflache treibt, und dazu 
die Entwicklung der modemen Anthropologie, die das Schicksal lebender 
und ausgestorbener Rassen verfolgt. 

Entartung ist jede von Generation zu Generation zunehmende Ver- 
schlechterung der Art. Sie auBert sich in unzweckmaBigen Abweichungen 
vom Grundtypus. DaB diese Abweichungen grundsatzlich vererbbar sind, 
ist nicht notwendig; auch die bio Be Zunahme dufierer Schadlichkeiten — 
Ausbreitung von Syphilis und Alkoholismus — konnte ohne die Mitwirkung 
erblicher Momente jedes folgende Geschlecht kranker und schwacher 
machen, als das vorhergehende war. 

Schon deshalb war es ein Fehler, daB die Psychiatric allmahlich den 
Entartungsco rgang , auf den es doch Morel zunachst ankam, ganz vernach- 
lassigt und dafiir das Moment der Erblichkeit mehr und mehr in den Vorder- 
grund gestellt hat. 

Der Erfolg ist bekannt: es gibt heute keine endogene Geistes- und 
Nervenkrankheit und iiberhaupt kein nervoses Symptom, das nicht ge- 
legentlich zur Entartung gerechnet worden ware; ja oft genug hat man 
den Nachweis bestimmter korperlicher Varietaten fur ausreichend gehalten, 
um den Trager fiir dekadent zu erklaren. Dazu kam noch, daB der Begriff 
des Psychopathologischen iiberdehnt wurde; man muflte einen erheblichen 
Teil der Menschheit fiir entartet halten, wenn man gleich mit dem Genie 
den Anfang machte. 

Die wahre Gefahr aller europaischen Kulturvolker ist bekanntlich 
die, an der schon Griechenland und Rom zugrunde gegangen sind: der 
Volkertod , das Aussterben durch die Beschrdnkung der Kinderzahl. Der 
Vorgang beginnt gesetzmaBig in den oberen Schiehten. und so ware auch 
eine qualitative Verschlechterung der Art — eine ,,Ausrottung der Besten 4 * 

— auf diesem Wege wenigstens denkbar. Wahrscheinlich ware sie nur dann, 
wenn die bisher zum mindesten nicht bewiesene Hypothese zutrafe, daB eine 


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«S3. Versammlung deutscher Naturfoischer 


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be8timmte Rasse — die blonden dolichooephalen Germanen — ausschliefllich 
bestimmt sei, die Kulturtrager zu iiefem, und dafl diese Rasse allmahlick 
aufgebraucht werde. 

Auch das wiirde niemals zu einer Entartung im psychiatrischen Sinne 
fiihren konnen. DaB es aber eine solche iiberhauptgibt,ist gewifl; manbraucht 
nur an Syphilis und Paralyse und an die Beziehungen des Alkohols zuGeistes- 
krankheiten und zum Verbrechen zu erinnern, um das zu zeigen. Aber 
auch hier liegen die Dinge nicht ganz so klar, als manche meinen. Die meisten 
Trinker sind. von Hause aus abnorm, und deshalb wissen wir oft nicht, 
wieviel von ihrer Krankheit sowohl wie von der ihrer Bonder wirklich auf 
Rechnung des Giftes konunt. Gar nicht beantwortet ist bisher die Frage, 
wie weit die Schddigung der Deszendenz reicht. Ob aufler den Kindem 
auch die Enkel noch betroffen werden, das haben bisher weder klinische 
noch experimentelle Untersuchungen ganz aufgeklart. Sicher ist dagegen. 
dafl Alkohol imd Syphilis die Sterblichkeit der Nachkommen erhohen und 
so zum Aussterben der erkrankten Familien Veranlassung geben. 

Bei diesen Vorgangen handelt es sich nicht um Vererbung im bio- 
logischen Sinne, sondem um Keimvergiftungen . Diese spielen vielleicht eine 
Rolle, die iiber die Wirkung von Lues und Alkohol und von Infektionen 
und Intoxikationen liberhaupt noch weit hinausgeht. Vielleicht kann jede 
Allgemein-Krankheit, zu hohes oder zu niederes Alter der Eltem den Kindern 
in ganz ahnlicher Weise verhangnisvoll werden. 

Die Frage, ob die Gesetze der Vererbung im eigentlichen biologischen 
Sinne Entartungsmoglichkeiten in sich schlieflen, fallt in der Hauptsache 
mit dem Problem der Vererbung erworbener Eigenschaften zusammen. Diese 
Frage ist trotz zahlreicher Tierversuche noch nicht restlos beantwortet 
worden, aber schon heute kann gesagt werden, daC die Vererbung er¬ 
worbener psychischer und nervoser Eigenschaften nach den bisherigen 
Ergebnissen nahezu als ausgeschlossen gelten muB. Funktionelle Ab- 
anderungen, durch Gebrauch und Nichtgebrauch z. B. werden ebenso- 
wenig vererbt, wie Verstummelungen und ahnliches. In den bekannten 
Versuchen von Brown-Sequard, C . Westphal und Obersteiner aber hat es 
sich um Keimschadigungen, nicht um wirkliche Vererbung gehandelt. 

Damit fallt eigentlich schon das ganze Lehrgebaude, das Morel er- 
richtet hatte, in sich zusammen. Morel selbst ist durch die damals noch 
unvermeidbare Verwechslung von endogenen und exogenen Krankheiten 
irregefiihrt worden. Als AeuBer ungen der Entartung nennt er noch Paralyse 
und Kretinismus. Aber auch die allgemeinen Anschauungen iiber die 
pathologische Hereditat, von denen er ausging, sind inzwischen widerlegt 
worden. Nicht zur Entartung fiihren die Vererbungsgesetze, sondem zur 
Regeneration. Keine von Geschlecht zu Geschlecht zunehmende Ver- 
starkung endogener Krankheitsanlagen, sondern eine fortgesetzte Ver- 
diinnung. Deshalb besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Erkrankung 
nur fiir den, der von beiden Eltern her in gleichsinniger Weise belastet ist. 
Auch die Inzucht wirkt nur dadurch, daB sie gleichartige Anlagen verstarkt. 
Sind diese Anlagen wertvoil, so verbessert sie die Art, sind sie krankhafter 
Natur, so laBt sie sie entarten. 

Nun wird behauptet, imsere Kultur und speziell unsere moderne 
Hygiene ziichte geradezu derartige kranke Individuen. Die Irrenpflege 
erhalte die Geisteskranken. Das ist zuzugeben, aber zugleich hindert sie 
diese Kranken sich fortzupflanzen. 

Im iibrigen hat die Ueberfiillung der Irrenanstalten im wesentlichen 
80ziale Griinde, und dafl die Geisteskrankheiten wirklich zunehmen, ist nicht 
bewiesen. Haufiger geworden sind die Selbstmorde und auch die Kurve 
der Kriminalitdt steigt noch. Auch das sind soziale Erscheinungen. Das 
Leben hat mehr Reibungen, der Daseinskampf ist harter geworden — kein 
Wimder, daB moralisch oder intellektuell Schwache haufiger zermalmt 
werden als friiher. Die Art wird dadurch nicht schlechter. 

Aber auch die Nervenkrankheiten nehmen zu. Selbst wenn wir ab- 
ziehen, was Mode und soziale Fiirsorge an scheinbarem Zuwachs bringen. 


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und Aerzte in Karlsruhe. 


421 


neurasthenische und hypochondrische Zustande sind doeh wohl haufiger 
geworden, und nur die Kurve der Hysterie hat friiher schon starkere Gipfel 
erreicht. Dazu sind wir im ganzen nervoser. ,,reizsamer“ geworden. 

Die Ur8achen dieser Erseheinungen, denen sich die allgemeine Ent- 
artungsfurcht als gleichwertig anreiht, haben die Untersuehungen des 
Geschichtsforschers Lamprecht , des Kunsthistorikers Hamann und die der 
Mediziner Kraepelin , W. His und A. Hoche aufgeklart. Reizsamkeit, Sub- 
jektivismus und hypochondrische Grundstimmung klinden noeh nicht den 
Untergang an, sondem nur den Ucbergang , den Uebergang von einer Ktdtur - 
epochs in die andere. In alien ahnlichen Epochen der Weltgeschichte finden 
sich die gleichen Symptome, darunter nicht bloB die Haufung funktionell- 
nervoser Erkrankungen, sondem sogar das eigentiimliche Streben auch 
unserer Zeit, bei bestimmten Naturheilmethoden seine Zuflucht zu suchen. 
Voraussetzung dazu ist nur nocheines: die ..Sehuritat li . ,, AeuBerer Wohlstand 
und Fehlen dringender Sorgen disponiert zu gramlicher Selbstbeobachtung 
und hypochondrischen Klagen/* sagt Hoche und ,,Wenn es an den Kragen 
geht, hort die Nervositat auf/‘ meint His. 

Somit ist die nervose Entartung genau wie die korperliche Degeneration 
der Fabrikbevolkerung eine soziale Erscheinung. DaB sie erheblich zuge- 
nommen hatte, ist nicht sicher bewiesen, aber das andere ist wichtiger: sie 
ist kein Fatum, kein geheimnisvolles unaufhaltsames Geschick, sondem ein 
sichtbarer Feind, den wir bekampfen und uberwinden konnen. 

(Autoreferat.) 

Schott- Stetten: (Korref.) beschaftigt sich mit der klinisch-forensischeiv 
Seite des Problems. (Der Vortrag wird gekiirzt verlesen.) 

E. Thoma- Illenau: Untersuehungen an Zwangsz5glingen in Baden. 

Referent berichtet iiber die Ergebnisse von Untersuehungen an 620 
badischen Zwangszoglingen. 

Es erwiesen sich im ganzen fast 52 pCt. als geistig abnomi, eine Zahl. 
die sich auch anderweitig gefundenen annahert. Die weiteren Untersuehungen 
erstreckten sich in der Hauptsache auf die atiologischen Faktoren: Hereditat, 
Trunksucht und das Milieu sowie auf die Formen der gefundenen Storungen. 
Es zeigte sich, daB es sich in der Hauptsache um Imbezille und Psycho- 
pathen handelte, wahrend Epilepsie, Hysterie und eigentliche psychische 
Storungen an Zahl zuriicktraten. 

Das Resultat der Untersuchung wird in folgenden Leitsatzen zusammen- 
gefaBt: 

In der Zwangserziehung befindet sich eine groBe Anzahl geistig minder- 
wertiger abnormer Elemente, welche die gemeinsame Erziehung erschwert. 
und es ist daher die Mitwirkung eines psychiatrisch vorgebildeten Arztes 
notwendig. Dessen Tatigkeit bestiinde darin, jeden Zogling vor der Auf- 
nahme sowie in regelmaBigen Zwischenraumen alle auf ihren Geisteszustand 
zu untersuchen. AuBerdem waren das Lehrerpersonal und die Anstaltsleiter 
iiber den Zustand der einzelnen Zoglinge zu informieren. Der groBere Teil 
der als abnorm Befundenen kann in der gemeinsamen Erziehung bleiben. 
Ein kleinerer Teil, ca. 10 pCt., muB jedoch ausgeschieden werden und wird 
am besten zusammen mit denen, die noch beobachtet werden miissen, in 
einer unter psychiatrischer Aufsicht stehenden Abteilung vereinigt, die an 
eine Irren- oder eine Zwangserziehungsanstalt anzugliedem ist. Das letztere 
empfiehlt sich mehr und ist auch in Baden geplant. Daneben sollte jede 
groBere Anstalt eine kleine Abteilung fiir degenerierte Vollsinnige und Minder- 
wertige mit unangenehmenCharaktereigenschaften haben, um diese voriiber- 
gehend auszuschalten. damit in der iibrigen Anstalt eine moglichst freie 
Behandlung Platz greifen kann. Die schwer Erziehbaren und Degenerierten 
ganz in groBeren Anstalten zu vereinigen, ist weniger ratsam. 

(Ausfiihrliche Veroffentlichung in der Allgem. Ztschr. f. Psych. 1911.) 

A. Homburger- Heidelberg: Ueber die Entmiindigung bei krankhafter 
Haltlosigkeit und verwandten Formen der Psychopathie. 

GewisseabnoimeCharakterveranlagvrigen.diezu den psychopathischen 
Personlichkeiten zu rechnen sind -— die krankhafte Haltlosigkeit, die ihr 


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422 


83. Versammlung deutscher Naturforscher etc. 


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nahestehende sanguinische Minderwertigkeifc und phantastische Entartung —, 
fallen unter den Begriff der Geistesschwache im Sinne des § 6 B. G. B.. 
obgleich bei ihnen eine intellektuelle Schwache, ein Schwachsinn im popu- 
laren Wortsinn nicht vorliegt. Nicht die Form der geistigen Abnormitat. 
sondem der Grad und die Schwere ihres Einflusses auf die Lebensfiihrung 
entscheiden iiber Notwendigkeit und Zulassigkeit der Entmiindigung. 

Unter den genannten krankhaft veranlagten Personlichkeiten gibt 
es zwei Gruppen: 1. solche, deren Anlage zeitlebens inRichtung und St&rke 
gleich wirksam bleiben; 2. solche, bei denen die abwegige krankhafte 
Richtung nur eine vorlaufige ist und bei denen spater eine Abschwenkung 
der Entwicklung nach der geistigen Gesundheit hin eintritt. 

Der letztere Fall scheint haufiger vorzukommen, als gewohnlich an- 
genominen wird; er tritt sowohl bei Fallen, die der Moral insanity zugezahlt 
werden, wie bei Haltlosen ein. Derartig abnorm Veranlagte sieht man 
zwischen dem 18. und 25. Jahre sich antisozial, und zwar ausgesprochen 
krankhaft betatigen, gegen das 30. Jahr hin aber ruhiger, reifer. stetig und 
sozial werden und bleiben. 

Sie bediirfen des Schutzes der Entmiindigung in der Zeit ihrer hinaus- 
geschobenen, verzogerten Reife; diese Zeit ist fiir sie infolge ihrer krank- 
haften Affekte, ihrer erhohten Suggestibilitat und Autosuggestibilitat. ihrer 
Beeinflufibarkeit besonders verhangnisvoll. Sie riskieren dann ihr Ver- 
mogen, ihren Ruf, ihre soziale Stellung; besonders haufig gehen sie eine 
unwiirdige Ehe ein und haben spater die schweren Folgen dieses Schrittes 
zu tragen; oder aber sie errichten ein unverniinftiges Testament und geraten 
in der mannigfachsten Weise unter den verderblichen Einflufi von Menschen. 
die ihre Abnormitat erkennen und ausbeuten. 

Es ist Aufgabe einer verstandigen Entmiindgimgspraxis, diese Indi- 
viduen einerseits rechtzeitig zu schiitzen, andererseits sie dieses Schutzes 
wieder, ohne dafl sie selbst darum zu kampfen brauchen, rechtzeitig zu ent- 
kleiden, wenn sie dessen nicht mehr bediirfen. Das geltende Recht gibt hierzu 
die Moglichkeit in Form der Entmiindigung Minder jahriger. Folgende 
Gesichtspunkte konnen fur deren Anwendung geltend gemacht werden. 

1. Die Entmiindigung vor der Grofijahrigkeit schiitzt den abnorm 
Veranlagten, krankhaft Unreifen in seinem am moisten gefahrdeten Lebens- 
abschnitt. 

2. Sie ist geeignet, die schweren krankhaften Aeufierungen der ab- 
normen Anlage, die erst durch die Nachteile, die der Betreffende sich zuzieht. 
hervorgerufen werden, zu verhiiten und weiteren bedenklichen Steigerungen 
der krankhaften Affekte zuvorzukommen. 

3. Sie wird weniger schwer empfunden als die Entmiindigung dessen, 
der schon im Besitz der vollen Rechte war und davon Gebrauch gemacht hat. 

Die Erwtmiindigung Minder jahriger soil nicht unter dem Gesichtspunkte 
einer endgiiltigen, dauernden Entrechtung ausgesprochen werden. Sie soil 
vielmehr den Charakter einer nur hinausgeschobenen Volljahrigkeit tragen. 
Es ist die Aufgabe des Gutachters und des Richters, diesen Punkt in Gut- 
£ichten und Erkenntnis hervorzuheben. Es ist in entsprechenden Zeitab- 
standen seitens des Vormundschaftsrichters zu priifen, ob die Volljahrigkeit 
eintreten kann. 

Bayerthal- Worms: Ueber den Erziehungsbegriff in der Neuro- und 
Psychopathologie. 

Teils wird unter Erziehung nur die Jugenderziehung, nicht die Er- 
ziehimg durch das Leben verstanden, teils als Ziel der Erziehung die Er- 
langung der Fahigkeit zur Selbsterziehung betrachtet. Auch wird bei der Be- 
griffsumgrenzung nicht immer der erbliche Faktor geniigend beriicksichtigt, 
oder man lafit sich dabei vom Niitzlichkeitsstandpunkt leiten. Bei manchen 
Autoren stehen die Begriffe: Erziehung, leibliche Pflege, Schule, Gewohnheit, 
Uebung, Milieu, Beispiel, Nachahmung und Suggestion im Verhaltnis der 
Koordmation. Wieder andere verstehen imter Erziehung nur Charakter- 
bildung und unterscheiden zwischen angeborenem und erworbenem Charakter. 
Doch kann, wie Vortr. an anderer Stelle (,,Erblichkeit und Erziehung in 


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V. Jahresversammlung tier Gesellschaft etc*. 


423 


ihrer individuellen Bedeutung. 44 Wiesbaden. 1911) zu zeigen versucht hat, 
der Mensch auch in geistiger Hinsicht durch die Erziehung nur das erwerben, 
wozu er die ererbte Anlage besitzt. Vortr. hat a. a. O. die Erziehung definiert 
als ..Forderung und Hemmung der ererbten Anlagen von der Befruchtung 
der Keiinzelle an bis zuin Eintritt der Selbsterziehung in einein fur das 
Individuum und das Oesamtwohl gunstigen Sinne mittels planmaBiger 
Einwirkung 44 . Doch gibt es auch in Bezug auf den Erziehungsbegriff keine 
abschlieOende Vorstellung, sondern jedes Zeitaiter hat das Recht, ihn 
seinem wissenschaftlichen Bediirfnisse entsprechend zu umgrenzen. (Aus- 
fiihrliche Veroffentlichung in der ,.Medizinischen KIinik“). (Autoreferat.) 


V. Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Nervenarzte 
vom 2.—4. Oktober 1911 in Frankfurt a. M. 

Bericht von Dr. Lilienstein-Bad Nauheim. 

Die Sitzungen finden im Festsaal des Senckenberqischen Institute 
statt. Die Prasenzliste weist iiber 200 MitgJieder auf. In Vertretung des 
durch Krankheit verhinderten I. Vorsitzenden Erb eroffnet Oppenheim- 
Berlin die Versammlung imd weist in seiner BegriiBungsansprache auf die 
Bedeutung der von Frankfurter Forschem geleisteten Arbeiten fur die 
Neurologie hin. 

Eine lebhafte Diskussion folgt dem 1. Referat: A T onne-Hamburg: 

Ueber Wert und Bedeutung der modernen Syphilistherapie fiir die Be- 
handlung von Erkrankungen des Nervensystems. 

Nonne kommt zu folgenden Schluf3satzen: 

1. Es ist herechtigt, das Verhalten der Lymphozyten, der Globulin- 
reaktion und der Wassmaannreaktion im Blut und Liquor spinalis zur 
Beurteilung des Effektes bei der Behandlung der Lues cerebrospinal is heran- 
zuziehen. Fiir die Behandlung der parasyphilitischen Erkrankungen des 
Nervensystems ist diese Berechtigung zweifelhaft. 

2. Die bisherige Behandlung der echt syphilitischen Erkrankungen 
des Nervensystems mit Quecksilber imd Jod gibt iiberwiegend giinstige 
Resultate; restlose imd Dauerheilungen sind haufig. 

Die chronisch intermittierende Behandlung \*ird noch nicht geniigend 
durchgefiihrt. 

3. Die neuerdings mehrfach behaupteten Schadigimgen der Queck- 
silberkur existieren nach N.a Erfahrungen nicht. 

4. Einzelne gegen Quecksilber und Jod refraktare, lokalisierte syphi- 
litische Produkte am Him (und Riickenmark ?) eignen sich fiir die chirur- 
gische Therapie, dagegen muB die Verallgemeinerimg der chirurgischen 
Therapie (Horsley) abgelehnt werden. 

Die Quecksilberbehandlung bei Tabes ist berechtigt und begiinstigt 
in einer Reihe von Fallen offenbar die Gutartigkeit des Verlaufs. 

5. Nach den Erfahrungen iiber den Lecithin-Stoffwechsel bei Syphilis 
ist eine Dauerdarreichung resp. chron. Intermittieren von Lecithin bei 
syphilogenen Nervenkranklieiten indiziert. 

6. Die auf das Salvarsan gesetzten Hoffnungen erklaren sich durch 
die ungeniigende Einwirkung von Quecksilber imd Jod auf die para¬ 
syphilitischen Erkrankungen des Nervensystems. 

7. Die Anwendung des Salvarsans war a priori gerechtfertigt nur bei 
den echt syphilitischen. durch die Schaudinnsche Spirochate bedingten 
Nervenkrankheiten. Die Anwendung bei den parasyphilitischen Erkrankungen 
ist damit noch nicht gerechtfertigt. 


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424 V. Jahresversammlung der Gesellschaft 

8. Das Salvarsan ist nach unseren bisherigeu Erfahrungen iri der 
Praxis nicht organotrop. Fur das (zentrale und peripherische) Nerven- 
system steht dies noch nicht feat. 

9. Die Applikationsmethode der Wahl ist die intravenose Infusion 
in nicht saurer Losung. Diese Applikationsmethode bringt praktisch keine 
Schadigung (init der im zweiten Satz von 8 ausgesprochenen Einschrankung). 

10. Beim Kapitel der Prophylaxe ist noch unentschieden: 

a)Die Frage: Wirkt intensive Behandlung der primaren und sekundaren 
Syphilis giinstig oder ungiinstig in Riicksicht auf spatere Nervenerkrankung ? 
b) Ist das Salvarsan mehr im stande, die primare Syphilis zu koupieren, als 
Quecksilber ? c) Ist es fur die Riicksicht auf spatere Nervenerkrankungen 
giinstig oder ungiinstig, wenn die auBerlichen Syphilisrezidive zuriick- 
gedrangt werden ? 

11. Es ist nicht erwiesen, daB der EinfluB des Salvarsans auf die 
Pinkehr der Wasaermann-Reaktion ein starkerer ist als der des Quecksilbers. 

12. Die Frage der Neurorezidive bedarf emsterer weiterer Beachtung. 
Zur Zeit erscheint es wahrscheinlich, daB es sich um echte Syphilisrezidive 
ain Nervensystem und nicht um toxische Schadigungen durch Salvarsan 
handelt. Besonders sprechen in diesem Sinne die Ergebnisse der Lumbal- 
punktion. 

13. Die Behandlung der Lues cerebrospinalis mit Salvarsan zeigt 
keine wesentlichen Vorziige gegeniiber der Behandlung mit Quecksilber 
und Jod. zeigt aber ebenso gute Resultate. Der EinfluB des Salvarsans auf 
die vier Reaktionen ist hierbei ein zweifelloser. 

14. Die Behandlung der Tabes dorsalis mit Salvarsan zei^t niehts 
wesentlich anderes als die Behandlung mit anderen antisyphilitischen 
Mitteln. Der EinfluB des Salvarsans auf die 4 Reaktionen ist durchaus 
inkonstant, und die Veranderungen der 4 Reaktionen im giinstigen oder im 
ungiinstigen Sinne sind nicht immer proportional der Veranderung der 
lib ri gen klinischen Symptome. 

15. Dasselbe gilt fur die Paralyse. 

16. Kontraindiziert muB einstweilen die Anwendung des Salvarsans 
gel ten bei Lokalisation von syphilitischen Produkten in der Nahe lebens- 
wichtiger Zentren. 

17. Die Frage ist noch of fen, mit welchen Dosen und in welcher Wieder- 
holung Salvarsan zu geben ist. Die bisherigen Erfahrungen beziehen sich 
fast ausschliefllich auf die Behandlung mit einzelnen mittelgroBen Dosen. Ob 
hier eine chronisch-intermittierende Behandlung bessere Resultate gibt, muB 
die Zukunft lehren. Dazu wiirde gehoren, daB die jetzt sich fast allgemein 
einbiirgernde kombinierte Behandlung (Salvarsan und Quecksilber) aufhort. 

Dishussion: 

OppenAefra-Berlin stellt in einer TabeUe die von ihin mit Salvarsan 
erzielten Resultate und MiBerfolge zusammen. Wahrend er selbst in der Ver- 
wendung des Mittels zuriickhaltend geworden ist, beziehen sich seine Er¬ 
fahrungen vorwiegend auf Patienten, die ihn konsultierten, nachdem das 
Mittel von anderen Arzten bei ihnen angewandt worden war. Dadurch 
wird seine Statistik natiirlich in einem dem Salvarsan imgiinstigen Sinne 
beeinfluBt, da die Geheilten keinen AnlaB hatten, sich an den Arzt zu 
wenden. 

Seine Statistik umfaBt folgende Gruppen: 1. Lues cerebri, spinalis 
und cerebrospinalis mit 22 Fallen; 2. Tabes dorsalis 44 Falle; 3. Dementia 
paralytica 21 Falle; 4. anderweitige Erkrankungen des Nervensystems auf 
syphilit. Basis; 5. nervose Krankheiten im AnschluB an die Salvarsan- 
behandlung der Syphilis. 

0. zieht aus seinen Erfahrungen imter nochmaligem HinweLs auf die 
das TJrteil ungiinstig beeinflussende ZusammensteUung seines Materials 
folgendes Fazit: 

1. Das Salvarsan kann bei echt syphilitischen Erkrankungen des 
Nei vensystcms eine Heilwirkrng entfalten. Es leistet in dieser Beziehung 


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deutscher Nervenarzte in Frankfurt a. M. 


425 


anscheinend nicht mehr wie Jod und Quecksilber. hat aber den Vorzug. 
daB schon eine einzelne Dosis eine heilbringende Wirkung ausiiben kann. 
Oft laBt das Mittel im Stich, namentlich da, wo auch Jod und Merkur ver- 
sagt oder ihre Wirkung erschopft haben. Ob es in Bezug auf die Regel- 
maBigkeit und Nachhaltigkeit des Erfolgs einen Vorzug vor diesen Mitteln 
hat, bieibt abzuwarten. Es gibt Falle von Lues cerebri, in denen das Salvarsan 
einen deletaren Einflu 13 ausiiben kann. 

2. Bei Tabes und Paralyse ist der positive Nutzen der Salvarsan- 
behandlung ein sehr geringer; meist bieibt die Krankheit unbeeinfluBt, 
nicht selten entwickelt das Mittel eine schadliche Einwirkung, indem das 
Leiden rascher fortschreitet oder neue Symptome auftreten. Bei sicherer 
Diagnose der Tabes und Paralyse halt O. das Salvarsan nicht fur indiziert. 

3. Von anderweitigen nervosen Folgekrankheiten der Syphilis (polio- 
myelitis-ahnliche Affektionen, kombinierte Strangerkrankung etc.) gilt 
ungefahr dasselbe, was liber Gruppe 1 und 2 gesagt ist. Solange die Mog- 
lichkeit vorliegt, daB ein echt spezifischer ProzeB besteht. mag ein Versuch 
init dem Mittel gemacht werden. Gegen die metasyphilitisehen Entartungs- 
zustande ist die Ehrlichsehe Therapie ebenso wirkungslos wie die spezifische. 

4. DaB unter dem Einflufl der Salvarsanbehandlung schwere Er- 
seheinungen von seiten des zentralen Nervensysteins hervortreten konnen. 
geht auch aus O.s Erfahrungen hervor. Es scheint sich da in der Regel um 
Friihformen der Nervensyphilis zu handeln, doch ist die Frage noch nicht 
definitiv gelost. 

Ailes in allem halt O. es noch fiir zweifelhaft, ob die Therapie der 
Nervenkrankheiten durch die Ehrlichs che Entdeckung eine wesentliche 
Forderung erfahren hat. 

SchlieBlich wendet sich O. mit groBem Nachdruck gegen die neuer- 
dings hervortretenden Uebertreibungen in der spezifischen Behandlung der 
Tabes und Paralyse und ganz besonders gegen das Bestreben, die Wassermann- 
reaktion als Kriterium fiir die Anwendung, Fortflilirung und Erneuerung 
dieser Kuren zu benutzen; er halt das fiir ganzlich verfehlt. 

Ehrlich-F rankfurt verweist beziiglich der Neurorezidive der Lues 
nach Salvarsaninjektionen auf die L T ntersuchungen von Benario , der fest- 
gestellt hat. daB nach ifg-Behandlung die Zahl der Neurorezidive ebenso 
groB bzw. groBer ist als nach Salvarsan. Die Giftigkeit des Salvarsans 
wird durch Verunreinigungen des Wassers (speziell durch Colikeime) ganz 
ungeheuer erhoht. 

E. geht auf die Einwendungen von Finger-'Wien ein, der abnorm hohe 
Zahlen von Unfallen beobachtet hat. Da bei Finger eine solche Haufung von 
MiBerfolgen gegeniiber den anderen Beobachtem gefunden worden sei, so 
miisse die Art der Anwendung hieran schuld sein. Geringe Verunreinigungen 
des Wassers sind in den meisten Fallen die Ursache der Schadigungen. 

Ob eine Heilung durch Salvarsan bewirkt worden sei, lasse sich erst 
nach ca 1 Jahre (eventuell Reinjektion) entscheiden. Am zuverlassigsten 
sei die Woaserraann-Reaktion. 

Benario - Frankfurt a. M. hat die Neurorezidive aus der in dem 
Ehrlichschen Laboratorium eingelaufenen Korrespondenz imd der Literatur 
gesammelt. Die Zahl derselben belief sich auf 210, unter denen sich 16 
Herxheimersche Reaktionen befanden. Benario beschaftigt sich des weiteren 
mit der Frage, ob das Salvarsan indirekt schadigend wirkt, indem es 
einen Locus minoris resistentiae schafft. der die Ansiedlung der Spirochaten 
begiinstigt. Er bespricht zunachst die durch die Statistik ermittelten 
Zahlen beziiglich des Alters und Geschlechtes der Patienten, die mit den 
in friiheren Statistiken angegebenen iibereinstimmen. Beziiglich pradis- 
ponierender Momente hebt er den EinfluB des Alkohols und in geringerem 
MaBe den des Nikotins hervor und hinsichtlich des Berufes denjenigen der 
Schmiede und Schlosser, der Schiffsbediensteten, und auch denjenigen der 
Backer, Koche'und Kochinnen. Extragenitale Primaraffekte wurden in 
25 Fallen gleich 12,3 pCt. auf die Frischsyphilitischen bezogen, konstatiert. 

Monatsechrift f. Psyehiatrie u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 5. 28 


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V. Jahresversammlung der Gesellschaft 


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Unter diesen 25 waren 14 Chancres c6phaliques, gleich 7 pCt., Zahlen. 
welche die von friiheren Autoren gemachten Beobachtungen beziiglich 
der Haufigkeit der extragenitalen, insbesondere der sich am Kopf befind- 
lichen Priinaraffekte urn einVielfaches iibertreffen und so die Gef&hrlichkeit 
der extragenitalen Priinaraffekte. insbesondere der Chancres c6phaliques. 
fur eine spatere Hirnsyphilis beweisen diirften. 

Was die Schwere der Hautaffektionen anlangt, so wurde in 60 pCt. 
der Falle, in denen Angaben fiber das Exanthem vorhanden waren. papuloses 
Exanthem verinerkt. Schon Knorre hatte im Jahre 1849 auf den Zusammen- 
hang des papulosen Exanthems mit den Hirnnervenparesen im friihen 
Sekundarstadium hingewiesen. Was die Beteiligung der einzeinen Him- 
nerven bei den Neurorezidiven betrifft, so rangiert an erster Stelle. beziiglich 
der Haufigkeit, der Acusticus. dann folgt der Opticus, weiterhin der Oculo- 
motorius und Facialis, eine Reihenfolge, wie sie auch friiher schon von den 
Autoren angegeben worden ist. Durch dies© Feststellung diirfte auch die 
Annahme widerlegt sein, daB das Salvarsan einen Locus minoris resistentiae 
fur die Ansiedlung der Spirochaten schaffe, denn es miiBte schon eine ge- 
heimnisvolle Macht im Spiel sein, welche die Nerven gerade in der Reihen¬ 
folge schadigen sollte, in der die Erkrankungen friiher der Haufigkeitszahl 
nach beobachtet worden sind. Fiir die syphilitische Natur der Nerven- 
affektionen spricht aber insbesondere der Vergleich zwischen den bei Sal¬ 
varsan und den bei Quecksilbcrbehandlung beobachteten Fallen. Es konnte 
ermittelt werden. daB unter den 194 Neurorezidiven nach Salvarsan und 122 
Neurorezidiven nach Quecksilber der prozentuale Anteil an der Haufigkeit 
der Erkrankung der einzeinen Nerven der gleiche ist, was a us nachstehender 


Vergleichsiibersicht deutlich 

hervorgeht. 

Salvarsan 

Quecksilber 

Opticus 

29,1 pCt, 

25,1 pCt. 

Oculomotor ins 

8,6 

11,5 

Facialis 

16,3 

23,0 „ 

Acusticus 

35,0 ,. 

35,8 .. 


Aus dieser Vergleichsiibersicht geht wohi mit logischer Konsequenz 
hervor, da 13 die Causa agens der syphilitische ProzeB und nicht das Medi- 
kament ist. 

Vortragender bespricht dann den pathologisch-anatomischen ProzeB. 
der den klinischen Erscheinungen zugrunde liegt, imd verlegt den primaren 
Sitz der Erkrankungen unter Anlehnung an die Arbeiten von Diirk, Stras - 
tnann, Stursberg. Beitzke in die perivaskularen Lymphraume der GefaBe 
der weichen Hirnhaute und verweist insbesondere auf eine neuere Arbeit 
von Ravaut y welcher direkt von einer Meningo-Vascularitis spricht. Das 
Primare der GefaBerkrankung ist die Infiltration der Adventitia und Media, 
wahrend sekundar oder koordiniert die Intima erkrankt. Den sichtbaren 
Ausdruck der meist aus Lymphozyten bestehenden Infiltration der peri¬ 
vaskularen Lymphraume des Gehirns bildet die Lymphozytose des Lumbal- 
punktats. Da diese den klinischen Erscheinungen oft langere Zeit voraus- 
geht, oder noch vorhanden sein kann. wenn diese bereits abgeklungen, so 
vindiziert der Vortragende der Lymphozytose des Lumbalpunktats neben 
der Feststellung der iibrigen Reaktionen eine wichtige Roll© fur die ein- 
zuleitende oder fortzusetzende Therapie. Gleich wie in der Wassermann - 
schen Reaktion im Blut sind in den Reaktionen im Liquor objektive An- 
haltspunkte fiir den Erfolg der Therapie gegeben. Benario verweist auf 
die diesbeziigliche Arbeit von Vincent und zitiert aus derselben Beispiele, 
welche die lange Dauer der Lymphozytose selbst nach Abklingen der 
klinischen Erscheinungen beweisen. 

Benario pladiert dafiir, daB die Dermatologen schon im Friihstadium 
der Syphilis den Sinnesorganen erhohte Beachtung schenken, ev. unter 
Heranziehung der Lumbalpunktion. da diese einen wichtigen Indikator fiir 
die in den Meningen sich abspielenden Prozesse bildet, und er glaubt, daB in 
der friihzeitigen und energischen Behandlung A auch A der^geringsten H!im- 


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deutseher Nervenarzte in Frankfurt a. M. 


427 


symptom© spateren irreparablen Vorgangen im Gehirn vorgebeugt warden 
konne. 

-Finder-Wien ist der Ansicht, daB man. um zu einem Urteile uber die 
Nebenwirkungen dee Salvarsans zu kommen, samtliche AeuOerungen, die 
nach Applikation des Mittels auftreten, miteinander betraehten miisse. 

Zunachst seien hier jene Erscheinungen zu erwahnen, die sich un- 
mittelbar an die Injektion anschlieCen und in der Mehrzahi der Fade, wenn 
auch in sehr verschiedener Intensitiit. zur Beobachtung gelangen. Die 
Mehrzahi der Autoren bet-rachtet- diene Erscheinungen als solche einer akuten 
Arsenintoxikatiori. Nur Neifizr und Kusnicky sehen dieselben als eine 
spezifLsche Reaktion an, die auf das Zugrundegehen zahlreicher Spiroehaten 
zuriickziifiihren sei. Dem ist entgegenzuhalten, daC dies© Erscheinungen 
bereits einige Todesfalle herbeifiihrten, in welehen die Sektion akute Arsen¬ 
intoxikation ergab. Einen solchen Fall aus dem Institute Weichselbaums 
fiihrt Finger an. Dann aber ist zu beachten, daB diese Erscheinungen auch 
bei Behandlung von Patienten nut Psoriasis, Lepra auftreten. Der Wechsel - 
mannschen Ansicht. diese Erscheinungen seien auf das Vorhandensein 
zahlreicher Leiber abgetdteter Bakterien in dem zur Injektion verwandten 
Wasser zuriiekzufiihren, widerspricht Finger. Das von ihm verwandte 
Wasser sei vor dem Sterilisieren fast keimfrei, und intravenose Kochsalz- 
injektionen mit diesem Wasser an den Wiener Kliniken in grower Zahl vor- 
genommen haben nie ahnliche Erscheinungen ergeben. Auch treten diese 
Erscheinungen nach intramuskularen Injektionen auf, bei denen das Wasser 
keine Rolle spielt. 

Finger weist darauf hin, daC zwischen der Herxheimer -Reaktion nach 
Quecksilber und nach Salvarsan insofem ein prinzipieller Unterschied 
beeteht, als diese Reaktion bei Quecksilber nur bei Syphilis auftritt und dem 
Spirochatengehalt der Effloreszenzen parallel ist, wahrend bei Salvarsan 
dies nicht der Fall sei und die Reaktion auch bei Nichtlues: Lichen ruber 
Psoriasis vulgaris, Lupus vulgaris, auftritt. 

Was die Neurorezidive betrifft, so macht Finger darauf aufmerksam, 
daC die von Ehrlich ausgegebene Statistik liber deren Haufigkeit mit den 
Angaben mancher Autoren, so Herxheimer , Weintraut. Wechselmann , in 
Widerspruch steht. Er weist aus deren Angaben nach, daC die Genannten 
nur eine sehr geringe Zahl ihrer Patienten in dauernder Beobachtung halten 
konnten, wahrend er liber 75 pCt. Dauerbeobachtungen verfiigt, und fiihrt 
darauf den Umstand zuriick, daC die Haufigkeit der Neurorezidive an seiner 
Klinik scheinbar eine groCere ist. 

Was die Zeit des Auftretens der Neurorezidive betrifft, so hat Finger 
solche auch 1, 2, 6, 12 Jahre nach der Infektion beobachtet. 

Das klinische Bild derselben ist ein sehr vielgestaltiges. Neben 18 
Acusticu8affektionen, 5 Fallen von Neuritis optica, 6 Erkrankungen anderer 
Himnerven beobachtete Finger in 7 Fallen ein eigentiimliches Krankheits- 
bild: Schwindel, Kopfschmerz, Abmagerung, schwere VergeOlichkeit, das 
weder auf Quecksilber noch auf Salvarsan reagierte. In 2 Fallen tertiarer 
Lues entwickelte sich nach der Injektion das Symptomenbild spastischer 
Spinalparalyse, 3 mal kam es zu epileptiformen Anfallen, 2 mal bei Patienten 
mit rezenter Lues zu Hemiplegie, die in einem Falle letal ausging. Die Sektion 
ergab mehrere Erweichungsherde im Gehirn, bedingt durch Tnrombose 
auf der Basis ausgebreiteter Arteriitis der basalen Hirnarterien. 

DaC diese Erscheinungen mit dem Salvarsan zusammenhangen. 
beweist deren Auftreten 6 bis 8 Wochen nach der Injektion und die Haufung 
dieser Erscheinungen bei mit Salvarsan behandelten Patienten. 

Die Auffassung Ehrlichs , die Neurorezidive seien bedingt durch 
isolierte Spirochatenherde bei sonst volikommener Sterilisierung des 
Korpere an unzuganglichen Oertlichkeiten (Knochenkanalen), erscheint 
Finger nicht annehmbar, nachdem einmal 12 seiner 44 Patienten neben 
den Neurorezidiven Haut- imd Schleimhautrezidive darboten. Anderseits 
sprechen diese^Erscheinungen sowohl als der von Finger angefiihrte Sektions- 

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V. Jaliresversammlung der Gesellschaft 


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befund dafiir, daB es sich bei den Neurorezidiven um die Erscheinungen 
einer Lues cerebri auf der Basis einer syphilitischenGefaBerkrankung handelt. 
Nachdem H. H. Meyer und Gottlieb alle Erscheinungen der chronischen 
Arsen-Intoxikation auf eine primare Vergiftung der KapilJaren zuriick- 
fiihren, sieht Finger in dieser Schadigung das Moment, das die Loci minoris 
resistentiae fiir die Lues setzt. 

Finger erwahnt weiter 2 Falle, in denen einige Wochen nach der Sal¬ 
varsaninjektion schwere Gehirnerscheinungen auftraten, die zu letalem 
Ausgang fiihrten und in denen die Sektion frische tuberkulose Meningitis 
sowie Erweichung einer Bronchialdriise ergab, und erinnert daran, daB auch 
Herxheimer die Erweichung einer tuberkulosen Cervikaldriise unter Sal- 
varsan beobachtete. 

Die Prognose der Neurorezidive mochte Finger nach seinen Beobach- 
t ungen nicht zu giinstig stellen. 

Nachdem das Material Fingers eine Verteilung der Neurorezidive in 
der Art ergab, daB dieselben im primaren und im tertiaren Stadium mit je 
4 pCt. figurieren, im sekundaren Stadium eine Haufigkeit von 12pCt. 
darbieten, schlie fit Finger daraus, daB insbesondere die Behandlung se- 
kundarer Lues mit Salvarsan kontraindiziert sei. 

O. Fischer-P rag teilt mit, daB er nach der Salvarsananwendung bei 
der Paralyse durchwegs sehr rapide und schwere Verblodung gesehen habe, 
wie sie sonst erst in spaten Stadien der Krankheit einzutreten pflegt, und 
halt das Mittel bei D. p. direkt fiir kontraindiziert, besonders weim wir heute 
in der Nuklein- und Tuberkulinbehandlung der Paralyse ein Verfahren 
hesitzen. welches vollkommen unschadlich in sehr giinstiger Weise den Ver- 
iauf der Krankheit zu beeinflussen vermag ( ? Ref.). 

Treupel-Frauklurt a. M. faBt zunachst die Erfahrungen zusammen, 
die auf seiner Klinik mit der spezifischen Behandlung der luetischen und 
metaluetischen Erkrankungen des Nervensystems gemacht worden sind. 

Die Erfolge der Salvarsantherapie. die bei Lues des Zentralnerven- 
systems seither allgemein Bestatigung gefunden haben, mochte er auch 
fiir die metaluetischen Erkrankungen nicht zu gering eingeschatzt wissen. 

Es sind bei Tabes nicht nur die neuralgischen Schmerzen , die Krisen 
fiir langere Zeit beseitigt worden, sondem auch die Ataxie hat da. wo sie 
vorhanden war, zweifellos eine erhebliche Besserung erfahren. In diesem 
Sinne fiihrt er einen 52 jahrigen Herm an, der mit schwerer Ataxie im 
2. Stadium der Tabes behaftet war. und bei dem nach viermaliger intra- 
vendser Salvarsaninjektion mit einer Gesamtdosis von 1,8 die Ataxie so ge- 
bessert worden ist, daB er ohne Stock gehen, ja sogar auf einen abfahrenden 
Zug aufspringen konnte, was vor der Behandlung ganzlich ausgeschlossen 
gewesen ware. 

Die Exazerbation der Schmerzen nach der Salvarsaninjektion bei Tabes 
ist so konstant und regelmaBig von ihra beobachtet worden, daB er diese 
Neuroreaktion, wie er sie bezeichnen mochte, fiir charakteristisch halt. Sie 
dauert, wie bereits mehrfach von ihm ausgefiihrt worden ist, 24 bis 
36 Stunden, an und mit ihrem Abklingen verschwinden die neuralgischen 
Symptome fiir langere Zeit iiberhaupt. 

Die bei Paralyse erzielten Besserungen sind doch auch in den 
beginenden Fallen im AnschluB an die Injektion meist so deutlich und 
nachhaltig gewesen, daB man sich nicht dem Eindruck eines erheblich 
therapeutischen Erfolges hierbei entziehen kann. 

Was nun das Auftreten von Ldhmutigserscheinungen speziell im Be- 
reich bestimmter Himnerven ( Facialis . Acusticus) nach Salvarsaninjektion 
betrifft, so kann er sich nicht der Auffassung derjenigen anschlieflen, die 
darin eine neurotrope Wirkung schadigender Art des Salvarsans erblicken. 
Er halt diese S tor ungen fiir das Aufflackem syphilitischer Prozesse, vielleicht 
veranlaBt durch meningeale Reizerscheinungen. Jedenfalls kann die Wirkung 
des Salvarsans dabei nur eine indirekte. auslosende sein; denn wenn es sich 
um eine neurotrope toxische Wirkung des Salvarsans handelte. so diirften 


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doch diese Erscheinungen durch die Wiederholung der Salvarsaninjektion 
verschlimmert and nicht gebessert werden. In diesem Sinn© scheint ihni 
©in von ihm beobachteter Fall von besonderer Wichtigkeit zu sein: 

31 jahriger Lackierer mit Lues ini 2. Stadium ©rhielt zunachst 0,9 g 
Salvar8an nach Kromayer und 4 Wochen spa ter 0,4 g Salvarsan intravenos 
injiziert. Die anfangs stark positive Wassermannsche Reaktion wurde im 
Verlauf der nachsten Wochen schwach positiv und schlieBlich negativ. 
2 Monate spater erschien Patient mit einer rechtsseitigen Facialisparese. 
die alls Aeste des Facialis betraf. imd mit subjektiven und objektiven Qehor - 
storungen. Die Flustersprache wurde rechts auf etwa 50 cm, links nur auf 
etwa 2 cm gehort. Das link© Trommelfell war deutlich getriibt. Der anfangs 
negative Wassermann wurde wahrend der Beobachtung dieser Krankheits- 
erscheinungen positiv und blieb es in den nachsten Wochen. Die nun ein- 
geleitete Hg-Schmierkur muBte, da schon nach der 6. Einreibung trotz 
sorgfaltigster Mund- und Zahnpflege eine schwere merkurielle Stomatitis 
auftrat. abgebrochen werden. Der Patient erhielt auf seinen eigenen Wunsch 

2 Wochen spater eine 3. Salvarsaninjektion (0,4 g intravenos). 

Die Erscheinungen von seiten des Facialis und Acusticus sind nun 
dber nach dieser 3. Salvarsaninjektion nicht etwa in verstdrktem Mafie hervor- 
getreten , sie bildeten sich vielmehr ganz rasch zurilck und waren im Verlauf 
von etwa 3 Wochen vollstandig versehwunden, wahrend der Wassermann 

3 Wochen nach der 3. Salvarsaninjektion noch schwach positiv war. 

Bei einem 2. Fall, der einen 35 jahrigen Metzger betrifft, war wegeri 
einer cerebralen gummosen Lues eine intramuskulare Injektion von Salvarsan 
(0,6) mit sehr gutem Erfolge vorgenommen worden. Nach fast einjdhrigem 
vollkommenetn Wohlbefinden erschien der Patient mit Qehorsstorungen am 
linken Ohr, mit Schwindelgefiihlen, Sehmerzen auf der rechten Kopfseite 
und einem sich deutlich auf der rechten Stimseite vorwolbenden Gumma 
wieder. Der linke Facialis war in seinen unteren Aesten paretisch, der Stim- 
ast frei. Die Fliisterstimme und Ticken der Uhr wurden auf dem linken 
Ohr nicht mehr gehort. Das Trommelfell war intakt. Die iibrigen Hirnnerven 
waren frei. Die Wassermannsche Reaktion war wiederum positiv. Der Patient 
©rhielt nun auf seinen ausdriicklichen Wunsch 0,6 und 7 Tage spater noch 
0,4 g Salvarsan intravenos. 

Auch hier sind trotz dieser verhaltnismaUig groBen Salvarsandosis 
die Erscheinungen von seiten der Gehirnnerven nicht starker geworden. 
sondern wie in dem vorher erwahnten Falle zuruckgegangen. Hier kann aber 
doch nur an eine luetische Grundlage flir die Erscheinungen des Patienten 
gedacht werden, die dann natiirlich durch die Salvarsaninjektion so, wie beim 
ersten Mai, jetzt beim zweiten Mai gebessert worden sind. 

Die Analogic beider Fall© in dieser Beziehung springt in die Augen, 
und es ist auch wirklich nicht einzusehen. warum in dem ersten Fall die 
luetische Grundlage fur die Erscheinungen negiert werden soli. Hier eine 
toxischeWirkung der Salvarsaninjektion anzunehmen, hie Be den beobachteten 
Erscheinungen und ihrem Verlauf© Gewa't an tun. 

Ed. Schwarz-I&iga, resiimiert seine Erfahrungen iiber die Wirkung 
i on ,,606“ bei Tabes und Lues cerebri, die er an einer Reihe von Kranken 
inachte und bei denen er den Verlauf der Salvarsanwirkung durch die vier 
Vonneschen und die Pdndyachen Reaktion kontrollierte, indem er mindestens 
3 mal —- zu Beginn, in der Mitte und zum SchluB der Behandlungsperiode — 
dieselben Reaktionen ausfiihrte. Sch. dcmonstriert, Reaktionsbilder als 
Beispiele. 

Dew Ergebnis seiner Untersuchungen sei in mancher Beziehung ein 
abweichendes von den Erfahrungen anderer Untersucher; so sei der 
Wassermann in unbehandelten Fallen sowohl im Blut wie im Liquor stets 

S «itiv (gleich den Angaben von H. Boas ; aber der W. im Blut konne 
urch Hg ?!) schwinden; mit Nonne-Hauptmann sei der W. im Liquor aber 
stets positiv gewesen. 

Die Wirkung des ,.606“ auf die Tabes sei eine giinstige. es lasse sich 
nachweisen, dafl bei stationarer Behandlung die stets vorhandene Pleozytose 


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V. Jahresversammlung der Gesellschaft 


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in alien Fallen schwinde, reap. sich sehr vermindere; so greife das Salvarsan 
das Uebel an seiner Wurzel an (— wenn sich die Nageotte schen Anschauungen 
bestatigten und die Pleozytose der auBere Ausdruck fiir die der Tabes zu- 
grunde liegende Meningitis sei -—). Das Salvarsan sei dem Hg in mancher 
Beziehimg liberlegen. 

Bei Lues cerebri wirke das Salvarsan so giinstig und so schneU , daB 
ein Schwinden der objektiven Erscheinungen (Neuritis opt.) und die sue- 
jektive Euphorie sich jriiher einstelle. ehe die oft schon hochgradige Pleo¬ 
zytose gesehwunden sei; man solle daher die Thera pie so lange fcritsetzen, 
bis die Pleozytose gesehwunden sei. — Bei zu friiher Entlassung blieben 
Reste von Pleozytose zuriick; ein Zeichen noch restierender Lues cerebri, 
auf welchem Boden sich die Rezidive entwickelten. 

Die sog. ,,Neurorezidive 4 ‘ seien rezidivierende syphilitische Affektionen 
des Zentralnervensystems oder — trotz ambulanter Therapie und Hg und 
Salvarsan — sich auf das Zentralnervensystem weiter ausdehnende 
Syphilis. Das Salvarsan wirke bei dieser .,Salvarsanschadigung“ SuBerst 
giinstig. 

Veranlassung zu solclien ,,Rezidiven“ gebe unzweckm&Biges Ver- 
lialten und ambulante Therapie, die direkt zu widerraten sei. 

Vortragender habe nur stationar behandelt und bei hohen Dosen 
xmd haufiger Wiederholung der intravenosen Applikation nie unangenehme 
Folgen gesehen. 

Auch bei Lues cerebri sei die Wassermannreaktion im Liquor mit HUfe 
von Nonne-Hauptmann stets positiv gefunden worden; im Blut fehle sie 
offers (Folge vorhergegangener Hg-Therapie ?); trete, wenn fehlend, nach 
Einleitung der Salvarsantherapie wieder auf und sei somit als differential- 
diagnostisches Moment in Bezug auf Paralyse unbrauchbar. 

Mattauschek-Wien pflichtet auf Grund seiner Erfahrung an einein 
gro Ben. gut verfolgten Material dem Postulat nach einer chronisch inter- 
mittierenden Behandlung auch latenter Luetiker unbedingt bei. Intensive 
Behandlung der primaren und sekundaren Syphilis kann fiir die Zukunft 
der Infizierten nur giinstig wirken. Die Besorgnis. daB eine Zuriickdrangung 
der Syphilisrezidive ungiinstige Folgen haben konnte, teilt er nicht. Er 
meint, daB die im allgemeinen milde gewordene Verlaufsform der Tabes 
und Paralyse doch mit der in den letzten Jahrzelmten rationeller gewordenen 
Luesbehandlung in Zusammenhang gebracht w r erden kann. Die Salvarsan- 
behandlung der echt syphilitischen Nervenkrankheiten halt er nicht nur 
fiir gerechtfertigt, sondem in manchen Fallen, speziell bei cerebraler und 
spinaler Lues, fiir geradezu indiziert. 

Die Salvarsantherapie lafit durcli die Raschheit ihrer Wirkung Heil- 
affekte erzielen, die als lebens- und funktionsrettend angesehen werden 
konnen und mit den bisher iiblichen Methoden kaum erreichbar sind. M* 
sah bei cerebrospinaler Lues in der iiberwiegenden Zahl der Falle ganz 
ausgezeichnete Erfolge, wenig ganzliche Versager, nie nennenswerte Neben- 
erscheinungen. Fiir den Neurologen kommt das Streben nach moglichst 
radikaler und dauerhafter sterilisierender Therapie nicht in erster Linie 
in Betracht. sondern istVorsicht geboten wegen der haufigen komplizierenden 
Herz- und GefaBalterationen und der heftigen Reaktion Gehirnkranker 
auf zu heroisch wirkende Applikationen. Er hat bisher nur die intramuskulare 
Anwendung mittelgroBer Dosen in monazider Losung geiibt und halt 
nach seinen Erfahrungen an dieser Methode fest. In hartnackigen Fallen 
kombiniert er die intramuskulare Injektion mit bestem Erfolge mit Hg 
und Jod. 

Pilcz-Wien hat gemeinsam mit MaUauschek 4132 Luetiker von dem 
Jahre 1880 angefangen katamnestisch imtersucht. 

Hiervon waren 195 = 4,69pCt. paralvtisch. Von den Luetikern. 
welche rezidivfrei geblieben sind, erkrankten 42 pCt.. von denen, welche 
nur lokal behandelt waren, 23 pCt., nach 1 maliger Behandlung 30 pCt. an 
Paralyse. Ein Zuriickdrangen der Rezidive schadet nicht. sonst miiBten 


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unter dem paralytischen Material viele mit Rezidiven einerseits und guter 
Behandlung andererseits sein. 

Unter den Paralytikem sind das Gros Falle ohne Rezidive trotz 
inangelhafter Therapie einerseits und solche mit vielen Rezidiven und 
energischer Behandlung andererseits. 

R. &cftt**fer-Aachen berichtet liber 88 genau beobachtete, nach den 
bisher liblichen Verfahren der kombinierten Hg-Jod-Anwendung behandelte 
Falle von Syphilis des Zentralnervensystems, wovon 55 Lues cerebrospinalis, 
28 Tabes dorsalis und 5 progressive Paralyse betrafen Lege man als MaBstab 
einer ausreiehenden Behandlung die Neifter-Foumierache chronischinter- 
mittierende Behandlung zugrunde, so ergebe sich, daB 84 pCt. dieser Falle 
eine vollig unzureichende Behandlung durchgemacht hatten. Ungefahr die 
Halfte war vollig frei von Sekundarerscheinungen geblieben und hatte sich 
infolgedessen fiir geheilt gehalten. Es sei weiter von Interesse, daB diese 
in ungefahr dem gleichen Verhaltnis wie diejenigen, die gut behandelt, 
bezw. zahlreiche Rezidive durchgemacht hatten, von mehr oder weniger 
schweren spezifisohen Nervenerkrankungen befallen wurden. Man sei 
daher nicht berechtigt. aus dem Ausbleiben von Rezidiven irgendwelche 
giinstigen prognostisehen Schliisse zu ziehen; auch der negative Ausfall 
der Wassemianns chen Reaktion sei in diesem Sinne ganz ohne praktische 
Bedeutung. DaB wiederholte Salvarsaninjektionen in der Friihperiode 
dem Entstehen einer spateren Nervensyphilis besser vorbeugen konnten, 
als bisher. sei eine Hoffnung, die sich vielleieht in manchen Fallen erfiillen 
konnte. Die beste Aussicht auf Verhiitung einer Nervensyphilis bote aber 
niu 1 eine mogliohst. energische Behandlung, die sich iiber 4—5 Jahre hin 
erstrecke und mindestens alle 3 Monate chronisch intermittierend in Hg- 
Injektionen oder Einreibungen zu bestehen habe, wozu bei einer Friih- 
kur vielleieht auBerdem noch einige intravenose Salvarsaninfusionen hinzu- 
zufiigen seien. Die chronisch intermittierende Behandlung sei auch bei 
der Nervensyphilis das aussichtsreichste Verfahren und sei mit moglichst 
schonender Anpassung an den Zustand des Kranken langer als bisher 
durchzufiihren. Dagegen sei die Anwendung des Ehrlich schen Heilmittels 
hier wegen der Moglichkeit einer unliebsamen Alteration des Blutdruckes 
und des meist sehr labilen Korpergleichgewichtes besser zu vermeiden. 

^dngfcr-Hamburg hat mit Arning ein grofies syphilitisches Kranken- 
material am Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-St. Georg sehr genau 
und lange beobachtet. Jeder Fall, der Salvarsan erhielt, wurde von 
ophthalmologischer und neurologischer Seite untersucht auf das eventuelle 
Vorhandensein von Xeurorezidiven. Herr Arning hat unter 1000 Fallen 
nur 2 mal Neurorezidive beobachtet. 

Sanger ist iiberzeugt, daO durch den Faktor der groBeren Aufmerk- 
samkeit auf diese Dinge jetzt das haufige Auftreten von Nervenerkrankungen 
in der Sekundarperiode der Lues neu entdeckt worden ist. Sanger hat schon 
1890 auf der groBen Syphilitischen Abteilung des Allgemeinen Kranken- 
hauses St. Georg in Hamburg wahrend eines halben Jahres systematische 
Untersuchungen in bet ref f der Nervenstor ungen in der Friihperiode der 
Syphilis angestellt und ist damals zu uberraschenden Resultaten gekommen. 
ebenso wie WiUbrand betreffs der Augenstorungen. Letzterer fand unter 
200 Luetischen in der Friihperiode 38 mal Hyperamie des N. opt., 5 mal 
Neuroretinitis, 1 mal Retinitis und 1 mal Netzhautblutungen. 

Sanger kam damals zu folgendem Resultat: 

,,Der Schwerpunkt der Beobachtungen liegt darin, daB durch die 
Syphilis schon ganz friih schwere anatomische Veranderungen im Nerven- 
systein gesetzt werden, und daB es durchaus notwendig erscheint. die Vor- 
stellung definitiv aufzugeben, die Lues manifestiere sich in der Friihperiode 
lediglich auf der Haut und den Schleimhauten. 

Wenn nun Hahn die 21 000 Falle dieser groBen, friiher Engel-Reimer- 
schen Abteilung durcligesehen hat und im Verhaltnis zu dieser Zahl nur wenig 
Neurorezidive verzeichnet fand, so sei diese Tatsache dadurch zu erklaren, 
daB weder vorher noch nachher ahnliche systematische Untersuchungen 


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von neurologiseher, ophthalmologischer oder otiatriseher Seite angestellt 
worden sind. 

Die mitgeteilte Tabelle des Herrn Benario, aus welcher sich ergibt, 
daB beinahe ebenso viel Neurorezidive beiin Salvarsan wie beim Queck- 
silber vorkommen, sei bernerkenswert und fordere dringend dazu auf. 
objektiv und sehr gewissenhaft viel Vergleichsmaterial zu sammeln, um an 
groBen Zahlen eine vergleichende Statistik der Neurorezidive bei ungleicher 
Behandlung in der Friihperiode der Lues zu entwerfen.* 4 

Was nun Sangers eigene Erfahrungen auf seiner Abteilung im Allge- 
meinen Krankenhause Hamburg-St. Georg bet riff t, so stimmen dieselben 
im wesentlichen mit denjenigen von Herrn Nonne iiberein. 

Sanger hat bei Tabes giinstige Wirkung von Salvarsan nur in Bezug auf 
die Schmerzen gesehen. Darunter befand sich ein Fall von heftigstem 
Tic douloureux bei Tabes, der schon 4mal operiert worden war. Es wurde 
schon die Exstirpation des Ganglion Gasseri in Erwagung gezogen. Seitdem 
Patient Salvarsan erhalten hatte, ist er mit seinem Befinden zufrieden. 

Zweimal wirkte das Salvarsan eklatant bei gastrischen Krisen. 

Sanger ist geneigt, in diesen Fallen den Erfolg lediglich der Arsen- 
wirkung zuzuschreiben. 

Bei Aiaxie sah Sanger im Gegensatz zu den Angaben von Treupel 
keine Besserimg, trotzdem in einem Falle 2 mal 0,4 Salvarsan intra venos 
und 2 mal 0,6 ais Depot angewandt worden war. 

Bei cerebrospinal er hartnackiger Lues sah Sanger von der Anwendung 
eines energischen Traitement mixte evtl. kombiniert mit Zittmann raschere 
Erfolge als von Salvarsan. In letzter Zeit wendet Sanger die mit Salvarsan 
kombinierte Quecksilberbehandiung an. 

Sanger hebt hervor, daB er ebenso wie Nonne auf seiner Abteilung 
weder bei den syphilitischen noch parasyphilitischen Erkrankungen Neuro¬ 
rezidive beobaehtet habe. Dies spricht dafiir, daB die Neurorezidive nicht 
der Behandlung , sondern dem Stadium der Syphilis zuzuschreiben sind. DaB 
das Salvarsan ein Agent provocateur ist, dafiir fehle der objektive Beweis 
auf Grund groBer Vergleichsstatistik. 

Zum SchluB teilt Sanger mit, daB er nur intravenose Injektionen in 
letzter Zeit anwende und erstaunt ist, wie reaktionslos dieselben jetzt 
vertragen werden. Allerdings miisse der Patient im Bett bleiben. mid die 
Injektion werde mit peinlicher Aseptik und Vorsicht nach jeder Richtung 
hin im Krankenhaus ausgefuhrt. 

K . Mendel und E. To&ias-Berlin: Die Syphilisatiologie der Frauentabes. 

Das Ergebnis der Untersuchungen von 151 Fallen fassen die Vor- 
tragenden in folgende Satze zusammen: 

1. Fiir Lues in positivem Sinne verwertbar sind 81 pCt. der Falle, 
von den Patientinnen waren 67,4 pCt. ganz sicker syphilitisch gewesen. 

2. Bei 83 pCt. der Tabesfrauen reagierte Wassennann positiv (im Blut- 
serum). 

3. Die Zahl der Kinderlosigkeit bei den Tabesfrauen ist eine ab3olut 
und (im Vergleich zu Statistiken bei normalen Frauen) relativ sehr hohe 
(59pCt. gegeniiber 10 bis 12pCt. imter gewohnlichen Verhaltnissen). 

4. Bei samtlichen Fallen von konjugaler, infantiler und hereditarer 
Tabes ist die Syphilis als Bindeglied zwischen den Ehegatten bezw. Aszendonz 
und Deszendenz mit Sicherheit nachweisbar. 

5. Wo es sich bei Unverheirateten um Tabes bei Jungfrauen handelte. 
konnten M. imd T . eine gleichartige Tabeshereditat bezw. eine extragenital 
erworbene Infektion mit aller Bestimmtheit nachweisen. 

6. Die Inkubationsdauer der Tabes war am groBten bei den un- 
behandelten Fallen und nahm mit der Zahl der Quecksilberkuren ab. 

Stand man in den 80 er Jahren des vorigen Jahrhunderts den Angaben 
fiber den ursachlichen Zusammenhang zwischen Tabes und Syphilis noch 
zaghaft gegeniiber, pladierte man dann in den 90 er Jahren auf Grund aus- 
gedehnter Statistiken energischer fiir diesen Zusammenhang. so konne 


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man jetzt auf Grund der weiteren Ausdehnung der Kasuistik sowie auf 
Grund der Ergebnisse der neuen Untersuchungsmethoden die Beweiskette 
als geschlossen ansehen und mit Striimpell die Syphilis als die Conditio sine 
qua non der Tabes bezeichnen. Je langer man in der Praxis stehe, desto 
mehr werde einein dies zur GewiBheit. 

Den bekannten Mobius schen Satz inochten Vortr. naeh der Richtung 
der Frauentabes hin erweitern und schlieBen: 

Omnis tabes e lue; virgo non fit tabica nisi per parentes aut )>er luem 
insontium. 

IHskussion. 

Kron-Berlin regt an. daB man auf die lnkubationsdauer der Tabes 
bei unbehandelten, bei mit Hg und bei mit Salvarsan behandelten Fallen 
achten solle. 

F. Krause und H. Oppenheim- Berlin: Cystische Entartung des Seiten- 
ventrikels mit Hemiplegic und Epilepsie. Heiung durch breite Oeffnung. 

Das 10 jahrige Madchen war im AnschluB an die sehwere Geburt auf 
der reehten Korperseite gelahmt. Spater litt die geistige Entwicklung. 
und es gesellte sich im 9. Lebensjahre Epilepsie hinzu. O. nahm einen an- 
geborenen Defekt oder einen sklerotischen ProzeB im motorischen Him- 
gebiet an und hielt eine operative Behandlung insofern fur berechtigt, 
als CyBtenbildung im Spiele sein konnte. Bei der von F. Krause am 
2. VI. d. J. ausgefiihrten Operation fand sich die Rinde in der linken moto- 
rischen Zone in eine diinne Cystenwand verwandelt; die die linke Hemisphare 
in groBer Ausdehnung durchsetzendo Cyste hatte den Chrarakter des Hydro¬ 
cephalus unilateralism indein die mediale und basale Cystenwand von den 
zentralen Ganglien gebildet wurde. und der Cystenraum dem Seiten- 
ventrikel entsprach. Der Inhalt wurde nach breiter Inzision des Heiten- 
ventrikels entleert. Zur Deckung des grofien Defekts warden drei Dura- 
lappen verwendet, dariiber eine Knochenplastik ausgefiihrt. Prima intentio. 
Es traten zunachst sehwere Storungen ein. dann aber erholte sich das Kind 
immer mehr, und es erfolgte in jeder Hinsieht. eine wesentliche Besserung. 
indem die Krampfe seit jener Zeit vbllig aufgehort haben. die geistige Ent¬ 
wicklung enormeFortschritte machte (das vorher ziemlich stnpide russische 
Madchen lernte innerhalb weniger Monate Deutseh sprechen) und auch die 
Beweglichkeit der rechtsseitigen GliedmaOen eine wesentlich freiere wurde. 
D«^i Kind wird demonslriert. Einen zweiten vollig analogen Fall hat Krause 
bei einem l l / 2 jabrigen Madchen am 25. IV. 1910 mit gleich gutem Erfolge 
operiert. (Vgl. seine Chirurgie d. Gehirns u. Riickenmarks. II. S. 23S. 
Beob. I. 12.) (Autorreferat.) 

II. Cyste im Oberwurm, Operation, Heilung. 

Bei einem 12 jahrigen Madchen, das seit November 1909 an heftigen 
Kopfschmerzen litt, fanden sich bei der im Januar d. J. von O. vorge- 
nommenen Untersuchung Erscheinungen, auf Grund deren er einen Tumor 
im Vermis cerebelli diagnostizierte. Bei der von Krause am 13. II. 1911 vor- 
genomiuenen Radikaloperation fand sich eine den Vermis und anstoOenden 
Teil der reehten Kleinhirnhemisphare durchsetzende Cyste, die einen 
sagittalen Durchmesser von 7 cm hatte. Wahrend der Eroffnung ist das 
Kind wach. und man kann sich frei mit ihm unterhalten. Zur Drainage der 
breit eroffneten Cyste wurde eine Lappenplastik aus der benachbarten 
Dura ausgefiihrt. Heilung. Fortschreitende Besst'rung der nervosen Be- 
schwerden. (Das Kind wird demonstriert.) 

An der 

DiskuMsion 

beteiligen sich die Herren Kothmann. Forster , Feritz , S. Auerbach. Barany . 
v. Frankl-Hochuxirt. 

Anton - Halle: Gehirndruckentlastung mittels Balkenstiches. Bericht 
iiber 50 einschlagige Erkrankungsfalle. 

Nach den Erfahrungen des Vortragenden und anderer steht fest. 
daB die dekompressive Trepanation ofter versagt, daB die Spaltunq der Dura 


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344 V. Jahresversammlung der Gesellschaft etc. 

fiir das betreffende Gehirn einen erheblichen Insult bedeutet , endlich aber. 
daB die Ursache der Hirndrucksteigerung durch die Trepanation an sich 
noch nicht bekampft ist. 

Es werden daher die Methoden der Gehirwpunktion nach Neifier, 
Poliak und Pfeifer erortert. Weiterhin das Verfahren nach Mikulicz . d. i. die 
Drainage des Ventrikels bei Hydrocephalus. Desgleic-hen der Vorschlag 
von Kausch , durch wiederholte Punktion der Ventrikel die Hydrocephalie 
zu behandeln. Besondere Beachtung gebiihrt auch dem neuen Verfahren 
von Payr , welcher durch frei transp Ian tier te BlutgefaBe den Ventrikel 
drainierte und direkt mit dem Sinus venosus in Verbindung setzt. 

Gegeniiber den Mangeln der bisherigen Methoden wird das von Bramann 
und Anton vorgeschlagene Verfahren der dauernden Druckentlastung mittels 
Balkenstiches kurz geschildert. 

Hinter der rechten Koronarnaht wird ein Bohrloch angelegt bis zur 
Freilegung der Dura. An einer S telle, wo groBere Venen nicht sichtbar sind, 
wird ein kleinerer Spalt in der Dura angelegt, dann mit einer gekriimmten 
Hohlkaniile eingegangen, bis die Kaniile an die Gehirnsichel anstoBt. Unter 
Fuhrung der Gehirnsichel wird die Kaniile nach abwarts gefiihrt, bis sie 
an das Ventrikeldach. d. i. den freien Balkenkbrper anstoBt. Dieser wird 
mit maBigem Drucke durchstoBen, worauf sich der Liquor der Ventrikel 
mit starkem oder geringem Drucke entleert. Es werden 10 bis 30. bei Hydro- 
cephalen 50 bis 70 ccm abgelassen. Hierauf wird die gesetzte Oeffnung 
durch die stumpfe Kaniile erweitert, so daB eine Kommunikation zwischen 
Ventrikel und Subduralraum fiir langere Zeit entsteht. Nachher konnen 
die Wand ungen der Ventrikelhohlen sondiert und abgetastet werden, so 
dafl leicht entschieden wird, ob der Ventrikel nur einen Spalt oder eine 
groBe erweiterte Hohie darstellt. Die Geschwiilste in den Ventrikeln und an 
der Basis konnen auf diese Art eruiert werden. Bei geeigneten Fallen geht 
man mit der Sonde in der medianen Linie nach riickwarts, wodurch der 
dritte Ventrikel geoffnet werden kann , was in vielen Fallen indiziert ist. Das 
Verfahren kann auch als Voroperation bei Exstirpation von Geschwiilsten 
angewendet werden zur V r erminderung des Gehimdruekes. Es geniigt in 
der Mehrzahl der Falle die lokale Anasthesierung mit Adrenalin und Novokain 
nach Braun. Wie nachtragliche Obduktionen bewiesen, kann die Oeffnung 
wenigstens durch mehrere Monate bestehen bleiben. 

Vortr. berichtet iiber die Erfolge an 50 Erkrankungsfallen (17 Hydro- 
cephalen, 24 Tumoren. 4 Fallen mit der Diagnose Cysticerkosis. 2 Epilepsien. 
je einem Falie von luetischer und einfacher Meningitis und 1 Turmschadel). 
Bei Tumoren in den Seitenventrikeln hatte das Verfahren nur voriiber- 
gehenden Erfolg. Nicht giinstig lautet das Urteil bei Vierhiigeltumoren. 
Dagegen ist bemerkenswert, daB das Sehvermogen erhalten blieb in 2 Fallen 
von Cysten im vierten Ventrikel , bei denen durch die nachtragliche Er- 
bffnung des vierten Ventrikels die Stauungspapille zum Verschwinden ge- 
bracht wurde. Vortr. zieht folgende Schliisse: 

1. Der Balkenstich stellt eine einfache Operation dar, durch welche die 
Druckentlastung des Gehims vom Dache der Seitenventrikel aus geleistet 
wird und wo bei die Kinde und Leitungsbahnen der konvexen GroBhim- 
wand geschont werden. 

2. Es wird dadurch eine Konununikation zwischen Ventrikelhohle 
und Subduralraum fiir langere Zeit gesetzt. 

3. Dadurch ist fiir den Liquor cerebralis nicht nur ein groBeres Aus- 
breitungsgebiet, sondern auch eine viel groBere und mannigfaltigere Ke- 
sorptionsflache gt?schaffen und eine Korperhohle mit der anderen in asep- 
tischer Weise verbunden. 

4. Durch die Hohlsonde in den (]Jehimhohlen kann auch der dritte 
Ventrikel zur Kommunikation mit den anderen Himhohlen gebracht 
werden. Dies ist wiinsehenswert, weil der dritte Ventrikel sich mitunter 
gesondert erweitert und weil seine diinnen Wandungen leicht den Druck 
auf die Basis weiterleiten und auf das Chiasma opticum driicken. 


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5. Schatzenswerte Dienste leistet das Verfahren als Voroperation bei 
Entleerung von Cysten im vierten Ventrikel. 

6. Nach der Erdffmmg der Ventrikel konnen auch therapeutische 
lnfusionen vorgenommen werden. Insbesondere kann die von Horsley vor- 
geschlagene Durchspiilung des Zentralnervensystems nicht nur vom Sub- 
duralraum, sondern auch von den Ventrikeln aus geschehen. 

Diskussion. 

£dnger-Hamburg empfiehlt die palliative Trepanation, die ungefahrlicher 
sei und dasselbe leiste wie der Balkenstich, aber den Vorzug vor letzterer 
Operation habe, daB man eventuell den vermuteten Tumor finden kann. 

Nach Cushing sei das AbflieBen von Liquor bei der PaUiativtrepanation 
nicht notig. Es trete auch ohne dies eine Druckentlastung ein. 

M arburg-W ien hat giinstige Wirkungen des Balkenstiches gesehen. 

Brwns-Hannover ist ebenso wie Sanger fiir Trepanation an der Stelle, 
an der ein Tumor etc. diagnostiziert wurde. 

Hirsch - Tabor - Frankfurt fragt nach Ausfallserscheinungen beim 
Balkenstich. 

S. Auerbach - Frankfurt empfiehlt kleine Trepanationsoffnungen. da 
die Punktion nicht ungefahrlich sei. 

Quensel-'Leipzig berichtet fiber einen Todesfall nach Balkenstich. 

Xrawae-Berlin halt die Xeifiersche Punktion — zumal, wenn sie ohne 
die notigen Kautelen (Vorbereitungen zur Trepanation) vorgenommen 
wird — fiir gefahrlich, hat einen Todesfall infolge dieser Punktion erlebt, 
bei dem die Trepanation den Kranken gerettet hatte. K. ist wie Bruns 
fiir Trepanation iiber dem Scheitel bei GroBhirntumoren, fiber dem Occipitale 
bei Kleinhimtiunoren. 

Anton bemerkt Herm Sanger gegenfiber, daB die palliative Trepanation 
in vielen Fallen versagt, in denen der Balkenstich wirksam sei. 


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Karl Abraham, Giovanni Segantini. Ein psychoanalytischer Versuch. Wien 
1911. Franz Deuticke. Preis 2,— M. 

Verf. hat sich in der vorliegenden Schrift die Aufgabe gestellt, die 
ungelosten Probleme in der Entwicklung, im auBeren und inneren Leben, in 
der Kiinstlerschaft Segantinis in das Licht der psychoanalytischen Betrach- 
tung zu riicken. Die Frage, ob eine Berechtigung hierzu vorliegt, wird vom 
Verf. kurz erledigt: „Kfinstler und Neurotiker haben in ihrer psychischen 
Veranlagung viel Uebereinstimmendes“. 

Es eriibrigt sich, auf die Schrift naher einzugehen. Es kann aber 
nicht genug gegen den Versuch des Verf.s protestiert werden, der nur zu 
geeignet ist, lacherlich zu wirken (siehe ,, Jugend“, 1911, No. 34). Fiir den, 
der in der Kunst nach erotischen Motiven sucht, hort die Kunst auf, Kunst 
zu sein. Ich hoffe, daB selbst Freud fiber das neueste Produkt seiner Schule 
entsetzt sein wird. Otto ^ScAt^z-Hartheck. 

W. Bergmann, Selbstbefreiung aus nervdsen Leiden . Freiburg i. Br. 1911. 
Herdersche Verlagsbuchhandlung. Preis 3,30 M., geb. 4,— M. 

Verf. behandelt eingehend die EntstehuDg und Beseitigung nervoser 
Krankheiten und hat Wert derauf gelegt, daB die wichtigsten Kapitel 
auch vom einfachen Mamie verstarden werden konnen ( ?). Das Buch ist 


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also in erster Linie fiir Nicht-Mediziner geschrieben. Es muG ihm riilimend 
nachgesagt werden, daC er sich bemiiht, bei aller Kiirze alle Seiten der 
nervosen Leiden zu beriihren. 

Ref. kann aber nicht umhin, auf die groGe Gefahr aufmerksam z« 
mac hen, die derartige Biicher in sich schlieGen. Ihr Inhalt wird gewohn- 
lich von interessierten Laien unkritisch verschlungen und mangelhaft ver- 
standen. Auf diese Weise werden oft in Neurasthenikern und Hypochondern 
neue krankhafte Seiten geweekt, die bis dahin nicht vorhanden waren. 

Ebensowenig kann sich Ref. mit der Absicht des Verf.s einverstanden 
erklaren, ,,die zeitraubende Tatigkeit des Arztes durch den Hinweis auf das 
eine oder andere Kapitel abzukiirzen und zugieich den in der Sprechstunde 
gewonnenen Eindruck durch das eigene Studium des Patienten zu ver- 
tiefen 44 . Endlich wird das Kapitel ,,Die Religion als direktes Hilfsmittel zur 
WiUensbildung 44 sehr vielem Widerspruch begegnen, und das mit Recht. Man 
braucht nicht Freigeist zu sein, urn zu behaupten, daG die Religion mit 
den nervosen Erkrankungen und ihrer Behandlung aber auch gar nichts zu 
tun hat. Otto *ScAiite-Hartheck. 

August Forel, Der Hypnotismus oder die Suggestion und die Psychotherapie, 
Ihre pathologische , psychophysiologische und medizinische Bedeutung. 
6. umgearbeitete Auflage. Stuttgart 1911. Ferdinand Enke. 306 Seiten. 
Preis 6,60 M., geb. 7,80 M. 

Die neue Auflage verzeichnet im Gegensatz zu den friiheren vor alien 
Dingen in eingehender Weise die Erfolge der Psychanalyse. Forel versucht 
einem Gebiet gegeniiber. das mit Recht von den verschiedensten Seiten 
Ablehnung erfahren hat, objektiv zu urteilen. Er verkennt nicht die groGen 
Verdienste Freuds und seiner speziellen Schule, macht ilmen aber zwei 
Vorwiirfe. daG sie die Arbeiten ihrer Vorganger einfach ignoiieren und daG 
sie Hypo the tisches als Fakta hinstellen. Namentlich in letzterem Punkte 
muB man Forel Recht geben. 

Weiterhin hat die psychologische Einleitung in der neuen Auflage 
dadurch eine Aenderung erfahren, daG sie sioh im wesentlichen an Semons 
Auffassung der Mneme anschlieGt. Ob man hier Forel in alien Punkten 
folgen darf, soli dahingestellt bleiben. Immerhin liegt die Vermutung 
nahe, daG Ford die Bedeutung der £emonschen Arbeiten fiir die Psychologic 
und Psychotherapie iiberschatzt. 

Sehr scharf und sicherlich zu scharf wird mit der -Du&owschen Schule 
Abrechnung gehalten. Doch treten diese Mangel des Buohes zuriick hinter 
seinen Vorziigen. Es enthalt alias fiir den Arzt imd den Psychologen iiber 
den Hypnotismus Wissenswerte. Die neue Auflage reiht sich ihren Vor- 
gangerinnen in wiirdiger Weise an, zumal Ford alle Wandlungen, die die 
Suggestionslehre in den letzten Jahren durchgemacht hat, in krit-ischer Weise 
verzeichnet und beleuchtet. Otto tfcAute-Hartheck. 

A. Fuchs, Einfiihrung in das Studium der Nervenkrankheiten fiir Studierende 
und Aerzte. Wien 1911. Franz Deuticke. Preis 9,— M. 

Das Buch ist dem Wunsche des Verf.s entsprungen, Studierenden 
und Aerzten bei Beginn des Studiums der Erkrankungen des Zentralnerven- 
systems behilflich zu sein. Es erhebt infolgedessen nicht den Anspruch 
auf Vollstandigkeit, sondern will in moglichst kurzer Form die Bediirfnisse 
des Studierenden und des praktisehen Arztes befriedigen. Inhaltlich gleicht 
oder ahnelt es anderen kurzgefaOten Lehrbiichern der Nervenkrankheiten, 
was kein Vorwurf sein soil. Wenn Verf. in kiinftigen Auflagen einzelne 
Kapitel etwas iibersichtlicher gestalten wiirde. so wiirde das seinem Buche 
zum Vorteil gereichen (z. B. das Kapitel iiber Segmenteinteilung des Riicken- 
inarkes und die zugehorigen Gebiete der peripheren Innervation). 

Der Preis des Buches ist so niedrig, da6 es jedem empfohlen werden 
kann. Otto &cA#tz-Hartheck. 

A. Goldscheider. Diagnostik der KrankheUen des Nervensystems, Eine 
Anleitung zur Untersuchung Nervenkranker. 4., verbesserte und vermehrte 


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Auflage, herausgegeben unter Mitwirkung von K. Kroner- Schlachtensee. 
Berlin 1911. Fischers med. Buchh. H. Komfeld. Preis 8.— M., geb. 
9 — M. 

Das Bnch erscheint bereits in 4. Auflage, was fur seine Giite spricht. 
Es behandelt in 6 Kapiteln ausfiihrlich und dabei kurz und ubersichtlich 
die Methode der Kranken-Untersuchung, die Symptomatologie, die Elektro- 
diagnostik, die Untersuchtmg der Sprache und der Schrift, die topische 
Diagnose und die Diagnose der einzelnen Erkrankungen. Das Buch soli 
kein Lehrbuch im gewohnlichen Sinne, sondern ein Ratgeber fiir die Kranken- 
untersuchung sein, und diesen Zweck erfiillt es in vorziiglichster Weise, 
so daB es namentlich alien Anfangem und dem praktischen Axzte empfohlen 
werden kann. 

Vielleicht konnte kiinftigen Auflagen ein Inhaltsverzeichnis bei- 
gegeben werden. Otto >S T c/m*z-Hartheck. 

August Kohl, Pubertat und Sexualitdt , Untersuchungen. zur Physiologie des 
EntuncklungscUters . Wurzburg. Curt Kabitzsch (A. Stubers Verlag). 
Preis 1,50 M. 

Verf. versucht, in seinem Biichlein eine Erklarung der Gesamtheit 
der Erscheinungen zu geben, die mit dem Auftreten des Geschlechtstriebes 
verkniipft sind. Er ist bemuht, seinen Untersuchungen eine wissenschaft- 
liche Grundlage zu geben. Die Belege fiir die einzelnen Erscheinungen 
sind, wie es im Vorwort heifit, toils Werken der schonen Literatur. Tage- 
biichern. Briefen, Bekenntnissen, Biographien und Autobiographien, teils 
fremden. teils eigenen Beobachtungen entnommen. Nach einer Einleitung 
und begrifflichen Orientierung komint Verf. auf die Zeit der unbewuBten 
Sexualitat zu sprechen. Er unterscheidet hier 2 Stufen, die Zeit der Un- 
wissenheit und die Zeit der Ahnungen hinsichtlich der Natur der Sexual- 
erscheinungen. Ausfiihrlich behandelt Verf. die Entwicklung des Jiing- 
lings und der Jungfrau, um sich dann in einem letzten Kapitel mit der 
Weiterentwicklung beider in der Zeit der sexuellen Ahnimgen zu beschaftigen. 

Nach Ansicht des Ref. ist die Frage, die sich Verf. als Thema fiir 
sein Biichlein gestellt hat, eine so komplizierte und daher umfangreiche. 
daB sie sich kaum auch nur annahernd in 80 Seiten erledigen laBt. 

Otto Scfo&z-Hartheck. | 

E. ReiB, Die elektrische EntartungsreakPion . Klinische und experimentelle 
Studien iiber ihre Theorie. Berlin 1911. Julius Springer. 5.60 M. 

Beifi ist bei seinen Untersuchungen von der Theorie Nernsts aus- 
gegangen, daB der elektrische Strom im Korper lediglich Ionenverschie- 
bungen hervorruft, die an der Grenze verschiedener Medien Konzentrations- 
veranderungen bedingen. Durch Einwirkung von Kalium- und Ammoniiuu- 
salzlosungen erzielte er beim Froschmuskei eine Umkehr der Polwirkung; 
durch solche von Natrium-, Lithium- und anderen Verbindungen gelang 
die Wiederhers tel lung der normalen Reaktion. Die weiteren Untersuchungen 
iiber die Wirkungsweise des galvanischen und faradischen Stromes am ent- 
arteten Muskel fiihren ihn zu dem SchluB, daB in diesem zwei Prozesse 
nebeneinander laufen: die Herabsetzung der Reizempfindlichkeit und die 
Herabsetzung der Gewohmmgsfahigkeit; die erstere wird im Anfang der 
Lahmung quantitativ von der zwei ten iibertroffen, so daB es zu einer schein- 
baren galvanischen Uebererregbarkeit kommt; allmahlich nimmt die Reiz¬ 
empfindlichkeit immer mehr ab, und der Effekt des galvanischen Stromes 
sinkt unter die Norm. Auch das Anwachsen der Offnungszuckung erklart 
Beifi mit der Herabsetzung der Akkommodationsfahigkeit; beim ent- 
arteten Muskel lauft die Akkommodationsreaktion in beiden Richtimgen 
noch langsamer als normalerweise ab, und so ist dieser Muskel auf die neue 
Konzentration auch noch weniger als der gesunde eingestellt. Das Symptom 
der tragen Zuckung fiihrt er gleichfalls auf chemische Veranderimgen der 
Muskelsubstanz zuriick und zieht hier die glatten Muskeln, das Auftreten 
trager Zuckung am mit Koffein, Veratrin u. s. w. vergifteten Muskel und die 
Zuckungskurven bei Stoffwechselveranderungen zum Vergleich heran. 


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Personaiien. 


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Nach Eeifi handelt es sich bei diesen Veranderungen des entarteten 
Muskels gegeniiber dem EinfluB des elektrischen Stromes um ein verandertes 
Verhaltnis der Salze. Durch den veranderten Gehalt dieses Muskels an 
anorganischen Bestandteilen kommt es wahrscheinlich zu einer Alteration 
der Zellmembran, also der Stelle, wo sich die Konzentrationsveranderungen 
etablieren und mithin der Reiz wirkt; hierdurch werden auoh die Vorgange, 
die im Gefolge des Reizes auftreten, Erregung und Akkommodations- 
reaktion, beeinfluBt. Die veranderte Verteilung der Salze und ihr EinfluB 
auf den Vorgang der Kontraktion ist auch die Ursache der tragen Zuckung. 

Eeifi betont schlieBlich noch den EinfluB, den hochstwahrscheinlich 
das Nervensystem auch auf den Salzstoffwechsel ausiibt. 

J iittner- Gottingen. 


Personalien. 


In Wien hat sich Dr. O. Potzl als Privatdozent fiir Psychiatrie und 
Neurologie habilitiert, in Palermo Dr. Caramanna. 

Dr. Th. Koetscher (Wien-Steinhof) ist zura Primararzt und Vorstand 
der Psychiatrischen Abteilung des Landeshospitals in Sarajewo ernannt. 

In Krakau hat Dr. MazurbieuHcz , Dozent fiir Psychiatrie in Lemberg, 
die Venia legendi erhalten. 


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Tetanie und Epilepsie. 

Von 

Professor Dr. EMIL REDLICH 

in Wien. 


Die relativ groBe Zahl von 11 Rranken, bei denen ich in den 
letzten Jahren das Nebeneinandervorkommen von Tetanie und 
Epilepsie , resp. epileptischen Anfallen beobaehten konnte, legte mir 
den Gedanken nahe, diese wiederholt (zuerst 1891) beschriebene 
Kombination beider Krampfformen nochmals einer genaueren 
Untersuchnng zu unterziehen. AuBer meinen Fallen konnte ich 
aus der Literatur — wobei aber meine Zusammenstellung durchaus 
nicht den Anspruch auf wirkliche Vollstandigkeit macht — 
noch eine Reihe von Fallen von Tetanie mit Epilepsie oder epi¬ 
leptischen Anfallen finden, die entweder ausfuhrlich beschrieben 
sind oder wenigstens eine weitere Verwertung gestatten. Es 
sind dies im ganzen 46 Falle; dazu kommen noch 26 Falle, die 
nur gelegentlich erwahnt sind;’ bei einzelnen da von ist wenigstens 
eine Einreihung in die spater zu erwahnenden Kategorien moglich. 
Ein Teil der Falle gestattet aber nicht einmal dies, so daB sie 
einfach verzeichnet werden miissen. Alles in allem waren es 
also 72 Falle 1 ). 

Nach dem Vorgange von Frankl-Hochwart mochte ich die 
fur unsere Zusammenstellung brauchbaren Falle in gewisse, 
leicht zu trennende Gruppen sondern und nach den sich dabei 
ergebenden Gesichtspunkten zusammenfassend besprechen. 

Zunachst haben wir eine Gruppe von Fallen, die uns nicht 
lange aufzuhalten brauchen. Das sind Kranke mit jahrelang be - 
stehender Epilepsie typischer Art oder Kranke , die friiher einmal 
Epilepsie flatten , und die spater vorubergehend , manchmal auch 
rezicUvierend Erscheinungen von Tetanie aufweisen. Es sind dies 
ein von Chvostek sen . beschriebener Kranker, der in der Kindheit 
epileptische Anfalle hatte und dann als 25jahriger Mann eine 
allem Anschein nach epidemisch-infektiose Tetanie bekam. Dann 
drei Falle von Velics: 1. 17jahriger Mann, seit 3 Jahren epilep- 

l ) Nicht verwertet habe ich einen Fall von Freund (II); denn hier ist 
bloB erwahnt, daB bei dem Kranken im epileptischen Anfall die Hand in 
typischer Geburtshelferhandstellung sich befindet. Dann einen Fall von Q%bb, 
wo die Angaben ganz diirftig sind. Absehen muBte ich auch von einem Fall 
von Freud , der als Kombination von Tetanie mit Hysterie bezeichnet ist, 
bei dem es aber heiBt, daB der Kranke bei den Anfallen zusammensturze und 
bewuBtlos sei. 

Monatssohrift f. Psychiatrie u. Neurologrie. Bd. XXX. Heft 6. 29 


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R e d 1 i c h , Tetanic und Epilepsie. 


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tische Anfalle; im 17. Jahr tritt, und zwar im Winter, typische 
Tetanie auf. 2. 24jahriger Mann, der seit sechs Jahren an Epilepsie 
leidet; im Winter unter Fieber durch sieben Tage Tetaniekrampfe, 
zuerst der Arme, dann der Beine; 3. eine 17jahrige Epilep- 
tikerin, die von Vdics als Tetanie bezeichnete Krampfe bekam. 
Recht kompliziert und nicht ohne weiteres einzureihen ist ein von 
Schultze beschriebener Fall: 42jahriger, hereditar schwer belasteter 
Mann, Schuhmacher, seit Jahren an Dipsomanie leidend. Vor 
acht Jahren ein epileptischer Anfall. Nach Riickkehr des BewuBt- 
seins sollen die Zuckungen, und zwar klonischer und tonischer 
Art, durch zwei Tage angedauert haben. Gelegentlich auch einen 
Tag lang andauemde tonische Krampfe beider Hande ohne Be- 
wuBtseinsverlust. Bei der Untersuchung lassen sich die Zeichen 
von Tetanie nachweisen, wahrend der epileptischen Anfalle sind 
die Hande in typischer Tetaniestellung. 

Klar sind wieder die von v. Frankl-Hochwart in der zweiten 
Auflage seiner Monographie berichteten fiinf Falle, teils Epileptiker, 
teils Kranke, die wenigstens friiher epileptische Anfalle hatten, 
und die spater typische Tetanie bekamen. Dann ein von Hirschl 
ganz kurz erwahnter Fall, ein 18jahriger Kranker mit seit Jahren 
bestehender Epilepsie, der zur Zeit der Beobachtung (im Winter) 
an Tetanie mit Psychose erkrankte. Weiter zwei von Stiefler 1 ) 
demonstrierte Falle: 1. 37 jahriger Buchbinder, der mit 14 und 
15 Jahren Anfalle mit BewuBtlosigkeit gehabt hatte; zur Zeit der 
Untersuchung (Winter) Tetanie. 2. 30jahriger StraBenarbeiter mit 
nach einem Schadeltrauma aufgetretener Epilepsie. Acht Jahre 
spater Rezidive derselben, und zwar im Winter, wobei wiederholt 
Anfalle von Tetanie sich an die epileptischen anschliessen, in der 
Weise, daB nach Ablauf des epileptischen Anfalles die Hande 
in tonischer Krampfstellung, entsprechend der Tetanie, verbleiben. 

Dazu kommen drei eigene Falle. 

I. F. Theodor, geboren 1877. aufgenommen auf die psychiatrische 
Klinik von Hofrat Prof. Wagner von Jauregg 1 ) am 30. VIII. 1894. 

Vater war abnormen Cnarakters, sonst ist fiber Hereditat nichts 
bekannt. Patient selbst nach normaler Graviditat leicht zur Welt gekommen. 
Im Alter von einem halben Jahre hatte Patient Fraisen durch zwei Tage, 
sp&ter Blattern, sonst war er gesund. Schleehter Schuler. Mit 15 Jahren er* 
hielt er einen Schlag auf den Kopf, seitdem bestehen epileptische Anfalle, 
die mit 16 Jahren fur 1 1 / 2 Jahre aussetzten, dann aber wieder auftraten; 
zur Zeit der klinischen Beobachtung hatte Patient nahezu jede Woche einen 
Anfall. 

Patient ist deutlich verblddet, gelegentlich treten schwere Verwirrt- 
heitszustande auf. Nach den epileptischen Anfalien haufig auch Sprach- 
storung von aphasischem Character oder Silbenstolpern. Bisweilen treten 
die Anfalle gehauft, bis zu 20, selbst 34 an einem Tage auf. Gelegentlich 
auch an choreatische Bewegungen erinnernde Muskelunruhe. 

Im Status somatic us nichts besonderes zu bemerken. 


x ) Der Autor war so liebenswiirdig, mir zur Erganzimg des nur ganz 
kurz publizierten Sitzungsberichtes seiner Demonstration ausfiihrlichere 
Notizen zur Verfiigung zu stellen. 

*) Ich bin Herm Hofrat Prof. Wagner v. Jauregg fiir die Ueberlassung 
der Krankengeschichten zu groOtern Danke verpflichtet. 


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R e d 1 i c h , Tetanie und Epilepsie. 


441 


Am 20. XII. 1895 wird notiert: Patient zeigt an der Hand eine Krampf- 
stellung, die Tetaniekrampfen entspricht. Es besteht deutliches Fazialis- 
phanomen auf beiden Seiten. Auch an den anderen Nervenstammen deut- 
liche mechanische Uebererregbarkeit, am deutlichsten beiderseits im Nervus 
ubiaris und peroneus. Im Nervus ulnar is bei relativ geringer Stromstarke 
AOTe. Beiderseits Trou&seausches Phanomen. 

Am 25. II. 1896: Von Zeit zu Zeit tetanieartige Krampfe an beiden 
oberen Extremitaten. Fazialisph&nomen sehr deutlich, desgleichen die 
mechanische Uebererregbarkeit anderer Nervenstamme, dagegen jetzt kein 
Trousseau . 

2. VI. 1896: Die Erscheinungen der Tetanie nicht mehr nachweisbar, 
auch das Fazialisph&nomen verschwunden. Auch in der Folgezeit bis zu dem 
am 25. VII. 1897 erfolgten Tode wurden Tetaniekrampfe oder andere Er¬ 
scheinungen der Tetanie nicht mehr konstatiert (die Obduktion muOte leider 
unterbleiben). 

H. 38 j&hrige Frau, die ich poliklinisch durch langere Zeit beobachten 
konnte. 

Patientin hat 3 Kinder geboren, das letzte vor 6 Jahren. niemals ab- 
ortiert. Als Kind hat sie Blattem gehabt. Ueber in der Kindheit durohge- 
machte Fraisen ist ihr nichts bekannt, auch wahrend der 3 Gravidit&ten 
traten niemals Konvulsionen auf. Sie hat niemals ein Schadeltrauma er- 
litten. Ueber hereditare Belastung ist nichts zu eruieren. 

Vor 6 Jahren, einige Zeit nach der letzten Entbindung, trat nach 
einem heftigen Schreck der erste Anfall auf. Patientin riB ein Stuck vom 
Fensterbrett ab, wollte zum Fenster hinabspringen, wuflte nachher von dem 
Vorgefallenen nichts. Kein ZungenbiB. Sie erholte sich nach dem Anfall sehr 
rasch. Den folgenden Tag ein zweiter Anfall; Patientin ging dabei im Zimmer 
herum, wuflte nachher nichts davon. In der folgenden Zeit taglich ein bis 
vier Anfalle, vorwiegend psychischer Art; Patientin ging planlos im Zimmer 
herum, trug Gegenstande davon; nachher Amnesie. Diese Anfalle dauerten 
5—6 Minuten. Nach dem Anfall hatte Patientin ein eigentiimliches Gefiihl 
vor den Augen. Nach einer Brombehandlung, die im Dezember 1901 ein- 
geleitet wurde, sistierten die Anfalle fiir drei Monate, traten aber dann wieder 
gelegentlich auf. Im September 1901 nach GenuB einer kleinen Quantitat 
Wein ein Anfall, beginnend mit einer Aura; Patientin hatte ein eigentiimliches 
Gefiihl im Bauche, stiirzte dann bewuBtlos zusammen, hatte allgemeine 
Krampfe, biO sich in die Zunge, zog sich eine leichte Verletzung am rechten 
Vorderarm zu. Bald darauf konnte sie wieder arbeiten. Einige Monate 
spater auf der StraBe ein Anfall. beginnend mit einer Aura im Bauche, dann 
stiirzte sie bewuBtlos zusammen, verletzte sich an der linken Stirnseite. 
ebenso bei einem anderen Anfalle. Daneben bestehen Anfalle, die mit einer 
Aura beginnen; dann ist Patientin verwirrt. arbeitet herum, tragt Gegen¬ 
stande fort, und dann erst stiirzt sie bewuBtlos zusammen. 

Seit 1900 treten, und zwar ausschlieBlich in der Nacht, Krampfe und 
Parasthesien in den Handen auf, z. B. wenn Pat. den Kopf in die Hande 
legt; nach der Schilderung, die Patientin gibt. handelt es sich um typische 
Tetaniekrampfe. Zeitweilig treten auch in den Beinen Parasthesien auf. 
Diese Art von Krampfen soli im Winter haufiger und intensiver sein, im 
Sommer verschwinden sie. Im September 1902 untersucht, gibt Patientin an, 
daB sie seit 14 Tagen wieder nachts Krampfe in den Handen verspiire. 

Die Untersuchimg ergibt jetzt: Kleines, schwach gebautes. schlecht 
genahrtes Individuum. Kein Kopfschmerz, kein Schwindel. Der Schadel 
klein, langlich, an demselben sind keine Narben nachweisbar. Perkussion 
des Schadels wird links an der Stirne als schmerzhaft bezeichnet. Pupillen 
gleich, reagieren prompt auf Lichteinfall. Der ophthalmoskopische Befund 
normal. Die rechte GesichtshSlfte etwas schlechter innerviert, bleibt beim 
Zahnezeigen zuriick; beim Lac hen besteht keine Differenz. Die Zunge weicht- 
nicht deutlich ab. an der rechten Zungenhalfte eine frische BiBnarbe. Beider¬ 
seits sehr ausgesprochenes Fazialispkdnomen . Schilddriise leicht vergroBert. 
Die Motilit&t der oberen Extremitaten ungestort, Dynamometer rechts 29. 

29* 


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442 R e d 1 i c h , Tetanie und Epilepsie. 

links 27. Biceps-Triceps und Radiusreflex beiderseits lebhaft, ohne deutliehe 
Differenz. Vom Eibschen Punkt, vom Nervus ulnaris durch Beklopfen mit 
dem Perkussionshammer lebhafte Muskelkontraktionen auszulosen. Die 
mechanische Erregbarkeit der Muskulatur erhoht. dabei idiomuskulare 
Wulstbildung. 

Priifung mit dem galvanischen Strom: 

N. facialis links bei 0,2 MA. rechts 0,4 MA Minimalzuckung. 

N. median, links und rechts bei 0,2 MA Minimalzuckung. bei 
2,0 MA KOZ. • 

N. ulnaris links und rechts bei 0.2 MA Minimalzuckung. bei 
2,0 MA KOZ. 

Die unteren Extremitaten ohne Stprung der Motilitat, PSR sehr leb¬ 
haft, gleich, ASR lebhaft, kein Clonus. . FuBsohlenstreichrefiex beiderseits 
schwach, links etwas starker, kein Babinski. Bauehdeckenreflex beider¬ 
seits ziemlich lebhaft, gleich. 

N. peron. bei 1,0 MA Minimalzuckung. 

Es besteht beiderseits deutliches Trousseausohoa Phanomen. Der l b in - 
l>efimd ist negaitv. 

Am 30. I. 1903 habe ich die Patientin wieder untersucht. Sie gibt an. 
daB sie noch immer an epileptischen Anfalien leide. die mit einer vom Magen 
aufsteigenden Aura beginnen, dann hantiert Patientin kurze Zeit verwirrt 
herum, stiirzt bewuBtlos zusammen. In der Nacht soli sie gelegentlich auf- 
stehen, starr vor sich hinsehen und sicli dann wieder niederlegen. Auch soil 
jede Nacht ein Zusammenziehen der Hande erfolgen. Es besteht beiderseits 
sehr ausgesprochenes Fazialisphanomen. erhohte mechanische Erregbarkeit 
der Muskulatur. Im N. facialis tritt bei 3 MA KOZ auf, im N. median, bei 
relativ geringer Stromstarke AOTe, aber keine KOZ. Kein Trousseau. 

In der Folgezeit war Patientin, wie mir bekannt, wiederholt wegen ihrer 
epileptischen Anfalle und zunehmender Reizbarkeit in der Irrenanstalt- 
intemiert. Ueber das Verhalten der Tetanieerscheinungen konnte ich nicht.s 
erfahren. 

III. 46 jahriger Mann (Musterzeichner). das erste Mai am 26. V. 1906 
auf die psychiatrische Klinik von Hof rat Prof. Wagner v. Jauregg auf- 
genommen, mit einemParere. in dem besagt wird, daB Patient seit 20 Jahren 
an epileptischen Anfallen leidet, die in der letzten Zeit haufiger aufgetreten 
und von Verwirrtheitszustanden gefolgt seien. Patient sei in der letzten 
Woche sehr aufgeregt, glaube, er sei tuberkulos. miisse sterben. Vor einigen 
Tagen sei er einer Zimmerecke ausgewichen, weil dort ein Motor aufgestellt 
sei, der heftig arbeite; er sprechevom jiingsten Gericht, das er kommen sehe. 
Heute stiirzte er in die im selben Hause befindliche Kanzlei des Vereins 
Alland (Lungenheilstatte), uni sich die Adern aufschneiden zu lassen. Dem 
Polizeiarzte erzahlte der Patient, er habe ein neues Mit-tel fiir seine Krankheit 
gefunden, das sei ,,Gottvertrauen 4i und das ..Gebet zu Gott“. Sein Ideal 
sei, ein musterhaftes Leben zu fiihren. Sein Puls sei jetzt ruhig, „wie eine 
Melodie“; man konnte sie in Musik setzen. Er fragt den Arzt, ob er nicht 
wirklich wie ein Prediger spreche. Sein hochster Wunschsei. ein Landschafts- 
maler zu werden. Er sei sehr zufrieden, dafi seine Worte aufgeschrieben 
werden. 

Die Frau und die Tochter des Patienten erganzen die anamnestischen 
Angaben d all in, da 6, soweit ihnen bekannt, Patient seit seinem 20. Jahre 
an epileptischen Anfallen leide. Als Kdnd sei er uberfahren worden, war 
3 Stunden bewuQtlos, seitdem sei er taub. Seit dem 31. Lebensjahr ist 
Patient verheiratet. Die epileptischen Anfalle sollen friiher sehr sei ten 
gekommen sein, etwa jeden 3.—4. Monat ein Anfall, meist in der Nacht. 
beginnend mit Aufschreien und gefolgt von tonischen und klonischen 
Krampfen der Extremitaten, ZungenbiB, Urinverlust. In den letzten Jahren 
treten die Anfalle haufiger auf. in Zwischenraumen von 2—4 Wochen, manch- 
mal gehauft bis zu acht an einem Tage. DazwLschen auch kleine Anfalle, bei 
denen Patient langsam uinsinkt, JhLaubewegungen und leichte Streck- 
bewegungen mit den Extremitaten macht. Nach den groBen Anf&llen 
oft 24stundiger Schlaf; haufig besteht auch Kopfschmerz danach. In den 


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R e d 1 i c h . Tetanie und Epilepsie. 


443 


letzten 3 Jahren ist Patient arbeitsunfahig geworden, auch anderte sich 
sein psychischer Znstand. Er verwechselte beim Zeichnen die Modelle, 
wurde kindisch, sehr reizbar, bei dem geringsten Anlafl rabiat. sodafi die 
Hausangehorigen sich oft vor ihm fliichten muflten. Seit Jahren sehr 
religios, iibertrieb er dies in der letzten Zeit ins Extreme, kniete sich oft 
nieder und betete. Patient ist keinTrinker; wenn er gelegentlichjetwas trank, 
traten sofort epileptische Anfalle auf. Patient hat 2 Kinder, die Ieben und 
gesund sind. Die Frau hat niemals abortiert. Hereditar besteht keine 
Belastung. 

Bei der Aufnahme ist Patient sehr lebhaft, spricht viel. Den folgenden 
Tag ist er schwerbesinnlich, faBt Fragen nur schwer auf, antwortet Jangsam, 
umstandlich. oft ganz unzutreffend. Er ist zeitlich und ortlich orientiert. 
t)ber seine Krankheit inacht er mit jenen der Frau konforme Angaben. 
Er meint selbst, er sei nicht recht imKopf beisammen. Man habe ihm ,,driiben 4< 
den Kopf ausgeraurnt; er werde Gott bitten, ihm wieder seine fiinf Sinne zu 
geben, dann ,, werde er es denen driiben klar machen.“ Er erzahlt weiter, es 
sei ihm im dritten Lebensjahr ein Wagenrad iiber den Kopf gegangen; das 
sei die Ursache seiner Krankheit. 

Die Untersuchung ergibt ein groCes, kraftig gebautes Individuum in 
gutem Ernahrungszustand. Die Pupillen mittel und gleich weit, reagieren 
prompt auf Lichteinfall und Konvergenz. An der rechten Seite der Zunge 
leichte Defekte des Epithels. Keine Halbseitenerscheinungen; die inneren 
Organe ohne abnormen Befund. 

Nach 10 tagigem Aufenthalt wurde Patient in die Wiener Irrenanstalt 
transferiert. 

Von dort nach einiger Zeit entlassen, wurde Patient am 2. I. 1907 
neuerdings der Klinik iibergeben. weil er im Aufnahmszimmer des all- 
gemeinen Krankenhauses den Joumalarzt miOhandeln wollte und nur 
durch Amtsdiener daran gehindert werden konnte. Bei seiner Einvernahme 
zeigte er sich zeitlich und ortlich orientiert, erzahlte dem Polizeiarzte, er 
leide an Atembeschwerden; er sei auf sein Lebensende vorbereitet, er fiirchte 
Gott. Seit 3 Wochen habe er starke epileptische Anfalle gehabt, sei sehr 
reizbar, dulde keinen Widerspruch und schlage alles zusammen. 

Nunmehr erzahlt die Frau (uber Befragen). datl Patient seit dem Friih- 
jahr 1906 zeitweilig klagte, daQ ihm die Hand schmerze. ,,er hatte Gicht 
darin“. Er habe in sich Elektrizitat, wodurch seine Hand gestreckt wurde, 
infolgedessen er den Bleistift nicht halten konne. Insbesondere in der Kalte, 
wie z. B. beim Schneeschaufeln soli er iiber Schmerzen in den Handen ge- 
klagt haben. 

Bei der Aufnahme ist Patient benommen. liegt regungslos im Bett, 
spricht nichts. 

Den folgenden Tag ist er zeitlich desorientiert. Er ist ruhig, schwer 
besinnlich, versteht viele Fragen nicht oder gibt erst naeh langem Zogem, 
und dann oft unrichtige Antworten. Er erzahlt wieder von seinen Anfallen. 
Oertlich orientiert er sich mit einiger Nachhilfe. Warum er diesmal hierher 
gekommen sei, weiB er nicht. Auch als ihm der im Parere erzahlte Vorgang 
vorgehalten wird, weiO ©r nichts davon. 

Wahrend der Untersuchung tritt ein Spontankranvpf der linken Hand 
in der Dauer von 2 Minuten auf mit typischer Tetaniestelhmg derselben, 
auch sonst gewisse Neigimg zur Pfotchenstellung der Hande. 

Der Schadel grofi. breit, die Stirne vorstehend, der Umfang 59 cm. 
Leichtes Fazialisphdnomen. Der Erbsche Punkt mechanisch leicht erregbar, 
desgleichen der N. radialis, N. ulnaris und medianus. Erhohte mechanische 
Erregbarkeit der Muskulatur. Deutlicher Trousseau (in den oberen 
Extremitaten beiderseits nach 30 Sekunden ausgesproehene Tetaniestellung, 
an den unteren Extremitaten nach 45 Sekunden tonische Plantarflexion 
des FuOes). Die Zunge weicht etwas nach links ab. Keine Halbseiten¬ 
erscheinungen. Die Schilddriise nicht vergrofiert. Im Urin vermehrter 
Indikangehalt, Aceton positiv. Der Fundus normal. 

Am folgenden Tag zeigt Patient ausgesproehene Befehlsautomatie, 
behalt ihm passiv beigebrachte Stellungen lange Zeit fest, gibt aber iiber Be- 


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R e d 1 i c h , Tetanie und Epilepsie. 


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fragen notdfirftige Auskunft. Wiederholt immer dieselben Phraeen „mir 
geht es sehr gut“, „ich bin vorbereitet fur Leben und Tod“. Zwei Tage spater 
wird Patient plotzlieh gesprachig. halt Vortrage, gestikuliert lebhaft mit den 
Handen, gibt den Besuchem Ratsel auf, geht ruhelos im Zimmer herum. 
Zeitweilig noeh Tetanies tell ung der Hande. 

Nach einiger Zeit xibemehmen die Angehorigen des Patienten den- 
selben wieder in hausliche Pflege. 

Ueberblicken wir diese, im ganzen 16 Falle umfassende 
Gruppe, so handelt es sich, wie gesagt, um Kranke, die entweder 
frfiher einmal an epileptischen Anfallen gelitten hatten, oder um 
solche mit typischer, chronischer Epilepsie. Diese Kranken zeigen 
dann, oft nach jahrelangem Bestande der Epilepsie, eine Tetanie, 
die wir der endemisch-epidemischen Form einzureihen haben. 
Sie tritt daher typisch in der Winterszeit auf, verschwindet 
zu Beginn des Sommers, rezidiviert, wie dies ja von dieser Art 
der Tetanie bekannt ist, unter Umstanden im nachsten Winter 
oder Friihjahr, selbst wiederholt. Zum allergroBten Teile handelt 
es sich um jugendliche Individuen in einem Alter, wo diese Art 
; von Tetanie am haufigsten ist. Es iiberwiegen auch, wie dies 
\ charakteristisch ist, die Manner weitaus fiber die Frauen, 12:4 
\ Endlich erwahne ich zur Charakteristik dieser Gruppe noch, daB 
von 16 Fallen nicht weniger als zehn aus Wien stammen, also 
der Tetaniestadt kat> exochen. Wir werden also hier das Zu- 
sammentreffen von Epilepsie und Tetanie tatsachlich nur als 
Komplikation ohne inneren Zusammenhang auffassen konnen. 
Bei der relativ sparlichen Zahl dieser Beobachtungen wird sich 
auch nicht behaupten lassen, daB die Epilepsie etwa eine besondere 
Disposition ffir das Auftreten der Tetanie geschaffen habe. Nur 
wollen wir doch schon hier vermerken, daB im Falle von Schultze 
und in einem der Falle von Stiefler nach den epileptischen Anfallen 
die Hande in typischer Tetaniestellung durch langere Zeit verblieben* 
also gleichsam ein Tetanieanfall dem epileptischen sich sub- 
stituiert, oder daB im epileptischen Anfall die Hande in Tetanie- 
stellung krampfhaft fixiert waren. Es ist dies ein Vorkommen, das 
uns bei den spateren Gruppen noch eingehender zu beschaftigen 
haben wird. 

Viel wichtiger ffir uns sind jene Falle von Tetanie , bei denen 
im Verlauf der Tetanie oder gleichzeitig mit der selben sich epilep- 
tische Anfdlle einsteUen , resp. sich Epilepsie entwickelt. Wir konnen 
auch diese Falle nach den atiologischen Momenten in mehrere 
Gruppen sondem, und zwar mochte ich, zum Teil in Ueberein- 
stimmung mit v. Frankl - Hochwart, unterscheiden: 1. Falle von 
parathyreopriver Tetanie (21 Falle), 2. Falle von juveniler oder 
Ar&eitertetanie, also der endemisch-epidemischen Form (17 Falle), 
3. Falle von Tetanie in der Graviditat , im Puerperium und wahrend 
der Laktation (5 Falle), 4. infantile Tetanie-Epilepsie. Dazu 
kommen 5. die Falle von Magentetanie mit epileptischen Anfallen 
von Kufimaul , Neumann , die Pineles zitiert, die mir aber nicht 
im Originate zuganglich waren 1 ). 

x ) Je einen Fall von Pick , von Phleps , zwei Fall© von Schoribom r 


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Es ist ako, wie der letztgenannte Autor mit Recht hervorhebt, 
die grofite Mehrzahl der atiologischen Gruppen von Tetanie, die 
auch in der Kombination mit epileptischen Anfallen erseheint. 
Auffallig ist nur, daB gerade die — freilich seltenen — Falle von 
toxischer Tetanie fehlen, denn von vomherein sollte man gerade 
sie hier erwarten. 

1. Zweifellos ist die ersteGruppe fur uns die wichtigste, weil 
hier die enge atiologisch-pathogenetische Zusammmengehorigkeit 
beider Krampfformen am klarsten zutage liegt; die Aufeinander- j 
folge der Erscheinungen, die Entwicklung ist meist eine akute, 
eindeutige; atiologisch-pathogenetiseh in der Regel nichts anderes 
eruie rbar als _ dif> Entfernnng ffcr Fpi*htt1km^ernhftn 3 die, wie wir [ 
heute wissen, die Tetanie auslost. Dazu kommt, daB, wie wir 
spater besprechen werden, auch bei der experimentellen Ent- 
fernung der Epithelkorperchen bei Tieren wiederholt das Auf- 
treten epileptiformer Anfalle beobachtet wurde. 

Hierher gehoren zwanzig Falle aus der Literatur. Es sind dies 
drei Kranke von Mikulicz , je ein Fall von Kronlein , Ehrhardt , 
Krdpelin, Hoffmann , Hoffmann-Szuma, Pietrzikowski , Bircher , 
Hochgesand , Eiselsberg, Westphal , Pineles , Erdheim , Infeld . Ueber 
vier Falle (einen von N. Weifi , zitiert bei Erdheim , und drei von 
Kocher) finde ich keine genaueren Notizen. Es bleiben ako 16 Falle 
fur unsere Betrachtungen iibrig. Dazu kommt der folgende 
eigene Fall. 

IV. 54 jahrige Frau, zum erstenmal am 18. IV. 1909 auf die psychi- 
atrische Klinik von Hofrat v. Wagner-Jauregg aufgenommen mit einem 
Parere. das besagt, dafl Pat. seit dem am 26. II. erfolgten Tode ihres Mannes 
in sehr schlechtem Zustande sei, daB sie wegen Zitterns der Hande nicht 
allein ©ssen und trinken konne, sich nicht anziehen konne, sehr schleoht 
sehe. Haufig sei sie verwirrt. Von seiten der Angehorigen wurde erhoben, 
daB Patientin im Jahre 1897 wegen einer Struma operiert wurde (eine bei 
dem betreffenden Chirurgen erfolgte Anfrage ergab bios, daB Patientin tat- 
sachlich im Jahre 1897 wegen einer Struma substernalis mit Kompression 
der Trachea strumektomiert wurde, wobei auch die Tracheotomie ausgefiihrt 
werden mufite. Weitere Notizen, speziell dariiber, ob und warm nach der 
Operation Krampfanfalle aufgetreten seien, fehlen). Die Angehorigen 
geben an, daB Patientin seit dieser Zeit, meist einmal wochentlich, An¬ 
falle habe. 

Patientin hat 2 Kinder geboren, die gesund sind. Hereditar besteht 
keine Belastung. Seit 3 Monaten stand Patientin wegen Staars an der Klinik 
Fuchs in Behandlung. 

Bei der Untersuchung auf der Klinik erzahlt Patientin, daB ihr Mann 
vor 6 Wochen gestorben sei und sie mit 2 Kindem ohne Mittel zuriickgelassen 
habe. Seit 5 Tagen leide sie an heftigem Zittern der Hande. Seit 3 Tagen 
sehe sie nichts mehr. Bei briisker Annaherung der Faust gegen die A.ugen 
zuckt aber Patientin zusammen. Als man eine gefiillte Flasche iiber ihren 
Kopf halt und sie umzudrehen Miene macht, sieht sie angstlich neugierig 
danach. Wird sie gezwungen. durch ein Labyrinth von Sesseln zu gehen, 
geht sie nicht nach Art der Blinden vorsichtig, mit den Handen tastend, 
sondem mit an den Leib angezogenen Handen und stoBt nur ein einzigesmal 
an. Sie modifiziert jetzt ihre Angabe, daB sie blind sei. dahin, daB sie nur 

drei von Jacobi kann ich in keine dieser Gruppen einreihen, weil genauere An- 
gaben fehlen. 


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einen Schein habe. Beim Auftrage, den Mund zu offnen, benimmt sie sich 
sehr ungeschickt, greift mit den Handen in den Mund und offnet ihn erst, 
als ihr der Examinierende das Mundoffnen vormacht. 

Ueber ihre Anfalle gibt sie an, daB sie seit zehn (?) Jahren an Anfdllen 
von BewuBtlosigkeit mit Krampfen leide, einmal soil sie sich dabei in die Zunge 
gebissen haben. Auch nachts habe sie manchmal Anfalle, wisse aber davon 
nur von der Erzahlung ihrer Angehorigen. Die Anfalle sollen in Intervallen 
von 3 Monaten konxmen. 

Die Untersuchung ergibt; GroBes, kraftiges, fettreiches Individuum. 
Die Pupillen mittelweit, gleich. reagieren prompt. Augenuntersuchung 
(Assistent Dr. v. Benedek): Links bestehen alte Hornhautflecke und alte 
hintere Synechien, beiderseits Cataracta corticalis (Tetanie?, Senil?); Seh- 
scharfe rechts 0.4 (-f* 2,0). links V 80 (+ 1,0). Beiderseits ausgesprochenes 
Chvosteksches und Schultzei sches Phanomen. Die Hande in grober Zitter- 
bewegung, insbesondere wenn die Aufinerksamkeit der Patientin darauf ge- 
lenkt wird. Sonst die Motilitat der Extremitaten ungestort. Die Sehnen- 
reflexe ziemlich lebhaft. gleicli, keine Sensibilitatss tor ungen, keine Druck- 
punkte. Am Halse oberhalb der Klavikula eine ausgedehnte lineare 
Opera tionsnar be. 

Bei Priifung auf Trousseau heftige SchmerzauBerung, die nach Ab- 
nahme der Binde sistiert. Die Finger werden wahrend dieser Zeit in Ge- 
burtshelferhandstellung gehalten. leisten der Oeffnung maBigen Wider- 
stand, nach Abnalime der Binde lost sich der Krampf sofort. 

Am 20. IV. sieht Patientin bedeutend besser. Sie erkennt sofort einen 
Schliissel und Anderes. zahlt Finger auf einen halben Meter Entfernung, kann 
mit Brille lesen. Der Tremor der Hande hat heute vollstandig sistiert. 

Nach zwolftagigem Aufenthalt auf der Klinik wurde Patientin ihren 
Angehorigen iibergeben, aber schon nach 10 Tagen neuerlich in die Klinik 
eingeliefert, weil sie wieder sehr aufgeregt war, fortwahrend weinte und 
schrie, und 3Tage vor der Aufnahme einen Anfall hatte. Patientin fiel dabei 
bewufitlos urn, stieB mit der Stirne an eine Kante an, und verletzte sich hier. 
Schilderung der Anfalle durch den Sohn: der Kopf soli nach links verdreht 
sein, Patientin fallt nach rechts. Steifheit des ganzen Kdrpers. Schaum 
vor dem Mund, keine allgemeinen klonischen Krampfe. kein Urinabgang. 
Nach 1 1 stiindiger BewuBtlosigkeit erwacht Patientin wieder. 

Beim Examen bietet die Patientin dasselbe Bild wie bei der ersten 
Aufnahme, macht einen schwerkranken Eindruck, lamentiert, behauptet 
wieder gar niehts zu sehen, z. B. vorgehaltene Finger. Personen, die um sie 
stehen. Aufgefordert, um den Tisch zu gelien, nimmt sie eine ganze falsche 
Richtung.stoBt an einen Sessel an, versucht dann,sich auf den Tisch zu setzen 
und laBt sich schlieBlich auf dem SchoB einer Aerztin nieder, wo sie sitzen 
zu bleiben Miene macht. Gleich darauf bezeichnet sie einen kleinen Schliissel 
richtig, macht mimische Bewegungen des Arztes nach. 

Status somaticus: Pupillen reagieren etwas unausgiebig. Chvostek und 
Schullze deutlich vorhanden, in der linken oberen Extremitat ein grober 
Tremor. PSR vorhanden, aber sclmach auslosbar. Bei Anlegen der Gummi- 
binde am Oberarm heftige SchmerzauBerung, aber kein Krampf der Hande. 
dagegen ein lebhafter Schiitteltremor (freilich muB die Binde wegen der sehr 
lebhaften SchmerzauBerungen der Patientin sehr rasch abgenommen 
werden.) 

Am 12. V. bekommt Patientin einen Krampf mit allgemeinen tonisch- 
klonischen Krampfen und BewuBtlosigkeit. Die Dauer der BewuBtlosigkeit 
betragt etwa 3 Minuten. Danach leichte Verwirrtheit. Patientin sucht herum, 
wischt am Kleide. Haul- und Sehnenreflexe unmittelbar nach dem Anfall 
erloschen. kein Bat inski, spater sind die Reflexe wie friiher. 

Am 10. VI. wird arztlicherseits ein Anfall beobachtet: Linked rehen des 
Kopfes und der Bulbi, kurzdauernde tonische Star re in dieser Stellung, 
dami klonische Krampfe in der linken Gesichtshalfte und an der linken 
oberen Extremitat beginnend, rasch sich verallgemeinernd, kein ZungenbiB, 
Pupillen weit und starr. Dauer des Anfalles 2 Minuten. Dann ist Patientin 
wieder verwirrt, sucht herum. Keine Reflexdifferenz, kein Babinski. dagegen 


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R e d 1 i c h , Tetftnie und Epilepsie. 


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stellt sich wieder Sehutteltremor der linken oberen Extremitat ein. Nach 
sechswochigem Aufenthalt auf der Klinik wurde Patientin, in deren 
Zustand sich kcine wesentJiche Aenderung zeigte, der IrrenanstaJt Steinhof 
iibergeben. 

Pat. leidet seit Jahren an epileptischen Anfalien, die nach 
der Strumektomie aufgetreten sind, aber ohne daB sich genaueres 
feststellen lieBe. Die Untersuchung ergibt Erscheinungen der 
Tetanie; es ist wohl zweifellos, daB diese als parathyTeoprive 
aufzufassen ist. Psychische Einfliisse, Not u. A. haben bei der 
Kranken in der letzten Zeit hysterische Zustande ausgelost, die 
n. A. die durch die Catarakt (Tetanie ?) bedingte Sehstorung in 
typischer Weise beeinfluBten. 


Was zunachst bei dieser Gruppe auffallt, ist das Ueberwiegen 
der Frauen; es sind 15 Frauen und bloB 2 Manner. Dieses 
Ueberwiegen der Frauen gilt iiberhaupt fur die Falle von para- 
thyreopriver Tetanie. v. Frankl-Hochuart hat z. B. in einer Zu¬ 
sammenstellung von 45 Fallen parathyreopriver Tetanie 9 Manner 
und 36 Frauen. Unter 26 von Pineles zusammengestellten, plus 3 
von Erdheim publizierten Fallen sind wiederum 4 Manner und 
25 Frauen, v. Frankl-Hochwart erklart die auffallige Pravalenz 
der Frauen bei der parathyreopriven Tetanie damit, daB bei 
Frauen (aus kosmetischen Griinden) iiberhaupt mehr Strum- 
ektomien ausgefiihrt werden als bei Mannern, was zweifellos richtig 
ist. In einer Zusammenstellung von 233 Kropfexstirpationen 
(totalenund partiellen), die ich bei Kocher finde, sind z. B. 82 Manner 
und 151 Frauen; das entspricht 31.2 pCt. Mannern und 64,8 pCt. 
Frauen. Aber die Zahl der Frauen unter den Fallen von Tetania 
parathyreopriva geht dariiber noch hinaus. Sie entspricht in der 
Statistik von v. Frankl-Hochwart 80pCt., von Pineles 86,2 pCt., 
und fur meine Zusammenstellung von parathyreopriver Tetanie 
mit epileptischen Anfallen gar 87,5 pCt. Es wird also doch noch 
zu iiberlegen sein, ob Frauen bei der Kropfexstirpation nicht 
mehr noch als Manner der Gefahr einer Tetania parathyreo¬ 
priva, speziell auch mit epileptischen Anfallen ausgesetzt sind 
als Manner, wobei vielleicht an eine durch wiederholte Gravidi- 
taten bedingte Disposition zu denken ware. 

Betrachten wir im Detail die Falle, so zeigt sich, wie dies 
ja fur die Tetania parathyreopriva iiberhaupt bekannt ist, daB 
endemische Einfliisse in dieser Gruppe lange nicht in dem MaBe 
sich geltend machen als bei den anderen Formen von Tetanie. 
Immerhin sind auch hier die Falle aus Wien in nicht unbetracht- 
licher Zahl vertreten (unter 21 Fallen 9). Die befallenen Individuen 
stehen meistens in relativ jugendlichem Alter, was wohl auch damit 
zusammenhangen diirfte, daB sich Frauen meist in diesem Alter 
der Kropfexstirpation unterziehen. 

Bekanntlich entwickelt sich nach der Kropfexstirpation die 
Tetanie, dort wo sie auftritt, sehr bald; in den hier in Betracht 
gezogenen Fallen wird wiederholt schon am 2.—3. Tage das Auf- 


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treten der Tetanie verzeichnet, teils freilich erst zwischen dem 
4.—7. Tage, nur vereinzelt spater (nach Wochen). 

Die epileptischen Anfalle treten erst spater auf, z. B. in 
den Fallen von Hoffmann und Hochgesand am neunten Tage, 
bei Eiselsberg am zehnten Tage nach der Operation, bei Erdheim 
nach 14 Tagen, in einem Falle von Mikulicz in der dritten Woche. 
Bei der Kranken Westphals traten erst nach einem halben Jahr, 
bei Pineles gar erst nach Jahren epileptische Anfalle auf. Bei 
meiner Kranken ist, wie erwahnt, das genauere zeitliche Verhaltnis 
unbekannt. 

Freilich werden auch vereinzelt andere Angaben gemacht; 
so sollen in den Fallen von Krapelin und Infeld die epileptischen 
Anfalle der Tetanie vorausgegangen sein; bei Kronlein (nicht 
ganz klarer Fall) ist iiber Tetanie fiberhaupt nichts angegeben, 
sondern nur epileptische Anfalle und Tod im Status epilepticus. 
Auch Kocher erwahnt, daB nach Kropfexstirpation epileptische 
Anfalle auftreten konnen, ohne daB Tetanie besteht. Ich mochte 
es aber fiir moglich halten, daB in diesen Fallen die so viel unschein- 
barere Tetanie gegeniiber den auffalligen epileptischen Anfallen 
gelegenthch iibersehen worden ist. 

Nur in einer kleinen Zahl von Fallen konnen wir uns fiber das 
weitere Schicksal der Kranken, speziell in Bezug auf die epilepti- 
| schen Anfalle, Aufklarung verschaffen. In einzelnen Fallen hat 
die Krankheit einen akuten Verlauf genommen, tetanische und 
epileptische Anfalle bestanden bis zum Exitus fort; der Tod trat 
z. B. direkt im Status epilepticus ein, wie z. B. in einem Falle 
von Mikulicz . Oder es geht der Fall in Heilung fiber, Tetanie 
und epileptische Anfalle verschwinden wieder, wobei, wie in einem 
Falle von Mikulicz , die epileptischen Anfalle die tetanischen einige 
Zeit noch fiberdauern; oder schlieBlich es bestehen beide Formen 
von Krampfen weiter fort und treten jahrelang nebeneinander 
auf. Ein Beispiel ist hierffir der Fall von Westphal und wahr- 
echeinlich unser Fall IV. Interessant ist, daB bei dieser Gruppe 
nicht selten Mischformen von Anfallen beschrieben werden, resp. 
der Uebergang der einen Krampfform in die andere, wie wir dies 
schon oben erwahnt haben. So spricht Ehrhardt von Mischformen, 
ebenso Westphal , bei dessen Kranker manchmal Tetanieanfalle von 
epileptischen Anfallen, in denen die Hande in Tetaniestellung 
fixiert werden, gefolgt sind. Letzteresist auch in den Fallen von Hoch¬ 
gesand und Hoffmann vermerkt. Umgekehrt haben sich im Falle 
Pineles wieder epileptische Anfalle an Tetanieanfalle angeschlossen. 
Vereinzelt wird auch das Auftreten von halbseitigen tetanischen 
Krampfen im Beginne des Leidens angegeben. Dabei ist zu 
bemerken, daB nur in einem kleinen Teile der Falle genauere 
Schilderungen vorliegen, so daB die Zahl der hierhergehorigen 
Falle gewiB groBer sein dfirfte. 

Weiter sei erwahnt, daB nur in zwei Fallen (in dem Falle 
von Erdheim und in dem zweifelhaften von Kronlein) hereditare 
Belastung mit Epilepsie vorliegt, und die betreffenden Kranken 


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schon in friiheren Zeiten einmal an epileptischen Anfallen gelitten 
hatten. Fiir den Rest der Falle fehlt jedes andere atiologische 
Moment fur die epileptischen Anfalie, es bleibt nur die Entfernung 
der Schilddriise, resp. der Epithelkorper und die dadurch ausgeloste 
Tetanie. 

2. Als zweite Gruppe haben wir die Falle von Arbeitertetanie, 
d. h. der endemisch-epidemischen Form mit epileptischen Anfallen, 
bezeichnet. Es sind dies Falle von v. Frankl-Hochwart (5), Jaksch , 
Freud , Herhold , Hochhaus , Westphal , Pintles , Saiz , Luger (je 1), 
wahrend es bei dem Falle Gottsteins zweifelhaft erscheint, ob er 
hierher gehort oder in die dritte Gruppe, die Graviditattetanie, ein- 
zureihen ist, weil zwar in der Kindheit Tetanie bestand, diese 
spater sistierte, um erst wieder in der Graviditat, diesmal aber 
mit epileptischen Anfallen kombiniert, aufzutreten 1 ). Ich gebe 
im folgenden die Krankengeschichten zweier eigener Falle. 

V. 37 jahriger Tischlergehiife wurde am 18. III. 1909 von der Augen- 
klinik, wo er wegen seiner Katarakts (Tetanie-Katarakt) wiederholt Auf- 
nahme gefunden hatte und operiert worden war, der psychiatrischen KJinik 
liberwiesen, weil er an diesem Tage einen Krampfanfall mit BewuBtlosigkeit 
und nachherigem Verwirrtheitszustand erlitten hatte. 

Anamnestisch ergab sich aus den Angaben des Kranken, dafl er seit 
seinem 15. Lebensjahr alljahrlich in den Wintermonaten an Tetanieanfallen 
leide, wobei die Hande in typischer Tetaniestellung fixiert werden. Dieso 
^('Anfalie dauern zirka einen halben Tag wahrend welcher Zeit sie sich 
rasch wiederholen. Sie treten immer nur in der Zeit vom Februar bis April 
auf. Bisweilen hat Patient beim Sitzen auch Krampfe in den Beinen, und 
zwar in der Oberschenkel- und Wadenmuskulatur, die aufhoren, wenn er 
aufsteht. Der epileptische Anfall auf der Augenklinik war der erste, den 
er bisher hatte; jedoch sollen schon den ganzen Tag liber Tetaniekrampfe 
bestanden haben. Nach dem Anfall war er schlafsiichtig. Seit dem vorigen 
Jahr treten auch zeitweise plotzliche Anfalie von Atemnot mit Heiserkeit, 
resp. Stimmlosigkeit auf. In seinem 6. Jahre soil Patient nierenleidend 
und wassersuchtig gewesen sein. Hereditar besteht keine Belastung. Kein 
Schadeltrauma. Dagegen ist Patient ziemlicher Potator. 

Kleines, schwachliches Individuum, blaB. Der Schadel rundlich ohne 
Deformitat. groBter Umfang 53V 2 . Himnerven ohne Storung, nur etwas 
Zittern der Zunge. Kein Fazialisphanomen oder deutliche mechanische 
TJebererregbarkeit anderer Nervenstamme. Trousseau deutlich. Im 
N. ulnaris schon bei 2 MA KSTe, bei 3.5 MA KOZ. Die Sehnenreflexe der 
oberen und unteren Extremitaten maBig lebhaft, gleich. 

An der Wangenschleimhaut und am harten Gaumen zahlreiche braune 
Flecke, an der Haut oder am Skrotum fehlen auffallige Pigmentierungen. 
Lungenbefund normal, die Herztone etwas unrein. Der Blutdruck normal. 

Wahrend seines Aufenthaltes auf der Klinik hatte Patient wiederholt 
Anfalie von Laryngospasmus mit heftiger Atemnot, leichter Cyanose, da¬ 
gegen keine epileptischen Anfalie, keine spontanen Tetaniekrampfe. Er 
wurde im Mai 1909 wieder in hausliche Pflege entlassen. 

VI. Der Patient wurde im Alter von 17 Jahren von Dozent Dr. Folia 
untersucht und im Wiener Verein fiir innere Medizin demonstriert. Im 
wesentlichen handelt es sich um denselben Befund. wie er sich zur Zeit der 
Beobachtung auf der psychiatrischen Klinik ergab, nur daB damals Falta 


1 ) Dagegen diirfte wohl ein in der letzten Zeit von Weinfurter bei 
einem Soldaten publizierter Fall, uber den ich nur ganz kurze Notizen 
finde (Sitzung des militararztlichen Vereins in Wien vom 4.’ II. 1911), hier 
einzureihen sein. 


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R e d 1 i c h , Tetanic und Epilepsie. 


Zeichen einer pluriglandularen Insuffizienz beschrieb: AuBer Tetanie- 
erscheinungen solche von Myxoedem, niedrigem Blutdruck (chromaffines 
System) und Dysgenitalisinus (mangelhafte Entwicklung des Genitale). 
Patient erhielt durch langere Zeit Schilddriise. AuBerdem betont Falta 
die sehr hohe Assimilationsgrenze fur Traubenzucker; 1 mgr Adrenalin 
subkutan loste Tetaniekrampfe aus. 

Auf die psychiatrische Klinik von Hofrat v. Wagner-Jauregg wurde 
Patient am 22. II. 1911. jetzt 19 Jahre alt, aufgenommen. Die Mutter, 
sowie der Patient selbst geben an, daB der Vater des Patienten starker 
^Trinker war. oft wegen ,,Verfolgungswahn‘ fc in Spitalsbehandlung stand; 
er starb an einer Lungenentziindung. Eine Schwester des Patienten, jetzt 
13 Jahre alt. soil durch viele Jahre an Morbus sacer gelitten haben, ist aber 
jetzt wieder frei davon. Patient ist das 6. von 11 Geschwistem. Schwanger- 
schaft und Geburt verliefen normal. Im Alter von einern Jahr soil er „stiHe 
Fraisen“ gehabt haben, dabei oft (bis 2—3 mal in einer Nacht) auch 
laryngospastische Anfalle, wobei das Kind blau wurde. 

Vor mehreren Jahren traten im Januar Krampfe mit Schmerzen in 
den Extremitaten und im ganzen Korper auf, die bis zum Friihjahr an- 
dauerten. Im Sommer und Herbst war Patient davon frei. Im Januar der 
folgenden Jahre traten diese Krampfe wieder auf, urn durch den ganzen 
Winter anzuhalten. Seit 8 Wochen sollen neuerdings Krampfe mit 
Schmerzen in den Extremitaten und im ganzen Korper bestehen. Seit einiger 
Zeit (nach Angabe der Mutter seit einem Jahr) gelegentlich Anfalle von 
BeWufitlosigkeit mit Krampfen, nachher soli Patient verwirrt gewesen sein, 
gerauft haben; Patient selbst weiO nichts von diesen Krampfen. Diese An¬ 
falle sollen in der letztenZeit gehauft (bis zu fiinf in einerNacht) vorgekommen 
sein. Daneben gab es auch kleine Anfalle mit BewuBtlosigkeit. aber 
ohne schwere Krampfe. 

Patient hat bloB 5 Volksschulklassen absolviert, hat schlecht gelemt, 
ist ofters sitzen geblieben. Er hat verschiedene Gewerbe zu lemen be- 
gonnen; 1909 war er bei einem Tischler in der Lehre gewesen. jetzt ist er 
Hilfsarbeiter in einer Farberei. 

Patient ist Rechtshander. 

Status praesens : Patient ist groB, Korperlange 160 cm, davon entfallen 
auf die Oberlange 81, auf die Unterlange 85 cm. Die Gesichtsfarbe ist 
normal, der Ernahrungszustand mitt-el. die Haut glatt. weich. nicht auf- 
fallig trocken; Kopfhaar blond, schlicht, die Nagel nicht auffallig gerieft 
oder rauh. Die Barthaare noch nicht entwickelt, Achselhaare sehr sparlich, 
Unterschenkel sehr wenig behaart. Crines pubis vorhanden, von inannlichem 
Typus, Penis und Testikel normal, entsprechend entwickelt (Patient hat 
bisher noch nicht mit Frauen verkehrt. soil auch keine Pollutionen 
haben). 

Der Schadel maBig groB. langlich, die Ohrlappchen angewachsen. Der 
Rontgenbefund (Dozent Dr. Schuller) ergibt: Schadel normal konfiguriert. 
5 mm dick, vollkommen spongios. Innenflache glatt. Basis normal, Hypo- 
physengrube gerauinig. 

Die Pupillen gleich weit, prompt reagierend. Leichter Strabismus 
convergens, seit Kindheit bestehend; beim Blick nfich den Seiten 
leichter Nystagmus, beim Blick nach aufwarts am rechten Auge, 
manchmal auch am linken Auge starke Konvergenzstellung der Augen, die 
beim Blick nach vorne erst langsam wieder nachlaBt. Fundus normal. 

Zahnbefund: die oberen inneren Schneidezahne zeigen eine aus tiefen 
Griibchen bestehende Querfurche in der Mitte der freien Flache, eine zweite 
seichtere Furche nahe dem Zahnfleischrande. Die oberen auBeren Schneide¬ 
zahne zeigen Griibchen an der Krone, der linke Eckzahn abgebrochen, rechter 
Eckzalin stark abgekaut. Die oberen Pramolaren frei. Die auBeren imteren 
Schneidezahne zeigen seichte Fmchen in der Mitte, der untere Eckzahn hat 
im auBeren Drittel Griibchen (s. Fig. 1.). 

Beiderseits deutliches Fazialisphanomen (Chvostek I). Die Zungen- 
innervation frei. Der Ohrbefund (Dozent Dr. Xeumann) ergibt bis auf Er- 


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iIyp^rtTv»j>ljM'•'*/r tub r <<“•• Ziii«*»* 11ftt*vf: Thymus p^rjcuiomeh 

nadii. tiutdi wombat SrhikUtrtbi** kiwii. 


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Exrr^iViitdt^ti vi^iwiok^lt, die Ifeift >ix^ gii?< v 

D*h dUehe TA^ivmtis^Ucr Hrrr»gtiUP}«tif vq?U AVferhVii$«*! H N”, /uii&riii- 
ami rAciiii-fi^V'; i« : 

Atto^’bri^ie'n-1Ht*,: 

.grhohu ctei11ti^«■* ^S* r Skjhify \ 

S&ili$&t$vr | ,! » 1 11«. Dj«v /.lokr.'rv-;;.;- ii>' T>rvub,trkc*ifc der Keo*vMt> 

i>t.nu4it zu }jn'i!*'ii- v-v«i lmut hot ^alvMu^’Hyr RekuUg.d^t Ivorveu /kr 
«oH*/reii . dir kiirze ifeifc" ge^ttwKt. 

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Die SehnourtdJexe' <lr*r ob-rua Extremukuift nif.-hi imsloxbm*. fiFSK mul 
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HcUnimfki t&wfi' tingadeutii: link# dw filch twhundm det/,uk opilepttHchor ^kn- 
f*dl yw iingetkhr 1 % Swndenjf, •Ooo^.^t^rcAfk.rx.. .'.B^iaciideckw.-: 

reflex -j-’ giOioJu 

In dec' yjtitfim . UigUob. AfcfSllfr, zdbv Ted t*uoh 
abichlot. Ersteqs grafe Ajiikfk^ wib^f JFStiem W»v>i$Hk>* ^t ijs^l 
sicb itn Oe&cht offer *y\ Kx*pf:. 

Konvalsiotien h*m oftor* ;i*it' wtihre-Ml, svtehcr Anf&tfe din Hnke Hm4S'm\ 

TeMniestellung. AivfAjfe tt?$dVterk&bligfMr; siad kteiist** • 

oft cvhiKj dal5 Itefcieflrvt dtybei u^tlrr^ i%t. ttie P<jppiUed leagiereib^Ah^qd 






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R e d 1 i c h , Tetanic und Epilepsie. 


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einen Anfall gehabt hat. Gelegentlioh Anfalle, ,,wo die Augen vergehen“. 
kein Krampf in der Hand, sondern nur ,,Gefuhllosigkeit“, sodafi Patient 
das, was er in der Hand halt, fallen laOt. Dabei kann Patient aber weiter- 
gehen. Nach Anfalien und bisweilen auch intervallar besteht links 
Babinski&chea Phanomen. und sind die Hautreflexe links etwas lebhafter. 
Bei anderen Anfallen bleibt Patient ruhig im Stuhl sitzen, Anne und Seine 
wtrden in Tetaniestellung fixiert. 

Der Zustand des Patienten blieb im wesentlichen bis zu seiner Ent- 
lassung (4. VII. 1911) der gleiche, auch die Zahl der Anfalle wurde trotz aller 
versuchter Therapie (u. a. groBere Dosen Brom. Neuronal in Verbindung mit 
Thyreoid tablet ten) nicht wesentlich herabgesetzt. Die Tetaniesymptome 
blieben unverandert, nur daB das Fazialisphanomen allmahlich, vom Mai ab 
weniger deutlich war, schlieBlich verschwand auch die mechanische Ueber- 
erregbarkeit der anderen Nerven. Auch das Trousseausche Phanomen war im 
Mai nicht mehr zu erzielen. Spater aber war es wieder sehr deutlich. Im Juni 
war es endlich moglich, eine genauere elektrische TJntersuchung durchzu- 
fiihren. Dieselbe ergab jetzt keine deutliche Uebererregbarkeit (N facialis 
bei 2 MA KSZ, bis 5 MA keine KOZ; N. ulnaris 0,7 MA KSZ, AOZ 
bei 2,8 MA; N. median. 3 MA KSZ, 4 MA ASZ und AOZ). 

Es sind dies im ganzen 16 Falle; angesichts der relativen 
Haufigkeit der endemisch-epidemischen Tetanie, speziell an 
manchen Orten, gewiB eine kleine Zahl, wenn wir auch selbst- 
verstandlich nicht auBer Acht lassen wollen, daB nicht jeder 
solche Fall pubhziert wird. Mit der relativen Seltenheit solcher 
Falle stimmt es auch, daB v. Franhl-Hochwart, der neuer- 
dings das spatere Schicksal einer groBeren Zahl von Tetaniekranken 
verfolgte, darunter nicht einen einzigen erwahnt, der an epilep- 
tischen Anfallen litt oder Epileptiker geworden ware. 

Unter diesen 16 Fallen sind nicht weniger als zehn aus Wien, 
| also der klassischen Stadt der epidemischen Tetanie, der Rest 
l verteilt sich auf Ungarn, Berhn, Triest, Kiel und zwei Falle mir 
1 unbekannter Provenienz. Es sind 11 Manner und 5 Frauen, 
was dem Verhaltnis der Geschlechter bei der epidemischen Tetanie 
entspricht, wo ja die Manner bekanntlich weitaus iiber die Frauen 
iiberwiegen. Unter den Mannern sind 4 Schuster, 3 Soldaten, 
1 Uhrmacher, 1 Tischler, 1 Lederarbeiter; beim elften finde ich 
bezuglich des Berufes keine Notizen. Unter den 16 Fallen (Manner 
und Frauen) stehen 5 Kranke zwischen dem 10.—20. Jahr, 6zwischen 
dem 20.—30., also das bekannte starke Ueberwiegen dieser Alters- 
stufen bei der epidemischen Form; 4 Kranke sind zwischen 
30.—40. Jahr (darunter mein Fall V, bei dem die Tetanie aber 
schon seit dem 15. Jahre besteht) und eine Frau im 43. Jahr. 

Soweit Angaben vorliegen, ist der groBte Teil der Falle, was 
die Tetanie betrifft, im Winter und im Beginn des Friihjahrs 
zur Beobachtung gekommen, zum Teil handelt es sich auch 
i um typisch rezidivierende Formen, wie z. B. unser Fall V und VI, 
ein Fall von v. Frankl-Hochwart, Saiz u. A. Was die Epilepsie 
betrifft, so bestand in der Regel die Tetanie schon langere Zeit, 
, Monate (Jaksch, Hochhaus) oder seit Jahren, hat mehrfach rezi- 
1 diviert, ehe epileptische Anfalle auftraten, wie z. B. in einem 
Falle von v. Frankl-Hochwart, Herhold, Saiz (4 Jahre), mein Fall VI 
(seit Jahren, in der Kindheit schon Laryngospasmus); im Falle V 


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soli die Tetanie sogar schon liber 20 Jahre bestehen. Freilich 
finden sich auch Falle verzeichnet, wo beide Krampfformen zu 
gleicher Zeit oder mindestens ohne wesentliches Intervall auf- 
getreten sein sollen, wie z. B. bei Freud, Herhold. Ueber die Haufig- 
keit der epileptischen Anfalle, iiber das weitere Schicksal der 
Kranken fehlen leider zum groBen Teil Angaben. Mitunter han- 
delt es sich um ganz vereinzelte Anfalle, wie z. B. in einem 
Falle von v. Frankl-Hochwart, in meinem Falle V. u. A. In anderen 
wiederholen sich die Anfalle wahrend des Bestandes der Tetanie 
mehrfach, um mit Zuriicktreten derselben gleichfalls zu sistieren, 
z. B. bei Freud. In der Beobachtung von Hochhaus wurden sogar 
die Tetanieanfalle seltener, wahrend die epileptischen Anfalle 
bis zum Exitus anhielten. Dagegen scheinen in meinem Falle VI 
die epileptischen Anfalle chronisch werden zu wollen; sie sind zwar 
wahrend der Beobachtung mit Zuriicktreten der Tetanieerschei- 
nungen etwas seltener geworden, aber nicht ganz verschwunden. 

Fiir die Auslosung des einzelnen epileptischen Anfalles oder 
der epileptischen Anfalle iiberhaupt sind nur zum allergeringsten 
Teil Ursachen bekannt; so heiBt es bei v. Frankl-Hochwart, daB 
bei der an Tetanie leidenden Kranken erst nach einer Geburt 
epileptische Anfalle aufgetreten sind; bei Pineles ist vermerkt, 
daB nach AlkoholgenuB epileptische Anfalle am leichtesten auf¬ 
getreten seien; Fall V war Potator. Bezuglich hereditarer Belastung 
ist bei Herholds Patienten angegeben, aaB ein Bruder und eine 
Schwester an Krampfen (Tetanie ?, Epilepsie ?) leiden. Bei 
unserem Fall VI ist der Vater schwerer Trinker und geisteskrank 
gewesen, eine Schwester hatte gleichfalls Epilepsie. Auf gewisse 
Himerscheinungen, Halbseitensymptome bei diesen Fallen komme 
ich noch zuriick. 

Mehr noch als bei den anderen Gruppen sind hier gewisse 
Eigentiimlichkeiten der Tetanie und der epileptischen Anfalle, 
resp. Uebergange der beiden Arten von Krampfen verzeichnet. 
So heiBt es z. B. im Falle Gottsteins, daB die Tetanieanfalle jahrelang 
auf die rechte Seite beschrankt geblieben seien. Bei dem Kranken 
Freuds ist angegeben, daB die epileptischen Anfalle in der linken 
oberen Extremitat mit Tetaniestellung begannen, bei Saiz’ Kranken 
gingen den epileptischen Anfallen oft stundenlang Tetaniekrampfe 
voraus, Luger sah bei Auslosung des Schlesingers Phanomens 
epileptische Anfalle auftreten. Bei den kleinen Anfallen meines 
Falles VI, die ich beobachten konnte, war die linke Hand in 
Tetaniestellung (bei dem Patienten bestanden unzweifelhafte 
linksseitige Halbseitenerscheinungen, Reflexsteigerung, Babinski 
u. s. w.). Wiederholt ist auch angegeben, daB nach jedem epilep¬ 
tischen Anfall, ahnlich wie dies nach Tetanieanfallen beobachtet 
wird, das Erbsehe und Trousseausche Phanomen deutlicher wurde 
(z. B. SchuUze, Curschmann, Saiz), nur bei Luger findet sich die 
umgekehrte Angabe. Anderseits finden sich bei einer Reihe von 
Fallen, insbesondere aus der letzten Zeit — in den alteren 
Beobachtungen ist der Status nervosus vielfach allzu summarisch 


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abgehandelt —, Hinweise fur eine deutliche Affektion des 
Gehims, resp. Angaben iiber Halbseitenerscheinungen. Jaksch ’ 
Fall hatte z. B. doppelseitige Stauungspapille, Schlaffheit des 
rechten Beines, weswegen Jaksch einen raumbeschrankenden 
ProzeB im Schadelinnern annimmt, und die Tetanie als bloB 
symptomatisclie auffaBt. Da aber die Zahl der Falle von unzweifel- 
haft idiopathischer Tetanie mit Neuritis optica, resp. Stauungs¬ 
papille doch schon keine ganz kleine ist (s. dariiber bei v. Economo ), 
so ist dieser SchluB nicht zwingend. Es konnte sich doch um 
eine idiopathische Tetanie mit intensiverer Beteiligung des Gehirns 
gehandelt haben. Uebrigens ist auch im Falle von Hochhaus 
Neuritis optica und Psychose verzeichnet; hier ergab die Obduktion 
auBerdem den Bestand einer Syringomyelie. Die Kranke Westphals 
war psychisch schwer gestort, hatte wiederholt postepileptische 
Psychosen. Der Kranke Lugers hatte nach epileptischen Anfallen 
mitunter leichte linksseitige Facialisparese und links Babinskisches 
Phanomen. Desgleichen hatte mein Fall VI deutliche linksseitige 
Halbseitenerscheinungen: auBer einer gewissen Bevorzugung der 
linken Seite bei den Krampfen nach den Anfallen und auch 
gelegentlich intervallar linksseitige Reflexsteigerung, Babinskisches 
Phanomen links. 

Endlich ist erwahnenswert, daB der Kranke Lugers einen 
leichten Status lymphaticus darbot, mein Fall V auffallige Pigmen- 
tationen der Haut zeigte, ohne daB ein eigentlicher Addison 
bestanden hatte. Im Falle VI hatte Falta vor der Beobachtung 
auf der psychiatrischen Klinik Erscheinungen einer polyglandularen 
Insuffizienz gefunden, die jetzt nicht mehr bestanden. Katarakt 
findet sich bei dem Kranken von Freud and in unserem Falle V. 

3. Wir gehen nunmehr an die dritte Gruppe heran, das sind 
Falle von Tetanie mit epileptischen Anfallen, wo die Tetanie 
sich wahrend der Graviditat, eines Puerperismus oder wahrend 
der Laktation entwickelte. In der Literatur fand ich drei solcher 
Falle, wozu moglicherweise noch der schon oben erwahnte Fall 
von Gottstein kommt. Der erste Fall ist der von SchuUze, der 
nicht ganz eindeutig ist, da schon mit 13 Jahren ahnliche Krampfe 
bestanden hatten; wahrend einer Graviditat trat Tetanie auf, 
zu der zeitweilig epileptische Anfalle hinzukamen, wie dies 
auch bei der ersten Attacke der Fall war. Dann ein Fall von Freund , 
eine 28jahrige Frau betreffend, die schon wahrend friiherer Gravi- 
ditaten resp. Laktationen Tetanie hatte ; diesmal traten auch 
epileptische Anfalle auf. Endlich ein Fall von Fries , 36jahrige 
Frau, bei der vor drei Jahren wahrend der Laktation epileptische 
Anfalle aufgetreten sein sollen, die sich in spaterer Zeit, und zwar 
in immer kiirzer werdenden Intervallen, wiederholten. Seit dieser 
Zeit ist Patientin schwachsinnig. Gleichzeitig mit diesen Anfallen 
traten laryngospastische und leichte Krampfe in den Handen 
auf. Ein Bruder der Patientin soil Epileptiker sein. 

Ich habe zwei solche Falle beobachtet. 


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VTL Eine 23jahrige Frau, die ich leider nur einmal, am 22. III. 1909. 
in meiner Sprechstunde gesehen habe. 

Patientin gibt an, daB eine Schwester nach einer Entbindung geistes- 
krank geworden sei und seitdem in einer Anstalt sich befinde. Sonst bestehe 
keine hereditare Belastung. Sie selbst soli friiher gesund gewesen sein, hat 
niemals ein Schadeltrauma iiberstanden. Am 5. IX. 1907 und September 
1908 je eine Geburt. Seit der zweiten Geburt ist Patientin nicht mehr 
ganz gesund, hat stark an Gewicht abgenommen. Vor dem Einschlafen hat 
sie haufig hypnagoge Haliuzinationen. Seit dieser Zeit bestehen auch 
Anfalle von Atemnot, die nach der Schilderung an Laryngospasmus erinnem. 
Seit Dezember 1908 treten zeitweise heftige Parasthesien und Schmerzen 
in den Handen und tetanieartige Krampfe in denseiben auf. Januar 1906 
aus dem Schlaf heraus ein Anfall mit BewuBtlosigkeit ohne ZungenbiB. 
Nach dem Anfall war Patientin eine Zeitlang verwirrt. Den folgenden Tag 
sehr miide. Am 19. III. stiirzte Patientin, von einem Spaziergang nach 
Hause zuriickgekehrt, plotzlich bewuBtlos zusammen, hatte allgemeine 
Zuckungen, ZungenbiB. Danach Kopfschmerz. Der Stuhl soli stets sehr an- 
gehalten und sehr iibelriechend sein. 

Es besteht beiderseits sehr deuiliches Fazialisphdnomen , auch an den 
Nerven der oberen Extremitaten deutlich mechanische Uebererregbarkeit, 
ausgesprochener Trousseau (aus auBeren Griinden konnte ich damals eine 
elektrische Untersuchung nicht durchfiihren). 

An der Zunge Reste eines frischen Bisses. In den Sehnen- und Haut- 
reflexen keine Differenz zwischen beiden Seiten. 

VIII. 27 jahrige Frau, die am 14. III. 1908 auf die psychiatrische Klinik 
gebracht wurde. mit einem Parere, in dem es heiBt, daB sie seit einiger Zeit 
in ihrem Wesen geandert sei, ihre Wirtschaft vemachlassige, Schulden 
mache, immer iiber Miidigkeit klage, jede Nacht Urin unter sich lasse. Sie 
hat vor 9 Monaten geboren, hatte ihr Kind durch 6 Monate an der Brust. 
In den letzten Tagen beschimpfte sie das kleine Kind, drohte es zum Fenster 
hinabzuwerfen. Friilier sei sie immer gesund gewesen. 

Bei der Untersuchung zeigt die sehwachsinnige Patientin, die nur sehr 
wenig Schulbildung genossen hat. leicht moriaartiges Wesen, bestreitet zu- 
nachst lachend die iiber sie gemachten Angaben, gibt aber dann zu, daB sie 
das Kind beschimpft habe. weil es sehr schlimm sei. Sie habe aber nicht 
daran gedacht, dem Kinde etwas anzutun. 

Korperlich ward konstatiert: mittelgroBes, kraftig gebautes Individuum 
von mittlerem Ernahrungszustand. Die Pupillen reagieren prompt, beider¬ 
seits Fazialisphdnomen. Ausgesprochener Trousseau (nach l / 2 Minute). 
Die Sehnenreflexe sehr lebhaft, beiderseits gleich. Patientin wurde nach 
einiger Zeit wieder ihrem Mann iibergeben. 

Im Marz 1909 wurde sie neueriich der Klinik iibergeben, weil sie nach 
Angabe des Parere wieder verwirrt in ihren Handlungen sei, Schwindel- 
anfalle habe, bei denen sie zu Boden stiirze. teilnahmslos sei, nichts arbeite, 
die Kleider zerreiBe. Sie hat am 9. III. 1909 geboren und bis zu ihrer Ein- 
lieferung das Kind an der Brust gehabt. Am Tage der Aufnahme soli sie 2 An¬ 
falle gehabt haben, wobei sie bewuBtlos niederfiel, Konvulsionen hatte. 

Bei der Aufnahme ist die Patientin verwirrt, gibt auf Fragen zunachst 
keine Antwort, lachelt, wischt am Tisch herum; auf energisches Anrufen 
sagt sie hochstens „ja“ oder „nein“. Spater wird sie regsamer, erinnert 
sich an ihren friiheren Aufenthalt in der Klinik, weiB, daB sie vor kurzem ge¬ 
boren hat. Krampfe gehabt zu haben, stellt sie in Abrede. 

Bei der korperlichen Untersuchung findet sich starkere Pigmentation 
im Gesicht und am Bauche. Die Pupillen mittelweit, gleich, prompt 
reagierend. Die Zunge wird gerade vorgestreckt, an der rechten Halfte ein 
frischer BiB. Leichtes Fazialisphdnomen (Ghvostek II). Leichte mechanische 
Erregbarkeit vom /sY&schen Punkt und vom N. ulnaris. An den oberen 
Extremitaten deutlicher Trousseau (nach \ 2 Minute). PSR maBig lebhaft, 
gleich, ASR +, gleich, rechts Andeutung von Babinski. Bauchdeckenreflex 
gleich. Auch an den unteren Extremitaten Trousseau (nach einer Minute). 

Monate8clirift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXX. Heft 6. 30 


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In den nachsten Tagen wird Patientin psychisch freier, erzahlt jetzt, 
sie sei zu Hause in Ohnmaeht gefaUen und zusammengestiirzt. Friiher habe 
sie nie ahnliche Anfalle gehabt. Sie ist aber immer noch etwas verstimmt 
und zuriickhaltend. Chvostek ist jetzt noch deutlich, Trousseau stark positiv, 
dagegen fehlen wahrend der Zeit ihres Aufenthaltes auf der Klinik (bis 
22. VI. 1909) spontane Tetaniekrampfe. Eine elektrische Untersuchung 
war leider nicht durchfuhrbar. 

In einzelnen dieser Falle sollen sich die Tetanie und die 
epileptischen Anfalle gleichzeitig eingestellt haben, oder es sind 
erst einige Monate nach Manifestwerden der Tetanie epileptische 
Anfalle aufgetreten. Bei meinen zwei Fallen wurden (fie Tetanie 
und die epileptischen Anfalle wahrend der Winterszeit beobachtet. 
Das spatere Verhalten in Bezug auf die epileptischen Anfalle ist 
leider nicht genauer festzustellen. Bei Freuds Patientin sollen 
mit Abklingen der Tetanie auch die epileptischen Anfalle ver- 
schwunden sein. 

In atiologischer Hinsicht ist hervorzuheben, daB drei von 
diesen fiinf Fallen aus Wien stammen (Fall Fries's und meine 
zwei Falle). Hereditare Belastung ist im Falle Freunds vorhanden 
(ein Onkel der Patientin hatte Epilepsie), bei Fries's Patientin 
(ein Bruder Epileptiker) und in meinem Falle VII (eine Schwester 
der Patientin war voriibergehend geisteskrank). Von Hirnsymp- 
tomen sind zu erwahnen: Im Falle Freunds leichte Parese des 
rechten Fazialis (die PSR waren voriibergehend nicht auszu- 
losen, spater nur schwach), im Falle VIII bestanden ausgesprochene 
psychische Storungen, auch war anfanglich rechts Andeutung von 
Babinskischem Phanomen. Katarakt bestand im Falle Freunds und 
Fries '; mein Fall VIII wies wiederum starkere Pigmentierungen 
im Gesichte und an der Bauchhaut auf. 

4. Gruppe IV betrifft Kinder oder wenigstens jugendliche 
Individuen, bei denen die Krankheit aus der Kindheit, zum Teil 
sogar aus der Sauglingsperiode stammt, eine Gruppe, die fur 
uns darum noch besondere Wichtigkeit hat, weil sie fur die spater 
zu erorternde Frage liber die Beziehungen der kindlichen Tetanie, 
resp. der sogenannten Spasmophilie zur Epilepsie von Bedeutung 
ist. Aus der Literatur gehoren drei Falle hierher, ein Fall von 
v. Frankl-Hochwart, ein 14jahriger Knabe, der seit dem 10. Jalire 
an Epilepsie und seit dieser Zeit an Tetanie leidet. Dann ein 
Fall von Schonborn-Curschmann , eine 24jahrige Frau betreffend, 
die im Alter von 7 Jahren an Epilepsie und Tetanie litt. Mit 
Eintritt der Menses trat die Epilepsie zuriick, wahrend die Tetanie 
fortbestehen blieb. Endlich ein 9jahriges Madchen aus der Beo- 
bachtung von Curschmann , das seit mehreren Jahren an Tetanie 
und Epilepsie leidet. 

Dazu kommen drei eigene Falle. 

IX. Ein 10 jahriger Knabe. den ich am 25. II. 1911^in meiner Sprech- 
stunde gesehen habe. 

Patient ist erstes Kind, erschwerte Geburt. Vom 11. Monate an hatte er 
duroh 4 Monate Stimmritzenkrampf; damals sollen auch Rrampfe in den 
H&nden bestanden haben. Diese Krampfe verloren sich in der Folgezeit. 


Gougle 


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es traten aber allmahlich an deren Stelle Anfalle von Bewufitlosigkeit mit 
Krampfen. Patient wird dabei nach der Schilderung der Mutter plotzlioh 
blafl, macht einige Schluckbewegungen, sinkt urn, ohne hinzustiirzen. Nie- 
rnals ZungenbiB. Manchmal sollen nach Angabe der Mutter auch kleine An- 
f&lle ohne Bewu Btlosigkeit auftreten. Die gesehilderten Anfalle komraen 
nur bei Tag vor, aber taglich, bis zu 20 an einem Tage. Die Dauer der Anfalle 
betragt nur wenige Sekunden. Im Alter von 5 und 8 Jahren soli sich ein 
schwerer Status epilepticus entwickelt haben, so daB Patient narkotisiert 
wurde. Gehen und Sprechen hat Patient etwas verspatet erlemt, hat sich 
geistig gut entwickelt, besucht jetzt die erste Gymnasialklasse mit gutem 
Erfolg. Hereditar besteht keine Belastung. 

Ein von mir wahrend der Untersuchung beobachteter Anfall verlief so, 
daB Patient plotzlich hinsank, ohne vollstandig bewuBtlos zu sein, nicht auf- 
fallig blafl wurde; die Hande waren in einer eigentiimlichen, an extreme 
Athetosestellung erinnemden Krampfhaltung, nicht in eigentlicher Tetanie- 
stellung. Klonische Krampfe fehlten. 

Sonst ergibt die Untersuchung ein mittelgrofles, etwas blasses In- 
dividuum. Der Schadel rundlich. langiich, symmetrisch, die groBte Zirkum- 
ferenz 52 cm. An den Zahnen typische Schmelzdefekte. Keine Halbseiten- 
erscheinungen, kein Fazialisphanomen, kein Trousseau . 

Ich habe den Patienten 5 Wochen spater noch ein zweites Mai gesehen; 
die Mutter gab an. daB die kleinen Anfalle noch durch einige Zeit sehr ge- 
hauft aufgetreten, in der letzten Zeit aber seltener geworden seien. Die Unter¬ 
suchung ergibt denselben Befund wie das erstemal. 

X. 23 jahriges Madchen. aufgenommen den 16. II. 1910 auf die 
Nervenklinik von Hof rat v. Wagner-Jauregg. 

Hereditare Belastung besteht nicht. Als Kind hatte Patientin Maseru, 
Fraisen. Seit ihrer Schulzeit leidet Patientin an zweierlei Anfallen. Die 
einen treten nachts. etwa wochentlich einmal. auf, ihre Dauer betragt wenige 
Minuten. Patientin spiirt zuerst eine Hitze im Kopf, wird bewuBtlos, dann 
wird nach Angabe der Angehorigen der Kopf nach rechts verzogen, es treten 
Zuckungen in alien Extremitaten auf. In den ersten Jahren auch Abgang 
von Urin, ZungenbiB; in der letzten Zeit fehlten diese. 

Daneben Tetanieanfalle, die aber immer nur im Winter auftreten. Die 
Hande werden dabei in Geburtshelferhandstellung fixiert. In friiheren Jahren 
hatte Patientin auch in den Beinen Krampfe, wahrend diese sich jetzt auf 
die oberen Extremitaten beschranken. Wahrend dieser Anfalle soli Patientin 
,.Herzstechen“ und starkere Atemnot, ein Gefiihl des Erstickens haben. Zu 
Zeiten, wo Tetanieanfalle bestehen, soil Patientin oft Diarrhoe haben. 

Patientin leidet schon seit langerer Zeit an Kopfschmerz. Erste Men¬ 
struation im 16. Lebensjahr, seither regelmaBig alle 4 Wochen, Dauer 8 Tage, 
keine beeonderen Schmerzen. 

Status praesens: Patientin ist klein. schwachlich; der Panniculus 
adiposus ist maBig entwickelt; blasses, etwas erdfarbiges Kolorit. Der 
Schadelrachiti8ch, an derStelle der groBenFontanelle besteht eineDepression. 
Andeutung von Rosenkranz am Thorax, auffallend kurze Diaphysen der 
oberen und unteren Extremitaten. Der Schadel nirgends klopf- oder druck- 
empfindlich. Leichter Epicanthus, Zahne rachitisch, sehr steiler, enger 
Gaumen, Torus palatinus. Sensorium frei, etwas angstliche Stimmung, 
Intelligenz gering. Pupillen mittelweit, gleich, auf Lichteinfall imd 
Konvergenz reagierend. Augenbewegungen frei, kein Nystagmus. Es besteht 
hohe Hypermetropie, der Fundus ist normal, Gesicht symmetrisch innerviert, 
ausgesprochenes Faz ialisphanomen und Schultze. Sensibilitat im Ge¬ 
sicht ohne Storung, desgleichen Corneal- und Rachenreflex. Leichte 
Struma. 

Die Motilitat der oberen Extremitaten ohne Storung, Biceps- und 
Tricepsreflex lebhaft, gleich. Bei Beklopfen des Erbschen Punktes, de< 
N. ulnaris und der anderen Nervenstamme lebhafte Zuckung. Trousseau 
positiv. 

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PSR rechts etwas lebhafter als links, ASR vorhanden, gleich; Fufi- 
sohlenstreichreflex gleich. Bauchdeckenreflex fehlt beiderseits. Gang ohne 
Storung, keine Ataxie. Bei Beklopfen des N. peron. lebhafte Zuckungin 
seinem Muskelgebiet. Trousseau positiv (nach 2 Minuten). Sehr lebhafte 
vasomotorische Erregbarkeit der Haut. 

N. facialis rechts KSZ 0,6 MA 

ASZ 1.0 MA 

AOZ 4,0 MA 

KOZ bei 5 MA noch niclit zu erzielen. 

N. ulnaris KSZ 0.6 MA 
AOZ 1,8 MA 
ASZ 1,4 MA 
KSTe 5 MA 
ASTe 3,0 MA 

Die inneren Organe ohne besonderen Befund, Wassermann negativ. 

Rontgenbefund des Schddels (Dozent Dr. Schuller) Schadeldach rund. 
ziemlich dick und dicht, von diploetischen Venen durchzogen, Innenflache 
glatt, Basis normal. 

Wahrend ihres Aufenthaltes auf der Klinik (bis 6. VI. 1910) hatte 
Patientin am 4. III. einen typischen Tetanieanfall, am 8. III. und am 3. IV. 
nachts einen epileptischen Anfall. Bei ihrer Entlassung war das Fazialis- 
phanomen noch sehr deutlich, Schultze schwach. Trousseau fehlte. 

XI. 3 jahriges Kind, aufgenommen den 20. II. 1908 auf die psych- 
iatrische Klink. 

Das Kind stand vorher 4 mal durch langere Zeit in Behandlimg des 
Karolinen-Kinderspitals; Primarius Dr. Knopfelmacher hatte die Liebens- 
wiirdigkeit, uns die Krankengeschichte zur Einsicht und Beniitzung 
zu tiberlassen. Das erstemal was das Kind im Alter von 2 Jahren, vom 
11. XI. 1906 bis 23. VI. 1906, daselbst in Behandlung. Es wurde erhoben, daB 
die Mutter auBer diesem Kind noch 3 Kinder hatte und 3 mal abortierte. 
Schon mit einem Jahre habe das Kind Tetanieerscheinungen dargeboten. 
Seit einem Monat schwere und haufige Anfalle, wahrend deren das Kind stark 
aufzieht und kraht, Erstickungserscheinungen darbietet. Bis zu 15 Anfallen 
taglich. Aus dem damaligen Befimd sei hier hervorgehoben: Zeichen von 
leichter Rachitis, an der Haut Erscheinungen von Lues. An beiden Augen 
Epieanthus. Das Kind spricht noch nicht, ist meist heiter, lacht viel, ist sehr 
zutraulich, sehr lebhaft. Es wurden wiederholt typische laryngospastische 
AnfdUe mit schwerer Cyanose beobachtet. Ausgesprochene mechanische 
Ueberregbarkeit aller Nervenstamme, ausgesprochene galvanische Ueber- 
erregbarkeit; im N. median, z. B. bei 0,4—0,7 MA KSZ, bei 2,0—4,0 MA 
KOZ, ASTe bei 4,6—7,0 MA. Im N. peroneus bei 0,2—1,3 KSZ, bei 3,5 bis 
4,2 KOZ, bei 8,0 MA ASTe. Trousseau an beiden oberen Extremitaten 
positiv, an den unteren Extremitaten negativ. Am 22. XI. wurde ein Anfall 
beobachtet, bei dem das Kind plotzlich aufschrie, dann tief bewuBtlos und 
cyanotisch wurde, Schaum vor dem Mund hatte; tonische Krampfe der 
Extremitaten, worauf klonische Krampfe im Gesicht und den Extremitaten 
sich einstellten. Dauer 2 Minuten. Nach 5 Minuten Pause ein neuerlicher 
Anfall mit BewuBtlosigkeit und tonisch-klonischen Krampfen. Auch an den 
folgenden Tagen neben laryngospastischen typische epileptische Anfalle, 
meist mehrere des Tages. Bei der Entlassung am 3. XII. nur mehr ver- 
einzelte laryngospastische Anfalle, keine epileptischen Anfalle. Chvoslek 
positiv. Trousseau negativ. Die galvanische Erregbarkeit gesunken. 

Vom 8. XII.—14. XII. 1907 und vom 6. I.—15. I. 1908 wurde das 
Kind, und zwar wegen neuerlich aufgetretener Anfalle wieder ins Spital 
aufgenommen. Es bestand deutliche elektrische Uebererregbarkeit, dagegen 
fehlte Trousseau. Bald nach der Entlassung neuerlich Anfalle mit BewuBt- 
losigekit und ZungenbiO. Das Kind befand sich deshalb ein viertes Mal, 
vom 1. II.—12. II. 1908 in Behandlung. Die mechanische Erregbarkeit der 
Nerven ist hochgradig gesteigert, starke Steigerung der Sehnenreflexe. Aus- 


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gesprochene galvanische Uebererregbarkeit (z. B. N. med. KSZ bei 0,6, 
KOZ 1,6, KSTe 3.3). Trousseau kaum auslosbar. 

Auf der psychiatrischen Klinik, wo das Kind vora 20. II.—3. V. 1908 
in Behandlung stand, wurde ©in einziges Mai. am 23. II.,©in epileptischer An- 
fall beobachtet. Tetanieanfalle oder laryngospastische AnfaUe fehlten. 

Das Kind war jetzt 83 cm lang, hatte einen Kopfnmfang von 44 cm. 
Das Gesicht leicht gedunsen, Fettauf lager ungen auf der Stim, leichter 
Epicanthus. Typisches Verhalten des ©rethischen Idioten. Ausgesprochenes 
Fazialisphdnomen (Chvostek I), stark© mechanische Erregbarkeit der 
Nervenstamme vom Erbschen Punkt, des N. ulnaris und median. Sehnen- 
reflex der oberen und unteren Extremitaten lebhaft, gleich. Trousseau 
positiv (nach y 2 Minute), sowohl an den oberen wie unteren Extremitaten. 

Fac. sin. KSZ 1,6 MA 

ASZ = AOZ 3,6 MA 
KSTe 2,6 MA 
ASTe 3,4 MA 

Unter dies-en sechs Fallen sind zwei mannlichen und vier 
we blichen Geschlechts. Das Alter der betreffenden Individuen 
zur Zeit der Beobachtung ist 3, 9, 10, 14, 23 und 24 Jahre; die 
Erkrankung besteht aber, wie wir geseben haben, bei alien seit 
der Kindbeit, zum Teile noch aus der Sauglingsperiode. Hereditare 
Belastung fehlt bei alien Fallen, in unserem Falle XI bestand 
hereditare Lues. 

Von Besonderheiten der Tetanie ist erwahnenswert, daB 
im Falle Curschmann-Schonborns , nach Angaben des ersteren, 
die Tetanieanfalle auf die linke Seite sich beschrankten, auch 
sollen nur links Trousseau und Erb bestanden haben. In 
meinem Falle IX war bei dem von mir beobachteten Anfall 
von Petit mal die Hand in einer eigentiimlichen, nicht 
eigentbch tetanieartigen, sondem mehr an Athetose erinnem- 
den Haltung. Meist, soweit Angaben vorliegen, handelt es 
sich um chronisch fortbestehende Tetanie und Epilepsie, nur 
im Falle Curschmann-Schonbom trat die Epilepsie mit Eintritt 
der Menses zuriick, wahrend umgekehrt in unserem Falle IX 
die Tetanie verschwindet, Petit mal aber zuriickbleibt. Von 
Zerebralerscheinungen ist im Falle von v. Franlcl-Hochwart Hydro¬ 
cephalus und unscharfe Begrenzung der Papillen angegeben; 
im Falle Curschmann-Schonborn ist die Psyche geschadigt, unser 
Fall XI ist idiotisch. Im Falle Schonborns und unserem Falle X 
bestand Katarakt, im Falle Schonborns und unserem Falle XI 
auffallige Fettentwicklung. Ersterer zeigte auch Erscheinungen 
von Myxoedem, letztere sind auch im zwei ten Falle von Cursch - 
mann angegeben. Auch bestand hier, wie in unserem Falle XI, 
Mongolismus, auch Fall X hatte Epicanthus und leichte Struma. 

Wir haben nunmehr noch zwei Punkte zu erortern, die fur 
unsere Frage eine gewisse Bedeutung haben. In zwei meiner 
eigenen Beobachtungen ist erwahnt, daB die Patienten Schmelz - 
dsfekte an den Zahnen hatten. Fleischmann in Wien, der diese 
Schmelzhypoplasien zum Gegenstande eingehender Untersuchungen 
gemacht hat, sucht im Anschlusse an die experimentellen Er- 
fahrungen Erdheims iiber Zahnveranderungen an Ratten nach 


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Exstirpation der Epithelkorperchen darzutun, daB auch die 
menschlichen Schmelzhypoplasien, deren Deutung bisher eine 
schwankende und zweifelhafte war, mit Storungen der Epithel- 
korperfunktion zur Zeit der Zahnentwicklung zusammenhangt. 
Abgesehen da von, daB sie die groBte Aehnlichkeit mit den bei 
der Ratte beobachteten haben, konnte er sich immer iiberzeugen, 
daB Kinder, welche im ersten bis zweiten Lebensjahr Tetanie 
hatten, also zu jener Zeit, wo die Entwicklung der betreffenden 
Zahne — am haufigsten sind die ersten Molaren, die mittleren 
oberen Schneidezahne, dann die Eckzahne und die unteren 
Schneidezahne ergriffen — im Gange war, hier typische Schmelz- 
defekte hatten. Bei Tetanie im 3. bis 5. Jahre treten die 
Schmelzhypoplasien am zweiten Pramolar, am zweiten Molar, 
eventuell am Weisheitszahn auf. Charakteristisch sei auch, daB 
nicht einzelne Zahne diese Schmelzhypoplasien zeigen, sondern 
alle Zahne, die der gleichen Bildungsperiode angehoren. Die 
Schmelzhypoplasien, beziiglich deren genauerer Schilderung auf 
Fleischmann verwiesen sei, weisen also nach ihm mit groBer 
Wahrscheinlichkeit auf eine in der ersten Kindheit iiberstandene 
Tetanie hin. 

Fleischmann und Potzl, die ein groBes Material von Kranken 
der psychiatrischen und neurologischen Klinik in Wien unter- 
suchten, konnten, wie sie so liebenswiirdig waren, mir mitzuteilen 
bei einer nicht unbetrachtlichen Zahl von Epileptikem Schmelz- 
hypoplasien nachweisen, sie fanden sie unter 60 untersuchten 
Epileptikem 28 mal. Es ist nicht unwahrscheinlich, daB da auch 
die speziellen Wiener Verhaltnisse mit im Spiel sind. Ich selbst 
habe auBer bei den zwei erwahnten Fallen, wo die Anamnese 
zweifellos eine infantile Tetanie ergeben hatte, noch bei einer 
Anzahl von Epileptikem im jugendlichen Alter solche typische 
Schmelzhypoplasien gefunden. Dies wiirde wohl den SchluB ge- 
statten, daB bei einer Zahl von Epileptikem in der ersten Kind¬ 
heit Tetanie vorausgegangen ist. Freilich muB darauf hingewiesen 
werden, daB von anderen Autoren, z. B. von Hochsinger, die 
Beziehungen der Schmelzhypoplasien zur Tetanie in Abrede 
gestellt werden, jene vielmehr auf Rechnung vorausgegangener 

I Rachitis gesetzt werden. 

I Ein weiterer Punkt, der eine Erorterung hier erfordert, 

j ist das nicht seltene Vorkommen des Fazialisphanomens 
(Chvostekfiches Symptom) bei Epileptikem. Ich will auf die reiche 
Literatur 1 ) und die so lebhaften Diskussionen iiber diesen Gegen- 
stand hier nicht im Detail eingehen, mich vielmehr im wesentlichen 
auf das Vorkommen bei Epileptikem beschranken. 

v. Frankl-Hochivart, der zuerst, 1884, auf das Vorkommen 
des Fazialisphanomens auBerhalb der Tetanie hingewiesen hatte, 


*) Ich verweise diesbeziiglich auf die Arbeiten von v. Frankl-Hoch- 
wart, Schultze, Schlesinger, Mager, Chvostek jun., Curschmann und beziiglich 
des Vorkommens bei Kindem besonders auf Escherich, Bored, Herbst, Sperk, 
Hochsinger u. A. 


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nennt hier und spater auch die Epilepsie als eine jener Kranki 
heiten, bei der positives Fazialisphanomen zu beobachten ist. 
Ebenso erwahnen Schultze und Freud, daB bei Epileptikern das 
Chvosteksche Phanomen in seinen hochsten Graden vorkomme. 
Auch Chvostek jun. bemerkt, daB bei Epilepsie ohne Tetanie 
sich sehr haufig Fazialisphanomen finde. Stem unterscheidet 
in seiner Arbeit iiber die Prognose der Epilepsie in prognosti- 
scher Hinsicht zwei Gruppen von Kranken, die einen, bei denen 
infantile epileptische Anfalle spaterhin ausbleiben, und solche, 
wo sie auch im spateren Alter fortbestehen. Ein Differenzierungs- 
merkmal zwischen beiden Gruppen sieht er u. A. darin, daB bei der 
ersten, wo also die Epilepsie spaterhin ausheilt, in zwei Dritteln 
der Falle Struma bssteht. Bei diesen fehlte stets das Chvostek- 
Phanomen zur Zeit der epileptischen Anfalle. Bei den andauemden 
Fallen vermiBte er eine VergroBerung der Thyreoidea, hingegen 
war Chvostek fast durchaus deutlich vorhanden. Bei einzelnen 
Epileptikern mit akutem Leiden fand er leichte Struma und zu- 
gleich einen positiven Chvostek. Bratz hat nach anderer Bichtung 
hin wieder Differenzen zwischen Epileptikern mit und ohne Chvostek 
finden zu konnen geglaubt. Er will bekanntlich von der eigent- 
lichen Epilepsie die affektepileptischen Anfalle bei psychopathisch- 
degenerativen Individuen abgrenzen. Bei letzteren fand er in der 
Hafte der Falle Chvostek und mechanische Uebererregbarkeit der 
Nerven, bei wirklicher Epilepesie unter 28 Fallen bloB 3 mal. Es sei 
also das Fazialisphanomen bei Kranken mit affektepileptischen 
Anfallen ungleich haufiger als bei gleichaltrigen Epileptikern. 

Potpeschnigg, der auch Orther und Hochsinger beziiglich des 
Vorkommens von Fazialisphanomen bei Epileptikern zitiert, 
erwahnt drei Kinder mit Epilepsie und Fazialisphanomen und er- 
hohter galvanischer Erregbarkeit. 

Ich selbst habe seit Jahren auf das Vorkommen des Fazialis- 
phanomens bei Nerven- und Geisteskranken geachtet und dasselbe, 
mitunter auch die mechanische Uebererregbarkeit anderer Nerven- 
stamme, in verschieden deutlichen Graden nicht selten gefunden. 
Ich mochte von den verschiedenen Krankheiten nach der Haufig- 
keit und Intensitat dieses Vorkommens in erster Linie die Epilepsie, 
dann die Dementia praecox, speziell die katatonen Formen, und 
Hysterie nennen. Dann kamen Neurasthenie, Frauen mit Strumen, 
bei denen schon v. Frankl-Hochwart das Vorkommen des Fazialis- 
phanomens betont hat, Morbus Basedowii u. A. Ueberhaupt kann 
ich mit anderen Autoren betonen, daB das Fazialisphanomen bei 
jugendlichen Individuen und bei Frauen haufiger zu finden ist 
als b8i erwachsenen Mannern. 

Was speziell die Epilepsie betrifft, so ist hier, wie erwahnt, 
das Fazialisphanomen recht haufig. Manchmal handelt es sich nur 
um leichte Grade, das, was v. Frankl-Hochivart als Chvostek III 
bezeichnet hat; aber auch Chvostek II und I habe ich durchaus 
nicht allzu selten gesehen. Es gibt Falle von Epilepsie, wo das 
Fazialisphanomen so deutlich ist, wie man es nur irgendwie bei 


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florider Tetanie sehen kann. In f olchen Fallen zeigten nicht selten 
auch andere Nerven, z. B. der Erfo che Punkt, der Nervus medianus, 
ulnaris, radialis, der Nervus peroncus eine deutliche mechanische 
Uebererregbarkeit. Niemals aber war in diesen Fallen, die ich hier 
im Auge habe, also Epilepsie mit Fazialisphanomen ohne Tetanie, 
das Trousseausche Phanomen nachweisbar; niemals bestand eine 
deutliche galvanische Uebererregbarkeit oder im Sinne von 
Chvostek jun. charakteristische Paraesthesien oder Schmerzen in 
den Extremitaten, geschweige denn spontane Tetaniekrampfe. 

Das Fazialisphanomen ist in solchen Fallen wie bei anderen 
Erkrankungen, wenn vorhanden, wie ich mit v. Frankl-Hochwart , 
Hochsinger u. A. bestatigen kann, oft eine recht lange, Monate, 
selbst Jahre andauernde Erscheinung. Es kann Schwankungen 
in der Intensitat zeigen, gelegentlich sogar verschwinden, um aber 
dann doch wieder nachweisbar zu sein. Ich kann auch mit 
v. Frankl-Hochwart , Schlesinger , Herhst u. A. die Haufigkeit von 
Differenzen in der Intensitat zwischen beiden Seiten bestatigen, 
es kann sogar nur einseitig, wenn auch meist schwach, vorhanden 
sein. DaB es aber gerade auf der rechten Seite haufiger sei (Herbst), 
habe ich nicht gefunden. Gegen Bratz muB ich auch betonen, daB 
die Mehrzahl dieser Falle regelrechte, seit Jahren bestehende 
Epilepsie betrifft, also nicht Affektepilepsie nach Bratz . Bei 
einzelnen Fallen, aber durchaus nicht immer, lag anamnestisch, 
wie in den oben beschriebenen zwei Fallen, die Angabe vor, die 
Kranken hatten als Kinder Laryngospasmus gehabt, vereinzelt 
waren bei solchen Epileptikern Schmelzhypoplasien an den Zahnen 
nachweisbar. 

DieBedeutung des Fazialisphanomens auBerhalb der Tetanie ist, 
wie erwahnt, Gegenstand sehr eingehender Diskussionen gewesen. 
Da wir es bei den verschiedenartigsten Erkrankungen finden konnen, 
hier aber immer nur in einem relativ kleinen Prozentsatz der Falle, 
lag der Gedanke nahe, es nicht mit der Grundkrankheit in Zusam- 
menhang zu bringen, sondern die Ursache auBerhalb derselben, 
wenn moglich in gemeinsamen Momenten zu suchen. So beschuldigt 
Schvltze hauptsachlich die Magerkeit, Mager Enteroptose mit ab- 
normer Gasbildung und dadurch bedingter Autointoxikation 
vom Darm aus u. a. Hochsinger will bei jugendlichen Individuen 
hauptsachlich hereditare Nturopathie verantwortlich machen. 
Wahrend die Mehrzahl der Autoren nicht zugeben will, daB das 
Fazialisphanomen an sich Tetanie bedeute, haben andere einen 
solchen Standpunkt vertreten. Oanghofer z. B. (zitiert bei Boral) 
stellte es als moglich hin, im Fazialisphanomen ein Zeichen 
latenter Tetanie zu sehen; Boral , ein Schuler Kassowitz's , brachte 
es in Beziehung mit der Rachitis und dem Laryngospasmus, 
der heute, mindestens in einer groBen Zahl von Fallen, der kind- 
lichen Tetanie zugewiesen wird. v. Frankl-Hochwart erortert ein- 
gehend das Fur und Wider, im Fazialisphanomen eine Miniaturform 
der Tetanie zu sehen. Er weist z. B. darauf hin, daB im Jahre 1886, 
wo in Wien besonders viel Tetanie zu sehen war, auch auBerhalb 


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derselben Chvostek beconders zahlreich war, dann auf das Auftreten 
desselben in Familien, wo Tetanie vorkommt (Loos). Aber er kann 
sich nicht im positiven Sinne entscheiden. Er betont das jahrelange 
Vorkommen des Fazialisphanomens bei gesunden Individuen, ohne 
daB sich je Tetaire zeige, es komrr.c an Orten vor, wo Tetanie nicht 
zu Hause sei. Diesen Punkt betont auch Schultze. Ich kann dies 
nach meinen Untersuchungen bestatigen. Ich habe seit Jahren bei 
Patienten der Privatpraxis, die von auswarts stammen, auf das 
Fazialisphanomen geachtet und dasselbe oft genug konstatieren 
konnen; nicht nur bei Patienten aus Oesterreich-Ungarn, sondern 
auch solchen aus dem Orient, RuBland, Amerika u. s. w. habe ich 
Chvosiek III und II, gelegentlich auch Chvostek I gesehen. 

Herbst , Bratz, z. T. auch Sperk bringen das Fazialisphanomen 
mit der Spasmophilie Thiemichs in Zusammenhang, die ja die 
Tetanie in sich faBt (s. cpater). Ersterer gibt freilich an, daB durch 
calzarmeDiat und durch Calcium lactic, zwar die galvanischeUeber-; 
erregbarkeit, nicht aber das Fazialisphanomen zu beeinflussen sei.jj 
Curschmann sieht im Chvostek- Phanomen eine Vorstufe der Tetanie, 
zu deren Ausbruch freilich noch eine angeborene oder erworbene 
Disposition (Affektion der Epithelkorper) notwendig sei. Schonborn 
ist am konsequentesten, indem er auch die leichtesten Grade des 
Fazialisphanomens zu der Tetanie rechnet, wahrend Chvostek jun., 
der sich const besonders scharf fur die Zugehorigkeit des Fazialis¬ 
phanomens zur Tetanie eingesetzt hat, die leichtesten Grade aus- 
nimmt und diese fur bedeutunglos halt. Chvostek hat sich auch 
bemiiht, die Einwande, die gegen eine Tctaniewertung des Fazialis¬ 
phanomen sprechen, zu entkraften. Den Umstand z. B., daB 
Fazialisphanomen auch an tetaniefreien Orten vorkommt, will er 
gleich Schonborn damit erklaren, daB daselbst zwar keine schwere 
Tetanie mit den const iiblichen Symptomen vorkomme, wohl 
aber leichte Tetanie. Das lange Persistieren des Fazialis¬ 
phanomens beweise nur eine chronische Tetanie. Das Fazialis¬ 
phanomen sei jedenfalls am haufigsten an Orten, wo Tetanie 
endemisch sei. In Jahren, wo Tetanie besonders zahlreich vor¬ 
komme, sei auch das Fazialisphanomen am haufigsten und umge- 
kehrt; dies gelte auch von den Jahreszeiten, in welchen die Tetanie 
am haufigsten sei, das sei Februar und Marz. Ich kann bestatigen, j 
daB das Fazialisphanomen im Februar und Marz am haufigstenI) 
ist, muB aber andererseits sagen, daB es auch im Mai und Juni,’ 
selbst Juli, andererseits schon zu Beginn des Herbstes, nicht allzu 
selten zu finden ist, mindestens bis in diese Monate persistieren 
kann. Chvostek gibt weiter an, daB er in alien Fallen, wo ausge- 
sprochenes Fazialisphanomen vorhanden war, nachtraglich die 
Zugehorigkeit oder wenigstens die Verwandtschaft zur Tetanie 
konstatieren konnte (?). Er sieht also in den hoheren und mittleren 
Graden des Fazialisphanomens, dessen diagnosticche Bedeutung ] 
er iiberhaupt hoher einschatzt als die Mehrzahl der Autoren, ein i 
Zeichen der Epithelkorperinsuffizienz , wahrend er die leichteren I 
Grade davon ausschaltet. Solche Falle seien gleichsam ein Indikator 


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dafiir, daB das betreffende Individuum das konstitutionelle Moment 
der Erkrankung an Tetanie in sich trage; es bedarf aber noch 
anderer Ursaehen, um die iibrigen Erscheinungen der Tetanie zu 
Tage treten zu lassen. 

Die Einwande, die gegen die Anschauung von der Zugehorig- 
keit des isolierten Fazialisphanomens zur Tetanie von v. FranJd- 
Hochimrt , Schvltze u. A. gemacht wurden, scheinen mir durch die 
Ausfuhrungen von Schonborn , Chvostek u. A. nicht vollig entwertet. 
Andererseits spricht doch manches fur einen gewissen Zusammen- 
hang beider. Der Umstand, daB das Fazialisphanomen bei Kindem 
recht haufig ist und bis in spatere Jahre zu verfolgen ist 
(Hochsinger), meine Erfahrungen, daB manche meiner Kranken 
mit Fazialisphanomen in der Kindheit Laryngospasmus durch- 
gemacht haben, einzelne typische Schmelzdefekte der Zahne 
aufweisen, haben mir die Frage nahegelegt, ob wir im Fazialis¬ 
phanomen der Erwachsenen nicht manchmal ein Zeichen einer 
in der Kindheit (Sauglingsperiode oder auch spater) iiber- 
standenen Tetanie zu suchen haben. Bei einer solchen Auffassung 
wurden z. B. die Schwierigkeiten territorialer Natur, die 
wir oben erwahnt haben, wegfallen; denn wir wissen, daB die 
kindliche Tetanie durchaus nicht die strenge territoriale Beschran- 
kung hat, wie die endemisch-epidemische Form. Da wir diese kind- 
liche Tetanie als geheilt zu betrachten hatten, wurden wir es auch 
verstehen, wenn bei solchen Individuen spaterhin trotz jahrelanger 
Beobachtung niemals wirkliche Tetanie auftritt. Freihch lieBe 
sich eine solche Ajinahme doch nur in einer Minderzahl der 
Falle erweisen, wahrend mir fur die Mehrzahl die Bedeutung 
des Fazialisphanomens nach wie vor eine offene zu sein scheint 1 ). 

Wir haben schon mehrfach der Spasmophilie im Sinne von 
Thiemich und anderer neuerer Autoren gedacht; es wird daher hier, 
wo wir mit der Moglichkeit rechnen, daB ein Teil der Epileptiker 
in friiher Kindheit Tetanie durchgemacht hat, notwendig sein, 
daB wir uns mit dieser Frage etwas eingehender beschaftigen. 
Unter spasmophiler Diathese der Sauglinge (der Ausdruck riihrt von 
Finckel8tein her) versteht Thiemich eine Konstitutionsanomalie, 
die durch eine meBbare (mechanische imd elektrische) Uebererreg- 
barkeit des Nervensystems charakterisiert wird, und welche eine 
pathologische Disposition fur gewisse partielle und allgemeine 
klonische und tonische Krampfe schafft. Als klinische Erschei- 
nungsformen dieser Spasmophilie der ersten Kindheit nennt 
Thiemich die Tetanie, den Laryngospasmus, der in der Mehrzahl 
der Falle zur Tetanie gehort, endlich, was uns besonders inte- 
| ressieren muB, die Eclampsia infantum. Wahrend man diese bisher 
* meist als Ausdruck einer besonderen Konvulsibilitat der Kinder 
auffaBte, und in ihr oft den Beginn oder wenigstens den Hinweis 

x ) Auf die neue und eigenartige Anschauung von Fuchs iiber die 
Aetiologie der epidemischen Tetanie komme ich spater zuruck. Bei ihrer 
Annahme wiirde natiirlich auch das Fazialisphanomen eine entsprechende 
Erklarung finden konnen. 


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auf eine spatere Epilepsie sah, will sie Thiemich trotz der voix ihm 
zugegebenen klinischen Aehnlichkeit mit epileptischen Anfallen 
von der Epilepsie sondern. Ja er unterscheidet sogar eine Spat- 
eklampsie im 3. bis 4., selbst 7. bis 8. Lebensjahr, die er von der Epi¬ 
lepsie abtrennt und der Spasmophilie zuweist, trotzdem die Anfalle 
ganz epileptisches Geprage haben. Das, was die Eklampsie von f 
der Epilepsie nach Thiemich trennt, ist der Umstand, daB entweder « 
spasmophile Erscheinungen vorhanden sind (Laryngospasmus, / 
manifeste Tetanie, Fazialisphanomen), oder wenn diese fehlen, / 
ist wenigstens die entscheidende elektrische Uebererregbarkeit ? 
nachweisbar. Weiter nennt er von Charakteristiken derselben das ; 
Auftreten zu gewissen Jahreszeiten, die BeeinfluBbarkeit durch die 
Diat, die meist vorhandene Rachitis. Die Spasmophilie ist eine 
direkt erbliche und familiare Erkrankung, die auch Beziehungen 
zu allgemeiner Neuropathie aufweist. 

Wahrend Vogt die Ausfiihrungen Thiemichs ganz akzeptiert, 
ist Escherich doch etwas zuriickhaltender. Er findet, daB beide 
Zustande, Eklampsie und Tetanie, sich kombinieren konnen; ihre 
Differenzierung sei iiberhaupt nicht leicht, wie schon Hevbner 
bstont hat. Er erwahnt u. a. eklamptische Anfalle zerebralen 
Ursprungs, die mit tetanischen Erscheinungen alternieren sollen 
und deren epileptische Natur wohl kaum zu bezweifeln ist, 
zumal Escherich selbst angibt, daB sie jenseit3 des ersten Kindes- 
alters sich immer mehr epileptischen Anfallen nahern. 

Hingegen haben die Ansichten Thiemichs durch Birk weitere 
Stiitze und Ausfiihrung gefunden. Eines seiner Hauptargumente 
fiir die Trennung der Eklampsie von der Epilepsie ist das weitere 
Schicksal solcher spasmophiler Kinder. Im Jahre 1907 berichtete 
er iiber 53 Kinder, die in friihester Kindheit an Spasmophilie 
gelitten hatten. Keines dieser Kinder sei epileptisch geworden. | 
Es kommen zwar Rezidive vor, die aber niemals epileptischer Natur 
sind, sie sind stets charakterisiert durch das Auftreten von Fazialis¬ 
phanomen und elektrischer Uebererregbarkeit. Die ungiinstige 
Prognose solcher spasmophiler Kinder tendiere nach anderer 
Richtung; nur ein Drittel war spater normal, zwei Drittel kamen 
in der Schule schlecht fort, waren intellektuell und psychisch 
minderwertig, zeigten Pa vor noctumus, Kopfschmerz u. s. w. 
Freilich muB Birk zugeben, daB noch keines dieser Kinder alter als 
12 Jahre ist, also das fiir den Ausbruch einer Epilepsie giinstige 
Alter — Mitte des zweiten Jahrzehntes — erreicht habe. Birk 
bringt aber noch ein zweites Argument fiir die Sonderstellung 
der Spasmophilie gegeniiber der Epilepsie, und das ist das Moment 
der Hereditat. Wahrend es bekannt sei, daB vorzugsweise die 
Kinder von Epileptikern wieder epileptisch werden (!), finde sich I 
bei den spasmophilen Sauglingen bei keinem einzigen Epilepsie in i 
der Familie. In seiner zweiten Arbeit charakterisiert Birk die spas¬ 
mophilen Krampfe dahin, daB sie oft in zahlreichen Attacken um . 
die Zeit der beginnenden Zahnung, fast ausschlieBlich bei kiinstlich j 
genahrten Sauglingen auftreten und eine Jahreskurve zeigen, deren 


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R e d 1 i c h , Tetania und Epilepsie. 


Akme um das Ende des Winters und den Anfang des Friihjahrs liegt. 
Gleichwertig mit den eklamptischen Anf alien seien Laryngospasmus, 
manifeste Tetanie, Fazialisphanomen, Trousseau. Er gibt zu, 
daB Laryngospasmus bei Epileptikern vorkommen kann {Heubner), 
dann aber handle es sich um eine Kombination beider Erkran- 
kungen. Er selbst erwahnt ein Kind, das er als epileptisch auffaBt, 
und das manifeste Tetanie hat. Ausnahmsweise kommen gewisse 
spasmophile Symptome bei der Epilepsie vor, da gegen niemals 
elektrisehe Uebererregharkeit. Diesmal berichtet er auch iiber die 
Nachuntersuchung von 64 Kindem, die als Sauglinge Spasmophilie 
dargeboten hatten und von denen bis zum 12. resp. 14. Jahr kein 
einziges Epileptiker geworden ist. Epilepsie komme zwar schon 
in der Kindheit vor, sei aber organisch ausgelost und unterscheide 
sich u. a. dadurch von der Eklampsie, daB sie in vereinzelten An- 
fallen auftritt, wahrend die eklamptischen gehauft vorkommen. 

I Birk gibt zu, daB seine Beobachtungen noch keinen Beweis fur 
j die prinzipielle Verschiedenheit der Spasmophilie und der Epilepsie 
liefem, aber sie weisen doch darauf hin. Jedenfalls seien sie in 
\ keiner Weise eine Stutze fiir eine gegenteilige Annahme. 

Eine wesentlich andere Auffassung vertritt Potpeschnigg , der 
gleichfalls iiber Nachuntersuchungen verfiigt. Die Mehrzahl seiner 
eklamptischen Kinder habe mit der Spasmophilie Thiemichs nichts 
zu tun, es handle sich bei der Auslosung dieser Krampfe um 
Kohlensaurevergiftung infolge des Laryngospasmus; er kann 
auch die Angabe dieses Autors iiber die Beeinflussung solcher 
Krampfe durch Diat nicht bestatigen. 

Bei seinen Nachforschungen nach dem Schicksal spasmophiler 
Kinder fand er bei einer ganzen Reihe unter dem Bilde der Epilepsie 
und ihrer Aequivalente auftretende Erscheinungen, die durch die 
friihere Erkrankung, sowie durch den jetzigen Befund aller Wahr- 
scheinlichkeit nach auf das gleiche Grundleiden, die fortbestehende 
spasmophile Diathese, zuriickzufiihren seien. Er kommt demnach 
zum SchluB, daB die Spasmophilie der Kinder in ihrem schweren 
Grade eine dauernde Schadlichkeit darstellt. Unter seinen 
eklamptischen Kindern war schon eine Zahl Epileptiker geworden , 
andere diirften es noch werden. Auch Hochsinger erwahnt zwei 
Tetaniekinder, die spater Epileptiker wurden. 

Ich muB es mir versagen, auf eine Kritik der Spasmophilie im 
Sinne von Thiemich und Birk einzugehen. Dazu fehlt mir die Kom- 
petenz,vor alJem eigene Erfahrungen. Ich mochte aber mit Pot¬ 
peschnigg wiinschen, daB sich auch Neurologen an der Bearbeitung 
dies er Frage beteiligen mogen. Es ist ja gewiB zuzugeben, daB durch 
die Untersuchungen von Thiemich , Birk u. A. aus der groBen Zahl 
kindlicher Konvulsionen eine Gruppe abgesondert wurde, die nicht 
epileptischer Natur ist, deren Aetiologie und Pathogenese eine 
andere ist. Das aber, wogegen man sich, glaube ich, mit Aschaffen- 
burg wenden muB, ist die strenge Sonderung aller Falle kindlicher 
Eklampsie von der Epilepsie, trotz der zugegebenen klinischen 
Aehnlichkeiten, unter Umstanden nur wegen der elektrischen 


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Uebererregbarkeit. Denn was sonst als differentialdiagnostisch 
angegeben wird, reicht dazu gewiB nicht immer aus, wie z. B. der 
Mangel der direkten Hereditat, das gehaufte Auftreten bei der/ 
Eklampsie gegeniiber der Epilepsie. Wichtiger sind natiirlichj 
manifeste Erscheinungen der Tetanie (Laryngospasmus, tonische 
Krampfe, Trousseau, Fazialisphanomen u. s. w.), gehauftes Auf¬ 
treten zu gewissen Jahreszeiten. 

Sicherlich aber nicht richtig ist die Angabe, daB keines der 
vielen spasmophilen eklamptischen Kinder epileptisch wird. 
ist zweifellos, daB Kinder, die an Spasmophilie, an Sauglingstetanie 
gelitten haben, spater an Epilepsie erkranken konnen, wie dies ja 
Potpeschnigg und Hochsinger schon hervorgehoben haben. Das mull 
schon darum zugegebmwerden, weil ja, wie selbst Birk und Escherich 
angeben, beide Erkrankungen nebeneinander vorkommen konnen; 
ich habe oben selbst einen Fall erwahnt, der seit der Kindheit an 
Tetanie und Epilepsie litt, einen andern, wo Epilepsie sich unmittel- 
bar an Tetanie anschloB. Es ist nicht auszuschlieBen, daB es sich 
mindestens bei manchen derselben nicht nur um ein unabhangiges 
Nebeneinandervorkommen handelt, sondern daB auch eine gewisse 
Zusammengehorigkeit vorliegt; ich mochte es sogar als moglich 
hinstellen, daB die Spasmophilie unter Umstanden direkt eine 
Disposition fur ein spateres Auftreten von Epilepsie bedingt. 

Das fiihrt uns nochmals zur Hauptfrage zuriick, in welchem 
Verhaltnis steht die Tetanie zu den epileptischen Anfallen , resp . zur 
Epilepsie in den Fallen , wo tvir beide Krampfformen nebeneinander 
beobachten? DaB hier nicht ein zufalliges Vorkommnis vorliegt, 
ist zweifellos und wird auch von der Mehrzahl der Autoren, die sich 
mit der Frage beschaftigt haben, angenommen. Das hat z. B. schon i 
v. Frankl-Hochwart betont, der mit Mikulicz auf diese Kombination, 
speziell bei der parathyreopriven Tetanie, hinweist und auf die; 
analogen Erfahrungen beim Experiment aufmerksam macht. Auch 
Schultze , Clark , Freud , Kocher , Nolen sprechen sich ahnlich aus. 
Westphal meint^-dafi .Tetanie jind Epilepsie in_der Mehrzahl der I 
Falle auf dieselbe Ursache^ Intoxikation durch krankhafte Stoff-'i 
wechselprodukte, zuriickzufiiliren sind. Aehnlich driickt sich 
Ehrhard aus. Freund meint, daB die Epilepsie nur als Steigerung 
und vielleicht Verallgemeinerung der schon bestehenden Dispo¬ 
sition zu Krampfen aufzufassen sei. Pineles setzt in seinem Falle 
eine schon latente Disposition fiir Epilepsie als moglich voraus, 
derzufolge das Tetaniegift epileptische Konvulsionen ausgelost 
habe. Mit dem Verschwinden des Tetaniegiftes verschwanden auch 
die epileptischen Anfalle. Pineles gibt auch die Moglichkeit zu, 
daB das Tetaniegift selbst gewisse Veranderungen im Zentralnerven- 
system erzeuge, die direkt mit dem epileptischen Anfalle zusammen- 
hangen. Auch Chvostek erklart es fiir moglich, daB in solchen Fallen 
die Epilepsie schon vorher bestanden habe. Es ware auch denkbar, 
daB ein und dasselbe Agens (Blei, Alkohol, Graviditat) einerseits 
zu epileptischen Anfallen, andererseits zu einer funktionellen Sto- 
rung der Epithelkorperchen fiihrt. In manchen Fallen ergebe sich 




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die Zusammengehorigkeit der Tetanie und Epilepsie durch das 
Fehlen der Epilepsie vor dem Ausbruch der Tetanie, durch ihr Auf- 
treten auf der Hohe der Tetanie und durch ihr Verschwinden mit 
dem Zessieren der letzteren, durch das Fehlen anderer atiologischer 
Momente. Auch Curschmann nimmt einen naheren Zusammenhang 
zwischen Storungen der Schilddriisen- und Nebenschilddriisen- 
funktion und echter Epilepsie an. Das Gift wirke auch auf den 
Cortex, resp. Subcortex erregungssteigernd. Dabei sei aber fiir 
den Menschen schon eine bestehende Disposition zur Epilepsie 
anzunehmen, schon mit Riicksicht auf die Seltenheit des Neben- 
einandervorkommens beider Rrampfformen. Aehnlich auBert sich 
Saiz; manchmal konnte auch eine zufallige Kombination vorliegen, 
z. B. wenn bei bestehender Epithelkorpercheninsuffizienz eine 
Infektionskrankheit Epilepsie auslost, oder bei einem Epileptiker 
durch irgend einen Umstand eine Epithelkorpercheninsuffizienz 
aktiv wiirde. Luger wiederum denkt an eine erhohte Konvul- 
sibilitat des Gehims in solchen Fallen. 

Eine mehr oder minder zufallige Komplikation diirfte, wie schon 
ausgefiihrt, wohl in jenen Fallen vorliegen, die wir in unserer ersten 
Gruppe zusammengefaBt Raben, wo ein alter Epileptiker — unter 
dem Einflusse sonst zur epidemischen Tetanie fiihrender Um- 
stande — bisweilen sogar rezidivierend Tetanie bekommt. Hier 
ist es der Genius loci et temporis, der letztere auslost. Anders bei 
den anderen, uns hier eigentlich interessierenden Fallen. Wie schon 
von den verschiedenen Autoren betont wurde, spricht hier fiir die 
innere Zusammengehorigkeit von Tetanie und epileptischen An- 
fallen, abgtesehen von der jetzt nicht ganz unbetrachtlichen Zahl 
der Falle, das Auftreten der epileptischen Anfalle im Verlaufe oder 
gleichzeitig mit der Tetanie, ihre Haufung auf der Hohe der Er- 
krankung, das nicht seltene Verschwinden mit dem Zessieren der 
Tetanie. Besonders iiberzeugend sind natiirlich die Falle (s. o.), 
wo an den einzelnen Tetanieanfall sich ein epileptischer anschliefit, 
gleichsam aus diesem hervorgeht, oder umgekehrt epileptische 
Anfalle, bei denen die Krampfstellung an Tetanie erinnert, resp. 
dieser gleicht, umgekehrt die Halbseitigkeit der Tetanieanfalle in 
einzelnen Fallen u. a. 

Versuchen wir es, einer Erklarung des pathogenetischen Zu- 
sammenhanges naherzutreten, dann gehen wir am besten von den 
Fallen parathyreopriver Tetanie mit epileptischen Anfalien aus. 
Hier liegen die Verhaltnisse meist ganz eindeutig. Ein bis dahin 
gesundes, in keiner Weise disponiertes Individuum bekommt nacb 
totaler oder partieller Strumektomie, resp. wie wir heute wissen, 
Parathyreoidektomie, Tetanie, und nach verschieden langem Zeit- 
raum — wenigen Tagen oder auch langer — treten epileptische 
Anfalle hinzu; das weitere Verhalten ist, wie wir schon gesehen, 
verschieden. Die epileptischen Anfalle konnen mit Zuriicktreten 
der tetanischen En-cheinurgen wieder verschwinden, oder die Falle 
verlaufen akut letal, Tetanie und epileptische Anfalle dauern an, es 
erfolgt selbst unter Zuriicktreten der Tetanie der Tod im Status 


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epilepticus, oder schlieBlich beide Krampfformen werden (selten) 
chronisch, wie in der Beobachtung von Westphal und in unserem 
Falle IV. 

Besonders wichtig fiir diese Form ist es, daB auch bei experi- 
menteller ParcUhyreoidektomie, wie wir noch nachzutragen haben, 
neben der Tetanie gleichfalls epileptische Anfalle beobachtet werden 
kdnnen. Schon v. Frankl-Hochwart hatte angegeben, daB Hunde nach I 
derThyreoidektomiegelegentlich auch epileptische Anfalle bekommen. j 
Pineles erwahnt einen der Schilddriise und Epithelkorper beraubten 
Affen, der im Beginne Tetanie und Kachexie zeigte; dann trat ein 
NachlaB aller Symptome ein. In den letzten Monaten aber stellten 
sich zwei isolierte tetanische und epileptiforme Anfalle ein. Sehr 
eingehend hat sich Erdheim mit diesem Punkt beschaftigt, der an 
Batten experimentierte. Er bezeichnet als hochsten zur Beobach¬ 
tung gelangten Grad der Tetanie den epileptiformen Anfali oder 
vielleicht besser Zustand, denn die BewuBtlosigkeit dauere oft 
stundenlang an. Die beobachteten motorischen Erscheinungen 
weichen freilich, wie man Erdheim zustimmen muB, vom typischen 
epileptischen Anfali des Menschen recht ab, zumal auch schlaffe 
Lahmung eintreten kann. Diese epileptiformen Anfalle treten nur 
selten auf einen auBeren Reiz hin akut auf, vielmehr entwickelt. 
sich der Zustand ganz allmahlich, indem die Tiere immer mehr 
verfallen, ebenso langsam verschwindet er wieder. Erdheim sah 
epileptiforme Anfalle bei einem Drittel der Tiere; sie begannen 12 bis 
35 Stunden nach der Operation, dauerten 1 y 2 Stunden, mitunter 
auch 3—12 Stunden an. Sie wiederholten sich nicht ein zweitesmal. 
Gelegentlich, bei einem Tier zwischen dem 4.—5. Tage, bei einem 
zweiten Tier 19 Tage post operationem, sah Erdheim auch ganz 
kurzdauemde epileptiforme Anfalle. Dabei stiirzte das Tier hin und 
zeigte heftige zittemde und zuckende Krampfe der Extremitaten. 
Nach solchen epileptiformen Anfallen schwindet wenigstens 
temporar die Tetanie. 

Endlich demonstrierte Kreidl in der Wiener Gesellschaft der 
Aerzte eine Katze, der er bis auf eines die Epithelkorper entfernt 
hatte. Das Tier zeigte zunachst keine Erscheinungen. Nach Exstir- 
pation der einen motorischen Region trat ein epileptiformer Anfali 
auf, der bald wieder voriiberging. Nach Exstirpation der motori- 
schon Region der zweiten Seite ein neuerlicher epileptischer Anfali, 
ebenso nach Entfemung der Okzipitallappen. 

Ich selbst habe schon vor Jahren eine Katze beobachtet, der 
v. Wagner-Jauregg im Alter von sechs Wochen beide Schilddriisen 
exstirpiert hatte. Darauf zeigte das Tier eine schwere Tetanie 
durch langere Zeit, die sich allmahlich wieder verlor, dagegen ent- 
wickelte sich ein zweifellos kretinistischer Zustand, der auf Verab- 
reichung von Thyreoidin (subkutan) eine zweifellose Besserung 
zeigte. Etwa iy 2 Jahre nach der Operation ging das Tier unter 
gehauften schweren epileptischen Anfallen ein. 

Ich habe in den letzten Monaten versucht, die Bedingungen, 
unter denen sich die experimentelle parathyTeoprive Tetanie mit 


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epileptischen Anfallen kombiniert, resp. letztere auslost, genauer 
zu prazisieren, leider im wesentlichen mit negativem Ergebnis. 
Aber auch so diirften meine Experimente fur unsere Frage nicht 
ganz ohne Interesse sein, weswegen ich sie hier kurz anfiihren will. 

Ausgehend von der Anschauung, der ich gleich anderen an 
verschiedenen Stellen Ausdruck gegeben habe, daB eine Hirnnarbe 
das Auftreten epileptischer Anfalle begiinstige, veranlaBte ich 
Herrn Prof. Dr. Biedl, dem ich an dieser Stelle fiir das groBe Interesse, 
das er meiner Arbeit entgegenbrachte, meinen besten Dank aus- 
spreche, mehreren Katzen zunachst eine Bindenlasion durch 
Exstirpation einer motorischen Rindenpartie zu setzen. Nach an- 
gemessener Zeit wurden dann den Tieren die Epithelkorper ganz 
oder teilweise exstirpiert. Die Experimente wurden auf ver- 
schiedene Weise variiert, wie aus der folgenden kurzen Skizzierung 
hervorgeht. 

Es wurde z. B. einer Katze am 3. XI. 1910 die durch elektrische Reizung 
festgestellte motorische Rindenpartie der rechten Seite exstirpiert, worauf 
die typischen Ausfallserscheinungen der linksseitigen Extremitaten zu 
konstatieren waren. Am 28. XI. wurde auf jeder Seite je ein Epithel- 
korperchen exstirpiert (durch mikroskopische Untersuchung kontrolliert), 
Es war in den nachsten Tagen nur ganz leichtes tetanisches Schiitteln, 
speziell in der linken hinteren Extremitat zu bemerken. kein Trousseau , 
kein Fazialisphanomen. Diese tetanischen Erscheinungen warden nach einer 
Aethernarkose (3. XII.) vorubergehend intensiver. In den folgenden Tagen 
wurde dem Tier subkutan Morphin verabreicht. 0,01 g erwies sich als 
wirkungslos, nach 0,025 g stellte sich nach einigen Stunden ein tetanischer 
Anfall mit nachfolgender schwerer Unruhe des Tieres ein. Cocain mur. in 
Dosen von 0,016 g (Korpergewicht des Tieres 3.6 kg) war wirkungslos, 
auch 0,12 g bewirkte nur ganz geringe Erscheinungen. Nach 0.14 trat nach 
20 Minuten beschleunigte Respiration auf, das Tier fallt um, ist aber an- 
scheinend nicht bewuBtlos, streckt die Extremitaten tonisch vor sich hin, 
zum Teil an Tetaniestellung erinnernd, ohne Unterschied zwischen rechts 
und links. Nach einer halben Stunde schreit das Tier plotzlich auf, hat 
tonische, dann klonische Krampfe der Extremitaten. wieder ohne Unter¬ 
schied zwischen beiden Seiten. Diese Anfalle wiederholen sich mehrmals. 

Dieses Tier hat also nach partieller Parathyreoidektomie eine leichte 
Tetanie bekommen. die unter dem EinfluB einer Aethernarkose, wie ge- 
wohnlich, eine voriibergehende Verstarkung erfuhr. Ein EinfluB der voraus- 
gegangenen Rindenexzision auf die Tetanie war nicht zu bemerken, auch 
traten spontan keine epileptischen Anfalle ein. Diese stellten sich erst nach 
Kokainvergiftung ein. aber bei Dosen, wie sie auch sonst bei der Katze 
epileptische Anfalle auslosen. Auch im Ablaufe derselben machte die 
Rindenverletzung sicli nicht bemerkbar. 

• Einer zweiten Katze Wurde am 3. II. 1911 die motorische Rindenpartie 
rechts mit dem gewohnlichen Effekte entfemt. Am 22. II. wurden zwe 
Epithelkorper chen, und da dies erfolglos war, am 15. III. mit der Schild- 
driise die restlichen exstirpiert. Am 16. III. zeigt das Tier schon typische 
schwere Tetanie. Die Rindenausfallserscheinimgen sind viel deutlicher als 
friiher (s. dariiber bei Biedl). Das Tier erhielt in den folgenden Tagen 
Parathyreoidtabletten {Freud und Redlich ), auBerdem Calc. lact. subkutan. 
Am 18. III. wurde eine ganz kurz dauernde Aethernarkose versucht. Darauf 
sofort schwere Tetaniekrampfe, bei denen aber die Pupillenreaktion erloschen 
ist, auch besteht starker SpeichelfluB. Eine unmittelbar darauf neuerlich 
ausgefulirte Aethernarkose loste keine neuen Krampfe aus. In der folgenden 
Nacht ging das Tier ein. 

Also bei diesem gleichfalls mit Rindenexstirpation vorbehandelten 
Tiere trat erst nach to taler Pa rat hyreoidektomie eine rasch, innerhalb 


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4 Tage zum Exitus fiihrende typische Tetanie ein; spoiltane epileptische 
Anf&lle fehlten. Eine Aethernarkose loste einen schweren Tetanieanfall aus, 
bei dem aber die Pupillenreaktion erloschen war. 

Ganz gleich war das Verhalten bei einem dritten Tier, wo der Exitus 
nach 5 Tagen eintrat. 

Einem vierten Tier wurde gleichzeitig (20. III. 1911) die rechte 
motorische Rindenregion und beide Schilddriisen mit den Epithelkorperchen 
exstirpiert. Am folgenden Tage sind deutliche Rindonausfallserscheinungen, 
aber keine Tetanie zu konstatieren. Am zweiten Tage treten deutliche 
Tetanieschiittelkrampfe auf, die links etwas ausgesprochener sind wie rechts. 
Das Tier ging schon am dritten Tage ein. 

Bei einem fiinften Tier wurden nach dem Vorgange von Kreidl am 
11. V. 1911 zunachst 3 Epithelkorperchen exstirpiert; keine besonderen 
Erscheinimgen. Am 4. VI. wurde die motorische Rinde rechts, besonders 
der Focus der vorderen Extremitat. exstirpiert. Autter den typischen 
Rindenauafallserscheinungen bot das Tier nichts Besonderes dar. Nun wurde 
am 20. VI. das vierte Epithelkorperchen entfernt. 24 Stunden spater zeigte 
das Tier leichte Tetanie, die im Verlaufe der nachsten 24 Stunden sich deut- 
lich verstarkte, wobei die Tetaniekrampfe der linken Extremitaten aus¬ 
gesprochener waren wie rechts. Am zweiten Tage traten spontan drei epiiep- 
tische Anfalle auf, wobei das Tier umfiel und Krampfe hatte, ohne dali eine 
Bevorzugung einer Seite zu sehen gewesen ware. Die Tetanie besserte sich 
am folgenden Tage. Am 26. VI. haufige epileptische Anfalle. wobei das Tier 
umfallt, mit Vorliebe nach rechts; insbesondere wenn das Tier erregt wird. 
treten solche Anfalle auf. Auch durch leichte Chloroformnarkose wurde ein 
leichter epileptischer Anfall ausgelost, daneben auch Tetaniekrampfe, die 
auf der linken Seite ausgesprochener waren. Auch die Rindenausfalls- 
©rscheinungen sind wieder deutlicher wie vor Eintritt der Tetanie. Am 
27. VI. kein spontaner epileptischer Anfall; nach Aethernarkose Kaumuskel- 
krampfe mit starker Salivation, aber kein epileptischer Anfall. In der 
folgenden Zeit erholte sich das Tier zusehends. die Tetanie ist in deutlichem 
Riickgang, nur zeitweise tritt Schiittein in den Extremitaten auf. Am 
3. VII. wurde eine neuerliche Aethernarkose versucht; es traten aber nur 
Kaumuskelkrampfe mit Salivation ohne epileptischen Anfall auf. 

Dieses letzte Experiment ist also ergebnisreicher insofern, als 
doch auf der Hohe der Tetanie zweifellose epileptische Anfalle auf- 
traten, wie wir dies ja auch bei der Tetania parathyreopriva des 
Menschen sehen. Mit Besserung der Tetanie verschwanden die epi¬ 
leptischen Anfalle und waren auch nicht mehr, wie auf der Hohe der 
Erkrankung, z. B. durch Narkose zu provozieren. Aber im Gegen- 
satz zum Experiment von Kreidl , das iibrigens vereinzelt geblieben 
ist, loste nach partieller Parathyreoidektomie die Rindenlasion 
an sich keine epileptischen Anfalle aus, diese traten vielmehr erst 
nach totaler Parathyreoidektomie, auf der Hohe der schweren Teta¬ 
nie auf. 

Revidieren wir nach dieser Richtung hin nochmals die Falle 
von parathyreopriver Tetanie mit epileptischen Anfallen, so ergibt 
sich gleichfalls, daB hier Hinweise fur den Bestand einer vorausge- 
gangenen Hirnlasion fehlen, ebenso spielt bei dieser Gruppe die 
hereditare oder erworbene Disposition zur Epilepsie keine sonder- 
liche Rolle. Es ist also zweifellos, daB die Tetanie selbst in dieseni 
Fallen, gleichwie bei den experimentellen Versuchen, die epilepti-l 
sehen Anfalle bedingen muB. Freilich, eines scheint dazu notwendig' 
zu sein, das ist eine gewisse Zeitdauer dieser Einwirkung. Bei den 
Fallen von parathyreopriver Tetanie haben wir gesehen, daB 

Monatssehrift f. Psychiatric u. Ncurologric. Bd. XXX. Heft 6. 31 


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R e d 1 i c h , Tetanie und Epilepsie. 


epileptische Anfaile in der Regel erst nach einiger Zeifc des Bestandes. 
der Tetanie, mindestens nach Tagen, unter Umstanden auch linger^ 
Wochen und mehr, sich einstellen. Auch in dem einzigen positiven 
Experiment, iiber das wir verfugen, wo also spontan epileptische 
Anfaile sich einstellten, war doch seit der partiellen Parathyreo- 
idekfcomie eih langerer Zeitraum verstrichen. Unter diesen Um¬ 
standen ware es denkbar, daB nicht das ,,Tetaniegift“ direkt, 
letwa durch Einwirkung auf das GroBhirn, den epileptischen Anfall 
auslost, daB vielmehr durch die Entfemung der Epithelkorperchen, 
einer Druse mit innerer Sekretion, Aenderungen des Stoff- 
wechsels oder der Funktion einer anderen Druse mit innerer 
I Sekretion ausgelost werden, die fur das Auftreten der epiletpischen 
I Anfaile erst maBgebend sind. In welcher Richtung das schadliche 
Agens zu suchen ware, dariiber lieBen sich heute kaum mehr als 
vage Hypothesen aufstellen; ich will es daher lieber unterlassen. 
Die Misch- und Ue bergangsformen beider Arten von Anfallen 
wiirden hier, wie bei den anderen uns interessierenden Gruppen 
von Tetanie, jedenfalls auf eine gewisse Bahnung der einen Krampf- 
form durch die andere, auf gewisse Gemeinsamkeiten im Ablaufs- 
mechanismus beider Krampfformen hinweisen. 

Etwas anders liegt die Sachlage bei den anderen Gruppen von 
Tetanie mit Epilepsie, der endemisch-epidemischen Form, der 
Graviditats-, Laktationstetanie und der infantilen. Hier haben 
wir doch in einer nicht unbetrachtlichen Zahl von Fallen Hinweise 
fur eine hereditare Disposition zur Epilepsie gefunden, gelegenthch 
sind epileptische Anfaile schon friiher vorgekommen, manchmal 
sind Anzeichen einer Hirnlasion, sei es auch nur in Form von 
ausgesprochenen Halbseitenerscheinungen, mitunter freilich auch 
mehr nachweislich. Diese diirften also hier, wo die Wirkung des 
hypothetischen Tetaniegiftes gewiB minder intensiv ist als bei der 
parathyreopriven Tetanie, nicht bedeutungslos fur das Auftreten 
epileptischer Anfaile sein. Daneben aber besteht wie in der ersten 
Gruppe die Moglichkeit, daB die Erkrankung der Epithelkorperchen 
erst indirekt jene hypothetische Storung des Stoffwechsels oder 
einer Driise mit innerer Sekretion auslost. die zum Auftreten 
epileptischer Anfaile fiihrt (bei einzelnen Fallen Zeichen einer 
pluriglandularen Insuffizienz!). 

An dieser Stelle muB ich noch auf eine in der allerletzten Zeit 
von Fuchs ausgesprochene Hypothese iiber die Aetiologie der 
epidemischen Form der Tetanie, die auch fiir andere Gruppen, z. B. 

* die infantile, die Maternitatstetanie Geltung haben soil, hinweisen, 
jf wonach namlich die epidemische Tetanie nichts anderes als eine 
j mitigirte Form des chronischen Ergotismus sei . Biedl hat daran 
/ ankniipfend zu zeigen versucht, daB eine bei der Faulnis des 
j Histidin entstehende Aminobase, das Imidoazolylaethylamin iden- 
! tisch sei mit den im Ergotin wirksamen Agentien ; dies sei viel- 
leicht das hypothetische Tetaniegift. Danach konnte man es ver- 
stehen, wenn z. B. bei der parathyreopriven Tetanie dieses im 
Organismus selbst produzierte Gift analoge Wirkung hervorrufe, 


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wie das Ergotin, und so ware wieder eine pathogenetische Einheit 
der verschiedenen Tetanieformen gewonnen. 

Es liegt auf der Hand, daB bei der Annahme der Fuchsschen 
Hypothese unser Thema, das Auftreten epileptischer Anfalle bei 
der Tetanie, die einfachste Losung fande. Denn epileptische An¬ 
falle, vereinzelt oder chronisch anhaltend, gehoren mit zu den 
ersten und wichtigsten Symptomen des chronischen Ergotismus. 
Ja, wir miiBten uns vielmehr wundern, daB epileptische Anfalle bei 
der Tetanie nicht noch viel haufiger sind. 

Es wxirde zu weit fiihren, wollte ich mich in eine Besprechung 
oder Kritik dieser mit dem Aufwande groBen Scharfsinns von 
Fuchs aufgestellten und durchgefuhrten Hypothese einlassen. 
Fuchs hat, ich mochte sagen, aber bisher nur einen Indizienbeweis 
fur die Richtigkeit seiner Annahme geliefert. Es ware vor allem 
der Beweis zu erbringen, daB tatsachlich die Falle von chronischem 
Ergotismus die klassischen Symptome der Tetanie aufweisen, was 
nicht allz uschwer halten konnte, da ja noch immer neue Epidemien 
von Ergotismus berichtet werden, z. B. erst kiirzlich von Oureidtsch 
(Zeitschr. f. d. gesamte Neurologie V, H. 2). Erst dann wird es an 
der Zeit sein, von unserem Standpunkt aus zu dieser Prage Stellung 
zu nehmen. 

Noch einWort; ich habe bisher meist von dem Vorkommen 
epileptischer Anfalle bei der Tetanie gesprochen. In der Tat haben 
wir gesehen, daB es sich bei unseren Fallen meist nur um das Auf¬ 
treten vereinzelter, mitunter mit dem Zessieren der Tetanie wieder 
verschwindender, epileptischer Anfalle handelt. Wir haben aber 
gesehen, daB doch manchmal, in der Regel freilich wenn auch die 
Tetanie chronisch wird, mit und ohne nachweisbare Disposition 
zur Epilepsie diese Anfalle chronisch werden und sich zweifellos 
zur Epilepsie mit alien ihren Konsequenzen entwickeln konnen. 
Ich sehe darin wieder nur einen Beweis dafiir, daB Schadlichkeiten, 
die einzelne epileptische Anfalle auslosen konnen, unter besonderen 
Umstanden auch zur Entwicklung der Krankheit Epilepsie Anlafi 
geben konnen, eine, wie ich meine, fiir die Pathologie der Epilepsie 
gewiB bedeutungsvoile Tatsache. 

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R e d 1 i c h , Tetanic und Epilepsie. 


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Singer. Die Ulnarislahmung. 


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Beitrage zur Lehre von der Tetanie. Berl. klin. Woch. 1901. S. 849. 


(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Kgl. Charite in Berlin. 

[Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen.]) 

Die Ulnarislahmung. 

Von 

Dr. KURT SINGER 

in Berlin. 

(Schluss.) 

Die friiheren Einteilungen der Neuritiden hatten fast alle 
kein einheitlich ordnendes Prinzip. Wenn Leyden 1. infektiose, 

2. toxische, 3. spontane, 4. atrophische, 5. sensible Formen der 
Mononeuritis unterschied, so war das bestimmende Moment 
der Einteilung nicht uberall das gleiche. Das eine Mai war atio- 
logisch rubriziert (1 und 2), das andere Mai nach den klinischen 
Erscheinungen (4 und 5). Besser war schon die Einteilung von 
Kohler , wenn er auch mit den Formen 1. infektiose Neuritis, 
2. Intoxikations-Neuritis und 3. Auto-Intoxikations-Neuritis nicht 
alle Moglichkeiten erschopfte. Den Einteilungsfehler Leydens beging 
auch Rofi, wenn er folgende Unterabteilungen einfiihrt : 

1. idiopathisch, 

2. toxisch, 

3. dyskrasisch, 

4. sensibel, vasomotorisch und trophisch, 

5. irritative Form mit Spasmen. 

Auch hier sind klinische, pathologisch-anatomische und 
atiologische Momente durcheinander gemengt. 

Wir haben uns der Einteilung von Flatau-Remak in einzelnen 
Punkten nicht ganz angeschlossen; im wesentlichen lauft aber 
auch unsere Einteilung auf eine systematische Anordnung nach 
atiologischen, undzwar nur atiologischen Gesichtspunkten hinaus. 


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Singer. Die Ulnarislahmung. 


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Aus Griinden, die oben bereits auseinandergesetzt sind, haben 
wir z. B. die Graviditats-Neuritis des Ulnaris zur autotoxischen 
gezahlt, ebenso die diabetische. Mit diesem Begriff der Toxikamie 
rechnet Remak in seiner Rubrizierung nicht. Er rechnet auch 
die eben genannten zu den dyskrasischen , wahrend ich fur diese 
Form nur die seltenen Neuritiden bei Syphilis, Tuberkulose, 
Karzinom und Arteriosklerose iibrig behalte. 

6. Dyskrasische Formen. 

Diesen dyskrasischen Momenten ist alien gemeinsam,daO unter 
der Einwirkung ihrer krankmachenden Keime der Korper besonders 
heftig geschwacht, besonders leicht und oft einer Kachexie zuge- 
fiihrt wird. Dadurch ist, wie ich schon oft betont habe, die Moglich- 
keit einer sekundaren, etwa traumatischtn, refrigeratorischen oder 
einer Kompressionslahmung erleichtert. 

Bei dem Schwund an Muskulatur und Kraft bei den Kachek- 
tischen fallt besonders fiir den freiliegenden Ulnaris jeder um- 
hiillende Schutz fort; durch syphilitische oder kariose Knochen- 
prozesse kann er zudem auch direkt im Sinne einer infektiosen 
Entziindung oder Kompression ergriffen werden, so daB man wohl 
gelegentlich zu dem Zweifel berechtigt sein kann, ob dieses oder 
jcnes dyskrasische Moment nicht bloB primar eine sehr gunstige 
Disposition, einen fruchbaren Boden fiir sekundare Einfliisse ge- 
schaffen hat, selbst aber als spezifische Krankheitsursache in diesen 
Fallen nicht in Betracht kommt. Vielleicht nur fiir die Syphilis laBt 
sich das prinzipiell verneinen; wenn bei einer Ulnaris-Neuritis die 
Hg-Kur prompte Heilung schafft, so darf mit Fug und Recht 
an die luetische Spezifitat der Neuritis geglaubt werden. Zuweilen ist 
die Diagnose ex juvantibus der einzige Weg, derhierzumZiele fiihren 
kann, denn an und fiir sich ist ja natiirl ch nicht jede bei einem 
Syphilitiker auftretende Ulnarissensation gleich auf eine luetische 
Alteration des Nerven zuriickzufiihren, besonders wenn der Zeit- 
punkt der Inf^ktion sehr weit zuriickliegt. Meist wird dann aus 
dem Mangel sonstiger atiologischer Momente, aus dem Vorhanden- 
sein einer Infektion ( Wassermann) und aus der Hartnackigkeit 
des nicht spezifisch behandelten Falles auf die luetische Aetiologie 
geschlossen. Oft wird neben der durch die Syphilis bedingten 
verschlechterten Blutmischung (ou; — xpacu) noch ein auBeres 
atiologisches Moment gesucht werden miissen. Es steht aber 
fest, daB die Lues von peripheren Nerven, wenn iiberhaupt einzelne 
Nerven befallen sind, am hauf gsten den Ulnaris bevorzugt (wie 
das typhose Gift). Oft werden Schwellungen im Nerven gefunden, 
die aber nicht spezifische Gummata sind. Nach Remak soil eine 
syphilitische Neuritis als wahrscheinlich oder sicher angenommen 
werden, wenn (bei vorhandener Syphilis) eine sehr starke 
Induration zu fuhlen ist und wenn die spontan schmerzhaften 
Erscheinungen sehr in den Vordergrund treten. In der Tat sind 
die letzteren Erscheinungen bei der luetischen Ulnaris-Neuritis 


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iiberaus heftig, und in dem Fall 84 (eigene Beobachtung 
Nr. XL), den ich unten bespreche, wurde deswegen (und 
weil alle Ausfallserscheinungen fehlten) die Diagnose auf Peri¬ 
neuritis luetica gestellt. Nach Cestan tritt die Neuritis (wie die 
Polyneuritis) syphilitica ca. 1—14 Monate nach der Infektion 
auf, vor oder wahrend des zweiten Stadiums. In manchen Fallen 
(Brunsgard und Barthelemy) wird die Hypertrophie des Cubitus 
als Ursache der Ulnaris-Neuritis angesehen. Von den 14 Fallen, 
die Cestan aus der Literatur zusammenstellt, ist nur der von 
Crop ziemlich auf den Ulnaris beschrankt. 

78 . Syphilis 1896, 1897 papuloses Exanthem, Schinerzen im'linken 
Ulnaris. Herabsetzung der Sensibilitat fur alle Qualitaten im Ulnaris- 
gebiet; 8 Jahre spater dasselbe rechts. EAR im Add. poll, und den tiefen 
Handmuskeln. Auch im Peroneusgebiet rechts spater Anasthesie. Besserung 
nach Hg-Kur. 

Nach Nonne hegen einwandfreie anatomische Beobachtungen 
dariiber nicht vor, daB das luetische Gift wirklich im peripheren 
Nerven eine degenerative Atrophie oder Neuritis erzeugen kann; 
klinisch symptomatologisch muB man aber mit der elbe.i rechnen, 
wenn auch der Anatom die bei den Untersuchungen am Lebenden 
konstatierten Veranderungen des oberflachlich fiihlbaren Nerven: 
strangartige Verdickung, kolbige Auftreibung, rosenkranz- 
artige, spindelformige Verdickung, nicht findet. Eine gewisse 
Skepsis mag aber stets am Platze sein. Gelegentlieh inuB man 
auch daran denken, daB die Neuritis des N. uln. von einer 
syphilitischen Knochenerkrankung herriihren kann. (Druck- 
empfindlichkeit des Krochens, Rontgenbild etc.) 

Um zu rekapitulieren: Es gehoren zur einwandfreien und 
sicheren Diagnose der spezifisch-luetischen Ulnaris-Neuritis eigent- 
lich folgende Befunde: 

1. Lues +> evti. Wassermann, 

2. Fehlen anderer wesentlicher ursachlicher Momente, 

3. lebhafte Reiz-, geringe Ausfallserscheinungen, 

4. harte Anschwellung de^ Nerven und Druckempfindlichkeit, 

5. Riickgang der Erscheinungen auf Hg und Jod (nach 6 bis 
8 Wochen). 

DaB an diesem Schema im einzelnen Falle nicht unbedingt 
festgehalten wird, ist selbstverstandlich. Beobachtungen luetischer 
Ulnaris-Neuritis liegen vor von: Ehrmann , Brunsgaard , Gaucher - 
Champanier , Mme. Dejerine-Klumpke , Remak. 

79 . Ehrmann: 38 jahriger Mann init frischen syphilitischen Erscheinungen. 
Linker Ulnaris und Medianus geschwollen und druckempfindlich. Atroj)hie 
des Kleinfingerballens und der Interossei. Hypalgesie im Gebiet des N. 
cutan. brach. med., Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit in den 
atrophischen Muskeln. Nach sechswochentlichem Jodkaligebrauch Besserung 
der Schmerzen und der Schwache. 

80 . Dejerine-Klumpke: 65 jahriger Mann mit syphilitischen Narben. 
Atrophie im linken Ulnarisgebiet der Hand. Vor 25 Jahren Lues. 

81 — 83 . Bei Gaucher-Champanier (3 Falle)]waren aufler Lues fur die 
neuritischen Schmerzen keine atiologischen Momente zu finden. Ein Pat. 


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Singer. Die Ulnarisiahmung. 


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Brumtgards hatte sich erst vor weniger als einem halben Jahre infiziert; 
eine 2. Frau erkrankto bei Syphilisrezidiv nxit neuritischen Schmerzen. 
Rernaka Patient in (bei der iibrigens Anstrengung atiologisch in Frage 
kommt) hatte doppelseitige Ulnarisnearitis (im Rachen alte syphilitische 
Narhen). 

Ich kann selbst aus dem Material der Nerven-Poliklinik der 
Charite von 2 Fallen berichten, wo die Wahrscheinlichkeitsdiagnose 
auf luetische Ulnaris-Neuritis gestellt wurde. 

84 . Eigene Beobachtung XL (Patient N.). 

45 Jahre. SeitlO Monaten Nervenschmerzen. Zuerst stellte sich beiin 
Auflegen des linken Armes auf den Tisch oder andere’Gegenstande ein taubes 
Gefiihl und Kriebeln im ganzen linken Unterarm bis zu den Fingerspitzen 
ein. Vor 7 Monaten konzentrierten sich die Schmerzen und Parasthesien 
im linken Ellenbogengelenk. und zwar traten sie anfallsweise morgens und 
mittags nach Anstrengung auf. Vom Ellenbogen strahlen sie an der Innen- 
seite des Oberarms nach oben, im ulnaren Teil des Unterarms in die beiden 
letzten Finger. Diese beiden Finger sind gegen Kalte auflerordentlich 
empfindlieh. Seit einigen Wochen stellen sich d.ieselben Schmerzen im rechten 
Arm ein, vom Ellenbogen zu den beiden letzten Fingem hinziehend. Patient 
hat das Gefiihl des Zusammenkrampfens im ganzen rechten Unterarm. 
Beide Ulnares sind als stark verdickte schmerzhafte Strange im Sulcus 
fiihlbar. Die motorischen Funktionen der Ulnares, die Sensibilitat und 
das elektrische Verhalten sind ganz normal. Der Urin ist frei. 

Patient hat vor 20 Jahren Lues gehabt. Tabes, an die wegen 
etwaiger lanzinie render Schmerzen im Arm gedacht wurde, konnte bei 
den normalen Pupillenreak tion, den normalen Reflexen und fehlenden 
eindeutigen anamn^ tischen Anhaltspunkten amgeschlossen werden. 
Die deutliche Schwellung des Ulnaris, die starke Druckempfindlich- 
keit, die Doppelseitigkeit der Affektion und auch das attaeken- 
weise Auftreten der Schmerzen machten bei luetischen Ante- 
zedentien die Diagnose luetischer Perineuritis wahrscheinlich. Eine 
spezifische Kur wurde angeordnet, doch entzog sich Patient 
leider der weiteren Beobachtung. 

85. Eigene Beobachtung XL! (Patient R.). 

29 Jahre. Pat. bekam vor 8 Tagen reiOende Schmerzen im linken 
Ellenbogen, allmahlich breiteten sich dieselben aus auf Daumen, IV. und 
V. Finger. SchlieBlich wurden alle Finger bis auf den Mittelfinger empfin- 
dungslos. 1895 hat Pat. Lues gehabt. Motorisehe Kraft beiderseits gut. 
Tricepsreflex links starker als rechts. Sensibilitat an Arm und Hand normal; 
nur bei Temperaturreizen werden im linken Zeigefinger. sowie an Finger IV 
und V und im Kleinfingerballen haufig Fehler gemacht. Die Finger beider 
Hiinde sind blaurot verfarbt. links mehr als rechts; die linke Hand fiihlt sich 
kalter an als die rechte. Der elektrische Befund ist normal. Beide Ulnares 
und Mediani sind leicht druckempfindlich. 

Trotz der Geringfiigigkeit des objektiven Befundes kann 
man hier von einer leichten doppelseitigen Ulnaris + Medianus- 
Per,'neuritis sprechen, mit Bevorzugung der linken Seite. Auch 
eine Beschaftigungsur.-ache fur die Stoning war nicht zu eruitren. 
Das alleinige Betroffensein der Sensibilitatsstorung fiir Temperature 
reize ist als Seltenheit bemerkenswert, auch die Diskrepanz zwischen 
subjektiver und objektiver ,,Empfindungslosigkeit“. Die blaurote 
Verfarbung macht beiderseits den Eindruck einer trophischen 
Storung. Auch gab Patient spater an, daB die Hande friiher 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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weiB gewesen seien. A.uBerliche Appl kation von Ugt. Kal. jodat. 
und innc ri che Vtrabre chung von Jod brachten Besserung. 

Aehniich wie mit der Syphilis verhalt es sich mit der 
Tuberkulose bei der Aetiologie der Ulnaris-Neuritis. Aber 
wahrend die Syphilis von peripheren Nerven am haufigsten den 
Ulnaris (vielleicht neben dem Fazialis) befallt, erzeugt das Tuber- 
kulosegift hier nur in verschwindend seltenen Fallen Ent- 
ziindungen. Ueberhaupt ist die Affinitat des Tuberkelbazillus 
zu den nervosen Elementen, sowohl zu Gehirn als Ruckenmark 
und peripheren Nerven, so gering, daB hier im allgemeinen direkte 
entziindliche Tuberkuloseprozesse selten gefunden werden. Am 
haufigsten ist noch der Soli tart uberkel des Cerebrum, dann die 
tuberkulose Mening tis. Die iibrigen, unter dem Namen Tuber- 
kulose-Erkrankungen gefiihrten Affektionen des Zentralnerven- 
systems beruhen meist auf tub^rkuloser Erkrankung der Um- 
gebung — meist der Knochen —, welche erst wieder sekundar 
schadigend auf die Nerven ub tanz einwirkt. Jedenfalls ist im 
Vergleich zur Syphilis die Tuberkulose fur unser Nervensyc tem 
viel weniger schadlich. Es scheint beinahe, als ob das tuberkulose 
Virus hier Halt macht. Da die Kachexie der Tuberkulosen oft sehr 
ausgesprochen ist und infolgedessen andere schadigende Momente 
einen guten Boden finden, da ferner nicht, wie bei der Syphilis, 
dureh ein spezifisches Mittel die Beschwerden und pathologischen 
Erscheinungen zum Riickgang gebracht werden konnen, so ist 
die Diagnose einer Tuberkulose-Neurltis nur mit auBerster Vorsicht 
zu stellen; besonders wenn man dazu nicht die etwa durch Karies 
des Ellenbogens hervorgerufene Kompressionslahmung, sondern 
wirklich nur eine spezifische, durch den in der Nervensubstanz 
selbst einwirkenden Bazillus erzeugte Neuritis rechnet. In der 
gesamten Literatur fand ich nur einmal die Diagnose Tuberkulose- 
Neuritis desUlnaris(L3my). Auch dieseDiagnose wurde erst auf dem 
Sektionstisch gestellt. Erst wenn man bei einem Tuberkulosen 
alle anderen Entstehung^moglichkeiten der Lahmung ausge- 
schlossen hat, entschlieBe man sich zu der genannten Diagnose. 
Tuberkulose*Polyneuritiden sind etwas haufiger. 

Der Fall von Lamy hatte folgenden Verlauf: 

86. 60 Jahrealter Phthisiker. 2 Tage nachder Aufnahme indasKranken- 
haus starb der Patient, der lebend nur kurz untersucht worden war. Ana- 
mnestisch ist bekannt, daCPat.seit ca. 8 Jahren eine Parese der Mu skein der rech- 
ten Hand und des rechten Vorderarms gehabt hat. Der Thenar war leicht. 
der Anti thenar schwer atrophisch, dieSpatia inteross. eingesunken. Auf dem 
Handriicken zeigte sich leichte Analgesie. Bei der Sektion ergab sich, dafl 
die Nervenstamme des rechten Plex. brach. verdickt waren. besonders der 
ITlnaris. Im Bereich des VII. und VIII. Cervikalsegments sind mikro- 
skopisch schwere degenerative Veranderungen der Vorderhomzellen der 
rechten Riickenmarkhalfte nachzuweisen; im rechten Ulnarisstanun waren 
die Fasern zum Teil zugrunde gegangen; die normalen lagen in 2 Haupt- 
biindeln zusammen. Alle iibrigen Nervenstanune normal. 

Es lag hier also wahrscheinlich primar eine Tuberkulose- 
Neuritis der Armplexusstamme mit besonderer Bevorzugung 
des Ulnaris vor, wobei die Degenerationsprozesse im Ruckenmark 


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Singer. Die Ulnarislahmung. 


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als retrograde Inaktivitatsveranderungen (analog den experi- 
mentell gesetzten Veranderungen von Gudden u. A.) zu gelten 
haben. Ob es sich nun wirklich um ein toxisches bezw. auto- 
toxisches Virus bei Entstehung der Neuritis gehandelt hat, kann 
naturlich auch durch Obduktion nicht festgeiegt werden. Immerhin 
ist es aber bei der Tuberkulose-Kachexie des Patienten anzu- 
nehmen. Es neigt dieser Fall iibrigens auch dann zu den schon 
haufigeren Polyneuritis-Fallen auf tuberkuloser Basis. Betonen 
mochte ich aber hier noch einmal, daB gerade die Tuberkulose, 
die in der arbeitenden Bevolkerung so grassiert, zu Berafskrank- 
heiten stark disponiert. Auch unter den Berufsneuritiden des 
Ulnaris finden sich viele, deren Trager tuberkulos sind. Von den 
Ulnarislahmungen, die im AnschluB an die tuberkulosen Knochen- 
und Gelenkerkrankungen durch Kompression zustande kommen, 
war schon die Rede. Einleuchtend ist es auch, daB eine entziindliche 
Alteration des Nerven eintritt, wenn der Nerv durch karioses, 
kasig-zerfallenes Gewebe zieht. In gewissem Gegensatz zu der 
Beobachtung Lamys stehen die Beobachtungen und Unter- 
suchungen von Pitres und Vaillard sowie Oppenheim und Siemerling, 
die bei alien im Verlauf der Phthise auftretenden Veranderungen 
das Riickenmark ganz intakt vorfanden. Nach der Ansicht dieser 
Forscher entwickeln sich selbst die hochgradigsten degenerativen 
Atrophien, wenn die Tuberkulose als atiologisches Moment 
allein in Betracht kommt, niemals zu wirklichen motorischen 
Lahmungen. Die Atrophien konnen ganz latent verlaufen, ohne 
iiberhaupt mit klinischen Symptomen in die Erscheinung zu 
treten. Hammer kommt auf Grand experimenteller Studien, 
die er an mitTuberkelbazillen geimpften Meerschweinchenanstellte, 
zu dem SchluB, daB die degenerativen Atrophien peripherer 
Nerven hauptsachlich toxischer, nicht bazillarer Natur sind. 
Be onders kamen dieselben zustande, wenn die Tiere intraperi- 
toneal infiziert wurden mit frischem tuberkulosem Sputum von 
Menschen. Er fand auch Veranderungen an den Zellen der Vorder- 
horner, an Intensitat zwischen leichter Alteration und ganzlichem 
Zerfall der Zellen schwankend. 

Wenn auch typhche Lokalisation bei den marantischen Er- 
krankungen nicht vorkommt, wenn man iiberhaupt seltener 
den ursachlichen Faktor der Kachexie, wie z. B. die Tuberkulose, 
sondern vielmehr meist nur die allgemeine Unterernahrung des 
Korpers fur degenerative Prozesse in Nerven und Muskeln ver- 
antwortlich machen kann, so muB doch immer darauf hingewiesen 
werden, daB auch hier durch die Schwache des Korpers fur andere 
toxische, traumatische oder infektiose Momente ein guter An- 
griff^punkt gegeben ist. Die Ursachen kombinieren sich, und 
erst durch die Addition zweier oder mehrerer schadigender Ein- 
fliisse, deren jeder isoliert an den Nerven keinen Schaden geiibt 
hatte, kommen Lahmungen, Entziindungen, Atrophien zustand 0 . 
Gifte, besonders Aikohol undBlei, machen den Nerven empfanglicher 
fiir Trail men, so daB man auch direkt von toxikotraumatischen 


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Singer. Die Ulnarislahmung. 


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Lahmungen gesprochen hat; bei Bleiarbeitern wirkt ein infektioses 
Virus schneller und sicherer als bei anderen; professionelle Paresen 
und Beschaftigungsatrophien stellen sich leichfcer bei Arbeitern 
ein, die zugleich auch noch dem toxischen EinfluB von Blei oder 
Alkohol ausgesetzt sind. Besonders fur Lahmungen des den 
chronischen Traumen so gern ausgesetzten Ulnaris muB das 
Geltung haben. 

Wenn angenommen wird, daB ein im Blut kreisendes Toxin 
den Nerven direkt treffen und reizen, seine Leitungsbahn storen 
oder unterbrechen kann, so ist es auch moglich, eine indirekte 
Schadigung der Nerven durch GefaBprozesse anzunehmen. Am 
haufigsten handelt es sich um Sklerose der Arterien. Da auch 
die Nerven durch ihre Vasa nervorum in die Blutzirkulation 
oingeschlossen sind, so ist selbstverstandlich der VerschluB oder 
die Verengerung dieser kleinsten GefaBe von einer Ernahrungs- 
storung des Nerven gefolgt, die sich inZerfallder Fasern,Nekrobiose, 
auBert. 

Es liegt in dem pathologisch-anatomischen Substrat der 
Arteriosklerose bedingt, daB die Nervenerkrankung sich dabei 
sehr selten auf einen einzelnen Nerven erstreckt (wenn hier nicht 
wieder kombinierte lokale Ursachen mitwirken), daB vielmehr 
als der Typus solcher Erkrankung die multiple Neuritis zu gelten 
hat. Bevorzugt sind die Nerven der unteren Extremitaten, wobei 
man gelegentlich Verbindung von Neuritiden und Claudicatio 
intermitteus findet, was auch den atiologischen Zusammenhang 
der Neuritis mit der Arteriosklerose stxitzt. Zuweilen werden 
mikroskopisch in sensiblen und gemischten Nerven bei Greisen 
Degenerationsprozesse gefunden, die intra vitam gar keine klinischen 
Symptome gemacht haben. Zuweilen entwickeln sich aber bei 
alten kachektischen Individuen Bewegungsstorungen in den oberen 
und unteren Extremitaten, die auf keine andere Ursache als die 
Arteriosklerose oder das Senium bezogen werden konnen. An 
den oberen Extremitaten sind es dann meist wieder die kleinen 
Handmuskeln, die zuerst und am intensivsten der degenerativen 
Atrophie anheimfallen. Zwischen senilen und arterio klerotischen 
Neuritiden wird man wohl schwerlich in den meisten Fallen einen 
Unterschied machen konnen; hochstens, daB bei den durch 
senile Involutionszustande bewirkten Fallen Neigung zu Remis- 
sionen bestehen kann, die bei dem progredienten Charakter der 
Arteriosklerose ausgeschlossen scheint. Die arteriosklerotische 
durch thrombotische Verschliisse hervorgerufene Neuritis hingegen 
wird meist schwere Reiz- und Ausfallserscheinungen bewirken. 
Als Signatur fur die senile Neuritis resp. Polyneuritis gibt Oppen- 
heim an: 

1. Fehlen bekannter atiologischer Momente, Intoxikationen 
oder Infektionen, 

2. Chronizitat des Verlaufs, 

3. Fehlen oder Geringfiigigkeit sensibler Reizerscheinungen, 
keine starke Empfindlichkeit des Nerven. 


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482 Singer. Die Ulimrislahmung. 

4. unvollstandige Entwicklung motorischer und sensibler Aus 
fallserscheinungen, 

5. Verschontbleiben der Hirnnerven. 

Betont wird auBerdem die Gutartigkeit des Verlaufs (imGegen- 
satz vielleicht zum progredienten Verlauf der arterosklerotischen 
Neuritis). Mikroskopisch sind von Schlesinger u. A. Veranderungen 
der Vasa nervorum gesehen worden: Wucherung des endoneuralen 
Stiitzgewebes, partielle Schrumpfung der Nervenfasem, Ver- 
dickung der dre GefaBschichten (sowohl der Arterien als Venen), 
Verengerung des Lumens bis zum vollstandigenVerschluB,Triromben. 
Aehnliche Beobachtungen machten Oombault , Joffroy u. Achard r 
Dutil u. Lamy, Lorenz u. A. 

Wie erwahnt, sind isolierte Neuritiden sklerotischen oder 
senilen Ursprungs selten. Wir konnten einmal die Wahrscheinlich- 
keitsdiagnose auf doppelseitige arteriosklerotische Ulnaris-Neuritis 
stellen. 

87 . Eigene Beobachtung XLII (Patient No.). 

Kupfersehmied. 54 Jahre. Seit einigen Wochen Nachlassen der Kraft 
in der linken Hand und im linkemUnterarin. allmahlieh schlimmer werdend. 
Keine Schmerzen. Die Spatia inteross. sind links eingesunken. IV. und 
V. Finger .stehen im proximalen Interphalangealgelenk gebeugt und konnen 
nur possiv gest-reckt werden. Die beiden letzten Finger stehen auseinander 
und konnen nieht einander genahert werden. Spreizen in alien Fingem herab- 
gesetzt; Spreizweite reehts 18 1 2 . links 14 cm. Opposition von Dauraen 
und Fingern gut, nur unvollstandig im V. Finger. Adduktion des Daumens 
prompt. Dynamometer reehts 1U0, links 45. Bei FaustschluO werden 
Finger IV T und V unvollstandig eingesehlagen. Sensibilitat: Hypalgesie im 
kleinen Finger, dorsal und volar. 

Ulnaris links druckempfindlich und deutlich .verdickt. Thenar, Hypo- 
thenar und Spatia inteross. sind stark eingefallen; im Inteross. I partielle 
EAR, KSZ = ASZ. Der Add. poll, ist selbst mit starken faradischen 
Stromen nicht erregbar. 

Starke Sklerose der Radial- und Temporalarterien, lebhafte Druck- 
empfindlichkeit beider Tibiales. 

Wieviel bei dieser llnaris-Neuritis auf die allerdings betracht- 
liche Arteriosklerose, wieviel auf eine professionelle Ueberan- 
strengung, wieviel schlieBlieh auf eine etwaige toxi^che Wirkung 
des Cu atiologisch kommt, laBt sich nicht entscheiden. Da die 
toxischen Kupferneuritiden ungemein selten sind, andererseits bei 
dem recht'handigen Patienten eine linksseitige Ueberanstrengung 
a priori nicht gerade sehr wahrscheinlich ist, so ist — auch im 
Hinblick auf die leichte polyneuritische Betonung des Falles — 
auch die Sklerose der Arterien fur diese Ulnaris-Neuritis mit- 
verantw r ortlich gemacht werden. (Gegen diese atiologische Deutung 
spricht allerdings die Einseitigkeit der Neuritis, die ziemlich 
schnelle Entwicklung motorischer Ausfallserscheinungen und der 
subakute Verlauf.) 

Auch fur die bei karzinomatoser und sarkomatoser Kachexie be- 
obachteten Nervenerkrankungen ist die multiple Neuritisform der 
charakteristische Typus, so daB diese Kachexie fur die Aetiologiedc r 
Ulnaris neuritis w enig oder gar nicht in Frage kommt. In der Arbeit 


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Singer, Die Ulnarislahniung. 


483 


von Oppenhtim-Sitmtrling werden 2 Falle von Krebs-Kachexie er- 
wahnt, bei denen auch leichte Degeneration im Ulnaris gefunden 
wurde. In den Beobachtungen Audits war derUinaris in den Fallen 
1, 2, 5 und 10 mitbefallen. Bei der benachbarten Lage des Plexus 
ist sehr wohl die Moglichkeit gegeben, daB karzinomatos infiltrierte 
oder zerfallende Drfisen die einzelnen Nerven der Achselhohle 
komprimieren. Als Ursache der Neuritiden bei den Krebskranken 
muB die allgemeine Unterernahrung und leichte Ladierbarkeit 
der Nervenstamme angesprochen werden. Gelegentlich wurde auch 
behauptet, die toxische Schadigung des Karzinoms oder sonst 
unbemerkt bleibende Veranderungen des Riickenmarks seien 
fur die Storung in den peripheren Nerven verantwortlich zu 
machen. Die Autoren (besonders die franzosischen), welche im 
Karzinom noch eine Maladie infectkuse sehen, erklaren die Neuritis 
mit durch dieses atiologische Moment. Audit faBt seine Unter- 
suchungen fiber die Nerven-Affektionen bei Karzinomkranken 
ungefahr in folgenden Satzen zusammen: 

1. Bei Karzinomkranken konnen sich Neuritiden entwickeln, 
und sie tun es haufig im Verlauf und nur unter dem EinfluB des 
Krebses. 

2. Die Neur tiden lokalisieren sich ganz verschieden, bevor- 
zugen aber im allgemeinen die Stellen, die weiter vom Zentral- 
nervensystem entfernt sind. 

3. Die Neur'tiden stehen in Beziehung zu gewissen klinischen 
Symptomen, die man bei den Kranken finden kann. 

4. Die Veranderungen der peripheren Nerven sind durch Er- 
nahrungsstorungen bedingt. 

C. 

Kombinierte Ulnaris-Lahmungen. 

Bei all den bisher besprochenen Fallen von Ulnarislahmung, 
Ulnarisatrophie und -neuritis war die Schadigung des einen Nerven 
und der ihm zugehorigen Muskeln der einzige Symptomen- 
komplex in dem Krankheitsbild. Wie wir aber von kombinierter 
Aetiologie der Lahmungen sprechen konnten, so mfissen wir auch von 
kombinitrttn Ldhmungtn reden; d. h. Von Lahmungen, die den 
Ulnaris zusammen mit einem oder mehreren anderen Armnerven 
betreffen. Es gibt auch bei den Plexuslahmungen, bei den Alkohol- 
oder Arsenlahmungen, bei senilen und infektiosen Polyneuritiden 
Formen, bei denen das nosologische Bild von der Paralyse des 
Ulnaris beherrscht wird, wahrend daneben Ausfalls- und Reiz- 
erscheinungen im Gebiet anderer gemischter Nerven vorhanden 
sind. Man kann dann natfirlich nicht mehr von Ulnarislahmung 
schlechthin sprechen. Immerhin darf es aber betont werden, 
daB besonders die kleinen, dem Ulnaris zugehorigen Handmuskeln 
sehr gern und frfih bei all diesen gemischten Lahmungsformen 
befallen sind; ich glaube, daB auch hier die Auswahl nicht willkfir- 


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484 Singer. Die Ulnarislahmung. 

lich ist, sondern mehr oder weniger nach dem Grad der Arbeits- 
funktion getroffen ist. Gerade wenn man diesen Gesichtspunkt 
anerkennt, kann auch die so haufige Kombination der Ulnaris- 
Medianus-Paresen bequem erklart werden. Bei alien Bewegungen 
unserer Hand wirken diese beiden Nerven zusammen, besonders 
bei der haufigsten motorischen Funktion, dem Fingerbeugen. 
Es kommt dazu, daB einzelne Muskeln der Hand, die an sich gleich- 
wertig sind, doch zum Teil vom Medianus, zum Teil vom Ulnaris 
versorgt werden (Mm. lumbricales). Es ist, vor allem bei der Ueber- 
arbeitung in gewissen Berufen also Gelegenheit gegeben, daB 
zu gleicher Zeit beide Nerven von einem krankmachenden Virus 
affiziert werden, daB Beschaftigungsatrophien oder professionelle 
Paresen zugleich in beiden Nervtn auftreten. Auch bei sehwereren 
Traumen. bei Knochenaffektionen (Frakturen) ist durch die be- 
nachbarte Lage beider Nerven am Oberarm eine gemeinschaftliche 
Lasion sehr leicht moglich. 

Ich habe eine Halsrippenlahmung gesehen, bei welcher der 
Ulnaris mittelschwer, der Medianus sehr schwer geschadigt war; 
ich sah bei einer Kriickenlahmung, die im Medianus Paralyse 
und Atrophie mit EAR zeigte, auch eine Parese der Interossei mit 
Einsinken der gpatia. Eine Patientin meiner Beobachtung, die 
schwere Potatrix war, kam mit einer Kombination von Serratus- 
und Ulnarislahmung in die Klinik. Der linke Serratus war elektrisch 
nicht mehr erregbar, beim Vorstrecken der Arme trat typische 
Fliigelstellung der Scapula sinistra ein; der linke Ulnaris war total 
gelahmt bis auf die Streckung der Endphalangen; im Hypothenar 
und Tnterosseus III und V EAR. Ich sah bei mehreren Patienten 
nach Fall auf die Hande doppelseitige partielle Medianus- und 
Ulnarislahmung, sah mehrmals bei Naherinnen Neuritis im 
Medianus- und Ulnarisgebiet; bei den puerperalen Neuritiden 
wird diese haufige Kombination sogar als Typus angesehen. Alle 
diese und ahnlichen Fall© hier ausfiiUriich zu beschreiben oder auf- 
zuzahlen, geht nicht an; sehr haufig sieht man auch Patienten, 
bei denen ein mehr oder weniger deutlicher Befund von Parese 
in den kleinen Ulnarmuskeln erhoben wird, zu welcher dann 
noch aus dem Bereich des Medianus eine Schwache oder Lahmung 
des Opponens pollicis kommt. 

Bei der gewohnlichen Lahmung des Medianus sind folgende Be¬ 
wegungen der Hand eingeschrankt oder aufgehoben: Pronation, Radial- 
flexion der Hand, Flexion der Grundphalangen an Finger I, II und III. 
Flexion der Mittelphalangen, Abduktion, Opposition und Flexion der 
Endphalanx des Daumens. Die sensible Storung ist aus den Figg. 4 ti. 5 
ersichtlich. 

In ausgesprochenen und alten Fallen hat die Kombination 
von Ulnaris- mit Medianuslahmung eine Stellungsanomalie der 
Hand und Finger zur Folge, die beinahe so charakteristisch ist, 
wie die Klauenhand. Die Anomalie entsteht durch die Lahmung 
der kleinen Handmuskeln, der Finger- und Handbeuger. Das 
Intaktsein des antagonistisch w irkenden Radialis bedingt Ueber- 
streckung im Handgelenk und Streckung in den Basalgelenken, 


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leh wifj wt.^lir vielenFallen, die iefi ziv beohaehte,u Oelegen- 
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Fftile von irJnariK- urn) ,Mi>diartUs|Sbmahg be-sebreiben. 

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Hi«id par mi* Muhe fewegt werdtety. ebpu^o dm Finger. Die Band i*air kid t 
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Vetknui f%}j r a;*wL ai«a den Ann uafttf den* ' ' irngkffti.rw;b.' ■ la tier 

Hand hatte Pat. gar k<ud item-id mebr. sw fciftyitonudur 'vi.ia^i-u tmd Mi* 
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RSITY OF MIC 



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Singer. Die Ulnarislahmnng. 


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standen, ist sie darauf aufmerksam geworden (objektiv: Verbrennung am 
IV. Finger). Die Hand wnrde im Krankenhaus elektrisiert; trotzdem blieb 
sie ..steif und gefiihllos“. Pat. klagt jetzt liber Gefiihllosigkeit in der 1 in ken 
Hand, Schwerbeweglichkeit der Finger. 

Obj . Befund: AuBer am linken Arm und linker Hand findet sich nichts 
Abnormes. Auf der medialen Seite des Ellenbogens groBe strahlige Narbe. 
die auf Druck schmerzhaft ist. Durch dieselbe ist ein vollstandiges Strecken 
des Unterarmes nicht moglich. Sehnen- und Periostreflexe symmetrisch; die 
Beugeseite des Vnterarmes scheint erheblich abgeflacht. Thenar, Hypo- 
thenar. Interossei nicht atrophisch. Hautfarbe links roter als rechts. an 
den Phalangen marmoriert, blaulich, die Finger sind links kalter als rechts. 
An der Basis des IV. Fingers Wunde von ca. 3 mm Ausdehnung, die nicht 
schmerzhaft ist (Brandwunde). 

Motilitat am Unterarm und Oberarm intakt. Links ist die Vln. und 
Rad.-Abduktion der Hand herabgesetzt. Volarflexion der Hand fast un- 
moglich; ebenso Adduktion des Daumens, Beugen des Daumens in beiden 
Phalangen und Opposition. Abduktion und Extension des Daumens leidlich 
gut. Adduktion der Finger herabgesetzt, Beugen nur in der Grundphalanx 
moglich. 

Die Nagel der linken Hand sind langlicher, schmaler als rechts, auch 
im ganzen starker gewachsen (obschon Pat. nach eigener Angabe die Nagel 
viel of ter schneiden muB), vielleicht etwas weicher. An der linken Hand 
fehlen vollkommen die Lanugoharchen, die rechts auf den Grundphalangen 
stark ausgesprochen sind. 

Farbung der Haut: in dem schraffierten Gebiet der Figg. 26 und 27 
ist die Haut trocken, glanzend, stark blaulich verfarbt. Der Uebergang 
ins Normale ist an manchen Stellen so scharf, daB man mit geschlossenen 
Augen die Grenzen fiihlend bestimmen kann. 



Fig. 26. Fig. 27. 


Die Rontgenuntersuchung ergab, daB ein Projektil im Oberarm sitzt. 
das wahrscheinlich den N. uln. u. N. med. komprimiert. AuBerdem sind nach 
Angabe des Instituts samtliche Knochen links osteoporotisch verandert. 

Elektrischer Befund: Links faradisch indirekt: N. uln. und N. med. 
mitstarksten Stromen nicht erregbar; far. direktFlex. carp, uln.. Flex, digit.. 
Thenar-, Hypothenarmuskeln, Lumbricales und Interossei mit starken 
Stromen nicht erregbar. Radialismuskeln frei. Galv. indirekt: Rad. bei 
2 MA rechts und links erregbar. Med. und Vln. bei 10 MA links noch nicht 
erregbar. Galv. direkt: Abduct, poll. KSZ min. 1 MA. ASZ ]> KSZ. Zuckung 
auBerst trage. Flex, poll brew nicht zu erregen; Oppon. poll. KSZmin. 
3! 2 MA. ASZ < KSZ, Zuckung auBerst trage, Inteross. II KSZmin. 
2 MA. Zuckung prompt, KSZ = ASZ, die anderen Interossei nicht erregbar. 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Lagegefiihl im IV. und V. Finger aufgehoben, ebenso fur II. und III. 
Phalanx des III., fiir Endphalanx des II. Fingers. Sensibilitat (s. Figuren 28 
bis 31). 



Fig. 28. Fig. 29. 

Thermanaesthesie. Anaesthesie u. Analgesie. 



Fig. 30. Fig. 31. 

Anaesthesie u. Analgesie. Thermanaesthesie. 


89 . Eigene Beobachtung XLIV. (Pat. Z.) 

Am 23. VII. 1910 mit Kreissage am recjiten Zeigefinger verletzt, bis 
Neujahr 1911 ohne Beschwerde gearbeitet. Am 2. I. 1911 plotzliches An- 
schwellen der rechten Hand und des Armes bis zur Schulter. Der Arm 
war heifi, an der Hand bildete sich Eiter. Gefiihllosigkeit in Arm und 
Hand, leichte Schwache in den Fingem. Am Zeigefinger wurde die Eiterung 
geschnitten. Die Kraft nahm irnmer mehr ab. Am 12. II. hielt Pat. den 
Arm in der Kalte iiber das Eisen des erhitzten Kochofens. Am anderen 
Morgen Brandblase am rechten Unterarm, die aber nichfc schmerzte. Er- 
offnung des Abszesses ohne Narkose und ohne lokale Betaubung. Dabei 
keinerlei Schmerzen. Status des linken Arms: Auf der ulnaren Seite des 
Unterarmes markstiickgrofie Brandblase; iiber demHandgelenk des Zeige- 
fingers quere Narbe. Haut iiber der rechten Hand (die geschwollen 
scheint) glanzend, schuppend. Med. und Uln. druckempfindlich, die Nagel 
rechts langer als links. Farbe der Haut blau marmoriert. Linke Hand 
feuchter als rechte, Umfang des Mittel fingers in proximalen Interphalangeal- 
gelenk rechts 8, links 7% cm. Fingerspiel rechts ungeschickter als links. 
MoUlitdt: Schulter und Arm rechts = links beweglich; Dynamometer: 
rechts = 0, links = 65, Finger IV und V stehen abduziert. Volarflexion 

Monatsschrift f. Psychiatrie n. Nenrologle. Bd. XXX. Heft 6. 32 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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der Hand paretisch, Strecken der Finger in der Grundphalanx gut, Beugen 
schlecht, Spreizweite rechts 19, links 23 cm, Spreizen rechts stark paretisch, 
Strecken der Endphalangen, Adduktion und Opposition des Daumens sehr 
herabgesetzt, FaustschluB unmoglich. Daumen und iibrige Finger begegnen 
sich beim Versuch der Opposition nicht. Elektrisches Verhalten: fin Inteross. I 
und II, Abduct, dig. V, Flex. dig. commun. EAR, ASZ = oder >► KSZ. 
Herabsetzung der indir. farad. Erregbarkeit im U. und M. Sensibilitat; 



Fig. 32. 

a) Sensibilitatsstorung fur 
Beriihrung. 



Fig. 33. 

b) Sensibilitatsstorung fiir Schmerz 
und Temperatur. 



Fig. 34. 

c) Sensibilitatsstorung fiir Temperatur, 

/ Beriihrung und Schmerz. 

Etwa 3 Wochen spater ist der Status unter Behandlung mit aktiver 
Gymnastik, Massage und Galvanisation soweit gebessert, daB samtliche 
Fingerbewegungen mit leidlich guter Kraft ausfiihrbar sind, FaustschlieBen 
sehr gut moglich (nur der Zeigefinger bleibt zuriick). Med. und Uln. sind 
nicht mehr druckempfindlich; die Hautfalten auf dem Handriicken sind 
wieder zu sehen, eine Schuppung ist nicht mehr nachweisbar. Blaurotliche 
Verfarbung und Glanz bestehen weiter fort. 

Sensibilitat dorsal vollstandig intakt fiir alle Qualitaten. Volar wie 
oben in Fig. 34. 

Besonders interessiert an diesem Fall von kombinierter Ulnaris- 
und Medianusparese die Aetiologie: eitrig-infektiose, aufsteigende 
Neuritis, dann die volligeAusschaltung der Temperaturempfindung, 
die zu einer Brandverletzung ohne Schmerzgefiihl fiihren konnte, 
schlieBlich die Veranderung der Haut in Form der glossy skin 
und eines deutlichen ichthyosisartigen, kleinschuppigen Ekzems. 
In relativ kurzer Zeit hat sich die Lahmung ganz erhebhch gebessert. 

90 . Eigene Beobachtung XLV (Pat. Cl). 

Vor 15 Jahren hat sich der Pat. den rechten Ellenbogen in einer Tur 
gequetscht, es fand darauf eine Operation in Narkose wegen „Eiter- 
bildimg“ statt. August 1910 bekam er plotzlich Schmerzen im Ellenbogen, 
bis in die Schulter und Finger ausstrahlend. Einschlafen und Kalte- 
gefiihl hierselbst. Wegen Heftigkeit der Schmerzen Operation. Es wurde auf 
denKnochen eingegangen, jedoch amCondyl. int.. der schmerzhaftesten Stelle 
und an anderen Stellen nichts Krankhaftes gefunden. Naht. Allmahlich 
zunehmende Schwache im linken Arm; die Finger, die vorher schon etwas 
gebogen waren, gerieten iraraer mehr in Flexionskontraktur. Eine leichte 
Schwache hatte Pat. in dem Arm schon seit 15 Jahren. Jetzt ist die moto- 
lische Kraft = 0. Der Arm ist — angeblich erst seit der Operation — er- 
heblich abgemagert. 


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Binder , Bie Ultianslaliraung, 489 


0>jtkt-}ve r r Uzfuwt: tH% Hake Si‘lmltemj|i^Uulatnr 1st im ganzeu vtwte 

der.L"nfe«r«tnn in smtmpfem WinksVna^fo 
iim^n 5k%3^bc?go^ r aoharf heryor. Am Oberofm &, 

^*jK§erd'I^gev 3 wn Kiridheit an, 3 adit 
ifUtgr Operation. Der Oherarm miGt links (IF na uber Olecranon) 27, 
nyhte 23 <;m, I ntorami links <10 cm untor OJorrunor-) £&, reehts T8 cm, 
rttienmtf link* (dicftt fiber d«m Handgelenk) 18. rach'ts id <dii Dec reeliw* 
IVitcramt 1st tim ecu I‘» era verkurzt. Hand umi Am. reebt* kult .. hlaulieher 
links. Kaarwuchs res&i# — links, Nagel wseht* vceiVh»-r. • St ell ring: 
c vjiiache m»m* eh j»r6dtk*ar4?ur Ai (Hand im IUir|iuiv tni M^tnkArpn- 

Phaki^igeai (kdonk ubersfreefct* in den iibrigen Thnbmg^t* I - < Udenken stark 
floktferO,; Intews#. I atwphfelh vidlmaht liu^h IT! and T\\ Thopar and 
H^mtJienar *Hk weieh und sehlaff; Blibo^enfleacion gut < Exteirskm (lurch 
Bico^knn irajkr ut gehedtnit; DursttF und Vu(fct4flexiptt der Harid herab- 
^i^seUtv Stricken: aer Fmeer — »X SpreizoTt der Finger II arid V seiile^bt, 
AmbikMoa dm jPmmwis rast 0. ebenao Opposjrkm. der Haumen erredeht 
ran* die Fingerspifaen II vmd III. Flexion dm Poumen* vuld dcr ubrigen 
Finger leidlicii Knoehen nrjd Narhen #nm. Toil einpfindliehv 

von den Nr<: ndr der M*xl Sen&bilitfit: fiir Berdhrung und ^cdmiefz Fig. 

« im! M. Div Stbreng ging in kaebtem uFnarvviin* hh zum Elienbogen, 



TemneratAureitte. (mittier*; imd frtdig)* vmrtlen ■■-an--4^r' gaaz&n Maiid nicht- 
f f inpfunden w ' iiembsotzmie: .&?**.- Itontwhw tm<l 

g»Iennisohott. Err^gbark.e;t mho?. cmge 2 no k ‘ m g rmr tm Abdiic t, dig. V. 

Es kdunte nfcht gmm -..f^tg^telltr ;;v^<fde-n., 

wi*}cher Art dfc ■ Verlet/>ung in tier Jngeod g^^en r, Warhr- 
solieiiilicli lutfc e>v ;:ieh tun o«toomyeUti^C‘}sC‘,. 'vielieieM'' tim Tuber-> 
iu>io$'^ gcfendeli, •k?t..ati : cb :tixi Empyera operiert 

worden). Be, der zweiten Operation .vind jedenfali^ die Verkiirzung 
dd4 Armm\ die Atropbie und Knntrakiur ^hoiivorhamien gewesen 
(riacb perBorilieher hmn OpexMt^l Von Tbo4H^rcietb 

nu^li denen iiiau ^V.egefl j?cUiiier^haftAgkeit der KLnoeben fabudete, 
konivte niehts geftmden wmlen Es mwfc nx& am v a <mdy!n^ int. 
damak'ein ^eharfer : Kji6ehenvoTsprtmg'a^ ' JH* Rdntgenr 

bild wijgtp killowe Deforaation de# Hurnerus Und tinlereri Teds 
de^; Eadbu^‘ J&s war danneh niebt i\mmrthv&n. dafi die Uihmiing 
.cfcft: tflnam und Medianus dumb den .hervorgernfeii 

\%lntehr durch Narbenkomtriktipn,.' tfcr-' BAtient yiwde 
dnbej* Neni’olyse zut Chirurg, Klmtfc. ^legt H-ier wnjrde 





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ibI fror 


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490 


Singer, Die TTln&rislahmung. 


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der Ulnaris an der typischen Stelle im Sulcus uln. aufgesucht. Der 
Stdcus war aber bindegewebig vollstandig ausgefiillt, der Ulnaris 
konnte erst nach langem Suchen gefunden werden. Und zwar 
war er um mehrere cm luxiert und lag dort, wo normaler Weise der 
Medianus zu finden ist, weit medial vom Condylus intemus. Nur 
daran, dab er zwischen die Kopfe des Flex. carp. uln. trat, konnte 
er erkannt werden. Zum Teil haftete er an bindegewebigen Strangen, 
die gelost wurden. Der Medianus war mit einer der Narben fest 
verwachsen und wurde ebenfalls gelost. Die Kalluswucherung 
war nicht so erheblich, daB sie etwa den Ulnaris aus seinem Bett 
gehoben haben konnte. Man muBte also annehmen, daB bereits 
bei der 18 Jahre zuriickliegenden Operation vielleicht der Ulnaris 
aktiv verlagert worden war. Die Verlagerung wurde jetzt so 
gut wie moglich durch Fortziehen des Ulnaris und Faszien- 
Ueberlagerung ausgeglichen. 

Bemerkenswert ist an der Hand die dissoziierte Empfindungs- 
storung: Temperatursinn vollstandig erloschen in der ganzen Vola 
manus, Beruhrung und Schmerz nur herabgesetzt, besonders im 
Medianus-Gebiet der Vola manus. Auffallend war das ziemlich 
normale Verhalten der elektrischen Erregbarkeit und die relativ 
geringe Atrophie der kleinen Handmuskeln. 

8 Tage nach der Operation merkte Pat.. daB ihm die Finger nicht 
mehr so steif wie friiher waren. Nach weiteren 8 Tagen konnte er die vorher 
in Kontraktur stehenden Phalangen wieder strecken bis auf den Mittel- 
finger, der noch Widerstand leistete. Samtliche motorische Funktionen 
sind ausfiihrbar, wenn auch noch mit schwacherer Kraft als links. Der 
Daumen erreicht bei der Opposition die Kuppen samtlicher Finger. Die 
Hand steht bei der Aufforderung, sie zu strecken. in normaler Extension, 
nur der kleine Finger, der aber alle Bewegungen prompt ausfiihren kann. 
steht abduziert. Die Sensibilitat fiir Temparatur und Schmerz ist unver- 
andert, fiir Beriihrungen schon 8 Tage nach der Operation wesentlich ge- 
bessert (dorsal auch verandert): Fig. 37 und 38. Etwa 6 Wochen nach der 




Fig. 38. 


Operation war die Sensibilitytestbrung auf das schraffierte Gebiet der Figg. 39 
u. 40 beschrankt. Dorsal war die alte Stoi'ung fast vollkommen ausgeglichen. 

Patient fiihlte also bereits 8 Tage nach der Operation an 
alien vorher vollkommen anasthetischen Partien (auBer einer 


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S i a get , Die Umanaiahmung. 493 

kieinen Medi'.aii^t^lk Beifiltjimgeii; 

mir gab cr an, drtfi *ie msht. ^MiaHlieiv *wm wie. auf den. nomabn 
Stolen ;B»*> I.ag^fS.hi \va t 


Fig. 4«. 
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sphvl*, static- biiJt^jdo Wvxndf am reebten HambHvnk, Woudv and X. 
ulnari* sofort g^njeihfc feed Blatbor*,. •• 

of&Hflrfc. d»* Eitnrliiitlmig. Wiaide Keife twit#? feiobt<£v 

8 TOigen. .Sofor* mud\ VHfetwmg KHebeln tti Her StociVL ;;d&b tver/a\di4>^^mg^ : 
sted MOireiv\ l>i*t itfirtidet Scha>or?. dnr**d mill volar' ur dot* HmtdL :>Otoh^ir:^; 
v 43$ f*b dur X 1 V m&%' niofef 

titfwh Briiall) Fiiigor dttieht hi &nfaurt£\‘:d-jtie.'i)' leiitefe Pmgrer.^chluclit be- 
wegfigh ypf. A .'^^n;;lUU\^iob te I f ftt : mix 0%i yofbmdd (kl. Finger), 
nha>.*. ot-wa* su v^r.vpdren i*6/d Atrophfe tk*f liTtoro^oi, *(&-• Dm u non b& liens 
whts . L*g*g*^ iin klemm 'Finger-:/ JSinrJU' Hr-cmdwimde an dor 

Knpfb .41 v?nd 42); ixa 


TJJimrisgebiet to tale Anihabuns!: .(AriOA^tbesie o Aiialgi^iek iw M^iiiftaus- 
Gebtet nicht toted (^cii Wero Hy] )4mib$me Wid Hypatep^b Ekkir. komplofcto 
.EAK. iti dtm-Jxxtmom.., Rli?m4mgerbfellttik. ©aitoWnJtfijJiin.' Adflufc B poll. , Xlm- 
kefirung dor Ziiekvin^fomiel.v Addukiion (fe Datimetifl unoiqgb’c'h, deaf- 
gioiehon Spreiafcn; db 'Firig^V *?tehtfo ftbduzbt* :/. fduiner jtpd 4 Ftriger leicfit 
f bfct iart (A^dmiltCng v oh Kjmlenhand), Hera Swat /4U>g cb*" *f xjnarflo>:itns 
dot ? Hand v p-i'*^e dor Fingerfeouger (ip Grtmcb omd Emiph*MArix). F&usb 
schluii imtodghoh. : . .-/•"’V. . • 

t g: 1, UUO. Schr stlilwhte Lobbnnoir .he)>ai Dr\u4c Xinil 
Stbh m dezi uJnaa ^p Handpif^HOp* Vbl Bchiaet^au tm 

kJe«meKi iBrundi^nnKltkyaii IH., 






5 i © ge.r, Die TJinAnsllhiming 


B. til. UUl. ?'fsw*tw!m’iJ tediick. SpreisBii, Adcloktiivu cle,. Liaumens 
kriutki. 1 ^ «})?jct»»o lle«:idbi>unC;n. -iiehsib. vie »b«n. 

IU. XV. 19]i„ ' Syudbnit&tsstoniiiig »uf 2 ! julnarfr Finger boscfinSnkiv 

Bevregojiji misgeglleheii. V, Finger 

beWegliflin Sonat- wits bben 

Habeti sich bei kombmierter Ulnaria-Mediaausiiihmiiiig myo- 
gene Eontrakttjren ausgebildet. so wird dutch diese die Hand 


ip gine energische Fleyionsstellung Luwem aezwimgep. Pureh 
das Herabbangen der Hand kanij danb eine Radi&iisJahtnung 
bei oberflSebiicher Pntemichung vorge^tausoht- iverden {*. Fig, +3). 
Ieh sah. eiflen Patten ten, bei dem dutch Aaigpbttemag dea EUen- 
bogeus vine derartige koinbrnierie IHwaris -- und Mediant**' 
labnmrigermigt worden war, die zti kompleitar EAR. Atropine w»d 
KontfiaktiiTbiidung. in deri Flexoren der Hawd undFinger gefnhrt 
hatte. 6 Monate nachdeiri Trauma sehsekte eiri Chimrg den Paiienfcen 
in die Kliilijc wit der Diagnose*. Radiftbfd&bniting \ In Wfrkbcivkeifc 

war nur der Eadialia eiektriseh 
voilkuramen intakt, die SensibUitat 
haarseiiarf im Radiafegebtet aur- 
geapari; die Extension dew Daumeoa 
erfolgfa! prompt, ebbnso kr&ftig die 


pbeiaRgen. allerdjngs nur bi« zu 
:.;di&£-;$reti3&, wd .aii| kpintrakturk't- 
i^irBedgeBvtiskeb'i dttn Widerstand 
iiimbeywmdbar stark maebten und 
nine weitave Bewegimg verhinder- 
Men. Utnaris and Mediant?* waren 
motorise!* voiLstiindig gelafunt. 

Pie seitenen kombmiertm Lab' 
mwjgeii des lJbriaais v Radialis wad 
Medianus gebeo eine Steliungfi- 
aOOHtaUe dev Hand, '.vie ftie etwn 
Fignr 44 zeigt. Item K.mde wurden 
dbrch eineu Himdebifi sarotiiche 


Gq gle 




Singer, Die Ulnarialahmung. 


493 


Nerven links durchschnitten. Trotz Nervennaht blieb die degene¬ 
rative Lahmung bestehen und besserte sich weder motorisch noch 
sensibel im geringsten. 

D. 

Ulnaris-Lahmung als Teilerscheinung anderer organise her 

Krankheiten. 

Wahrend die bisher, auch bei den Polyneurit'.den be-chriebenen 
Ulnaris-Paresen wirklich als Krankheitsbilder sui generis aufgefaBt 
werden konnten, begegnen wir in der Pathologie und Klinik der 
Nervenerkrankungen auch gar nicht so selten Fallen, in denen 
wohl das Bild einer Ulnarisaffektion vorhanden ist, diesem Bild 
aber ein anderes iibergeordnet ist, das der ganzen Krankheit 
ihr Geprage verleiht. Mit anderen Worten: Falle, bei denen die 
Ulnarislahmung oder ulnare Atrophie nur ein Symptom der 
Krankheit, nicht aber die eigentliche Krankheit ist. Bei derartigen 
Beobachtungen sind Fehldiagnosen sehr leicht moglich und zu- 
weilen auch nur durch langere Beobachtung zu rektifizieren oder 
auszuschlieBen. Gerade die Atrophie der kleinen Handmuskeln 
kann sehr wohl einmal das erste, vielleicht fiir lange Zeit einzige 
Symptom einer Syringomyelic, einer chronischen Poliomyelitis, 
einer Muskeldystrophie sein. Erst bei weiterer Beobachtung stellen 
sich andere Symptome einer ausgebreiteteren Muskel-, Nerven-, 
Ruckenmarks-Erkrankung ein. Oder die Atrophienwaren so deutlich 
hervorstechend, daB leichte andere Symptome davon verdeckt 
warden und das Bild einer isolierten Ulnaris-Paralyse vorgetauscht 
werden konnte. So ist es bekannt, daB sich im Beginn der spinalen 
progressiven Muskelatrophie ein Schwund des Kleinfingerballens, 
der Interossei und Lumbricales neben Atrophie der Daumen- 
muskulatur ausbildet. Die Funktionsstorung entspricht diesen 
Atrophien, die ebenso wie bei der gemeinen Ulnarislahmung 
auch zur Ausbildung einer Krallenhand ftihren konnen. Die weitere 
Ausbreitung des Muskelschwunds und andere Momente klaren 
dann bald fiber die Art des Leidens auf. Die Falle sind zu haufig, 
als daB irgendwelche hier besonders aufgezahlt werden brauchten. 
Ich erinnere auch nur kurz daran, daB ahnlich wie bei der spinalen 
Muskelatrophie auch bei der amyotrophischen Lateralsklerose und 
der neurotischen Muskelatrophie der Muskelschwund zuerst in den 
Interossei, im Hypothenar und Thenar einsetz* n kann, und daB auch 
hier an der Hand die antagonistische Ueberfunktion des Extensor 
digit, communis zur Ausbildung der Krallenhand ffihren kann. Von 
Rfickenmarkskrankheiten kann vor allem die Syringomyelie 
das symptomatische Bild einer Ulnarislahmung vortauschen 
(in seltenen Fallen auch einmal eine atypische Sclerosis multiplex). 
Meist ist der ProzeB dann symmetrisch, zumindest aber doppel- 
seitig ausgebildet. 

92. Eigene Beobachtung XLVII. 

Bei einem Gastwirt (Pat. Fr.), der an Syringomyelie litt (spastische 
Paraparese, Babinski, Oppenheim, dissozierte Empfindungslahmung an den 


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494 


Singer, Die Ulnarislahmung. 


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Armen) und iiber Schwache in der rechten Hand, Beit knrzem auch der 
linken, klagte, konnte an der rechten Hand folgender objektiver Befund 
erhoben werden: schwere Atrophie des Hypo thenar und samtlicher Interossei; 
tief eingesunkene Spatia interossea, 1 lathe Hohlhand. Adduktion und 
Abduktion der Finger fast unausfuhibar, ebenso schlecht Adduktion des 
Daumens. Die Opposition des Daumens ist rechts < links. 

Remak stellte einmal einenPatienten vor, bei dem vor 19 Jahren 
die Diagnose auf professionelle Neuritis, 6 Jahre spater auf eine 
rekurrierende degenerative Neuritis ohne atiologisch.es Moment 
gestellt worden war; noch 2 Jahre spater— und an dem Patienten 
zeigten sich deutliche Erseheinungen eines spinalen Leidens 
(Differenz der Reflexe, Klonus, Babinski u. A.), sodaB die Diagnose 
zwischen einer atypischen Syringomyelie und einer amyotrophischen 
Lateralsklerose schwankte. 

Bei einer Erkrankung des Zentralnervensystems aber spielen 
die Alterationen peripherer Nerven eine ganz besondere Rolle: 
bei der Tabes. Bei diesem Kapitel, das sehr oft schon Gegenstand 
der Kontroverse gewesen ist, mochte ich noch etwas verweilen. 
Gerade der Ulnaris zeigt sehr oft im Verlauf der Tabes Eigen- 
tumlichkeiten. Im Bereich des Kleinfingerballens und im kleinen 
Finger lokalisieren sich iiberaus gern Parasthesien und Schmerzen; 
der Ulnaris verliert haufig schon im Anfang der Krankheit die 
normaliter vorhandene Empfindlichkeit auf manuellen Druck; 
^elegentlich lokalisieren sich typisch lanzinierende Schmerzen im 
Ulnarisgebiet bei Tabes superior. Im Gebiet des Hypothenar, im 4. 
und 5. Finger treten haufig unwiUkiirlich spontane Muskel- 
zuckungen auf. Vor allem aber sehen wir bei vielen Tabikem 
Atrophie der Interossei, so daB an dem Bestehen einer motori- 
schen Neuritis nicht gezweifelt werden kann. Schon Leyden 
erwahnt in seiner Arbeit iiber ,,die graue Degeneration" einen 
Tabesfall, bei dem die Spatia interossea vertieft, der Daumen- 
ballen abgeflacht war. Hier fiihlte Patient das „meiste Ziehen". 
Aehnliche Beobachtungen von Muskelatrophie (auch am Hypo¬ 
thenar) machten spater besonders Nonne, Mobius, Lapinsky u. A. 
Nach des letzteren Anschauung zeigt die auf gewisse kleine Ge- 
biete beschrankte Muskelatrophie eine Vorliebe fur die kleinen 
Handmuskeln, laBt aber zuweilen auch Hals, Schulter, Riicken 
nicht frei. Ausgesprochene Paresen bei der Tabes sind immer- 
hin selten, das Wesentliche der peripheren Erscheinungen sind 
Muskelatrophien. 1877 hatte Leyden solche schon gefunden, und 
Dejerine rechnet sie sogar zum typischen Bestand der Tabes- 
Symptomatologie in vorgeschrittenen Stadien. Auch Dejerine 
nennt als Lieblingssitz der Atrophien an den oberen Extremitaten 
die kleinen Handmuskeln (Interossei, Thenar, Antithenar). Die 
elektrische Erregbarkeit ist dabei oft herabgesetzt, EAR findet 
sich selten. Auch die Sensibilitatsstorungen treten typisch zuerst 
im Ulnarisgebiet auf; zuerst mit Schmerzen und Parasthesien 
im Hypothenar, 5. und 4. Finger, wobei motorisch die schon 
erwahnten Spontanbewegungen auftreten. Spater treten dann an 
denselben Partieen Storungen der Beruhrungsempfindung, des 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


4b5 


Schmerz- und Temperatursinns (besonders fiir warm) und des Lage- 
gefuhls auf. DaB der Ulnaris in seinen sensiblen Funktionen bei 
peripheren Erscheinungen der Tabes zuerst ergriffen wird, kann 
daher geradezu typisch genannt werden. Stern vermiBte diesen 
Befund in 17 Fallen nur ein einziges Mai. 

Wahrend die klinischen Befunde bei den einzelnen Autoren 
ziemlich ubereinstimmen, divergieren die Meinungen uber die Art 
und Ursache ihrer Entstehung mannigfach, und die Frage, was 
atiologisch fiir die Muskelatrophien verantwortlich zu machen 
sei, hat eine einheitlich bestimmte Ant wort nooh nicht gefunden. 
Zum Teil liegt das auch an der Verschiedenartigkeit der patholo- 
gischen Obduktionsbefunde. Mehrere Erklarungsmoglichkeiten 
sind vorhanden: 

1. Es handelt sich um ein Uebergreifen des tabischen Prozesses 
auf die Vorderhorner des Riickenmarks (Poliomyelitis anterior); 

2. Es handelt sich um eine periphere Erkrankung: Neuritis. 

Fiir beide Anschauungen konnen Belege beigebracht werden, 

und es muB, wenn die Obduktion auch Veranderungen der Vorder¬ 
horner ergibt, sicher von Fall zu Fall entschieden werden, ob 
nun die Riickenmarksaffektion das Primare ist, oder ob die Degene¬ 
ration der Vorderhorner eine von der Neuritis abhangige Erschei- 
nung darstellt. SchlieBlich ist auch als Erklarung noch die 
Moglichkeit zulassig, daB das tabische Gift schadigend auf die 
trophische Funktion der Ganglienzellen wirkt und dadurch 
Atrophie hervorruft ; zumal man sich — nach Goldscheider u. A. — 
den trophischen EinfluB so zu denken hat, daB ein wirklicher 
Transport von Ernahrungsstoffen von Zelle zu Achsenzylinder 
zieht und dieser Stoffwechsel bei der Kachexie vorgeschrittener 
Tabiker natiirHch sehr beeintrachtigt ist. Cruveilhier , Leyden, 
Charcot , Pierret, Eulenburg u. v. A. erklarten sich fiir die erste 
Moglichkeit. In der Tat waren Vorderhomveranderungen haufig 
gefunden worden; auch sprach fiir diese Anschauung, daB so 
selten Paresen mit der Atrophie verbunden waren, daB in ein und 
demselben Armgebiet die einen Muskeln eines bestimmten Nerven 
alteriert, die anderen intakt waren, sowie daB die Sensibilitats- 
storungen nicht dem Verlauf von Nerven entsprachen. Dem- 
gegeniiber aber stehen zahlreiche Befunde, wo bei tabischer Muskel- 
atrophie die Vorderhorner ganz intakt waren. Ich nenne von 
solchen Beobachtungen hier nur die von Pitres und Vaillard , 
sowie die von Oppenheim und Siemerling. Der erste, der bestimmt 
erklarte, daB die genannten Degenerationserscheinungen fast 
stets von einer Neuritis abhangig seien, war Dejerine . Veran¬ 
derungen an den per'pheren Nerven hatten schon vor ihm Tiirck, 
spater Friedreich , Vulpius , Westphal entdeckt. Intaktheit der 
Vorderhorner und schwerere Veranderungen in den peripheren 
Nerven fanden besonders Pitres und Vaillard , Nonne , Oppenheim - 
Siemerling , Goldscheider. Es wiirde sich demnach um Atrophien 
handeln, die sich im AnschluB an primare, unabhangig vom Riicken- 
mark sich entwickelnde Neuritiden ausbilden. Auch die Differenz 


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496 


Singer, Die Ulnarislahmung. 


zwischen Sensibilitatsstorungen und Grad der Riickenmarks- 
storung spricht fiir diese Anschauung. Der Peroneus scheint 
besonders bei der Tabes bevorzugt zu werden; nachst ihm der 
Uinaris. Haufig sind ubrigens anatomische Veranderungen gefunden 
worden, ohne daB klinisch irgend etwas Abnormes nachweisbar war. 

Von den Oppenheim-Siemerling chen Beobachtungen erwahne 
ich folgende als besonders charakteristisch und hierhergehorig r 

93. Fall I: Unter anderera eine vom Ulnarbezirk der Vola T inanus 
ausgehende sich erst spater allmahlich ausbreitende Anasthesie fiir alle 
Gefiihlsqualitaten auBer Schmerz. Am spatesten waren Finger I und II 
ergriffen. 

Fall IV: Spontanbewegungen in Finger V und IV. 

Fall VII: Anasthesie, zuerst genau dem Ulnargebiet entsnrechend; 
mikroskopisch Uinaris in kleine und kleinste Biindel zerfasert, nedeuten- 
der Faserausfall, die restierenden stehen vereinzelt. 

Weitere Beobachtungen derselben Autoren: 

94. I. Anasthesie im Ulnargebiet der Hand, spater auch in Finger II. 
In beiden Ulnares perineuritische Veranderungen, ohne wesentlichen 
Faserschwund. 

IV. Spontanbewegungen in Finger IV und V. Nach 10 Jahren 
Anasthesie (fiir Beriihrungen in Finger IV und V). Ein Jahr spater 
schiefiende Sohmerzen im Ulnargebiet. Im Stamme des linken Uinaris 
deutliche Atrophie. 

So konnte ich die Falle aus der Literatur noch vermehren,. 
um zu zeigen, wie sehr ausgesprochen gerade im Ulnarisgebiet die 
Veranderungen bei Tabes sind. Als Ursache der Lahmungen und 
Atrophien geben die Verfechter der peripheren Genese an: Rheuma,, 
Trauma, Kachexie, Anamie, arter osklerotische Prozesse, zu- 
fall ge Lasionen (bei der Unempfindlichkeit der Patienten 
leicht erklarlich!) u. a. Die Vorderhornverandenmgen werden 
natiirlich durch die aszendierende Neuritis sehr gut erklarbar. 
Bei Bestehen von Veranderungen im peripheren Nerv und in 
den Vorderhomern ist auch die vermittelnde Ent^cheidung mog- 
lich, daB dasselbe Toxin sowohl die Vorderhom- als auch die 
Nervenerkrankung, nebeneinander und unabhangig voneinander, 
erzeugt hat. 

Es ist auch darauf hingewiesen worden, daB der Beruf eine' 
Rolle bei der Entstehung der Muskelveranderungen be Tabes spielt. 
Ich glaube, daB man darauf ein besonders groBes Gewicht legen 
muB, und mache hier nur darauf aufmerksam, daB an Ober- und 
Unterextremitaten bei der Auswahl, die der tabische ProzeB 
etwa trifft, gerade die beiden dunnsten und schwachsten Nerven 
bevorzugt sind (Peroneus und Uinaris), welche bei einer exquisit 
anstrengenden und dauemden Ueberarbeitung einer ihnen drohen- 
den Schadlichkeit weniger Widerstand entgegensetzen konnen als 
etwa die kraftigeren Nervi tibiales und mediani. Auch glaube 
ich beobachtet zu haben, daB die Tabiker in Berufen, die an sich 
zu professionellen Lahmungen inklinieren, eher an den Handen 
Atrophien bekommen als andere. 

Von mehreren Tabesfallen, bei denen ich neuritische Storungen 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


497 


im Ulnari c gebiet sah, erwahne ich hier nur zwei (vergl. auch 
Beobachtung XV): 

96. Eigene Beobachtung XLVIII (Pat. W.). 

Seit 10—12 Jahren anfallsweise heftige Schmerzen im rechten Ulnaris, 
die nach knrzer Zeit nachlassen. Gleich nach den Attacken fiihlt Pat. im 
selben Gebiet, langs des Ulnarrandes des Unterarmes von der Ellenbeuge 
bis zur Hand eine Abstumpfung des Gefiihls. Pat. arbeitet seit 20 Jahren 
mit Blei. gebraucht aber (zur Farbe) nur ganz minimale Mengen. Nie 
Koliken. Kein Bleisaum, keine Krisen und keine Blasenstorungen. Lues 
negiert. Objektiv: reflekt. Pupillenstarre. linke Pupille > rechts, Achilles- 
reflexe fehlen. Die Abduktion des rechten kleinen Fingers erfolgt mangel- 
haft. Keine Atrophien. Sensibilitat s. Fig. 45 und 46. (Anasthesie und 
Thermhypasthesie. starke Verlangsamung der Temperaturempfindung; erst 
nach 8—10 Sekunden Empfindung von Kalt oder Warm, meist falsch). 



Fig. 45. 

Hypasthesie fiir alio 
Qualitaten. 



Fig. 46. 

Hypaesthesie fiir Schmerz 
und Temperatur. 



Fig. 47. 

Anasthesie fiir Bervihrung. 


Aus der Figur 47 geht hervor, daB es sich nicht um 
blofie Ulnaris-Sensibilitatsstorungen handelt, wenngleich die An- 
amnese nur auf diesen Nerv weist und auch an der Hand die Ab- 
grenzung gegen die normale Hautempfindung ziemlich der bei 
Ulnarislahmungen angetroffenen entspricht. Die in der Anamnese 
verzeichneten Schmerzen sind entweder als lanzinierende oder 
als Schmerzen im Sinne echter Neuralgie des Ulnaris zu deuten. 
Das Blei scheint hier keine Rolle zu spielen, es miiCten sonst 
innerhalb der 20 Jahre des Bleigebrauchs andere somatische 
Jntoxiakations8ymptome wohl einmal aufgetreten sein. Auch 
sind die motorischen Ausfallserscheinungen fur eine Blei-Neuritis 
zu gering. 


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Singer, Die Ulnarial&hmung 


96. Eigene Beobachtung XLIX. 

Bei einem 2. Pat. (L.), der an einer typischen Tabee litt, zeigten 
.sich subjektiv heftige Schmerzen im reehten V. Finger. Objektiv schwere 
Hypasthesie. Hypalgeaie mid Thermanasthesie in der ulnaren Halfte dee 
Vnterarmes und an Finger IV und V dorsal wie volar (a. Fig. 48 u. 49). 
Die Leitung war erheblich verlangsamt. 



Fig. 48. Fig. 49. 


Die Sensibilitatsstdrung entsprach also ungefahr dem Gebiet, 
das segmentar als C* und D, bezeichnet werden muB! Nach 
oben ging die Stoning allmahlich in normales Gebiet fiber. 

AuBerdem sah ich 8 mal Schlaflahmung des Ulnaris bei 
mannlichen Tab kern. 

Ich bemerke noch, dab auch in den Endstadien der Dementia 
paralytica und ebenso bei Taboparalyse Ulnaris-Paresen gefunden 
werden. Sie sind zu den dyskrasischen zu rechnen (meist finden 
sich nach Fiirstners Untersuchungen, auBere Erklarungen fiir die 
Lahmungen: Tuberkulose, Pleuritis, Dekubitus, Dysenterie etc.). 

Ueber die Unempfindlichkeit des Ulnaris bei Tabes und 
Paralyse (gelegentlich auch bei Epilepsie), liegen eine ganze Beihe 
von Beobachtungen imd Arbeiten vor (Biernacki, He/3, Sarbo, 
JSnell, Cramer, Singer u. A.). Zirka % aller Paralytiker und Tabiker 
zeigen, auch in friihen Stadien, dies Symptom (Biernackischea 
Symptom). 

Oppenheim erwahnt in seinem Lehrbuch angeborene Muskel- 
defekte im Bereich der kleinen Handmuskeln, welche eine charak- 
teristische ,,main engriffe' hervorrufenkonnen. Dadiese „Atrophien“ 
und Paresen sich in den ersten Lebensjahren noch zuriickbilden 
konnen, so sieht O. sie als Folge verzogerter Muskelentwicklung an. 

Bittorf macht auf die friiher schon von Quincke und Schmidt 
beschriebenenUlnarissensationen beiKoronar-Sklerose aufmerksam, 
bei der zuweilen die Herzsymptome sehr gering sind, die Par- 
asthesien und Schmerzen an der Innenseite des Oberarms und 
der Ulnarseite am Unterarm und Hand aber ein voriibergehendes 
oder sogar stationares Hauptsymptom b lden. Gelegentlich 
kann man dabei auch objektiv Hyperaesthesie im schmerzhaften 
Gebiet feststellen. Da eine direkte Ulnarisschadigung ausge- 
schlossen werden kann, so handelt es sich hier um hyperalgetische, 
reflektierte Zonen. Head fiihrt die Beziehungen der Aorta zu 
den Zonen im oberen Dorsalsegment auf die embryologische 
Entwicklung der Aorta zuriick. Die Sensationen im Ulnaris- 
gebiet sind sozusagen das Dauerstadium der im stenokardischen 
Anfall ja sehr bekannten ausstrahlenden Armschmerzen. Da 
sie zuweilen das einzige subjektive Symptom sind, das denKranken 


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IN I VCRG I TY Of K I CI 



Singer, Die Ulnarislahmung. 


499 


zum Arzt treibt, so ist ihre Kenntnis auch von diagnostischem 
Wert. Oibson sah bei Angina pectoris Sensibilitatsstorungen 
an der Hand im Medianusgebiet mit Freibleiben der ulnaren 
Partien. 

IV. 

Diagnose und Differentialdiagnose. 

Ich habe schon im allgemeinen Teil und auch im Verlauf 
der atiologischen Betrachtung so oft Gelegenheit genommen, 
auf die Differentialdiagnose der Ulnarislahmung einzugehen, 
daB ich mich hier kurz fassen kann und nur noch einige wesentliche 
Momente hervorzuheben brauche. 

Selbstredend ist die Aufhebung der motorischen, sen- 
siblen, vasomotorischen und trophischen Funktion, wenn sie 
genau dem Ausbreitungsgebiet des Ulnaris entspricht, entscheidend 
fiir die Diagnose Ulnarislahmung. Die Ausfallserscheinungen 
grenzen die Lasion des Ulnaris auch gegen die Lahmungen anderer 
Armnerven ab. Solch vollkommene Ausschaltungen finden sich 
aber hochstens nach vollstandigen Durchtrennungen des Nerven; 
bei unvollstandiger Kontinuitatstrennung treten die Funktionen 
durch regenerative Neurotisation nach einiger Zeit wenigstens 
teilweise in ihre alten Rechte. Die motorischen Fasem gebrauchen 
dabei regelmaBig langere Zeit zur Heilung als die sensibeln. Bei 
vollstandiger Leitungsunterbrechung sah Head Wiederauftreten ge- 
ringer Beweglichkeit in der Ulnarismuskulatur erst nach 346Tagen; 
doch schwanken die Zahlen bei den einzelnen Autoren wieder 
erheblich. Ebenso sind fiir die Wiederkehr der Empfindung die 
Daten je nach Schwere des Falles, je nach der Intensitat der 
Leitungsunterbrechung ganz verschieden. Dem Gesetz der Anasto- 
mosenverteilung innerhalb der Endausbreitungen der Armnerven 
muB im weitesten MaBe diagnostisch Bechnung getragen werden. 
Und minimale Sensibilitatsstorungen (oder gar intakte Sensibilitat) 
bei schwerer motorischer Parese diirfte ein auch bei der Ulnaris¬ 
lahmung gar nicht so selten zu beobachtendes Bild sein. 

DaB die Symptomatologie der Ulnarislahmung ein anderes 
Leiden verdecken kann, d. h., daB ein organisches Leiden unter 
dem Bilde einer Ulnaratrophie und Parese beginnen kann, habe 
ich schon ausgefiihrt. Ich denke da besonders an die Syringomyelie 
und die chronische Poliomyelitis. Selbstredend kann einen solchen 
diagnostischen Fehler nur die Untersuchung aller anderen neuro- 
pathologischen Momente vermeiden (elektrische Untersuchung, 
Anamnese, Untersuchung der Sensibilitat, der Reflexe etc.). 
Besonders die tfwntechen Falle (Lahmung aller Ulnaris-Hand- 
muskeln mit EAR, Fehlen aller Sensibilitatsstorungen) konnen 
einmal differentialdiagnostisch mit der progressiven Muskelatrophie 
vom Typus Duchenne-Aran in Konkurrenz treten (s. unten). g| 

Von wesentlichem Wert bei der Beurteilung der Atrophien 
bei der Ulnarislahmung ist die Priifung auf elektrische Verande- 
rungen, welche schon eingetreten sein konnen, wenn die Muskel- 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


atrophien noch nicht sichtbar sind; meist entspricht die Aen- 
derung des elektrischen Verhaltens der Schwere der Lasion. Die 
elektrische Erregbarkeit ist auch wichtig fiir die Diagnose einer 
eventuellen ischamischen Muskellahmung, wie sie durch Druck- 
verbande, Schlauche u. s. w. zustandekommen kann. Hier ist die 
elektrische Erregbarkeit wie auch die Sensibilitat fast stets 
normal. Charakteristisch fur die ischamische Paralyse ist nach 
Lapirwlcy auch, daft die Kontraktur immer sehr friih, gleich- 
zeitig mit der Lahmung oder sofort nach ihr entsteht. Auch 
sind die Muskeln bretthart anzufiihlen, die aktive Beweglich- 
keit ist auf ein Minimum reduziert, passiv begegnen ebenfalls 
die Bewegungen dem heftigsten Widerstand; die Schmerzen 
im Beginn sind sehr heftig. (Ob bei Entstehung der I. chamie 
tatsachlich eine blofte Schadigung der Muskeln oder auch eine 
Nervenlasion infolge Anamisieruug in Frage kommt, ist noch 
nicht ganz sicher festgestellt. Die Meinungen von Frey, Lapinsky, 
Volkmann-Leser, Hildebrand, Sonnenkalb, Neugebauer u. A. gehen 
darin noch auseinander. Nach Hildebrand konnen die starren 
Muskeln den Ulnaris komprimieren. Heidelberg sah nach 24stiindiger 
Ligatur den Ulnaris an der Ligaturstelle stark verdiinnt, Leser 
nach 8 stiindiger Ligatur zu einem diinnen Faden zerquetscht.) 

Bei den durch Gelenkprozesse entstehenden Ulnaris-Paresen, 
besonders bei den Lahmungen nach Kontusion des Ellenbogens 
und Schultergelenks kann gelegentlich an eine arthrogene Muskel- 
atrophie gedacht werden. Doch ist in diesen Fallen die Sensibilitat 
meist intakt, die elektrische Erregbarkeit hochstens quantitativ 
verandert, die Atrophie ist mehr eine Atrophie en masse; beachtet 
werden mufi auch, daft die isolierten Ulnarislasionen bei den 
traumatischen Gelenkaffektionen nicht gar so haufig sind. 

Wenn die sensibeln und motorischen Storungen etwa der 
Ausbreitung des Ulnaris entsprechen und das atiologisch ver- 
antwortliche Moment auch anatomisch so lokalisiert und prazisiert 
werden kann, daft eine Lasion des Ulnaris moglich erschtint, dann 
wird im allgemeinen die Diagnose Ulnarislahmung nicht auf 
Schwierigkeiten stoften, zumal die anfanglichen Parasthesien 
und Schmerzen stets von den Laien sehr typisch gekennzeichnet 
werden (Musikantenknochen, Kleinfingerballen). 

Motorische Reizerscheinungen sind nicht gerade haufig, sie 
werden aber im Beginn (zumal der Kompressions-Neuritiden) zu- 
weilen beobachtet. Fibrillare Muskelzuckungen, besonders bei 
chronisch verlaufenden Amyotrophien und bei Mangel aller Sensi- 
bilitatsstorungen, miissen immer den Verdacht auf spinale Muskel- 
atrophie aufkommen lassen. Einen solchen, schwer gegen pro¬ 
gressive Muskelatrophie abgrenzbaren Fall von chronischer Ulnaris¬ 
lahmung beschrieb Whittaker. 

Bei trophischen Storungen ist auch auf die Eruption von 
Blaschen am 4. und 5. Finger aufmerksam zu machen, die platzen 
und eitern konnen, femer auf Wachstumsanomalien der Nagel 
und Haare. Da gelegentlich auch einmal (s. oben) die Empfindungs- 


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stoning dissoziert auftreten kann, so liegt der Verdacht der Syringo¬ 
myelic nsolchenFall nnahe. Aetiologie. elektrisches Verhalten, Ein- 
se.t'fke t der Erscheinungen n. s. w. bringen die Entscheidung. 

Dupuytren che Faszienkontraktur des 5. und auch des 
4. Finger. findet sich viel of ter als angeborenes oder familiares 
Degenerationszeichen denn als Folge eines Ulnaris-Neuritis. 
Poncets „main en crochet** (Hakenhand), die bei Glasarbeitem 
beobachtet wurde, kann mit jener Aromalie verwechselt werden. 
Hier handelt es sich um Retraktion der Sehnen des Flex, digit, 
sublimis am 4. und 5. Finger, so dab diese gebeugt stehen. Die 
Haut am Kleinfingerballen ist unformlich und verdickt, Knotchen 
in der Palmarfaszie oder Strange finden sich nicht. Die Stoning 
kommt dadurch zustande, dab die Arbeiter dauernd ein Rohr 
in der Hand halten und rotieren miissen, wodurch die Streckung 
schlecht wird und die Flexion ein dauerndes Uebergewicht erhalt. 

Die ,,main en pred cateur**, die fur kombinierte Lahmung 
des Ulnaris und Medianus charakteristisch ist, kann auch einmal 
der Ausdruck einer Pachymem ngitis cervicalis hypertrophica 
im Gebiet des unteren Cerv>kalmarks sein. Doch entscheiden 
hier die typischen neuralgischen, langwahrenden Wurzelschmerzen, 
die Druckempfindlichkeit der Halswirbel, die Chroniz tat des 
Verlaufs, endlich die Folgeerscheinungen der Leitungsunter- 
brechung im Cervikalmark: tpastische Lahmung der Beine u. s.w. 
die Diagnose. Auch ein Tumor, Meningitis syphilitica, sowie 
Caries der Wirbelsaule und Spondylitis konnen, wenn sie die 
untersten Cervikal- und obersten Dor. alsegmente tangieren, 
sensible und motorische Reiz- und Ausfallserscheinungen im 
Ulnaris- (und Medianus-) Gebiet machen. Meist kommen in diesen 
Fallen oculopupillare Symptome, Sympathikuserscheinungen hinzu 
(Verkleinerung der Lidspalte und Pupille). Im Anfang der ge- 
nannten Erkrankungen aber konnen Erscheinungen im Ulnaris — 
oder Ulnaris- und Medianusgebiet die einzigen sein. Um so wichtiger 
ist die Beobachtung anderer Symptome (Druckempfindlichkeit 
der Wirbel, Pottscher Buckel, Abgrenzung der Sensibilitats- 
storungen nach Segmenten, spastische Erscheinungen in den 
Beinen, Giirtelgefuhl oder Giirtelschmerzen, doppelseitiges Auf¬ 
treten der Beschwerden, therapeutischer Erfolg der Hg-Kur, der 
Extension u. s. w. u. s. w.). 

Die Diagnose, ob ,,schwere“ oder ,,leichte“ Lahmung des 
Ulnaris, entscheidet, wiebei alien peripheren Lahmungen, natiirlich 
das elektrische Verhalten von Nerv und Muskulatur (s. auch 
unten). Die besonders fiir therapeutische Fragen wichtige Ent¬ 
scheidung dariiber, ob bei Traumen, die den Ulnaris treffen, 
die Leitung vollkommen oder unvollkommen unterbrochen ist, 
ergibt neben dem elektrischen Befund die Priifung der Sensibilitat. 
Werden auch starkere Reize, d. h. Beriihrungen, di<* kraftiger 
sind als das oberflachhche Streichen mit Wattebausch oder 
Nadelknopf, aber auch nicht intensiv genug, um Druckerschei- 
nungen auf tiefere Organe: Muskeln, Sehnen, Knochen und 


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Singer, Die Ulnarialahmung. 


Gelenke auszuiiben — werden selbst diese Beriihrungen sowie 
Stiche und Temperaturreize nicht mehr perzipiert, so kann man im 
Allgemeinen annehmen, dab der Ulnaris vollkommen durchtrennt 
ist. Umgekehrt ist abar (s. oben) aus dem Fehlen schwerer Sensibili- 
tatsstorungen noch nicht der SchluB auf leichte Form der Lahmung 
berechtigt, da zwischen den Nervenendigungen des Ulnaris, Radialis 
und Medianus reichliche Anastomosen-Verzweigungen bestehen. 

Bei leichten Ulnarisparesen, verbunden mit Parasthesien 
und Schmerzen, ist, wenn die Schwacheerscheinungen bald wieder 
zuriickgehen und Neigung zu Recidiven zeigen, an habituelle, 
eventuell durch traumatische Einfliisse manifest gewordene 
Luxation resp. Subluxation des Ulnaris zu denken. 

Sind Schmerzen und Parasthesien das dominierende Symp¬ 
tom (bei der Neuritis und Perineuritis), so sind Verwechslungen 
mit Knochen- und Gelenkprozessen moglich, z. B. mit Perio titis, 
Osteomyelitis an den Epiphysen der Unterarmknochen, auch mit 
Arthritis und Rheumatismus. Die genaue Palpation, besonders 
aber die Druckempfindlichkeit des Ulnaris und die eventuelle 
Lokalisation des Schmerzes, lassen den Ursprung leicht erkennen. 
Auch fur die differentialdiagnostische Entscheidung, ob die 
Schmerzen funktioneller oder organischer Natur sind, ist die 
Ausbreitung typisch lokalisierter Beschwerden, sowie die Konstanz 
der subjektiven und objektiven Symptomen wichtig. Einen 
Fall von Ulnarislahmung, bei dem differentialdiagnostisch die 
Frage der Hysterie gestreift werden konnte, beschrieb Bellamy. 

Tumoren des Ulnaris konnen ohne jede Funktionsstorung ver- 
laufen; gelegentlich machen sie abermotorisch undsensibelschwc rste 
Ausfallserscheinungen, wahrend subjektiv keine Schmerzen oder 
Parasthesien da sind, auch wenn der Tumor den Nerv komprimiert. 
In der Regel allerdings sind besonders im Anfang Schmerzen 
ein Hauptsymptom. 

Bei Erforschung des atiologischen Moments einer Ulnaris¬ 
lahmung ist es nur dann unmoglich, genau das Trauma, das Toxin 
u. s. w. zu prazisieren, wenn die Parese Folge mehrerer gleichzeitig 
wirkender Einfliisse ist. Besonders bei den Neuritiden sind kom- 
binierte Aetiologien haufig, ohne daB man bestimmen kann, 
wieviel dem einen, wieviel dem anderen Moment zukommt. Die 
Perineuritis macht im Anfang zumindest mehr Reizerscheinungen: 
Schmerzen und schmerzhafte parasthetische Sensationen, sowie 
im Ausbreitungsbezirk des Ulnaris zunachst Hyperasthesie und 
Hyperalgesie, die spater erst den Hypasthesien resp. Hypalgesien 
weichen. 

Bei den seltenen Ulnaris-Neuritiden auf luetischer Basis 
ist auch an die Moglichkeit einer syphilitischen Wurzelneuritis 
zu denken. Nach Nonne sind bei letzterer die Schmerzen furchtbar 
heftig und dauerhaft lanzinierend, bei Erschiitterungen und 
Bewegungen der Wirbelsaule zunehmend, die Paresen sind mehr 
dem segmentaren Typus entsprechend. 


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Singer. Die Ulnarislahmung. 


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Sonstige diagnostische Bedenken und Erwagungen, die sick 
auf die Symptomatoiogie oder Aetiologie der Ulnarisparesen 
beziehen, sind im Text der vorhergehenden Kapitel eingestreut. 

* * 

* 

V. 

Prognose. 

Was Veriauf und Dauer der Uinarislahmungen anbelangt, 
so unterscheiden sick dieselben nickt von anderen peripkeren 
Lahmungen. Immer muB die Voraussage, wenn es sick nickt 
gerade um ganz geringe Kompressionsparesen kandelt, mit gewisser 
Vorsicht gestellt werden, da leickte Lasionen zuweilen schwere 
Lahmungserscheinungen kervorrufen, andererseits die starksten 
und aussicktslosesten Lakmungen gelegentlick nock nack Jakren 
durch therapeutiscke MaBnahmen gebessert werden konnen. 

Die akuten traumatischen (und die seltenen rheumatischen) 
Lahmungen des Ulnaris nekmen meist einen rascken und giinstigen 
Veriauf; jedenfalls einen giinstigeren, als die chronisch-trau- 
matischen, toxiscken und infektiosen Formen, selbst wenn objektiv 
dieselben Grade der La>ion vorliegen. Geht die akute Form 
der traumatischen Lahmung in das chronische Stadium iiber, 
so ist die Prognose, was die Dauer der Erkrankung anbelangt, 
scklecht. Aber nach Jahren noch kann die Restitution eintreten. 

Ist der Nerv durch ein Trauma ganz durchschnitten, so 
ist eine Spontanheilung, wenn iiberhaupt, so erst nach vielen 
Monaten oder Jahren (2 Jahre) zu erwarten; ist zwischen den 
retrahierten Nervenstiimpfen eine Diastase, so ist Heilung nur 
durch ckirurgische Vereinigung moglich. Leichte Lahmungen 
durch Druck, Quetschung, Erschiitterung kommen meist in 
einigen Tagen zur Heilung, trotzen aber dann der Behandlung, 
wenn das Trauma einen durch Blei, Alkohol oder andere Gifte 
bereits geschadigten Nerv getroffen hat. In sehr vielen Fallen 
richtet sich die Prognose nach der Moglichkeit eines friihzeitigen 
chirurgischen Eingriffs; so bei Uinarislahmungen durch einge- 
drungene Knochen- und Glassplitter, bei Drucklahmung durch 
Kallusentwicklung, bei Ulnaris-Luxationen. Selbst bei sehr ver- 
alteten Lahmungen durch Kontinuitatsunterbrechung leistet ge- 
legentlich die chirurgische Behandlung durch Anlegen der 
sekundaren Nervennaht noch gute Dienste. Immerhin bleibt dann 
die Prognose bei vollstandiger Zerquetschung oder Durchschneidung 
des Ulnaris dubios. 

Die Schnittverletzungen des Ulnaris, auch vollstandige Kon- 
tinuitatsunterbrechungen, geben dann eine gute Prognose, wenn 
sofort, primar, die Naht angelegt wird (weiteres iiber die Prognose 
der Naht s. unter Therapie). 

Natiirlich hangt die prognostische Entscheidung, abgesehen 
von der Schwere der Symptome, immer davon ab, ob es gelingt, 
das atiologische Moment zu beseitigen. Daher sind besonders 
die Berufslahmungen ernst zu beurteilen, da dieselbe Schadigung 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Xeurolofifie. Bd. XXX. Heft 6. 33 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


chronisch auf Nerv und Muskel einwirkt, und weil eine dauemde 
Beseitigung auf Schwierigkeiten stoBt. Ebenso die durch Toxine 
verursachten Lahmungen bei Diabetes, Gicht, im Puerperium. 
Hier ist eine Garantie fiir das Zuriickgehen der Lahmung auch 
noch nicht gegeben, wenn die ursachliche Krankheit gebessert 
oder geheilt ist. Wohl deswegen, weil die Gifte schon materielle 
Schadigungen in den Nerven erzeugt haben, laBt die Regeneration 
in diesen Fallen lange vergeblich auf sich warten. Die bei ein- 
maliger akuter Infektion (Typhus u. s. w.) auftretenden Lahmungen 
sind aus demselben Grunde, da die Schadigung nur kurze Zeit 
wahrte, giinstiger zu beurteilen, die Toxamie ist eben eine geringere 
und schneller voriibergehende. Prognostisch schlecht sind auch 
die kachektischen und dyskrasischen (senilen, arteriosklerotischen 
u.s.w.) Neuritiden reap. Polyneuritiden. Vor 4,6 und mehr Monaten 
ist, selbt wenn der Korper wieder gekraftigt ist, bei den in- 
fektiosen, autotoxischen und dyskrasichen Lahmungen an Heilung 
nicht zu denken. 

Bei den durch Syphilis, Blei und andere Gifte verursachten 
Ulnarisparesen ist bei sofortiger Beseitigung des Giftes eine 
baldige Heilung zu erwarten. Sehr oft trifft diese prognostische 
Aussage mit der hygienischen Forderung zusammen (s. oben), den 
Patienten aus seiner bisherigen Tatigkeit zu entfemen. Dasselbe 
gilt, wie schon gesagt, fiir die professionellen Lahmungen. 

Die Luxationen des Ulnaris geben eine gute Prognose. Ent- 
weder sind die Beschwerden so gering, daB ein Eingriff nicht 
erforderlich ist, oder die Reposition laBt sich ohne Operation 
bewerkstelligen. Die Prognose bleibt aber auch bei der Operation 
quoad restitutionem gut (Vertiefen des Sulcus, Nahen des N. an 
die Tricepssehne). 

Ebenso ist die Heilungsprognose der Ulnaristumoren eine 
gute, selbst wenn gelegentlich nach der Resektion und Vemahung 
der Stiimpfe viele Wochen lang sensible und motorische Aus- 
fallserscheinungen zutagetreten (s. unter Therapie). 

Je mehr atiologische Momente bei der Erklarung der Lahmung 
in Betracht kommen, desto ungiinstiger wird die Prognose. Das 
gilt vor allem fiir die alkoholistischen Individuen, bei denen die 
Tendenz zur Heilung bei gleichen Symptomen eine geringere ist. 
Doch habe ich auch hier bei professionellen, chronisch toxischen 
und infektiosen Neuritiden nicht einen einzigen gesehen, bei dem 
nicht wenigstens subjektiv im Laufe von 4—15 Monaten eine 
Besserung erzielt worden ware. 

Was nun die Symptome der Lahmung anbelangt, so gibt 
natiirlich auch der Grad der motorischen Schwache (Parese oder 
Lahmung), sowie in eingeschrankterem' und unzuverlassigerem 
MaBe die sensible Storung einen gewissen Gradmesser fiir die 
Schwere der Lahmung. Aufgehobensein aller Empfindungs- 
qualitaten spricht mit einiger Bestimmtheit fiir vollstandige 
Leitungsunterbrechung, wahrend das Fehlen von Sensibilitats- 
storungen noch nicht die Harmlosigkeit einer Lahmung garantiert; 
sehr schwere Lahmungen zeigen gelegentlich ganz intakte Emp- 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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findung im Gebiete des ladierten Nerven. Die Prognose der 
Sensibilitatsstorungen ist bei der Kompression des Ulnaris eine 
gute, bei der Durchtrennung eine schlechte. 

Das wichtigste symptomatologische Faktum fur die Prognose 
ist bei der Drucklahmung und den Neuritiden des Ulnaris (wie 
bei alien peripheren Nervenerkrankungen) das elektrische Ver- 
halten. KompletteEAR berechtigt dazu, die Prognose auf Heilung 
schlecht, die Prognose auf die Dauer des Leidens sogar sehr schlecht 
zu stellen. Partielle EAR findet sich in dem Gros der mittelschweren 
Neuritiden. Die Prognose dieser Falle ist nicht schlecht; sie 
heilen bei geeigneter Behandlung meist innerhalb einiger Monate. 
Doch kommen Ausnahmen vor. Wenn 3 Wochen nach Beginn 
der Lahmung quahtativ elektrische Veranderungen nicht vorhanden 
sind, so kann man auf einen gutartigen Verlauf und auf definitive 
Heilung rechnen. Selbst wenn die elektrische Erregbarkeit quan- 
titativ etwas herabgesetzt ist, kann man auf Heilung innerhalb 
einiger Wochen oder Monate rechnen. Bei der Frage nach der 
Dauer einer Ulnarislahmung kann man sein Urteil daher ung fahr 
folgendermafien fassen: Ist die elektrische Erregbarkeit in Muskeln 
und Nerv nach Einsetzen der Lahmung unverandert oder nur 
unbedeutend herabgesetzt, so ist die Prognose giinstig zu stellen: 
die Heilung innerhalb 4—6 Wochen ist wahrscheinlich. Ist die 
Herabsetzung quatitativ bedeutend, so tut man gut, den eventuellen 
Heilungstermin nicht zu friih anzugeben; vor 3—5 Monaten 
ist die Heilung nicht zu erwarten. Ein einigermaOen sicheres 
Urteil ist iiberhaupt erst nach der ersten Woche moglich. 

Die Heilung erfolgt schneller, wenn Muskelatrophien iiber- 
haupt noch nicht aufgetreten sind. Die Funktion stellt sich aber 
meist, auch ohne daB das Volumen der Muskulatur wesenthch 
zunimmt, bis zu emem gewissen und nicht unbetrachtlichen 
Grade wieder her. Die leidliche Funktion entspricht dann absolut 
nicht der geringen motorischen Kraft der atrophischen Muskeln. 
Nur die Kontrakturen hindem natiirlich die Beweglichkeit der 
Hande und Finger sehr. Erhcbliche Ausgleichung dtr Atro- 
ph en, Heilung der Kontrakturen ist (auBer durch plast.Bche 
Operat'on) n cht zu erwarten. 

Eine Regeneration ist im allgemeinen kaum mehr zu erwarten, 
wenn ein Jahr nach Beginn der L&hmung vergangen ist. Aber auch 
nach Jahr und Tag kommen vereinzelt noch Besserungen oder 
gar Heilungen vor. 

* * 

* 

VI. 

Therapie. 

Ich beginne mit der Schilderung der elektrischen Methoden 
bei der Behandlung der Ulnarislahmung, weil wir hier ziemlich 
zweifellos ein Mittel haben, das in vielen Fallen peripher r Nerven- 
schadigungen die Tendenz zur Besserung und Heilung an Nerven 
wie an Muskeln verstarkt. Daran darf man auch gegeniib^r den 

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Singer, Die Uinarislahinung. 


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skeptischsten Anschauungen iiber Wesen und Zweck des elek- 
trischen Stromes festhalten. Da dem negativen Pol eine besondere 
erregende Wirkung zukommt, so wird in frischen Fallen 
von Druck- oder Schlaflahmung, bei Inaktivitatsparesen und 
leichten traumatischen Paresen die stabile Galvanisation des 
Nerven mit der Kathode die zweckmaBigste Behandlung sein. 
Man lokalisiert dabei die Kathode (Elektrodenquerschnitt 20 bis 
30 qcm) auf den ladierten Punkt, die Anode auf einen indifferenten 
Punkt oder auf den Plexus brachialis und laBt einige Minuten lang 
einen Strom von durchschnittlich 6 MA (4—8 MA nach Remak) 
durch den Nerv gehen. Man kann mit dieser Methode auch eine 
labile Behandlungsmethode mit der Kathode verbinden; sie 
hat den Vorteil, daB man nach Belieben jeden Teil des Nerven 
oder der zugehorigen Muskeln isoliert durch Bestreichen reizen 
kann. Vom faradischen Strom wird man in nicht veralteten Fallen 
absehen miissen, da die Reizung mit sekundaren Stromen die 
Neigung der atrophischen Muskeln zu Kontrakturen verstarkt. 
1st EAR vorhanden, so verbietet sich bei aufgehobener faradischer 
Erregbarkeit die Anwendung des faradischen Stroms schon von 
selbst. Eher konnte man hier neben den oben geschilderten Be- 
handlungsmethoden im Gebiete der gelahmten Muskeln eine kraftige 
Faradisation der Antagonisten versuchen, um einer etwaigen 
Kontraktur der paretischen Muskeln vorzubeugen. Besteht EAR, 
so empfiehlt sich am meisten die Reizung der gelahmten Muskeln 
mit Unterbrechungen, und zwar entsprechend der Zuckungs- 
formel (ASZ > KSZ) mittels der Anode. In ganz alten Fallen 
kann auch die faradische resp. galvanisch-faradische Behandlung 
noch Dienste leisten. Von sehr starken Stromen soli man aber, be- 
sonders im Beginn der Lahmung, stets absehen. 

In frischen Fallen von Ulnaris-Neuritis ist von elektrischen 
Methoden die Behandlung mit schwachen galvanischen Stromen, 
die langsam ein- und ausschleichen, empfehlenswert. Und zwar 
elektrisiert man (wie schon R. Remak lehrte), um jede Reizwirkung 
auszuschlieBen, mit der Anode stabil, wenige Minuten lang, weil 
dem positiven Pol wahrscheinlich eine beruhigende und sicher 
eine schmerzstillende Wirkung zukommt. Man setzt die Anode 
auf einen bei Druck schmerzhaften Nervenpunkt und die Kathode 
entweder indifferent auf die Muskulatur oder aut nicht empfindliche 
Nerventeile. Bei subakut oder chronisch verlaufenden Neuritiden 
ist auch, wenn der Schmerz verschwunden ist, die Anwendung 
der Kathode an den friiheren Schmerzstellen oder Anschwellungen 
des Nerven, zuweilen labile galvanische Behandlung angezeigt. 
Ist EAR nicht vorhanden, so ist bei inveterierten Neuritiden 
auch der faradische Strom am Platze. 

In spaten Stadien der Lahmung verbindet man mit der 
Elektrizitat eine systematische Massage der gelahmten Muskeln 
und Gymnastik in Form von Widerstandsbewegungen. Durch 
letztere wird der Ausbildung von Kontrakturen und Gelenk- 
steifigkeiten vorgebeugt. Die Massage soil in Streichen (effleurage), 
Knoten (petrissage) und Klopfen (vibration) der Muskulatur 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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bestehen. Alle diese Methoden befordern die Blutzirkulation im 
Muskel, bekampfen die Atrophie und regen die Muskeltatigkeit 
an. Von einer Massage des geschadigten Nerven selbst soil man 
besser absehcn; bei den Neuralgien des Ulnaris ist aber die 
Massage des Ulnaris gelegentlich mit Erfolg versncht und empfohlen 
worden (Bregman). 

Bei traumatischer Ldhmung des Ulnaris ist zur Heilung 
erste Bedingung die Buhigstellung des Arms in einer Lage, 
welche den Ulnaris nicht zerrt oder dehnt, am besten also 
in Streckstellung. Ein leichter Verband wird gelegentlich 
niitzlich sein, festere Verbande sind deswegen zu vermeiden, 
weil sie zu leicht den Nerv und die geschadigte Muskulatur kom- 
primieren konnen. Kann man durch die Untersuchung oder durch 
das Rontgenbildfeststellen, daO eineQuetschung, Kompression oder 
Kontusion des Ulnaris bedingt ist durch Knochenstiicke, etwa 
bei einer Kondylenfraktur, so ist das souverane Mittel zur Heilung 
die chirurgische Entfemung der belastenden Fragmente und 
die Freilegung des Nerven, eventuell unter Fixation der Rnochen- 
stiicke. Natiirlich miissen auch sonst alle den Nerv kom- 
primierenden Fremdkorper, wie Glassplitter, Schrotkugeln, Holz- 
stiickchen chirurgisch entfemt werden, wenn durch sie die 
Lahmungssymptome bedingt sind. (Auch durch Traumen ent- 
standene Blutergiisse miissen gelegentlich eroffnet werden). Bei 
aseptischem Operieren ist das Freilegen des Kanals und die Ent¬ 
femung der Fremdkorper ungefahrlich. 

Bei der Luxation des Ulnaris ist zuweilen ein fixierender 
Verband nach Reposition des Nerven geniigender Schutz 
gegen weitere Luxationen. In regelmaBig wiederkehrenden 
Fallen niitzt er nichts mehr; es kann, wenn Schmerzen 
oder Ausfallserscheinungen dazu Anlafi geben, die chirurgische 
Fixation unter Vertiefung des Sulcus ulnaris vorgenommen 
werden. Sehr haufig kommt unter dieser Behandlung die 
habituelle Luxation zum Stillstand, zumal auch die Operations- 
narbe den Nerv ein wenig fixiert. Ein noch sichereres Ver 
fahren ist das Annahen des Ulnaris an die Tricepssehne. Da 
gerade durch das Vorspringen der Tricepssehne die Gelegenheit 
zur Luxation gegeben ist, so wird mit dieser Methode ein wichtiges 
Moment fur das Zustandekommen derselben unterbunden. 

Bei frischen Fallen von Ulnarisdurchschneidung ist die 
Nervennaht das beste Mittel zur schnellen Heilung der Lahmung. 
Die Prognose ist bei aseptischer Behandlung sehr gut, wenn die 
Vereinigung der Stiimpfe sofort erfolgt. Bei unvollstandiger 
Kontinuitatstrennung tritt zwar Regeneration meist von salbst 
ein; man beschleunigt aber die Heilung, die 1—20 Monate, im 
Durchschnitt etwa 6 Monate in Anspruch nimmt, wenn man auch 
hier die Naht anlegt. Um Verwachsungen des Ulnaris mit Sehnen 
und Faszien zu verhuten, empfiehlt Sherren Umwicklung mit 
einem Stuck Cargile’scher Membran. In etwa */ 3 aller Falle bringt 
die primare Naht Besserung oder Heilung. Gerade bei dem in 
der Achselhohle, am Ellbogen und an der Hand so leicht zugang- 


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Singer, Die Uinarislahmung. 


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lichen Ulnaris sind die operativen Eingriffe daher auch schon 
sehr friihzeitig mit Erfolg ausgefiihrt worden. Spitzy hat neuer- 
dings von zirka 70 Hdlerfolgen gesprochen; die Falle von Ulnaris- 
naht, die Sherren beobachtete und behandelte, waren samtlich 
nach 2 Jahren vollkommen geheilt. Die erste primare Nervennaht 
haben wohl Langier und Nelaton (1864) angelegt. In der statistischen 
Zusammenstellung der primaren Nahte findet sich bei LemkelSlQ 
schon 3 mal der Ulnaris allein, 4 mal gemeinsam mit anderen 
Nerven. Von Kraufiold wurden dann im Jahre 1878 noch 2 Falle 
von primarer Ulnarisnaht publiziert. In den 80iger Jahren mehrten 
sich schon die Falle, die Heilungen wurden haufiger. Nur ganz 
selten bleibt jede Spur von Besserung sensibler und motorischer 
Lahmung, nach der primaren Naht so vollkommen ^tus wie in 
dem Fall Bernhardt-Treibel 1881. DaB zuerst die sensible Leitung 
sich wiederherstellt, habe ich bereits friiher erwahnt. In einem 
Fall von Ulnarisnaht meiner eigenen Beobachtung wurden 6 Monate 
nach der Operation leise und mittelstarke Beriihrungen nicht 
gefiihlt, sehr starke regelmaBig in Fehlergrenzen von 4—7 cm 
falsch lokalisiert. Auch nach Monaten und Jahren ist es noch 
moglich, die Nervenenden durch die sekundare Nervennaht 
zu vereinigen und dadurch Besserung oder Heilung selbst bei 
ganz verzweifelten Lahmungen zu erzielen. Sie ist deswegen 
schwieriger, weil die Stiimpfe sich retrahiert haben und das 
zwischenliegende Bindegewebe die Orientierung erschwert. Auch 
verhindern Narbengewebe und Amputationsneurome es zuweilen, 
daB die Nervenfasern sich normal regenerieren, sodaB dieselben 
vor Anlegung der Naht erst exzidiert werden miissen. Am Ulnaris 
hat wohl die sekundare Naht zuerst Braun mit Erfolg angelegt 
(1876 in Simons Kiinik). Am Ischiadikus hatte sie 2 Jahre 
vorher Langenbeck schon gemacht. Ihm nachzuahmen scheuten 
sich die damaligen Chirurgen lange aus Furcht vor dem Tetanus! 
Ob die Naht durch die Nervensubstanz selbst oder durch das urn- 
gebende Bindegewebe gelegt werden soil, das zu entscheiden steht 
dem Chirurgen zu. Die Gefahr eine Neuritis zu erzeugen ist bei 
der letzteren Methode (der paraneurotischen Naht) geringer. AuBer 
der Naht sind bei peripheren Nerven zum Ausgleich des Defekts 
noch andere Methoden angegeben worden, die ich, da sie mehr 
chirurgisches Interresse bieten, hier bloB streifen will. Natiirlich 
hat auch das Decken von Nervendefekten durch die Naht seine 
Grenzen, und im allgemeinen wird man Diastasen von mehr 
als 1—2 cm nicht mehr durch einfache Naht ausgleichen konnen. 
Hierzu tritt dann die Dehnung des Nerven, die Nervenplastik 
und die Nerventransplantation resp. die ,,greffe nerveuse“. Alle 
diese Verfahren sind sehr oft, und zwar zuerst an den Nerven der 
oberen Extremitaten, speziell Ulnaris und Medianus erprobt worden. 
Die Dehnung gestattet eine Annaherung der Stiimpfe auf nicht mehr 
als 1 cm; dabei besteht die Gefahr, eine Neuritis zu erzeugen. 
Nur historischen Wert haben die Versuche (und angeblichen 
Erfolge) von Auerbach , Linth u. A., mittelst der Dehnung des 


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Singer, Die Ulnarisl&hmung. 


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Ulnaris und Medianua das Zittern der Paralysis agitans zu 
bekampfen. Die Nervenplastik wurde zuerst von Letievant (aller- 
dings ohne Erfolg) am Ulnaris ausgefiihrt. Die Methode besteht 
im Vernahen zweier gestielter Nervenlappchen, die aus dem 
zentralen und peripheren Stumpf gebildet sind (,,Autoplasie 
nerveuse a lambeaux nach Letievant). Sie wird relativ oft ange- 
wandt. Tillmanns bat einen Defekt von 4% cm im Ulnaris so 
gedeckt und die Funktion im Nerven wiederhergestellt. Die 
Nerventransplantation (Einschalten eines fremden Nervenstiicks 
in die Liicke des ladiertep) verspricht weniger Erfolg. Ein 10 cm 
langes Stiick des N. tibial. post., das Albert in den Defekt des 
Ulnaris einpflanzte, wurde nekrotisch ausgestoBen. Oefter aus- 
gefiihrt und zweckmaBiger befunden wurde die ,,greffe nerveuse", 
bei der ein Lappen eines gesunden Nerven an das angefrischte distale 
Ende des verletzten Nerven implantiert wird. Dem Ulnaris kommt 
bierbei natiirlich die benachbarte Lage des Medianus sehr giinstig 
zustatten. Auch die Implantation von Tternerven ist befiirwortet 
worden. Bei den sogenannten ,,Spdtlahmungen“ des Ulnaris, 
wie sie durch alte Ellenbogenentziindungen oder durch Frakturen 
mit konsekutiver Kalluswucherung zustande kommen, kann das 
Herauslosen des Nerven aus komprimierenden Verwachsungen 
(Neurolyse) notwendig und mit Nutzen angewandt werden. 
Sicher dann, wenn die konservative Therapie in Jahren zu keinem 
Erfolg fiihrt. Oppenheim warnt vor groBer Eile, da gelegentlich 
auch nach sehr langer Zeit noch Heilung durch Elektrizitat, Massage, 
HeiBluftbehandlung zustande kommt. Die Neurolyse bietet aber 
jedenfalls auch noch in sehr veralteten Fallen einige Chancen 
auf Heilung oder Besserung, wenn auch erst nach Monaten unter 
Beihiilfe der anderen, konservativen Methoden. Zu erklaren sind 
diese therapeutischen Erfolge wohl nur, wenn angenommen 
wird, daB die Achsenzylinder durch die Kompression nicht zu 
vollstandigem Untergang gebracht wurden. 

Wie bei der Neurolyse ist auch nach der Nervennaht die 
elektrische Behandlung weiter fortzusetzen. Die Ansicht Barden- 
heuer's, daB man den Nerv schon freilegen soil, wenn 14—20 Tage 
Lahmung mit EAR besteht, ist vom neurologischen Standpunkt 
aus nicht zu teilen, dahier bei geeigneter konservativer Behandlung 
noch sehr wohl Heilungen erzielt werden konnen. Die kongenitalen 
oder durch Trauma, Quetschung etc. entstandenen Geschtviilste 
des Ulnaris wird man dann exstirpieren, wenn sie nicht symptomlos 
verlaufen. Zwingend ist die Operation nur bei unertraglichen 
Schmerzen und bei sicher nachgewiesener Malignitat des Tumors 
(Probeschnitt!) Die Operation kann entweder in der Exstirpation 
der Geschwulst mit Erhaltung des Nerven oder in der Exstirpation 
mit Resektion des anhaftenden Nervenstiicks bestehen. Im 
letzteren Fall kann man den Defekt sofort durch die Naht schlieBen. 
Bruns sah dabei vollstandige Restitution der Ulnarisfunktion 
ohne Rezidiv (Sarkom). Wenn die Geschwulst dem Ulnaris ansitzt, 
ist die Operation einfach; ebenso, wenn die Geschwulstmasse 


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5l0 Singer, Die Ulnarisl&hmung. 

den Nerv umhullt und eine Enukleation gestattet. 1st der Nersr 
vollstandig aufgesplittert, so muB der kranke Teil reseziert werden. 
Immer natiirlich bei malignen Geschwiilsten, wo auch im Gesunden 
noch Nervenmasse entfernt werden soil. Gegen unertragliche 
Schmerzen kann auch die Diszision des Nerven, zentrai von 
der Geschwulst vorgenommen werden. Neuralgische Schmerzen 
im Ulnaris konnen, wenn die interne, elektrische und Injektions- 
therapie resultatlos verlauft, gelegentlich zur operativen Nerven- 
dehnung Veranlassung geben. Meist schwinden dann die neu- 
ralgischen Schmerzen und die Hyperasthesie im Hautausbreitungs- 
gebiet dauernd (Heilungen beschrieben von Vogt . Morton , Schutter , 
Nicoladoni , Henle ; u. A. Pazeller wandte unblutige Dehnung 
an. Heath will bei einem Tetanuskranken nach Ulnarisdehnung 
die Zuckungen haben geringer werden sehen, doch starb der 
Patient einen Tag spater. Ober Erfolge der Ulnarisdehnung 
bei Lepra anasthetica berichteten Lawrie, Wallace , Bromford . 
Nach der Operation gingen Anasthesie und Verfarbung des Armes 
zuruck, Sensibilitat und Motilitat besserten sich. 

Die Folgeerscheinnngen der Geschwulstoperation konnen niannigfach 
sein. Wvlzer und Billroth sahen nach Geschwulstexstirpation und Resektion 
erhebliche Verschl immer ung der vorher bestehenden motorischen und sen- 
siblen Erscheinungen. Bei Laforgue war die Sensibilitat voriibergehend, 
die Motilitat dauernd gestort. In 4 Fallen der Courvoisierschen Zusammen- 
• stellung wurde die Beweglichkeit wieder normal, die Empfindung blieb 
dauernd schlecht. Der Fall Cheselden erinnert geradezu an den in jlingerer 
Zeit bekannt gewordenen Fall Goldmann (s. oben). Auch hier war jede 
motorische Ausfallserscheinung fortgeblieben, trotz Resektion des Ulnaris! 
Im Falle Jestop war 2— 3 Wochen nach der Exzision die Sensibilitat wieder 
vollstandig intakt, die Motilitat gebessert. 

Die Behandlung der nicht traumatischen, infektiosen Ulnaris - 
Neuritis erfordert ebenfalls zunachst Ruhigstellung des Arms, 
eventuell unter Anlegung eines immobilisierenden, nicht driickenden 
Verbands (gepolsterte Schienen). Bei rheumatischen und infek¬ 
tiosen Neuritiden ist ein diaphoretisches Verfahren im Beginn 
angezeigt, wenn der Patient nicht zu schwach ist: trockne Ein- 
packung, innerlich Salizyl, Ableitung auf den Darm durch ein 
Laxans. Auch lokale HeiBluftbader, heiBe Sandsacke, Kataplasmen, 
Blutegel in der Nahe schmerzhafter Partien wirken gunstig. 
Besonders haben uns auch lokale, heiBe Dampfduschen sehr gute 
Dienste geleistet. Meist wird man ohne schmerzstillende, interne 
Mittel nicht ganz auskommen. (Salizyl, Aspirin, Salipyrin, Pyra- 
midon, Pantopon u. s. w.). Bei der chronischen Ulnaris-Neuritis ist 
besonders die elektrische Behandlung angezeigt (s. oben); daneben 
Massage, spirituose Einreibungen, Einreibungen mit grauer Salbe, 
mit Ichthyol-Vaselin, in schmerzhaften Fallen mit Kokainsalbe, 
oder Injektionen mit Schleichscher Losung, Injektionen mit 
Antipyrinlosungen. 

Auf die Eruierung und die Entfernung atiologischer Momente 
(Blei, Alkohol usw.) ist groBtesGewicht zu legen. Bei professionellen 
Lahmungen ist der Beruf zu wechseln oder die Arbeit fur lange 


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Singer, Die Ulnarifllahmung. 


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Zeit auszusetzen. Bei der Schwierigkeit, diese soziale Bedingung 
zu erfiillen, sind auch die Erfolge natiirlich nicht allzu treffliche. 
Sehr oft aber geniigt schon das Aussetzen der Arbeit, um eine 
Besserung zu garantieren. Bei Potatoren muB, auch wenn die 
letzte Ursache der Lahmung ein anderes Moment ist, auf Ent- 
ziehung des Alkohols gedrungen werden. 

Ist Syphilis als Ursache der Ulnaris-Neuritis im Verdacht 
oder ein Gumma im Nervenstamm wahrscheinlich, so muB eine 
antiluetische Kur eingeleitet werden; Jod wird auch bei nicht 
spezifischer Neuritis empfohlen. Die septische Neuritis erfordert 
chirurgisch Freilegung des Nerven, eventuell Incisionen und Des- 
infektion mit Jodoformgaze. Bei den durch konstitutionelle 
Anomalien hervorgerufenen Neuritiden (Diabetes, Gicht) ist 
die Verordnung entsprechender Diat erforderlich. 

In alten Fallen kann die Neurolysis, die Loslosung des Ulnaris 
von Verwachsungen und die Befreiung von komprimierenden 
Narben Besserung schaffen. Sie tut das auch noch in verzweifelten 
Fallen. 

Die Muskelatrophien und Kontrakturen werden durch 
Massage, durch aktive und passive Gymnastik bekampft. In 
chronischen Fallen hat sich uns haufig die aktive Gymnastik 
im faradischen Handbad bewahrt. 

Zur Korrektur der ,,mainen griffe“ hat Duchenne einen Apparat 
angegeben (Electris. local. S. 847 mit Abbildung). Man kann 
im Beginn einer Kontrakturbildung versuchen, die Stellungs- 
anomalie durch Festbinden und Uberkorrigieren der Finger 
auszugleichen. 

Man hat in jiingster Zeit auch angefangen. veraltete Neuritiden 
mit Radiogen-Injektionen zu behandeln. Doch fehlen hieriiber 
noch ausreichende Erfahrungen. Angeblich sollen die Schmerzen 
danach gelinder werden. Die Schmerzen verlangen im iibrigen 
noch besondere Behandlung. Ohne innere Mittel, besonders 
Salizylpraparate, kann man nicht auskommen. Die als spezifisch 
empfohlenen Mittel Arsen und Strychnin sind als vollig unsicher 
zu verwerfen. Eisblase auf die schmerzenden Partieen, feucht- 
kalte Umschlage, besser noch PrieBnitzumschlage und heiBe 
Einpackungen werden gut vertragen und als schmerzlindernd 
in dem einen oder anderen Fall geriihmt. Auch Injektionen von 
Alkohol haben sich bewahrt. 

Die beste Therapie gegeniiber den Lahmungen, besonders 
auch den infektiosen Neuritiden ist die Prophylaxe. Fiir die 
Schnelligkeit und Giite der Regeneration ist der Ernahrungs- 
zustand des Patienten mitentscheidend. Einer Schwache oder 
Kachexie (bei fieberhaften Erkrankungen u. s. w.) arbeitet man 
durch Uberernahrung entgegen, mit Bevorzugung fettreicher 
Kost. 

Ist der Nerv nach alten Operationen in Narbengewebe einge- 
bettet, das eine neue Operation notwendig machen konnte, so 
ist vorher ein Versuch mit Einspritzungen von Thiosinamin 


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512 Singer, Die Uinarislahmung. 

wohl anzuraten. Injiziert wird unmittelbar in das Narbengewebe. 
Analog den Erfolgen bei anderen persistierenden, durch Kompres- 
sion schadlichen fibrosen Massen ist auch bei der durch Narbenzug 
veranlaBten Uinarislahmung eine Besserung durch Thiosinamin 
zu erwarten. Auch die lastigen Kontrakturzustande konnen in 
etwas dadurch gelindert werden. 


Es ist mir eine ehrenvolle und angenehme Pflicht, am 
SchluB meiner Arbeit Herrn Geheimrat Ziehen fiir die Ueber- 
lassung des gesamten klinischen und pol klinischen Materials, 
sowie fiir seine stets anregenden und fordernden Ratschlage 
herzlichst zu danken. 


1. 

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33. 

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36. 

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38. 

39. 

40. 

41. 

42. 


Aetiologie der Ulnaris-Lahmungen eigener Beobachtung. 

Fall auf den linken Unterarm. 

Schufi in den linken Unterarm. 

Schnitt mit Glasscheibe an der inneren Ellenbeuge. 

Fall in Scherben; Wunde oberhalb des Handgelenks. 
Messerstich in die Ellenbeuge. 

Messerstich liber dem rechten Ellenbogen. 

Sabelhieb am rechten Vorderarm. 

Sabelhieb am rechten Vorderarm. 

Wiederholter Schlag gegen den Ellenbogen. 

Messerstich in die linke Hohlhand. 

Glassplitter oberhalb des Handgelenks. 

Operation an der Langsseite der Hand. 

Fraktur des rechten Oberarms und Luxation des Radius. 
V orderarmbruch. 

Schlaflahmung bei einem Tabiker. 

Schlaflahmung. 

Fraktur des Ellbogens vor 23 Jahren. 

Fraktur des linken Armes vor 40 Jahren. 

Fraktur des linken Armes vor 18 Jahren. 

Cyste des linken Ulnaris. 

Traumat. U.-Neuritis durch Fall auf die Hand. 

Traumat. U.-Neuritis durch Kompress. d. Hand. 

Traumat. U.-Neuritis durch StoB an den Ellenbogen. 
Aether ( ?)-Injektion in der Gegend d. Sulc. uln. 

Alte Wunde an der Hand. 

Erkaltung ( ?) 

Abort mit leichtem Fieber. 

Alkoholismus (doppelseitige Neuritis). 

Alkoholismus; beginnendes Delirium. 

Nikotin-Abusus. 

Arthritis urica. 

Normale Geburt. 

Berufslahmimg: Schneiderin. 

,, Naherin. 

,. Schneiderin. 

,, Schuster. 

,. Zettelkleber, Handstampfer, Stellmacher. 

Buchbinder. 

Mechaniker. 

Luetische Neuritis. 

Luetische Perineuritis. 

Arteriosklero.se ? Berufs-Xeurit. ? Cu ? 


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Singer, Die Ulnarislahmung. 


513 


43. U. -f- M — Neuritis: SchrotschuB in den Ellenbogen. 

44. U. + M = Neuritis: Eitrige Lymphangitis. 

45. U. -j-M = Neuritis: Narbenzug und Kallusdruok. 

46. IT. -j" M — Neuritis: Verletzung der Hand. 

47. Syringomvelie. 

48. Tabes. 

49. Tabes. 

Literature Verzeichnis . 

Haupt-Abkiirzungen. 

N. Z. = Neurolog. Zentralblatt. 

Mon. f. Psych, u. Neur. = Monatssohrift fiir Psychiatrie und Neurologie. 

D. Z. f. N. = Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. 

A. f. Ps. = Archiv fiir Psychiatrie. 

A. f. kl. Ch. = Arch. f. klinische Chirurgie. 

D. m. W. = Deutsche medizinische Wochenschrift. 

M. m. W. — Miincliener medizinische Wochenschrift. 

B. kl. W. = Berliner klinische Wochenschrift. 

W. m. W. = Wiener medizinische Wochenschrift. 

I. Lehrbiicher und Gesamt- Darstellunyen. 

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Wien 1904. — Derselbe. Deutsche Klinik am Eingang des XX. Jahrhunderts, 
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Berlin 1876. — Eidenburg , Lehrbuch der Nervenkrankheiten, Berlin 1878. 
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lichen Armes. Jena 1908. — Friedlander. Ueber den EinfluO des Typh. abd. 
auf das Nervensystem. Berlin 1901. — Goldscheider, (s. Leyden). — Gowers . 
Handbuch der Nervenkrankheiten (deutsch von Grube), Bonn 1892. — 
Hof fa. Die Orthopadie im Dienste der Nervenheilkunde, 1900. — Kolliker . 
Die Chirurgie im Dienste des Nerven-Systerns, Handbuch von Ebstein - 
Schwalbe . Bd. IV, 1900 und Deutsche Chirurgie, Lfg. 246. — Letievant . Traits 
des sections nerve uses, Paris 1873. — Leyden-Goldscheider. Erkrankungen des 
Riickenmarks und der Med. obi., Wien 1896 (Nothn. Handb. Bd. X). — 
Nonne. Syphilis des Nervensystems, Berlin 1909. — Laudenheimer, Die 
Schwefelkohlenstoff-Vergiftung. Leipzig 1899. — Oppenheim, Lehrbuch der 
Nervenkrankheiten, Berin 1908. — Ramon y Cajal, Studien liber Nerven- 
Regeneration, Leipzig 1908. — Rauber-Kopsch, Lehrbuch der Anatomie 
des Menschen, Abt. V, Nervensystem 1909. — Remak-Flatau, Neuritis 
und Polyneuritis, Nothnagels Handbuch, Bd. XI, 6. — Remak, Kapitel 
Neuritis in Eulenburgs Real-Enzyklopadie. — Derselbe, Kapitel Be- 
sch&ftigungs-Neurosen in Eulenburgs Realenzyklopadie. Derselbe, Elektro- 
therapie in Eulenburgs Realenzyklopadie. — Derselbe, Elektrodiagnostik 
und Elektrotherapie. — Seeligmuller , Lehrbuch der Krankheiten des 
Riickenmarks und Gehims, Braunschweig 1887. — Wichmann, Riicken- 
marks-Nerven und ihre Segmentbeziige, Berlin 1900. 

II. A bhandlungen und Kasuistik. 

Achard , Note sur les lesions des nerfs dans le t^tanos, Arch de m6d. exp6rim. 
1892, S. 836.;— Addicks , Beitrage zur Kasuistik der Nerven-SchuB-Ver- 
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Inaug.-Dissert., Batavia 1878. — Aldrich , The americ. Joum. of Obstetr. 
1902, Nr. II. — Auerbach , Deutsche med. Woch., 1882, Nr. 3. — Auerbach- 
Brodnitz, Beitr. zur Nervenchirurgie, Mitt, aus d. Grenzgeb. d. Chir. und 
inn. Medizin, Bd. XXI, S. 573. — Auchi , Des n6vrit. periph. chez les can- 
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Singer, Die Ulnarislahmung. 


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1881, Nr. 46, — Bernhardt , Ueber Franklinsche oder Spannungsstrome 
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Vortr.. 1892, Nr. 41. — Derselbe, Kurze Mitteilung iiber einen Fall von 
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Ueber Neuritis puerperalis, Dtsch. med. Woch., 1894, Nr. 50, S. 935. — 
Derselbe, Beit rag zur Pathologic der Bleilahmungen, Berl. klin. Woch.. 
1900, Nr. 2. — Derselbe. Neuropathologische Beobachtungen, Salkowski- 
Festschrift, Berlin 1904. — Ueber einige seltener vorkommende peripheren 
Lahmungen, Berl. klin. Woch., 1904. Nr. 10, S. 237. — Derselbe. Ueber 
einige seltener vorkommende per. Lahmungen, B. kl. W., 1905, Nr. 18. 
S. 525. — Derselbe, Lahmung des Med. + tin. nach Vorderarmbruch und 
Spatlahinung des Uln. nach Fraktur im Ellbogen. D. m. W., 1908. S. 2291. 
Bernhardt — Zondek , Zur Pathologic der Med. und Uln.-Lahm.. Med. Klin.. 

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1851, S. 435. — Bloch , Traumatische Neurit, einzelner Zweige des Plex. 
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Nr. 3. — Bomford. Lancet 1891, I. — Bossuet . M£m. Soc. m6d. chir. 
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Ulnaris und Unfall, Mon. f. Unfallheilk. 1911. Nr. 1. — Braun. Neuro- 
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Lahm. des linken N. uln. durch Druck am Ellbogen bei einem Xylographen. 
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(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Koniglichen Charite. 

[Direktor: Geh. Med. Rat Prof. Dr. Ziehen.]) 

Assoziationsvorgange bei Defektpsyehosen. 

Von 

Dr. med. MAX ROHDE, 

Oberarzt im 7. Rheinisohen Infanterie-Regriment No. 69, 
kommandiert zur Heilst&tte fllr Nervenkranke Haua Schdnow in Zehlondorf. 

(SchluO.) 

Dasselbe tritt nun in verstarktem MaBe in dem Protokoll einer 
der von mir untersuchten 

funktionellen Psychosen 

ohne Defekt, einer Melancholie hervor, indessen ist hier die Ursache 
eine ganz andere. Bei der Paralyse Hei. war diese Reaktionsweise 
ein AusfluB des Schwachsinns, der Gedankenarmut, hier bei dieser 
Melancholie ist es ein AusfluB des — Berufs. Dieser 35 jahrige 
Lehrer Wo. liefert demnach bei auBerlich ahnlicher Reaktionsform 
doch im Grande ganz andere Reaktionen. Es ist eine in der Heilung 
begriffene Melancholie mit zahlreichen vorwiegend hypochon- 
drischen Wahnideen. Er geht nun vielfach, besonders im Anfang 
der Reaktionsliste, iiber zu der oberflachlichen bequemen Reaktions¬ 
form, sagt aber bei der AnschluBfrage auch gleich: „Ioh meine es 

Monatssohrift f. Psychiatric u. Nouroiogie. Bd. XXX. Heft 6. 34 


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520 Rohde, Assozmtionsvorgange bei Defektpsychosen. 

bloB grammatikalisch.“ Hinter dieser oberflachlichen Form ver- 
birgt er nun haufig diese hypochondrischen Ideen. Er reagierte im 
allgemeinen gut, und so konnte man schon bis zu einem gewissen 
Grade hinter dieser grammatikalischen Einkleidung etwas Tieferes 
vermuten. Die Krankheitsbefurchtungen treten auch sonst hervor, 
so z. B. in 

No. 24. Schmerzhaft — 3,3“ — Die Stiche, die ich habe, sind 
schmerzhaft. Sie zeigen sich auch in 

No. 7. Tanzen — 1,3" — Tanzen bereitet vielen Leuten Ver- 
gniigen. Er gibt namlich bei der AnschluBfrage an: Ich hatte nie 
Gelegenheit dazu. Ich habe auch immer solche Angst vor dem 
Schwitzen. 

Es spielt hierbei wieder, wie er dann selbst zugab, die Furcht 
vor Tuberkulose mit. Er hatte in einem Buche von den Nacht- 
schweiBen der Phthisiker gelesen, das hatte ihn beunruhigt, be- 
unruhigte ihn auch noch, und diese Furcht trat bei dem doch 
eigentlich einer ganz anderen Stimmungslage zugehorenden Reiz- 
wort ,,tanzen “ hervor. 

Sein Beruf und sein Hangen daran driicken auBerlich die 
Reaktionen herab. Er geht meist iiber in die grammatikalische 
Form, oft der Erklarung, und sagt selbst: ,,Mir ist etwas Unbe- 
stimmtes zuwider. Ich mache immer einen ganzen Satz, verlangte 
es ja auch von den Kindern in der Schule.“ So bekommt die 
Reaktionsliste einen knabenhaften kindlichen Anstrich. Aber es 
bergen sich trotz der Zielvorstellung ,,Ganzer Satz“ hinter den 
durch dieselbe beeinfluBten Reaktionen gute Assoziationen. Gerade 
in derartigen Fallen ist meines Erachtens die AnschluBfrage uner- 
laBlich. Entsprechend der zweiten Zielvorstellung aber ,,Mir ist 
Unbestimmtes zu wider" liefert er fast durchweg bei Reaktions- 
zeiten, die nicht iiber 9,1“ hinausgehen, Individualassoziationen. 
Die relative Kiirze der Reaktionszeit zusammen mit dem Vorhanden- 
sein einer derartigen Zielvorstellung — ich sage zunachst: gleichgiiltig 
welcher Art dieselbe ist — beweist mir aber, daB der Kranldieits- 
prozeB abheilt, was ja in der Tat der Fall war. Weiter beweist aber 
auch das Protokoll Wo., daB bei der richtigen Bewertung solcher 
Assoziationsversuche sehr vieles mit in Riicksicht gezogen werden 
muB, denn ohne AnschluBfrage und ohne Beriicksichtigung des 
Berufes konnte man hier leicht aus dem Protokoll allein einen 
Schwachsinn diagnostizieren, da dies ja ahnlich ist wie das des 
epileptischen Schwachsinns Greg. (cf. dort). Zu Zeiten der Hohe 
der Krankheit ist keine Zielvorstellung da, was die Assoziations¬ 
versuche als solche anbetrifft; das ,,meine Siinde, meine Krankheit u 
ist das Dominierende, das nichts anderes aufkommen laBt und teils 
zur Unterdriickung von Assoziationen, zum anderen Teil zu ganz 
flachem, oberflachlichem Assoziationstyp fiihrt. Es gilt dann 
meines Erachtens das, was Jung bei einem speziellen Fall von 
Hysteric hervorhebt; ,,Sie ist von ihrer Krankheit so in Anspruch 
genommen, daB sie die Bedeutung des Reizw6rtes kaum an sich 
herankommeu laBt; sie begniigt sich in der Mehrzahl der Falle ein- 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 521 

fach mit der Auffassung der auBeren Wortform und ihre in- 
tellektuelle Leistung beschrankt sich darauf, eine gelaufige Ver- 
bindung zum Reizwort zu finden. Sie hort nur mit halbem Ohr 
und laBt die Reizworte so ziemlich an sich abgleiten, das geringe 
MaB der Selbstbeherrschung sinkt von Zeit zu Zeit ganz auf Null 
(Fehler), und zwar nicht selten da, wo eine gelaufige Wortverbindung 
nicht gerade auf der Oberflache liegt; haufig tritt dies auch da ein, 
wo das Reizwort gefiihlsbetonte Zusammenhange geweckt hat.“ 
Beim AbflaueneinessolchenProzesses — also wie ich meine z. B. jeder 
Melancholie mit dem dominierenden Versiindigungs- und Kleinheits- 
komplex wahrend desHeilvorganges, wer n der pathologic ch eKomplex 
wieder zuriickgedrangt wird, zum Teil auch schon ist, treten diese 
Hemmungen zuriick; zwar ist, wie bei Wo., noch der Krankheits- 
komplex da, ja, er tritt noch selbst bei Reizworten positiver 
Stimmungslage hervor. wie z. B. bei ,,tanzen“ (cf. oben), aber es 
machtsichnebenderpathologicchenZielvor tellung schon eine andere 
nicht pathologhche gelteiid, die bei Wo. in ihrer Art (,,Ganzen 
Satz u. s. w.“) zwar an sich auch wenig giinstig ist, um in die 
Psyche einzudringen, aber es ist doch bereits eine normale Ziel- 
vorstellung da. So ist es in der Heilung. Die Heilung ist nun aber 
noch nicht so weit vorgeschritten, daB die motorische Hemmung 
vollig fort ist, vielmehr ist die sprachliche Innervat on noch nicht 
ganz frei, er kann sich noch nicht so recht ausdriicken, wie er will: 
Es resultiert daraus eine gewisse Schwerfalligkeit, die erst durch die 
AnschluBfrage iiberwunden werden muB. 

Ich hebe hervor: 

No. 19. Arcnut — 2,3" Arimit herrscht viei in der Welt. A. B.: 
a ns Elend der GroBstadt gedacht. 

No. 17. Rot — 4" — rot ist eine Farbe (an das Rot in der Fahne ge- 
daeht. ,,Ich wollte schon sagen: schwarz-weiB-rot ist die Nationalfahne“). 

Bei der Wiederholung des Reizwortes No. 32 liefert er auch: 

Rot — 3,1“ — rote Farbe, aber: gedacht an bekannte Farberfamilie, 
die speziell Wollstoffe mit Anilin farbt. 

So reagiert er eigentlich beide Male ganz anders, er sagt aber 
dasselbe: rot ist eine Farbe. Und dies Wiedereinschlagen der alten, 
schon einmal soeben befahrenen motorischen Bahn bei eigentlich 
anders erfolgter Reaktion ist wohl noch ein Rest der sprachlichen 
Hemmung. 

Von den rein grammatikalischen Reaktionen, wie er selbst sagt, 
den beruflichen, wie ich sie nennen will, fiihre ich an: 

No. 1. Fisch — 1,2" — der Fisch lebt im Wasser. 

No. 2. Schlange — 2" — manche Schlangen sind giftig. 

No. 3. Wald — 1.3" — der Wald besteht aus Baumen. 

,.rein graminatikalisch gemeint. 4 * 

Hierher gehort auch: 

Schlaf — 3.4" — der Schlaf ist erquickend; a. B.: an einen Satz gedacht , 
den ich als Schuler ubersetzte: Somnus puero iucundus est. k ‘ 

Diese Art der Assoziation uberwiegt im Anfang der Reaktions- 
liste besonders, doch dringen allmahlich auch auBerlich vollwertigere 
Reaktionen durch. 


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K o h d e . Assoziationsvorgange bei Defektpsy chosen. 


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Klarer insofern, als sie (lurch den Beruf beeinfluBt sind, sind 
die Ergebnisse mit einer anderenMelancholie, Frau Ha., bei der der 
Heilungsprozess aber noch viel weiter zuriicklag wie bei Wo., 
sie war noch in starker Depression. 

Ich verweise auf die oben zitierten Darlegungen Jungs und 
finde ihnen entsprechend wie bei jedem ermiideten, abgespannten 
Menschen, so auch bei Frau H., die nur fur negative Affekte zu- 
ganglich ist, das Ablenkungsphanomen stark ausgepragt. Sie sagt 
meist etwas Beliebiges, nichts Tiefergehendes, und nur das, was 
sie beriihrt, sie also aufriittelt, weckt sie gleichsam auf, aber das 
Aufwachen bewirkt sprachlich wenig, viel dagegen seelisch. 

Der Oberflachlichkeit derReaktionsweise entsprichtdasZuruck- 
treten der Individualassoziationen, hochstens bewegen sich solche 
gelegentlich in der Reminiszenz, und zwar auch nur, damit die 
Phantasie, die an sich fur das Angenehme der Vergangenheit 
selektiv vorgeht, ihr durch den Gegensatz die Gegenwart um so 
schwarzer, die eigene vermeintliche Sunde und Verworfenheit um so 
schlimmer erscheinen lassen kann. So drehen sich die wenigen 
Individualassoziationen, die Frau Ha. liefert, um das Ich und die 
Vergangenheit. Ihr fehlt noch die nicht patholog scheZielvorstellung 
Wo.’s, und sodenkt sie meist an nichts, sondern redet bloB etwas 
hin, z. B.: 

Schlange — 2“ — die Schlange ist gif tig. „Ich denke an nichts, ich 
mochte bloB gesund werden und zu meinem Mann, was soli bloB werden. Und 
ichbinsoschlecht (standig we inend, schluchzt auch bei folgenden Reaktionen)/* 

Fisch — 3" — der Fisch schwimnit im Wasser. ..An nichts gedacht. 
Was soil ich bloB sagen. Ich kann ja nicht denken“. 

Es prallen eben alle Reizworte an dem Mangel an Interesse ab, 
der bedingt ist durch den bei ihr allgewaltigen Kleinheitskomplex. 

Ganz unbewuBt treten die Gedanken an ihr Elend hervor. 
Hervorheben will ich folgende aufeinanderfolgende 5 Reaktionen: 

No. 12. Schlecht — 29,4“ —- bose Menschen sind schlecht. , Es ist 
schlecht fur mich, dafl ich so krank bin und fur meinen Mann auch.‘* 

No. 13. Recht — 20.2“ — mir gehts recht schlecht. .,an mich und 
meinen Tod gedacht.* 4 

No. 14. Krankheit — 49,4“ — ich bin krank. 

No. 15. SUB — 4.1“ — der Zucker ist suB. 

No. 16. Kaiser — 1 Minute 5,1“ — Kaiser. 

Hier stehen Worte, wie ,,schlecht“ und ,,recht“ hinterein- 
ander, beide losen den Krankheitsbegriff besonders deutlich aus. 
Und nun ist das Reizwort, das auf diese folgt, dieses besonders stark 
gefiihlsbetonte Wort. Sie muB es auf sich wirken lassen, es sind 
schon die Reaktionszeiten bei diesen Worten stark verlangert, sie 
gebraucht jetzt aber mehr Zeit, um die Unmasse negativer Ge- 
fiihlstone, die durch die 3 Reizworte ausgelost sind, auf sich wirken 
zu lassen, sie sucht Zeit, und so kommen die folgenden Reaktionen 
und Reaktionszeiten zustande. Sie sagt bei ,,siiB“ schnell etwas hin, 
daher als Reaktion die ganz kurze Zeit von 4,1". Und wahrend sie 
nun grubelt, erfolgt der Zuruf des neuen Reizwortes ,,Kaiser". 
Dieses prallt zunachst vollig ab, erst nach mehr als einer Minute 


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Rohde, Assozmtionsvorgange bei Defektpsycliosen. 523 

rafft sie sich auf, sie kann aber noch nicht mehr tun, als einfach den 
Znruf durch Wiederholung des Reizwortes quittieren. Damit ist 
zunachst eine gewisse seelische Entladung eingetreten, die folgenden 
Reaktionen erfolgen dann ohne Besonderheiten. 

Am starksten aber wirkt auf sie das ja fur den Melancholiker 
besonders stark gefiihlsbetonteWort ,,Tod“ ;hier bleibt jedeReaktion 
aus, erst nach iy 2 Minuten tritt Weinen auf als starkste Reaktion, 
als motorische Entladung der gequalten Psyche. 

Woran eben gedacht ? ,,Ich habe gedacht, es ist besser, wenn 
einen der liebe Gott sterben laBt, wenn man doch nicht gesund 
wird.“ 

Es steht hier, ahnlich wie bei der melancholischen Phase der 
Paralyse das Ich im Vordergrund. Und doch welch Unterschied! 

Dort bei der Paralyse bei „Tod“ das gleichgiiltige ,,MeineMama 
ist schon gestorben“, hier das eminent Gefiihlsbetonte, die elemen- 
tare Gewalt der negativen Gefiihlslage. Und wahrend die negative 
Stimmungslage bei der Melancholie konstant in alien Reaktionen 
bleibt und hervortritt, tritt sie bei der Paralyse vereinzelt hervor, 
wirkt nicht nachhaltig. 

Zum Schlusse will ich noch kurz auf die Ergebnisse hinweisen, 
die mir eine postdiphtherische Stupiditat und eine kindliche 
mongoloide Idiotie lieferten. Bei ersterer finden sich neben der 
Unproduktivitat bereits weitergehende Assoziationen, bei letzterer 
fehlt jedes Denkvermogen. Was die postdiphtherische Stupiditat 
anbetrifft, so handelte es sich um ein 13 jahriges Madchen; der 
KrankheitsprozeB war bereits im wesentlichen abgeklungen. 

So konnen hier bereits wieder gute vollwertige Reaktionen er¬ 
folgen, aber die Konstellation ist im allgemeinen doch noch so 
ungiinstig, daB sie nicht iiber die BewuBtseinsschwelle treten oder 
zumindest nicht reproduziert werden konnen. 

So liefert denn diese Patientin (Schu.) vorwiegend noch ein- 
fache Symbolassoziationen. Ihre Individualassoziationen sind meist 
egozentrisch, aber es tritt doch zeitweilig bereits eine giinstigere 
Konstellation hervor, die weitergehende Individualassoziationen, 
wenn auch bei sehr langer Reaktionszeit, zulaBt. Hierher gehort 
z. B. No. 11, Professor — 38,3° — fragt. A. B.: ,,Den Namen weiB 
ich nicht mehr; bei dem war mein Bruder, und den hat er soviel 
gefragt; er wohnt im Norden und ist Arzt“. Diese, meines Erachtens 
ziemlich weitgehendeAssoziation alleinkann schon darauf hinweisen y 
daB kein erheblicher Defekt vorliegt. DaB weitergehende Asso¬ 
ziationen schon im Beginn der Genesung vorkommen konnen, be- 
ruht meines Erachtens darauf, daB es sich ja bei dem Stupor nur 
um Hemmung, nicht etwa um einen wirklichen Verlust von Er- 
innerungsbildern und assoziativen Verkniipfungen handelt. So 
braucht der Kranke auch bei der Genesung diese nicht neu zu er- 
werben (Ziehen). Das erweist ja auch die eben genannte Reaktion. 
Neben der Denkhemmung besteht beim Stupor noch die motorische 
Hemmung. Letztere tritt bei der Patientin Schu. in der langsamen 
Sprache hervor, und zusammen mit der Denkhemmung be- 


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Rohde, AssoziatioiLsvorgange bei Defektpsychosen. 


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wirkt sie, daQ auch noch im Beginn der Genesung hier enorme Reak- 
tionszeiten zu finden sind. So sind Zeiten von 40" hier gar nicht 
selten. Die Erinnerungsbilder in der Hirnrinde sind hier noch schwer 
erregbar, wahrend bei der Melancholie meines Erachtens die Er- 
regbarkeit als solche wenig herabgesetzt ist, dafiir aber der Klein- 
heitskomplex als umgebender Panzer wirkt. So sind auch hier beim 
Stupor alle Reaktionszeiten gleichmajUg, durchweg enorm ver- 
langert, vielmehr als es sonst wohl ein anderes Krankheitsbild in 
dieser Konsequenz zeigt. Das Denken selbst ist da, und so sind die 
Reaktionen docli nicht so selir diirftig, es ist eben mehr Hemmung, 
nicht Defekt. 

Ich fiige hier als Beispiele die ersten Reaktionen an: 

No. 1. Fisch — 20,4 11 — schwimmt. 

No. 2. Schlange — 15,4" — beiOt. 

No. 3. Wald — 11,4" — ist dunkel (an Schulpartie ini Tegeler Wald 
gedacht). 

No. 4. Siinde — 34." — wird bestraft. 

No. 5. Tod — 43.1" — still. 

No. 6. Schcin — 22.2" — das Kleid (ihr Sonntagskleid a us blauein 
Cheviot). 

No. 7. Tanzen —- 45,1" — abgenutzt (an ihre Tanzschuhe ge¬ 
dacht) u. s. w. 

Das ins Auge Fallende ist hier im wesentlichen doch nur die 
Verlangerung der Reaktionszeit. 

Im Gegensatz dazu wei8 die mongoloide Idiotie nur einfach 
die zugerufenen Worte, meist sogar ohne jedes Wortverstandnis zu 
wiederliolen. Hier fehlt eben jedes Denken, also auch jede Asso- 
ziation; das Wort ist ein KJang. der wohl gehort, aber nicht ver- 
standen wird. 

Psychologische Analyse und Ergebnisse. 

Durch jeden auf uns einwirkenden Reiz, sei es ein Bild, sei es 
ein Klang oder sonst ein sinnlicher Reiz, wird durch die damit 
bewirkte Erregung eine Empfindung ausgelost, und an diese ent- 
stehende Empfindung schliefit sich normalerweise eine grofie Reihe 
von Vorstellungen an, die sich teils mit den Eigenschaften des be- 
treffenden Reizes beschaftigen, teils auf andere in irgend welchem 
Zusammenhange mit dem einwirkenden Reiz stehende latente 
Erinnerungsbilder zuriickgreifen. So entstehen Vorsteliungsreihen, 
die zahlreiche uber die ganze Hirnrinde zerstreute Elemente in ihren 
Kreis ziehen, und diese Vorsteliungsreihen stellen im wesentlichen 
die Ideenassoziation vor. Welche von diesen bei dem so entstehenden 
Wettbewerb der zahlreichen Vorstellungen iiber die psychische 
Schwelle gehoben werden, das ist, uni Ziehen zu folgen, abhangig 
von folgenden Momenten, namlich: 

1. der Intensitat der assoziativen Verwandtschaft zur voraus- 
gehenden Vorstellung; 

2. von der Deutlichkeit der vora Reize getroffenen Er¬ 
innerungsbilder; 

3. von dem Gefiihlston und 

4. von der Konstellation. 


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Rohde. A^ozitttionsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Diese Faktoren beeinflussen den Ablauf der Ideenassoziation, 
sie bswirken, daB auf die Reizvorstellung hin bald dieses, bald jenes 
der getroffenen latenten Erinnerungsbilder manifest, aktuell wird, 
sie fiihren bald zn einer langen wortreichen, inhaltlich flachen, bald 
zu einer kurzen inhaltreichen Reaktion, sie vermogen das Ausbleiben 
einer Reaktion zu bewirken und namentlich die Art, den Inhalt der 
Assoziation zu modifizieren. Ziehen hebt in dieser Hinsicht hervor, 
daB einmal die Ausschleifung der Assdziationsbahnen allmahlich 
verloren gehe, wenn langere Zeit eine gleichzeitige Erregung aus- 
bleibe, sodaB solche Vorstellungen, die friiher oft auf den Reiz 
assoziiert wurden, aber neuerdings seJten oder nie damit gleich- 
zeitig auftraten, dann im Wettbewerb der Vorstellungen unter- 
liegen miiBten. Neben dieser Intensitat der assoziativen Verwandt- 
schaft wirke dann mit die Deutlichkeit der latenten Erinnerungs¬ 
bilder, ferner in besonderem MaBe der Gefiihlston, indem alle von 
einem erheblichen Gefiihlston begleiteten Vorstellungen zuerst 
auftauchten, indem wir uns unbewuBt, zwangmaBig den Vor¬ 
stellungen zuwendeten, die uns die interessantesten seien. Eine 
besonders breite Variabilitat, die ja schon durch das Zusammen- 
wirken dieser 3 Faktoren gewahrleistet werde, bewirke dann endlich 
die Konstellation, die die Reihenfolge der Vorstellungen bedinge, 
indem sie im Wechselspiel zwischen Hemmung und Anregung bald 
dieselben Vorstellungen in der Gewalt der Hemmungen lasse, bald 
von ihnen befreie. 

Soweit auszugvweise die Darlegungen Ziehens . Gilt dies alles 
fur die Ideenassoziation des Geistesgesunden, so ist es doch auch 
in nicht minderem MaBe beim Geisteskranken zutreffend, indem 
schon durch das Krankheitsbild als solches die genannten Faktoren 
beeinfluBt werden und diese wiederum auf dem Boden der Krankheit 
ein ganz anderes Angriffsfeld finden. Bei den organischen Psychosen 
sind jadie Assoziationsbahnenoftdurchbrochen, dahermiissenandere 
Wege eingeschlagen werden, und da hier in der Regel die alles ord- 
nendeKritik fehlt, so kommen die mannigfachsten wirren Gedanken- 
gange zum Vorschein. Und wahrend bei Geistesgesunden, um 
Adamkiewicz zu folgen, die eingefahrenen Bahnen schon auf die 
leisesten Anregungen hin reagieren und dadurch Tatigkeiten ent- 
wickeln, die dem Besitzer garnicht zum BewuBtsein kommen, ist 
beim Geisteskranken dieser Zusammenhang der eingefahrenen 
Bahnen gelockert; es kann die Bahn unfahrbar werden, und 
andererseits werden oft im geisteskranken Gehirn Erinnerungsbilder 
getroffen, die verblaBt sind, sie tauchen unter, und andere an sich 
entlegenere werden hervorgeholt. Es fehlt nun aber bei den 
organischen Psychosen dieFahigkeit, diese zu verbinden, so kommen 
ungeordnet ganz verschiedene Vorstellungen zusammen, und 
andererseits werden Zwischen vorstellungen iiberspr ungen, die 
latent bleiben oder ganz ausfallen. Bei der Beschleunigung der 
Ideenassoziation geht bei funktionellen Psychosen der Schnellzug 
im wesentlichen die gegebene Bahn, aber er rast vorbei an den 
.Zwischemtationen, die er nicht beachtet, er braucht bei diesen 


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Rohde, Assoziationsvorgajige bei Defektpsychosen. 


nicht immer erst von neuem anzufahren; bei der verlangsamten Idee- 
nassoziation dagegen der funktionellen Psychosen halt er gewisser- 
maBen an jeder Warterbude und kommt langsam vorwarts, speziell 
infolge der vielen Anfahrzeiten, die durch das haufige Anhalten be- 
dingt sind. Hierbei sind die Gleise intakt; wenn dagegen bei orga- 
nischen Psychosen die Ideenassoziation beschleunigt ist, so rast der 
Schnellzug wohl auch dahin, aber hier sind die Weichen infolge 
V eranderung von Assoziationskomplexen oft falsch gestellt, er kommt 
in falsche Bahnen, oder er entgleist bei volligem Ausfall derselben. 
So kommen Spriinge zustande, so entsteht auch Verwirrung. Und 
wahrend der Zugder Assoziation dahinfahrt, \vird vom Schnellzugs- 
fiihrer aus alles, was ihn von der Fahrt ablenkt, mit oberflachlichen 
Redewendungen abgespeist, er hat nicht Zeit, darauf zu achten; 
der Fiihrer der langsamenKleinbahn, die gehemmte Ideenassoziation 
hat viel Zeit, er schlaft, und sagt oft mechanisch noch halb im Schlaf 
nach langerem Aufriitteln etwas, vorausgesetzt, daB Reize iiber- 
haupt zu ihm gelangen. 

Der zielbewuBt dahinrasende Schnellzug ist das Genie, ist 
auch der Maniakus, die Kleinbahn der Gehemmte, der entgleisende 
Schnellzug ist die organischePsychose imErregungsstadium, manch- 
mal auch die funktionelle, und zwar teils durch Ausschaltung, 
teils durch Ausfali von Assoziationskomplexen, teils auch durch Ver- 
wirrtheit auf dem Boden der Hyperphantasie. Wahrend aber bei der 
Entgleisung der organischen Psychose der Zug vollig in Triimmer 
geht, laBtersichbei der Manie z. B. sehr leicht wiederins Gleis bringen 
und reparieren. Die Kleinbahn,die iiberall anhalt, ist dieHemmung; 
iiberall sindauBereHindernisse denansich intakten Gleisenentgegen- 
gelegt, die erst beiseite geschoben werden miissen, oder aber es sind 
leichte Veranderungen der Gleise vorhanden. Gerade das Nicht- 
anhalten des Schnellzugs liefert das Bild der Beschleunigung, das 
Tempo selbst ist wohl auch etwas beschleunigt, aber nicht so e rheblich. 
Bei den funktionellen Psychosen liegt das von der Norm abweichende 
im Tempo, im Nichtanhalten bezw. dem haufigen Anhalten der 
Maschine, in dem Leitmotiv, einmal in dem Hasten des iiberfrohen 
Fiihrers, der nicht Zeit hat, Gegenvorstellungen wirken zu lassen, 
bezw. in der Angst und Sorge des niedergedriickten Fiihrers, dessen 
Maschine schlecht fur eine Fahrt vorbereitet ist und der mit sich 
zuviel zu tun hat, um von der Stelle zu kommen. Beide aber haben 
Ueberlegung, sie ist nur zuriickgedrangt, die Gleise sind intakt, 
wahrend bei den organischen Erkrankungen die Ueberlegung fehlt 
und zugleich die mangelhaften Gleise — bald mangelhaft angelegt, 
bald mangelhaft geworden — allerlei Schaden und Dtfekte zeigen. 
So fallt in beiden Fallen das Resultat anders aus als beim Gesunden, 
und auch anders, je nachdem die Veranderungen lokalisiert, je 
nachdem sie mehr oder weniger ausgesprochen sind, je nachdem 
der Fiihrer auf die Gegend achtet, je nachdem er die Vorschriften 
beachten kann, je nachdem die Signale durch Nebel undeutlich, 
die Verhaltnisse giinstig oder ungiinstig sind. 

Nach diesem Exkurs noch einige weitere kurze allgemeine Dar- 


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Kohde, AflBOziationsvorgange bei ])efektpsychosen. 


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legungen. In meinen Fallen handelt es sich vorwiegend urn geistig 
Defekte. Sie mochten wohl denken—bei der Dementia hebephrenica 
allerdings ist anch das kaum der Fall —, und doch konnen sie es 
nicht, denn die Zerstorungen und Verander ungen, die im Gehim vor- 
gegangen sind, machen die Assoziationen denen des Kindes ahnlich. 
Zu jeder Phantasie, zu jeder Ideenassoziation ist Erfahrung notig, 
und diese umfaBt die Gesamtheit der in der Himrinde deponierten 
Erinnerungsbilder. Beim Kinde sind erst wenige deponiert, die 
Verbindungsbahnen erst wenig ausgeschliffen, es fehlen ihm weiter- 
gehende Assoziationen, daher arbeitet die Ideenassoziation diirftig 
oder ungeordnet. Aehnlich ist c s beim Dementen. Hier war Erfahrung, 
hier war Kritik friiher vorhanden, aber beides ist verloren gegangen, 
und nur noch Bruchstiicke sind da. So kommen auch hier diirftige 
Assoziationen zustande. Neben diesen mehr wirren, mehr mecha- 
nischen Geschehnissen des Denkens spielen dann mehr aktive Ge- 
schehnisse mit. Und doch ist auch die hierher zu rechnende 
Stimmungslage besonders beim Geisteskranken mehr ein AusfluB 
hoherer Gewalten, ein AusfluB der Krankheit. Und vermag der 
Gesunde schon oft nur schlecht seiner Stimmungen Herr zu 
werden.so vermag es der Geisteskranke schon gamicht, bei dem 
diese pathologisch beeinfluBt sind. 

Schon aus alien diesen Erwagungen heraus aber konnte man 
annehmen, daB den einzelnen Krankheiten gewisse Charakteristika 
in der Assoziationsweise eigentiimlich sein werden, die in der In- 
dividualitat der Krankheitsform, die die Personlichkeit doch stets 
nach einem gewissen Prinzip andert — trotz aller in der Personlich¬ 
keit beruhender Verschiedenheiten —, bedingt waren. Schon von 
vielen Untersuchem sind allgemein gewisse Charakteristika des 
Schwachsinns hervorgehoben, diese miiBten demnach bei meinen 
fast durchweg geistig defekten Versuchspersonen hervortreten. 
Die zweite Frage ware dann die, ob innerhalb der Krankheiten dieser 
Gruppe je nach der Reaktionsform sich noch weitere Spezialgruppen 
unterscheiden lassen, und endlich bliebe zu erwagen, ob gewisse 
Reaktionsarten an bestimmte Krankheitsphasen, an das jeweilige 
Krankheitsbild gebunden sind. 

Nach Ziehen ist die anhaltende Aufmerksamkeit dadurch be- 
stimmt, daB langere Zeit hindurch eine einzige Zielvorstellung 
bei vielen gleichzeitigen Empfindungen den Gang der Ideenassoziation 
beeinfluBt. Solche Zielvorstellungen fehlten dem lmbezillen, oder 
sie seien zu schwach, um auf die Auswahl der Empfindungen Ein- 
fluB zu gewinnen, daher sei er unaufmerksam. Wimmer hebt als 
charakteristisch fur die Assoziationsweise des schwachsinnigen 
Kindes hervor: 

1. Vorherrschen des unbestimmten Assoziationstyps; 

2. Unbestimmtheit der sparlichen Erinnerungsassoziationen; 

3. diese seien auffallend haufig egozentrisch; 

4. die analytische Asr oziation komme haufiger als bei normalen 
Kindern vor; 


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528 Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 

5. Vorkommen allzu weiter Allgemeinassoziationen, Defi- 
nitionen u. dergl.; 

6. Haufigkeit reiner Verbalassoziationen, Worterganzungen 
u. dergl.; 

7. Perseveration, sinnlose, fehlende Reaktionen; 

8. starke Verlangerung der Assoziafcionszeit. 

Wehrlin fand, daB Imbezille selten mit einem Wort reagieren, 
sonderfi in der Regel ganze Satze bilden. Da*s Hauptcharakte- 
ristikum der schwachsinnigen Reaktion sei die Definitionstendenz, 
die Konstruktion nach einem bestimmten Schema. 

Nathan fand als fur den Schwachsinn charakteristisch: 

1. Verlangerung der Reaktionszeit; 

2. Steigerung der symmetrischen Assoziationen, d. h. solcher, 
bei denen zwischen Reiz- und Reaktionswort die Beziehung der 
Aehnlichkeit oder des Kontrastes besteht; 

3. Steigerung formaler Reaktionen; 

4. ofteres Auftreten von Stereotypien; 

5 Auftreten von sinnlosen Reaktionen in groBerer Zahl. 

6. sprachliche Unsicherheiten und Ungeschicklichkeiten sowie 
mangelhafte Sprach- und falsche Wortbildungen; 

7. phantastiscke Sprachweiterbildungen und Wortspielereien. 

Hier beim angeborenen Schwachsinn ist das Ansammeln, die 

Ausbildung des Erinnerungsschatzes mangelhaft vor sich gegangen. 
Ich wies schon darauf hin, daB zur Phantasie und zur Ideena«so- 
ziation Erfahrung notig sei, die das Kind noch nicht habe. Der 
Imbezille ist auf dieser Stufe stehen geblieben, wenigstens nicht 
in dem MaBe wie der Normale mit fortgeschritten. So ist bei ihm 
der Erinnerungsschatz nur diirftig, neue Eindriicke finden nur 
schwachen Wiederhall, daher gehen diese leicht wieder verloren. Und 
so meint Kraepelin , gesellten sich zur sinnlichen Beschranktheit des 
Gedankenganges Enge des Gesichtskreises, Vorstellungsarmut und 
G^dachtnisstumpfheit. Er hebt demgegeniiber aber gleichfalls 
hervor, daB beim erworbenen Schwachsinn der Vorrat friiherer 
Erfahrungen lange Zeit hindurch die Unfahigkeit zur Aufnahme 
neuer Eindriicke mehr oder weniger vollstandig verdecken konne; 
und erst im weiteren Verlaufe werde man jene Storungen allmahlich 
sich immer deutlicher geltend machen sehen. 

Es leuchtet demnach wohl ein, daB, jefriihereinDefekterworben 
wird, desto jnehr auch das Bild dem des angeborenen Schwachsinns 
nahe kommt; und so ist es meines Erachtens moglich, daB im Be- 
ginn einer im spateren Alter einsetzenden Paralyse, z. B. bei meinem 
Fall B1.. nur relativ geringe Storungen hervortreten, w r &hrend z. B, 
beiderEpilepsie,die meistens schon friih die Psyche in Mitleidenschaft 
zieht und die doch oft genug auf dem Boden einer Debilitat sich ent- 
wickelt, bei der die Hereditat wohl sicher eine groBere Rolle spielt 
als bei der Paralyse, das Bild des geistigen Defektes sich eher 
geltend maeht, als bei dieser, bei der allerdings der Defekt dann 
rascher fortschreitet. So finde ich denn auch bei der echten Epilepsie 
mit Defekt in meinen Versuchen viel mehr Anklange an das Bild 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsvchosen. 52$ 

der reinen Debilitat. Bei beiden scheint docli das Gehirn mehr in 
seiner Gesamtheit betroffen zu sein, daher iiberwiegt die Gedanken- 
armut bei relativ geordnetem Gedankenverlauf auf mehr mecha- 
nischem Wege, wenn auch nur wenig Wege ausgefahren sind, 
wahrend bei der Paralyse die an sich zahlreich befahrenen Wege in 
Unordnung geraten sind. 

Die Hauptschwierigkeit liegt daher speziell bei der Epilepsie 
in der Unterscheidung, was ein AusfluB des Schwachsinns schlecht- 
hin, was ein AusfluB der Epilepsie im speziellen ist. 

So fand Jung — und das deckt sich ja tnit dem Gesagten 
etwa — den Reaktionen Imbeziller und Epileptischer gemeinsam die 
Erklarungstendenz, Satzform, die Verlangerung der Reaktionszeit, 
die Wiederholung des Reizwortes; dagegen fand er beim Epileptiker 
gegeniiber Normalen und Imbezillen auffallend: 

1. den auBerordentlich schwerfalligen und umstandlichen 
Charakter mit haufiger Wiederholung des Reizwortes innerhalb der 
Reaktion; 

2. die ganz besonders haufige Egozentrizitat bei ah sich nicht 
>t< reotyper auBerer Reaktion ; 

3. haufig gefiihlvolle Beziehungen; 

4. abnorm large Zeiten, nicht bei besonders schweren Worten, 
sondem an Stellen. die durch einen perseverierenden Gefiihlston 
bestimmt sind. 

Eine genaue Uebersicht liber alle diesbeziiglichen Ergebnisse 
gibt Rittershaus in seiner eingehenden Arbeit. Auch er hebt aus 
alien Ergebnissen bei der Epilepsie vor allemdieUmstandlichkeit und 
Sehwerfalligkeit hervor; und auch Stock findet besonders die Um- 
standlichkeit und Breite der Antwort zusammen mit einer geringen 
assoziativen Beweglichkeit. Das oben Gesagte erklart auch bis 
zu einem gewissen Grade, weshalb schon in relativ friihen Stadien 
des epileptischen Defektes (also z. B. bei Greg, und Drys.) dies alles 
hervoj-ttitt, wahrend dort, wo ein Defekt bis ins spatere Leben noch 
ausgeblieben ist (also bei Riid.),eine wesentlich andere Reaktions- 
liste zustande gekommen ist. Ich habe bei den einzelnen Fallen das 
Wesentliche schon besprochen. Meine Ergebnisse decken sich im 
allgemeinen mit den friiheren Feststellungen. Doch finde ich, was 
sich mit Jungs Ergebnissen nicht voilig deckt, die Verlangerung der 
Reaktionszeit auch bei besonders schweren, in der Regel bei ab- 
strakten Worten, wenn auch daneben der perseverierende Gefiihls- 
ton an anderen Stellen mitspricht. 

Auch ich finde beim Epileptiker ganz besonders typisch, so 
hervorspringend, daB ich es als Charakteristikum der Epilepsie in 
Anspruch nehmenmochte, eineUmstandlichkeit, einRingen mitdem 
Worte in stockerider Sprache, wie sie bei den anderen untersuchten 
Krankheitsformen auch nicht im entferntesten hervortritt. Ich er- 
klare mir das so, daB — und das ware der Gegensatz zum Imbezillen 
*-— doch mehr Erinnerungsbilder da sind, daB diese aber nicht viei 
behutzt sind, z. Teil schoii gar nicht mehr benutzt werden, weil 
sie verblaBt sind; es ist nur eine schwache, beim Imbezillen keine 


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530 


Kohde, Assoziationsvorgange bei Dofcktpsychosen. 


Erinnerung da, das schwache Nebelbild wird notdiirftig geweckt r 
der Kranke hat auch noch das Bemiihen, und so kommt es 
zu einem Haschen und Bingen, und bis es mehr oder weniger 
diirftig hervorgeholt ist, ist lange Zeit notig, es werden die Binde- 
glieder, die dazu iiberleiten sollen, mitreproduziert, es geht ihm etwa 
wie einem Gesunden, der sich auf einen Namen besinnt, ohne daB 
er ihm einfallt. Dies Suchen ist also ein AusfluB der Verlegenheit* 
beruht in einer Schwierigkeit der Reaktionsf indung, esstellt ab^r zu- 
gleich auch noch meines Erachtens einen AusfluB von Aktivitat, von 
Bemiihen dar, das zum Teil auch wohl darin beruht, daB der Epilep- 
tiker, was auch xonOallus in seiner Zusammenfassunghervorgehoben 
wird, seiner Eigenart, seiner Pedanterieentsprechend nichtgenug tun 
kannin V erdeutli chung bei einer Starre der Vorstellungs verkniipfung. 
Daneben scheint mir auch aus den Assoziationen derEpileptiker her- 
vorzugehen, da B schon friih die Vorstellungen unwirksam werden. Ich 
sagte schon, daB sie im Beginn meines Erachtens verschleiert, aber 
noch vorhanden sind. Es ist, um Ziehen zu folgen, ihre Reproduction 
erschwert bei zuerst noch erhaltener Retention. So fehlt infolge 
Verarmung an liquiden Vorstellungen das espritvolle Denken. Und 
wenn Ziehen dabei hervorbebt, daB es sich im Beginn der Erkran- 
kung nur um eine Erschwerung des intellektuellen Vorganges 
handelt, so scheint mir darin, daB bei mc-inen Versuchen schon zu 
einer Zeit, woklinisch nochkeinsehrerheblicherDefektnachzuweisen 
war, das Reaktionsprotokoll dem bei vollem Defekt ahnelt, erne 
Bestatigung dafiir zu liegen, daB diese Erschwerung, wie Ziehen 
sagt, fast stets der Vorlaafer eines wirklichen Verlustes, also ein 
Defektsvmptom ist. Damit in Zusammenhang steht es meines Er¬ 
achtens auch, wenn ich gerade die Wennform mit Erklarungs- 
tendenz bei der Epilepsie in weit hoherem MaBe finde und dann im 
einzelnen Falle nahezu konstant im ganzen Protokoll, als bei den 
anderen beiden untersuchten Krankheitsformen. 

Stellt doch das so haufige Vordringen der Wennform eine 
Perseveration der Assoziationsform vor. Perseverationen finde ich 
besonders haufig bei Dementia praecox und ebenso bei der Epilepsie, 
bei letzterer aber eigentlich vorwiegend in dieser einen Art. Ziehen 
hebt hervor, daB bei der Dementia epileptica die Perseveration 
beruhe auf einer relativ gesteigerten Perseverationstendenz der- 
selben aktuellen Vorstellung infolge einer abnormen Verarmung 
der liquiden Vorstellungen, im Gegensatz zur Hebephrenie, wo sie 
absolut genommen auf einer gesteigerten Perseverationstendenz 
einzelner oder aller aktueller Vorstellungen beruhe. Die eine aktuelle 
Vorstellung der Epilepsie im obigen Sinne ist die Erklarungs- 
tendenz, die Wennform, die besonders gern aus Griinden, die ich 
glaube oben dargelegt zu haben, kombiniert wird mit besonders 
ungeschickter Ausdrucksweise, mit einer Umstandlichkeit und Ge- 
schraubtheit derselben bei stockender Sprache. Beim Debilen be- 
steht ja diese Tendenz auch, aber nicht so ausgesprochen, und hier 
infolge Fehlens, nicht mfolge Verarmung an liquiden Vorstellungen. 

So finde ich zwischen angeborcnem Schwachsinn und Epilepsie 


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Rohde. Assozialionsvorgange bei Defektpsyohosen. 


531 


auch in der Reaktionsweise sehr viel Aehnlichkeit, weit mehr. 
als s:e z. B. auBerlich die Dementia hebephrenica bietet. 

Von dem Verhalten der Alkoholepiieptiker habe ich bereits b. i 
den Fallen selbst gesprochen. 

Einige Worte noch allgemein iiber die Egozentrizitat. Ich 
sprach bereits bei der Hebephrenika Gi. davon, daB hier der Be- 
ziehungskomplex zwischen dem primaren Ich und dem sekundaren 
Ich ausgeloscht sei. Ich meine nun, daB die Egozentrizitat bei dem 
Epileptiker einerseits, dem Hebephreniker und Paralytiker anderer- 
seits doch nicht vollig gleich zustande kommt. Bei letzteren ist sie 
ein AusfluB derdurch Kritiklosigkeit sekundar entstandenen Selbst- 
uberhebung, bei der Epiiepsie meines Erachtens mehr primar in 
der Charakteranlage bedingt und daher auch viel ausgesprochener, 
da das eigene Ich schon immer vor den anderen Ichs pravalierte, 
also auch mit dem Einschmelzen des Vorstellungsschatzes noch 
mehr pravalieren muB. 

Auch der Hebephreniker hat naturgemaB die meisten Charakte- 
ristika des Schwachsinns, aber, wie ich schon hervorhob, doch in 
anderer Art als der Epileptiker. 

Wenn ich Ziehen folge, so stehen sich einerseits Merkdefekt mit 
Abnahme der liquiden Vorstellungen beim Epileptiker und anderer- 
seits Kombinationsdefekt mit affektiver Verblodung beim Hebe¬ 
phreniker gegeniiber. Dadurch, daB aber beim Hebephreniker das 
Affektleben h'n und wieder noch mitwirkt, ist ein gewisser Wechsel 
desReaktionsprotokolls garantiert. Der Hebephreniker hat alsHaupt- 
symptom die Apathie zusammen mit der intrapsychischen Inko- 
ordination oder intrapsychischen Ataxie, wie Stransky u. A. den 
psychischen Zustand bezeichnen. Wir sehen hier in gleicher Weise 
wie bei der Paralyse, ,,wie der Vorstellungskreis sich einengt, wie 
die allgemeineren begrifflichen Gedankengange zuriicktreten gegen- 
iiber dem Greifbaren, Alltaglichen, Naheliegenden“ (Kraepelin), 
aber entsprechend der intrapsychischen Ataxie treten hier Schwan- 
kungen hervor auch in den Assoziationsprotokollen; so finde ich 
mitunter relativ gute Vorstellungsverbindungen eingestreut in ganz 
schlechte, daneben macht sich in mebreren meiner Protokolle ein 
Wechsel zwischen Erregung und Stupor geltend, es treten mitunter 
lange W "'rtreihen auf, die dann von absolutem Versagen abgelost 
werden, wenn die Apathie wieder Ueberhand gewinnt. Dazu 
kommen mamrierte Bewegungen, wie bei einzelnen Patienten 
plotzliches Umhergehen, Gebethaltung u. s. w. — sehr ausge- 
sprochen war das allerdings auch in dem Parademarsch auf 
der Hohe des epileptischen Dammerzustandes. Ueberhaupt finde 
ich zuweilen Ersatz der lautlichen Reaktion durch motorische 
Reaktion (Nasenriimpfen bei ,,stinkend“ bei Moll. u. a. statt laut- 
licher AeuBerung). Es entspricht das der Apathie, die speziell in 
lautlicher Hemmung sich auBert, wahrend mehr reflektorisch ent- 
sprechende Bewegungen gemacht werden. Mehr reflektorisch bei 
Apathie kommen wohl auch die mitunter beobachteten sprunghaften 
Assoziationen zustande. Zwischen den Stadien der Apathie, den 


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Kolide. As; ozintionsvoigiinge Ik* i Utfeklpsyeliosen. 


Zeiten lautlichen Verstummens, einfachen Nachsprechens u. s. w. 
drangen sich solche Reaktionen und dann auch Phase n langeren Rede- 
dranges vor. Bei diesen wird dann die Apathie jnit einem Male ab- 
gestreift, die vorwiegend die sprachlichen Innervationen beeinfluBt 
hatte. Wenn der Gesunde stark ermiidet ist, so nickt er als Antwort 
mit demKopf u. a. Aehniich ist es wohl auch, wenn gerade der Hebe- 
phreniker auf Grand pathologischer Faulheit lautfiche Reaktionen 
durch mimische, symbolische Bewegungen ersetzt. Bei Paralytikem 
und Epileptikem fehlt dieser Grad von Apathie, daher treten auch 
diese motorischen Reaktionen zuriick. Ueberhaupt ist im Gegensatz 
zurHebephrenie das Bild derEpilepsie xnehr gleichmaBig, es fehlen hier, 
worauf noch kiirzhch Klepper differenzialdragnostisch hingewiesen 
hat, „die manirierten hochstehenden Assoziationen undVorstellungs- 
verbindungen der katatonischen Assoziationen.” Und auch in den 
Fallen, wo dieser Wechsel sich nicht zeigt, ist das Bild doch vollig 
anders wie bei der Epilepsie. Bei letzterer ein Bemuhen; sie kann 
nicht viel leisten, sie versagt in ihren Fahigkeiten, aber sie sucht zu 
reagieren, hier in hochgradigen Fallen der Hemmung ein absolutes 
Versagen, teils einfaehes Nachsprechen, teils einfachste Worter- 
ganzungen, teils iiberhaupt kein Reagieren. Alle Reaktionen sind 
xneist lauthch kurz, wenn sich auch zuweilen die Wennform auch 
hier findet. Es iiberwiegt die Apathie zu sehr, wahrend in nicht so 
stark gehemmten Fallen das Bild sich eventuell mehr der Satzform 
anpaBt und der Epilepsie sich auBerlich nahert. Bei den mania- 
kalischen Erregungszustanden der Dementia praecox endhch kommen 
wieder Verbildungen, Agrammatismus, Paralogien zustande, auch 
auf dem Boden der Gleichgiiltigkeit, der Hypovigilitat, der atllge- 
meinen Aufmerksamkeitsentspannung, im Gegensatz zur Multi- 
vigihtat, dem Aufmerksamkeitswechsel der Manie, worauf Born- 
stein soeben noch hingewiesen hat. DaB die Paralogien auf dem 
Boden der Gleichgiiltigkeit zustande kommen, dafiir spricht meines 
Erachtens, daB der Redeschwall flieBend vor sich geht, wahrend 
bei der Epilepsie die Verbildungen im Ringen mit dem Worte, 
in der HUflosigkeit zustande kmmen, bei stockender Sprache. 
Ich will hier darauf hinweisen, daB auch Redepenning bei der 
Priifung mehrerer Krankheitsformen bei der Assoziationspriifung 
zweier Hebephreniker von dem ersten sagen muB: ,,Auffallend 
ist, daB er durchgehend die Rtizworte zu zusammengesetzten 
Worten erganzt” und bei dem zweiten ,,Unausfuhrbar“, wie 
ich annehme, da nahere Angaben fehlen, infolge Verstummens. 
Da nun auch ich dies Verhalten, wie es Redepennings beide Falle 
zeigten, hier mehrfach, und zwar so ausgesprochen besonders bei 
Hebephrenikern gefunden habe, da es auch zu dem oben Gesagten 
recht gut paBt, so mochte ich doch hierin ein gewisses Charakte- 
ristikum des Hebephrenikers sehen, zumal ja Fuhrmann auch schon 
die Wortwiederholung und Worterganzung ,,bei hochgradig 
Schwachsinnigen oder bei Hemmungszustanden besonders kata- 
tonis.cher Art” gefunden hat. 

GewiB gebe ich zu, daB das allgemeine Zeichen von Schwach- 


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K o h cl e , A.ssoiiiitionsvorj»iinsie )» i Peffktpsychoson. 


533 


sinn sind; daB aber diese Zeichen gerade bei einer bestimmten 
Krankheit der groBen Schwachsinnsgruppe sich besonders haufig 
und zwar nahezu konstant wahrend derselben. Priifung finden, 
gibt doch zu denken. 

Die Wennform, die icli beim Epileptiker relativ haufig fand, 
stellt eben noch eine Zielvorstellung bezw. einen AusfluB der 
Erklarungbtendenz vor, hier fehlt telbst diese oder wird unter- 
diuckt und mechanisch das eben gehorte Klangbild hingesagt, 
vorausgesetzt, daB die lautliche Innervation nicht infolge Apathie 
auch noch hintertrieben wird. Und so mochte ich riickwarts schlieBtn 
und sagen, daB die Erklarungbtendenz und die an sich diirftige Wenn- 
form noch immerhin zeigt, daB ein Bemiihen vorhanden ist, wahrend 
die einfache Wiederholung und die Worterganzung, die ja etwas 
hoher steht, aber auch rein mechanisch geschieht, auf eine Sperrung 
und weitergehende Hemmung hinweist, die einmal beruhen kann 
auf einfacher Apathie bei an sich vielleicht noch vorhandenem 
Konnen oder aber auf volliger Unfahigkeit des Denkens und 
schwerer Apathie, also volliger Verblodung. Im allgemeinen aber 
meine ich doch die Apathie dafiir verantwortlich machen zu sollen, 
die auch besonders haufig zu Stereotypien und Perseverationen 
fiihrt, wozu ja bis zu gewissem Grade auch die einfache Reizwort- 
wiederholung zu rechnen ist; und das erklart mir auch, weshalb 
ich bei Paralytikern, wenn sie nicht sehr hochgradig verblodet 
waren, diese Form der einfachen Wort wiederholung ohne weitere 
Zusatze nur ganz vereinzelt gefunden habe. 

Der Paralytiker reagierte entweder typisch schwachsinnig, oder 
er erging sich in erheblichem Wortschwall. Ihm miBgliickt der 
Versuch zu einheitlicher Gestaltung; es besteht ein durch Leit- 
motive nicht gehemmter AbfluB der gerade im BewuBtsein vor- 
handenen Vorstellungen (Gregor). Auch ist das fur die Assoziations- 
ergebnisse wohl ebenfalls maBgebend, was Gregor iiber das Lesen 
des Paralytikers sagt: .,Die Reproduktion wird durch wieder- 
holtes Lesen nicht korrigiert, maBgebend erscheint vielmehr immer 
bloB die letzte Lesung.“ So ist es moglich, daB er auf ein Reizwort 
mit irgend etwas reagiert, was gerade im BewuBtsein ist, und da 
das Letzte allein haftet, so verliert er sich ins UnermeBliche. So 
kommt es zu einem Fabulieren, das besonders deutlich bei meinem 
Fall Mii. durch das Reizwort ausgelost wird. 

Dazu kommt, daB Loekerungen in der zeitlichen Verkniipfung 
der Erinnerungen eingetreten sind, durch welche Plaitz geschaffen 
wird fiir Gebilde freier Phantasietatigkeit, die auch vorhandene 
Erinnerungsliicken ausfiille (Hoche). ,,Wenn nun bestimmte Ge- 
fiihlsbewegungen auitraten, ich zitiere im Folgenden Moeli — und 
das geschieht ja durch das Reizwort, — so komme es infolge der un- 
vollkommenen Aneignung des Erlebten, der ungeniigenden Er- 
fahrung und der Oberflachlichkeit des Urteils zu einer volligen Herr- 
schaft der aus den Gefiihlsbewegungen entstehenden, besonders auch 
die eigene Person und deren Beziehungen betreffenden einseitigen 
Vorstellungen, gewissermaBen zur Leichtglaubigkeit gegen die 


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534 


Rohde. AssozitUionsvorgange bei Defi/kt]>sychoseu. 


eigenen Wiinsche und Begehrungen. So werden beim Paralytiker 
die Phantasiegemalde Wirklichkeit, und so ist es zwar moglich, 
daB das Protokoll meines Paraiytikers Mii. eine ahnlich heitere 
Verstimmung, eine scheinbare Beschleunigung des Vorstellungs- 
ablaufs bietet wie' die Manie, was aber sein Assoziations- 
protokoll von dem des Maniakus Schm. unterscheidet, ist 
der Intelligenzdefekt, der iiberall hervortritt, besonders die 
VergeBlichkeit, die ihn vergessen laBt, was er soeben gesagt 
hat. Und das unterscheidet auch das Protokoll von Mii. von 
dem des Hebephrenikers Font., bei dem immer ein Nachwirken 
des Reizwortes sich geltend machte, das hier vollig fehlt. Ueber den 
Unterschied des maniakalischen, des hebephrenen und des 
hysterischen Erregungszustandes habe ich schon bei der Analyse 
der Falie selbst eingehend gesproehen. Ich kann deshalb hier darauf 
verweisen. 

Aus dem Gesagten aber erklaren sich ohne weiteres beim Para¬ 
lytiker die Paralogien und Verbildungen. Esdriiekt die VergeBlichkeit 
der Reaktionsweise den Stempel auf, und diese VergeBlichkeit wieder 
wird durch Phrasen und nichtssagende oberflachliche Reaktionen 
verdeckt; zwischendurch konnen allerdings bei einzelnen Fallen 
noch sinnvoile Reaktionen auftreten, im Beginn der Erkrankung 
z. B. bei Blum, noch recht oft. So kann ich — abgesehen von dem 
Ausgefiihrten — nichts Spezifisches aus den Paralytikerprotokollen 
herauslesen, es miiBte d nn sein, daB eine Reihenbildung auftr tt, 
die ja, wie ich au fiihrte, durch die kritiklose Aneinander- 
reihung aller moglicher Geschehnisse, ohne daB oft ein Nachwirken 
des Reizwortes noch nachweisbar ware, charakterisiert ist. Es 
sind sonst Reaktionen des Schwachsinns, und zwar meist des hoch- 
gradigen Schwachsinns. Das, was Cantor von schwachsinnigen 
Epileptikern, Paralytikern und senil Dementen hervorhebt, gilt 
meines Erachtens weniger fur die Epileptiker nach meinen Ver- 
suchen, als vielmehr fur die Paralytiker, und daher fiihre ich es hier 
an: ,,Sie wiederholen gelegentlich das Reizwort im Frageton, geben 
mitunter auch keine Antwort. Sie pflegen im Plauderton von ihren 
Erlebnissen und Beobachtungen zu erzahlen, lassen ihren Gedanken- 
gang durch die verschiedenartigsten Reizworte bald in diese, bald 
in jene Richtung bringen, meist eine ausgesprochene egozentrische 
Einstellung zu erkennen gebend.“ Ich finde das alles beim Para¬ 
lytiker, nicht aber beim Epileptiker, der meines Erachtens hiervon 
nur die an erster Stelle genannte Wiederholung des Reizwortes im 
Fragetone zeigt. Hinzufiigen mochte ich fiir den Paralytiker noch, 
daB das Weiterschweifen, das Plaudem, ausgelost durch das Reiz¬ 
wort, ein sehr wesentliches Moment dabei abgiebt. 

Zum Schlusse noch einige Worte iiber einzejne Formen der 
A8soziationsbilflungen, die ich besonders haufig bei meinen Fallen 
gefunden habe. 

Ziehen untei^cheidet 2 Elemente, mit denen dieldeenassoziation 
arbeite. Er meint: 

,,Von auBen empfangt sie Empfindungen, imd in der Hirnrinde 


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Rohde. Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


535 


stehen ihr Erinnerungsbilder friiherer Empfindungen zur Verfiigung, 
welche sie fortwahrend in unser BewuBtsein emporhebt und an die 
Empfindungen anreiht.“ Die Ideenassoziation sei der Vorgang der 
Aneinanderreihung der Vorstellungen. Ziehen unterscheidet nun 
zwischen auBeren und inneren Assoziationen und nennt das Prinzip 
jener die Gleichzeitigkeit, das dieser die Aehnlichkeit. Gleichzeitig- 
keit wiirde z. B. vorl egen, wenn der auBere Reiz „Landschaft“ 
uns die Vorstellung des Freundes brachte, der mit uns zusammen 
sie gesehen hat, wahrend die rein auBerliche Aehnlichkeit fiir die 
Aehnlichkeitsassoziation das Hauptmoment bildet. Hierher rechnet 
er die Klangassoziationen. 

Andererseits definieren Wundt und Trautschold als innere 
Assoziationen solche, bei denen das Reaktionswort mit dem Reiz- 
wort in begrifflichem Zusammenhang steht (z. B. Pferd — Haus- 
tier), als auBere solche, bei denen Reiz- und Reaktionswort nur 
durch raumliche oder zeitliche Beriihrung oder durch sprachliche 
Gewohnheit und Klangahnlichkeit verkniipft erscheinen. 

Wie Aschaffenburg dargelegt zu haben meint, steht die Neigung 
zu Klangassoziationen in enger Beziehung zur motorischen Erregbar- 
keit. Und so findet man denn auch in der Tat bei meinem Maniakus 
eine sehr ausgesprochene Neigung zu solche Assoziationen, aber in 
der Weise, daB seine Klangassoziationen zugleich auch immer noch 
einen gewissen Sinn haben, wahrend die des Hebephrenikers im Er- 
regungsstadium eben reine Klangbilder sind, oft ohne den geringsten 
Sinn. Gegeniiber der Ansicht Aschaffenburgs heben Jung und 
Ricklin hervor, daB die Klangassoziationen in keinem nachweis- 
baren Zusammenhang mit motorischer Erregung stehen, vielmehr 
erbhcken sie die Ursache ihres Auftretens in der Herabsetzung der 
Aufmerksamkeit. Nach ihrer Auffassung sind Klangassoziationen 
die primitivsten Aehnlichkeitsassoziationen, die nur wenig fiber dem 
bloBen Nachsprechen stehen, sie bezeichnen direkt die Zunahme der 
sprachlich motorischen Formen und der Klangassoziationen als eine 
Verflachung des Reaktionstypus. Die aufmerksame Association, 
welche im Blickpunkt des BewuBtseins stattfinde, sei keine Klang- 
assoziation. Bei schlechter Aufmerksamkeit erhebe sich die Reiz- 
vorstellung nicht bis zur vollen Klarheitshohe, sie bleibe in einem 
peripheren Gebiete des BewuBtseinsfeldes stehen und werde bloB 
vermoge ihrer auBeren klanglichen Erscheinung aufgefaBt. Ich bin 
nun der Ueberzeugung, daB das Auftreten reichlicher Klangasso¬ 
ziationen entschieden in einem bestimmten Verhaltnis zur moto¬ 
rischen Erregbarkeit steht, und finde dies sehr wohl vereinbar mit 
der Ansicht von Jung und Ricklin. Jeder erregte Mensch wird 
zweifellos nicht so aufmerksam, so ruhig denken koxmen wie der 
nichterregte. So wird die Entwicklung der „hochwertigen“ Asso¬ 
ziationen gehemmt, und es kommt zur Bildung der mechanischen 
Klangassoziationen auf dem Boden eines durch die motorische 
Erregung bedingten Fehlens der Aufmerksamkeit. Und zwar 
unterscheidet sich hierin der Maniakus noch von dem Hebe- 
phreniker insofem, als letzterer eben rein nachspricht, das rein 

Mon&tfisohrift f. Psychiatrie tu Nenrologie. Bd. XXX. Heft 6. 35 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Delektpsychosen. 


Mechanische der Klangassoziation benutzt, wahrend der Maniakus 
in der Erregung dies wohl auch tut, aber wenigstens zum Teil auch 
absichtlich — mit Denken — die Klangassoziation sucht. Dem- 
gemaB dichtet der Maniakus aucb selbst; auch der Hebephreniker 
bedient sich wohl der Verse, aber sein eigenes Denken ist dazu zu un- 
produktiv, daher greift er zu alten, rein mechanischen Klangbildem, 
bekannten Liedem und dergleichen und verkniipft sie oft sinnlos, 
wenigstens tut dies mein Fall Font.; der Maniakus dagegen sucht 
sich eigene Verse zu bilden. Als ein Beispiel maniakalischer Dicht- 
kunst habe ich einige derartige Reaktionen angefiigt, die wenn auch 
zum Teil recht obszon, doch sinnvoll sind. Der Patient stammt aus 
niederen Kreisen. Nun ist das ZotenreiBen hier an sich vielleicht 
iiblicher, wenigstens geschieht es offenkundiger als in anderen 
Kreisen, ich bezweifle aber immerhin, daB er in gesunder Zeit es so 
getan hatte wie jetzt. Es ist zugleich mit dem Fortfallen dieser 
Hemmungen die Erregbarkeit der latenten Erinnerungsbilder in 
pathologischer Weise gesteigert. Das mag vielleicht auch beimeinem 
Hebephreniker Font, der Fall sein in seinem Erregungsstadium, 
bei ihm aber fehlt jede richtig ankniipfende Assoziationstatigkeit, 
beim Maniakus ist sie nicht im mindesten gestort. Es stellen die 
Klangassoziationen, die Aehnlichkeitsassoziationen stets ein Zeichen 
der Oberflachlichkeit vor, sie sind, wie es Heilbronner nennt, rein 
sensorisch bedingt, und so ist es kein Wunder, wenn sie gerade bei 
Erregung'zustanden sich in so groBer Zahl finden. Sie nehmen nach 
Ieserlins Feststellungen mit zunehmender Erregung zu. Es hangt 
da* wohl damit zusammen, daB jede Erregung in der Regel mit 
korperlicher Unruhe einhergeht, und wenn ich Berger folge, so wird 
intellektuelle Arbeit durch gleichzeitige Muskelarbeit eben beein- 
trachtigt. Es deckt sich Isserlins Feststellung mit den Ergebnissen 
besonders bei meiner Manie, daB bei Heilungsprbzessen, im Stadium 
der abklingenden Erregung die bisher pathologisch vermehrten 
reinen Aehnlichkeitsassoziationen abnehmen. So kann ich Wimmer 
nicht ganz beistimmen, wenn er meint, beiexaltiertenKatatonikern 
sei der Reim trotz Ueberwiegens des unbestimmten Assoziations- 
typus selten. Ich finde doch auch hier recht viele reimartige Klang- 
bilder, die aber, wie ich soeben ausfiihrte, ganz anders zustande 
kommen wie beim Maniakus. Aehnlich — als Allgemeinplatze — 
finden sich meines Erachtens auch Reime und gelaufige Klangbilder 
beim Paralytiker. Beide sind oberflachlich in ihrer Reaktionsart. 

Wreschner faBt Alliterationen, Reime und sonstige Gleichklange 
oder Assonanzen d. h. alle solchen formalen Assoziationen, bei 
denen das Reaktionswort dem Sinne wie dem Wortstamme nach 
sich unterscheidet, als durch klangliohe oder optische Aehnlichkeit 
zusammengehorig zusammen, und stellt ihnen als zweite Gruppe 
der forlnalen Assoziationen diejenigen entgegen, die durch Er- 
ganzung bedingt sind. Hierher rechnet er dann 

1. die Identitaten d. h. unveranderte Reizwortwiederholungen; 

2. Flexionen, bei denen das Reizwort durch Deklination, Konju- 
gation u.8.w. abgewandelt als Antwort wiederkehrt (Haus—Hauser). 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


537 


Zu letzteren rechnet er auch die flexionsahnlichen Assoziationen 
d. h. diejenigen, wo die Abwandlung in einer Hinzufiigung oder Weg- 
lassung von Pra- oder Suffixt n besteht (z. B. Freiheit — frei). 

Ich fiihre das hier ausfiihrlicher an, weil gerade Assoziationen 
dieser Gruppe bei Dementia praecox und auch bei Paralyse sicb 
sehr haufig fanden. 

Nach Sommer, Kraepelin u. A. sollen solche Reaktionen bc- 
sondtrs auch als AusfluB der Ermiidung hervortreten, und diese 
geistige Ermiidung wiirde dann eintreten bei Erregungszustanden 
auf Grand der korperlichen Muskelarbeit. Hierher zu den Er- 
miidungserscheinungen gehort auch das Fehlen der Reaktion. 
FaBt man mit Janet die Assoziation als Projektion des Dranges zum 
BewuBtsein auf, so muB man sagen, dieser Drang fehlt hier, es be¬ 
steht eben intellektuelle Apathie, und das erklart das relativ haufige 
Vorkommen bei Katatonikern zusammen mit der einfachen Wort- 
wiederholung. Andererseits kann aber, wie z. B. bei dem gefiihls- 
betonten Wort Tod bei der Melancholie, das lautliche Fehlen der 
Reaktion auf einer Stagnation infolge Starke des Eindracks be- 
ruhen. Wenn ich Isserlin folge, so konnen zwei vollig entgegen- 
gesetzte Zustande Reizwortwiederholungen bewirken, namlich ent- 
weder Auffassungsstorungen durch starke Ablenkbarkeit, wobei 
der Wille sich zu konzentr.eren zu Wiederholungen des Reizwortes 
fiihrt, oder aber ein Mangel an Vorstellungen, wie er besonders fur 
Zustande der Denkhemmung charakteristisch ist. Bei den von mir 
untersuchten Fallen handelt es sich wohl vorwiegend um das 
letztere. Zum Teil gelingt es meinen Kranken schlieBlich doch noch, 
eine passende Reaktion zu liefem, sie stellen sich durch Wieder- 
holimg des Reizwortes erst ein und gewinnen Zeit, zum Teil fehlt 
ein weiteres Reagieren aus Apathie oder totalem Defekt ohne Be- 
miihen, welch letzteres beim Epileptiker noch vorhanden ist. 
Diese einfache Wortwiederholung leitet meines Erachtens iiber zu 
den Stereotypien. Ich kann mich hier kurz fassen und verweise auf 
Heilbronners eingehende Arbeit. Hervorheben will ich indessen noch, 
was Levy-Suhl unter Hinweis auf Kraepelin in dieser Hinsicht 
hervorhebt, daB man nach einem uns langweilenden Vortrag, aber 
auch umgekehrt nach einer die Aufmerksamkeit stark fesselnden 
Diskussion am Schlusse das vor uns liegende Papier oder die Tisch- 
platte mit Kritzeleien bedeckt findet, die den Stereotypien ent- 
sprachen. Und er hebt weiter hervor: „Die sogenannten zerstreuten, 
in Wirklichkeit in einem ihr Interesse fesselnden Gedankenkreise 
versunkenen Gelehrten liefem so bekannte Beispiele fur das 
mechanisierende Fortwirken ihrer jeweiligen Einstellung, daB ich 
auf eine spezielle Anfiihrang der hierauf beziiglichen Falle ver- 
zichten kann.“ So kommen auch Stereotypien vor, z. B. bei meinem 
hysterischen Dammerzustand, so bei den Melancholien bei be- 
st immt en tiefer liegenden Komplexen als Deckreaktionen, wahrend 
sie beim Paralytiker und Hebephreniker mehr als ein AusfluB der 
Langeweile, vielleicht auch aus Unmut iiber die Priifung bei gleich- 
zeitiger Gedankenarmut zustande kommen. 

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538 


Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Bezfiglich der Perseverationen der Hebephreniker weise ich 
noch darauf hin, dali Ziehen, wie ich schon erwahnte, diese als 
beruhend „auf einer absolut gesteigerten Perse verationstendenz 
einzelner oder aller aktueller Vorstellungen“ auffaBt. Zweifellos 
i8t hier der eine Begriff fiberwertig, er laBt andere nicht aufkommen, 
der Kranke perse veriert bei diesem einen Begriff, der andere — 
sofem sie vorhanden sind — an Perseverationstendenz tibertrifft. 
Und so kommt es auoh oft, was auch Ziehen hervorhebt, zu einem 
Hervorholen ganz entlegener Vor tellungen. 

L)i° P«.rstverat on hangt aber auch mit der absoluten Un- 
produktivitat des Hebephrenikers ixn Denken zusammen, die die 
Gedanken stets auf dieselbe Stelle treten laBt — und so steht diese 
Perseveration auf einem tieferenN iveau, wie die Perseveration der 
Assoziationsform, wo eine Zielvorstellung dieTriebfeder ist, wahrend 
es hier die Apathie ist. Auch Henneberg ist bei der Priifung mittels 
der Bildermethode dies Haften an nebensachlichen und unwesent- 
lichen Dingen aufgefaUen, an die der Hebephreniker allerhand 
entlegene Einfalle knfipfi. Wimmer erklart, ahnlich wie Ziehen, 
die Perseverationen als Ausschlag einer abnormen Stagnation des 
Reizwortes in den Erinnerungszellen ohne die normale und 
schnelle Irradiation auf neue Erinnerungskomplexe. 

Ein Wort noch uber erinnerungs- und nichterinnerungs- 
bestimmte Reaktionen bei meinen Versuchen. Es ist entsprechend 
meinen Ausfuhrungen ja natiirlich, daB bei dem mehr oberflach- 
lichen Assoziationstyp meiner Faille die erinnerungsbestimmten 
Assoziationen sehr zuriickgetreten sind. Am wenigsten habe ich sie 
beim Hebephreniker gefunden, und wenn sie dort auftraten, 
kniipften sie an das primare Ich an. So war es auch beim 
Epileptiker; und da ja hier keine fliissigen Erinnerungsbilder da 
sind, da das Ringen hier ein Ringen mit verblaBten Nebelbildern 
ist, so konnen auch die erinnerungsbestimmten Reaktionen nur 
an dunkle Erinnerungen ankniipfen, nicht weit gehen. Relativ am 
meisten erinnerungsbestimmte Assoziationen liefem einzelne 
Paralytiker, aber da diese allerlei hinreden und schleeht auf- 
fassen, so kann man ihnen, wie ich ausfiihrte, nicht allzuviel Wert 
beimessen. 

Auf die einzelnen Assoziationsformen genauer einzugehen, er- 
iibrigt sich, da ich ja soviel angangig bei den Fallen selbst davon 
gesprochen habe. 

Zum SchluB noch einige Worte liber den Wert der Assoziations- 
versuche bei geistig Defekten. Hier gilt zunachst das ffir die 
Assoziationsversuche, was v. Krafft-Ebing allgemein fiber die 
Exploration Schwachsinniger sagt, daB es nicht bloB auf den Inhalt 
der Antwort, sondemauchauf die GelaufigkeitderAntwortankommt, 
sowie femer darauf, daB der zu Untersuchende auch verstanden 
hat, was von ihm verlangt wird. Daher ist es zunachst notig, in 
jedem Fall ihm bei den Assoziationsversuchen an Beispielen das ver- 
langte klar zu machen. Gerade aber die Assoziationsversuche 
wirken, wenn sie einmal verstanden sind, was ja sehr rasch eintritt, 


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Rohde, Asaoziationsvorgiinge bei Defektpsychosen. 


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besonders verbliiffend und prazise um so mehr, als sich lange Fragen, 
eriibrigen. Die Gefahr besteht nur darin, daB sich die Versuchsperson 
ein Leitmotiv zurechtlegt, wie z. B. mein Alkoholepileptiker die Ziel- 
vor. tellung moglichst schnell zu reagieren und wie viele meiner Ver- 
suchspersonen sich die Worterklarung als Ziel steckten. Das verhindert 
natiirlich ein Eindringen in die Psyche, ist aber doch immerhin auch 
in gewisser Hinsicht ein wertvolles Diagnostikum fiir die Gesamt- 
beurteilung. Viel hinderlicher ist dagegen der Umstand, daB, wie 
andere Unter ucher festgestellt haben, gebildete Versuchspersonen 
einen wesentlich flacheren Reaktionstypus haben wie ungebildete, 
indem Gebildete relativ weniger innere Assoziationen liefem als 
Ungebildete, was Jung dahin erklart, daB die Gebildeten das 
Experiment mehr im Sinne sprachlicher Assoziation auffassen, 
wahrend Ungebildete es emster damit nehmen, die Versuche mehr 
als Dtnkaufgabe auffassen. So ahnlich ist cs auch beim Schwach- 
sinn. Hierher gehort auch die Notwendigkeit der Beriicksichtigung 
des Berufes, der, wie bei meiner heilenden Melancholie Wo .... die 
Reaktionsart herunterdriicken kann, so daB nur durch die AnschluB- 
frage dies einigermaBen geklart werden konnte. 

Schon deshalb halte ich die AnschluBfrage fiir besonders 
wichtig. Ebenso wichtig ist meines Erachtens femer ein moglichst 
genaues Protokollieren, da nur hierdurch eine genaue Kontrolle 
moglich ist und ohne diese gerade unsinnige Wortverbindungen, 
Agrammatismen u. a., die in groBter Klarheit und Plastizitat 
im Assoziationsprotokoll hervortreten, entgehen. Auch das 
Mienenspiel darf meines Erachtens nicht vernachlassigt werden. 

In mancher Hinsicht sind die Assoziationspriifungen beim 
Geistesgesunden schwerer als beim Geisteskranken, weil ersterer 
leichter willkiirliche Hemmungen einwirken lassen kann und 
daher die Gefahr der Verheimlichung groBer ist. Hier hat man 
im Mienenspiel und in der Beriicksichtigung der Reaktionszeit 
eine gewisse Unterstiitzung. Anderer’seits muB man bedenken, 
daB das kurze Reizwort verbliiffend wirkt, ungewohnt ist, dabei 
aber der Versuchsperson nicht Zeit laBt, etwaige aus MiBtrauen 
entstandene Gegenvorstellungen wirken zu lassen. Sie lernt aus den 
Versuchen nur kennen, daB das Reizwort allerhand Erinnerungen in 
ihr weckt, daher geht sie darauf ein, jedenfalls eher wie im Gesprach. 
Beim Gesunden und dem nicht Gehemmten, nicht geistig defekten 
Geisteskranken stiirmen vielleicht zu viel Assoziationen auf ihn ein, 
so daB eine unbewuBte Auswahl stattfindet, die eine gewisse Gefahr 
in sich birgt. Beim Schwachsinnigen besteht dagegen mehr die Ge¬ 
fahr der Hemmung, die eventuell die Aufnahme des Reizwortes 
hindert und andererseits die Gefahr des nachtraglichen Zurecht- 
legens mit sich bringt, die ich aber nicht fiir sehr groB halte. In 
beiden Fallen ist die AnschluBfrage eine Unterstiitzung. Im allge- 
meinen ist man auf Grand unwillkiirlicher, reflektorischer Reak- 
tionen meines Erachtens weniger abhangig von dem guten Willen 
der Versuchsperson. Es spielt dabei natiirlich in jedem Falle auch 
die Individualitat eine Rolle. Diese ist beim Geisteskranken mehr 


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R o h d e , Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


verdeckt von der Krankheit. Wahrend beixn Geistesgesunden im all- 
gemeinen die Form einheitlich ist, pragt doch in jedem Falle die 
Individualitat dem Protokoll den Stempel auf. Die Krankheit 
macht es gerade so, nur daB bei meinen Yersuchspersonen einmal 
die Eigenartigkeit der groBen Obergruppe Schwachsinn und anderer- 
seits die der einzelnen speziellen Gruppm Hand in Hand gehen zu- 
sammen mit den Ueberresten der urspriinglichen Personlichkeit. 
Die Obergruppe bewirkt, worin ich Bowman zustimmen muB, das 
Fehlen von ganz bestimmten Assoziationsformen fiir die einzelnen 
Krankheitsbilder, dooh sind meines Erachtens gewisse Reaktions- 
formen bei den einzelnen Krankheitsbildem besonders ausgepragt. 
Sicher kann man aus dem Protokoll feststellen, ob ein Defekt vor- 
liegt, und damit ist differentialdiagnostisch schon viel gewonnen. 
Man kaim dann weiter aus den Reaktionprotokollen schlieBen, daB 
zunachst die Art der Reaktion nicht gegen die vermutete Krankheit 
spricht, und kann dann schlieBlich sagen: ,,Das imd das spricht 
dafur.“ Ich bin mir wohl bewuBt, daB es in erster Linie psycho- 
logisch interessante Resultate sind, die in den Assoziationsproto- 
kollen zum Vorschein kommen, daneben aber treten gewisse Charak- 
teristika hervor, die meines Erachtens mit den obigen Kautelen 
die Diagnose unterstiitzen konnen. In diesem Sinne finde ich zu¬ 
nachst, daB sich Epilepsie und Debilitat ganz besonders nahe 
stehen, und halte fiir echte Epilepsie die durch das g a n z e 
Protokoll sich hinziehende Umstandlichkeit und die Wennform, 
das Ringen mit dem Worte, das sich in stockender, von Pausen 
unterbrochener Sprache geltend macht, fiir charakteristisch, fiir 
Dementia praecox dagegen mehr Reizwortwiederholungen, Wort- 
erganzungen, motorische Reaktion, Interjektion, fehlende Reaktion 
abwechselnd zum Teil mit ganz leidlichen Reaktionen oder auch mit 
Wortsalat. Bei der Paralyse scheint mir das Weiterschweifen und 
ungeschickte Formulieren bei nicht stockender, vielmehr flieBender 
Sprache besonders haufig vorzukommen. Dazu kommen endlich 
bei alien diesen Krankheitsformen die allgc meinen Zeichen des 
Schwachsinns und eine sehr stark verlangerte Reaktionszeit. Diese 
Ergebnisse andern sich bei Erregungszustanden, und so geben die 
einzelnen Krankheitsphasen ein eigenes Bild, ausgenommen bei der 
Epilepsie, wo alles mehr gleichmaBigbleibt, wenn nicht ein Dammer- 
zustand das Bild von Grund aus andert. 

So geben die Assoziationsprotokolle eine Uebersicht, sie liefern 
ein Krankenblatt fiir sich. Allerdings bin ich nicht so kiihn zu be- 
haupten, daB man der anderen Untersuchungsmethoden damit 
entbehren konnte. Es ist eine Untersuchungsmethode wie jede 
andere, die aber imstande ist, besonders gut psychologische Fein- 
heiten darzustellen, ohne besondere Umstandlichkeiten in der An- 
wendung, was auch schon Holzinger hervorhebt. In besonderem 
MaBe ist sie meines Erachtens wertvoll zur Unterscheidung von 
Erregungszustanden, und besonders wichtig speziell bei solchen, 
wo eine Anamnese nicht zu erlangen ist (mein Fall Wier. und 
der von Klepper veroffentlichte). 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Ioh glaube nach meinen Versuchen feststellen zu konnen, daB 
die Assoziationsproben bei der Diagnose der Geisteskrankheiten 
eine nicht unbedeutende Erleichterung fiir die Feststellung des 
Krankheitszustandes bieten konnen. In dieser Hinsicht sind 
mir besonders interessant die Versuche, die ich wahrend des 
epileptischen Dammerzustandes in seinen verschiedenen Stadien an- 
gestellt habe, anf der Hohe desselben, wo der Patient kaum re- 
agierte oder sinnlos, inkoharent, bis zum Aufwachen, wo er normal 
reagierte, mit den verschiedenen Uebergangen zwischen normaler 
und Dammerzustandsreaktion. 

Ich glaube auch, daB man mit Hiilfe der Assoziationsproben 
mancherlei, besonders Wahnideen, aus dem Patienten hervorlocken 
kann, die sonst nicht oder nur durch Zufall bekannt werden wiirden. 
Ich mochte in dieser Hinsicht speziell auf meine Falle von Dementia 
paranoides hinweisen. In weit hoherem MaBe wiirden meines Er- 
achtens die Assoziationsversuche ,,Ueberlistungsversuche“ dar- 
stellen bei der chronischen Paranoia mit ihrem Wahnsystem. 
Hier besonders glaube ich, daB man sehr wohl mit ihrer Hiilfe 
schneller dazu gelangt, Wahnideen zu eruieren, als mit anderen 
Methoden oder wenigstens einen Anhalt fiir ihren Nachweis zu 
finden. 

Eine sehr wertvolle Unterstiitzung endhch hegt darin, daB es 
eventuell bei sprachhch bis dahin Gehemmten zuweilen gelingt, 
sprachliche Innervationen auszulosen, was ohne Zurufen des 
Reizwortes mir sonst oft nicht gelungen ist. 

Besonders viel Einzelheiten endlich vermag der Psychologe in 
den Assoziationsprotokollen zu finden. 

Auf die Freudschen therapeutischen Versuche mit der Asso- 
ziationsmethode hier einzugehen, wiirde zu weit fiihren. 

Was endlich den Wert der Versuche als Ueberlistungsversuche 
anbetrifft, so glaube ich zwar auch, daB in der forensischen Praxis 
die ,,Ueberlistung“ der Personen innerhalb gewisser Grenzen aus- 
fiihrbar ist, wenn es auch, wie Hoche hervorhebt, „vorlaufig mehr 
theoretisch interessante als fiir die Rechtspraxis verwendbare Ver¬ 
suche sind.“ Ich glaube, daB die Ueberlistung des Verbrechers sich 
wesentlich schwerer gestalten wiirde, weil hitr das Prinzip der 
Verheimlichung sicher mehr ausgepragt sein wird als bei dem 
Geisteskranken. Vor alien Dingen aber miiBte hier stets die 
Garantie vorhanden sein, daB der Tatbestand, den man durch 
Ueberlistung klarstellen will, nicht aus vorhergegangenen Ver- 
horen und Zeitungsberichten der zu iiberlistenden Person bereits 
bekannt geworden ist. Nur wenn wirklich vollig Neues zutage 
treten wiirde, ware es fiir die forensische Praxis und die weitere 
Untersuchung verwertbar. In dieser Hinsicht ist also bei den 
Ueberhstungsversuchen in praxi stets die groBte Vorsicht ge- 
boten, und das stellt meines Erachtens eine nicht unwesent- 
liche Einschrankung des Wertes der Versuche fiir die forensische 
Praxis dar. Ich fiihre im iibrigen in dieser Hinsicht das an, was ich 
als kurzes Referat in der Zeitschrift fiir Psychotherapie iiber zwei 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


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Arbeiten von Hdgel und von Heilbronner zu dieser Frage finde. Dort 
wird berichtet: , Mag el macht auf die vielen Irrtumer aufmerksam, 
die bei der Anwendung derTatbestandsdiagnostik im Strafverfahren 
bestehen. Sie kommt daher fiir die Praxis nicht in Betracht. Zwar 
kann sie den Schuldigen durch eine fortgesetzte Reihe von Reiz- 
worten zum Selbstverrat bringen, aber ein solches Verfahren ist 
verwerflich und gleicht der Tortur. Auch Heilbronner warnt auf 
Grand theoretischer Erorterangen und praktischer Ausfiihrungen, 
die sich an eigene Versuche anschlieBen, vor der Anwendung der 
Tatbestandsdiagnostik in der Strafrechtspflege.“ 

Ioh bin damit am Schlusse meiner Darlegungen, die, wie ich 
hoffe, einen weiteren Beitrag zu dem bisher Gefundenen zu 
liefern vermogen. 

Am Schlusse meiner Arbeit erfiille ich die angenehme Pflicht, 
Herrn Geheimrat Professor Dr. Ziehen meinen verbindlichsten Dank 
fiir die Anregung zu diesen Versuchen, s eine Unterstiitzung bei 
Anstellung derselben und die freundliche Durchsicht der Arbeit 
auszusprechen. 


LitercUur - Verzeichnis. 

1. Adamkiewicz, A., Die Funktionsstorungen des GroBhims. 
Hannover 1898. 2. Bericht iiber den II. KongreC fiir experimentelle 

Psychologic. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. XX. 1906. 3. Bericht iiber 
die Jahresversammlung des deutschen Vereins fiir Psychiatrie am 20. u. 
21. IV. 1906 in Miinchen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. XX. 1906. 
4. Berger, Ueber die korperlichen AeuBerungen psychischer Zustande. 
Jena 1904. 5. Binswanger-Siemerling, Lehrbuch der Psychiatrie. 3. Aufl. 
Jena 1911. 6. M. Bomstein , Ueber die Differentialdiagnose zwischen manisch- 
depressivem Irresein und Dementia praecox. Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. 
Psych. ( Alzheimer-Lewandowsky.) Bd. 5. 1911. 7. Bouman , Assoziationen 

bei Geisteskranken. Klinik f. psych, u. nerv. Krankh. (Sommer.) Bd. IL 
Halle. 8. E. Cantor. Ergebnisse von Assoziationsversuchen mittels bio Ben 
Zurufs bei Schwachsinnigen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. 29. 1911. 
9. Doeblin, Aufmerksamkeitsstorungen bei Hysterie. Arch. f. Psych. Bd. 45. 
1909. 10. M . Fuhrmann, Analyse des Vorstellungsmaterials bei epileptischem 
Schwachsinn. Beitr. z. psych. Klinik. (Sommer.) Bd. 1. Berlin-Wien 1902. 
11. Gailus, K ., Ueber Assoziationspriifung. Ztschr. f. Psychother. u. mod. 
Psychol. (A. Moll.) Bd. 2. H. 2. Stuttgart 1910. 12. Gaupp, R., Psychologic 
des Kindes. Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig 1908. 13. Gregor % A.. Leit- 
fadeh der experimentellen Psychopathologie. Berlin 1910. 14. Grofi, H., 

Assoziationsversuche. Beitrage zur Psych, die Aussage. Bd. 2. Leipzig 
1905/06. 15. Grofi, A., Kriminalpsychologische Tatbestandsforschung. 

Jur.-psych. Grenzfragen. Bd. V. H. 7. Halle a. S. Marhold. 16. Hay - 
mann, H., Kinderaussagen. Halle 1909. Marhold. 17. Heilbronner , Ueber 
Haftenbleiben und Stereotypie. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. XIII. 1906. 
18. Henneberg, Zur Methodik der IntelligenzprUfung. Allgem. Ztschr. f. 
Psych. Bd. 64. 19. Holzinger , J., Assoziationsversuche bei Epileptikern. 

Diss. Erlangen 1908. 20. Hoche, A., Moderne Analyse psychischer Er- 

scheinungen. Jena 1907. 21. Derselbe, Handbuch der gerichtlichen 

Psychiatrie. Unter Mitwirkung von AschoffenJburg, E. Schnltze, Wollenberg . 
Berlin 1901. 22. Jaspers, Die Methoden der Intelligenzpriifung und der 

Begriff der Demenz. Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. (Alzheimer- 
Lewandowsky ). Bd. I. Ref. 1906. 23. Isserlin, M., Psychologische Unter- 
suchungen an Manisch-Depressiven. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 
XXII. Berlin 1907. 24. Derselbe, Die diagnostische Bedeutung der Asso- 
ziationsversuche. Munch, med. Wochenschr. 1907. 25. Derselbe, Asso- 


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Rohde, Assoziationsvorgange bei Defektpsychosen. 


543 


ziationsversuche bei einem forensisch begutachteten Falle von epileptischer 
G©i8t©sst6ning. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Ergzshft. 1906. 26. Jung , C.. 
Diagnostische Assoziationsstudienl. Leipzig 1906. 27. Derselbe, Diagnostische 
Assoziationsstudien II. Leipzig 1910. 28. Derselbe, L T eber die Psychologic 
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1 ogische Arbeiten. Bd. 1—3. Leipzig 1896. 31. Derselbe, Psychiatric. Bd. 1. 
8. Aufl. Leipzig 1909. 32. Derselbe. Einfilhrung in die psychiatrisclie Klinik. 
Leipzig 1901. 33. Klepper , Die Unterscheidung von epileptischen und kata- 
tonischen Zusfcanden,8peziell aus den Assoziationen. Klinik fiirpsych. u. nerv. 
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L’association das id6es dans la manie aigue et dans la d^bilite mentale. 
These. Paris 1903. 42. Pototzlcy , Verwertbarkeit des Assoziationsversuchs 
fiir die Beurteilung der traumatischen Neurosen. Monatsschr. f. Psych, u. 
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Leipzig 1904. 44. Ranschburg und Balint, Ueber quantitative und quali¬ 

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Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungsmethoden. Berlin- 
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Beides in Beitr. z. Psychol, d. Aussage. (Stem.) Leipzig 1903/04. Bd. I. 

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58. Stockmayer , Zur psychologischen Analyse der Dementia praecox. Zbl. f. 
Nervenheilk. u. Psych. (Gaupp.) Leipzig 1909. 59. Stransky, Ueber Sprach- 
verwirrtheit. 1905. 60. Derselbe, Bemerkungen zur Prognose der Dementia 
praecox und liber die intrapsychische Ataxie. Neurol. Zbl. 1909. 61. Derselbe, 
Zur Kenntnis gewisser erworbener Blodsinnsformen. Jahrb. f. Psych. 
Bd. XXIV. 1903. 62. Verwom, Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis. 
Jena 1908. 63. Derselbe, Die Mechanik des Geisteslebens. „Aus Natur und 
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18. Jahrg. 1892. 65. Wertheimer und Klein , Psycholog. Tatbestandsdiagnostik. 
Orofis Arch. f. Kriminalanthropologie, Bd. 15. 66. Wehrlin. Ueber die 
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544 


Buohanzeigen. — Personalien. 


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68. A. Wimmer, Ueber Assoziationsuntersuchungen, besonders schwach- 
sinniger Kinder. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. XXV. H. 2. 

69. A. Wreschner, Die Reproduktion und Assoziation von Vorstellungen. 
Ergzgsbd. 3 d. Ztschr.f. Psychol. Herausgegeb. von Ebbinghaus. Leipzig 
1907—1909. J. A. Barth. 70. Derselbe. Eine experimentelle Studie iiber die 
Assoziationen in einem Fall von Idiotie. Allgem. Ztschr. f. Psych. Bd. 57. 
71. Wulf , Beitrag zur Psychologie der Dementia praecox. Zbl. f. Nerven- 
heilk. u. Psych. 1909. 72. Ziehen , Th ., Psychiatric fiir Aerzte und 
Studierende. 2. Aufl. Leipzig 1902. 73. Derselbe, Leitfaden der physiol. 
Psychologie. 8. Aufl. Jena 1908. 74. Derselbe, Die Prinzipien und Methoden 
der Intelligenzpriifung. Berlin 1908. 75. Derselbe, Die Ideenassoziation des 
Kindes. (Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der padagogischen 
Psychologie und Physiologic, herausgegeben von H. Schiller und Th. Ziehen. 
Bd. I. H. 6 u. Bd. 3. H. 4.) Berlin 1898 und 1900. 76. Derselbe, Die 
Erkennung des Schwachsinns im Kindesalter. Berlin 1909. 77. Derselbe, 
Ueber den atiologischen Standpunkt in der Psychiatric. Neurol. Zbl. Bd. 29. 
1910. 78. Derselbe, Das Gedachtnis. Festrede . 1908. Berlin. 


Buchanzeigen. 

Bauer, Amtsrichter a. D., Das Pollard-System und seine Einfiihrung in 
Deutschland. Eine Studie zur kriminalpolitischen Behandlung der Trinker. 
Reutlingen 1911. 47 Seiten. 

Der amerikanische Richter Pollard hat in St. Louis die Methode ein- 
gefiihrt, daB er den noch nicht verlorenen Gewohnheitstrinkem Straf- 
aussetzung erwirkte unter der Bedingung. daB sie totale Abstinenz fiir ein 
Jahr gelobten; er selbst hat dann die Innehaltung des Geliibdes kontrolhert. 
Verf. empfiehlt das gleiche mutatis mutandis in unser im Warden be- 
griffenes Strafgesetzbuch einzufiihren. Ein solcher Wunsch geht in seinem 
Umfang und den praktischen Konsequenzen liber i ie sonst bei uns in Deutsch¬ 
land geauBerten Wiinsche hinaus; wir miissen daher vorerst zufrieden sein, 
wenn der an sich gesunde Gedanke, die Alkoholdelinquenten vor allem zur 
Totalabstinenz zu fiihren, zunachst bei anderer Gelegenheit (Entlassung 
aus Trinkerheilstatten) sich in die Wirklichkeit umsetzen laBt. Stier. 

Sello, Justizrat, Die Irrtiimer der Strafjustiz und ihre Ursachen. I. Band. 
Todesstrafe und lebensldngliches Zuchthaus in richterlichen Fehlspriichen 
neuerer Zeit. Berlin 1911. Deckers Verlag. 508 Seiten. 

Fiir den Psychiater bringt die ausfiihrliche Beschreibung von 151 Fehl- 
spnichen der Gerichtshofe aller Kulturvolker wenig Neues. Das einzig 
Erfreuliche daran ist, daB diejenigen Irrtiimer, die auf drztlichen Fehlschliissen 
beruht haben, nur eine ganz geringe Rolle in der groBen Zahl der Falle 
spielen und auch dann noch nicht die Psychiater treffen. Ob im iibrigen das 
Buch einem Bediirfnis irgend welcher Volkskreise entspricht, mogen andere 
entscheiden. Stier. 


Personalien. 

In Florenz hat sich Dr. F. Ugolotti als Privatdozent fiir Neurologic 
und Psychiatrie habilitiert. 


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Bd. XXX 




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