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Monatsschrift
fiir
Psychiatrie und Neurologie.
Herausgegeben von
K. Bonhoeffer.
Bd. XXXVII.
Mit zahlreichen Abbildungen im Text und 3 Tafeln.
BERLIN 1915
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSB 15.
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Alle Beohte vorbehalten
Gedruckt bei Imberg & Lefson, G. m. b. H. in Berlin SW 48
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Inhalts -V erzeichnis.
Original-Arbeiten. s**
Bimbaum, Karl, Pathologische Uberwertigkeit und Wahn-
bildung. 39, 126
Bonhoeffer, K., Doppelseitige symmetrische Schlafen- und
Parietallappenherde als Ursache vollstandiger dauemder
Worttaubheit bei erhaltener Tonskala, verbunden mit
taktiler und optischer Agnosie. 17
—. —, Psychiatrie und Neurologie. 94
Borchardt, Ludwig, Ungewohnlicher Symptomenkomplex bei
einem Fall von symptomatischer Psychose.116
Budvl, H., Beitrag zur vergleichenden Bassenpsychiatrie . 199
Forster, E., und Erich Scldeavnger, tJber die physiologische
Pupillenunruhe und die Psychoreflexe der Pupille 197
Jdrger, Joh. Ben., tJber Assoziationen bei Alkoholikem . 246, 323
Kramer, Franz, Lahmungen der Sohlenmuskulatur bei Schufi-
verletzungen des Nervus tibialis. 11
Ldwy, Max, Neurologische und psychiatrische Mitteilungen
aus dem Kriege .380
Marburg, Otto, Beitrage zur Frage der kortikalen Sensi-
bilitatsstorungen. 81
Meyer, Hugo, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysen-
cyste.228
Mingazzini, 0., tTber den gegenwartigen Stand unserer
Kenntnis der Aphasielehre.150
Muskens, L. J. J., Psychiatrie, Neurologie und Neuro-
chirurgie.374
Pick, A., Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen 143
— —•, Zur Lehre vom Verh<nis zwischen pathologischer
Vorstellung und Halluzination.269
Pojypelreuter, W., t)ber den Verauch einer Revision der
psycho physiologischen Lehre von der elementaren
Assoziation und Reproduktion.278
293386
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— IV —
Selte
Redlicliy Emil , Zur Narkolepsiefrage . 85
— —Zur Frage der operativen Behandlung der SchuB-
verletzungen peripherer Nerven. (Hierzu Taf. I) . . 333
Romer , C., t)ber die Pathogenese des Sonnenatichs . . 104
Schroder , P Von den Halluzinationen. 1
Schultz , J. H., Beitrage zur somatischen Symptomatik und
Diagnostik der Dementia praecox . ..205
Schuster , P., Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik
der Meningitis serosa spinalis circumscripta. (Hierzu
Taf. II—III).341
Buchaazeige 141
Ludwig Edinger . 267
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(Aus der psychiatrischen. und Nervenklinik zu Greifswald.)
Von den Halluzinationen.
Von
Prof. P. SCHRODER.
Ueber Halluzinationen ist wahrend der letzten Jahre reichlieh
und ausfiihrlich in der psychiatrischen Literatur geschrieben
worden. Den Inhalt der Arbeiten machen der Hauptsache nach
psychologische und philosophische Erorterungen aus iiber das
Wesen und Zustandekommen der Sinnestauschungen, iiber das
Problem des Halluzinierens in erkenntnis-theoretischer Hinsicht,
iiber die Frage der Lokalisation der Halluzinationen im Gehim
und ahnliches mehr; dagegen stehen symptomatologische und
klinische Fragen stark im Hintergrund, neues Untersuchungs-
material wird nur sparlich beigebracht, und vorwiegend alter©
Schilderungen und Auffassungen, bis zuriick zu Johannes Muller
und Esquirol , geben die Grundlage ab fiir die Auseinandersetzungen,
sowie fiir die Aufstellung, Bekampfung und Verteidigung von
Theorien, deren Angelpunkte auch ihrerseits im wesentlichen die
gleichen geblieben sind. Es hat fast den Anschein, als habe sich bei
den Autoren allmahlich, und schon seit langem, eine fixierte Vor-
stellung davon festgesetzt, wie eine „echte“ Halluzination be-
schaffen sein miisse und als werde mit diesem B e g r i f f gearbeitet;
was nicht ganz in die Definition paBt, gibt Gelegenheit zur Auf¬
stellung verschiedener Gruppen von ,,Pseudohalluzinationen“. Das
Halluzinieren gilt als ein mehr oder weniger einheitlicher, von
anderen psychotischen Erscheinungen gut abgrenzbarer elemen-
tarer Vorgang, Illusionen und Halluzinationen werden theoretisch
scharf geschieden, die alte rein auBerliche Einteilung nach Sinnes-
gebieten bzw. nach der Ein- oder Mehrzahl der beteiligten Sinnes-
gebiete ist die vorherrschende; es wird eingehend erortert, wodurch
die in letzter Linie alien Halluzinationen zugrunde liegenden eigenen
Vorstellungen (Erinnerungen) des Kranken fiir ihn den Charakter
der Wahmehmung erhalten, es wird nach Erklarungen gesucht fiir
die Grundlage desRealitatsurteils u.s.f. Auf der anderen Seite sehen
wir jedoch, daB fiir die Mehrzahl der Kliniker der Begriff des Hallu¬
zinierens ein gut Teil dieses alten starren Geprages verloren hat.
Damit haben auch die in Betracht kommenden theoretischen Frage-
stellungen allerlei Verschiebungen gegeniiber der Zeit vor fiinfzig
und mehr Jahren erlitten, und so kann es kommen, daB sich die
Erorterungen in manchen der psychologischen und philosophischen
Mouatssohrift f. Psyohlatpie u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 1. 1
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2 Schroder, Von den Halluzinationen.
Schriften iiber das Halluzinieren aus den letzten Jahren mit den
klinischen Bediirfnissen und Wiinschen nicht iiberall decken.
Aeltere und neue Definitionen stimmen, scheint es, darin
ii herein, daC Halluzinationen (fiir den Kranken, subjektiv be-
trachtet) Wdhrnehmungen sind, ,,Wahmelunungen ohne au Ceres'
Objekt“ (E. Mendel), ,,Wahmehmungen ohne Erregung des be-
treffenden Sinnesgebietes durch ein aufieres Objekt, nur infolge
innerer Reize“ ( Binsivanger ), ,,Wahrnehmungen, denen keine wirk-
lichen Dinge entsprechen“ ( Goldstein ), ,, Wahmehmungen oder
Sinnesempfindungen, welchen das Individuum voile Realitat bei-
mifit, trotzdem keine physiologische Erregung bei ihnen vorhanden
ist“ ( Heveroch ). Halluzinationen sind nach diesen bestimmt formu-
lierten Erklarungen dem Kranken das gleiche wie seine normalen
Wahmehmungen, ,,die echten Halluzinationen sind in jeder Be-
ziehung den normalen Wahmehmungen gleiche psychologische
Phanomene", sie „unterscheiden sich von der Wahmehmung . . .
subjektiv, als psychischer Tatbestand durch nichts“ (Goldstein).
Das ist eine Auffassung, die man allenthalben, prazise oder weniger
prazise, wiederfindet, gegen die sich aber manches vorbringen und
geltend machen lafit.
Sucht man am Krankenbett nach Halluzinationen entsprechend
den angefuhrten Definitionen, dann sind Halluzinationen etwas ver-
haltnismaCig Seltenes; denn tatsachlich sind der Halluzinanten
nicht gerade sehr viele, fiir welche die Sinnestauschungen den vollen
Charakter der ihnen sonst bekannten alltaglichen Wahmehmungen
haben. Solche Halluzinanten gibt es, ihre charakteristisChen An-
gaben lesen wir immer wieder als Paradigmata in Einzelabhand-
lungen und Lehrbiichem, und auf ihre oft sehr prazisen und pra-
gnanten Schilderungen werden dieTheorien von den Halluzinationen
mit Vorliebe aufgebaut; aber es sind das nur ganz bestimmte
Gruppen von Kranken, die groCtenteils einigen wenigen, in den
Klimken und Anstalten nicht einmal haufigen Krankheitstypen
angehoren. Hauptsachlich handelt es sich um Deliranten aller Art
und um Kranke mit akutem Alkoholwahnsinn, sowie mit anderen
akuten halluzinoseahnlichen Episoden; meist werden den Schilde¬
rungen dieser Kranken als nahe verwandt, aber schon ins Normale
heriiberfuhrend, angegliedert die Selbstbeobachtungen in Traumen
und hypnagogen Zustanden, sowie diejenigen besonderer ,,Kunstler-
naturen“ mit stark sinnlichem Vorstellungsvermogen. Diesen
gegeniiber trifft es aber fiir die grofie Mehrzahl der psychisch
Kranken und Abnormen nicht zu, dafi ihnen ihre Sinnestauschungen
in jeder Beziehung den normalen Wahmehmungen gleichen; das
ist ein Grund, der es unberechtigt erscheinen lassen muB, die oft
geschilderten, voll leibhaftigen Sinnestauschungen allein als ,,echte“
zu bezeichnen und ihnen das Gros der anderen als weniger oder
gar nicht ,,echt“ nur anzugliedem. Eine solche Einteilung und
Bewertung tragt den klinischen Tatsachen und den klinischen
Bediirfnissen schlecht Rechnung; sie kann Interesse haben fiir
mancherlei psychologische Einzelfragen und Erorterungen, aber
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Schroder, Von den Halluzinationen.
3
daB sie klinisch von einschneidender, nicht nur von oberflachlicher
symptomatischer Bedeutung ist, miiJJte erst noch dargetan werden.
Gerade so berechtigt und moglicherweise sogar fruchtbarer fiir die
psychologische Betrachtung der Halluzinationen konnte es sein,
umgekehrt die von den Autoren mit Vorliebe als echte heraus-
gehobenen nur als besondere, verhaltnismaBig seltene Ausnahmen
dem Gros der haufigsten Sinnestauschungen anzureihen.
Wer halluzinierende Geisteskranke untersucht, ohne bestimmte
Gruppen eigens auszuwahlen, dem muB auffallen, wie die bei weitem
meisten Kranken in ihren Angaben und Schilderungen imruer
wieder zu erkennen geben, daB es etwas Besonderes, Eigenartigee,
Ungewohnliches ist, was sie wahrzunehmen vermeinen, etwas, das
von den gewohnten Alltagswahmehmungen abweicht nicht nur in
seiner Deutungsmoglichkeit und Erklarbarkeit, sondem auch in
seinem elementaren sinnlichen Charakter; das geht bereits hervor
aus der haufigen Heranziehung von Vergleichen, von unbestimmten
und ungenauen Benennungen, sowie aus dem sehr haufigen Ge-
brauch der Redewendungen ,,als ob“, ,,wie wenn“ (z. B.: mir ist,
als ob es mir im ganzen Korper heraufzieht, wie wenn meine Frau
eben gerufen hatte usw.). Es ist dann oft leicht nachzuweisen, daB
die Benennung, welche die Kranken zunachst wahlen, nur eine
denominate e potiori ist, weil es genauere sprachliche Bezeich-
nungen fiir das, was die Kranken wahrzunehmen vermeinen, iiber-
haupt nicht gibt, oder weil die Kranken sich vorerst nicht die Miihe
geben, ganz prazise zu sein; sie berichten von Sprechen, das sie
horen, von einem Stechen, das sie fiihlen, und fragt man weiter,
so geben sie an, es sei eigentlich gar kein Sprechen, es seien nicht
einmal eigentlich Worte, es sei eigentlich auch kein Stechen usf.
Allerdings ist das Verhalten verschiedener Kranken darin ver-
schieden, je nach ihrer Neigung und Fahigkeit gut zu beobachten,
bzw. nach der jeweiligen Moglichkeit, von diesen Fahigkeiten Ge-
brauch zu machen; von imbezillen, benommenen, affektvoll sehr
erregten oder von dement gewordenen Kranken wird man solche
Aufschliisse seltener erhalten. l)azu kommt, daB wir selber das
Wahlen solcher nicht ganz oder iiberhaupt nicht zutreffenden Be-
zeichnungen bei dem ersten oberflachlichen Krankenexamen nicht
selten unterstiitzen, dadurch, daB wir direkt und suggestiv fragen
beispielsweise nach Stimmen, nach bestimmten korperlichen Be*
lastigungen, nach Gestalten usw., und daB wir uns mit einer be-
jahenden Antwort auch zufrieden geben. DaB ein groBer Teil der
Kranken mit sprachlichen Halluzinationen (Phonemen) dafiir den
Terminus ,,Stimmen" wahlt oder ihn wenigstens sofort akzeptiert,
ist gleichfalls gewiB kein Zufall, sondem hat als Grund, daB ihnen
dieser besondere Name fiir das Besondere der Wahmehmung, fiir
ihre Andersartigkeit, ihr Abweichen von dem sonstigen Sprechen-
horen, passend erscheint; denn Kranke mit sprachlichen Halluzina¬
tionen von vollkommener Sinnlichkeit und Leibhaftigkeit reden
nicht von Stimmen (falls nicht auch sie besondere Griinde dazu
haben), sondem geben an, daB diese oder jene bestimmte an-
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4 Schroder, Von den Halluzinationen.
wesende oder in der Nahe befindliche Person dies oder jenes
spreche (projizierte Phoneme Wernickes).
Am besten bekannt ist die Andersartigkeit, das Abweichen
von den gewohnlichen Wahmehmungen bei einem groBen Teil der
Sensationen Geisteskranker; die Empfindungen und Wahmehmun¬
gen, xiber die berichtet wird (in der Haut, in den Eingeweiden, in
einzelnen Korperabschnitten, im ganzen Korper), machen dem
Kranken ganz gewohnlich den Eindruck des Neuen und Ungewohn-
lichen, das er aus gesunden Tagen her nicht kennt. Damit hangt
es zusammen, dafi gerade solchen Kranken ganz besonders haufig
fur das Eigenartige, das sie vermittelst des Gefiihlssinns wahr-
zunehmen glauben, in unserer Sprache die Worte und Bezeich-
nungen fehlen, und dafl sie deshalb zur Verstandlichmachung
immer wieder Vergleiche wahlen, oder aber sich selber neue Worte
schaffen bzw. alten Worten einen speziellen neuen Inhalt geben
(Kunstausdriicke der Kranken). Es ist richtig, daB solche Sen¬
sationen haufig sind gerade bei Kranken mit tiefgreifenden, meist
nicht wieder ausgleichbaren psychischen Veranderungen, bei
Kranken, welche oft allgemein die Neigung zu absonderlicher,
manirierter, verschrobener Sprechweise haben; aber es ist nicht
angangig, in alien Fallen die allgemeinen psychotischen Erschei-
nungen (Demenz, Versehrobenheit, Zerfahrenheit) als Erklarung
fiir sonderbare Benennungen krankhafter Empfindungen geltend
zu machen, vielmehr wird man sehr haufig in den eigenartigen
Bezeichnungen das sprachliche KGrrelat fiir die eigenartigen, un-
gewohnlichen Wahmehmungen zu erkennen haben. Das diirfen
wir in der Regel ohne weiteres dann annehmen, wenn festzustellen
ist, da£ die Kranken sich korrekt und nicht von dem iiblichen ab-
weichend ausdriicken, solange von ihren Sensationen und den damit
im Zusammenhang stehenden Wahnideen die Rede nicht ist. Man
lauft die Gefahr einerPetitio principii zu Gunsten der Voraussetzung,
daB Halluzinationen im engeren Sinne sich von der normalen Wahr-
nehmung in nichts unterscheiden, wenn man allgemein behauptet,
die psychischen Funktionen miiBten um so tiefer damieder liegen,
je mehr die Sinnestauschungen, welche fiir real gehalten werden,
von der normalen Wahmehmung abweichen.
Eine weitere wichtige, bekannte und haufig zu machende
Beobachtung ist die, dafi Kranke, welche nach ihren ersten Angaben
oder nach ihrem Verhalten augenscheinlich auf einem oder
mehreren bestimmten Sinnesgebieten halluzinieren, bei naherem
Befragen nicht sicher, oder nicht ganz sicher zu entscheiden ver-
mogen, welches Sinnesgebiet ihnen das angeblich Wahrgenommene
vermittelt. Auch das ist eine Eigenschaft, durch welche sich Hallu¬
zinationen sehr haufig von den normalen Wahmehmungen unter¬
scheiden; es sei denn, daJJ man wieder in alien solchen Fallen die
Bezeichnung Halluzination fiir unzulassig erklart. Derartige
Kranke gebrauchen kurz hintereinander und anscheinend pro-
miscue fiir die gleichen krankhaften Wahmehmungen die Bezeich¬
nungen Horen, Sprechen, Fiihlen, Sehen usw.; das wiirde, um
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Schroder, Von den Halluzinationen.
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einmal physio-psychologisch zu reden, etwa heiBen: die Vor-
stellungen, welche derartigen Halluzinationen zugrunde liegen,
werden von den Kranken nicht zu einem bestimmten Sinnesorgan
hinausprojiziert. Die Kranken sind sich nicht klar, welches Sinnes-
gebiet beteiligt ist. Geht das noch weiter, so laBt sich durch Be-
fragen oft feststellen, daB es sich iiberhaupt nur ganz allgemein
um ein Yemehmen, Empfinden, Wahmehmen handelt, ohne aus-
gesprochen sinnlichen Charakter oder nur mit ganz leichter, schwer
naher bestimmbarer sinnlicher Farbung; z. B. ant wort ete eine
Kranke auf die Frage nach ,,Stimmen“: ,,Mir ist es so, als ob ich
mit meiner Mutter und meinen Bekannten irgendwie in Ver-
bindung stehe durch irgendwelche Zeichen . . . es ist wie ein Hauch ,
als ob es Betvegung ware, so daB ich mit ihnen in Verbindung trate.
Die Bewegung verbindet sich mir wie Schatten , oder noch weniger
wie Schatten, ... die Stimmen sind wie ein Hauch, sie kommen
aus dem ganzen Korper , auch aus den FiiBen“; d. h. es werden
hier von der Kranken in einem Atem fur die gleichen Wahr-
nehmungen Bezeichnungen oder Vergleiche aus den verschiedensten
Sinnesgebieten angewendet. Von solchen Halluzinationen mit ge-
ringer, unbestimmter sinnlicher Farbung kann man einerseits zu
Sinnestauschungen mit dem Charakter voller Leibhaftigkeit,
andererseits zu Vorgangen, welche bloB als Gedanken ungewohn-
licher und fremdartiger Natur empfunden werden, alle Uebergange
bei denselben Kranken in kurz aufeinander folgenden Veriaufs-
stadien beobachten.
Fehlerquellen bei der Bewertung solcher Auskiinfte der
Kranken konnen sich nach mehreren Richtungen ergeben. Die
Kranken unterscheiden, gerade wie ungebildete und wenig gut
beobachtende Gesunde, vielfach nur schlecht z wise hen Wahr-
nehmungen und hinzugedachten Erklarungen; Erklarungs-
vorstellungen auf einem bestimmten Sinnesgebiet beweisen nicht
ohne weiteres die Beteiligung dieses Sinnesgebietes bei dem hallu-
zinatorischen Vorgang; die Kranken selber falsehen oft sehr rasch
ihre Erinnerung und fiigen dann bei ihren Berichten als angeblich
wahrgenommen vieles hinzu, was tatsachlich zu keiner Zeit bei
ihnen den Charakter der Wahmehmung gehabt hat. DaB man
wieder in weitem MaBe bei den Priifungen von dem Entgegen-
kommen und dem Verstandnis des Untersuchten abhangig ist,
braucht nicht erst gesagt zu werden. Gut beobachtende, vollig
klare Kranke geben sich nicht mit der nachstliegenden, kurzweg
e potiori gewahlten Benennung zufrieden, welche vielen anderen
geniigt. SchlieBlich ftndem chronisch kranke Halluzinanten recht
oft ihre Begriffe und ihr altes Erfahrungsmaterial aus gesunden
Tagen allmahlich derart ab, daB eine Verstandigung mit ihnen liber
die besondere Art ihrer Tauschungen schwer oder nicht mehr mog-
lich ist.
Klinische Beispiele fur das Gesagte erscheinen fast iiber-
fliissig, da es sich um allgemein bekannte Dinge handelt; die folgen¬
den Nachschriften aus Krankengeschichten sollen deshalb auch
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Schroder, Von den Hallu 2 i‘nationen.
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nur einige Einzelheiten kurz erlautem helfen, insbesondere was das
haufige Abweichen des Inhalts der Sinnestauschungen von nor-
malen Wahrnehmungen und die Unsicherheit der Kranken beziig-
lich der Beziehung ihrer Halluzinationen auf bestimmte Sinnes-
gebiete betrifft.
Ein Kranker 1 ) &ufierte bei einer Unterredung (Protokoll vom 16. II.
1914) zunachst spontan:
„Ohne daB ich will, spreche ich, wie kommt das ?“ und setzte sogleich
fortfahrend hinzu, „wie kommt das nun, daB ich das hore ?“ Auf die Frage:
Horen Sie es oder sprechen Sie es ? erwiderte er: „Ich hore das und ohne
daB ich will, spreche ich; ich selbst personlich spreche es nicht, ich werde
gezwungen, und dann diese Kopfschmerzen / (faBt sich an den Hinterkopf),
jetzt ist der Knoten am Kopf hinten wieder groBer. 44 (Lst es Horen oder
Sprechen ?) „Sprechen ist es auch, ich habe auch groBe Kopfschmerzen da-
durch; . . . das ist gerade, als wenn ich spreche , z. B. hore ich: Sie sind doch
einmal auf dem Bahnhof D. gewesen. 44 (Ist es Horen oder Sprechen?)
,,Das laBt sich gar nicht beschreiben, Herr Professor . . .; ich halte den
Mund dabei ganz still und der Kehlkopf geht hin und her, auf und ab und
namentlich (greift wieder an den Nacken) an dem Kopf hinten. 44 Der
Kranke schildert dann, nach weiteren Einzelheiten gefragt, ein einige Tage
zuriickliegendes Erlebnis bei einer arztlichen Visite mit den Worten: „Als
die Herren vorbeigingen, sah ich mit einem Male, wie hier oben (zeigt auf
seinen Hinterkopf) ein Mann darin stand und nahm etwas heraus und
ein anderer sagte: du hast genug, hast alle Taschen voll! Dann fiihlte ich
das hier im Kehlkopf; . . . man hat das Gefuhl, da oben (zeigt wieder auf
den Hinterkopf) steht einer und biickt sich, er steht krumm und macht
gar nichts. 44 (Das ist doch aber nicht moglich!) „Nein, es ist auch eigent-
lich nicht moglich, beschreiben kann man das nicht. 44
Was dieser Kranke, ein Volksschullehrer, der sich selber gut
beobachtete, uns in alien seinen Angaben vor allem erkennen laBt,
ist die Unmoglichkeit, mit unseren Worten und Begriffen uns seine
krankhaften Empfindungen und halluzinatorischen Erlebnisse klar
zu machen; er unterscheidet bei seinen Wahrnehmungen offenbar
nicht zwischen Horen und Selbersprechen (bzw. Sprechbewegungen-
machen), er behandelt beides als das gleiche oder als etwas inein-
ander Uebergehendes; er hat aber dazu noch gleichzeitig immer
*) Fall I. Karl R., 56 Jahre, Lehrer. Von jeher psychopathisch,
seit langerem schon erregbarer; friiher nicht krank. Seit Mai 1912 un*
ruhig, angstlich. Wegen zunehmender Angst, planlosem Umherirren und
Verdacht der Selbstmordneigung Aufnahme in die Klinik am 30. VII. 1912.
Korperlicher Befund negativ, keine Arteriosklerose. Ratios -angstlich,
monotone Unruhe; zittert, schiittelt sich, stottert. Schon nach einigen
Tagen Beruhigung. Still, zuriickhaltend. Keinerlei Anhaltspunkte fiir
Halluzinationen. Entlassungsversuch miBgliickt; kann sich zu Hause zu
nichts recht entschlieflen, wieder angstlicher. Geordnet, orientiert, klar;
bei Anrede stets eine eigenartige, verlegene Unruhe, Zupfen, Erroten,
Stott ern; allerlei Bedenken iiber etwaige Vergehen im Dienst. Nach einigen
Wochen wieder ruhiger, kommt aber mit allerlei hypochondrischen Klagen.
Zuriickhaltend und wenig gesellig. Kann sich nicht aufraffen zu Ent-
schliissen. Im September 1913 zunehmende Aengstlichkeit, gibt jetzt bei
Befragen an, seit einigen Tagen ganz deutlich Stimmen zu horen, die ihn
rufen und ihm von Hause erzahlen. Schlechter Schlaf, verstarkte Unruhe.
Dann wecliselndes Verhalten. Leicht ablehnend, gereizt und miBtrauisch.
Sehr viel Halluzinationen, fiber die er oft klagt. Physikalische Erklarungs-
vorstellungen: Elektrizitat usw. Wird langsam ruhiger, keine Krankheits-
einsicht, halt sich fiir gesund. Am 1. V. 1914 nach Hause entlassen.
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Schroder, Von den Halluzinationen.
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eigentumliche Empfindungen, die er an eine umschriebene Stelle
im Hinterkopf lokalisiert und von denen er abweehselnd und an-
scheinend promiscue angibt, er fiihle, er sehe und er hore sie an
dieser bestimmten Stelle. Auch darin auBert sich also bei ihm die
Andersartigkeit seiner Halluzinationen gegeniiber normalen Wahr-
nehmungen, daB Kombinationen von Sinnesempfindungen zu-
stande kommen, die dem Gesunden unbekannt sind.
Bei einer anderen Kranken 1 ) kommt zu der Unbestimmtheit,
man mochte fast sagen Verwaschenheit der Sinnesqualitaten die
Unbestimmbarkeit der Lokalisation der eigenartigen Empfindungen
hinzu. Sie berichtet u. a. (Protokoll vom 14. und 20. II. 1914), als
sie nach ihren „Stimmen“ gefragt wird, iiber welche sie sich viel
beklagt und von denen sie taglich zu erzahlen liebt:
„Es ist mir, als wenn es hier ist (zeigt auf die Brust), aber es ist im
Kopf, es ist immer so, als wenn es eben im Kopf fnrchtbar schreit , als wenn
der Schall das ist, . . . dann ist es so, als wenn die Wellen so heraus sprudeln,
als wenn es nachlaBt vom Kopf herunter und als wenn es hier (zeigt auf das
linke Ohr) so herauffliegt. Es ist nur ein SchaU; als wenn es WeUensprudel
sind, die wollen sie dann sprechen lassen. Wenn ich an den Kopf hinten
fasse, ist es wie ein Sprudel und es zieht auch quer durch den Kopf, und
es ist dann, als wenn eine Stimme bloB gegen das linke Ohr fliegt und sagt:
siehst du wohl! Es ist, als wenn ich ein schneidendes Wasser hore , das
Sausen, das darin ist.“ Die ausdruckliche Frage, ob sie etwas hore , wird
dann wieder beantwortet: „Ja ich hore wirkliche Stimmen im Kopf und
dann manchmal mehr nach unten, nach dem Mund, als wenn es wegziehen
will ... Es ist immer die richtige sprechende Stimme, die spricht iiber
alles, ich bin der Meinung, daB es im Kopf ist, daB ich es nur im Kopf
hore; dann f&ngt es im Kopf an zu schreien. 44
Besonders prazise Angaben hat ein Philosophiestudent ge-
macht, der an einer ersten, nur kurzdauernden akuten katatoni-
schen Psychose erkrankt war. Er glaubte, in Gedankenverbindung
mit seinem Philosophie-Professor zu stehen; dessen Gedanken
wurden ihm verstandlich gemacht durch leichtes Aufeinander-
klappen seiner eigenen Zahne und durch rhythmisches Zucken
seiner Zungenspitze. Das ganze war ,,nicht ohrenhaft“, ,,nicht
Ton“, er hdrte nichts, sondem ftihlte das unfreiwillige rhythmische
*) Fall II. Frieda B., Beamtenfrau, 64 Jahre. Vor 10 Jahren, in
der Menopause, etwa ein Jahr lang unruhig, unzufrieden, schimpfte viel.
Sonst nicht krank. Seit Sommer 1913 bei jeder Kleinigkeit erregt. Singen
und Pfeifen in den Ohren; ist angeblich gleichzeitig schwerhorig geworden.
Seit derselben Zeit hort sie Stimmen ,,aus sich heraus 44 . Zog sich zuriick,
besorgte aber ihre Wirtschaft vollstandig. Schlechter Schlaf. 18. I. 1914
Aufnahme in die Klinik. Schlechte Schulbildung, aber nicht ausgesprochen
imbezill. Die Stimmen in ihrem Innern erzahlten ihr alles, was sie zu Hause
tat, die Stimmen wissen auch alles, sie sprechen ihr oft ihre Gedanken
nach und geben ihr Befehle. Die Kranke erzahlt ausfiihrlich und gern, ohne
besonders lebhaften Affekt, ohne MiBtrauen und ohne Absonderlichkeiten.
Halluziniert andauernd in der gleichen Weise. Otologisch: Starke Rest©
friiherer Mittelohreiterung, erhebliche Schadigung des nervosen Apparates.
Allmahlich l&Bt das Halluzinieren nach, schwindet aber nicht ganz. Stets
orientiert, geordnet, besonnen, entgegenkomraend. Haufig unsinniger In¬
halt der Gehorstauschungen. Nichts fur Arteriosklerose. Keine Merk-
sehw&che, keine Konfabulationen, nichts Delirantes. 14. III. 1914 ent-
lassen.
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Schroder, Von den Halluzinationen.
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Bewegen der Zahne; er gab ausdriicklich an, es seien nicht die ihm
aus psycho-physiologischen Studien bekannten Innervationggefiihle
bei Sprachbewegungen gewesen, sondem eben einfache grobe
Zuckungen, deren jede einer Silbe entsprach. Er habe in einer Ver-
bindung mit dem Professor gestanden, ,,sagen wir in einer tele-
phonischen . . . aber das ist nur ein sehr unvollkommenes Bild
dafiir 44 ; Gedankeniibertragung sei der richtige Ansdruck, Horen
wie beim Telephon sei es eben nicht.
Ein Beispiel schlieBlich dafiir, wie die Kranken in ihren An-
gaben vielfach schwanken und wechseln, ob es sich um bloBe Ge¬
danken oder um Gesprache, gesprochene Auftrage und Befehle
handele, die sie vermittelst des Gehors vemehmen, ist ein Kranker 1 ),
der viel von „Stimmen“ erzahlte und von ganzen Gesprachen,
die er horte, z. B. daB der Oberarzt ihm herauf sage, er solle heute
Abend entlassen werden, noch um 6 Uhr, daunt er mit dem Abend-
zug fahren konne, oder daB sein Herr ihn frage, wie es ihm gefalle
usw. Bei genauerem Befragen (Protokoll vom 9. XII. 1913) gab
er dann sofort und mit Bestimmtheit an, das Sprechen, das er
meine, klinge nicht so, wie beispielsweise das Sprechen des Arztes
jetzt. Die zweimal unmittelbar wiederholte Frage: Wie klingt es V*
wird einmal beantwortet: ,,Klingen tut es gar nicht, das sind wohl
bloB die Gedanken im Ohr 44 und dann: „Es klingt ganz dumpfig,
wie aus weiter Feme . . . der hat mir das nicht laut gesagt, ich habe
es empfunden . . . eine ganz genaue Behauptung ist das iiberhaupt
nicht; viel dariiber reden laBt sich da nicht. 44 Auf die Frage:
HabenSie es nun gehort oder nur in Gedanken gehabt ?“ antwortete
er: „Na wir wollen mal sagen in Gedanken gehabt, fuhr aber spon-
tan nach einer kurzen Pause fort: ,,oder wir konnen ja auch sagen
gehort . . . Herr Arzt, wer weiB da richtig mit Bescheid! 44 Ein
andermal fiigte er noch hinzu: ,,Es ist, als wenn man in den Ohren
Schmerzen darin hat 44 .
Von Kranken der gleichen Art, oft auch von denselben Kranken
zu anderen Zeiten lhres Krankheitsverlaufes kann man andrerseits
horen, daB das, was sie sprachlich vemehmen, genau so sei wie
x ) Fall III. Wilhelm R., Maurer, 36 Jahre. Friiher starker Trinker,
in den letzten Jahren nicht mehr; erkrankte anscheinend plotzlich am
2. XII. 1913. Bis dahin gesund, hat bis zuletzt gearbeitet. Behauptete
alsdann, er werde mit Rontgenstrahlen bearbeitet, ein Rittergut gehore
ihm, er sei der Sohn eines Grafen; lachte im Stillen viel vor sich hin. Auf-
nahme 8. XII. 1913. Orientiert, geordnet, kein Rrankheitsgefiihl. Habe
in der Nacht vom 3. zum 4. XII. das erste Mal Stimmen gehort, die ihm
allerlei erzahlten; seitdem dauernd Stimmen. Er habe jeden Menschen
anrufen konnen, der gar nicht in seiner Nfthe war. Jetzt sei es mehr, als
wenn er seine eigenen Gedanken fiihle. Dabei euphorischer Stimmung.
Nach einigen Tagen allerlei H^jochondrisches. Sein Bett sei ein Apparat
mit Messern, er konne es vor Elektrizit&t nicht aushalten, der RiiCken sei
ganz verbrannt, durch das Waschwasser verliere er seine Augen. Wird
angstlich, miC trail is ch, gereizt. Allmfl-hliches Abklingen; nach etwa neun
Wochen (Mitte Februar 1914) weitgehende Krankheitseinsicht, aber noch
gelegentlich Horen einer Stimme und etwas zuruckhaltend im Weeen.
1. IV. 1914 von der Frau abgeholt.
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Schroder, Von den Halluzinationen.
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alles Sprechen, daB das, was sie wahmehmen, empfinden usw.,
genau denselben Charakter habe, wie alle ihre Wahrnehmungen
und Empfindungen sonst, und daB Zweifel an der Realitat nicht
auftauehen, d. h. daB es sich um ,,echte“ Halluzinationen im Sinne
der Autoren handelt. Doch gibt es Halluzinationen, die niemals
voll leibhaftig, niemals vollig den normalen Wahrnehmungen gleich-
artig sind; das bekannteste Beispiel dafiir stellt die groBe Mehrzahl
der isolierten Gesichtstauschungen dar, die den Kranken immer
nur den Eindruck von Schatten, von flachen, nicht korperlichen
Erscheinungen usw. machen. Fur voll leibhaftig und unbedingt
fur real wird anscheinend die Mehrzahl der szenenhaften deli-
ranten Erlebnisse, so wie ein bestimmter, umschriebener Teil der
Phoneme gehalten (speziell bei den akuten Halluzinosen); be-
hauptet wird die Leibhaftigkeit vielfach von den Kranken auch
fur taktile und fiir manche der an sich meist wenig lebhaft empfun-
denen Geruchs- und Geschmackstauschungen; doch ist bekannt,
wie selten letztere sicher als rein halluzinatorisch bedingt nachweis-
bar sind und welch groBe Rolle gerade bei ihnen illusionare Ver-
kennungen und wahnhafte Faktoren spielen. —
Die mitgeteilten Nachschriften aus Krankengeschichten ent-
halten an mehreren Stellen Hinweise auf die Erscheinung des sog.
Gedankenlautwerdens; zwei von den Kranken haben zu anderen
Zeiten das Symptom in der ausgesprochenen, charakteristischen
Weise gehabt, daB sie ihre eigenen Gedanken (beim Nachdenken,
Lesen, Schreiben) wiederholen, mitsprechen, nachsprechen, vor-
sprechen horten. Mit dem Namen Gedankenlautwerden, der dafiir
iiblich geworden ist, wird allerdings nur wenig gesagt; denn man
darf nicht vergessen, daB schlieBlich alle sprachlichen Halluzina¬
tionen (Phoneme) ein Lautwerden eigener Gedanken des Kranken
sind, und es wiirde, streng genommen, den uns gelaufigen Auf-
fassungen vom Wesen der Halluzinationen durchaus entsprechen,
wenn wir auch die Gesichts-, die Gefiihls- usw. Tauschungen ent-
sprechend als ein „Gedankensichtbarwerden“, ,,Gedankenfiihlbar-
werden" usw. bezeichnen wollten in demselben Sinne wie wir vom
Gedankenlautwerden sprechen, und wenn wir schlieBlich das kom-
binierte Halluzinieren (beim Deliranten) ein ,, Gedankenerleben‘ 4
nennen 1 ). Was das Gedankenlautwerden von anderen Phonemen
unterscheidet, ist daB der Kranke selber sein Denken und das
halluzinatorische Wahrnehmen als zwei gesonderte und meist auch
zeitlich aufeinander folgende Vorgange empfindet, femer, daB er
in dem Halluzinierten seine eigenen Gedanken und deren sprach-
liche Formulierung wiedererkennt, wahrend anderen Halluzinieren-
den das Vemommene fremdartig und nicht als ihr eigenes Denk-
Von „Gedankensichtbarwerden t4 in einem spezielleren Sinne hat
bereits einmal Halbey (Allg. Ztschr. f. Psych., Bd. 65, S. 307, 1908) ge-
sprochen bei einem Kranken, der das, was er in Worten dachte und was
er horte (z. B. bei der Predigt) in Buchstabenschrift oder in stenographischen
Zeichen 20—30 cm vor sich sah; derselbe Kranke hatte vorher das Symptom
des Gedankenlautwerdens in der gewohnliehen akustischen Form.
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Schroder, Von den Halluzinationen.
10 -
produkt erscheint. Gerade die sprachlichen Halluzinationen geben
auch meist die beste Gelegenheit, festzustellen, daB es tatsachlich
flieBend alle Uebergange vom bloBen Vorstellen und Denken zum
„echten“ Halluzinieren gibt, mit anderen Worten, daB diejenigen
Elemente, welche die Vorstellungen (Erinnerungen) der Kranken
den Wahrnehmungen ahnlich oder gleich machen, sich in alien
Gradabstufungen hinzugesellen konnen, von bloBen Andeutungen
bis zur Hervorrufung des Eindruckes voller Leibhaftigkeit und
Realitat 1 ).
Es wird mit Recht betont, daB nicht schlecbthin alles, was
auf den ersten Blick und auf die ersten Angaben der Kranken bin
als halluziniert erscheint, tatsachlich halluziniert ist. Oft stellt sich
heraus, daB es sich lediglich urn Konfabulationen, tun festgehaltene
Traumerlebnisse und dergleichen mehr handelt. Angaben uber
Bearbeitung mit Elektrizitat, uber Beeinflussung durch Rontgen-
strahlen usw., welche zunachst als durch Sensationen bedingt er-
scheinen konnen, sind recht haufig nur Erklarungsideen fur Vor-
gange, die mit abnormen korperlichen Empfindungen nichts zu tun
haben, beispielsweise fiir das Gedankenlautwerden, fiir imperative
Phoneme, fiir Pseudospontanbewegungen und ahnliches mehr.
Sodann haben wir allenthalben mit Irrtumem und Selbsttau-
schungen der Kranken zu rechnen; die Kranken unterliegen Er-
innerungsfalschungen beziiglich ihrer Halluzinationen naturgemaB
noch in weit hoherem Grade als schon der Gesunde beziiglich seiner
Wahrnehmungen, eben weil bei ihnen die das nachtragliche Falschen
begiinstigenden Momente besonders haufig in besonders starkem
MaBe vorhanden sind (lebhafter Affekt, krankhafte Eigenbeziehung,
Wahnbildung, Merkschwache usw.). Was fiir die retrospektive
Falschung gilt, gilt ebenso bereits fiir die Falschung des Wahr-
nehmungsvorganges, beispielsweise durch Auffassungsstorungen
und durch krankhafte Eigenbeziehung; es ist bekannt, daB es
Kranke genug gibt, deren „Halluzinationen“ sich bei naherem
Zusehen ganz oder zum iiberwiegenden Teil aus dem Symptom des
Beziehungswahnes erklaren lassen. Die Haufigkeit solcher Falschun-
gen laBt es fiir das Studium der Halluzinationen ratsam erscheinen,
sich soweit irgend moglich mit zurzeit gerade halluzinierenden
Kranken zu beschaftigen, und Angaben iiber zuriickliegende Sinnes-
tauschungen stets mit der notigen Vorsicht zu verwerten 2 ); nur
dann kann man vermeiden, daB man den Leibhaftigkeitscharakter
l ) Vgl. Goldstein; „Es finden sich alle Uebergange zwischen den
lebhaften Vorstellungen und den der Wirklichkeit ahnlichsten Halluzina¬
tionen, die sich von wirklichen Wahrnehmungen in keiner Weise unter-
scheiden. “
s ) Koppen weist in einem interessanten Aufsatz ,,Zur psychischen
Analyse der Halluzinationen“ (Charit6-Annalen, Bd. 36) an der Hand
sorgf<iger stenographischer Nachschriften nach, wie wenig wirklich
sinnlich erlebt in gewissen Fallen Halluzinationen sind und wie oft es sich
vielmehr lediglich um Selbstt&uschungen der Kranken handelt, als hat ten
sie Sinnliches erlebt und als produzierten sie nicht nur Gedachtes oder
irgendwie anders Er innertes.
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Kramer, Lahmungen der Sohlenmuskulatur etc.
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von Halluzinationen im Moment des Erlebens bei den Kranken
iiberschatzt. Das spatere Ueberzeugtsein der Kranken ist noch
nicht ohne weiteres Beweis dafiir, daB ihre angeblichen Wahr-
nehmungen im Moment der Wahmehmung tatsachlich leibhaftig,
gleich normalen Wahrnehmungen, gewesen sind.
Die psychologische und phdosophische Betrachtung der
Halluzinationen wird nach dem Gesagten nicht auBer acht zu lassen
haben: Halluzinationen sind krankhafte Erscheinungen, die nur
schwer isoliert, losgelost von dem psychotischen Gesamtzustand,
in dessen Rahmen sie auftreten, beurteilt werden konnen; das
Halluzinieren ist nicht ein einheitlicher, stets gleich zu bewertender
Vorgang, deshalb wird auch vermutlich nicht eine Theorie fiir alle
Halluzinationen passen; aus demselben Grunde empfiehlt es sich
nicht, wie das vielfach geschieht, kurzweg iiber die Halluzination
zu spekulieren, sondern sich zu vergegenwartigen, daB es mannig-
fach differenzierte Fhanomene sind, welche man als Halluzinationen
zu bezeichnen pflegt ( W . Specht); den Charakter eines sinnlichen
Erlebnisses haben die einzelnen Halluzinationen in sehr verschiede-
ner Gradabstufung; den Alltagswahmehmungen in jeder Beziehung
gleich sind die Sinnestauschungen fiir den Kranken nur in einem
Meinen Teil der Falle; die Ausscheidung der voll leibhaftigen und
den normalen Wahrnehmungen fiir vollig gleichwertig gehaltenen
Halluzinationen als „der“ echten ist kiinstlich und praktisch nicht
durchfiihrbar; es gibt bestimmte Arten von Sinnestauschungen,
die erfahrungsgemaB niemals oder selten den Alltagswahmehmun¬
gen gleich sind (isolierte Gesichtstauschungen);. haufig sind die
Kranken nicht imstande, mit Bestimmtheit anzugeben, vermittelst
welches Sinnesorgans sie wahrzunehmen vermeinen; durch Wahr-
nehmungstauschungen und durch Erinnerungsfalschungen be-
kommt fiir die Kranken sehr vieles den Wert von Wahrnehmungen,
was in keinem Moment den Charakter einer Wahmehmung ge-
habt hat.
(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Kgl. Charite (Direktor
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Bonhoeffer).
Lahmungen der Sohlenmuskulatur bei Schufiverletzungen
des Nervus tibialis.
Von
Prof. Dr. FRANZ KRAMER,
Assistent der Klinik.
Die groBe Zahl von SchuBverletzungen der peripheren Nerven,
die wir jetzt zu sehen bekommen, bietet vms Grelegenheit, Sym-
ptomenbilder zu studieren, denen wir in Friedenszeiten nur selten
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Kramer, Lahmungen der Sohlenmuskulatur
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begegnen. Dadurch, daB die Geschosse den Korper an jeder be-
liebigen Stelle durchdringen konnen, treffen sie oft Nerven in
Teilen ihres Verlaufes, wo sie gegen die Mehrzahl anderer traumati-
scher Einwirkungen geschiitzt sind. Wir finden infolgedessen die
Nervenlasionen nicht nnr an den iiblichen Pradilektionsstellen,
sehen partielle Lasionen einzelner Nervenaste und erhalten da¬
durch ungewohnliche Symptomkombinationen. Wir konnen
dann die Wirkung derartiger partieller Ausfalle fur die Funktion
einer genaueren Betrachtung unterziehen. Ich mochte hier die
Aufmerksamkeit auf eine derartige Nervenlasion lenken, von der
wir in kurzer Zeit 4 Falle zu sehen bekamen, und die, wie mir
scheint, relativ h&ufig vorkommen diirfte. Es handelt sich in alien
4 Fallen um eine L&sion des Nervus tibialis unterhalb des Abganges
der Zweige fur die Unterschenkelmuskulatur, wo also der motorische
und sensible Ausfall sich nur auf den FuB erstrecken kann. Die
praktische Bedeutung der Lasion scheint mir vor allem darin zu
liegen, daB die erheblichen subjektiven Beschwerden des Ver-
letzten zunachst im Widerspruch zu stehen scheinen gegeniiber
dem geringfiigigen objektiven Befund, der erst bei sorgfaltiger
Untersuchung die Nervenlasion konstatieren laBt.
I. Walter W., Infanterist, 21 Jahre, erhielt am 20. VIII. 1914 einen
GewehrschuB in den linken Unterschenkel, war im Vorlaufen, als er ge-
troffen wurde, fiel sogleich hin. Bald naeh der Verletzung fiihlte er Schmerzen
im FuB, die jedoch nicht sehr erheblich waren, doch stelite sich bald
Kribbeln im FuBe ein.
Pat. kam am 24. VIII. in das Reservelazarett im Koniglichen zahn-
ftrztlichen Institut. Es fand sich eine EinschuBwunde an der Innenseite
des linken Unterschenkels 12 cm oberhalb des Malleolus internus. Im
Rontgenbild fand sich das GeschoB (InfanteriegeschoB) in den Weichteilen
der Wade 12 cm fiber dem Calcaneus.
Am 5. IX. 1914 wurde Pat. uns zur neurologischen Untersuchung
zugaschickt. Er gab an, daB er keine Schmerzen mehr habe, jedoch noch
iiber Kribbeln und Taubheitsgefiihl in der linken FuBsohle klage, auch sei
der linke FuB schwach. Die Untersuchung ergab eine leichte Behinderung
der Dorsal- und Plantarflexion des FuBes, die durch die ortlichen Wund-
verhalt-nisse ausreichend erklart war. Die Zehenstreckung erwies sich als
gut, die Beugung samtlicher Zehen erfolgte in normalem Umfange, doch
mit erheblich herabgesetzter Kraft. Der Achillessehnenreflex war vor-
handen und beiderseits gleich.
Die elektrische Untersuchung ergab im Peroneusgebiet normales
Verhalten, in der Wadenmuskulatur eine geringfiigige Herabsetzung. Der
Flexor digitorum brevis war faradisch nicht reizbar, der GroBzehenballen
und die lnterossei faradisch herabgesetzt, jedoch deutlich zu bekommen.
Die Priifung der Sensibilitat ergab eine Herabsetzung fur alle Quali-
taten an der linken FuBsohle.
Aus der Krankengeschichte des Reservelazaretts ist zu entnehmen,
daB die EinschuBwunde nicht zuheilte und sezernierte.
Am 6. X. wurde das GeschoB durch Inzision (10 cih langen Schnitt,
4 cm oberhalb des Knochels) entfernt; es fand sich in der Mitte des Schnittes
in der Tiefe der Muskulatur. Danach erfolgte prompte Wundheilung.
Am 31. X. 1914 ergab die Nachuntersuchung folgendes: Pat. klagt
noch iiber Taubsein und Kribbeln in der linken FuBsohle. Beim Gehen
klagt er iiber Schmerzen in der ganzen FuBsohle und auch im FuBriicken,
haupts&chlich beim Auftreten. Die Bewegliohkeit der Zehen hat sich
nicht gebessert. Sensibihtfttsstorung unverandert. Achillessehnenreflex
beiderseits positiv.
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bei SchuBverletzungen des Nervus tibialis.
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Elektrisch: Unterschenkelmiiskulatur galvanisch und faradisch nor¬
mal. Flexor digitorum brevis faradisch stark herabgesetzt, doch erregbar.
Abductor hallucis nur maBig herabgesetzt. Kleinzehenballen und Interossei
faradisch nicht sicher zu erhalten. Galvanisch findet sich im Flexor digi¬
torum brevis, im GroB- und Kleinzehenballen und in den Interossei trage
Zuckung.
II. Fr. v. L., Hauptmann, 41 Jahre, wurde am 22. VIII. 1914 ver-
wundet, er erhielt einen Granatsplitter in die linke FuBsohle und einen
zweiten in den linken Unterschenkel. Am 28. VIII. wurde er in die chirur-
gische Klinik der Koniglichen Charit6 aufgenommen. Die obere EinschuB-
wunde fand sich an der AuBenseite des linken ITnterschenkels handbreit
iiber dem Malleolus externus. Das Fragment steckte in den Weichteilen.
An der FuBsohle war die EinsehuBoffnung des Granatsplitters zu sehen.
An der oberen EinschuBstelle fand sich eine Fraktur der Fibula. Der
oberflachlich sitzende Granatsplitter in der FuBsohle wurde alsbald ent-
fernt; hierbei fiel die Gefuhllosigkeit dieser Gegend auf. Am 2. IX. be-
gann Pat. die ersten Gehversuche zu machen, doch wurden diese sehr ge-
stort durch heftige Parasthesien und Schmerzen in der FuBsohle, die
dauernd bestanden und noch an Intensitat zunahmen.
Am 5. IX. 1914 sah ich den Patienten in der chirurgischen Klinik.
Es fand sich eine Sensibilitatsstorung an der FuBsohle fur alle Qaulitaten
und Schwache der Zehenbeugung. AuBerdem wraen die FuBbewegungen
etwas beeintrachtigt, was jedoch in den lokalen Veranderungen (Schwellung,
Fibulafraktur) geniigende Erklarung fand. Der Achillessehnenreflex war
beiderseits erhalten. Die Schmerzen und qualenden Parasthesien in der
FuBsohle hielten noch in der Folgezeit an. Um diese vielleicht zu beseitigen,
wurde am 16. IX. das GeschoB aus dem Unterschenkel durch Operation
entfernt. An der Innenseite parallel der Tibiakante an der Grenze zwischen
mittlerem und unterem Drittel 1 cm von der Kante entfernt wurde ein-
gegangen und in der Tiefe ein scharfrandiger Splitter gefunden und entfernt.
Die Wunde, ebenso die Fraktur heilten glatt. Die Beschwerden wurden
allmahlich geringer, doch klagte Pat. bei einer Untersuchung in der Nerven-
klinik am 8. X. 1914 noch iiber erhebliche Parasthesien in der FuBsohle.
Els fand sich folgendes: Die Zehen des linken FuBes stehen in leichter
Krallenstellung, sonst ist die Zehenstellung nicht merklich verandert. Die
FuBsohle zeigt eine leichte Abplattung des FuBgewolbes bei Vergleich mit
der rechten Seite. Dorsal- und Plantarflexion des FuBes geschehen in nor-
malem Umfange mit guter Kraft, ebenso die Dorsalflexion der Zehen.
Die Beugung samtlicher Zehen geschieht in normalem Umfange, doch mit
erheblich geringerer Kraft als rechts. Die Muskulatur der Sohle und des
GroBzehenballens fiihlt sich schlaffer an als links. Bei Zehenbeugung ist
die rechts deutlich fiihlbare Kontraktion der Sohlenmuskeln links nicht
zu bemerken. Die faradische Elrregbarkeit in dem kurzen Zehenbeuger,
dem GroBzehen- und Kleinzehenballen, den Interossei ist aufgehoben;
galvanisch besteht in diesen Muskeln samtlich trage Zuckung und Ueber-
wiegen des AnSZ iiber die KSZ. Die elektrische Erregbarkeit in den Unter-
schenkelmuskeln ist normal.
An der FuBsohle findet sich eine Sensibilitatsstorung fur alle Quali-
t&ten. Der Achillessehnenreflex ist beiderseits vorhanden.
Am 31. X. 1914 ergab eine Nachuntersuchung den gleichen objektiven
Befund. Pat. gab an, daB die subjektiven Beschwerden abgenommen
hatten, jedoch bei etwas langerem Gehen sich noch zeigten. Die Par¬
asthesien sind noch in geringem Grade vorhanden. Durch Druck auf die
Operationsnarbe werden die Parasthesien noch deutlich ausgelost.
III. Walter M., 25 Jahre, Unteroffizier der Reserve.
Am 14. IX. 1914 Verwundung; wurde im Liegen durch Flankenfeuer
getroffen und erhielt einen GewehrschuB durch beide Fersen. Das Ge¬
schoB ging zuerst durch den linken, dann durch den rechten FuB und kam
hier als Querschlager heraus. Er kam zuerst in ein Hilfslazarett bei Rasten-
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Kramer, L&hmungen der Sohlenmuskulatur
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burg. In dem Berichte des leitenden Arztes wird mitgeteilt, daB die Wunde
operativ freigelegt wurde; es fand sich, daB der Nervus tibialis unterhalb
des inneren Knochels durchtrennt war. Es gelang nicht, die Enden zu ver-
einigen, da das gesamte Gewebe einschlieBlich der Nerven und GefaBe
breiig zerstort war.
Pat. wurde am 5. X. 1914 in die Nervenklinik aufgenommen.
Am linken FuB war die Wunde gut verheilt, ohne Storungen zu hinter-
lassen. Am rechten FuB fand sich an der AuBenseite unterhalb des Malleolus
externus eine kleine Wunde, welche der AusschuBoffnung, an der Innenseite
unterhalb des Malleolus externus eine groBere Wunde, welche der EinschuB-
und Operationswunde entsprach. Die Bewegungsfahigkeit des FuBee und
der Zehen war wegen der Schwellung nicht sicher zu beurteilen, die Zehen-
beugung war unmoglich.
Die elektrische XTntersuchung war ebenfalls durch die Schwellung
erschwert, doch schien in der Sohlenmuskulatur ein sicherer Unterschied
zu ungunsten der rechten Seite zu bestehen. Die Sensibilitatsprfifung ergab
eine Aufhebung fur alle Qualitaten in den vorderen drei Vierteln der FuB-
sohle, wahrend die Fersengegend frei war. Der Achillessehnenreflex war
beiderseits vorhanden.
Am 29. X. 1914 ergab die Untersuchung folgendes: Dorsal* und Plantar-
flexion des FuBes geschehen mit guter Kraft, ebenso die Dorsalflexion der
Zehen. Die Zehenbeugung ist unmoglich. Die Zehen stehen in leichter
Klauenstellung, die FuBwolbung ist leicht abgeplattet. Der Achilles-
sehnenreflex ist beiderseits vorhanden. Dorsalflexoren, Wadenmuskulatur
sind elektrisch intakt, ebenso der Tibialis posticus. Im Flexor digitorum
brevis, dem GroBzehen- und Kleinzehenballen, in den Interossei ist die
faradische Reaktion aufgehoben, galvanisch findet sich langsame Zuckung.
Die Sensibilitatsstorung ist unverandert.
Patient hat auBer Taubheitsgefiihl in der FuBsohle im Liegen keine
wesentlichen Beschwerden. Aufgetreten ist er mit dem FuBe noch nicht,
weil er wegen einer Fraktur des Calcaneus noch vollige Bettruhe halt.
IV. Walter S., 25 Jahre, Reservist.
Erhielt am 20. VIII. einen GewehrschuB in die linke Wade. Am
nftchsten Tage begann er fiber heftige Schmerzen im linken FuBe zu klagen.
Am 23. VIII. wurde er in die I. medizinische Klinik aufgenommen.
Es fand sich eine EinschuBoffnung im oberen Drittel der linken
Tibia, eine AusschuBoffnung an der gegeniiberliegenden Seite der Wade.
Auf dem Rontgenbild zeigte sich ein kreisrundes Loch in der Tibia mit
radiarer Splitterung. Auch nach Heilung der Wunde blieben die Schmerzen
in der FuBsohle bestehen und traten besonders intensiv beim Auftreten
mit dem FuBe auf.
23. IX. 1914 Aufnahme in die Nervenklinik. Klagt noch fiber heftige
Schmerzen in der linken FuBsohle, vermeidet es, damit aufzutreten, da
dabei die Schmerzen zunehmen.
Dorsalflexion des linken FuBes etwas weniger ausgiebig als rechts,
jedoch mit guter Kraft. Plantarflexion links etwas schwacher als rechts.
Adduktion und Abduktion des FuBes gut. Dorsalflexion der Zehen gut.
Plantarflexion geschieht in normalem Umfange, doch erheblich schwacher
als rechts. Dabei ist links in der Sohle keine Muskelkontraktion zu fiihlen.
Die FuBsohle ist druckempfindlich, besonders am Innenrande. Sensibilitat
an der FuBsohle ffir Beriihrung gestort, ffir Stiche keine deutliche Storung.
Patellarreflex beiderseits positiv und gleich.
Achillessehnenreflex ebenfalls beiderseits positiv.
Elektrischer Befund: Faradisch ist erloschen der Gastrocnemius, samt-
iche kleinen FuBmuskeln, mit Ausnahme des Extensor digitorum brevis;
alle anderen Muskeln, auch der Soleus, sind erhalten. Galvanisch findet sich
trage Zuckung in den Sohlenmuskeln und im Gastrocnemius.
13. X. Schmerzen erheblich geringer. Klagt fiber Schmerzen in der
linken FuBsohle, setzt den FuB schonend auf. Stechen im MittelfuB. Waden¬
muskulatur links magerer als rechts.
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bei Schuflverletzungen des Nervus tibialis.
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Dorsalflexion des FuBes und der Zehen gut.
Plantarflexion des FuBes links etwas schw&cher als rechts, Plantar -
flexion der Zehen links erheblich schwacher. Sensibilitat fiir Beriihrungen
an der FuBsohle unsicher, fiir Stiche besteht Ueberempfindlichkeit.
Druckempfindlichkeit der MittelfuBknochen.
Achillessehnenreflex beiderseits positiv.
Faradisch: Gastrocnemius und Soleus links erregbar, doch etwas
schw&cher als rechts. Abductor hallucis und Kleinzehenballen bei starken
Stromen etwas zu bekommen. Flexor digitorum brevis erloschen.
Galvanisch zeigen diese Muskeln trfige Zuckung. Sonst iiberall auch
im Gastrocnemius schnelle Zuckung.
29. X. 1914. Schmerzen erheblich geringer. Kann einige Schritte ohne
Beschwerden gehen. Bei langerem Gehen schmerzt der FuB, besonders an
der Innenseite im Verlauf der MittelfuBknochen. Befund sonst unverandert.
Interossei faradisch sehr stark hcrabgesetzt, galvanisch nur bei starken
Stromen zu erhalten, Zuckungsqualitat nicht sicher zu beurteilen, aber
anscheinend schnell.
Das Symptomenbild stimmt in alien 4 Fallen in den wesent-
lichen Ziigen iiberein. Die Verletzung des Nerven hat in den
ersten drei Fallen mit Sicherheit unterhalb des Abganges der
Aeste fiir die Unterschenkelmuskeln stattgefunden, im Falle 1
und 2 liegt sie im unteren Drittel des Unterschenkels, im Falle 3
unterhalb des Malleolus, nur im Falle 4 liegt sie hoher in einer
Qegend, wo auch Zweige fiir die Wadenmuskeln, den Tibialis
posticus und den Flexor longus geschadigt sein konnten. Die an-
fftnglich bestehende Schadigung des Gastrocnemius zeigt uns auch
tatsachlich, dab diese Zweige nicht ganz verschont geblieben sind,
doch ist diese Schadigung ziemhch schnell zuriickgegangen,
wahrend die Lahmung der FuBmuskeln bestehen blieb, so daB
wir auch hier annehmen miissen, daB die Lasion vorwiegend die
fiir den FuB bestimmten Teile des Nerven betroffen hat. Im Fall 3
ist die Durchtrennung des Nervus tibialis, wie operativ festgestellt
wurde, total, im Falle 2 entspricht der Befund ebenfalls einer
kompletten Unterbrechung des Nerven, wahrend im Falle 1 aus
dem faradischen Erhaltensein einzelner Muskeln und im Falle 4
aus der fortschreitenden Besserung auf eine Schadigung des Nerven
ohne vfillige Durchtrennung zu schlieBen ist.
Der funktionelle Ausfall auf dem Gebiete der Motilitat be-
schrankt sich im wesentlichen auf eine Beeintrachtigung der Zehen-
beugung. Fiir diese Bewegung stehen an Muskeln zur Verfiigung
die Interossei, der Flexor digitorum longus, der Flexor digitorum
brevis. Die Funktion verteilt sich auf diese 3 Muskeln derart, daB
die Interossei die Beugung der Grundphalangen, der Flexor brevis
die der zweiten, der Flexor longus die der dritten Phalangen be-
sorgt. In den Fallen 1, 2 und 4 ist die Beugung der Zehen in nor-
malefr Ausgiebigkeit moglich und nur in der Kraft erheblich herab-
gesetzt. Da in diesen Fallen, wie der elektrische Befund zeigt, die
Interossei und der Flexor brevis ausgefallen sind, so kann die er-
haltene Zehenbeugung nur auf den Flexor longus bezogen werden.
Es entspricht diese Beobachtung durchaus den Ausfiihrungen von
Duchenne. Dieser gibt an, daB der Flexor longus bei isolierter
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Kramer, L&hmungen der Sohlenmuskulatur etc.
Wirkung zwar nur kraftig auf die Endphalangen wirkt, aber die
erste und zweite Phalange mitnimmt und dadureh eine aus-
giebige Beugung aller Zehen, allerdings mit verminderter Kraft,
zustande bringt und daB der Flexor brevis im wesent lichen nur die
Aufgabe hat, die Kraft der Zehenbeugung zu verstarken. DaB im
Falle 3 die Zehenbeugung ganz ausgefallen ist, ist wahrscheinlich
darauf zuruckzufiihren, daB bei der ausgedehnten Zertriimmerung
des Gewebes unterhalb des Malleolus internus auch die Sehnen des
Flexor longus betroffen wurde. Dem entspricht auch die Tatsache,
daB bei Reizung dieses Muskels am Unterschenkel eine Beugung
der Zehen nicht zu erzielen war. Duchenne gibt noch an, daB bei
isolierter Wirkung des Flexor longus eine Drehung der Zehen von
auBen nach innen um die Achse der ersten Phalanx erfolgt und
daB der Flexor brevis diese Drehung zu kompensieren habe. Ich
habe jedoch diese Drehung in unseren Fallen trotz darauf ge-
richteter Aufmerksamkeit nicht konstatieren konnen. Die Lah-
mung der Interossei und der Muskeln des GroB- und Kleinzehen-
ballens, deren Wirkung im wesentlichen mit der der Interossei
identisch ist, ist im Gegensatz zu den analogen Verhaltnissen der
Hand am FuB von geringfugigen Bewegungsausfalien begleitet.
Sie pragt sich in der erwahnten Schwachung der Beugung, der
Grundphalangen aus. Die Krallenstellung der Zehen, die auf die
Beeintrachtigung der Beugung der Grundphalangen und der
Streckung der Mittel- und Endphalangen zu beziehen ist, ist in
unseren Fallen, wie erwahnt, vorhanden, jedoch nicht sehr aus-
gesprochen. Es ist wahrscheinlich, daB die Deformation erst nach
l&ngerem Bestehen der Lahmung deutlicher hervortritt.
Wir sehen, daB die motorischen Storungen nur verhaltnis-
m&Big geringe sind und erst bei genauerer Untersuchung zutage
treten. Die Konstatierung dieser Ausfalle ist in der Regel noch da-
durch erschwert, daB die sonstigen ortlichen Veranderungen,
Schwellungen, Frakturen usw. eine allgemeine Beeintrachtigung
der Beweglichkeit herbeifiihren und daB erst die elektrische Unter¬
suchung Klarheit dariiber bringt, daB es sich tatsachlich um eine
Nervenschadigung handelt.
Die Sensibilitatsstorung betrifft in den Fallen 1, 2 und 4 das
gesamte Ausbreitungsgebiet des Nervus tibialis an der FuBsohle
(Plantaris externus und internus, Nervus calcaneus). Im Falle 3
beschrankt sie sich auf die Gebiete des Plantaris externus und
internus, da der Nervus calcaneus schon oberhalb der Lasionsstelle
abgeht und daher verschont geblieben ist. Die Konstatierung der
Empfindungsstorung an der FuBsohle macht gewisse Schwierig-
keit, da es sich um ein Gebiet handelt, das auch normaler weise
infolge der Hornhautbildung eine etwas mangelhafte Sensibilitat
besitzt; nur sorgfaltige Vergleichung mit der gesunden Seite kann
hier ein sicheres Resultat ergeben.
Die subjektiven Beschwerden waren in alien vier Fallen er-
heblich. Wir haben dabei zwei verschiedene Arten zu unterscheiden;
einmal klagten die Patienten uber Parasthesien und Taubheits-
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Bonhoeffer, Doppelseitige symmetrische etc.
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gefiihl in der FuBsohle. besonders im Falle 2 wurde diese Empfin-
dung als besonders unangenehm und qualend bezeichnet. Diese
Beschwerden sind als direkte Folge der Nervenlasion aufzufassen.
Auch nach den sonstigen bisherigen Erfahrungen scheinen sie ge-
rade bei SchuBverletzungen besonders haufig und intensiv auf-
zutreten. Die andere Kategorie von Klagen besteht in Schmerzen
in der FuBsohle, die sichinsbesonderebeim Auftretengeltendmachen.
Sie wurden vor allem geauBert in den Fallen 1 und 4. In dem
letzteren Falle stehen sie ganz im Vordergrunde des Krankheits-
bildes. Es ist zu vermuten, daB diese Beschwerden zu beziehen
sind auf die Lahmung der kleinen FuBmuskeln und deren Rtiok-
wirkung auf die Statik und Mechanik des FuBes. Nach Duchenne
dienen die Interossei und die Muskeln des GroBzehenballens vor
allem dazu, beim Gange die Abwicklung des FuBes bis zu den
Zehenspitzen zu vervollstandigen, indem sie die Zehen durch gleich-
zeitige Beugung der Grundphalangen und Streckung der Mittel-
und Endphalangen mit ihren Spitzen gegen den FuBboden driicken.
Fehlen diese Muskeln, so erfolgt die Abwicklung nur bis zu dem
Kopfchen der Metatarsalknochen, und das Stiitzen des FuBes auf
diese gibt erfahrungsgemaB haufig zu Schmerzen Veranlassung. Es
ist wahrscheinlich, daB auch in unseren Fallen auf diese Weise die
Schmerzen zustande gekommen sind. AuBerdem kommt auch.
noch die durch den Ausfall des Flexor digitorum brevis mangel-
haft gewordene Stiitzung der FuBwolbung und die dadurch be-
wirkte Lockerung des FuBgeriistes in Betracht, die zu Zerrung an
den Gelenken der FuBwurzel und dadurch zu Schmerzen ftihrt.
Erwahnenswert ist noch, daB im Falle 4 anfangs trotz noch
bestehender Entartungsreaktion im Gastrocnemius der Achilles-
sehnenreflex normal auslosbar war; anscheinend hat das Erhalten-
sein des Soleus fur das Bestehen dieses Reflexes ausgereicht.
Doppelseitige symmetrische Sehlalen- und Parietallappen-
herde als Ursaehe vollst&ndiger dauemder Worttaubhelt
be! erhaltener Tonskala, verbunden mit taktiler und op-
tiseher Agnosie.
Von
Prof. Dr. K. BONHOEFFER
in Berlin.
A. H., 47 J&hre, Arzt, ist nach Angab© seiner Frau 3 bis 4 Jahre vor
seiner Erkrankung durch Reizbarkeit aufgefallen. Um Weihnachten 1909
ein kurzdauernder Krampfanfall, der keine Residuen hinterlieC. Spaterhin
traten noch einige Schwindelanf&lle auf. H. besorgte seine Praxis in vollem
MonatflBOhrift f. Psyohiatrie u. Neorolo^le. Bd. XXXVII. Heft 1. 2
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Bonhoeffer, Doppelseitige symmetrische
Umfang, Gedachtnisstorungen wurden nicht beobachtet. Ging am 30. VI.
1910 nach Angabe der Frau nach Erledigung seiner Praxis vollig gesund
zu Bett. Am 1. VII. frlih zeigte er sich ohne jedes Verst&ndnis fiir Worte
und Aufforderungen seiner Umgebung. Er sprach zunaclist nicht. Nach
eimger Zeit sprach er wieder, schrieb selbstgebildete Worte. H. wurde
zunaclist zu Hause behandelt, ohne daB sich der Zustand ftnderte. Am
2. IX. erfolgte die Aufnahme in die Klinik.
Somatischer Befund: H. sieht alter aus, aLs er ist. Das linke Auge
ist durch SchuBverletzung in der Kindheit vernichtet. Am Herzen stark
klingender 2. Aortenton. Puls: Etwas erhohter Druck, regelm&Big, 80 p. m.
Arteria radial is stark geschlangelt und rigide. Urin frei. Bei spaterer
Untersuchung Verbreitung der Herzdampfung nach links. SpitzenstoB zwei
Querfinger auBerhalb der Mamillarlinie. Ueber alien Ostien scharfes, lautes
systolisches Gerauscli.
An den Extremitaten nichts von Lahmungserscheinungen. Keine
Veranderung der passiven Beweglichkeit, kein hemiplegischer Gang, nur
gelegentlich, aber keineswegs regelmaBig, etwas Taumeln. Patellar-
und Achillesreflexe sind beiderseits lebhaft. Es besteht beiderseits
Tibialisplianomen, links ist gelegentlich Babinski und Oppenheim aus-
zulosen. Die Pupille des rechten Auges reagiert auf Licht. Konvergenz
ist nicht zu priifen. Der Augenhintergrund ist frei Der linke Mundfacialis
erscheint etwas weniger innerviert als der rechte. Auf Stiche reagiert Pat.
mit Abwehrbewegungen.
Die Sprechweise des Kranken ist ausgesprochen paraphasisch und
g&nzlich unverstandlich, der Gesichtsausdruck deprimiert und ratios. Auf
Fragen und Aufforderungen keinerlei Zeichen von Verstandnis. Auf der
Abteilung sclilaft er in der ersten Zeit viel, irrt zeitweise im Zimmer umher,
findet sein Bett nicht wieder, legt sich gelegentlich zu anderen Patienten
ins Bett, uriniert mitunter ins Zimmer. Die spezielle Priifung der cerebralen
Funktionen ist im folgenden niedergelegt.
MotiUtat und Sensibilitdt.
Ein merkbarer Unterschied im Gebrauch der rechten und linken Hand
besteht nicht. Eine genaue Messung der willkiirlichen groben Kraftleistung
lafit sich nicht ausfiihren, doch zeigt sich, daB H. Dinge unter Umstanden
mit guter Kraft- festMlt.
Er manipuliert im ganzen gut, halt kleine Gegenstande (Korkenzieher,
Ziindholz usw.) mit guter Opposition zwischen den Fingern, dreht Ver-
schraubungen auf, bricht Semmeln entzwei, macht- Perkussionsbewegungen
richt ig usw. Anzeichen von Ataxie sind dabei nicht bemerkbar. Auf Schmerz-
reize reagiert er beiderseits in gleicher Weise. Eine spezielle Priifung der
Bewegungsempfindung hat sich wegen des fehlenden Wortverstandnisses
nicht bewerkstelligen lassen. Ueber Tastfahigkeit- siehe unten.
Akustisches Geblet.
Otoskopisch ist der Befund negativ (Kgl. Ohrenklinik, Breslau). Es
macht zunachst Miihe, festzustellen, ob Pat. iiberhaupt hort. Es ist zeit¬
weise nicht moglich gewesen, seine Aufmerksamkeit akustisch zu wecken.
Er dreht sich hkufig auf der Abteilung nicht von selbst um, wenn Larm
entwickelt wird. Grelle Glockentone, die hinter ilim erzeugt werden, ver-
anlassen ihn zu keiner Reaktion, erst als versehentlich sein Haar beriihrt
wird, dreht er den Kopf zur Seite. Wenn dann in best-immten Zeitabschnitten
wieder geklingelt wird, dreht er den Kopf ofters nach der Richtung des
Gerausches, spater dann wieder nicht. Die Untersuchungen miissen ofters
wiederholt werden, da das Verhalten sehr wechselt- und Pat. anscheinend
leicht ermiidet.
Vereinzelt ist es vorgekommen, daB beim Versuch, ihn zum Nach-
sprechen zu bewegen, eine dem Vorgesprochenen ahnliche paraphasische
Wortbildung es wahrscheinlich maclite, daB die Horf&higkeit erhalten sei.
Beim Vorsprechen der Zahlenreihe 1, 2, 3, 4 sagt er plotzlich: „Was
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Schlafen- und Parietallappenherde als Ursache etc.
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gemeinen mit der zwei“, wobei Ablesen vom Munde sicher ausge-
schlossen werden konnte.
Zu Zeiten gelingt es, das Vor handensein des Gehors mit Sicherheit
zu erweisen.
Hoher, pfeifender Ton (Kinderpfeife) zunachst keine Reaktion. Dann
deutliche Reaktion, greift nach den Ohren, je nachdem hinter dem einen
oder anderen Ohr gepfiffen wird. Dabei Gesichtsausdruck, als ob ihm das
unangenehm ware. Reagiert weiterhin auf jeden Pfiff mit der Mimik des
Unbehagens.
RevolverschuB (so weit entfernt vom Patienten, da 13 die taktile Er-
schiitterung nicht in Betracht kommt): Halt sich die Ohren zu, fahrt schreck-
haft zusammen, sagt dabei „das tut wolch“. Bleibt einige Zeit schreckhaft.
Im ganzen tritt hervor, daB, wenn es erst gelungen ist, akustisch die
Aufmerksamkeit zu wecken, daB dann die Reaktionen oft gut und sicher
erfolgen. Aber die Erweckbarkeit der Aufmerksamkeit ist an den einzelnen
Tagen verschieden, ohne daB von eigentlicher Benommenheit gesprochen
werden kann.
Eine unerwartet giinstige Konst el lation fur die Untersuchung ergab
die Priifung mit der Bezoldschen Tonreihe (gemeinsam mit den Aerzten
der Ohrenklinik ausgefuhrt). Pat. reagiert auf den Ton der Stimm-
gabeln, indem er mit dem Zeigefinger nach dem betreffenden Ohr fahrt
und ihn hin und her schwenkt, oder indem er das Ohr reibt, auch den Kopf
gelegentlich der Tonrichtung zudreht. Es ergibt sich dabei, daB er links
deutlich reagiert, wahrend rechts ofters die Reaktion ausbleibt. Es ergibt
sich aus der Priifung, daB nicht nur die Sprachsexte, sondern auch weit
darviber hinaus das Gehor fiir hohe und tiefe Tone erhalten ist. Bei der
Untersuchung ist die Mitwirkung optischer oder taktiler Eindriicke sicher
ausgeschlossen, ebenso lag sicherlich nicht etwa ein perseveratorisches
Wiederliolen vor. Die Reaktion erfolgte niemals ohne den akust-ischen Reiz
und war auBerdem stets von den lebhaften Ausdrucksbewegungen, die der
Kranke auch sonst zeigte, begleitet.
Verstandnis fiir Gerausche und Fahigkeit der Identifikation von
Gegenstanden aus den Eigengerauschen war nicht festzustellen.
Aphasische StSrung.
Das Wortverst&ndnis fehlte wahrend der ganzen fast einjahrigen
Beobachtung vollstandig. Es ergab sich kein Anhaltspunkt dafiir, daB er
jemals ein Wort, einen Auftrag, der ihm lediglich akustisch entgegengebracht
wurde, verstanden hatte. Die Spontansprache ist im hochsten MaBe para-
phasisch. Die Paraphasie ist literal und verbal, in der spiiteren Zeit der
Beobachtung scheint es manchmal, als ob die verbale Paraphasie iiber-
woge. Der erhaltene nicht paraphasische Wortschatz beschrankt sich im
wesentlichen auf konventionelle Wendungen. ,,Entschuldigen Sie“, „wie
meinen“, „wie gehts ?“, „was Neues ?“, „Ihr Diener“, ,,liebenswiirdig“,
„gnadige IVau“, „Kollege“ usw.
Bezeichnungen von Konkreten kamen spontan in der ganzen Be-
obachtungszeit vielleicht nur zwei- bis dreimal vor.
Es beeteht zeitweise ein ausgesprochener Rededrang, der bei der
hochgradigen Paraphasie mitunter fast den Eindruck einer fremden Sprache
erweckt.
Versuche, den Patienten zum Kachsprechen zu bewegen, miBlingen
meist. Es erfolgt meist keine Reaktion, oder er nickt mit dem Kopfe, oder
es folgen ganzlich unahnliche paraphasische Silben (eine gelegentliche
Ausnahme ist oben erwahnt). Auch seinen Namen kann er nicht sprechen.
Zum Reihensprechen ist er nicht zu bewegen.
Affektive Einfliisse beeinflussen die Spreclileistungen. Der unerwartete
Anblick dee ihn besuchenden Bruders August veranlafit ihn zu der folgenden
lebhaften Anrede an den begleitenden Arzt: „Gestatten Sie, mein Bruder.
Her Ho .... Nun wie geht’s August . . . eine Zigarre . . . Ihr Diener Herr
Kollege. “
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Sail a letam, Iiu«i •. ,,a* o, »•»*>, a ? mb \
Sfoll 3 htseju- best ' ,4 k, s P im *•, fit., *v a., i<\u Q* g. itst.
Sal) p It-SMU, bw?r isi p''
Falsali# Hankua/i odor Ai£b|mbeo jeder fv»*akm*n ist ait- Kegok
. Semen \>>rjgr^cbr*c>b*?a«?« NiMnma best or (^Vh^; nirli ih o tth.aich neb oieh
hMibb'b K&i& Eoieben. da& qb thn haV: " ‘'" - '* • ’ '.
Ue^hinobone Atiftrnge bet'higt er ?ue. Ian.. '/lent Ji<-n tii&, V^r^tdiKiriiss:'
fSjtr Sehrbi nur v^miges Mai, ajb,•;vtffg€^ciliri^beri.'swd j; ’*$£&•;
bin kein licit, da irh *el» mich U5idr(wii!d dabei &bhatt nod iaebth $jy. dh ;
Tefa et et W&ib ho?h s ‘ •- ^ ' ^
Emma! best er <[»*mrati pldfzlioh den Aoidmck ernes Kjankeivi^gea^
(psyc'huit-r, umi NVi vvuklinLk Breslau) , Jvt4forUaU> Berkun* U*\
Dot fonirtki- ihm yichf iieU imaiJuvOeluXi. Er *obtebt goiegtfhtlit-ii.
d»H Biat t Paipter weg rttit don W.r»riLeA 3 ikiii das )jem 4 '.
Scbreiben.
Beim SehreibversMAli fet,nr bv '*'* be^oidai^bt.-
inab ibin die Fedor t»4k<r.<le«x Bkd^tiiidijrf'clk*' ^i^xi.d ciriiokT'. u.bd
.•.•Se'hVcdbtk>wegiing^> -p*is^'V:.’imt 'dm*- -HAnd;uiaeht.' ;
flSiut'ig gefingt nad'^er g^h; und
> ; ietier iinruak acier bleibi oliiie Keakt iou sityjnn.
Daa einsige, was er isxx
si luvs Haften m buebstabeTtaJuiltehen Uebildeti. Di^v ' ke\iT^ti -viodt.r
auch Wean man dem Fatienteo:- Vdrlagea mm- Absehr^bon gibt odor auab
Fygaron Varaeiduiet-
Verhalten gegen fiber optischer> EiadrUcken*
Fat. -Ht&hi ohm Zwei.M. wie *wh soli an M* tlem beuu U^n Oe«agtcn
urgtbt. Er iit Mynp. Das central Sehen. ist, efimUen. Er best geiogent.lit*it
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Die -PrVifua# deK : ^KahmMdj^ r&wtit >Schwi«rigkeu:eri y wexl die
Armegbarkeit tUm : h •ciptifeb^: K-eiie %ertweise fiberhaupt Ktark lierab^Sf#^|
|p VVuxl^rboct4' PruiH/igou lasaen aber touen Xwodel, dab sr.:n*i hor^ouial
Go gle
Schl&fen- und Parietallappenherde als Ursach© etc.
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und von unten rechts ins Geeichtsfeld hereingefiihrte Gegenstande keine
Reaktion auslosen. Gelegentlich gelingt es auch am Perimeter zu zeigen,
daB WeiB [ein Quadratzentimeter groB] von links ins Gesichtsfeld gefiihrt,
regelmaBig eine Zuwendung des Auges (das link© Auge ist, wie erwahnt,
durch eine alte Verletzung erblindet) hervorruft, wahrend von rechts keine
Reaktion erfolgt. Ob der hemianopische Gesichtsfelddefekt rechts voll-
standig ist oder nur segmental, ist nicht sicher festzustellen. Es scheint
gelegentlich, daB von rechts oben ins periphere Gesichtsfeld fallende Ein-
driicke Reaktionen auslosten. Ob er Far ben erkennt, l&Bt sich nicht fest-
stellen. Mit Wollproben, die man ihm in die Hand gibt, manipuliert er,
ohne Zusammengehoriges zusammenzulegen.
Die Priifung des optischen Erkennens ist erschwert durch die hoch-
gradige Paraphasie und durch das Schwanken der optischen Aufmerksam-
keit. Es sind haufige, kurzdauernde Untersuchungen notig, um zu einem
Urteil zu kommen. Dabei ergeben sich ausgesprochene Schwankungen in
der Leistung. Wahrend er zu gewissen Zeiten alien Eindriicken gegeniiber
sich indifferent verh<, so daB nicht festzustellen ist, was auf Kosten der
schweren Erweckbarkeit der optischen Aufmerksamkeit zu setzen ist und
was gnostische Storung ist, gibt er zu andern Zeiten durch deutliche Mimik
zu erkennen, ob er erkannt hat oder nicht.
Verhalten gegen farblge Bilder.
Dreht die Bilder in der Hand hin und her mit dem Bemiihen, sie zu
erkennen.
Schmetterling ? Dew ist ein Z—Zsich.
Starch? Stoch. Dew wird ein Storchich sein.
Regenschirm f O zut zutlich.
Hahn ? Ah, das ist ein Zattoich. Lebhafte Mimik, als ob er erkannt
h&tte. Sieht sich dann das Bild langer an und schiittelt den Kopf.
Apfel ? Das kenn ich nicht, was es ist links oder rechts, das weiB
ich nicht.
Katze ? Das ist Zachich — Mitzich, ich ich (Mimik des Verstandnisses).
Helm ? Das ist ein Zeweck, Goblech, Rech, Zellaup psch. Keine Miene
des Erkennens.
Brennendes Hava ? Aha mit dem Tone des Erkennens. Das ist Feuch.
Das ist solch r&uichig.
Nlchtfarbige Bilder.
Kinderwagen ? „Das ist esso ein Fanzig geh oh Euch 1, 2, 3.“ Unsicher,
ob er erkennt.
Schwan ? Das ist der Halbsch, Halb, Hallstig, das ist ein Zeich,
Lebeich, Ewelch.
Hirsch ? Das ist Pschich. Ja, der heiB also. Auf Wiederholung der
Frage, was das ist, besinnt er sich, halt das Bild an der Spitze: „Ein Recheich“
Auf die Frage: 1st das ein Hirsch ? keine Reaktion. Bei groBen bunten
Bildern: Ball, angaschnittener Kuchen, PfefferfaB, Loffel, Ei kein Zeichen
des Verstandnisses. Als ihm das Bild verkehrt in die Hand gegeben, dreht
er es nicht richtig, bemiiht sich jedoch anscheinend durch nasale Haltung,
es auf seine temporal© Retinahalfte einzustellen.
Gegenstande, die ihm vor’s Auge gefiihrt werden, ignoriert er meist.
Hochst selten greift er danetch. Geld, Uhr, Schadel, Gehirn, Kaninchen,
Perimeter, Miloroskop rufen keinerlei Interesse hervor, solange sie ihm
lediglich vor Augen gehalten werden.
Vor den Spiegel gestellt, sieht er hinein, schiittelt den Kopf und
greift an seinen Bart.
Vor dem brennenden Weihnachtsbaum zeigt er keinerlei Zeichen von
Verst&ndnis.
Das Essen nimmt er nicht an sich, wenn es ihm lediglich vor Augen
gefiihrt wird.
Auf Qesttn nur unsichere Reaktion. Gelegentlich lacht er, wenn er
achen sieht, streckt die Zunge heraus, wenn sie ihm herausgestreckt
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Bonhoeffer, Doppelseitige symmetrische
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wird, viel haufiger bleibt die entsprechende Reaktion aus. Sichere Anhalts-
punkte dafiir, dafi er Gesten versteht, kaum je. Einmal gelingt as, ihn
durch Gesten zum Aufstehen zu bestiramen. Bei Bedrohen mit Messer
oder Nadel keine Furchtreaktion. Ein brennendes Streichholz blast er erst
bei starker Annaherung aus, wenn ihm die Hitze belastigt. Personen er-
kennt er, soweit es sich um von friiher bekannte handelt. Seine Frau und
seinen Bruder begriifit er mit unzweideutigen Ausdriicken des Erkennens.
Freilich lafit sich dabei nicht mit Sicherheit sagen, inwieweit hier tat-
sachlich lediglich einsinnige optische Wahrnehmung in Betracht kam, ob
nicht Unterstiitzung durch Stimmklang eine Rolle spielte. Bei Aerzten
und Personal kamen wohl gelegentlich Verkennungen vor. Aeufierungen,
wie: „Wo komst du her alschter Freund “, plotzliche zornmiitige Aggression
gegen einzelne und ebenso zartliches Begriifien und Umarmungsversuche
spree hen in diesem Sinne.
Taktiles Erkennen.
W&hrend optische Eindriicke den Kranken nur in geringem Mafie zu
Reaktionen veranlassen, wird dies meist sofort anders, wenn er gleichzeitig
mit den Handen zufassen und mit den Gegenstanden manipulieren kann.
(XTeber die Leistungen bei Kombination optisch-taktiler Eindriicke s. u.)
Gibt man dem Pat. bei verbundenen Augen Gegenstande in die Hand,
so tritt dieselbe Erscheinung ein, die bei isolierten optischen Eindriicken
zu beobachten war. Er manipuliert auffallig wenig mit den Gegenstanden,
gibt sie meist nach kurzer Zeit zuriick, ohne irgendeine Zweckbewegung
gemacht zu haben, die darauf hinweist, dafi er den Gegenstand erkannt
hat. Er sucht sich auch die Binde von den Augen zu schieben und macht
paraphasische Aeufierungen, die den Sinn haben, dafi „er nicht sehen kann“.
Man gewinnt den Eindruck, dafi auch der isolierte taktile Eindruck nicht
geniigt, das Verst and nis wachzurufen, sondern dafi die Kombination
beider Sinnesgebiete erforderlich ist, um uberhaupt Reaktionen zu erzielen.
Verhalten bei kombinierten optisch-taktilen und anderen mehrsinnigen
Reizen.
Es treten im wesentlichen zwei Reaktionsformen hervor, je nachdem
er erkannt hat oder nicht. Im letzteren Fall Mit er die Dinge, die er bei
offenem Auge in die H&nde bekommt, in den Handen, dreht sie hin und
her und legt sie dann weg oder gibt sie zuriick, ohne dafi aus der Art des
Manipulicrens, aus den begleitenden sprachlichen Aeufierungen oder der
Affektreaktion zu entnehmen ist, dafi er den Gegenstand erkannt hat.
Anderes reagiert er, wenn er etwas richtig erkannt hat. Er pflegt dies durch
die Lebhaftigkeit der Affektreaktion, ein Aufleuchten des Gesichtes, viel-
leicht auch durch eine gew r isse Aehnliclikeit der paraphasischen Wort-
bildungen mit der eigentlichen Wortbezeichnung, mitunter auch durch den
zweckmafiigen Gebrauch zum Ausdruck zu bringen. Schliissel , Ziindholz-
8chachtel y Zigarren , Zigarette , Perlcussionshammer dreht er in den Handen
hin und her, betrachtet sie dabei, gibt sie dann zuriick, ohne dafi sich aus
der Hantierung zeigt, dafi er die Gegenstande erkannt hat.
Ebenso verfahrt er mit dem Stethosfcop , als as ihm gereicht wird.
Er wendet es hin und her und gibt es zuriick. Ein andermal hantiert er
aber ganz geschickt damit, er nimmt es auseinander, schraubt es auch
richtig wieder zusammen, fuhrt es dann aber wie ein Fernrohr ans Auge.
Wieder ein anderes Mai setzt er es zuerst richtig ans Ohr, dann legt er es
seitlich ans Ohr, ohne die Horplatte anzulegen.
Biirste und Kamm? Zeigt auf die Biirste und sagt: „Das geheucht
zu, das ist geheucht 41 , halt dann den Kamm ans Auge (Perseveration).
Auf die Frage, was ist das (die Biirste), auch als ihm das Biirsten des Bartes
vorgemacht wird, keine Reaktion, gibt beide Gegenstande zuriick, als ob
er sie nicht erkennt.
Schadel in die Hand gegeben! „Ah das ist Spillbewoisch, ganz hiibseh“,
klopft damn herum. Auf die Frage, was ist das, dreht er ihn hin und her.
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Schlafen- und Parietallappenherde aJs Ursache etc.
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sagt dann: ,,das ist zu schwach, das ist doch zu schwach**. Kein Zeichen des
Erkennens. Dann plotzlich lachend: „friiher ja, aber geht zu schwach**.
Kamm gegeben! Kammt sich.
Zahnbiirste! Ja, das ist, das verstell ich (versteh ich?).
Geld gegeben / 2 Mk.: Z wanzig, fuchsig auch ach.
3 Mk.; „Ja so kimilch.**
20 Mk.: „ Ja das sind zwolf sich“ — dann plotzlich
„zwanzig“.
20-Mk.-Schein: A da ist ein, das sind zwenftig.
Gesichtsausdruck zeigt an, da£ er erkennt.
Gewehr f „Ah das ist Gewolf‘% duckt sich, als ob es losgehen konnte,
halt die Hand vor’s linke (ausgeschossene) Auge.
Helm / „Ja das ist Schwelch," klopft am Wappen herum. Als er ihm
aufgesetzt wird, sagt er „ja**, nimmt ihn dann ab und setzt ihn selbstandig
wieder auf und nimmt ihn spater wieder herunter.
Tennisscfdager / Kein Zeichen des Erkennens.
Mensurschldger l In die Hand gegeben, sagt er „Korb“, tastet ab, be-
sinnt sich, sagt dann w'ieder, „das ist ein Kolb".
Perimeter / Kein Zeichen des Verstandnisses.
Mikro8kop / Kein Zeichen, da£ er erkennt. Manipuliert gar nicht
damit.
Es wird ihm eine in Spiritus eingelegte Himhemisphdre in die Hand
gegeben. Zunachst greift er nicht danach, dann nimmt er sie in die Hand,
macht einige abreibende Gesten mit der Hand, dreht sie in der Hand hin
und her, riecht dann daran und sagt: „Das ist was drin, also die ist Glich,
uhich, ein Girich, ein Lorch.“ Geht mit dem Gehirn im Laboratorium hin
und her, macht Bewegungen, als ob er die Wolbung abtasten wollte, sagt
dann: „Zweigiech, das ist liebrig, zwei geich.“ Legt die Hemisphare auf
den Tisch, manipuliert daran, sagt mit lebhaftem Ausdruck: „Das ist
eine Girig, ein Girig, ein Girig, wie heiBe das nicht, das ist Girich, auch
ein Girig. 4 * Trocknet sich dann mit dem zugereichten Handtuch die Finger,
nimmt seine Brille ab, putzt sie und setzt sie wieder auf, sagt dann wieder:
„Das ist ein Girig.**
Ein Kaninchen , das ihm vor Augen gehalten wird, beachtet er zunachst
nicht, dann macht er abwinkende Bewegungen; als ihm die Hand an das
Tier gebracht wird, schrickt er zusammen, schlagt einigemal wie abwehrend
nach dem Tier, sagt: „Das agstigt mich!** Das angstliche Zuriickschrecken
wiederholt sich ofters, sagt: „Ich habe Angst, das bei£tig.“ Hat offenbar
das Tier, aber nicht das Kaninchen erkannt.
Gewicht und Wage! Manipuliert so mit ihnen, da£ man den Eindruck
bekommt, dafi er sie nicht erkannt hat. Steht dann auf, putzt sich an
einem an der Wand hangenden Handtuch erst die Hande, wischt sich den
Mund und putzt sich dann die Nase damit.
Mit einer Schachtel Pillen hantiert er gut, bringt aber die geoffnete
Schachtel nicht wieder zusammen. Ebenso nimmt er aus dem Gewicht-
stander die Gewichte heraas, tut sie aber nicht wieder hinein.
Haarbilr8te! Klopft, betrachtet sie, geht dann ans Waschbecken,
taucht sie ins Wasser, spritzt sie dann auf der Erde aus. Als ihm die Be-
wegung des Haarbiirstens vorgemacht wird, biirstet er dann richtig weiter
und perseveriert in dieser Beschaftigung. Gelegentlich kommt es vor, daft
er die ihm in die Hand gegebene Haarburste zum Munde fiihrt, wie etwas
Eflbares (ohne da£ Perseveration vorgelegen hatte!).
Hantieren mit Streichholzschachtel und Zundholzf „Na, das geht nicht. “
Streicht an, jedoch nicht an der richtigen Flache der Schachtel und am
falschen Ende des Ziindholzes. Sagt dann, fast deprimiert, als es nicht
geht: „Ja, friiher ech sich.** Als ihm die Zundholzschachtel wieder-
gegeben wird, sagt er: „Ja, das ist Feuch 4 * (Ausdruck des Erkennens),
nimmt ein Ziindholz und brennt richtig an, wirft es dann weg.
Soil ein Licht anzixnden ! Fragt: ,,Won sie each V' Versucht ein
Streichholz anzuziinden, benutzt wieder zuiiaclist- das verkehrte Ende,
dreht dann das Ziindholz um, streicht es an der falschen Flache der Schachtel
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an, sagt dazu: ,,Das ist zu duh. “ Als es schlieClich brennt, ziindet er
nicht das Licht an, sondern blast es in ungeschickter Weise aus.
Zigarrentasche nimmt er, sieht sie an, macht sie auf, nimmt Visiten-
karte heraus, versucht anscheinend zu lesen, was darauf steht, kein Zeichen
des Verst&ndnisses. Ein anderes Mai betrachtet und betastet er sie, nimmt
zwei Zigarren heraus, lacht dann, als ob ihm jetzt erst das Verstandnis
aufgegangen ware, nimmt eine, legt die andere weg, beiBt die Spitze ab.
Aufgemachtes Messer und Zigarre. Schneidet die Zigarre nicht ab.
Er ist niemals imstande, den ganzen Akt des Herausnehmens, Abschneidens,
Anziindens, In-den-Mund-steckens der Zigarre im Zusammenhang und in
einer Folge auszufiihren, wahrend jeder der einzelnen Teilakte gelegentlich
richtig vor sich geht.
Kartenspiel nimmt er richtig in die Hand, als ihm Schellass vor-
gelegt wird, sagt er, „das ist Schelch“, benennt dann auch alle anderen
Karten mit Schelch oder Selch.
Schachbrett und Schachfiguren. Zweifelhaft, ob er sie kennt. Er
macht nichts damit.
Seine Kleider , die ihm hingelegt werden, ignoriert er zun&chst. Es
wird ihm eine Hose in die Hand gegeben. Manipuliert damit herum, schlieB-
lich stiilpt er sie sich wie ein Hemd iiber den Kopf.
Die Hose wird ihm so in die Hande gelegt, wie er sie im Moment
des Anziehens zu halten hat; er zieht spontan die Pantoff ein aus. Es gelingt
durch Gesten, ihn dazu zu bringen, mit einem Bein die Hose anzuziehen,
versucht dann mit dem anderen Bein in dasselbe Hosenbein zu steigen,
zieht sie dann nach vergeblichen Versuchen wieder aus.
Hosentrdger legt er wieder weg, ohne irgend etwas mit ihnen zu
machen.
Es wird ihm ein Strumpf halb angezogen, zieht ihn weiterhin richtig
an, zieht den zweiten Strumpf iiber den anderen FuB, aber verkehrt, so
daB die Ferse auf den FuBriicken zu sitzen kommt. Ein andermal zieht er
den zweiten Strumpf iiber den ersten.
Einen Pantoff el, der auf der Erde steht, zieht er richtig an, aber auf
den nackten FuB.
Es wird ihm ein Rock in die Hand gegeben. Wendet den Aermel um
und manipuliert an ihm herum. Setzt sich den Rock iiber dem Arm
auf den Stuhl. Kommt nicht dazu, ihn anzuziehen.
Mit der Gummiunterlage deckt er sich gelegentlich zu. Das Essen
l&Bt er im allgemeinen stehen, wenn es ihm nicht direkt in die Hand gegeben
wird. Einmal wird aber auch beobachtet, daB er von einem Tisch spontan
eine Semmel wegnimmt, sie durchbricht und richtig iBt. Ein andermal
wird ihm ein Stuck Semmel gereicht, er dreht sie hin und her, priift ihre
Konsistenz, sieht sie sich an, fiihrt sie zum Munde und legt sie wieder weg.
Meist iBt und trinkt er richtig, wenn ihm die Tasse zum Trinken,
das Brot in die Hand gegeben wird. Ebenso verhalt es sich mit dem Waschen,
Kftmmen und Biirsten.
Auf Geschmack- und Geruchsreize reagiert er richtig. Eine rohe
Kartoffel, in die er hineingebissen hat, spuckt er aus unter dem Zeichen
des MiBbehagens.
Cajeputol, das ihm unter die Nase gehalten wird, wehrt er ab, rvimpft
die Nase, sichtlich unangenehm beriihrt. Dieselbe Reaktion auf Baldrian
und Essig.
Orientierung im Raum.
Er findet in der ersten Zeit sein Bett fast nie wieder, auch spater ist
er unsicher darin. Hftufig versucht er ins Zimmer zu urinieren, indem er
sich an ein Bett oder an die Tur stellt in offenbarer Verkennung des Ortes.
Gelegentlich findet er das Klosett spontan. Er versucht, sich zu anderen
Patienten ins Bett zu legen, anscheinend ohne sexuelles Motiv. Anf&nglich
rennt er sehr haufig an Gegenstande an. Spa ter tritt das weniger her vor.
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Schlafen- und Parietallappeixlierde als Ursacbe etc.
25
Psychisches Verhalten. Spontaneity. Affektivit&t.
Es bestehen auff&llige Schwankungen in der Spontaneitat des Kranken.
In der ersten Zeit des Aufenthaltes ist er oft durch seinen paraphasi-
schen Rededrang und sein ratloses Umherlaufen storend. Er geht auch
gelegentlich bei den Kranken umher, fuhlt den Puls, macht Gesten, die zu
bedeuten scheinen, dafi sie ruhig liegen sollen. Auch spaterhin kamen solche
Episoden noch, aber es ist doch haufiger, dad er untatig und uninteressiert
im Bett liegen bleibt. Er zeigt dann auch die Zeichen der Flexibilitas
caerea. Zur Defakation und Urinentleerung verl&flt er das Bett. Ueber
die hinsichtlicli der einzeinen Sinnesterritorien bestehenden Differenzen
in der Erweckbarkeit der Aufmerksamkeit ist oben gesprochen worden.
Zu Zeiten der starkeren Spontaneitat iibertriebene Affektreaktionen.
Streichelt den Arzt oder andere Personen der Umgebung, sucht sie zu
umarmen, lebhafter Ausdruck und Mitteilungsbedurfnis. Zweimal kommt
es zu heftigen zornmutigen Erregungszustanden, ohne dad ein ausreichender
Anlad festzustellen war, wahrscheinlich aus Situationsverkennungen heraus:
Er wird blad vor Erregung, geht mit drohenden Fausten auf die Umgebung
los,rennt umher, gestikuliert lebhaft, erhebt seine Stimme zu paraphasischem
Briillen. — Mitunter ist er auch grundlos abweisend, kehrt sich ab, wenn
man ihn begriidt. Im ganzen ist w£hrend der ganzen Dauer des Aufenthaltes,
abgesehen von der allerletzten Zeit, bemerkenswert die affektive Anregbar-
keit des Kranken und das Erhaltenbleiben der affektiven Ausdrucks-
bewegungen. Niemals zeigen sich bei den affektiven Ausdrucks-
bewegungen apraktische Beimengungen.
Verlauf.
In den ersten fiinf Monaten anderte sich wenig im Befinden des
Kranken.
Am 9. III. 1911 ein epileptischer Anfall mit nachfolgender Temperatur-
steigerung. Danach mehrere Tage matt und sclilafsiichtig. Keine Lahmungs-
ersoheinungen. Erholt sich bald wieder.
Am 13. III. Besuch seiner Frau, begriidt sie mit lebhafter Freude,
kiidt sie, sagt Mama, im librigen ganz p&raphasisch.
Am 10. VI. 1911 erneuter epileptischer Anfall. Seit dem Anfall unge-
schickter, verschiittet das Essen, mud mit dem Loffel genahrt werden.
Schl^ft seit dem Anfall mehr als zuvor.
26. VI. bis 2. VII. 1911 Pneumonie.
Von Mitte Juli wieder wesentlich besser. Verhalten wie friiher.
Am 30. IX. 1911 wenige Sekunden dauernder Anfall, Beginn mit
langsamen Beugebewegungen der Finger der rechten Hand, dann auf den
linken Arm iibergreifend. Beine unbeteiligt. Nach dem Anfall Hypotonie
des rechten Armes ohne Parese. In der Folgezeit haufige Temperatur-
steigerungen. Ueber den Lungen beiderseits hinten unten Dampfung,
abgeschwachtes Atemgerauscli.
Schlaft viel.
Zunehmende Xeigungi Gegenstiinde, die ilim gegeben werden, zum
Munde zu fiihren.
25. X. Epileptischer Anfall. Entwicklung einer hy'po.statischen
Pneumonie, Knisterrasseln, Auswurf.
Am 3. XI. 1911 Exitus.
Die klinische Diagnose lautete auf sensorische Aphasie, ver-
bunden mit agnostischen und geringeren apraktischen Symptomen.
Als anatomische Unterlage wurden doppelseitige Erweichungs-
herde angenommen, welche die hinteren Absehnitte des Schlafe-
lappens, das Parietal- und Occipitalhirn betrafen. Auf doppel¬
seitige Herde wurde geschlossen wegen des volligen Ausbleibens
einer Restitution der Worttaubheit und der Seelentaubheit,
wegen der dauernd bestehenden agnostischen StorungenS auf
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♦ un ci Hifivk Inxd.Ir dn m(#kt "la^o.iu!,. Xiikt\ : ,bu'lJr*d' i«'b itejr.
H<nf veu-den 0‘-ri}iib>KvnM'l!invor\ bep*nr/t. liitAkf be ;<H(i Hi i'efi-
vhkJiml^ Mini die He * . <M- J and dit MediwnUin |m ? d.*< Oe.-tpiMib
Pfjd r>«\«*T;db trues. Hu •///.*? Kf jm w f >• m le lien derselbe Hefund.* b-s debt
tuer rt voiA\Veb *b*T r dr*t*sb ^rliiare\vindn rtiju itud d% .Herd- *oA)d?its> in
rler Kebfab $p'p*d M ii» die Tiele ip ]ink^<
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^troifer* zvtjstdien Tap^rum und Fa*soKnd hra \*.ink hervor, An 4m iuuerfu
Vku riU^ln'ckt> *i eUi jjpoh ein pi rit*M*>*v I/ie gaftze
Sfarkk\Mvr*cJueht ini dark n^iutwrl. jJtv ’ : A eumkw t»t Vrvveit^rk
iifdiU' iicuiet KK.ii <.*111 mi; ?*.y'm»n»-i uvehe* 1 ?dd Iter; H^rii
jkjp-lit ilber die interpurietHikfnrte WU- Dir Au.daii on Mki* kinder eat spricJil
taxi vnlliti dern der UVikt'U HoU«4 Ks staht c1>vh>. mehr vm %r?j busftleu
IVjI des KaKciriil. iotiggnddmi% inferior
Selmitt :? ( 17 ): NderfAifd^id^ Aiesehen der flejrcr$pjikreii>ehmtit*-
infolim <Hs doppekeit iiem - v nnuemsOjeii AnsUdlen dor hpmdei.i Portion.
[.-•uk* &in d*>r )|, id nUi dn- I nt erpnr.i<-? tdfmvlte l:mv^i',
D*e »w; de* Maiknuunek utd'U* in die nRrreii JSimVvi median-
vmvts b»N iudeu RiaPkran/ de; i'ra. run. u, .>. n// Rind.- nnd d». v einsi ralilohdi
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tast-m in»■>«! *:r)i.‘lfM r oind? d**iS.d b-ldeii -it !’&>.{ ^inx. lrmeu <*ben am
mvedKr-reu Wrnrik-d liegi kNm'V ;£«|»fVh.-d-^s K^reeps maim* and vo n
liter Hii/i £«»ht (Hur- gaux 'dumie l^idlif li y/iie '$*:■ U i<• b f ari dor' nVerliawen
Und HridnrW^f*teb \V)d Wkelwaiid emlang, 5^vyi^heu Marktftgefc kk’nririA
ubd: Tapeiimi ckv Y**nwkeL> Uegr xmtf ebte gnn/ sobt&aAh, iuG^Ohkop^h-
k-Hum siobtimrrNtenohl Sirat. sainttal. intern. V»->’r« YtnWren L:rrvpdnhidei
tebk die pai iarnle Parttep^beaso von.-deia tyra? t»m inmnnia,.
Es iM lli»r f.k't d»i.s;ik- Anlril VOli bidden Ymd ahHi d/^-rT T?H dnnnz-T a 4 '
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Selmitt 3 <34)
Schmit t (34); f>.-r fford link# nmfuBt <tuli« j u i>»»< h di» run/e K. 01 ;-
vexi|b h tdrii BolVivlttd14 bte -berab ?a tv dr it tv n T^iViJJui^wii^uug*
geht naeh n.beb tawd*. d*n,<Jhw>Q abbaagteru H \nd dt»r I rvt>>vjia ritual-
; mT# Itev&n iiod ^rstn Virt Vidh r nd vas Mark, 1 V-. afairenmidtf- "Mark- •
teger dm JVa&ruUauK, l^r axdgetedh, Autten go hr dnv iWd bis eud dan
and (lHdUditA]U"^haiHi fdivk hter >Yteeic?nUte longit^dinalis JiifnriAiv
-liit’VijifI * * Wpetum vAUfcr. I>te l^pobitn^rlm'te ikt'lrU- m dan
P^K-op* major hmain at,v>r.k *r^!adm‘t. Dvt dmt Fotnq** tm.mr. nahaUaganda
IW and i^i **i&m ^tiarker gv^?hu
reduici«rt^ Did ’^ Part ieu de* untdren Lkngs))iUVdi>Jft sibci ddnt&h.
-Dfces,. ; gimtiim- ..ititerwum sc-lir si ark und demdirriiilert 4
. ftechte :• •ileifc •:Hefti klei i\#r. Dre Jntefparkiialfiirche ist intakt, inid
e# i<tdht <et^ r a die tier uiit^ren Par*WdIn dvr Ifete Tekiht
desf' Hef,d VentvikeL •; .(fordfipiv. • ink .stark aufgeheilt.
Ay^totE«ajj/lfltik^ • die- ddm Forceps ivomiaJdrvV^isd anUi^dnde diehte aagtr^aJe
^rabl^an^cliiniii wbni^iehUg and knnm jdisbibar: mi\ is^ hi^r vine dm 11fche
' ^^£cht/' .$titbkfkii5r.' iie-htbar*
Die Vantrikiet sinci bvidm^vit* ermdtert,
■Scfimit 4 [ti’A. Sdimtio dt.irah 'dm Hplipninm <N.»rporis autor zeigea
\jbcfail flie mitUtirdn Partin Ballmn^ Uotdiioh ddtevm ^riertv< b^pncWs
basiij i<i ciia Farbung gtif,. Do.rsn) v<t siv niebt pan/ abfnr dovh d^utlich
b*«MT ais in- dvv' Msttv. the Ansdtbmmgd^ -Herde < bteibt links- bn abngeri
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kupfm de I Vr JXrd pJd U(\i<* eHtdbbrb unde- in die Tiefe and ddrkt *U*
\>ntrik< kitM’b hi- .v»n* Hulnv. Du- ^vconuie dorsalo Stt»hki-«uiz>.duc*ftg.iih#>t-
do h r T>* return foil If mtnii'i di-v^en U«\k- nook \ v>l i 144.
tb*« hfH U\ vv>in SrbiiuV-niMppeti vi»u dc-Y IX Seid.drrnviodun X <!•«•
vje? dritieh TeU giliy ilyr znr f. ScliUit^mviiftiiiurit* 'skill st»iifcend$
Tod 1 > ‘1 ilt.
In ibnXr.ttfrX«k’i) ^ehutHYXendn Mbi-t pjjSg Puivimr X die Solmdt-
tfevn?, }\»i\ jovar UnU* p w, & irmi )‘r idler. Die YetUrikidw^nd Xidgt sicli im
^jyrifeS? dftiibfcii: ^^Waser^eliic'lit zn
'lloehrY, XutM^lnindv*] neitheX w^t^r iti die Jffrlih
m»d tst nut- fftiiiiU tip* 8trut. si*£r. intent. yi&ni dnntite&
9 pinvaidbKdl ^irvtnv. A>t H»-?.d uiufajtffc nvkfs mndi die t SiXon-Me
•‘O*uitin^ uanz.
Xinlcs der inttsorjUfcf it,sicii amais«>t,2*\n.
Srhi*.ft .'* >(';», j. *W*hvv. vv;rk)i ih^ri .sk-.h :der Herd schnell. 'Link-. n>UJi
a* *v■ /1 dec L TWd|>orair> vbensp die S:uj>r;wiartiimd\vuidling zu r.iueru
• £rod?mj Ts?tL Per Htxrd liakf in eke TietX bis m dem LLosoiikerii.
J>/r S-Xhuk-i i<\ inuikt, DeV Hord erxii'^'kf^- sikh horn t ier if& Murk 'dies
Selieifellnnjirhv uml i-r v : *n deni dorsalen StiU'k riea .'•viteie.i.i? < faudatus
nur <lnr«-b Hiif ’yXftMle leaserpl««U: .Die l»iKal<>
Parfm ?iah* Unlkem isi .m«.»*li -demlioU aetei beUi., Day beid^sv Seiten-
^fitrikei 'A.»nd ■ ^v/^it'erT-* fbnbiriib ; tet ■ die iialkedi^aain^ iti iXc Breito
py/Awm. W^ifewl wn b^tiragt,
hei riigi n»«.-bt 1 *’tii uud lunritik hier few' ■»ti^<djjjk©ich. noch
ci*W ilebiet ipfr' i . Tfyinpnraii^ nnd div^ iiu anliegyndn \Vdiuiin^kirppe Tind
d>r 11. Teiopdriih^.^ ■'■£$ xtaht- iind tst. iiut gdarbi: di^ t^ergad^-
\yindnbi> der iVbiruintd- z^r Drir:’lV»n>v 1^ dnreh diebiatere
!v.a:i»nj.‘>ur >if\d die j^ihtietiridkmizimg ^eirijrlteu.- kinks, uodet.aieh jateral
i'iVf* .eif‘r antstei^endeen;- S<;:bleil> erne lie lie Z^uy in de'rr* Bfor'f..i*Xi rter er^Ten
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MnittdU*r Keiimtt sdu>n ftwas m.«hr vojn lanKeiiket n. I>r IhiJcs-
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• v ftt£e/ istv'dcr gim*:e Mark^tji*] <J.e* • geliektvt. Eirlwdten is 1
iliii uid^ro ab#reelitA \Mei&tArkt*t*
Kasm^nia^n sn-h huvraf an Corpus ge/benlavuru fco&emnTi ArdHger 1;
Fir) AiilAil He* &ukeii RintKdienk*}* fin'**’ <0p
Kiel i anf *p»tdr*H Bt bnit'Hi rekt j*\ dbu StdiUttf*ri lappebst iel fortes 2-t-
:lt>'f'hl$ xei^tVieh dry dr Vv—,' Svlvii zugekebrte Ant'll Her i. Seh'tajeii-
W»r}«|.ru}i- a»r- /wVi Wiudm^-h b*’Dw diner* AfHPlL die
Windiiug; \y\ im .Aiiifn .;m erb<en, da* Murk Her Hbereti 'Win-
duiigskuppe <mdd»-T UiixUt^u KAppe zH’stor^ D;ts £nr iimereti Kapsul
< iustruh}cndn AJark de- nhu* Yijappeiis jst, <$tark an.fi:<A»>.•!»*,- umerer Toil
d<s Balkerlu--. u*>eh gAiHtiev.
SritniM 7 (it¥)
Winriunpskuppi; der; f. HfthlMim wimiting e.in kleiuerflWjfekk i>i*v In>-H ir&
beidersfifs intake.
Der Balked ^igP.tn Afrinenv baaiilen. dwii WntrfkVl.- .r,n^<dtcd]irU*tj Teit
iif dev MiMe nock erne h •■ichte U?*btung,. •
HoehfA finder sirrh in rfieser 8 chnittebene eiu 9 « 2 bftf{ ma^eJfu'iebeaer*
etwa >rb 8 en*fro£&% fceirh tiedytmim mit eijier derheh B$adeg^\^eWehfcHt
iuiiHehei<W.v'>V.ctem dii^^it'header Herd ifetroffen fender .mfeUalsie
lAtk^ikeniz nteit, Hie • •' -eiitec WieBMHh dire* ffaubeiiFedrvs,
• I'.'tar SHilmgei isr in >einein iauemi ; uml &u#eri&Ti • Kor H von »:iem Hettfe
mtfhetrnflWi.
Dfe Ausdelimoig des .f4<difiikgellierdw gel it l Sene 9f» Vt* 12$}'* von Her
Sc limi t hdhe* wetelie dm hmtere- En.de der C'orponi mapAfiam trifjft, bis
zitr Se built hdhc, die dareh die vordersfen Schm n ebenen dc* Smeteuk
aateriur tlrdami geht.Hkr [Schmitt 8( 1AA] ist noeh eiine.kiefnevo AuthaUun^
m der (torn .m«r<iitiJeu Oinhua pallidas 1>er
Seh3&felaj[>f>eh_ ist reciils intakt, links noch in iier.- .iCuppe/«ier':I.
'wmdung. mn kletnev Herd. Im Miirklager-der rechien
erne Ers’ieji‘hung'?.ojic nuf.
Sfchi&fen- unU IVrfyifcH 1 Li.pper\l‘*rd<? ai& OivHnhft <a 33
Schmitts die dureh das rhia*m.i ^vu. wvyu <n dk^-m *.;im* ms*
’^nrotitV^ vs n\*/s>nv. w eict*e- die imthtet*. hmiyle T^tHv*mmur>Tm
Ottijko^ 1 Au&e I^r in) ■ .}fark\rd*T: V. i
frx&ch^rfc d^rwefcbiuig.shfeff'd/ wefchEi Vine iVeiuK^w^rl^ &£&k1[ k»ii d«r Tim*
gnbung^bgt, &>ht bi,<- in deiv 1V,1 ;st irtihirus uoch v<»ni. Vom Herd
'ergrHfeti die • ’*Ovrus torninattrs nber- tmd
Sditiitit & (JL2<}1
imterhalb d<\s Balkans und dii? irijiere l^rtie dcs Gyro* -rectus. Dor
mBSfsre^ Riixdensaiun isi, ttrha.lten. Ervreicht tst tmr das Marklager it\ Fwm
z^Jhlre3*;luT Jdeiner Hbrde vail da&v r ii»r,b^nlte^ tociet*erhalfceoeu MiFurk^toided)-.'
p& x%tet)L ( Sekuiaci&re tV in 4e?n Balked hemtoiefoem «m3
nfebi da. Aid (?rngehmtg <i*a Herds* aim* Vs
gir>n?ft d*’ CUHqriivherxw^. perG&hrivorga.dk -StimhirnherUeM?
■iftt erst un Bt^um,
Epikrise.
Was zynaebst die Beziehtmgm tltr -anatowii^hen ^funcU*. zn
dem kliniscbesi Bilde artkingt, ho k#ftp dear Herd kn rechten Stiin-
him fur die plotzUeh emgefretehen ttud sttatlomir gdmebenen
apbaaischeti und agstosiisdwu Stftnmgen auBcr Betraeht- bSeiben.
Der Herd isi jimgeri«n ; 'Dsttu»>iv JEe iei nmdi &wn»* pi Harbenbildung
nnd mir in g&ritigenri Xbnfang zuv des: Myeliiifi ge-
kotamen, Ei> i&fckein Zweifel. d&li dbr iSKffifdikMtCTd- <% TjTr.saebe
dines der^abivnrtder lieobaeltfurig atifgetE^^iv, miteidfepiischea
Kr&mpfeu einhergehendeu Insult* 1 getyeseji is}-. Er tnvt em, ais
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34
B o n h o e f f e r , Doppelseitige symmetrische
Zunachst das akustische und Sprachgebiet. Die Worttaubheit
war von Anfang an bis zum Lebensende, also wahrend 18 Monaten,
vollstandig. Niemals konnte festgestellt werden, daB der Kranke
ein Wort sicher verstanden hat, ein Befund, der bekanntlich bei
einer langer bestehenden sensorischen Aphasie ungewohnlich ist.
Es hat uns, wie schon bemerkt, dieser Umstand, wenn auch nicht
allein, die Veranlassung gegeben, einen doppelseitigen Ausfall der
ersten Schlafenwirkung im Bereich der W emickesoYien Stelle anzu-
nehmen, entsprechend der alten Auffassung, daB die gewohnlich
eintretende, weitgehende Restitution der Worttaubheit bei Ver-
nichtung der Wernicke schen Stelle auf einem Eintreten des rechten
Schlafelappens beruhe. Der anatomische Befund hat uns recht
gegeben. Er beweist aber auch, daB eine Vorstellung von der
Mitwirkung der rechten Hemisphere, wie sie Niefil-Mayendorf
hat, nicht aufrecht zu halten ist. Dieser sagt, daB die regelmaBige
Mitwirkung der rechten Wortklangsphare beim Sprachakt durch die
Paraphasie bewiesen werde, denn diese erlosche, wenn beide Wort-
klangspharen untergegangen seien. Bei unserem Kranken bestand
dauemd eine sehr starke Paraphasie trotz fast volliger Vemichtung
auch der rechten Wort-klangsphare. v . Niefil konnte ihr Erhalten-
bleiben anatomisch mit dem Rest der erhalten gebliebenen Heschl-
schen Windung rechterseits in Verbindung bringen. Demgegen-
iiber ist aber zu sagen, daB dieser Rest doch anderseits nicht aus-
gereicht hat, Wortverstandnisreste zu erhalten, und daB bei der
starken Schadigung der rechten Wortklangsphare dann zu minde-
stens nichts geradezu ein Plus an Paraphasie, wie es die ausge-
sprochene Logorrhoe mit sich brachte, in Erscheinung treten durfte.
Wichtig im Hinblick auf die Doppelseitigkeit der Herde im
hinteren Abschnitt der ersten Temporalis war das Verhalten des
Gehors, und es muB als eine besonders giinstige Konstellation
betrachtet werden, daB die Priifung mit der kontinuierlichen Ton-
reihe zu einem Ergebnis fiihrte. Die mit alien Kautelen vorge-
nommene Untersuchung lieB keinen Zweifel dariiber, daB der Ton
der'Stimmgabel den Kranken zu charakteristischen Ausdrucks-
bewegungen, die sowohl die Tatsache der Perzeption als die
Richtung im Raume zu erkennen gaben, veranlaBte. Es scheint
mir nicht zu weit gegangen, aus der GesetzmaBigkeit der Reaktion
den SchluB zu ziehen, daB die Perzeption der Tonskala erhalten
war. Diese Feststellung ist wichtig, weil es meines Wissens der
erste Fall doppelseitiger Schlafenlappenherde ist, bei dem diese
Untersuchung durchgefiihrt werden konnte, und sie ist wichtig
im Hinblick auf die von Wernicke vertretene Annahme, daB die
Worttaubheit auf einemVerluste der Perception der Sprachsexte be¬
ruhe. Da der Kranke unfahig war, nachzusingen, oder sich im
speziellen dariiber auszudriieken, wie er dieTone wahmahm, sondem
nur feststellbar war, daB die gepriiften Tone der Tonreihe die Auf-
merksamkeit des Patienten fesselten und ihn veranlaBten, mit
dem Zeigefinger nach dem betroffenen Ohr zu deuten, so kann
natiirlich nicht gesagt werden, ob er die Tone nach Hohe und
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Schlafen- und Parietallappenherde als Ursache etc. 35
Dauer wie ein Gesunder wahrnahm. Das Vorhandensein der
Reaktion auch innerhalb des Bereiches der Sprachsexte spricht
jedenfalls mit groBer Wahrscheinlichkeit dafiir, daB die Wort-
taubheit nicht in der einfachen Weise einer akustischen Ausfalls-
erscheinung der Skala von (b') bis g" zu erklaren ist, sondem daB
es sich um einen Verlust iibergeordneter Assoziationskomplexe
handelt. Die Horfahigkeit war beiderseits vorhanden,. aber sie
war rechts weniger gut als links. Ich hatte zunachst bei makro-
skopischer Betrachtung angenommen, daB unser Fall gegen die
Flechsigsche Auffassung einer ganz umschriebenen Localisation
des Gehors in der HesctUschen Windung sprache, da diese zu fehlen
schien. Das ist nicht der Fall. Denn die Verfolgung an Schnitt-
serien hat ergeben, daB rechts ein kleines, in der Tiefe liegendes,
gute Fasem enthaltendes Stuck der Heschlschen Windung erhalten
geblieben war, und daB rechts die Strahlung vom Mark des
Temporallappens nach dem inneren Kniehocker besser erhalten
war als links.
Man wiirde bei unserem Befunde unter Zugrundelegung der
Richtigkeit der Flechsigschen Lehre von der Endigung der Hor-
bahn in der HescMschen Windung sagen miissen, daB ein ganz
kleiner Rest erhaltener Heschl scher Windung in der rechten
Hemisphare geniigt, die Tonskala beiderseits, und zwar links besser
als rechts zu erhalten. DaB links und rechts gehort wurde trotz
Fehlens der linken Heschlschen Windung, wiirde in der nicht
totalen Kreuzung der Horbahn eine ausreichende Erklarung finden.
Anderseits wiirde aber auch gesagt werden miissen, daB ein
solcher Rest Heschlseher Windung in der rechten Hemisphare
nicht geniigt, eine Worttaubheit zur Restitution oder auch nur
zur Besserung zu bringen. Es liegt darin ein Bedenken, die Lokali¬
sation der Worttaubheit ausschlieBlich an die Heschlsche Windung
gebunden zu erachten.
Vor der Aufteilung des Hirns in Schnittserien glaubte ich in
der vorliegenden Beobachtung auch eine Bestatigung einer von
mir gelegentlich ausgesprochenen Auffassung zu haben, daBnamlich
das anscheinend regelmassige Erhaltenbleiben gewisser Reste von
Funktionsleistung nach Zerstorung der imHimmantel gelegenerPro-
jektionszentren auf eine Mit wirkung der phylogenetisch alteren sub-
kortikalen Hirnteile zu beziehen sei. Dafiir schien mir zu sprechen
das Erhaltenbleiben von zentralen Sehresten nach ausgedehnten
doppelseitigen Durchbrechungen der Sehstrahlung im Occipital-
und Parietalhim, das Bestehenbleiben des Pyramidenbahnpradi-
lektionstypus auch nach doppelseitiger Durchbrechung der
Pyramidenbahn in der inneren Kapsel. v. Niefil-Mayendorf hat
mir in der Kritik meiner diesbeziiglichen Bemerkungen 1 ) die
Behauptung zugeschoben, ich hatte von Fallen gesprochen, in
denen eine vollstandige Zerstorung der Extremitatenzonen beider
Hemisph&ren vorgelegen hatte. Von solchen Fallen habe ich
nirgends gesprochen. Was ich gesehen habe, ist aber das, daB
l ) Jahre3bericht d. schles. Ges. fur vaterl. Kultur. 1910. p. 32.
3*
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36 Bonhoef f er , Doppelseitige symmetrische
bei doppelseitiger Durchbrechung der Pyramidenbahn in der
inneren Kapsel und der dadurch herbeigefiihrten Paraplegic die
Plantarflexion des FuBes und die Kniestreckung gut und kraftig
geblieben ist, was bei der Annahme einer doppelseitigen Inner¬
vation der bei der Hemiplegie normalerweise erhaltenen Muskel-
gruppen nicht der Fall sein diirfte. Solche Falle konnen an die
Mitwirkung der phylogenetisch alteren Hirnteile, auch bei der
Willkiirinnervation und bei der bewuBten Empfindung denken
lassen. Der vorliegende Fall beweist, wie gesagt, nachdem sich die
Heschl sche Windung zum Teil intakt erwiesen hat, nichts. Ich
bin mir auch klar dariiber, daB die Auffassung gelaufigen Auf-
fassungen iiber die Bindung aller willkiirlichen Vorgange an die
Hirnrinde widerspricht und keineswegs sicher zu begriinden ist.
Es hat aber meines Erachtens doch auch von vornherein eine ge-
wisse innere Wahrscheinlichkeit, daB den subkortikalen Teilen
von ihren urspriinglichen, spater von der Rinde iibernommenen
Funktionen nicht alles verloren gegangen ist, und daB nach Aus-
schaltung der Rinde manches wieder mit einer gewissen Selb-
standigkeit hervortreten kann, mag man sich den Impuls nun von
anderen Rindenstellen ausgehend denken oder scnst woher.
Agnostische und apraktische Storungen. Bei der infolge der
hochgradigen Paraphasie und dem Fehlen der Conkreta auBerst
gestorten Fahigkeit des Kranken, sich sprachlich auszudriicken,
sind die SchluBfolgerungen auf vorhandenes Verstandnis oft aus-
schlieBlich aus den anderen Expressivbewegungen des Kranken
zu ziehen, und es fehlen deshalb insbesondere alle Angaben iiber
die nuancierteren Vorgange in dem Kranken bei dem Er-
kennungsakte.
Es ist bei vielen Reaktionen unseres Kranken nicht leicht, zu
sagen, ob eine agnostische oder apraktische Storung zugrunde liegt.
Die Tatsacbe, daB Gegenstandsgerausche, taktil oder optisch ihm
entgegengebrachte Eindriicke fiir sich allein vielfach keinerlei
Interesse erweckten, konnte ebenso daran denken lassen, dass eine
TJnmoglichkeit, die zugeordneten Handlungsfolgen eintreten zu
lassen — also eine apraktische Storung — vorlag, als daran, daB
der einsinnig entgegengebrachte gegenstandliche Reiz nicht zum
Akt des Wiedererkennens ausreichte. Vielfach wiederholte Unter-
suchungen haben mir aber doch keinen Zweifel dariiber gelassen,
daB eine agnostische Storung vorlag. DaB die schwere Erweckbar-
keit des Interesses fiir einen Gegenstand nicht an dem Ausfall der
psychomotorischen, sondem an der Unzulanglichkeit der gnosti-
schen Akte gelegen war, ergab sich, wie ich glaube, mit Sicherheit
aus der Tatsache, daB der Akt des Erkennens, wenn er erfolgte,
sich in der Gebarde der freudigen Ueberraschung zu erkennen
gab (in der Mimik und in der sonstigen Art der Reaktionen
war meist keine apraktische Komponente festzustellen) weiter-
hin daraus, daB das Hinzutreten der sensorischen Erregungen
von einem zweiten Sinnesterritorium aus vielfach offenbar
den Erkennungsakt erleichterte. Das optische Gegenstandsbild
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Schlafen- und Parietallappenherde als Ursache etc.
37
allein und noch weniger das taktile allein geniigten nicht, eine
adaquate Reaktion hervorzurufen, sondem lieBen den Rranken
meist gleichgiiltig. Dagegen lieB die Summation optischer und
taktiler Reize den Kranken oft zur Identifikation des Gegenstandes
gelangen, und auch wenn er nicht dazu gelangte, zeigte sich in der
Art, wie er den Gegenstand zur Seite legte, nichts eigentlich
Apraktisches.
Die agnostische Stoning betraf das optische, akustische und
taktile Gebiet ziemlich gleichmaBig, die letzten beiden vielleicht
etwas mehr. Die bei geschlossenen Augen ihm in die Hand ge-
legten Gegenstande losten iiberhaupt keine Reaktion aus, abgesehen
von der, sich das Auge nach MogUchkeit freizumachen. Dasselbe
war bei Erzeugung von Gegenstandsgerauschen der Fall. Aber auch
der lediglich das Auge treffende Reiz geniigte nur ganz ausnahms-
weise. Es ist nur einmal beobachtet worden, daB er spontan nach
einer auf dem Tisch liegenden Semmel gegriffen hat, sonst ignorierte
er das Essen, das vor ihm hingestellt wurde, dagegen aB er, wenn
es ihm bei offenen Augen in die Hand gegeben wurde.
An der Tatsache, daB ein Zusammenwirken mehrsinniger Reize
den gnostischen Prozefi, der von einzelnen Sinnesterritorien aus
kaum erweckbar war, begiinstigte , kann nicht gezweifelt werden
und sie findet wohl ihre Erklarung darin, daB die fur die Einzel-
sinnidentifikation in Betracht kommenden akustischen, taktilen
und optischen Himterritorien in ihrer ganzen Erweckbarkeit zu
stark herabgesetzt waren, daB aber auf dem Wege der Assoziation
eine Verstarkung der im einzelnen zu schwachen Erkennungs-
merkmale moglich wurde, die in einzelnen Fallen noch zur Identi¬
fikation und jedenfalls zu einer Anregung des Identifikations-
prozesses fiihrte.
Neben der agnostischen Storung bestand sicher auch eine
ideotorisch-apraktische. Vielfach kam beim Manipulieren mit Gegen-
standen, die der Kranke erkannt hatte, der Handlungsvorgang nicht
zum AbschluB. Er bringt eine Schachtel, die er richtig geoffnet,
nicht mehr zusammen, Gewichte, die er aus einem Satze richtig
herausgenommen, nicht mehr wieder in ihn hinein. Die Folge
des Zigarrenabschneidens, Mundsteckens und Anziindens kommt
nicht zu Ende. Er vergiBt die Striimpfe und zieht die Schuhe iiber
den nackten FuB usw. In manchen Fallen ist es zweifelhaft, ob
einer Fehlhandlung eine agnostische oder apraktische Storung
zugrunde liegt, so, wenn er das Stethoskop ans Auge fiihrt und
durchsieht, oder wenn er die Haarbiirste wie eine Handbxirste ins
Wasser steckt.
Bemerkenswert ist, daB motorisch apraktische Handlungen
keine wesentliche Rolle spielten, er manipulierte mit beiden Handen
gleich, sogenannte amorphe Bewegungen kamen niemals vor. Er
schraubt Stiel und Platte des Stethoskopes gut zusammen, dreht
den Wasserhahn richtig auf, wascht sich die H&nde, er iBt und
trinkt richtig, wenn ihm die Dinge in die Hand gegeben werden.
Zufassen, HandschluB, Weglegen Handoffnung gelingt ihm meist
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Bonhoef f er , Doppelseitige symmetrLsche etc.
richtig. Sprachliche Auf tr age zu Handlungen befolgt er nicht,
eine Priifung der Ausdrucksbewegungen und Objekthandlungen
aus dem Gedachtnis lieB sich deshalb nicht ausfiihren. Auch zum
Nachahmen von Bewegungen ist er meist nicht zu bewegen (weil
das Verstandnis fur Gesten fehlt ?). Nur ganz gelegentlich kommt
es vor, daB er die Zunge herausstreckt, wenn man ihm die Be-
wegung vormacht oder daB er lacht, wenn man ihn anlacht.
Die Schrift ist nicht apraktisch. Wenn er, was selten gelingt,
zum Schreibakt zu bringen ist, so schreibt er vollig paragraphisch
mit stark persevatorischem Charakter, aber er schreibt Buchstaben.
Die geringe Ausbildung der motorisch apraktischen Storung ist
bemerkenswert im Hinblick auf die Lokalisation der Herde. DaB
die einfachen sensomotorischen Akte intakt waren, ist bei dem
Freibleiben der vorderen und hinteren Zentralwindungen im Ein-
klang mit den Liepmannschen Aufstellungen. Das Vorhandensein
der tief ins Mark bis zum Ventrikel einschneidenden Herde im
Parietalhirn konnte aber bei der weitgehenden Lostrennung der
motorischen Region von den hinteren Himpartien nach sonstigen
Erfahrungen ausgesprochene apraktische Erscheinungen erwarten
lassen. Vielleicht versteht sich ihr Ausbleiben beziehungsweise
ihre geringe Ausbildung aber daraus, daB beiderseits von der
Marginalwindung der vordere Teil erhalten geblieben war. DaB
Herde in der Angularwindung nicht von motorischer Apraxie be-
gleitet zu sein brauchen, darauf habe ich an anderer Stelle
friiher hingewiesen.
In anatomischer Hinsicht sei in diesem Zusammenhang nur
auf zwei Punkte kurz hingewiesen, zunachst auf den Verlauf der
Sehbahn. Die Schnittserie zeigte die Calkarinagegend iiberall
intakt, dagegen sehen wir eine Durchbrechimg des Marklagers
des Parietalhirns bis auf die Tapetumschicht des Ventrikels. Das
sagittale Mark und das untere Langsbiindel war beiderseits zer-
stort, mit Ausnahme des basalen Teiles und eines Restes der
unteren Partien des lateralen Teiles.
Dieser laterale Rest reichte rechts ein wenig mehr als links
in die Hohe. Da rechts eine deutliche, wenn auch vielleicht nicht
komplette Hemianopsie vorlag, wahrend links das Gesichtsfeld da
war, so bleibt keine andere Annahme, als daB das geringfiigige Plus,
was rechts an Sehstrahlung und Stratum sagittale internum vor-
handen war, Trager des erhaltenen Gesichtsfeldes war. Es wiirden
also innerhalb der Sehstrahlung vor allem die etwas unter der Mitte
und die daranstoBenden ventralen Teile des Fasciculus longitudinalis
inferior und des Stratum sagittale internum sein, welche der
Leitung der Sehfunktion dienen. Das wiirde ungefahr mit der
v. Morakow&chen Auffassung ubereinstimmen, der in den vorderen
Occipitalpartien die mittleren und teilweise auch die ventralen
Etagen des Stratum sagittale internum hierfiir in Anspruch nimmt.
Fur die Topographie im Splenium des Balkens ergibt sich
aus der hier sich findenden Degenerationszone, daB es auf dem
Frontalschnitt die mittlere Abteilung ist, welche die aus dem
Scheitellappchen und der 1. und 2. Schlafenwindung kommenden
Balkenfasern enthalt.
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Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit etc.
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Pathologische Ueberwertigkeit und Wahnbildung 1 ).
Von
KARL BIRNBAUM
in Berlin-Buch.
Inbaltsiibersicht.
Allgemeines.
Begriffsbestimmung.
Psvchopathologie der Ueberwertigkeit.
Wertungsuberwertigkeit und Wahnbildung.
Logische Ueberwertigkeit und Wahnbildung.
Associative Ueberwertigkeit und Wahnbildung.
Das klinische Bild der Ueberwertigkeitswahnpsychosen.
Ueberwertige Idee und Wahnidee.
Bedingungen der Ueberwertigkeitswahnbildung.
Die klinische Stellung der Ueberwertigkeitswahnpsychosen.
Allgemeines.
Die iiberwertigen Vorstellungen sind eigentlich von jeher seit
ihrer Aufstellung und Heraushebung durch Wernicke 2 ) in engsten
Zusammenhang und innerste Beziehung zur Wahnbildung gebracht
worden. Wernicke selbst nennt in seinem ersten Aufsatz die iiber-
wertigen Ideen glattweg fixe Ideen, identifiziert sie also mit den
umschriebenen stabilen wahnhaften Einzelgebilden der alten Nomen-
klatur. Er hebt des weiteren die aus ihnen unmittelbar und folge-
richtig hervorgehenden ,,logischen Eelirien“, also richtige Wdhn-
prozesse, heraus und stellt schlieBlich sogar eine besondere auf
ihrem Boden sich erhebende Wahnpsychose auf, die zirkumskripte
Autopsychose auf Grund einer iiberwertigen Idee.
Andere Autoren ( Pfeiffer usw.), die diese Schopfung Wernickes
aufnahmen und weiter verarbeiteten, sind im wesentlichen in den
gleichen Bahnen gewandelt, und auch durch ihre Arbeiten zieht
sich gewohnlich als Leitmotiv diese Anschauung von der engsten
Verbindung zwischen iiberwertiger Idee und Wahnbildung. Aber
selbst in den Fallen, wo das Moment des iiberwertigen Komplexes
nicht so ausdriicklich in den Vordergrund gestellt wird, wie etwa
bei Friedmanns ,,milden“ Wahnformen 3 ), lftBt die Darstellung
diesen Zusammenhang nicht vermissen 4 ).
*) Aus der Irrenanstalt Buoh der Stadt Berlin. (Direktor: Geheimrat
Richter.)
*) Wernicke, Ueber fixe Ideen. Dtsch. med. Woch. 1892, und Grand -
rifi der Fsychiatrie. Leipzig.
') Friedmann, Beitrage zur Lehre von der Paranonia. Monatsschr.
f. Neurol, u. Psych. Bd. 17.
*) Lomer identifiziert sogar, allerdings ohne weitere Belege und Be-
griindung, iiberwertige Idee und Paranoia in einem kleinen Aufsatz („Liebe
und Paranoia", Neurol. 25bl., 1904), der auch sonst einige Beziehungen zu
unserem Thema aufweist. Unter Paranoia versteht er dabei „das Ueber-
machtigwerden bzw. -sein gewisser Vorstellungskomplexe, deren Ueber-
gewicht am Ende so groJ3 wird, da£ sie sich die Krafte des logischen Denkens
dienstbar macht und dadurch in ihrer Wertigkeit herabdriickt".
Go i igle
Original frn-m
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B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit
Der enge innere Zusammenhang zwischen iiberwertiger Idee
und Wahnbildung ist nach alien diesen Arbeiten unbestritten.
Worm er begriindet liegt, und wie er im einzelnen zu erklaren ist,
ist sowohl von Wernicke selbst wie seinen Nachfolgem an der
Hand von Einzelfallen wiederholt dargelegt worden. Immerhin
ist doch bis jetzt eine allgemeine Erorterung aller Beziehungen
zwischen diesen beiden Erscheinungen noch nicht gegeben worden.
Und doch ist gerade sie sowohl fiir die Frage der Wahngenese wie
der Wahnpsychosen iiberhaupt von besonderem Wert. Einmal
ist das Problem der Wahnentstehung sonst gewohnlich von einer
anderen Seite her, von anderen Gesichtspunkten und Voraus-
setzungen aus in Angriff genommen worden — man denke an die
vielen Beitrage zur Paranoiafrage —, daher verspricht eine anders
eingestellte systematische Bearbeitung ebenso in allgemein-patho-
logischer wie klinischer Hinsicht an sich schon einigen Nutzen.
Sodann aber — und das ist noch wesentlicher — sind hier die
Bedingungen fiir die Inangriffnahme des Wahnproblems selten
giinstige. Sonst mufite man zumeist von irgendwelchen allgemeinen
und unbestimmten, oft mehr vermuteten als erwiesenen, mehr er-
schlossenen als direkt wahrgenommenen psychischen Gebilden aus-
gehen, von eigenartigen Mischaffekten, verandertem Allgemein-
gefiihl, abnormer Selbstempfindung u. dgl., und kam daher nur zu
leicht zu einer Auffassung, die mehr oder weniger in der Luft
schwebte. Hier dagegen hat man von vomherein sicheren Boden.
Hier ist ein fester Ausgangs- und Mittelpunkt gegeben, ein kon-
kretes, klar wahmehmbares und faBbares, deutlich abgegrenztes
psychisches Gebilde, eben der iiberwertige Vorstellungskomplex,
dessen Einzelbestandteile, Vorstellungsinhalt wie GefiihLsfarbung,
sich ebenso einwandfrei erkennen, wie seine inneren Beziehungen,
Folgen und Wirkungen sich klar iibersehen lassen.
Aber auch abgesehen von der Frage der Wahnbildung darf
eine Erorterung der Ueberwertigkeitserscheinungen als angebracht
gelten. Die pathologische Ueberwertigkeit ist an sich eine so
charakteristische Erscheinung mit so wichtigen Sekundarsym-
ptomen, ist ein so bedeutungsvolles psychisches Element von stark
symptomenbildender Kraft, daO sie in jedem Falle eine groJJere
Beriicksichtigung verdient, als fiir sie bisher in Arbeiten allgemein
pathologischen Charakters abgefallen ist und ihre emeute Er-
orterung keiner weiteren Begriindung bedarf.
Eine Darstellung der Beziehungen zwischen Ueberwertigkeit
und Wahnbildung muB natiirlich viel Bekanntes und Selbst-
verstandliches heranziehen, denn im Grunde spielen dabei ahnliche
Faktoren mit, wie sie ganz allgemein den Wahnbildungen zugrunde
liegen. Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Nicht sowohl
die Auffindung neuer Elemente als die Heraushebung der bekannten
unter eigenartigen Bedingungen ist hier das Wesentliche. Erst
dadurch kommt das Charakteristische der Erscheinungen zur
richtigen Geltung.
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und Wahnbildung.
41
Begrilfsbestimmung.
Vor allem anderen gilt es nun, erst ncch einmal festzulegen,
was unter pathologischer Ueberwertigkeit verstanden werden soil.
Der Begriff der Ueberwertigkeit ist an sich ein so unsicherer und
dehnbarer, daJJ ohne exakte Definition mit ihm alles und nichts
anzufangen ist. DaJJ man bei dieser Begriffsbestimmung von
Wernickes Fassung und tarstellung auszugehen hat, ist selbst-
verstandlich. Bei ihr stehen zu bleiben ist freilich nicht ganz leicht.
Denn iiberraschenderweise lassen gerade die diesem Problem ge-
widmeten Arbeiten Wernickes in mehr als einer Beziehung die
Klarheit, Bestimmtheit und Eindeutigkeit vermissen, wie sie doch
gerade zur Begriindung und Festigung eines neuartigen und
prinzipiellen Standpunkts erforderlich sind. Das gilt nicht nur
fiir die herangezogenen Falle, auf deren Wesensverschiedenheiten
seinerzeit schon Hitzig hingewiesen hat, sondem in gleichem Mafle
auch fiir die Begriffsbestimmung selbst, und man kann daher
Koppen 1 ) nicht so ganz Unrecht geben, wenn er dem Autor die zu
weite und unbestimmte Fassung seiner iiberwertigen Idee zum
Vorwurf macht, ,,die bald als ein allgemeiner Begriff erscheint, der
die Wahnidee, fixe Idee und Zwangsidee umfaJJt, bald als gleich-
bedeutend mit dem Begriff der fixen Idee nach Emminghaus (der
fixe Idee eine sich nicht weiter entwickelnde, vereinzelt blei-
bende Wahnidee nennt), bald endlich in einem ganz bestimmten
Sinne verwandt fiir eine pathologische Ideenbildung, die sich von
alien bisher bekannten Abarten pathologischer Ideen unter-
scheidet.“
Wernickes Definition der iiberwertigen Idee, soweit er sie
uberhaupt in bestimmte Fassung gebracht hat, geht zunachst
einfach dahin: ,,Ueberwertige Ideen sind Erinnerungen an irgend-
ein bescnders affektvolles Erlebnis oder auch eine ganze Reihe
derartiger zusammengehoriger Erlebnisse.“ Nun braucht die Er-
innerung an ein besonders affektvolles Erlebnis an sich gewifi noch
nicht in jedem Falle iiberwertig zu werden, und umgekehrt braucht
nicht jede iiberwertige Idee auf einem affektvollen Erlebnis zu
basieren. Wernicke selbst hat iibrigens, wie wir gleich noch sehen
werden, daneben noch anders bedingte Formen iiberwertiger
Ideen anerkannt. Jedenfalls trifft diese Definition ganz sicher noch
nicht das Wesen der Ueberwertigkeit. Wernicke fiihrt nun im
gleichen Zusammenhang noch andere, pragnantere Kennzeichen
an, mit denen man eher weiter kommt. Er nennt die iiberwertigen
Ideen ,,herrschende Ideen*‘, fiigt hinzu, daO sie der Korrektur
durch entgegengesetzte Erfahrungen schwer zuganglich seien, je
nachdem bedingungslose Voraussetzungen fiir das Handeln bil-
deten und betont schlieBlich, daji sie sich gewohnlich unter dem
EinfluB irgendeines lebhaften Affekts entwickelten. Diese beiden
Momente, das Dominieren und die affektvolle Betonung diirften
Kdppen , Zur Lehre von der iiberwertigen Idee. Allgem. Ztschr.
f. Psych. Bd. 51.
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42
B i r n b a u m , Pathologische I'eberwertigkeit.
als Hauptpunkte fiir die Definition festzuhalten sein, und es ergabe
sich dann ein iiberwertiger Vorstellungskomplex als ein solcher,
der dutch uberstarke Gejuhlsbetonung eine dominierende Stellung,
ein behert8chendes Uebergewicht im seelischen Leben erhalten hat.
Diese nachweislich vorherrschende Gefiihlsbetonung — nicht wie
Ziehen l ) und ahnlich Friedmann 2 ) meint, eine abnorme Steigerung
der Energie, resp. Intensitat der Vorstellungen —, scheint mir die
wesentliche Grundlage der Ueberwertigkeit zu sein, von der man
iibrigens, wie noch zu zeigen sein wird, auch leicht zum Verstandnis
der mit jener verkniipften psychologischen Erscheinungen und
speziell der Wahngebilde gelangt.
Mit den Komplexen Freud-Bleuler-Jungscher Anschauung
decken sich die iiberwertigen Vorstellungen gewifl nicht. Von
allem anderen abgesehen, kann diesen Komplexen iiberhaupt die
Ueberwertigkeit in unserem Sinne abgehen und geht sie auch
vielfach ab, und die als charakteristisch fiir sie geltenden Wir-
kungen sind gewohnlich ganz andere als die, welche wir hier als
Ueberwertigkeitsfolgen kennzeichnen werden. Auch mit der
Katathymie , speziell der katathymen Wahnbildung Maiers (Ztschr.
f. d. ges. Neurol, u. Psych., Bd. 13), die als Wirkungen gefiihls-
betonter Vorstellungskomplexe auf die krankhaften psychischen
Erscheinungen, insbesondere auch auf die Wahnsymptome charakte-
risiert werden, lassen sich die iiberwertigen Ideen nicht identifi-
zieren, wie dies wohl nach Picks Vorwurf (Neurol. Zbl., 1913):
Katathymie sei nur ein neuer Name fiir den alten Begriff der iiber¬
wertigen Idee, naheliegen konnte. Auch hier sind die Beziehungen
zwischen gefiihlsbetontem Komplex und Wahnsymptomen andere
als zwischen iiberwertigen Vorstellungen und den an sie gekniipften
Wahngebilden, und auch hier sind nur in den selteneren Fallen
die wirksamen gefiihlsbetonten Komplexe ihrem sonstigen Charakter
nach zugleich als iiberwertige zu kennzeichnen, namlich nur dann,
wenn diese Gefiihlsbetonung eben zugleich eine dominierende ist.
Erst durch dieses Dominieren , die Monopolisierung der Gefuhls-
tone zugunsten eines Inhalts (Ziehen) hebt sich der iiberwertige
Komplex als eine charakteristische und eigenartige Erscheinung
gegeniiber sonstigen gefiihlsbetonten heraus, denn das bloBe Ueber-
wiegen gegeniiber anderen Inhalten ist an sich noch nichts be-
sondersartiges, vielmehr etwas durchaus Alltagliches, wie es eben
1 ) Ziehen (Lehrb. d. Psych.) fafit im iibrigen das Gebiet der Ueber¬
wertigkeit en so weit, datf der Begriff an klinischem Wert verliert. Er
spricht von Stereotypien als primaren motorischen Ueberwertigkeiten,
von perseveratorischer Ueberwertigkeit bei Dementia hebephrenica, bringt
das impulsive Irresein in engste Beziehung zu den iiberwertigen Vorstellungen
und rechnet die Onomatomanie und Zwangsvorstellungen gleichfalls in
ihr Bereich.
2 ) Friedmann (Ueber den Wahn, Wiesbaden 1894) stellt die iiber¬
wertigen Ideen mit den Zwangs- und Wahnideen zusammen, denen er,
wie gesagt, abnorme Intensitatssteigerungen der Vorstellungen resp. einen
Reizzustand der Vorstellungssphare iugrunde legt, und sucht von dieser
Grundlage aus zu einer allgemeinen iftieorie der Wahnbildung zu gelangen*
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und Wahnbildung.
43
durch die allenthalben anzutreffende ungleiche Verieilung der Ge-
fiihlsbeziehungen gegeben ist.
Die besondere Fixiertheit , die Dauerhaftigkeit und Hartnackig-
keit der der Ueberwertigkeit zugrunde liegenden Gefiihlsbetonung
(Neifiers ,,fixierte Affekte“) kann man nicht unbedingt zu den
Wesenselementen der Ueberwertigkeit rechnen, so wesentlich sie
auch fur deren besondere Auspragung und Wirksamkeit sein und
so haufig sie auch in einzelnen Fallen den Ausschlag fur die Schwere
der Folgeerscheinungen geben mag. Jedenfalls gibt es passagere
Ueberwertigkeiten, auf temporaren Gefiihlsiiberbetonungen be-
ruhend. Schon im Bereich des Normalen findet man einen Weehsel
der dominierenden Vorstellungskreise parallel dem Weehsel der
beruflichen und sonstigen Interessen oft genug vor.
Auch die Art der Entstehung der iiberwertigen Vorstellungen
kann nicht als ausschlaggebend mit in die Begriffsbestimmung
hineingezogen werden, wie es Wernicke mit der ausdriicklichen
Heranziehung des affektvollen Erlebnisses als Ausgangspunkt tut.
Mag auch die erlebnisbedingte Entstehung der iiberwertigen Ideen
zweifellos die praktisch wichtigste, weil haufigste, so wie auch fur
die anschlieBende Wahnbildung wesentlichste, sein, so konnen sich
doch Ueberwertigkeit en auch unabh&ngig von affektvollen Erleb-
nissen durch allerhand Dauereinfliisse herausbilden, durch Uebung,
Gewohnung, standige Beschaftigung u. dgl., und Wernicke selbst
muB die ,,durch haufige Benutzung bedmgte Erregbarkeit und
Ansprechbarkeit der betreffenden Vorstellungsgruppen“ als weitere
Ursachen der Ueberwertigkeit anerkennen. Im Rahmen des All¬
tags geben etwa die so entwickelten Berufs-, Sport-, Sammler-
und sonstigen Liebhaberiiberwertigkeiten halbwegs bezeichnende
Beispiele dafiir ab.
Noch weniger gehort natiirlich der spezielle Inhalt und die
besondere Oefuhlsfdrbung des iiberwertigen Komplexes in die Be¬
griffsbestimmung. Die Besonderheit und der Wert der iiber¬
wertigen Ideen liegt ja — das hat schon Neifier seinerzeit richtig
hervorgehoben — eben gerade darin, daB sie nicht auf inhaltliche,
sondem auf formale Beziehungen hinweist. Nichtsdestoweniger
ist freilich der spezielle Inhalt durchaus nicht bedeutungslos. Fur
das soziale Verhalten solcher Falle kann er z. B. von groBer, ja
entscheidender Wichtigkeit sein, und auch fur manche wissen-
schaftliche Fragen, insbesondere auch fur die uns hier inter-
essierende nach der Verkniipfung der iiberwertigen Idee mit Wahn-
gebilden, gibt er vielfach den Ausschlag. Uebergehen darf man also
die speziellen Inhalte der iiberwertigen Vorstellungen gewiB nicht,
wenn man deren Zusammenhang mit den Wahnbildungen auf-
decken will. In die Begriffsbestimmung gehoren sie aber jeden¬
falls nicht hinein.
Mit der gegebenen Charakteristik sind nun die Ueberwertig-
keitserscheinu ngen an sich durchaus noch nicht in das Gebiet des
Pathologischen verwiesen. GewiB, es ist unverkennbar, daB Falle
dieser Art, bei denen also die uberstarke Gefiihlsbetonung das Ver-
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Gougle
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B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit v j
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haltnis der einzelnen seelischen Elemente so weitgehend ver-
schiebt, die Mafibeziehungen zwischen ihnen so schwer stort und
durch einen beherrschenden Faktor alle iibrigen so vollig ver-
drangt, daU solche Fall© schwerster seelischer Dysharmonie vor-
wiegend patbologisch sein werden. Immerhin kann dies aber doch
noch nicht an sich schon gelten. Ein Blick auf die Psychologic des
Alltags weist zur Geniige auf physiologische Ueberwertigkeiten hin,
auf Erscheinungen, die zwar nicht von gewohnlicher und durch-
schnittlicher Art, aber doch noch im Bereich des Normalen liegen.
Besonders das weite Gebiet der Leidenschaften in all ihren Formen
(Liebesleidenschaft, Eifersucht, Rachsucht usw.) gibt charakte-
ristische Beispiele dafiir ab. Gerade hier sind ja durch ubermachtige
Gefiihlsbetonung bestimmter Inhalte, die auf dies© Weise ein maJ3-
loses Uebergewicht erhalten, die Bedingungen fiir die Bildung
von Ueberwertigkeiten von vornherein gegeben 1 ).
Wie soil man nun die physiologische von der pathologischen
Ueberwertigkeit unterscheiden?
Wernicke meint, nicht sowohl darauf komme es an, obdasMotiv
fur den der betreffenden Erinnerung anhaftenden Affekt aus-
reichend sei, als vielmehr darauf, ob das Symptom der iiber-
wertigen Idee nicht allein bleibe, sondern bald eine Reihe anderer
psychotischer Symptom© hinzutraten. Nun, ich glaube, daB man
im allgemeinen das charakteristische Mi fiver haltnis zwischen aus-
losendem Reiz und dominierender Affektreaktion doch wohl zur
Unterscheidung von normal und pathologisch heranziehen kann,
l ) Wernicke fiihrt als Beispiele fiir Ueberwertigkeiten, die in der Breite
des Normalen liegen, gewisse ethische , dsihetische usw. Begriffe an. Diese
Exemplifizierung erscheint mir nicht eben gliicklich. Vor allem ist mir dabei
nicht recht verstandlich, wie sich diese ii6erwertigen Ideen, die doch wohl
gegeniiber den anderen die richtige „natiirliche“ hohe Wertigkeit aufweisen,
zu den normal wert igen verhalten. Als Normalwertigkeit ist nach Wernicke
ganz allgemein ,,eine ganz bestimmte Abstufung von Erregbarkeitsverhalt-
nissen“ zu verstehen, „w r elche bei verschiedenen Individuen innerhalb einer
gewissen Breite verschieden, doch bei jedem Individuum einen pr&formierten
Besitz gewissermaBen von Rangunterschieden unter den Vorstellungen be-
dingt“. Die so charakterisierten ,,norma Zwertigen 4 ‘ Vorstellungen — bei
denen Wernicke es allerdings ganz dahingestellt sein laBt, welch „ganz be¬
stimmte Abstufung“ nun eigentlich ilire Normalwertigkeit ausmacht —
bringt er nun — nach kurzem Hinweis, daB die Verschiedenheit der Charak-
tere wesentlich durch die verschiedene Wertigkeit der Vorstellungen be-
dingt werde, von denen ihr Handeln imter bestimmten gegebenen Verhalt-
nissen abhangt — bringt er, sage ich, in eine eigentiimliche, nicht leicht zu
iibersehende Beziehung zu jenen iiberwertigen, indem er unvermittelt fort-
fahrt: ,,Wir miissen schon in der Norm damit rechnen, daB solche iiber -
wertige Vorstellungen einer Korrektur durch entgegengesetzte Vorstellungen
schwer zuganglich sind“ usw. — Ich wiirde meinen, dafl man, wenn nun
einmal die Wertigkeit dieser Begriffe gekennzeichnet werden soli, die natiir-
liche hohe Rangstufe der ethischen usw. Vorstellungen am besten durch den
Ausdruck Hochwertigkeit treffen wiirde. Von Ueberwertigkeit wiirde man
dann erst bei einer iiber die natiirliche Hochwertigkeit hinausgehenden
Steigerung der Wertigkeit reden, wie sie vielleicht beim Sittlichkeits- usw.
Fanatismus in Betracht kame.
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imd Wahnbildung.
45
so richtig auch der Hinweis Wernickes auf den Querulanten, der.
zu Unrecht verurteilt, alien Grund hat, sich zu emporen, an sich
sein mag. Ebenso wie umgekehrt das Hinzutreten abnormer Er-
scheinungen als pathologisches Erkennungsmerkmal gelegentlich
versagen kann, wie schon das Beispiel der Verliebtheit, der eroti-
schen Ueberwertigkeit, zur Geniige beweist, denn diese fuhrt be-
kanntlich eine ganze Anzahl hart ans Pathologische grenzender Be-
gleiterscheinungen, speziell auch wahnhaft gefarbter, mit sich:
wahnhafteMiBdeutungenindifferenterVorgange, Eigenbeziehungen,
Erinnerungsfalschungen u. a. m.
Neben dem MiBverh<nis zum Affektwert des auslosenden
Erlebnisses und der Tatsache der pathologischen Sekundarerschei-
nungen diirfte schlieBlich zur Kennzeichnung des pathologischen
Charakters der Ueberwertigkeit auch die nachweislich dbnonne
Grundlage, auf der sich der Vorgang erhebt, heranzuziehen sein.
Wernicke hat auf diesen pathologischen Untergrund zweifellos zu
wenig Wert gelegt, wodurch es bekanntlich moglich wurde, die
ganze Streitfrage einseitig nach der einen Richtung der partiellen
Geistesstorungen zu verschieben.
Mit dieser Kennzeichnung: durch affektive Ueberbetonung be-
dingtes Dominieren bestimmter Inhalte im seelischen Leben ist also
der Begriff der Ueberwertigkeit geniigend umgrenzt und abgegrenzt.
DalJ im iibrigen diese Ueberwertigkeit gegeniiber den sonstigen Be-
ivufitseinsinhalten zumeist Hand in Hand geht mit einerUeberwertig-
keit des betreffenden Inhalts gegenuber seiner natiirlichen, durch-
schnittlichen, ,,objektiven“ Wertigkeit ist unverkennbar. Immerhin
macht doch nicht das Verhfiltnis zur objektiven Wertigkeit des
gleichen Inhalts als vielmehr zur Wertigkeit der ubrigen Bewufit-
seinsinhalte das Wesen der Ueberwertigkeit aus und gibt <len
Ausschlag fiir den Begriff. Dafl auch Wernicke die Ueberwertig¬
keit in diesem letzteren Sinne aufgefallt wissen wollte, dafiir sprechen
schon die von ihm gew&hlten Beispiele physiologischer Ueber¬
wertigkeit (die Begriffe der Ehre, Reinlichkeit, Schamhaftigkeit
usw.), denn bei diesen kommt ja eine Ueberwertigkeit im Sinne
eines die natiirliche Wertigkeit uberragenden Uebergewichts wohl
uberhaupt nicht in Betracht.
Ueber die Richtigkeit und Zweckmafiigkeit der Bezeichnung
..Ueberwertigkeit" lfiflt sich vielleicht noch streiten. Moli (Allgem.
Ztschr. f. Psych., Bd. 51) will im Hinblick auf die Minderwevtig-
keit der psychischen Leistungen bei den Ueberwertigkeitsvorgangen
und die auf einseitiges Ueberwiegen bestimmter Gefiihlstatigkeit
zuriickzufiihrende Beschrankung der Gedankenbewegung lieber von
uber wiegender oder iibeTwaltigender Idee sprechen, Koppen (1. c.)
halt die Bezeichnung „dominierende“ Idee fur richtiger. Nun, es
ist hier wie so oft: Die Bezeichnung ist einmal von autoritativer
Seite fiir eine pragnante Erscheinung gepragt und dadurch ein
fiir allemal mit ihr verkniipft, und das ist schon Grund genug,
sie trotz etwaiger Unzuliinglichkeiten beizubehalten.
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46
B i r n h a u m , Pathologische Ueberwertigkeit
Soviet liber die iiberwertigen Vorstellungen im allgemeinen.
Fiir unsem Zweck, also speziell die Frage ihres Zusammenhanges
mit der Wahnbildung, ist nur noch eine Einschrankung notig. Uns
konnen nur diejenigen Ueberwertigkeitsformen interessieren, die
in den Mechanismus des seelischen Lebens wirksam eingreifen, in-
dem sie als gleiehberechtigte resp. iibergewichtige Komponenten
in den seelischen Gesamtbetrieb eingehen und diesen charakte-
ristisch beeinflussen. Denn nur dadurch, daB sie in den engsten
Konnex mit den sonstigen Bestandteilen des Seelenlebens treten,
konnen sie solche Wirkungen entfalten, wie sie mit den uns hier
angehenden Wahnbildungen gegeben sind. Die isoliert bleibenden,
speziell den Zwangsvorstellungen nahestehenden iiberwertigen
Ideen, wie sie Friedmann erst jiingst herausgehoben und in ihren
Beziehungen gekennzeichnet hat 1 ), fallen von vomherein fiir unsere
Betrachtung aus.
DaB schlieBlich unsere ganze Darstellung sich auf rein psycho -
lotfischem Gebiete zu bewegen und da zu verbleiben hat, Uegt in
dem rein psychologischen Charakter des uns hier beschaftigenden
Gebildes begriindet. Von anatomisch-physiologischen und -patho-
logischen Deutungen im Sinne der Wernicke schen Theorie aus-
zugehen, erscheint, abgesehen von der unzureichenden Erfahrungs-
grundlage, schon deswegen nicht angebracht, weil damit die Be¬
trachtung von einem Gebiet, auf dem sie geniigend Erklarungs-
moglichkeiten findet, auf ein ganz wesensverschiedenes, das dem
Verstandnis doch wohl viel weniger zuganglich ist, verschoben
wird. Hier kommt es lediglich auf psychologische Erkenntnisse
an, und zwar wird es sich dabei, wie schon jetzt zu iibersehen ist,
im wesentlichen um die Feststellung der psychischen Wirkungen
handeln, die gewisse extrem-einseitige Ver&nderungen in der Ver-
teilung der Gefiihlsbetonungen auf das Vorstellungsleben ausiiben.
Psychopathologie der Ueberwertigkeit.
Eine vollstandige Charakteristik der allgemeinen Wirkungen
iiberwertiger Komplexe auf das seelische Leben zu geben, ist hier
nicht beabsichtigt. Wie diese in den Mittelpunkt und Vorder-
grund des BewuBtseins riicken, wie sie Aufmerksamkeit und
Interesse machtvoll an sich ziehen und bedingungslos an sich
fesseln, wie sie Denken und Fiihlen, Streben und Wollen riicksichts-
los in ihre Bahnen drangen, wie sie zum ausschlaggebenden Leit¬
motiv fiir alle Entschliisse, zur beherrschenden Triebkraft fiir alles
Handeln werden, kurz wie sie den alles iiberragenden und zuriick-
drangenden Lebensinhalt ausmachen, das interessiert uns hier
nicht. Lie ungemeine Bedeutung all dieser Folgeerscheinungen
fiir das auBere Handeln und das personliche Verhalten und damit
gerade fiir das praktische Leben, soli deshalb nicht verkannt und
unterechatzt werden. Speziell dieser Seite der Ueberwertigkeit
J ) ,,Zur Auffassung und zur Kenntnis der Zwangsideen und der
isoiierten uberwertigen ldeen.“ Zt-schr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 1913.
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und Wahnbildung.
47
bin ich eben im Hinblick auf die praktischen (sozialen) Folgen in
anderem Zusammenhang eingehend nachgegangen 1 ).
Uns geht hier nur an, was an Folgen und Wirkungen sich
direkt oder auf Umwegen im Vorstellungsleben geltend macht, zu
Auffassungs-, Urteils-, Erinnerungs-, Werturteils- usw. Falschungen
fiihrt und damit die Basis fur Wahnideen und -prozesse abgibt.
Die Erscheinungs- und W irkungsformen der Ueberwertigkeit, die
hierbei in Betracht kommen, sind nun verschiedener Art. Sie
lassen sich ohne allzu groBe Kfinstelei in einige halbwegs charakte-
ristische und differente Typen zerlegen. Es sind im wesentlichen
ihrer drei, die unter Beibehaltung des Ausdrucks Ueberwertigkeit
etwa folgendermaBen zu kennzeichnen waren:
1. Assoziative Ueberwertigkeit , d. h. also beherrschendes Ueber-
gewicht bei der assoziativen Tatigkeit;
2. logische Ueberwertigkeit , beherrschendes Uebergewicht in
logischer Hinsicht bei Urteil und SchluBfolgerung;
3. „Wertung8“uberivertigkeit, beherrschendes Uebergewicht im
Wertung6bereiche, bei der Einschatzung, beim Werturteil.
Diese verschiedenen Ueberwertigkeitserscheinungen, deren
Eigenart nun im einzelnen klargelegt werden soil, erzeugen Wahn-
mechanismen und -prozesse von verschiedener Art und Bedeutung.
Ihr Anteil an der Wahnbildung ist daher verschieden groB. Am
geringsten ist er bei den Wertungsfiberwertigkeiten, mit denen
deshalb begonnen werden soil.
Wertungsuberwertigkeit und Wahnbildung.
Die aus verstarkter Geffihlsbetonung eines Objekts sich ohne
weiteres ergebende Ueberschatzung desselben ist eine aus der All-
tagserfahrung gentigend bekannte Tatsache. Dinge, die einem
besonders am Herzen liegen, seien sie sonst wie sie wollen, ein
Sammelobjekt, ein Sport, eine Arbeit, pflegen stets in ihrem Werte
zu hoch eingeschatzt zu werden. In Fallen dominierender Affekt-
betonung erreicht nun diese Wertiiberschdtzung die denkbar hoch-
sten Grade. So wird z. B. bei erotischer Ueberwertigkeit die
Person, an die die Liebesleidenschaft sich knfipft, ihrem Werte
nach in jeder Beziehung, sittlicher, asthetischer usw., maBlos iiber-
trieben eingeschatzt und durch ein solches falsches Werturteil mit
alien moglichen in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen Vorziigen aus-
gestattet, so wird bei querulatorischer Ueberwertigkeit der ein-
genommene Rechtsstandpunkt weit fiber Gebfihr bewertet und als
der einzig berechtigte gewfirdigt. Auch die Einschatzung des realen
Wertes, der praktischen Bedeutung, der sozialen Wichtigkeit u. dgl.
wird unter dem EinfluB der fiberwertigen Betonung eine falsche,
und diese Richtung der Werturteilstauschung fallt ffir das Vor¬
stellungsleben besonders ins Gewicht, da darunter am meisten die
In „Psychopathische Verbrecher“. Kapitel „Psychopathischer
Fanatismus und pathologische UeberwertigkeitenLangenscheidt, Berlin
1914.
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48 B i r n b a u m , Pathoiogische Ueberwertigkeit
Auffassung der realen Verhaltnisse und Beziehungen not leidet.
Das naheliegendst© Beispiel gibt in dieser Hinsicht die Ueberwertig-
keit von Erfindungs-, Reform- u. dgl. Ideen, die aus der Wert-
iiberschatzung heraus ihre Trager zu einer ganz falschen An-
schauung iiber die praktische Bedeutung, die realen Wirkungen
und Folgen usw. dieser Gedankengebilde fiihrt.
Durch die beherrschende Ueberbetonung wird nun aber nicht
nur ein falsches Werfcurteil erzeugt, sondem ein erzeugtes auch
fixiert. Die Ueberwertigkeit macht das Werturteil auch uner-
schiitterlich und unkorrigierbar. Das dominierende Uebergewicht
der Affektbetonung des einen Inhalts verhindert die geniigende
Betonung der iibrigen, speziell auch der entgegengesetzten, kon-
trastierenden. Sie werden ihm gegeniiber unterwertig, daher in
ihrem Werte und ihrer Bedeutung unterschatzt, und sie konnen
deshalb nicht regulierend und richtigstellend auf diese verfalschten
Werturteile einwirken. Unfahigkeit zur Wiirdigung eines anders-
artigen Wertstandpunktes, zur Anerkennung der Berechtigung
einer von der eigenen abweichenden wertenden Stellungnahme sind
der natiirliche Ausdruck dieser Storung im Wertungsbereiche,
fur die wiederum der Querulant charakteristische Belege darzu-
bieten pflegt.
Diese Wertungsstorung unter dem EinfluB des iiberwertigen
Komplexes kann nun aber noch weiter gehen. Durch un-
geniigende Betonung aller sonstigen Inhalte geht jede richtige
Bewertung derselben und damit jede objektive Wertung xiber-
haupt verloren. Es kommt zu einer mehr oder weniger weit-
gehenden allgemeinen Wertverschiebung , zu einer Umgestaltung
der gesamten personlichen Wertskala, die sich bei alien moglichen
Lebensdingen, bei der Beurteilung aller sonstigen Verhaltnisse
und Beziehungen schwerwiegend und beeintrachtigend bemerkbar
machen muB. Die Vorrangstellung des iiberwertigen Komplexes
im Wertungsbereiche und Wertsystem macht diesen schlieBlich
zur Grundlage aller Wertungen, zum Wertmafistab filr aUe Dinge.
Das wertende AugenmaB, die richtige wertende Stellungnahme,
die richtige Orientierung in der Umwelt und den personlichen
Lebensbeziehungen geht verloren. Was als gut und schlecht,
wertvoll und wertlos, wichtig und unwichtig usw. zu gelten hat,
hangt dann allein da von ab, ob es mit dem iiberwertigen Komplex
iibereinstimmt oder ihm widerspricht. So erhalten alle Werte,
die allgemeinen wie die speziellen, ihren Werfccharakter von der
Eigenart der iiberwertigen Vorstellung. Wie bedeutungsvoll, ja
entscheidend dies im Hinblick auf etwaige Urteilsverfalschungen
sein kann, ergibt wieder am besten das Bild der queralatorischen
Ueberwertigkeit. Die eigenen iiberwertigen Rechtsanschauungen
werden hier bestimmend fiir die Beurteilung aller Vorkommnisse,
des eigenen und fremden Tuns und Verhaltens, und entscheiden
allein dariiber, ob etwas recht oder unrecht, gut oder schlecht,
berechtigt oder unberechtigt ist. Bei entsprechend verfalschtem
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und Wahnbildung.
49
Rechtsstandpunkt muB es dadurch, wie auf der Hand liegt, un-
mittelbar zu wahnhaft gefarbten SchluBfolgerungen kommen.
Aehnlichen Verhaltnissen, wie hier im Gebiet der Wertungs-
iiberwertigkeiten werden wir iibrigens bald auch im Bereich der
logischen Ueberwertigkeit begegnen. Wie hier zum MaB fur den
Wert und die Bedeutung jeder Sache so wird dort der iiberwertige
Komplex zum alleinigen Mali fur die Realitat jeder Auffassung,
die Riehtigkeit jedes Urteils.
Noch eins ist bei der verfalschenden Wirkung der Wertungs-
iiberwertigkeit zu beachten. Die ungerechtfertigte Einschatzung
des betreffenden iiberwertigen Inhaltes ubertragt sich mit natiir-
licher Folgerichtigkeit unmittelbar auf all die Dinge, die mit ihm
in Zusammenhang stehen oder gebracht werden. Wird beispiels-
weise irgendein Vorfall iiberwertig betont und demgemaB iiber-
trieben eingeschatzt, so werden auch seine Ursachen also etwa
fremde Verfehlung oder eigene Verschuldung oder auch seine Folgen
und Wirkungen, etwa die Stellungnahme der anderen dazu in
ihrer Bedeutung maBlos iiberschatzt und damit auch in ein falsches
Licht geriickt.
Nun ist gewohnlich von alien Dingen, die mit dem iiberwertigen
Komplex in Beziehung treten konnen, das eigene Ich am haufigsten
und engsten mit ihm verkniipft. Das bringt ja die iiberstarke Ge-
fiihlsbetonung, die die Person dem betreffenden Inhalt zugewendet
hat, die enge innerliche Gefiihlsbeziehung zu ihm schon von selbst
mit sich. Die Person identifiziert sich vielfach gewissermaBen mit
dem iiberwertigen Komplex, ,,erblickt darin den Ausdruck ihres
eigensten Wesens“ (Wernicke). Dadurch geht nun die Wertiiber-
sch&tzung, die dem iiberwertigen Inhalt anhaftete, auch auf die
eigene Person als deren Trager iiber, und diese ungerechtfertigte
Wertiibertragung findet ihren unmittelbaren Ausdruck vor allem
in einer entsprechenden Selbstuberschdtzung. Die Trager iiber-
wertiger Erf indungs-, Reform- und sonstiger Ideen fiihlen sich als
etwas Besonderes, als Vertreter hoher Missionen, als Vorkampfer
fiir wichtigste Lebensinhalte und -ziele usw. Auch bei den Ueber-
wertigkeiten querulatorischen Charakters kann man beobachten,
wie in den (selteneren) Fallen, wo von Natur aus kein besonders
gesteigertes Selbstgefiihl besteht, aus der Verfcretung des iiber-
wertigen personlichen Rechtsstandpunktes direkt eine iibertriebene
Selbstbewertung herauswachst, das erhohte SelbstbewoiBtsein,
Vertreter des wirklichen Rechts, des einzig berechtigten Stand-
punkts zu sein. So ergibt sich also eine Wahnanschauung im Sinne
des Orofienwahn8 als natiirliche und ziemlich unmittelbare Folge
dieser Wertungsiiberwertigkeit.
DaB sich an diesen GroBenwahn gewohnlich noch andere
wahnhafte Erscheinungen anschlieBen, hat nun allerdings nur noch
wenig mit den Ueberwertigkeitswirkungen zu schaffen. Sie er-
geben sich vielmehr in natiirlicher folgerichtiger Weiterentwicklung
und in einer von anders bedingten GroBenwahnbildungen her schon
genugsam bekannten Weise aus dem Gregensatz, der sich unver-
Mooatsechrift f. Psychiatric u. Nourolotfle. Bd. XXXV1T. Heft 1. 4
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50
B i r n b a u in , Pathologi.sehe Ueberwertigkeit
meidlich zwischen eigenem und fremden Werturteil, zwischen
eigener subjektiv gefalschter Anschauung und fremder objektiver
Stellungnahme resp. objektiver Wirklichkeit iiberhaupt ent-
wickelt. Dieser Widerspruch, diese Diskrepanz verlangt bekannt-
lich aus psychologischen Bediirfnissen heraus einen gedanklichen
Ausgleich, er erfolgt unter Aufrechterhaltung der iibertriebenen
Einschatzung des iiberwertigen Komplexes und des eigenen Ichs
durch Erkldrungstvahnideen , und zwar naturgemaB solche der
Beeintrachtigung. Die mit der eigenen nicht iibereinstimmende
geringe Wertschatzung der personlichen Erfindungen, Reform-
ideen usw. gilt dann ebenso wie das ganze Verhalten der Um-
gebung als Ausdruck von Neid, HaB, schlechten Absichten und was
sonst an derlei allbekannten Dingen in solchen Situationen nahe-
liegt.
Soviel iiber die — relativ geringfiigige — Rolle, welche die
Wertungsiiberwertigkeit im Bereich der Ueberwertigkeitswahn-
bildungen spielt.
Logische Ueberwertigkeit und Wahnbildung.
Weit starker fallt fiir die Entstehung von Wahngebilden die
zweite Folge beherrschender Gefiihlsbetonung, die logische Ueber¬
wertigkeit, ins Gewicht.
Sie verstarkt von sich aus ohne weiteres den Realitats-,
Wahrheits- und Richtigkeitswert der iiberwertigen Vorstellungen
und Urteile, verleiht bloB Erdachtem und Erfundenem Wirklich¬
keit scharakter, laBt bloB Mogliches und WahrscheinlichesgewiB und
sicher, Annahmen und Vermutungen zu festen Ueberzeugungen,
zu unumstoBlichen Wahrheiten werden.
Psychologisch ist diese Entstehung eines unbegriindeten Re -
alitats - und Wahrheitswertes aus dem beherrschenden Uebergewicht
des Oefilhls heraus ohne weiteres verstandlich. Von den Objekten
des Glaubens, speziell des religiosen, her wissen wir ja zur Geniige,
wie mit zunehmender Gefiihlsbetonung der feste Glaube, die Zu-
versicht, die Ueberzeugungsstarke, das Vertrauen in die religiosen
Objekte, ihre Kraft und ihre Hilfe bis zur Unerschiitterlichkeit zu
wachsen pflegt. So wird auch im Gebiet der iiberwertigen Vor¬
stellungen allein durch das dominierende Gefiihlsiibergewicht, ganz
unabhangig von der Unterstiitzung und Begriindung durch Tat-
sachen und Erfahrungen, die iiberwertige Erfindungsidee fiir ihren
Trager zu einer zweifellos richtigen und wirklich durchfiihrbaren,
die iiberwertige hypochondrische Befiirchtung zur Ueberzeugung
einer entsprechend schweren Erkrankung, der iiberwertige Eifer-
suchtsverdacht zur GewiBheit der Untreue, usw. Jeder iiber¬
wertige Komplex wiegt also seiner Natur nach in logischer Hinsicht
schwerer, als es seinem objektiven, wahren logischen Wert ent-
spricht.
Im Gegensatz zu dieser logischen Ueberwertigkeit erhalten
nun umgekehrt — ahnlich, wie wir das schon im Bereich der
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und Wahnbildung.
51
Wertungsiiberwertigkeit eahen — die sonstigen und speziell
die entgegengesetzten, widersprechenden kontrastierenden For-
stellungen eine zu geringe, ungeniigende Gefiihlsbetonung und
damit eine ungeniigende logische Geltung. Ihre logische Wertigkeit
wird geringer als ihrem Wirklichkeits- und Wahrheitswert ent-
spricht. Hand in Hand damit geht dann wieder der Verlust der
Fahigkeit, sich gegeniiber den iiberwertigen Vorstellungen die ihnen
zukommende Geltung zu verschaffen und kritisch, kontrollierend
und korrigierend gegen sie anzukampfen. Die natiirliche Folge ist,
daB die iiberwertige Idee ihre unbegriindete und unberechtigte
logische Geltung, ihren iibertriebenen Realitats- und Wahrheits¬
wert behalt, also unanfechtbar und korrekturunfahig wird. Daraus
erklart sich wiederum die in all solchen Fallen ausnahmslos zutage
tretende Einsichtsbsigkeit in die meist vollig unlangliche und selbst
fehlende Begriindung und Vertiefung des iiberwertigen Vorstellungs-
komplexes, die Verstandnislosigkeit gegeniiber alien berechtigten
und direkt selbst verst andlichen Einwanden wie iiberhaupt gegen-
iiber jeder von der eigenen in diesem Punkte abweichenden An-
sicht, ja die Unfahigkeit, eine solche auch nur zu erfassen, kurz und
gut, die ganze Verbohrtheit bei selbst offenkundiger Unsinnigkeit
des eingenommenen Standpunktes.
Diese abnorm erhohte und unerschiitterliche logische Geltung
des iiberwertigen Komplexes laBt nun aber das sonstige Vor-
stellungsleben in logischer Hinsicht nicht unberiihrt. Sie wird
im gleichen UebermaB auch bei der weiteren Gedankenarbeit wirk-
sam und greift damit auf weitere seelische Inhalte iiber. Die iiber -
wertige Anschauung stettt sich durch ihr logisches Schwergewicht
als die wichtigste , grundlegendste , unanfechtbarste Erfahrung , als
die Grundtatsache dar. Sie wird damit zur Grundlage, zum un-
verriickbaren Fundament fur jede fernere Erfahrung und gewinnt
so eine unbedingte Vorherrschaft gegeniiber alien anderen Er-
fahrungen iiberhaupt. Wernicke hat auf dieses in seinen Folgen
verhangnisvollste Moment besonderes Gewicht gelegt: die iiber -
wertige Idee als unumstojiliche Voraussetzung fiir jede weitere Er¬
fahrung.
Wahrend sonst jede Einzelerfahrung als singulare, einmalige
Erscheinung sich dem groBen Kreise der personlich gewonnenen
oder von anderen iibemommenen allgemeinen Erfahrungen ein-
und unterzuordnen hat, und im Sinne dieser feststehenden All-
gemeinerfahrungen zu beurteilen und zu beworten ist, wird sie
hier umgekehrt zur beherrschenden, das ganze Erfahrungsmaterial
bestimmenden. Alles iibrige wiegt nicht mehr entsprechend seinem
Realitats- und Erfahrungswert. Die iiberwertige Anschauung
wird die leitende, die richtunggebende, die ausschlaggebende Ueber-
zeugung, nach der sich die sonstigen Anschauungen zu richten
haben, in deren Sinne die Urteile zu bilden, die Tatsachen zu
deuten sind. Eine Erklarung, eine Auffassung, die mit der iiber¬
wertigen Ueberzeugung nicht glatt in Einklang zu bringen ist, wird
4*
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Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit
einfach nicht anerkannt, wird fallen gelassen oder wenigstens ent-
sprechend modifiziert.
Mag immer die Freudsche Theorie sich spater einmal als
richtig oder falsch erweisen, was man einzelnen ihrer Anhanger
in jedem Fall zum Vorwurf machen muB, ist, daB diese auf sie nach
Art einer uberwertigen Idee wirkt. Nicht nur, daB sie alles ohne
weiteres im Sinne der Theorie deuten und diese Deutung ohne
weiteres fur unumstoBlich richtig halten, erkennen sie jede andere
Auffassung xiberhaupt nur soweit als richtig und berechtigt an,
als sie mit jener ubereinstimmt. Statt daB wie sonst bei wissen-
schaftlicher Forschung jeder neue Tatbestand, jeder neue Ein-
wand voraussetzungslos neu gepruft wird, wird er von ihnen un-
widerlegt und unbesehen verworfen, sofern und weil er der iiber-
wertigen Idee nicht entspricht, und sie gehen umgekehrt soweit,
daB sie die vorgebrachten Einwendungen ohne weiteres im Sinne
und zum Beweis der Richtigkeit ihrer Hypothesen sich zurechtlegen.
Die gegenteiligen Ansichten, selbst wohlfundierte, werden dem-
gemiiB, wenn sie nicht einfach als Ausdruck des Unverstands, der
Verlogenheit, Priiderie und Selbsttauschung fiir sie gelten, als
Beleg fur die Wirksamkeit affektvoll verdrangter Widerstande
bei Heraushebung des Komplexes u. dgl. aufgefaBt.
So wird das logische Geltungsbereich des uberwertigen Vor-
stellungskomplexes majilos erweitert , die Einzelerfahrung wirdzur Er-
fahrung von allgemeinster Geltungskraft, auf der sich alle weiteren
aifbauen. Da nun der iiberwertige Komplex bei seiner logischen
Ueberwertigkeit iiber alien Zweifel erhaben ist, so ist nur eine Er-
klarung, eine Auffassung, eine Weiterverarbeitung moglich, die
ihm entspricht, meist sogar nur allein moglich, und das so sich
ergebende Urteil, die daraus hervorgehende SchluBfolgerung
bekommt dadurch leicht fiir ihren Urheber den Charakter des
Zwingenden, unbedingt Beweiskraftigen, unanfechtbar Richtigen.
l>ie ganze weitere geistige Orientierung, der ganze Erfahrungs-
neuerwerb geht nun unter der Direktive, am Gangelbande der als
unantastbar richtig geltenden uberwertigen Erfahrung vor sich.
Ein uberwertiges Forurteil im wahrsten Sinne des Wortes siegt
bei der weiteren Verarbeitung der Erlebnisse iiber die objektive
Sachlage und die Gesamterfahrung. Fehlurteile und Fehlschliisse
sind die logischen Folgen dieser zu allgemeinen und zu weitgehenden
Verwertung des dominierenden Komplexes, ein logisches Delirium
(Wernicke) schlieBt sich folgerichtig an die iiberwertige Idee an.
Steht beispielsweise bei erotischer Ueberwertigkeit die Tugend
und Treue der Geliebten als fundamental Tatsache, als uner-
schiitterliche Ueberzeugung fest, so muB jede fremde Mitteilung,
jede eigene Beobachtung des Gegenteils, so beweiskraftig sie
auch immer sein mag, so aufgefaBt und modifiziert werden, daB
sie mit jener vermeintlichen Grundtatsache in Einklang kommt:
Die fremde Darstellung beruht einfach auf schiefer oder iiber-
triebener Auffassung, ist lediglich Niederschlag der Gehassigkeit
und Verleumdungssucht; ist der Sachverhalt an sich unbestreitbar,
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und Wahnbildung.
53
so ist er eben ganz harmlos zu deuten, bedeutet nur einen Scherz
der Geliebten, einen Versuch den Liebhaber auf die Probe zu stellen
und ahnliches.
Diese Urteilsfalschungen infolge logischen Uebergewichts des
tiberwertigen Komplexes, diese logischen Delirs gehoren zu den
haufigsten und wichtigsten Fol geerscheinungen jenes patho-
logischen Symptoms, die man kaum je vermiBt, wenn man auf
Wahnbildungen im AnschluB an iiberwertige Ideen stoBt. Be-
sonders ausgepragt findet man sie bekanntlich im Gebiet der
querulatorischenUeberwertigkeit, wo die iiberwertigeUeberzeugung
einer der Person angetanenen rechtlichen Benachteiligung nun den
davon Beherrschten alle weiteren rechtlichen Vorkommnisse und
sonstigen ZusammenstoBe analog beurteilen laflt.
Auch den bereits vorhandenen Erfahrungsbesitzstand und
-Niederschlag laBt die logische Ueberwertigkeit des dominierenden
Vorstellungskomplexes nicht unberiihrt. Ihr EinfluB macht sich
auch bei jenem im gleichen Sinne und mit den gleichen Wirkungen
geltend. So gut wie die neu erworbenen haben sich auch jene
fruher gewonnenen Erfahrungen nach ihm zu richten, und auch sie
erleben analoge Rectifizierungen ihres Inhaltes durch naehtragliche
Korrektur der Erinnerungen im Sinne der beherrschenden Idee.
So greift die logische TJeberwertigkeit mit ihrer Wirkungskraft
weit iiber die Sphare des uberwertigen Komplexes selbst hinaus, und
sie kann auf diesem Wege es unter Umstanden zu enorm weit-
gehenden Aenderungen des librigen BewuBtseinsinhaltes bringen.
Diese sekunddren Wahngebilde bleiben naturgemaB auch nicht
immer steril, sondem wirken eventuell selbstandig von sich aus
inhaltverfalschend weiter. Davon gelegentlich spater mehr.
Assoziative TJeberwertigkeit und Wahnbildung.
Bei diesem Eingreifen des xiberwertigen Komplexes in die
weitere Gedankenarbeit sprach eigentlich schon dessen letzte wirk-
same Eigenheit, die assoziative TJeberwertigkeit, wesentlich
mit. Fur das Uebergewicht der dominierendenVorstellungen bei der
assoziativen Tatigkeit ist ja von vomherein durch die naturliche
Einstellung und Konzentration von Aufmerksamkeit und Interesse
auf jene Ideen der giinstigste Boden gegeben. Sie werden damit
in den Vordergrund der Gedanken geriickt, in eine beherrschende
Zentralstellung im BewuBtsein, in dauernde und hochste BewuBt-
seinsbereitschaft gebracht, kurz und gut, zum Kern einer be-
sonderen seelischen Einstellung gemacht.
Diese besondere Konstellation mit dem iiberwertigen Kom-
plex als Mittelpunkt begiinstigt nun bei jeder gedanklichen Tatig¬
keit sein Uebergewicht im assoziativen Wettbewerb der auf-
tauchenden Vorstellungen. Er bestimmt die Auslese, die Auswahl
in seinem Sinne und zu seinen Gunsten. Von alien in Betracht
kommenden assoziationsfahigen Vorstellungen werden nur die-
jenigen aufgenommen, angegliedert und assimiliert, welche der
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54
Bimbaum, Pathologische Ueberwertigkeit
iiberwertigen Idee adaquat sind, in ihrer Richtung liegen, ihr in-
haltlich entsprechen. Die nieht mit ihr inhaltlich iibereinstimmen-
den, entgegengesetzt gerichteten werden umgekehrt vom BewuBt-
sein ferngehalten, von der assoziativen Verarbeitung ausge-
schlossen. Es zeigt sich also hier eine ahnliche Erscheinung wie im
Gebiet der logischen und Wertungsiiberwertigkeit auch: Wie dort
eine logische Unterwertigkeit und eine Wertunterschatzung
der Gegenvorstellungen sich geltend machte, so hier eine Unter¬
wertigkeit an assoziativer Kraft und Wirksamkeit. Die Folgen sind
naturgemaB auch ahnliche. Da nur all die Vorstellungen wirksam
werden konnen, die der Bestatigung, der Bekraftigung, der Siche-
rung und dem Ausbau der iiberwertigen Idee dienen, dagegen alle
diejenigen nicht, die ihr widersprechen, sie kontrollieren und korri-
gieren, so bleibt die iiberwertige Idee selbst bei fiir den Unbe-
fangenen einwandfrei erkennbarer inhaltlicher Unrichtigkeit in
ihrem Bestand, in ihrem subjektiven Realitats- und Richtigkeits-
wert unangetastet, ja sogar unantastbar, weil eben unter solchen
Umstanden nicht ausgleichs- und korrekturfahig. So dient diese
Einengung der assoziativen Moglichkeiten , wie sie durch die iiber-
ivertige Idee als Leitmotiv im Assoziationsgetriebe gegeben ist, direkt
der Erhaltung von Bestand und Wirkungskraft des iiberwertigen
Komplexes gegeniiber berechtigten Gegenvorstellungen.
MitdieserdieassoziativenBeziehungeneinschrankendenTendenz
geht nun aber gleichfalls unmittelbar aus der assoziativen Ueber¬
wertigkeit heraus, Hand in Hand eine weitere, scheinbar entgegen-
gesetzte: die Tendenz zur Erwezterung der assoziativen Beziehungen
der iiberwertigen Ideen. Sie macht sich an alle moglichen seelischen
Inhalte heran, bringt sie mit jenen in Verbindung und fiihrt so ganz
neue Vorstellungsverkniipfungen herbei. Freihch ist auch diese
Assoziationserweiterung keine unbegrenzte, auch sie bringt die
Gedanken nicht aus dem durch die dominierende Idee gegebenen
und beherrschten Vorstellungsring hinaus. Die ganze fortschreitende
Gedankenarbeit, Auffassungen, Deutungen, Urteile, Schliisse, alles
halt sich im Rahmen der beherrschenden Einstellung, halt sich eng
an die Vorstellungskreise, die mit der iiberwertigen Idee und durch
sie gegeben sind. Man sieht, beobachtet, greift im wesentlichen nur
auf, was dazu gehort, dazu palit, damit iibereinstimmmt; was nicht
dazu paBt, ihr widerspricht, wird teils iibersehen und unbeachtet
gelassen, teils, zumal wenn es sich allzu aufdringlich bemerkbar
macht, um iibersehen zu werden, entsprechend umgedeutet. Ein
Vorgang iibrigens, der, wie schon Wernicke zur Geniige betont hat,
auch wieder durchaus dem normalpsychologischen Leben angehort:
„Die krankhafte Ueberwertigkeit einzelner Vorstellungen einmal
zugegeben, entspricht dies durchaus dem normalen Vorgange,
daB im Sinne gewisser herrschender Ideen, jede Wahrnehmung
gedeutet, beachtet oder nicht beachtet oder auch geradezu unter-
driickt wird.“ So kommt es zu Wahmehmungsfalschungen, speziell
zu illusionarer MiBdeutung fliichtiger Eindriicke, im Sinne der
dominierenden Einstellung, — einzelne undeutlich gehorte AeuBe-
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und Wahnbildung.
55
rungen werden mit Vorliebe in diesem Sinne mijBverstanden —,
des weiteren auch zu Auffassungs- und Urteilsfalschungen analogen
Charakters.
Auch die Erinnerungen werden zur iiberwertigen Idee in
Beziehung gebracht und verandern sich dann leicht unter dem
EinfluB der dominierenden Konstellation, Unwillkiirlich und un-
bewuBt wird dann nachtraglich manches so gesehen, wie es dem
iiberwertigen Vorstellungskomplex entspricht. Dabei kommt es
nicht nur zur bloBen Umgestaltung des tatsachlich Erlebten, zu Er-
innerungsverfalschungen, sondern dariiber hinaus auch gelegentlich
zur Neuerfindung vermeintlicher Erlebnisse, also zu Erinnerungs-
falschungen, und umgekehrt wird manches tatsachlich Vorge-
fallene, weil den iiberwertigen Ideen entgegenstehend, iibersehen,
fiir die Reproduktion mehr oder weniger unzuganglich und fallt
fiir die Riickerinnerung einfach aus (negative Erinnerungsfalschung
im Sinne Wernickes).
Diese Tendenz zur Erweiterung der assoziativen Beziehungen
des iiberwertigen Komplexes zu seinen Gunsten, wie sie in der
Verarbeitung der Eindriicke und Erinnerungen im Sinne der vor-
herrschenden Einstellung zum Ausdruck kam, kann nun noch
weiter gehen und zu ganz ungerechtfertigten Verkniipfungen der
iiberwertigen Ideen mit andersartigen Vorstellungen fiihren.
Allerhand Dinge und Vorkommnisse des alltaglichen Lebens,
das Verhalten und Treiben der Umgebung usw., die an sich nichts
mit dem iiberwertig betonten Inhalt zu schaffen haben, werden
unter dessen dominierendem Einflusse leicht in irgendwelche Be¬
ziehung zu ihm gesetzt, sei es daB sie etwa falschlicherweise als
Ursachen, sei es daB sie als Wirkungen und Folgen des iiberwertig
betonten Komplexes aufgefaBt werden. So kommt es zu allerhand
Beziehungskonstruktionen. Innere Beziehungen werden in die Binge
hineingelegt oder aus ihnen herausgedeutet, die in Wirklichkeit
gar nicht existieren. Zufalliges zeitliches oder raumliches Zu-
sammentreffen wird in diesem Sinne gleich als innerer Zusammen-
hang aufgefaBt, Zufall aller Art fiir Absicht gehalten. Diese Be-
ziehungskonstruktion im Sinne der Einstellung braucht nicht direkt
den Charakter des BeziehungswaAns zu tragen — so etwa wenn
man, unter dem iibermaehtigen Eindruck von Kriegszustand und
Mobilisation stehend, nun auf der StraBe oder Eisenbahn alle mog-
lichen Vorgange und Beobachtungen ohne weiteres darauf zuriick-
fiihrt —, aber die enge Verkniipfung, die der iiberwertige Komplex
mit der eigenen Person zu haben pflegt, bringt es doch mit sich,
daB es bei diesen unberechtigten Assoziationen sehr leicht zur
Eigenbeziehung und damit zur BeziehungswaAnbildung kommt.
So laBt z. B. die iiberwertige Vorstellung einer personlichen Ver-
schuldung oder eines anhaftenden Makels einen gleich Verhalten
und AeuBerungen der Umwelt damit in Zusammenhang bringen,
wie der hart an der Grenze des Normalen noch stehende Fall des
von iiberwertigem SchuldbewuBtsein beherrschten Onanisten zur
Geniige lehrt*.
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56
B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit
Beidieser vermehrter Beziehungssetzung derauBeren Eindriicke
zum iiberwertigen Komplex kommt iibrigens ein Moment meist
gleichzeitig zum Ausdruck und zur Wirksamkeit, das gleichfalls
zu den allgemeinen Kennzeichen der Ueberwertigkeit gehort und
daher auch im Rahmen unserer Betrachtung nicht ganz iibergangea
werden darf, wiewohl es nicht direkt wahnbildend wirkt. Es ist jene
Erscheinung, die man vielleicht am besten als Aktivitat der iiber-
wertigen Idee bezeichnen kann, und die in dem von ihr ausgehenden
starken Antrieb zur Betatigung in ihrem Sinne liegt. Diese Aktivitat
ist natiirlich die Folge der iibergroBen Intensitat des dem Komplex
anhaftenden Affekts und tritt daher bei alien mit ihm zusammen-
hangenden seelischen Vorgangen — am augenfalligsten natiirlich
beim Willensakt in dem geradezu triebartigen Drang zum Handeln
in seinem Siime — hervor, des weiteren aber auch in der deutlichen
Aktivitat der auf den Komplex eingestellten Aufmerksamkeit
und des Interesses, indem diese direkt nach allem suchen, was auf
den iiberwertigen Inhalt Bezug hat und Bezug haben konnte,
speziell auch nach allem, was in seinem Sinne spricht, ihn bestatigt
und sicherstellt. Ebenso gehort hierher ein geradezu aktives
Forschen in der Vergangenheit, ein Drangen nach Riickwarts-
revidierung der BewuBtseinsinhalte zwecks Anpassung der Er-
innerungbestande an den Inhalt des iiberwertigen Komplexes und
entsprechender Umgestaltung ihrer Einzelheiten.
Auch in dem starken Drange, dem Zwange zu innerlicher Be-
schaftigung mit der iiberwertigen Idee, zum Nachdenken iiber sie
und Weiterdenken, sei es auch in griiblerisch-nutz- und abschluB-
losem, kommt diese aktive Wirkungskraft der Ueberwertigkeit zum
Ausdruck. In unserem Bereich der Tendenz zu Beziehungskon-
struktionen drangt nun die Aktivitat der iiberwertigen Vor-
stellungen zu direktem Suchen nach etwaigen Beziehungen. Die
Person betrachtet, beachtet, beobachtet bewuBt die Umgebung
daraufhin, ob dieser etwa irgendwelche Beziehung zu den in Be-
tracht kommenden Erscheinungen anzumerken ist, ob sie z. B.,
was jeden in Beziehungen zu anderen Menschen Stehenden natur-
gemaB besonders interessieren muB, dazu irgendwie Stellung ge-
nommen hat.
Dieser Aktivitat des iiberwertigen Komplexes bei der asso-
ziativen Tatigkeit und speziell der Urteils- und SchluBbildung ist es
wohl mit zuzuschreiben, wenndiegeistige Verarbeitung vielfach nicht
sowohl langsam, allmahlich, systematisch fortschreitend, als viel-
mehr unvermittelt, impulsiv, schnell und sprunghaft nach Art eines
Kurzschlusses vor sich geht und man also auf ein plotzliches, ein-
fallsweises Erkennen des vermeintlichen Zusammenhanges, ein
plotzliches Klarsehen im Sinne der iiberw r ertigen Idee u. dgl. stoBt.
Weiter ergibt sich aus der Einstellung auf den iiberwertigen
Komplex und aus seinem beherrschenden Uebergewicht im Asso-
ziationsgetriebe eine eigenartige Erscheinung, die uns gleichfalls
von den sonstigen Wahnbildungen her schon langst vertraut ist:
das Auffalligwerden und die Bedeutungssteigerung indifferenter Dinge.
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und Wahnbildung.
57
Die besondere seelische Einstellung laBt an sich belangloses,
sonst unbeachtet und unberiicksiehtigt Gebliebenes, ganz gleich,
ob eben wahrgenommen oder bereits der Vergangenheit zugehorig,
sich nun besonders herausheben und verandert, speziell nicht mehr
indifferent, erscheinen. Unter dem Scheinwerfer des iiberwertigen
Komplexes und damit unter neuartigem und schwerwiegenden
Gesichtspunkt betrachtet, erscheint es nun auffallender, be-
deutungsvoller, undzwar,wie naheliegend, vor allem in dem Sinne,
daB es bedeutungsvoile Beziehungen zu dem iiberwertigen Inhalt
darbietet. So gewinnen — um das alte Beispiel wieder aufzu-
nehmen — die AeuBerungen, die Mienen, das Gebaren der Um-
gebung, mogen sie auch objektiv und damit auch fur den nicht ,,Ein-
gestellten“ noch so unauffallig und indifferent erscheinen, fur jenen
andem in dem Sinne Bedeutung, daB sie die innere Beschaftigung
mit dem den iiberwertigen Vorstellungen zugrunde liegenden Vor-
fall und die — sei es giinstige, sei es ungiinstige — Beurteilung
desselben verraten.
Auch fiir diese Bedeutungssteigerung indifferenter Dinge gilt
iibrigens, was schon von den Beziehungskonstruktionen unter dem
EinfluB beherrschender Ideen betont wurde: Sie brauchen durch-
aus nicht zu ivahnhaften Erscheinungen fiihren. Mir selbst erschienen
beispielsweise in den ersten Tagen und unter dem Einflusse der
Mobilisation auf einer Eisenbahnstrecke, die ich taglich befahre,
alle moglichen gewohnlichen Dinge, Signale, Transportmittel, kurz
der ganze Bahnbetrieb in einer Weise auffallend und bedeutungs-
voll verandert, wie es den tatsachlichen Verhaltnissen — davon
konnte ich mich nachtraglich geniigend iiberzeugen — durchaus
nicht entsprach 1 ).
Noch eine charakteristische Erscheinung gehort in den Rahmen
der Vorstellungs- und Urteilsfalschungen aus assoziativer Ueber-
wertigkeit: die Nachauflen-Verlegung (Exoprojizierung Lowy) der
eigenen auf den uberwertigen Komplex beziiglichen Oedanken. Aus
der beherrschenden Konstellation ergibt sich ja ohne weiteres
die unwillkiirliche und unbewuBte Neigung, das, was einem inner-
lich vollig ausfiillt und beherrscht, auch den auBeren Vorgangen
unterzulegen, die eigenen Gedanken auch fiir die Basis fremden
Verhaltens anzusehen. Am charakteristischsten kommt dies nun
in der Form zum Ausdruck, daB die Person meint, und aus den
AeuBerungen, den Mienen herausliest, andere hatten von den
DingenKenntnis, die ihr eigenes Ich so erfiillen, beschaftigten sich
so wie sie selbst damit und nahmen dazu Stellung. Diese wahnhafte
Auffassung diirfte also meines Erachtens nicht ohne weiteres,
wie es wohl vielfach geschieht, als einfache Erklarungswahnidee
zu deuten sein, zu der etwa vorausgegangene Eigenbeziehungs-
vorstellungen den AnlaB geben.
x ) Borihoeffer hat in einem jiingst gehaltenen Vortrage speziell auf die
Spionenriecherei der ersten Kriegswochen als Ausdruck jener Neigung,
harmlose Dinge im Sinne der herrschenden Idee aufzufassen und bedeu-
tungsvoll herauszuheben, hingewiesen.
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58
B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit
Aus all dem Angefiihrten ist zu ersehen, daB auch die asso-
ziative Ueberwertigkeit und gerade sie in besonders hohem MaBe
verfalschend auf den BewuBtseinsinhalt wirkt, indem sie weit-
gehend auf andere Vorstellungskreise iibergreift. Was diese Tendenz
zur Erweiterung der assoziativen Beziehungen klinisch zu bedeuten
hat, werden wir spater noch erwagen miissen.
Zum Zwecke eines leichteren Gesamtiiberblickes liber die
verschiedenen aus pathologischer Ueberwertigkeit hervorgehenden
wahnbildenden Rrafte seien zum Schlusse noch einmal die Haupt-
formen dieser Ueberwertigkeit mit ihren psychopathologischen
Begleit- und Folgeerscheinungen kurz zusammengestellt:
1. Aus Ueberwertigkeit im Wertungsbereiehe sich ergebend:
Unberechtigte Ueberschdtzung von Wert und Bedeutung des
Komplexes bei gleichzeitiger Unterschdtzung sonstiger Werte; all -
gemeine Wertverschiebung im Sinne des iiberwertigen Komplexes ,
unrichtige Wertverteilung zu dessen Gunsten und dadurch Verlust
des wertenden Augenmafies fur alle Dinge und der Fahigkeit zu
richtiger Einschatzung von Wert und Bedeutung der Erscheinungen
der Umgebung und der personlichen Beziehungen zu ihnen; Wert -
uberschdtzung des eigenen Ichs durch Identifikation der eigenen Per¬
son mit dem iiberwertigen Komplex und als dessen natiirlicher Aus-
druck im Vorstellungsleben Grofienwahn; Erklarungsivahnideen
speziell im Sinne der Beeintrdchtigung infolge des Widerspruchs
zwischen iibertriebener Selbst- und geringer Fremdeinschatzung
resp. objektivem Verhalten der Umwelt.
2. Aus Ueberwertigkeit in logischer Beziehung:
Unberechtigte Steigerung des WirklichkeitsWahrheits- und
Richtigkeitswertes und der hgischen Geltungskraft des uberwertigen
Komplexes und der ihm entsprechenden Vorstellungen bei gleich¬
zeitiger Herabsetzung der logischen Wertigkeit der Gegenvorstellungen;
daraus hervorgehend herabgesetzte Korrekturfahigkeit der iiber¬
wertigen Vorstellungen; Einsichtslosigkeit in ihre Mangel und Ver-
standnislosigkeit fur das Gewicht widersprechender Tatsachen;
unberechtigtes Uebergewicht des iiberwertigen Komplexes im Rahmen
der Gesamterfahrung, daher Ausgestaltung , Orientierung und Re -
vidierung des gesamten Erfahrungsmaterials (des Neuerwerbs wie des
alten Besitzstands) im Sinne der iiberwertigen Vorstellungen (lo-
gisches Delirium; positive und negative Erinnerungsfalschungen
usw.).
3. Aus assoziativer Ueberwertigkeit:
Einengung des Assoziationsbereichs zugunsten des iiberwertigen
Komplexes durch Auswahl der Assoziationen in dessem Sinne
(Forderung der adaquaten, Fernhaltung der Gegenvorstellungen);
daraus wieder hervorgehend Herabsetzung der Korrekturmoglich -
keiten und Verstarkung der Ueberzeugungskraft der iiberwertigen Idee;
unberechtigtes Uebergewicht des iiberwertigen Komplexes bei jeder
Art geistiger Tatigkeit , daher Wahmehmungs-, Auffassungs-,
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und Wahnbildung.
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Urteils- und Erinnerungsfalschungen im Sinne und zugunsten der
iiberwertigen Idee; Erweiterung der assoziativen Beziehungen durch
unberechtigte Beziehungskonstruktionen (vermehrte Eigenbezie-
hungen. Beziehungswahn), Bedeutungssteigerung indifferenter Dinge,
Auflenprojizierung der eigenen seelischen Inhalte .
Aktivitdt des iiberwertigen Komplexes bei der assoziativen
Tfttigkeit (Suchen im Sinne der herrschenden Idee).
Aus dieser Zusammenstellung geht als wichtigstes und fur
unsere weiteren Erorterungen grundlegendes Ergebnis unverkenn-
bar hervor, daB die Ueberwerfcigkeit der Vorstellungen vermoge der
ihr innewohnenden gesteigerten (logischen, assoziativen usw.)
Geltungskraft an sich geniigt, um von sieh aus, ohne weitere Mit-
wirkung besonderer Hilfskrafte, Wahnmechanismen und Wahn-
vorgange der verschiedensten Art hervorzurufen. Das kann nicht
weiter wundemehmen, wenn man sich erinnert, daB diese Ueber-
wertigkeit zum gut Teil die gleichen Erscheinungen mit sich fiihrt,
die iiberhaupt den Wahnbildungen zugrunde liegen. In dieser
Hinsicht ist besonders auf das im schon Wesen der Ueberwertigkeit
liegende Uebergewicht gewisser Gefiihlsbetonungen hinzuweisen,
dessen Bedeutung fiir die paranoischen Prozesse schon langst an-
erkannt ist. So leitet Moeli die Wahnbildungen der Paranoia
geradezu von einer ,,auf einseitiges Ueberwiegen bestimmter Ge-
fiihlstatigkeit zuruckzufiihrende Beschrankung der Gedanken-
bewegung“ ab. (Diskuss.-Bem. in allgem. Ztschr. f. Psych. Bd. 51).
DaB die genannten drei wahnbildenden Krafte der Ueber¬
wertigkeit nicht allesamt in jedem einzelnen Falle von iiberwertigen
Vorstellungen ausgepragt und vertreten zu sein brauchen, daB
sie auch vereinzelt vorkommen konnen, bedarf wohl keiner weiteren
Erwahnung. Natiirlich sind die Bedingungen fur eine Stabilisierung
der iiberwertigen Idee, fiir eine Fixierung ihres hohen Realitats-
werts, sowie fiir eine Steigerung ihrer logischen und assoziativen
Wirkungskraft und damit fiir einen WahnprozeB am giinstigsten,
wenn gleichzeitig alle drei Ueberwertigkeitsfunktionen wirksam
sind und so von verschiedenen Seiten her gleichzeitig im Sinne der
Wahnbildung gearbeitet wird.
Das klinische Bild der Ueberwertigkeitswahnpsychosen.
Bevor nun nach diesen psychologischen Vorbemerkungen in
der Erorterang fortgeschritten und auf spezielle klinische Fragen
naher eingegangen wird, erscheint es zweckmaBig zunachst erst
einmal an der Hand von Beispielen die dargestellten psycholo¬
gischen Zusammenhange zu veranschaulichen und die entworfenen
Anschauungen von den Ueberwertigkeit8tvah?ibildungen im Rahmen
klinischer Bilder auf ihre Richtigkeit hin zu priifen. Da es hierbei
vor allem auch darauf ankommt, der Mannigfaltigkeit der in praxi
vorkommenden Krankheitsbilder nach Moglichkeit gerecht zu
werden, so sind, soweit erforderlich, auch fremde Beobachtungen
mit herangezogen. Die Darstellung verzichtet natiirlich entsprechend
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60
B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit
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der hier gestellten Aufgabe auf die Schilderung aller vcrhandenen
Details und beschrankt sich auf die Heraushebung der fur die Frage
der Ueberwertigkeit und der Ueberwertigkeitswahnbildungen in
Betracht kommenden Punkte. Die Falle selbst sind nun nicht mehr
gruppiert nach den bisher festgehaltenen allgemeinen psycholo-
gischen Gesichtspunkten, sondem mehr nach aufierlichen (auf den
speziellen Inhalt beziiglichen), wie sie nun einmal in der Klinik der
Wahnprozesse immer noch iiblich sind. Das erleichtert die An-
kniipfung naheliegender klinischer Fragen und Betrachtungen
erheblich, wahrend umgekehrt eine Gruppierung nach dem vorher
benutzten psychologischen Schema wegen der groBeren Kom-
pliziertheit der in praxi vorkommenden Falle, des verwickelten
Zusammenwirkens und Ineinandergreifens der verschiedenen Seiten
der Ueberwertigkeit sowie des Hineinspielens anderer psychischer
Faktoren auf gewisse Schwierigkeiten stcBen wiirde.
Die einfachsten und am leichtesten zu iibersehenden Falle von
abnormer Ueberwertigkeit sind die, bei denen bestimmte Werte
irgendwelcher Art, die in Erfindungs- Re form ideen u. dgl. Vcr-
stellungskomplexen niedergelegt sind, eine pathologische Ueber-
betonung aufweisen. Reine Falle dieser Art sind durchaus nicht so
haufig, wie die Zahl der pathologischen Erfinder, Religionsstifter
und sonstigen Weltverbesserer erwarten lieBe. Koppen hat einen
solchen hierhergehorigen Fall publiziert 1 ).
Es handelt sich um einen erblich nicht belasteten Menschen, einen
einfachen Schuster, der still fiir sich gelebt, viel Versammlungen besucht
und viel gelesen hatte. Dadurch war er mit den modernen Friedensideen
in Beriihrung gekommen, hatte diese in sich aufgenommen und war nun so
in ihren Bann geraten, daJ3 er, ganz von ihnen erfiillt, sie in wichtigen
Lebensfragen zur entscheidenden Richtschnur nahm. Als er seinen militari-
schen Dienstverpflichtmigen nachkommen sollte, verweigerte er dies unter
dem Einflu# der iiberwertigen Ueberzeugung von der ITngerechtigkeit der
Kriege und lie# sich auch durch die unvermeidliche Bestrafung nicht von
von dieser die eigenen Interessen schwer schadigenden Stellungnahme
abbringen. Abgesehen von diesem ihn beherrschenden ungewohnlichen
Standpunkt war er frei von falschen Anschauungen, sowohl im allgemeinen,
wie speziell hinsichtlich seiner personlichen Beziehungen zur Umwelt.
Ich ziehe den Fall, der allerdings gerade die fur uns wesentliche
Beziehung zur Wahnbildung nicht aufweist, aus verschiedenen
Griinden heran. Er zeigt zunachst das Vorkommen von iiber-
werfcigen Vorstellungen, die in keiner Weise wahnhaften Inhalt
ha ben, im Gegenteil inhaltlich sogar eher als richtig resp. bereehtigt
bezeichnet werden dxirfen, und an die sich auch weiter keine Wahn-
bildungen anschliefien. Auf der anderen Seite lafit sich das, worauf
es uns hier ankommt, leicht ableiten. An Stelle der inhaltlich rich-
tigen, liefien sich, sofem es sich um einen exaltierteren, unklareren
x ) Charit6-Annalen. Bd. 29. — Ein anderer von Koppen heran-
gezogener Fall eines geLsteskranken Erfinders (Allgem. Ztschr. f. Psych.,
Bd. 51, ausfuhrlich in der Gutachtensammlung aus der Kgl. Charity, Berlin
1904) gehort wohl niclit hierher. Es handelt sich um induzierte Erfindungs-
ideen eines erheblich Schwachsinnigen, der eine psychogene Haftpsychose
mit Beeintr&chtigungs- und Grofienwahnideen darbot.
Got igle
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und Wahnbildung.
61
Menschen handelte, sehr wohl solche wahnhaften Inhalts, un-
wahrscheinliche, unmogliche, unsinnige Erfindungs-Reform- usw.
Ideen denken, und sie wiirden bei gleicher iiberwertiger Betonung
denselben unerschiitterlichen, korrekturunfahigen Realitats- und
Richtigkeits wert erhalten. Und zur Herbeifiihrung der sekundaren
Wahngebilde brauchte man sozusagen nur die naheliegende
logische Konsequenz aus der iiberwerfcigen Ueberzeugung zu ziehen,
die in anderen Fallen von dem Trager selbst gezogen zu werden
pflegt, in diesem Falle aber — wohl wegen der noch halbwegs gluck-
lich equilibrierten seelischen Veranlagung, vielleicht auch der aus-
reichenden Urteilsfahigkeit — ausblieb. Aus der Wertiiberschatzung
des iiberwertigen Lebensinhaltes ergabe sich dann in folgeriehtiger
Weiterentwicklung eine analoge Ueberschatzung der eigenen
Person, die sich mit der Idee identifiziert, der GroBenwahn, Trager
eiher bedeutenden Mission, einer wertvollen Lebensaufgabe, ev.
auch Martyrer fur eine groBe Idee, die Abriistungs- und Welt-
friedensidee, zu sein, und die Diskrepanz zwischen eigener Selbst-
einschatzung und Bewertung des eigenen Tuns und fremder Be-
urteilung und Stellungnahme sowie die daraus hervorgehenden
Konflikte erzeugten weiter mit ebensolcher psychologischer Folge-
richtigkeit den Beeintrachtigungswahn, der sich in der oben ge-
kennzeichneten Situation zu Unrecht best raft, ungerecht verfolgt
glauben wiirde.
So ist die psychologische Struktur der pathologischen Er-
finder, Reformatoren usw. im allgemeinen iibrigens nicht. Bei ihnen
handelt es sich gewohnlich um psychopathische Naturen, bei denen
das Primdre nicht die iiberwertige Betonung des betreffenden Inhalts ,
sondern ein abnormes PersonlichkeitsgefuM , eine maBlos gesteigerte
Ichbetonung bildet. Diese ist es, die die krankhafte Selbstiiber-
schatzung, den GroBenwahn nach sich zieht, und erst von ihr aus
kommt es zur iibertriebenen Einschatzung des betreffenden Ideen-
komplexes, indem alles, was zu dem Ich in Beziehung tritt, resp.
gesetzt wird, entsprechend iibermaBig betont und in seinem Werte
iiberschatzt wird. ^
Der nachste Fall zeigt die einfachste Form aus der wichtigsten
Gruppe der Ueberwerfcigkeitswahnbildungen, der querulatorischen .
(Eigener Fall.) Ein ungebildeter, geistig beschrankter und sehr leicht
reizbarer Mensch, Bergwerksarbeiter, war schon auf friiheren Arbeitsstellen
dadurch aufgefalien, da]3 er sich bei geringfiigigem Anled3 ohne Schuld
schlecht behandelt und im Verdienst zuriickgasetzt glaubte. Eine Gefangnis-
strafe, die er gelegentlich w^egen einer Mii3handlung eines Obermeisters
bekam — er hatte sich von diesem ohne objektiven Grund benachteiligt
geglaubt — empfand er gleichfalls als ein schweres ihm zugefiigtes Unrecht,
fiber das er innerlich nicht hinwegkam. Wie er selbst angab, war ihm
danach alles zu wider, das ganze Leben war ihm d&hin, er hatte keine Ruhe
mehr, lief von einer Stelle zur andern, weinte nachtelang, konnte mit keinem
Menschen mehr sprechen usw., weil er immer wieder an das ihm angetane
Unrecht denken muBte.
Spaterhin kam es nun zu einem Vorfall, der fthnlich, nur noch starker,
auf ihn wirkte. Wegen eines Kontraktbruehs bekam er von dem Betriebs-
fiihrer der Zeche^ auf der er arbeitete, den Lohn fiir einige Tage Arbeit
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62
Bimbaum, Pathol ogisc he Uoberwertigkeit
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statutenmaBig abgezogen. Bei seiner beschrankten Urteilskraft vermochte
er das Berechtigte dieser Mafiregel nicht zu fassen, er konnte es nicht ver-
stehen, daft einem der verdiente Lohn fiir seine Arbeit vorenthalten werden
konne, und geriet nun dariiber in hochgradige innere Erregung. Er wurde
wieder unruhig und unfahig zu arbeiten und zu schlafen. Standig qualte
ihn der Gedanke, daJ3 er zu seinem rechtmaBig erworbenen Geld kommen
miisse. Fiir die Aufklarung von seiten des Gewerbegerichts, daB die von
ihm beabsichtigte Klage aussichtslos sei, hatte er kein Verstandnis, im
Gegenteil, seine Erregung und Unruhe wuchsen dadurch noch. Unerschutter-
lich setzte sich in ihm die Ueberzeugung fest, der Betriebsfuhrer, der die
Auszahlung verweigert hatte, sei an der unrecht maBigen Vorenthaltung
des Lohnes schuld und dafiir verantwortlich, und an ihm miisse er fiir das
ihm angetane Unrecht Rache nehmen. Er erklarte selbst, sein Leben sei
vergiftet, und er konne nicht eher ruhen, bis er sich geracht habe. Er
suchte dann den Betriebsfuhrer auf und schoB ihn nieder.
Die iiberwertige Idee, die Ueberzeugung, der Beamte habe
ihm ein Unrecht angetan, ist in diesem Falle als eine wahnhafte ?u
bezeichnen. Diese Falschanschauung ist lediglich aus der Urteils-
unfahigkeit und der allgemeinen Neigung sich bei jeder Gelegen-
heit beeintrachtigt zu fiihlen hervorgegangen. Die iiberwertige
Affektbetonung hat mit der Beeintrachtigungswahnidee nur in-
soweit zu tun, als sie ihr unkorrigierbaren Realitatswert verleiht.
Dariiber hinaus erzeugt sie dann allerdings ncch den iiberwertigen
Rachegedanken, der die Person vollig beherrscht, nicht mehr los-
laBt und riicksichtslos aggressiv vorwarts treibt. Eine konsekutive
Wahnbildung im Sinne der iiberwertigen Vorstellung fehlt hier ganz,
es besteht tatsachlich nur die eine zirkumskripte ,,fixe u Idee,
in der man die ganze Autopsychose sehen kann, sofem man die
auBerhalb des eigentlichen Krankheitsbildes liegenden abnormen
Ziige des Habitualzustandes vernachlassigt. Die enge Umgrenztheit
des Wahninhalts entspricht der Begrenztheit des affektvollen
Erlebnisses, das sich inhaltlich auf einen engen Kreis von person-
lichen Beziehungen beschrankt. Klinisch entspricht das Bild
am meisten gewissen Persecutes persecuteurs Magnans.
Von besonderer Bedeutung, weil bezeichnend fiir den engen
Zusammenhang der iiberwertigen Idee mit der Charaktereigenart
ist hier noch die aus dem Vorleben einwandfrei nachweisbare
habituelle Neigung zu wahnhaften Beeintrachtigungsideen und
vor allem zu iiberwertiger Betonung dieser Inhalte.
Der folgende Fall von querulatorischer Wahnbildung aus iiber¬
wertiger Idee ist durch seinen progressives, Charakter ausgezeichnet.
Er stimmt im wesentlichen mit den iiblichen Fallen von Queru-
lantenwahn iiherein.
(Eigener Fall.) Der Produktenhandler W., ein von jeher leicht erreg-
barer, aufbrausender und gewalttatiger Mensch, ist schon wiederholt mit
der Polizei in Konflikt- geraten, wobei er sich schon verschiedentlich zu
Unrecht bestraft und absichtlich schikaniert- glaubte. Da er infolge seines
Alteisenhandels und der unordentlichen Fiihrung seines Trodelbuches
polizeilich besonders scharf in seinem Geschaftsbetrieb iiberwacht werden
muBte und auch mehrfach Strafmandate erhielt, so wurde er in der Ueber¬
zeugung von absiclitlichen polizeilielien Schikanen noch bestarkt.
Schon von vornherein in dieser schiefen Auffassung befangen, wurde
er zu allem Ungluck noch von einem Vorkommnis betroffen, das ihn be-
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und Wahnbildung.
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sonders stark und dauernd erregte, und iiber das er infolge der bestehenden
besonderen seelischen Verfassung nicht so leicht hinwegkommen konnte:
Ein fremder Mann fuhr einmal mit seinem (W.s) unbeaufsichtigt dastehenden
Fuhrwerk davon. W. nahm den Dieb fest und brachte ihn zur Polizei.
Da festgestellt wurde, daB nicht Diebstahl, sondern grober Unfug vorlag,
wurde jener von dort wieder entlassen und kam spater mit einer geringen
Strafe davon. Diese Sache mit dem ,,Pferdedieb“ gewann nun eine ganz
iibermaBige Bedeutung in W.s seelischem Leben und verlieh seiner Ansicht
von der ungerechten Behandlung durch die Polizei voile GewiBheit und
iibermaBiges Schwergewicht. Von dieser Ueberzeugung beherrscht, ging er
nun in Wort und Schrift aggressiv gegen die Polizei vor, wobei der Kern-
punkt seiner Angriffe im wesentlichen immer wieder der war, daB die Polizei
Unschuldige verfolge, Diebe aber laufen lasse. Er zog sich schlieBlich eine
ganze Anzahl Anklagen durch sein rabiates und bedrohliches Treiben zu
und wurde nun wegen seines auffallenden Verhaltens zur Beobachtung
seines Geisteszustandes in eine Irrenklinik geschickt. Hier brachte er
immer wieder seine alten Ansichten vor, daB die Polizei ihn schikaniere,
warf ihr immer wieder vor, daB sie den Pferdedieb freigelassen habe und
erklarte sogar, sie stecke mit jenem unter einer Decke. Auch den Aufenthalt
in der Klinik deutete er in dem gleichen Sinne als beabsichtigte polizeiliche
Schikane. Auch die Gerichte nahmen die Polizei in Schutz und gaben ihm
unrecht. Spater nach 51 StGB. freigesprochen und einer Irrenanstalt
iiberwiesen, brachte er die gleichen AeuBerungen wie vorher vor und er¬
klarte, die Polizei habe ihn widerrechtlich interniert, weil sie die Klage
gegen ihn verloren habe. Auch die Irrenarzte, der Direktor und der Anstalts-
geistliche seien an dem Komplott beteiligt, das die Polizei gegen ihn ge-
richtet habe. Die Aerzte und Gerichtsbeamten, die bei seiner Entmiindigung
mitwirkten, erklarte er fur ein Verbrechervierblatt, die einen Meineid be-
gingen, indem sie ihn fur geisteskrank erklarten. Auch blieb er unbelehrbar
dabei, er habe nur sein gutes Recht verteidigt, ihm dagegen sei unrecht
geechehen, und in der Irrenanstalt sei er mundtot gemacht worden. Tat-
sachen der Vergangenheit st elite er mit unverkennbaren Erinnerungs-
falschungen und Falschdeutungen im Sinne seiner iiberwertigen Vor-
stellungen dar: Der ihn seinerzeit begutachtende Arzt habe in der Ver-
handlung gesagt, es sei bedauerlich, daB der Pferdedieb nicht verurteilt
sei; das Gericht habe ihn freigesprochen, weil er in seinem Rechte sei;
entmundigt sei er, weil sie ihm auf dem Gericht nicht die Entschadigung
auszahlen wollten usw.
In diesem Fall© bestand schon langere Zeit infolge einer patho-
logischen Affektveranlagung und gewisser Dauerreize eine wahn-
hafte Auffassung im Sinne des rechtlichen Beeintrachtigungs-
wahns, aber eigentlich erst das besonders erregende Erlebnis ana-
logen Inhalts machte diesen Vorstellungskomplex zum domi-
nierenden und zur unerschiitterlichen Grundlage fur die Verar-
beitung jeder weiteren Erfahrung. Auffassungs- und Erinnerungs-
falschungen, Fehldeutungen und Fehlerklarungen im Sinne der
beherrschenden Ueberzeugung, fiihrten dann neben der Tendenz,
jeden neuen Vorgang in inner© Beziehung zu dem vorherrschenden
Gedankenkomplex zu setzen, die progressive Ausbreitung des
Wahnprozesses herbei.
DaB in diesen Fallen von Querulantenwahn aus xiberwertiger
Idee selbst die Wahnrichtung durchaus nicht so eindeutig im Sinne
der rechtlichen Beeintrachtigung festgelegt ist, wie es nach den all-
gemeinen Erfahrungen scheinen konnte, und nach der Krankheits-
bezeichnung selbstverstandlich sein miiBte, zeigt der folgende Fall,
der deshalb prinzipielle Bedeutung beanspruchen darf.
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Birnbaum, Pathologisch© Ueberwertigkeit
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(Eigener Fall.) 54 jahriger Schiffskapitan, aus dessen Vorleben in
psychopathologischer Hinsicht vor den hier in Betracht kommenden Vor-
gangen nicht s Wesentliches bekannt geworden ist, war vor 11 Jahren dnrch
eine Anordnung auf hoher See, die einem Matrosen das Leben kostete, mit
seiner Mannscliaft in Differenzen geraten und hatte dann durch ein teils
unglaublich kindisches, teils unverantwortlich bedrohliches Verhalten, das
sogar den Verdacht auf Geistesstorung wachrief, die Disziplin auf dem
Schiffe vollig untergraben. Auf die Beschwerde der Mannschaft hin wurde
er infolgedessen von einem deutschen Konsul in Ostasien von seiner Stellung
abgesetzt. Er geriet dadurch in eine sehr schwierige Lage, bekam keine
rechte Dauerstellung mehr, kam wirtschaftlich in Not und hatte auch
gesundheitlich schwer zu leiden. In seiner Mittellosigkeit suchte er schliefilich
eine Arbeiterkolonie auf, wo er nun jahrelang blieb. Die Erinnerung an
die erfolgte Absetzung hatte ihn aber all die Jahre hindurch nicht verlassen.
Er empfand sie dauernd als ein schweres ihm angetanes Unrecht und kam
um so weniger dariiber hinweg, als er dadurch zugleich existenzlos geworden
war. Er kampfte dagegen mit alien Mitteln an, verfafite zahlreiche Ein-
gaben, Antrage und Beschwerden an Gerichte und andere Behorden, unter
anderem einen „Hilferuf eines deutschen Seemanns an den Reichstag 44 , in
denen er immer wieder betonte, daJ3 ihm Unrecht geschehen, er ungerecht-
fertigt als Kapitan abgesetzt worden sei, und Klage liber die Verurteilung
fiihrte. Er erklarte, er erkenne die Absetzung nicht an, bestreite die Wahr-
heit mid Echtheit der Akten und Zeugenaussagen, es seien Sehiebungen
zugunsten des Steuermanns vorgenommen usw. Mit seinen Eingaben, die
er auch in der Arbeiterkolonie fortsetzte, wurde er jedoch immer wieder
abgewiesen, und da er schliefllich die Erfolglosigkeit seiner Bemiihungen
um Aenderung seiner Lage erkennen muflt e, und die Sorge um die Zukunft
auf ihn lastete, kam er auf Selbstmordgedanken und aufierte solche auch.
Er wurde deswegen nun nach ziemlich sechsjahrigem Aufenthalt in der
Arbeiterkolonie in die Irrenanstalt liberwiesen.
Auch hier hielt er in der Folgezeit an der Ueberzeugung, daJ3 ihm
schweres Unrecht zugefiigt sei, und da# ihm, wenn ihm nur die Klage-
erhebung gelange, kein Gericht der Welt verurteilen konne, unerschiitter-
lich, fest und liej3 sich auch von dem Gedanken, mit alien nur denkbaren
Mitteln seiner gerechten Sache zum Siege zu verhelfen, nicht abbringen.
Ebenso brachte er auch die an die Absetzung gekniipften Beeintrachtigungs-
wahnvorstellungen und Erklarungswahnideen in gleicher Weise und mit
gleicher Ueberzeugungsfestigkeit vor: Der Konsul habe eine fahrlassige,
ja sogar arglistige Rechtsbeugung begangen, indem or ihn auf die Aussagen
teils miCgiinstiger, teils gemeingefahrlicher Schiffsleute aufier Brot und
Lohn brachte. Weil er am Tatort unbequem war, und man einen Skandal
durch Aufdeckung der schlechten Verlialtnisse an Bord vermeiden wollte,
habe man ihn als geisteskrank hingestellt und abgeschoben. Die Regierung
wage nicht, aus Furcht, ihre Autoritat konne leiden, das gescheheneUnrecht
wieder gutzumaehen usw.
Neben diesen einwandfrei querulatorischen Wahnideen kam nun aber
von der Zeit des Irrenanstaltsaufenthalts an eine ganz neue und eigenartige
Note in seine Gedankenwelt hinein. Die Ueberweisung und den Auf ent-
halt in der Irrenanstalt empfand er zunachst nicht, wie sonst der Querulant,
aufs schwerste und sah darin auch nicht den Ausdruck einer ungerechten
Behandiung und Vergewaltigung, sondern dies© Umgestaltung seiner Lage
war ihm vielmehr recht, weil er nun einen neuen Weg sah, um zu seinem
Rechte zu kommen. Er fa!3te jetzt die Hoffnung, die Armendirektion werde,
um die durch ihn verursachten Kosten zuriickerstattet zu erhalten, seine
Sache in die Hand nehmen und gegen den Konsul die Klage erheben. Diese
Hoffnung macht ihm nun nicht nur den Anstaltsauf ent halt, den er an sich
als einen Makel fur sein Ehrgefiihl empfindet, ertraglich und halt ihn
innerlich aufrecht — er sagt selbst, wenn er diese Hoffnung nicht hatte,
wiirde er sich nach der Entlassung aus der Anstalt im Auswartigen Amt
erschiefien —, sondern sie beherrscht und bestimmt auch zugleich mit der
iiberwertigen Ueberzeugung des ihm angetanen Unrechts seine ganze
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und Wahnbildung.
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Gedankenwelt und -richtung. Er erklart selbst, seine Sache sei nicht .aus-
sichtslos. Das ersehe er daraus, daB die Stadt Berlin ihn in die Irrenanstalt
geschickt habe. Die Armendirektion werde wohl die Kosten einklagen
und das Auswartige Amt den Konsul notigen, nun endlich der Sache ein
Ende zu machen und sich abzufinden. Die Aerzte, speziell auch der, der
den juristisehen Teil seiner Klagesache leite (in Wirklichkeit ist von seiten
der Anstalt in seiner Sache nicht das mindeste unternommen worden),
flatten ihm auf das bestimmteste gesagt, daB ihm sein Recht werde. Jeder
Arzt habe ihm versichert, daB seine Sache gut stiinde, und er fur sie eintreten
werde. ,,Wer die ProzeBsache unter dem Schutze der Aerzte fiihrt, der fahrt
gut“, ist seine ausdriieklielie Ueberzeugung. Die Akten seien von der
Direktion eingefordert, sie wdirden von den Aerzten, dem Direktor an der
Spitze, gepriift, und dann wiirde ein Gutachten abgegeben, auf Grund
dessen der Konsul bezahlen miisse. Es sei ein teurer SpaB fiir jenen, denn
er werde eine hohe Entschadigung fordern usw.
Einwande des Arztes, daB man seine Sache auch anders, weniger
giinstig, und so, wie sie in den Akten stehe, ansehen konne, und er sie auch
so ansehe, laBt, er nicht gelten: er wisse genau, daB man ihm recht gebe,
jeder verniinftige Mensch miisse ihm recht geben. Auch der Arzt stimme
ganz gewiB in seiner Meinung mit ihm iiberein, und er sage das nur, um
ihn zu prufen. Die Zeit in der Irrenanstalt erklart er fiir lediglich eine
Probezeit. Die Angelegenheit selbst schatzt er sehr hoch ein und meint,
sie sei auch fiir die Allgemeinheit von groBer Wichtigkeit. Nachtraglich
bringt er nun auch AeuBerungen vor, die angeblich friiher autoritative
Personen in seiner Sache getan hatten, w’obei sie einen ahnlichen giinstigen
Standpunkt vertreten haben sollen: So habe beispieLsweise der Vorsitzende
vom Seeamt gesagt: ,,Kapitan, verlassen Sie sich auf mich, ich wdll Ihre
Ehre wiederherstellen“, und den iibrigen Beisitzern erklarte er: ,,Zur Be-
kampfung auBergewohnlicher Sachen gebraucht man auBergewohnliche
Mittel“ usw.
Diese Anschauungen vertritt Pat. immer wieder mit lebhafter Be-
tonung. Irgendw^elche Abschw T achungen der intellektuellen Fahigkeiten
oder GefiihLsanderungen und -mangel sind bei ihm nicht aufgetreten.
Der Fall gewinnt, wie ohne weiteres zu ersehen ist, durch das
Hineinspielen, ja schlieBlich sogar Vorherrschen von Wahn-
gebilden Bedeutung, die sonst dem Bilde des Querulantenwahns
fremd zu sein pflegen. Zunachst bietet die Erkrankung nichts, was
aus dem Rahmen des Beeintrachtigungswahns aus querulatorischer
Ueberwertigkeit hinausfiele. Als Ausgangspunkt, wie immer, die
iiberwertige Ueberzeugung von dem ihm angetanen Unreeht und
daraus hervorgehend dann die entsprechenden Falschdeutungen,
Erklarungswahmdeen, Erinnerungsfalschungen usw. Es bleibt
aber nicht dabei, und der Uebergang in ein neues Milieu, die Irren¬
anstalt, bedeutet in dieser Beziehung einen Wendepunkt in der
Wahnrichtung. An Stelle des — richtiger allerdings wohl neben
den — bisherigen rechtlichen Beeintrachtigungswahn tritt nun
ein ganz andersgerichteter, den man umgekehrt als rechtlichen
Forderungsivahn bezeichnen muB. Alles, was nun geschieht, wird
nun nicht mehr in dem Sinne weiterer Benachteiligung aufgefaBt
(die Aerzte stecken durchaus nicht wde sonst beim Querulanten-
wahn mit den Behorden unter einer Decke, so wenig wie man ihn
in die Irrenanstalt gebracht hat, um ihn unschadlich zu machen),
sondern im Gegenteil, alles was von fremder Seite ausgeht (Irren¬
anstalt siiberweisung, arztliche MaBnahmen usw.) geschieht zu
seinen Gunsten und seinem Nutzen, dient dazu, ihm zu seinem
Monateachrift f. Paychiatrie u. Neurol ogle. Bd. XXXVII. Heft 1. 5 J
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66 B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit
Rechte zu verhelfen. Die Gnindlage fur diese andersgerichteten
Wahngebilde geben wiederum (iberwertige Vorstellungen ab, und
zwar sind es diesmal iiberwertige Hoffnungen , die durch die ver-
anderte Situation angeregt wurden und die nun ebenso wie vorher
die iiberwertigen querulatorischen Ideen zu festen Ueberzeugungen,
zu unumstoBlichen Voraussetzungen fiir jede weitere Erfahrung
werden, Wahrnehmungen, Auffassungen und Erinnerungen nun
in ihrem Sinne falschen usw.
Nebenbei bemerkt tritt iibrigens in diesem Falle auch die aus
der Ueberwertigkeit des persordichen Reehtsanspruehs sich er-
gebende Ueberschatzung der Bedeutung des eigenen Kampfs unis
Recht hervor, wie sie aus der Ueberzeugung von der Wichtigkeit
der eigenen Saehe fiir die Allgemeinheit spricht.
Was aus diesem Fall nun als allgemeines prinzipiell wichtiges
Ergebnis zu entnehmen ist, ist die Erkenntnis, daB der Queru-
lantenwahn aus iiberwertiger Idee durchaus nicht mit Natur-
notwendigkeit zu demublichenSymptomenbildundVerlauf kommt,
sondem daB die Wahnrichtung von auBeren Einfliissen mitbe-
stimmt wird und daher mit deren Aenderung gelegentlich iiber-
raschend umschlagen kann. Merkwiirdig ist dabei nur, daB ein-
ander so vollig widersprechende Wahngebilde, wie hier der recht-
liche Beeintrachtigungswahn auf der einen, der Forderungswahn
auf der anderen Seite, nicht nur ohne weiteres auf dem gleichen
psychischen Boden sich nacheinander entwickeln, sondern sogar
nebeneinander ungestort bestehen bleiben und sich vertragen
konnen. Es bedarf wohl nicht erst noch besonderer Hervor-
hebung, daB nichts an dem Krankheitsbilde dafiir sprach, daB
das Auftreten der Forderungswahnideen hier etwa die Bedeutung
eines den geistigen Zerfall einleitenden Symptomes hat.
Aus den angefiihrten drei Fallen kann man ersehen, wie eng
auBerlich differente Wahnbildungen: fixe Idee querulatorischen
Inhalts, progressiver querulatorischer WahnprozeB und querula-
torischer Beeintrachtigungswahn mit anschliefiendem rechtlichem
Forderungswahn ihrem Wesen nach zusammengehoren konnen und
wie vorsichtig man in dieser Hinsicht mit der Zuteilung zu diffe-
renten Krankheitstypen sein muB. Selbstverstandlich soli damit
nicht in Abrede gestellt werden, daB es Formen von Querulanten-
wahn gibt, die durchaus nicht wie die hier erorterten scheinbar
verschiedenartigen Falle von iiberwertigen Vorstellungen ihren
Ausgang nehmen, also ihrem Mechanismus und Charakter nach zu
anderen Typen gehoren.
Zweifellos ist es nun aber, daB gerade querulatorisch-wahnhafte
Symptome im Rahmen der Ueberwertigkeitserscheinungen sehr
hS,ufig sind und eine ungemein groBe Rolle spielen. Das beruht
wohl nur zum Teil auf der von Wernicke betonten groBen Bedeu¬
tung, die die Rechtsvorstellungen im sozialen Leben im allgemeinen
haben, vor allem doch wohl auf der natiirlichen menschlichen — und
bei den hier in Betracht kommenden psychopathischen Charakteren
besonders ausgesprochenen — Neigung alles zur eigenen Person in
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Beziehung Stehende besonders stark zu betonen. So kommt ©s
nur zu leicht — auch unter Verhaltnissen, wo eigentlich© Rechts-
beziehungen nicht in Frag© kommen — zur U©b©rschatzung d©r
personlichen Anrecht©, Anspriiche, Berechtigungen und durch iib©r-
mafiig© Betonung derselben zu querulatorischen Symptomen.
Di© Bild©r, auf d©r©n Untergrund sich dies© querulatorischen
Erscheinungen erheben, konnen ganz verschieden aussehen. Nicht
selten liegen ihnen erotische Ueberwertigkeiten zugrund©.
[Fall von Kahlbaitm 1 )]. N., 35 jahriger Photograph, exzentrisch-
psychopathischer Charakter, der sich durch vielseitige, speziell philo-
sophiscne Lekture ©ine gewisse hohere Bildung angeeignet hatte und infolge-
dessen im Beruf keine rechte Befriedigung fand, hatte gelegentlich des
Verkehrs in einer fremden Familie ein besonderes personliches Interesse
an dem j lings ten Madchen, damals ©in Kind von zwolf Jahren, gewonnen,
und in seinem Grlibeln liber sein Leben glaubt© ©r endlich darin seinen
hoheren Lebensinhalt gefunden zu haben, fur dieses kleine Madchen sich
dauernd zu interessieren und fur die Ausbildung und sittliche Reinheit
desselben einzutreten. Dieses zunachst mehr philosophische Gefuhl des
Interesses entwickelte sich spater zur Liebe, und mit dem Auftreten eines
viel jlingeren Mannes in dem n&heren Familienkreis gesellte sich auch
Eifersucht hinzu. Infolgedessen kam es fiir ihn zu inneren Kampfen und
nach auBen zu Konflikten mit jenem jiingeren Mann, was dazu fiihrte, daB
der Vater dee jungen Madchens dem N. sein Haus und weiteren Familien-
verkehr verbot. Damit war nun wieder sein Lebensinhalt ins Schwanken
gebracht; er geriet in Verzweiflung und ergab sich dem Trunk©, und erst
nach einigen Wochen kam er wenigstens &ufierlich ins Gleichgewicht zuruck.
Seine Gedanken blieben aber nach dem Aufenthaltsorte des Madchens,
den er inzwischen verlassen hatte, gerichtet, er fand keine Ruhe und kehrte
schlieBlich unter Im-Stich-lassen der aussichtsvollen Stellung, die er in¬
zwischen gef unden hatte, in das Stadtchen zur lick. Er versuchte nun nicht
etwa, sich mit dem Vater des Madchens auszusohnen und in freundschaft-
licher Weise wieder Eingang in der Familie zu finden, sondern ging mit
Drohungen und GewaltmaBnahmen vor, um sich den Verkehr zu erzwingen
Er schrieb dem Vater in einem mit „Ultimatum“ iiberscliriebenen Brief,
„da£ er mit etwas Unabanderlichem zu rechnen habe, mit etwas, was mit
der Kraft einer Naturgewalt blindlings und unerbittlich seinen Weg stiirmt,
unbeklimmert um etwaige sich dagegen anstemmende Vernunftschliisse,
welche sich solcher Gewalt gegeniiber als ohnmachtig erweisen“. Dabei
glaubte er den Verkehr mit dem Kind© als sein Recht in Anspruch nehmen
zu diirfen, und diesen Rechtsanspruch leitete er davon ab, daB er mit dem
Madchen langere Zeit in freundschaftlichen Verkehr gestanden habe und
sie ihn liebe. Von diesem unbedingten Rechtsanspruch war er so durch-
drungen, daB er sogar mit Waffengewalt ihn geltend zu machen suchte,
und als er deswegen in die Irrenanstalt gebr«w;ht wurde, hielt er unbeirrt
an dieser Ueberzeugung fest und war davon auch nicht durch Hinweise
abzubr ingen, die ihm das Unberechtigte seines Tuns darlegten und ihm
klar machten, daB das Madchen sein Interesse gar nicht er wider©, sondern
sogar Furcht vor ihm habe. Selbst an der Berechtigung seines Attentats
(er war mit Dolch und geladenem Revolver bei der Familie eingedrungen,
indem er eine Aussprache mit dem Madchen forderte) hielt er unverandert
fest. Dabei sah er in dem Vater, wie uberhaupt in jedem, der sich gegen
das Verhftltnis mit dem Madchen aussprach, seine unbedingten Feinde.
l ) Kahlbavm, Fall von Pseudoparanoia. Allgem. Ztschr. f. Psych.
Bd. 49, von K. als Charakterirresein „Parethosie“ bezeichnet. Der Fall
entspricht dem letzten Fall in Wernickes Aufsatz iiber fixe Ideen. Von
Hitzig („Ueber den Querulantenwahnsinn“, Leipzig 1895) wurde er als
originare Paranoia aufgefaBt.
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Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit
Auch durch die Intern ierung wurde er vonseinem verbohrten Stand-
punkt nicht abgebracht, und aLs er versuchsweise aus der Anstalt entlassen
wurde, machte er sogleich wieder die alten Annaherungsversuche, so daB
er von neuem in Konflikte mit der Polizei und damit in die Irrenanstalt
geriet.
In diesem Falle hat sich unmittelbar an einen iiberwertigen
erotischen VorstellungBkomplex, der im wahrsten Sinne des Wortes
zum Lebensinhalt wurde, eine iiberwertige Rechtsidee, die Ueber-
zeugung eines unbedingten personlichen Anrechts an die geliebte
Person, angeschlossen und aus ihm ergeben. Sie wird nun zum
Leitmotiv fur das seelische Leben, so daJ3 sich von diesem vor-
herrschenden Rechtsstandpunkt im wesentlichen alle weiteren ab
normen Erscheinungen ableiten lassen: Die unumstofiliche Ueber-
zeugung von der Berechtigung des eigenen Tuns und Treibens, das
auf Verwirklichung dieses Rechtsanspruchs hinarbeitet, die Ver-
standnislosigkeit gegeniiber alien Einwanden und dem Gewicht
der Tatsachen und die falsche Beurteilung des eigenen Verhalt-
nisses zu den andem, die, je nach dem sie den eigenen Standpunkt
anerkennen oder ablehnen, ohne weitereBegriindung als Feinde oder
Freunde gelten.
In flieBenden Uebergangen fiihrt dieser Fall von iiberwertigen
Rechtsvorstellungen aus erotischer Ueberwertigkeit hiniiber zu
den Liebesverfolgerinnen, die einen besonderen Spezialtyp der
Persecutes persecuteurs auf Grand einer iiberwertigen Idee bilden.
Lie Symptome dieser Falle entsprechen im allgemeinen den eben
gekennzeichneten, nur pflegen die queralatorischen Elemente, iiber¬
wertige Rechtsvorstellungen und rechtlicher Beeintrachtigungs-
wahn erotischer Farbung noch starker hervorzutreten. Den AnstoB
zu ihrer Entstehung gibt gewohnlich ein aufierer AnlaB, eine un-
verbindliche AeuBerang, ein nichtssagendes, aber erotisch ge-
deutetes Verhalten des mannlichen Partners, seltener ein wirkliches
Liebesverhaltnis, in vereinzelten Fallen sind auch innere An-
regungen, die Heirats- und Versorgungswiinsche des altemden oder
gealterten Madchens als wirksame Krafte heranzuziehen. Aus
ihnen erwachst — ohne geniigende Begriindung, aber trotzdem
durchaus beherrschend, — der Gedanke an Ehe und sonstige Ver-
sorgung und bei der engen Verkniipfung dieses Gedankens mit der
eigenen Person die iiberwertige Ueberzeugung eines personlichen
Rechtsanspruchs darauf. Diese Ueberzeugung wird nun zum
Fundament fiir die ganze personliche Anschauung, sie fiihrt auf
der einen Seite zu Erinnerungstauschungen erotischen Inhalts, die
die Berechtigung und Begriindung des eigenen Rechtsstandpunktes
darlegen, auf der anderen bei dem der eigenen Auffassung wider-
sprechenden Verhalten des m&nnlichen Partners folgerichtig zum
Beeintrachtigungswahn: seine Ablehnung erscheint im Sinne der
iiberwertigen Ueberzeugung als Bruch des Heiratsversprechens und
Meineid, eine ungiinstige richterliche Entscheidung als Parteilich-
keit usw., wogegen die Kranke dann in der iiblichen queralato¬
rischen Weise ankampft und Stellung nimmt.
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(Eigener Fall.) Erblich nicht belastete Frau, Mantelnaherin, Witw©
und Mutter dreier Kinder > die Armenunterstiitzung bezieht, wird bald
nach dem Tode ihres Mannes mit einem 67 jahrigen Rentier N. auf amt*
lichem Wege in seiner Eigenschaft als Armenkommissionsvorsteher bekannt.
Sie verliebt sich aufs heftigste in ihn, schreibt ihm gliihende Liebesbriefe,
in denen sie ihm sogar sexuellen Verkehr mit ihr nahelegt, und laBt davon
nicht ab, wiewohl der Angebetete sie weder einer Antwort wurdigt, noch
uberhaupt beachtet. Sie macht sogar einen Selbstmordversuch mit
Schwefelsaure, der sie ins Krankenhaus bringt imd eine Speiserohren-
verengerung herbeifiihrt, die eine Operation bald notig macht. Als
Grund fur den Suicidversuch gab sie an, sie habe den N. so lieb, und er
sei am Abend vorher nicht zum Rendezvous gekommen, und morgens in
der Spreehstunde habe er ihr erklart, aus ihrem Verh<nis konne nichts
werden. Von der Armenkommission wird sie als eine fast unzurechnungs-
fahige, liigenhafte Person bezeichnet, die als Mutter von drei Kindern im
Liebestaumel den Selbstmord veriibte.
Nach einigen Monaten wird sie der Irrenanstalt iiberwiesen, weil sie
laut arztlichem Attest sich von N. verfolgt glaubte. Beziiglich ihres Ver-
haltnisses zu N. erklart sie hier, sie habe aus seinem Benehmen zu
schlieBen gemeint, daB er ihre Neigung erwidere. Sie habe ihn zweimal
vor dem Hause getroffen, und er habe sie dann im Hausflur gekiiBt. (In
Wirklichkeit hat sie ihn vor dem Hause abgepaBt,-ohne daB es zu irgend-
welchen Annaherungen gekommen war.) Sie konne die Gedanken an N.
nicht loswerden, daher moge es wohl gekommen sein, daB sie die Ver-
folgungsauBerungen getan habe. Weiter gibt sie an, seit der Affare mit N.
habe sie sich von ihm immer verfolgt geglaubt, er lachelte und sah sie
immer an. Auch sei sie von Mannern auffallend oft angesprochen worden,
was ihrer Ueberzeugung nach auch auf N.s Veranlassung geschehen sei.
Aus der Anstalt spater entlassen, fiihrte sie bei den Behorden Beschwerde,
sie sei nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus in groBter Not, in alien
Vierteln wiirde sie aufs argste und schroffste von den Armenvorstehern
behandelt. Sie nehme an, daB man sie bei jenen verleumdet habe, und
zwar habe sie den Armenvorsteher N. in Verdacht, mit dem sie ein ideales
Liebesverhaltnis entsponnen habe, das sich spater wieder gelegt habe.
Sie habe sich seinetwegen vergiften wollen und habe, da sie korperlich sehr
heruntergekommen war, Schadenersatz von ihm gefordert, vielleicht ver-
folge er sie deswegen. N. habe sie wohl als Hure ausgegeben, und dem-
entsprechend werde sie von den Armenvorstehern behandelt. Von der
Armendirektion verlangt sie ein Armenattest, um gegen N. wegen einer
Abfindungssumme zu klagen, da er ihr die Ehe versprochen habe. Im
xibrigen legte sie ein ausgesprochen querulatorisches Verhalten an den Tag,
drangte standig auf Unterstiitzungen, belastigte die Armenvorsteher und
Aerzte und beschimpfte in hochst erregter Weise den Armenvorsteher N.
SchlieBlich stellte dieser Strafantrag gegen sie, da sie fast taglich vor seiner
Wohnung turbulent© Szenen machte und vor alien Leuten oehauptete, er
habe sie geschandet und durch Nichtinnehaltung des gegebenen Ehe-
versprechens in Not und XTngliick gestiirzt. Bei den Vernehmungen erklarte
sie, das Benehmen des Herrn N. sei seinerzeit so gewesen, daB sie bastimmt
annehmen muBte, er wollte selbst ein Verhaltnis mit ihr anfangen, wozu
sie auch geneigt war. In dem Glauben sei sie um so mehr bestarkt worden,
als N. ihre Brief© annahm und drei Zusammenkunfte mit ihr im Hausflur
seiner Wohnung hatte, sie dort kiiBte und Andeutungen machte, welche sie
als indirekten Heiratsantrag nahm. Als sie gemerkt habe, daB N. sie nur
als Spielzeug gebrauchen wolle, habe sie allerdings in let-zter Zeit mit ihm
gebrochen. An diesen Schilderungen friiherer Vorkommnisse ist nur soviel
richtig, daB sie den N. vor seiner Wohnung aufgelauert hatte und gegen
ihn zudringlich geworden war.
Diases Treiben der Kranken ging etwa zwei Jahre, bis sie schlieBlich
von neuem der Irrenanstalt iiberwiesen wurde, da sie fortgasetzt mit
Larmen, Beschimpfungen und Bedrohungen vorging und selbst mit Selbst¬
mord und Ermordung ihrer Kinder drohte. D8^ ^rztliche Ueberweisungs-
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Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit
attest hebt charakteristi$cherweise hervor, sie leide an der Wahnidee, daft
ein Armenvorsteher ihr die Ehe versprochen habe, und sie sei in der Sache
schon an alle moglichen Behorden gegangen. In der Anstalt hielt sie an
ibren bisherigen Anschauungen fast, meinte, der Arzt, auf dessen Gesund-
beitsattest sie ihre Armenimterstiitzung verloren hatte, stecke mit N.
unter einer Decke, erklarte, man habe sie gesund in die frrenanstalt gebracht
und drangf e in ziemlich einsichtsloser Weise heraus.
Soviel vorerst fiber den Fall. Er geht symptomatologisch
schon fiber das fibliche Bild der Liebesverfolgerinnen hinaus und
bietet einen entschieden groBeren Reichtum an Einzelzfigen dar.
Im einzelnen finden sich zunachst die Erscheinungen der erotischen
Ueberwertigkeit, an die sich zahlreiche Erinnerungsfalschungen
positiver und wohl auch negativer Art sowie sonstige MiBdeutungen
und Auffassungsfalschungen anschlieBen, die alle inhaltlich der
fiberwertigen Ueberzeugung, daB N. sie wieder liebe und heiraten
wolle, entsprechen. Sodann besteht wiederum die tiberwertige
Anschauung eines Anrechts auf Ehe und Yersorgung, woraus sich
die Ueberzeugung eines Anspruchs auf Schadenersatz herleitet.
Und schlieBlich trict als dritte beherrschende Idee das abweisende
Verhalten des N. in den Vordergrund des BewuBtseins, auf derem
Grunde sich nun Eigenbeziehungs- und Beeintrachtigungswahn-
vorstellungen erheben, die von sich aus noch durch entsprechende
Erklarungswahnideen eine Erweiterung und Systematisierung er-
fahren. Aus den letzten beiden Erscheinungen leiten sich im wesent-
lichen die querulatorischen Zfige her, die auch in diesem Falle ziem¬
lich ausgepragt — stfirker als sie in der obigen Darstellung zum
Ausdruck gebracht wurden — hervortraten.
Der Krankheitsfall bietet fibrigens neben den hier nur berfick-
sichtigten psychologischen Zusammenhangen auch ein ungewohn-
liches klinisches Interesse dar und hebt sich dadurch vor all den
andem hier angeffihrten heraus. Er soli daher spater noch einmal
aufgenommen und dann speziell auf die Besonderheiten seines Ver-
laufs hin betrachtet werden.
Die bei dieser Gruppe herausgehobenen Erscheinungen der
erotischen Ueberwertigkeit verdienen, soweit sie noch ins Gebiet
physiologischer Verliebtheit fallen, noch eine kurze Zusammen-
stellung. Gerade sie lassen besonders deutlich erkennen, wie groB
die Bedeutung und wahnbildende Kraft der Ueberwertigkeit auch
in solchen Fallen sein kann, wo auBer dieser dominierenden Affekt-
betonung andere wirksame Momente fiberhaupt kaum und patho¬
logische ganz gewiB nicht in Frage kommen.
Die erste und naheliegendste Folge erotischer Ueberwertigkeit
ist die FaUchung des Werturteils fiber das fiberwertige Objekt, die
Wertfiberschatzung, die in der geliebten Person bedingungslos das
in jeder Beziehung vortrefflichste Wesen sehen laBt. Dieses falsche
Werturteil wird zum unerschfitterlichen Fundament ffir jede weitere
Erfahrung, macht blind gegen alles, was ihm widerspricht, selbst
gegen das Gewicht unbestreitbarer Tatsachen, laBt eine Auffassung
und Deutung nur im Sinne seines Inhalts zu und ffihrt so zu Auf¬
fassungsfalschungen und Fehldeutungen. Dazu gesellt sich die
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Neigung zur Exoprojektion des eigenen GefuMszustandes, zur Ueber-
tragung der eigenen Gefiihlsregungen auf das Seelenleben der ge-
liebten Person, die Tendenz, das eigene Empfinden derem Denken
und Fiihlen zugrunde zu legen. So erklart sich mir wenigstens am
einfachsten die Neigung des Verliebten seine Liebe stets ervviderfc
zu glauben. Es entspricht dies auch sonstigen Erfahrungen, wonach
beispielsweise die zunehmende Sehnsucht nach einem Menschen
zugleich auch die GewiBheit wachsen laBt, dieser miiBte mit gleicher
Sehnsucht an einen zuriickdenken u. dgl. 1 ).
Und schlieBlich kommt als wichtigste und auffallendste Wir-
kung noch die Einstellung der Gedankenwelt auf den uberwertigen
erotischen Komplex und damit die Tendenz jeden sich darbietenden
seelischen Inhalt mit diesem in Verbindung zu bringen hinzu. Die
aus ihnen sich ergebenden Erscheinungen sind im wesentlichen
zweierlei Art: Einmal, und ganz allgemein wird alles mogliche, was
einem begegnet, irgendwie in Beziehung zur geliebten Person gesetzt
(zum mindesten fiihrt es immer wieder die Gedanken zu ihr hin),
zum andem und im speziellen werden die verschiedensten Vor-
kommnisse im Sinne des Wiedergeliebtwerdens aufgefaBt und ver-
arbeitet, woraus die bekannten MiBdeutungen harmlosester Ein-
driicke, die Eigenbeziehungsideen und Erinnerungsfalschungen, die
alle die erwiederte Neigung und die vermeintlichen Bestatigungen
derselben zum Inhalt haben, entstehen.
Eine weitere Gruppe von uberwertigen Vorstellungen ist durch
einen hypochondrischen Inhalt gekennzeichnet. Die einfachsten
Falle, die hart an der Grenze des Normalen liegen, sind die, wo
ein affektvoiles Erlebnis hypochondrischen Charakters eine iiber-
wertige Krankheitsxiberzeugung nach sich zieht. Falle dieser Art
finden sich beispielsweise bei Friedmann 2 ) und Baimist 3 ).
Bei ersterem handelte es sich um einen belasteten, nervos gearteten
Knaben von 13 Jahren, der zur Zeit, wo er sich erneut in einem nervosen
Zustand befand, einem kranklich aussehenden Soldaten begegnete und von
dessen stinkendem Atemhauch getroffen wurde. Er wurde dadurch ver-
stimmt, geriet in Verzweiflung und war fortan von der Ueberzeugung be-
herrscht, dai3 er von jenem angesteckt sei. Er bemuhte sich nun, seine
ganze Lebensweise danach einzurichten, wie er seine Umgebung vor seinem
eigenen Pesthauch schiitzen und so die weitere Ansteckung verhindern
konnte und machte zu diesem Zwecke die unsinnigsten Manover.
Im Raimitfa chen alinlich gearteten Falle hatte ein Mann, der spater
gelegentlich an eigentUmlichen psychogenen Storungen erkrankte, im
Eisenbahnwagen ein fremdes Trinkglas benutzt, das, wie ihm nachher
vorwurfsvoll mitgeteilt wurde, einer Frau gehorte, die eben mit ihrer
x ) Nahe liegt freilich noch eine andere Deutung, wonach der Wunsch
als Vater des Gedankens die Ueberzeugung des Wiedergeliebtwerdens
wachruft und aufrechterhalt. Die eben angedeutete Erfahrung, dafi die
Sicherheit. dieser Ueberzeugung mit der Starke des eigenen Gefuhls zu
wachsen pflegt, lieBe sich allerdings wohl besser mit der oben gekennzeich-
neten Auffassung als mit der, dab hier lediglich eine subjektive Wunsch-
realisierung vorliege, in Einklang bringen.
*) Friedmann , Ueber den Wahn. Wiesbaden 1894.
3 ) Baimist , Hysterie. Berlin 1913.
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schwindsiichtigen Tochter aus der Stadt kam. Im Nu entstand nun bei
ihm die iiberwertige hypocliondrische Idee: ,,Sobald ich das Wort Schwind-
sucht horte, erstarrte in mir alles. Mir schwebte nur der Gedanke vor,
ich habe mich durch dieses Glas mit Schwindsucht angesteckt. Ich wurde
auf einmal verstimmt, den ganzen Weg iiber bis nach Hause fiihlte ich
Schmerzen im ganzen Korper. Zu Hause fuhr ich fort, triibselig zu sein,
ich horte fast auf zu essen und zu trinken. Waa man mit mir auch sprach,
womit ich auch beschaftigt war, im Kopfe war bei mir immer nur der eine
Gedanke: Ich habe die Schwindsucht.“ Er begann nun ununterbrochen
Schmerzen erst in der einen, dann in der anderen Seite zu fiihlen, ging
keiner Beschaftigung mehr nach, magerte ab usw., bis schliefllich durch
arztliche Aufklarung iiber die Natur des Zustandes die iiberwertige hypo-
•chondrische Ueberzeugung allmahlich ihre Kraft und Wirksamkeit verlor.
Angstbetonte Vorstellungen hypochondrischer Farbung im
Anschlufi an solche Vorkommnisse sind an sich durchaus naheliegend
und berechtigt, unberechtigt ist nur die Ueberwertigkeit, die
diesen Befiirchtungen unumstoBlichen Wirklichkeitswert verleiht,
sie zu unanfechtbaren Ueberzeugungen macht.
Interessant ist in beiden Fallen die plotzliche, schnelle, sprung-
hafte Entwicklung des Wahnurteils, das so gleich ganz fertig da-
steht und im zweiten Falle die anschlieBenden korperlichen Be-
schwerden, die als psychogene Erscheinungen schon langst bekannt,
in diesem Falle gewissermaBen als logische Delirien auf korper-
lichem Gebiete aufzufassen sind, die sich folgerichtig aus der iiber-
wertigen hypochondrischen Idee ergeben. Im ubrigen ist hier mit
der hypochondrischen Ueberzeugung die Wahnbildung erschopft.
Der auf die Korpersphare sich beziehende Wahninhalt begiinstigt
ja naturgemaB nicht gerade die Ausbreitung auf andere Vor-
stellungsgebiete. Immerhin konnen weitere Wahnideen sich an
die hypochondrischen anschlieBen, deren Inhalt selbstverst&ndlich
von der Art der Gedankenreihen abhangt, die sich an die iiber-
wertigen Krankheitsyorstellungen ankniipfen. So geben beispiels-
weise die an ein korperliches Trauma sich anschlieBenden iiber-
wertigen hypochondrischen Ueberzeugungen von Krankheit, Un-
heilbarkeit und dauemder Erwerbsunfahigkeit die Grundlage ab,
von der weitere Vorstellungsverfalschungen ausgehen.
[Fall von Pfeiffer 1 )]. Ein crblich nicht belasteter, friiher angeblich
gesunder Mann erlitteinen Unfall, der mit einer sehr erheblichen Emotion ver-
kniipft sein mufite, und als dessenFolgen in den ersten arztlichen Zeugnissen
„Herzklappenfehler“ und ,,Blutandrang zwischen Brust und Lunge 44 betont
wurden. Auf diesem Boden entstand bei ihm die mit angstlich-depressiver
Gefiihlsbetonung verkniipfte iiberwertige Idee, daj3 er infolge des Unfalls
unheilbar krank und dauernd erwerbsunfahig sei. Als dann bei weiterer
Begutachtung doch eine Besserung des Grades seiner Erwerbsunfahigkeit
konstatiert wurde, war ihm das ganz unfai3bar, und er ging nun in der
iiblichen querulatorischen Weise bei den verschiedenen Behorden mit An-
tragen, Berufungen, Eingaben und Klagen wegen seiner Rentensache vor,
aus der Ueberzeugung heraus, da!3 er als unheilbar Erwerbsunfahiger
Vollrente zu beanspruchen habe. Diuchdrungen von der Berechtigung
seiner Anspriiche begab er sich schliefilich in die Klinik, um sich auf eigene
A ) Ueber das Krankheitsbild der zirkumskripten Autopsychose auf
Grund einer iiberwertigen Idee. Monatsschr. f. Xeurol. u. Psychiatrie.
Bd. 18.
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Kosten begutachten zu lassen. Hier fiel — ahnlich und noch in erhohtem
Mai3e wie bei den fruheren, 8 und 10 Jahre zurlickliegenden Begut-
achtungen — auf, daB seine Aufmerksamkeit infolge der vermeintlichen
krankhaften Vorgange an seinem Herzen g&nzlich auf die Vorgange in
seinem eigenen Korper gerichtet und durch die seinen Unfall und seine
Rentenangelegenheit betreffenden iiberwertigen Vorstellungen ganz in
Anspruch genommen war. AuBerdem auBerte er Beziehungswahnideen,
vermoge deren ihm der ihm an sich unfaBbare, weil mit seiner eigenen
iiberwertigen Ueberzeugung unvereinbare Standpunkt der Begutachter,
daB ihm keine Vollrente zustfinde, verstandlich wurde. Er erklarte durch
die Machenschaften des Vertrauensarztes der Berufsgenossenschaft, so wie
des Polizeikommissars und zweier Brief trager, die von ersterem beeinfluBt
seien, w r aren den begutachtenden Aerzten die Akten falsch zugestellt oder
die Seiten, deren Inhalt seiner' Sache giinstig war, aus den Akten heraus-
gerissen worden. AuBer diesen Erklarungswahnideen traten auch noch
Erinnerungstauschungen zutage, die zugunsten seiner Auffassung sprachen.
So berief er sich zur Begr(inching seiner Rechtsanspriiche immer wieder
auf die angeblichen AeuBerungen zweier Professoren, von denen der eine
ihm — was im Widerspruch mit dem Akteninhalt steht — Vollrente zuge-
billigt habe, der andere ihm erklart habe, die Akten seien ihm falsch zuge¬
stellt. — Die Urteilsfahigkeit des Patienten war, sobald es sich nicht um
seine Rentensache handelte, eine gute.
Die symptomatologischen Einzelheiten des Falles: die durch
die iiberwertige hypochondrische Idee bedingte Unfahigkeit, die
tatsachliche korperliche Besserung zu fassen, die Erinnerungs-
falschungen im Sinne der herrschenden Vorstellungen und die aus
dem Widerspruch zwischen eigener Ueberzeugung und fremder
Stellungnahme sich ergebenden Erklarungswahnideen bediirfen
keiner weiteren Erorterung, sie halten sich durchaus im Rahmen
der iiblichen Ueberwerfcigkeitsfolgen. Von allgemeiner Bedeutung
ist, daB hier unter dem EinfluB der Unfallversicherungsgesetz-
gebung sich an die iiberwertige Ueberzeugung von unheilbarer
Krankheit und Erwerbsunfahigkeit unmittelbar die iiberwertige
Rentenanrechts-Ueberzeugung anschlieBt, die von sich aus wieder
zu den rechtlichen Beeintrachtigungsvorstellungen und dem queru-
latorischen Verhalten fiihrt. Der Fall ist charakteristisch fiir den
Querulantenivahn des Unfallneurotikers aus uberwertiger Idee .
Diese Ueberwertigkeit und Wahnrichtung querulatorischen
Inhalts ist naturgemaB infolge der Haufigkeit von Betriebsunfallen
die haufigste und charakteristischste Folge hypochondrischer iiber-
wertiger Ideen im AnschluB an ein korperliches Trauma. Liegt
eine andersartige Gedankenrichtung naher, so konnen sich
natiirlich auch ganz andere iiberwertige und Wahnvorstellungen
daraus ergeben. So kam es in einem Falle von Friedmann 1 )
unter dem aufregenden Eindruck eines operativen Traumas,
der Kastration, bei einer hysterischen etwas beschrankten Frau
zur iiberwertigen Idee ihrer Unfruchtbarkeit, also eines person-
lichen Makels und im AnschluB daran zu Eigenbeziehungs- und
Verachtungswahnideen. Die naheliegende Befiirchtung, dadurch
der Liebe des Gatten verlustig zu gehen, wurde unter dem EinfluB
der dominierenden Idee zur Ueberzeugung, daB dieser von ihr
x ) Monatsschr. f. Psych. Bd. 17.
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Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit
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nichts mehr wissen wolle, ebenso wie die das BewuBtsein be-
herrschende Vorstellung korperlicher Minderwerfcigkeit sie auf den
Gedanken brachte, die Dienstboten verspotteten sie wegen ihrer
Kinderlosigkeit.
Besonders bezeichnend fur die eigenartige Richtung, welche
die iiberwertigen und Wahnideen im AnschluB an ein korperliches
Trauma nehmen konnen, ist ein kiirzlich von Grimme — leider nur
ganz kurz — veroffentlichter Fall 1 ).
Der Patient erlitt mit 19 Jahren eine anscheinend nicht sehr erheb-
liche Verletzung der auBeren Geschlechtsteile. Diese erwekte allerlei Be-
furchtungen und die Neigung zu hypochondrischer Selbstbeobachtung. Uliter
den Befiirehtungen spielte der Gedanke, bei dem Unfall eine unheilbare,
die Ausiibung des Geschlechtsverkehrs hindernde Erkrankung seines Ge-
schlechtsorgans erworben zu haben, eine groBe Rolle. Im Laufe der nachsten
Jahre traten die Besorgnisse wieder zuriick, wurden aber wieder rege, als
Patient 10 Jahre spater heiratete. Auf ihrer Grundlage entwickelte sich
sofort ein Eifersuehtswahn, als er am Tage nach der Hochzeit seine Frau
vom Hofe eines Nachbarn kommen sah, mit dem sie zusammen groB ge-
worden war. Die vorhandenen Befiirehtungen verdichteten sich jetzt zu
Erklarungswahnideen. Waiter traten Beziehungsvorstellungen auf, die sich
aber in engen Grenzen hielten und nur unter dem Einflusse des Neben-
buhlers in Erscheinung traten. Zu einer Ausdehnung des Eifersuclitswahns
auf andere Personen und andere Beeintrachtigungsideen kam es nicht.
Nur in spateren Jahren kam es auf Grund einer korperlichen Erkrankung
seiner Frau noch einmal zu einer neuen Erklarungswahnidee. Im iibrigen
blieb der eng umschriebene Symptomenkomplex bei unverandertem Affekt
iiber 30 Jahre bestehen. Eine Beeintrachtigung der Personlichkeit trat
dabei nicht ein.
Die eigentiimliche Richtung, welche hier die Wahnbildung
im AnschluB an die iiberwertige hypochondrische Idee nimmt, ist
natiirlich durch die Besonderheit des auslosenden korperlichen
Traumas gegeben, das im Bereich der Sexualsphare wirksam war
und naturgemaB die Gredanken leicht auf dieses Gebiet hinlenken
muBte. Interessant ist, dafi die hypochondrische Ueberwertigkeit,
die im Laufe der Jahre bereits zuriickgetreten war, nach zehn
Jahren emeut dominierend wurde, als Patient in eine Lebenslage
kam, in der sie neue Bedeutung und neuen Gefiihlswert gewinnen
muBte (Verehelichung). Unter ihrem EinfluB tritt dann auf ein
ziemlich belangloses Vorkommnis hin eine weitere iiberwertige
Idee sexuellen Inhalts auf, eine Eifermchtsidee. Sie ist nach dem
schon geniigend hervorgehobenen Modus entstanden, daB die
Person, auf die iiberwertige sexuell-hypochondrische Vorstellung
eingestellt, nun ohne weiteres den neuen Eindruck mit diesem vor-
herrschenden BewuBtseinsinhalt in Beziehung bringt. JJaraus er-
klart sich auch das plotzliche unvermittelte Auftreten der gleich
fertigen, also nicht erst durch langes reifliches Ueberlegen ent-
wirckelten Eifersuchtswahnidee. Diese beschrankt sich inhaltlich
auf die eine bestimmte Person, auf die sie durch den erregenden
Vorfall hingelenkt worden war, und blieb nun so fixiert und im
wesentlichen zirkumskript ein ganzes Menschenalter hindurch.
Allgem. Ztschr. f. Psychiatrie. Bd. 71. S. 781.
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Womit diese immerhin nicht ganz alltagliche Verlaufsart in Ver-
bindung zu bringen ist, warden wir spater noch untersuchen miissen.
Mit diesem Fall ist nun eine weiter wichtige Form iiberwertiger
Ideen herangezogen, di eEifersuchtsideen. Gerade diese iiberwertigen
Vorstellungen verdienen hier eine ganz besondere Hervorhebung,
denn sie neigen in besonderem MaBe zu sekundarer Wahnbildung,
indem sie durch ihr assoziatives Uebergewicht alle moglichen Binge
in Beziehung zu der dominierenden Vorstellung der Untreue bringen.
Welche ganz unvermittelten, unlogischen, ja unsinnigen Zusammen-
hangskonstruktionen dadurch zustande kommen konnen, zeigt ein
Friedmann scher Fall 1 ). Hier war es einer 40 jahrigen Frau von er-
regtem Charakter passiert, daB an ihren Mann durch Namens-
verwechslung der Brief einer zweideutigen Bame kam, der zur Fort-
setzung eines Liebesverhaltnisses aufforderte. Bariiber wurde sie
zunachst nur zweifelhaft und verstimmt, als aber nach % Jahren
eine Partei ins Haus zog, die ein uneheliches Kind zur Pflege hatte
und in der angeblich ein leichtfertiges Frauenzimmer verkehrte,
da kam ihr der Verdacht, daB ihr Mann der Vater des unehelichen
Kindes sei und daB ihr dies verheimlicht bleiben solle. Zugleich
glaubte sie aus anziiglichen Sticheleien jener Leute herauszuhoren,
was ihren Verdacht best&tigte.
Mit den bisher gekennzeichneten Formen: Erfindungs-,
querulatorische, hypochondrische, erotische und Eifersuchtsideen,
diirften die praktisch wesentlichsten Vertreter der iiberwertigen
Vorstellungen erschopft sein, soweit eine Zusammenstellung nach
auBerlichen Eigentiimlichkeiten, nach dem bloBen Inhalt, in Frage
kommt. Nur auf zwei weitere Erscheinungsformen mochte ich
wenigstens noch lcurz hinweisen, weil sie in halbwegs typischer Form
sich immer wieder vorfinden. Es handelt sich dabei einmal um die
iiberwertige Betonung eigener Verschuldung, die in ungemein cha-
rakteristischer Weise Eigenbeziehungs-, Beachtungs- und MiB-
achtungswahnideen nach sich zu ziehen pflegt, auf der anderen um
die iiberwertige Heraushebung fremder Verursachung und Schuld
an dem affektbetonten Vorfall, was dazu fiihrt, diesen fremden
Urheber auch mit allerhand anderen Vorkommnissen in Beziehung
zu bringen und diese auf ihn zuriickzufiihren.
Die Tendenz zu dieser Art Gedankenrichtung mit ihren cha-
rakteristischen iiberwertigen und Wahnideen ist aus gewissen
psychologischen Neigungen leicht verstandlich: Das natiirliche
Bediirfnis, sich mit dem affektvollen Erlebnis zu besch&ftigen, lenkt
die Gedanken mit Vorliebe nach zwei Richtungen hin, einmal nach
dessenUrsachen, und zum andern nach dessen Folgen und Wirkungen
zu fragen (wobei naturgemaB entsprechend der besonderen prak-
tischen Bedeutung speziell die Beteiligung der Mitmenschen daran
interessiert).
Der folgende Fall gibt die aus iiberwertiger Betonung fremder
*) a. a. O.
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Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit
Verursachung sich ergebenden Wahnbildungen — freilich nicht
grade in der cbarakteristischsten Auspragung — wieder.
(Eigener Fall.) O perns anger, ein ansgesprochen nervoser, hypochondri-
scher und psychopathisch-exzentrischer Mensch, hatte aus einem ziemlich
belanglosen Grunde seine Stellung an einer hervorragenden Biihne, die er
einige Jahre inne gehabt hatte, gekiindigt erhalten. Dies traf ihn besonders
schwer, einmal, weil die Stellung recht ehrenvoll und er sich keiner Pflicht-
verletzung bewufit war, sodann weil er seine Existenz dadurch bedroht
und seine von ihm zartlich geliebte und materiell unterstiitzte Mutter ge-
fahrdet sah. Er empfand dieses Vorkommnis als ein schweres ihm zuge-
fiigtes Unrecht, dessen Aufhebung er erst auf gutlichem Wege und dann durch
Drohungen mit gewissen, ordinarem Klatsch entnommenen Enthiillungen
iiber angebliche sexuell-perverse Betatigungen des friiheren Chefs zu er-
reichen suchte, mit dem naheliegenden Ergebnis einer gerichtlichen Anklage
gegen ihn. Er suchte nun nach der Ursache fiir die ungerechtfertigte Enfc-
Jassung und legte sich diese im Hinblick auf die von ihm aufgegriffene
Klatschgeschichte so zurecht, dafi man an seine Stelle einen sexuell Per-
versen bringen wolle. Dies wurde nun fiir ihn der beherrschende Gesichts-
punkt. Er entdeckte jetzt unter erneuter Heranziehung von allerlei Klatsch
alles mogliche perverse Treiben bei seinen bisherigen Kollegen, sah gleich-
zeitig allerhand gegen ihn gerichtete Intriguen der bisherigen Berufs-
genossen, wo in Wirklichkeit nichts vorlag und diese gar nichts gegen ihn
batten, und glaubte endlich ein ganzes Komplott. gegen sich gerichtet, das
er nun durch riicksichtslose Bekampfung aller Homosexuellen und speziell
der Kollegen zu vernichten suchte. Der Kampf gegen diese Homosexuellen
wird schliefilich zum Leitmotiv fiir sein Handeln, er will ihn direkt zu
seinem Beruf machen und sich der Polizei fiir diesen Zweck zur Verfiigung
stellen. Erst nach Einstellung des Verfahrens und unter dem Einflusse der
Irrenanstaltsinternierung kam er zu einer gewissen Beruhigung und Selbst-
besinnung.
Charakteristischer als dieser sind die gleichfalls hierherge-
horigen Falle, die wieder an den Querulantenwahn aus iiberwertiger
Idee erinnem, wo etwa die Ueberzeugung, daB eine bestimmte
Person die Schuld an einem niederdriickenden Erlebnis tragt, iiber-
wertig und ihr nun auch die Schuld an alien weiteren unlieb-
samen Vorkommnissen in den Schuh geschoben wird. Wernicke 1 )
hat den Fall einer 63 jahrigen Erzieherin beschrieben, fiir die ein
tatsaehliches schuldhaftes Verhalten einer fremden Person, die
demiitigende Behandlung von seiten eines mit der Auszahlung von
Armenunterstiitzungen betrauten Beamten, zum AnlaB wurde,
daB sie von dem Zeitpunkt an alle moglichen personlichen Kran-
kungen, amtliche Vorladungen, polizeilichen Exmittierungen, Ab-
holung durch Schutzleute usw. auf dessen Urheberschaft zuriick-
fiihrte.
Die iiberwertigen Vorstettungen eigener Verschuldung konnen
entsprechend der groBenBedeutung, diegerade Schuldvorstellungen
im Seelenleben des Kulturmenschen haben, eine groBere Wichtig-
keit beanspruchen. Bei ihnen beziehen sich die sekundaren Wahn-
gebilde wie naheliegend vor allem auf den Eindruck, die Wirkungen,
welche die eigenen Verfehlungen auf andere ausiiben.
(Fall von Friedmann.) 40 jahrige ledige Musiklehrerin aus belasteter
Famili© und von Charakter exalt iert und eigenartig verschlossen, hatte
x ) Krankenvorstellungen. Breslau 1899/1900.
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sich in den letzten Jahren liberanstrengt und zur Erholung einen Luft-
kurort aufgesucht. Hier hatte sie eines Abends von einem Pensionsgenossen
zu ihrem Schutze die Begleitung nach Hause erbeten, und da sie sich
fiirchtete, ihn vor dem Hause an der Hand festgehalten, damit er sie noch
ein Stuck in den dunklen Hausflur weiterbegleitete. Ueber dieses nicht
ganz korrekte Verhalten hat sich nun niemand, auch der betreffende Herr
nicht, aufgehalten, nur sie selbst empfand einige Besorgnissc. Nach Hause
zuriickgekehrt, nahmen ihre Skrupeln standig zu, und nachtraglieh er-
kannte sie jetzt auch, dafi man sich in den nachsten Tagen doch fast all-
seitig in der Pension von ihr zuriickgezogen hatte. Als nun aber im folgenden
Herbst der betreffende Herr ihr ein Korbchen Trauben zum Geschenk
sandte, war sie jetzt iiberzeugt, da£ sie jener flir unmoralisch hielt und
schickte ihm sofort das Geschenk zur tick. Der Zufall wollte es, dafi sie
in der nachsten Zeit- den Herrn in Gemeinschaft mit anderen traf, und
nim meinte sie wahrzunehmen, dafi der eine sie scharf fixierte und dabei
tiufierte: ,,ALso die Hefe lief ere ich nicht. “ Dies hielt sie fiir eine Anspielung
oder Ulkerei gegen sie. Allmahlich hauften sich die Wahrnehmungen dieser
Art, wenn sie auch niemaLs besonders zahlreich wurden. Zunachst be-
gegneten ihr an einer bestimmten Stelle bestimmte ihr bekannte Herren
viel haufiger als friiher: das waren zweifellos Aufpasser. Weiterhin fiel
ihr auf, daJ3 junge Leute sie frech anschauten und auf der Strafie gerade
vor ihr abbogen. Vor allem aber konnte sie ab und zu direkt auf sie beziig-
liche Spottreden von Passanten auffangen, z. B. „schlechte Person* 4 , „bigotte
Person* 4 oder „also ich komme dahin 44 (eine deutliche Anspielung auf ein
Rendezvous), ja sogar einmal seitens eines bekannten Herrn „also ich gehe
nach X 44 (dem Wohnort des Betreffenden). Wohlbekannte Personen ver-
mieden es, sie zu grufien, in der StraJ3enbahn kam es vor, dafi man mit
Fingern auf sie zeigte (Dinge, die sie in Wirklichkeit gar nicht so erkennen
konnte, da sie stark kurzsichtig ist und mit niedergeschlagenen Augen
iiber die Strafie geht). All diese sie stark erregenden Beobachtungen machte
sie iibrigens nur auf der Strafie, sonst nicht.
Ueber die Saehlage war sie sich innerlich klar: Jener Herr, ein „un-
feiner Kerl 44 oder „Bauer“, wie er war, hatte sich seiner Erfolge bei ihr
geriihmt, und da er viele Bekannte besafi, wufiten viele darum, und die
Sache war zum Stadtgesprach geworden. Jede einzelne ihrer Wahr¬
nehmungen war ihr ein neuer Beweis dafiir und fiir sie unumstofilich. Ja
als der Herr selbst auf einen Brief hin sie aufsuchte imd sie freundlichst
in jeder Hinsicht beruhigte, sah sie in seinem Verhalten nur die Bestatigung
ihrer Annahme: Er habe immerfort verlegen gelachelt und ihr dadurch
die Gewifiheit gegeben, dafi er die Schwatzerei gegen ihren guten Ruf
angestiftet habe.
Nach ungefahr 2 \U jalirigem Gesamtverlauf ist der Beachtungswahn
schlie£lich langsam zuriickgetreten, ohne da£ eine wirkliche Einsicht in
seine Krankhaftigkeit erreicht wurde.
Aus der Ueberwertigkeit von den Schuldvorstellungen ergibt
sich hier ohne weiteres auf dem genugsam betonten Wege der
Exoprojektion eigener selbstqualerischer Gtedanken, der Eigen-
beziehung im Sinne naheliegender daran geknupfter Befurch-
tungen und der Erklarungswahnideen ein Beobachtungs- und
Verachtungswahn, dessen die normale Breite noch nicht tiber-
schreitende Analogie wir bereits friiher in dem Eigenbeziehungs-
wahn des von uberwertigem SchuldbevmBtsein beherrschten
Onanisten gefunden haben.
Aehnlich wie der Gedanke an eine personliche Verfehlung
kann natiirlich auch jede andere das SelbstbewuBtsein stark herab-
mindemde dominierende Vorstellung wirken. Es sei an den friiher
erwahnten Fall von sekundarem MiBachtungswahn erinnert, der
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Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit
in ahnlicher Weise dadurch zu stand© gekommen war, daB durch
©ine Kastration die Idee einer personlichen Minderwertigkeit
wachgerufen und iiberwertig geworden war.
Wie nachhaltig iibrigens gerade das iiberwertig© SchuldbewuBt-
sein zu wirken vermag, zeigt ein anderer, von Wernicke beobach-
teter Fall, wo ein 70jahriger Mann noch ziemlich ein Jahrzehnt
nach dem affektvollen Erlebnis unter dem EinfluB der Erinnerung
daran einem solchen Beachtungs- und Verachtungswahn verfiel.
Erst 9 Jahre nach der von ihm selbst als makelhaft empfundenen
Handlungsweise — Im-Stich-lassen eines Madchens, dem er friiher
einen Antrag gemacht, als er ihre miBlichen Vermogensverhaltnisse
erfuhr — war es hier zu Eigenbeziehungs- und MiBachtungswahn-
vorstellungen gekommen, als der Kranke zuf&llig den ihm nur
dem Namen nach bekannten Bruder eines Herm traf, der seinerzeit
ebenso wie er selbst in dem Lokal des Vaters der Verschmahten
verkehrt hatte: Er glaubte nun, AeuBerungen iiber sein ehrloses
Verhalten zu horen, denen bald auch weitere Bel&stigungen von
seiten dieses Herm, spater auch von seiten anderer von jenem
vermeintlich aufgeklarter Personen nachfolgten usw.
Ob iibrigens in diesem Falle jene die Schuldgedanken wieder
wachrufende zufallige Begegnung allein zur Erklarung der so spat
und ganz unvermittelt und impulsiv aufgetretenen Wahnbildung
ausreicht, muB dahingestellt bleiben. Da ahnliche auflere Voraus-
setzungen doch gewiB wohl auch vorher schon einmal gegeben
waren, ohne daB es zu solchen paranoischen Erscheinungen kam,
wird man hier wohl noch andere wirksame Hilfskrafte inneren
Ursprungs (zunehmendes Alter?) mit heranziehen miissen.
Soviel zur Kennzeichnung der klinischen Falle. Was sonst
noch iiber ihre klinischen Eigenheiten, speziell im Hinblick auf die
Wahnbildungen, iiber die Bedingungen fur ihr Auftreten, iiber ihre
symptomatologische Ausgestaltung, ihren Verlauf und schlieB-
lich und vor allem iiber ihre klinische Stellung zu sagen ist, soil
nunmehr im Zusammenhang angefiihrt werden.
Ueberwertige Idee und Wahnidee.
Schon die oberflachliche Betrachtung lafit erkennen, daB
man bei den mit der pathologischen Ueberwertigkeit in Zusammen¬
hang stehenden Wahnbildungen zweierlei zu unterscheiden hat:
Einmal die Wahngebilde, die mit den iiberwertigen Ideen selbst
gegeben, mit ihnen identisch sind, d. h. also die iiberwertigen Vor -
siellungen von wahnhaftem InhaU, zum andem aber die an die
iiberwertigen Vorstellungen sich anschlieBenden, aus ihnen hervor-
gehenden, sekundaren Wahngebilde. Diese beiden Wahnformen
sind naturgemaB entsprechend ihrem verschiedenen Charakter
auch in ihrem Verhaltnis zur Ueberwertigkeit verschieden zu
beurteilen.
DaB die iiberwertigen Vorstellungen nicht in jedem Falle inhalt-
lich einen ivahnhaften Charakter zu tragen brauchen, wurde schon
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und Wahnbildung.
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friiher betont, und es geniigt, hierdaran zu erinnem, daBgerade
bloBe Erinner ungen an affektvolle Erlebnisse, wie sie Wernicke
als typische Vertreter der iiberwertigen Ideen hingestellt hat,
oft genug nur die Tatsachen, also die objektive Wirklichkeit,
wiedergeben, und daB selbst in den Fallen, wo das Bestehen von
primaren Wahngebilden beinahe als das Selbst verst&ndliche gilt,
bei den querulatorischen Ueberwertigkeiten eine wirklich erlittene
rechtliche Benachteiligung den Inhalt der iiberwertigen Vor-
stellungen ausmachen kann.
Immerhin ist nicht zu verkennen, daB die iiberwertigen Ideen
doch mit Vorliebe emeu wahnhaften Inhalt haben.
Die Vrsachen sind verschiedener Art. Zunachst und vor allem
liegt es daran, daB der pathologische Affekt, der zur Entstehung
der Ueberwertigkeit von Vorstellungen fiihrt, zugleich auch seinen
bekannten verfalschenden EinfluB auf den Inhalt dieser Vor-
stellungen ausiibt. So findet man denn besonders oft iibertriebene,
einseitige und schiefe Urteile von Ueberwertigkeitscharakter vor,
zu denen eben die die iiberwertigen Ideen hervorrufenden seelischen
Erregungen geniigend AnlaB geben. Des weiteren bedingen gefiihls-
betonte Erwartungen der verschiedensten Art, sowohl lustbetonte
(Hoffnungen) wie unlustbetonte (Befiirchtungen), wie sie gleich-
falls sich leicht nach affektvollen Erlebnissen einstellen und zu
iiberwertigen Ueberzeugungen werden, vielfach den wahnhaften
Inhalt dieser Vorstellungen. Und endlich neigen die psycho-
pathischen Charaktere, die — wie noch zu zeigen sein wird — ganz
besonders zu Ueberwertigkeiten tendieren, zugleich aus lhrer
pathologischen Eigenart heraus auch zu abnormer Verarbeitung
der Vorstellungen im Sinne wahnhafter Verfalschung.
Trotz alledem bleibt doch bestehen, daB man iiberwertige
Idee und Wahnidee nicht ohne weiteres identifizieren darf,
wie es gelegentlich immer wieder einmal geschieht, und wie es
wohl auch Wernicke getan hat, als er seine iiberwertigen Ideen
als fixe Ideen veroffentlichte.
Die gemeinsamen Seiten, die Beriihrungapunkte dieser beiden
Gebilde sind, soweit sie im Einzelfalle vorliegen, auf formalem
Gebiete zu suchen: Starkste logische Geltungskraft, Tendenz als
unerschiitterliches Fundament fur jede weitere Erfahrung, als
inhalt- und richtunggebende Leitvorstellung fur alle weiteren
Assoziationen zu wirken, und Auffassungs-, Erinnerungs-, Urteils-
falschungen, falsche Beziehungskonstruktionen usw. im Sinne
ihres Inhalts herbeizufiihren, sind Erscheinungen, die beiden ge-
meinsam sein konnen. Fiir die iiberwertigen Ideen sind sie
charakteristisch, sie gehoren zu ihrem Wesen, im Gebiete der
Wahnbildungen finden sie sich speziell bei den aktiven Wahn-
ideen mit ausgesprochen wahnbildender Kraft. Sie konnen aber
sehr wohl fehlen, ohne daB damit der Wahncharakter behoben
ist. Umgekehrt ist der pathologisch gefalschte Inhalt, der zu
den unentbehrlichen Kennzeichen des Wahns gehort, nur vielfach
bei den iiberwertigen Ideen vorhanden, er kann ihnen jedoch auch
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Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit etc.
abgehen, ohne daB dadurch der Ueberwertigkeitscharakter auch
nur im mindesten beeintrachtigt wird.
Also: iiberwertige Idee ohne wahnhaften InhaU und Wahnidee
ohne Ueberwertigkeitscharakter , diese vorkommenden Moglichkeiten
zeigen an, wie weit diese beiden pathologischen Erscheinungen
sich trotz aller Beriihrungen voneinander entfemen konnen.
Was nun die sekundaren , erst aus den iiberwertigen Vor-
stellungen sich ergebenden und sich an sie anschlieBenden Wahn-
gebilde angeht, so kann man ihnen iiberhaupt keine weitgehende
Sonderstellung einraumen. Sie stellen Erscheinungen dar, die in
das allgemeine Gebiet, nicht in eine bestimmte Spezialsphare der
Wahnbildung fallen. Beziehungswahnvorstellungen jeghcher Art
trifft man aflenthalben an, wo nur immer die eigene Person oder
ein an sie gebundener Inhalt sich besonders im BewuBtsein heraus-
heben, und die anderen sekundaren Wahngebilde (logische De-
lirien, Erklarungswahnideen usw.) sind sowohl ihren Ursachen
wie ihrer Entstehungsart nach bis zu einem gewissen Grade als
normalpsychologische Erscheinungen zu bewerten. Ihrem Auf-
treten liegen durchaus natiirliche psychologische Triebkrafte,
Bediirfnisse und Notwendigkeiten zugrunde: Beim logischen
Delirium das innere Bestreben, eine fundamental, unumstoBliche
subjektive Wahrheit entsprechend ihrer Bedeutung im Gebiete
derErfahrungen zu verwerten, bei denErkliirungs- und dergleichen
Wahnideen die Tendenz, unverstandliche oder einander resp. den
sonstigen Erfahrungen widersprechende Erfahrungen auszugleichen
und den gesamten Gedankeninhalt und Erfahrungsbesitz einheit-
lich zu gestalten. Ebenso sind auch die seelischen Vorgange, die
diesem Zwecke dienen, rein normalpsychologischer Natur, und sie
entgleisen nur deshalb ins Pathologische, fiihren nur deshalb zu
wahnhaften Ergebnissen, weil ihre Ausgangskomponente, eben der
iiberwertige Vorstellungskomplex, nicht normal und richtig ist.
Voraussetzung fiir solche an sich folgerichtig gebildete, oft
systematisch entwickelte, wenn auch, weil von den unrichtigen
Voraussetzungen des iiberwertigen Komplexes ausgehend, inhalt-
lich falsche Gedankengebilde: logische Delirien, Erklarungswahn-
bildungen usw., ist nun immerhin eine halbwegs unversehrte Be-
schaffenheit des sonstigen Geisteslebens oder wenigstens der
intellektuellen Punktionen, und unter diesem Gesichtspunkt diirfte
die Wernicke sche Behauptung: „daB in diesem Sinne (sc. des
logischen Deliriums usw.) die Geistesstorung nicht partiell bleibt,
sondem sich verallgemeinert, ist nur ein Beweis mehr fiir die
Intaktheit des iibrigen geistigen Geschehens und den zirkum-
skripten Charakter der zugrundehegenden Punktionsst6rung“,
diirfte, meine ich, diese Feststellung wenigstens nicht so jeder
Beweiskraft entbehren, wie es nach Hitzigs ablehnender AeuBe-
rung 1 ) erscheinen konnte. (SchluB im nachsten Heft.)
x ) Querulantenwahnsinn. S. 63.
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Alls der I. chirurgischen Klinik [Vorstand: Hofrat Prof. Dr. A. Freiherr
von Eiselsberg .].)
Beitrage zur Frage der kortikalen Sensibilit&tsstbrungen 1 ).
Von
OTTO MARBURG
in Wien.
(Hierzu 1 Abbildung im Text.)
Bereits im Jahre 1882 hat Edinger 2 ) zeigen konnen, daB eine
Beziehung der hinteren Zentralwindu ng zu Vcrderarm und Hand
besteht. Bei einem angeborenen I efekt dieser Teile findet sich eine
schwere Schadigung der hinteren, eine leichtere der vcrderen
Zentralwindung. Aber auch heute ist man sich, trotz vieler darauf
gerichteter Untersuchungen, ncch nicht vcllstandig im klaren fiber
den Charakter dieser Benehungen. Vielleicht wird den genannten
Verhaltnissen am besten die Larstellung vcn v. Monakow gerecht,
die ungefahr alles bisher Eekannte fiber die Frage der Sensibilitat
zusammenfaBt. Nach v. Monakow 3 4 ) dient sowohl die vordere, als
auch die hintere Zentralwindung, sowie der Gyrus supramarginalis
der Sensibilitat. 1 ie vordere Zentralwindung jedcch nur der unbe-
wuBten tiefenSensibilitat, sowie SchmerzundTemperatur; die hintere
Zentralwindung in erster Linie der bewuBten Sensibilitat, dem
Tastsinne, der Gyrus supramarginalis vielleicht dem Muskelsinne,
beide natfirlich bewuBt. Er schlieBt sich den Meinungen der ver-
schiedenen Autcren an, daB es hauptsachlich die Endabschnitte der
Extremitaten sind, die bei kortikalen Lasionen Geftihlsstorungen
zeigen.
Was nun die feinere Lokalisation dieser Geffihlsstorungen am
Korper anlangt, so liegen die hypasthetischen Zcnen, wie
v. Monakow ausfiihrt, zum Teil senkrecht zur Verteilung der spinalen
Segments. Nun sind aber in den letzten Jahren eine ganze Reihe
von Fallen bekannt geworden, bei welchen die Verteilung der
Sensibilitatsstorungen bei kortikalen Herden vielfach spinal-seg-
mentaren Charakter zeigte. Ohne auf die bereits s iemlich betracht-
liche Literatur nfiher eingehen zu wo lien [siehe letzterebei Muskens*)]
will mir scheinen, daB der Begriff spinal-segmentare Storung hier
1 ) Dies© Arbeit war fur die ^dtngrcr-Festschrift bestimrat, die infolge
der Kjiegsereignisse nicht erscheinen kann.
2 ) Virchows Arch. 1882. LXXXIX. S. 59.
3 ) Die Lokalisation im GroOhirn. Wiesbaden 1914. Bergmann.
4 ) Nenrolog. Zbl. 1912. No. 15
Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neumlogie. Bn. XXXVII. Heft 2. 6
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Marburg, Beitrage zur Frage
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wohl nur annahernd zu gebrauchen ist. Es handelt sich zumeist um
eigenartige flachenformige Verteilung der Sensibiltiatsstorung, ohn©
daB mehr als eine Aehnlichkeit mit spinalen Segmenten hervortritt.
Das gilt in erster Linie fur die Storungen der Sensibilitat derH ande,
bei welchen merkwiirdigerweise ulnare oder radiale Gebiete isoliert
getroffen sein konnen. Versucht man eine Reihe solcher Falle
nebeneinanderzustellen, so findet man, daB bei der Affekticn der
radialen Seite die Sensibilitat des Daumens und Zeigefingers und
zumeist auch jene des Mittelfingers gelitten hat, wahrend bei
Affektion der ulnaren Seite die zwei letzten Finger und gelegentlich
auch der Mittelfinger getroffen ist. Gute Beispiele liefern dafiir
u. a. Falle von Bonhoefjer 1 ) (Fall I, IV), Mu&kens (Fall II, III), eine
sehr charakteristische Beobachtung von Dijerine und Pelletier 2 ),
sowie eine von Andrt-Thomas und Begnard*). * » fogg
Ich kann diesen erwahnten Fallen, denen sich sicherlich noch
andere in der Literatur an die Seite stellen lassen werden,
drei eigene Beobachtungen anfiigen. Alle drei betreffen SchuB-
verletzungen des Gehims. Zwei davon sind Tangentialschiisse,
einer ein SteckschuB. Alle drei wurden operiert und hatten den
vollstandig gleichen Befund einer ziemlich umschriebenen Lasion
des Cortex mit gleichzeitiger leichter Abszedierung der oberflach-
lichen Partien. Alle drei sind seit langem ausgeheilt und zeigen die
gleich zu beschreibenden Residualsymptome.
Fig. 1. Grenzen der Sensi-
bilitatsstorung der Hand.
Fall I. G. St. wurde cun 10. IX. bei Ra-
waruska durch einen SchrapnellstreifschuC
verletzt. Keine BewuBtlosigkeit, kein Er-
brechen. Er konnte sich zu FuB zum Hilfs-
platze begeben, und nach einem kurzen Auf-
enthalt in einem Etappenspital kam der Pa¬
tient am 21. IX. nach Wien. Hier zeigte sich
ein kleiner vertikaler Substanzverlust links
am Scheitelbein, dessen genaue Lage ober-
fl&chlich nach der Kronleinschen Konstruktion
mit der oberen Spitze die Rolandoache, mit
der unteren die Sylvisehe Furche trifft, so daB
etwa das mittlere Drittel der erstgenannten
Fvirche erreicht ist.
Es zeigt sich ein geringer Grad sensori-
sche Aphasie, leichte Schwftche der r. oberen
Extremitat, deren Reflexe entschieden ge-
steigert sind, und schlieBlich eine sensible
Stonmg. Diese betrifft die Radialseite der
rechten Hand und gilt fiir alle Qualitaten inkl.
die Stereognose. Am 24. IX. wurde der Patient
von Hofrat von Eiselsberg debridiert, kleinste
Knochensplitter aus der Hirnrinde entfemt,
der um diese befindliche kleine AbszeB curet-
tiert. Reaktionslose Heilung nach Mitte Ok-
tober.
Bonhoeffer , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. 1904. Bd. XXVI. S. 57.
2 ) Dejirine-Pelletier, Revue neurol. 1912. XXIII. S. 728.
3 ) Andre-Thomas (Regnard), Ibid. S. 729.
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der kortikalen Sensibilit&tsstbru ngen.
83
W&hrend die leichten Motilit&tsstdrungen, gleich wie die Stoning der
Sprache, gleich nach der Operation zu schwinden begannen und heute als
nahezu geschwnmden zu bezeichnen aind, blieb die Sensibilit&tsstorung in
ihrer urspriinglichen Ausdehnung bestehen. Betroffen sind der Daumen,
der Zeigefinger, der Mittelfinger sowohl volar ala dorsal, daa ganze Gebiet des
Thenar und der Handflache zwischen den Fingem und dem Daumen (Fig. 1).
Es besteht hier eine komplette Anasthesie fur alle Gefiihlsqualitaten inkl.
Schmerz und Temperatur. Deagleichen ist die Vibrationsempfindung voll-
standig erloschen. Das Lagegefiihl und der stereognostische Sinn fehlen
ganz. Dafl bei der schweren allgemeinen Stoning der Sensibilitat ein Lokali-
sieren von Gefiihlseindriicken unmoglich ist, liegt auf der Hand. Dabei ist
die Motilitat der Finger vollst&ndig frei und erfolgt in vollem Umfange; nur
erscheinen die Bewegungen kraftlos, was wiederum nur fiir die Finger gilt.
Es besteht keine Ataxie.
Fall II. F. G. erlitt bereits am 26. VIII. nahe Lublin einen Tangential-
schuB links. Gleich danach schlechtes Sprechen und Schwache der ganzen
rechten Korperhalfte. Der Kranke kam am 17. IX. in unsere Behandlung.
Es fand sich links liber dem Scheitelbein etwa, 6 cm von einander entfemt ein
reaktionsloser Ein- und AusschuB. Der Kranke bot eine nahezu komplette
sensorische Aphasie und hatte eine Sensibilitatsstorung, die allerdings die
ganze rechte obere Extremit&t betraf im Sinne einer leichten Hypalgesie.
Es fiel aber gleich anfangs auf, daB auch hier der Daumen, Zeige- und Mittel¬
finger stark betroffen waren und Verlust der Stereognose boten. Die rechts-
seitige Hemiparese, die daneben bemerkbar war, war eine schlaffe, mit ge-
steigerten Sehnenreflexen. Das Debridement am 19. IX. (Prof. Ranzi) ergab
einen RinnenschuB mit eingebrochener Tabula interna; der Knochendefekt
wird auf 6 cm Breite erweitert, ein unter der Dura im Gehim selbst befind-
licher AbszeB riihrt von vielen kleinen in das Gehim gedrungenen Knochen-
splittem her. Er wird ausgeraumt. Schon am 30. IX. laBt sich deutlich eine
Verbesserung der Sprache erkennen. Ein Gleiches gilt fiir die rechtsseitige
Parese. Einen Monat nach der Operation werden Sprachubungen mit dem
Kranken vorgenommen, die gute Fortschritte nehmen. Wahrend aber die
Sprache und die Motilitat deutliche Besserung zeigen, ist die Sensibilit&ts-
storung, so weit sie die Hand betrifft, unverandert. Die Hypalgesie des
Vorder- und Oberarmes aber ist gleichzeitig mit der Parese geschwunden.
Zum Unterschied von dem erstbeschriebenen Fall ist hier die Beriihrungs-
empfindung nicht ganz gestort. Nur das Lokalisierungsvermogen ist ge-
sch&digt. Der Kranke lokalisiert proximalwarts 1 ).
Fall III. Der dritteFall betrifft einen 42 Jahre altenKollegen(Zahnarzt),
der gleichfalls auf dem nordlichen Kriegsschauplatz einen Schrapnellstec kschuB
am linken Scheitelbein erlitten hatte und zwar am 1. September. Er kam
am 15. IX. an die Klinik, bot fast komplette sensorische Aphasie mit rechts-
seitiger leichter Hemiparese, leichter Hemi-Hypalgesie, aber schwerer stereo-
gnostischer Storung des Daumens, des Zeige fingers und des Mittelfingers der
rechten Hand. Er wurde noch am selben Tage vom Hof rat von Eiselsberg
debridiert, die Kugel wurde entfemt, der darunter gelegene AbszeB aus-
geloffelt, wonach eine reaktionslose Heilung eintrat. SchlieBlich besserte sich
die Parese und die Sprachstorung so, daB der Kranke heute gleich einem
Normalen spricht, bewegt. Er vermag jedoch seinem Beruf deshalb nicht
nachzugehen, weil er die Instrumente, die er hauptsachlich mit Daumen,
Zeigefinger und Mittelfinger fixiert, in der Hand nicht spurt. Seine Storung
der Sensibilitat betrifft vorwiegend Muskelgefiihle und Stereognose, wahrend
die anderen Qualitaten nur eine Herabsetzung zeigen. Interessant ist, dafl
auch hier das Lokalisierungsvermogen geschadigt erscheint.
Die eben dargestellten drei Fall© entbalten drei Dinge gemein-
sam: die Sprachstorung, die leichte Parese und die Storung der
l ) Diese beiden Kranken wurden in der Geselischaft fiir innere Medizin
vom 4. November demonstriert.
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84
Marburg, Beitr&ge zur Frage etc.
Sensibilitat. Wahrend aber die ersten beiden nach der Operation
sich rasch zuriickbildeten und nur im Fall II infolge des grofieren
Herdes heute noch bestehen, ist die Sensibilitatsstorung zu einem
stationaren Symptom geworden. Sie stellt sich dar, wenigstens in
dem reinsten Falle, als eine Art partieller Tastlahmung. Freilich
nicht in dem JFerntc&eschen Sinne, da gerade in diesem Falle die
Storungen der anderen Sensibilitatsqualit aten sehr tiefgehende
sind. Aber in den zwei anderen Fallen tritt doch das Moment der
Tastlahmung gegeniiber den Storungen der anderen Sensibilitats-
Qualitaten mehr in den Vordergrund. Der Umstand, daB alle drei
Falle die linke Hemisphere betreffen und ich trotz ahnlichen Sitzes
beiLasionenderrechtenHemispharenichtsAehnlichesfindenkonnte,
spricht sehr dafiir, daB es sich um gnostische Storungen handelt 1 ).
Schon Muskens ist es aufgefallen, daB solche Storungen haufiger
bei linksseitiger Lasicn sich finden, was auch fiir die Falle von
Dejerine-Pelletier und Andre-Thomas und Regnard gill.
Ich mochte hier nicht in der Deutung dieser Beobachtungen
zu weit gehen, aber das eine kann man wohl sagen, daB die Lasion
in einem Gebiete sich finden diirfte, das zwischen vorderer Zentral-
windung und den Gyri prcfundi der ersten Temporalwindung links
gelegen ist. Da aber die Erscheinungen, die av.f letztere zu be> iehen
waren, die Hemiparete und die Sprachstorungen, zuriickgegangen
sind, so muB man annehmen, daB die Schadigung, die den statio¬
naren Ausfall bedingt, das dazwischen gelegene Rindengebiet be-
trifft. Das ist die hintere Zentralwindung und der Gyrus supra-
marginalis. Es steht diese Vermutung in vollem Einklange mit den
Annahmen v. Monakows so weit sterognostischer Sinn, Muskelgefiihl
und Tastsinn in Frage kommen. Vielleicht besteht eine kleine
Divergenz in der in unserem Falle unbest reitbaren Tatsache der
schweren Schadigung vcn Schmerz und thermischer Sensibilitat.
Im Falle I wurden die starksten iaradischen Strome nicht emp-
funden. Im Falle II und III jedoch handelt es sich nur um eine
Herabsetzung dieser Empfindungen. Da aber gerade im Falle I
die Parese so rasch schwand und jede Bewegung moglich ist, so
muB man wohl annehmen, daB — und hier spielen vielleicht in-
dividuelle Momente eine Rolle — auch das parietale Windungs-
gebiet der protopathischen Sensibilitat in weitem AusmaBe dient.
Es stimmt diese Annahme weiters auch mit dem von Muskens
entworfenem Schema ii herein, der die Radialseite der Hand in das
Gebiet knapp fiber der Sylvi&chsxx Furche, das der Ulnarseite iiber
die Mitte der hinteren Zentralwindung und den angrenzenden
Scheitellappen reichen laBt.
Eine zweite Frage, die sich hier entscheiden laBt, ist die Frage
der Verteilung der Sensibilitat auf Korperareale. Es scheint in der
x ) Ich hatte iibrigens kiarzlich Gelegenheit, auch einen analogen Fall
der rechten Hemisphare zu untersuchen — linksseitige Hemisparese mit
Hemianasthesie und Astereognose im Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Des-
gleichen einen Fall isolierterer Affektion im Gebiete des kleinen und vierton
Fingers.
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R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage.
85
Tat, daB hier ein vorgebildeter Mechanismus besteht, der Daumen,
Zeigefinger und wohl auch Mitt elf inger in sich begreift. Lie ge-
nannten Finger sind diejenigen, welche fiir feinere Tastvorgange
als we sent lie h in Frage kommen, und es scheint, daB es sich hier
um Zentren fiir ganz bestimmte Empfindungsmechanismen handelt,
die kombiniert aufzutreten pflegen, ahnlich wie wir kombinierte
Bewegungsmechanismen in der Kinde vertreten haben.
v. Monakow gibt die Moglichkeit solcher Zentren zu. Es ist
auch bemerkenswert, daB dieses Yorkommen vorwiegend an die
linke Hemisphare gekniipft zu sein scheint, wenn auch, wie u. a. ein
Fall von Bonhoeffer beweist, die rechte Hemisphare Ahnliches
zeigen kann.
Entschieden aber muB man dagegen Stellung nehmen, solche
kombinierte EmpfindungsmechanismenmitkortikalerfokalerLokali-
sation als spinal-segmentar bezeichnen zu wollen. Eine bloB
auBerliche Ahnlichkeit berechtigt doch nicht zur Identifikation.
Ich mochte also resiimierend schlieBen: In der hinteren Zentral-
windung und dem benachbarten Gyrus supramarginalis besitzen
wir ein Zentrum fiir kombinierte Empfindungsqualitaten, dessen
Ausfall besonders linksseitig zu einer Tastlahmung des Laumens,
Zeigefingers und Mittelfingers fiihrt, mit gleichzeitiger Schadigung
der protopathischen Sensibilitat und des Lokalisierungsvermogens.
Zur Narkolepsiefrage. 1 )
Von
Professor Dr. EMIL REDLICH
in Wien.
Wenn ich im folgenden im wesentlichen doch nur an der Hand
eines kasuistisch zu verwertenden Falles mich mit der Frage der
Narkolepsie beschaftige, so mochte ich zur Entschuldigung an-
fiihren, daB es bisher der einzige Fall ist y den ich gesehen habe,
auf den alle Charaktere der von Gilinmu beschriebenen Narkolepsie
passen. Das zeigt, daB es sich dabei um ein recht seltenes Vor-
kommnis handelt; ich mochte das schon hier gegeniiber Friedmann
betonen. Das ergibt sich auch bei einer Durchsicht der Literatur;
denn nur ein kleiner Teil dessen, was als Narkolepsie beschrieben
wurde, verdient diese Bezeichnung. Die Mehrzahl der speziell in
neuerer Zeit publizierten Fftlle gehort meines Erachtens in andere
Kategorien: ich glaube die Frage der ,,Narkolepsie*‘ ist durch diese
Arbeiten eher erschwert als geklart worden.
A ) Dieser Aufsatz war fiir die geplante Festschrift bestimmt
gewesen.
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86
R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage.
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Es wird am besten sein, wenn ich zunachst die Kranken-
geschichte meines Falles gebe und auf Gruadlage des bei unserem
Kranken BeDbachteten zu den meist diskutierten Punkten Stellung
zu nehmen versuche.
Josef S., ein 19 j&hriger Mechanikergehilfe, wurde am 4. VI. 1914 in
die Nervenheilanstalt Maria-Teresien-Schlossel aufgenommen. Der Vater
des Patienten war starker Trinker; er starb an Wassersucht. Die Mutter lebt
noch, ist gesund, ebenso 4 Geschwister. In der Familie soil kein Fall einer
Nerven- oder Geisteskrankheit vorgekommen sein. Als Kind hatte Patient
Masem und Mittelohrentziindung (reehts). Spater war er stets gesund.
Er absolvierte mit mittlerem Erfolge die Volksschule, lemte dann das
Mechanikergewerbe, in dem er bis zum Mai 1914 tatig war. Er trinkt im
allgemeinen wenig, hatte bisher zweimal einen Rausch. Seit kurzem raucht
er, 5—6 Zigaretten taglich. Vom 16.—17. Jahre war er Onanist, auch sollen
Pollutionen haufig aufgetreten sein. Seit dem 17. Jahre sexueller Verkehr,
in jeder Woche einmal; bisher keine venerische Infektion.
Obwohl Patient nicht streitsiichtig ist, vertragt er sich zu Hause
schlecht, angeblich weil sein jlingerer Bruder bevorzugt wird. (Eine Anamnese
von seiten der Eltem war leider nicht zu erheben.)
Patient hat stets gut geschlafen. hatte auch stets Gelegenheit, seinem
Schiafbediirfnis Geniige zu tun.
Seit 5—-6 Monaten treten bei ihm eigentiimliche Schlaf- oder, wie
er es nennt, „Traumzustdnde“ auf. Wenn er einen solchen Anfall heran-
nahen merkt, was er an einem Gefiihl von Mattigkeit und Kopfschmerz
spiirt, so setzt er sich, wenn irgend moglich, nieder, um einige Minuten
zu schlafen . Der Schlaf liberfallt ihn auch bei der Arbeit, beim Schreiben,
Lesen usw., gleichgiiltig, ob er steht oder sitzt, auch im Gehen, wobei eran
andere Personen anstofit. Er kann aus dem Schlaf durch Anruf geweckt
werden, kann sich aber desselben fiir gewohnlich nicht erwehren. Gelingt
ihm dies infolge intensiver Anstrengung trotzdem, so bleibt er schl&frig
und verf&llt spater um so sicherer in Schlaf. Der Schlaf dauert 6—10 Minuten;
hat er aber Gelegenheit, beim herannahenden Schlaf anfall sich nieder-
zulegen, so dauert ein solcher Anfall auch langer; einmal schlief er sogar
einen halben Tag. Wahrend des Schlafes tr&umt er oft, z. B. von Erlebnissen
des Tages, daher spricht er von Traumzustanden. Er weiB immer, daB er ge¬
schlafen hat, meist auch von dem, wovon er getraumt hat. Nach dem Schlaf
hat er leichten Kopfschmerz, der aber rasch wieder vergeht; dann fiihlt er
sich wieder wohl. Die Anfalle kommen etwa 2—3 mal taglich, ungefahr um
10 Uhr vormittags und 4 Uhr nachmittags und wahrend der Mittagszeit.
Aufregungen haben keinen EinfluB auf die H&ufigkeit der Anfalle. Hingegen
treten die Anf&lle leichter auf, wenn Patient allein ist, ruhig sitzt, liest usw.
Trotzdem Patient auch jetzt nachts gut schlaft, hat er den ganzen Tag ein
Qefiihl von Miidigkeit und Schlaf rig ke it, mufl haufig gahnen.
Seit 4 Monaten hat Patient auch beim lauten Lachen das Qefiihl , als
miisse er zusammensturzen, knickt daJbei in den Knieen ein , beutelt etwas mit
dem Kopf, l&Bt auch gelegentlich, wenn er etwas in der Hand halt, dies
fallen oder verschiittet Fliissigkeit aus einem Glase, das er indenHanden
hat. Niemals aber kommt es durch das Lachen zu einem Schlafzustand oder
einem Anfalle mit Bewufltlosigkeit. Auch sonst sind niemals Anfalle mit
BewuBtlosigkeit, Zuckungen, ZungenbiB, Urinabgang oder Ahnliches
aufgetreten.
Die Untersuchung ergibt folgendes:
Pat. ist klein, von gutem EmAhrungszustand. Das Gesicht ist immer
etwas kongestioniert, der Gesichtsausdruck hat etwas Schl&friges, die Lid-
spalten sind eng, die Oberlider leicht herabh&ngend. Der SchAdel ist
lAnglich, seine groBte Zirkumferenz betragt 56 cm; er ist nirgends per-
kussionsempfindlich, die Austrittsstellen der Nervenstamme sind mcht-
druckempfindlich. Rontgenbefund (Prof. Dr. Schuller): Sch&del ger&umig,
3 mm dick, seine Innenflache normal. Sella von normaler GroBe. _ |g
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R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage.
87
Die Pupillen gleich, mittelweit, reagieren prompt auf Lichteinfall und
Akkommodation. Die Augen frei bewegUoh, kein Nystagmus. Der Augen-
hintergrimd normal, Visus rechts 6 /b* links 5 /»- Die Gesiehtsinnervation
gleich. Kein Facialisphanomen. Die Zunge wird gerade vorgestreckt,
weicht beim Vorstrecken nicht ab, zeigt keinen Tremor. Corneal- und Wiirg-
reflexe vorhanden, prompt.
Kein Zittem der vorgespreizten Finger, keine Ataxie der oberen oder
unteren Extremit&ten. Die Sehnenreflexe der oberen Extremit&ten m&Big
lebhaft, gleich. Die unteren Extremitaten ohne Stdrung, die Sehnenreflexe
lebhaft, gleich. Hautreflexe normal. Sensibilitatsstorungen am Rumpfe
und den Extremitaten fehlen. Der Harnbefund normal.
Am 17. VII. wurde eine Lumbalpunktion vorgenommen: Der Druck
betrug (mit dem Quincke schen Apparat gemessen) 190 mm Wasser; es wurden
7 ccm klarer Flussigkeit entleert. Bei der Untersuchung fand sich in 1 com
eine Zelle; EiweiB- und Globulingehalt normal.
In psychischer Beziehung ist zu bemerken, daB Pat. zunachst ohne
auff&llige Besonderheiten ist. Er fiigt sich tadellos in das Anstaltsleben, ist
gef&llig, hilfsbereit. Er ist zufrieden, nicht erregbar oder streitsiichtig, im
Gegenteil ist eine gewisse Schlappheit oder Inaktivitat unverkennbar. Er
liest nichts, weder Zeitungen noch Bucher, halt sich meist etwas abseits von
den anderen Kranken; am liebsten sitzt er allein auf einer Bank im Korridor
oder Garten, ohne Versuch, sich irgendwie zu besch&ftigen.
M| Ueber das Verhalten des Kranken w&hrend seines Aufenthaltes in
der Anstalt (4. VI.—31. VII.) w&re folgendes zu bemerken: Die oben er-
w&hnten Schlafanf&lle stellten sich mehrmals t&glich ein; sie traten mit
Vorliebe dann auf, wenn Pat. allein war, z. B. im Garten saB oder sonst
unbeschaftigt war. Einmal wurde er von mir, auf einer Gartenbank sitzend,
in einem solchen Zustande angetroffen; er bot vollig den Anblick eines
Schlafenden ; die Augen waren geschlossen,derKopf gegendie Brust gesunken,
die Respiration flach. Beim Versuch, die Augen zu offnen, fand man einen
gewissen Widerstand. Trotz dreimaligem Oeffnen der Augen erwachte
Pat. nicht; die Pupillen waren eng, die Reaktion nicht zu priifen. Beim
vierten Versuch, die Augen zu offnen, erwachte Pat. Er ist zun&ohst oblige
Sekunden etwas schwer besinnlich, dann wieder wie sonst. Er weiB, daB er
geschlafen hat.
Es wurde verschiedentlich versucht, das Auftreten der Schlafanf&lle
therapeutisch zu beeinflussen. Von der Voraussetzung ausgehend, daB trotz
dem anscheinend guten Schlafe vielleicht die Schlaftiefe nicht geniigend sei,
daB also, wenn man so sagen darf, das Schlafquantum, resultierend aus
Schlafzeit und Schlaftiefe, ungeniigend seien, erhielt Pat. mehrere Nachte
hintereinander ein Schlafmittel (0,5 Medinal oder 1 g Adalin), worauf Pat.
tats&chlich langer als gewohnlich schlief. Ein EinfluB auf die Schlafanf&lle
war dadurch nicht zu erzielen. Es wurde dann umgekehrt versucht, gegen
die standige Schl&frigkeit des Pat. einzuwirken, dadurch, daB ihm mehr¬
mals t&glich schwarzer Kaffee verabreicht wurde, zweimal auch 0,2
Coffein. natr. salicyl. subkutan injiziert wurde. Auch das war wirkungslos,
Pat. behauptete, eine Aenderung nur insoweit zu merken, als der dem
Schlafe sonst vorausgehende Kopfschmerz geringer sei. Nach der oben er-
w&hnten Lumbalpunktion klagte Pat. lange iiber Kopfschmerz. Mehrere
Tage spater stieB Pat. in der Nacht plotzlich den Ruf aus: ,,YVer da“. Ge-
weckt, war er sehr angstlich und erz&hlte, er habe auf dem Gange gehen
gehort; er habe dann gesehen, daB dasFenster aufging und maskierte M&nnei
hereingeblickt h&tten. Als er sie anrief, seien sie verschwunden.
Ebenso wenig EinfluB wie die erwahnten MaBnahmen hatten jene,
die auf eine Hebung des allgemein-nervosen Zustandes einzuwirken ver-
suchten, wie z. B. hydriatische Prozeduren (Halbb&der), allgemeine Fara¬
disation, Strychnininjektionen usw. Pat. fiihlte sich subjektiv zwar etwas
wohler, die Schlafanf&lle blieben unbeeinfluBt.
Pat. wurde nach achtwochentlichem Aufenthalte im wesentlich unver-
anderten Zustande entlassen, da wegen des beginnenden Krieges die Anstalt
ger&umt werden muBte.
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8S R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage.
Am 18.X. 1914 hatte ich wieder Gelegenheit, den Pat. ambulatorisch zu
untersuchen. Eristseit seiner Entlassung wieder in seinem Bemfe als Auto -
mobilschlosser t&tig. Nach der Entlassung schlief er anfanglich taglich 4—5
mal wahrend der Arbeit ein, mit Vorliebe dann, wenn er z. B., um etwas an
einem Auto zu richten, sich auf den Boden legen muBte. Er fiihlte dann eine
groBe Mattigkeit, das Werkzeug fiel ihm aus der Hand und er schlief fest ein;
seine Arbeitskollegen, die das Einschlafen merkten, weckten ihn des ofteren
dadurch, daB sie imter grofiem Ger&usch ein Werkzeug in seiner Nahe auf
den Boden fallen lie Ben. Der Schlaf dauerte meist nur kurze Zeit, etwa
5 Minuten; daB er dabei getraumt hatte, ist ihm jetzt nicht bewuBt. Seit
einiger Zeit geht es besser. Meist h< er es bis Mittag aus; nach Tisch aber
fiihlt er ein unbezwinglichesBediirfnis, zu schlafen. Er schlaft dann etwa eine
Viertelstunde, meist so fest, daB er gar nichts hort. Nachmittags schl&ft er
des ofteren bei der Arbeit ein. Abends fiihlt er sich so miide, daB er in dem
Zuge, in dem er nach Hause fahrt, meist einschlaft und von Bekannten ge-
weckt werden mufi, soli er nicht die Station, in der er aussteigen soil, iiber-
fahren. In der Nacht schlaft er etwas unruhig, erwacht ofters. Beim Lachen,
gelegentlich auch sonst beim Gehen, knickt er fur einen Moment zusammen,
kann sich aber gleich wieder aufrichten. Kopfschmerz besteht jetzt selten;
Appetit und Stuhl ist in Ordnung. Seine Stimmung ist gut; zu Hause, wo er
iibrigens nur wenig ist, vertragt er sich mit seiner Umgebung jetzt leidlich.
Sexuell hat er in normaler Weise verkehrt. Er trinkt und raucht sehr maBig.
Sein Gewicht ist seit der Entlassung so ziemlich gleich geblieben.
Der objektive Status ist unverandert. Speziell sei hervorgehoben, daB
Facialisphanomen, Trousseau fehlen, ebenso eine elektrische Uebererreg-
barkeit. Bei Priifung mit dem galvanischen Strom findet sich:
Nervus ulnaris dext.
K.S.Z.
1,2 MA
A.S.Z.
2,8 „
AO.Z.
5
K.S.Te.
5
Nervous medianus dext.
K.S.Z.
1
A.S.Z.
4
Nervus fetcialis dext.
K.S.Z.
2,8 „
AS.Z.
5
Ebenso fehlen Anzeichen einer myasthenischen oder mvotonischen
Reaktion.
Fassen wir das Wesentliche der Krankengeschichte unseres
Falles zusammen, so ergibt sich, daB bei einem 19 jahrigen Pat.,
Sohn eines Trinkers, sonst aber hereditar nicht belastet, der
zunachst auch keine Zeichen einer besonderen psychopathischen
Konstitution darbot, seit mehreren Monaten Anfalle bestehen,
die man nach der Schilderung und nach der Beobachtung nicht
anders als Schlafanfatte bezeichnen kann. Eingeleitet von Kopf-
schmerzen und einem Gefiihl von Schlafrigkeit treten diese Zu-
stande auf, in denen Pat. ganz den Eindruck eines Schlafenden
macht; Kopf und Lider sinken herab, das Gesicht ist leicht konge-
stioniert,die Respiraticn flach. Pat. spricht auch von Traumzu-
standen , weil er, wie er behauptet, wahrend dieser Zustande des ofteren
traume. Auch Gowers hebt dies bei einem seiner Falle hervor.
Pat. ist nur selten und dann nur voriibergehend imstande, das
plotzlich auftauchende Schlaf bediirfnis zu unterdriicken, wohl aber
kann er meist durch Anrufen oder Riitteln geweckt werden, ist dann
wie beim Erwecken aus dem natiirlichen Schlafe kurze Zeit etwas
schwer besinnlich, dann aber wieder ganz in Ordnung.
Die Anfalle kommen mehrmals des Tages, wahrend der Arbeit,
auch auf der StraBe beim Gehen, mit Vorliebe aber dann, wenn
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage.
8»
Pat. ohne Besehaftigung in ruhiger Umgebung sitzt, wo also die
Bedingungen fiir den Schlaf liberhaupt die giinstigsten sind. Die
Dauer der Schlaf anfalle ist kurz, einige Minuten, unter den eben
erwahnten giinstigen Bedingungen auch langer, eine halbe selbst
mehrere Stunden. Ich mochte auch noch hervorheben. daB Pat.
trotz gutem Nachtschlafe immer einen schlafrigen Eindruck macht
und auch sich selbst immer schlafrig und miide fiihlt.
Der Fall gleicht also in Bezug auf die Anfalle vollstandig dem,
was Gelineau seiner/eit als Naikolepsie beschrieben hat. Gelineaus
Kranker hatte nach der Wiedergabe des Falles bei Lowenfeld 1 )
Anfalle — unter Umstanden bis zu 200 an einem Tage —, in denen
er in Schlaf verfiel. , ,Die Lider senken sich, die Hand laBt die
Gabel, das Messer, das Glas fallen; der Satz, den er mit lauter
Stimme begonnen, wird nur mit Miihe beendigt, unter Stammeln
und mit leiser Stimme, sein Kopf sinkt herab, er schlaft. Dabei
hort er, was um ihn gesprochen wird. Wahrend des Schlafes sinkt
der Puls von 66—68 auf 58—60. Die im Wachen engen Pupillen
werden etwas weiter.“
Ganz ahnlich ist es in einem von Westphal 2 ) etwa gleichzeitig
mit Oilineau beschriebenen Falle, einen 36 jahrigen Mann be-
treffend, der seit sieben Jahren an solchen Schlafanfalien litt.
Bei dem von Westphal selbst beobachteten Anfalle z. B. heiBt es,
,,die Lider senken sich allmahlich wie beim Einschlafen, die Augen
Tollen nach oben. Pat. hort zu sprechen auf, der Kopf sinkt auf die
Brust herab, Pat. bietet das Bild eines im Sitzen Eingeschlafenen.
Nach kurzer Zeit hebt er den Arm, wie wenn er sich recken wiirde,
wischt sich die Augen. Manchmal gehen die Anfalle in wirklichen
Schlaf uber; er wird bei der Visite tatsachlich offers schlafend an-
getrcffen. Ein solches Einschlafen tritt auch beim Gehen auf der
StraBe auf.“
Ich will auf die Literatur der Narkolepsie hier nicht im Detail
eingehen. Sie findet sich eingehend wiedergegeben bei Lowenfeld
(1. c.), Friedmann 3 ), Stocker 4 ) Engelhard 6 ) u. a. Mit Gowers* •*) ) u. a.
rechne ich zur Gelineaus chen Narkolepsie aber nur jene Falle, wo
die Anfalle den vollen Charakter des Schlaf es haben. Das gilt z. B.
fiir die Falle von Ballet, 1 ) einen Fall von Cormoc (zitiert bei Engel -
*) Lowenfeld, Ueber Narkolepsie. Miinch. med. Woch. 1912. S. 1041.
•*) Westphal, Eigentiimliche, mit Einschlafen verbundene Anfalle.
Arch. f. Psych. Bd. 7. S. 631. 1877.
а ) Friedmann , Ueber die nicht epileptischen Absenzen oder kurzen
narkoleptischen Anfalle. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 30. S. 462.
1906, und Zur Kenntnis der gehauften, nicht epileptischen Absenzen im
Kindesalter. Ztschr. f. d. ges. Neurol. Orig. Bd. 9. S. 245. 1912.
4 ) Stocker, Zur Narkolepsiefrage. Ztschr. f. d. ges. Neurol. Orig. Bd. 18.
S. 217. 1913.
б ) Engelhard , Zur Frage der gehauften kleinen Anfalle. Mon. f. Psych.
Bd. 36. S. 113. 1914.
•) Qowers , Handbuch der Nervenkrankheiten. III. S. 404, und Grenz-
gebiete der Epilepsie. Deutsch von Schweiger. S. 106.
7 ) Ballet , Contributions 4 l’6tude du sommeil pathologique. Rev.
de m6d. 1882. S. 945.
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90 R e d 1 i c h , Zur Xarkolepsiefrage.
hard), dann von einem Falle von Guleke (zitiert bei Engelhard ),
einem Falle von Pitres und Brandeis 1 ), von Dercum 2 ), einer Be-
obachtung von Stocker u. A.
Indem ich es mir vorbehalte, auf die Frage der Narkolepsie und
die daran ankniipfenden Diskussionen der letzten Zeit noch sp&ter
einzugehen, will ich zur Charakterisierung unseres Falles noch
hervorheben, daB er sich in einer Beziehung von den Fallen von
Gelineau , Westphal u. A. unterscheidet, namlich dadurch, daB
Gemiitsbewegungen keinen EinfluB auf die Haufigkeit der Anfalle
hatten. Dagegen stimmt er mit der Mehrzahl der Beobachtungen
,,echter Narkolepsie 44 , wie ich zunachst mit Gowers sagen will,
wieder darin iiberein, daB die Behandlung, soweit ich wenigstens
die Beobachtung fortsetzen konnte, ohne EinfluB blieb. Wir haben
es mit einer Allgemeinbehandlung versucht, mit SuggestivmaB-
regeln; wir haben den natiirlichen Schlaf gefordert, ihn zu hemmen
gesucht, z. B. durch schwarzen Kaffee, durch subkutane Injektion
von Coffein, das Gowers riihmt; die Anfalle kamen in wenig ver-
anderter Frequenz immer wieder.
Noch ein Symptom teilt unser Fall mit dem von Gelineau
und Lowenfeld ; beim Lachen hatte der Pat. das Gefiihl, als miisse
er zusammensinken, knickte dabei in den Knien ein, lieB auch
gelegentlich einen Gegenstand, den er in der Hand hielt, fallen.
Bei Gilineaus Patienten trat dieses eigentiimliche Verhalten, das
an Oppenheims Lachschlag 3 ) erinnert, uberhaupt als erstes Symptom
auf. „Wenn er aus vollem Halse lachte oder in seinem Handel ein
gutes Geschaft vor sich sah, fiihlte er plotzlich eine Schwache in
seinen Beinen, die unter ihm einknickten. 44 Oder bei Lowenfelds
Patienten: ,,Beim Lachen fiihlte er eine gewisse Muskelerschlaffung;
beim Gehen fing er dabei an, zu straucheln und in den Beinen
zusammenzuknicken. Er muBte sich anhalten, um nicht hin-
zusfciirzen. Hielt er etwas in der Hand, entfiel es ihm.“ Spater
heiBt es: ,,Beim Lachen trat eine ailgemeine Bewegungshemmung
ein, so daB er nicht sprechen, auch nichts in der Hand halten
konnte. Dabei kam es auch vor, daB er den geoffneten Mund nicht
mehr schlieBen konnte, auch soli das Gesicht verzogen gewesen
sein. Beim Lachen trat fur einige Sekunden eine Unfahigkeit, sich
zu riihren, eine formliche kataleptische Starre ein. 44
Als ein weiteres wichtiges Charakteristikon unseres Falles
nach der negativen Seite hin ist das Fehlen epileptischer oder sicher
hysterischer Symptome zu erwahnen. Niemals ist bei unserem Kran-
ken ein Anfall mit voller BewuBtlosigkeit, Zuckungen, ZungenbiB,
Urinabgang usw., wie sie fur epileptische Anfalle charakteristisch
sind, beobachtet worden, auch fehlt jede Andeutung einer epi-
1 ) Pitres und Brandsis . Sur uti cas de Narkolepsie. C. r. de soc. de Biol.
1910. I. S. 844.
2 ) Dercum , Profound somnolence or Narkolepsy. Journ. of nerv. and
ment. dis. 1913. S. 185. Bd.40.
3 ) Oppenheim , L?hrbuch der Nervenkrankheiten. VI. Aufl. 1913.
S. 1421. ;J
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91
leptischen Charakterveranderung oder Demenz. Das ist wichtig
zu betonen, denn es ist zweifellos, daB ©s Fall© von Epilepsie gibt,
wo den narkoleptischen gleiche Schlafanfalle vorkommen; das gilt
z. B. fur einen von Schultze 1 ) beschriebenen Fall. Wir werden sehen,
daB man bier vielfach von ©iner symptomatischen oder sekundaren
Narkolepsie gesprochen hat.
Auch fur die Diagnose der Hysterie kann ich bei unserem Pat.
nichts finden. Als auffallig war nur sein Verhalten nach der Lumbal-
punktion zu bezeichnen, die schwere und vor allem auffallig lang
andauemde Reaktion nach derselben, ein nach meinen Erfahrungen
Bei funktionellen Erkrankungen recht haufiges Verhalten. Aber
es geniigt nicht, bei unserem Pat. Hysterie zu diagnostizieren.
Die Hysterie muBte darum in Betracht gezogen werden, weil es
bekannt ist, daB auch bei ihr Schlafanfalle vorkommen, am auf-
falligsten in Form der bekannten Tage, selbst Wochen andauemden
Schlafanfalle, aber auch solcher von kiirzerer Dauer. In der
Literatur der Narkolepsie finden sich auch zweifellos der Hysterie
zugehorige Falle verzeichnet, meist freilich mit Anfalien, die man
besser als somnambule zu bezeichnen hatte. Hierher rechne ich
einzelne der Falle von Berkhan 2 ), wahrend ich andere der von diesem
Autor beschriebenen Falle eher als epileptische auffassen mochte;
Zweifelhaft erscheinen mir die Fall© von Mendel 3 ), Fischer 4 * ) u. A.
obwohl ich personlich geneigt bin, sie zur Hysterie zu rechnen.
Auch Klienebergers 6 ) Fall ist mir nioht ganz klar.
Ein Punkt bedarf noch einer besonderen Besprechung.
Friedmann ist in seiner bekannten Arbeit 6 ) auf die gehauften kleinen
Anfalle des Kindesalters zu sprechen gekommen und hat die
Griinde angegeben, die ihre Sondersteflung von der Epilepsie
nahelegen. Uns interessiert vor allem der Umstand, daB Friedmann
hier diese Falle in gewisse Beziehung zur Oelineauschen Narkolepsie
brachte und darum auch von kurzen narkoleptischen Anf alien sprach.
Die Schilderung, die er von den Anf alien seiner Falle gibt, hat aber
kaum etwas mit der Gtlineauschen Narkolepsie gemeinsam, es
handelt sich vielmehr um Absenzustande, eine Bezeichnung, die
Friedmann fur die Charakterisierung dieser Anfalle mit Recht an
erster Stelle nennt. Obwohl Friedmann in seiner zweiten
Arbeit 7 ) iiberhaupt nicht mehr von narkoleptischen Anfallen,
l ) Schultze , Ueber pathologische Schlafzustande und deren Beziehungen
zur Narkolepsie. Ztschr. f. Psych. Bd. 52. S. 724. 1896.
а ) Berkhan , Eigentiimliche, mit Einschlafen verbundene Anfalle.
Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 2. S. 177. 1892.
3 ) Mendel , Ueber Anfalle von Einschlafen. Dtsch. med. Woch. 1880.
S. 266.
4 ) Fischer , Epileptoide Schlafzustande. Arch. f. Psych. Bd. 8. S. 200.
б ) Klieneberger, Ueber Narkolepsie. Berl. klin. Woch. 1913. S. 246.
•) Friedmann , Ueber die nicht epleptischen Absenzen oder kurzen
narkoleptischen Anfalle. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 30. S. 762.
1906.
7 ) Friedmann , Zur Kenntnis der gehauften nicht epileptischen Ab¬
senzen im Kindesalter. Ztschr. f. d. ges. Neurol. Orig. Bd. 9. S. 245.
1912.
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sondern nur mehr von gehauften, nicht epileptischen Absenzen im
Kindesalter spricht, ist die durch Friedmanns Arbeit angeregte
Literatur doch vielfach wieder auf erstere Bezeichnung zurfick-
gekommen. Das gilt z. B. von Mann 1 ), der diese Anfalle mit der
Spasmophilie in Be: iehung brachte, indem er bei denselben eine
Steigerung der galvanischen Erregbarkeit nachwies, ein Symptom,
das auch Friedmann in seiner zweiten Publikation bei eimelnen
Fallen bestatigen konnte. Sieht man aber Manns Beschreibung
genauer durch, so muB mansagen, daB seine Falle mit der Narkclepsie
OeUneaus nichts zu tun haben, es fehlt sogar jede Aehnlichkeit mit
einem Schlafzustande. Es ist mir zweifellos, daB einzelne seiner
Falle zur Epilepsie gehoren. So ist von den Fallen seiner ersten
Publikation im zweiten Falle wahrend eines Anfalles Pupillen-
starre nachgewiesen worden, in der zweiten Publikation sind bei
Fall I Anfalle mit ZungenbiB verzeichnet. Seiche Falle mochte ich
als Kombination von Tetanie und Epilepsie auffassen. (In parenthesi
sei iibrigens bemerkt, daB unser Fall keine Zeichen von Spasmo¬
philie aufwies.) Auch von den Fallen von Rohde 2 ), die dieser Autor
der Narkclepsie anreiht, hat die Mehrzahl meines Erachtens nichts
mit der OUineau schen Narkclepsie gemein, das gleiche gilt von
Schroder 3 ).
Zu betonen ist auch, daB es sich bei diesen Fallen nahezu stets
um Kinder handelt, wahrend die Falle „echter“ Narkolepsie er-
wachsene Individuen, hochstens solche im jugendlichen Alter,
betreffen. Stocker, dessen wir schon erwahnten, meint daher mit
Recht, daB der Ausdruck Narkclepsie fiir die gehauften nicht
epileptischen Anfalle des Kindesalters unglficklich gew&hlt 6ei;
ahnlich auBert sich auch Engelhard 4 ). Dem kann ich mich nur
anschlieBen; man tut meines Erachtens besser, die noch offene
Frage der Narkclepsie nicht dadurch zu komplizieren, daB man die
gleichfalls ncch ungeklarte Frage der Pathogenese dieser gehauften
kleinen Anfalle damit verqu ickt. Es sei mirgestattet, fiber letztere hier
noch einige Worte zu sagen. Man hat ihre epileptische Natur aus-
geschlossen, war sogar, wie z. B. Heitbronner 5 ) und dessen Schfiler
Engelhard, geneigt, sie der Hysterie zuzurechnen. Den Argumenten,
die man in dieser Hinsicht beigebracht hat (plotzliches gehauftes
Auftreten im Kindesalter, trotz jahrelangem Verlaufe Intakt-
bleibenderPsyche, Wirkungslosigkeit antiepileptischer MaBnahmen,
1 ) Mann , Erregbarkeitssteigerung bei narkoleptischen Anfalien.
Ztschr. f. med. Elektrologie. 1911. S. 82, und Ueber die Beziehungen der
narkoleptischen (gehauften, kleinen, nicht epileptischen) Anfalle zur Tetanie.
Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 50. S. 263. 1913.
2 ) Rohde , Zur Genese von Anf&llen und diesen nahestehenden Zu-
standen bei sogenannten Nervosen. Ztschr. f. d. ges. Neurol. Orig. Bd. 10.
S. 473. 1912.
8 ) Schroder , Ueber Narkolepsie. Neurol. Zbl. 1913. S. 598.
4 ) Engelhard , Zur Frage der gehauften kleinen Anfalle. Mon. f. Psych.
Bd. 36. S. 113. 1914.
B ) Heitbronner , Ueber die gehauften kleinen Anfalle. Dtsch. Ztschr.
f. Nervenheilk. Bd. 31. S. 472. 1906.
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R e d 1 i c h , Zur Narkolepsielrage.
<J3
EinfluB affektiver Momente auf die Auslosung und Haufigkeit der
Anfalle, Wirksamkeit su£ gestiv wirkenderMomente u. a.), kommt, wie
ich mit Leivandoiusky 1 ) betcnen muB, nicht durchaus die beweisende
Kraft zu, die man ihnen vielfach zi geschrieben hat. Die Aus-
fiihrungen, die Engelhard bei Besprechung einzelner seiner Falle
gegen die Diagnose der Epilepsie vorbringt, muB ich zum Teil fiir
gezwungen erklaren; ich wiirde vielmehr nicht anstehen, den einen
oder anderen seiner Falle unbedenklich als Epilepsie zu diagnosti-
zieren. In anderen Fallen dxirfte, wie Vogt 2 ) mit Recht meint, die
Sachlage spaterhin, selbst nach jahrelangem Bestande ausschlieB-
lich kleiner Anfalle durch das Auftreten zweifellos epileptischer
Anfalle ncch geklart werden. Fur andere hierhergehorige Falle
laBt sich freihch vorlaufig ein endgiiltiges Urteil noch nicht abgeben.
Doch kehren wir nach dieser Abschweif ng zu der uns be-
schaft igendenFrage derNarkc lepsie zuriick. Qelineau hatte, ahnlich,
wie spater Westphal , angenommen, daB es sich bei ihr um eine
Neurcse spezifischer Art handle; ihm hatte sich Lowenfeld ange-
schl ssen, der die Nark< lepsie als einen Morbus sui generis erklarte.
Anderseits ist von Gelineau selbst, Ballet , Lowenfeld , Friedmann ,
Oppenheim , Lhermitte 3 ) u. A. hervorgehoben wprden, daB echte
Schlafanfalle bei anderweitigen Erkrankungen, z. B. bei der
Epilepsie, der Hysterie, bei allgemeiner Psychopathie, dann bei
Diabetes, Magen- und Leberaffektic nen, bei allgemeiner Obce-
sitas usw., vorkommen (symptomatische odersehundareNarlcolepsie ).
Das beweist aber meines Erachtens ncch nicht, daB es
keine ,,echte*‘ Narkolepsie geben konne. Erinnern wir uns an die
Epilepsie, die ja in unserer Frage immer wieder herangezogen
werden muBte. Auch hier wissen wir, daB epileptische Anfalle
ohne ein grob-anatomische Hirn- oder anderweitige Erkrankung
in chronischer Weise auftreten konnen, daB aber anderseits eben-
sclche Anfalle als symptomatische Erscheinung bei verschiedenen
Erkrankungen des Gehims, bei Allgemeinerkrankungen, Intoxi-
katicnen usw., vcrkommen. Wie aber hier bei den symptomatischen
epileptischen Anfalien die Grundkrankheit nachweislich sein muB,
unter Umstanden freilich erst der Obduktionsbefund Aufklarung
bringt, so wxirden alle jene Falle mit narkc leptischen Anfallen,
beidenensich ein ander weitig es Leiden f eststellenlaBt, als symptoma-
tisch aufzufassen sein. Sehen wir von diesen Fallen ab, dann bleibt
eine, wie wir gesehen haben, freilich kleine Zahl von Fallen iibrig,
bei denen sich s< lche Schlafanfalle finden, ohne daB ein ausge-
sprochenenes nervoses oder allgemeines Leiden, vor allem Epilepsie
und Hysterie, besti nde. Das waren die Falle ,,echter Narkc lepsie**.
Klinisch lassen sich diese Falle charakterisieren durch das
gehat fte Auftreten vcn krr dai emden, dem natiirlichen Schlafe
volLtandig gleichenden Anfallen bei sonst gesunden, hochstens
x ) Lewandow8ky, in Handbuch der Neurologie. Bd. VI. S. 713.
*) Vogt , Epilepsie in Aschaffenburgs Handbuch der Psychiatrie.
Spezieller Teil I. 1. S. 150.
8 ) Lhermitte, Les Narkolepsies. Rev. neiuol. 1910. II. S. 203.
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94
Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologic.
leicht neuropathischen Individuen, meist im erwachsenen Alter.
Charakteristisch ist ferner die lange Dauer des Leidens, die geringe
therapeuthische BeeinfluBbarkeit. Ein patho-physiologisches
Verstandnis dieser Falle fehlt uns, wie man gestehen muB, freilich
noch. Qflineau hatte angenommen, daB diese Schlafanfalle zustande
kommen dadurch, daB die nervosen Zentralorgane, vor allem die
Briicke, zu wenig Sauerstoff erhalten oder ihn wenigstens zu rasch
verbrauchen, eino Erklarung, die schon Ballett als ganz hypothetisch
zurfickgewiesen hatte. L&ivenfeld legte das Hauptgewicht auf
motorische Hemmungsvorgange, ahnlich Friedmann , der es freilich
dahingestellt sein laBt, ob es sich dabei um ein Nachlassen der
Rindentatigkeit oder um eine Reizung eines vasomotorischen oder
Hemmungszentrums handle. Keineswegs komme man aber mit
der Annahme einer Himanamie aus. Friedmann zieht aber, worauf
ich mehr Gewicht legen mochte, als Vergleichsobjekt den Zustand
vor dem natfirlichen Einschlafen heran und meint, daB es sich
vielleicht um ein Symptom der Gehimmiidigkeit handle. In der Tat
haben wir bei unserem Falle — und das gleiche ist bei einzelnen
FallenderLiteraturhervorgehoben—gesehen, daB derKrankeimmer,
auch auBerlich, den Eindrack besonderer Schlafrigkeit machte
und immer fiber eine gewisse Mfidigkeit und Schlafrigkeit klagte.
Auch die Details fiber das Auftreten und die Begtinstigung der
Schlafanfalle, die wir bei unserem Kranken beobachtet haben,
erinnem an ein gesteigertes Schlafbedfirfnis, das sich aber in einer
pathologischen Form auBert. Es hatte, glaube ich, angesichts des
Umstandes, daB wir beztiglich des normalen Schlafes nur mehr
minder zutreffende Hypothesen haben, wenig positiven Wert,
weiterzugehen und eine wirkliche Erklarung dieser pathologischen
Schlafanfalle zu versuchen. Es wird richtiger sein, uns vorlaufig
mit der Registrierung der interessanten Tatsache an sich zu be-
gnfigen, in der H ffnung, daB wir spater einmal einen Einblick
in das Wesen der Erscheinung gewinnen werden.
Psychiatric und Neurologic.
Von
Prof. Dr. K. BONHOEFFER
in Berlin.
Vor kurzem hat Erb 1 ) einen „emstenAppell“an die medizinischen
Fakultaten und die Unterrichtsverwaltungen ergehen lassen. E6
sei ihre emstl a ft e Pf licht, ebensogut wie ffir die Opht halmologie, ffir
die Ohrenheilkunde, die Psychiatrie und die Padiatrie, auch ffir die
‘) Neurolog. Zentralblatt 1914.
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Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologie.
95
Vertretung der Neurologie ale selbstandiges Fach zu sorgen. An
der sachlichen Berechtigung dieeer Trenmmg besteht fiir Erb keiner-
lei Zweifel. Hemmnisse personlicher Riicksichten, Sympathien
und Antipathien und der stark kcnservative Zug der alten Fakul-
taten, ,,der Zopf“ miisse iiberwunden werden.
Erb ist fiir eine vollige Selbstandigkeit der Neurologie. Wo
diese noch nicht moglich ist, halt er an Stelle der an der Mehrzahl
der preuBischen Universitaten iiblichen Verbindung mit der
Psychiatric die Verbindung mit der inneren Klinik fiir das geringere
Uebel. Als wertvolle Unterstiitzung seiner Auffassung gilt ihm der
Psychiater P. Nacke 1 ), der sich mit Entschiedenheit gegen die
„Annektierung“ der Neurologie durch die Psychiatrie aussprach.
Erb nennt die Beschaftigung der Psychiater mit der Neurologie eine
„nebenamtliche“, indem er sich damit einen Ausdruck Roihmanne 2 )
zu eigen macht, der sich vor kurzem mehrfach in ahnlichem Sinne
wie Erb ausgesprochen hat.
Diese temperamentvollen Angriffe lassen es gebot en erscheinen,
wieder einmal die sachliche Seite der psychiatrischen Anspriiche
zu priifen. Ich beschranke mich auf die Frage der Vertretung der
Neurologie an den Hochschulen, die auch Erb an die Spitze seiner
Forderungen stellt. Die Forderung, daB das neurologische Kranken-
material in den groBeren allgemeinen Krankenhausem Spezialisten
unterstellt werde, lasse ich beiseite. Sie liegt auf einem anderen
Gebiete. Ich mochte aber keinen Zweifel dariiber lassen, daB ich
darin mit Erb im wesentlichen iibereinstimme. Ich habe auch in
diesem Sinne seinerzeit mein Votum abgegeben, als es sich in
Breslau um die Schaffung einer neurologischen Abteilung am
st&dtischen Krankenhaus handelte. Ich weiche allerdings von Erb
ab, insofem ich es gleichzeitig fiir erforderlich oder wenigslens
fiir sehr wiinschenswert halte, daB dieseneurologischen Spezialisten
gleichzeitig eine ausreichende klinisch-psychiatrische Schulung
haben, so daB sie auch der Beurteilung und Behandlung psychischer
Fftlle gewachsen sind.
Wenn man die Forderung auf stellt, die Neurologie als selb-
st&ndiges Fach auf der Hochschule einzufiihren, so heiBt das, wenn
wir die Unterrichtsseite ins Auge fassen, und mit dieser will ich
mich zunachst nur beschaftigen, daB der Lehrstoff des Faches
von den iibrigen Disziplinen so wesentlich verschieden ist, einen
solchen Umfang und eine so groBe praktische Bedeutung hat,
daB er dem Studierenden gesondert gelehrt werden muB. So hat
dieEntwicklung der spezialisiertenUntersuchungs-undBehandlungs-
technik zur Abtrennung der Otologie, der Laryngologie und der
Orthopfidie von der Chirurgie gefiihrt. Die praktische Wichtigkeit
der Sauglingsfiirsorge und auch die physiologische Verschiedenheit
des kindlichen Organismus von dem des Erwachsenen haben zur
Trennung der Padiatrie von der inneren Medizin gefiihrt.
x ) Neurolog. Zentralblatt 1912.
a ) Neurolog. Zentralblatt 1914.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Bonhoeffer, Psychiatrie und Neurologie.
9b
Wie steht es in dieser Hinsicht mit der Neurologie ? Es ist
zunachst notig, dariiber klar zu sein, was das Gebiet umfaBt. Die
Vertreter der Neurologie im engeren Sinne pflegen das zunachst
an der Hand der Anatomic und des Materials der neurologischen
Praxis zu entscheiden: Die peripheren, spinalen und die cerebralen
organischen Erkrankungen geboren ihnen zu. Aber dazu kcmmt
auc h das ganze Gebiet der f u nkt ionellen Neu rosen und Psychopat hien.
DaB fiir den neurologischenPraktiker auch die Psychosen im engeren
Sinnehinzugehoren,soweit nichtdieNotwendigkeitder geschlc ssenen
Anstaltsbehandlung sie ihm entzieht, ist nicht zweifelhaft. Das ist
schon im Hinblick auf die Differentialdiagncse zwischen fu nkt io¬
nellen Neurosen und initialen Geisteskrankheiten erfcrderlich.
Mit anderen Worten, der praktizierende Neurologe wird klinisch das
Gesamtgebiet derNerven- und Geisteskrankheiten zu beherrschen
ha ben. Als Lehraufgabe machen die Neurologen die eigentlichen
Geisteskrankheiten dem Psychiater nicht streitig. Kcnzessicnen
werden wohl von einzelnen, jedenfalls auch von Erb, fur das Gebiet
der sogenannten funktionellen Neurosen gemacht, von mancher
Seite sind vielleicht auch die organischen Gehimkrankheiten als
von den Psychiatem mitzubearbeitendes Grenzgebiet zugelassen.
Jedenfalls wird auch von den strengsten Vertretem der Lcs-
losung der Neurologie zugegeben, daB sich der Lehrstcff der
Neurologie mit dem der Psychiatrie in einem weiten Bereich iiber-
schneidet. Diese Tatsache wird fiir die Instanzen, denen die Ver-
teilung des Unterrichte6 an den Hcchschulen obliegt, die Fest-
stellung notig machen, in welcher Ausdehnung der neurolcgische
Stoff in dem Lehrstoff anderer Disziplinen enthalten ist. E6 ge-
schieht dies, wie ich glaube, nicht am besten dadurch, daB man sich
an die anatomische Einteilung der peripheren, spinalen usw. Er¬
krankungen halt; c enn so erzielt man kein Bild v n der tatsach-
lichen Zusammensetzung des neurologischen Krankenmaterials,
welches der neurologischen und auch der allgemeinen Praxis, fiir die
der Student ja zunachst auszubilden ist, zuflieBt.
Es ist bis jetzt, soweit mir bekannt, niemals der Versuch ge¬
macht worden, sich dieses tatsachliche Material einmal von diesem
Gesichtspunkte aus durchzusehen.
In Berlin und in Breslau besteht seit langen Jahren im Rahmc n
der psychiatrischen undNervenklinikeine sehr frequentierteNerven-
poliklmik, der eingroBes neurclogischesMaterial aus Stadt und Land
zuflieBt, unbeeinfluBt von dem Odium der ,,Irren‘ klinik, das an
kleinerenOrtendasperiphere,spinaleundfunktionellnerv6se Material
aus de l Polikliniken der psychiatrischen Klinik — in iibrigens deut-
lich abnehmendem MaBe — mitunternoch abhalt. Ich kenne auch
das neurologische Krankenmaterial, wie es den Sprechstunden der
Neurologen in den groBen Stadten zuzuflieBen pflegt.
Die Durchsicht einer Reihe von Jahrgangen von mehreren
tausend Zugangen hat mir zahlenmaBig bestaligt, was ich schcn
immer eindrucksmaBig sagen konnte, das weitaus iiberwiegende
Krankenmaterial, das dem Neurologen zuflieBt, sind nicht die
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Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologic.
97
organischen Falle, sondern funktionell neurotische Zustande und
Psychopathien. Eigentliche Geisteskrankheiten und organische
Nervenkrankheiten sind in der Minderzahl, und zwar so, daB etwa
20 bis hochstens 35 pCt. den organischen Erkrankungen des Nerven-
systems und Gehirns (die Paralyse, die ich den Psychosen zuge-
rechnet babe, nicht mit eingerechnet) zukommen. «. ^
Das Verhaltnis mag sich fiir einzelne Neurologen, die innerhalb
des Fachs noch eine Sonderspezialitat pflegen, und auch jetzt in
der Kriegszeit mit den vielen Verletzungen des Nervensystems
etwas verschieben. Die groBe Masse bleiben aber die sogenannten
funktionellen Zustande. Mit anderen Worten, der iiberwiegende
Teil dessen, was dem Neurologen in seiner praktischen Tatigkeit
zufallt, sind Falle, die das psychische Gebiet zum mindesten stark
beriihren oder ihm ganz zugehoren. Es ist das ein Punkt, der in
seiner Bedeutung nicht untersch&tzt werden darf und der der
Psychiatrie unter alien Umstanden das Recht gibt, ihren groBen
Anteil an der Ausbildung der Neurologen zu beanspruchen.
DaB die Kenntnis des Grenzgebietes der psychopathischen
Konstitutionen im weitesten Sinne dem Studierenden durch den
Psychiater, d. h. von der psychiatrischen Betrachtungsweise aus zu
vermitteln ist, ist emsthaft, glaube ich, nicht zu bestreiten und wird
auch darum nicht anders zu beurteilen sein, weil es natiirlich auch
innere Mediziner und Neurologen nicht psychiatrischer Provenienz
gibt, die auf Grund einer besonderen Veranlagung fiir psycho-
logische und psychopathologische Fragen diesen Zustanden
spezielles Interesse zuwenden und besonderes Verstandnis entgegen-
bringen.
Aber man tausche sich nicht. Die pragnante, humoristische,
historisch durchaus verstandliche, ich glaube von Dejerine
stammende Umschreibung der Aufgabe der Psychiatrie: Le
psychiatre est celui, qui enferme, l’alien4 celui, qui est enferm4,
steckt auch heute noch vielen im Blute. leh erinnere mich einer in
ihrer selbstverstandlichen Harmlosigkeit charakteristischen AeuBe-
rung gerade meines friiheren verehrten intemen Heidelberger
Kollegen, der mir gelegentlich sagte: „Kollege, ich habe einen Para-
lytiker auf meiner Klinik, mit dem gebt es nicht langer, den muB
ich zu Ihnen verlegen.“ Implicite, die Aufgabe der psychiatrischen
Klinik fangt auch beim Paralytiker erst an, wenn die 6peziellen Be-
handlungsmittel der geschlossenen Anstalt in Betracht kommen.
Ich glaube es gibt keinen Psychiater, der nicht solchen Erfahrungen
bei seinen Kollegen gelegentlich begegnet ist. Es ist eine recht ver-
breitete Auffassung, daB die Aufgabe der Psychiatrie sich mit der
Erforschung, Behandlung und der forensischen Beurteilung der
Geisteskrankheiten, die sich in den geschlossenen Anstalten finden,
erschopfe. Besonders auch das Gebiet der forensischen Psychiatrie
wird uns immer geme und mit besonderem Nachdruck uberlassen.
Man reiBt sich anderwarts nicht um diese verantwortliche, zeit-
raubende und haufig mit allerhand auBeren Unannehmlichkeiten
verbundene Tatigkeit. Es ist kein Zweifel, daB die forensische
Monateschrift f. Psychiatric u. Neorolo^le. Bd. XXXVII. Heft 2. 7
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Bonhoeffer, Psychiatrie und Neurologic.
Psychiatrie wichtig ist, und daB sie in der psychiatrischen Klinik
— kaum jedoch in der Hauptklinik — gelehrt warden muB, aber
man darf ihre Bedeutung nicht iiberschatzen. Die Notwendigkeit,
die sie mit sich bringt, naturwissenscbaftliche Erscheinungsfonnen
in einen juristischen Rahmen einzuzwangen, bleibt immer etwas
Unnatiirliches. Der wissenschaftliche Wert, den diese forensiscben
Falle vor allem fiir die Anstaltspsychiater haben, beruht fast
lediglich darin, daB sie die Notigung mit sich bringen, sich eingehend
mit ihnen zu beschaftigen, und daB sie eine Erweiterung des
Materials bedeuten, insofem die betreffenden Individuen erfahrungs-
gemaB haufig dem wichtigen Gebiete der psychopathischen Konsti-
tutionen zugehoren, also einem Gebiete, das sonst der geschlossenen
Anstalt nur in geringerem Umfange zuflieBt.
Gegeniiber den die klinische Psychiatrie auf das Material der
Anstaltspsychiatrie einengenden Bestrebungen muB daran fest-
gehalten werden, daB die Lehraufgaben der psychiatrischen Klinik
andere sind, und daB sie enger und weiter zu stecken sind, als uns viel-
fach zugestanden wird. Enger insofem, als es nicht erforderlich ist,
den Studierenden in die letzten Kompliziertheiten der Differential-
diagnoseder Geisteskrankheiten im engeren Sinne einzufiihren. Ganz
abgesehen davon, daB es iiberhaupt nichtmoglich ist, ohne denBesitz
einer in Jahren erworbenenEmpirie indiesenFragen zu einem eigent-
lichen Verstandnis zu gelangen, ist es fiir die praktischen Bediirfnisse
des Arztes tatsachlich geniigend, wenn er die wichtigsten psychischen
Krankheitsgruppen kennen lemt. Es ist nicht Sache der psych¬
iatrischen Kliniken, den Studierenden zum Anstaltspsychiater, oder
auch zum Gerichtspsychiater auszubilden. Es muB das betont
werden, weil auch seitens mancher psychiatrischer Kliniker mit-
unter zu sehr spezialistischen Neigungen, differentialdiagnostischen
und nosologischenNuancen,forensisch psychiatrischen Spezialfragen
nachgegangen wird. Das hatte eine gewisse Berechtigung, als das
Horen der psychiatrischen Klinik noch fakultativ war und bei den
wenigen Horem ein spezielleres Interesse oder Physikatsabsichten
bestanden und haufig auch schon gewisse Fachkenntnisse voraus-
gesetzt werden konnten. In die allgemeine Klinik, wle sie jetzt
von alien gehort werden muB, gehort das nicht, es sind das Auf-
gaben fiir Spezialvorlesungen, die nebenhergehen.
Zu den unerlaBlichen Aufgaben des psychiatrischen Unterrichts
gehort aber die Untersuchungstechnik der klinischen Psychiatrie.
Die psychiatrische Explorationsform, die Art und Weise, wie man
zu der Feststellung des geistigen Besitzstandes gelangt, die speziellen
Fragestellungen, die sich bei den einzelnen psychischen Symptom-
gruppierungen erheben, gehoren naturlich an die erste SteUe. Aber
der organische Befund am Nervensystem ist nicht weniger wichtig
Man wird nicht in Abrede stellen konnen, daB, wenn sich im Bereich
psychischer Erkrankungen die Grundfrage, ob organisch oder nicht,
erhebt, ein Urteil ohne die Kenntnis auch der neuropathologischen
Untersuchungsmethodik nicht gewonnen werden kann. Es ist nicht
notig, auf diese schon viel erorterte Frage nfiher einzugehen. GewiB
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Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologie.
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trifft es im allgemeinen zu, daB jemand, der spater ala Anstalts-
psychiater fungiert, ein guter Psychiater sein kann, auch wenn er
die Elektrodiagnostik nicht in alien Einzelheiten beherrscht. Aber es
ist doch nicht zu leugnen, dafi das Kapitel der Paralyse und der
iibrigen luetischen Zentralerkrankungen, der Arteriosklerose, der
toxischen und toxisch-infektiosen Psychosen, des Korsakow, der
endokrinen Psychosen, der multiplen Sklerose und der gehim-
atrophischen Prozesse, der schweren katatonen Erkrankungen, der
Hysterie, der Epilepsie, der Idiotie und vieler anderen der
Psychiatric unzweifelhaft zugehorigen Prozesse in ihrer Sympto-
matologie so viele Beziehungen auch zu den Erkrankungen der
spinalen, der peripheren und sympathischen Gebiete haben, daB
diese schlechterdings im Rahmen auch der psychischen Erkran¬
kungen mitbehandelt werden miissen. Ich will auch nicht n&her
darauf eingehen, daB die Histopathologic der Geisteskrankheiten
und des Gehims nicht getrieben werden kann, ohne die patho-
logische Anatomie des iibrigen Zentralnervensystems, daB die
Frage des endogenen und exogenen, der Vererbung und vieles
andere untrennbar beiden zugehort.
GewiB gibt es periphereNervensch&digungen undRiickenmarks-
erkrankungen und auf der anderen Seite psychische Erkrankungen,
die nach unseren bisherigen Kenntnissen die iibrigen Gebiete des
Nervensystems nicht mit alterieren. Eine rheumatische Facialis-
lahmung oder ein Caudatumor ist gewiB wesensverschieden vom
Querulantenwahn, aber dieser steht jenen nicht ferner als etwa
eine Phobie, welche die Neurologie unbedenklich fiir sich be-
ansprucht, die aber ohne Zweifel zum mindesten ebenso der
Psychiatric zugehort. Es handelt sich eben um die Endglieder
einer zusammenhangenden Reihe.
Die Forderung, wegen der Verschiedenheit dieserEndgliedereine
Scheidung im Unterricht fiir die Studierenden durch Schaffung be-
sonderer Lehrstiihle fiir die peripheren und spinalen Erkrankungen
eintreten zu lassen, scheint mir nicht berechtigt zu sein und auf einer
Ueberschatzung der peripheren Neurologie innerhalb des Gesamt-
gebietes zu beruhen. Soweit die klinischeVorlesung selbst denpropS-
deutischenUnterrichthierinnichtleisten kann, laBt er sich inSonder-
kursen, wie sie zum groBen Teil schon in der psychiatrischen und
Nervenklinik, wie auch in der inneren Klinik eingerichtet sind, aus-
reichend pflegen. Gegen die Erteilung von eigentlichen Lehrauftragen
an in dem Fach besonders tatige Dozenten ist natiirlich nichts
einzuwenden. Das Gegebene wird aber immer sein, daB sie im
Rahmen der psychiatrischen und Nervenklinik, die das Material
innerhalb ihres Lehrgebietes braucht, eingerichtet werden. An sich
kann der untersuchungstechnischen Seite der peripheren Neurologie
in dem Unterricht der Studierenden in der bisherigen Weise in aus-
reichendem MaBe geniigt werden.
Erfordert nun die spezialisierte Behandlungstechnik der
Neurologie analog den chirurgischen Unterfftchem der Laryn-
gologie, Otologie, Orthopadie eine entsprechende Hervorhebung
des Gesamtfachs durch besondere Lehrstiihle? Ob die chirur-
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100
Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologie.
gische Neurologie, fur die sich Rothmann neuerdings erwarmt hat,
eine erstrebenswerte Spezialitat sein wird, ist mir nicht iiber
jeden Zweifel erhaben. Man mag wohl gelegentlich als Zuschauer
bei Himoperationen den Eindruck ha ben, daB der Chirurg bei seinem
Eingriff sich der Dignitat des Gewebes, in dem er arbeitet, bewuBter
sein konnte. Aber das ist etwas, was sich verliert, sobald der Chirurg
sich etwas in die Spezialdisziplin eingearbeitet hat. Bei deni Roth¬
mann vorschwebenden ausschlieBlichen Neurochirurgen scheint mir
die Versuchung, wahrend der Operation zu experimentieren, und
auch die Gefahr nicht ganz fernzuliegen, daB er bei den doch ver-
haltnismaBig nicht sehr groBen absoluten Zahlen der fur die
Operation in Betracht kommenden Erkrankungen — man kann
von Zeiien, wie sie jetzt der Krieg mit seiner groBen Zahl von
SchuBverletzungen des Nervensystems mit sich bringt, als einem
Ausnahmezustand absehen — unwillkiirlich dazu gelangen wird,
die Indikationen zur Operation etwas weiter zu stellen als gut
ist. Ich habe bei Horsley , dem doch ein groBes intemationales
Material zu Gebote steht, durchaus den Eindruck, daB er zu viel
operiert. Hat der Neurochirurg aber wenig zu operieren, so wird die
Operationstechnik Not leiden. Die Zweiteilung der Arbeit zwischen
dem Chirurgen und dem neurologischen Diagnostiker und Berater
bei der Operation hat, wie ich glaube, jedenfalls den Vorteil,
daB man die Sicherheit hat, daB dem zu Operierenden — es
handelt sich doch meist um recht schwere Ffille, die auch hinsicht-
lich der Beachtung des Allgemeinzustandes bei der Operation groBe
Anforderungen stellen — all die kleinen speziellen Vorteile einer
groBen chirurgischen Routine, wie sie dem allgemeinen Chirurgen
zu Gebote steht, zugute kommen. Im Einzelfall kann es gewiB
auch einmal anders liegen und ich will die Moglichkeit, daB es
einmal gute chirurgische Nervenspezialisten geben wird, nicht in
Abrede stellen. Was aber hier zur Diskussion steht, ist etwas
anderes. Daruber kann wohl kein Zweifel bestehen, daB die chirur¬
gische Seite der Neurologie die Einrichtung eines Sonderlehrstuhls
in absehbarer Zeit nicht erforderlich macht.
DaB die Elektrotherapie ein Gebiet ist, dessen praktische Er-
folge es notwendig erscheinen lassen, seinetwegen besondere Lehr-
stiihle fur Studierende zu begriinden, wird auch kaum zu begriinden
sein. Ihre Erfolge, lediglich von der physikalischen Seite aus be-
trachtet, beschranken sich auf ein recht kleines und auch selbst hier
hinsichtlich der organischen Wirkung noch diskutables Gebiet. Ihre
wesentliche Wirkung geht bei der groBen Mehrzahl der damit Be-
handelten iiber die Psyche, ist also Psychiatrie im eigentlichen
Wortsinn.
Damit komme ich auf die Seite der Lehrtatigkeit, nach welcher
ich die Aufgabe der Psychiatrie wohl mit der Mehrzahl meiner Fach-
genossen weiter gesteckt sehe und die ich fur die Gesamtausbildung
des spateren Arztes fur ebenso wichtig halte, wie die Kenntnis der
Hauptformen der desorientierenden Geistesstorungen und ihre
Behandlung. Die Psychopathologie als die Lehre von den gesetz-
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Bonhoeffer, Psychiatrie und Neurologie.
101
m&Bigen Zusammenh&ngen in der Pathologic der psychischen Vor-
gange ist mehr als jede andere medizinische Disziptin geeignet, ein
Gagengewicht zu bilden gegeniiber den — der Ausdruck sei er-
laubt — Disziplinen des objektiven Befundes. Sie lehrt, daB auoh
die subjektiven Symptome inneren Gesetzm&Bigkeiten unterliegen
und sie scharft das Auge fiir das, was in einem vorliegenden Befunde
individuelle Beaktionsform und psychisch bedingt ist. DaB in
dieser Richtung die Ausbildung des kiinitigen Arztes einer Er-
ganzung bedarf, habe ich an anderer Stelle 1 ) ausgefiihrt, und eret
neuerdings hat wieder Bleuler 2 ) auf diese Liicke hingewiesen. Das
Streben nach exakten objektiven Befunden gehort so sehr zu den
Grundlagen der arztlichen Ausbildung in den Hauptfachern der
Chirurgie und inneren Medizin, daB es kaum vermeidbar ist, daB der
Blick des Studierenden an dem psychologisch und psychopatho-
logisch bedingten vorbeigleitet, obwohl dieses oft wichtiger ist, als
der vermeintUche objektive Befund. Es ist durchaus zu wiinschen,
daB schon der Studierende Anregungen in dieser Richtung bekommt.
die ihm sonst oft verhaltnismaBig spat und unter manchen Ent-
t&uschungen miihsam durch die Praxis des Lebens gebracht
werden. Es ist kein Zweifel, daB gerade das groBe Gebiet der
psychopathischen Konstitutionen, wie es die neurologisch-psyoh-
iatrische Klinik dem Studenten vorfiihrt, von alien am geeignetsten
ist, die auBerordentlicheBedeutung zu zeigen, welche dasPsychisehe
auch innerhalb der somatischen Pathologic hat. ■■
Es ist hier nicht der Ort, eingehend auszufiihren, von welcher
praktisch therapeutischen Bedeutung das ist. Mit Recht hat
Bleuler wieder darauf hingewiesen, daB das Bliihen des Kur-
pfuschertums zu einem wesentlichen Teil auf einer besseren Be-
wertung der psychischen Momente im Kranken seitens dieser Heil-
kiinstler beruht. Es ist auch kein Zweifel, daB der Staat groBe Er-
spamisse in der Unfallfiirsorge gemacht hatte, wenn der Blick der
Aerzte bei der sogenannten Rentenneurose nicht lange Zeit in stark
ubertriebener Weise durch die sogenannten objektiven Symptome
der Reflexsteigerungen, der vasomotorischen Erscheinungen usw.
gebannt gewesen ware. Die Erkenntnis der psychischen Quelle, die
hierflieBt, muBteerst durch die schwerenMiBerfolge, welche dieVer-
abreichung hoher Renten mit sich brachte, klar werden. I'*
DaB der natiirliche Weg, die psychologischen und psycho-
pathologischen Vorgange bei diesen und anderen Zustanden dem
Studenten klar zu machen, die psychiatrische Klinik ist, kann
kaum bestritten werden. In dieser erwachst ihm aus dem haufigen
Anblick grober Falle und leichterer aller Abstufungen allmahUch
auch das Verstandnis fiir die feineren Nuancen, in denen sich die
Mitwirkung psychogener Faktoren zeigt.
*) Berliner klin. Wochenschr. 1912. Ueber die Bedeutung der psy-
chitrischen Unterauchungsmethodik fiir die allgemeine ftrztliche Ausbildung.
*) Bleuler, Sanunlung klinischer Vortrftge, begriindet von Volkmann
Nr. 701 >v Die Notwendigkeit medizinisch-psychologischen Unterricht8‘*.
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102
Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologic.
Damit ist aber auch ausgesprochen, daB diese der Zahl nach
umfangreicliste Klientel der Neuropathologen im allgemeinen am.
zweckmaBigsten durch den Psychiater dem Studenten zur Kenntnis
gebracht, wird. Es scheint mir irrtumlich und nur durch das starkere
Interesseamorganischenundpathologisch-anatomisch Fundierbaren
erklarlich, wenn seitens der Neurologen bei der Begriindung ihrer
Forderungen nach selbstandigen Lehrstiihlen auf die besondere
Wichtigkeit und die Sonderstellung der Erkrankungen des peri-
pheren und spinalen Systems hingewiesen wird. GewiB sind auch
diese Erkrankungen wichtig, aber sie stehen quantitativ gegeniiber
den oben genannten Zustanden zuriick, und sie stellen fur den
sp&teren Praktiker entfemt nicht solche Behandlungs- und soiiale
Schwierigkeiten dar, wie das groBe Kapitel der sogenannten
Neurosen, psychopathischen Konstitutionen und der leichteren
Defektzustande. Es ist wohl auch zuzugeben, daB eine eingehende
psychiatrische Vorbildung mehr als eine andere dazu befahigt, in der
groBen Gruppe der sogenannten funktionellen Neurosen und
Psychopatbicn eine differential-diagnostische Vertiefung herbei-
zufiihren, und gerade das Auge des Studenten fur die initialen
meist noch nicht als solche erkannten Psychosen zu scharfen, deren
Kenntnis fur ihn wichtiger ist, als die der psychischen Erkrankungen
mit groben Erscheinungen, bei denen den Praktiker meist nur die
Unterbringungsfrage interessiert. Kurz gesagt: Die psychiatrische
Klinik soil fur den Studierenden nicht nur der Ort sein, wo er einen
Einblick in das aus dem sozialen Korper zur Ausscheidung gelangte
Anstaltsmaterial bekommt, sondern sie soli ihm auch das Auge
scharfen fur die mannigfache Durchdringung der dem allgemeinen
Arzte und dem Nervenarzte zuflieBenden Klientel mit psychopatho-
logischen Faktoren. Ohne einen Ueberblick iiber die Pathologie
des gesamten Zentralnervensystems kann das nicht \ermitlelt
werden.
Ich habe bisher im wesentlichen die unterrichtliche Aufgabe, so-
weit sie den Studenten betrifft, im Auge gehabt. Wie steht es nun
mit den anderen Aufgaben der Klinik , der Forderung der Forschung
innerhalb der Spezialwissenschaft und der Ausbildung des wissen-
schaftlichen Nachwuchses 1 Hier pflegt als Haupteinwand gegen die
Verbindung von Psychiatrie und Neurologie der gemacht zu werden,
daB das Gebiet der Psychiatrie so umfangreich sei, daB es die voile
Arbeitskraft eines Forschers beanspruche, so daB die Neurologie
nur ,,nebenamtlich“ betrieben werden konne. Ebenso liege es mit
der Neurologie. Das Argument scheint einleuchtend. Aber es ist
es meines Erachtens wirklich nur 6cheinbar. Es ist eine Tauschung,
zu glauben, daB der Psychiater oder der Neurologe auch nur inner¬
halb seines engeren Faches auf alien Gebiet en als Forscher wissen-
schaftlich fordemd wirken kann. Die Spezialisierung ist innerhalb
der Facher schon viel zu groB. Universales Arbeiten ist in
einer Zeit, in der groBe Teile der Forschung komplizierte Spezial-
techniken geworden sind, nicht mehr moglich. Ich kenne niemand,
der in der normalen und pathologischen Anatomie, in der patho-
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Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologie.
103
logischen Histologie, der pathologischen Physiologie und Chemie
dee Nervensystems, in der Vererbungslehre und in derKlinik oder
auch nur in einem Teil dieser Gebiete gleichmaBig fruchtbar ge-
arbeitet h&tte. Ja selbet innerbalb der engeren klinischen Tatigkeit
liegt es so. Wer in peripherer Neurologie, in Elektrophysiologie,
Diagnostik und Therapie sich spezialistisch vertieft hat, pflegt
meist nicht auch Grundlegendes in der GroB I impathologie zu
arbeiten. Die Spezialisierung bringt es mit sich, daB die Ergeb-
nisse groBer Arbeitsgebiete innerhalb des einzelnen Faches auch
vom Fachgenossen nicht in eigener Forschung uberpriift werden
konnen, sondem ubemommen werden miissen. Es ist nicht notig,
an der Arbeitsleistung auch der hervorragenden Fachgenossen
diesen Nachweis zu fiihren.
Das spezielle Forscherinteresse des Einzelnen grabt sich nach
Begabung und Interesse oder nach der iibemommenenSchulrichtung
an dieser oder jener Stelle ein und die Neuorientierungen iiber das
Gesamtgebiet eines Faches pflegen nicht aus Arbeiten, die von
vomherein das Gesamtgebiet im Auge haben, sich zu ergeben,
sondem aus der Vertiefung in eine einzelne Frage hervorzugehen.
Die wissenschaftliche Auflosung einer Disziplin in einzelne
Spezialgebiete ist als ein naturlicher und notwendiger Vorgang der
Forschertatigkeit zu betrachten. Es ist begreiflich und berechtigt,
daB jeder Dozent innerhalb seines Spezialgebietes auch lehrtatig
sein will. Diese Lehrtatigkeit in den Spezialgebieten hat sich
aber nicht auf die Gesamtheit der klinischen Studenten, sondem
auf einzelne besonders Interessirte und auf die im Spezialfach
sich Weiterbildenden zu erstrecken.
Es ist eine Aufgabe der Kliniken, ebenso der inneren und
der chirurgischen, wie der psychiatrischen, gegeniiber dieser
spezialisierenden Wirkung, die im Wesen der Forschung liegt,
gleichzeitig die gemeinsame Grundlinie der Disziplin festzu-
halten. Es ist im Interesse der Vermeidung der Gefahr der Ein-
seitigkeit, wenn die Basis, von der der Forscher ausgeht, durch
die ganze Breite des Faches dargestellt wird. Es ist fur den
Forscher, der auf neurologischem Gebiete arbeitet, ebenso
niitzlich und notwendig, daB er psychopathologisch die notige
Schulung hat, wie fiir den Psychiater die Kenntnis der Pathologic des
iibrigen Zentralnervensystems unentbehrlich ist. In dieser Richtung
hat die psychiatrische und Nervenklinik zu wirken. Es ist gewiB
kein Nachteil, wenn an der Klinik jeder klinische Assistent sowohl
auf der psychiatrischen, wie auf der Nervenabteilung als Stations-
arzt tatig ist, wie ich es prinzipiell immer gehalten habe. Es ist
vielmehr das, was den praktizierenden Neurologen am besten
auf seine spatere T&tigkeit im Leben vorbereitet.
DaB das gesamte Gebiet dem beginnenden wissensc h aftlich en
Arbeiter zur Verfiigung steht, ist aber auch vom Gesichtspunkt der
Arbeitsauswahl erwiinscht. Es kann sich so am besten ganz von
selbst die Differenzierung in der Arbeitsrichtung entwickeln, je
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104 Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenaiichs.
nachdem dem einen mehr die psychopathologische Seite, dem
andem die Beschfiftigung mit dem organischen Material zusagt.
Ich kann also auch fiir die Fortentwicklung der neurolcgischen
und der psychiatrischen Wissenschaft keinerlei Nachteile, soodem
nur Vorziige in der Vereinigung von Psychiatric und Neurologie in
der Klinik erblicken.
In letzter Linie ist die erfolgreiche Forschert atigkeit ja
iiberhaupt eine Personenfrage. Das zeigt nicht zuletzt die wiseen-
schaftliche Entwicklung der Neurologie. Sie ist von inneren
Klinikern, Psychiatem und Nur-Neurologen gefordert worden.
Es wird kaum zu sagen sein, von wem am meisten. Sie hat deutschen
Forschem nicht weniger zu danken als auslandischen, obwohl der
unterrichtlicheEntwicklungsgang hier unddort ganz verschieden ist.
Es ist selbstverstandlich und braucht kaum gesagt zu werden,
daB es eine Aufgabe der Unterrichtsverwaltung ist, wie in anderen
Spezialfachern, so auch die wissenschaftliche Arbeit der auf Einzel-
gebieten des Nervensystems erfolgreich arbeitenden Forscher durch
Lehrauftrage zu unterstiitzen. Das kann aber ohne Schadigung des
neurologisohen Materials der psychiatrischen Kliniken geschehen
und darf nicht zu einer Losung der organischen Verbindung der
Neurc- und Psyehopathologie auf der Hochf chule fiihren.
Den Zopf t ehe ich an anderer Stelle als Erb. Der Zopf ist
die alte Auffassung von der Psychiatrie ,,le psychiatre est cel i,
qui enferme“. Gerade auf dem Wege, den die Unterrichts¬
verwaltung in dieser Frage auf den preuBbchen Hochschulen
eingeschlagen habe, wird es gelingen, ihn zu beseitigen.
(Aus der inneren Abteilung des AUgemeinen Krankenhauses St. Georg,
Hamburg [Direktor Professor Dr. Deneke ]).
Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs.
Von
Dr. C. ROMER.
Die Erkrankungen der nervosen Zentralorgane infolge ther
mischer Einfliisse haben in der deutschen Iiteratur bisher verhalt-
nismaBig wenig Beachtung gefunden. Wohl ist, besonders von
militararztlicher Seite, die Frage des „Hitzschlags“ eingehend unter-
sucht worden, so in der ausfiihrlichen Arbeit von Steinhausen (1)
(„Ueber die klinischen und atiologischen Beziehungen des Hitz-
schlags zu den Psychosen und Neurosen“), den eigentlichen „Sonnen-
stich “ dagegen haben nur wenige Autoren zum Gegenstand ihrer
Untersuchungen gemacht. Der Grand dafiir liegt wohl im wesent-
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Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs.
105
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lichen darin, daB unter den in Europa obwaltenden klimatischen
Verhaltnissen der reine ,,Sonnenstich“ wenig haufig beobachtet
wird. Immerhin ist die Zahl der an Sonnenstich jahrlich Erkrankten
doch nicht so gering, wie man vermuten konnte.
Die leichtesten Grade der Insolation, die nur zu mehr oder
weniger ausgedehnter Dermatitis fiihren, kommen zum allerge-
ringsten Teil in arztliche Behandlung. Sie bieten auch wenig kli-
nisches Interesse. Weit haufiger suchen solche Kranke den Arzt
auf, welche die charakteristischen Storungen des Nervensystems
nach Insolation auftveisen , in Form von Reizbarkeit, leicht ©in-
tretender Erschopfung, Aryhthmi© d©r Herzaktion usw. Vom kli-
nischen neurologischen Standpunkte aus am interessantesten, schon
weil in atiologischer Bedeutung am eindeutigsten, sind jedoch die
Fall© von reinem ,,Sonnenstich'\ d. h. die Erkrankung des Zentral-
nervensystems infolge direkter Einwirhung der strahlenden Sonne
auf das Gehirn und seine Haute. Die Pathogenese dieser Erkrankung
soli im folgenden an der Hand von drei im Jahre 1914 hier beob-
achteten Fallen untersucht werden.
Fall 1. Kl., Arbeiter, 41 Jahre, hat sich am 23. VI. in betrunkenem Zu-
stande in die Sonne gelegfc; wurde mit starker Hautrotung der unbekleideten
Korperteile in das Krankenhaus eingeliefert. Wahrend der folgenden
8 Tage trat schwere Somnolenz auf; Pat. nimmt fast keine Nahrung zu sich.
1. VII. Tiefe Somnolenz. Cyanose. Rochelnde Atmung. Pupillen-
reaktion auf Licht erhalten. Hautreflexe fehlen. Sehnenreflexe gesteigert.
Kein Fieber.
Lumbalpunktion: Druck 120 mm Wasser.
Liquor wasserklar.
Zellen 23/3.
Nonne-ApeUsche Reaktion negativ.
2. VII. Exitus letalis.
Obduktion (Prof. Dr. Swvmonds): Pia mater leicht weifllich verf&rbt.
Im Subarachnoidealraume vermehrte serose Fliissigkeit. MaBiger Hydro¬
cephalus intemus. Himsubstanz makroskopisch unver&ndert.
Fall 2. W., Lehrling, 16 Jahre. Am 19. VII. stundenlanges Sonnenbad,
ohne Kopfbedeckung, nur mit Badehose bekleidet. Seither heftige Kopf-
schmerzen.
24. VII. Aufnahme ins Krankenhaus. Braunrote Verfarbung der
ganzen Haut, nur mit Aussparung der von der Badehose bedeckten Partie.
Teilweise entziindliche Rbtung der Haut mit Schwellung und Schmerzhaftig-
keit. Sonst objektiv keine nachweisbaren Veranderungen. Keine Nacken-
steifigkeit. Langsame Herzaktion. Kein Fieber.
Lumbalpunktion: Druck 320mm Wasser.
Liquor wasserklar, reichlich, steril.
Zellen 16/3 (einkemige).
Nonne-Apeltsche Reaktion negativ.
Pandysohe Reaktion schwach positiv.
25. VII. Unmittelbar nach der Lumbalpimktion Nachlassen der Kopf-
schmerzen. Seitdem beschwerdefrei. |
28. VH. Geheilt entlassen.
Fall 3. Sch., Arbeiter, 16 Jahre. Am 12. VII. liber den ganzen Tagaus-
gedehntes Sonnenbad am Elbufer im Sande, ohne Kopfbedeckung, nur mit
einer Badehose bekleidet. Gibt an, dabei eingeschlafen zu sein. Seitdem
Kopfschmerzen.
16. VII. Bettlagerig, Kopfschmerzen, Erbrechen.
20. VII. Wegen starker, anhaltender Kopfschmerzen von seinem Arzt
mit der Diagnose ,,Himhautentziindung“ dem Krankenhause iiberwiesen.
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106
R 6 m e r , Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs.
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Guter Em&hrungszustand. Die Haut des Riickens ist in der ganzen
Ausdehnung, ebenso die Haut der Beine, hochgradig gerotet, leicht odematos,
fiihlt sich heiB an. Stellenweise lost sich die Epidermis in groBen Blattem ab.
Die iibrige Haut des Gesichts, Kopfes und der Extremitaten ist braunrot,
nicht erheblich entziindlich gerotet. Nur die Genital- und Analgegend
(Badehose) von normaler Farbe und Beschaffenheit. Temperatur 38° in der
Achselhohle.
Puls weich, beschleunigt, im librigen kein krankhafter Befund an den
inneren Organen. Urin frei von EiweiB* imd Zucker.
Sensorium frei. Keine bemerkenswerte Storung am Nervensystem.
Druckempfindlichkeit der Waden. Deutliche Nackenstarre imd Kemig sches
Ph&nomen. Augenhintergrund o. B.
Lumbalpunktion: Druck 280 mm Wasser.
Liquor wasserklar, reichlich.
Zellen 720/3 (etwas mehr polynukleare als mono-
nukleare).
Nontie-Apeltsche Reaktion +.
Pandysche Reaktion 4-.
Kein Blut. Bakteriologisch steril, serologisch o. B.
Kein Fibrinnetz.
Unmittelbar nach der Spinalpunktion gibt Pat. Erleichterung an.
21. VII. Weniger Kopfschmerzen. Kein Fieber mehr. Subjektiv
bedeutend wohler; objektiv frischer, keine Nackenstarre mehr, Kemigsches
Ph&nomen verschwunden.
22. VII. Keinerlei Beschwerden mehr.
23. VII. Lumbalpunktion: Druck 150 mm Wasser.
Liquor wasserklar, reichlich.
Zellen 234/3 (vorwiegend mononukleare).
Nonne-Apeltsche Reaktion +.
Pandysche Reaktion +.
Serologisch o. B.
27. VII. Lumbalpunktion: Druck 110 mm Wasser.
Liquor klar, leicht gelblich gefarbt.
Zellen 24/3.
Nonne-ApeUsche Reaktion negativ.
Pandysche Reaktion schwach positiv.
28. VII. Arbeitsfahig entlassen. Die Haut des Riickens ist braunrot
wie die iibrige Haut, an einzelnen Stellen noch leichte Schuppung, keine
entziindliche Rotung mehr.
Die drei kurz wiedergegebenen Krankengeschichten zeigen in
eklatanter Weise die Einwirkung der direkten Sonnenbestrahlung
auf das Gehim, bzw. die Hirnhaute. Und zwar lassen die drei Falle
hinsichtlich der Schwere der Veranderungen deutliche und bemer¬
kenswerte Unterschiede erkennen. Im Fall 1 handelt es sich um
eine Storung des Sensoriums, die an sich zu der Annahme berechtigte,
daB die Lumbalpunktion eine Veranderung der Spinalfliissigkeit er-
geben werde. Indessen ergab diese einen nach alien Richtungen
normalen Liquorbefund. Dagegen wurde bei der Obduktion ein
maBiger Hydrocephalus intemus festgestellt, femer eine Ver-
mehrung der Fliissigkeit im Subarachnoidealraume und eine weiB-
liche Verfarbung der Pia. Es handelte sich somit um einen ent-
zundlichen Zustand der serosen Haute des Gehims.
Konnte in diesem Falle geltend gemacht wereen, daB derartige
Befunde auch sonst bei Alkoholikem und an Herzschwache ver-
storbenen Individuen zu erheben sind, so diirfte im Falle 2 ein solcher
Einwand nicht zu machen sein. Hier ergab die wegen Kopfschmerzen
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R 6 in © r , Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs.
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ausgefuhrt© L jmbalpunktion einen ganz erheblich vermehrten Druck
bei reichlicher Spinalfliissigkeit. AuBerdem ist beachtenswert, daB
zwar die Nonne-A peltsche Globulinreaktion negativ ausfiel, die feinere
Pandysche Reaktion mit verdiinnter Karbolsaure dagegen deutlich
positiv. Damit ist wohl der Beweis einer bestehenden entziindlichen
Reizung im Cerebrospinalsystem erbracht. Unmittelbar nach der
kiinstlichen Emiedrigung des erhohten Liquordruckes verschwanden
die Beschwerden, ohne wiederzukehren, ein Beweis, daB die Drack-
erhohung die Ursache der Kopfschmerzen war.
Am eindeutigsten und lehrreichsten ist Fall 3, vor allem auch
deshalb, weil es hier in mehrfachen Spinalpanktionen gelungen ist,
den Ablauf der akuten Hirnhautentziindung zu verfolgen. Die
Untersuchung bei der Aufnahme ergab klar die Symptom© einer
meningealen Erkrankung. Die Spinalpunktion bestatigte die Dia¬
gnose durch erhohten Liquordruck, vermehrte Zellenzahl, positive
Globulinreaktion. Wiederum brachte die Druckregulierung alsbaldige
Besserung. Die zweite Spinalpunktion lieB eine Verminderung
des Drucks und der Zellen erkennen. Bei der letzten Punktion
waren die pathologischen Veranderungen des Liquors verschwunden,
nur noch die Pavdysche Reaktion deutete auf die Anwesenheit von
EiweiBkorpem hin, vielleicht nur Reste zerfallener Erythrozyten,
die, wie die gelbe Verfarbung des Liquors zeigt, zweifellos durch die
friiheren Eingriffe in den Liquor gelangt waren.
Da unsere 3 Patienten bis zu dem Tag© ihrer Erkrankung an
Insolatio gesund gewesen waren, sind wir berechtigt, die beschriebenen
Veranderungen auf die stattgefundene Sonnenbestrahlung zurwckzu-
fuhren. Auf das Vorkommen solcher Veranderungen ist schon von
verschiedenen Seiten aufmerksam gemacht worden. Merkwiirdiger-
weise sind die in der deutschen Literatur beschriebenen Falle nur
ganz vereinzelt. Auch ist nicht immer klar zu erkennen, ob es sich
im jeweiligen Falle um reinen Sonnenstich oder um Hitzschlag ge-
handelt hat.
Nach Oppenheim (2) werden die Erscheinungen der Insolation
von einzelnen Autoren auf Himhyperamie, von anderen auf Throm¬
bose und multiple kapillare Blutungen in der Med. oblongata zu-
ruckgefuhrt, doch ist auch Anamie, Oedem der Pia y Meningitis usw.
gefunden worden. ,,Nach den neueren Erfahrungen von Dopier ,
Dufour, Potelet y Gastinel-Marc, Storey u. A. ist es nicht mehr zu be-
zweifeln, daB eine serose Meningitis in vielen Fallen die Grundlage
der Himerscheinungen bildet, zumal es gelungen ist, durch Lumbal-
punktion Heilung herbeizufiihren“.
Storeys (3) Fall betraf einen Kranken, der sich von einem
schweren Hitzschlage anscheinend erholt hatte, aber nach 4 Tagen
plotzlich bewuBtlos und komatos wurde. Nach einer Lumbalpunktion
kehrte innerhalb weniger Stunden das BewuBtsein zuriick und er-
folgte scheinbare Genesung, bis nach weiteren 4 Tagen sich wieder
tiefe BewuBtlosigkeit einstellte. Auch diesmal verschwand die Be-
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108 Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs.
wuBtlosigkeit wieder nachEntleerung von Liquor und trat endgiiltige
Heilung ein.
Genauere Angaben uber den Liquorbefund bei Erkrankung an
Sonnenstich macht Dufour (4). Ein schwerer Fall von Sonnenstich
mit meningealen Reizerscheinungen und langerdauemder Verwirrt-
heit wird durch mehrmalige Lumbalpunktion der Heilung zugeffihrt.
Die erste Punktion fordert bei starkem Druck eine hamorrhagische
Fliissigkeit zutage, die mikroskopisch Erythrozyten und zahlreiche
Polynukleare enthalt. Die spateren Punktionen ergeben noch gelb-
liche Fliissigkeiten mit maBig vielen Lymphozyten. Heilung nach
zwei Monaten.
Oastinel & St. Marc (5) fiihrten bei einem Manne mit Koma
infolge Insolation die Spinalpunktion aus mit unmittelbar giinstigem
Erfolge. Von dem Moment an, wo der Liquor abzuflieGen begann r
lieB die Benommenheit nach. Wenige Augenblicke nachher war das
Sensorium vollig klar, nur leichte Kopfschmerzen bestanden noch.
Der Liquordruck war stark erhoht, die Fliissigkeit klar, enthielt
etwas Albumen, keine zelligen Elemente.
Schulize (6) fiihrt in Nothnagels Handbuch drei Falle von Inso¬
lation an,ohne fibrigens dieEntstehung einerMeningitis durchdirekte
Sonnenstrahlen als gesichert anzusehen. 1. Fall von Huguenin:
Ein 16 jahriger Lehrling, der sich stundenlnag auf einem See die
Sonne auf die oberen nacktenTeile desKorpers hatte scheinenlassen,
erkrankt zugleich an starkem, brennendem Hauterythem der inso-
lierten Teile und an Meningitis, die nach einer Woche Dauer in Ge-
nesung iiberging.
2. Fall von OvArmut: 6 monatiges Kind, das lange dem Sonnen-
brand ausgesetzt war, stirbt an Meningitis.
3. Fall von Hardy: Eine Frau, die lange Zeit den bloBen Kopf
der Sonne aussetzte, starb ebenfalls an Meningitis.
SchuUze gibt die Moglichkeit der Meningitis infolge Sonnenstichs
zu, weil:
1. zufallig Bakterien im Blute kreisen konnen,
2. aus dem durch die Hitzeeinwirkung chemisch veranderten
Blute toxische Stoffe sich bilden konnen,
3. besonders bei Kindem auch ohne bekannte Ursache eine serose
Entziindung der Himhaute eitrig werden konne.
Meist findet sich bei Hitzschlag nur starkere venose Injektion
der Meningen. Oft erfolgt der Tod, ehe eine eitrige Meningitis ent-
stehen konnte. In manchen Fallen ist aber eitrige Meningitis be-
schrieben worden.
Nach Kaufmann (7) kann man in Fallen von Insolation, die
rasch todlich endeten, Meningitis serosa begegnen.
Birch-Hirschfeld (8) bezeichnet in seinem GrundriB der all-
gemeinen Pathologie als die wahrscheinlichste Ursache des Sonnen¬
stichs eine „paralytische Erweiterung der GefaBe der Himhaute
und der Hirnrinde und sich anschlieBende Zirkulationsstorungen.
In Fallen, wo eine eitrige Meningitis auf die Insolation folgt, ist
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Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs. 109
sicher neben dem thermischen EinfluB eine infektiose Krankheits-
ursache anzunehmen; der ©rster© wirkt dann lediglich als Gelegen-
heitsursache fur den Ausbruch, vielleicht auch fiir die Lokalisation
der Entzfindung.“
Eversbusch (9) fand oft krankhafte Veranderungen des Auges
im Sinne von Hyperamie der Papillen, Neuritis bzw. Neuroretinitis
optica mit und ohne Pigmentinfiltration. Er betrachtet diese Ver¬
anderungen als Folgen akuter Gehimhyperamie mit Beteiligung
der Sehnervenscheiden.
Die Kenntnis der feineren histologischen Veranderungen des
Gehirns verdanken wir in erster Linie den Arbeiten von Amato und
Scagliosi. Amato (10) fand die kleinen Pyramidenzellen der Him-
rinde stark verandert, besser erhalten die groBen Pyramidenzellen
und die polymorphen Zellen. An der Kleinhirnrinde stellte er
schwere Veranderungen des Chromatins der Purlcinje schen Zellen
fest. Das Rfickenmark zeigte Chromatolysis der Vorderhornzellen.
Die Ursache der Veranderungen sieht A. in der Einwirkung der
chemischen, ultravioletten Strahlen.
Scagliosi (11) suchte in Tierversuchen die histologischen Ver¬
anderungen zu studieren, in dem er Kaninchen der strahlenden
Sonne aussetzte. Er fand regelmaBig Zerfall der Chromatinsub-
stanzen des Kornkorperchens der Ganglienzellen, den er z. T. als
direkte Strahleneinwirkung ansieht, z. T. als sekundar bedingt
durch Einwirkung des chemisch durch die Ueberwarmung ver-
anderten Blutplasmas auf das Zentralnervensystem.
HubM und Pigache (12) fanden die Cerebrospinalfliissigkeit
weiBlich triib und vermehrt. Ferner stellten sie bei akuten Fallen
in der grauen Substanz Abblassung der Ganglienzellen, Cytolyse
und Vakuolenbildung fest.
Ueberblicken wir nach dieser kurzen Uebersicht die in der
Literatur niedergelegten Beobachtungen fiber die klinischen, patho-
logisch-anatomischen und histologischen Befunde am Zentral¬
nervensystem ,beim reinen Sonnenstich, so finden wir fibereinstim-
mend folgende Angaben:
1. Kopfschmerzen, meningitische Erscheinungen, Nackensteifig-
keit, Somnolenz, Verwirrtheit szustande, Koma, Lahmungen.
2. Veranderungen des Liquor cerebrospinalis in alien Abstu-
fungen, je nach der Schwere der klinischen Erscheinungen, von der
einfachen Drucksteigerung infolge vermehrter Spinalflfissigkeit,
bis zur eitrigen Meningitis mit Zellvermehrung und positiver EiweiG-
reaktion.
3. Als pathologisch-anatomische Grundlagen der klinischen Er¬
scheinungen: Hyperamie der Meningen und der Himrinde, Trfibung
und Verdickung der Hirnhaute, Cytolyse, Vakuolenbildung, Chrom-
atolyse, besonders der Pyramidenzellen der Hirnrinde.
Die von uns in den besehriebenen drei Fallen erhobenen Be¬
funde decken sich somit mit den in der Literatur niedergelegten Be¬
obachtungen. Leider ist die mikroskopische Untersuchung der Him-
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110 Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs.
rinde im ersten Falle unterblieben; indessen ist auch schon oben
darauf hingewiesen worden, daB die Beinheit dieses Falles nicht
auBer allem Zweifel steht.
Es diirfte nunmehr von Interesse sein, dem wirksamen Agent
bet der Entstehung dieser , ,Meningo-encephalitis Solaris “ nachzu-
forschen. Vor allem muB noch einmal betont werden, daB bei der
vorliegenden Frage nur diejenigen FSlle beriicksichtigt werden
diirfen, bei denen es sich um reine Insolation handelt, im Gegensatz
zum Hitzschlag oder Warmeschlag, der haufig mit dem Sonnenstich
verbunden ist.
Birch-Hirschfeld (8) bezeichnet „als Insolation die schadliche
Einwirkung strahlender Sonnenwarme auf den Kopf“. Nach
Thiem (13) tritt Sonnenstich ein, „wenn ein ruhender Korper der
direkten Sonnenbestrahlung ausgesetzt ist. Dabei kann die AuBen-
temperatur verhaltnismaBig niedrig sein“. Lenzmann (14) sagt:
,,Der Sonnenstich kommt nur durch direkte Bestrahlung des un-
bedeckten Hauptes und Nackens zustande, es gehort dazu unbedingt
die scheinende Sonne ; Wahrend der Hitzschlag auch bei bedecktem
Himmel eintritt, und zw’ar moistens gerade bei schwiiler, dumpfer
Temperatur. — Die Ueberhitzung des Korpers spielt beim Sonnen¬
stich eine nur nebensachliche Rolle — es konnen allerdings Tem-
peratursteigerungen um 2° vorkommen —; es handelt sich hier um
eine Lahmung der grauen Hirnrinde durch die intensive Einwirkung
des Lichts und der Sonnenhitze“. Wie unsere Krankengeschichten
zeigen, sind in obigen drei Fallen die Bedingungen erfiillt, um einer-
seits einen Hitzschlag abzulehnen, andererseits die Erkrankung als
reinen Sonnenstich ansprechen zu konnen. Alle 3 Individuen hatten
„mit unbedecktem Kopfe und Nacken“ stundenlang ,,in der strah-
lenden Sonne geruht". Um eine Ueberhitzung kann es sich we-
nigstens in dem 2. und 3. Falle nicht gehandelt haben; selbst wenn,
was aber nicht der Fall war, die Luft an den betreffenden Tagen des
Sonnenbades schwiil und dumpf gewesen ware, so h&tte die Lage
des Badeplatzes am Elbufer und die so gut wie vollige Nacktheit
der beiden Badenden eine Warmestauung sicher abgewendet.
Sind demnach die von uns beobachteten Falle als reine Inso¬
lation aufzufassen, so sind von vomherein fur diese Falle die von
vielen Seiten fiir den Hitzschlag verantwortlich gemachten toxischen
Ursachen abzulehnen. Schultze (6), Senftleben (15), Thiem (13)
nehmen an, daB die Ursache des Hitzschlags toxische Substanzen
sind, die sich durch Hamolyse bilden; Birch-Hirschfeld (8) glaubt,
daB diese bei der Muskelarbeit entstehen und infolge unzureichender
Ausscheidung durch Haut und Nieren im Blute sich anhaufen.
Scaglosi (11) halt eine chemische Veranderung des Blutplasmas
infolge Ueberwarmung des Blutes fiir wahrscheinlich und lftBt von
da aus wieder sekundar die Alteration des Zentralnervensystems ent¬
stehen.
DaB, wie Schultze (6) und Birch-Hirschfeld (8) angeben, ein
Sonnenstich als Oelegenheitsursache, wenn zufallig Bakterien im
Blute kreisen, einmal eine Meningitis auslosen kann, ist ohne weiteres
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Romer, Ueber die Puthogene.se des Sonnenstichs.
Ill
zuzugeben; sicherlich kann aber auch eine sterile eitrige Meningitis
durch irgendwelchen Reiz auf die Himhaute entstehen, wie vor ahem
durch die Arbeiten SchottmuUers (16) auf diesem Gebiete bewiesen
wurde. Es bedarf also keineswegs des zufalligen Kreisens von
Bakterien im Blute zur Entstehung einer Meningitis, sondem es
handelt sich eben bei der durch Insolation entstandenen Meningitis•
um eine echte Meningitis serosa [ Kaufmann (7)].
Wir machen also einzig und allein die strahlende Sonne fur die
Entstehung der Meningitis beim Sonnenstich verantwortlich, indem
wir ihr eine direkte Einwirkung auf die Himhaute, eventuell auch die
Hirnrinde, zuschreiben. Zur Begrundung dieser Anschauung soli
noch einmal auf die Erfahrungen hingewiesen werden iiber die
Wirkung der Lichtstrahlen auf das Oewebe. Daran ankniipfend wird
die Frage zu beantworten sein, welcher Teil des Spektrums, welche
Strahlenqualitat die schadliche ist. Wir haben ja bei der Wirkung
der Sonnenstrahlen nicht nur die Warmestrahlen, sondem auch die
■chemischen, ultravioletten Strahlen zu beriicksichtigen. Sehen wir
von dieser Trennung ab, so ist die Wirkung der Sonnenstrahlen auf
den Korper in erster Linie eine erwar mends. Nach Lenkei (17) nimmt
die Temperatur der Haut bei freier Bestrahlung im Durchschnitt
um 2,34° (gemessen mit dem Hautthermometer) zu, w&hrend die
Rektaltemperatur, wenn iiberhaupt, nur um hochstens 0,05° steigt.
Es erwarmen sich also die oberflkchlichen Schichten des Korpers
bei freier Bestrahlung mehr als das Korperinnere, weil eben das un-
unterbrochen zirkulierende Blut, durch den Lungenkreislauf vor
Ueberhitzung geschiitzt, die Temperaturkonstanz des Korpers
erhalt. Der Effekt der Bestrahlung der Haut ist derselbe wie bei
jeder Warmeapplikation und auBert sich in einer aktiven arteriellen
Hyperamie, zugleich mit einer Steigerung der Lymphsekretion;
Dieser Zustand kann nach Aussetzen der Warmeapplikation noch
iiber 24 Stunden andauem. Die erwarmende Wirkung der Sonnen¬
strahlen beschrankt sich aber keineswegs auf die oberen Haut-
schichten. Schmidt (20) konnte z. B. zeigen, daB die von der Tropen-
sonne durch die ganze Schadeldecke ohne Haar (10 mm dick) in
das Schadelinnere eingestrahlte Warmemenge pro Minute pro qcm
0,02 Kal., d. i. lpCt. der gesamten auffallenden Warmemenge, be-
tragt. Er schreibt aber der sekundaren, durch Leitung der in der
Sch&deldecke absorbierten Sonnenwarme entstehenden Erwarmung
der Hirnrinde fur-die Entstehung des Sonnenstichs eine groBere
Bedeutung zu als der primaren Erwarmung der Hirnrinde durch
Bestrahlung, wenngleich die Moglichkeit einer direkten Durch-
strahlung des Schadeldaches oder wenigstens einer sehr rasch in
die Tiefe dringenden Erwarmung der ganzen Schadeldecke vor-
handen ist. Zu der Wirkung der Warmestrahlen des Sonnenlichts
summiert sich aber noch hinzu die der chemisch wirksamen Strahlen,
die nach Durchdringung der Haut in der Tiefe ihrerseits ihre eigenen
spezifischen Wirkungen entfalten. Wir wissen durch die Unter-
suchungen zahlreicher Autoren [Leukei (17), HasseWaich (18),
Finsen u. A.], daB die Haut eine natiirliche Schutzdecke des Korpers
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112
Romer, Ueber die Pathogenese des Sonneustichs.
gegen Licht darstellt, und zwar in verschiedenem Grade, je nach der
Dicke, der Farbe und dem Blutgehalt. Leukei (17) konnte zeigen,
daB nur eine relativ geringe Menge der Lichtstrahlen dureh die
Haut hindurehgelangt: blasse Haut laBt zirka y i00 des auffallenden
Lichts bis zu 5 mm durch, etwas dunklere nur V 2 oo» stark dunkle
nur noch — l / 10000 des auffallenden Lichts. Auch fiir die
Warmestrahlen bestehen Unterschiede, indem die Haut der WeiBen
ungefahr die doppelte Menge durchlaBt wie die der Neger [Schmidt
(21)]. Hasselbach (IS) ist es gelungen, zahlenmaBig die Permeabilitat
der Haut auszudriicken. Einerseits ergaben seine Untersuchungen
eine groBe Lichtabsorption bei zunehmender Dicke der Hautschicht,
andererseits ist auch daraus ersichtlich, „daB von den (chemisch)
wirksamen Lichtstrahlen eine nicht zu unterschatzende Quantitat
bis an die gefaBfiihrenden Papillen des Coriums hineingelangen, wo
sie dann bei ungestorter Zirkulation vom Blute verschluckt werden‘*.
Auf die BlutgefaBe der Cutis und Subcutis wirken die Stahlen in der
Weise ein, daB durch direkte Beeinflussung der GefaBmuskulatur
und -Endothelien die BlutgefaBe mehroder weniger stark und dauernd
erweiterfc werden. So entsteht das lAchterythem , dem bei starkerer
Einwirkung der Strahlen Dermatitis, seros-hamorrhagische Ent-
ziindung, Oedem und Thrombosierung der oberflachlichen GefaBe
folgt. Diese letzteren Veranderungen beschleunigen wiederum
ihrerseits das Auftreten der direkt durch das Licht hervorgerufenen
Zellnekrose [Wickham (19)], wie durch die Befunde Jensens am mit
Finsenlicht bestrahlten Kaninchenohr und die Untersuchungen
einiger franzosischer Autoren am Sonnenerythem beim Menschen
in ubereinstimmender Weise gezeigt worden ist. DaB fur die Pene-
trationsfahigkeit der Lichtstrahlen der Zustand der Haut, die In-
taktheit der Blutzirkulation und ahnliche Umstande von hoher Be-
deutung ist, ist nach dem Gesagten einleuchtend. Fiir unsere Frage,
ob die Sonnenstrahlen direkt auf die Meningen einwirken, ist auBer-
dem wichtig, daB die Durchlassigkeit der verschiedenen Gewebe
eine ungleiche ist: Oodneff fand, daB die Durchdringungsfahigkeit
des Sonnenlichts am starksten ist gegeniiber der Haut, weiterhin
gradatim abnehmend fur Knochen, Gehirn, Leber, Muskeln, Blut,
Milz, Nieren.
Daraus geht hervor, daB wir nicht ohne weiteres annehmen
konnen, daB eine nach Quantitat und Intensitat genugende Menge
von Lichtstrahlen direkt die Schadelbedeckungen durchdringen, um
den Sonnenstich hervorzurafen. Unter normalen Verhaltnissen
wird nur ein ganz geringer Prozentsatz der Sonnenstrahlen die
Schadeldeeke durchdringen, aber auch unter pathologisch verander-
ten Bedingungen konnen nur wenige Strahlenquantitaten bis unter
das knocheme Schadeldach gelangen, zumal wir wissen, daB ein
ganzer Teil des Sonnenspektrums mit Sicherheit in den oberflach¬
lichen Hautschichten vollkommen absorbiert wird. Auf diese
Eigenschaft der Spektralfarben muB daher in Kiirze eingegangen
werden.
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Romer, Ueber die Pathogenese des Soimenstichs.
113
Nach den Arbeiten von Finsen, Freund, Behring, Burk u. A.
darf os als feststehend gelten, daI3 die Penetrationsfahigkeit der
einzelnen Strahlen des Spektrums auf die Haut in umgekehrtem Ver-
haltnis steht zu ihrer entziindungserregenden Wirkung. Es haben
also die kurzwelligen, im Spektrum bei Violett liegenden Strahlen
mit ihrer starken entzundungserregenden Wirkung nur eine geringe
Penetrationskraft, wahrend die langwelligen, beim Rot liegenden
Strahlen eine starke Penetrationskraft haben, bei mangelnder Wirk-
samkeit hinsichtlich der Entziindungserregung. Die Quarzlampe,
welche nur die kurzwelligen Farben von Blau bis Ultraviolett ent-
halt, verursacht demnach starke oberflachliche Entziindung, ohne
in die Tiefe zu dringen. Nun bestehen aber hinsichtlich der Pene-
trationsfahigkeit lebenden Gewebes, wie oben ausgefiihrt, noch
individuelle Verschiedenheiten beim einzelnen Menschen, die haupt-
sachlich bedingt sind durch den Unterschied in der Menge des
Hautpigments und der Blutfiille der Haut, iiberhaupt der Be-
schaffenheit der zu durchstrahlenden Gewebe.
Am wenigsten tief gelangen die kurzwelligen, ultravioletten
Strahlen; sie werden schon in der Epidermis absorbiert. Die klein-
welligen hyperultravioletten und ultravioletten Sonnenstrahlen
werden jedoch ohnedies nur zu einem geringen Teile wirksam, da
beim Passieren der Atmosphare der groBte Teil dieser Strahlen ver-
loren geht [Schanz (23), Berner (24)]. Die Absorption der noch zur
Wirkung kommenden Strahlen beruht in erster Linie auf dem Haut-
pigment, das selbst nach den grundlegenden Untersuchungen von
Unna, dem sich Widmark, Hammer, Rollier, Lenkei, Solger u. A.
anschlossen, ein Produkt der Einwirkung gerade und einzig und allein
der violetten und ultravioletten Strahlen ist. Das Hautpigment
hat vor allem den Zweck, das tieferliegende Gewebe vor dem Ein-
dringen der chemisch wirksamen Strahlen zu schiitzen. Es wirkt
wie ein Filter, das die entzundungserregenden Strahlen von der Tiefe
femhalt [Meiroiosky (25), Solger (26)]. — [Unter dieser Voraus-
setzung verstehen wir wohl den Sinn der im ganzen Tierreich ver-
breiteten Pigmentierung wichtiger Organe (Solger); wir verstehen
auch, warum die Bewohner der heiBen Zonen starker pigmentiert
sind, und warum sie trotz der intensiven Belichtung keinen Schaden
leiden.]
Wahrend also die ultravioletten Strahlen in der Haut Verande-
rungen hervorrufen, aber auch schon in der Epidermis absorbiert
werden, erreichen die violetten Strahlen, die der Haut nicht schadlich
sind, das Kapillametz der Haut, wo sie nach Burk zu 99 pCt. vom
Blute absorbiert werden. Da die absorbierte Lichtmenge in geradem
Verhaltnis steht zu der Dichte des Kapillametzes und dem Hamo-
globingehalte des Blutes, so muB auch die Penetrationsfahigkeit der
Strahlen bei anamischer Haut eine groBere sein als bei gut durch-
bluteter, ebenso, wie sie gesteigert sein muB bei alien Sch&digungen
der Haut, die mit einer Storung des Blutumlaufes einhergehen.
Durch die Haut und das Kapillametz hindurch dringen die
dem roten Teile des Spektrums naheliegenden Strahlen. Sie werden
tl Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologie. Bd. XXXVII. Heft 2. 8
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114
Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs.
erst in den tieferen Teilen des Integuments absorbiert, sind aber hin-
sichtlich ihrer toxischen Wirkung auch relativ barmlos, da es sich
nicht um chemisch wirksame Lichtstrahlen handelt, sondem um
Warmestrahlen. Moglicherweise summieren sich zu diesen lang-
welligen Lichtstrahlen, die primar von der Sonne ausgehen, noch
Sekundarstrahlen, die erst in der Haut entstehen; nach neueren
Untersuchungen scheint es namlich, als kame dem Pigment die
Fahigkeit zu, die absorbierten kurzwelligen Strahlen des Spektrums
aufzuspeichem und in langwellige Strahlen umzuwandeln, die dann
die Haut als Warmestrahlen durchdringen ( RoUier , Meirowsky). Wie
dem auch sei, soviel ist sicher, daB bis in das tieferliegende Gewebe
nur langwellige Strahlen gelangen konnen. Lenkei gibt an, daB bis
zu einer Tiefe von 5 mm bei dunkler Haut fast nur noch gelbe Strahlen
dringen. Bei Gelb aber liegt auch das Maximum der Warmewirkung
des Soxmenlichts. Schmidt (20), welcher sich besonders mit dem
Sonnenstich in den Tropen beschaftigt hat, hat schon 1903 die Ver-
mutung ausgesprochen, daB die ,,hellen, in die Tiefe dringenden
Warmestrahlen, nicht die ultravioletten, den Sonnenstich hervor-
rufen.“
Nach alledem scheint doch die Annahme einer direkten Durch-
strahhmg der Schadeldecke geniigend gestiitzt. Es kann kein Zweifel
sein, daB sowohl direkte Strahlen die Meningen und die Himhaut
erreichen, als auch sekundare durch Leitung der Warme im Schadel-
dach entstehende. Beide Arten treten gleichzeitig in Wirkung und
summieren sich gegenseitig. Ob im Einzelfalle die direkten Strahlen
oder die geleitete Warme die groBere Rolle spielt, wird von individu-
eJlen Verschiedenheiten abhEngen, wobei die Beschaffenheit des
Schadeldaches vermutlich eine wesentliche Rolle spielt. Wahrschein-
lich wird die Menge der direkten Strahlen zu den sekundaren in der
Regel in einem umgekehrten Verhaltnis stehen. DaB zweifellos neben
den Warmestrahlen auch chemisch wirksame Strahlen fur die Ent-
stehung des Sonnenstichs von Bedeutung sind, konnen wir mit gutem
Grunde annehmen. Dafiir spricht u. a. auch, daB die Erscheinungen
der Hirnhautreizung in der Regel nicht alsbald, sondem erst nach
einer gewissen Latenzzeit auftreten, worauf schon Lenkei hinge-
wiesen hat. In den von uns beobachteten Fallen betrug diese Latenz¬
zeit ca. 4 Tage.
Wir haben uns also nach dem Gesagten die Entstehung eines
Sonnenstiches folgendermaBen vorzustellen: Wird der unbedeckte
Kopf von der Sonne direkt bestrahlt, so wirken alle Strahlenquali-
taten auf die Haut ein. Die wenigen durch die Atmosphare zu uns
gelangenden ultravioletten Strahlen rufen in der Epidermis Pigment-
bildung hervor und werden von diesem absorbiert , wahrscheinlich
auch in langwellige Strahlen umgewandelt. Die Strahlen groBerer
Wellenlangen gelangen durch die oberflachlichste Hautschicht bis
zu dem Kapillametz der Cutis und Subcutis und erzeugen hier Ge-
faBerweiterung, Hj'peramie, Oedem, bei starkerer Einwirkung
Thrombosen. Bei ungestortem Blutkreislauf dringen durch die Haut
nur wenige Strahlen in die Tiefe, ist aber der Kapillarkreislauf ge-
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Romer , Ueber die Pathogenese des Sonnenetichs.
115
schadigt (Dilatation, Thrombosen), so gelangen groBere Mengen
langwelliger Strahlen durch die Haut hindurch, sogar auch durch
das knocheme Schiideldach. Sie wirken sowohl als Warmestrahlen
wie auch als Lichtstrahlen, in demselben Sinne wie auf die Blut-
bahnen der Haut, auf die Meningen und ihre GefaBe ein, indem sie
eine reaktive Entziindung mit Leukozytenauswanderung und ver-
mehrter Fliissigkeitsabsonderung hervorrufen (Meningitis serosa,
Meningitis purulenta sterilis). Ein Teil der direkten Strahlen erreicht
schlieBlich die Hirnrinde selbst. Die Wirkung dieser direkt zu den
Meningen und zum Gehirn gelangenden Strahlen wird noch ganz
wesentlich unterstiitzt durch die sekundaren Warmestrahlen, welche
durch Leitung der in der Schadeldecke absorbierten Warme ent-
stehen. Wir sehen also schlieBlich als wirksames Agens eine Summe
von Strahlen, die sich zusammensetzt einerseits aus den direkten
Sonnenstrahlen, sowohl den aktinischen wie den chemisch wirk-
samen, andererseits aus den sekundaren Leitungs-Warmestrahlen,
von den Bedeckungen aus.
Es leuchtet ein, daB dieWirkung der in Betracht kommenden
Strahlen abhangig ist, in erster Linie von der Intensitat und Dauer
der Besonnung. Unter den gewohnlichen Verhaltnissen geniigt in
unserem Klima eine kurzdauernde Bestrahlung nicht, um Reiz-
erscheinungen hervorzurufen; nur wenn der unbedeckte Schadel der
Sonne lange Zeit ausgesetzt wird, kann eine Summierung der Strahlen -
wirkung eintreten, die intensiv genug ist, um eine Tiefenwirkung zu
be wirken. Es ist auch nicht zweifelhaft, daB die Disposition zum
Sonnenstich eine individuell verschiedene ist; Schmidt (20) und
Jones (27) geben dafiir Beispiele an. Vor allem ist wohl die Dis¬
position verschieden je nach der Ausbildung des Hautpigments,
ferner je nach der Dichtigkeit des Kapillametzes der Haut und der
Beschaffenheit des darin zirkulierenden Blutes. Und so ist es auch
durchaus erklarlich, warum anamische, wenig pigmentierte Indi*
viduen leichter vom Sonnenstich befallen werden als vollbliitige,
wettergebraunte Menschen, vollends aber die Neger. Bei diesen
bildet eben die dunkle Haut einen geniigenden Lichtschutz selbst
gegen die Tropensonne, obgleich die in den Tropen eingestrahlte
Energie nach Schmidt (22) doppelt so groB ist wie bei uns im Hoch-
sommer. In praktischer Beziehung ergeben sich daraus besonders
auch hinsichtlich der in den letzten Jahren allgemein beliebt ge-
wordenen Sonnen- und Lichtbader wichtige Gesichtspunkte, auf die
jedoch hier nicht iiaher eingegangen werden soli.
Ergebnis: 1 . Die anatomische Grundlage des ,,Sonnenstichs“
ist eine Meningitis (bzw. Meningoencephalitis) acuta mit Druck-
steigerung und pathologischer Zellen- und EiweiBvermehrung im
Liquor cerebrospinalis.
2. Die Veranderungen werden hervorgerufen durch direkte
Einwirkung der strahlenden Sonne auf die Hirnhaute und das Ge-
him; und zwar kommen zur Wirkung:
a) direkte Warmestrahlen, deren Durchdringungsfahigkeit er-
wiesen ist;
8 *
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116
Borchardt, Ungewohnlicher Symptomenkomplex
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b) sekundare Warmestrahlen, die leitende Warme von den Be-
deckungen aus;
c) direkte Lichtstrahlen, welche bei geschadigten Bedeckungen
bis zur Gehimoberflache eindringen konnen;
d) sekundare, durch Umwanrflung aus kurzwelligen Licht-
strahlen in der Haut entstandene langwellige Strahlen.
Literatur- Verzeichnis:
1. Steinhau8en: Leuthold-Gedenkschrift. 1906. 2. Opperiheim: Lehr-
bueh der Nervenkrankheiten. 6. Aufl. II. S. 1033. 3. Storey : Hitzschlag.
Brit. med. Joum. 27.1. 1912. Ref. Dtsch. med. Woch. 1912. S. 133.
4. Dufour : Erfolge der Lumbalpunktion bei Sonnenstich. Revue Neurolog.
1909. No. 6. Ref. Neur. Zbl. 1910. S. 218. 5. Gastinel u. S. Marc y Spinal-
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5. 1387. 6. Schultze : Krankheiten der Hirnh&ute in Nothnagels Handbuch.
Bd. IX. 1901. S. 70. 7. Kaufmann : Lehrbuch d. speziell. patholog. Ana¬
tomic. 8. Birch-Hirschfeld : GrundriB der allgem. Pathologie. 1892. S. 240.
9. Ever8hu8ch : in Pentzold-Stintzing, Handb. d. inneren Krankheiten. VII.
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12. Hvbll u. Pigache: Nervose Erkrankungen nach Hitzschlag. Arch. d.
Neurologic. 1908. Ref. Neur. Zbl. 1909. S. 1156. 13. Thiem: Unfall-
erkrankungen. II. S. 223. 14. Lenzmann: Pathologie und Therapie der
plotzlich das Leben gefahrdenden Krankheitszustande. 1907. 15. Senft-
leben: Ueber die Entstehung des Hitzschlages. Berl. klin. Woch. 1907.
S. 775. 16. Schottmuller: Ueber Meningitis. Jahreskurse fur arztl. Fort-
bildung. Okt. 1913. Munch, med. Woch. 1910. S. 1984. 17. Lenkei : Wir-
kung der Sonnenbader auf die Temperatur des Korpers. Ztschr. f. phys. u.
di&tet. Therapie. XI. 1908. 18. Hasselbalch: Chemische und biologische
Wirkung der Lichtstrahlen. Strahlentherapie II. S. 403. 19. Wickham :
Durch Strahlen hervorgerufene histologische Gewebsveranderungen. Strah¬
lentherapie. III. S. 64. 20. Schmidt: Entstehung des Sonnenstichs. Arch,
f. Hyg. Bd. 65. 21. Derselbe: Sonnenstich und Schutzmittel gegen Warmr -
at rah lung. Ebenda. Bd. 47. 1903. 22. Derselbe: Wirkung der tropischen
Sormenbestrahlung auf den EuropAer. Dtsch. med. Woch. 1910. S. 1984.
23. Schanz : Licht und Lichttherapie. Strahlentherapie V. S. 453. 24.
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25. Meirowsky: Pigmentfr&ge. Strahlentherapie II. S. 104. 26. Solger:
Beziehungen zwischen Licht \md Hautfarbstoff. Ebenda. S. 93. 27. Jones :
Ungewohnlicher Fall von Sonnenstich. Ref. Dtsch. med. Woch. 1905.
S. 1812.
(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Konigl. Charite, Berlin
[Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Bonhoeffer].)
Ungewohnlicher Symptomenkomplex bei einem Fall
von symptomatiseher Psychose.
Von
Ur. LUDWIG BORCHARDT.
(Hierzu 3 Abbildungen im Text.)
Die Patientin, deren Krankengeschichte im folgenden mit-
geteilt werden soli, befindet sich seit nabezu 10 Monaten in der
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bei einem Fall von symptomatischer Psychos©.
117
psychiatrischen Klinik. Eer Fall ist bisher diagnostisch noch
keineswegs ganz geklart und zeigt in seiner Symptomatologie eine
Reihe von Besonderheiten, so daB sich eine ausfiihrliche Wieder-
gabe der Krankengeschichte rechtfertigt.
Es handelt sich um ©in© 47 j&hrige Frau X., di© am 10. I. 1914 von
ihrem Sohn in die Charity gebracht wurde. Si© stammt aus geeunder
Famili© und soli selbst friiher ni© ernstlich krank gewesen 8©in, si© war
aber immer ©igentiimlich, „©twas komisch 44 . Vor iy t Jahren hatte si©
nach einem Schreck ©in© Sprachstorung bekommen und ist deshalb in einem
Sanatorium gewesen; damals soli si© auch Sehstorungen gehabt haben.
Vor 4—5 Wochen soli si© an starkem Durchfall ©rkrankt sein, der arztlich
behandelt wurde. Si© fiihlte sich so matt, daB si© ihren Haushalt nicht
mehr versehen konnte, obwohl si© noch Interesse dafiir zu haben schien.
Si© muBte in den letzten Wochen im Bett liegen, hatte auch iiber Schmerzen
in den FuBen zu klagen, di© aber bald wieder nachlieBen. Seit 3 Wochen
fiel ©in© psychische Veranderung auf: si© ist gleichgiiltig gegen di© Um-
gebung geworden, was si© sprach, hatte keinen Sinn. Si© begann in 8inn-
loser Weis© Geschenke zu machen, wollt© ihrer Aufw&rterin ihr Biifett
und Klavier schenken. Dies© Symptom© veranlaflten di© Einlieferung in
di© psycliiatrisch© Klinik.
Die Krank© selbst hat in der letzten Zeit die Anamnese noch in folgen-
der Weis© erganzen konnen: si© habe in der Schule gut gelernt und stets
gut© Zensuren bekommen. Mit 14 Jahren sei si© aus der Schule gekommen,
habe aber keinen Beruf erlernt, sondern sei bei ihren Eltern geblieben.
Si© sei zweimal verheiratet gewesen, von jedem Mann habe sie ein gesundes
Kind; Fehlgeburten habe sie nicht gehabt. Der erste Mann sei an Lungen-
schwindsucht, der zweite Mann an Magenkrebs gestorben. Beide Manner
sind Oberfeuerworker gewesen. Sie habe in Kiel, Cuxhaven und schlieBlich
jahrelang in Helgoland gelebt. Ernstlich© Krankheiten habe sie nicht
durchgemacht, sei aber immer sehr zart gewesen. Vom 8. bis 17. Lebens-
jahr habe sie an Migr&neanfallen gelitten, die sie in typischer Weise schil-
dert. Im ubrigen war sie gesund bis zu dem Krankheitsfalle vor 1 % Jahren.
Ueber psychische Veranderungen in damaliger Zeit weiB sie nichts, sie
will sich nur matt gefiihlt haben und klagte auBerdem iiber Schlaflosigkeit,
Herzklopfen, Schmerzen in den FiiBen, besonders in den Zehen, Schleier-
und Schwarzsehen vor den Augen. Die Sehstorungen, die vor 1 1 / 2 Jahren
aufgetreten waren, beschreibt sie in der Weise, daB sie 14 Tage lang iiber-
haupt nicht recht sehen konnte und alles durfch einen Schleier sah, so daB
sie z. B. die Schwane auf dem vor dem Hause befindlichen Teich vom Fenster
aus nicht erkennen konnte. Dies© Storung i£t dann plotzlich wieder voll-
kommen verschwunden. Es scheint, daB sie damals auch gelegentlich
Doppelsehen gehabt hat, doch ist ihre Schilderung daruber nicht sehr
charakteristisch.
Die Berichte des Sanatoriums besagen, daB die Kranke damals im
Anschlusse an zahlreiche seelische Aufregungen „Krftmpfe“ bekommen
haben soli, bei denen sie ohne BewuBtseinsverlust „steif“ wurde. Sie war
vom Oktober 1912 bis Dezember 1912 im Sanatorium, wog damals 37,5 kg.
Die inneren Organ© waren ohne krankhafte Veranderung, auch am Nerven-
system fand sich nichts Pathologisches. Kniereflexe normal, kein Romberg.
Sensibilitat normal. Die Augen sind augen&rztlich untersucht worden,
zeigten normale Pupillenreaktion, normalen Augenhintergrund. Nystagmus
war nicht vorhanden. Im Sanatorium gingen die Beschwerden zuriick.
Die Kranke nahm an Korpergewicht zu, so daB sie als „im wesentlichen
gesund 44 entlassen werden konnte. Sie soil im Sanatorium entschieden
hysterische Ziige dargeboten haben, so daB der Arzt das Leiden ,,im wesent¬
lichen als Hysteric 44 ansah.
Bei der Aufnahme in die psychiatrische Klinik verhalt sich die Kranke
zun&chst ruhig, aber schon in der ersten Nacht wurde sie erregt und schlieB-
lich so laut, daB sie in die unruhige Abteilung verlegt werden muBte. Am
Morgen war sie etwas ruhiger, gab ihre Personalien, ihren Geburtstag
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Borchardt, Ungewohnlicher Symptomenkomplex
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richtig an. Zeitlich war sie unorientiert, gab als Jahr 1400 an, behauptet,
sie sei schon 3 Tage in der Klinik, und zwar habe sie ihr Sohn im eigenen
Auto hergebracht. Sie befinde sich jetzt in einem Krankenhaus oder
Sanatorium, wisse aber den Namen nicht. Uebrigens brauche sie hier nicht
zu liegen, denn sie fiihle sich gar nicht schwach. Sie wolle ausfahren, deni}
sie habe eine Autofahrt verabredet und sie konne ja in 5 Minuten wieder
hier sein. Sie bittet um sofortige Entlassung, fangt an zu weinen, um-
klammert die Hande des Arztes, sie miisse unbedingt um 10% L*hr fort-
fahren, sie sei zum Mittagessen eingeladen bei Freunden, die hatten eine
Villa, welche direkt neben ihrer eigenen liege. Strafie und Hausnummer
kann sie nicht angeben, sie meint aber, der Chauffeur wiirde es finden, er
konnte es ja im Adre£buch nachsehen. Auf Zureden laBt sie sich beruhigen.
Ueber ihre Familienverhaltnisse gab sie an, sie habe nur eine Schwester
gehabt, die im Februar 1813 (!) im Alter von 27 Jahren an Magenkrebe
gestorben sei, das sei voriges Jahr gewesen, jetzt sei 1914. „Ich bin n&m-
uch ganz zerfahren, hier kommt man ganz durcheinander. “ Ueber ihre
ehelichen Verhaltnisse berichtet sie in unrichtiger Weise, sie habe nur ein
einziges Kind, das im Jahre 1901 geboren sei, von ihrem zweiten Mann
habe sie kein Kind. Sie habe in der letzten Zeit in Berlin gelebt, und zwat
in den letzten zwei Jahren in ihrer Villa im Westen, fur die sie 50 000 Mark
erspartes Geld eingezahlt habe. Am nachsten Tage erzahlt sie, sie habe
von ihrem ersten Mann 2 Sohne im Alter von 13 und 12 Jahren; der altere
habe sie hergebracht. (Warum ?) ,,Er hat sich wohl gesagt, es ist besser,
ich weiB es auch nicht, man nimmt es wohl an. Er wird sich wohl gesagt
haben, es ist das Sicherste, um allem moglichen vorzubeugen. “ (Welchem
moglichen?) „Wegen Krankheit, daJ3 ich krank werde. “
Sie behauptet weiterhin, sie sei krank, wahrscheinlich die Lunge, es
sei Schwindsucht, das konne man sich schon allein denken. Sie hat schon
in den letzten 2 Wochen in ihrer Villa in Berlin W im Bett gelegen. Ihre
Angaben geschehen in flietfender Rede, ab und zu wirft sie smnlose Worte
dazwischen, spricht z. B., als sie sich auf das Alter ihrer Sohne besinnt,
plotzlich von Pfennigen. Sie denkt auch oft lange nach, bevor sie An¬
gaben macht, verwechselt Daten und Namen. Einmal sagt sie plotzlich,
ihr Sohri sei 38 oder 49 Jahre alt und Kaufmann in Rutland. Von Sinneq-
t&uschungen ist. nichts Sicheres nachzuweisen. Ihre Stimmung ist ruhig,
sie ist freundlich und zuganglich, nur ab und zu zeigt sie eine leichte Gereizt-
heit und weinerlichen Affekt.
Der korperliche Befund war etwa folgender:
Schlecht genahrte Frau von 30 kg Korpergewicht. Das Herz ist ge-
8und, fiber beiden Lungenspitzen etwas abgeschw&chter Schall, Bronchitis
auf beiden Seiten. Temperatur war gelegentlich leicht erhoht, subfebril,
doch ist starkeres Fieber niemals beobachtet worden. Die rechte Pupille
war etwas weiter als die linke, beide rund, Lichtreaktion beiderseits etwas
tr&ge und wenig ausgiebig, rechts schlechter als links, Konvergenzreaktion
erhalten. Die Papillen erschienen beiderseits abgeblaBt, wahrscheinlich
infolge Atrophie, und zwar rechts blasser als links (Untersuchung durch
Herrn Prof. Bruckner ). Facialis und Hypoglossus frei. Reflexe an den
Armen geeteigert, Bauchdecken etwas gespannt, Bauchreflexe nicht zu er-
zielen. Kniereflexe beiderseits gesteigert und gleich, Patellarklonus.
Achillessehnenreflexe beiderseits gesteigert, aber kein Fufiklonus, kein
Babinski. Die Blutuntersuchung nach Wassermann ist im Laufe der
Beobachtung mehrmals vorgenommen worden und ergab stets ein negatives
Resultat. Auch die Lumbalflilssigkeit ist mehrfach untersucht worden
und zeigte weder vermehrten EiweiCprehalt noch Lymphozytose. Auch
im Liquor war die Wassermannsche Untersuchung immer negativ.
In den nachsten Tagen nach der Aufnahme war die Kranke vielfach
sehr unruhig, am Tage meist ruhiger als nachts; sie schlief schlecht, ver-
suchte aus dem Bett zu klettern, meinte, sie miisse sofort weg, um Eink&ufe
zu machen, sie wiirde bald wieder da sein, sie miisse sich vor allem ein Korsett
kaufen. Auf Zureden lafit sie sich schnell beruhigen. Sie will das Schutz-
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J^xig ; »tj& ^oldeiien DuJmoiv u*eu xi&*w ^tv: ;sf*reefieV.-er sblle sieh.
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oiuigtsn Jabrex* tosh ^iit gbldefte^ Aut-Oy das miisd^tvtw' 100 Sfill^Bon g*v
kostet hab^ Bh mi <d#& eiswsigo m Berjira mid babe 'vte! Autmb&\ gemtiffixi
.. . 4 B* .•$$; «U*& tinsige uk 'Berlmmid batw geiiitn-ht
tinier deh Leiitefi, das ware Ihr a)w 4 g*K demr. thrl. VmtotS&m loetrii.gv
TrUHard^, 100 000 ha be &m von itoem Vatdr* 000 000 wn' dVer
xlea iWt von einar Venmn^eri*’-•. ':$wig!g^tiVen .:'kt,-'.;^ • 4ebr- !*»<•
g&dglich. Anf.dfc Frage, ob $kj nicbt vielleielil /.kuni ; Kafs^''B^ixlrang6«
babe, 8Rgt -««?■„ w sebreibn t&glichemV Fostfearte an ihii. Spati?T ^prlcht*
me von einexn goldeaen Sarg, tkm mesirb ang^schailt babe, mu n’OlJe sicIj
aile Miiiio gebtfiu zu sterban. Knrz damn/mwo.t «ii\ tie aai dock ganz geauiid
uad Wanglie ^<Sit sterb^a. Am den Axzt, er moge
aeine auf ;^siner Pnmkarte rnffschteiben* si6 gixige bento fort,
bi der ersten FfoxeK sie wisse nur xioch nieht in aiOdies.
'SSi fci Mem*/ e* gioge. 'rite'gm. sie set bier sehr zumeden,
whortiti hierV Fragt pltelieb don Atzfc, oh er ihi: sobon etnon
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babe da* tbiti am pfixed K«rp«r wie zer^*b!agea ge-
<w«^n i^L SI? gibtdapn iixr %ei IT *Tkbre and. 1300
: goborejo { 1908; 'bi*': \ 4 •?)./ '-uPm said I T Jafrrb. e* kaiin aber aueb 1&96 go-.
Dev andere Kobb j»ei te Fdbrimr 13<r7 oivd jotfci H ,Tarittf
YJSicJ^fr^ !<&i feidKbby'gibjr-. : u}%& oft tfrk&m Ant-
■yvoti&X aw* lIViatd^erki>api3fe^l *>£w. Ur«fri*t 7MW ' fteeMm*- **gt: ^ B.
(5 & \ 4) *>, : (15 4 17} bvmn ink ruebt. {$M 19) reebjxe ieh nxeht, sie r.echn^
&p<& M -ip f>7 richt*^•.'Uf.; Veu^b nebti^v Bei andbron (><I4cbi rtfe
nie hi oh ftb»uci^ A!Jgemejc<e
mvd k'tdiicli, racgni /w£hr*?«d *.fer UateTHtieblmg \r ..*,Ste- wo!Ion
i&*#Haeketv bb isfc -ttfc&i. gaufc im*- bin;'" f-r&gfc oft ^mhendpreh ;• ■*&&? ■■
. Dokt'VirV det\ Emdeu^k ro&ebe icih dock tutht, oh >dk iff* w&reV'
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bei einem Fall von symptomatischer Psychos©.
121
Die Schrift der Kranken ist auffallend schlecht, z. T. mit Auslassung von
Buchstaben oder Worten, z. T. so schlecht, daB sie ganz unleserlich ist
und sich als unkenntliches Gekritzel darstellt (s. Figur 1 und 2).
Anfang Februar oft euphorische Stimmung. (Wie geht’s ?) „Herr-
lich, groBartig, wunderbar!“ Gelegentlich wieder sehr angstlich, meint,
ihr Sohn sei tot, behauptet, ihr FuB sei ab. Oft auch weinerlich mit aus-
gepr>em Krankheitsgefuhl. Klagt iiber Schmerzen in Hiiften und Ge-
lenken; kein objektiver Befund. Korperlich findet sich ein leichter, aber
doch deutlicher Intentionstremor.
In den nachsten Wochen blieb sie bei ihren GroBenideen, sie habe
ein goldenes Auto, ihre Villa im Westen sei noch im Bau. (Sind Sie denn
reich ?) Sie habe ihr gutes Auskommen. Auf die Frage, ob sie wirklich
iiber Millionen verfiigen konne, lacht sie und sagt: „I Gott bewahre, aber
iiber hunderte von Mark!“ Ueber die Ereignisse der neueren Zeit ist sie
nicht orientiert, von der Verm&hlung der Prinzessin im Kaiserhaus weiB
sie nicht8. (Letzter Krieg ?) ,,70-71.“ Oertlich orientiert, zeitlich nur
mangelhaft, Merkfahigkeit schlecht. Sprache etwas verwaschen, leichte
Mitbewegungen dabei Auch die Pupillenreaktion ist wieder trage. Augen-
hintergrund unver&ndert. Beim Fingernasenversuch auch jetzt wieder
leichtes Vorbeifahren; Sehnenreflexe lebhaft.
Im weiteren Verlauf kommt das Krankheitsgefuhl allmahlich immer
deutlicher zum Vorschein. Wenn sie auch gelegentlich immer noch an-
gibt, es gehe ihr gut, sie habe keine Beschwerden, so hat sie doch ofter als
anfangs somatische Klagen, Schmerzen im Riicken, im linken FuB, will
wissen, ob sie iiberhaupt gesund werde, wie lange sie noch hier bleiben miisse;
fiirchtet, daB sie bald sterben miisse; klagt bald iiber Hunger und Durst,
bald iiber Appetitlosigkeit, abwechselnd iiber Verstopfung oder Durch-
f&lle, iiber Schlaflosigkeit oder zu viel Schlaf, w&hrend objektiv Appetit,
Schlaf und Verdauung gut ist.
8. V. Fragt den Stationsarzt nach dem Namen seiner zukiinftigen
Frau Gemahlin, sie solle doch auch X. heiBen (nennt ihren eigenen Namen).
Sie sei wohl mit ihr verwandt, diese Fraulein Braut oder vielmehr Frau
Braut. Zwei Herren hatten ihr erzahlt, daB sie so heiBe und bildschon sei.
Unmittelbar darauf meint sie aber wieder, daB ihre Schw&gerin all© diese
Ding© vor 4 Wochen in einem Caf6 gehort h&tte und es ihr bei einem Besuch
mitgeteilt habe. Pupillenreaktion normal , Augenhintergrund wie oben,
Hirnnerven im iibrigen normal. Bauchreflexe normal im Gegensatz zu
friiher, beiderseits Patellar- und FuBklonus, aber kein Babinski. Rechts
plantarer FuBriickenreflex, Gang sehr wackelig, nur mit Unterstiitzung
moglich. Auf den Lungen immer noch Bronchitis.
11. V. Merkfahigkeit schlecht, weiB nicht, daB sie gestern Besuch
ihres Sohnes hatte.
14. V. Andeutung von Oppenheimschem Phanomen auf der linken
Seite. Von Bauchdeckenreflexen nur der linke obere schwach vorhanden.
28. V. Bauchreflexe samtlich schwach vorhanden.
12. VI. tritt wieder ein groBer Erregungszustand auf, Patientin wird
sehr laut, jammert, sie wiirde nicht wieder gesund, muB in die unruhige
Abteilung verlegt werden. Am nachsten Tage bat sie um Verzeihung,
sie sei mcht Herr ihrer Sinne gewesen, jetzt sei sie wieder ruhig. Woher
die Aufregung gekommen sei, wisse sie nicht.
Im Laufe des Juli wird eine gewisse Krankheitseinsicht fiir die
Psychos© erkennb^, sie sagt, sie sei doch bei klarem Verstande, habe
aber friiher irre Reden gefiihrt, sie habe dem Arzte ein goldenes Auto
kaufen wollen. Auf Befragen gibt sie an, sie besitze etwa 3500 Mark und
meint, daB das zum Automobu nicht reiche, es sei aber doch wenigstens
ein Anfang, das andere wiirde ihr die Schwagerin vorschieBen. Ihr Ver-
sprechen beziiglich einer Brillantbrosche einer Pflegerin gegeniiber motiviert
sie mit ihrem guten Herzen. Korperlich immer noch hinfftllig, l&Bt mehr-
mals Stuhl und Urin unter sich.
Anfang August beginnt sie ihre fruheren Ideen zu korrigieren. Sie
weiB, daB sie kein goldenes Auto verschenken kann, halt sich auch nicht
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UNIVERSSTY-QE-MCH1GAN
) 22 B o r <:*• h a r d i J U ngt-woholicber Syusptonleakomp]ex
i*udre.. fiir.'r^idv .,»so
•imd ; : pf t.linlK' ; int Jetst gut ; sift wtoiB tn«?h den Namt*n »ior
dabei sitid, dktf Sferbieu dabei Oinft Rcrlie apieit. Ihre AiAwurteu kind lit*
ganzeo Itfkilifh geordnet* SubjKktrv fiihlt *ie stch woW, frugt aber un-
mittefhar damuiv »>b we aueh vrieder gcaund. wwde-
<te Angusi ifiug «W an. aufzii-tnheri unci vixnhetu^hen, iiihlte m* h
aber nboii.-.aeiir' ^ofa^naihl Auf Vorhaltung ihr&v Versprecdumgen an die
Pflegermnyu #£«, die wotte daa in Zukunft nwtcfdassen, de«m 8ii> syl
gar ninht re-icb..' 'Von 'jetzt an gehi &$ lhr zusehefids beaser, aueh korperlich
j&otgfc k?krl^ eiii^ doutUaho G^reichtmnttdime kg). Sift i*f ori^n? im,
begtrmi sidvanf xter Ableiluug tt.'vrm tu bmduifttgen, verl&ngi ilire .Brill**,
urn leseii ku kor^n, wil as-ifo laiigweUig «&*, frent nick, dab me jotzt..gwt
i&ufeii kauri, doeii ist dire Atfekt btgi-r aueh jbtat notdi selir .tfeefeei&d. fa*
Baufe d/A*? feptember beginni .Me/ iui^h dem. Garten zu geben, verhKH 4rh
i n (t«»; jRb'pf «etev am 1 baba. fcueib fairoh den Tod itinr beiden M&nndr
.,z>i yi$ftjet-iA. -abar.- & Ste: ntovhm hitch ftfiu*0v
i__ v :• .' i. . . ‘ • -i t '■ :: ■■ ' • -*•*•• • * • d •' : ••< 4: . t: . ..- * w. . ; . »:v-. - * .:: i ... t . : .
an und erigblt gltdehgnJtig^ Dingo, sie sei ^ mehv nn Garten
•aber feoie iv.w. Frkgc niturAhiigd ob sio xeirkUeb irinder g^vind ^irde.*.
c? ew uoah liiibem \vurde, gibr ^icb a)>er imt jtKier Antwcvrt oirne
ateres zufrieden. An t\w-:Zeii ■ ihirer lirarikheii. hal-. -re.la.liv inite Er*
wic?
urst.es, er/nnert aich auf:b
, .-^rwkhnteo. <*e3cbenkc«» h»l.n\ b/w. miU'hw ov.lbr Kir behmiptM,
5<ie;iito al)e diese ohtOil go^nbir ^ efen. Vob.
\iti& vungebJWet- hatte. nr-rvo^ K|«? sieht dtje Ideen j^v.t aW-kronk- *
baft an, und ^t*iB nicbty *eie -aie 4azu g^ufnrnen konn^ 4 , t*tei r en^r
spbt^ren Fi<pL»fati<m eur.ht- sie nach ErlddruugeiO fur ifare Jdoeil ^mii be
hauptot^ . iite rmeh 11 den sen habertv infrini z B* ibVe Angabe. daO ibr
bei einem Fall von symptomatischer Psychose.
123
Sohn Kaufmann in Rutland sei, erklare sioh daher, da£ ihr Sohn russische
Sprachstudien treibe. Die Idee mit der Villa sei vielleicht daher gekqmmen,
da£ sie in Aussicht gehabt habe, ein Haus ihrer Schwiegereltern zu iiber-
nehmen und dafi sie das vielleicht als ihre Villa angesehen habe. Intelligenz-
fragen beantwortet sie jetzt sehr bereitwillig. Die Intelligenz erweist sich
als mafiig, Merkfahigkeit und Kombinationsfahigkeit ist noch keineswegs gut.
Sie berichtet jetzt iiber ihr fruheres Leben zusammenhangend und, soweit
sich objektiv feststellen lafit, auch der Wahrheit entsprechend. Die Sprache
ist etwas nasal, doch ist diese Sprachstorung nach rhinologischer Unter-
suchung lediglich lokal bedingt. Die Schrift zeigt keine Storungen mehr
(s. Figur 3). Korperlich erweisen sich die inneren Organe, speziell auch die
Lungen bei Rontgendurchleuchtung vollkommen normal, Zeichen fur
Tuberkulose lassen sich nicht finden. Pupillenreaktion normal, Augenhinter-
grund zeigt den gleichen Befund wie immer, das Gesichtsfeld ist normal,
sowohl in den zentralen wie in den peripheren Teilen, an den Reflexen kein
pathologiseher Befund. Der Gang ist manchmal etwas eigehtiimlich
st amp fend, meist aber ganz gut.
Es handelt sich also um eine Patient in, die anscheinend aus
voller Gesundheit heraus, vielleicht im AnschluB an eine psychische
Emotion, vor iy 2 Jahren erkrankt ist, und zwar standen damals
im wesentlichen somatische Beschwerden im Vordergrund, die auf
den Arzt den Eindruck der hysterischen machten, die aber jetzt
retrospektiv doch den Gedanken an ein organisches Leiden des
Zentralnervensystems nahelegen, obwohl der objektive Befund
damals absolut negativ war. Nach einer relativ langen Zeit des
Wohlbefindens setzten ohne erkennbare aufiere Veranlassung zu
Er.de des vorigen Jahres wieder Krankheitserscheinungen ein,
zunachst auch wieder rein korperliche Symptome, Durchfalle,
Schwache, Mattigkeit usw., die so erheblich wurden, daB sie die
Patientin ins Bett zwangen. Alsbald gesellten sich psychische
Storungen hinzu, die sich vorwiegend in Konfabulationen, in ganz
unsinnigen, maBlosen GroBenideen und in Orientierungsstorungen
auBerten. Die Affektlage war dabei stets wechselnd, bald heiter,
bald traurig oder angsthch, im ganzen aber stets flach und ober-
flachlich; das Krankheit sgefuhl war in Bezug auf die korperlichen
Symptome sehr oft ausgesprochen, fehlte zu anderen Zeiten wieder
ganz. Eine Krankheitseinsicht fiir die psychischen Storungen
fehlte im ganzen und kam nur gelegentlich fiir kurze Zeit zum
Vorschein. Bei diesem psychischen Symptomenkomplex mujBte
diagnostisch in erster Lmie eine beginnende Paralyse in Frage
kommen, um so mehr, als auch die objpktiven korperlichen
Symptome, die Pupillenstorungen, die Opticuserkrankung, die
Sprach- und Schriftstorung und die passageren Pyramiden-
symptome in dieser Richtung zu verwerten waren. Es lag nahe,
die vor 1 y 2 Jahren beobachtete Krankheitsphase fiir den Beginn
der Psychose zu halten, die dann eine langere Remission durch-
gemacht hat, bis sie jetzt im Anfang des Jahres wieder emeut ein-
setzte. Immerhin muBten einige Symptome an der Diagnose
stutzig machen, z. B. der relativ giinstige Ablauf der Psychose, dje
eine weitgehende Riickbildung zeigt. In rein praktischer Be-
ziehung kann man fast von einer Heilung sprechen, obwohl natiir-
lich tatsachlich von einer Heilung im Sinne der klinischen
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Borchardt, Ungewohnlicher Symptomenkomplex
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Psychiatric nicht die Bede sein kann: die Einsicht in den krank-
haften Zustand ist zwar bis zu einem gewissen Grade vorhanden,
aber die immer noch wechselnde und stets oberflachliche Affekt-
lage und die Beizbarkeit und Empfindlichkeit der Kranken zeigt
noch den residufiren Krankheitszustand. Auch die einfaltige Art,
mit der sie taglich fiber gleichgfiltige Dinge auf der Abteilung
berichtet, zeigt, daft es ihr noch an der notigen Kritik fehlt. Das
dauemde Hinausdrangen aus der Anstalt, die Leichtigkeit, mit
der sie sich immer wieder beruhigen und trosten laftt, sind gleich-
falls in dieser Hinsicht erwahnenswert. Dazu kommen auch noch
die Reste der Merkfahigkeitsstorung und die schlechte Kom-
binationsfahigkeit, die den Defektzu stand charakterisieren. Von
korperlichen Symptomen sind es die Erscheinungen am Opticus
und das Zurfickgehen der Pupillenstorungen, zumal ohne spezifische
Therapie, die Zweifel an der Diagnose Paralyse aufkommen lassen,
vor allem aber die konstant negativ ausgefallene Wassermannsche
Probe im Blut und in der Spinalflfissigkeit und das dauemde
Fehlen der Lymphozytose und Eiweiftvermehrung im Liquor, die
das Vorliegen einer Paralyse unwahrscheinlich machen. Daft die
Anamnese bezfiglich der Lues keine Anhaltspunkte ergeben hat,
ist zwar nicht ausschlaggebend, steht aber doch im Einklang mit
dem objektiven Befund.
Muft demnach an der Diagnose einer Dementia paralytica
mit gutem Grund gezweifelt werden, so fragt es sich weiter, auf
welcher anderen Basis sich der oben beschriebene Symptomen¬
komplex entwickelt hat. Man konnte wohl an eine arteriosklero-
tische Erkrankung denken, doch ist auch daffir das Krankheits-
bild wenig charakteristisch. Dazu kommt, daft die Pat. noch relativ
jung ist und daft sich keinerlei Anhaltspunkte ffir eine Arterio-
sklerose bei der korperlichen Untersuchung haben finden lassen;
auch die Rontgendurchleuchtung hat an der Aorta keine ent-
sprechenden Veranderungen nachweisen konnen. Eine weitere
Moglichkeit ist die, daft sich die Psychose auf der Basis einer In¬
toxication entwickelt hat, speziell die Alkoholintoxikation kame
hier im Hinblick auf den Augenbefund in Frage, doch auch ffir diese
Annahme lassen sich keine Argumente anffihren (von der negativen
Anamnese ganz abgesehen), Allerdings sind vorfibergehend leichte
ataktische Storungen beobachtet worden, aber echte neuritische
oder polyneuritische Symptome wurden dauemd vermiftt. Was
andere schadigende, speziell erschopfende Ursachen bet rifft, die
als Entwicklungsboden ffir die Psychose in Frage kommen, so
mfissen die gelegentlich beobachteten subfebrilen Temperaturen,
die vor Beginn der geistigen Erkrankung aufgetretenen Durchf&Ue
oder die fast konstant vorhandene leichte Bronchitis Beachtung
verdienen; bei der allgemeinen Macies wurde naturgemaft auch an
eine Tuberkulose gedacht. Es hat sich aber im Laufe der Beob-
achtung gezeigt, daft die Lungen klinisch und rontgenologisch ganz
frei sind von Tuberkulose, auch die fibrigen inneren Organe sind,
wie in der medizinischen Klinik festgestellt werden konnte, durch-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
bei einem Fall von symptomatischer Psychose.
125
aus gesund, und was die Macies betrifft, so ist sie nicht als eine
erworbene, sondem als eine angeborene Storung anzusehen, nicht
als Krankheit, scndem als Konstitutionsanomalie aufzufassen (sog.
Status asthenicus). Tatsachlich gibt auch die Patientin an, daB
sie schcn vcn der friihesten Kindheit besonders zart gewesen sei
und immer ein sehr niedriges Korpergewicht gehabt habe. Uebrigens
hat sie hier in der Klinik um 6 kg zugenommen. Soviel aber scheint
festzustehen, daB ein organisches Leiden des Zentralnervensystems
bei der Kranken vorliegt, dessen Symptome auBer dem Opticus-
befund zwar immer nur angedeutet und voriibergehend nachwe'nbar
waren, aber doch in ihrer Gesamtheit wohl ausreichen, um ein
solches annehmen zu konnen. Man ist, glaube ich, auf Grund der
bereits geschilderten Symptome wohl berechtigt, dieses organische
Leiden als eine spat einsetzende und ungewohnlich verlaufende
multiple Sklerose aufzufassen. Mit dieser Annahme laBt sich der
Augenhintergrundbefund am ehesten in Einklang bringen, da trotz
der dauemd in gleicher Intensitat vorhandenen, namentlich
temporalen, Abblassung der Papillen das Gesichtsfeld und die
Sehscharfe normal ist. Fur eine luetische oder metaluetische
Opticuserkrankung ware dieser Befund und Verlauf im hochsten
Grade ungewohnlich. Da ein zentrales Skotom letzthin nicht nach-
weisbar war (friiher war eine spezielle Priifung daraufhin nicht
moglich), glaubte auch eine Zeitlang der konsultierte Augenarzt
(Herr Prof. Bruckner) an die Moglichkeit, daB die Abblassung
als kongenitale Anomalie ohne pathologische Bedeutung sei. Bei
der hochgradigen Blasse hielt er aber den Befund doch mit Wahr-
scheinlichkeit fiir pathologisch. Auch die Tatsache, daB die Ab¬
blassung vor 1 y 2 Jahren vom Augenarzt noch nicht konstatiert
warden konnte, spricht ja durchaus fiir die Annahme einer patho-
logischen Veranderung. Es ist demnach sehr wohl moglich, daB
die Sehstorungen vor 1 y 2 Jahren den ersten Schub einer multiplen
Sklerose eingeleitet haben und daB jetzt als Residuum dieses
Krankheitsschubes am Sehnerven die Abblassung zuriickgeblieben
ist. Die iibrigen gelegentlich konstatierten organischen Symptome,
Fehlen der Bauchreflexe, Intentionstremor usw. fiigen sich ohne
weiteres in dieses klinische Bild ein.
Wenn auch nach diesen Ausfiihrungen der Fall diagnostisch
noch keineswegs restlos geklart ist, so scheint doch mit einiger
Reserve die wahrscheinlichste Annahme die folgende: bei einem
von Hause aus an den Korperorganen (Status asthenicus) und
speziell am Nervensystem (Migraneanfalle) minderwertigen und
widerstandsschwachen Individuum ist als endogene Nervenkrank-
heit eine multiple Sklerose aufgetreten, und im Verlauf dieser
multiplen Sklerose machen sich, vielleicht ausgelost oder begiinstigt
durch interkurrente exogene Faktoren (Durchfalle usw.) psychische
Storungen geltend, die unter der ungewohnlichen Form eines
paralytisch aussehenden Symptomenkomplexes in Erscheinung
treten. DaB eine symptomatische Psychose sich unter dem klini-
schen Bilde einer paralytisch aussehenden Erkrankung presentiert.
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126
Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit
ist zwar relativ selten, aber doch schon wiederholt beobachtet. In
seiner Darstellung der symptomatischen Psychosen im Handbuch
der Psychiatric erwahnt Bonhoeffer mehrere hierher gehorige Falle,
die iibrigens auch Sprach- bzw. Schriftstorungen darboten; der
weitere Verlauf klarte aber die wahre Natur der Krankheit auf.
Aus dem russisch-japanischen Kriege berichtet Stieda iiber kurz-
dauemde Psychosen im Verlauf des Abdominaltyphus, die gleich-
falls in ihrer Symptomatologie, in ihren unsinnigen GroBenideen
zunachst an Paralyse denken lieBen, bis sie nach wenigen Tagen
zur Heilung kamen. Fast das gleiche klinische Syndrom bot ein
Fall von symptomatischer Psychose, der vor einigen Jahren in der
Breslauer Klinik beobachtet wurde und der auch zur Autopsie
gekommen ist. Es handelte sich um einen alten Alkoholisten, der
bereits im Jahre 1904 ein Delir iiberstanden hatte und der Beit
dem Jahre 1908 an Schwindel, Ohnmachtsanfalien und Gedachtnis-
schw&che erkrankt war. In der Klinik war er stumpf-euphorisch
und produzierte massenhaft GroBenideen, glaubte Millionen zu
besitzen usw. Die Pupillenreaktion war schlecht, auch die Sprache
war deutlich gestort, der Gang ataktisch-paretisch. Die Liquor-
untersuchung fiel negativ aus. Nach voriibergehender Besserung
mit Korrektur verschlimmerte sich der Zustand und fiihrte im
Jahre 1910 zum Tode. Die Autopsie zeigte endarteriitische Ver-
anderungen der GefaBe und strichformige Verodungen der Rinde,
aber keine progressive Paralyse.
In diesen zum Vergleich herangezogenen Fallen hat der
weitere Verlauf schlieBlich stets eine sichere Diagnose ermoglicht.
In dem von mir geschilderten Fall ist eine sichere Diagnose bisher
trotz 10 monatlicher Beobachtung noch nicht moglich gewesen.
So lange ein pathologisch-anatomischer Befund noch nicht er-
hoben ist, wird die Moglichkeit, daB es sich hier vielleicht trotz
aller Gegenargumente doch um eine langsam, mit groBen Remis-
sionen verlaufende Paralyse handelt, diskutabel sein. Dieser
Einwand ist schlechterdings nicht endgiiltig zu widerlegen, wenn
auch der stets negative Befund im Blut und Lumbalfliissigkeit
in hohem MaBe dagegen spricht.
Pathologische Ueberwertigkeit und Wahnbildung.
Von
KARL BIRNBAUM
in Berlin-Buch.
(Schlufl.)
Bieten somit die Ueberwertigkeitswahnbildungen so manches
dar, was sich durchaus nicht auf ihr Bereich beschrankt, sondern
allgemeinere Geltung beansprucht, so liegt die Frage nahe, ob
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127
und Wahnbildung.
diesen Bildem iiberhaupt irgendwelche charakteristische Eigen-
heiten zukommen.
Nun, es ist klar, wenn solche existieren, konnen sie nur durch
die Beziehung zum uberwertigen Komplex gegeben sein. In dieser
Hinsicht kame vor allera in Betracht, daJ3 der iiberwertige Vor-
stellungskomplex — der selbst freilich schon meist anderweitig
verursacht und determiniert, Folge und Nachwirkung eines be-
sonderen seelisch wirksamen Vorgangs, eines affektvollen Erleb-
nisses ist —, daft dieser iiberwertige Vorstellungskomplex nachweis-
lich den Ausgangspunkt fur die Entstehung, die treibende Kraft
fur die Weiterentwicklung und das determinierende Moment fiir
die Ausgestaltung der Wahnbildung ist und bleibt. Diese enge
Verquickung von uberwertigem Inhalt und Wahn (resp. auch
noch dem auslosenden Erlebnis) muft naturgemaft irgendwie in der
Symptomatologie zum Ausdruck kommen. Sie findet in der Tat
auch ihren charakteristischen Niederschlag in der engen Gruppierung
aller Wahnerscheinungen um den uberwertigen Komplex und das
Erlebnis als Kern und Zentrum und in der Beschrankung ihres
Inhalts auf den durch jene Faktoren gegebenen — Erscheinungen, die
bekanntlich durch die natiirliche Tendenz der Ueberwertigkeit,
keine anderen als die ihr ad&quaten Inhalte zuzulassen, zur Geniige
erklart werden.
Mag es nun aber auch halbwegs berechtigt sein, den Zu-
sammenhang der Wahnbildung mit dem Erlebnis und dem iiber-
wertigen Komplex auf der einen, das Zirkumskriptbleiben und die
Enge des Wahnfeldes auf der anderen Seite als die charakteristi¬
schen Kennzeichen der Ueberwertigkeitswahnbildungen anzusehen,
so ist doch nicht zu verkennen, daft geniigend einwandfreie, unbe-
dingt hierhergehorige Wahnformen vorkommen, die sich an diese
Oharakteristika nicht kehren, sondem gewissermaften daruber
hinausfuhren.
Die Erscheinungen, die hierbei in Betracht kommen und die
das an sich einfache und leicht iibersehbare Bild der Ueberwertig-
keitswahnprozesse zu komplizieien und zu verwischen pflegen, sind
friiher schon angedeutet worden. Einmal wirken die aus den iiber-
wertigen Ideen hervorgegangenen Wahngebilde, wie geartet.sie
auch sonst sein mogen, von sich aus weiter. Sie verlangen weiter
Erklarungen, fordem Auflosung der durch sie erzeugten inhalt-
lichen Widerspriiche, drangen selbst zu weiterer gedanklicher
Verarbeitung, greifen so um sich und ziehen neue inhaltliche Ver-
falschungen nach sich. Kurz und gut, der Rahmen, der um die
iiberwertige Idee als Wahnzentrum lag, wird gesprengt, die sekun-
daren Wahngebilde werden zu neuen wahnbildenden Kraftzentren,
die selbstandig weiterwirken und damit also eine Erweiterung,
eine Ausbreitung, ein Fortschreiten des Wahnvorgangs herbei-
fiihren. Das ist das eine. Hinzu kommt nun aber noch dies:
Mit der weiteren Progression der Wahnbildung und dem damit
wachsenden Abstand von dem Ausgangspunkt, dem Erlebnis resp.
der uberwertigen Idee, entfemen sich naturgemaft die Wahn-
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Bimbaum, Pathologische Ueberwertigkeit
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vorstellungen auch inhaltiich immer mehr von jenen, sie fiihren
nun von sich aus den Wahngedankengang weiter und zwar in der
ihrem Inhalt entsprechenden Richtung, die durchaus nicht dem
der Ausgangsvorstellungen zu entsprechen braucht. So kann z. B.
der Beziehungs-, Beachtungs- und Vorfolgungswahn, der sich an
die uberwertigen Gedanken einer begangenen personlichen Ver-
fehlung anschlieBt, dermaBen iiberwuchem und seinem Inhalt
gemaB sich ausbreiten, daB der durch ihn erzeugte BewuBtseins-
inhalt nichts mehr vom Erlebnis und der an dieses gebundenen
uberwertigen Idee verrat. In manchen F&llen kommt nun noch
erschwerend hinzu, daB die Person auch noch von sich aus, ge-
wissermaBen aus ihrer Charaktereigenart heraus, in den Wahn-
prozeB eingreift und die Wahngebilde in der ihr naheliegenden
Gedankenart und -richtung weiterverarbeitet, daB auBere
Situationen und Vorgange, im Verlaufe des Wahnprozesses sich
geltend machend, als neue richtunggebende Krfifte mit in den Wahn-
vorgang hineinverarbeitet werden und dergleichen mehr. Auch
neue iiberwertige Vorstellungen konnen im Laufe des Prozesses
und unter dem Einflusse neuer auBerer oder innerer Erlebnisse
sich einstellen und damit die Wahnrichtung verschieben. Ich er-
innere an den oben angefiihrten Schiffskapit&n, bei dem zunachst
die iiberwertige Vorstellung des ihm angetanenen Unrechts und
infolgedessen Beeintrachtigungswahnvorstellungen vorherrschten,
bis schlieBlich mit der Ueberfiihrung in die Irrenanstalt iiberwertige
Zukunftfchoffnungen sich geltend machten und damit ein ganzes
Heer von ,,Fbrderungs“wahnideen ins BewuBtsein riefen. So
konnen schlieBlich recht komplizierte Bilder von Ueberwertig-
keitswahnprozessen zustande kommen, die mit ihrem unverkenn-
baren progressivem Umsichgreifen und ihrer wechselnden Wahn¬
richtung die an sich charakteristische Herkunft ziemlich verdecken
konnen. Der eine von den beiden Pfeifferschen Fallen (a. a. O.)
ist in dieser Hinsicht recht bezeichnend:
Ein alteres, erblich belastetes Fraulein von eigenartigem Charakter,
insbesondere von iibertriebener Scheu und Zuriickhaltung gegeniiber dem
mannlichen Gesehlecht, erlebte mit 30 Jahren ein Attentat auf ihre Keusch-
heit von seiten des Gatten ihrer Kusine, das fiir sie wegen ihres peinlichen
weiblichen EhrgefiihLs mit einem gewaltigen Affekt verkniipft sein muBte,
und das nach ihren eigenen Angaben mit gro£em Widerwillen und Todes-
angst fiir sie verbunden war. Die Erinnerung an dieses Erlebnis qu<e
sie unaufhorlich, drangte sich immer wieder in den Vordergrund ihres
BewuBtseins und versetzte sie in Scham und Erregung. Allmahlich trat
dann im Laufe der Zeit eine Beruhisung ein, und nach Jahren schien sie
den Vorgang ganzlich vergessen zu haben.
Sp&ter geriet sie in miBliche Lebensverh<nisse, und in dieser traurigen
Lage erschien ihr ein Better und Heifer in Gestalt eines Superintendenten,
der ihr freundlich entgegenkam und in fiirsorglichster Weise acur Erleichte-
rung ihres ungliicklichen Daseins beizutragen suchte. Dieses Verhalten
des Superintendenten hatte fiir sie wiederum die Bedeutung eines Kom-
plexes von affektvollen Erlebnissen, und als Reaktion darauf stellten sich
zunachst die Gefiihle der Verehrung und Dankbarkeit, spater der Zu-
neigung und Liebe ein. Auf diesem Boden setzte sich nun die iiberwertige
Vorstellung fest, da£ das Verhalten des Geistlichen nicht allein auf
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und Wahnbildung.
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Menschenfreundlichkeit zuriickzufiihren sei. Im Sinne dieser Ueberzeugung
sah und deutete sie nun seine Handlungen und Reden. Es fiel ihr auf,
dafi er sie mit grower Liebenswiirdigkeit behandelte, in seinen Predigten
haufig von Liebe sprach, ihr bedeutungsvoll die Hand driickte, ebenso wie
auoh seine Sohwester ihr, offenbar zum Zeichen der Billigung des Ver-
haltnisses, oft warm die Hand gedriickt habe usw. So war sie schliefilich
von seiner Liebe iiberzeugt und zweifelte nicht an der bevorstehenden
Bewerbung.
Auf der anderen Seite war ihr nicht entgangen, dafi ihre Freundinnen
und Bekannten, denen nach ihrer Ansicht das verhalten des Superinten-
denten auch aufgefallen sein muBte, ihr ein solches Gliick nicht gonnten.
Man sprach sogar schon in der Stadt davon, dass sie jenem nachlaufe.
In diesem Stadium leiser Befurchtungen und banger Zweifel an der
Verwirklichung ihrer sehnlichsten Wiinsche traf sie nun nach jahrelanger
Trennung mit jener Kusine zusammen, deren Mann 20 Jahre vorher das
Attentat auf sie versucht hatte, was eine Erneuerung des mit dem Erlebnis
verkniipften Affektes und damit der friiheren iiberwertigen Idee zur Folge
hatte. Der ihr seit jener Zeit auhaftende Makel erschien ihr nun, wo der
Superintendent ihr seine Liebe geschenkt hatte, noch weit schimpflicher
als friiher, und zugleich stellte sich bei ihr die Befiirchtung ein, die Kusine
habe vielleicht von dem Erlebnis Kenntnis und konne es dem Superinten-
denten mitteilen. Unter dem EinfluB dieser seelischen Einstellung fand sie
nun am nachsten Sonntag in der Kirche ihre Befurchtungen bereits be-
statigt. Der Superintendent sprach in seiner Predigt von Unkeuschheit
und Wollust und warf ihr dabei verachtende Blicke zu, eine plotzliche
Aenderung seines Verhaltens, die sie sich eben nur dadurch erklaren konnte,
da£ er durch die Kusine von allem unterrichtet sei. Die Bestatigung fur
diese Annahme fand sie bald darin, datf sie bei einem Versuche der Riick-
sprache bei ihm nicht vorgelassen wurde. Nun deutete und verarbeitete
sie alle weiteren Vorkommnisse im Sinne dieser fur sie feststehenden Ueber-
zeugung. Ein Besuch der Kusine am Tage nach der Predigt geschah, um
sich an ihrem Ungliick zu weiden, deren Versuch, sie zu trosten, war ledig-
lich Heuchelei. Als die Kusine ihr des weiteren auf ihre schriftliche Beichte
beruhigend und ohne jede Gereiztheit iiber das damalige Verhalten ihres
Mannes antwortete, kam sie auf den Gedanken, diese habe schon von
vornherein um die Sache gewuBt, und das ganze sei ein Komplott, dessen
Hauptanstifterin die Mutter der Kusine war, die sich fur Vermogensverluste,
welche ihre Familie infolge von Differenzen mit den Eltern der Patientin
erlitten hatte, rachen wollte.
Der weit ere Verlauf zeigte eine ununterbrochene Ket-te von Be-
ziehungswahnideen im Sinne der iiberwertigen Idee: Trostende Zuspriiche
von Freundinnen waren mit versteckten Krankungen vermlscht, auf der
StraJ3e wurde sie von guten Bekannten absichtlich ubersehen, harmlose
Bernerkungen der Hausbewohner enthielten verletzende Anspielungen auf
ihr Erlebnis, alle moglichen I<eute wetteiferten in dem Bestreben, ihr ihre
Geringschatzung zu zeigen usw. Ein Selbstmordversuch aus Verzweiflung
iiber die vermeintlichen Anfeindungen und Krankungen hatte sehliefilich
ihre Einlieferung in die Klinik zur Folge, und auch hier bezog sie sofort
harmlose Aeufierungen von Warterinnen und Mitpatientinnen auf sich und
las krankende Anspielungen aus ihnen heraus; Die dazu notige Kenntnis
ihres Vorlebens erklarte sie sich aits Mitteilungen der Warter, die sie dahin
gebracht hatten.
Im iibrigen war die Urteilskraft der Patientin eine gute.
Es diirfte kaum zweifelhaft sein, daB es sich auch hier trotz
des gelegentlichen Wechsels der Wahnrichtung und des Fort-
schreitens und der Verallgemeinerung des sekundaren Beeintrach-
tigungswahns um eine typische Ueberwertigkeitswahnpsychose
handelt.
Monatsschrift f. Psychiatrie u. NeuroJogie. Bd. XXXVII. Ilelt 2. 9
Gck igle
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130
B i r n h a u in , Pathologische L’eberwertigkeit
Nach alledem scheint es mir, ak ob es nicht berechtigt w&re,
die zirkumskripten Wahngebilde so strong von den progressiven
zu trennen, als es Wernicke tut, — wenigstens so wait es sich um
die hier dargestellten, rein psychologisch entwickelten Ueber-
wertigkeitswahnbildungen handelt —, wenn ich auch auf der
andem Seite nicht der Ansicht Hitzigs (1. c.) folgen kann, der die
,,fixen Ideen“ nur fur rudimentar entwickelte, noch nicht weit
genug vorgeschrittene Falle von progressiver Wahnbildung h<.
Ich meine vielmehr — und das soil bald noch naher ausgefuhrt
werden —, daB gewisee psychologisch noch genauer zu charak-
terisierende Formen von fiberwertigen Ideen ihrer Natur nach
mehr zum Zirkumskript- und Stationarbleiben tendieren, andere
dagegen mehr zum Progressivwerden.
Bedingungen der Ueberwertigkeitswahnbildung.
Um fiber diese verschiedenartigen Erscheinungen, die man
in den klinischen Fallen von Ueberwertigkeitswahnbildungen an-
trifft, Klarheit zu bekommen, ist es erforderlich, zun&chst einmal
klarzulegen, von welchen Bedingungen das Auftreten von Wahn-
vorgdngen bei pathologischer Ueberwertigkeit uberhaupt abhftngt.
Nun, vorerst kann man ganz allgemein sagen, daB dazu eine
gewisse Eignung des Erlebnisses sowie der daran gekntipften fiber-
wertigen Vorstellungen erforderlich ist. Nicht zum wenigsten
kommt es dabei auf die Besonderheit ihres Inhalts an. Am ge-
ringsten ffir eine Wahnbildung sind naturgemaB solche fiberwertige
Komplexe geeignet, die einfach erledigte Tatbest&nde wieder-
geben. So wird beispielsweise die fiberwertige Erinnerung an
den Tod eines teuren Angehorigen als eines abgeschlossenen un-
ab&nderlichen Geschehnisses im allgemeinen kaum der richtige
Boden ffir sekundare Vorstellungsverfalschungen sein. Andere
fiberwertige Inhalte, wie die Erfindungs- und dergleichen Ideen,
geben im grcBen ganzen nur die Grundlage ffir jene Wahnerschei-
nungen ab, die wir im Gefolge der Wertungsfiberwertigkeit sich
einstellen sahen. Wieder andere, der fiberwertige Gedanke an
einen personlichen Makel, eine eigene Verfehlung, pflegen vorzugs-
weise im Sinne der assoziativen Ueberwertigkeit zum Beziehungs-,
Beachtungs- und Verachtungswahn zu ffihren. Am gfinstigsten
liegen ffir eine sekundare Wahnbildung, sowohl was den Umfang
wie die Auspragung angeht, wohl jene Falle, in denen Erlebnisse
, oder Erfahrungen mit sozial bedeutungsvollem Inhalt zum AnlaB
resp. Gegenstand der Ueberwertigkeit werden. Denn durch sie
werden entsprechend ihrer groBen praktischen Bedeutung unver-
meidlich weitere Ueberlegungen bezfiglich ihrer Ursachen und
Wirkungen nahegelegt und angeregt, die dann im Sinne und in
der Richtung der fiberwertigen Anschauung einseitig weitergeffihrt
werden. Besonders solche Erlebnisse und Erfahrungen, die eigenes
oder fremdes Verhalten und Handeln in fiberstark betonter Weise
zum Ausdruck bringen, kommen hier in Betracht. Wenn man
Falle mit ausgebreiteter Wahnbildung unter diesem Gesichtspunkt
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und Wahnbildung.
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genauer betrachtet, wird man fast stets finden konnen, daB ahn-
hche Verhaltnisse .wie die hier hervorgehobenen ihnen zugrunde
Jiogan.
Auch fur das Stationar- und Zirkumskriptbleiben resp. das Fort -
schreiten der Wahnbildung ist der Inhalt des Erlebnisses und des
uberwertigen Vorstellungskomplexes nicht ohne Belang. Affekt-
volle Erlebnisse und iiberwertige Erinnerungen, die auf das Ver-
halten einer ganz bestimmten Person in ganz bestimmten Lebens-
beziehungen Bezug haben, warden z. B. von vomherein dazu
tendieren, auch den anschlieBenden wahnhaften Gedankengang
auf diesen engen Vorsteflungs- und Beziehungskreis zu beschranken.
Das baste Beispiel bieten dafiir jene Falle von ganz zirkumskriptem
Eifersuchtswahn, der lediglich auf eine bestimmte Person be-
schrankt und gerichtet bleibt, nachdem einmal ein iiberstark
betontes Erlebnis den Verdacht auf diese hingelenkt hatte. In
anderen Fallen liegt es einfach in dem eigenartigen Inhalt der
uberwertigen Vorstellung begriindet, daB es nicht recht zu einem
Umsichgreifen der anschlieBenden Wahnbildung kommt. So sind
etwa iiberwertige Ideen hypochondrischen Inhalts, weil sich auf
ein ganz eng begrenztes Lebensgebiet beziehend, schon ihrer
ganzen Natur nach zu einer fortschreitenden Wahnbildung nicht
eben geeignet und f&hig. Immerhin zeigen doch einzelne der oben
angefuhrten F&lle — Beeintrfichtigungswahn im AnschluB an ein
affektbetontes korperliches Trauma und die damit verkmiipften
hypochondrisch-iiberwertigen Vorstellungen und Eifersuchtswahn
‘ im AnschluB an analoge Erscheinungen — zeigen schon zur Geniige,
daB der durch den besonderen Inhalt der genannten Faktoren
gegebene Rahmen leicht genug gesprengt werden und von einer
bedingungslosen Gresetzm&Bigkeit in dieser Hinsicht nicht gut die
Rede sein kann.
Auf der anderen Seite hlBt sich nicht verkennen, daB in all
solchen Faflen auch die psychische Eigenart des Tragers der uber¬
wertigen Vorstellungen fur die Entstehung und Gestaltung dieser
Ueberwertigkeitswahnbildungen ins Gewicht fallt. Im Grunde
handelt es sich ja bei diesen Vorgftngen stets um reaktive Er¬
scheinungen, um psychologisdhe Realrtionen einer bestimmt ge-
arteten Person auf ein bestimmtes Erlebnis resp. auf die seelischen
Nachwirkungen desselben, und es ist klar, daB die innere Stellung
nahme zu dem affektvollen Ereignis und die Art der Verarbeitung
des beherrachenden BewuBtseinsinhalts von dessen psychischer
Eigenart ein gut Teil abhangen muB. Je nach Temperament und
Sinnesart (miBtrauischer, egozentrischer usw.), Stimmung (ge-
reizter, optimistischer, peseimistischer), kurz, je nach der seelischen
Individuality und tempor&ren seelischen Verfassung werden sich
die psychischen Begleit- und Folgeerscheinungen der uberwertigen
Vorstellungen verschieden gestalten, und je nachdem wird in dem
einen Falle der Gedankengang sich in der Richtung der Wahn¬
bildung bewegen, in dem andem aber nicht, wird der Wahninhalt
sich so oder so gestalten. So kann beispielsweise die Erinnerung
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132 Bi r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeifc
an den Tod eines geliebten Menschen in jedem Falle iiberwertig
sein. Der eine nimmt ihn aber, wiewohl nicht dariiber hinweg-
kommend, einfach als unabanderliche Tatsache hin, die hochstens
die bisherige Bewertung der Lebenswerte beeinfluBt, das Vor-
' stellungsleben aber sonst unverfalscht laBt, wilhrend ein anderer
entsprechend seiner seelischen Eigenart sich selbst die Schuld an
dem Todesfall beimiBt und zu wahnhaften Selbst beschuldigungen
kommt, ein dritter endlich aus seiner Natur heraus alle Schuld
auf andere walzt und aus dieser Einstellung heraus nun deren
weiteres Tun und Lassen stets im Sinne der Boswilligkeit, schlechter
Gesinnung usw. auffaBt und umdeutet, also ein ganzes logisches
Delir daran anschlieBt.
Ebenso wie fiir die Wahribildung auf Grund pathologischer
Ueberwertigkeit muB auch fiir die Entstehung der uberwertigen
Ideen selbst eine besondere Eignung, sei es des Erlebnisses, sei es
der Personlichkeit, herangezogen werden. Ganz einfach und iiber-
sichtlich liegen die Verhaltnisse hier freilich nicht.
Zunachst: Auf den besonderen Inhalt und Gefuhlsfdrbung
des Erlebnisses kommt es dabei gewiB recht wenig an, sonst konnten
nicht so vollig verschiedenartige Erlebnisse, wie die angefiihrten
Beispiele sie darboten, in ganz analoger Weise zu uberwertigen
Ideen fuhren.
Wichtiger scheint schon das Verhdltnis des Erlebnisinhalts zur
sonstigen Oedankenwelt der betroffenen Person zu sein. Wernicke
hat schon seinerzeit die Schwervertraglichkeit resp. Unvereinbar-
keit von Erlebnis- und vorhandenem BewuBtseinsinhalt als wesent-
liches Moment in dieser Beziehung hervorgehoben, wodurch ge-
wissermaBen ein unassimilierbares Novum entstehe, und ahnliches
hat auch Friedmann bei der Heraushebung speziell der isolierten
uberwertigen Ideen im Auge gehabt, wenn er von der durch das
Erlebnis herbeigefiihrten plotzlichen Vemichtung der gewohnten
Beziehungen und Assoziationen spricht. Immerhin zeigen doch
schon andere Ueberwertigkeitsformen, erotische, Erfindungs- und
dergleichen iiberwertige Ideen, daB man mit dieser Diskrepanz
zwischen altem Vorstellungsbesitz und neu hinzutretendem nicht
alien Moglichkeiten fiir das Auftreten von iiberwertigen Ideen
gerecht wird, und daB die Grundbedingungen dafiir wo anders
gesucht werden miissen.
Diese grundlegenden Bedingungen fiir die Entstehung der
uberwertigen Vorstellungen sind in der Person selbst und zwar
in ihrer psychischen Reaktionsart gelegen: Auf der einen Seite
besteht die in der abnormen Gefiihlsorganisation begriindete
;positive Tendenz, die gesamte affektive Energie stets einseitig
auf einen einzigen Inhalt festzulegen — Bonhoffer 1 ) spricht in
dieser Hinsicht von der infolge ab ovo bestehender Temperaments-
*) Klinische Beitrage zur Lelire von den Degenerationspsychosen.
Halle 1908.
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und Wahnbildung.
133
anomalie gegebenen Neigung zu einer Disharmonie in der Dynamik
der Vorstellungen in dem Sinne, daB bestimmte Vorstellungsgebiete
von einem andauemden AffektfiberschuB begleitet sind — auf der
anderen Seite eine negative Tendenz, die durch die abnorme
psychische Gesamtkonstitution bedingte Unfahigkeit, durch natfir-
liche — verstandes- oder geffihlsm&Bige — Hilfsmittel und Gegen-
krafte (entgegenwirkende Trostvorstellungen. seelisch befreiende
Aussprache, kritische Verarbeitung des affektvollen Erlebnisses
und dergleichen) die beherrschende Affektkraft abzuschwachen
und damit zugleich ihre pathologischen Wirkungen auszugleichen.
Gewissen psychopathischen Naturen, starr fanatischen und
Ahnlichen, aber auch geistig beschrftnkten und anderen, f&llt dieser
Ausgleich solcher ihrem ganzen Wesen und Denken widerstreitenden
Erlebnisse besonders schwer, und daher sind sie von vornherein
der gekennzeichneten Gefahr besonders ausgesetzt.
DaB fiber diese allgemeine Tendenz zur Ueberwertigkeit hinaus
vielfach auch noch die spezielle Richtung, nach der die einseitige
Affektbetonung geht, durch die besondere personliche Wesensart
festgelegt ist, sei nebenbei noch erwfihnt. Mafilos erhohtes Selbst-
geffih! beispielsweise neigt zu fiberwertiger Betonung jeder Ein-
schr&nkung der personlichen, ungebtihrlich erweiterten Interessen-
sph&re im Sinne querulatorischer Ueberwertigkeit, fibertriebener
Kleinmut im Gegenteil zu fibermaBiger Heraushebung jedes per¬
sonlichen Makels mit sekundarem MiBachtungswahn, angstliche
Besorgtheit ums eigene Wohl zu hypochondrischer Ueberwertig¬
keit usw. So erklart es sich, daB die fiberwertigen Ideen und die
Ueberwertigkeitswahnbildungen neben der inhaltlichen Beziehung
zum affektvollen Erlebnis auch eine solche, oft sogar vor allem
eine solche, zur psychischen Eigenart ihres Tragers aufweisen
und daB sie sich aus dieser ebensogut, ja selbst noch besser, als
aus jener ableiten lassen.
Nattirlich fallt die personliche Eigenart, die besondere Affekt-
konstitution vielfach auch ffir weitere Eigenheiten der Ueber-
wertigkeitserscheinungen ins Gewicht, und so ist z. B. die Verlaufs-
art, das mehr oder weniger hartnackige Verharren, der schleppende
Ablauf und die geringe Heilungstendenz von der abnormen Nach-
haltigkeit und Stabilitat der Geffihlsdispositionen abhangig.
Die klinische Stellung der Ueberwertigkeitswahnpsyehosen.
Bleibt noch die Frage nach der klinischen Stellung der fiber¬
wertigen Ideen im allgemeinen und der fiberwertigen Ideen mit
sekundarer Wahnbildung, Wernickes zirkumskripter Autopsychose
auf Grund fiberwertiger Idee i. e. S., im speziellen.
Die fiberwertige Idee hat, wie bekannt, schon Wernicke als
bloBes Symptom anerkannt, das bei den verschiedenen Krankheiten
(Melancholie und anderen) vorkame 1 ), und dasselbe muB auch von
l ) Im Widerspruch dazu nennt er gelegentlich allerdings die iiber-
wertige Idee gleicnzeitig zirkumakripte Autopsychose, heht sie also als
besondere Krankheitsform Iteraus.
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B i r n b a n in , Pathologische Ueberwertigkeit
der iiberwertigen Idee mit wahnhaftem Inhalt, der eigentlichen
fixen Idee, gelten. Aber auch die Autopsydhose auf Grand einer
iiberwertigen Idee, die iiberwertige Idee mit anschlieBender Wahn-
bildung kann nur den Rang eines eigenartigen Symptomen- und
Verlaufskomplexes be&nspruchen, der bei verschiedenen Erkran-
kungen vorkommen kann, sofern nur die Bedingungen fiir den
Ueberwertigkeitsmechanismus, fiir eine einseitige Yersohiebung
der Gefiihlsbetonungen zueunsten eines Inhalts gegeben sind.
Die zirkumskripte Autopsychose aus iiberwertiger Idee laBt sich
also nicht ohne weiteres, wie ihr Schopfer es meinte, als Krankheit
sui generis aufrechterhalten, oder wenigstens nur mit einer gewissen
nioht belanglosen Einschrankung, auf die wir gleich noch naher
eingehen warden.
So kommt beispielsweise dieses charakteristische Symptomen-
und Verlaufsbild mehr oder weniger ausgepragt bei der Dementia
praecox vor„ spezieH natiirlioh am Anfang der Erkrankung, wo
•tiefgreifendere Storungen noch fehlen und nach normalpsycho-
logischen Gesetzen ablaufende Mechanismen daher noch moglieh
sind und im AnschluB an affektvolle Erlebnisse, deren atiologische
Bedeutung fiir die Grunderkrankung selbstverstandlich trotzdem
dahingestellt bleiben muB. Auch unter den von mir angefiihrten
Fallen befindet sich ein solcher Fall von typischer Schizophrenic,
bei dem das durchaus charakteristische Bild der Ueberwertigkeit6-
wahnbildung in flieBender Weiterentwicklung im Laufe der Jahre
in einen ebenso charakteristischen Zustand katatonischer Yer-
blodung ausgelaufen ist.
Es ist jene oben naher gekennzeichnete ,,Ldebesverfolgenn“,
jene Witwe, deren dominierende Liebesneigung zu dem Armen-
vorsteher der Ausgangspunkt fiir eine Reihe iiberwertiger Vor-
stellungen mit nachfolgender Wahnbildung wurde: Aus der eroti-
schen Ueberwertigkeit hatten sich zunachst wahnhafte Eigen-
beziehungsideen, Auffassungs- und Erinnerungsfalschungen ent-
wiokelt, die zu der wahnhaften Ueberzeugung erwiederter Liebe
und gegebenen Heiratsversprechens fiihrten; daran schloB sich
dann die iiberwertige Vorstellung eines rechtlichen Anspruchs auf
Ehe und Yersorgung mit den entsprechenden querulatorisohen
Begleiterscheinungen, und endlich ergaben sich aus dem ab-
lehnenden Verhalten des Partners MiBdeutungen im Sinne einer
von jenem ausgehenden Verfolgung, ein weitgehender Beziehungs-
und Beeintrachtigungswahn. So sah der Fall eine ganze lange
Zeit hindurch aus (man kann auf sicher mehr als drei Jahre, mog-
licherweise auf beinahe sieben, rechnen), und dann entwidkelte
sich das Bild langsam und allmahlich ohne akute Steigerungen
und Aenderungen immer mehr im Sinne einer Dementia praecox
katatonischen Charakters. In den letzten Jahren vor ihrem nach
zirka 14 jahriger Krankheitsdauer erfolgtem Tode (an Nephritis)
bot die Patientin einen typisch schizophrenen Endzustand dar:
vollig stumpfes Verhalten mit faselig-verworrenen AeuBerungen
und zeitweise Mutazismus, Bewegungsstereotypien und Grimas-
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und Waftnbildung.
135
sieren. Der Pall selbst wurde, wienaturlich, in den ersten Jahren
der Beobachtung als Paranoia chroniea aufgefaBt. Wenn ich
selbst jetzt zuriickblickend nach Auffalligkeiten in der rein ,,para-
noischen“ resp. Ueberwertigkeitswahnphase suche, so finde ich
eigentlich nur die in dem ersten Erkrankungsjahr erfolgte AeuBe-
rung der Kranken, der Armenvorsteher beobachte sie durch ein
Loch in der Decke ihrer Wohnung. La diese Bemerkung sich aber
nur in dem arztlichen Ueberweisungsattest vorfand, wahrend der
Anstaltsbeobachtung dagegen weitere AeuBerungen nicht fest-
gestellt werden konnten, so wage ich nicht, daraus weitgehende
Schliisse zu ziehen.
Nun, diese Beobachtung steht nicht isoliert da. Aehnliche,
wenn auch weniger charakteristische, findet man unter den von
Margulies 1 ) publizierten Fallen, in denen iiberwertige Ausgangs-
vorstellungen gleichfaUs eine Rolle spielen, und die man wohl zum
gut Teil nicht, wie der Autor selbst es tut, der Paranoia, als
vielmehr der Dementia paranoides zurechnen diirfte.
Natiirlich ist die Klarstellung des klinischen Charakters einer
solchen Erkrankung nur solange schwierig, als diese sich noch in
der Phase rein psychologisch entwickelter Krankheitserscheinungen
befindet. Ist im weiteren Verlauf erst dieser enge Rahmen ge-
sprengt, und hat die Wahnbildung die Bahnen einer in psycho¬
logisch natiirlichem und folgerichtigem Zusammenhang mit der
iiberwertigen Idee stehenden Entwicklung verlassen, stellen sich
den Ueberwertigkeitssymptomen wesensfremde Krankheitsziige ein,
dann bietet die Erkenntnis, daB hier eine von den anerkannten
typischen Erkrankungen ungewohnlicherweise aus irgendwelchen
vorlaufig noch unbekannten Griinden voriibergehend und initial
unter dem Bilde einer Ueberwertigkeits wahnbildung, einer zirkum-
skripten Autopsychose auf Grund einer iiberwertigen Idee, ver-
laufen ist, keine Schwierigkeiten mehr. DaB es immerhin eine
geraume Zeit dauern kann, bis diese Entscheidung moglich ist,
zeigt der eben angefiihrte Fall zur Geniige.
Wie weit diese Ueberwertigkeitswahnbildungen bei anderen
Krankheitsformen vorkommen, laBt sich auf Grund der Literatur
nicht recht sagen, es ist wohl im allgemeinen nicht besonders darauf
geachtet worden. Wenn ich mein eigenes Material iiberblieke, so
scheinen diese Beziehungen doch recht selten zu sein.
In dem Gros der Falle, die hier in Betracht kommen, handelt
es sich nun aber nicht um Symptomen- und Verlaufsbilder von
Psychosen, die sonst gewohnlich unter anderem Bilde verlaufen,
als vielmehr um Erkrankungen, fur die dieser Erscheinungskomplex
gradezu charakteristisch ist, und insofem ist es nun wenigstens
halbwegs berechtigt, von dieser Art Falle, die speziell ja auch
Wernicke im Auge hatte, als von besonderen Krankheitsformen
zu reden. Damit ist nun freilich noch nicht gesagt, daB jene fiir
Margtdiis, Die primare Bedeutung der Affekte im ersten Stadium
der Paranoia. Monatssehr. f. Psych, u. Neur. Bd. 10.
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H i r n b a u in , Pathologische Ueberwertigkeit
136
sie charakteristischen Zeichen nun die einzigen waren, die iiber-
haupt im Krankheitsbilde vorkamen, und daB sonst nichts Patho-
logisches vorlage. Wernicke hat dies bekanntlich gemeint (,,Ele¬
ment arsymptom, das die ganze Krankheit ausmacht“) und hat
damit, wie ich schon hervorhob, den sonstigen geistigen Zustand
beziiglich der pathologischen Besehaffenheit zweifellos unter-
schatzt. Also nicht, weil die Ueberwertigkeitswahnbildungen die
einzigen Krankheitserscheinungen, sondem weil sie die Haupt-
und Wesensziige der Psychose ausmaehen, und nicht, wie sonst,
die untergeordnete Rolle mehr zufalliger Symptome spielen,
ist ihre selbstandige Heraushebung angebracht.
Wenn man nun diese typischen Falle von Ueberwertigkeits-
wahnpsychosen, in denen im AnschluB an ein affektvolles Erlebnis
einKomplex von iiberwertigen Vorstellungen auftritt, nur aus der
Ueberwertigkeit erklarbare, mehr oder weniger ausgedehnte Wahn-
bildungen nach sich zieht und im weiteren Verlauf sich im wesent-
lichen auf diese Symptome beschrankt, wenn man, sage ich, diese
Art Falle an ein klinisches System heranbringt, so ist es unver-
kennbar, daB man sie bei den psychogenen Krankheitsformen
(in dem Sinne und mit der Einschrankung, wie ich sie in meinen
friiheren Arbeiten gekennzeichnet habe) unterbringen muB, wie
dies auch Bonhoeffer in seinem Stuttgarter Referat getan hat.
Die Ueberwertigkeitswahnpsychosen, Wernickes zirkumskripte
Autopsychosen aus iiberwertiger Idee, gehoren zu den typisch
psychogenen Erkrankungen, und sie sind speziell zu den Haupt-
typen psychogener JFaAwpsychosen zu rechnen. Damit sell nun
aber durchaus nicht das Gebiet der psychisch bedingten Ueber¬
wertigkeitswahnpsychosen ungebiihrlich und unbereehtigt aus-
gedehnt werden und nun etwa jede psychogene Wahnpsychose,
die sich an ein affektvolles Erlebnis anschlieBt, inhaltlich daran
ankniipft und sich dauemd auf diesen Inhalt beschrankt, ohne
weiteres als Ueberwertigkeitspsychose gelten, sondem erst dann
und nur dann, wenn sich auch wirklich eine iiberwertige Idee und
der Zusammenhang der Wahnbildung mit dieser nachweisen laBt.
Die Ueberwertigkeitswahnpsychosen bilden eben nur eine Gruppe
der psychogenen Wahnerkrankungen neben anderen andersartigen
und andersbedingten.
DaB zur Entstehung dieser eigenartigen psychogenen Storungen
eine besondere psychische Krankheitsbereitschaft der betreffenden
Person, eine eigenartige ,,;psychogene Disposition", erforderlich ist,
habe ich schon friiher hervorgehoben und auch schon angedeutet,
daB infolge dieses fur die Erkrankung notwendigen pathologisch
praformierten Bodens der psychische Gresamtzustand nicht so
unfehlbar intakt ist, daB man von einer isolierten Storung reden
kann. Beziiglich dieser psychogenen Disposition will ich hier nur
noch bemerken, daB diese sich zwar wohl am haufigsten als ange-
borene auf degenerativem Boden erhebt, daB aber weitere Er-
fahrungen immer zwingender auf eine erworbene, erst im Laufe
des Lebens entstandene hinweisen. Sie kann durch alle moglichen
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und Wahnbiidung.
137
Einfliisse, sei es dauemd, sei es voriibergehend, herbeigefiihrt
werden, sofem dies© nur imstande sind, die psychischen Gleich-
gewichtsverhaltnisse im Sinne einer Beeintrachtigung der Gefiihls-
verteilung zu storen. Wernicke zieht beispielsweise in einem seiner
Falle das kritische Riickbildungsalter und vorangegangene Ueber-
anstrengungen als solche dispositionsfordernde Faktoren heran,
in anderen Fallen lassen sich auch andere, Unfalle, Alkohol-
miBbrauch, Alters- und ahnliche Schadigungen anfiihren. Be-
sonders bei den querulatorischen Ueberwertigkeitsformen stoBt
man ofterauf eine solche, durch auBereEinfliisse erworbenepsycho¬
gene Disposition zu Ueberwertigkeitsbildungen.
Kann man nun auch die Frage, ob die zirkumskripte Auto-
psychose aus iiberwertiger Idee eine partielle Geistesstorung ist,
aus den angefiihrten Griinden nicht, wie Wernicke , prinzipiell be-
jahen, so laBt sich doch nicht ableugnen, daB Falle vorkommen,
wo die auBerhalb der Ueberwertigkeitssymptome gelegenen psychi¬
schen Eigenheiten so wenig auffallig und abnorm erscheinen, daB
man nicht gut von einer allgemeinen Storung des seelischen Gesamt-
zustandes, ohne die nach allgemeiner Auffassung eine Wahnbiidung
nicht denkbar ist, reden kann. Im iibrigen, meine ich, diirfte die
Erregungundablehnende Haltung, die sich seiner>eit gerade gegen
diese Betonung der Partialitat einer geistigen Storung richtete,
eigentlich weniger dem Gewicht der Tatsachen, die dieser Auf¬
fassung widersprechen, entsprungen sein, als der Besorgnis, eine
neu gewonnene grundlegende Erkenntnis, die die Monomanien
und ahnlichen fortschritthemmenden psychiatrischen Unrat ent-
femt hatte, konnte dadurch wieder von neuem bedroht werden.
DaB auch die Zirkumskriptheit der Wahnbiidung bei iiber-
wertigen Ideen klinisch nicht so hoch bewertet werden kann, wie
dies von Wernickes Seite her geschieht, wurde gleichfalls schon
friiher gelegentlich angedeutet. Denn mag auch die ,,fixe Idee“,
die umgrenzte Wahnbiidung, das ,,Delirium circa unam rem“
(Pfeiffer), mit Vorliebe bei diesen Ueberwertigkeitswahnbildungen
vorkommen und daher halbwegs fiir sie charakteristisch sein (ent-
sprechend der Tatsache, daB die iibervvertige Affektbetonung an
einen eng begrenzten Kreis von Dingen, die durch das erregende
Erlebnis festgelegt sind, sich festzuheften pflegt und nur an
diesem haften bleibt), so liegt doch das Hinausgehen aus dem
Rahmen des iiberwertigen Komplexes, das Weitergreifen und
Fortschreiten des Wahnprozesses, durchaus im Bereich der Ent-
wicklungsmoglichkeiten dieser Ueberwertigkeitswahnbildungen
und zeigt sich auch oft genug in geeigneten Fallen. Wie weit dies
gehen kann, dafiir bietet neben anderen oben gekennzeichneten
Fallen beispielsweise der zuletzt angefiihrte Pfeiffer ache Fall einen
geniigenden Beleg. Man kann also sehr wohl — und wohlbegriindet
durch die Erfahrung — von progressiven Autopsychosen auf Grund
iiberwertiger Ideen reden, zu denen jene zirkumskriptcn Wernickes
in flieBenden Uebergangen hiniiberfuhren, und es geht wohl nicht
zu weit, wenn man etwa in dem kiirzlich von Gaupp veroffent-
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138
Birnba u m , Pathologische Ueberwertigkeit
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lichten Fall des Massenmorders Lehrer Wagner 1 ) seiner ganzen
Entstehung und Entwicklung nach ein charakteristisches Beispiel
dieter progressiven Ueberwertigkeitswahnbildung sieht. Gaupp
hat iibrigens selbst auf die Rolle hingewiesen, welche liberwertige
Vorstellungen in diesem Falle bei der Wahnbildung spielten.
Bei W., einem erblich belasteten, charakterologisch abnormen
Menschen, spiehen speziell liberweftige Vorstellungen sexuellen Inhalts
eine verhangnis voile Rolle. In den Junglingsjaliren lift er schwer unter
deni Gedanken an die von dim veriibte Onanie. Er quiilte sich mit Angst,
Skrupeln und Gewissensbissen und kam zu Falschauffassnngen im Sinne
dieser ihn beherrschenden Yorstellungen. Er betraehtete sich im Spiegel
und nahm sein schlechtes Ausseben wahr. Er projizierte nach aufien, was
ihn innerlich beschtiftigte und qualte. Er war iiberzeugt, daU auch andere
ihm seine geheimen Siinden anmerkten, er glaubte es aus allerhand An-
deutungen herauszumerken, aus einem harmlosen Scherz eines Kom-
militonen las er gleich Vorwiirfe wegen seines Rasters heraus. Unfahig,
sich von der Onanie zu befreien, litt er spater schwer darunter, das Laster
zu verbergen, das mit seinem Selbstgefiihl unvereinbar erschien, kam
dadurch iminer mehr zu atzender Selbstkritik und wurde nervos.
1901, im 28. Lebensjahr, traf ihn nun ein neues ihn aufs schwerste
erscluitterndes Vorkommnis sexueller Farbung, iiber das er um so weniger
hinwegkam, als es an sich seinen ubermaftigen Stolz und durch die Not-
wendigkeit, es gelieim zu lialten, auch sein ausgepragtes Walirheitsgefiihl
verletzte: In der Ortschaft M. verging er sich, bald nach seinem Dienst-
antritt als Unterlehrer, unter dem Einflu/3 von Alkohol, gegen den er von
jeher intolerant war, sexuell an Tieren, allerdings ohne daJ3 irgendwelche
Zeugen zugegen waren. Die Folge war eine ausgesprochen liberwertige
Returning dieser geschlechtlichen Verfehlung. Seine Verzweiflung iiber die
veriibte Tat, seine Angst vor Entdeckung und seine Scham, dafi er sich
an der ganzen Mensehheit vergangen, war ganz ungeheuer. In iiberwertiger
EiiiKchatzung seines sexuellen Tuns rneinte er etwas Sehlimmeres und
Verabscheuungswiirdigeres als Mord und Tot selling begangen zu haben.
SchuIdbewuBt.sein und Entdeekungsangst bekommen nun das beherrschende
Uebergewicht in seinem Gedankenleben, bestimmcn die ossoziative Ein-
stellung und fiihren wahnliafte Eigenbeziehungsvorstellungen nach sich:
In Unruhe iiinhergehend und voll gespannter iingstlicher Erwartung glaubt
er wahrzunehmen, da/3 andere ihm seine schandlichen Handlungen ansehen.
Bald merkt er auch, daj3 sie iiber ihn Bemerknngen machen, hinter seinem
Riicken auf ihn deuten, gemeinschaftlich iiber ihn lachen und hohnen.
Im Wirtshaus hort er sogar am Nebentisch zotige Aeufierungen fallen, die
auf seine sexuellen Verirrungen Bezug haben. So geriet er, sich als Gegen-
stand der allgemeinen Spotterei glaubend, in hochgradige Erregung. Auf
der anderen Seite fiirchtete er auch die Entdeckung und trug deshalb einen
Revolver bei sich, uni sich jeden Augenblick erschiefien zu konnen, wenn
der Landjager kame.
Als W. spater auf ein einsames Dorf R. versetzt wurde, gingen zwar
Gram und Verzweiflung und Abscheu vor sich selbst mit ihm, immerhin
trat doch aber insofern eine gewisse Beruhigung ein, als die Angst vor
Verbaftimg sich zunachst legte, und auch die Eigenbeziehung vorerst ruhte.
So blieh er die ersten vier bis fiinf Jahre in R. frei von weiteren Beziehungs-
wahnideen, hielt allerdings an den fruheren beziiglich der Biirger von M.
nach wie vor fest. Und sooft er wieder dorthin kam, nahm er an Mienen,
Gebarden und Worten der Einwohner wahr, dafl er noch immer Gegenstand
des Hohnes und Spottes sei. Von 190S dehnte sich nun aber der Beziehungs*
wahn auch auf R. und die benachbarten Dorfer aus: Auch hier Ver-
hohnungen, Verspottiingen und Andeutungen von Freunden und Kollegen,
1 ) Munch, med. Wocli. 1914. No. 12, und Monographic. Berlin 1914.
Springer.
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und Wahnbildung.
139
aus denen er ihrWissen von derSodomie herauislas. Dadurch steigerten
sich seine Qual und sein H&J3 gegen sich selbst sowohl wie gegen die Burger
von M. als die Verbreiter des Hohns und Spotts. Als die Verfolgungen
immer qualender wurden, lie 13 er sich nach D. versetzen, aber auch hier
machte er bald die gleichen Beobachtungen. So reifte denn schlieJ31ich
der schon friiher gefafite Entschlui3 zur Vernichtung seiner Familie und
der mannlichen Einwohner von M. zur Tat, 12 Jahre nach jenem er-
sehutternden Erlebnis.
Dieser Fall enthalt in seiner Symptomatologie meines Er-
aehtens nichts, was sich nicht zwanglos aus dem inneren Zu-
sammenhang mit dem iiberwertigen Ideenkomplex erklaren lieBe,
und auch zur Erklarung der exquisiten Chronizitat des Verlaufs
und der unverkennbaren Tendenz zur Progression des Wahns
reicht die Tatsache, daB der im Mittelpunkt des Gedankenlebens
stehende Vorstellungskomplex durch den an ihn gebundenen
abnorm starken und hartnackigen Affekt dauernd das Ueber-
gewicht im seelischen Leben beh<, wohl vollig aus. Damit soli
natxirlich die von Gaupp besonders betonte Bedeutung einer
abnormen Charakterveranlagung spezificher Art durchaus nicht
herabgesetzt werden, aber wenn man beriicksichtigt, daB der
iiberwertige Komplex es ist und bleibt, der das ganze Krankheits-
bild beherrscht, indem er fur Entstehung, Symptomengestaltung
und Verlauf entscheidend wirkt, dann wird man dessen pat ho-
genetischen Wert trotzdem nicht geringer einschatzen konnen.
Gaupp sieht in dem Fall eine typische Paranoia, allerdings
eine ,,milde“ Wahnform im Sinne Friedmanns , und dem wird man
sich anschlieBen miissen, sofern man an der Paranoia im Sinne
der bisherigen Krapelin schen Auffassung festhalt 1 ), und das natiir-
liche Ergebnis dieser Betrachtung w&re dann das, daB die psycho-
genen Ueberwertigkeitswahnpsychosen , soweit sie chronisch progressiv
verlaufen , zum Teil wenigstens mit zu jenen systematisch fortsc.trei-
tenden Wahnprozessen zu rechnen sini y die vorlaufig noch unter
dem Sammelnamen „Paranoia“ zusammengefafit werden. Eine
Auffassung, die iibrigens wohl nicht allzu abseits von dem Wege
liegt, den einige jiingere Arbeiten in der Paranoiafrage einge-
schlagen haben.
Im ubrigen ist auch nicht einmal gesagt, daB die iiberwertigen
Ideen und die Ueberwertigkeitswahnbildungen in jedem Falle
einen chronischen Charakter haben miissen. GewiB ist die chronische
x ) Die neue Krapelinache I*ehre von der Paranoia (Ueber paranoide
Erkraukungen, Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych., Bd. 11), die als deren
typische Vertreter die paranoischen Erfinder, Reformatoren usw. ansieht,
als Wahnkern den GroJBenwahn, ,,die sieghafte Ueberzeugung von der
eigenen Vortrefflichkeit“ und als Wahnmaterial Wunsch- und Traum-
realisierungen betrachtet, will mir nicht als gluckliche Weiterentwicklung
dee bisherigen Krapelin schen Standpunkts in dieser Frage erscheinen.
Wurde bisher im wesentlichen die streng systematisclie, durch Urteil und
Kritik logisch aufgebaute Wahnbildung ak der fur die echte Paranoia
char a kter ist isc he Wahntypus angesehen, so wird nun an seine Stelle ein
ganz andersartiger gesetzt, der, soweit ein Urteil nach der kurzen Ver-
offentlichung moglich ist, mit anscheinend ganz anderen Wahnmechanismen
(zum Teil wohl auj-osuggestiven ?) arbeitet.
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140 Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit etc.
ihre haufigste Verlaufsform, insofem die zugrundeliegende iiber-
starke Affektbetonung sich zu fixieren neigt, und ganz gewifi ist
sie auch ihre charakteristischste Verlaufsform, insofem gerade erst
bei langem Verharren der iiberwertigen Affekte die Ueberwertig-
keitsfolgen weitgehend und charakteristisch zur Geltung kommen.
Aber schlieBlich konnen die Ueberwertigkeitsprozesse gelegent-
lich auch einmal ebenso schnell zum Abklingen kommen, wie sie
unter dem akuten AffektstoB entstanden sind, und man bekommt
dann akute Verlaufsbilder, die nur dadurch, dajJ die Krankheits-
erscheinungen auf einen kurzen Zeitraum zusammengedrangt sind,
sich von den sonst iiblichen Ueberwertigkeitspsychosen abheben.
Als hierhergehorig erscheint mir einer der von Friedmann (1. c.)
veroffentlichten Falle:
Ein erblich nicht belasteter, sonst sehr ruhiger und besonnener, nur
fiir seinen Stand exaltierter Mann, Tagelohner, bisher im groften ganzen
gesund, erfahrt, als er von einem wegen allgemeiner Nervositat und Schlaf-
losigkeit notig gewordenen Landaufenthalt zuriickkehrte, durch seinen •
Schwager, wahrend seines Fortseins habe einmal ein Landsmann in seiner
Wohnung — mit seinen zwei Kindern zusammen — iibemachtet. Er geriet
dadurch in den nachsten Tagen in grofie Aufregung und Eifersucht auf
seine Ehefrau, mit der er bisher gut zusammengelebt hatte, wiewohl ein
Vorkind von ihm schon vor der Heirat da war. Nun uberhaufte er nicht
nur die Ehefrau mit Vorwiirfen und glaubte auch all ihren Versicherungen
nicht, sondern er verlegte sein Nacht lager ins Nebenzimmer imd stellte
sich hier, mit einem grofien Messer bewaffnet, zwei Nachte auf Lauer.
Mitten in der Nacht drang er dann ein, behauptete, zuverlassig gehort zu
haben, daB ein fremder Mann dagewesen sei, und da!3 der mit der Frau
sexuell verkehrt habe. Sie habe auf seiner eigenen Unter hose gelegen, an
dieser habe er sichere Spermaspuren frischer Art entdeckt, auch die Frau
habe absolut so ausgesehen wie nach einem solchen Akt. Also unverkenn-
bare iliusionare FaLschauffassimgen und MiJ3deutimgen im Sinne der iiber-
wertigen Eifersuchtsidee. Er maclite stundenlang deshalb groflen Aufruhr
und Larm und wiederholte das in der nachsten Nacht in etwas milderem
Grade nochmals. Keine Vernunftrede hatte EinfluS; grade weil es toricht
orscheine, wenn die Frau unter solchen Umstanden einen Mann bei sich
empfange, habe sie es aus ,,Schlauheit“ getan. Sie sei immer etwas leicht-
fertig gewesen, er wisse jetzt (was nicht richtig ist), dafl sie noch ein zweites
Vorkind habe, sie sei auch wahrscheinlich auf Nebenwege gegangen, als sie
noch Monatsdienste in einem Bureau lelstete, was er von nun ab trotz
seines kleinen Verdienstes verbot. Auch in den nachsten zwei Wochen
blieb er stark erregt und stritt anhaltend mit seiner Frau sich herum, dann
beruhigte er sich rasch, arbeitete wieder, und die hauslichen Diskussionen
horten damit auf. Aber eine rechte Einsicht hat er auch nachtraglich
nicht gewonnen. Dabei ist er psychisch in der Folgezeit andauernd ganz
natlirlich geblieben. *
Also ©in UeberwertigkeitswahnprozeB, der nicht viel iiber
14 Tag© anhielt.
DaB im iibrigen auch die chronisch verlaufenden Fall© ein©
begrenzte Dauer haben konnen und nicht unbedingt der Unheilbar-
keit verfalien sind, sofern es nur gelingt, die der Chronizitat zu-
grunde liegende hartnackige Affektbetonung durch geeignete
psychische MaBnahmen, insbesondere durch wirksame Gegen-
vorstellungen abzuschwachen, hat schon Wernicke ausdriicklich
hervorgehoben und damit einen wichtigen prognostischen Hinweis
gegeben. der in ganz gleicher Weise fiir afle psychogenen Wahn-
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Buchanzeige.
141
bildungen gilt: bei der Verlaufsvoraussage stets auch den EinfluB
psychisch wirksamer auBerer Faktoren mit in Anschlag zu bringen.
Aus all dem Angeffihrten laBt sich ersehen, daB es trotz aller
charakteristischen Eigenheiten, welche sich an diesen Ueberwertig-
keitswahnprozessen auffinden lassen, doch Schwierigkeiten macht,
das ganze Krankheitsbild so eindeutig zu kennzeichnen, wie es
Wernicke bei seiner Darstellung der zirkumskripten Autopsychose
aus fiberwertiger Idee getan hat. Das von ihm entworfene Bild
in alien Einzelheiten aufrechtzuerhalten, dfirfte daher im Hinblick
auf die hier angedeutete ungewohnliche Mannigfaltigkeit der mog-
lichen Erscheinungsformen bedenklich sein. Die psychisch be-
dingten, durch psychclcgische Mechanismen entwickelten psychoti-
schen Prozesse sind eben in alien ihren Wesensziigen viel starker
variationsfahig und durch auBere Einfliisse modifikationsfahig, als
es nun einmal die echten Psychosen sind. Das entbindet freilich
die klinische Forschung nicht von der Verpflichtung, auch diese
Krankheitsbilder moglichst scharf in ihrer Eigenart herauszuheben
und von andersartigen zu trennen. DaB bei einem solchen Versuch
dann psychologische Moment© in einer Weise in den Vordergrund
gestellt werden, die weit fiber das bei klinischer Darstellung typi-
scher Psychosen fibliche MaB hinausgeht, liegt nun nicht sowohl
in einer besonderen psychologisierenden Neigung des Bearbeiters
als in der Natur dieser Storungen begrfindet.
Buchanzeige.
Ludwig Frank, Affektslorungen. Siudien iiber Hire Aetiologie und Therapie.
Berlin 1913, Julius Springer.
Die Behandlung des reichen Materials verdient eine eingehendere
Wiirdigung schon wegen der Grfindlichkeit, mit der die einzelnen Falle
einer Analyse unterzogen werden. Die Methodik, die F. anwendet, ist der
Psychoanalyse Freuds verwandt, allerdings gereinigt von Auswiiehsen
dieses Autors. linmerhin ist auch Verf. nicht frei von der Tendenz, alle
Krankheitssymptome einseitig durch das Symptom der Verdrangung zu
erkl&ren. Er nennt seine Methode die ,,Psychokatharsis“. Er bezeichnet
sie als eine objektive; eine Amfassung, die man nicht teilen kann, da auch
seine Methodik von der Tendenz zu Deutungen und willkurlichen Er-
g&nzungen nicht frei ist. Er hebt selbst ganz richtig hervor, dafl die Methodik
Freuds in gleichem Mafie unter der Komplexwirkung des Arztes wie unter
der des Patienten steht, und daB haufig die erstere iiberwiegen diirite-
Diese P'ehlerquelle ist auch bei seiner Methodik nicht gering zu bewerten.
Die psvchologischen Begriffe, deren sich F. bedient, sind nicht immer
scharf, prazise, im wesentlichen benutzt er den Freudschen Verdiangungs-
und Konversionsbegriff. Als Zuriickstauung bezeichnet F. im Gegensatz
zur Verdrangung das Zuriickhalten, das Nicht-bewuBt-werden-lassen
eines Affektes, wahrend es sich bei der Verdrangung urn einen schon bewuftt
gewordenen Affekt handeln solle.
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142
Buchanzeige.
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Die Methodik ist im wesentlichen eine oberflachliche Hypnose; die
Patienten bleiben im bewufiten Zustande, sie konnen selbst in jedem Augen-
blick den Schlafzustand unterbrechen. Das Material fafit F. als Psycho-
neurosen zusammen. Er rechnet dazu die Neurasthenic, die Angstneurosen,
die sexuellen Anomalien. Je naeh dem Inhalt des krankhaften Prozesses
spricht er von Wut-, Eifersuchts-, Aergerneurosen. Ob mit einer solchen
Nomenklatur die Erkennung des Wesentlichen der krankhaften Prozesse
gefordert wird, bleibe dahingestellt. In vielen der angefiihrten Falle wird
man zweifeln, ob wirklich die vom Verf. angenommene letzte Ursache fur
den KrankheitsprozeB maBgebend ist. So schildert er einen Fall von
,,Fremdgefuhl“, bei dem er den Zustand auf eine im Alter von 3 V 2 Jahren
wegen Prolapsus ani vorgenommene Untersuchung in Chloroformnarkose
zuruckfiihrt. Wir haben Zweifel, ob es sich nicht um einen Depressions-
zustand gehandelt hat, und ob nicht die oben bezeichnete Ursache vom
Verf. hineingedeutet wurde. Die Umgrenzung des Neurastheniebegriffes
erscheint uns nicht scharf genug, vor allem glauben wir, dafi die Abgrenzung
von den Depressionszustanden nicht immer ausreichend geschieht.
In der Auffassung vieler Krankheitsbilder, so z. B. der traumatischen
Neurosen, stimmt Ref. mit dem Verf. grofitenteils iiberein, vor alien Dingen
auch darin, da(3 fur die Ausbildung der Neurosen sehr haufig der Anspruch
auf Entschadigung von Bedeutung ist.
Eine besondere Besprechung verdient noch das „psychoneurotische
Stottern“. Der vom Verf. angefuhrte Fall wirkt nicht uberzeugend fur
seine Behauptung, daB das Stottern zuweilen als Angstneurose aufzufassen
ist. Im iibrigen scheint ja auch eine wesentliche Besserung in dem frag-
lichen Fall nicht eingetreten zu sein.
In seinem SchluQwort spricht Verf. die V 7 ermutung aus, daB Falle
von Chorea minor, das Asthma nervosum, das manisch-depressive Irre-
sein auf Storungen in der unterbewuBten affektiven Tatigkeit beiuhen
konnten; eine Auffassung, die in mannigfacher Beziehung bedenklich zu
sein scheint. Was Verf., der sich mit seltener Hingabe in die Psyche der
Psychoneurotiker vertieft hat, liber die Erforschung und die Behandlung
der von ihm geschilderten krankhaften Zustande sagt, ist als durchaus
berechtigt anzuerkennen. Es erscheint auch uns bedauerlich, dafi die
Psychoneurosen haufig noch die Dorcane der Neurologen sind, die, wie
der Verf. sagt, , ; mit der Psychologic in der Regel auf noch gespannterem
FuBe stehen als die meisten Psychiater.“ Kutzinski.
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Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen.
Von
A. PICK
in Prag.
Schon bei der Ausgestaltung der ersten Ansatze der Apraxie-
lehre lag es nahe, von diesem Zweige der Aphasieforschung noch
mehr als von dieser Aufklarung psychopathischer Erscheinungen
zu erwarten. NaturgemaB war es insbesondere die von mir zuerst
naher studierte, von Liepmann sogenannte ideatorische Apraxie,
die unmittelbar Ankniipfung nicht bloB versprach, sondern alsbald
auch darbot.
Unter den alsbald zur Darstellung gebrachten Erscheinungen
war es eine eigentiimliche ,,Hemmung“, die verstandlicherweise
besonderes Interesse erregen muBte und trotz mehrfacher Versuche
auch jetzt als nicht geklart bezeichnet werden muB.
In meinen ,,Studien zur motorischen Apraxie ' 4 habe ich unter
Heranziehung vereinzelter analoger schon sonst beschriebener
Beobachtungen iiber eine Erscheinung im Rahmen anderer jetzt
als ideatorisch-apraktisch zu bezeichnender berichtet, die darin
bestand, ,,daB in einem gewissen Stadium motorisch-apraktischer
Tatigkeit plotzlich ein Stillstand eintritt, der anscheinend erst durch
von auBen auf den Kranken einwirkende Moment© unterbrochen
wird“. So blieb z. B. ein zum Trinken aus einem auf dem Tische
stehenden Topfe gebrachter Kranker durch lange Zeit, mit dem Ge-
sichte in den Topf versenkt, in dieser Position, wahrend welcher er
auch photographiert wurde. Gerade dieser Standard-Fall nun,
der die Erscheinung postepileptisch zur Beobachtung brachte,
legte schon damals den Gedanken nahe, daB Storungen des Be-
wuBtseins, ganz allgemein gesprochen, bei der Entstehung der
besprochenen Erscheinung mit im Spiele sein mochten; es lag auch
der SchluB nahe, daB man ahnliche Erscheinungen auch in anders
bedingten psychopathischen, durch Anomalien des BewuBtseins
charakterisierten Zustanden erwarten konnte.
Das mochte ich nun durch die nachstehende Mitteilung be-
statigen, vor allem aber einen Beitrag zur Aufklarung der Er-
x ) In seiner Darstellung der Apraxie im Handbuch von Lewandowsky
(I, S. 1038) bezeichnet, wie ich jetzt nachtraglich sehe, Heilbroivner meine
diesbeziigliche Mitteilung als Bestfttigung friiher von ihm gemachter Mit-
teilungen. Falls dies richtig ist, dann sind diese letzteren auch Liepmann
entgangen, in dessen an meine Arbeit anschlieBenden Diskussion Heil-
bronners Beobachtungen ebenfalls keine Erwahnung finden.
Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologie. Bd. XXXVII. Heft 3. 10
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144 Pick, Zur Erklarung gewisper Hemmungserscheinungen.
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scheinung liefern, die, wie erwahnt, bisher noch nicht zu wiinschens-
werter Sicherheit gediehen ist.
Bei einem in den 40er Jahren stehenden Schuster, der schon immer
etwas leicht erregbar gewesen, hatte sich aus AnlaB der Mobilisierung ein
schwerer Angstzustand entwickelt, in dera er sich die Adern an der linken
Hand durchschnitt. In der Klinik ist er zuerst sehr angstlich, spater tritt
die Angst zuriick, und es bleibt eine auch vom Kranken ofters ausgesprochene,
durch Greifen an den Kopf illustrierte Ratlosigkeit. W&hrend dieser erfolgt
das nachstehend teilweise mitgeteilte Examen:
22. VHI. (Wie geht es ?) Gut (mit leiser Stinune).
(Kennen Sie mich?) Ja.
(Wer bin ich ?) Ich habe Sie schon einroal gesehen.
(Wir haben uns doch schon ofters gesehen!) Ja, das ist wahr. Alles
habe ich gesehen, ich weiB nicht, was mit mir vorgeht (greift sich dabei,
wie auch sonst gelegentlich mit entsprechender Mimik an den Kopf).
(Wer sind Sie ?) K.
(Wie alt ?) 35.
(Was sind Sie ?) Blickt ratios im Zimmer herum, dabei halt er die
Arme langere Zeit in fast gestreckter Haltung vor sich gesenkt und etwas
nach der rechten Seite hin.
(Sind Sie Schneider?) Ich bin Schuster.
(Wo wohnen Sie?) Jetzt bin ich da.
(Was ist das hier ?) Blickt den Assistenten wie fragend, dabei Idchelnd
an. Es wird mit dem Finger nach der hinter ihm an der Wand befindlichen
13hr gewiesen und gefragt, was das ist; er greift nach dem hinweisenden
Finger und sagt: Das ist ein Finger. Erst nach mehrmaligem wort lichen
Stimulieren versteht er und sagt: Das ist eine Uhr.
Aufgefordert, die Zeit abzulesen, tut er dies richtig, beschreibt ganz
genau die Sbellung der Zeiger. Es wird ihm ein Schliissel gezeigt: er benennt
ihn richtig, lacht dabei. Dann steht er auf, blickt auf demTisch umher,
lftutet mit der ihm in die Augen fallenden Glocke, sagt dann kindlich lachend:
Das lautet.
(2 Zweihellerstiicke): laBt er zun&chst aus der Hand auf den Tisch
fallen. Gefragt, was das sei, schaut er sie genau an und sagt: Da steht ein
Zweier, dann: Das ist ein Zweihellerstiick. Andere Geldsorten erkennt er,
schaut aber immer langere Zeit darauf.
(Was ist 1 Krone wert ?) Denkt lange nach, wiederholt immer: Krone,
Krone.
(Ist sie 100 h wert ?) — — — —
(Was habe ich Sie gefragt ?) Ob 1 K 100 h wert ist.
(Wissen Sie es nicht ?) — —-
(Pfeife) -4-.
(Was macht man damit ?) Rauchen.
Nach einer hervorgeholten Zigarette greift er rasch, ziindet sie korrekt
an. (Nach Ausweis spaterer AeuBerungen raucht er nur Zigaretten.)
(Ring) +.
(Leuchter) +.
(Kerze) +. Ziindet die Kerze sofort an, dann fiihrt er, in der
Hand das brennende Ziindholzchen, den ausgestreckten Arm horizontal
im Bogen weit nach auBen und wieder zuriick, legt dann das fast herunter-
gebrannte Holzchen in die Schale.
(Soli die Kerze ausloschen!) Statt dessen dreht er den Leuchter be-
st&ndig in der Hand herum.
Aufgsfordert, eine zweite gereichte Kerze anzuziinden, tut er es korrekt.
Als die Kerze zufallig aus dem Leuchter faJlt, hebfc er sie schnell zugreifend
geschickt auf, gibfc eie in den Leuchter. Aufgefordert, die andere auf dem
Tische stehende auszuloschen, nimmt er sie und macht wie zuvor eine halb-
kreisformige, langsame, horizontale Bewegung und behalt dann die Kerze
langere Zeit hindurch in der entsprechenden EndsteJlung. Als man vor ihn
hintritt, nahert er die Kerze langsam zu sich, nimmt sie in die andere Hand
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Pick, Zur Erklarung gowisser Herarmmgserscheinungen. 145
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und Mit sic wieder langere Zeit weit zur Seit© von sich. Streckt dann den
rechten Arm, der nicbts halt, auch weit horizontal aus und halt ihn so.
Macht mit diesem dann rythmische, langsame Auf- und Abbewcgungen
und stellt dann langsam die Kerze, die er in der Hand halt, auf den Tisch;
den anderen Arm dreht er noch weiter nach hinten und l&ttt ihn dann iiber
die Stuhllehne herabhangen. Der Aufforderung, auszuloschen, kommt er
nicht nach, fragt: Warum soli ich sie ausloschen ? Auf Anruf mit seinem
Namen erwidert er stereotyp: Ich bin der K. Dann sfceht er plotzlich auf,
nimmt eine hochfahrende, energische Pose ein, wirft sich in die Brust und
bleibt so stehen.
Es wird ihm der Leuchter mit der zweiten brennenden Kerze in die
andere Hand gegeben; zunachst halt er langere Zeit beide Kerzen in den
horizontal seitlich ausgestreckten Handen, dreht dann, zunachst auf einem
Fleck bleibend, die beiden Arme nach rechts. Dann setzt er sich in Be-
wegung und geht, beide Kerzen in den Handen vor sich ausgestreckt haltend,
unter leicht drehenden Bewegungen bis zu dem oberhalb des Wapchtisohes
befestigten Spiegel und schaut sich dort einige Zeit ein. Dann, das Wasch-
becken erblickend, setzt er sofort beide Kerzen nieder und beginnt sich ganz
korrekt Zu waschen, nachdem er vorher sich dazu auszuziehen begonnen,
lafit sich auch im Abtrocknen durch nichts storen. Nachdem er fertig ist,
zieht er den Mantel an, nimmt dann wieder die Kerzen auf und tragt sie
wie zuvor zum Tisch, wo er sie hinsetzt. Als die eine ausgeloscht wird,
ziindet er sie wieder an der anderen an, lacht, blickt den Assistenten (der
dariiber lacht) an und lacht herzlich.
Es wird ihm eine Pfeife gereicht; er nimmt sie, betrachtet zunachst
das Bild daran, offnet sie, die gefiillt ist, und versucht sie zunachst an der
brennenden Kerze anzuziindeu; da das nicht gleich gelingt, nimmt er die
Ziindholzelschachtel und ziindet an. Sitzt dann da und pafft vor sich hin.
Auf Aufforderung, die Kerze auszuloschen, tut er es jetzt.
Es wird ihm die Pfeife weggenommen: er will sie haben, versucht, ihr
mit dem Munde nachzukommen und sucht sie mit Gewalt zu bekommen;
macht dabei Rauchbewegungen mit dem Munde in der Luft. Als er die
Pfeife nicht bekommen kann, ziindet er lachend eine Kerze nach der anderen
an; schlagt sich dann den Takt auf den Tisch und spielt dabei mit der halb-
offenen Ziindholzschachtel.
Am folgenden Tage ist die hier besonders hervorgehobene Erscheinung
nur noch in Haltungsanomalien der Arme erkennbar.
Der eben gegebenen Beschreibung aus dem Zeitpunkte, in
dem die zu besprechende Erscheinung zur Beobachtung kam, ist
die Anmerkung nachzuschicken, dab sofort, noch wahrend der
Beobachtung des gehemmten Verhaltens des Kranken die Aehn-
lichkeit desselben mit dem zuvor erwahnten Falle auffiel; wenn
dies vielleicht in der Beschreibung nicht so deutlich hervortritt,
so liegt dies an der fehlenden Unterstziitzung durch den optischen
Eindruck, der begreiflicherweise aus auBeren Griinden nicht fest-
gehalten warden konnte und spater nicht mehr zu erreichen war.
Vielleicht tritt auch das Eigentiimliche in dem reaktiven Verhalten
des Kranken gewissenObjekten gegeniiber in dervon einem Assisten¬
ten wahrend der Beobachtung abgefaBten Beschreibung nicht so
deutlich hervor, weil natiirlich die Fiille der Erscheinungen es nicht
gestattete, die Details derselben zu erfassen und sofort auch noch
schriftlich zu fixieren. Es war aufler der ,,Hemmung“ namentlich
das Impulsive, Abrupte, Plotzliche in den Handlungen, was ofters
auffiel, und daB gerade das letztere etwas Besonderes war, wurde
dadurch nahegelegt, daB der Kranke auch in den folgenden Tagen
noch vereinzelt die gleiche Erscheinung zeigte, z. B. plotzlich auf
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146 Pick, Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen.
den in sein Gesichtsfeld gekommenen Gegenstand formlich losfuhr
und damit entsprechend hantierte, wahrend allerdings die Hem¬
mungserscheinungen nicht mehr deutlich hervortraten. Immerhin
wird auch der Leser der Beschreibung die Erscheinungen ent-
nehmen, die bei dem Kranken auf dem Boden eines, allgemein
gesprochen, getriibten BewuBtseinszustandes nebeneinander nach-
weisbar waren.
Es ist schwer, von der Natur des Gesamtzustandes des Kranken
irgendwie prazise Rechenschaft zu geben; er wird symptomato-
logisch verst&ndlich, wenn ich die eingangs gegebene Beschreibung
dahin erganze, daB sich allmahlich die Aengstlichkeit ganz verlor
und der Kranke etwa 1 Monat seit der mitgeteilten Beobachtung
ein lappisch albernes, von haufigem Lachen begleitetes Benehmen
bei guter Orientierung und Auffassung zeigte und spater vollstandig
genas.
Sehen wir von den ideatorisch-apraktischen Erscheinungen
ab, so sind es zunachst die der Hemmung, welche unser Interesse
erregen und dann wetter mitten hinein zwischen die beiden eine
andere, der letzteren gegensatzliche, die ich nun zum Verstandnis
der ersteren verwerten mochte.
Man wird bei der Deutung der an unserem Kranken beob-
achteten Erscheinungen gewiB nicht vorsichtig genug sein konnen,
und dieser Vorbehalt mag fiir alles hier dazu Gesagte gelten; das
eine erscheint aber recht wahrscheiniich, daB namlich dem Kranken
gelaufige Handlungen in einer der Norm sichtlich widersprechenden
Weise durch den Anblick eines dazu geeigneten Objektes oft un-
mittelbar ausgelost werden. Man beachte das Anziinden der Kerzen,
das Waschen, das Sichansehen im Spiegel u. a. Es ist das sichtlich
eine hervorstechende Erscheinung, die es nahelegt, etwa in ihr als
einem dazu gegensatzlichen Zustande die Erklarung der ,,Hem¬
mung" zu suchen.
Es ist eine gewiB zuverlassige Methode wissenschaftlicher
Forschung, dort, wo eine Erscheinung mangels geniigender Hand-
haben nicht aus sich selbst heraus gedeutet werden kann, die Hilfs-
mittel dazu in der einer Erklarung vielleicht eher zuganglichen,
ihr gegensatzlichen Erscheinung zu suchen. Insofern unsere
Kenntnis von den psychischen Vorgangen im Kranken auf den
Darbietungen seiner Motilitat beruht, liegt es auch schon in dem
Gegensatze zwischen den der ,,Einfiihlung“ des Beobachters mehr
zuganglichen motorischen EntauBerungen desselben zu den
Hemmungserscheinungen, daB die letzteren unserem Verstandnis
viel schwerer zuganglich sind, wofiir die Geschichte der Katatonie
deutlich Zeugnis gibt.
Unser geordnetes Verhalten zur Umwelt hangt von einem
bestimmten Gleichgewicht zwischen Impulsen und Hemmungen
ab; es werden eberisowenig durch alleSinneseindriicke entsprechende
Handlungen ausgelost werden diirfen, wie andererseits nicht Hem¬
mungen die normalen, auch durch Sinneseindriicke ausgelosten
Reaktionen beeintrachtigen diirfen.
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Sehen wir nun bei unserem Kranken einen ungehemmten
Uebergang zu entsprechender Aktion bei ihm gewohnten Hand-
lungen einfach durch den Sinneseindruck ausgelost, so ist es viel-
leicht nicht zu weit hergeholt, anzunehmen, daB die ,,Hemmung“
nur eine scheinbare ist, die Grundlage derselben vielmehr das
Ausbleiben oder die Unwirksamkeit jener Anreize ist, die normaler-
weise zu einem geordneten Wechsel von Reaktionenfiihren, seider-
selbe durch Reize aus der Umwelt oder durch Denkvorgange be-
dingt.
Dieser hier ganz selbstandig aus den Erscheinungen des neuen
Falles entwickelte Gedankengang fallt nun mit erst nachtraglich
hervorgeholten Erwagungen zusammen, die ich ahnlichen ,,Hem-
mungserscheinungen“ in dem schon erwahnten Falle von Apraxie
gewidmet hatte. Schon damals (s. Studien S. 81) hatte ich die
Hemmung mit einem Fragezeichen versehen und aus gewissen Er¬
scheinungen den SchluB gezogen, daB wenigstens in diesem Falle
die Grundlage der motorischen Pause in dem Fehlen entsprechender
Assoziationen 1 ) zu sehen ware. Aehnlich wie dort, nur noch haufiger,
sehen wir hier, wie ein Sinneseindruck und die ihm entsprechende
sofortige Reaktion der Hemmung ein Ende machen, was den eben
gezogenen SchluB stiitzt, daB neben intrapsychischen Vorgangen
auch die zentripetalen dabei eine Rolle spielen. Gestiitzt wird
diese Deutung auch durch die zuvor erw&hnte Tatsache, daB das
impulsive Verhalten einzelnen Objekten gegeniiber die Erschei¬
nungen der Hemmung iiberdauerte.
Fast drei Wochen sp&ter, nachdem die vorstehenden Er¬
wagungen schon zu Papier gebracht waren, ergab sich *im Ver¬
halten des Kranken ein Moment, das eine entschiedene Bcstatigung
der hier versuchten Deutung erbringt. Bei Gelegenheit eines
Examens machte der Kranke verschiedene eigentiimliche Hand-
lungen. Er legte z. B. auf den neben seinem Sitz stehenden Tisch
beide Hande flach auf oder nahm den Tintenloscher und klopfte
wiederholt darauf. Befragt, was er da tue, sagte er: Das ist so eine
,,Herangezogenheit“ (dieses Wort ist die wortliche Uebersetzung
eines vom Kranken im Tschechischen gebrauchten Wortes, das An-
ziehungskraft bedeutet); der Kranke, dariiber befragt, erlautert
auch noch miindlich, daB es ihn zwinge, das oder jenes zu tun.
Diese ganz spontan erfolgte Erkl&rung des Kranken, eines
Schusters (!), die sichtlich mit AeuBerungen zusammenfallt, wie
wir sie namentlich in katatonen Zustanden 2 ) von den Kranken
x ) Wenn ich damals, noch ganz im Banne der Assoziationspsychologie
stehend, die in Betracht kommenden Vorgange ihr entsprechend klassi-
fizierte, so ware jetzt nach 10 Jahren eine entsprechende Korrektur anzu-
bringen; insofern jedoch hier keine Veranlassung gegeben ist, auf diese
psychologischen Fragen einzugehen, kann das unterbleiben.
2 ) Auch Heilbronner macht an der zuvor zitierten Stelle auf die Aehn-
lichkeit der Erscheinung mit katatonischen Bildern aufmerksam; doch ist
zu beacliten, dafi er bei dieser Parallelisierung die Hemmungsersche inungen,
das Fehlen der Initiative im Auge hat. DaB es hier die Hemmungslosigkeit
wiederist,die sich analog katatonen Erscheinungen darstellt, dient jedenfalls
zur Stiitze auch fiir die gleiche Deutung der gegensatzlichen Erscheinungen.
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148 Pick, Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen.
auBern horen, personifiziert sehr gut das, was wir als Deutung seines
friiheren Verhaltens angenommen und als Gegensatz zu den schein-
baren Hemmungen fur die Erklarung dieser letzteren verwertet
haben.
Auch spater machte der Kranke eine bestatigende AeuBerung
beziiglich des ,,Zwanges“, und kurz darauf erklarte er, das befehle
ihm der ,,Obere“, doch erfolge dieser ,,Befehl“ nicht etwa sprach-
lich, sondern das Gefiihl in der Hand sage ihm das.
Noch im Stadium voller Rekonvaleszenz wuBte sich der
Kranke an die Tatsache zu erinnern und gab als Ursache seines
Verhaltens eine ,,WiBbegierde“, ein ,,Hinziehen“ an.
In den zitierten ,,Studien“ (S. 26) erorterte ich auch die von
Wernicke fur das Verhalten solcher Kranken mit Hemmungs¬
erscheinungen herangezogene Deutung derselben als einer Willen-
losigkeit, die ich wohl (auch schonfriiher) als allgemein gxiltig nicht
anerkennen konnte, aber doch als gelegentliche Ursache fiir das
zeitweise Sistieren der spontanen Bewegungen zulieB. Das scheint
mir in einer der Einsichten in die Willenshandlung entsprechend
modifizierten Fassung auch jetzt noch angangig und fiir unseren
Fall giiltig; manwird sagen diirfen, daB, entsprechend dem zuvor
von der Reaktion auf intrapsychische und zentripetale Reize Ge-
sagten, diese Reaktion eben ausbleibt und dadurch das Haften an
der zuletzt erfolgten entsteht.
An der zitierten Stelle hatte ich betont und halte auch heute
daran fest, daB bei Erklarung der Efrscheinungen solcher Falle
mit der iiblichen ,,BewuBtseinstriibung“ und Aehnlichem nichts
zu wollen ist und wies dabei darauf hin, daB die Erscheinungen
erst im Stadium des Nachlasses der (postepileptischen) BewuBt-
seinsstorung zur Beobachtung kamen, der damalige Kranke auch
eine solche im gewohnlichen Sinne des Wortes nicht auf wies.
Beides trifft nun auch im vorliegenden Falle zu; auch hier
sehen wir, daB die Erscheinung patent wird, nachdem die schwere
Agitation des Angstzustandes nachgelassen. Wenn ich aber die
BewuBtseinstriibung in dem gewohnlichen Sinne ablehne, so kann es
andererseits doch keinem Zweifel unterliegen, die eigenen AeuBe-
rungen des Kranken sprechen schon dafiir, daB sein Denken gewiB
nicht normal war und daB darin die Grundlage fiir die eigentiim-
liche hier besprochene Erscheinung zu suchen ist.
Gegen die von mir seinerzeit gegebene Deutung der Er¬
scheinung hat Liepmann (Ueber Storungen des Handelns usw.
1905, S. 117) im Rahmen einer breiteren Darstellung der Perse¬
veration eine Einwendung erhoben, auf die ich nicht so ausfiihrlich
eingehen kann, wie sie es notig machen wiirde. Der Hauptgrund
liegt darin, daB ich Liepmanns Versuch, die Erscheinung aus sich
selbst heraus an der Hand einer anatomisch-physiologisch orien-
tierten Theorie der Willkiirbewegungen zu deuten, einfach nicht
mitmachen kann; einerseits weil ich die Theorie selbst nicht fiir
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Pick, Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen. 149
geniigend 1 ) und auch die pathologischen Erscheinungen fiir zu
vielseitig deutbar halte. Deshalb erscheint mir der Weg, die Er-
scheinung aus den Begleitumstanden, unter denen sie auftritt oder
verschwindet, aus gegensatzlichen ihr zwischendurch folgenden
Erscheinungen oder sonst ahnlich zu erklaren, mindestens ebenso
aussichtsreich als der zunachst exakter erscheinende; bei naherem
Zusehen diirfte man zu der Ueberzeugung kommen, daB die von
mir bevorzugte Methode nicht minder den Anspriichen einer
exakten Methodenlehre entspricht.
GewiB ist es richtig und trifft auch fiir den vorliegenden Fall
zu, daB die Stillstande, die Hemmungen, nicht allein aus dem Weg-
fall anschlieBender Bewegungen erklart werden konnen; aber es
ist doch wahrscheinlicher, daB dieser Wegfall bzw. der Wegfall der
normalerweise die anschlieBendenWillkiirbewegungen einleitenden
psychischen Vorgange die Dauererscheinung mit bedingt als das
Umgekehrte; das Auftreten von gelaufigen Handlungen beim
ErbUcken entsprechender Objekte spricht doch sehr fiir diese Er¬
klarung.
Ihr gegeniiber erhebt Liepmann die Frage, ob ein volliges
Sistieren der Spontaneitat sich nicht eher in dem Unterbleiben der
Einleitung zu einer Handlung zeigen miiBte, als in dem Verharren
in ganz abnormen Stellungen, welches doch eine Fortdauer der
Innervation voraussetzt. Dieser Einwand wird durch die Annahme
entkraftet, daB die Spontaneitat erst sistiert, nachdem die fort-
dauernde Bewegungsinnervation schon eingesetzt; wir sagten ja
eben, daB die sonst anschlie/3enden Bewegungen nicht eintreten.
Den zweiten Einwand formuliert Liepmann dahin, daB bei
Ausbleiben der Impulse zum Motorium, der subkortikale Apparat
eine mehr ,,natiirliche“ passive Haltung veranlassen diirfte. Ich
kann diesen Einwand nicht gelten lassen angesichts unserer vollen
Unkenntnis davon, wie in diesem Falle Cortex und subkortikale
Apparate zusammenarbeiten.
Was endlich den Hinweis Liepmanns auf das krampfhafte
Festhalten eines einmal ergriffenen Gegenstandes betrifft, eine
Erscheinung, die ja auch in der Paralyse zur Beobachtung kommt,
so ist das in der Tat ein ganz anderer Fall, bei dem natiirlich ein
Ausbleiben von Impulsen fiir niemanden in Frage kommt.
Im iibrigen habe ich selbst (1. c. S. 36) angenommen, daB ver-
schiedene Momente der besprochenen Erscheinung zugrunde
liegen diirften; die vorliegende Beobachtung scheint mir eine ge-
*) Es ist hier nicht der Ort, das naher auszufiihren; nur zwei Punkte
mochte ich anfiihren, die mich ganz besonders zu dieser Kritik fiihren; es
sind einerseits die Lehren, die von Sherrington ihren Ausgang genommen.
und andererseits die ge&nderte Stellung, die man jetzt gegeniiber den Be-
wegungsvorstellungen einnimmt. Noch weiter als Liepmann geht Kleist
(Ztschr. f. Psychol, u. Neur. Bd. X. 1908. S. 118 f.) in der anatomischen
Pimdierung der in Rede stehenden Erscheinung. Ich halte diese natiirlich
erst recht fiir ungeniigend begriindet.
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150 Mingazzini, Ueber den gegenw&rtigen Stand
wisse Bestatigung fur das eine von mir angenommene zu erbringen
geeignet 1 ).
Die hier beschriebene Erscheinung von durch den Sinnesein-
druck sofort ausgelosten entsprechenden Handlungen ist auch an
sich interessant, weil ihr Mechanismus gerade durch den Gegensatz
zu den neben ihr einhergehenden Hemmungserscheinungen be-
sonders deutlich hervortritt. Wo dieser als Vergleich dienliche
Gegensatz fehlt, kann der jener Erscheinung zugrunde liegende
Mechanismus leicht miBdeutet werden; daB es sich nicht um irgend-
wie bedingten Tatigkeitsdrang handelt, ist schon durch das Stuck-
weise der Erscheinung wie aus dem Tempo des ganzen Verhaltens
des Kranken ersichtlich; am ehesten erinnert es an Handlungen bei
Katatonen, die von diesen als unwiderstehlich, als gezwungen ge-
deutet werden. Die nachtraglichen AeuBerungen des Kranken
boten einen Beweis fiir die Richtigkeit der hier gleich anfangs ins
Auge gefaBten Deutung. Damit fallt aber wieder Licht auf die
Hemmungserscheinungen, die ja der Katatonie gerade den Namen
verliehen haben.
Ueber den gegenwartigen Stand unserer Kenntnis
der Aphasielehre.
Von
Dr. G. MINGAZZINI,
ordentl. Professor der Neuropathologie an der Kgl. University t Rom.
(Hierzu 26 Abbildungen im Text.)
Eine kurze und so viel als moglich klare Zusammenfassung des
gegenwartigen Zustandes, des sich auf die Lehre fiber die Aphasien
beziehenden Patrimoniums, und eine deutliche, moglichst kurze
Darlegung der auf diesem verwickelten Gebiete der Neuropathologie
noch zu losenden Fragen, dies ist die Aufgabe, die — ich hoffe nicht
ohne Vorteil fur den Leser — zu iibernehmen ich mir erlaubt habe.
Vor allem ist es angebracht, uns zu vergegenw r artigen, wie bis
vor wenigen Jahren unbestritten angenommen wurde, daB der
Sitz der motorischen Aphasie mit jenem der verbo-motorischen
Bilder identisch und ausschlieBlich auf die Pars opercularis des
dritten G. frontalis links beschrankt sei. Einem solchen Schematis-
x ) Ich mocht© nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daB spater Hart¬
mann in umfassender Weis© Erscheinungen von Hemmung neben solchen
von Apraxie als Ausbleiben der Reaktion aof die entsprechendo Sinnesein-
driicke gedeutet hat (Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 21. Bd. 1907.) Doch
bedurfte es einer breiten, iiber den Rahmen dieser Mitteilung hinausgehenden
Erorterung, um die hier gegebene Deutung mit seinen Aufstellungen in Be-
ziehung zu setzen.
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unserer Kenntnis der Aphasielehre.
151
mus haben jedoch die Befunde nicht entsprochen; die Vermehrung
der Beobachtungen, und vor allem die Einfiihrung des Studiums
der Serienschnitte der Himhemispharen, haben daranf hingewiesen,
daB die Brocasche Zone links ausgedehnter ist als man zuvor an-
nahm, denn nicht nur die Verletzungen der Pars opercularis,
sondern auch der Pars triangularis der F s , des vorderen Teiles der
Insula und vielleicht der Operculum Rolandi, auf der linken Seite,
konnen die motorische Aphasie verursachen. Unter den soeben.
erwahnten Zonen ist es die Pars opercularis der linken dritten
Frontalwindung, welche mehr als jede andere in Beziehung mit der
verbo-motorischen Aphasie steht; was dadurch bewiesen wird,
dafi eine solche Stor ung langer anhalt, wenn dieses Lappchen verletzt
ist, als wenn die andern eben erwahnten Windungen verletzt sind.
Einige Forscher [wie Nie/3l v. Mayendorf (50)] haben be-
hauptet, daB das bloBe Operculum Rolandi (oder besser gesagt, der
untere Teil des linken G. praecentralis) ausschlieBlich eine be-
standige motorische Aphasie hervorrufen miisse; jedcch hat die
Kritik der anatomischen Falle, auf welche sich diese Lehre stiitzt,
deutlich dargetan, daB andere Gebilde, besonders der Nucleus
lenticularis, gleichzeitig beteiligt waren. Aber die ,,erweiterte“
Brocasehe Zone (wie Monakow sie zu nennen pflegt) funktioniert
nicht bloB links; in der Tat hat bisweilen bei den Rechtshandern
eine Zerstorung dieser Zone auch rechts zur motorischen Aphasie
AnlaB gegeben, umgekehrt manchmal bei den Iinksh&ndem
[J5 l. Mendel (46), ich (34)]. Bei den Rechtshandern hingegen, be¬
sonders wenn es sich um Geschwiilste handelt, die sich langsam
in der link en Brocoschen Zone bis zur Zerstorung derselben ent-
wickeln, fehlte zuweilen jede Sprachstorung; wie auch bei den
Linkshandern Verletzungen der rechten Brocaschen Zone nicht
immer motorische Aphasie hervorgerufen haben. In anderen
Worten, nicht immer wird ein Rechtshander aphasisch durch Ver-
letzung der linken F s und umgekehrt, ein Linkshander wird nicht
immer aphasisch, infolge von Verletzung der rechten F*. Zu diesem
fiige man noch hinzu, daB gewohnlich bei den Kindern die Zer¬
storung selbst der linken Brocoechen Zcne fast nie eine motorische
Aphasie oder hochstens nur in fliichtiger Weise verursacht. Diese
Tatsache erlangt eine auBerst groBe Bedeutung, wenn man sich der
Versuche Kalischers erinnert, der unter Entfernung des Striatum
bei Papageien (gleichgiiltig ob rechts oder links) einen bald
von vollstandiger Riickkehr der Sprache gefolgten voriibergehenden
Mutismus erzielte; dieser aber verschwand von neuem endgiiltig,
falls in einer zweiten Operation auch das Corpus striatum der ent-
gegengesetzten Seite entfemt wurde [Kalischer (27)]. Hieraus
konnen wir schlieBen, daB die, die motorischen Sprachbahnen
des Papageies bildenden anatomischen und physiologischen Mecha-
nismen in beiden GroBhimhemispharen im gleichen Grade
funktionieren. Eine solche Gleichwertigkeit muB wahrscheinlich
das Him des Homo primigenius besessen haben; und dies erklart,
warum kraft des biologischen Gesetzes, nach welchem die Onto-
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152
Mingazzini, Ueber den gegenw&rtigen Stand
genese kurz die Phylogenese rekapituliert, sich ebenso wahrend
der Entwicklung der kindlichen Sprache wiederholt. Und es ist
wahrscheinlich anzunehmen, in Uebereinstimmung mit Wernicke,
daB dieSprachfunktion, infolge desOekonomiegesetzes, die Neigung
auf weist, sich nur von einerSeite(der linken) zu verschieben, wahrend
jedoch die anatomischen und physiologischen Mechanismen, auch
auf der weniger geiibten Seite, unversehrt bleiben; so daB bisweilen
.wahrend des ganzen Lebens, infolge der Anpassung, die Sprach-
funktion ohne irgend welche Anstrengung hingegen in der rechten
Hemisphare vorherrschen kann.
Hier halte ich es gerade fur angezeigt, eine Tatsache
hervorzuheben, welche die engen Beziehungen zwischen der linken
GroBhimhemisphare und anderen Funktionen, wie z. B. jenen der
Mimik, beweist. Bekanntlich verursachen die Herde, welche den
mittleren Teil des Corpus callosum befallen, links Dyspraxie;
dies erklart sich, indem man [mit Liepmann (31) u. A.] annimmt,
daB die dem Sensomotorium rechts entspringenden expressiven
Bilder ihre Richtung von den aus dem linken Sensomotorium
kommenden erhalten und deshalb den Balken durchziehen miissen.
Bei den Untersuchungen fiber die mimischen Storungen scheint
das Gegenteil einzutreten, denn wie aus den (leider zu wenig be-
kannten) vor mehreren Jahren von meinem Schuler Dr. Falatti (18)
ausgeffihrten Beobachtungen hervorgeht, werden bei den Links-
hemiplegikern (Verletzung der rechten Hemisphare) die mimischen
Bewegungen mit den rechten Gliedern besser ausgeffihrt, als
bei den Motoriech-Aphasischen (gleichzeitig Rechthemiplegikem)
mit den linken Gliedern (Verletzung der rechten Hirnhemisph&re).
In Wirklichkeit aber ist dies eine Bestatigung des Vorherrschens
der Bilder der Tatigkeit im linken Sensomotorium. In der
Tat konnen die Motorisch-Aphasiker beim Vollziehen der aus-
drucksvollen mimischen Bewegungen die entsprechenden Zentren
links, die daran gewohnt waren, mit den Bildem des verletzten
motorischen Sprachzentrums mitzuwirken, nicht mehr in Tatigkeit
bringen; sie sind aber gezwungen, die weniger geiibten linken in
Anspruch zu nehmen. Deshalb gelingen die mimischen Be¬
wegungen der linken Glieder weniger leicht.
Oben habe ich betont, daB die obwohl in einem verschiedenen
Grade auf beiden Seiten funktionierende Zone der motorischen
Aphasie nicht bloB die Oberflache der kurz vorher erwahnten
Windungen, sondem class sie sich auch auf die Tiefe, auf die Sub¬
cortex, bis zum vorderen Drittel des sogenannten Corpus striatum
oder, um mich genauer auszudrficken, bis zur proximalen Spitze
des Lenticularis, erstreckt. Ist die Projektion der Broca&chen
Zone in den Lenticularis (und in die innere Kapsel) gedrungen,
so verliert sie ihren phasisch-motorischen Charakter, um sich
mit verbo-artikulare Eigenschaften besitzenden Neuronen in
Verbindung zu setzen. In der Tat geht aus den Resultaten
der klinischen und pathologisch-anatomischen Befunde hervor,
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miHoror K/>.nr<fcfj(4 vier Aphaakkebm
t)ysarthiete?^ekt ; ^Vijart hrie venirsacfat. l : m diesen so itinfttrtttwieii
Ptmki zn beweMsen, babe ieh die vtoii verfieitiotfeuen Ilifetfessern
(sowie einige von mir) vfjtgmommmmy t'ntersut'bimgw yisamnwn-
gitstelit, satweit si« an vmt .nwti>fise})e.n Spraehstdr.mgcm: Wfaflene
PattenSeri, die bei der Scfction V©rfeifcu»igW» dek Lentienkrih
uiUer AuNwchluB bfer fttmdnda &afwie*en, bettvfjteii.
Diese Bonbaohtungea )mbo k-!i in vier S6i*ien eingeudlt. )>ie
yrhte Cituppe besteld iFig. 1) au* F&Hwi ton Jvradkejb bei dehen
huk." »it*hr Oder minder .grotto 'torn dor Irinteren z>vei Drittel
drai. Vieidei) de$ Unsenkernes Verletai ond die erweiteric-
Jiro6i0H^ iJnvs-rseHrt-cHier tafr* unverabhrt war.. Kiertsu.
g«hbwn-:; ; b«i ; yFa)l ; ' ; yifjfii' Bouq-im -.(1*3), noun von Mouitfr (49) umi
■femet y‘dri .Mifls-Bpiikr {48[
Schema 1. Keihe: Dysarthria plus mimwsve gtavia.
(Laesit) purl. post, n,
Digits
/ Go, gle
Original frci
M jf.n jj- a x z i ii i\ iteber deri gegei\vviirtigt>n Stand
£&?<$*? inning <i^‘ Hf*rch*v
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hi\tU Rfttui " j>
I insula., A M ef&dstriAnv; i * E > np, mi.. N.L iimlm* lentii'iiiarA
C l cap. SfttV, *Tfs~ thalamus, (' c Corpus ediloaura;. Pn putameu,
Nc uaclens c«ufetus — odex. aiit Pars anterior' j>' =-.. Pars
posterior, tn s= Pars media. Die Bez^ioimungen goben die iiidierten
Formationen .n>r .
Sc-herotU 2 . Jlfniip.. Apli. n»nt . jnoojnv -1 db^rtliria.
(Laosdo iiwompl, p, «nk u. fc’ntxc.}
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mehr pder weniget aiisgedohnt in tier himeren Halite pud bet
einigen in deh hinteren Mvei DrkteLo verleUt war - aniintdeiii 1stes
' ftpgebraefit. hervomtheben, tvie aueh -Selir oil die an&w Kftpsei
das (und manehina} dk loot ere Insel; d&ran beteiligt
woKl die psttiortieo ^iesten dentlkhe i\v*artk©©n'
(Ivingsaitxkeit, Zogerung. peinliefae Aiwprarhe uod Steckeii-
yjil^n^fcwiM ©inert wirkliclum Baji&rkrou* attf.,
Det zweiten Rerim' (l?rg- 2) gtdkkeo die Fall© vwyBatj^ten
an; Gaeh derek 'Idde tpaib 41* varderen y.wei Drill©! doaliniteii
Ijinsenkerns tuoltr Otter wet tig, abo? nteht yonst&i$ig; vartefzt
tend. Hier/.u gehortso/wet Fiiiie von' Mottlhr (! c..), 'Bitme Kranfeen
■ ■* r/Hc-
Hy^artbriei* Atiigetv)©-
aen, die fast an die
4 kaf 1 bfte kiieOen (8k-
ttelbst- teelktr-
ie ’iVorte schlecbt aut>,
otier ill© Worte war© a
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I ie b).: A niierfieuj Batten ’
alio rt*iduare %nvpr
tome vpk oiotoriseher
Aphaste aufgeftieson
(am epVaehen iijt ^fele-
gnvphenstil).
Hie dritte Reihe
(Fig. ,3) umfaBt Fiille
too Patiekteo, die von
H V'olktkotiiger unri dan- . *
ertuier root t n%'ker
Aphasia befallen tvaten
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ganze linke JJnsenkern
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gebbren ,3 Ffiik -foii
M&ritfer (f. a), [Om-
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4? ■ •!; f&W> VDfJg.. blfefrijfc 4 / ;~f-p — 4* ~
It* den Pallm* d$rJV\ S^tie war die kortikal* «?*d die Fisljkorti*
kale 6ege$*d 4er ;efw<dte'rt.<f-n i^o^ischen Zone imfe dn^r^etni;
nur das Linsenkems «od die attstoBctode
darub&rliegemle ^y^«^ti^hiitgegegeiid ,. die iolr deshalb regio*
supra- unrl • : praeleid-k?ularis geoaimt h&be. y?nxeu \ r olktiin»;lig
oder fast zemorF . Die. Horde jtehyneft die ganxe, wr -’dam Kopfe
des . liegende- .$»• imd erstreeken- sieli
mediafo&irfo- in.jdner Woi% daii ; *ie • Yollstandig die' %lbern r
stTalilungentFenrieu.. Bm die? on Pat Lenten exit *vi<;fcHU‘ ?o>h mm keine
fiysarT.hrfe, >voty aber eim? ' voiktandig<* mul dauernde moforise'he.
Apltasie, FaHe timer Art wmif n yon ■ Dejcrine (&m Mmilwr, \, r.
KFhi'TrnA. Aph. motofia : eornpl. A Ke'iiie
i ; LaeMO~regim*i>: piae-^jjjralen.tic.).
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8
-imsere? K*?<nntniK der Aphaaietehr**
B^mehmnig dm Herder im Schema
( 4 . lieihe) dar Fig, 4
Nfiitiori dar Antorni
1 <! Dkj&miti {tm* MouTi^r, i c„ pi 352 );— * - . • — • — • —
^ f-Liepmami Ouc'ii^^ ' • * - < •* * ■ - - r * •■.- .
'L^pitiAnri-:• (Kieri#c\bfcHf)' ; - .;. -F- 4*^44 4‘ 4F* .4- 4* F F"+ • -r
j i. ,. (Brink) ' 4 - — .F — ~r — F
pj§ - ■.-. . .. dCeramow&i). — — — — 4- -.f- •— -
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%■■?, M im£*tizkd (D*Ate^io) !• o o.o o t/ <> o 6 b F o n o o o xi o a *>• x*
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2 CorfOHi i^dnonrno . . ) f .—. ■ ■■■ . ■
1ft ;! ftaggi (CFijora)" •,* -r **4* 4r*4”*'*F'"F*F*F * F * ~F * t *■
8 3o2), Lujmutnn (22), Lxeqmin n v ~ Qu?nl cm Cortesi (12).
&d$gK Best# \i) und mir (33, 35) mitgeieUt.
Eiiiige dieser in Kkikt* veroffentli^Wtw. .F<e ( Coriesi, B&tta,
%in& Wtftig-. bekanni, ttnd : *Txfifeb . m ; -p0 -$frge-
hmuht, siF ntehi mt zu erwahnen, son-dcm
; ' ntmdiihren..
¥tiiiCarte*k Patient nut. vollHtmjdr^et V&ikh
bnd l»*?i di^r WiFiMvdurig fhni rmr< * migo SUben mitttin- bis- f&m
HterMypi&trhe. Worte au8Zu?<pr€(‘hon, £vmpiomeivkVm>p.Wx«'dfct bii* Sum Todr
b>ft beat tod. Kxitus.
Linfe Hemisphere p. Er\% ei c hung tier Si. ralilangfefi tier T * * (fid T \
J nedfwm -tfehtutl# am Xivoau xi^r Brora, Uuks.. Zm;?oruni* ;i«vr >r,hko.n i.lcaien
der F* umi -F 4 , big faei «ur
dt^r^ Balketi war an(3erdi*m xorn drx&fxvrlt’zL
Full Ifotfa. H WHFrd irrr I; R^gin >(ipmF>r»fi?J).Uofi
Fe»U :8*$ta. Pitimi XtJitxirr, §# Jubri' alt, Analphnhct Heit liUgvfaitr
•S' t vvb?a tfyiiejiX 'p^yclii^by, »iiirch FixriUus. t Ver -
i^fijttbarfeeit cht\ra)don4ic*rrt^ Bturimgi 1 !! ahF; Afifang^ vluJd
b^&nd ‘tijmi Patieut &ii t'W&fu Fcjiistftr yiud jur.upRt? gasfikuiiet^rid
DWtiaab, Goggle
h r >S M i n g » x •/ i u i den gegenvv&ctigeu Strtnd - 7 v^:v{^';
him Kinder; pidtzlieh bnrten die. VVbrte auf. wViKrend er fortfiibi*. inti dap
Haiixieu Zoiclien zu nmeheri. Von jfeoer Zeit -an gelatig <es ihm nieht mehr»
e-in Wort ujtid utiruhie vh**v
Xt&ph wenigen Tagen ufthxn man lmlt$ *>ine FCetrupare^e iv&hr, die sieli ztmi
Ted bc**erte, Am H. VICE 1.9.1.3 wurcte- Patient in die : irr&mminlt *$u.
P»4M^%t^nwme.tv *
Bwr ^oim% narh &m&tn f&ntvii£ indik Status
W^ider Tat^tieheu : Bm gprad# Zunge fet nfc&h
alien Bkhtimgen Min Ibewglicln dk* Xe&olabM^|ialte f&tft Jinks ieicht Imra.b;
dot'h vollsueht P&tkmfc mit. dgn Lippensikhtlidie B^e^yn^m; 'Pnrc^sf. *amt>
Hcher BevvegjxTJgea tier linken Glied^r 2 die; ujad V^flilern rfer
Pateliarreiiex smd gesteigefi ;' Bobinski iink&. Patient vfcrstfcht : shtntlioM-
Fragen, die an ihn geiielUei warden. hihgegtdvivenn; er bemuhi, zu mi-
won en cider die Worn* zu VNiederh*dm. dw ihm vorzekpi^ehtm \verd^TK
lingt ihxn dies iix keiner Wefet*- E? behifft iitfh’ h\i tie® ..Be'^gtiixgen• iwd der
^fVmlieh lebhftften MjmJk
. Pigv' 7 :. - ,
Fail IhfiJrt (-. avudrdiF Ki^g.5 u. 6.F
- s «‘ I i niti um Xi wan rjes: proximaien
* t Vi )&g d r vs Put^i n u?i 1 . H Herd mv
F Begk< Ku]w[eutieulk|#i
FtUt|-hV/?/<i; SrhdTt am XVs^aii des
Fajvut dm #nnd*du 3 V IF Herd in-
1. II? gu* supra-(true Exit i^ilum
In. tier Jrreuitnstah dan men dig eViVobilteii; ^Sioi^ngeu unverande^
fr<rt bis txvm Tode.
2. IX. lfH3 ExituS- - ' r ' •, v ,: '•: ~ , a
Sektiori : Bet den m i%la‘nJosen SerF>i^angelegt gn Seimir t en dor OroB-
hirnhpjnisy>haren iindet man liiiks am Nive«vh $P’p en *
Zone einen Substar^verlust , der den hbiieren vind v^rderen 'Fexl des jLinsen -
kerrie<* betTifft nnd da * \entmle Ernie der F5ftl ken&drahhmgen (Pig. ,f* 6, 7)
./et-st.ortov- Hoehlz ein jcuj ln/ischor lierd im Put amen «ltd in der Cap^ula
mterm «l -extt-rin*. .
_ Pall iiin\Wdfferttlidr.t); Clememina^ $1 . Jahre ait,
Anantnc^fl^ehe Angaben fehFm
Die fed d<^r objektiv^n .-^jfe'nr#^iibgij&■■
mit Konfirnfetnr bej Flnxi’m miy t-iioh* \ix>d Weittkrarnpt jEs gelTngt ihg
Go gle
u usurer titer Apha^hlfhrv*,
xvieht* vtmlef Rponian v not*}/ dwirek '\yi^l^r^oi4.mg, mxui -Stiha her vortubringeri;
bisweileji gtbi sie sirk dutch dttdge xdemf*ntar*?. *xutyi&fce BeWegimgeiv zu
v^fehen. Sit're^Bteht gana j^nim, Wf^ iiuia hir ^gt. Si* Weist w*der
Symptom* dar-WoHtH ubhetfc nodi dhr Agftosk stub f basea tmd SchmbsG
warden uicfet* nntersucht.): Patkc* ttt war tint Mug* nfehr w*iuig^ ttiundliab
b^fohiene urifznfiihrefi; ^i-^'j9«»f*>W<rbis*
.••■weilen dtiffch Narhahmung ausgefiUirt.» #hwmt wit setie xmlnhig;, transitive
Handbiifigeri . aji&arofuW^ti^ '.fetict-m'. mstdexi leiehter mis die iutransrtiv'cm
vbU^ge;s.
Ife-Jfoaiifce-; fda*' -goring* spo&tane mid horvargeruferu© Auf*
juerld?a?akeit. aaf t . wie auoh e$n& ietehiv AbU*rikbarkeii ; CTediithl-p.ts sohieckk
Tiiritzteturiiien, Ap&tie und leichie : Emotivitik • (Lack imd VVeiiikfttfljpf)*
JDer ^u&iaiid. vnit «$e-ts imv^mndert bis zurn Tud.
N&eb einem halbert J&hre Extras.
pbdnktlou. In don dfetn Caput colliculi mxidvibi ^hbpr^h^nden
■fkihniitm. fecmerfet *&a*t bates eiti*. Erweiejhtinin welch^ deit i?berea- Abifereu
•‘Winteei fjtef Pummeiis bef&Ufc X21 d&n d arch das -vOrd^fe XJzit&zT dm
IJmbiimi#btsfmdet^ioji (Fip* SJ &w Sub*
^tftruzve.rlxiKt., der sicii Jixkiery»rl% erstrwoki* oben siimljjrh* linfc.en Balkan-
strahiujjg^d bis fast zum'Diudaid* reivh e*id uhd ventrnhyaal*itie Capsula
das Clamlrurn u/id uuerut* ^rrftdreml.
Zur BeqtmmiiayjMi dm lasse-ich clio Falle mit der Zer-
8tdruxi£pr^k4tioi^t^l^ liiike^^ prSfontifcuiaxe.n Zone, ixifolgte
doren eine dauerndo .matomc&e (komplette) Aphasie herror-
gerufen worden isi t zusamto^
1. Liepmann und Qymtel: Volktit ndigd uud d&nerncie mp*Uxri«che
Aphasfo, linker Jja^enkem nnvw^ehrfu Der vo*d<hftf Tell <lm-
selben war wegsm z&hkekbfcr ErwekhuBgen vo0M4ti4i.g- Vo m
Balken au^gegdmkcd.
MonaUschrift I. PsycFtiatxie u N>ur«i!t»gie 04. XXXYU llefi 3. |1
160
Mingazzini, Ueber den gegenw&rtigen Stand
2. Liepmann (Fall Kienscherff): Vollst&ndige, dauemde motorische
Aphasie, N. lenticularis links unversehrt. Erweichungsherd
in der linken Insel, der viele Balk«nfasem zerstort und sowohl
die F* wie das Operculum Rolandi vollst&ndig vom 1. Lenti¬
cularis isoliert hatte.
3. Liepmann (Fall Brink): Vollst&ndige dauemde motorisch©
Aphasie. Linsenkem links unversehrt. Vollst&ndige Unter-
brechung des Balkens, infolge eines Substanzverlustes, der auf
diese Weise den 1. Lenticularis (vorderen Teil) vollstandig von
den verbo-motorischen Zonen ausgeschaltet hatte.
4. Liepmann (Fall Ceramowitz): Verletzung der linken Hemisph&r©
ahnlich der vorigen.
5. Liepmann (Frau P.): Vollstandige dauemde motorische
Aphasie. N. lenticularis links intakt. Unmittelbar vor dem-
selben gelegener Herd.
6. Mingazzini (Fall D’Alessio): Vollstandige dauemde motorische
Aphasie. Substanzverlust links, der den Punkt betrifft, in
welchem der Balken seine Strahlungen aussendet; das vordere
Ende des 1. Linsenkemes war somit von den Markstrahlungen
der phasisch-motorischen Zonen beider Seiten isoliert.
7. Besta: Vorgestellt auf dem italienischen NeurologenkongreB
in Florenz (April 1914). Umschriebene Verletzung an der
Spitze des Putamens links, vollstandige, dauemde motorische
Aphasie.
8. Dejerine (anonym): Vollstandige dauemde motorische Aphasie;
der linke Linsenkem war intakt, die Mark&usstrahlung der
verbo-motorischen Zone bis zur Spitze desselben verletzt.
9. Cortesi ; Vollstandige und dauemde motorische Aphasie. Links
Zerstorung der Marksubstanz der F a und F* und der Balken-
ausstrahlungen.
10. Raggi (Gajera): Vollst&ndige und dauemde motorische
Aphasie. Links proximalwarts Zerstorung des oberen auCeren
Winkels des Putamen und der Balkenausstrahlung, wie auch
Zerstorung der Capsula ext. et extrema.
Die bisher gesammelten Beobachtungen berechtigen uns also
zurfolgendenBehauptung: ret iduare Symptomeeinertermotorischen
Aphasie entwickeln sich inftlge unvollstandiger Zerstorung des
vorderen Drittels des linken Linsenkemes; ausgepragte Dysarthrien
treten auf, wenn die beiden hinteren Drittel desselben verletzt
sind; vollst&ndige Anarthrie, wenn der game 1. Lenticularis zerstort
ist; andauemde motorische Aphasie nach Verletzung der Zona
praesupralenticularis der genannten Seite. Man begreift somit,
dab, je schwerer und ausgedehnter die Zerstorung des linken
Linsenkemes ist, um so mehr die Dysarthrie dazu neigt, sich der An¬
arthrie zu n&hem, um schliefilich den Grad eines wahren Mutismus zu
erreichen. Es sind dies die nicht seltenen F&lle, in denen selbst der
erfahrene Arzt sich im Zweifel befindet, ob es sich um eine
motorische Aphasie oder um eine vollst&ndige Anarthrie handelt.
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unserer Kenntnia der Aphasielehre.
161
Hieraus ergibt sich, wie die Broca&chQ Zone, deren Verletzung einen
dauemden Mutismus zur Folge haben kann, als vordere (frontale)
Grenze den Pol (Caput) des Caudatus, als distale Grenze die
proximalsten Schnitte darbietet, zu denen die Heschlachen Win-
dungen gelangen; sie entspricht dem Viereck P. Maries, aber
mit ausgedehnteren Grenzen, da sie nicht bios das Viereck,
sondern auch die Pars opercularis der F a umfaBt. Sie enthalt
daher das Operculum frontale und Rolandicum (die Foci fiir die Be-
wegungen der Zunge, des Mundes und der Larynx), die Insula, die
Capsula externa, das Claustrum, den Fasciculus arcuatus und
die Zone des Stabkranzes der F s . Die Zerstorung des ganzen
Vierecks P. Maries (41, 42) (besonders, wenn es erweitert ist,
(Quadrilatere + Pars opercularis der F s ) ist geniigend, aber nicht
notwendig, eine dauemde motorische Aphasie hervorzurufen. Not-
wendig, um eine motorische dauemde Aphasie hervorzurufen, ist
ausschlieBlich, wie es das Schema der Fig. 4 zeigt, dieUnterbrechung
der phasisch-motorischen Projektionsfasem und der 1. Balkenaus-
strahlungen an der Eintrittsstelle oberhalb und vor dem linken
Linsenkem (namlich die Zerstorung der Regio prae-supra lent icu-
laris). Dies beweist, daB es Zustande gibt, deren zufolge eine Ver¬
letzung des linken Linsenkemes eine motorische Aphasie hervor-
rufen kann, doch berechtigt sie nicht dazu, wie P. Marie behauptet,
die Teilnahme der erweiterten Brocaechen Zone an der motorischen
Funkticn der Sprache auszuschliefien.
Dieser Begriff erklart die Bedeutung einigerSysteme vonMark-
fasem, auf welche kiirzlich mein Assistant,Dr. Ayala, in einer iiber die
Architektur des menschlichen Linsenkemes angestellten Studie die
Aufmerksamkeit gelenkt hat. Legt man namlich vertiko-transversale
Serienschnitte durch dieses Ganglion an, so sieht man, dem vorderen
Ende des Putamen entsprechend, Gruppen von Markfasem, welche
vcn oben nach unten in das Ganglion dringen und sich hier bis
ungefahr zum vorderen Drittel ausbreiten. In den Horizontal-
schnitten femer (besonders in den oberhalb des Foramen Mcnroi
angelegten) sieht man der Rinde der mittleren Insel und des
Operculum frontale entspringende Markfasem das Claustrum und
die Capsula externa durchdnngen, um im Putamen, besonders in
dem mittleren und dem vorderen Teile, auszustrahlen. Es ist
hoohstwahrccheinlich, dafl die erste Gruppe der Rrocoschen
Projektionsfasem aus der Pars opercularis der F* kommend und
wesentlich phasisch-motorischer Natur zu deuten ist, wahrend
die zweite insulo-prazentrale (horizontale) Projektion wahrschein-
lich, wie ich weiter oben erw&hnt, als von gemischter phasisch-
artikularer Natur zu betrachten ist.
Man konnte den Einwurf erheben, daB in den in den obigen
Tabellen zusammengestellten Fallen (Figg. 1, 2, 3) fast best&ndig
auch ein Teil (der vordere) des Claustrums und der Capsula
externa mit erkrankt waren; man hatte sc mit das Recht, zu
zweifeln, ob die Sprachstorungen unter diesen Umst&nden nicht
blofi denLenticularis, sondern der gleichzeitigen Lasion der beiden
11 *
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162 At i n j*ft **%» ti l y liflboi'iien gefjtjuwtvrtignH Stwid
andoren Gebilde zugosehripben werdon kikinem Einige Fiille eebtei?
Dysartbrie. Yetaffentlieht von Pkiv:a (57), 'Btzta (2). CostanJim (El)
njEid von mir, in demon die Dysarthrig dureb au»r
acbliafilich 4es wordkn war, gestation
ab**r die Bahiu.ifitting, dy>d«'f*elbo gwwiB vin*6o-ttf 1-ikuitiw- Fasero
entbiUt, 1>(»?:• bexvgkt ■ ■»»<•• b das miter dem Namen'.'firogreasive'
.UftS^nkaindngortfcmt'ioa (vepfftnfertde Syiniifoxtt, hj wnfeifceijo
raafi ^abrtiinimt, tvyo did xdic&cfest foichte X>ysathtrje nach unti
naeb bis x«r Anartbrie guht* |b mohr dor liaaehkem, degeoeriert.
Was niebt aussehlielU, dab aneb die anderen beitbm Gebilde
(Capsula ext imdO&Ustrum, wahrschoinlich awcfs die hmieteIngel)
vorb>.>art ikul&re Pasera ent hitite rx; j» dies- wurde dip bald ’a phasiscb -
motorise lien' bald dysari Imseboig bi'ters hex VerletJuwg der nut lleren
„ Zone der Suhii inula be*
merkten Stbrungen er-
( 2 klarejk louidii die Ver-
/C~\f Jetzungeu tier n»it,t!<s-
—' Jl ren Zone dor Jimilk,
/"?';••. r 9\ tfes Operculum Rtrlan^
f di (pr&xentrale), of*
f . 1. scbwoTO J>yhart hrien
vf hervorrufeo, die bis-
/ \i: • weileft den nbaraktor
der motorise hex* Apha -
Ji'C-V 1 ( .. 'Wmr' sie efteirhfeUi. ist os io-
'/♦• : .VV. > j Xfj gisch.dalSnnznwbmen,
* A f \ X ' I Vi ill dtej^|z^®^ile«55b)ie
/"* 'W&rO, }\ (I nmhk nmiOpercMilum
( \jj pi'aee.JgormschU', d.h.
V v*i . phasiseh - moiorische
T'""' y. ' wid rnrhoartikiilbre
*'••':* i l ' ./ Fasernentbabywelche
jf^v V V I / die besagfen beiden
y M ’ \, ^ / GangliundHrohxsiehend
ly. \ ;y_ zimi LmBenkern ziehen
%» y and hier ink eehten
verlHi-artxkuiiireri Pa-
sent in Verbindnng
freten ,(Scbe)pa&Fig,9d
Fig, 20. Schema zum ISazhwcie der -Axi -unit Wziae* **» y&lcfaf tick dim
au# der erweiterten Brpvcutchen Zone fink* komrrvenden phatiwh-ffMtortacfan
Neurone^ xmtd&i verbotirtikul&rvn Linsenfarnmuromn if* Verbiiudung seUen.
Auk* 4e^ P, mid dor Ifitmiot &nt emr cUe pHftsi&di motorischen
Neuroaeukom3, 4 &us, dxircbzizhim sii|>ra pm^lsftticuiari»
A*' treten' :m: y6r:^t4n4uag mit xiea veH>»:*an>.bAi&ren Neuroixen 2', 3% 4 r .
Aus clem Fa komix^n Keuroae gemiBohter Natur
(phasi^eh^m^fiotiache und verbom’tiktxl&c^} §f »se tneten^ Oamula externa
und dae Claustrum dttrchzt^heud ? mit d«n Kbur^ri^ echter verboartikularer
Natur 5\ dam WnticulariB is Verfeudun^. Die phasisch'
motorischeis Neurttpe, di© aua der erwiterteri i?ro«*sK?iien Zone rechts
ksommen, K duimhtiahen den Balkea tend, die Z^na supra prtie lenticular is
uneerer Kenntnis der Aphasielehre.
163
A, um in den linken Linsenkern zu ziehen, und sich mit den verboartikul&ren
Neuronen 1' zu verbinden.
Folglich mfissen wir annehmen, daB das Gebiet der motorischen
Aphasie eine ausgedehnte bilaterale Rindenzone, ohne scharfe
Grenzen, umfaBt (erweiterte Brocasche Zone), die in zwei Gebiete
geteilt werden kann: Eine (neopbyletische) links prfidominierend,
der Fj und der Insula anterior vorausgehend, besteht aus Neuronen-
komplexen, die, das darunterliegende Centrum ovale durchziehend,
sich dicht oberhalb und vor dem Ende oder dem frontalen
Drittel des linken Lenticularis, an der Stelle, an welcher sich die
Balkenausstrahlungen kreuzen, konzentrieren, mit den von der
rechten Seite kommenden homologen vereinigen, um zum vorderen
Ende des (linken) Lenticularis (Regio supra — et praelenticularis)
zu ziehen. Der andere (palaophyletische), dem mittleren Teile
der Insula und dem Operculum praecentrale entstammende Anteil
bildet gemischte, zumTeil verbo-aurikulare, und zum Teil phasische
Fasem, die, das Clau6trum und die Capsula externa durchziehend,
quer in die hinteren zwei Drittel des Lenticularis dringen (Fig. 10).
Die nicht gemischten phasisch - motorischen Neuronegruppen
artikulieren sichungefahr im vorderen Drittel der Lenticularis mit
verbo-artikularenFasem, die in den hinteren zweiDritteln desselben
Ganglions verlaufen; liber deren Schicksal es gegenwartig nicht
mogUch ist, ein Urteil zu fallen.
Ob nun die dauemde Stummheit, die bei der Zerstorung der
Regio supra-praelenticularis eintritt, wie es mir scheint, davon ab-
h&ngt, daB die die Nebenimpulse der rechten phasisch-motorischen
(Rrocoschen) Gegend zum linken Lenticularis, durch den Balken hin-
durch tragenden Fasem unterbrochen werden, oder ob hingegen,
wie Liepmann meint, die Fasem verletzt sind, die von der linken
Brocaschen Zone zur homologen rechten ziehen, ist schwer zu sagen.
Immerhin ist diese letztere Annahme nicht auszuschlieBen, denn
auch Verletzungen des rechten Linsenkemes verursachen, wenn
auch selten, Dysarthrie; es ist nicht unwahrscheinlich, daB bei
einigen Individuen Sprachbahnen direkt, oder vielleicht ausschlieB-
lich, auch durch das rechte Ganglion lenticulare ziehen, und dies
um so mehr, als einige Autoren [Mahaim (43—45), Beduschi (3a)
Dejerine u. A.] Falle von Verletzungen des linken Lenticularis,
ohne Dysarthrien mitgeteilt haben.
Die anatomischen Befunde drangen folglich dazu, Erklamng
fiber die mehr oder minder groBe Flfichtigkeit der motorischen
Aphasie nur von der Topographic der Verletzung zu verlangen.
Dies widerspricht dem von Monahow (39) so gehegten allgemeinen
Begriff der Diaschisis nicht. Wir sehen in der Tat oft, daB nach
einem, infolge einer selbst beschrankten Erweichung des linken
Brocaschen Gebietes, aufgetretenen Iktus der Patient (eine oder
hochstens zwei Wochen lang) durchaus nicht versteht, was man
ihm sagt und nicht in der Lage ist , ein Wort zu reden, und daB nur
nach 14—20 Tagen die Sprache vollstandig zurfickkehrt und der
Patient fast alles versteht. Man muB also hochstwahrscheinlich
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164 Mingazzini, Ueber den gegenwartigen Stand
annehmen in diesem Verhaltnisse, daB wahrend dieses Zeitraumes
die zahlreichen von den (nicht sehr) bekannten, mit der noch
funktionsfahigen verbomotorischen Zone in Verbindung stehenden
Bindenzonen (verboakustische, optische Zone usw.) kommenden
Beize unterbrcchen seien. Die Wirkung der Diaschisis kann nur
meines Erachtens vcriibergehend sein; aber, sotald die Wirkungen
derselben voriiber sind, miissen wir den Grund der kiirzeren
oder definitiven Andauer des Verlustes bestimmter Furktionen
des Zentralnervensystems nur im Licht der pathologischen
Anatomie und durch die Kenntnis des Verlaufs der Leiturgs-
bahnen und ihrer Beziehurgen zu erkl&ren versuchen. Auf diese
Weise erklart es sich vielleicht- tatsachlich, wie Zerstorungsherde
der linken Brocoschen Zone, die eine betr&chtliche Ausdehnung
aufweisen, eine leicht reparable motorische Aphasie hervorrufen
konnen; w&hrend hingegen beschrankte (supra- und pralentiku-
l&ren) Herde derselben zu den unvermeidlich dauemden Symptomen-
komplexen AnlaB geben. So verstehen wir, was Monakow be-
hauptet: namlich, daB die motorische Aphasie um so langer dauert,
je mehr der Zerstorungsherd sich dem Gebiete des Stabkranzes
und der inneren Kapsel nahert. Doch ist es, um eine dauemde mo¬
torische Aphasie zu haben, nicht notwendig, daB der Zerstorungs-
herd bis zur ventrikularen Wand des fronto-Brocoschen Segments
reiche (Monakow). Alles hangt in der Tat von dem mehr oder
weniger Intaktbleiben des Stabkranzes der l.Begio operculo frontalis
ab. Die Anstrengung, die in solchen Fallen der Patient ncch aus-
iibt, um das Wort auszusprechen, indem er noch einen kleinen Teil
brauchbarer Fasern findet, geht bisweilen in eine Verlangerung
der Silben und in ein beginnendes Stocken (Pseudo-Dysarthrie) auf.
Dies erklart, warum es (Monakow (39,1. c.) vor allem die Verletzung
des Balkens und der Stabkranzzone sei, die zu schweren Dysarthrien
(Bradylalie) oder auch zum Mutismus fiihren kann. So versteht
man, warum die Symptomatologie eines von oinem (spater ope-
rierten) Tumor befallenen Patienten, bei welchem der Tumor links
in dem Gebiete des Caput corporis striati und des vorderen Teiles
der Insula sich enfaltete, in einer zwischen motorischer Aphasie
und Anarthrie (Bradylalie, schwere Aussprache der Mitlaute, die
bei der Wiederholung schlecht ausgesprochen wurden) bestand
(Monakow). Die erwahnten SchluBfolgerungen finden die beste
Bestatigung in den Besultaten der eingehenden Analyse, die dies-
bezuglich von Monakow iiber die Befunde der verschiedenen Formen
der motorischen Aphasie angestellt wurden. In der Tat waren in
einigen Gruppen von Fallen, in denen die motorische Aphasie vom
Beginn des Lebens stets fortdauerte (I. u. VI. Gruppe, Monakow,
39, 1. c., S. 699 und 730), die Verletzungen des linken Brocoschen
Gebietes nicht nur sehr tief, sondem in alien reichte der Zerstorungs-
herd bis zu den homolateralen Balkenstrahlungen. In den Fallen
hingegen, in denen die Fahigkeit der Wortwiederholung moglich
war (II. Gruppe, Monakow, 39, S. 701), war die linke Begio supra-
und praelenticularis zum guten Teile verschont. Wenn Monakow
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unserer Kenntnis der Aphasielehre.
165
in den sogenannten negativen Fallen darauf besteht, daB es sich
fast immer um einen langsam entwickelten Tumor handelt, der mit
der Zeit das ganze erweiterte Brocasche Gebiet bis zum Lenticularis
zerstort, so stimmt das gerade mit dem iiberein, was wir weiter
oben erwahnt ha ben; namlich, daB anatomisch schon praformierte
phasisch-motorische und verboartikulare Bahnen bei einigen
Menschen auch direkt in den rechten Lenticularis hinabsteigen
konnen, wie man bei den Rechtshandern annimmt, und nach und
nach ihre wenig ausgeiibte Funktion wieder aufnehmen konnen.
Monaleow (39) behauptet, daB die Moglichkeit der Wieder-
aufnahme der Funktion der erweiterten Brocaschen Zone links
mehr vom Emahrungszustande des iibrigen Gehimes, als von
der Topographic der Vcrletzung abhangt, und dies entnimmt er
der Tatsache, daB die Falle, die einen leichten Verlauf nehmen
und nur voriibergehend bestehen, durch Traumen und bei jungen
Leuten hervorgerufen werden, wahrend bei denen, in welchen
durch Erweichungen bedingte Hirnherde vorhanden sind, die
motorische Aphasie dauemd und sehr schwer ist. Diese Erklarung
konnte man annehmen, wenn wirklich diese Uebereinstimmung
der Beziehungen zwischen der Natur der Verletzungen und der
Wiederaufnahme der phasisch-motorischen Funktion eine be-
standige ware, was aber nicht der Fall ist. Wenn die Traumata ge-
wohnlich nicht einen dauemden aphasischen Symptomenkcmplex
verursachen, so hangt dies davon ab, daB ihre Wirkung fast
immer auf die Rinde oder hochstens auf das subkortikale
Mark der Brocaschen Zone beschrankt bleibt, wahrend die
Erweichungen mit Leichtigkeit das entsprechende ovale Zentrum
befallen und sogar den linken Linsenkem auch den Balken
abspalten. Sicher muB der Emahrungszustand der Rinde
(Encephalitis, Arteriosklerose, Atrophien usw.) der homologen
rechten Brocaschen Gegend die Schnelligkeit und die mehr oder
wenig groBe Leichtigkeit beeinflussen, mit welcher diese die
Funktion wieder aufnehmen kann. Aber zwischen dieser und der
Annahme Monakows, daB andere Zonen der Hirnhemispharen,
auBer den beiden (rechten und linken) Brocaschen Zonen, an
dieser Wiederaufnahme der Funktion beteiligt sein konnen,
ist ein gehoriger Abstand; und es scheint mir dies kein un-
bedingt anzunehmendes Prinzip zu sein. Es besteht kein Zweifel,
daB, wenn der Mensch sich zum spontanen Sprechen entschlieBt,
seine Sprache nicht nur im AusstoBen von Sprachsymbolen be¬
steht, sondem auch zum Antrieb zu dieser Handlung (Lobus
frontalis) und in der Erweckung der sensorischen mit den Sprach-
motorischen Foci verbundenen Engramme (Lobus ocupitalis).
Mit einem Worte, das Sprechen lost sich in einem Komplex von
Handlungen auf, an welchem ein sehr ausgedehnter guter Teil der
Hirnrinde und des subcorticalen Mark beteiligt ist. Nur in diesem
Sinne, kann man meines Erachtens sagen, besteht kein Sitz der
Sprachvorstedungen.
Bisher haben wir fiber die motorische Aphasie vom Broca schen
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Mingazzini, Ueber den gegenwartigen Stand
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Typus geredet. Was die beiden Unterformen derselben, n&mlich die
echte motorische Aphasie und die transkortikale motorische
Aphasie betrifft, so ist es angebracht, mit der ersten beginnend,
schon jetzt festzustellen, daB die klinischen, von genau studierten
Befunden gefolgten F&lle bereits bewiesen haben, daB die echte
motorische Aphasie nicht immer von einer subkortikalen Ver-
letzung der Brocaschen Zone abhangt. Zur Ausbildung dieser
Form ist es nach Monakow notig, daB auBer den Projektionsfasem
direkt oder indirekt auch Assoziationsfasem, die zwischen dem
frontalen Ende des GroBhims, der Insel und der F L ausgebreitet
sind, und vor allem der Fasciculus arcuatus verletzt seien. Monakow
(1. c., S. 771) fiigt jedoch hinzu, daB es notig sei, daB an dem
krankhaften Prozesse auch die Balkenfaserung beteiligt sei.
Diese letzte SchluBfolgerung, zu der Monakow gelangt, ist
eine Bestatigung dessen, was ich soeben behauptet habe:
namlich, daB der dauernde Mutismus davon abhangt, daB die
Balkenstrahlungen (links) zerstort oder auBer Funktion gesetzt
sind; und hauptsachlich an der Stelle, an welcher sie in den Kopf
des Putamens (Regio prae-supralenticularis) miinden. Dies wird
durch die Untersuchung jener wenigen Falle bewiesen, in welchen 1 )
die reine motorische Aphasie genau intra vitam studiert und in
denen eine hinreichende Zahl von Serienschnitten der GroBhim-
hemisphare hergestellt wurden.
Diese Falle, soweit aus der Literatur zu ersehen ist, sind die folgenden:
1. Fall. Dejertne - Pelissier. FallReeb. Patient litt an echter motorischer
Aphasie; er sprach nicht, noch konnte er die Worte wiederholen, doch war
die inner© Sprache sehr gut, und konnte er schreiben.
*) Anmerkung : In der Mehrzahi der sogen. Fall© von eohter motorischer
Aphasie
a) fehlen manchmal die Sektionen, und hierher gehoren die folgenden
Fftlle: 1. Fall Trosseau (Clinique, 2. Edit. \ol. II); 2. Mesnei( Annelesmed.
psych. 1877); 3. F6r6 (Soc. de BioL 1885); 4. Dickinson (in Bastian du
Aphasia. S. 90); 5. Prevost (Revue m6d. de la Suisse. Rom. V. 6. S. 309);
6. Collins (The Faculty of speech. 1898); 7. Idelsohn (D. Z. f. N. 1898);
8. Jaccond (Cours de Clinique m6d. T. 1); 9. Willie (Disorders of speech.
Edinburgh 1894); 10. Collins (The Faculty of speech. 1898); 11. Marburg ,
(W. k. W. 1899); 12. Bucco (Nuova ser. clin. 1902); 13. Hunter (Glasgow,
Medical Journal. Januar 1909);
b) oder fehlen die Hirnschnitte wie in den Fallen von Ogle (St. Georg
Hosp. report. 1867); Ballet (Soc. de neur. 1900); Banti (1886);
c) sind die Schnitte der Hemisphare beschrieben, so fehlen die Figureu,
um sich einen genauen Begriff von der Ausdehnung der Verletzung maohen
zu konnen. Dejerine (Soc. de Biol. 28. II. 1891):
d) oder der Patient konnte mit Schwierigkeit reden, so daB es sich
mehr um eine Dysarthrie als um eine echte motorische Aphasie handeln sollte.
Fall Dufour (Bull, de la Soc. Anat. 1895), Kauders (Med. Jahrb. 1886);
auch der Fall Bramwell (a remark, case of aphasia. Brain 1898) kann nicht
der echten Form beigezahlt warden, da Pat. samtliche Worte gut wieder-
holte und spontan alle Worte aussprach, ausgenommen die Namen von
Personen und Sachen.
Andererseits ist es iibrigens nicht unmoglich, daB einige Falle von
motorischer Aphasie, welche dem Typus Broca beigezahlt werden oder
infolge von Verletzungen der Linsenkernzone dem echten Typus ange-
horten, und daB es sich um Analphabeten oder um Individuen handelte,
bei denen es nicht leicht war, den Lichtheimschen Versuch anzustellen.
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wnwrer ; tier .if >hu»i< Ochre
Links hafcte der Herd db>. $aroJ*. F*, den Rand der F* I&iig* der
2, Frontalfurehe, d i# untetv Halft* der Fa rand Ffc* d*m vordaren Ahluing
dea Gyro# sippram&rtfirialis, die g&nze instihi (mifc Auim&hme eines Btttcke»
des retro dmil&rett Dyrns)rdie ifop&nto exterha* die YamimiBr imd-deu an-
der Cftpsula extreme *crsibrU 8ie wrsehcmte vb&dai:td% die
gr«.tien Kerne,.miiterh&ib v*>neiner Mehtfm fteioeh t wnMbttehmvn.
weteh* der &u Ifeten Kmp&el Dm L&don obm (oberi&lb
Oangtfen wad iii iffltAtfnpoHteriafmi Oebiete der Iriael)
imtfcrbr&rh den ArcvAfttn#., d^n Fofi des mittl#ren Segments des
Sl4bkrar«^, das kompakie BftiuUd dec BfrVkeidasera, &o dai$ sde J&srt den
ftuSeraien Wmkel deer lateralen VebirikeL** stretch t r vmt welehem aie der
gameo IHcke der cpmdipnaZtt graven Subsiaite noch getrennt war* Vbrn
feommfc $ie der gan^en Hohe nacb deni Fvfi des vorderen 'Segment* §&!&-
kranzes, vor dea gr&ueu seidraicn Kernen.
2, Falk jRetruujr*a-Manoja (noch nieht veroffentlfchi). I>h«e motv-
risehe ApJbams dutch ^toe Lasion der linken priilentikrah^en Region ver*
ursuehr. t>i& l^paraf.e. behinden 8ich in meineni L^b#irat«rmm.
Fig. 10.
Fall Ttomxigva. H -■*= Herd;
in der Regie ^apmleiitieoi rand at a vertical, Teabsorbtei%.
Trssatti, A\; 55 Jahre ait. itdbige vM:wr JJciu*. die aieh irmerh&lb
VA Stunden. tofgtet)* tritt.folgedd^' bm scum riaaH IV# &dxreu auigetretenam
Toika unvemnderi-e.Sypiptoriiai : oi»^gie anil VvlUlejadige fepontane Aphemie,
trie ftudh bei Wiederhohmg der Worter ' 'S-iibm und
. linger Mitl«u?e> Die Z&htfwirmvite Prufumj I&Ut bald poeitrv. bald unstcher
aua; Da^- Verstandliia der gebdri ed Worte iat gut. X4 ¥q£ Lgsen i*s
urnnogUch,die Fattentin erk^Ufit hiir die BdeJiktabeUi verfttekt aher m«;hl
<fon Stnn der g^Ufdct^n oder geaeJgtebwen Wdrfen Da^ apont«me
Selwreibeu, una^- Diktat war ettraa .redi,iiieft j
^ebrieb die Kraake ?um . Teil nuch lunge W#rt<a gut xvb, kunnle 'afoer
nicist xaWen. Es: bestanvi kerne Dyspmxie.
'^^ j^ektwn: In- t).m Fro«taI»cJbiVHt^r> der Hirnhemi^phaTe bemerkt
jiroximahv^ris Eo^Tptior# link?;, dm fronlnl.en Kudea dm
Putamen, dm fordernn Segm^ttea der itmoren Kap^el pnrf dz*
Oandatufi (Fig. 10). la dm .OAphtVjlgfeadon Frontaktlmxrteri vom
Balkenknie xitm Splenitmv findet man linka einen Snbstanzrerlu^
in der Zone, in. weicber (lie 'pit^mal^rts aus der Pars of^reularis
der F t (Fig, 11) der Fa (Fig, 1.2) ni>4 ; lif«b
Uebar don gegoawiirtegwa Stand
rnehr distialiviiFte) aus der Pa konnnenden Slarkfasem {Fig. 13)
links mil den Balkenstrahlungen konflnieren. Atich Her waren
Mi a|i : z z i u i
ISfc 1JL
3<W flvtmpM K ■= Herd;
iti (itir 1. Ro&iu bis dMbmsubu^ii-' Gebmto,
i -7 :. 1 1 *'v Y J ^ ■ 7 ’ * J '• . v
Fall I&fuogno (B. Figg. iOn
• . .• % ‘ . ,\V, v ’’:’*.V,7 v • •. y.vir «; * *• \ (
also bStntHcfae Oder last samtlicbe Ba.ikenau8strahlui)jgen in der
pra- uddysnpmltudikuliiren Zone zerstort. Die Gyri temporalis
transvem vrawn ynyerselict.
H«»rd i fast wie ini vorigen Schnitt.
itizedby GOOgk
UNIVER
Origrr-alffcrri*
SUY--0 F MICHf GA Pj
Fig/ 13.
Fail Romagna f». Fipgvl©; 11, 12), H = Herd
im Btfpeich der iinkeix BA]k«n.a\isstmbKmj§. and der i- K&psel.
Scktiun . M?hr korukaJer sia^kortifolcf gubstHf^etkiM.- dw'kbksa
H^mispiiare, dr* Pajr* <ii>ercul&m der F» urui
nimmt r die gatszlfch zemdrt Bifid* *r dnngt m dla weifie Subsraa? sm& hioier
d^raelben. euv and endigt am .Xiveiui d&> ndifferee Q^rua
*f4gulcvris. ' • "•• ;._^
l)ia niikra^kapiMcb^ Ual^rsuehuiig der Sebmtte der Hiratendaitb&ren
?4’ li^kerddsen $we?» d&& d«?r iiMfcr tfcr If j sj^h ^fetdbz-
verfusfc £tch &o Vgttiflft* die ftegia{mn) £^t voi^
at&adig i$t« \ '' ■- - : ' \ '• V v i'^"
4, Fflt. i &■ Peli^ter ;{^€tjj;.■
liernipltgie mlt t^takir Apbte*ie die Axm fed sSixfuicigjaigi.■ ^o^bert Ba
?>Iieb bur e*h ' Volfetfi-udiger MutLsmus (swoh] ^pVhta&r wic auj‘ Weder-
fetasg:,;4etAVSrtejr) lAt&ihtfafr&fyenri&klib 'feUJiisig Tfinc<m X*>een
wilfri'todip erhait^iL * \. ' . , ; ; , ' ' - ' r ’
Sektion: Lbvks Pam npercuV .und VrUngul, der T if Operculum
x oiaMi^um* losute, teams die gun* ©nveit erte, Br^cafclje 2^ §<^me die ganze
Markat^idtalilun^ #erijmnwr Zone eind vollstAnriig' ^ercd<»H ; ebe{&o ili*,Mxn :
^ahbia^eoQidfe^ Balked lmk», Der Itfuclem wnt de^haib^fceirali
voTft 8y«tem dgr/reqliten tmd der lioken Seite isolien.
BedmgObgen smcl also natweudig, daroit
• ••^3^plfeflAat© „ramc \&phasie^ zustande kcfumit,
iL h. ifid frtt^gritat dor en\*eitcrten Broca *cfoen Zone
vmd die JKrhaltang ttar- Assaziation^bahnen mit dem wQtwmbviv
Centrum rferfeehfe.n -Eand, OndUa der Tat genugt es. das Mer
unserer Ejeruiiiiis der Apbasieteb^ 169
3, Fall, LcdanuiM^nakmv. Fraa, 5& : JaJ^e.cil.iVdiabotiisck\Aj)opiekti-;
lorcxer Aid&i], galoigt veil rechter G^siclitB- uml Ai v mpar^a Vonjeaar ,2eii
cui voii8tand^er Muiasmuss Sdwblil spojitbm vrier ^urWiederbola ng. Voli-
atfihdig erii^ltett die Seim!* \tnd Koinplette fotivkibfeit der iimeraiu
Spraehe.
Go ole
170 M i r; g a ■% 7. * n. t , Ueber dee gegenwlirtigeu Stand
bcigogobene Schema. (Fig. 14J sazuschauen, gm die Ueberzeugijmg
zu ge^-itinea, daii wemgstftim-sin 'Werner.Anted der erweit often
i?roc«Htdmn Begion {Uiskf*} jittnjcrerhfllten war. Die Integritat dieses
Tei les macht die inhere
■h Revokation der
Silbon mdglich, daiiec
. ' j der gl.peklich© positive
Ausfail der Lichtheim-
sehen Proiie; gleiehzei'
tig wird das Erhaiten
bieiben dordie motori-
sche Zone tier recfateii
Ha^d(Fig:;l4)hdtideh
uttvereehrt gebUehd-
non motoriscbenWort-
hiiderh verbindenden
Khsern. demPatient ett
pest at ten j mebr oaer
weniger gut/ zu schrei-
ben ; |e nach der Aus-
debnung des Hordes
Imiessen wird die La-
Sion der linker: Baiken-
anssehalarg und die
pridentikulare V&r-
letzung weder diespou-
feane Spraebe uceh die
Wiederhoiu ng dcrWbr-
ter gestatten. Diase
ScbiuBfipleenihgen er-
klaxon
waryin ayc.h
eim Bindeavorietzuhg
des Ikom&ihm Gfebie-
tes das BiJd derteinen
rnotorischen Aphaaie
hm^rcyfert kann; es
genygt, dad ein Toil
diesev Zone gerettet. wird, d&ioit es mcgliek ist^ dhs game Won
(die Er:gramme dot motoriaclien Silbenbilder) in die Erirmerung
(la parole interieure) zainickzurufen ursd die (Aeaoziatioas-) Fasern,
die die entsprechende Zone i»it .der. okdorisehen : '0egeind der
rochten Hand verbinden (d. h. keine Agrapbie) unversebrt. lassen
Pi* a-
•Schema: Aphasia motc«ria pura.
llezeichnung den Herdes im Schema
4 ■ tier Fig 14
XWaen der AotorSo
Xi6)6xwi9. (Fall Reel'
LtfdSnia Alanakyw
Heftfiheife (kail laficjuiat)
R«r«agna-iila6o>a ; ;
uneerer Kenntnis der Aphasielehre.
171
Was die motorische (transkorticale) Assoziationsaphasie be-
trifft, so beweisen die bisher gesammelten Falle, daB sie durch eine
Zerstorung irgend eines Teiles der der vorderen Region der Sprache
entsprechenden Marksubstanz hervorgerufen werden kann. Um
jedoch besser den Mutacismus dieser Unterform zu verstehen,
behalte ich mir vor, spater bei der sensorischen transkortikalen
Aphasie darauf zuriickzukommen.
Voller Schwierigkeiten ist noch die Kenntnis der motorischen
Sprachbahn oder, wie einige sie nennen, der Phonationsbahn.
Das hangt von der Tatsache ab, daB beim Menschen die zentrale
Bahn des Facialis und des Hypoglossus viel weniger als bei
den hoheren Tieren, die Affen einbegriffen, bekannt ist.
Mir (38) selbst gelang es nur, mittels an Affen angestellter Ver-
suche, durch Entfernung des kortikalen Zentrums dieser Nerven
oder durch peripherische Trennung des Hypoglossus, nachzuweisen,
daB die entsprechenden Fasern vom vorderen Segment der inneren
Kapsel in das mediale Fiinftel des Pes pedunculi, in die dorsomedialen
Gruppen der Briickenpyramidenbahnen, in das dorsomediale Seg¬
ment der Pyramide und dann in die contralaterale Fibrae rectae der
Raphe ziehen; das letzte Segment dieser Bahn von den Fibrae
rectae, bis zum Hypoglossuskerne aber bleibt eine noch ungeloste
Frage. AuBerdem ist noch nicht festgestellt, ob eine besondere
motorische Sprachbahn besteht, oder ob dieselben Fasern, welche
zum Bewegen der Lippen bestimmt sind und die fur andere Be-
wegungen (pfeifen, blasen, kiissen usw.) bestimmten Muskeln
ebenfalls die Impulse fiir die Bewegungen, die diese Teile beim
Sprechen vollziehen, iibertragen. Da, wie die klinische und patho-
logische Anatomie lehrt, ein genauer Parallelismus zwischen den
glossolabialen Paresen und den Dysarthrien fehlt, ist anzunehmen,
daB beide Bahnen getrennt sind. Jedoch sind wir noch weit ent-
femt, mit Genauigkeit die Strecke der hypothetischen motorischen
Sprachbahn angeben zu konnen resp. zu demonstrieren. Demnach
scheint es mir angebracht, die hauptsachlichsten Meinungs-
verschiedenheiten der Autoren, welche sich mit diesem Argument
beschaftigt haben, zusammenzufassen.
Nach Oalassi (19) soli die Sprachbahn, nachdem sie den
Pedunculus verlassen, in den Pes lemniscus superficialis treten,um
dann die Kerne der Oblongata zu erreichen; dieses segmento-
pedunkulare Biindel degeneriere bei alien Hemiplegien mit Aphasie,
hingegen ware es bei den Hemiplegien ohne Aphasie intakt. Die
Resultate Galassis stiitzen sich auf fiinf Sektionen von Hemi-
plegischen, von welchen vier von vorwiegend motorischer
Aphasie und rechter Hemiplegic, einer nur von letzterer befallen
waren; doch war keine der von Galassi studierten Aphasien eine
echt motorische. Hoche (23—24) laBt die Phonationsfasem durch
den Pes lemniscus superficialis und folglich hinter der Pyramiden-
bahn ziehen: diese Fasern am Niveau der bulbo-protuberantialen
Furche angekommen, sollen die Linea medians erreichen, um in
den Kemen des Facialis und des Hypoglossus zn endigen: jedoch
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172
Mingazzini, Ueber den gegenwartigen Stand
bestand in den Fallen, auf welche sich diese Annahme stiitzte,
eine Verletzung, nicht nur (links) dee FuBes der F t , sondem auch
des unteren Teiles der Fa und der Insula. Henschen bemerkte
das Zusammentreffen der Degeneration des Pes lemniscus links
in einem Falle, in welchem die Sprache langsam und skandiert
war. Collier und Buzzard ianden den Lemniscus in einem Falle
von Himtumor, der links sich bis zur inneren Kapsel erstreckte
und AnlaB zu einer motorischen Aphasie (mit rechter Hemiplegie)
gegeben hatte, degeneriert. Auch Pacetti (58), S. Sergi (61) u. A.
nahmen Sprachstorungen bei L&sion des Hauptlemniscus wahr.
Ladame und Monakow (40) fanden in einem Falle von echter
Aphasie weder dasPyramidenbiindel noch denN.facialis degeneriert.
In der inneren Kapsel stellten sie fest, daB das Phonationsbiindel
sich haufig mit den anderen Biindeln verschlingt. Die Fasem des-
selben waren hier naher dem Thalamus als dem Lenticu laris.
Am Niveau der hinteren Schichten des Dwyaschen Korpers findet
man es zwischen den Fasern der Linsenkemschlinge und jenen
der fronto-pontinen Bahn; mehr distalwarts verlauft ein Teil des
in Frage stehenden Biindels in der Mitte des pedunkularen Anteils
der Schleife, ein anderer Teil lost sich davon ab, um direkt mit dem
Himstiele in die graue Substanz zu ziehen. In der Briicke und in
der Pyramide ist das Phonationsbiindel innerhalb der dorso-
lateralen Biindel der Pyramidenbahn gelegen. Im unteren
Teile des Bulbus, in der Hohe der Kerne des Pneumogastricus und
des Hypoglossus nehmen die Fasem des Phonationsbiindels eine
mediate Richtung, nach der Raphe zu, und endigen damit, sich in
bogenformige Fasem im Stratum interolivare umzuwandeln. Dcch
ist dies Biindel wirklich das Biindel der Aphasie ? Flechsig hatte
geleugnet, daB die F* Projektionsfasem besitze: Dijirine hat hin-
gegen nachgewiesen, daB die F s wohl Projektionsfasem, aber keine
Kapselfasern besitze, da die der Verletzung derF # folgenden herab-
steigenden Degeneraticnen am Thalamus aufhoren ( Ftaenkl , Onuf
und Mdhaitn). Das Hoche-Monakounche Biindel ware nur das Biindel
des Operculum Rclandicum (d. h. das Hypoglossusbiindel), und
wollte man diesem Biindel die Funktion eines wirklichen
aphasischen Biindels beanspruchen, so ware die Ursache der
Aphasie selbst nur in den Verletzungen des unteren Drittels der
C. a. zu suchen.
LeidermuB man zugeben, daB sich bei der motorischenAphasie
gewohnlich die Verletzungen auch des Operculum frontale mit den
Lasionen der F a oder der Zona lenticularis vereinigen; ja es ist
bis heute ncch kein eimiger Fall von nicht komplizierter
(d. h. ohne Parese des Facialis und Hyplossus) motorischer
Aphasie beschrieben, die von isolierter Verletzung des ent-
sprechenden Sprachgebietes abhangt. Im allgemeinen sind der
Lemniscus superficialis und medialis die beiden Gebilde, die bisher
in den Fallen von motorischer Aphasie resp. Dysarthrie degeneriert
oder verletzt angetrcffen wurden. Ebenso ist es sicher, wie einige
von mir veroffentlichten Befunde (32) beweisen, daB die Nerven-
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unserer Kenntnis der Aphasielehre.
173
zallen dee rechten Hypoglossuskemes verandert (atrophisch) sind,
sowohl bei den von schwerer rechter Facio-lingu al-rarese ohne
motorieche Aphasie befallenen Patienten, ale auch bei den von
beiden Syndromen Befallenen. Dies wurde beweisen, daB wenigstens
dieaelben Nervenzellen dee Hypoglossuskemes, aus dem die zu den
Bewegungen der Zunge bestimmten Fasem entspringen, so wo hi
zum Sprecben ale zur Verrichtung der anderen (niedrigen) Funk-
tionen dieses Organs dienen.
Zur sensorischen Aphasie iibergehend, gestatten uns die bisher
erhobenen Befunde zu behaupten, 1. daB das Gebiet, dessen Zer-
storung, wenn auch nur voriibergend AnlaB zu dieser Form von
Aphasie geben kann, sehr ausgedehnt ist und das ganze von den
binteren Aesten der Art. Sylvii versorgte Gebiet umfaBt, namlich das
hintere Drittel der T 1 , die T*, T 3 , die Gyri temper, transversi, die
Gyri (sub) angularis und supramarginalis; 2. daB eine dauemde sen-
sorische Aphasie nicht ohne die gleichzeitige Verletzung links, wenig-
sten der T 1 und des Gyrus t emp, transversus posterior von Heschl
{Wernicke&c\\o Kemzone — Monakow) bestehen kann; und je mehr
mansich von diesem zentralenPunkteentfemt,um so mehr neigt die
sensorische Aphasie dazu, zu verschwinden. DaB ein auf den ganzen
Gyrus temporalis transversus ausgedehnter malazischer JJefekt
immer (der Annahme Quensels zuwider) eine dauemde sensorische
Aphasie verursacht, beweist der Fall von Agostini (s. unten), in
welchem die vollstandige Verletzung links der Gyrus temporalis
transversus und der oberen Flache des T 1 wahrend 10 Jahren
keine wahmehmbare, sensorische aphasische Storung verursacht
hatte. Da, wo sich die Zerstorung genannter Kemzone bestfitigt,
besteht der dauemde Symptomenkomplex, welcher die sensorisch
aphasische Storung bildet, in Schreibstorungen (Fehler,Verschreiben,
Verlangsamung des Schreibens), leichten Irrtum im Lesen, Ver-
drehung der Worte, der Silben (Paraphasien), und Wortamnesien.
Sind aber die Krankheitsherde vaskul&ren Ursprungs, so bemerkt
man auch eine bedeutende Herabsetzung der geistigen Fahigkeiten,
doch ist es nicht sicher, ob dies von den lokalen [Dementia aphasica,
Bianchis (4)] oder von anderen begleitenden Faktoren (Arterio-
sklerose, multiple Herde, Himhautverletzungen) abh&ngt. Gerade
vor kurzem habe ich (34) den Fall eines Patienten, reif an Jahren,
mit vollstandiger sense rischer Aphasie (Verletzung des linken
Schlafenlappens) beobachtet, dessen Verhalten keine wahmehm-
baren Symptome einer Geistesschw&che bekundete,
Seit den epochemachenden Untersuchungen von Wernicke
und Licktheim ist auch bekannt, daB auBer der klassischen Fo rm der
partiellen sensorischen Aphasie, klinische Krankheitsbilder be-
schrieben wurden, fiir welche die Lasion entweder des subkortikalen
Markes, oder der einer nicht ganz topographisch bestimmten tiefen,
unter der Wernicke schen Zone liegenden Himsubstanz angenommen
wurde; es wurde daher die erste unter dem Namen: sensorische
subkortikale (perzeptive oder reine) Aphasie gekennzeichnet,
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174
Mingazzini, Ueber den gegenwartigen Stand
wahrend die letztere sensorische assoziative Aphasie (oder auch
transkortikale) benannt wurden. Die Autonomie dieser beiden
Formen verliert jedoch immer mehr Boden, da sie von den moisten
Forschern heute als Uebergangsformen der vollstandigen sensori-
schen Aphasie betrachtet werden. In der Tat, in den Fallen
von (subkortikaler) perzeptiver sensorischer Aphasie, die bisher
bekannt waren, handelte es sich um ein klinisches Bild, das
sehr oft sich nach zwei apoplektischen Insulten entwickelt hatte,
und was noch mehr ausmacht, [Veraguth (66), Pick (53),
Serieux (62), Liepmann (30), Hitzig, Oehuchten (21), Bonvicini (5)],
es wurden die Herde nie an einer genau konstanten Stelle
gefunden. AuBerdem konnten einige Patienten, bei denen die
subkortikale Substanz des Lobus temporalis mehr oder weniger
verletzt war, die Worte wiederholen. Zuweilen scheint es, daB der
Symptomenkomplex der perzeptiven sensorischen Aphasie manch-
mal von Verletzungen des peripheren Gehorapparates (Labyrinth)
abhangig gewesen sei.
Gleiches sage man beziiglich der assoziativen sensorischen
Aphasie. Auch hier hat man bemerkt, daB sich der meist fast stets
sehr ausgedehnte Herd unterhalb des Lobus temporalis sin. befand,
doch wechselte der Sitz von Fall zu Fall. Ja, mankann behaupten,
daB es sich in den Fallen von assoziativer sensorischer Aphasie,
um ausgedehnte Erweichungsherde handelte, die bald links im
Marke des Gyrus angularis (Pick), oder im Gyrus angularis und im
Splenium [ Monakow (39)], bald in der Insula [ Touche (65)], im Marke
des Gyrus temporalis secundus [ Mahairn (45)], manchmal im tiefen
Teile des Gyrus temporalis primus, im Gyrus supramarginalis
(Heubner), oder im vorderen Teile des Gyrus lobus temporalis
[Oordinier (20)] den Sitz hatten, ja sogar Falle von Tumor des linken
Corpus striatum [Monakow] verbunden mit Arteriosklerose zeigte das
Bild. In einem meiner Falle waren (36) links der Gyrus insulae
posterior, die Marksubstanz die der hinteren Halfte des Gyrus
supramarginalis entspricht, und ein Teil des Lobulus pariet. inf.
sowie die Basis des postdorsalen Teiles der Gyrus temp. inf. et
medius befallen. In fast samtlichen vorhergehenden Fallen war
nicht nur die Marksubstanz (der kurz zuvor erwahnten Zone) be-
falien, sondem auch die Hirnrinde. Mit anderen Worten: man kann
als festgestellt annehmen, daB die assoziative sensorische Aphasie
von einer Lasion in der ausgedehnten Zone des hinteren Gebietes
der Aphasie (Marksubstanz der beiden ersten Schlafenwindungert
des Gyrus supramarginalis und angularis) und in einer solchen
Tiefe, daB die mittleren und langen Assoziationsfasem des linken
Lobus temporalis wie auch die Balkenfasern unterbrochen werden,
abhangig ist. Monakow behauptet, daB eine andere Bedingung zur
Entwicklung der in Bede stehenden Aphasie notig sei, nanuich, daB
in der rechten Hemisphere (keine groben) histopathologische
Verfinderungen bestehen, ja da wo diese pathologisch-anatomischen
Bedingungen bleiben, gehe dann die transkortik assoziative* oder
in vollst&ndige sensorische Aphasie iiberein: Ausspruch, der, wie
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unserer Kenntnis der Aphasielehre.
175
mir scheint, keinen apodiktischen Wert haben kann, denn es ist
nicht immer das wirkliche Vorhandensein anderer, selbst feiner Ver-
letzungen, auBerhalb des makroskopischen Herdes, nachgewiesen
worden.
Auf einen Punkt miissen wir unsere Aufmerksamkeit richten.
Wie in der Tat aus meiner analytischen Studie der bisher
untersuchten Falle hervorgeht, sind die echten Assoziations-
aphasien (sowobl die sensoriscben wie die motorischen), sehr
selten. Ihr ist sogar zu entnehmen, daB, je mehr der Herd dazu
neigt, von der verbo - akustischen Zone (Rinde) nach dem
entsprechenden (Mark) Zentrum zu ziehen, hauptsachlich die
Assoziationsbahnen zu verletzen, es um so schwerer, ist, nicht
bloB den Sinn der gehorten Worte (assoziative - sensorische
Aphasie) zu verstehen, sondern auch sich einen Begriif von den
Gegenstanden zu bilden, obwohl die zur Funktion der Wortwieder-
holung notwendigen Babnen samtlich intakt bleiben. Dehnt sich
hingegen der Herd nach der Insel aus, so entsteht das Bild der
sogenannten (transkortikalen) motorischen Assoziationsaphasie;
wahrend der vom Nervus acusticus iibergeleitete sensorische Reiz,
durch die Funktion der intakten Subcortex zur Wortwieder-
holung AnlaB geben kann, bildet der KrankheitsprozeB hingegen
ein Hmdernis im Erwecken derselben, besonders in der logischen
und grammatikalischen Ordnung, wie auch in der Freiheit der
Wahl. Bisweilen kann es der Fall sein, daB eine etwas
ausgedehnte Zerstorung besteht, die nicht so sehr die Zone der
Assoziationsbahnen mit den entsprechenden Zentren (der moto¬
rischen oder der semorischenAphasie), als den Beriihrungspunkt der
Gebiete der gehorten und ausgesprochenen Worte befallt; dies sind
die ziemlich haufigen ,,gemischten“ Falle der Assoziationsaphasie,
diesowohl das Wortverstandnis, als das spontane Sprechen befallen;
und in diesem Falle ist die Vorstellung der Begnffsattribute ver-
haltnismaBig besser erhalten. Wie also infolge einer Zerstorung
(Erweichung) der Ketten, welche die Rindenelemente mit der verbo-
akustischen Zone verbinden, die Fahigkeit, den Sinn eines Wortes
zu begreifen, ausbleibt, so kann dieser Mangel auch von der Atrophie
der Elemente (diffuse Atrophie des Lobus frontalis) abhangen, da
die noch intakte Assoziation der verboakustischen Symbole nicht
mehr in der Hirnrinde das Bild des Gegenstandes findet. Indessen
ist es angebracht, hervorzuheben, daB aus dem vorderenTeile dieser
Assoziationsgegend subkortikale Neurone entspringen, die zum
vorderen Sprachgebiete (Insula ant., F >t dem unteren Teile der ca)
ziehen und die gelaufige Sprache ermoglichen. So erklart sich auch,
wie ein Zerstorungsherd, der die verboakustische Zone befallt,
auf die Begriffszone und folglich auf die verbomotorische, wie aus
dem Schema der Fig. 15 ersichtlich, eine Riickwirkung ausiiben kann.
♦ Je mehr hingegen ein solcher Herd dazu neigt, von der Peripherie
(Rinde) zum Zentrum zu ziehen, namlich von der verboakustischen
Zone zum Zentrum dor Hemisphere, und je mehr Neigung er auf-
weist, die transkortikalen Bahnen zu verletzen, d. h. die vorwiegend
Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 3. 12
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Mingazzini, Ueber den gegenw&rtigen Stand
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assoziativen Bahnen, um so schwieriger wird es sein, nicht blofi den
Sinn der gehorten Worte zu verstehen, sondem auch sich einen Be-
griff der Gegenstande zu bilden, obwohl samtliche, zum Prozesse
der Wortwiederholung notigen Bahnen intakt bleiben (Fig. 15).
Wenn aber der (subkortikale) Herd sich vor der Insel ausdehnt,
so begreift man, wie im allgemeinen unter diesen Umstanden das
Bild der sogenannten transkortikalen motorischen Aphasie auftritt.
Wahrend in derTat, wie oben gesagt, der durch denNervus acusticus
iibergeleitete sensorischeReiz mittels derFunktion dersubkortikalen
Bahnen zur Wiederholung der Worte AnlaB geben kann, verursacht
derKrankheitsherd einHmdemis im Erwecken derselben, besonders
beziiglich der logischen und grammatikalischen Anordnung, so wie
auch in der Freiheit der Wahl der Worte. Zuweilen kann es endlich der
Fall sein, daB eine etwas ausgedehnt eZerstorung besteht, die nicht so
sehr die Zone der Assoziationsbahn (der Worte) als den Beriihrungs-
punkt betrifft, der zwischen ihr und dem Gebiete besteht, in welchem
die Bilder der gehorten und gesprochenen Worte erwachen: dies
sind die Falle von transkortikaler Aphasie, in denen Storungen so-
wohl des Wortverstandnis als der spontanen Sprache bestehen;
hier sind die Begriffsattribute verhiltnismafiig besser erhalten.
Diese, von K. Goldstein (22) verteidigte Theorie, die mir sehr
rationell erscheint, unterscheidet sich von jener Moutiers (49) da-
durch, daB sie die Notwendigkeit entsprechender Erinnerungsbilder
anerkennt, die zusammen mit den Wortbildem vor das BewuBt-
sein treten, von letzteren aber keinen wesentlichen Teil bilden.
Diese Erinnerungsbilder stellen die Bahn dar, die den zentralen
Sprachapparat mit der auBeren Welt vereinigt. In derselben sind
Assoziationskomplexe aneinandergereiht, namlich verbo-motori-
sche und sensorische Bilder. Deshalb, nach Goldstein, horen wir
nicht die einz einen Tone, welche akustisch ein Wort bilden, hin-
gegen aber eine einzige tonale Funktion, die sich in uns wie ein
verwickeltes und doch einzigds akustisches Erkennen abspielt;
und dies trifft gerade zu, wed das neue Erkennen sich in einem
durch vorheriges Erkennen gebildeten und akustisch als ein Ganzes
erkannten Assoziationskomplex entwickelt.
Fig. 15.
Schemaiische DarsteUung der
Herde, welche die associative
(tranekortikale) und die per-
zeptive Form der sensorischen
Aphasie, wie auch die trans-
kortikale motorische Aphasie her-
vorrufen.
S =Area verboacustica; M «*
Area vorbomotoria; B = Him*
rinde, in welcher sich die Be* .
griffe bilden (sogenanntes Be*
griffszentrum); ss subkorti¬
kale verbosensorische Bahn;
sm = subkortikale verbomotori*
sche Bahn.
Go i igle
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Ufitaeror Kermtuk Aet Apba.*fcM\re,
Die in der verbo»kust^^e X v^rboivkw^tk^hfeu
Beiztuigen worden tint irontAlep Rihde li geleit#t* >v*> <de sicli m& tien Be-
griffsbildern ftwo«3«jv Xkim kom?kte,n 8pr^riiHn kehrt dm l&driiisbild
(der KompJexe dea ho goiormt^n BiJttes) ssuriick und inti, m V in Vei>
bindung imfc der Hahn die es zpm Gebfete tier verbomptoriicfee^ Ed.~
grwnme fti&fftv '.; : : .'•>,• : ;-‘ t> •
Bin Herd in.** uni <kkr B*hn SB' {^.morfecb.r : ■ fcrttrt.«knrtifci4k? ApJnwde
(aensorische m\ sif*sn$#n : Sinn«)3 vxsehw^rt Ufa A&sodaUb**., d*r • -’tfdSfe
akustischeii Biidet-'-mii . den fegfiffm bder erschxvert si* mid; storkgiekh*
iseitig &ueh die Biklcmg der Begtiffe. Em Herd in h, m dor M*rk*ub*t&nz
der verbomotorischen Zone, ey^bwrt, din geunti^ gian^ntik»iisriio Velar-
beitung tier Worn? umi dire korr^kte JkiUenMge?,; e$* ftdgt damn* erne
motorische, ^rvwgend ^sozjaf fy* Ap>wk (timisk^rtUmle motoribsrh#
Aphasie.) Bin Beni, in c Verkin eieaclaeiiig das *ogene,iixd e Zexi&rum dot
Begriffsverttrbeit.urtg wfe *uek die verboafoi^tfeeh^ tmd v^rbcwxioior^eit*
Region; in di&wtx i Falk mnl der Bra-iike die Zekhen- der *ogen>MmteiM ge-
taischten tTam&Prtik&len Apba^k de meh? iirh <k?r Herd : ' n
rMh&rt r uzp m ro^Jhr r^etn :; ^h : ••■• ftwis^ ■
kiVriatokd); sensorkoken Apba-sie jsnen der s&ns^riacbem da
w! ^Uid, di*
Wbn# dien&A* ^C'» - . ., f „
Boim 8* tidium der A^exi^ t&nsapiianien i*f. nk ht *u nmgehen.
•iteii• dnatdnu^hea Grand JHfc 4te Srfceheimmg ^d'or.>chen, daU os
dem Kjr&nken goHngt f . Worte m Tviedetliubn.;• uber aicht ftponiaivzu
i=prechen, Jiimge Imben beluuiptet, daB die Gyn toinporaJi^ trana-
vnrbi sur. W^ferhi*dbag- : .4i)t ; -Wfert4 notweiidig aciDa (Qtimsei,
Betti).] d&M dom, ^m pv^i^ffeiUlicto Fall
Agostinis, in weldiem di.oWe 'Wimiuiigwi }iak> waren, urui
mttzd&m ^edete Pntl^dlgnf^ di^ Worte noeh be^er
Fall Agostini \t\n^ Patier^ wurde tm Alter von 53 Jahren
(t l Jahre vor dein Torle) von einer recditen Pivroae \md Isiebten Sprach-
Fig. 16.
Fall Agoatini,
Go gle
;r.;.r. v,v!Original from
NPi^RSFtY OF MICHIGAN
m
M I n z z i , t r eter ddn gsegenwirtigen Stand
niorungeti hetv\tk*m: %%ch 10 Jahren mud© eine volletfendige Untersu chung
vorgenomtnsft (Patient hafcte ein^ Verbrochen begangen), behufs Begiit-
aehtung, elite lekshlfc Spastische Parese und Hypoasthesi©
(die .sterepgrtc^il^^ ^jinbc-gnffen ) feet* Patient verstaud vqU-
?bm sa^te; er spraeh gelfeufig ohne trgeiid eiaen para-
nK^TtivTiAfi TiWKtivV" ? ■ tyuSil tn iUrr* III I rrn trj r*litrv -fi nil *a*4
Fig. 17.
FaH (s. Fig. Ui). L. Herd* dk* .■Attgstruhlung:
d©r F: 3 bi>$rc$md* bi^ at< d*& L Futamen.
SekMion': Xn- 'd#r ; OtoflUeha derUntea Gipfthirrdiem nimrni
Gyrus frontalis -i^c^jrtdns^■. die dixtob w*£- konsistenten Bind**
gewebe atisgaktaudet* Hohle erseisi am<L E’men. anderen Substangverkist,
in Gaatalt *iifoer ;gro&*& HdbleV Jindet m*n f dem \ r O£derert Am des Gyrus
wpramargin^its und <ies ftnfi^ende* Teifes der en%$pre<&$nd, die voil-,
atfendig vei^ithunj nd^n smd, Em to lotvrreres eingeCiUtrt m dringfc
u»goffe.hv H orn tier hmeun so cjtaB-.os fastdieWand dm lateimlen Tnntaikels
beriihrt. Emeu kleinen Su'b&tan^verhist innamt man ebenffetis am oberea
Toil© des Gyrus frontalis i^eendeasv vordem. Genu siipeiius (desseJben), wahr.
Bel einem Fmntals^hnitt dumb den vbrderen -Sumt'any.yerlust \ Fig. 17 )■
bernerkt »mn links einsn fceilfdrmigen, von &u0eci ix&Vh mnerx gerichteten
s&mtliobe Atiaatrfelilu^gen der Pars opercular** der
F, unci in den/iiitmittfelbar dM&left S«xhiut.ten die Ausstraidnngen der
Pars inferior do* Gyrus praeoentmlis betriflts Obeli reicht er hva m die N&he
dies ventmiaterai* :/! Randes dor inner on Kapsel, samt liehe Baikenaua*
strahlungen vers«3.hjcinend, ventral w&rfcs endigt ev im Kaiir&is Anterior [vertk>*)
fiss. SylVil# ins. Idnern an tlm Put amen, auflati an die Insula (er*
wMinte Hbhfe steht distal vrferts La keiiier VerbfndvitJ^ snif
Be cm Anlegen eines Frontalsehaittes durch das vordereDrittel dor
dktalen Holxie I Fig. 16) sieM man, wieiinks der Ventral© Tei'1 der P< Uftd vie»
da* Corpus genie ill. lateral© Bind in nui ihr Voldmen redu^iert. Id
durcb die distale E .viremto t des (katidalort) Sub$ftanssyotlust es
Gocgle
Keiuttnu* der Apbutuetebre. 179
/.*•' • . v l' i'i' 1 '' ’’*• \ ’ . *'■* % v j ■ *' Tj •?■ a > . ' * ->■•' “v : '
^ ’ " s ‘ \ ' * ' \ h ' > : V >■ • /■ • .• ,.
19) ausgefiihrf^iabemerkf man link* einen Subatara-
it des Mark de* I*ibul*i$ parietaii* inferior und re*p ciea die obere
ft
L/ v-ij
:•; **•/*.; J
Fig* 18.
Fail 4 #<>*£w. Herd im 1. g. supramarglnalis (k. Fig, 17),
Lippo des Gyrus aagul&ris bikiendon Teilea: der domilt* Rand des Gyrus
terapo?&3fe Recundus bit teilweiae zerst ort.
Fail Agoetmu Herd isxi fcappen des g. a/igularis,
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y •pffgin^kfrom
RSlPf OF Ml
180 Min g a s*?.i n i , Ikber den gogonwiMigen Stand
Dieser Fall beweiKt; da B die Zeratonirig dor gg. -fompoiades
tTansrersi und dos toveteveh Teiies der Gaps. ejctoma uttd dor Caps,
interna (wenigsteus dfes v'orderexi Segmented) links die Wieder-
hohmg der Wort© meld hinder!.
Sehr beweteeml ht such foigender (nooh imveroffentlicbter)
Fall dm :Dr.,. Gia^n^M. V.^ ; ' \
Fall Giannuii. patient An-
alphabet, dor 4 Jahre bindureb.
best antigen aphasischen
©men
ff^r SjyiAp^omenkoiopJex auiww* <i h.
ef Versteid alio an ihn gen'chtblen
Frozen. u v ar fabig, jedes Wort* ent •
toeder genau, odor outer pampba-
skulwn I’Vhlerp, zn ^iederhoten,
• ' . ir •. .npQUt&n. aber gekng ee ifam rticht*
trgvad Wort tfu 8agen; nberdfea
’ litt er an $ehagk>8k
Bek der Sekiion land man
•;... links (Fig. *J0) dt*A Substaiizver-
dereine betraf dk Pat^ ©p^r-
l jH ^fp ctrfaris der F» und fast das gauze
. - . Op^rcukipj rolandknm, dk Itegio
• wk freilassefcd; die
r : ‘ ‘ ivreite befcmt den Gyros medius
insulae* ften mittkren 1VB das
JIS^HUp Claustrwm. der Capsula *?^terni
iijrncl interaa his £ur auikren. Grenge.
dm der dritte zerstbrt<e
ften Canons, den oeeipiF
- and einen Tail des Lobulu^
>^©t.%arafao;dio F&bigkeifc
. nit hi der spontanea Bpsache,
sondern dor Wort^icdorholimg.
erfeiltorj, shenso bardie Regie
pr&elemWcnikms in.t&fetv
Man Tergleiche nun diese
v •; 3 joist besebriebenen Falte:
> omer fast reinon
J” . / roQtaiisciieii Aph&sie- (giite
§»7 Sehrifl. innere Sprache erhal*
fen,; dor spontaiien
Spntche und dor Wiederholung
dorWorte), den., von mir iniAn-
fange der Arbeit angefiihrten;
idnrwitrrdfe
zerkurt und die Hirnrinde in
•b to der taXt ,nwkpn©tederPatientkein
^ art A«^pr60h«».. Das Gegen-
uft.oirow>o^iiK«. iMmrn . • i % /.
' oiiie ptfcitrr\*..fta!r; A&tid^runa .U«*r- ^ •^0 '-e A(jOgttlii,
.Ik'igg.l’i—1 y) in weJchem taks
dieOapsuift «*xt^rna.- ditO'lauKf riiifl iu«i dxeGyrt iemporaiw traasvem
verfetz# -waryo f reeiito
Gocgle
181
imserer Kezmtms der AjOiaisiefohrp.
Regio praelenticularis war intakt und Patient eprach gut (epontan
tmd wfed&rhplend die Worte), Im Falle Gian,m<iis {transkottikale
mbtonsebe Apfeasie) endlieh, waren Fig, §Q die Regia praelenti 4
cuiaris und djua Gyri temporales Iransrerss Ur.df» inlsdtt, die ganze
2$egio opereukris war xeraiort, das insulare und aubinsulare Gebiot
wftien quer durehtreont; detn PatiGntengeiaiig es aber aioht spoBtan,
aaeh nur era Wort auszusprecheh, walrrettd ©r die Worte gut wieder-
hoite. Hierauseutspringt dieFolgerung, l dab rljeAnnahme, daB die
Integritat der OapsoJa externa jwie Kit fit v. Maytndorj meint) fur
die Wort wiederhoiufig aotwendjg sei, nichi anfrecht. erhaltenwerdoa
kann, denrt irj einem Falls, in welebcm eino line&te JXerstbruOjg
der linken Fttbinsuliifen Gegettdbe&tand. war sowoh't die ganze
apootan© Spmehe, wie die Wkdofholung der Wort© gut erfeakan
(Httnidgm- idfa) , & daft die Tritegritat der Gyri temporal!* t ranaversi
(Heschl) zuf Wiederholung des ausgesprcxjheaen Worte© nicht
cotwendig ist, wie es Qmnael imd Betti meinen, denn in den er-
waiuiten Fallen, in welehen dies© Wimlungen zerstort waren, war;
Ftp. M,
Fall CosMrti'in*. i^op^= P&r> opore> g. ff\ tertu
wtildie links, vf-fc $j; vdibt^ruiig degen erieit 1st
die Wiederholung trotzdoru robglich, 3. daB man, faUs die Wieder¬
holung der Worte moglich ist, die Regio supra - premiers! kukris
ein . iatakt fmtkt, Ee bjteibt fplgkeh lelder npeh eiu Bill sol, welches
die fiir die Wiederholung der Worte beat iiuinfe Balm sei,
DaB jedoch der SchluB, »ti dem ieh gelangt bin, einige Aus-
flaknien erleiden barm, bowetot der (higher noeh unveroffonfliehte)
Fall Yon Ooataniini, der in meinem Laboratorinm stndiert wurde.
182 M i n g a zti il l * Ueber den gegenwurtigen Stand
;
Fail Coiiattftm (unverof feniiiehi). Pananelh, 65 J&bre &£k
Anarartese uabekaniit. Mftn nur, da£ Patient se»it 1^06 6?«rimgea
dementiaien Ckarakters aufweiet* die sich vor alien* >o sfer TIfct&liigkei$ f
die BefehJe zu veratehen beku&den. Die objektive Untersuchung ergibf :.
Leicbte Xnsuffmem: de* writer* ri VIZ EVwas beschraokte und langsatna
Bewgimgen der Oiiedar, melnvreohts; pazetiseb.spastisoher Gang; tiefe
IWlexe JfeWiaH. Pupillen > Dichtreaktion vorhanden. Keine Sehluckr
fttomugen, .Heiniaij<>|>^ia bomonima lateralis dext. Beim spontanea
Fig .22.
Fall Goftatiiinii gtt. « gg. tempor. transv.
fast vollstSvdig versehwvmdea.
Neigung *£ur Ed>oJftUe and tfur Perseveration: fast volktandtge Keden:
BeschrankuT^ de» Wortaoharzefe m\t ParaphasierL Ausgepr>e Wort*
•t&uhft&it. Kom<kte Wit^lerhoiung -aeibst schwerer und ]anger Worte.
Kwz* a&mtlkthe Haupteharaktere der transkortikafen seasomehen
Aphaeie, j.'\* . ' : ■"/ ;; \ % .
Sektion Link* Grobbirnliemisphare: Einveiv\h\jng (^H€iren Datunia) im
nuttleren Teiie ties Lnbiis frontalk; betfalien to geirade der miitiere Teil der
Fj—F 4 —P, (d&BVc<rde<ra Emie des Striatum riplfregriffep (FfgV 81). T, iat
sehr redujfJtert. 3>er und vordere Tvdi tie# T t rixsorbiert (Fig. 22k
Der Gyru$ oooipf falls EC« < der i*obulu^ <fer Zobutue ling, der ndtilere
Toil und mi Ted de* T, rind scum groSct* Ted t^otbkH (Kg.-23^24). Die
Gyri temporales triMBfcverri sklerorieffc
jmdwanrgePftsernder entsprecJiondeaMark^cksensindorhttKen (Fig. 22—23).
3>& such hifer der Patient die Worte wiockrholenkornite und
dieGyri tempprales tramvem -nieht mohr in der Lag# waxen, die
akueiisehen Eindjriidce m fcken, soM es?klar.''da8 die Wfadetholung
der Worie ntcht. “^r^rwirklidHt- wird. Mim . kornite
zum
jedoch hier bdmerken, d&ii die^ Rogio prafeieniiciilariB mi
l
r
n .. »l*r
v^s r J& v ^^-' ^*T' •
H^xvr '*i».
)\
d,:»:,.-oi,GO gle
unserex KenotoniatJ« Aphaaidchr*:-. I S3
gmfian Teil verletzt war, lin'd konnte Patient die Worte
wiederhoJen, Dies wurde jtowejb&nV cted zuweiteu auch dutch die
Kegio supra — 1st, was im Eiakknge
etcht JGQiit deal, was welter oben herveigehoben wurde, namlich, dad
die fiponfcahe Spraehe sicb in ranigen Fallen dureb das reehte Gebiet
entiaden kann.
Fig. 23.
Fell CoBtarUini (s. Figg. 21-
Naob alledein, was bisber dargelegt wurde.. miifile ©s sohoinen
dafi das Vorhandenwiu einer mehr odor wenigor a msohriebenen
ram Verst-Sndnia des Sinnes der Wort© bestuanite Hemispiihren-
zone nicbt in Zweifel gessogen werden konnte. Dud dock iat. diem
nicht so. Momkow hat gerade bebauptet, dab eine Lokaiisrerung
derakastischen Eindrucke (verboakaKtisefae Zone) nor aiigemraunen
werden kann, wenn man annimmt. daii das erst e Register der
akustisehen Wellen — jener namlich, welch© fur fcurze Zeit bleiben
— in einer beschrankten Zone der Spracbregioi* atattfinde. Letzfcero
w&i» fur die Orientierungshewogangen des Kopfes and der Augon
und zu der unmittelbaren Enlfalfcung der Frkparationsarbeit fiir
eine weit.ero zent.rale IVifferenzienmg der akustischeti Eindracke
lessen
notig, Die weiberb Adsarheitung de» Bfozessesv idfolged*
dag urspriingliche akwstiache Bikl (die fortgegetzte Registriervmg)
sich in ein Wortzeiohen umbildet. als ’Mittal dee 'YerstS-ndniases
(Symbol oder sekyndareldeniifikatIon)dander hingegea (Momkou)
nicht in der OehorsHpbiire. gondern in derganzen Gro&lwrnrindc sl at t.
Googl
le
Original frc-rr
184 Mingiiiaini, Ueber dongegonwartigeu Stand
Der Begriff eines Gegenstaudes, die Revocation dos vorfe-
akugtischeiv Symbols lmd des entsprochenden verbomoto-
•rischen Bildes stellon io der Tat etaen fast einzigen ProzoS
dar. Aus der GroBhimrinde kommende Neuronenketten, die zur
Yereimgung und Association der aus der verboakustiecben Zone
konitnenden Ausstrahlungeii {jestiiiinit iind- nehnien hieran tail;
i,'
mSmtg
w
Fig. 34.
Fali C'DAtantini (s. Figp. 21—23).
was die 8ek.nnd.ftrt*' Identifikat-Jon dea verboak«sti*'chcm Symbols
and. iolglicb don Sitiri des Wortes 7.11 bogteifen ermdgfeht. In deni
Falk* nun 4 in welnhotn cine Hummus von Nebrpiayi durcb eineun
groben Herd zcnndrt wird, is.t , der Meinung Momiymnach. die
Folge ein veriiftltnisnuiliig bestandiger Syniptoraenkoninlex: Diese
Tatsacheft werden auUefdera slots von ciner Femsivnmg der
Neurone (Biawdiisi?), wc*lcijeixidirekt naif, dent Herde assoziiert and,
begleitet. • • gerade Weil diese z.um Ted durofe den KnVnkheit«f>rozeO,
zum Teil durcb die individueUeu Mousenie bediogt ist. bietet sde
vera rider Uo he Komponeirte. Aue der Vereinigung dieser boiden
Beetandteiiewird sich das besowdeiie Kmnkheitf&ild nach der
sensoriscben Aphaeie biJden. Desfaalb diirfen die Symptom© der
senuorischen Apbasie Oidht mil den Grenzen der direktdureh den
Herd verletzton GrnBbimiindo idem ifiy.iert werdeu. In anderen
Worten, was, nach Monakow, Inn der senaoriscben Aphasie baupt-
sachlich verier zt ist, si rid die im Bprachgebiele loka Bsjbrtsn Nervbag-
apparate die daxii diejien, das VetKt&fidms der VVorte zu ertnog-
unserer Kenntnia der Aphasielehre.
185
lichen, n&mlich die Assoziationsfasem. Hier verschwinden nicht
die „mnestischen Bilder der Wortlaute“, sondem nur die Fahigkeit,
sie zu entfemen oder sie in der ersten Rindenzone, in welche die
zentrale akustische Ausstrahlung dringt, zur Entfaltung zu bringen.
DaB schon ein einseitiger (linker) Herd dieser ,,Fahigkeit der Ent-
fesselung“ schwer schaden muB, ist leicht zu begreifen, wenn man
bedenkt, daB der entsprechende Apparat auf beiden Seiten gelegen
ist (die Gehorssphare steht mit den primaren akustischen Zentren
beider Seiten in Verbindung) obwohl er beiderseits nicht in gleicher
Weise von den beiden Hemisphfiren beniitzt wird. Wie man sieht,
neigt diese Theorie dahin, der verboakustisohen Zone jede
psychische Bedeutung zu entziehen, indem sie dieselbe auf das
Niveau eines einfachen Vereinigungsgebietes herabsetzt. Mir
scheint es nun, daB dies von einem allgemeinen Standpunkte aus
angenommen werden kann; insofern als die Bedeutung des Sinnes
des Wortes um so leichter und schneller begriffen wird, je aus-
gedehnter die Beteiligung der hierzu notigen Elemente (Auf-
merksamkeit, Nachdenken, Reproduktion der Erinnerungen usw.)
ist. Hier muB noch eines anderen Elemente Rechnung getragen
werden, welches bei uns ganz besonders Bianchi hervorgehoben
hat, namlich der vor der Himlasion, der Urheberin der Aphasie,
vorhandenen Kultur des Patienten. Denn je ausgedehnter die Asso-
ziationen zwischen einem Worte und den anderen Bildern (besonders
der sensorischen) sind, um so schwerer werden die Folgen sein,
beziiglich des Verstandnisses, nicht der Worte, sondem des Sinnes.
Ob sich nun der psychische Punkt des Wiedererkennens, wie die
meisten annehmen, in der Wernicke&chen Zone, d. h. an der Be-
riihrungssteUe zwischen den Neuronen, den Tragem der verbo-
akustischen Eindriicke und den sogenannten Wahrnehmungszonen,
oder an der Stelle, an welcher dieEndneurone oder interassoziativen
Neurone sich in derRinde kreuzen, verwirklicht, istmeinesErachtens
eine etwas transzendentale Frage. Klinisch wenigstens verursachen
die Lobi frontalis und parietalis, wie auch der Hinterhauptlappen
und der untere Teil des Schlafenlappens, falls sie verletzt sind,
sicher keine wahmehmbare Veranderung in der Erkennung des
Sinnes der Worte.
Bei Beriihrung der Fragen, die sich auf den Sitz der sensorischen
Aphasie beziehen, habe ich stets von Fallen gesprochen, in denen die
Wemickesche Zone mehr oder weniger auf einer (der linken) Seite
zerstort war. In der letzten Zeit aber hat man die Aufmerksamkeit
auf die Folgen gerichtet, welche der Zerstorung beider (der rechten
und der linken) Wernickeschen Zonen entspringen. Bastian (7) hat zu
diesem Zwecke vier Krankengeschichten von Patienten zusammen-
gestellt [die Falle Kahler-Pick, Mills, Wernicke und Pick (54)],
die bei der Sektion eine Zerstorung beider Zonen (der rechten
und der linken) der Schlafenlappen, die der Wernickeschen Zone
entsprechen, aufwiesen. Bei alien diesen Kranken war die Wort-
taubheit so vollstandig als moglich, zum Unterschiede von dem,
was in der durch Verletzung der linken Wernickeschen Zone ver-
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186
Mingazzini, Ueber den gegenw&rtigen Stand
ursachten sensorischen Aphasie der Fall ist, in 'welcher derPatient,
wie ich verschiedentlich wahrgenommen habe, stets die F&higkeit
behalt, den Sinn einer ziemlichen Anzahl von Worten zu verstehen.
Von grofier Wichtigkeit ist der von Pick (54) beschriebene Fall, in
welchem Patient nicht in der Lage war, die Bedeutung einiger Worte
zu verstehen, und dennoch war er f&hig, zu reden und in voll-
kommener Weise zu schreiben. Bei der Sektion fand man beide
Schlafenlappen stark atrophiseh und von gelber Farbe (links,
die hintere H&lfte des Gyrus temporalis medius und die Insula).
Die beiden Erweichungen resp. Atrophien waxen nun zu ver-
schiedenen Zeiten entstanden. Nach der ersten, die sich im linken
Schlafenlappen entwickelt hatte, hatte man nicht das geringste
Zeichen einer akustischen Aphasie wahrgenommen; nur als 6 Jahre
sp&ter auch der rechte Schlafenlappen in Erweichung verfiel, ent-
stand eine vollstandige sensorische Aphasie, obwohl die vollst&ndige
F&higkeit zu reden und laut zu lesen fortbestand. Wenn nun nacn
der Zerstorung der Wernickeschen Zone keine wahmehmbaren
Zeichen einer Worttaubheit aufgetreten sind, und wenn sich
letztere vollst&ndig im zweiten Zeitabschnitt, gleich nach der Zer¬
storung des rechten Schlafenlappens, entwickelt hat, so ist die einzige
und wahrscheinlichste Erkl&rung die, daft auch in den rechten
Schl&fenwindungen die verbo-akustischen Bilder registriert sind
und daB die rechte verboakustische Zone mittels der schrftg durch
das Corpus callosum ziehenden Kommissurfasem auf die dritte
Frontalwindung links einwirkt.
Auch ich habe Gelegenheit gehabt, intra vitam (mit Herm
Kollegen Dr. Giannuli) drei von vollst&ndiger sensorischer Aphasie
befallene Patienten zu studieren und spater die Untersuchung der
entsprechenden Gehime anzustellen (37). Die Ergebnisse unserer
Forschungen sind eine unbestreitbare Bestatigung der von Bastion
vertretenen Theorie. Dem Studium derselben entnimmt man
nicht nur, daB die bilaterale Verletzung des verboakustischen
Zentrums eine vollstandige sensorische Aphasie verursacht, sondern
daB sie auch den Wortschatz sehr beschriinkt. Bei den Versuchen,
zu sprechen, geht jede Anstrengung des Patienten (sowohl in der
spontanen Sprache, wie bei derWiederholung) in eine Jargonaphasie,
Oder, besser gesagt, in dasAusstoBen zahlreicher einsilbiger, bisweilen
auch einiger zwei- oder dreisilbiger Worte paraphasischen Charakters
auf, so unterscheidet er sich auch vom vollstandig motorischen
Aphasiker, dem nur zwei oder drei (stereotypische) ein- oder zwei-
silbige Worter zur Verfiigung stehen. Daher scheint der SchluB zu-
l&ssig, daB, wahrend die linke verboakustische Zone mit der GroB-
himrinde zahlreiche und komplizierte Verbindungen eingeht, so daB
die Bedeutung der komplexen Begriffe verstanden werden kann,
mittels der Tatigkeit der Zone selbist, ist das rechte verboakusti¬
sche Zentrum zu mehr elementarer Funktion bestimmt, wie z. B.
dem Erkennen des Sinnes des Namens der konkreten GegenstAnde
und der elementaren Begriffe. DaB iibrigens die Wernickesche Zone
rechts mit der linken zusammenarbeitet und sogar die Funktionen
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unserer Kenntnis der Aphasielehre.
187.
der letzteren iibemehmen kann, wird dadurch bewiesen, daB Ge-
schwiilste, die die gauze Regio temporalis links zerstort haben,.
J Bramwell, Westphal (69), Monakow, Reich u. A.], zu keiner sensori-
schen apbasischen Storung AnlaB gegeben haben. Ich selbst babe
einen Fall von sklerotischer Himatrophie untersucht, welche den
linken Schlaf en-undHinterhauptlappen befallen hatte; und dennocb
hatte Patient stets die Bedeutung der Worte und der Satze ver-
standen, er konnte lesen und die Schrift verstehen. Dies ist ein
anderes wichtiges Argument, welches die Teilnahme beider GroB-
hirnhemispharen an der Sprachfunktion beweist.
Um die andere Storung zu erklaren, die man infolge der
bilateralen Zerstorung der Wernickeschen Zone bemerkt, namlich
die Beduktion der Wortsprache [ Beduschi (31)] bis zum AusstoBen
ein- oder zweisilbiger Worte, ist es notwendig, zu erwagen, daB die
orweiterte Brocasche Zone links zur aufeinanderfolgenden Konghi-
tination der akustischen Silbenengramme (die ibr aus den beiden
■entsprechenden, rechten und linken, Zonen zuflieBen) in die ent-
sprechenden verbo(silben)motorischen Bilder, bestimmt ist. Falls
die Ueberleitung der verbo-akustischen Beizungen wegen der Ver-
letzung der bloBen linken verbo-motorischen Begion aufgehoben,
oder wenigstens erschwert ist, ffthrt die Brocasche Zone immerhin
fort, die Beize von der rechten verboakustischen Zone zu
cmpfangen, die jedoch von geringer Wirksamkeit sein werden, im.
Vergleich zu jenen, die ibr von der links gelegenen verboakustischen
Hauptgegend zugefiihrt wurden. In dieser Lage gplingt es dem
Brocaschen Gebiete nicht, die Bilder der motoriscben Wortkom-
ponente zu koordinieren, und das Besultat wird sein, daB sie Worte
abgibt, die fast ganz voll von paraphasischen Fehlern sind. Werden
dann noch die von dem anderen rechten, verboakustischem Zentrum
kommenden Beize aufgehoben, so bleibt sie von alien den Beizen
(der akustischen Bilder), auf welche sie zu antworten gewohnt war,
abgesperrt, der Patient aber wird in denVersuchenzu sprechen, eine
Menge einsilbiger Worte oder auch Agglutinationen zweier ein-
silbiger Worte, wie ein Kind, anatoBen. AJles dies erklart sich, wenn ;
man annimmt, daB die kindliche Brocasche Zone schon in an-
geborener Weise praformierte kinetische Engramme der Silben
der Worte besitzt und daB es nur der Erziehung der Sprache
gelingt, die Silbenengramme mit dem operkularen Teile des Gyrus
praecentralis zu vereinigen oder, in anderen Worten gesagt, die
inneren (im mnestischen Assoziationsapparat enthaltenen) Buch-
staben- und Silbenbilder mit den Ausfiihrungsapparaten (Oper¬
culum rolandicum), welche die zur Aussprache notigen Gaumen-,
Lippen-undZungenbewegungen hervorbringen sollen, zu assoziieren.
Um aber lange Worte auszusprechen und vor allem, um Satze zu
bilden, bedarf die Brocasche Zone einer extrakinetischenAssoziation,
insofem als die zur Zusammenstellung von Worten und Satzen not-
wendige Vorstellung in der Successio temporis, nicht auf den
optisch-raumlichen, sondem gewohnlich auf den akustischen Bich-
tungen beruht. So erklart es sich, wie bei den Storungen der den
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188
Mingazzini, TJeber den gegenwfirtigen Stand
verboakustischen Engrammen entsprungenen Reize (sensorische
Aphaeie) die Brocasche Zone den (melokinetischen) Buchstaben-
und Silbenschatz bewahrt, wahrend der Wortschatz fehlerhaft
wird (Paraphasien); daher kommt es, daB, wenn die verboakusti-
schen Reize beiderseits fehlen, nur eine (motorische) Entladung von
Silben auftritt. So versteht man auch, wie eine partielle Ver-
letzung der kinetischen Engramme des Wortes (d. h. der Brocoschen
Zone) nicht immer den Mutismus verursacht, wohl aber eine Zer-
stiickelung der Buchstaben und Silben, eine Verlangsamung der
Wortansprache, den Dysarthrien ahnliche, aber nicht identische
Storungen (Pseudodysarthrien, Liepmann).
Bisweilen jedoch kann man nicht bloB eine fast vollstandig
sensorische Aphasie, sondern das Bild einer totalen Aphasie haben,
wenn, wie aus den Beobachtungen Liepmanns und Beduschis (3)
hervorgeht, links die Wernicke sche Zone und der ganze Lobulus
parietalis inferior — die tiefe Marksubstanz einbegriffen — zer-
stort wurden. Die Patienten, bei denen diese Art von Verletzungen
wahrgenommen wurden, verhielten sich so, als waren sie von einer
totalen Aphasie befallen; sie verstanden die Bedeutung einiger
Eragen, ihr Wortschatz war fast auf das Minimum herabgesetzt,
weil er aus einer Reihe zwei- bis dreisilbiger Worte bestand, so
daB sie sich dem Bilde der totalen Aphasie naherten. Um dieses
Syndrom zu erklaren, geniigt es, daran zu erinnem, daB durch die
Verletzung des jetzt erwahnten (temporoparietalen) Gebietes nicht
die verboakustischen Reize leitenden Fasem, sondern die Asso-
ziationsfasern ladiert sind, welche die optischen Vorstellungen (und
vielleicht auch die Taktil- und Sehvorstellungen) der Gegenstande
mit dem Mark, dem hinteren Teile des (linken) Lobulus parietalis
inferior verbinden, wo, hochstwahrscheinlich, sich die Sehfasem, die
auch dem rechten Hinterhauptlappen entstammen, nachdem sie den
Balken durchzogen haben, versammeln. In diesem Falle wird der
mnestische (optisohe) Vorstellungsschatz des Patienten die EinbuBe
eines bedeutenden Teiles von Bildern erfahren. Die nicht mehr
angeregten verboakustischen Bilder werden ihrerseits fast alle
untatig und fclglich auch die Foci der linken Brocoschen Zone,
wahrend die sparlichen verboakustischen Reize (aus der rechten
Wemickeachen Zone) ncr die Silbenbilder der intakten rechten
Brocoschen Zone durch den Balken erwecken konnen.
Wahrend also der groBte Teil der Befunde zur Annahme fiihrt,
daB umschriebene Gebiete, obwohl ohne scharfe Grenzen, bestehen,
die, wenn Bie zerstort sind, motorische oder akustische Aphasie
hervorrufen, stehen die Falle von Wortblindheit, gefolgt von
Obduktionen, scblecht im Einklang mit der Annahme eines fokalen
Punktes, wo zum Verstandnis der Schrift und des Schreibens be-
stimmte Fasem zusammenlaufen. Als diese Zone wurde in der Tat
von einigen ( Dejerine) der Gyrus angularis betrachtet, und von an-
deren (Lewandowski) wurde sie in den hinteren Teil derselben Win-
dung verlegt. Die Untersuchung der lvickenlc sen Serienschnitte der
Gehime der von Wortblindheit befallenen Patienten beweist aber,
daB in diesen Fallen nicht bloB der Fascic. longit-inferior unter-
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unserer Kountpie dor Aphastelelirc. 189
brochon Oder degeneriort war, sondern daB such die optischen Aus-
strahlungen der Fascic> longittid sup, und die oberflScblipJi«n Mark-
iasern des Gyrus angu laris mehr oder wenigor in der Verfetzung Pin-
begriffen waxen. d. h, untereinander auflerst. eng as60iderte ; Biindel
[der Hinterhaupilappeo. der Sehlafetdappen (Area- verlwaeusticfl)
und das Centrum der Augenbewegungen (Gyrus angukris)]. l>as
Verstaodnis do? Simses der grapbisehen Symbols*ist also wahmsbein-
lich Ton der Beteiliguug etnas Erregungskomplexes abivangig, von.
Reizen, dieihr Subeirat in einer ausgedelmfen Hiraoberflaehehaben,
welehe sieh voiH Bobus ccoipitalis zam Lobus temporalis pfid zum
Gj-rue praecontraKs erstrockt. Die Storyng entspringt Imuptstick!ieh
dwni der Verarbeitung der Sobeindrueke iru scg, stereopsychiiieiien
€febfete (Rinde oder LeiBungsbahnen des Lobns temporalis uiid des
Ldbus occipitalis) gesetztep .Hiadermsse, insofern als sie den
anderen afeustiJio*motoriscJieii Komponeiiters der Wort e daa Zu-
sammenarbeR^i^nit den Sehkomp^nentep nicht gestaft et, t M '
Be?.iiglit!)i der Schriftstivniogeij mud man anerkennen, dab das-
Bestehen dor grapbiseb-mokorischeti Riider, wie rfoiruber an-
genommen warden, betttzntage mebr als je bek&rapft wird. Bas
Bestehen der sekundaren, der Wortbbndheit . dureB dr-n■■Veriest
des Sehbxldes der Buchstaben und dor Worte odor der Apbetme
infolge des \ 7 eriustes der motAtisehen Bprachbilder entsprungenen
Agrapbie wird bingegen coo fast aiien Autoren angenontmen.
Die mqdemeo Keanintssn tiher den Meciianismus der mot.orisciion
Apraxie gestatten sogar die Agrapbie ala eine Form von Apraxie
(graphWbe Apraxie I. die in der Gruppe der Apraxien rnehr
odor woniger deutlich ist, zu botmehten. Liepniann( 31) bebauptet
Pig. 2G.
Fall Bravitfo. T 1 T* supmmtirg. und angul.
teiNfcfee reabsorbiert.
aufierdam, dad, obwohl der ranestisch-assoziative Apparat der
Schrift verechieden ist- von dam der Ausfuhrung der Sefarift,
dieselben audit get remit seiii diirfen. und zwar vom topographiscken
Standpmdste aus. Hiemacli ist es wahrscheinlich, dad die (mnemo-
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iTY OF MICHIGAN
Go gle
190
Mi n g ft z x i h i, t5|ber deo gegeawsrtigMi Stand
ItinetisoheH) Engramme tfer iBinclbowijgungeti nicht nut vor uad
hint or dom Gyrus centr&ite -anterior, sondernauek innerhalb dee-
selben gelegen «ind, so d&B das mototisohe Zeatrum der Hand nicht
bloB graphiisch - mnost isch© Element e ent,halt, die Idee »as ▼«-
schisdeaen Teilea (dem verhomoforischem, akustischem and Sell-
gebiet) etttkorwnen, sondern mch. Innervationselemente,Jedenfalls
konnen auch die Heuroner, deren Verietzung die Wortbimdheit und
die Agraphie hervomifen konnen, bald rechts, bald links liegen.
Dies beweiet ein Fail Brave t to* ( 9).
Pali HraveiUt. Hot eioemReehtshtadigen trates twvch eicafii XkU»
links Henaipajese und SprMchztdnmgen ftuf. Patient verst and gttt slltrFragen
und antwortete mit pftrftphsw«<;bej> Fehleru, verst and aher nicht, was «
W, ebenso gelang es rhm nut (<Mie,h beta. Abschreibea) wt-rage unleaeriickir
Zersf-cnmg (bis ztir Resorption) der zwei binteren Drif-ielder Gyri ten»puraies
supretaus und (Fig. 2:; >t. 2(5), eines Totles der P t , <3fa g. supramarg.,
dm Gyrus -angulftn* mat dor Gyri temporalc. 1 ? traiwvetai.
Fig, .
Fall Bravetta. s - links, D «= rftvjitaj; gft..— g. nngulftris
tecbts volJstana'tg reabsorb wi•
Hier fcritfc deutlich bervor, d&0 die rechte Himregion (Gyros
nrigularis). ftereii Eerstbrvjng die Cceedaa.vnrfodrutn und die Agtaphie
hervorgerufen hatie, reeht & lag, tvAhrend die Region der sensorischen
Aphaeie -{T Gyros terap. trank.) fast ausschliefiUch suf det linken
Sette funktionieren muLJte, da- tfer Patient kesrte aph&sisqb seneo-
riscben Stdnmgen atifwieft. Aucfc Monakote und ieh (Si^habenFafle
von Patietiton verbffentKcht, die, trot-z einer zierolich ausgedebnten
Eerstbmng des Xobos temporalis und occipitalis links, korrefcfc
w hreiben und aucb den Sinn dor Wort# verstehen koanten, Allee
dies beweisfc noeh einmal, dall die Zonen, in deiten web die zur Atts-
arbcitimg gSmtlichcr (perzeptiven und ejektfren) Pomen. der
Spraeha bestiiwmten Keurnnen bonzc-ntrieren, in ein onddewelben
Person b&ld'Tebhts tind bald links Ifeasea konnett. •
Google
Bl frar
unserer Kenntiiis der Aphasiek-hrt*. 191
Es ist nicht inuner moglich, die gnostischen Funktionen von
den phasischen zu trennen, wie bereits weiter oben erwahnt wurde.
Auf diese Weise wird es klar, warum, falls einige sensorische, die
Wortbilder anregende Reize gestort werden, hieraus, wenigstens
klinisch, einige besondere klinische Bilder entstehen. Ich deute hier
auf die mit demNamen taktile undoptische Aphasiegekennzeichnet e
Form hin. Einige leugnen das Symptom ,,taktile Aphasie" nicht,
daes bewiesen ist, dab bisweilen bei Intaktsein des Tastsinnes der
Hand es einigen Patienten nicht gelingt, den Namen auf dem Wege
des Gefiihls zu finden; aber sie glauben, daB diese Schwierigkeit
von einer Storung der zentripetalen Gefiihlskomponente und von
ihrer zentralen Verarbeitung abhangen konne: daher. die Un¬
moglichkeit, das entsprechende Wortbild zu finden.
Auf die gleichen Schwierigkeit en stoJit man beziiglich der
Frage vom Bestehen einer optischen Aphasie. In s&mtlichen Fallen,
in denen das Symptom der optischen Aphasie bestand, wurden
auch andere optische zentrale Storungen wahrgenommen, wie z. B.
Hemianopsie, Hemiaehromatopsie, Alexie, Storung der Orientierung
im Raume resp. Sehagnosie und Schwache des zentralen Visus.
Deshalb ist es auch hier schwer zu entscheiden, ob die Ursache
der Schwierigkeit, die Objekte mit ihrem Wertsvmbole zu kenn-
zeichen, von einer mangelhaften Erkennung, Oder von einer
Lasion der zwischen den Sehkomponenten des Gegenstandes und
der zentralen Wortinnervation liegenden Assoziationsfasern (trotz
Erhaltenseins der Erkennung) abhangt. In der Tat ist es
natiirlich, da 13 das Hervorrufen des Wortes, das einen Gegen-
stand bezeichnet, nicht moglich sein wird, wenn entweder die
Fahigkeit, die Attribute des Gegenstandes zu erkennen, ver-
schwunden oder das hervorzurufende Wortbild verletzt ist usw\
Diese Storungen treten in die Gebiete der Agnosien und der
Asymbolien oder in.jenes der eigentlichen Aphasien ein; in ihnen
ist die Unmoglichkeit, den Namen des gesehenen Gegenstandes
hervorzurufen, eine sekundare Erscheinung. Die optische Aphasie
ware also nicht zu einer autonomen Existenz berechtigt, wenn es
nicht Falle gabe, in denen die Unmoglichkeit, den Namen dessen,
was man sieht, hervorzurufen, weder von agnostischen Storungen,
noch von aphasischen Unordnungen herkommt: namlich Falle, in
denen sowohl die primare und sekundare optische Identifizierung,
wie auch die Fahigkeit, das gesprochene Wort zu verstehen und
es auszusprechen, keine wahmehmbaren Lasionen zeigen. Die
echte, so betrachtete optische Aphasie ist aber eine seltene Tatsache.
In den zahlreichen veroffentlichten Fallen bestanden stets Kompli-
kationen mit anderen Storungen. Diese Komplikationen sind jedoch
keine notwendigen Folgen und noch weniger eine direkte Ursache
der Storung, sondern Erscheinungen, die auf die N&he der zu ver-
schiedenen iSjnktionen bestimmten Himrindezonen, die gleichzeitig
durch denselben Herd verletzt sind, zu beziehen sind. In der
Tat gibt es Falle, in denen jedes Zeichen einer optischen Asymbolie
fehlte [Bruns (10), Pick und Zaufatt (55), Brandenburg (11)]; femer
Monatsschrift f. Psychiatric u. Xeurologie. Bd. XXXVII. Heft 3. 13
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190 _ M i n g a a z i n i t U&bet den g£j2en%r&ffcjgen Stemd
kmetifiohen) Engramroe der Handhewegungeii nijcbt nut vor und
hintgr dem Gyrus centr&Jis aaitsKpr, fioftdem auch Stmerbalb des-
Helbon gelegen «ind, so dafi da« tttotnru&beJgenfmm der Hand nichi
bloS grapbigcfa - mnestieebe Element a entimlt, dm hint aue ver-
achmdmm Teilen {ddm verl^omotorischem, akuslischem und Seh~
gablet} ankominen, ?ondern aup^Innervationsekmente. Jodenfalls
knnmm auch die Neurone, deren Verletzung die Wortblindheit und
die Agraphia hervorrufeu koonert. haM reehts, bald links liegen.
Hies beweist eiit Fall Jfameifas (9).
FaD Bitweua '
Bei «uem, jFiecIitsfuiridigeii fr&ten a$*e.b ewtim Iktus
link© Hen^parese mud Sprtvohst orungen $uf. Pat ient verst arui gut all© Fragen
und antwortet© •xnlt 'Fehlem. verstand a\m nicht* w&s er
las, ebenso gelang es ikm (a\ich beim Ab^chreiben) v»enige Uideserliche
Zeiekeri oder eimge Wort # volter paragraphi&cber Febler ru <schr©ibecL
Eme apraktfeche Storur^ Itmtand niehx. Bei der 3ektion fend m*a recht*
Zerstqrung (bis zxxr IteoTpUoa) der zvcei hintercnXhrit 1^1 der Gy ri temporales
suprepm* und medium (Fig; $&),^ eines Teife der P ? > des g. supraraarg.,
de» Gyrus angui&riirs imd<ter Gyri l:ehij^rAl*es ; 'trM^ ve ^i^
. “ • • .■
Fail ■ Rratv-im. 8 -- links, D « feckW; ku - g . angularis
sreehts veliete'iidik rekbaOrbawt.
Hior tritfc deutlicb henror, dafi die reehte Hiraregion (Gyms
itngulaiis), deten Zerstoning die Gcbcitas verfcoruia uftddie Ag*»pbie
hervorgemfen hatte, reeihfs lag, vdhrend die Region der serieorisehen
Aphaeie (T Gyrus temp, trans.) fast ausschHefilicfc anf deaf linkett
Seite ftmktionieren ntmfite, da der Patient keine aphaslsc-h senso*
riecfaen Storungenauf wies. Aueh Momhno und fob Falle
von Patienten verbffeatiiehfc, die, trot? einer zietolfoh ausgedebntea
Zerstbrung deft Jkbbus temporalis und oc«Spit^i&!X3^^ korbi»fc£'
schreiben and aueh den Sinn dec Worte veretehenkounten, Alles
dies beweietnocfo emmal, dafi die Zonetn in denen sieb die zur Aos-
arbeitung «&mt.!icfaer (porzeptiven nnd ejeittivetv) Fbnaen der
Sprache best irnmten Neuronen konzentriereh, in ein und deraelben
Perst»n bald reoht$ nnd bald links liegen konnen.
unserer Kenntnis der Aphasielelire. 191
Es ist nicht immer moglich, die gnostischen Funktionen von
den phasischen zu trennen, wie bereits weiter oben erwahnt wurde.
Auf diese Weise wird es klar, warum, falls einige eensorische, die
Wortbilder anregende Reize gestort werden, hieraus, wenigstens
klinisch, einige besondere klinische Bilder entstehen. Ich deute hier
auf die mit demNamen taktile undoptische Aphasiegekennzeichnet e
Form hin. Einige leugnen das Symptom ,.taktile Aphasie“ nicht,
da es bewiesen ist, daB bisweilen bei Intaktsein des Tastsinnes der
Hand es einigen Patienten nicht gelingt, den Namen auf dem Wege
des Gefiihls zu finden; aber sie glauben, daB diese Schwierigkeit
von einer Storung der zentripetalen Gefiihlskomponente und von
ihrer zentralen Verarbeitung abhangen konne: daher. die Un¬
moglichkeit, das entsprechende Wortbild zu finden.
Auf die gleichen Schwierigkeiten stoBt man beziiglich der
Frage vom Bestehen einer optischen Aphasie. In s&mtlichen Fallen,
in denen das Symptom der optischen Aphasie bestand, wurden
auch andere optische zentrale Storungen wahrgenommen, wie z. B.
Hemianopsie, Hemiachromatopsie, Alexie, Storung der Orientierung
im Raume resp. Sehagnosie und Schw&che des zentralen Visus.
Deshalb ist es auch hier schwer zu entscheiden, ob die Ursache
der Schwierigkeit, die Objekte mit ihrem Wertsymbole zu kenn-
zeichen, von einer mangelhaften Erkennung, oder von einer
Lasion der zwischen den Sehkomponenten des Gegenstandes und
der zentralen Wortinnervation liegenden Assoziationsfasem (trotz
Erhaltenseins der Erkennung) abhangt. In der Tat ist es
natiirlich, daB das Hervorrufen des Wortes, das einen Gegen-
stand bezeichnet, nicht moglich sein wird, wenn entweder die
Fahigkeit, die Attribute des Gegenstandes zu erkennen, ver-
schwunden oder das hervorzurufende Wortbild verletzt ist usw.
Diese Storungen treten in die Gebiete der Agnosien und der
Asymbolien oder in jenes der eigentlichen Aphasien ein; in ihnen
ist die Unmoglichkeit, den Namen des gesehenen Gegenstandes
hervorzurufen, eine sekundare Erseheinung. Die optische Aphasie
ware also nicht zu einer autonomen Existenz berechtigt, wenn es
nicht Falle gabe, in denen die Unmoglichkeit, den Namen dessen,
was man sieht, hervorzurufen, weder von agnostischen Storungen,
noch von aphasischen Unordnungen herkommt: namlich Falle, in
denen sowohl die primare und sekundare optische Identifizierung,
wie auch die Fahigkeit, das gesprochene Wort zu verstehen und
es auszusprechen, keine wahmehmbaren Lasionen zeigen. Die
echte, so betrachtete optische Aphasie ist aber eine seltene Tatsache.
In den zahlreichen veroffentlichten Fallen bestanden stets Kompli-
kationen mit anderen Storungen. Diese Komplikationen sind jedoch
keine notwendigen Folgen und noch weniger eine direkte Ursache
der Storung, sondern Erscheinungen, die auf die N&he der zu ver-
schiedenen Funktionen bestimmten Hirnrindezonen, die gleichzeitig
durch denselben Herd verletzt sind, zu beziehen sind. In der
Tat gibt es Falle, in denen jedes Zeichen einer optischen Asymbolie
fehlte [Bruns (10), Pick und Zaufdtt (55), Brandenburg (11)]; femer
Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 3. 13
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190 M i u g a $ % i a i ♦ Uebfcr 4m gegenvr&rtigQn Stand
fcinetischen) Bngramtne der Haadbev/egtingen nicht mar rot and
ihinter dem Gyrus centralis Anterior, madesm auch innerh&lb des-
selbea gelegen <ind, so dttB das wotoriscbeiJeritriim der Hand niciit
blofl graphieeb - mnestiselie Element a enthalt, die hier ana ver-
schiedeneo Tedett (deni verbomotomebem. akustischem und Seh-
gehiet) Rftbonimea, .semderaaucb limervaiionaeleinente. Jedenfails
kbnnen anchdie Kenrone^ deren Verletzuhg die Wortblindheit and
die Agraphie hervomitey kormen, bald rechts, bald links liegen.
Dies beweisi ein Fall Bravet/a* (11).
Fall BmttffPi. JJei ejBenr R^KtWJjfiodigen trat«n nacb eiteem Ilctus
link* Kerm|)ftr<»« und Spranl^t;orijQf|fcnauf. Patient verstand gut aile Fragea
und aatwirtete roil jftrapHs^sflrejiFehlern. veretand aber aiyht, was «r
i«&, abenso getang es ihm ibi? (tweh beitn Absehreibea) wnige viuleswliohe
Zeit&en Oder einjge Wort# yoll^r gwber pwotgraphssejjer Feh]*r«t *chreibe».
Fine apraktisclie Stbntrig iw^tand nicht. Bei der ffektion f*nd m reobts
ZerstiVuug (bis stur Eeearptjonlder zwt-i hihteren iDtitteJ der Cfjti f-emporales
supreunvi und mediue (Fig. 2iS u- einos Toiler, der P lt dcs g. Supramarg.,
; des Gyrus angularis uwd dr-r Gyr*t i-rviporalys trausversi.
Fall liravetio. S; =f. ibtka, 4) -- reekis^ ga — g. angularis.
rerfete A'oUgtdnclig Ttiabaorbiert. ■.
Hier tritt dettfcliejb beryor, dafl die radii b Himregioa (Gyrus
angularis), deren Zerstbrung die Iked l as verboruro und die Agraphie
hervorgeruf an hatte. rechts lag, wjihrend die Region der eenaoriischen
Aphasie (X Gyrus tamp, trans.) imi auattchlteulicb auf der linken
Seite funktionjeren muliUv da der Patient koine aphasisch senso-
riseben Storungen aufwies, Auc.b Momkow and ich (34) haben Falle
von Patienieft verbffeotlieht, die, trot* oiner ziamlicb ausgedehnten
Zerstbrung des Ijobiie taniporalif! und occipitalis links, korrekt
sohreiben ond a ueh den Sinn der Wort a vefstehea kormten. Alias
dies beweist noch einmal. daB die Zonen, s« denen sicb die««r Aus-
arboitang f&mtlicher (peszeptiven und ejbktiveh} Potmen der
Sprache bestimniten Koitronea konzeatrieren, in ein und derselben
•Person bald reebts und bald links liegen fconne®.
uneerer Kenntuis der Aphasielehre.
191
Es ist nicht immer moglich, die gnostischen Funktionen von
den phasischen zu trennen, wie bereits weiter oben erwahnt wurde.
Auf diese Weise wird es klar, warum, falls einige sensorische, die
Wortbilder anregende Reize gestort werden, hieraus, wenigstens
klinisch, einige besondere klinische Bilder entstehen. Ich deute hier
auf die mit demNamen taktile undoptische Aphasiegekennzeichnel e
Form hin. Einige leugnen das Symptom ,,taktile Aphasie“ nicht,
da es bewiesen ist, daB bisweilen bei Intaktsein des Tastsinnes der
Hand es einigen Patienten nicht gelingt, den Namenauf dem Wege
des Gefiihls zu finden; aber sie glauben, daB diese Schwierigkeit
von einer Storung der zentripetalen Gefiihlskomponente und von
ihrer zentralen Verarbeitung abhangen konne: daher.die Un-
moglichkeit, das entsprechende Wortbild zu finden.
Auf die gleichen Schwierigkeiten stoBt man beziiglich der
Frage vom Bestehen einer optischen Aphasie. In s&mtlichen Fallen,
in denen das Symptom der optischen Aphasie bestand, wurden
auch andere optische zentrale Storungen wahigenommen, wie z. B.
Hemianopsie, Hemiachromatopsie, Alexie, Storung der Orientierung
im Raume resp. Sehagnosie und Schwache des zentralen Visus.
Deshalb ist es auch hier schwer zu entscheiden, ob die Ursache
der Schwierigkeit, die Objekte mit ihrem Wertsymbole zu kenn-
zeichen, von einer mangelhaften Erkennung, oder von einer
Lasion der zwischen den Sehkomponenten des Gegenstandes und
der zentralen Wortinnervation liegenden Assoziationsfasern (trotz
Erhaltenseins der Erkennung) abhangt. In der Tat ist es
natiirlich, daB das Hervorrufen des Wortes, das einen Gegen-
stand bezeichnet, nicht moglich sein wird, wenn entweder die
Fahigkeit, die Attribute des Gegenstandes zu erkennen, ver-
schwunden oder das hervorzurufende Wortbild verletzt ist usw.
Diese Storungen treten in die Gebiete der Agnosien und der
Asymbolien oder in jenes der eigentlichen Aphasien ein; in ihnen
ist die Unmoglichkeit, den Namen des gesehenen Gegenstandes
hervorzurufen, eine sekundare Erscheinung. Die optische Aphasie
ware also nicht zu einer autonomen Existenz berechtigt, wenn es
nicht Falle gabe, in denen die Unmoglichkeit, den Namen dessen,
was man sieht, hervorzurufen, weder von agnostischen Storungen,
noch von aphasischen Unordnungen herkommt: namlich Falle, in
denen sowohl die primare und sekundare optische Identifizierung,
wie auch die Fahigkeit, das gesprochene Wort zu veretehen und
es auszusprechen, keine wahmehmbaren Lasionen zeigen. Die
echte, so betrachtete optische Aphasie ist aber eine seltene Tatsache.
In den zahlreichen veroffentlichten Fallen bestanden stets Kompli-
kationen mit anderen Storungen. Diese Komplikationen sind jedoch
keine notwendigen Folgen und noch weniger eine direkte Ursache
der Storung, sondern Erscheinungen, die auf die N&he der zu ver-
schiedenen Funktionen bestimmten Hirnrindezonen, die gleichzeitig
durch denselben Herd verletzt sind, zu beziehen sind. In der
Tat gibt es Falle, in denen jedes Zeichen einer optischen Asymbolie
fehlte [Bruns (10), Pick und Zaufall (55), Brandenburg (11)]; femer
Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologie. Bd. XXXVII. Heft 3. 13
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M i n g a z z i n i , Ueber den gegenwartigen Stand
bostand in jenem Bruns und in einem Moelis (47) nur die Un-
fahigkeit die Farben zu benennen, sie fehlte aber in den anderen
Fallen von Pick und Zaufall und von Vorster. Andererseits bestehen
enge Beziehungen zwischen der optischen Aphasie und der Alexie;
doch auch hier ist das Zusammentreffen nicht notwendig, denn
bei einigen Kranken bestand Alexie ohne optische Aphasie (Mona -
kow, Dejerine) und bei anderen optische Aphasie ohne Alexie
[ Thomsen , Jansen (46), Moeli (47)]. Wir miissen also die optische
Aphasie als eine Storung der Evokation erklaren, insofern als die
optischen Bilder der Gegenstande und die (akustischen) Wortbilder
beide vorhanden sind, denn sie konnen angewandt werden, die
einen zur Identifizierung der gesehenen, hervorgerufenen Sachen,
die anderen, um die mittels der anderen Sinne, auBer dem Gesicht,
wahrgenommenen Gegenstande zu benennen; nur die normale
Assoziation zwischen optischen Bildem der Gegenstande und
Wortbildern ist unmoglich. Solange femer die Veranderung sich nur
auf die Betastung und das Gesicht beschrankt, wahrend die Be-
nennung der Gehors-, Geschmack- und Geruchseindriicke moglich
bleibt [Fall Vorster (67)], kann man noch an eine beschrankte
Storung der Assoziationen denken, und es ist hier interessant,
hervorzuheben, daB die taktile Aphasie durch organische Ver-
letzungen allein noch nicht nachgewiesen worden ist, sondem
stets in Begleitung der optischen Aphasie.
Erstreckt sich aber die Schwierigkeit oder die Unmoglichkeit
des Wachrufens auf samtliche Sinne, so geht man zur sogenannten
amnestischen Aphasie (Amnesia verborum) fiber. Sie entfaltet sich
oft als zeitwediges Regressionssymptom, das die sensorische
Aphasie begleitet, und dann ist sie als die Folge einer schweren
Storung der Reize anzusehen, welche aus dem, besonders durch
die hinteren Aeste der Sylvii links versorgtem Hirngebiete kommen.
Jedoch sind die Falle nicht selten, in denen die amnestische Aphasie
sich als Regressionssymptom der motorischen Aphasie zeigt, namlich
eines Rrankheitsprozesses, der das vordere Sprachgebiet befallen
und die Regio temporalis freilaBt. Die amnestische Aphasie tritt
femer auch als isoliertes Symptom auf, und als solches ist sie in
Fallen wahrgenommen worden, in denen ein grober, entweder die
basalen Schlafenwindungen, oder den Gyrus angularis oder das
Gebiet der motorischen Aphasie betreffender ProzeB langsam
zum Fortschreiten neigt. Gerade gestfitzt auf einige dieser Befunde
hat Mills versucht, das sogenannte Namenerinnerungszentrum in
den mittleren Teil des Gyrus temporalis medius atque inf. sin.
(Naming centre) zu lokalisieren. Aber die Falle, auf die sich diese
Theorie stfitzt, beziehen sich vorwiegend auf Himtumoren, die von
diesem Standpunkte aus nicht zu verwerten sind. Immerhin ist
nicht zu vergessen, daB die Abszesse des linken Schlafenlappens
otitischen Ursprungs, die so haufig im mittleren Teile des
Gyrus temporalis inferior beginnen, oft durch die Amnesia ver¬
borum angezeigt werden und als solche klinisch ein wertvolles
Zeichen bilden. Ich selbst veroffentlichte vor einigen Jahren einen
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unserer Kenntnis der Aphasielelire.
193
AbszeBfall von otitischem Ursprunge, der sich ungefahr im Mittel-
punkte des Lobulus temporalis inferior entwickelt hatte. Auch
hier war das zuerst auftretende Symptom eine typische amnesti-
sche Aphasie, dem bald darauf ein sensorisch aphasisches Syndrom
folgte. Der Fall gelangte zur Heilung nach Ausleerung der Eiter-
ansammlung.
Die seit mehr als einem halben Jahrhundert gesammelten Be-
obachtungen haben unsalso gelehrt, daB die Sprache, die letzteund
edelste Funktion, die der Mensch erworben hat, die Beteiligung
anderer geistiger Prozesse, mit denen sie verkettet ist, nicht ent-
behren kann, so daB die Zone, in welcher sich die Foci fur
die einzelnen Wcrtbilder ausarbeiten und konzentrieren, sehr ver-
schieden ist von der Zone, welche, wenn verletzt, das aphasische
Syndrom setzt. Heutzutage wissen wir, daB die zur Funktion der
Sprache bestimmten Hirnzonen wohl umschrieben sind, jedoch ohne
scharfe Grenzen, ausgedehnter als man glaubte und daB sie, obwohl in
einem verschiedenen Grade, in beiden Hemispharen funktionieren.
Ebenso ist nicht zu vergessen, daB infolge der Uebung und vielleicht
infolge einer angeborenen Disposition das Vorherrschen einiger Be-
kleidungen phasischer Bilder von einem Menschen zum andern ver-
schieden ist und daB alle untereinander verbunden und nicht ganz-
lich unabhangig von den sensorischen Bildern sind. So viele und so
wichtige Faktoren verhindem deshalb, daB ein Fall von Aphasie
dem andern gleiche und verbieten zu scholastische Schemata, eine
Verschiedenheit, die nicht wundemehmen kann, wenn man be-
denkt, daB beim Menschen das zentrale Nervensystem sich in steter
Entwicklung befindet. Der Gewichtsunterschied zwischen den
beiden GroBhimhemispharen, die Asymmetrie der Windungen und
Furchen, die manchmal vollstandige und andermalen kaum ange-
deutete Kreuzung der Pyramiden, die aberrierenden Biindel sind
sehr eloquente Beispiele dieser Unbestandigkeit.
Ein Punkt beginnt indessen gesichert zu werden, namlich, daB
die hierzu bestimmten Mechanismen nicht nur Gruppen von Nerven-
zellen, sondern auch Biindel von Nervenfasem sind; sowohl die
einen wie die andern, wenn sie isoliert verletzt sind, bedingen
wesentlich identische und bloB dem Grade nach verschiedene
Storungen; zwischen den kortikalen, subkortikalen (perzeptiven)
und Assoziationsaphasien bestehen die verschiedenartigsten Zwi-
schengrade, so daB es schwer fallt, die einen von den anderen zu
trennen.
Eine andere Ansicht aber beginnt jetzt sich Bahn zu brechen,
namlioh, daB die verschiedenen Formen der Sprache untereinander
verbunden sind; deshalb entfaltet sich die sensorische Aphasie stets
unter Storungen des Lesens und der gesprochenen wie der ge-
schriebenen Sprache; die Agraphie resp. die Dysgraphie ist eineFolge
der Abtrexmung der verbomotorischen, verbosensorischen und verbo-
optischen Bilder aus dem Rindenarmzentrum. Die Fahigkeit zum
Lesen versagt, so oft die anderen Grundformen der Sprache gestort
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194
Ming a z z ini, Ueber den gegenwartigen Stand
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sind; sogar die motorische Aphasie, selbst in den reinsten Fallen,
zeigt ihre Verbindung mit den verboakustischen Bildern durch eine
(nicht immer wahrnehmbare) Unsicherheit oder Verlangsamung im
Begreifen des Sinnes der Worte oder durch die Schwierigkeit im
Lesen. Die Sprache, die letzte der vom Menschen in der Phylo-
und Ontogenese erworbene Funktion, ist also ein Zeichen der
Bedeutung, welche die Assoziationsbahnen in der Entwicklung
des Geistes haben.
Fassen wir das Vorhergehende zusammen, so konnen wir
folgende SchluBsatze aufstellen:
Die Aphasie Typus Broca , entwickelt sich, wenn die ,,er-
weiterte“ Brocasche Zone, welche die Pars triangularis und oper-
cularis der F 3 , die Insula anterior und das Operculum Rolandi
umfaBt, verletzt ist. Sie enthalt die mnestischen Engramme der
motorischen Silbenbilder und im Gebiete des Operculum rolan-
dicum wahrscheinlich auch verboartikulare Elemente (phasisch-
motorische und Artikulationsfasern).
Von den subkortikalen, aus dieser Zone kommenden Projek-
tionen steigen einige (die vorderen) als motorisch-phasische Fasern
in den Kopf des Linsenkernes (zusammen mit den Balkenaus-
strahlungen), am Niveau des Gebietes, das man supra- und prae-
lenticularis nennenkann; andere dringen als gemischte phasisch-arti-
kulareFasern durch die Capsula externa hindurch in die zwei hinteren
Drittel des erwahnten Ganglions. Hier vereinigen sie sich mit dem
verboartikularen Fasern, die den Linsenkern durchziehen. Die
Verletzung des linken Linsenkernes verursacht motorische Aphasie,
wenn das vordere Drittel zerstort ist, und eine schwere Dysarthrie
bis zur Anarthrie, wenn die hinteren zwei Drittel verletzt sind.
Die Zerstorung der linken Regio prae- und supralenticularis
verursacht eine bestandige motorische Aphasie, sowohl in dem
spontanen Sprechen wie in der Wiederholung der Worte. Daher
der sowohl bei der reinen Aphasie, wie bei der vom Typus Broca
bestehende Mutismus. Das ,,erweiterte“ Brocasche Gebiet, der
Linsenkern einbegriffen, funktioniert rechts, an zweiter Stelle,
mehr oder weniger je nach den Individuen. Wird das homologe
Gebiet links zerstort, so kompensiert es nicht, sondern ubernimmt
allmahlich die friiher durch das linke Gebiet ausgeiibten Funktionen.
In diesem Falle ist es richtiger, von einer Wiederaufnahme der
Funktion der ersten Stelle als von einer Kompensation zu reden.
Bei der reinen motorischen Aphasie konnen die Verletzungen
auch kortikal sein (Brocasches Gebiet). In diesem Falle bleibt aber
ein Teil der Brocaschen Region, die durchaus nicht befallen ist, be-
stehen, was die Assoziation mit dem motorischen Zentrum der Hand
und das Wachrufen der inneren Sprache ermoglicht. Das Bestehen
einer motorischen Sprachbahn ist noch nicht mit Sicherheit fest-
gestellt worden; immerhin kennt man bisher Bruchstxicke.
Die Rindentaubheit entsteht, wenn die Gyri temporalis
transversi und ihre subkortikalen Ausstrahlungen beiderseits
zerstort sind. Die sensorische Aphasie ist eine schwere, obwohl
Gck igle
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unserer Kenntnis der Aphasielehre.
195
unvollstandige, wenn der Gyrus temporalis transversus posterior
und das hintere Drittel des Gyrus temporalis supremus links ver-
letzt sind. Sie wird erst vollstandig, wenn die Wernicke schen Zonen
beiderseits verletzt sind; in letzterem Falle gelingt es dem Kranken
nur, eine Reihe von Silben, oder am meisten, von einsilbigen
Wortern auszustoBen. Ebenso bleibt, wenn nicht bloB die Kern-
zone der Wernicke schen Zone verletzt, sondern die ganze kortikale
und subkorfcikale Substanz der T 2 links zerstort ist, der sensorisch
Aphasische fast seines ganzen Wortschatzes beraubt, so daB man
an das Bild der totalen Aphasie erinnert wird.
Bei der sensorischen Assoziationsaphasie findet man haupt-
sachlich die dem hinteren Aphasiegebiete angehorende Mark-
substanz verletzt. Sie erheischt jedoch die Unterbrechung der
Assoziationsfasern des linken Schlafenlappens. Die reinen Formen
von motorischer oder sensorischer Assoziationsaphasie sind selten;
was beobachtet ist, weist einen mehr oder weniger gemischten
Charakter auf. Die motorische Asszioationsaphasie hangt von
der der vorderen Region der motorischen Aphasie entsprechenden
Marksubstanzverletzung ab; in diesem Falle wurde die linke
Regio praesupralenticularis fast stets unversehrt vorgefunden.
Die Wortwiederholung. welche in beiden Formen von Assoziations¬
aphasie moglich ist, erheischt als Bedingung weder die Integritat
der Regio subinsularis, noch die der Gyri temporales transversi,
sondern die Erhaltung der linken Regio supra-praelenticularis
oder zum mindesten der Balkenausstrahlungen, die bei den sen¬
sorischen Formen unberiihrt sind. Es ist auch wahrscheinlich,
daB die Wortwiederholung auf dem Wege von der Wernike schen
Zone zu der motorisch-aphasischen Zone vor sich geht und von
hier aus, durch den Balken verlaufend, durch die linke und bis-
weilen auch durch die rechte Regio lenticulo-capsularis hinabsteigt.
Es ist nicht moglich, wenigstens vom klinischen Standpunkte
aus, das Bestehen einer Zone (mittlerer Teil des Gyrus temporalis
inferior), deren Verletzung eine Amnesia nominum hervorruft.
vollstandig zu leugnen.
Die Coecitas verborumund die Agraphie konnen nicht in be-
sonderen Zonen lokalisiert werden. Sie entwickeln sich, so oft die
verschiedenen (verbomotorischen, optischen, verbo-akustischen)
Komponenten der synergischen Funktionen, denen die Erkenntnis
des Sinnes der geschriebenen Worte oder die ideatorisch-kinetische
Erinnerung der graphischen Bewegungen entspringen, verletzt
sind. Selbst bei den Rechtshandigen konnen die entsprechenden
Engramme rechts liegen.
Die Himgebiete, deren Verletzung aphasische Grundformen
(motorische und sensorische) verursacht, diirfen nicht mit dem Sitze
der entsprechenden Engramme identifiziert werden. Diese konnen
nicht von ihren psychischen (assoziativen) Antrieben „ getrennt
werden; ohne ihre Beteiligung konnen sie nicht genau funk-
tionieren. Folglich ist die Sprache als der Prototyp einer hohen
Assoziationsfunktion zu betrachten.
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196
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M i n g a z z i n i , Ueber den gegenwartigen Stand etc.
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Spiller , The symptomatology of lesions etc. J. f. n. dis. Aug. Sept. 1907.
49. Moutier , L’aphasie de Broca. Paris 1908. Steinheil. 50. Hiefilv. Mayen -
dor I, Die aphasischen Symptome. Leipzig 1911. 51. Pick , Beitr&ge zur Lehre
von den Storungen der Sprache. Arch. f. Psych. 1892. 52. Derselbe,
Fall von transkortikaler Aphasie. Neurol. Zbl. 1890. 53. Derselbe, Beitr&ge
zur Pat-hologie etc. des Zentralnervensystems. 1898. N. 6. 5. 8. 54. Derselbe,
Ref. in Mingazzini (37. S. 609 u. ff.) 55. Pick und Zaufall, Otitischer Gehirn-
abszefi etc. Prag. med. Woch. 1896. 10. 5. 56. Pelissier , L’aph. motr. prue.
Paris 1912. 57. Piazza , Contrib. clin. ed anatomopat. alle lesioni etc. Riv.
di Patol. nerv. Anno XI, f. 2. 1906. 58. Pacetti, Sopra un caso di ram-
mollin. del Ponte. Riv. sperim. di Fren. Vol. XXI. F. II—III. 59. Quensel ,
Ueber Erscheinungen und Grundlagen etc. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk.
Bd. 35. S. 25. 59a. Romagna , Contrib. clin. etc. Riv. di pat. nerv. 1912.
Gck igle
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Forster- Sc hlesinger, Ueber dio physiologi.sehe etc. 197
F. 2. 60. Reich , Ausgedehnter Tumor etc. A. Z. f. Psych. Bd. 67. 1910.
61. S. Sergi, Ueber den Verlauf der zentralenBahnendesHypoglossus. Neurol.
Zbl. 1906. No. 11. 62. Serieux , Cas de surd. verb. pure. Rev. med. 1893.
63. Souques (ref. in Moutier, 1. c., S. 357). 64. Derselbe, Deux cases d’aphasie
etc. Bull, de la Soc. m&l. de Hop. de Paris. 18. VII. 1907. 65. Touche ,
Aphasie avec lesions. Arch, gener. de med. 1901. 66. Veraguth, Fall von
trans. r. Worttaubheit. D. Z. f. N. 1900. 67. Vorster, Beitrag zur Kenntnis
etc. Arch. f. Psych. 30. 1898. 341. 68. Wilson, Progr. lentic. Degener. Brain
1912. Vol. 34. S. 14. 69. Westphal, zit. in Monakow. (39) 70. Witzel-
Thomsen, Ueber einen giinstig verlauf. Fall etc. Dtsch. med. Woch. 1896.
No. 15.
(Aus der Nervenklinik und der ersten medizinischen Klinik
der Konigl. Charity.)
Ueber die physiologische Pupillenunruhe
und die Psychoreflexe der Pupille.
Von
Prof. Dr. E. FORSTER und Dr. ERICH SCHLESINGER.
Seit Laqueurs Feststellungen mittels der Zehnder- Westimschen
Lupe faBt man die sogenannte physiologische Pupillenunruhe als
eine Ausdrucksbewegung seelischer Vorgange auf. Nach den iiber-
einstimmenden Ergebnissen einer Reihe von Autoren fehlt die
Pupillenunruhe beim gesunden Menschen nie, wenn eine vollige
Adaptation an das bei der Untersuehung benutzte Licht einge-
treten ist. Auf zugefiihrte sensorische, sensible oder rein psychische
Reize reagierte die Pupille immer im Sinne einer Erweiterung.
Weiler bestatigte in seiner zusammenfassenden Arbeit von 1910
auf Grund eigener Untersuchungen diese Angaben; er fand dabei,
es sei nicht giinstig, wenn das zur Beleuchtung des Auges bei
diesen Beobachtungen verwendete Licht gar zu gering sei und hielt
eine Lichtstarke von 25 MK fiir die giinstigste. Die Ausschlage
des Irissaumens iiberschritten nach seinen Feststellungen bei
manchen Personen kaum die Breite von 1 mm, bei anderen er-
weiterte sich die Pupille um 2—2% mm. Bei Frauen fanden sich
im allgemeinen groBere Ausschlage als bei Mannem. Weiler stellt
folgende SchluBsatze auf:
1. Die Pupillenunruhe und die Erweiterungsreaktion der
Pupille bei den dem Organismus zugeleiteten sensorischen, sen-
siblen und psychischen Reizen fehlen beim Gesunden nie.
2. Die Erweiterungsbewegung auf sensible Reize ist groBer
als die auf sensorische und psychische Einwirkungen.
3. Es ist wahrscheinlich, daB die Pupillenreaktionen auf
sensorische und psychische Einfliisse ihren Ursprung einer von der
Himrinde ausgehenden Hemmung des Sphinktertonus verdanken,
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198 Forster - Schlesinger, Ueber die physiologische etc.
wahrend bei der sensiblen Erweiterung eine aktive Mitwirkung
des Dilatators infolge einer Sympathikusinnervation nicht auszu-
schlieBen ist.
Diese Erfahrungen sind von Bumke fiir die Klinik verwertet
worden. Nach seinen Untersuchungen konnen auch bei Individuen,
bei denen die Lichtref lexbahn ungestort ist, die auf psychische,
sensorische und sensible Reize normalerweise auftretenden Iris-
bewegungen fehlen und zwar hauptsachlich bei der Dementia
praecox. Bumke schreibt: ,,Wir diirfen somit feststellen, daB die
Psychoreflexe und die durch das Wechselspiel der psychischen
Vorgange bedingte Pupillenunruhe bei der Dementia praecox auf
der Hohe der Krankheit stets feblen, daB femer dieses Symptom
den anderen katatonischen Zeichen oft, aber nicht immer, voraus-
geht und, wo es einmal vorhanden ist, nicht wieder verschwindet.“
Aehnliche Eefunde erhob Bumke bei der Imbezillitat. Eine
ganz einwandfreie Erklarung der katatonischen Pupillenstorungen
konnte Bumke noch nicht beibringen.
Unsere eigenen Untersuchungen wurden mit dem von einem
von uns (Schlesinger) konstruierten und von der Firma Carl ZeiB,
Jena, gebauten Peripupillometer ausgefiihrt. Auf eine Beschreibung
des Apparates wollen wir nicht eingehen und verweisen hierfiir
auf die Publikation in der Deutschen medizin. Wochenschrift,
No. 19, 1913. Wichtig fur das vorliegende Thema ist nur der Hin-
weis, daB in dem Apparat eine Einrichtung vorhanden ist, welche
gestattet, die Akkommodation des untersuchten Auges auszu-
schlieBen. Dies wird dadurch erreicht, daB der Patient ein seitlich
unterhalb des Schwellenwertes der Pupillenreaktion beleuchtetes
Kreuz fixiert, das durch eine Linse in seinen Fempunkt eingestellt
ist. Nur durch eine solche Einrichtung werden in praxi unkontrol-
lierbare Aenderungen der Akkommodation zwangslaufig ausge-
schaltet. Bei striktem Fixieren, wozu das hellerleuchtete Kreuz
besonderen Impuls verleiht, sind auch alle Bewegungen der Bulbus-
muskulatur nach Moglichkeit vermieden.
Bei unseren Untersuchungen normaler und pathologischer
Versuchspersonen haben wir stets das gleiche Resultat erhalten:
Nach geniigender Adaptation fiir dunkel, respektive fiir das zur
standigen Besichtigung der Pupille erforderliche seitlich ange-
brachte Lampchen von ca. 3 Meterkerzen Intensitat, ergab sich,
daB die PupiUenunrnhe stets fehlte und daB auf sensible, sensori¬
sche und psychische Reize eine Erweiterung nicht mehr eintrat.
Um dem Einwand zu begegnen, daB eine Erweiterung der
durch das Fixieren eines unendlich femen Objektes fast maximal
dilatierten Pupille nicht mehr moglich sei, haben wir auch bei
diffusem Licht untersucht, bei dessen Ausschaltung stets noch
deutlich meBbare Erweiterung eintrat. Auch bei dieser Belichtung
horte nach geniigender Adaptation das anfanglich vorhandene
Pupillenspiel vollkommen auf.
Bei unseren Untersuchungen stellte es sich heraus, daB es
auBerordentlich wichtig ist, fiir eine moglichste GleichmaBigkeit
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B u d u 1, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie.
199
der Lichtquelle zu sorgen, da schon zufallige Schwankungen der
Intensitat von ca. 0,2 Meterkerzen ausreichen, pupillomotorisch
zu wirken. Eine praktisch ausreichende GleichmaBigkeit erreichten
wir nur bei ganz geringen Intensitaten, bei denen durch Anwendung
von Rheostaten die Schwankungen unter das oben angegebene
MaB herabgesetzt waren.
Demzufolge kommen wir zu folgendem Ergebnis: Die physio-
logische Pupillenunruhe, sowie die auf sensible, sensorische und
psychische Reize erfolgende Pupillenerweiterung ist eine Folge
standiger kleiner Schwankungen der Akkommodation, eventuell
auch der Lichtintensitat. Sie kommen dadurch zustande, daB der
Patient infolge beabsichtigter oder unkontrollierbarer Reize ver-
anlaBt wird, momentan seine Akkommodationseinstellung zu
andern. Ihr Fehlen bei der Dementia praecox erklart sich leicht
durch die geringe psychische Reg6amkeit. der Kranken, die sich
durch unbedeutende auBere Reize wenig oder gar nicht ablenken
lassen. So wird es auch verstandlich, daB Bumke bei manchen
Fallen von Dementia praecox auf die (starkeren) sensiblen Reize
noch Pupillenerweiterung fand, nicht aber auf rein psychische.
Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie.
(Auszug aus den Untersuehungsergebnissen einer Dissertation
[russisch]) 1 ).
Von
Dr. med. H. BUDUL.
Zur vorliegenden Studie wurde das Krankenmaterial der
Dorpater Psychiatrischen Universitatsklinik fiir den Zeitraum
1896—1913 (18 Jahre) entnommen. Die Kranksheitsbe-
zeichnungen entsprechen der Zeit, in der die Krankenge-
schichten niedergeschrieben sind. Das Material bestand aus
3180 Krankengeschichten, von denen 64 pCt. sich auf das mann-
liche, 36 pCt. auf das weibliche Geschlecht bezogen. Die Patienten
verteilten sich nach den Rassen und Nationalitaten wie folgt:
54pCt. Esten (ugro-finnisches Volk), 22,6 pCt. Letten (Indo-
germanen), 10,4 pCt. Russen (Slawen), 8,3 pCt. Deutsche (Ger-
manen), 4,7 pCt. Juden (Semiten). Esten und Letten sind auf dem
Lande politisch und kulturell fast gleichgestellt; die Russen,
Deutschen und Juden haben in der Provinz fast keinen Bauem-
stand. Das Gros unter den estnischen und lettischen Patienten
bilden die landbearbeitenden Bauern.
Im folgenden wird das Wichtigste aus den Untersuchungser-
gebnissen angefiihrt.
*) Eingereicht und von der Redaktion angenommen Mai 1914.
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oogle
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UMVERSITYOFMICHIGAN
200
B u d u 1, Beitrag zur vergleichenden Rassenpaychiatrie.
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Esten
Letten
Russen
Deutsche
Juden
Melancholie.
204 oder
50 „
21 „
16 „
M.
70
Fr.
134
M.
24
Fr.
26
M.
10
Fr.
11
M.
6
Fr.
10
M.
1
Fr.
8
I M. 6\
1 Fr. 10/
68 pC’t. (54)
16,7 pCt. (22,6)
7,0 pCt, (10,4)
5,3 pCt. (8,3)
3,0 pCt. (4,7).
Rechts (in Klarnmem) sind die Prozentzahlen des Anteils
jeder einzelnen Nationalitat der Kranken an die Gesamtzahl (3180)
notiert.
Am meisten Erkrankungsfalle an Melancholie geben die Esten.
Aus der Krankengeschichte geht weiter hervor, daJJ die Melan-
choliker estnischer Nationalitat den grofiten Prozentsatz der Selbst-
mordversuche liefem: 20pCt. gegeniiber 12,5 pCt. Suizidversuche
der Patienten lettischer Nationalitat. In dieser Beziehung stehen
die Frauen bei den Esten den Mannern weit voran. Diese Tatsache
ist um so mehr bemerkenswert, als Selbstmord bei den Esten im
allgemeinen seltener vorkommt als bei Letten, Russen und Deut-
schen. Die Juden geben noch weniger Selbstmordfalle als die Esten.
Imbezillitat und Idiotie.
Esten
Letten
Russen
Deutsche
Juden
r M.
j Fr.
50i
8|
58 oder
f M.
i Fr.
17 „
1 M.
4l
i Fr.
It
o JJ
1 M.
4 l
i Fr.
2 I
6 ,,
1 M.
1 Fr.
4 l
11
5 „
18,7 pCt. (22,6)
5.5 pCt. (10,4)
6.6 pCt. (8,3)
5,5 pCt. (4,7)
Der groOte Prozentsatz der Erkrankungsfalle an Imbezillitat
und Idiotie ist bei den Esten und Juden zu verzeichnen.
Traumatische Neurose.
„ 4 r M. 31 \
Esten { Fr. 3/
34 oder
77,2 pa. (54)
Letten j
1 M.
| Fr. -1
1 „
2,3 pa. (22,6)
Russen j
[r.-I
8 „
18,2 pa. (10,4)
Deutsche *
1 lfc.il
1 „
2,3 pa. (8,3)
Juden '
f M. -(
l Fr. — 1
0 „
0 P a. (4,7).
Google
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Budul, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie. 201
Dem Berufe nach war die Verteilung der Traumatiker wie
folgt:
1 . Eisenbahnbeamte:
23 Esten,
7 Russen,
1 Lette,
1 Deutscher.
2. Fabrikarbeiter:
6 Esten.
3. Freien Beruf Ausubende:
5 Esten (2 M. u. 3 Fr.),
1 Russe.
Es waren also unter den Traumatikem:
72,8 pCt. Eisenbahnbeamte,
13,6 pCt. Fabrikarbeiter,
13,6 pCt. freien Beruf Ausubende.
Aus den Krankengeschichten ist weiter zu entnebmen, da*,
von aUen Patienten estnischer Nationalist Eisenbahnbeamte
5,7 pCt. waren, von Letten 3,5 pCt., von Russen 25,3 pCt., von
Deutschen 2,3 pCt.
Von diesen letzten ist die Zahl der Traumatiker:
bei Esten 34,3 pCt.,
,, Letten 4,4 pCt.,
,, Russen 10,8 pCt.
Nach diesen Tatsachen scheint es, dab die Esten am meisten
zu einer Erkrankung an traumatischer Neurose disponiert sind.
DaJ 3 unter den Juden kein Traumatiker verzeichnet worden ist,
ist wohl hauptsachlich dem Umstande zu verdanken, daB die
Juden fast keine Beziehung zu den Berufen gehabt haben, die, der
Erfahrung nach, stark eine Entstehung der traumatischen Neurose
fordern.
Weiter haben die Esten ausgesprochene Neigung zu pro-
trahierten Affektschwankungen. Die Juden stehen in .dieser Be¬
ziehung den Esten ziemlich nahe.
Paranoia,
f M ^01
Esten Fr 18 J 88 °der 53,1 pCt. (54)
Letten 3 |} 38 » 29,7 pCt. (22,6)
Russen |J£ _^j 6 „ 4,7 pCt. (10,4)
Deutsche yj 5 10 >> P^- (&>3)
Juden (pr. 4} 6 ” 4 > 7 PC t - ( 4 - 7 )-
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^ Google
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202 Budul, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie.
Bei der Erkrankung an akuter und chronischer Verrficktheit
laBt sich nicht nur ein quantitativer, sondem auch ein quali-
tativer Unterschied zwischen verschiedenen Nationalitaten merken,
was aus der folgenden Tabelle uber den Inhalt der Wahnbildung
zu ersehen ist. Es werden hier nur Esten und Letten berfick-
sichtigt, weil die Zahl der anderen zu gering sind:
bei Esten bei Letten
GroBenwahn. 12,3 pCt. 25,7 pCt.
Darunter GroBenwahn auf religioser Grund-
lage. 6,2 pCt. 2,9 pCt.
Verfolgungswahn. 29,2 pCt. 14,3 pCt.
Religiose Wahnideen. 23,1 pCt. 6,1 pCt.
Hypochondrische Wahnvorstellungen . . 21,5 pCt. —
Darunter religiosen Charakters (Versfindi-
gungswahn). 12,3 pCt. —
Erfindungswahn . 3,1 pCt. 11,4 pCt.
Querulantenwahn.. — 8,3 pCt.
Wenn man sich kurz ausdrficken will, so darf man sagen, daB
bei Letten die Wahnvorstellungen mit Ueberschatzung, bei Esten
mit Unterschatzung der Personlichkeit verknfipft sind; die Letten
sind mehr aktiv, Esten mehr passiv; die religiosen Wahn¬
vorstellungen spielen bei den Esten eine viel groBere Rolle als
bei den Letten.
Im groBen ganzen laBt sich formulieren, daB die Esten ofters
an funktionellen und emotionellen, die Letten ofters an organischen
und rationellen Geisteskrankheiten leiden. Organische Nerven-
krankheiten kommen bei Letten haufiger vor als bei Esten.
Alkoholismus.
Esten
(M. 961
l Fr. 111
107 Oder 44,6 pCt. (54)
Letten
l M. 14 i
IFr. 21
16 „
6,7 pCt. (22,6)
Russen
iM. 82 i
IFr. 31
85 „
35,4 pa, (10,4)
Deutsche
i M. 291
IFr. 31
32 „
13,3 pa. (8,3)
Juden
IS.=I
0 „
0 pa, (4,7).
Am meisten Erkrankungsfalle von Alkoholismus geben die
Russen. Der Alkoholismus scheint unter den slawischen Volkem
fiberhaupt verhaltnismaBig stark verbreitet zu sein. Das Um-
gekehrte ist bei Juden der Fall. Die Letten sind weniger geneigt,
sich der Trunksucht zu ergeben, als die Esten, doch ist die geringe
Zahl der Alkoholiker lettischer Nationalitat wohl teilweise zufallig.
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UNIVlRSITY OF MICHIGAN
B u (1 u 1 , Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiutrie. 203
Lues cerebri (und Lues cerebrospinalis).
Esten
I M. 34 \
) Fr. 101
44
oder 45,8 pCt. (54)
Letten
| M. 12 l
1 Fr. 41
16
„ 16,7 pCt. (22,6)
Russen
IM. 231
l Fr. 41
27
„ 28,1 pCt. (10,4)
Deutsche
1 M. 6 (
) Fr. 11
7
„ 7,3 pCt. (8,3)
Juden
jM. 21
IF. —1
2
„ 2,1 pCt. (4,7)
Syphilitische Erkrankungen des Nervensy6tems sind unter den
Esten, Letten und Juden weniger verbreitet als unter den Russen.
Nervenkrankheiten und Geisteskrankheiten, die ihren Ursprung
der Syphilis zu verdanken haben, kommen auch bei Deutschen gar
nicht selten vor, was aus folgender Tabelle zu entnehmen ist:
Dementia
paralytica.
Esten j
i M. 541
l Fr. 51
59 oder 40,4 pCt. (54)
Letten •
( M. 301
l Fr. 21
32
21,9 pCt. (22,6)
Russen
1 M. 181
l Fr. If
19 „
13 pCt. (10,4)
Deutsche ’
| M. 361
1 Fr. —1
30 „
21,3 pCt, (8,3)
Juden ]
f M. 5\
l Fr. — /
5 „
3,4 pCt. (4,7)
Tabes dorsalis kommt besonders haufig bei Russen vor. Die
Zahl der Erkrankungen an Dementia paralytica und Tabes dorsalis
ist in den letzten Jahren ziemlich stark zuriickgegangen, was wohl
einer mehr energischen und sorgfaltigen Behandlung der voraus-
gegangenen Syphilis, als das vor 20—30 Jahren der Fall gewesen
den zu verdanken ist. Der Verlauf der Dementia paralytica ist in
den letzten Jahren weniger sturmisch als vor 10—18 Jahren.
Esten |
Letten |
Russen j
Deutschen j
Juden |
Dementia
M.
1461
Fr.
55/
M.
681
Fr.
26/
M.
12 1
Fr.
1 /
M.
6 1
Fr.
7/
M.
12 l
Fr.
17/
praecox.
201 oder 57,4 pCt. (54)
94 „
26,9 pCt. (22,6)
13 ,.
3,7 pCt. (10,4)
13 „
3,7 pCt. (8,3)
29 „
8,3 pCt. (4,7)
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Gca igle
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204
B u d u 1, Beitrag zur vergleiclienden Rassenpsychiatrie.
Unter den Esten und Letten kommt die Erkrankung an Dem.
praecox quantitativ ziemlich gleich vor. Genauere Beriicksichtigung
der verschiedenen Verhaltnisse des Intemierens von Geisteskranken
in eine Irrenanstalt bei Esten und Letten gibt sogar das Recht, zu
vermuten, daB die Erkrankung an jugendlichem Irresein bei den
Esten sogar etwas haufiger als bei den Letten vorkommt. Einen
auBerordentlich hohen Prozentsatz der Erkrankungsfalle geben
die Juden. Bei Russen und Deutsehen ist er verhaltnismaBig
gering. Nach dem Erkrankungsalter stehen an erster Stelle in
aufsteigender Reihenfolge die Juden, dann die Esten, dann die
Deutsehen und zuletzt kommen die Letten. Es ist bemerkenswert.
daB entsprechend dem Alter bei der Erkrankung der Prozentsatz
der hebephrenischen Form des jugendliehen Irreseins am hochsten
bei den Juden und am niedrigsten bei den Letten ist. Bei Letten
iiberwiegt entsprechend die Zahl der Erkrankungsfalle an kata-
tonischer und paranoider Form der Dementia praecox.
Manisch-depressives Irresein.
Esten
i M. 65(
l Fr. 671
132 oder 53,2 pCt. (54)
Letten
( M. 27(
\ Fr. 271
54
„ 21,8 pCt. (22,6)
Russen
1 M. 61
\ Ft. 81
14
„ 5,6 pCt. (10,4)
Deutsehen
1 M. 121
l Fr. 151
27
„ 10,9 pCt. (8,3)
Juden
I M. 10|
1 Fr. Ill
21
„ 8,5 pCt, (4,7)
Die Juden und Deutsehen geben nicht nur einen hoheren Pro¬
zentsatz der Erkrankungsfalle an manisch-depressivem Irresein,
sondem werden schon in friiheren Lebensjahren krank als die
Esten, Letten und Russen. Die Juden und Deutsehen weisen bei
der Erkrankung diejenige Form des manisch-depressiven Irreseins
auf, bei der der Wechsel des exaltierten und des Depres^ionszu-
standes verhaltnismaBig groB ist.
Weiter kommt bei den Juden haufiger als bei den anderen
Hysteric vor (13 pCt. statt 4,7 pCt.). Auch das klinische Bild und
der Verlauf der Hysterie ist bei den Juden ausgepragter als bei den
anderen Nationalitaten. Fast ebenso haufig wie Hysterie kommt
bei Juden die Nervositat vor. Auch die Esten haben ziemlich groBe
Neigung zur Nervositat. Sehr selten erkranken die Juden an
Epilepsie (1 pCt. statt 4,7 pCt.).
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
(Aus der Psyohiatrischen Klinik der TJniversit&t Jena [Dir. Geh. Prof.
Dr. 0. Binawanger ],)
Beitrage zur somatischen Symptomatik and DIagnostik
der ^Dementia praeeox“ x ).
Von
Dr. J. H. SCHULTZ.
(Mit 9 Kurv. n und 6 Tabellen.)
In einer kurzen vorlaufigen Mitteilung 2 ) habe ich die Be-
obachtung erwahnt, daB bei der Priifung auf Adrenalin-Mydriasis
Dementia-praecox-Kranke 3 ) in einem auffallend hohen Prozentsalz
eigenartige Erscheinungen bieten; im folgenden soil zunachst die
diesen Untersuchungen zugrundeliegende Fragestellung prazisiert,
darauf ein Ueberblick iiber die klinischen Resultate und iiber Be-
stimmungen des Titers gefd fiver engender Substanzen im Blutserum
und Liquor Dementia-praecox-Kranker gegeben und endlich versucht
werden, die in neuerer Zeit gewonnenen somatosymptomatischen
Befunde bei Dementia praecox mit den vorliegenden neuen Ergeb-
nissen in Beziehung zu setzen.
I. Die Fragestellung.
Seitdem Lewandowsky (36) 1898 nachwiea, daB Kaninchen
auf intravenose Adrenalininjektion mit denselben Erscheinungen
reagieren, wie auf Beizung des Halssympathicus — Mydriasis,
Betraktion der Membrana nicticans, Protrusio bulbi und Lid-
spaltenerweiterung — ist durch eine groBe Beihe experimenteller
Arbeiten, die sich bei Biedl (5) und Cords (14) historisch-kritisch
dargestellt finden, einwandsfrei festgestellt, daB das Adrenalin
*) Anmerkung: Vorliegende Arbeit lag im Juni 1914abgeschlossen vor,
ihre Veroffentlichung hat sich aus &uBeren Griinden verzogert. Inzwischen
hatte Herr Geheimrat Westphal-Borm die Liebenswiirdigkeit, den Verfasser
durch Uebersendung eines Sonderabdruckes davon in Kenntnis zu setzen,
daB bereits 1912 in der Bonner Klinik an 10 katatonischen Rranken-
Adrenalin-Mydriasis beobachtet wurde. Es kann in dieser, in einer FuBnote
niedergelegten Beobachtung aus der Bonner Klinik, die dem Verfasser bisher
entgangen war, eine wertvoile Unterstiitzung der im folgenden mit-ge-
teilten Befunde erblickt werden.
*) Vortrag in der Medizinischen Gesellschaft Jena. 18. VI. 1914.
3 ) Der Kiirze halber wird hier der Terminus „Dementia praecox"
beibehalten; es sollen damit im Sinne der norddeutschen Psychiatric Psycho¬
sen mit hebephrenem, katatonem oder paranoidem Typus von im ganzen
infauster Prognose — Neigung zum Uebergang in defekte Endzustande —
bezeichnet werden.
Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologle. Bd. XXXVII. Heft 4. 14
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
206
Schultz, Beitr&ge zur somatischen Symptomatik
ein dissimilatorisches Hormon mit spezifischer Affinitat zu den
sympathisch innervierten Erfolgsorganen ist.
Fur den weiteren Ausbau der Lehre von der Adrenalin-My¬
driasis wared von besonderer Bedeutung die Beobachtungen von
Wessely (60), Langley (34), 8. J. MeUzer (39), Ehrmann (17), EUiot
(18), Loewi (14), Shima (54), Stravb (56) und Frohlich (25).
Aus ihnen geht hervor, daB normals Warmbliiter auf Adrenalin-
instillation in den Konjunktivalsack nicht reagieren; dagegen tritt
bei Kaninchen auf konjunktivale Instillation von Adrenalin My¬
driasis ein, wenn vorher das Ganglion cervicale supremum exstir-
piert wurde (8. J. MeUzer) ; zwischen der vorbereitenden Operation
und der Instillation muB eine nach Tierart wechselnd lange Zeit
verstreichen. Das Froschauge dagegen reagiert ohne jeden vor¬
bereitenden Eingriff mit Mydriasis auf Adrenalininstillation.
An isolierten Praparaten von Sphinkter- undDilatatorstiickchen
lieB sich die spezifische Wirkung des Adrenalins auf den — sym¬
pathisch innervierten — Dilatator pupillae am Myographen
demonstrieren (Wessely).
Zerstorung der an der Konvexit&t dem Gyrus suprasylvicus
anterior entsprechenden und an der Basis bis an die Substantia
perforata anterior reichenden Vorderhimregion fiihrt bei der Katze,
beeonders kontralateral, zu Adrenalin-Mydriasis, ebenso Durch-
schneidung der Medulla von der Oblongata bis zum VII. Dorsal-
wirbel; hier wurde bei halbseitiger Durchschneidung die gleich-
seitige Pupille adrenalinempfindlich (Shima). Wird eine Durch¬
schneidung auf einer Seite des Sympathicus, auf der andem Seite
der austretenden Spinalwurzeln von Cervicalis VI bis Thoracalis VII
ausgefiihrt, so sprechen beide Pupillen gleichmaBig auf Adrenalin
an, ebenso, wenn auf der einen Seite das untere Hals- oder obere
Brustmark zerstort wird (Stravb).
Diese Ergebnisse der Nervenphysiologie lassen sich am besten
mit den von Levxmdomky, Stravb, Cords u. A. geteilten Gesichts-
punkten vereinigen, daB das Ganglion supremum einen hemmenden,
wenn auch nicht hindemden EinfluB auf die Ausbildung der rein
muskularen Erregbarkeit des Dilatator iridis hat; daher wird nach
Ausschaltung des Ganglions die Iris „sensibler“ fur Adrenalin.
Hierdurch wird namentlich auch - die von Langendorff 1900 (33)
beobachtete „paradoxe Pupillenerweiterung“ verstandlich. Langen¬
dorff exstirpierte auf einer Seite das Ganglion supremum und durch-
schnitt auf der andem den Sympathicus praeganglionaer. Bald nach
der Operation zeigte sich die Pupille auf der Seite der Exstirpation
enger, wurde aber nach einiger Zeit wieder weiter, oft 60 gar weiter
als die der andem Seite. Es darf dies nach der oben angefiihrten
Hypothese so gedeutet werden, daB die Iris vom normalen hemmen¬
den EinfluB des Ganglion befreit und fur die in der Zirkulation
kreisenden mydriasierenden Substanzen empfindlich wird 1 ).
>) Eingehende Kritik der vorliegenden Hypothesen mit ersohopfender
Literaturiibersicht bei Cords (14).
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und Diagnostik der ..Dementia praecox".
207
Aber nicht nur spezielle Veranderungen am sympathischen und
zentralen Nervensystem disponieren zur Adrenalin-Mydriasis;
Loewy zeigte 1907, daB pankreatoprive Tiere auf konjunktivale
Instillation von Adrenalin mit Mydriasis reagieren, was von FaUa
(21) und Zak (62) bestatigt wurde. Aueh peritoneale Reizungen,
Duodenalverletzungen u. a. haben dieselbe Wirkung (Zak), ebenso
Thyreoidinfiitterungen (Eppinger, FaUa und Budinger (19)^,
Ligatur oder Fistel des Ductus thoracicus ( Biedl und Offer (6))
und kiinstliche Adrenalinfiberschwemmung (Cords).
Auch diese Befunde lassen sich durch Erregbarkeitsverande-
rungen im Sympathicus-System unschwer deuten; sie sind fur die
vorliegende Frage bedeutungsvoll, weil sie zeigen, daB Storungen
der inneren Sekreiion zu Adrenalin-Mydriasis fiihren oder jedenfalls
mit ihr Hand in Hand gehen konnen, und gerade dieser Gesichts-
punkt lieB es aussichtsvoll erscheinen, Dementia-praecox-Kranke
einer derartigen Untersuchung zu unterziehen; liefi sich dock hoffen,
so eine einfache und ungefahrliche somatisch-klinische Untersuchungs-
methode zu schaffen, urn die Dementia praecox mit ihren vielgestaltigen
und komplizierten innersekretorischen Anomalien von anderen
,,funktioneUen“ Psychosen abzugrenzen.
Mehr als einer Fehlerquelle muB endlich noch eines Befundes
gedacht werden; bereits Landolt (14) stellte 1899 fest, daB svJb-
konjunktivale Adrenalininjektionen beim Kaninchen zu Mydriasis
fiihren; sie beginnt bald nach der Injektion, und zwar zunachst
mit einer sektorenformigen eckigen Verziehung der Iris nach der
Injektionsstelle zu. Ebenso tritt bei alien lokalen Prozessen, die
zu einer erhohten Durchlassigkeit der Cornea fiihren, Adrenalin-
Mydriasis auf, da hier eine ganz unverhaltnismaBig konzentrierte
Adrenalin-Losung direkt mit der Iris in Verbindung kommt, wie
besonders Bittorf (7) betonte.
Diesen physiologischen Befunden entsprechen die bisher vor-
liegenden klinischen Daten.
So wurde von MeUzer-Auer (40), Zak (62), Qavirelet (26) und
Cords (14) Adrenalin-Mydriasis bei Sympathicus-Lahmung ge-
funden, ferner von Zak bei verschiedenen organischen Affektionen
des Zentralnervensystems (Meningitis tuberculosa, Hydrocephalus,
Encephalitis, Sklerosis multiplex und vieles andere).
Wahrend der Niederschrift dieser Arbeit hat Antoni (2) aus
der Stockholmer psychiatrischen Klinilr Untersuchungen fiber das
Vorkommen von Adrenalin-Mydriasis bei Psychosen mitgeteilt.
Er fand bei 20 Fallen von Dementia paralytica 9 mal Adrenalin-
Mydriasis ,,bei konjunktivaler Applikation”; darunter befanden
sich frische und altere Falle. Zur Lichtreaktion bestand kein regel-
maBiges Verhalten. Antoni laBt es offen, ob diese Befunde in
Analogie zu den Za&schen Stimhimexperimenten zu setzen oder
im Sinne einer erhohten sympathischen Erregbarkeit aufzu-
fassen sind.
Weiter hat Antoni bei einer groBen Anzahl von verschiedenen
Psychosen Lasionen des Comealepithels durch Reibung mit Watte-
14*
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208
Schultz, Beitrage zur somatischen Symptomatik
bauschchen (!) gesetzt und nun die tierexperimentellen Befunde
von LandoU u. A. bestatigt, daB die Iris sich erweitert, und zwar
zuerst sektorenformig nach der Seite der Verletzung. Bei Gesunden
will er unter denselben Verhaltnissen keinerlei Irisveranderung,
jedenfalls nie rasche Erweiterung, gesehen haben.
Femer hat Antoni „an einem sehr groBen Kontrollmaterial
von Geisteskranken, somatisch Kranken, Gesunden" es als ,,etwas
ganz Gewohnliches" beobachtet, daB eine deutliche Erweiterung
der Pupille auf Adrenalininstillation eintritt. Ueber die Grundlagen
dieser Befunde spricht sich Antoni nicht naher aus.
Da er weder iiber das verwandte Praparat noch uber die
Teclinik nahere Angaben macht, ist es schwer, zu seinen Resultaten
Stellung zu nehmen; jedenfalls stehen sie im Widerspruch zu den
bisher vorliegenden Mitteilungen. Cords konnte z. B. bei 60 mit
alien Kautelen, auch bei volligem LichtabschluB untersuchten
Normalpersonen jeden Alters mit der von ihm genau beschriebenen
und in sicher pathologischen Fallen einwandsfrei arbeitenden
Methode keinerlei Reaktion der Iris auf konjunktivale Adrenalin-
instillation feststellen.
Vielleicht erklaren sich diese Differenzen durch Verschieden-
heit der verwandten Praparat e; Antoni spricht von 1 proz. Adre¬
nalin. Es sind hier noch eingehende Mitteilungen abzuwarten.
Die Unabhangigkeit der Adrenalinempfindlichkeit von der Licht-
reaktion der Pupille ist bereits 1910 von Cords hervorgehoben
worden und bei der Verschiedenheit der reizempfanglichen Apparate
a priori anzunehmen; endlich diirften experimentelle Iiisionen
der Cornea nicht so zu graduieren sein, daB aus den mit ihrer Hilfe
gewonnen Versuchsergebnissen irgend ein begriindeter SchluB
abzuleiten ware.
Die physiologischen Beobachtungen von Adrenalin-Mydriasis
bei Storungen der inneren Sekretion haben eine Reihe von Nach-
priifungen bei Krankheitsbildem gefunden, deren Grundlage in
innersekretorischem Anomalien angenommen wird, so besonders
bei Basedow und Diabetes. Die Zahl positiver Ergebnisse ist bei
verschiedenen Untersuchem recht verschieden; Loewy fand von
18 Diabetikem 10, FaUa von 36 15 positiv; Zak gibt 50, Bittorf
20pCt. positive Resultate an, Cords endlich beobachtete nur bei
3 von 11 Fallen deutliche Adrenalin-Mydriasis. Eine klare Bezie-
hung zum Krankheitsverlauf trat nicht hervor.
Bei Basedow wurden erheblich weniger positive Falle ge¬
funden; Loewy sah unter 3 Fallen 1 positiven, Falta , Budinger
und Eppinger unter 20 3, Cords unter 5 keinen.
Ich fand 1911 bei 2 Fallen von Sklerodermie, einem fortge-
schrittenen, universellen, und einem initialen, sehr deutliche
Adrenalin-Mydriasis; trophische Storungen der Cornea, die in
solchen Fallen eine erhebliche Fehlerquelle darstellen (Cords),
bestanden nicht; Cassirer (12) sah in einem Falle von Sklerodermia
diffusa keine Erweiterung der Pupille auf Adrenalininstillation.
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und Diagnostik der ,,Dementia praecox“.
209
Die Tatsache, daB Erregbarkeitsveranderungen im Sym-
pathicusgebiet zu Adrenalin-Mydriasis fxihren, laBt es unumganglich
erscheinen, der neueren Umgrenzung der Begriffe der Sympathico-
und Vagotonie noch kurz zu gedenken.
Es ist das unbestreitbare Verdienst der Wiener Kliniker
Falta, Rudinger, Eppinger und Hefi, versucht zu haben, die Einzel-
beobachtungen spezifischer pharmakologischer Erregbarkeit des
vegetativen Nervensystems zu einer methodischen Priifung zu er-
heben, wenn sie auch das hochgesteckte Ziel, eine ,,Neurologie der
inneren Organe" zu schaffen, nur zum Teil erreichten.
Bekanntlich unterliegen die vegetativen Organe einer kompli-
zierten Doppelinnervation, die einerseits von dem ,,sympathischen",
andererseits von dem ,,erweiterten“ Vagus-System ausgefiihrt wird.
Das erweiterte Vagussystem, das neuerdmgs auch als, ,parasympathi-
sches System“bezeichnet wird,zerfallt in einen mesenzephalenAnteil,
dem im wesentlichen der Oculomotorius entspringt, einen bulbaren
mit Facialis, Glossopharyngeus und Vagus und einen sakralen mit
dem Hauptstamm des Nervus pelvicus; alle diese ,,autonomen“
Stationen sind durch peripher vorgeschobene Ganglienzellen, z. B.
das Ganglion ciliare im Oculomotoriusanteil, charakterisiert.
Ihnen steht die im Grenzstrang auch anatomisch mehr geschlossene
Einheit des Sympathicus gegeniiber.
Neben dieser anatomischen Scheidung, aber nicht in so genauer
Deckung mit ihr, wie die Wiener Forscher anfangs annahmen —
auf diese Divergenz haben neuerdings namentlich Bauer (4),
Lewandowsky (37), Higier (29) und Biedl (5) hingewiesen—, besteht
ein funktioneller und pharmacodynamischer Antagonismus; so
■wird z. B. die Iris durch den Sympathicus erweitert, durch den
Oculomotorius verengert, und pharmacodynamisch laBt sich das
Bcsultat der Mydriasis sowohl durch das spezifische Reizmittel
des Sympathicus, das Adrenalin, als durch das Lahmungsmittel
des autonomen Systems, das Atropin, erreichen. Reizmittel des
autonomen Systems — Pilocarpin, Eserin und verwandte —
fiihren zu Verengerungen, die sich auch durch ein spezifisches
Lahmungsmittel des Sympathicus darstellen lieBe, wenn ein
solches bekannt ware. Dieselben Gegenwirkungen lassen sich fast
an der Gesamtheit der vegetativen Organe, an Speicheldriisen,
Oesophagus, Darmmotilitat usw., und an den Mechanismen nach-
weisen, die der Kohlehydratmobilisierung vorstehen. Von be-
sonderer Bedeutung ist endlich die Tatsache, daB jedes der beiden
Systeme in demselben Organ hemmende und fordemde Einfliisse
ausuben kann — es sei an die sympathische Hemmung der My¬
driasis erinnert —, so daB eine vierfache Innervation besteht.
Eine Gleichgewichtsstorung in dieser Gegenspannung beider
Systeme, im ,,Neurotonus“, fiihrt nach Ansicht der Wiener Forscher
iiber ,,konstitutionelle“ Anomalien zu ausgepragten Krankheits-
bildem, zur ,,Vagotonie" — mit herabgesetzter Anspruchsfahigkeit
fiir sympathicotrope Substanzen und gesteigerter Pilocarpin-
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210
Schultz, Beitrage zur somatischen Symptomatik
empfindlichkeit — oder zur „Sympathicotonie“ mit den entgegen-
gesetzten Kriterien.
Die weitere klinische Analyse bekannter Krankheitsbilder, so
namentlich des Morbus Basedow, nach den Prinzipien dieser
,,Funktionspriitung des vegetativen Systems*' hat abei sowohl den
Begriindem der Lehre selbst, als ihren Nachpriifem, von denen
besonders Petrin und Thorling (5), Bauer (4), Schwenker und
Schlicht (5), A8chenheim und Tomono (4), Skorzefski und Wasset -
berg (47) und neuestens Port und Brunow (47) zu nennen sind,
ergeben, daB reine Typen der geforderten Art selten sind — ein fast
vollig ,,vagotoner“ Zustand ist z. B. das Asthma bronchiale — und
daB, wie dies auch Peritz (46) neuerdings bei Spasmophilie und
Wentzer (59) bei Neurosen feststellten, bei krankhaften Zustanden
i. a. eine diffuse Erhohung der Beizempfindlichkeit ohne charakteristi-
sche Reaktionsveranderung vorherrscht.
Oanz besonders gilt dies fur Erkrankungen, die mit erheblichen
psychischen Alterationen einhergehen ; so ist fur die hier vorliegende
Fragestellung eine Beobachtung von Eppinger und Hefi (20)
bedeutungsvoll: es sollen beim Morbus Basedowii die rein vagotonen
oder sympathicotonen Falle psychisch unauffallig, dagegen die
„gemischten“ Falle stets psycho-pathologisch eigenartig sein 1 );
femer haben bereits Eppinger und Hefi, spater Potzl, auch bei
Psychosen ,,Funktionspriifungen des vegetativen Nervensystems**
vorgenommen. Sie betonen, ,,daB auf der Hohe psychischer Er-
regung auch das Gleichgewicht des viszeralen Nervensystems er-
schiittert wird“; antagonistische Reizmittel haben kurze Zeit
hintereinander denselben auBerordentlich starken Effekt, so daB
bei der gewohnlichen Pilocarpindosis (0,01), z. B. bei manchen
besonders erregten Dementia-praecox-Kranken, ,,fast in kontinuier-
lichem Strahle Nasen- und Mundschleimhaut sezemieren**. Auch
Spermatorrhoe, Erbrechen und profuse SchweiBe treten bei diesen
Kranken gelegentlich auf; dagegen zeigten andere, namentlich
stupordse Kranke eine herabgesetzte Reaktion auf die spezifischen
Reizmittel beider Gruppen. ,,Vielleicht spielt .... der Wegfall
zentraler Faktoren eine Rolle, von denen man annehmen kann, daB
sie unter physiologischen Bedingungen den Antagcnismus der
viszeralen Nerven kontrollieren** (Eppinger und He/3 (20a )).
Nach diesen Ergebnissen der physiologischen und klinischen
Forschung laBt sich der heutige Stand unserer Kenntnisse uher die
Adrenalin-Mydriasis dahin zusammenfassen:
Adrenalin-Mydriasis, d. h. Erweiterung der Pupille, auf
Instillation von Adrenalin in den Konjunktivalsack tritt auf
1. bei erhohter Durchlassigkeit der Cornea,
2. bei Veranderung der sympathischen Innervation und —
wahrscheinlich im Zusammenhang hiermit —
3. bei organischen Lasionen des Stirn-GroBhirns,
4. bei innersekretorischen Storungen und
5. bei peritonealen Reizungen.
*) S. a. v. Noorden jr. Dissert. Kiel 1910.
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und Diagnostik der ..Dementia praecox".
211
Bei remen und symptomatischen Psychosen ist mit einer
diffusen Veranderung der Reizempfindlichkeit zu rechnen. (Durch-
brechung des ,,Yago“- oder „Sympathico-tonus“.)
Da die Empfanglichkeit der Iris fur konjunktival eingebrachtes
Adrenalin aber bei verschiedenen Storungen des innersekretorischen
Gleichgewichts und der pharmacodynamischen Ansprechbarkeit
gleichmaCig erhoht sein kann, erschien die systematische Priifung
auf Adrenalin-Mydriasis trotzdem aussichtsvoll; sie geschah im
Hinblick auf die Moglichkeit, so ein einfaches, praktisch-klinisch
leicht anwendbares Hilfsmittel zu gewinnen, um die Psychosen
unklarer Aetiologie mit erheblichen innersekretorischen Storungen,
insbesondere die Dementia praecox, von anderen, symptomatolo-
gisch nahestehenden Bildem zu differenzieren. Es handeli sich
also im folgenden um eine rein klinische FragesteUung.
II. Klinische Untersuchungen.
Die Priifung auf Adrenalin-Mydriasis ergibt nur dann ver-
gleichbare Resultate, wenn jede Untersuchung unter Innehaltung
bestimmter technischer Kautelen ausgefiihrt wird.
Cords (14) hat in seiner Monographic die entsprechenden MaB-
nahmen von ophthalmologischem Standpunkte aus genau prazisiert.
Die Yersuchspersonen miissen sich vorher mindestens eine Yiertel-
stunde, besser langere Zeit, bei einer gleichmaBig intensiven Be-
leuchtung vorbereiten; das Verhalten der Pupillen wird in dieser
Zeit kontrolliert und erst zum Versuche geschritten, wenn die
Pupillen sich langere Zeit konstant halten. Nun wird die Weite der
Pupillen genau notiert; bei diesen Beobachtungen empfiehlt es sich,
nach meiner Erfahrung, die Befunde von mehreren Untersuchem
f estlegen zu lassen; wahrend nun Cords bei seinen tierexperimentellen
und klinischen Beobachtungen die absolute Weite der Pupillen
gemessen hat, habe ich zunachst in zahlreichen Yorversuchen mich
davon iiberzeugt, daB fur praktisch-klinische Zwecke eine aus-
reichende Genauigkeit erzielt wird, wenn ein Auge instilliert und
nun die Weite beider Pupillen verglichen wird. Wenn auch viel-
leicht bei diesem groberen Verfahren manche minimalen Aus-
schlage nicht nachweisbar sind, so hat es den namentlich in der
psychiatrisch-klinischen Tatigkeit erheblichen Yorteil, daB die
Benutzung komplizierter MeBinstrumente vermieden wird; in einer
groBeren Anzahl von Kontrollversuchen wurde „unwissentlich“
gearbeitet, so daB derKollege, der das Resultat zu bestatigen hatte,
nicht wuBte, in welches Auge instilliert und wie das Yerhaltnis
der Pupillenweiten vorher gewesen war. Es haben sich hier stets
iibereinstimmende Befunde ergeben.
Es wurden jeder Yersuchsperson innerhalb 5 Minuten 3mal
2 Tropfen einer 1 promil. Losung von Suprareninum hydrochloricum
syntheticum (Hochst) bei riickwarts gebeugtem Kopfe, eventuell
in Biickenlage konjunktival instilliert, darauf das Auge 10 Minuten
geschlossen gehalten und die Pupillenweite hierauf, so wie mehrfach
in Abet&nden von viertel und halben Stunden notiert.
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212
Schultz, Beitrage zur somatisoheu Symptomatik
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Bei manchen, namentlich abweisenden Kranken, ist die Ein-
traufelung ein wenig geduldspriifend. Auch beschrankt gelegentlich
Zukneifen der Augen oder sonstiger Widerstand die Zuverlassigkeit
der Resultate. Ich habe daher im Zweifelsfalle nur solche Versuche
verwerlet, wo eine deutliche Anamie der Lidschleimhaut am
Verauchsauge bewies, daB das Praparat eine geniigende Zeit auf
die Bulbusoberflache eingewirkt hatte.
Wichtig ist es endlich, die Versuchspersonen auch nachher
noch zu beobachten; wahrend bei Sympathicuslahmungen und
Comealdefekten die Mydriasis schnell erscheint, wird sie bei inner-
sekretorischen Storungen oft erst nach einiger Zeit — 30 bis 60 Mi-
nuten — deutlich, wie alle Beobachter hervorheben. In manchen
Fallen meines Materials blieb die einmal gesetzte Differenz fiber
Tage bestehen.
Irgendwelche Nachteile fiir die Versuchsperson habe ich nie
beobachtet. Ebenso wenig Cords; Post (zit. nach Cords) sah mehr-
fach heftige Kopfschmerzen nach der Instillation, doch steht diese
Angabe ganz vereinzelt da.
Bei Normalen (20) konnte ich nie eine Adrenalin-Mydriasis
beobachten.
Mein Krankenmaterial besteht zurzeit aus 150 zum groBen
Teile mehrfach untersuchten Fallen; am iibersichtlichsten stellen
sich die Resultate dar, wenn zuerst die Falle organischer Erkran-
kung des Zentralnervensystems, dann gruppenweise die ver-
schiedenen „funktionellen“ Affektionen tabellarisch zusammen-
gestellt werden. Es handelt sich nur um ausgesprochene, dia-
gnostisch einwandsfreie Falle, soweit nichts anderes ausdriicklich
bemerkt ist.
1. Organische Erkrankungen (28 F&lk).
Zahl
der
Fftlle
6
Q
+
T
—
Berner kungen
Paralyse.
9
9
4
2
3
_
Taboparalyse.
2
2
—
—
2
—
Lues cerebri.
3
2
1
—
1
2
—
Alkoholismus.
3
3
—
1
—
2
—
Alkoholismus + Korsa¬
koff .
1
1
__
_
. 1
1
— ■
Alkoholismus + Senium
1
—
1
—
—
1
—
Cere brale Kinder lahmung
+ Epilepsie-Trepana-
tion.
1
1
1
Kein sicherer
Taubstummheit, Schftdel-
defekt.
1
1
1
kontralateraler
EinfluO.
Sklerosis multipl. mit De-
menz.
2
1
1
2
_
—
Sklerosis multipl. ohne
Demenz.
1
1
_
_ _
1
—
Chorea Huntington fort-
geschritten.
2
2
—.
1
1
—
—
Senile Demenz.
2
—
2
2
—
—
j —
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und Diagnostik der ..Dementia praecox“.
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Die Resultate stehen in guter Uebereinstimmung mit den
von Zak, Cords u. A. berichteten klinischen Befunden, sowie mit
den Tierexperimenten von Shima ; von besonderem Interesse ist
der Befund, daft auch die senile Involution des Gehims zu Adrenalin-
Mydriasis zu disponieren scheint, ferner die positiven Resultate
bei zwei Fallen von Huntington-Chorea. Eigenartig ist ferner die
Divergenz der Befunde bei reinen Paralysen, die bei unserer Ver-
suchsanordnung h&ufig positiv sind, und bei Lues cerebri und
Taboparalyse; eine Diskussion dieser Befunde erscheint zurzeit
verfriiht. Sie miissen erst an einem groBeren Materiale verifiziert
werden und sollen hier nur als Kontrollmaterial dienen. Jedenfalls
ze ; gen von 28 Fallen organischer Himaffektionen 11 eine sichere,
4 eine fragliche Adrenalin-Mydriasis.
Ganz anders stellt sich dem gegeniiber das Resultat bei
„funktionellen“ Affektionen ausschlieBhch der Dementia praecox
dar.
2. „Funktionelle“ Psychosen and Neurosen,
ausschlieClich Dementia praecox (48 Falle).
Zahl
der
Fftlle
6
Q
Resultat
Bemerkungen
Epilepsie.
9
5
4
Samtlich —
Es handelt sich
tails um frische,
tails um alte,
auch demente
Falle.
Hysterie.
Psychopath. Konstitu-
9
2
7
Samtlich —
—
tion.
3
2
1
Samtlich —
—
Imbecillitat.
3
1
2
Samtlich —
—
Imbecillitat + Hysterie
2
—
2
Samtlich —
—
Melancholia.
13
2
11
Samtlich —
—
Marne.
Cyklothymie + Base¬
dow + degenerative
2
2
Samtlich —
Ziige.
Hypochondrie + Art¬
1
*
1
+
eriosklerose .
2
2
—
Samtlich —-
—
Paranoia.
1
1
—.
Samtlich —
—
Degenerative Psychosen
3
2
1
2 —
1 +
•
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind um so mehr von
Bedeutung, als es sich, mit einziger Ausnahme der Maniefalle, um
vollig geordnete Kranke handelt, die sich willig und, zu einem
groBen Teile mehrfach untersuchen lieBen. Diese rein ,,funk-
tionellen“ Erkrankungen verhalten sich hinsichtlich der Adrenalin-
Mydriasis wie normale Individuen; besonders zu erwahnen ist,
daB sich sowohl unter den Melancholien als unter den Hypo-
chondrien Falle finden, die mit Arteriosklerose kompliziert sind.
Endlich verlangen die beiden positiven Falle eine kurze Er-
orterung.
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214
Schultz, Beitrage zur eomatischen Symptomatik
Die positive Adrenalin-Mydriasis bei einer Zyklothymen mit
Basedow ist nach den sonstigen Resultaten bei nakestehenden
Fallen — Manie, Melancholie, Hypochondrie — mit groBter Wahr-
scheinlichkeit auf die innersekretorische Storung zu beziehen;
es handelt sich um eine 30jahrige Frau mit Struma, leichtem
Expohthalmus, Tremor manuum, gelegentlicher Taehykardie und
ausgesprochenen vasomotorischen Storungen. Das Blutbild zeigt
eine deutliche Mononukleose. Das psychische Bild wird von
wechselnd intensiven Depressionen, meist exogener Auslosung,
bekerrscht und ist durck zaklreicke Symptome hysteropathischer
Reaktion, besonders ausgepragte hysterische Anfalle kompliziert.
Daneben besteht eine hypomanische, wohl konstitutionelle Grund-
stimmung, die in den Depressionsintervallen deutlick kervortritt.
Es handelt sick demnack um einen Grenzfall zwiscken der degenera-
tiven und eigentlick manisck-depressiven Gruppe.
Es ist nun von Interesse, daB auck der zweite positive Fall
dieser Gruppe den degenerativen Zustandsbildem einzureiken ist.
Es kandelt sick um eine 40 jakrige Frau, die seit 1898 zu wieder-
kolten Malen in der kiesigen Klinik bekandelt wurde; sie stammt
aus einer degenerativen Familie und kat bei ihren verschiedenen
Intemierungen ungemein wechselvolle Bilder geboten von akuter
Verwirrtheit bald angstlicher, bald heiterer Farbung, ekstatischen
Zustanden, heftigen Affektexplosionen bis zu pseudoasthmatischen
Syndromen, akutem Haarausfall und epileptiformen Anfalien;
in den freien Intervallen zeigt sie sich geordnet, einsichtig und fleiBig.
Nach den jahen Schwankungen der Zustandsbilder, dem symp-
tomatischen Polymorphismus und der proteusartigen Unbestandig-
keit und TJnscharfe der klinischen Einzelbilder, wird auch hier eine
degenerative, konstitutionelle Psychose anzunehmen sein.
Beide Falle zeigten bei der Abderhalden-V ntersuchung Schild-
driisenabbau. (Wegener.)
Jedenfalls bedarf die Gruppe der ..degenerativen Psychosen"
noch eingehender Bearbeitung beziiglich der Adrenalin-Mydriasis.
3. Dementia-praecox-Kranke (60 Fhlle).
Dementia
praecox
Zahl der
Falle
+
+ T
paradox
—
Bemerkungen
Q 19
8
2
4
5
Sichere F&Ue.
<3 34
20
5
7
2
—
Q 4
0
0
0
4
Fragliche FftUe.
3 3
0
0
0
8
—
Von 53 klinisch absolut einwandsfreien Fallen von Dementia
praecox zeigen 28 deutliche, zum Teil auBerordentlich starke
Adrenalin-Mydriasis, 7 fragliche, 7 verhalten sich refraktar; dagegen
sind 7 klinisch der Dementia praecox verdachtige Kranke samtUch
negativ. Es handelt sick bei diesen 7 Fallen um das Grenzgebiet
gegeniiber der Paranoia (3), dem degenerativen Irresein (1), der
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und Diagnostik dor ,,Dementia praeoox“.
215
Hysterie (1) und der Imbezillitat (1). Ein Fall endlich ist auf
hereditar-luetischer Grundlage, aber ohne ,,organische“ Symptome
unter dem Bilde einer Hebephrenie erkrankt.
Die Anordnung der sicheren Falle nach den Untergruppen der
Erkrankung zeigt, dab 6ich die Eesultate im allgemeinen bei den
4. Untergruppen der Dementia praecox
Zahl
der
Fall©
++
+
+ t
paradox
—
Bemerkungen
Hebephrenie ....
22
1
10
4
4
3
_ .
Katatonie.
20
3
8
1
4
4
—
Dementia praecox sim¬
plex -f paranoides
8
0
5
2
0
1
_
Akute.
8
2
4
1
1
0
—•
Chronische.
42
2
19
6
7
8
—
verschiedenen Verlaufsformen gleichmaBig verteilen, sowohl was
das Symptombild (Hebephrenie, Katatonie, Dementia praecox
simplex und paranoides), als was dieDauer der Erkrankung betrifft.
Auch zu dem gerade bei der Untersuchung vorliegenden sym-
ptomatischenBUde, zurAffektlage undpsycbomotorischenReaktion
heBen sich eindeutige Beziehungen nicht nachweisen. Die Medi-
kation ist gleichfalls ohne Einflufi, insbesondere verandern Sedative
und Hypnotika die Reaktion nicht. Dies entspricht den Ergebnissen
der experimentellen Forschung, daB auch in tiefer Narkose die
Adrenalin-Mydriasis beim geeigneten Tier auslosbar ist (Cords).
Yon besonderem Interesse ist die Tatsache, daB eine Anzahl
von Dementia-praecox-Fallen auf die Adrenalininstillation paradox,
d. h. mit einer deutlichen Verengerung der Pupille, reagieren; es
sind dies meist Kranke mit an und fair sich mittelweiten oder unter-
mittelweiten Pupillen; derartige paradoxe Reaktionen auf Hormone
sind bereits auf anderen Gebieten beobachtet. So sollen Diabetiker
nach den Beobachtungen von Falta, Newbugh und Nobel (22) auf
Schilddrusenfiitterung nicht wie normale Individuen mit Blut-
drucksenkung, sondem mit Blutdrucksteigerung reagieren. Femer
zeigte H. H. Dale (5), daB mit Ergotoxin-Praparaten vergiftete
Tiere auf Adrenalin nicht mehr mit Blutdrucksteigerung, sondem
Blutdrucksenkung reagieren. Nach dem spezfisch lahmenden Ein-
flusse des Ergotoxins auf die fordemden Sympathicusendigungen
erscheint es als das Wahrscheinlichste, daB unter diesen Umstanden
nur noch die hemmenden sympathischen Mechanismen fur die
Reizung erhalten bleiben; wahrend sonst bei der Adrenalinwirkung
die hemmenden Wirkungen durch das physiologische Uebergewicht
der fordemden, nicht manifest werden, treten sie nun unter dem
EinfluB der Reizung hervor. Es konnte demnach bei den ,,paradox"
auf Adrenalin reagierenden Fallen mit dem Vorhandensein einer
dem Ergotoxin verwandten (wohl endogenen?) Vergiftung hypo-
thetisch gerechnet werden. Ein ahnlich paradoxes Yerhalten
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216
Schultz, Beitr&ge zur somatischen Symptomatik
beschreibt Schmidt (52) hinsichtlich des Blutdruckes bei Dementia
praecox gegeniiber Adrenalin.
Um der Frage naher zu kommen, ob die beobachteten Storun-
gen der Adrenalin-Empfindlichkeit bei Dementia praecox in Ver-
schiebungen der zentralen Erregbarkeit unklarer Genese begriindet
Bind oder ob vielleicht direkt nachweisbare Anomalien im Adrenalin-
stoffwechsel bestehen, wurden bei 40 Dementia-praecox-Kranken
und anderen Psychosen und normalen Kontrollpersonen Be-
stimmungen des Serumgehaltes an vasokonstriktorischen Substanzen
vorgenommen, ebenso an 31 Prdben von Liquor cerebro-spinalis 1 ).
Das Adrenalin kann chemisch oder biologisch nachgewiesen
werden; die biologischen Methoden bedienen sich meist iiber-
lebender Tierorgane, an denen die Wirksamkeit der Untersuchungs-
fliissigkeit gepriift und womoglich mit einer gleich wirksamen
Adrenalinlosung geeicht wird. Als Testobjekt kann das Froschauge
(Ehrmann (11)), die iiberlebende GefaBwand (Meyer (5)), der
iiberlebende Darm (Hoskins (30)) oder Kaninchenuterus (Fraenkel
(24)), kurz jedes Organ mit entsprechenden, leicht registrierbaren
Reaktionserscheinungen auf Adrenalin benutzt werden. Die beste
derzeitige Methode diirfte die Laewen- Trendelenburgsche sein.
Hier wird die iiberlebende untere Korperhalfte von Rana esculenta
von der Aorta aus unter konstantem Druck mit Ringer- oder
Thyrode-Losung durchspiilt und die Zahl der aus der Vena abdomi¬
nals abfallenden Tropfen graphisch oder durch Zahlen registriert.
Bleibt das Praparat konstant, so wird in den Zufuhrungsschlauch
die Untersuchungsflussigkeit mittels Spritze injiziert; enthalt die
Fliissigkeit gefaBverengemde Substanzen, so sinkt die Tropfenzahl.
Trendelenburg (57) gelang mit sehr empfindlichen Praparaten der
„Adrenalinnachweis“ bis 1 : 800 000 000.
Wenn auch durch O'Connor (13) darauf hingewiesen ist, daB
bei der Serumabscheidung durch spontane Gerinnung noch vaso-
konstriktorische Substanzen frei werden, habe ich doch bei dieser
ersten Untersuchungsserie von der Verwendung von Plasma ab-
gesehen, da die bisher vorliegenden Bestimmungen am Blutserum
ausgefiihrt sind und es mir zunachst daran lag, vergleichbare
Resultate zu gewinnen.
Von den zahlreichen bisher vorliegenden Untersuchungen iiber
den „Adrenalin“-Gehalt des menschlichen Blutserums sind hier
zunachst die Befunde von Trendelenburg (57) wesentlich, die bei
normalen Menschen einen Titer von 1 : 2-—2,5 Millionen per ccm
ergeben; femer scheinen im Verlaufe der weiblichen Fortpflanzungs-
tfitigkeit erhebliche und konstante Schwankungen zu bestehen,
die sich mit der Uterusmethode [iVew (43)] und dem Laewen-
Trendelenburgschen Praparat demonstrieren lassen und endlich
darf eine Adrenalinamie beim Morbus Basedowii als hochstwahr-
*) Die Untersuchungen wurden im physiologischen Institut der Uni-
versitat ausgefiihrt. Herrn Geheimrat Biedermann, sowie besonders Herm
Professor Schulz bin ich fur die iiberaus giitige Unterstiitzung zu groOtem
Danke verbimden.
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und Diagnostik der ,,Dementia praecox“.
217
scheinlich angesehen werden [Fraenkel (24), Brocking-Trendelen-
burg (57)]. Bei Krankheit sbddern mit Blutdrucksteigerung ist
eine Adrenalinamie nicht nachweisbar.
Bei Psychosen hat neuerdings Kasten (31) den Adrenalingehalt
des Blutes gepriift; seine Untersuchungen beziehen sich auf Im-
bezille und Senile
Dagegen ist im Liquor bisher eine vasokonstriktorische Sub-
stanz noch nicht nachgewiesen; Biedl erwahnt kurz, dab Versuche
seines Schulers Schivasing negativ ausfielen, eine Notiz, die ich
erst nach Peststellung und versuchsweiser theoretischer Deutung
meiner Befunde bemerkt habe.
Einige beiliegende Kurven eigener Versuche geben ein Bild
von der Leistungsfahigkeit der Methode; auf Kurve I sind die be-
obachteten Punkte durch kleine Kreise markiert.
Eine wesentliche Fehlerquelle der Methode ist darin gegeben,
daB die Empfindlichkeit des Praparates schwankt, ganz besonders
jetzt, wo nur Sommerfrosche zur Verfiigung stehen; es ist daher
notwendig, das Praparat fortlaufend durch Adrenalinpriifungen zu
eichen. Mit dieser VorsichtsmaBregel gelingt es aber meist, einiger-
maBen verwertbare Resultate zu gewinnen, wenigstens soweit,
daB die GroBenordnung des Gehaltes an vasokonstringierenden
Substanzen festzulegen ist. Selbstverstandlich muB jede Unter-
suchungsflussigkeit vielfach in gleichen und verschiedenen Konzen-
trationen gepriift werden.
Unter Beriicksichtigung dieser Kautelen, und der von Tren¬
delenburg neuerdings hervorgehobenen Technizismen, sind die
folgenden Werte gewonnen.
5. Gef&Bverengernder Titer
nach Suprarenin. hydroohlor. synthetic. Hoohst von 0,1 Blutserum.
Material
ViX
v,x
V»x
10—•
IX
*/,x
7»x
7.x
10—’
<7»x
10—»
10—*
Normale.
7
7
_
Neurasthenic . . .
1
—
—.
—i
1
—
--
—
—
—.
Tumor cerebri . . .
1
—.
—
—
1
—,
--
—.
—
—
Dementia praecox
akut.
2
1
1
Hebephren . . . .
5
—
—.
—
—
2
1
2
--
—.
Kataton.
13
—
—.
1
1
4
6
1
—.
Epilepsie.
Akute Erregung . .
MelancholiemitAngst
2
—.
—.
1
—.
1
—
—
—.
6
—
1
--
2
1
—
_
__
_
4
2
1
—
1
—
—
—
—
_
Debilitat, Basedow .
1
1
—
—
—
—
—
—
—
—
Bei der Tabelle ist besonders zu betonen, daB die Normalfalle
sich iiber eine groBe Anzahl von Versuchen an verschiedenen Prapa-
raten verteilen; es handelt sich um Blutsera vonPflegem und Aerzten
der Klinik. Bei den Dementia-praecox-Kranken fallen die im all-
gemeinen recht niedrigen Werte auf, wahrend angstliche Melan-
oholien und ein Basedow ziemlich hohe Werte zeigen.
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218
Schultz, Beitr&ge zur somatischen Symptomatik
Selbstverstandlich kann die kleine Tabelle an sich keinerlei
Anspriiche erheben; es handelt sich hier nur darum, ob den Diffe-
renzen der Pupillarreaktion auf Adrenalin typische Unterschiede
im Gehalt des Blutserums an gefaBverengemden Substanzen ent-
sprechen. Dies ist nun in keiner Weise der Fall, vielmehr verteilen
sich Pupillenweite und Adrenalinempfindlichkeit im Vergleich zum
,,Adrenalin“-Gehalt ganz regellos; auch die ,,paradoxen“ Falle
nehmen keinerlei deutliche Ausnahmestellung ein. Immerhin ist
der Befund beachtenswert, daft bei 18 chronischen Fallen von
Dementia praecox ein so auffallend gleichmaBig niedriger Gehalt
an gefaBverengemden Substanzen gefunden wurde. Eine kon-
stante Beziehung zum Nebennieren-Abbau im Abderhalden-Ver-
such trat dabei nicht hervor.
Von groBem Interesse ist der in einer Reihe von Versuchen
einwandsfrei gelungene Nachweis, daB der Liquor cerebro-spinalis
bei funktionellen Psychosen vasokonstriktorische Substanzen enthalt
(s. z. B. Kurve VII und IX, gestichelte Efeile).
6. Gef&Bverengernde Liquorwirkung
Liquor 0,1 entspricht Suprarenin. synthetic.
Zahl der Falle
7*10-*
7*10—*
7.10-*
V
h-k
?
•4
Bemerkungen
Paralyse.4
1
1
1
1
WR. -f, Norm© -f-,
Pleocyt. +
Dement, praec. ... 7
1
3
3
—
WR. —, Nonne —,
Pleocyt. — -
Manie.1
1
—
—
—
WR. —, Nonne —,
Pleocyt. —
Tumor cerebri?. . . 1
... . ^ 1 . L .
1
■
WR. —, Nonne + ?
Pleocyt. + ?
Wie die Tabelle zeigt, ist die GefaBwirkung unabhangig von
EiweiB- und Zellgehalt und von einer recht erheblichen Intensitfit.
Es scheint mir danach am wahrscheinlichsten, daB es sich hier um
den EinflufS von Hypophysen- (Mittellappen-) Sekret handelt, und es
war mir eine wertvolle Bestatigung, meine Fragestellung auch bei
Biedl eroffnet zu finden. Eine nahere Klarung dieser allgemeinen
Frage scheiterte bisher an technischen Schwierigkeiten.
Eine irgendwie typische Sonderstellung kommt dem Liquor
bei Dement ia-praecox, wie diese Befunde zeigen, anscheinend nicht
zu; konzentrierter menschlicher Liquor soli, wie Biedl angibt, in
Versuchen von Cushing und Gotsch Blutdruckerhohungen und Ver-
minderungen der Zuckertoleranz hervorgerufen haben, wahrend in
Versuchen von Carlson und Martin (5) Hundeliquor bei Hunden
wirkungslos blieb; demgegenuber diirfte in den vorstehenden Ver¬
suchen zum erstenmale der sichere Nachweis gefdfiverengernder Sub¬
stanzen im Liquor erbracht sein.
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und Diagnostik der , .Dementia praecox 11 .
219
III. Bedeutung der neueren somatosymptomatischen Befunde
bei Dementia praecox.
Wenn abschlieBend noch kurz versucht werden soil, die vor-
stehend mitgeteilten neuen korperlichen Symptome mit den
iibrigen in neuerer Zeit gewonnenen Somatosymptomen in Be-
ziehung zu setzen, bo muB gleich einleitend betont werden, daB es
sich hier durchaus um wissenschaftliches Neuland handelt. Soli
es wirklieh fruchtbar gemacht werden, so ist vor alien Dingen jeder
Verallgemeinerung gegeniiber die grofite Zurfickhaltung am Platze.
Nicht von kiihnen Hypolhesen und weitgreifenden Analogien,
sondem von geduldiger Sammlung exakter Beobachtungen ist
wirklicher Fortschritt zu erwarten.
Unter diesem Gesichtspunkte darf gesagt werden, daB unsere
Kenntnis der korperlichen Erscheinungen der Dementiapraecox
in letzter Zeit wesentlich bereichert ist.
Die Abderhaldensche Methodik — ich verweise nur auf die Mit-
teilungen der Jenaer Klinik — hat gezeigt, daB sich nahezu kon-
stant Abbau von Keimdriisen, vielfach auch von Schilddriise und
Gehim, sowie nicht ganz selten von Fankreas, Nebennieren und
Thymus nachweisen IfiBt. Ich mochte auf Grurid eigener Beob¬
achtungen aus meiner Chemnitzer Tfitigkeit noch hervorheben,
daB Uteruswand- und Schleimhaut vom Serum weiblicher Dementia
praecox-Kranker nicht abgebaut werden. Die erwahnten Abder-
haldenschen Kardinalsymptome der Dementia praecox (Keim-
driisen, Thyreoidea, eventuell Gehim) sind von so vielen Seiten
bestatigt, daB sie als vollig gesichert anzusehen sind; sie stellen die
Dementia praecox in einen gewissen Gegensatz zu den ganz „funk-
tionellen" Erkrankungen, wo bei reinen Fallen endokriner Abbau
vermiBt wird.
Dieselbe Ausnahmestellung weist die exakte hamatologische
Analyse der Dementia praecox zu; auch hier darf nach den zahl-
reichen in neuester Zeit erfolgten Bestfitigungen die Bedeutung der
„kapillaren Erythrostase" (Schultz), d. h. einer den vasomoto-
rischen Storungen der Dementia praecox analogen Erythrozyten-
vermehrung im kapillaren Ohrblute und das Yorhandensein eines
weitgehenden Parallelismus von Leukozj^tenformel und klinischem
Befunde (Schultz) als gesichert angesehen werden.
Von groBem Interesse sind femer die Beobachtungen von
Goldstein und Reichenbach (27) liber Abweichungen der elektrischen
Erregbarkeit bei Dementia praecox, von Hauptmann (28) fiber Ver-
kiirzung der Blutgerinnungszeit und von Schmidt (52) fiber Aus-
bleiben der Blutthrucksteigerung bei Adrenalininjektion, wahrend
die Adrenalin-Kohlehydrat-Mobilisierung ungestort vor sich geht.
Schmidt hat mit der Engels chen Methode eine Alkaleszenz-Er-
hohung bei Katatonie gefunden; es muB betont werden, daB damit
nur eine Verringerung der Reserve-Alkali, nicht eine Anomalie der
OH-Ionenkonzentration nachgewiesen wird, wie ich schon 1906
gelegentlich meiner mit der von mir modifizierten Freudenthal schen
Methode ausgeffihrten Alkaleszenzbestimmungen hervorgehoben
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220 Schultz, Beitrage zur somatischen Symptomatik
habe. Die ,,aktuelle Alkaleszenz" ist, wie ich damals nachwies,
bei Katatonie normal.
Auch die Stoffwechseluntersuchungen Bomsteins (9) erwiesen
in Respirationsversuchen mit dem Zuntz-Gepper schen Apparate
eine deutliche Herabsetzung des Energieumsatzes bei Dementia
praecox. Da normalerweise wahrend der Pubertat die GroCe der
oxydativen Prozesse deutlich sinkt, laiJt sich die Dementia praecox
als eine „pathologisch starke und verlangerte Pubertat auffassen“,
die sich in Stoffwechselstdrungen und Psychose auBert.
Zahlreicher zirkulatorischer Phanomene wegen sei besonders
an die Arbeiten von E. Meyer (42), Ballin und Kuppers (32) ver-
wiesen; an die neuerdings von Bunge (50) und Tyson und Clark (58)
wieder genau bearbeiteten Bumke schen Storungen der Pupillen-
bewegung bei Dementia praecox braucht nur erinnert zu werden,
ebenso an die Beziehungen der Dementia praecox zu Himschwellung
[Potzl (48), Reiehard (49)] und die interessanten Befunde Bergers (8)
iiber Reizstoffe im Serum Dementia-praecox-Kranker.
Auch die pathologische Anatomie der Dementia praecox ist
in neuester Zeit durch die Befunde von Alzheimer (1), Sioli (55) und
Omorokon (44) soweit geklart, daB Gliaveranderungen und Him-
rindenausfalle zweifellos feststehen.
Neben diese zum Teil wahrend der Vollendung der vorliegenden
Arbeit mitgeteilten Befunde tritt nun als weiteres objektives
Symptom die abnorme Reaktion der Iris auf Adrenalineintraufelung
und die Hypoadrenalinamie im Trendelenburgschen Versuche.
Ein ,,Dysadrenalismus“ ist fiir die Auffassung der Dementia
praecox bereits von Weygand (61) postuliert und Dercum und Ellis
(16) fanden bei 8 — iibrigens an Tuberkulose gestorbenen! —
Fallen von Dementia praecox sehr geringe Fettanhaufung in der
Rindenzone bei Gesamtgewichtsvermehrung; sie deuten die Er-
scheinungen als Zeichen verminderter Tatigkeit; ja PaUa (45)
geht so weit, eine eingehende, rein hypothetische Nebennieren-
theorie symptomatischer Psychosen und des Delicium acutum aus-
zuarbeiten.
Wird demgegenuber beriicksichtigt, daB die Adrenalinsekretion
nach den unumstoBlichen Resultaten von Biedl (5), Ascher (3) und
Elliot (18) der Splanchnicus-Innervation untersteht, so zeigt sich
besonders schon, in welchem Zirkel sich vorschnelle atiologische
Konstruktionen bewegen konnen, und es erhellt dieUnmoglichkeit,
aus einem Einzel- und dazu Nebennieren-ilf ark- Symptom irgend-
welche weitgehenden Schliisse zu ziehen; gerade das Adrenalin
als ein chemisch bekanntes und relativ leicht nachweisbares
Hormon ist fur die allgemeine Beurteilung „hormonaler“ Einfliisse
gegeniiber dem Zentralnervensystem von groBem prinzipiellem
Interesse. Darum moge hier noch kurz erwahnt werden, daB
Cannon und de la Paz (11) auch unter dem EinfluB psychischer Ein-
wirkungen — Katzen wurden von Hunden geangstigt — meBbare
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und Diagnostik der ..Dementia praecox 11 . 221
Schwankungen der physiologischen Adrenalinamie demonstrieren
konnten 1 ).
Es kann daher eine eingehende Diskussion der Hypadrenalin-
amie und der Grundlagen der Irisreaktion bei Dementia praecox
einstweilen unterbleiben, obwohl Beziehungen zu den neueren
Lehren von der Wechselwirkung der Driisen mit innerer Sekretion
nahe genug liegen, z. B. die Unterwirksamkeit der hypertrophen
Nebennieren bei kastrierten Tieren (Schenk (51)). So sehr uns auch
die neuere Forschung an Beobachtungstatsachen bereichert hat,
das Wesen und die Zusammenhange der Befunde sind einstweilen
noch durchaus willkurlich deutbar.
Endlich noch ein Wort liber die praktisch-klinische Dignitat
fur die Diagnose der Dementia praecox; da darf gesagt werden,
je einfacher und gefahrloser eine Methode ist, desto eher hat sie
Anspruch auf allgemeine klinische Anwendung. So mochte ich
von Adrenalin-Injektionen zu rein diagnostischen Zwccken nach
sehr unangenehmen eigenen Erfahrungen dringend abraten, wie
dies auch Peritz (46) bei ahnlicher Gelegenheit tat; neben die
AfcderAoMen-Untersuchung konnen einstweilen auBer den be-
wahrten Pupillen- (Bumke) und Rreislauf-Symptomen (E. Meyer
u. a.) auf somatischem Gebiete unterstiitzend treten: die Fest-
stellung der ..kapillaren Erythrostase" (Schultz), eventuell des
Blutbildes und die Untersuchung auf Adrenalin-Mydriasis event,
paradoxe Reaktion; hierzu tritt, wenn sich ihre Brauchbarkeit
bestatigt, noch die — allerdings umstandliche — Priifung der
elektrischen Erregbarkeit (Goldstein).
Versuche zu einer Cutireaktion der Dementia praecox blieben
bisher ergebnislos.
Ergebnisse.
1. In Uebereinsthnmung mit den Daten der experimentellen
Pathologie und Physiologie findet sich Adrenalin-Mydriasis nicht
selten bei organischen Himaffektionen.
2. Reine Falle von Neurosen und „funktionellen“ Psychosen,
auBer Dementia praecox, zeigen keine Adrenalin-Mydriasis.
3. Bei Dementia praecox findet sich in etwa 50 pCt. sehr deut-
liche, etwa 15 pCt. fragliche, etwa 15 pCt. negative Adrenalin-
Mydriasis. Etwa 15 pCt. zeigen auf Adrenalininstillation, Pupillen-
verengerung: , .paradoxe Reaktion", besonders bei vorher maBig
weiten Pupillen.
4. Es besteht keine eindeutige Beziehung der Adrenalin-
Mydriasis zu symptomatischen Bddem und zum Verlaufe der
Dementia praecox; oft halt die Mydriasis auffallend lang (tage-
lang) an.
5. Die einseitige Priifung auf Adrenalin-Mydriasis unter
Kontrolle der anderen Pupille und in technisch einwandfreier Weise
1 ) Aehnliohe Ueberlegungen bei Kilppera (bez. Kreislauf) (32).
Monatsichrilt t. Piychlatrie u. Neurologle. Bd. XXXVII. Helt 4. 16
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222
S c h u 11 z , Beitr&ge zur somatischen Symptomatik
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ausgefiihrt, ist eine einfache, gefahrlose klinische Methode, die an-
scheinend praktisch von Interesse ist.
6. Das Blutserum Dementia-praecox-Kranker zeigt im Laewen-
Trendeleriburgs chen Praparate auffallend niedrige Werte (Hyp-
adrenalinamie ?).
7. Der Liquor cerebrospinalis von organischen Himaffektionen
und ,,funktionellen“ Psychosen (Dementia praecox, Manie) enthalt
unabhangig vom EiwexCgehalt erhebliche Mengen gefaBverengem-
der Substanzen im Laewen-Trendelenburgschen Versuche (Hypo-
physe ?).
8. Die neueren somatischen Befunde bei Dementia praecox
weisen iibereinstimmend dieser Krankheitfgruppe eine Sonder-
stellung gegeniiber rein ,,funktioneUen“ Psychosen an; zu einer
einheithchen Theorie geniigen sie nicht.
9. Versuche zur Darstellung einer Cuti-Reaktion bei Dementia
praecox sind bisher erfolglos geblieben.
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Erkl&rung der Kurven.
(Kurven, gewonnen durch graphische Auftragung der Tropfenzahl pro
Zeiteinheit. Es wurde stets 1,0 Volum in 15" injiziert.)
I. bis V. Blutserum.
I. Fall L.: Stupor (Dem. praecox) (demonstriert zugleich Dichte der
Beobachtungspunkte).
II. Fall Hirsem (Dem. paral.); Fall© Lehm., Tuppst., Kuhl, Knote, Schm.
(Dem. praecox).
III. Fall Nitsch (Dem. praecox), Fischer (Imbez.), Lask (Tumor cerebri),
Friedr. (Epil.), Franz (Traum. Neurose); Fall© Flesch, Kuhl, Neusel,
Chrup, Heinr., Schroder, Heller, Kiihn (Dem. praec.); Wettst.
(Ep. p. trauma).
IV. Fall Orth und Wied: Normalfalle.
V. Fall Lanz (normal); Fall Dittm. (Dem. praec.); Fall Friedr. (Epil.)
Fall Brett (Mel. mit Blutdruckerhohung).
VI. bis IX. punktiert Blutserum, gestrichelt Liquor cerebrosp.
VI. FallMiill, Steintz, Schwes. (Dem.praec.); Fall Helenb. (ders. Psychos©
im Klimakterium); Fall Fisch (Imbez.); Fall Glaser (Dem. paral.);
Falle Key, Sieb., Hart, Top. (Dem. paral.).
VII. Fall Schl. (Depression auf ders. Grundlage). Uebrige Falle s. VI.
VIII. Fall Sch. u. v.U.: Normalfalle.
IX. Falle Lehm., Ditt., Grub, Schw., Dup., Grab. (Dem. praec.); Fall
vob (Manie).
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228 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste.
(Aus der inneren Abteilung des Marienkrankenhauses zu Hamburg.
[Chefarzt: Prof. Dr. Allard.])
Ein Fall von Akromegalie mit Hypophyseneyste.
Von
Dr. HUGO MEYER,
frdherem Ass is ten ten.
(Hierzu 1 Abbildung im Text.)
Bis vor wenigen Jahrzehnten gait die Hypophyse als ein
rudimentares Organ, das fur die Physiologic und Pathologie des
menschlichen und tierischen Organismus vollkommen unwichtig
sei. Flesch war der erste, der 1884 zwei durch Farbung unter-
scheidbare Zellarten im Vorderlappen der Hypophyse feststellte,
und zwei Jahre spater stellte Ptere Marie den Symptomenkomplex
der Akromegalie auf, den er bald in innigem Zusammenhang mit
Tumoren der Hypophyse brachte. Seitdem haben wir durch die
Untersuchungen von Tamburini, Hanau, Benda, Erdheim, Stumme ,
Haberfeld, Hochenegg, Fischer, Aschner, Simmonds u. A. eine ziem-
lich weitgehende Aufklarung iiber die Hypophysis cerebri und
ihren Zusammenhang mit der Akromegalie, der Degeneratio
adiposogenitalis und der Graviditat erhalten. Wir wissen heute,
daB die Glandula pituitaria unbedingt erfcrderlich ist fiir den
normalen Ablauf des Stoffwechsels und fiir das Wachstum des
menschlichen und tierischen Organismus; wir kennen femer ihre
groBe Bedeutung fiir die Vita sexualis und die innere Sekretion.
Im Vorderlappen der Hypophyse unterscheiden wir seit den
Untersuchungen von Flesch zwei Arten von Zellen: chromophile
und chromophobe oder Hauptzellen. Einen groBen Fortschritt fiir
die Anatomie und Pathologie der Hypophyse bedeutete die spe-
zifische Ffirbungsmethode von Benda, durch die es erst mogllch
geworden ist, auch die geringsten Granulamengen der chromo-
philen Zellen darzustellen.
Wir unterscheiden im glandularen Teil, wie schon erwahnt,
zwei Zellgruppen: chromophile und chromophobe oder Hauptzellen.
Die chromophilen Zellen zerfallen in die mit Eosin stark f&rb-
baren eosinophilen und in die mit Hamatoxylin gut farbbaren
basophilen Zellen. Die Eosinophilen enthalten feine, die Basophilen
grobe Granula. Die Hauptzellen besitzen ein Protoplasma, das
mit den gebrauchlichen Fixations- und Farbmitteln kaum dar-
stellbar ist. Die Zellgrenzen sind meist nicht festzustellen. Diese
drei Zellformen bilden teils ovale, teils rundliche Zellstrange, die
sich bisweilen auch zu Driisenschlauchen mit deutlichem Lumen
formieren.
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Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 229
Dostoiewski und Flesch sowie dessen Mitarbeiter Lothringer
betrachteten die Chromophoben und Chromophilen als gesonderte
Zellarten, ahnlich wie die Haupt- und Belegzellen des Magens.
Infolge dieses Yergleiches bezeichnet man die Chromophoben auch
vielfach als Hauptzellen. Im Gegensatz hierzu sieht Benda sie
nach den erkennbaren Uebergangsformen als verschiedene Formen
oder Funktionsstadien ein und derselben Zellart an. Ihm ist es
nach den Ergebnissen der histologischen Untersuchung wahr-
scheinlich, daB die Hauptzellen die Jugendform, den Ausgangs-
punkt, bilden, wahrend die mit eosinophilen Granulis erfiillten
Zellen den Hohepunkt, und die Zellen mit basophilen Granulis
das Endstadium der Sekretion darstellen. Benda ,,halt die Granula
fiir das funktionell veranderliche und infolgedessen fiir das Sekret-
produkt der Hypophyse". Erdheim, der sich um die Hypophysen-
forschung besondere Verdienste erworben hat, nahert sich wieder
den urspriinglichen Ansichten von Flesch. Bei seinen gemeinsam
mit Stumme ausgefiihrten Untersuchungen iiber die Schwanger-
schaftsveranderungen der Hypophyse stellte er fest, daB 6ich die
Hauptmasse der Eosinophilen im hinteren Teil, die der Basophilen
in den vorderen Partien des Vorderlappens findet. Die Hauptzellen
fand er ziemlich gleichmaBig iiber den ganzen Vorderlappen zer-
streut. Es fiel ihm aber auf, daB sich die Hauptzellen sehr haufig
im Zentrum der Alveolen und Zellbalken finden, peripher umgeben
von den chromophilen Zellen. Es gelang ihm festzustellen, daB im
Verlaufe der Schwangerschaft die Hauptzellen sich in die von
ihm als Schwangerschaftszellen bezeichnete Zellform umwandeln,
die sich durch Mitose derart vermehren, daB sie an Zahl den ersten
Platz unter den spezifischen Hypophysenzellen einnehmen. Sie
haben die gleiche Gruppierung im Zentrum der Acini und Balken
wie die Hauptzellen, und hieraus konnte Erdheim mit Recht
schlieBen, daB sie aus diesen hervorgehen. Im Gegensatz zu den
Hauptzellen ist ihr Protoplasma gut mit Eosin farbbar, aber
gleichfalls ohne scharfe Grenzen, und ihr Kern ist sehr groB, zu-
weilen sogar groBer als die basophilen Zellen, die normaliter die
groBten Zellen des Vorderlappens sind. Infolge der starken Ver-
mehrung der Schwangerschaftszellen nimmt die Hypophyse an
GroBe erheblich zu. Diese Hypertrophie bildet sich aber nach
dem Partus sehr rasch wieder zuriick. Immerhin ist nach den
Untersuchungen von Erdheim und Stumme als ziemlich sicher
anzunehmen, daB nicht alle SchwangerschaftszeDen von der Bild-
flache verschwinden, sondem daB ein Teil von ihnen in Gestalt
von Hauptzellen persistiert, denn die GroBe und das Gewicht
der Hypophyse bei der Multipara ist, wenn zablreiche Geburten
vorliegen, nicht nur wahrend der Graviditat, sondem auch in der
Zwischenzeit relativ groBer als bei der Primipara. Sehr instruktiv
ist in dieser Beziehung eine Beobachtung von Beu/3, der bei einer
Patientin wahrend der 14., 15. und 16. Graviditat sogar eine
bitemporale Hemianopsie fand, die im Puerperium stets aUmahlich
wieder verschwand. Als Ursache nahm er den Druck der ver-
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230 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste.
grofierten Hypophyse auf das Chiasma an. Erdheim sieht also
die Schwangerschaftszellen als eine dritte Art vcn Chromophilen
an, die aus den Hauptzellen entstehen end wieder zu Hauptzellen
sich zuriickbilden, wahrend er fiir eine Entstehung der Ecsincphilen
und Basophilen aus den Hauptzellen keine Anhaltspunkte findet.
Erdheim untersuchte auch die gegen den Hinterlappen zu
gelegenen Kollcidcysten genauer. Er fand, daB das Protoplasma
des deutlich abgegrenzten Cystenepithels sich farberisch indifferent
verhalt, wahrend sich basal eft ausgebildete Chrcmophile finden.
Die meisten Cysten sind aber Reste des embryonalen Hypophysen-
blaschens. Beim Vergleiche der Cysten mit den Alveclen des
Vorderlappens fand er also die Lagerung des Cystenepithels und
der basalen Chromophilen entsprechend derjenigen von Haupt¬
zellen und Chromophilen. Erdheim macht daher den SchluB, daB
die Hauptzellen homolog dem indifferent en Cystenepithel sind,
also direkt vom embryonalen Epithel des Hypophysisblaechens
abstammen und gewissermafien ,,eine Art. aus der Embryonal-
zeit liegengebliebenes Material bilden, das in sich wahrscheinlich
die Eigenschaft hat, auch postfotal Driisengewebe aufzubauen,
z. B. die Schwangerschaf tszellen“. Erdheim steht nun auf dem
von ihm gut fundierten Standpunkt, daB Ecsinophile und Baso-
phile nicht Sekretionsstadien einer Zellart, sondem zwei ver-
schiedene Zellformen sind, die nicht ineinander iibergehen. Denn,
wie schon oben erwahnt, fand er die Hauptmasse der Basophilen
stets im vorderen, die der Eosinophilen im hinteren Teil des
Driisenlappens. AuBerdem konnte er als erster nachweisen, daB
jede der beiden Zellarten fiir sich tumcrbildend auftreten kann,
wahrend man bisher nur ecsinophile Adencme kannte. Etwas
spater fand dann auch Notdurft ein basophiles Adenom, das in
der Neurohypophyse lag.
Die physiologische Bedeutung der verschiedenen Zellarten
der Hypophyse ist ncch nicht geklart, und die okkulte Lage des
Organs wird auch weiterhin dem Studium der Zellphysiclcgie an
der Hypophyse schwer iiberwindbare Hindemisse in den Weg
legen. Benda, der ja die Chromophoben und Chromophilen nur
als verschiedene Sekreticnsstadien der gleichen Zellart auffafit,
halt die Granula fiir das ,,funkticnell Veranderliche und infdge-
dessen fiir das Sekretprodukt der Hypophyse". Erdheim, der die
Chromophilen als selbstandige Zellfcrm ansieht, fclgert die sekretori-
sche Tatigkeit derselben daraus, daB sie verzugsweise an der
Peripherie der Acini und Balken, in der Nachbarschaft des gefSB-
fiihrenden Stromas liegen. Auch die Befunde bei Akromegalie,
sowie einige neuere experimentelle Ergebnisse scheinen zu dem
Schlusse zu fiihren, daB die chromophilen, speziell aber die eosino¬
philen Zellen in der physiclcgischen Tatigkeit der Hypophyse eine
ausschlaggebende Rclle spielen. Hierauf sell spater ncch ein-
gegangen werden.
Auch die Bedeutung des Kolloids, das sich vorzugsweise in
den hintersten Alveolen des Vorderlappens und in den Cysten der
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Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit HypophyBeneyBte. 231
Pars intermedia findet, ist ncch sehr umstritten. Benda und neuer-
dings auch Kraus halten es fiir ein Degenerationsprodukt, da sie
fanden, daB es mit dem Alter an Menge zunimmt. Cagnetto dagegen
fand eine quantitative Kcrrelation zwischen chromopilen Granulis
und Kclloid. In einem Falle von Tumor hypophyseos ohne Akro¬
megalie, bei dem die chromophilen Zellen fehlten, fand er nur
sparliches Kclloid, und in dem von ihm zitierten Fall von Hypo-
physistumor ohne Akromegalie von Carbone zeigte sich das gleiche
Bild, namlich Fehlen von Chromophilen und Kclloid. Dagegen
in einem Falle von Hypophysentumor mit Akromegalie, die ja,
wie unten ncch ausgefiihrt wird, jetzt adgemein als Hyperpituita-
rismus angesehen wird, waren nicht nur die chromophilen Zeden,
sondern auch das Kcdcid vermehrt. Auch Borchard spricht dem
Kodcid der Hypophyse, besonders bei der Akromegade, eine
groBere Bedeutung zu. Immerhin ist bis jetzt die Frage nach der
Bedeutung des Kodoids noch nicht entschieden.
Wie schon erwahnt, findet sich das Kodoid vorzugsweise in
den Cysten der Pars intermedia. Ihrer Entstehung nach unter-
scheidet man verschiedene Arten von Cysten. Creutzfeld teilt sie
in vier Gruppen. Das Kclloid findet sich besonders in den von
der embryonalen Hypophysenhohle sich ableitenden Cysten.
Diese besitzen meist ein fdmmemdes Zydnderepithel oder ein
zwei- bis dreischichtiges kubisches Epithel. Ihre GroBe kann,
wie es auch in dem hier zu beschreibenden Fade war, sehr be-
trachtlich werden.
In der Neurohypophyse findet sich in wechselnder Menge
Pigment vor, das erst in der aderjiingsten Zeit beginnt, etwas
mehr in den Vordergrund des Interesses zu riicken. Kohn hat
es als erster genau untersucht. Weitere Untersuchungen sind
dann von Stumpf und besonders von Vogel an ca. 100 Hypophysen
aus den verschiedensten Lebensaltem gemacht worden. Es hat
sich nach den Feststellungen von Vogel ergeben, daB das Pigment
des Hinterlappens mit den normaliter in diesen einwandemden
basophilen Zeden des Vorderlappens in Zusammenhang steht.
Vogel nimmt ebenso wie Stumpf an, daB das Pigment ein Um-
wandlungsprodukt der eingewanderten basophilen Zeden ist. Es
hauft sich vorzugsweise in der Nahe des Hypophysenstieles an.
Es kommt schon im friihen Kindesalter in sehr geringer Menge
vcr, nimmt aber mit der Hohe des Alters erhebdch zu. Kohn
und Stumpf machten ebenso wie Vogel die Beobachtung, daB
sich wahrend der Graviditat und sogar ncch einige Zeit spater
nur verschwindend wenig Pigment findet. Im Gegensatz zu Erd-
heim und Stumme, die wahrend der Graviditat das Eindringen
basophder Zeden vermissen, fand Vogel in der Mehrzahl seiner
Fade eine vermehrte Einwanderung der Bascphilen. Tolken hat
uber 100 Hypophysen in Bezug auf die Einwanderung der Vorder-
lappemeden untersucht und vertritt die Ansicht, daB es sich nicht
um Vorderlappenepithelien, sondern um Abkommdnge der um-
gewandelten embryonalen Zeden der Cysten und des Spaltraumes
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232 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste.
der intermediaren Zone handelt. Besonders groBe Pigmentmengen
fand Vogel in einem Fall von Tabes und Karzinom der Nebenniere.
Die grolien Pigmentmassen sind hier vielleicht in Zusammenhang
mit dem Karzinom der Nebenniere zu bringen, die ja zweifelsohne
in engster Beziehung zur Pigmentbildung iiberhaupt steht. Fischer
beschpeibt einen Hypophysentumor, bei dem sich sehr viel Pigment
im Hinterlappen fand, und auch bei unserem Fall von Akromegalie
fand sich ziemlich viel Pigment im Hinterlappen. Kachexie hat
nach den Ergebnissen von Vogel ,,keinen bestimmbaren EinfluB
auf die Pigmentmenge“. Diese Feststellung macht die auch von
Fischer in seiner Monographic iiber Akromegalie vertretene Auf-
fassung des Pigments als Degenerationsprodukt ziemhch hinfallig.
Vogel zieht aus seinen Untersuchungen wichtige Konsequenzen
fur die Funktion der Hypophyse. Die Einwanderung der Baso-
philen in den Hinterlappen, die Bildung des Pigments aus ihnen,
femer die Anhaufung der Basophilen und des Pigments in der
Nahe des Hypophysenstiels machen ihm die von verschiedenen
Seiten vertretene Anschauung wahrscheinlich, ,,daB der Hinter¬
lappen und der Hypophysenstiel die Aufgabe eines Verbindungs-
weges haben, auf dem das Sekret des Vorderlappens in das Gehirn
gelange.“ Hierfiir sprechen auch die Experimente von Pavlesco
und Sitbermark, die durch Trennung des Hinterlappens vom
Infundibulum die gleiche Wirkung erzielten, wie durch Exstirpation
der ganzen Hypophyse. Femer kann man wirksame Extrakte
nur aus dem Hinterlappen gewinnen. Vogel vertritt die An¬
schauung, daB das Pigment eine ,,unverbrauchte oder unbrauch-
bare Schlacke des Stoffwechsels“ ist. Die Tatsache der starken
Verringerung des Pigments in der Graviditat macht es Vogel
wahrscheinlich, daB infolge des gesteigerten Hypophysenstoff-
wechsels der Graviden (Erdheim und Stumme) das Rgment wieder
resorbiert wird. Auch ist ihm die starke Zelleinwanderung in die.
Neurohypophyse ein Beweis fiir die Sekretionssteigerung in der
Graviditat. Uber die Beziehungen des Pigments zur Akromegalie
konnte sich Vogel keine Klarung verschaffen. In dem einen von
ihm untersuchten Falle fand er im Gegensatz zu dem Fall von
Fischer nur aufierst sparliches Pigment.
Unter den mit der Hypophyse in Zusammenhang stehenden
Erkrankungen steht neben der Degeneratio adiposo-genitalis die
Akromegalie bei weitem im Vordergrund des Interesses. Piere
Marie war der erste, der 1886 den Symptomenkomplex der Akro¬
megalie aufstellte und mit der Hypophyse in Zusammenhang
brachte. Der Symptomenkomplex der Akromegalie: Wachsen
der Akra, Hypophysentumor, bitemporale Hemianopsie, Erloschen
der sexuellen Funktionen, in vielen Fallen Glykosurie und Poly-
urie — ist so oft beschrieben worden, daB es sich eriibrigt, noch-
mals im einzelnen darauf einzugehen. Unter den Theorien iiber
die Entstehung der Akromegalie, welche die Ursache teils inner-
halb, teils auBerhalb der Hypophyse suchen, will ich nur einige
wenige erwahnen. Piere Marie, der ja zuerst die Akromegalie
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Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyete. 233
mit Hypophysentumoren in Beziehung setzte, glaubte, daB die
Akromegalie auf einer Hypofunktion der Hypophyse beruhe,
indem der Tumor teils durch Zerstorung der Hypophyse, teils
durch Druck auf diese die Akromegalie hervorbringe. Diese
Theorie ist inzwischen fast allseitig aufgegeben worden. Wie
noch weiter ausgefiihrt werden soli, findet sich bei Akromegalie
stets eine ganz spezielle Geschwulstform, namlich ein Hypophysis-
adenom, und Fischer bemerkt ganz mit Recht, daB es nach der
Theorie von Piere Marie ganz unverstandlich bleiben wiirde,
warum nur etne Form von Hypophysistumoren Akromegalie her-
vorruft, wahrend alle anderen Arten selbst bei weitestgehender
Zerstorung der Hypophysen (Cagnetto, Crevizfeld, Fischer u. A.)
nicht zur Akromegalie fiihren.
Nach der Theorie von Strumpell hat der Hypophysistumor
bei Akromegalie keine kausale, sondem nur symptomatische Be-
deutung. Diese Anschauung erledigt sich von selbst, nachdem
Hochenegg und v. Eiselsberg in mehreren Fallen durch Entfemung
des Hypophysentumors die Akromegalie zum Riickgang bzw.
zum Schwinden gebracht haben.
Heute ist die Theorie, daB die Akromegalie auf einer Funk-
tionssteigerung beruhe, also der Ausdruck eines Hyperpituitarismus
sei, fast ausnahmslos anerkannt. Tamburini und Benda waren
es vor allem, die den Nachweis fiihrten, daB es sich bei den Hypo¬
physistumoren der Akromegalen um eine Adenombildung mit
Vermehrung der spezifischen chromophilen Zellen handle. Benda,
der in den chromophilen Zellen die Trager der Hypophysisfunktion
sieht, muBte daher notwendigerweise zu der Anschauung kommen,
daB es sich bei der Akromegalie um einen Hyperpituitarismus
handle. Bevor Benda seine grundlegenden Arbeiten veroffent-
lichte, segelten die Hypophysentumoren bei Akromegalie unter
den verschiedensten Flaggen: bald als Karzinom, Sarkom, Endo-
theliom, bald als Adenom oder Adenc karzinom. Auffallend war
aber fast immer die relative anatomische Gutartigkeit dieser
Tumoren. Erst durch seine spezifischen Farbemethoden gelang
Benda an mehreren Fallen die Feststellung, daB es sich um
Adenome der spezifischen chromophilen Zellen der Hypophyse
handle. Es gelang ihm auch noch nachtraglich in einem Fall von
Mendel, der bis dahin als Sarkom gegolten hatte, durch den Nach¬
weis zahlreicher cbromophiler Zellen die Diagnose eines spezifischen
Adenoms zu sichem. Fast ausnahmslose Anerkennung hat die
Theorie des Hyperpituitarismus durch die Arbeit von Fischer,
der fast alle veroffentlichten Falle von Akromegalie einer kritischen
Durchsicht unterzog, gefunden. Ein gewichtiger Einwand gegen
diese Theorie war die Tatsache, daB es auch Falle von klinisch
sicherer Akromegalie gab, bei denen sich nicht die geringste Spur
eines Hypophysentumors fand. In einem derartigen Falle fand
Erdheim im Keilbeinkorper ein spezifisches Hypophysisadenom.
Ferner konnte Haberfeld nachweisen, daB sich im Rachendach
bei alien Lebensaltern als konstantes Organ ein aus Hypophysis-
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234 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste.
zellen bestehender Komplex, die Rachendachhypophyse, findet.
Fischer stellt daher mit Recht die Fcrderung auf, daB man bei
jeder Akromegalie ohne Hypophysentumor den Keilbeinkorper
und das Rachendach genau untersuchen muBte. Hierdurch findet
auch der Fall von Petrdn, der noch bis in die allerjiingste Zeit die
Anschauung vertrat, daB es auch Akromegalie ohne Hypophysis-
adenom gabe, seine Erledigung. Fischer konnte noch neuerdings
mit groBter Wahrscheinlichkeit nachweisen, daB es sich in dem
durch Syringomyelie komplizierten Falle Petrins um eine Kom-
bination von Syringomyelie und famili&rem Riesenwuchs handeln
miisse.
Aber nicht nur groBe Tumoren fiihren zur Akromegalie.
Ganz geringe Hyperplasien, wie im Falle von Lewis , und sehr
kleine Adenome, wie in einem Falle j Erdheims, geniigen schon, um
Akromegalie herbeizufiihren. Allerdings handelte es sich hier stets
um beginnende Akromegalien, die an einer interkurrenten Krank-
heit starben. Da also solch geringe Hyperplasien schon eine so
betrachtliche physiologische Wirkung haben konnen, erklart
Fischer mit Recht den Einwand Cagnettos fur hinfallig, daB die
ofter vorkommende Erweichung der Hypophysisadenome nach
der hyperpituitaristischen Theorie zum Riickgang der Akromegalie
fiihren miisse. Sehr instruktiv ist auch ein von Salle beobachteter
Fall von Akromegalie beim Saugling: das Kind, das im Alter
von 2 y 2 Monaten starb, zeigte die deutlichen Symptome einer
Akromegalie. Auch hier war kein Hypophysistumor nachzuweisen.
Die Hypophysis war nur etwas vergroflert. Mikreskopisch fand
sich aber eine erhebliche Vermehrung der eosinophilen Zellen.
Alle diese Beobachtungen sind eine Stiitze fiir die Theorie des
Hyperpituitarismus bei Akromegalie.
Im Symptomenkomplex der Akromegalie ist von besonderem
pathogenetischem Interesse das Auftreten von Genitalstdrungen.
So fand z. B. Creutzfeld bei 118 klinisch beobachteten Fallen von
Akromegalie in 36,4 pCt. eine Genitalatrcphie. Buday und Janstd
fanden als erstes Symptom der Krankheit sexuelle Reizung mit
nachfolgender Impotenz. Auch Creutzfeld fand unter seinen
118 Fallen in 2,5 pCt. eine Hyperplasia genitalis.
Die Genitalstorungen bei Akromegalie machen es notwendig,
ganz kurz auf die Dystrophia adiposo-genitalis einzugehen, die
zuerst von Frohlich mit Hypophysistumoren in Zusammenhang
gebracht worden ist. Es ist hier nicht der Ort, auf die einzelnen
Theorien iiber die Entstehung der Dystrophia adiposo-genitalis
einzugehen. Wahrend aber die Akromegalie durch eine ganz be-
stimmte Art von Tumoren des Hypophysenvorderlappens, namlich
durch chromophile Adenome, verursacht wird, kann nach den
Untersuchungen B. Fischers und L. Picks die Dystrophia adiposo-
genitalis durch jede beliebige Geschwulstart in oder neben der
Hypophyse verursacht werden, die den Hinterlappen schadigt.
Pick zeichnet diesen Gegeneatz sehr treffend in dem Satze: ,,Die
Akromegalie ist in ihrer Genese abhangig von der Funktion, die
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Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyete. 235
Dystrophia adiposo-genitalis von der Lokalisation der intra-
kraniellen Neubildung.“ Da nun natiirlich auch die Adencme des
Vorderlappens komprimierend und schadigend auf den Hinter-
lappen einwirken konnen, ist der hohe Prozentsatz von Genital-
storungen bei Akrcmegabe leicht veretandlich. Fischer betont
das friihzeitige Auftreten der Genitalstorungen, die dadurch die
Bedeutung eines Friihsymptoms der Akrcmegalie gewinnen. Die
von Buday und Janscd und von Creutzfeld beobachtete inPiale
Hyperplasia genitalis erklart Fischer dadurch, daB die VergroBerung
des Vorderlappens zuerst einen Reiz auf den Hinterlappen ausiibt.
Wenn dann die Schadigung starker wird, tritt Genitalatrcphie
ein. Zu Adipositas kommt es bei Akromegalie erheblich seltener.
Creutzfeld fand sie in 1,6 pCt. seiner Falle, was nach Ansicht Fischers
aber zu niedrig gegriffen ist. In vielen Fallen tritt sie wahrschein-
lich infolge der Kcrrelation der Thyrecidea und der Hypophyse
oder infolge von Kachexie nicht in die Erscheinung. Als ziemhch
absclut beweisend fiir die Fischersche Anschauung iiber die
genitalen Storungen muB der Fall Ponchia von Cagnetto betrachtet
werden. Es handelte sich um eine akrcmegalische Frau, die mit
57 Jahren ad exitum kam. Mit 27 Jahren trat Menopause ein,
und bald darauf begann das Wachsen der Akra. Vom 46. bis
48. Jahre stellten sich aber wieder regulare Menses ein, bei
weiterem Fortschreiten der Akrcmegalie. Bei der Autopsie wurde
ein cystisch erweichtes Adencm der Hypophyse gefunden, und
Cagnetto zieht aus dem Sektionsbefund selbst den SchluB, daB
der Tumor 11 Jahre vorher beim Wiedereintritt der Menses er-
weicht sein miisse, da hierdurch naturgemaB eine Druckverminde-
rung eingetreten war.
Ziemlich haufige Symptcme bei Akrcmegalie sind Qlykosurie
und Polyurie. Creutzfeld hatte bei seinen 118 Beobachtungen
11 pCt. Diabetes mellitus und 8,47 pCt. Diabetes insipidus. Die
Glykosurie ist nach den Experimenten von Borchardt sehr gut
mit der Auffassung der Akrcmegalie als Hyperpituitarismus in
Einklang zu bringen. Es gelang namlich Borchardt durch sub-
kutane Injektion von Hypophysisextrakten beim Kaninchen
Glykosurie zu erzeugen. Hierdurch erledigt sich wohl die Meinung
Aschners, der nach seinen zahlreichen an Hunden ausgefiihrten
Hypophysisexstirpationen annimmt, daB die Verletzung des
Infundibulums die Glykosurie hervorrufe. Weniger klar sind die
Anschauungen fiber das Vorkcmmen von Polyurie bei Akrcmegalie.
Schafer konnte durch Einverleibung von Hypophysisextrakten
und durch experimentelle Reizung der Pars intermedia eine Ver-
mehrung der Diurese hervorrufen, so daB man die Pclyurie bei
Hypophysisschadigungen als eine Hyperfunktion der Hypophyse,
besonders der Pars intermedia, ansehen konnte. Auch Simmonds
und Creutzfeld schlossen sich anfangs dieser Anschauung an. In
einer kfirzlich erschienenen Arbeit publiziert Simmonds drei Falle
von Diabetes insipidus. In zwei Fallen fand sich ein Tumor im
Stiel und in der Neurohypophyse, wahrend die Pars intermedia
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236 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit HypophyBencyste.
intakt war, so daB sie sich ohne weiteres mit der Ansicht Schafers
in Einklang bringen lassen. Fur einen dritten Fall Simmonds ver-
sagt die Theorie Schafers dagegen vollstandig, denn hier war die
gesamte Neurohypophyse, der Stiel und die Pars intermedia von
vollig erweichten Tumormassen durchsetzt, so daB es sich nach
der Meinung Simmonds nur um einen Funktionsausfall handeln
kann. Neuerdings haben nun unabhangig voneinander Fami,
van der Velden und Romer durch Verabreichung von Hypophysen-
extrakt beim Menschen und bei Tieren festgestellt, daB das Sekret
der Pars intermedia und der Neurohypophyse eine Herabsetzung
der Diurese hervorruft. Es gelang ihnen auch mit diesen Extrakten,
vorhandene Polyurien herabzusetzen. Sie schlossen hieratis, daB
dem Diabetes insipidus ein Funktionsausfall der Hypophyse zu-
grunde liegt. Bloch gelang es gleichfalls in jungster Zeit, bei zwei
Fallen von Diabetes insipidus durch Behandlung mit Pituitrin
Besserung zu erzielen. Hiermit stimmt auch der dritte Fall von
Simmonds iiberein. Simmonds, der seit einiger Zeit bei alien
Autopsien seines Institutes die Hypophyse untersucht, fand noch
in einigen anderen Fallen ausgedehnte Tumorbildungen der Neuro¬
hypophyse. Bei einem Teil der Falle konnte, wie Simmonds selbst
meint, noch geniigend intaktes Gewebe vorhanden gewesen sein.
Bei einem Falle aber, in dem die Neurohypophyse, die Pars inter¬
media und der Stiel von Karzinommetastasen durchwachsen waren,
war keine Polyurie vorhanden. In einem anderen Falle von Sim¬
monds (Mammakarzinom mit Metastasen) zeigte sich ein Jahr
ante exitum starke .Polyurie. Ein Jahr spater, bei der Wieder-
aufnahme ins Krankenhaus, war keine Polyurie mehr vorhanden.
Vier Wochen spater trat Exitus ein. Auch hier fanden sich wie
in dem vorhergehenden Falle Tumormetastasen, die die Neuro-
hypophyse, den Stiel, die Pars intermedia und Teile des Vorder-
lappens zerstort hatten. Es bestehen hier also vorlaufig noch
ungeloste Widerspriiche, so daB sich eine eindeutige Erklarung
fiir das Vorkommen der Polyurie bei Akromegalie heute noch
nicht geben laBt. Immerhin ist es nach den bisherigen Ergebnissen
iiber den Zusammenhang zwischen Polyurie, Diabetes insipidus
und Hypophyse wahrscheinlich, daB nur die Falle von Akromegalie
von Polyurie begleitet sind, in denen das Hypophysisadenom einen
starkeren Druck auf die mittleren und hinteren Partien der Hypo¬
physe ausiiben kann. Es ware also immerhin in kiinftigen Fallen
von Polyurie bei Akromegalie darauf zu achten.
Ich mochte an dieser Stelle nicht verabsaumen darauf hinzu-
weisen, wie ungemein wichtig es ist, bei alien Autopsien die Hypo¬
physe mikroskopisch zu untersuchen. Es hat sich hierbei nach den
Untersuchungen von Simmonds, dem sich auch Schmorl anschlieBt,
gezeigt, daB zum Beispiel luetische, tuberkulose und embolische
Prozesse der Hypophysis, die bisher als ganz vereinzelte Vorkomm-
nisse galten, keineswegs so sehr selten sind.
Wir kommen nun zur Besprechung der Therapie der Akro¬
megalie. Die interne Organotherapie hat hier vollkommen versagt;
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Meyer, Em Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 237
©s wurde durch Einverleibung von Hypophysensubstanz oder ent-
sprechenden Extrakten nie irgendwelche Besserung oder gar
Heilung erzielt. Nach dem heutigen Stande der Forschung, wo
wir die Akromegalie als Erscheinungsform eines Hyperpituitarismus
auffassen miissen, ist dies auch gar nicht anders moglich. Dagegen
haben die in den letzten Jahren mit Erfolg vorgenommenen
Operationen von Hypophysistumoren bei Akromegalie (v. Eisels-
berg, v. Hochenegg, Exner) die Beweiskraft eines Experimentes liir
die Richtigkeit der hyperpituitaren Auffassung der Akromegalie.
Es gelang namlich durch Operation der Hypophysistumoren bei
klinisch sicherer Akromegalie die Symptome zum Schwinden bezw.
zu erheblichem Riickgang zu bringen: es tritt Involution der
Akra ein, die Sehkraft bessert sich, die Vita sexualis erwacht
wieder, die sekundaren Geschlechtsmerkmale treten wieder auf.
Fischer stellt nach diesen Erfolgen die Forderung auf, daB man
in alien Fallen, wo das Fortschreiten der Akromegalie eine Lebens-
gefahr bedeutet, die Operation des Tumors vomehmen miisse,
wenn nicht im Einzelfall gewichtige Griinde dagegen sprechen.
Aber nicht nur das „Experiment am Menschen“, die Operation,
sondern auch die neueren tierexperimentellen Ergebnisse dienen
zur Bestatigung der hyperpituitaren Ursache der Akromegalie.
Schafer hat durch Verfutterung des Hypophysenvorderlappens
■ein deutlich gesteigertes Wachstum bei Ratten erzielt. Fischer
hebt als besonders beweisend die Experimente Exners hervor.
Dieser verpflanzte bei jungen Ratten 1—10 Rattenhypophysen
in das retroperitoneale Bindegewebe. Im Gegensatz zu den Kon-
trolltieren trat hier ein abnorm gesteigertes Wachstum ein. Dieser
Effekt dauerte aber nur solange, bis die implantierten Hypophysen
resorbiert waren. Ein negativer Beweis fur die Auffassung der
Akromegalie als Hyperpituitarismus sind die Experimente von
Aschner und von Ascoli und Legnani. Sowohl Aschner als auch
Ascoli und Legnani stellten ihre Versuche mit Hunden an. Aschner
erzielte bei erwachsenen Tieren durch. die Hypophysisexstirpation
nur eine leichte Schadigung der Keimdrusen und Herabsetzung
der allgemeinen Widerstandsfahigkeit. Bei jungen Tieren dagegen
zeigte sich ein starkes Zuriickbleiben im Wachstum und Fett-
leibigkeit, sie wurden still, das MilchgebiB persistierte, die Genitalien
blieben infantil. Bei Aschners Versuchen wurden diese Erschei-
nungen nur durch den Ausfall der Vorderlappenfunktionen be-
dingt. Ascoli und Legnani erzielten gleichfalls durch Hypophysis-
exstirpation Wachstumshemmung, Atrophie der Genitalien und
Veranderungen der Drusen mit innerer Sekretion. Es zeigten
sich also bei Fortnahme der Hypophyse die entgegengesetzten
Erscheinungen wie bei Akromegalie.
Zwisohen der Hypophyse und den iibrigen Drusen mit innerer
Sekretion bestehen sehr weitgehende Beziehungen, die aber zum
groBen Teil noch sehr erheblicher Aufklarung bediirfen. Der
innige Konnex zwischen der Hypophyse und den Keimdrusen
ist bereits erortert worden. Bekannt ist femer seit langem die
Monatsschrtft f. Psychiatric u. Neurologic. Bo. XXXVII. Helt 4. 16
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238 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste.
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Hypertrophie der Hypophyse bei Thyreodektomien. Ebenso ist
die Hypophyse bei Myxodem und Kretinismus oft vergroBert,
bei Basedow atrophiert. Bei Akromegalie ist die Thyreoidea teils
atrophisch, teils hypertrophisch gef unden worden. Creutzfeld
hatte 18,6 pCt. Atrophien der Thyreoidea und 5,9 pCt. Hyper-
plasien der Thyreoidea. Oefters ist auch nach operativer Ent-
femung der Hypophysistumoren bei Akromegalie ein Wachsen
der Thyreoidea beobachtet worden (v. Eiselstterg, Exner). Auf
welcher Ursache in einem Teil der Falle die Hyperplasie, im anderen
Teil die Atrophie oder Hypoplasie der Thyreoidea beruht, hat
sich bisher nicht feststellen lassen. Fischer hat femer in einigen
Fallen von Akromegalie Hypertrophie der Nebennieren beobachtet.
Auch Delille hat haufig Hypertrophie der Nebenniere bei Akro¬
megalie gefunden.
Im folgenden soil auf einen Fall von Akromegalie naher ein-
gegangen werden, der besonders deswegen interessant ist, weil
er in einem relativ friihen Stadium der Krankheit zur Sektion
gekommen ist. Es folgt zunachst die Krankengeschichte.
J.-No. 635/1912. August W., 37 Jahre alt. 28. IX. 1912 eingeliefert.
Anamnese: Pat. gibt an, seit 7—8 Jahren an Gelbsucht zu leiden.
Im Anfang der Krankheit sei auch manchmal ,,Krampf im ganzen Leib“
und Diarrhoe aufgetreten. In letzter Zeit seien aber diese Schmerzen nicht
mehr wiedergekommen. Pat. hat bis vor 10 Wochen gearbeitet. Damals
seien die Beine angeschwollen, und diese Schwellung habe immer mehr
zugenommen.
Pat. hat Auftreibungen an den Finger- und Zehenenden und sehr
groBe Hande und Fiifle, jedoch ist ihm dies selbst nie auf gef alien, imd er
kann daher nichts liber das Auftreten dieser Erscheinung angeben.
Aufnahmestalus : MittelgroBer Mann in schlechtem Ernahrungszustand.
Haut hochgradig schmutzig-ikterisch verfarbt, trocken, etwas schil-
femd. Die Schleimhaute und die Skleren sind ebenfalls dunkelgelb bis
braunlich verfarbt. Die Muskulatur ist von mittlerer Entwicklung.
Die Haut an den Armen ist sehr stark abhebbar von der Unterlage,
das Gesicht sehr eingefallen.
An den unteren Extremitaten besteht leichtes Oedem.
Die Zunge ist trocken und leicht belegt.
Das Zahnfleisch neigt rechts aufien oben zu leichten Blutungen.
Der Rachen ist etwas gerotet und zeigt geringen Schleimbelag. Die
TonsiUen sind ohne Besonderheiten.
Der Thorax ist kurz und gedrungen.
Die Lungengrenzen sind rechts vora an der 5. Rippe, beiderseits
hinten am 9. Proc. spinosus, wenig verschieblich.
Ueberall sonorer Zwngrcnschall und vesikulares Atmen ohne Neben-
ger&usche.
Herz : Rechte Grenze zwei Querfinger auBerhalb des rechten Stemal-
randes. Linke Grenze in der Mamillarlinie. SpitzenstoB in der Mammillar-
linie undeutlich im IV. Interkostalraiun fuhlbar. Ueber alien Ostien lautes
systolisches Gerausch. Der II. Pulmonalton ist nicht akzentuiert.
Puls: Gleichm&Big und regelmaBig, von mittlerer Spannimg und
Fiillung.
Abdomen sehr stark aufgetrieben, in den oberen Partien tympanitischer
Schall. In den abh&ngigen und unteren Teilen starke Dampfung. Deut-
liohe Fluktuation. Starke Venenzeichnimg.
Leber und Milz infolge der starken Auftreibung des Leibes nicht
palpabel.
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Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 239
Die Hande und Fiifie sind auBerordentlich vergro!3ert, besonders
auffallig sind die stark aufgetriebenen Endphalangen. Auch die Epiphysen
der Hand- und Fufigelenke sind stark verbreitert.
Das Qesicht zeigt keine auffallige VergroBerung.
Die Pupillenrefiexe und die Patellarreflexe sind normal.
Urin von bierbrauner Farbe. Enth< Spuren von EiweiB, keinen
Zucker, kein Urobilin.
Bilirubinprobe positiv.
Mikroskopisch: Sehr sparliche braungefarbte Zylinder.
30. IX. Urinbefund unver&ndert.
1. X. Von heute ab morgens niichtem Karlsbador Salz.
2. X. Karrellkur dreitagig, ohne Effekt auf die Diurese und den
Ascites. Die Spannung des Leibes nimmt zu. Die Urinmengen bleiben
niedrig: 600—700 ccm. Spezifisches Gewicht 1006—1010.
Der Stuhl enthalt Spuren von Urobilin. Fettsaurekristalle sind in
ihm nicht nachweisbar.
Der Urin enthalt sehr reichliches Sediment. Mikroskopisch werden
ziemlich reichliche gekornte und hyaline Zylinder, sehr reichliche Zylindroide
und viele Epithelien gefunden. Ferner einzelne Leukozyten, zahlreiche
Hamsalze. Keine Erythrozyten. Im Urin ist kein Urobiiin nachweisbar.
Augenhintergrund: Die rechte Papille zeigt etwas undeutliche Be-
grenzung. Die GefaBe sind etwas erweitert und leicht abgeknickt. Am
linken Auge normaler Befund.
Die Rontgenbilder der Hande und FiiBe zeigen keinerlei Exostosen
und UnregelmaBigkeiten an den Knochen, dagegen erscheinen auf ihnen
die Weichteile stark verdickt.
5. X. Seit 2 Tagen wird taglich zweimal 1,0 Diuretin ohne Erfolg
verabreicht.
Wegen hochgradiger Leibesspannung Bauchpunktion: Es werden
6200 ccm gallig gef&rbter Fliissigkeit abgelassen.
Rivalta negativ.
Die Leber ist auch nach der Punktion nicht fiihlbar. Die Milz ist
am Rippenbogen palpabel.
6. X. Probefriihstiick: Beim Herausnehmen des Schlauches entleert
sich etwas Blut. Das Probefriihstiick ist schlecht verdaut.
Salzsauredefizit: 7. Gesamtaciditat: 17. Keine Milchsaure.
Pepsin in Spuren vorhanden.
Mikroskopisch nichts Pathologisches nachweisbar.
Im Stuhl: Urobilinprobe positiv.
Im Urin: Urobilinprobe negativ.
Die Temperatur steigt bis 37,8, der Puls bis auf 105,
Die Urinmenge steigt bis 1200 ccm, spezifisches Gewicht 1010.
7. X. Der Ascites sammelt sich wieder an. Es bildet sich Oedem
am Skrotum, das Oedem der Beine wachst.
Im Stuhl Trypsinnachweis positiv.
Oelprobefriihstuck: Kein Trypsin nachweisbar. Enthalt viel Sanguis,
chemisch nachweisbar. Im Urin Bilirubin, aber kein Urobilin.
9. X. Pat. wird benommen und redet irre.
11. X. Exitus letalis.
Es wurde klinisch die Diagnose auf eine biliare Lebercirrhose infolge
chronischen Choledochusverschlusses gestellt. Die positive Blutprobe im
Oelprobefriihstuck legte auflerdem trotz Fehlens sonstiger Symptome die
Vermutung nahe, daB ein Ulcus duodeni vorhanden sei. Ferner wurde
infolge des akromegalischen Bildes, das die Hande und FiiBe darboten,
die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf einen Tumor der Hypophyse gestellt,
obwohl im Gesicht keine Akromegalie vorhanden und nur geringe okulare
Symptome vorhanden waren. Die Sexualancunnese war leider nicht erhoben
worden.
Sektionsprotokoll.
AeuBere Besichtigung: 172 cm lange, mannliche Leiche. Totenstarre
eingetreten. Blaurote Totenflecke an den abh&ngigen Korperteilen. Pupillen
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mittel- und gleich weit. Skleren und Schleimh&ute von gelber, ikterischer
F&rbung. Die Haut desgleichen. An den Knocheln m&Biges Oedem. Die
Hande und Fiifle sind sehr groB, die Endphalangen sind in Trommelsohl&ger-
form ,stark aufgetrieben.
Linke Hand 21,8 cm lang. GroBte Breite 12,5 cm.
Rechte Hand 22,5 cm lang. GroBte Breite 12,5 cm.
L&nge der FiiBe 28 cm.
Korpermuskulatur von ikterischer Farbung. Nach Eroffnung der
Bauchhohle entleert sich ca. 1 Liter triibseroser ikterisch gef&rbter Fliissig-
keit mit gelblichem Schaum. Die Pleurahohlen sind leer. Der Diinndarm
ist stark gebl&ht. Das Netz ist zum groBen Teil nach oben rechts iiber die
Leber zuriickgeschlagen und mit einem kleinen Zipfel an der Zwerchfell-
kuppe mit dem Wandperitoneum verwachsen. Hier findet sich auch etwas
Hyperamie des sonst normalen Omentum majus. Das Wandperitoneum
t zeigt beiderseits vorn unten kleine Stellen leichter Hyperamie.
Herz: Im Herzbeutel ca. 2 EBloffel klarer, seroser, leicht ikterisch
gef&rbter Fliissigkeit. Das Herz ist in toto etwas, besonders nach rechts,
vergroBert. Muskulatur von schlaffer Konsistenz und ikterischer Farbung.
Fettmuskelgrenze etwas unscharf. Im Herzen fliissiges Blut. Das Endokard,
die Klappen und die Intima der Aorta, die im iibrigen glatt ist, ebenfalls
von ikterischer Farbe. Klappen und Kranzarterien ohne Besonderheiten.
Lungen: Der linke Oberlappen ist vorne locker verwachsen, im
iibrigen frei von Adhasionen. In den Bronchialverzweigungen findet sich
reichlich blutig-schaumige Fliissigkeit. Die beiden Oberlappen und der
rechte Mittellappen sind iiberall lufthaltig. Saft- und Blutgehalt, besonders
im rechten Unterlappen, stark vermehrt. Im linken Unterlappen finden
sich einzelne luftleere, im Wasser untersinkende Partien. Der rechte Unter¬
lappen ist fast total luftleer.
Mediastinal- und Halsorgane: Larynx und Thyreoidea nicht ver¬
groBert und von normaler Beschaffenheit. Die Thymus ist in Fettgewebe
umgewandelt. Die Aorta hat glatte, ikterisch gef&rbte Intima. Sonst ohne
Besonderheiten.
. Bauchorgane (siehe auch oben).
£ Milz: Sehr stark vergroBert (17X9X4,5 cm). Totaler „ZuokerguB“
des verdickten Peritoneums. Sie ist von ziemlich fester Konsistenz, die
Schnittflache ist dunkelrot und sehr blutreich. Die Follikel und Trabekel
t re ten nicht hervor. Am Hilus eine kleine Nebenmilz und mehrere ver-
groBerte, markig gesohwollene Lymphdriisen.
Darmtraktus .
Rectum und Dickdarm ohne Besonderheiten. Das Coecum \md der
unterste Teil des Colon ascendens, ebenso der imterste Teil des Ileum
liegen in einem Becessus, der dadurch ge-
bildet wird, daB eine breite Spange des
Mesenteriums nach rechts unten mit dem
Wandperitoneum, wahrsoheinlich ange-
boren, verwachsen ist. Appendix ca. 6 cm
lang, ohne Besonderheiten. Der Diinn-
d arm ist auffallend in Lange und Quere
vergroBert, desgleichen das Duodenum.
2 cm unter dem Pylorus findet sich in
letzterem eine pfenniggroBe strahlige Ul-
cusnarbe mit schwarz pigmentierter Ura-
randung.
Ductus choledochus und pancreati-
cus mlinden in einer gemeinsamen Oeff-
nung in die Papilla duodeni. Der Ductus pancreaticus ist total durchg&ngig.
Pankreas ohne Besonderheiten.
Leber- und OaUensystem; Die Leber ist von ungef&hr normalen Dimen-
sionen. Sie ist von harter Konsistenz, ihre Oberflftche stark granuliert,
von grauer, etwas ikterischer F&rbung. Der Peritonealiiberzug ist verdickt.
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Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 241
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der vordere Rand ist scharf. Auf dem Durehschnitt zeigt sie sich von zahl-
reichem Bindegewebe stark durchzogen; in das Bindegewebe sind Inseln
an8cheinend normalen Gewebes eingeschlossen. Die Farbung ist ikterisch.
Die Gallenblase ist sehr stark vergroBert und prall gefiillt. An ihrer
Kuppe ist sie mit der Leber etwas verwachsen. Sie enthalt ca. 100 com
griinlicher, dunnflussiger Galle. Der Choledochus ist gut durchgangig.
Der Cysticus ist in ganzer Ausdehnung narbig verengt; nach der Blase
nimmt die Stenose zu und ist hier fur Sonden fast imdurchgangig. Durch
Druck auf die Gallenblase entleert sich aber aus ihm etwas Galle. Der
Hepaticus ist von normaler Beschaffenheit, jjedoch liegt eine Spange des
narbigen Cysticus unmittelbar an seiner Miindung in den Choledochus.
Alle Driisen in der Pankreas- und Lebergegend, ebenso die Driisen
des Mesenteriums sind vergroBert, von weicher, gallertiger Konsistenz und
gelbbrauner Farbe.
Magen: Sehr stark aufgetrieben. Schleimhaut an einigen Stellen
stark injiziert, im iibrigen von normaler Beschaffenheit. Dicht liber dem
Pylorus findet sich eine breite, schwarz pigmentierte Stelle und mehrere
kleine von gleicher Beschaffenheit.
Nieren: Sie sind etwas vergroBert, die Kapsel ist von der glatten
OberflAche gut abziehbar. Die Zeichnung der etwas verbreiterten Rinde
ist leicht getriibt. Die Farbe ist ikterisch.
Nebennieren: Durch Leichenf&ulnis total erweicht.
Hoden: Sie weisen makroskopisch keine Veranderungen auf und
sind von normaler GroBe.
Qehim: Trocken, blaB, von fester Konsistenz. Die Dura und Plexus
chorioidea sind ikterisch geffirbt. Auf den typischen Schnittflftchen keinerlei
pathologische Veranderungen. Die Ventnkel sind ohne Besonderheiten.
Zirbeldruse ohne Besonderheiten.
Die Nervi optici und das Chiasma zeigen keine Veranderungen.
Hypophyse: Sie liegt auBerordentlich stark in die Sella turcica ein-
gekeilt. Ihre Pars cerebralis ist etwas vergroBert. Es gelingt nicht, sie
ohne weiteres aus der Sella herauszulosen. Bei dem Versuch, sie durch
AbmeiBeln des Knochens herauszupraparieren, zeigt es sich, dafi der hintere
Teil der Sella nach dem Clivus zu sehr stark usuriert und erweicht ist.
Nach Ablosung der usurierten Knochenspange sieht man, daB der glandular©
Teil der Hypophyse zum groBten Teil aus einer mit gelbbraunlichem Inhalt
gefiillten Cyste besteht, die nach unten und hinten wachsend den Knochen
usuriert hat. Sie erscheint von hier besehen zirka pflaumenkerngroB.
Beim AufmeiBeln des Keilbeinkorpers stellt es sich heraus, daB die Cyste
auch die ganze rechte Keilbeinhohle ausf iillt. Sie hat das Corpus sphenoidale
hier unter dem Boden des Tiirkensattels perforiert, so daB dieser selbst
ganz intakt geblieben ist. Der eigentliche glandulftre Teil der Hypophyse
zeigt makroskopisch keinerlei Veranderungen, ebenso der Hinterlappen.
Sektionsdiagnose.
GroBe Kolloidcyste der Hypophyse mit Perforation des Keil-
beinkorpers. Biliare hypertrophische Lebercirrhose. Narbiger
VentilverschluB des Ductus choledochus. Ulcus duodeni. Spleno-
megalie. VergroBerung von Diinndarm und Duodenum. Ascites.
Ikterus der gesamten Eingeweide und Muskulatur. Akromegalische
Veranderungen der Hande und FiiBe.
Mikroskopischer Befund.
Der Hypophyaenvorderlajypen zeigt in Schnitten aus verschiedenen
Teilen ein fast ausschlieBliches Vorherrschen der Eosinophilen, die in
Str&ngen und Alveolen angeordnet sind. Basophile und Hauptzellen finden
sich nur in versehwindender Anzahl. In den Kapillaren besteht eine sehr
Starke Hyperamie.
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242 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste.
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Die N eurohypophyse, von der nur ein kleiner Teil mitgetroffen wurde,
hat vermehrte spindelformige Zellen. in ihnen verstreufc ziemlich reichliohe
pigmenthaltige Stellen.
Die mit der Hypophyse zusammenh&ngende Cyste besteht aus
lockerem Gewebe, das reich an kleinen GefaBen ist. Ihre Innenwand ist
bedeckt von sehr hohem, flimmerndem Zylinderepithel.
Die Thyreoidea ist mikroskopisch ohne Besonderheiten.
Die Thymu8drii8e ist stark atrophisch und laBt keinen normalen Bau
mehr erkennen. Es findet sich im Fettgewebe nur noch sparliches lymphoides
Gewebe.
Die Milz ist sehr blutreich, das Bindegewebe ist vermehrt, der sonstige
Bau normal.
Die BauchapeichMruse hat auBer starker postmortaler Selbstver-
dauung keine Ver&nderungen aufzuweisen.
Die Leber zeigt eine sehr starke Vermehrung des interstitiellen Ge-
webes. In diesem reichliche kleinzellige Infiltration und betraohtliche
Gallengangneubildung. Die Leberzellen sind stark gallig pigmentiert. Die
elastischen Fasern sind vermehrt.
Die Nieren weisen eine starke, wahrscheinlich terminale Nekrose
des Parenchyms auf. Einzelne Glomeruli sind atrophisch, die iibrigen gut
erhalten. Das Bindegewebe ist nicht vermehrt.
Die Hoden zeigen starke Hypoplasie. Samtliche Samenkanalchen
sind wenig entwickelt. Sie haben eine breite, bindegewebige, zum Teil
hyaline Wandung. Die Kanalchen sind im Innern von atypisch aussehenden
Zellen erfiillt, die nichts von Spermatogenese erkennen lessen. An manchen
Stellen sind die Kanale ganz verodet; das zwischenliegende Bindegewebe
ist verbreitert, locker, im ganzen kernarm. Zwischenzellen sind auBerst
sparlich.
Mikroskopisches Ergebnis.
AuBerordentlich starke Vermehrung der eosinophilen Zellen im
Hypophysenvorderlappen. Kolloidhaltige, in die Keiloeinhohle hinein-
wachsende Flimmerepithelcyste der Hypophyse. Cirrhosis hepatis. Agonale
Nephritis. Atrophia testis.
Der Fall ist nach den verschiedensten Richtungen hin von
Interesse. Die Hypophysenveranderungen und die Akromegalie
sind hier gewissermaBen nur ein Nebenbefund, da der Patient
an einem interkurrenten Leiden zugrunde ging. Der Patient
hatte von seiner Akromegalie keine subjektiven Beschwerden
und schenkte dem Wachsen seiner Hande und FiiBe keinerlei
Beachtung, um so mehr, als der langjahrige Ikterus seine Auf-
merksamkeit sicher erheblich in Anspruch nahm. Es handelt
sich hier um einen der nicht sehr haufigen Falle, die relativ friih-
zeitig zur Sektion kamen. Die akromegalen Erscheinungen waxen
noch nicht sehr ausgepragt, im Gesicht waren noch keine akro-
megalischen Veranderungen bemerkbar, und die Reizerscheinung
an der rechten Opticuspapille war noch zu gering, um auffallende
subjektive Beschwerden zu machen. Auch Polyurie und Glykosurie
fehlten. Eine Sicherung der Diagnose auf Akromegalie konnte
hier nur durch die Autopsie gewonnen werden. Auch hier bildet
der Befund einer starken Vermehrung der eosinophilen Zellen im
Hypophysenvorderlappen eine Bestatigung der besonders von
Fischer vertretenen Auffassung der Akromegalie als Hyper-
pituitarismus. Die groBe, mit Flimmerepithel ausgekleidete
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Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysenoysto. 243
Kolloidcyste, die sich auBerdem an der Hypophyse fand, ist, wie
weiter unten noch erortert wird, von groBer Bedeatung fur das
Krankheitsbild gewesen. Trotz ihrer ziemlich betrachtlichen GroBe
machte sie aber keine wesentlichen Hirndrackerscheinungen, da
eie fast nur nach der rechten Keilbeinhohle zu gewacbsen ist und
nach Usurierung des Rnochens diese ganz ausfiillte. Sie ist von
der Driisensubstanz des Vorderlappens deutlich abgegrenzt ge¬
wesen, und wenn wir der Einteilung von Creutzfeld folgen, miissen
wir sie unter die von der embryonalen Hypophysenhohle sich
ableitenden Cysten einreihen. Der eigentliche Hypophysenvorder-
lappen war nur wenig vergroBert, und nur die mikroskopische
Untersuchung konnte hier die Diagnose der Akromegalie sichem.
Wir haben es hier also mit einem Parallelfall zu den Fallen von
Lewie und Salle zu tun, die auch bei beginnender Akromegalie
nur eine Vermehrung der eosinophilen Zellen ohne wesenthche
HypophysisvergroBerung fanden. Es zeigt sich auch hier wieder,
wie es schon Fischer betont, daB schon die bloBe Vermehrung
der eosinophilen Zellen hinreicht, um eine so bedeutende Ver-
anderung wie die Akromegalie im menschlichen Organismus hervor-
zurufen. Aus der Menge des im Hinterlappen vorhandenen Pig¬
ments lassen sich irgendwelche Schliisse nicht ziehen. Es ist zwar
ziemlich reichliches Pigment vorhanden, jedoch ist im Verhaltnis
zum Alter des Individuums (37 Jahre) die Vermehrung nicht
abnorm. Auch stehen die bisherigen Pigmentfunde bei Hypo-
physistumoren in zu groBem Widerspruch zueinander, als daB
man einen Zusammenhang mit der Krankheit ableiten konnte.
Wahrend z. B. Fischer in seinem schon fruher erwahnten Fall
von Adipositas hypogenitalis eine starke Vermehrung des Pigmentes
fand, sah Vogel in dem von Martins beschriebenen Falle, der ohne
Akromegalie und ohne Adipositas hypogenitalis verlief, nur sehr
sparliches Pigment. Um so bemerkenswerter und wichtiger ist
aber im vorliegenden Falle die weitgehende bindegewebige Um-
wandlung des Hodenparenchyms und das Fehlen jeglicher Sper-
matogenese bei dem im besten Mannesalter stehenden Individuum.
DaB sich hier bei einer noch nicht weit fortgeschrittenen Akro¬
megalie schon eine so starke Hodenveranderung fand, beruht,
wenn wir der Argumentation Fischers folgen, sicher auf der
Druckwirkung der groBen Kolloidcyste auf den Hinterlappen.
Diese Einwirkung hat hier hochstwahrscheinlich schon lange vor
dem Auftreten der ersten akromegalischen Symptome statt-
gefunden, denn die Cyste muB schon sehr lange bestanden haben,
da sie den Keilbeinkorper so stark usuriert und seine Hinterwand
zum Teil zum Schwinden gebracht hat. Wir haben daher in diesem
Falle Grand zu der Vermutung, daB es auch ohne das Auftreten
der Akromegalie zu einer Genitalatrophie gekommen ware.
Der VentilverschluB des Choledochus, die biliare Leber-
cirrhose und der damit in Zusammenhang stehende Milztumor
bieten nichts wesentlich Neues. Die im Stuhl nachgewiesenen
geringen Urobilinmengen, aus denen man einen, wenn auch ge-
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244 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit HypophysencyBte.
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ringen GallenabfluB entnehmen konnte, stehen mit der bei der
Sektion gefundenen minimalen Durchgangigkeit der Gallen-
abfluBwege vollkommen in Uebereinstimmung. Klinisch inter-
essant ist auch das zufallig gefundene Ulcus duodeni, fur das die
bei einem Oelprobefriihstiick erhaltene starke Blutreaktion in vivo
den einzigen Anhaltspunkt bot. Dieser Befund ist von Allard
in einer Arbeit iiber das Ulcus duodeni noch einer besonderen
Wiirdigung unterzogen worden.
Was den hier beschriebenen Fall so besonders interessant
macht, ist die Tatsache, daB schon allein die Vermehrung der
eosinophilen Zellen geniigt, um das pathologische Wachsen der
Akra herbeizufiihren. Dieser Umstand sowohl als auch die von
der Kolloidcyste beeinfluBte starke Yeranderung der Hoden bilden
eine treffende Illustration zu den besonders von Fischer in den
letzten Jahren vertretenen Anschauungen iiber das Wesen der
Akromegalie und den EinfluB der Hypophyse auf das Genital-
system.
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Staatskrankenanstalten. 1908. Bd. 13. — Dostoiewsky , Ueber den Bau
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zit. nach Benda. — Deli lie, zit. nach Fischer. — v. Eiselsberg , zit. nach
Fischer. — Erdheim und Stumme, Ueber die Schwangerschaftsveranderung
der Hypophyse. Zieglers Beitr. 1909. Bd. 46. — Erdheim , Ueber einen
Hypophysistumor von ungewohnlichem Sitz. Zieglers Beitr. 1909. B. 46.—
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der Akromegalie. Mitteil. aus d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1909. Bd. 20.—
Derselbe, Ueber Hypophysentransplantationen und die Wirkung dieser
experimantellen Hypersekretion. Dtsch- Ztschr. f. Chir. 1910. Bd. 107;
zit. nach Fischer. — Bleach, Tagebl. der 57. Naturforscherversammlung
zu Magdeburg. 1894; zit. nach Benda. — Falla, Erkrankungen der Driisen
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Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysenoyste. 245
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mit inneirer Sekretion. In Mohr u. Staehelin, Handb. d. inneren Med.
Berlin 1912. Bd. 4. — Fami, zit. nach Simmonds. — B. Fischer , Hypo¬
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Gck igle
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246
J 6 r g e r, Ueber Assoziationoa bei Alkoholikem.
(Aus der psychiat. Uuiversitats-Klinik Burgholzli-Ztirich.
[Dir. Prof. Dr. Bleuler].)
Ueber Assoziationen bei Alkoholikern.
Voa
JOH. BEN. JORGER,
II. Assistent des BurghOlzli.
Einleitung.
Die nachfolgende Arbeit bildet eine Untersuchung in der Frage,
ob die chronische Alkoholvergiftung auf den Ablauf und die Form
der Assoziationen eine bestimmte Einwirkung ausiibe, so daB eine
charakteristische Art der Assoziationen sich zeigen wiirde, wie das
z. B. fiir die organisch Dementen und Paratytiker von Brunsch-
tueiler (4), fiir die ImbeziUen und Idioten von Wehrlin (2), fiir die
Epileptiker von Jung nachgewiesen worden ist. Zum Vergleiche
mit dem untersuchten Materiale sind die Tabellen und Zahlen her-
beigezogen worden, die Jung (1) und Riklin in den diagnostischen
Assoziationsstudien nach ihren Untersuchungen fiir die Gesunden
als Norm angegeben haben.
Das fiir die vorliegende Arbeit untersuchte und berechnete
Material umfaBt 84 Tabellen, die teils von anderen, teils vom Unter-
sucher selbst aufgenommen wurden. Die Tafeln sind teilweise die
seit Jahren im Burgholzli angewandten Assoziationstabellen, wie
sie von Jung und Riklin angegeben wurden; ein kleiner Teil sind
Tabellen, die in jiingster Zeit von Aschaffenburg und Hans W. Maier
zusammengestellt worden sind; wahrend erstere Substantive,
Adjektive und Verben im bekannten Verhaltnis enthalten, be-
stehen letztere nur aus zweisilbigen Hauptwortem.
Die Methode des Experimentes war die ebenfalls bekannte.
Der Versuchsperson wurde das Reizwort zugerufen, die Reaktions-
zeit mit der 1 / s Sekundenuhr bestimmt, und nach der Aufnahme
der ganzen Reihe wurde nach einer Pause von 10 Minuten das
Experiment wiederholt zur Priifung der Reproduktion.
Es zeigte sich nun bald, daB es nicht geniigte, mit einem
Patienten nur einmal das Assoziationsexperiment zu machen,
sondern daB vieles Charakteristische herauskam, wenn das Experi¬
ment in gewissen Zeitabstanden wiederholt wurde. Der wieder-
holten Aufnahme trat aber die Schwierigkeit entgegen, daB die
Alkoholkranken teilweise nur kurze Zeit in der Anstalt blieben,
so daB von den einzelnen Patienten nur wenige Tabellen aufge¬
nommen werden konnten.
Diesen Mangel suchte man dadurch zu beseitigen, daB man in
der Berechnung der Resultate den Tag des Eintrittes des Patienten
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J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem.
247
in die Anstalt als denjenigen annahm, an welchem der Patient am
meisten unter dem EinfluB der Alkoholvergiftung stand. Wenn
nun bei verschiedenen Patienten in langeren oder kxirzeren Ab-
standen vom Tag des Eintrittes weg das Assoziationsexperiment
vorgenommen wurde, und man entsprechend diesem Abstand die
Ergebnisse auf einer Kurve einordnete, so hoffte man dadurch
gleichwohl ein Resultat zu erhalten. Dieses sollte demjenigen
gleichen, das man erhalten kann, wenn beim gleichen Patienten in
gewissen Zeitabstanden das Assoziationsexperiment wiederholt
wird. Die Erwartungen wurden nicht erfullt. Es zeigte sich, daB
die Voraussetzung sehr wenig zutraf, denn der Grad der Alkoholi-
sierung konnte beim Eintritt des Patienten nicht bei alien der
gleiche sein. Viele kamen im Delirium und waren erst nach einigen
Tagen zum Experiment befahigt, viele kamen relativ michtern
und konnten schon am Tage der Aufnahme dem Assoziationsver-
such unterzogen werden. Infolgedessen ergab die Zusammen-
stellung der Ergebnisse des Experimentes verschiedener Patienten
nach den Abstanden vom Tage des Eintrittes geordnet kein Re¬
sultat. Man muBte suchen, von der namlichen Versuchsperson
mehrere Tabellen zu erhalten, die in Intervallen von mehreren
Tagen aufgenommen wurden. Dem trat leider die baldige Ent-
lassung vieler Alkoholkranken sehr oft hinderlich in den Weg.
Es zeigten sich aber noch andere Schwierigkeiten. Sie liegen
im Assoziationsexperiment iiberhaupt, und es ist nicht ohne Inter-
esse, einmal auf dieselben hinzuweisen.
Es war nicht gleichgiiltig, wie derExperimentator der Versuchs¬
person die Worte zurief. Das namliche Wort in verschiedenem Ton
gerufen, kann eine ganz verschiedene Reaktion zeitigen. Zweifellos
ist es, daB Personlichkeit, Stimmung sowohl des Experimentators
als auch des zu Untersuchenden seine Einfliisse auf die Reaktionen
hat. Ich als Schweizer z. B. lose bei einem Schweizer eine andere
Reaktion mit dem namlichen Worte aus als ein deutscher Kollege
oder gar eine russische Kollegin. Ebenso wird es einen bedeutenden
Unterschied ausmachen, ob ein Reizwort, z. B. „Tod“, mit einer
leichten, moglichst neutralen Betonung oder mit einer gewichtigen
dumpfen Klangfarbe als Reiz gegeben wird.
Auch ist es fur die Versuchsperson von EinfluB, ob sie bei der
erstenUntersuchung vollgespannter Aufmerksamkeit das ,,Examen‘*
gut bestehen will, oder nach Tagen durch die abermalige Wieder-
holung der langweiligen Sache sich belastigt fiihlt. Dabei braucht
diese Gefiihlseinstellung nicht so stark zu sein, daB sie die Schwelle
des BewuBten iiberschritten hat.
Weiter ist es ganz und gar nicht gleichgiiltig, ob das Experi¬
ment durch Fragen und Erklarungen oder sonstige Storungen
unterbrochen, oder ob die ganze Reizwortreihe moglichst gleich-
maBig der Versuchsperson zugerufen wird. Ist auf einen Reiz eine
Reaktion erfolgt und fragt man dann die Versuchsperson nach
<lem Sinne ihrer Reaktion, z.B. um das Kriterium fur dieEinteilung
zu erhalten, oder um den zugehorigen Komplex zu eruieren, so
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248 J 6 r g e r, IJeber Assoziationen bei Alkoholikem.
wird die nachste Reaktion durch eine derartige Unterbrechung
sicherlich beeinfluBt werden. Anderseits ■wird die Erklarung einer
Reaktion nicht mehr den gleichen Wert haben, wenn sie am Schlusse
der ganzen Reihe erfolgt ist, statt gleich nach deren Auslosung.
Man muB freilich zugeben, daB bei Normalen der Unterschied nicht
groB sein wird, er kann aber sehr groB werden, z. B. bei Versuchs-
personen mit Storungen der Aufmerksamkeit oder des Gedacht-
nisses. Wenn 6olche Leute die Reaktionsreihe nach kurzer Zeit
nur mit vielen Fehlem reproduzieren konnen, so darf man von
ihnen nicht voraussetzen, daB sie sich der Art und Weise ihrer
Reaktion noch erinnem, auch wenn die mangelnde Reproduktion
nicht durch Komplexe bedingt war.
Diese eben beschriebenen Einflfisse haben natiirlich nichts
mit denen zu tun, di ejung (1) in seinen diagnostischen Assoziations-
studien beschreibt, und die er als die Ursache des verschiedenen
Reaktionstypus fiir Gebildete und Ungebildete angibt. Er erklart
diesen Unterschied durch eine Yerschiedenheit der Aufmerksam-
keitsintensitat: 1. Der Ungebildete betrachtet das Experiment als
etwas Fremdes, die Erregung ist daher groBer, er reagiert mit
groBerer Anstrengung. 2. Er faBt das Reizwort als Frage oder
Befehl auf, da er nicht gewohnt ist, auf Worte zu reagieren, die er
ohne Satzzusammenhang hort, und darum konstruiert er sich zum
Reizwort einen Fragenzusammenhang, auf den er dann antwortet.
3. ,,Der Ungebildete kennt sozusagen nur Worte im Satzzusammen¬
hang, besonders wenn sie als akustische Erscheinung auftreten.
Im Satzzusammenhang haben Worte immer Bedeutung. Der Un¬
gebildete kennt daher das Wort weniger als bloBes ,Wort‘ oder
sprachliches Zeichen, sondem vielmehr als Bedeulung.“ Er faBt
daher einzelne Worte nach ihrem Bedeutungswerte in einem
fiktiven Satzzusammenhang auf. Aehnlich kann es dem Gebildeten
mit Wortem einer Sprache ergehen, die er nie geschrieben oder ge-
druckt liest. Wenn die Reizworte im Dialekt z. B. zugerufen
werden, so hat er oft Miihe, sie zu verstehen, weil er eben gewohnt
ist, Dialektworter nur im Satzzusammenhang zu horen.
Diese Argumente, die Jung zur Erklarung des Reaktionsunter-
schiedes zwischen gebildeten und ungebildeten Individuen angibt,
treten zu unseren Bemerkungen fiber verschiedene Einflfisse und
Variationsquellen bei der Betrachtung der Ergebnisse des Asso-
ziationsexperimentes hinzu. Einerseits laBt sich keine scharfe
Grenze zwischen ,,Gebildet“ und „Ungebildet“ ziehen, sondem
die Uebergange sind flieBend, ebenso wie in der Gruppe der Un¬
gebildeten, kein Individuum gleich dem andem in demselben MaBe
dem Experiment seine Aufmerksamkeit im Sinne des von Jung
Hervorgehobenen zuwenden wird. Ebensowenig wird bei Un¬
gebildeten die ,,Schuleinstellung“ und die Auffassung des Ex-
perimentes als ,,Frag- und Antwort8piel“ bei alien dieselbe sein.
Alle diese Einflfisse und Einstellungen sowohl der Versuchs-
person als des Experimentators wirken auf das Resultat ein. Es
ist darum nicht verwunderlich, wenn der eine Untersucher in seinen
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J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem.
249
Ergebnissen viele Reaktionen gehauft findet, die beim andem
sparlich sind.
Beweisefurdiese einzelnenTatsachen zu erbringen ist schwierig;
dies© Arbeit hat sie sich auch nicht zur Aufgabe gestellt, jeder aber,
der selbst Assoziationen aufgenommen hat, wird ahnliche Er-
fahrungen gesammelt haben.
Aber nicht nur das Individuum selbst ist die Quelle einer
groBen Variationsmoglichkeit der Ergebnisse, sondem auch das
technische Hilfsmaterial, d. i. das Reizwortschema.
DaB das Reizwort an und fur sich von eminenter Wichtigkeit
ist, zeigt sich vielleicht spater bei der Besprechung der Resultate
durch den Vergleich der Reizwortschemata von Aschaffenburg-
Maier mit denen von Jung . Es mag ein Wort fur einen Deutschen
sehr gelaufig sein, und ohne weiteres eine Reaktion hervorrufen,
wahrend dasselbe Wort einem Schweizer beinahe unbekannt ist
und wegen seiner Fremdartigkeit fiir den Ablauf der Reaktion
zeitverlangernd wirkt.
Eine weitere Schwierigkeit stellte sich bei der Einteilung und
Berechnung der Ergebnisse selbst ein. Da die Untersuchten ohne
Ausnahme dem Kreise der Ungebildeten entstammten, so wurde
die Einteilung ohne Hilfe der Versuchspersonen vorgenommen,
um moglichst gleiche Bedingungen zu schaffen, wie Jung in der
Berechnung seiner Reaktionsreihen fiir ungebildete normale Ver¬
suchspersonen. Die meisten unserer Versuchspersonen waren
iiberhaupt zur Mithilfe an der Einteilung nicht befahigt gewesen.
Bei der Einteilung der Reaktionen tritt sehr bald die Frage
auf, wo und wie die Grenzen fiir die Einordnung in das Jungsche
Schema zu ziehen seien. Man kann wohl mit dem gleichen Recht
eine Reaktion, z. B. ,,weiB-rot“, unter dem Oberbegriff ,,Farbe“
koordinieren, als auch auf dem gleichen Gegenstand befindlich sich
koexistent denken, wahrend der Untersuchte vielleicht den ganzen
Begriff rein sprachlich motorisch (Reminiszenz an ein Lied) vor-
gebracht hat. Dies zu entscheiden ist aber nur die Versuchsperson
fahig.
Wird sie aber zur Einteilung zugezogen, so wird der Gewinn,
der dadurch fiir die Klassifikation der Reaktionen entsteht, wieder
aufgehoben durch eben die aufgezahlten Fehlerquellen, die gerade
bei Ungebildeten und vor allem bei pathologischen Versuchsper¬
sonen durch besondere Einstellung, mangelndes Verstandnis,
Unterbrechen des Experimentes durch Fragen und anderes, auf-
treten. Wir haben darum auf die Mitwirkung der Versuchsperson
beim Einteilen der Ergebnisse verzichtet, mit der Ueberlegung,
daB die Bearbeitung des Stoffes unter solchen Umstanden gleich-
maBiger wird, wenn sie nur eine Person vomimmt, die dann iiberall
die gleichen individuellen Fehler einflieBen lassen wird.
Auch Aschafferiburg (5) hat auf die Schwierigkeiten bei der
Einteilung der Resultate hingewiesen. Er sagte: bei der Einteilung
,,ist aber manches viel schwieriger als man erwarten sollte, und
manche Verbindung zweier Begriffe laBt sich ohne eine gewisse
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J c r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem.
Willkiir nicht unterbringen“. ,,Immer wieder war ich iiberrascht,
wie haufig anscheinendganz natiirliche Beziehungen zweierBegriffe
zueinander fur die Versuchsperson eine ganz andere Bedeutung
hatten, als man annehmen konnte.“ Er betont dieWichtigkeit der
Feststellung der Qualitat der Reaktionen durch die Versuchsperson
selbst.
Auch Jung weist auf diese Einteilungsschwierigkeiten hin und
bespricht die Vorteile des Aschaffenburgschen Reizwortschemas,
von welchem das seine auch von uns beniitzte abgeleitet ist. Dieses
Schema erlaubt eine annahernd richtige Klassifikation ohne Mit-
hilfe der Versuchsperson, ,,was fiir psychopathologische Versuche
von besonderer Wichtigkeit ist“. Die Versuchsperson kann hier
eben nur sehr selten zur Einteilung zugezogen werden, aus Mangel
an introspektiver Fahigkeit, wie Jung sagt.
Wie wir spater zeigen werden, ist fiir das Resultat des Asso-
ziationsexperimentes nicht nur das einzelne Reizwort an und fiir
sich von groBem EinfluB, sondem auch die grammatikalische Form
des Einzelwortes und die Zusammenstellung der ganzen Reizwort-
reihe. Es ist selbst verstandlich, daB die JaTi^schen Tabellen, die
nicht nurHauptw6rter,AdjektivaundZeitworterenthalten, sondem
nebenbei noch, man mochte sagen durch ihre Anordnung zum
Fang von Komplexen eingerichtet sind, ein anderes Resultat er-
geben mussen, als die jiingst von Aschaffenburg und Mater zu-
sammengestellte Reizwortreihe, die nur zweisilbige Hauptworter
enthalt und womoglich jede Komplexwirkung ausschalten soil.
Abgesehen von diesem bedeutenden Unterschied haftet dem
letzteren Schema noch der Nachteil an, daB es viele Worte enthalt,
die Versuchspersonen aus ungebildeten Kreisen, wie sie die von uns
untersuchten Patienten darstellen, ungewohnt sind. Es gibt darin
eine Reihe selten verwendeter Worte und z. T. auch solche, die gar
nicht bekannt, oder z. B. fiir Schweizer miB- oder schlecht verstand¬
lich sind, so die Worte ,,Kiebitz“, ,,Hummer", „Sahne", „Mieder“
und andere. Wir benutzten darum fur unsere Experimente vor-
wiegend die Reizwort-Schemata von Jung-Riklin. In unserer
Arbeit sind von diesen verarbeitet 39 Tabellen No. 1, 31 No. 2,
10 Bogen No. 1 und 7 Bogen No. 2 der Aschaffenburg-Maier-
schen Tabellen, im ganzen rund 8700 Assoziationen. Es ist noch
zu bemerken, daB im nachfolgenden nicht immer alle Tabellen
in die Berechnung eingezogen werden konnten, weil Teile der
Beobachtung ausfielen; darum schwankt die Zahl, wie man
sehen wird.
Wir waren uns also der verschiedenen Fehlerquellen bei der
Berechnung unserer Ergebnisse bewuBt, und versuchten sie mog-
lichst zu umgehen; einmal im Experiment selbst, indem die Auf-
nahme der Assoziationen unter weitgehend gleichmaBigen Be-
dingungen vorgenommen wurden, und die Personlichkeit des Ex-
perimentators die Versuchsperson durch Sprache, Betonung,
Unterbrechungen, Fragen usw. so wenig als moglich zu beeinflussen
suchte. Anderseits sind auch Assoziationen, die von anderen
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J 5 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem.
251
Experimentatoren aufgenommen wurden, in die Berechnung ein-
gezogen worden, um ein moglichst groBes Material zu erhalten.
Um in der Art und Weise der Abgrenzung und Auszahlung der
verschiedenen Arten der Assoziationen sich denen Jungs zu nahern,
wurde der Autor konsultiert, der so liebenswiirdig war, einen Teil
der Resultate zu durchgehen und auf Differenzen zwischen seiner
Auszahlung und der meinigen aufmerksam zu machen.
Endlich geniigt es nicht, sich diese teils individual-psycholo-
gischen, teils technischen Schwierigkeiten klarzulegen, sondem
das schwierigste bildet die Auswahl der Versuchspersonen selbst.
Wir wissen gar nicht, was den eigentlichen Alkoholiker ausmacht.
Es ist nicht die chronische Zufuhr des Giftes allein, die einen solchen
Kranken vom Gesunden unterscheidet. Dem Drange nach Be-
taubung durch das Gift sind andere psychologische Triebe vor-
gesetzt. Vera Strasser (6) ist in ihrer Studie ,,Zur Psychologie des
Alkoholismus" im Sinne der Lehren Adlers geneigt, eine Organ-
Minderwertigkeit des Magen-Darmtraktus anzunehmen und sieht
fur die Psychologie des Alkoholikers im Alkohol ,,das bequemste
Hilfsmittel, das sich in den Dienst irgendwelcher Fiktion stellen
kann“ und dem Alkoholiker zur Erhohung des Personlichkeits-
gefiihles dient.
Wir lassen die Frage nach dieser Seite hin offen. Sicher ist,
daB sehr oft, wenn die akuten Zeichen des Alkoholismus verklungen
sind, hinter denselben bei vielen Kranken Zeichen und Symptom©
hervorkommen, die deutlich fiir eine Schizophrenie, eine Imbe-
zillitat, eine organische Psychose oder irgendeine Psychopathie
sprechen, abgesehen davon, daB viele Falle schon von vomeherein
als kombiniert ersichtlich sind. LaBt man letztere auBer Betracht,
und stellt man nur diejenigen Falle zusammen, die als „reine Alko¬
holiker “ gegolten haben, so kann man mit Recht fragen, warum
dieses normale oder leicht schizophrene oder psychopathische Indi-
viduum zum Alkoholiker geworden ist. Allen muB etwas gemein-
sam sein, das ihnen die iibertriebene Sucht nach dem Gifte ein-
impft. Was diesesEtwas ist, wissen wir aber noch nicht. Ist es im
Sinne der Psychoanalytiker die mannliche Hysterie, die ihre
Komplexe im Alkohol abzureagieren sucht ?
Die Ergebnisse.
Vera Strasser (6) sagt in ihrer eben zitierten Studie zur Psycho¬
logie des Alkoholismus, daB etwas Spezifisches fiir die Mechanik
des Assoziationsexperimentes der Alkoholiker durch Einteilung der
Assoziationsreihen nicht herauskomme. Da sie keine Beweise dafur
gibt, so mag es, sollte dem wirklich so sein, doch einigen Wert haben,
diesen Beweis zu erbringen. Negative Arbeit hat fiir denjenigen,
der sie leisten muB, wenig Erfreuliches. Wenn sie aber gemacht
ist, so erspart sie einem andem Zeit und Miihe und sagt ihm, daB
er anderswo suchen miisse. Unter diesen Betrachtungen wurde
unsere Arbeit begonnen. Wir hoffen zeigen zu konnen, daB das
Resultat nicht rein negativer Natur war.
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252
Jorger, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem.
Tabelle I.
Wir stellen in Tabelle I die Zahlen, die Jung und Riklin
in ihren diagnostischeir Assoziationsstudien fiir ungebildete
Manner und Frauen angegeben haben mit unseren Resultaten
zusammen. Unsere Versuchspersonen waren 5 Frauen und 62
Manner, alle ebenfalls dem Kreise der Ungebildeten entstammend,
von Beruf: Bauern, Arbeiter, Knechte, Bureaulisten, Handwerker
ubw. Die Zahl der in der Arbeit verwendeten Assoziationen be-
tragt 8400.
Das erste, was in die Augen fallt, ist die sehr groBe Zahl der
sog. inneren Assoziationen, die sich aus Koordinationen, pradika-
tiven und kausal abhangigen Assoziationen zusammensetzt. Auch
zugegeben, daB gerade bei der Einteilung der Koordination im
Verhaltnis zu derjenigen der Gruppe der Koexistenz eine groBe
subjektive Note mitspielen muB, und man eine Menge Prozentver-
haltnisse vom Resultat als Fehlerschwankung in Berechnung zu
bringen das Recht hat, so muB die immer noch sehr hohe Zahl
auffallen. Selbst wenn das Resultat von 62,78 der Durchschnitts-
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Jorger, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 253
berechnung der Jungscheri Zahlen von 43 gleichkame, so ware
sie fur die Gruppe der inneren Assoziationen zu hoch, nach den
Erwartungen aus den Untersuchungen der Krapelinschen Schule.
Diese Arbeiten fallen in zwei Gruppen. Riidin (7) untersuchte
die Wirkungen einer einmaligen Alkoholgabe. Er fand eine Zu-
nahme der vorzugsweise auf Sprachvorstellungen beruhenden
Assoziationen, d. h. eine Vermehrung der auderen und ein Zuruck-
treten der inneren Vorstedungsverbindungen. Der Alkohol be-
giinstigt das Auftauchen von Sprachvorstellungen, namentlich
motorischer Art, also Reime, Klangassoziationen, Reminiszenzen,
Identitaten. Die Dauer dieser psychischen Alkoholwirkungen
bet rug 12—24 Stunden, oft noch mehr.
Setzt nun, ehe die Storungen einer einmaligen Gabe ver-
schwundensind, eine neueGabe ein, sotritt eine einmalige Haufung
der Wirkungen auf, der chronische Alkoholismus beginnt. Die
wissenschaftdche Definition des Alkoholikers lautet demnach wie
Kiirz und Krdpelin (8) resiimieren: ,,Trinker ist jeder, bei dem eine
Dauerwirkung des Alkohols nachzuweisen ist, bei dem also die
Nachwirkung einer Alkoholgabe noch nicht verschwunden ist,
wenn die nachste einsetzt.“
Auf einem solchen, experimented erzeugten Zustand basieren
nun die Arbeiten von Kiirz und Krdpelin (8). Sie fanden, dad die
regelmadige Zufuhr von Alkohol in mittleren Gaben u. a. eine
Erschwerung der Assoziationen bedinge. Sie konnten aus ihren
Versuchen mit 2 Versuchspersonen keine Beeinflussung der Qualitat
der Assoziationen zeigen.
In ihrer Arbeit zitieren sie aber die Ergebnisse von Fiirer , der
eine ,,naehweisbare Abnahme der inneren Assoziationen und
wesentliche Zunahme der Klangassoziationen fand“. Noch mehr
sagen die Ergebnisse der weiter besprochenen Arbeiten von Smith.
Seine Versuchsperson arbeitete 27 Tage lang, 6 Tage ohne Alkohol,
12 Tage mit Alkohol in Gaben von 40, 60 und 80 g. Hierauf folgten
6 Tage ohne und nochmals 2 Tage mit 80 g Alkohol. Das Ergebnis
war u. a. eine verhaltnismadige Abnahme der inneren Assoziationen
und eine Zunahme der auderen sowie der Klangassoziationen.
Darf nun dieses experimented erzeugte Versuchsmaterial dem
chronischen Alkoholismus unserer Versuchspersonen gleichgesetzt
werden, die alle seit Jahren in unvergleichlich viel hoherem Made
den Versuchsbedingungen der Arbeiten von Kiirz und Krdpelin
und Smith nachgekommen sind und die Definition eines Trinkers
erfiidten ? Krdpelin und Kiirz schreiben den aus ihren Versuchen
beobachteten Alkoholwirkungen durchaus dieselben Ziige wie der
akuten Alkoholvergiftung, also der einmadgen Gabe im Versuche zu.
Unser Begriff des chronischen Alkohodsmus ist ein wesentdch
anderer. Bei den Experimenten der Krapelinschen Schule haben
wir nur akute Wirkungen, die sich bei den Trinkem aderdings
durch Summation perpetuieren konnen. Hat aber nach einigen
Tagen das Gift den Korper verlassen, so sollte sich nach dieser
Auffassung die Storung zuriickbdden.
Monatnchrift f. Piyohi&trie a. Nenrologle. Bd. XXXVII. Heft 4. 17
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254
J 6 r g e r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikern.
Im bisherigen klinischen Begriff des chronischen Alkoholismus
liegt aber noch etwas anderes: eine Storung, die unabhangig von
der direkten Giftwirkung besteht, diese iiberdauert und eventuell
sogar ganz unheilbar sein kann. Das letztere ist z. B. der Fall bei
den anatomischen Storungen der Leber und im Gehirn. Eine aus-
gleichbare Storung, die aber wenigstens in Bezug auf die Dauer
iiber die direkte Alkoholwirkung hinausgeht, ware etwa das alko-
holische Fettherz. Analoge Veranderungen mogen im Gehim
des Trinkers bestehen. Jedenfalls treffen wir in den schweren
Fallen die Atrophie, die die psychischen Funktionen ganz anders
beeinflussen mub als die blobe Vergjftung durch sieh kumulierende
Dosen.
Bei den Alkoholikern unserer Kliniken nun, die eine Auswahl
von schweren Fallen darbieten, diirfen wir voravseetzen, dab
solche Storungen, die langst unabhangig von der direkten Ver-
giftung geworden sind, in der Regel bestehen. Sehen wir doch,
dab wir den Alkoholismus auf korperlichem und geistigem Gebiet
in vielen Fallen dauernd, in den gewohnlichen wenigstens eine
grobere Zahl von Monaten, leicht nachweisen konnen.
So erscheint unser Material von vomeherein ein anderes als
das der friiheren Publikationen, und erst die Result ate der Unter-
suchungen werden zeigen, ob man, wie Krdpelin (10) in seiner
Arbeit liber die ,,Psychologie des Alkoholismus 44 voraussetzt, auch
den klinischen Alkoholismus dem Zustande bei rasch aufeinander-
folgenden Vergiftungen gleichsetzen darf.
Wir kehren zur Besprechung unserer Resultate zuriick. Ein
den ersten Resultaten entsprechendes Ergebnis kam auch bei der
zweiten Gruppe der sog. aujiern Assoziationen heraus, die sich aus
Koexistenz, Identitat und sprachlich motorischen Assoziationen
zusammensetzt. In der letzteren Gruppe haben wir noch die Kon-
trastassoziationen ausgezahlt, um event, ein Urteil durch den Ver-
gleich der Zahlen zu erhalten, welche in der Arbeit von Fiirst (9)
liber familiaren Typus der Assoziation stehen. Leider sind dort
nur wenige Zahlen angegeben, so dab das Vergleichsmaterial un-
geniigend wird. Jung zahlt die Kontrastassoziationen zur sprach-
Uch motorischen Gruppe. Wahrend nun die Zahlen fiir die Ko¬
existenz denjenigen gleichkommen, die im Jungzchen Schema fiir
das zweite Hundert aufgezahlt werden, ist auffallend, wie niedrig
die Werte fiir Identitat sind. Die Fehlerquelle, die durch die Be-
rechnung und Einteilung durch verschiedene Personen gegeben
ist, wird bei dieser Gruppe im Verhaltnis zu andern kleiner, denn
die Uebereinstimmung in der Zahlung mub doch relativ weit-
gehend sein, wenn Jung die Gruppe folgendermaben charakteri-
siert: ,,Die Reaktion bedeutete keine Verschiebung oder Weiter-
entwicklung des Sinnes, sondern ist mehr oder weniger ein syno-
nymer Ausdruck fiir das Reizvort, der der gleichen Sprache ent-
stammen kann, wie: grobartig — prachtig, oder eine Uebersetzung:
Sonntag — dimanche 44 .
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J 6 r g e r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikem.
255
Weiter ist es auffallig, daB in der zweiten Gruppe unserer
Tabellen die sprachlich-motorischen Assoziationen inklusive extra
gezahlter Kontrastassoziationen mit der Durchsehnittszahl 13 nur
die Halfte erreichen von der Jungschen Durchsehnittszahl von 26.
Hier sollte man, gemaB den oben zitierten Arbeiten aus der Krdpelin-
schen Schule und in Anbetraeht der ebenfalls oben dargestellten
individuellen Fehlerquellen, zum mindesten eine gleich hohe, wenn
nicht groBere Zahl erwarten, soli sich der flache Typus im Vor-
wiegen der auBeren Assoziationen bei Alkoholikern bestatigen.
Im Sinne der Theorien der Verflachung der Assoziationen
dagegen spricht in der dritten Gruppe unserer Tabelle die Zahl der
Klangassoziationen. Sie steht im Verhaltnis von 2,52 zu 0,5 der
Jungschen Zahl. Die Klangreaktionen sind also ubereinstimmend
mit den Ergebnissen bei akuter Alkoholwirkung bei unseren chro-
nischen Alkoholikem gegeniiber den Normalen erhoht.
Bei der vierten sog. Restgruppe sind die Jungschen Zahlen
und unsere fur mittelbare, sinnlose und Fehlreaktionen als ungefahr
gleich zu setzen. Die Fehlreaktionen sind freilich bei uns etwas
niedriger. Es muB offen bleiben, ob die Differenz den Fehlern der
Berechnung zuzuschreiben ist oder zu den Eigentiimlichkeiten der
alkoholischen Reaktion gehort. Wir mochten letzteres annehmen
und werden spater darauf zuriickkommen.
Zur Wiederholung des Reizwortes , eine Gruppe, die Jung selbst
quantitativ sehr schwach nennt, zahlt er nur diejenige Wieder¬
holung, die von der Versuchsperson als Reaktion gegeben wird.
Sie war bei uns sehr selten, und die Summe war so klein, daB sie
kaum in Berechnung gezogen werden kann.
Die andere Art der Wiederholung des Reizwortes, die Jung
daneben beschreibt, ist diejenige, daB es Individuen gibt, die es
nicht unterlassen konnen, das Reizwort sich noch einmal vorzu-
sagen, um erst dann eigentlich zu reagieren. Biese Art der Re¬
aktion hat Jung nicht in genannte Rubrik eingetragen. Er nennt
eine solche Wiederholung ein Phanomen, das man auch auBerhalb
des Experimentes bei gewohnlicher Unterhaltung beobachten kann.
Wir fanden es bei den Alkoholikem auf 100 Assoziationen berechnet
11, 35 mal, d. h. 874 mal auf 7700 Assoziationen. Entspricht diese
Haufung dem Normalen? Sicher nicht.
Schliefllich bleiben in der Restgruppe die sinnlosen Reaktionen;
sie erscheinen sehr vermehrt. Sie konnen in der Berechnung durch
verschiedene Zahlen nur im Verhaltnis zu den mittelbaren Asso¬
ziationen verschoben werden. Da aber auch die Zahl dieser im
Vergleich zur Jungschen Zahl leicht vermehrt ist, so sind die sinn¬
losen Reaktionen auch unter Beriicksichtigung der Fehlerquotienten
gegen Jungs Zahlen stark erhoht.
Die Zahl fur die egozentrischen Reaktionen differiert nicht von
der Jungs . Dagegen ist die Durchsehnittszahl der Perseverationen
wieder sehr erhoht. Wir rechneten Perseveration wie Jung , der
darunter ein Beharrungsphanomen versteht, „welches darin be-
17*
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256 J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem.
steht, daB die vorangehende Assoziation die folgende Reaktion mit
bedingt“.
Nahe verwandt mit der Perseveration ist die folgende Gruppe
der Wiederholungen. Dazu zahlten wir alle in einer Reaktionsreihe
wiederholt gegebenen Reaktionen. Piese beiden Phanomene fand
Brunschweiler (4) in seiner Arbeit iiber die Assoziationen von Orga-
nikern. Sie sind demnach vielleicht ein Zeichen fur eine organische
Komponente im Ablauf der Assoziationen des Alkoholikers. Pie
Zahlen, die Brunschweiler angibt, sind leider nicht in Prozenten an-
gegeben, so daB sie kein Vergleichsmaterial liefern.
Die Differenz zwischen der Mittelzahl von 10,9 Jungs und
unserer Zahl 18 fur die Wiederholungen derselben Reaktion ist groB,
da die Fehlerquelle bei der Abzahlung nur gering sein muB. Pie
Art und Weise, wie man gleiche Worte zusammenzahlt, kann von
einem Individuum zum andern nicht sehr differieren. Wir haben
in unseren Tabellen die Worte, die wiederholt werden, in den Zahler
eines Bruches geschrieben, und in dessen Nenner die Zahl der
wiederholten Male gesetzt. Es ist daraus der Bruch 4e3 / 149 7 ent-
standen, der aus 83 Assoziationsreihen mit je 100 Reizworten zu-
sammengereehnet wurde.
Als letzte Gruppe stellt Jung diejenigen der sprachlichen Bin-
dungen zusammen, die das Verhaltnis des Reizwortes zur Reaktion
nach gewissen rein auBerlich motorisch akustischen Prinzipien
ordnet. Wir haben fur die Gruppe der gleichen grammatikalischen
Form die Zahlen, die mit der Jung-Riklinschen Assoziations-
Tabellen gewonnen wurden, extra berechnet. Ihre Zahl 59,1 darf
mit derjenigen Jungs gleichgesetzt werden. Piese betragt ebenfalls
im Durchschnitt 59,1. Fur die Aschaffenburg-Maierschen Tabellen,
die sich aus lauter Substantiven zusammensetzen, ergab sich eine
Durchschnittszahl von 82. Das zeigt, welch groBen EinfluB die
Form und Sprache, die GleichmaBigkeit des Reizes auf den Ablauf
und die Form der Reaktion haben kann.
Unsere Resultate fur Silbenzahl, Alliteration und gleiche Endung
sind unwesentlich von den Zahlen fur die Normalen verschieden.
Auffallend dagegen ist die starke Verminderung der Konsonanz ,
die gegeniiber dem Durchschnitt Jungs von 12,4 sich nur auf 6,73
bewertet, also etwa die Halfte. Man sollte, auch die Fehlerquellen
in Betracht gezogen, eine mindestens ebenso hohe Zahl erwarten,
indem die Konsonanz sich dem Klange nahert, und Klangasso-
ziationen sind doch nach den zitierten Arbeiten auf der Krdpelin -
Schule beim AlkohoJiker vermehrt. Jung hat die Konsonanz sehr
weitgehend abgezahlt, d. h. so oft die erste Silbe von Reizwort und
Reaktion wenigstens im Vokal ubereinstimmten. Warum dennoch
diese groBe Differenz entstanden ist, muB vorlaufig offen bleiben ?
In seinem IV. Beitrag zu den diagnostischen Assoziations-
studien gibt Jung (3) als allgemeinen Mittelwert fur die Dauer
einer Assoziation 1,8 Sekunden an. Es wurde zuerst das wahr-
scheinliche Mittel berechnet, und aus den erhaltenen Individual-
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Jdrger, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 257
werten das arithmetische Mittel gezogen. Wir haben das gleiche
getan und fanden die Zahl 2,75. Diese Zahl muB verwunderlich
erscheinen, ist man doch gewohnt, daB beim Alkoholiker Reizwort
und Reaktion sich Schlag auf Schlag folgen. Man weiB, wie schnell
der Alkoholiker mit seiner Ausrede zur Hand ist und wie rasch er
seine Gedachtnisliicken durch Konfabulationen auszufiillen vermag.
Statt dessen ergaben unsere Untersuchungen eine Verlangerung der
Reaktionszeit! Ein gleiches fand auch Brunschweiler bei seinen
Berechnungen der Reaktionszahl organisch Dementer. Sein Mittel-
wert betragt allerdings noch mehr, namlich 4,8.
Wir haben weiter auch die Zahl der durchschnittlichen Re-
produktionen von Assoziationen berechnet. Bekanntlich kann die
Versuchsperson, wenn sie nach kiirzerem oder langerem Intervall
auf die namliche Reizw r ortreihe die namlichen Reaktionen geben
soli, die Aufgabe nur teilweise erfiillen. Bei unseren Versuchen
war die Pause im Durchschnitt 10 Minuten. Das Ergebnis war,
daB von 8600 Assoziationen 5797 reproduziert wurden, das ist 67,4
auf 100 berechnet. Leider finden sich nirgends Vergleichzahlen.
Unsere Prozentzahl ist aber zu gering; der Durchschnitt fur Nor-
male diirfte um 80 stehen. Aus Jungs neuntem Beitrag zu den
Assoziationsstudien entnehmen w r ir fur die zitierten normalen
Versuchspersonen 8,37 und 15pCt. mangelhafte Reproduktionen.
Seine Zahl 33 pCt. ist wohl fur das gesamte bearbeitete Material
berechnet und stellt nicht eine Zahl fur Normale dar.
Brunschweiler gibt in seiner Arbeit 37,5 pCt. als ungefahres
Mittel fur mangelhafte Reproduktion an. Es ergibt dies 62,5 pCt.
als Parallelzahl zu unserem Wert von 67,4 fur mangelhafte Repro-
duktionen.
Diese Ergebnisse unserer Berechnungen zerfallen in zwei Re-
sultate: eines, das wir als organische Komponente der Alkoholiker
Assoziationen benennen mochten, das andere, das im entgegen-
gesetzten Sinne zu sprechen scheint. Zum letzteren rechnen wir:
den hohen Typus der Assoziationen, mit anderen Worten die zahl-
reichen inneren Assoziationen, die im Gegensatz zur Gruppe der
auBeren flachen Assoziationen sehr erhoht sind. Diese, Identitaten
und sprachliche motorische Assoziationen vor allem sind ver-
mindert. Dazu kommt die geringe Haufigkeit von Fehlreaktionen,
das beinahe um die Halfte verminderte Auftreten von Konsonanzen
und eine sehr haufige Wiederholung des Reizw r ortes.
Das andere Resultat, das wir als organische Komponente
bezeichnet haben, ware die Vermehrung der Klangassoziationen
und der sinnlosen Assoziationen, die erhohte Zahl von Perseve-
rationen und Wiederholung von Reizworten. Dazu die verlangerte
Reaktionszeit und die verminderte Zahl der Reproduktionen.
Brunschweiler fand bei seinen ungebildeten Organischen einen
Reaktionstypus, der in seiner Form nach tautologischen Verdeut-
lichungen, Definition durch Ueberordnung, durch Zeit, Ort und
Zweckbestimmung, Angabe der Haupteigenschaft oder Tatigkeit.
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258
J 6 r g e r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikem.
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des Subjekts der Tatigkeit oder Eigenschaft und Definition durch
ein Beispiel strebt. Etwas Aehnliehes besteht sicher auch bei den
Alkoholikem, und wenn man die Ergebnisse unter diesem Gesichts-
punkt betrachtet, so spricht gerade die hohe Zahl der inneren
Assoziationen, die wir gefunden haben in diesem Sinne, jenes Re-
sultat, das wir oben von der organischen Komponente abgetrennt
haben. Wir bringen als Beispiel den Teil einer Tabelle eines
schweren Schnapssaufers, der im Delirium eingeliefert worden ist
(J. B., No. 11). Die Zahlen nach den Reaktionen bedeuten die
Zeiten in 1/5 Sekunden.
1.
Kopf
—.
Schweiz
—.
Hand.
2.
griin
—.
rot
9
4 **
3.
Wasser
—
Erde
10
Wein.
4.
singen
—
tanzen
15
+ •
5.
Tod
■—.
Leben
9
+.
6.
lang
—.
kurz
7
+•
7.
Schiff
—.
Wagen
12
Stange.
8.
Zahlen
—
Feder
14
Zahlen.
9.
Fenster
—
Haus
9
Tiire.
10.
freundlich
—.
spotten
11
lieblich.
11.
Tisch
—
Felder
11
+ •
12.
fragen
—.
Husten
13
lieben.
13.
Dorf
Stadt
6
+ .
14.
kalt
■—.
warm
12
i
~r •
15.
Stengel
—
Stange
12
4 -.
16.
tanzen
—
frohlich
11
singen.
17.
See
—
Berg
10
+ •
20.
kochen
—
braten
11
warmen.
22.
bos
—
weinen
10
Freund.
26.
blau
—
Himmel
9
grun.
29.
rot
—
Mehl
9
4-.
30.
reich
—.
arm
9
4-.
31.
Baum
—
Strauch
9
4- usw.
Diese Tabelle wurde am dritten Tage nach der Aufnahme
aufgenommen. Man sielit in ihr ein Ueberwiegen von Koordina-
tionen, wahrend Koexistenzen sehr zuriicktreten. Die koordina-
tiven Beziehungen machen in der ganzen Tabelle 33 auf Hundert
aus, wahrend Pradikat und Koexistenz sich auf 6 und 10 beziffem.
Eine andere Assoziationsart, die Brunschweiler fxir die Orga¬
nischen als typisch angibt, sind die Gefiihlsreaktionen, die sich
hauptsachlich durch Interjektionen kundgeben. Bei den Alkoho-
likern sind sie sehr selten und kommen kaum vor.
Des weiteren fand Brunschweiler bei fast alien seinen Versuchs-
personen Perseverationen in Form von Wiederholungen friiherer
Reizworter oder Reaktionen. Er will diese Form als Exvakuo-
Erscheinung interpretieren. Wir zitieren als Beispiel einige Re¬
aktionen von Alkoholikem, die am Tage des Eintrittes beim ersten
resp. am vierten Tage beim zweiten Patienten aufgenommen
wurden:
(K. H., Tapezierer.)
18.
krank
— der Mensch
11
Menschen.
19.
Stolz
— Leute
10
4“«
20.
kochen
— Wasser
12
Menschen — Leute.
21.
Tinte
— Glas
12
+.
Gck igle
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J 6 r g o r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikern.
259
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22. bos
23. Nadel
24. schwimmen
25. Reise
26. blau
27. Lamp©
28. siindigen
29. gross
30. reich
Leute
Fadon
Mensch
die Leute
der Mensch
Glas
Mensch
der Mensch
der Mensch ist reich
8 +.
18 Draht, Stahl.
10 Leute.
11 +.
10 Leute.
24 Licht.
10 Leute.
10 Leute.
8 Leute usw.
Auf hundert Reizworte reagiert Patient 26 mal mit ,,Mensch",
19mal mit ,,Leute". Lie Zahl der wiederholten Worte ist 8, die
*der wiederholten Male 63.
Aehnlich perseveriert B. R., geb.
54. schnell — Schaffhausen 17
55. Kamin —•
56. genie Ben —
57. Pfarrer —
58. leicht —
59. Hals —
60. wiinschen —
61. Stein —
62. vornehm —
63. Schlauch —
64. lieben —
65. Ziegel —
Kamel
13
Grafstahl
23
Winterberg
12
Eschikon
12
Riimlang
12
Embrach
9
Pfungen
10
Rorbas
13
Freienstein
10
Embrach
Q
Birchwil
23
1860, Brieftrager:
Kaminfeger.
genieBbar.
Pfarramt.
Leichtigkeit.
also.
wiinschbar.
Steinach.
Nachnahme.
Schaltheim.
lieblich.
Horgen usw.
Patient reagiert in sinnloser Weise mit Namen ihm bekannter
Ortschaften, teilweise auch mit anderen Eigennamen. Beide machen
zusammen 76 Reaktionen auf hundert Reizworte aus. l>iese Tabelle
erinnert an jenen Stupor, den Brunschweiler beschreibt, in welchem
ganze perseveratorische Reihen gebildet werden, der Reiz aber nicht
beachtet, sondern nur als auslosendes Moment fur eine neue Evo-
kation betrachtet wird.
Die egozentrischen Reaktionen , wie sie Brunschweiler bei Or-
ganischen fand, die als eine ganz unpersonliche AeuBerung des Ichs
sich darstellen und ebensogut durch ,,man" oder „der Mensch"
oder ,,Leute" ersetzt werden konnen, sind auch bei Alkoholikern
haufig. Wir haben eben aus der Reaktionsreihe des Pat. K. H.,
Tapezierer, eine Reihe von Reaktionen als Beispiel zitiert.
Wir fiigen noch aus einer anderen Reihe einige Proben hinzu,
<iie am 7. Tage von einem Patienten aufgenommen wurden, der
als Delirant in die Anstalt kam.
Nr. 3. M.
j..
Landwirt, Kanonier.
13. VIII. 1914.
30.
reich
Leute
22
+.
33.
Mitleid
—
Menschen
10
+.
36.
sterben
—,
Menschen
10
+.
40.
be ten
—
Menschen
25
+•
41.
Geld
—
Leute
11
Gold, kaufen.
42.
dumm
—
Menschen
11
+.
43.
Heft
—.
Papier
9
+ •
44.
verachten
—
Menschen
9
+.
Setzt man hier statt „Leute" und ,,Menschen" „ich" ein, so
kann man ohne eine allzu groBe Deutungswillkur den „Ich"-Kom-
plex eines Menschen herauslesen, der aus dem Militardienst in
einem schweren Delirium eingeliefert wurde; man verachtet ihn,
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260 J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikern.
er verdient Mitleid, sein Geld hat er vertrunken, er ist dumm ge-
wesen usw.
Wir haben auf 1700 Reizworte von 17 Versuchsreih en 194 ma
die Reaktion „Mensch“ gezahlt und auf 600 Reizworte 25mal
„Mann“. Ob diese Reaktionen, wie Brunschweiler meint, den
eigentlichen egozentrischen Reaktionen gleichzusetzen sind, wissen
wir nicht 1 ), das obige laBt sich auf jeden Fall in diesem Sinne aus-
legen. Wir haben diese Reaktionen nicht zu den egozentrischen
Reaktionen gezahlt, zumal, da wir sonst die egozentrischen Re¬
aktionen gegeniiber den Normalen nicht erhoht fanden. Eine
einzige Versuchsperson reagierte auBerordentlich haufig im ego¬
zentrischen Sinne. Wir zitieren ein paar ihrer Reaktionen:
W. A., Wirt,
Delirium tremens; am
Tage
des Eintritts aufge-
nommen:
55. Kind —
hab i sechs
14
56. auf pas sen —
ja, kommandieren
50
weiB ich, daB ich
muB.
57. fleiBig
Federhalter
15
Feder.
58. traung
bin ich
10
+.
59. Pflaimie —-
Zwetschgen
20
60. heire/uen —»
hab ich
19
61. Haus —
das hab ich keins
10
+ .
62. lieb —
bin ich auch
8
+ •
63. Glas —
Becher
17
Mit dem Glas
Wasser.
64. streiten —*
das han ich auch schon
25
nix.
65. Pelz —
das han ich auch daheim 17
+ -
66. groB —
bin ich auch
19
+ U8W.
Es fallt iiberhaupt auf, wie bei unseren
Versuchspersonen
der Ablauf in den Reaktionen ein auBerordentlich wenig variierter
ist, es ist, als ob der menschliche Gedankengang immer wieder
die gleichen Bahnen beschreite. Wir haben schon oben von unserem
Ergebnis gesprochen, das die Zahl der wiederholten Worte und der
wiederholten Male in einem Bruche angibt. Aber auch gleiche Re¬
aktionen auf dasselbe Reizwort finden sich auBerordentlich haufig,
eine Beobachtung, die auch Aschaffenburg (5) bei einigen seiner ge-
bildeten Versuchspersonen machte. Er sagt: ,,daB im allgemeinen
nur eine geringe Tendenz zur Wiederholung der gleichen Ausdriicke
besteht. Je reicher der Vorstellungsinhalt und je lebendiger die
geistigenFahigkeiten wahrend desExperimentes sind, um so groBer
wird die Zahl der verschiedenen Worte sein, wahrend ein haufigeres
Wiederkehren derselben Assoziationen als der Ausdruck eines mehr
oder weniger hohen Grades von Gedankenarmut angesehen werden
muB.“ (Seite 259 der experimentellen Studien iiber Assoziation I.)
Diese Gedankenarmut &uBert sich in unseren Ergebnissen nicht
nur in der hohen Zahl der wiederholten Worte, sondern auch in der
auBerordentlich haufigen Wiederkehr gleich ablaufender Reaktionen,
bei verschiedenen Individuen, wie nachfolgende Zusammenstellung
sagt:
l ) Bei Imbezillen haben sie sicher nicht allgemein diese Bedeutung.
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J orger, Ueber Assoziationen bei Alkoholikern.
261
Auf hundert verschiedene Reizworte der Jungsehen Tabelle I
waren bei 39 Versuchen 41 Worte, die zusammen 421 mal die
gleiche Reaktion hervorriefen, im Minimum erfolgte auf dasselbe
Reizwort bei verschiedenen Versuchspersonen die gleiche Antwort
3 mal. Fiir die Tabelle II in 31 Versuchen 45 Reizworte die 403 mal
mit der gleichen Reaktion beantwortet wurden.
Auf je hundert Reizworte des AscJiaffenburg-Maierschen
Bogens I waren in 10 Versuchen 17 Reizworte, die 83 gleiche Re-
aktionen hervorriefen, im Minimum dreimal dieselbe Reaktion
und fiir den Bogen II in 7 Versuchen 11 Reizworte, die 76 gleiche
Reaktionen auslosten, im Minimum ein Wort 3 mal dieselbe Re¬
aktion. Wir zitieren noch einige solcher Reaktionen:
kalt
— warm
20 mal
Segel
Schiff
20
reich
—■ arm
19
»>
neu
—■ alt
19
»>
Finger
— Hand
19
Weg
—• StraCe
16
9 9
Beil
—- Axt
10
99
Frosch
— Fisch
8
99
Quelle
—• Wasser
8
99
Beil
— Sage
5
99
U8W.
Es sei noch beigefiigt, daB in den oben angegebenen Zahlen
nicht alle auf das gleiche Reizwort gleichlautenden Reaktionen in
Berechnung gezogen wurden.
In diesen fiir verschiedene Versuchspersonen gleichlautenden
Reaktionen dominieren im allgemeinen die Kontrastassoziationen,
und die groBte Zahl derselben muB wohl unter die sprachlich-
motorische Gruppe einzureihen sein, wie oben gegebene Beispiele
leicht zeigen werden.
Nebenbei wird wieder der Unterschied der beiden Versuchs-
tabellen sehr deutlich, wenn auch aus den Zahlen kein Prozent-
verhaltnis herausgelesen werden darf.
Eine ahnliche Beobachtung machte auch Aschaffenburg (5)
in seiner zweiten experimentellen Studie, welche die Assoziationen
in der Erschopfung zum Gegenstand der Unlersuchung hat. Er
kommt dabei zum Schlusse, daB die Zahl der mehrfach vorkommen-
den Antworten ein Ausdruck einer mehr oder weniger groBen Ein-
formigkeit der Vorstellungen sei.
Nicht nur die eben beschriebenen Vergleiche mit Brunsch-
weilers Arbeit sprechen fiir ,,das Organische“ in der Storung des
Assoziationsablaufes bei den Alkoholikern, sondern auch der Ver-
lauf der Storung beim einzelnen Individuum. Dies kommt zum
Vorschein, wenn man die Assoziationsversuche zusammenstellt,
die in gewissen Zeitabstanden von der gleichen Versuchsperson
aufgenommen wurden. Die Stbrungen im Reaktionsablauf sind
groBer, je naher die Assoziationen dem Zustande der Alkohol-
vergiftung aufgenommen wurden, und gehen um so mehr zuriick,
je starker die Erholung fortgeschritten ist. Was die eingangs er-
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262
J 6 r g e r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikern.
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wahnte Zusammenstellung der Tabellen aller Versuchspersonen
nach den Tagen des Anstaltsaufenthaltes chronologisch geordnet
leider nicht ergab, zeigen die eimelnen Individuen in den ver-
schiedenen sich folgenden Assoziaiionsexperimenten doch sehr
deutlich und geniigend, wenn auch die Zahl der Tabellen, die vom
gleichen Individuum stammen, leider nicht groB ist.
Tabelle II.
Name
Tag
nach der
Auf¬
nahme
Koordi-
nation
i
i
Pradikat
i
Ko-
existenz
Mo-
tori sch
+ Kon-
trast
Sinnlos
1. J. E. ...
0
64
2
3
21
1
7.
75
2
14
4
1
2. Bl. A. . . . 1
2.
31
4
15
37
1
10.
50
30
17
10
—
3. M. Jf. . . .
4.
55
18
10
4
8
7.
44
31
13
4
4
4. B. E. ...
1.
26
1
5
12
54
55.
74
7
7
6
—
5. Sch. 0. . .
0
10
13
1
64
1
40.
37
27
7
27
—
6. W. E. ...
1 o
! 40
16
4
8
10
j 5. i
52
i 39
1
2
2
! 8. j
76
16
3
1
—
7. Schu. R. . . |
i 3.
63 ;
| 3
10
16
1
1
i
15.
41 !
! 14
15
26
1
8. Frau St. . .
1.
23
62
9
3
1
I 8.
31 1
| 52
10
13
1
In der vorstehenden Tabelle gibt jede wagrechle Zahlenreihe
die Ergebnisse eines Assoziationsexperimentes wieder. In senk-
rechter Richtung sind die Kolonnen fur jede Versuchsperson chrono¬
logisch nach den Tagen des Anstaltsaufenthaltes geordnet, wobei
der 0 Tag den Tag der Aufnahme in die Klinik bedeutet und
fur die Versuchsperson derjenige ist, an welchem er am meisten
alkoholisiert war.
Es ist hier am Platze, eine kurze Skizzierung der in dieeer und
den folgenden Tabellen zitierten Patienten zu geben:
1. J. E., geb. 1873, Wagner und Fuhrknecht; von 1909—1914 3mal
wegen Delirium tremens aufgenommen. Symptome rasch verschwindend.
2 . Bl. A., geb. 1882, verheiratet, Tagelohner, aus kinderreicher
Familie, viel Stellenwechsel, seit Jahren Potator, 1912 lange in Behandlung
wegen Lungenerkrankung. 6. VII. 1914 Aufnahme wegen Delirium tremens.
Rasches Abklingen desselben. Entlassung nach 8 Tagen. XJneinsichtig.
3. M. Jf., geb. 1885, Landwirt, alsKanonier mit schwerem Delirium
tremens aus dem Militardienst eingeliefert (6. VIII. 1914), mit etwa 8 tagiger
Amnesie. Entlassung 13. VIII. *1914. Wenig einsichtig.
4 . B. E., geb. 1872, W&scher, seit Jahren schwerer tatlicher Alko-
holiker, uneinsichtig, 9. VII. 1913 bis 4. II. 1914 erster Aufenthalt, baldiges
Rezidiv. 8. V. bis 5. IX. 1914 zweiter Aufenthalt. Gebessert entlassen.
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J 6 r g e r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikern.
263
5 . Sch. G., geb. 1876, Schmied. Chronischer Alkoholiker, gutmiitig,
willensschwach. Anstaltsaufenthalt 31. VIII. bis 16. X. 1914. Gebessert
©ntlassen.
6. W. E., geb. 1867, Postfaktor, seit Jahren Alkoholiker, immer sehr
sonderbar. 28. VII. 1914 Eintritt in die Anstalt mit Delirium tremens,
rasch abklingend. Uneinsiehtig. Ohne Affekte. Wohl ein Schizophrener.
7. Schu. R., geb. 1856, Biirolist, seit Jahren sehr heruntergesoffener
Alkoholiker. 1898 erste Aufnahme, 30. VIII. bis 14. IX. 1914 zweiter Auf-
enthalt in der Anstalt. Chron. uneinsichtiger Alkoholiker.
8. Er. St., geb. 1865, Schneiderin, seit Jahren schwere chronische
Alkoholikerin. 1911—>1914 mit 2 Monaten Unterbrechung Anstalts¬
aufenthalt. Gebessert entlassen.
9. H. J., geb. 1879, Eisenbahnarbeiter, verheiratet, seit Jahren
Alkoholiker, hatte einige Tage vor der Aufnahme einen epilepsieartigen
Anfall. Aufnahme 9. IV. 1914 mit Delirium tremens, das am 11. IV. ab-
gelaufen war. 20. VI. 1914 Entlassung in eine Trinkerheilstatte.
10 . M. A., geb. 1870, ledig, Stadtarbeiter, seit Jahren chronischer
Alkoholiker. Leichtes Delirium; seit Jahren SchnapsgenuO, mit gelegentlich
starkeren, tobsuchtsartigen Rauschen. Anstaltsaufenthalt 28. XI. bis
22. XII. 1913. Gebessert entlassen, wenig einsichtig.
11 . B. J., geb. 1870, Landwirt, seit Jahren als schwerer Schnaps-
saufer beriichtigt. Wegen Drohungen verhaftet, Ausbruch von Delirium.
19 . XI. 1913 Einlieferung in die Anstalt, Delirium nach 3 Tagen ver-
schwunden. 29. I. 1914 Entlassung in die Trinkerheilstatte.
12 . L. K., geb. 1870, Kaufmann, ledig. Aufnahme am 12. VIII. 1914
als Militarpatient mit abortivem Delirium tremens. Entlassung am 20. VIII.
1914.
13 . K. F., geb. 1880, Kochin, Trunksucht in der Familie, seit Jahren
Alkoholikerin, mufite in einem halbdeliriosen Aufregungszustand am
8. VI. 1914 intemiert werden. Entlassung nach einigen Wochen mit Verdaoht
auf Dementia praecox.
14 . R. N., geb. 1850, Schriftsetzer, von 1907—1914 in 3 Malen 11
Monate in der Anstalt, seit vielen Jahren ein schwerer Alkoholiker. In
der Anstalt +. Die Sektion zeigte die Ver&nder ungen des chronischen Alko-
holikers an den inneren Organen.
Die ersten drei Falle der II. Tabelle sind Deliranten. Sie zeigen
deutlich die Zunahme der hochwertigen Assoziationen mit der
wachsenden Zahl der Aufenthaltstage in der Anstalt. Diese Zu¬
nahme geschieht bei Koordination und Pradikat gleichzeitig oder,
wie bei Fall 3 sehr stark bei pradikativen Assoziationen, wahrend
dafiir die koordinativen leicht abnehmen, doch so, daB in der
Summe die inneren Assoziationen eine bedeutende Zunahme er-
fahren haben. Die Versuchsperson stellt sich auf den ihr charakte-
ristischen Reaktionstypus ein, der entweder der pradikative oder
der koordinative ist. Diese Einstellung geschieht auf Kosten der
motorisch-klanglichen Gruppen, die im entsprechenden MaBe ab¬
nehmen.
Fall 4—7 sind Falle von chronischem Alkoholismus, die nicht
im Delirium eingeliefert wurden. Auch bei ihnen ist die Zunahme
entweder bei den Koordinationen oder bei den pradikativen Asso¬
ziationen deutlich, wahrend motorische und sinnlose Assoziationen
abnehmen.
Zur motorisch-klanglichen Gruppe rechnen wir auch die
Koexistenz. Sie nimmt bei alien etwas zu, aber in solch geringem
MaBe, daB mit dem Resultat nichts anzufangen ist.
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264
J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alhoholikern.
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Eine Ausnahme bildet Fall 7; bei ihm verlauft der Typus
in umgekehrtem Verhaltnis, Koordination nimmt ab, Pradikat
nicht in entsprechendem Mafie zu, und vor allem vergroBert sich
die Zahl der sprachlich motorischen Assoziationen. Wir mochten
vorlaufig keine bestimmte Erklarung zu diesem Verhaltnis geben;
es kann ein zufalliges sein, auBerlich bedingt; es kann aber auch als
Aufmerksamkeitsstorung aufgefaBt werden. denn iiberall wo die
Auf merksamkeit gestort ist, tret en nach Jung Klangassoziationenauf.
Wir stellen auf einer weiteren Tabelle jene Zahlen zusammen,
die wir als Analogon zu einer organischen Stoning in den Alkohol-
Assoziationen ansprechen mochten. Die Tabelle ist gleich wie die
oben besprochene geordnet.
Tabelle III.
Name
Tag
Wieder¬
holungen
des Roiz-
wortes
1
Wieder¬
holungen
von Reak-
tionen
i
Repro-
duktionen
wahr-
scheinlich
Mittel
1. J. E. . .
0
40
V.
73
15
7.
26
V.
62
14
2. Bl. A. . .
2.
0
7*0
77
13
10.
1
Vi.
77
14
3. M. Jf. . .
4.
3
7..
63
12
7.
4
*/>•
77
! 11
4. B. E. . .
1.
1
Vl2
21 ,
9
55.
5
7*
88
10
5. Sch. G. . .
0
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66
| 14
i
40.
1 10
7»
80
13
6. W. E. . .
0
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7..
42
16
I
5.
14
”/«
60
16
8.
20
7,7
77
17
7. Schu. R. .
3.
14
7/ „
58 1
i 10
15.
7
7,o
60
9
8. Fr. St. . .
1 .
5 /
/is
69
1 16
8.
?
7..
76
! io
Diese dritte Tabelle zeigt, daB die Reproduktionsfahigkeit der
Assoziationen mit Zunahme der Ernuchterung ohne Ausnahme
steigt. Das wahrscheinliohe Mittel aus den Reaktionszeiten hat
die Tendenz zu fallen. Ebenso die Zahlen fiir die Wiederholungen
des Reizwortes, als auch die der Wiederholung der gleichen Re-
aktion. Wir mochten auch hier die Ausnahmen auf Kosten der Auf-
merksamkeit oder zufalliger Storungen setzen.
Sehr deutlich fur das ,,Organische“ spricht die vierte Tabelle.
Die Resultatekommen von Pat ient en, die beim ersten Assoziations-
experiment nicht imstande waren, das Reizwort mit einer Wort-
reaktion zu beantworten, sondern mehr oder weniger schnell in
jene Reaktionsform verfielen, welche Brunschweiler als charakte-
ristisch und bei Organischen sehr haufig vorkommend angibt,
namlich die, auf das Reizwort mit einem vollen Satze zu reagieren.
Diese Satze tragen bei Alkoholikem wie bei Organischen meist
Gck .gle
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J 6 r g © r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikern.
265
einen Definitionstypus oder den. Pradikatcharakter oder zeigen
vor allem eine sehr egozentrische Note. Die Versuchspersonen,
die beim ersten Experiment in Satzform reagierten, gingen dann
bei weiteren Experimented die nach einigen Tagen stattfanden,
zum gewohnlichen Worttypus iiber. No. 8 der Versuchspersonen
der Tabelle II und III bildet einen Uebergang zu dieser Gruppe.
Beim ersten Experiment, das am ersten Tage nach dem Eintritt
aufgenommen wurde, verfallt die Versuchsperson gegen den
SchluB des Experimentes immer mehr in die Satzform, wahrend
sie im erstenTeile desselben mit einem Worte allein reagierte, z. B.:
94. zutrieden —
gliicklicher Mensch
18
gute Zeiten.
95. Spott —
wenn der Mensch nicht gut ist
24
+•
96. schlafen —
gehort zur Ruhe
12
fiir Ruhe.
97. Monat —
gehort zu den Jahreszeiten
22
-f ■
98. hiibsch —
hiibsches Bild
32
Bild.
99. Frau —
gehort zum Manne
30
+ •
100. Schimpfen —
im Zorn
17
bos.
Wirzitieren noch eine Reihe Reaktionen eines Patienten, Nr. 9,
H. J., der mit Delirium tremens eingeliefert wurde. Er reagierte
am 6. Tage nach der Aufnahme in lauter Satzen. z. B.:
1. Kopf — mein liebes Kind — 10 — im Kopf habe ich die ganze
Geschichte.
8. zahlen —• die Dauer, die ich hier bleiben soli —>12 —- miissen
wir jeden Monat.
54. weiB —• mein Wunsch ware, daB ich bald nach Hause komme
und das Gliick mit der Frau von neuem anfange —-140 —-
damit wir bald wissen, was kommt.
59. Pflaume — die Frau wiinschte auch, daB ich bald wieder
zuriickkomme —■ 75 daB man hofft, daB es gut gehe.
60. heiraten —■ Wenns nur nicht alles so vernimmt im Industrie
(-quartier), daB ich hier bin — 50 —. das sind wir ja.
61. Haus — daB wir das nicht verlassen miissen — 25 + —* usw.
Patient weist fur diese Tabelle bloB 37 pCt. Reproduktionen
auf; das wahrscheinliche Mittel der Reaktionszeiten betragt 35. —
In den folgenden Experimenten reagierte er in Worten, und zwar
am 28. und 46. Tage wie folgt:
Tabelle IV.
Tag
Ko*
ordination
Pradikat
(Koexistenz
Motorisch
Sinnlos
28.
64
17
14
0
0
46.
70
12
l 1 !
3 1
0
Er zeigte fur:
| Wieder-
Wieder-
Re¬
produktionen
Wahr-
Tag
iholungen des
Reizwortes
holungen von
Reaktionen
scheinliches
Mittel
28.
48
•/..
95
15
46.
13
io / 2 .
96
11
46. 1
19
96
12 1 )
*) Fiir Aschaffenburg-Maier-Tabelle.
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^ Google
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266
Jorger, Uebcr Assoziationen bei Alkoholikern.
Au8 diesen Beispielen geht wieder deutlich das ,,Organische“
hervor. Die Versuchspersonen reagieren im ersten Experiment
wie viele der Paralytiker und Senilen Brunschweilers in langen
Satzen und Definilionen, die sehr viel egozentrischen Charakter
tragen; bei den weiteren Experiment en wird dann zur Reaktion
mit einem einzigen Wort iibergegangen, und die Zahlenverhaltnisse
zeigen auch die Zu- resp. Abnahmen, von inneren, von motorischen
und sinnlosen Assoziationen usw., die wir in den vorhergehenden
Tabellen darzustellen und zu zeigen versuchten.
Es ergibt sich aber nicht m r eine Verschiebung der Zahlen und
Verhaltnisse von einem Experiment zum andem, sondem in der
einzelnen Tabelle selbst bleiben sich die Werte vom Anfange bis
zum Schlusse nicht gleich. Wir haben schon oben daratf hinge-
wiesen, wie die Versechsperson No. 8, die ein Mittelglied war
zwischen denjenigen, die in Worten und denjenigen, die in Satzen
reagierten, beim ersten Experiment anfanglich den Wortreaktions-
typus zeigt, um dann gegen den SchluB des Experiment es zur Satz-
form liberzugehen.
Man muB zugeben, daB die ersten Reaktionen auf einem
Schema nicht immer als vollwertig angerechnet werden diirfen*
denn der Patient versteht oft das Experiment nicht, und man ist
gezwungen, ihm nach den ersten Reaktionen nochmals zu erklaren,
was er eigentlich soil.
Die Versuchsperson 10, M. A., Erdarbeiter, reagiert z. B. am
ersten Tage nach seiner Aufnahme folgendermaBen:
1. Kopf
—.
Stuhl
10
Hals.
2. grim
—.
Aschenbecher
5
schwarz.
3. Wasser
—.
Tafel
10
See.
4. singen
—
Kanarienvogel
7
Vogel.
5. Tod *
—
Pantoffel
8
sterben.
6. lang
—.
Schirmstander
5
kurz.
7. Schiff
—.
Parquettboden
8
FloB.
8. zahlen
—.
elektrisch Licht
12
Geld.
9. Fenster
—.
Eisenfenster
15
Scheibe.
10. freundlich
—.
Tischglocke
15
brav.
11. Tisch
—.
Tintentrockner
14
Stuhl.
Es ist klar, daB Patient auf den akustischen Reiz allein geant-
wortet hat und als Reaktion die Namen der ihn umgebenden Gegen-
stande hersagte, ohne auf den Sinn des Reizes zu achten. Darum
sind wohl auch die Reaktionszeiten so aufierordentlich kurz, sie
werden auch in der zweiten Halfte des Experimentes langer. In
der Reproduktion zeigt sich dann, daB er nicht imstande war,
nochmals die gleichen Assoziationen zu machen (ausgenommen
4’?), daB dafiir aber die Reaktionen in der Reproduktionsreihe
sinngemaB sind, d. h. dem Reizwort entsprechend. Es ist darum
ein guter Gedanke gewesen, dem Aschaffenburg-Maierschen Reiz¬
wort schema einige Reizworte vorzustellen, die als Probereaktionen
nicht in die Tabelle eingerechnet werden sollen.
(SchluB im n&ohsten Heft.)
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Ludwig Edinger.
Am 13. April d. J. vollendet Ludwig Edinger sein 60. Lebensjahr.
Geboren in Worms, studierte er in Heidelberg und StraBburg. Unter
dem Einflusse Gegenbauers und besonders Waldeyers erwachte sein
Interesse fur die Anatomie. Seine Dissertation handelte liber die Schleim-
haut des Fischdarmes. 1877/79 war er Assistent bei Ku/imaul, 1880 ging
er nach GieBen als Assistent zu Riegel . Dort habilitierte er sich fur
innere Medizin (1881) mit einer Schrift: Zur Pathologie des Magens.
Er las jedoeh nur kurze Zeit, w eil er bald darauf GieBep. verlieB und nach
Frankfurt iibersiedelte, wo er sich 1882 als Nervenarzt niederlieB.
Hier begann er seine vergleichend-anatomischen Untersuchungen.
Jahrelang hatte er nur einen Arbeitsplatz im PPei^ertschen Laboratorium
flir sich zur Verfligung, bis ihm eines der Zimmer des Theatrum anatomi-
cum der Senckenbergischen Anatomie als eigenes Laboratorium von
seinem Freunde Weigert liberlassen wurde. 1894 erhielt er den Professor -
titel, 1904 den Titel eines Direktors des S enckenber gischen Neurologischen
Institutes. Bei Eroffnung der Universitat Frankfurt wurde das in-
zwischen sehr ausgestaltete Institut als neurologisches Institut von der
Universitat ubernommen und Edinger zum personlichen Ordinarius
ftir Neurologie berufen. Das sind in aller Ktirze die Hauptdaten des
auBeren Werdeganges Edingers.
Edingers Name wird durch seine Leistungen auf dem Gebiete der
vergleichenden Anatomie des Nervensystems, als deren eigentlichen
Schopfer man ihn bezeichnet hat, dauernd in der Wissenschaft fort-
leben. Es ertibrigt, ein Wort iiber seine Bedeutung in dieser Hinsicht
zu sagen; er genieBt darin einen Weltruf, und Schuler aus aller Herren
Lander suchen sein Institut in immer groBerer Zahl auf, um sich von ihm
in die vergleichende Anatomie des Gehirnes einfiihren zu lassen oder
unter seiner Leitung vergleichend-anatomische Themata zu bearbeiten.
Sein Lehrbuch der vergleichenden Anatomie des Gehirns, das er all-
mahlich von einem rel. kleinen Teil seiner „Vorlesungen liber den Bau
der nervosen Zentralorgane des Menscben und der Tiere“ zu einem groBen
selbstandigen Werke ausgestaltete, ist ein grundlegendes Werk; es
war bei seinem ersten Erscheinen eine absolut originale Schopfung,
die der Ausgang einer fruchtbaren Entwicklung der vergleichenden
Anatomie des Gehirns geworden ist. Daneben hat er die Anatomie des
Menschengehirnes — nicht zum mindesten durch die Anwendung der
vergleichenden Betrachtung — durch eine groBe Zahl von Einzeltat-
sachen gefordert, aber auch hier besonders fruchtbringend durch die
Herausgabe seines Lehrbuchs gewirkt, dessen groBe Bedeutung sich
am besten in der Notwendigkeit immer neuer Auflagen und den Uber-
setzungen in verschiedene fremde Sprachen dokumentiert.
Man wiirde aber dem vielseitigen wissenschaftlichen Geiste Edingers
nicht gerecht werden, wenn man nur seine Leistungen auf dem Gebiete
der Anatomie wiirdigte. Er ist der Neurologe in des Wortes weitester
Bedeutung. Die neurologischeKlinik verdankt ihm eineReihe bedeutungs-
voller Erkenntnisse, ich erinnere nur an seine Forschungen liber den
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2(58
Ludwig Edinger.
Kopfschmerz, seine Lehre vom zentralen Schmerze sowie vor allem an
seine zwar viel umstrittene, aber sicher sehr fruchtbare und anregende
Aufbrauchtheorie. Die Anatomie ist ihm iiberhaupt immer wesentiich
Grundlage zum Verstandnis der Funktionen des Nervensysternes und
seiner Erkrankungen gewesen. Dieser weitere Gesichtspunkt fiihrte ihn
zur pathologischen Anatomie , die er besonders dadurch zu fordern suchte,
daB er eine eigene Abteilung dafur in seinem Institute einriehtete, aus
der vorziigliche Arbeiten hervorgegangen sind. Das Streben nach Er-
forschung der Funktionen des Nervensystemes veranlaBte ihn zu
vergleichend-psychologischen Untersuchungen und brachte uns seine Ein-
teilung der Leistungen des Gehirnes in Leistungen verschiedener Wertig-
keit — in Rezeptiones und Motus, in Praxien und Gnosien, die wieder
von denen des Intcllektus iiberragt werden —, eine Einteilung, die weit-
gehender Beachtung verdient.
Wie er bemiiht ist, von alien Seiten die neurologischen Probleme
zu erforschen, das zeigt am besten die AusgestaMung seines Institutes ,
das aus einem Laboratorium, in dem wesentiich vergleichende und
normale Anatomie getrieben wurde, sich zu einem Neurologischen In¬
stitute ausgewachsen hat mit einer Vielseitigkeit der Arbeitsrichtungen,
durch die es wohl einzig bisher dasteht. Es besitzt eine anatomisch-
zoologische, eine vergleichend-anatomische, eine pathologisch-anato-
mische Abteilung, zu der jetzt noch eine klinische tritt. Durch person-
liche Beziehungen ist es in dauernder Fiihlung mit der Psychologie
und der Psychiatric. Und diese Vielseitigkeit bedeutet hier keine Zer-
splittcrung, weil alleEinzelforschungen zusammengehalten werden durch
das ungemein ideenreiche und ausgesprochen synthetisch veranlagte
Denken des Institutsleiters. So sehr viel Einzeluntcrsuchungen wir von
Edinger besitzen, so sehr er auf exaktc Arbeit und Einzelforschung
bei scinen Schiilern halt — die zahlreichen alljahrlich aus dem Institute
erscheinenden Arbeiten legen davon Zeugnis ab —, so wenig hat sich
Edinger von jeher mit Einzeltatsachcn begniigt, so wenig sind sie ihm
Selbstzweck, sondern immer nur Grundlagen fur eine iiberschauende
Betrachtung der groBen Zusammenhange, Anregungen zur Entwicklung
seiner Ideen und Belege zum Beweise ihrer Richtigkeit. Diese synthe-
tische Betrachtungsweise entspricht einem Grundzuge seiner ganzen
Personlichkeit, die ungemein viel Aehnlichkeit mit der des schaffenden
Kiinstlers hat. Sie macht ihn zu dem besonders anregenden Lehrer,
ihr verdanken wir seine wertvollsten Entdeckungen und werden wir
hoffentlich noch viele weitere zu danken haben; denn Ludwig Edinger
steht, so sehr er auf ein arbeitsreiches und erfolgreiches Leben zuriick-
blicken kann, noch in der Vollkraft seines Schaffens.
K. Goldstein .
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Gok 'gle
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Lehre vom Verhaltnis zwischen pathologiseher
Vorstellung und Halluzlnation.
Von
A. PICK
in Prag.
•
Wenn ich seit vielen Jahren gelegentlich der Publikationen
einzelner besonderer F&lle der Ansicht Ausdruck gegeben, daB die
Lehre von den Halluzinationen nicht geniigend auf neueren Beob-
achtungen aufgebaut ist, so habe ich auch jetzt noch, wo gerade
eine Zahl neuer, groBer zusammenfassender nnd tiefer dringende
Arbeiten ihr gewidmet worden, doch keine Veranlassung davon
abzugehen 1 ). Hat doch Jaspers , der Verfasser einer dieser Arbeiten
es direkt ausgesprochen, daB auch noch weiterhin nur einzelne,
seltene, sich selbst gut beobachtende Kranke betreffende F&lle
unsere Kenntnis fordem konnen.
Namentlich gilt das von dem Verhaltnis zwischen Wahr-
nehmung und Vorstellung, das gerade in den genannten Arbeiten
den Gegenstand ebenso wichtiger wie einander widersprechender
Darlegungen bildet. Es ist wohl sehr eingehend in Rucksicht des
Normalen betrachtet worden, aber die Kenntnis der Storungen
der Vorstellungen ermangelt des geniigenden sachlichen Unter-
baues. Den Intensitatssteigerungen derselben hat man noch gar
nicht das Interesse zugewendet. Eine auch diese umfassende Dar-
stellung vonTatsachen ist aber um so notiger, als sie zurKlarlegung
des zuvor erwahnten Verhaltnisses unerlaBUch erscheint.
Wenn auf der einen Seite Jaspers 2 ) Pseudohalluzinationen
und Halluzinationen durch einen Abgrund getrennt sein laBt,
Riilf*) demgegenuber Uebergange zwischen den beiden behauptet,
dann bedarf es neuer Beobachtungen zur Beilegung dieses schroffen
Gegensatzes.
Einen Beitrag dazu soli die nachstehend mitzuteilende Be-
obachtung bilden. Der privaten und deshalb nicht systematischen
Beobachtung entnommen und iiberdies auf Jahre zurlickliegend
entbehrt sie zum Teil der Vertiefung nach neueren Gesichtspunkten.
Da es aber zweifelhaft ist, ob diese auf Seite des Patienten eine dem
Wunsche nach Aufklarung entsprechende Reaktion gef unden hatten,
l ) Nachdem dieses niedergeschrieben, hat Schroder in gleicliem Sinne
sich ausgesprochen. (Diese Ztschr.)
*) In der Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych.
*) Nachdem sich schoi* friiher Goldstein zu derselben Ansicht bekannt
hat, ist ihr neuestens auch Schroder beigetreten.
Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 5. 1$
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Ludwig Edinger.
268
Kopfschmerz, seine Lehre vom zentralen Schmerze sowie vor allem an
seine zwar viel umstrittene, aber sicher sehr fruchtbare und anregende
Aufbrauchtheorie. Die Anatomie ist ihm uberhaupt immer wesentlich
Grundlage zum Verstandnis der Funktionen des Nervensyst ernes und
seiner Erkrankungen gewesen. Dieser weitere Gesichtspunkt fiihrte ihn
zur pathologischen Anatomic , die er besonders dadurch zu fordern suchte,
daO er eine eigene Abteilung dafiir in seinem Institute einrichtete, aus
der vorziigliche Arbeiten hervorgegangen sind. Das Streben nach Er-
forschung der Funktionen des Nervensystemes veranlaBte ihn zu
vergleichend-psychologischen Untersuchungen und brachte uns seine Ein-
teilung der Leistungen des Gehirnes in Leistungen verschiedener Wertig-
keit — in Rezeptiones und ]\lotus, in Praxien und Gnosien, die wieder
von denen des lntellektus iiberragt werden—, eine Einteilung, die weit-
gehender Beachtung verdient.
Wie er bemiiht ist, von alien Seiten die neurologischen Probleme
zu erforschen, das zeigt am besten die AusgestaUung seines Institutes ,
das aus einem Laboratorium, in dem wesentlich vergleichende und
normale Anatomie getrieben wurde, sich zu einem Neurologischen In¬
stitute ausgewachsen hat mit einer Vielseitigkeit der Arbeitsrichtungen,
durch die es wohi einzig bisher dasteht. Es besitzt eine anatomisch-
zoologische, eine vergleichend-anatomische, eine pathologisch-anato-
mische Abteilung, zu der jetzt noch eine klinische tritt. Durch person-
liche Beziehungen ist es in dauernder Fuhlung mit der Psj^chologie
und der Psychiatrie. Und diese Vielseitigkeit bedeutet hier keine Zer-
splitterung, weil alle Einzelforschungen zusammengehalten werden durch
das ungemein ideenreiche und ausgesprochen synthetisch veranlagte
Denken des Institutsleiters. So sehr viel Einzeluntersuchungen wir von
Edinger besitzen, so sehr er auf exakte Arbeit und Einzelforschung
bei seinen Schulern halt — die zahlreichen alljahrlich aus dem Institute
erscheinenden Arbeiten legen davon Zeugnis ab —, so wenig hat sich
Edinger von jeher mit Einzeltatsachen begnugt, so wenig sind sie ihm
Selbstzweek, sondern immer nur Grundlagen fur eine iiberschauende
Betrachtung der groBen Zusammenhange, Anregungen zur Entwicklung
seiner Ideen und Belege zum Beweise ihrer Richtigkeit. Diese synthe-
tische Betrachtungsweise entspricht einem Grundzuge seiner ganzen
Personlichkeit, die ungemein viel Aehnlichkeit mit der des schaffenden
Kunstlers hat. Sie macht ihn zu dem besonders anregenden Lehrer,
ihr verdanken wir seine wertvollsten Entdeckungen und werden wir
hoffentlich noch viele weitere zu danken haben; denn Ludwig Edinger
steht, so sehr er auf ein arbeitsreiches und erfolgreiches Leben zuriick-
blicken kann, noch in der Vollkraft seines Schaffens.
K. Goldstein .
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Zur Lehre vom Verhaltnis zwischen pathologiseher
Vorstellung und Halluzination.
Von
A. PICK
in Prag.
•
Wenn ich seit vielen Jahren gelegentlich der Publikationen
einzelner besonderer F&lle der Ansicht Ausdruck gegeben, daB die
Lehre von den Halluzinationen nicht geniigend auf neueren Beob-
achtungen aufgebaut ist, so habe ich auch jetzt noch, wo gerade
eine Zahl neuer, groBer zusammenfassender und tiefer dringende
Arbeiten ihr gewidmet worden, doch keine Veranlassung davon
abzugehen 1 ). Hat doch Jaspers, der Verfasser einer dieser Arbeiten
es direkt ausgesprochen, daB auch noch weiterhin nur einzelne,
seltene, sich selbst gut beobachtende Kranke betreffende Falle
unsere Kenntnis fordem konnen.
Namentlich gilt das von dem Verhaltnis zwischen Wahr-
nehmung und Vorstellung, das gerade in den genannten Arbeiten
den Gegenstand ebenso wichtiger wie einander widersprechender
Darlegungen bildet. Es ist wohl sehr eingehend in Rucksicht des
Normalen betrachtet worden, aber die Kenntnis der Storungen
der Vorstellungen ermangelt des geniigenden sachlichen Unter-
baues. Den Intensitatssteigerungen derselben hat man noch gar
nicht das Interesse zugewendet. Eine auch diese umfassende Dar-
stellung vonTatsachen ist aber um so notiger, als sie zurKlarlegung
des zuvor erwahnten Verhaltnisses unerlaBlich erscheint.
Wenn auf der einen Seite Jaspers 2 ) Pseudohalluzinationen
und Halluzinationen durch einen Abgrund getrennt sein laflt,
Riilf 3 ) demgegeniiber Uebergange zwischen den beiden behauptet,
dann bedarf es neuer Beobachtungen zur Beilegung dieses schroffen
Gegensatzes.
Einen Beitrag dazu soli die nachstehend mitzuteilende Be-
obachtung bilden. Der privaten und deshalb nicht systematischen
Beobachtung entnommen und iiberdies auf Jahre zuriickliegend
entbehrt sie zum Teil der Vertiefung nach neueren Gesichtspunkten.
Da es aber zweifelhaft ist, ob diese auf Seite des Patienten eine dem
Wunsche nach Auf klarung entsprechende Reaktion gef unden hatten,
') Nachdera dieses niedergeschrieben, hat Schroder in gleicliem Sinne
sich ausgesprochen. (Diese Ztschr.)
’) In der Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych.
*) Nachdem sich schon friiher Goldstein zu derselben Ansicht bekannt
hat, ist ihr neuestens auch Schroder beigetreten.
Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologie. Bd. XXXVII. Heft 5. 18
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270
Pick, Zur Lebre vom Verhaltnis
diirfte sie deskriptiv genommen auch jetzt noch als wertvolles
Materia] angesehen werden. Und das vielleicht um so mehr, als
damit die Moglichkeit und der davon herzunehmende Einwand be-
seitigt erscheint, daB durch die Fragestellung die Beschreibung
der Erscheinungen seitens des Kranken irgendwie im Sinne der
einen oder anderen der strittigen Deutungen beeinfluBt war.
Sie entstammt der Krankengeschichte eines etwa 20 jahrigen
heredit&r belasteten DegSnere, die er z. T. selbst niedergeschrieben
hat. Seine Notizen dariiber werden nur insoweit wiedergegeben,
als sie dazu dienen, einmal einen allgemeinen Eindruck von seinem
Zustande zu geben und dann die speziell hier zu besprechenden
Erscheinungen zunachst in seiner eigenen Darstellung vorzufiihren.
Die ausfuhrliche Biographie bleibt fort; sie spiegelt nur den
typischen Lebenslauf Gleichgearteter mit seinen Wechselfalien
wieder und beschreibt nur ungeniigend die Zwangsvorstellungen,
Phobien, Tagtraumerei und Tics, an denen er leidet und derent-
wegen er in verschiedenen Kliniken und Nervenheilanstalten ge-
weilt hatte.
Die folgenden Aufzeichnungen sind nur insoweit korrigiert,
als das Deutsch des Tschechisch als Muttersprache redenden
Kranken in entsprechende Form gebracht wurde.
„Die Krankheit macht sich in folgenden Formen kenntlich:
Entweder ich will an etwas denken und es kommt mir eine Vor-
stellung mit anderem krfinkenden oder nicht beruhigendem Ge-
fiihle in den Sinn, so daB ich mir einesteils nicht dessen bewuBt
werde, was ich geme mir vergegenw&rtigen mochte, und deshalb
reagiere ich darauf oder ich kann infolge der beunruhigenden Nach-
wirkung, welche sie zuriicklaBt, nicht wieder denken oder tatig sein.
Ich bemiihe mich, normale beruhigendere Bilder zu reproduzieren,
manchmal gelingt es, manchmal nicht. Falls nicht, steigem sich
die Zwangserscheinungen bis zu Komplikationen, wobei sich leichte
Tics auslosen. Adexemplum: Wenn ich auf einePhobie reagiere und
die folgende Vorstellung nicht beruhigend ist, halte ich die urspriing-
liche vorstellung, die ich angestrebt habe, die vor der Phobie im
BewuBtsein entstanden ist, fest und k&mpfe gegen die Phobie an;
z. B. ich will den Gedanken los werden, dies oder jenes wird mir
nicht gelingen oder jemand wird bald sterben oder in den nachsten
Tagen wird mir ein Unheil zustoBen oder die oder jene Person wird
mir ungiinstig sein usw. Manchmal auch fallt mein Blick auf einen
Gegenstand (Sarg) und es kommt mir der Gedanke, jetzt wird an
dich bald die Reihe kommen; selbstverstandlich charakterisiert
die Phobie immer das Bild, wonach die Phobie mehr oder minder
beunruhigend ist. Am furchtbarsten wirkt die Phobie beim Vor-
stellen von Personen, die gestorben sind, von denen ich annehme,
daB die Erinnerung an sie mir Ungliick bringt; oder die Vorstellung
von ihnen kommt in einem solchen Lichte, daB ihre Gegenwart
direkt lahmend auf meinen geistigen Apparat wirkt. Taucht also
so eine Phobie am Vorstellungshorizont auf und es gelingt das Ver-
drangen nicht, so halte ich die urspriinglich angestrebte Vorstellung
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zwischen pathologischer Vorstellung und Halluzination.
271
iest (meinethalben ich denke, daB eine Person mich freundlich
empfangen will), kampfe gegen die Phobie an, es verwandelt sich
aber die erste in eine andere, so daB ich den ganzen Gedanken ver-
liere und die Phobie tibrig bleibt und beginne nun gegen zwei
Feinde zu kfimpfen; namlich ich trachte danacb, die urspriingliche
Vorstellung, die mir soeben entschwunden ist, in der Erinnerung
mit derselben Gefiihlsnuance zu reproduzieren und ja nur nicht die
Phobie fiber mich ergehen zu lassen, weil das ffir mich die Bedeutung
hfitte, als wenn mir jemand sagen wfirde, in dem oder jenem Monat
wirst du sterben. Hand in Hand geht damit auch Aberglauben.
Ich traue mich nicht, Krawatten von bestimmter Farbe zu tragen,
usw.; manchmal ringe ich direkt gegen eine Geftihlsstorung, z. B.
statt einer Phobie kommt mir das Geffihl, daB mir etwas aus der
Wange oder dem Gehim davonfliegt, ein schmerzvolles Gefiihl.“
„Will ich an etwas denken, nachdem ein Gedankengang ab-
geschlossen ist, so kommt mir statt einer Vorstellung oder der be-
absichtigten Vorstellung ein Geffihl, als mochte mir etwas aus dem
Gehirn spritzen — wobei ein ftirchterliches Angstgeffihl herrscht,
welches ffir mich fast die Bedeutung eines schmerzhaften hat;
es tritt dabei noch die Empfindung auf, daB die Kfigelchen sich
in der Luft verlieren, was mir ebenfalls eine Angstempfindung oder
Zwangsvorstellung wachruft, oder es steigt ein Gegenstand aus
meinem Kopf in die Hohe, immer hoher und hoher, wobei das er-
wahnte Angstgeffihl ebenfalls vorherrscht. Der Gegenstand ffillt
oder verwandelt sich in einen andem, die Empfindung tritt nach
langer Qual, wobei die Tics die Konsequenz davon sind, zurfick.
Femer kommt mir manchmal ohne weiteres die Vorstellung, es
fftllt von meinem Kopfe oder aus meinem Gehim etwas zur Erde,
gewohnlich ein Messer, das sich im Boden einbohrt, wobei ich die
Empfindung habe, als wenn sich die betreffende Situation ereignen
wfirde. Ignoriere ich diese Sensation, so verstfirkt sich die Empfin¬
dung bis zu krankhafter Peinlichkeit, ich sehe, wie sich das Messer
vertieft oder ich sehe den Boden sich offnen, der Krampf verstfirkt
sich — ein ftirchterlicher Zustand. Oder es kommt mir unwillkiir-
lich in den Sinn, daB mir mit einem Hammer ein Nagel in den Kopf
geschlagen wird. Einmal hatte ich einen Anfall folgender Art:
Es kam mir in den Sinn, daB ein Nagel in den Boden geschlagen
wird. Ich beachtete diese Vorstellung nicht, da sah ich in der Vor¬
stellung den Nagel immer tiefer dr ingen, vor mir machte sich ein
Abgrund auf, ich bekam ein ungewohnliches Angstgeffihl; ich sah
den Nagel an etwas, einen eisernen Gegenstand stoBen, wobei ich
die entsprechende Empfindung hatte usw. Vor dem Schlafen treten
die Zustfinde in vermehrter Form auf. Unwillkfirlich, ohne daB ich
es verhindern kann, sehe ich Figuren auf me'nem Kopf herum-
tanzen, ich sehe Zirkel oder BeiBzeugrequisiten sich ausdehnen,
wobei ich einen Krampf bzw. ein ftirchterliches Angstgeffihl aus-
stehe. Wenn ich an Zucker z. B. denke, kommt mir der Zucker
im zerbrochenen Zustande in den Sinn, wobei ich eine Empfindung
habe, als wenn man Zucker brechen wfirde. Sehr hfiufig kommen
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272 Pick, Zur Lehre vom Verhaltnis
Krampfe; ich habe die Empfindung als wenn mioh etwas zieht
(Gefiihl): wenn ich an eine Tasse denke, welche vor mir steht,
so kommt mir in den Sinn, wie wenn die Tasse mit Gewalt her-
untergeschleudert wird, wobei ich auBer dem Angstgefiihl die
Empfindung babe, als wenn mich etwas zieht. AuBerdem kommen
mir in den Sinn die Gestalten von Personen in erregtem Zustande,
schreiend, drohend, mit so starkem Angstgefiihl, daB ich mir die
Vorstellung nicht einmal vergegenwartigen kann, sondem unwill-
kiirlich an etwas anderes denken muB. Ich habe feraer das Gefiihl,
daB etwas vom Kopf heruntertropfelt zur Erde, wobei ich ebenfalls
das Gefiihl des Ziehens habe, als wenn mich etwas ziehen wiirde;
wenn ich eine Flasche mit Medizin sehe, so sehe ich gleich, wie die
Flasche heftig geriittelt wird, wobei ich das entsprechende Gefiihl
habe. Ich habe manchmal die Empfindung, als wenn ein schweres
Gewicht mich driicken mochte; einmal war es mir, als wenn mir
ein Teppich fiber den Kopf herunterfallen wiirde, wobei ich das
entsprechende heftige Angstgefiihl hatte. Ich bin. sehr erregt
innerlich; wenn ich um etwas Sorge habe, denke ich fortwahrend,
wird es gut ausgehen oder nicht — bei jedem Anlasse vergegen-
wartige ich mir die beruhigende Vorstellung, zum Zeichen, daB mir
die Sache gelingt; auf die Art suggeriere ich mir die beruhigende
Wirkung. Wenn ich an Musik denke, kommt mir eine Melodie in
•den Kopf, in einem rasenden Tempo mit dem Angstgefiihl, daB ich
meiner Sinne nicht Herr werde, daB ich das Tempo nicht aufhalten
werde. Einst hatte ich die Vorstellung, daB mir etwas hinter den
Kragen fallt, ich hatte dabei ein kitzelndes Gefiihl. Die Wirkung
war so stark, daB ich urspriinglich dachte, die Tauschung sei Tat-
sache. Wenn ich mir Hantel vorstelle, wiederholt sich mir dann
die Empfindung, wie wenn ich lebhaft mit ihnen tumen wiirde;
manchmal kommt mir ohne weiteres in den Sinn, als wenn ich mit
einer Axt in Holz gehauen hatte, wobei ich die betreffende Empfin¬
dung habe usw. Manchmal kommt mir plotzlich die Vorstellung,
daB jemand mich am Kragen reiBt; manchmal sehe ich einen, wie
er mir mit der Hand ins Gesicht greift, wobei ich die Hand in groBer
Vorstellung mit weiBer oder gelber Farbe sehe und das Gefiihl habe,
als wiirde mir inwendig etwas reiBen. Die Geffihle sind auf die Art
wie Sodbrennen."
Da in der vorangehenden vom Kranken gegebenen Schilde-
rung gerade die hier in den Vordergrund gestellten Erscheinungen
nicht immer genug deutlich beschrieben sind, wurde der Kranke
noch im besonderen dariiber befragt und gab Nachstehendes an:
Wenn er an einen Kern, an Eis oder ein Zeltchen denkt, hat
er sofort die angenehme Empfindung des Auflosens derselben im
Munde und des Schluckens, aber, betont er, nur in der Vorstellung,
ein andermal bezeichnet er das letztere als Kitzelgefiihl, daB er
geschluckt hat. Denkt er an das Einnehmen einer Medizin, so sieht
er sofort, daB jemand sie ihm eingibt, gelegentlich nur die Hand
mit dem Loffel. Gelegentlich sieht er auch schon friiher die Medizin,
will an etwas anderes denken und sieht nun, wie jemand ihm mit
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zwischen pathologischer Vorstellung und Halluzination.
273
aller Gewalt den Loffel in den Mund steckt, diesen auf- und ab-
bewegt und bekommt eine peinliche Empfindung, welche sich.
bis zu Angstgefiibl steigert durch die weitere Vorstellung, daB ihm'
jemand den Loffel in den Rachen schiebt. Befragt, wie er die Dinge
sehe, vemeint er die Frage, ob farblos, gibt vielmehr an, er sehe sie
so wie sie sind, aber nicht genau, denn es geht zu schnell; oft sieht
er es in verzerrten Formen; Geruchsempfindungen kommen dabei
nicht vor.
Er denkt an einen Revolver und schon kommt ihm die Empfin¬
dung eines Knalls, er erschrickt und es kommt ihm der Gedanke:
,.Morgen wirst du dich erschie!3en“, oder: „Jetzt muBt du verriickt
werden“. Er hat die Empfindung, wie wenn er den Email gehort
hatte, er hat ihn aber nicht gehort, sondem es ist nur „Reproduk-
tion“, so wie wenn man sich einen Ton vorstellt; es ist wie Ohren-
klingen, so glaubt er „alles“ zu horen.
Er hort den Nachtwachter pfeifen und unmittelbar danach
das Pfeifen mehrfach erklingen, „im Gedanken“. .,Die Zustande
sind so, wie wenn sich der Musiker ein Stiick im Geiste vorstellt.“
Er denkt an seine Zustande, z. B. an seine Hand, und plotzlich
hat er das peinliche schreckliche Gefiihl, wie wenn ihn jemand an
der Hand ziehen, die Hand ausreiBen wiirde; er hat das Gefiihl
nicht an der Hand, sondem nur in der Vorstellung.
Wenn er an die Kaltwasserkur denkt, sieht er plotzlich (in
der Vorstellung!) jemanden, der ihm Wasser auf den Kopf gieBt
und spurt, ebenfalls in der Vorstellung, das GieBen, hat direkt die
kiihle Empfindung. Manchmal hat er die Empfindung, wie wenn
er Gummi kauen wiirde (infolge eines Gedankenganges); es ist
wie ein Krampf und dabei hat er einen Nachgeschmack von Gummi ;
er weiB dabei ganz gut', daB er keinen Gummi im Munde hat, es
ist „nur im Vorstellungsleben“. Er analogisiert es mit der Empfin¬
dung, Pltisch zu beriihren. Haufig peinigt ihn die Empfindung,
wie wenn ihn jemand mit dem Loffel an den Zahn geschlagen hatte,
jetzt kommt die Vorstellung oft erst nachher, wahrend die Empfin¬
dung oft selbstandig auftritt, wie sie jemand hat, wenn er mit dem
Loffel an den Zahn geschlagen worden ist. Er denkt an das Gehirn
und plotzlich kommt ihm die Vorstellung (!), daB es herausgespritzt
oder daB ihm jemand ein Stiick abgehauen hat, oder daB es herunter-
gefallen ist. Die Empfindungen dabei analogisiert er mit der Angst-
empfindung, die man im Traume hat, wenn man traumt, herunter-
zustiirzen.
Er sitzt, denkt nach, plotzlich hat er die Empfindung, daB ihn
jemand am FuBe angehauen hat. Er geht auf der StraBe, plotzlich
fiihlt er (in der Vorstellung), wie wenn ihm ein Hammer auf den
Kopf schlagen wiirde; sofort verbindet sich damit die Vorstellung (!)
einer Hand (beides nicht in Farben); er kampft dagegen an und
dadurch wiederholt sich das.
Er sieht einmal ein Pferd, daran kniipft sich der Gedanke,
daB Pferd konne ihn ins Ohr beiBen und sofort fiihlt er einen BiB
ins Ohr (in der Vorstellung!). Ein andermal denkt er an seinen
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274
Pick, Zur Lehre vom Verhaltnis
Zustand und es kommt ihm „in den Sinn“, wie wenn jemand ein
Stuck Shirting zerreiBt. Er sieht plotzlich (in der Vorstellung)
etwas vom Kopf zur Erde fallen, laBt es zunachst iiber sich ergehen
und wenn es am Boden angelangt ist, wo es sich wie ein sich dehnen-
des Schnurchen darstellt, verwandelt es sich in ein Messer und er
hort, wie wenn er wirklich verfolgt ware; darauf offnet sich der
FuBboden, das Messer fallt tief und tiefer, er glaubt im Abgrunde
zu sein (alles in der Vorstellung!), weiB, daB der Teppich und FuB¬
boden da sind; dann Gefuhl, wie wenn das Messer aut etwas Eisemes
gestoBen ware, und dann Gefuhl, wie wenn er (Pat.) auf etwas
Eisemes gestoBen ware.
Es bedarf keiner besonderen Erorterung, daB die hier be-
sonders ins Auge gefaBten Erscheinungen lebhafte Vorstellungen
sind, woftir ja die eigene Beurteilung des Kranken vor allem spricht
und daB dort, wo sie den Charakter von Trugwahmehmungen
annehmen, die allseits anerkannte Steigerung bis zu den Pseudo-
halluzinationen vorliegt. Sie zeigen namentlich sehr schon das,
was Kandinsky durch die fur sie auch vorgeschlagene Bezeich-
nung der ,,Illustrationes“ oder „Hluminationes“ ausdrucken wollte.
Die Schwierigkeit beginnt aber dort, wo wir ebensosehr durch
die AeuBerungen des Kranken wie durch die Erscheinungen selbst
auf die Frage der Objektivitat oder Leibhaftigkeit der Trugwahr-
nehmungen hingewiesen werden; denn wahrend Jaspers (Zur
Analye der Tmgwahmehmungen, Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych.
1911. 6. Bd. 535) Leibhaftigkeit (als Objektivitatscharakter) ganz
ausschlieBlich den echten Halluzinationen zuerkennt und bei den
pathologischen Vorstellungen immer vermissen will, spricht sich
Riilf (dieselbe Ztschr. 24, 235) im gegenteiligen Sinne aus. Es wird
deshalb nicht zu umgehen sein, die Einzelerscheinungen des Falles
an den von Jaspers gegebenen Kriterien kritisch abzumessen,
ob sie auch so betrachtet, den Anschein einer Bestatigung der
Ridfschen Ansicht rechtfertigen.
Wir schlieBen von der Besprechung jene Falle aus, wo der
Kranke selbst entweder unmittelbar oder durch Analogisierung
den Vorstellungscharakter der Erscheinungen klarlegt, oder dies,
wie z. B. bei den extrakampinen Gesichtshalluzinationen, sich ohne
weiteres aus der Beschreibung ergibt.
In erster Linie fiihren wir an das Schmerzgefiihl beim Fliegen
aus der Wange oder dem Gehim, das gewiB nicht abhangig er-
scheint von dem Angstgefuhl, das eine Reihe anderer Erscheinungen
begleitet; die Schmerzempfindung des AnstoBens an einen eisemen
Gegenstand, das Gefiihl des Heruntertropfens oder des BegieBens
(hygrische Empfindung), den Druck des Gewichts (Druckempfin-
dung), das Herunterfallen des Teppichs iiber den Kopf (kutane
Empfindung), das Kitzeln hinter dem Kragen (Kitzelgefiihl), das
Anschlagen an den Zahn (Beruhrung spezifischer Art), das vom
Pferd ,,gebi8sene“ Ohr (Schmerzempfindung).
Es ist nun, um das gleich hier hervorzuheben, gewiB kein Zu-
fall, daB diesen zahlreichen als echte Empfindungen nachzu-
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zwischen pathologischer Vorstellung und Halluzination. 275
weisenden Fallen kutaner Art nur vereinzelte gleichartige Erschei-
nungen in anderen Sinnesgebieten zur Seite gestellt werden konnen;
Der gehorte, von Erschrecken begleitete Knall des vorgestellten
Revolvers und das Sehen des zu Boden gefallenen Gegenstandes,
der sich dort wie ein Schniirchen bewegt.
Gerade diese Angabo scheint mir keinen Zweifel an der Leib-
haftigkeit dieser Gesichtswahmehmung zu erlauben; dasselbe
glaube ich auch von der eben erwahnten akustischen Wahmehmung
sagen zu miissen, ebenso wie beide Falle den von Jaspers an ver-
schiedenen Stellen der zitierten Arbeit (S. 498, 518 und 524) an-
gefiihrten, zur Vorsicht in der psychologischen Beurteilung mahnen-
den Bedenken standhalten.
Aber selbst wenn das bezuglich der beiden einzigen, das Horen
und Sehen betreffenden Falle bezweifelt wiirde, diirften die Falle
kutaner Empfindung (ganz allgemein gesprochen) ebensowohl alien
Bedenken standhalten, wie ihre Zahl und Umschriebenheit, wie
schon gesagt, auf ein besonderes Moment ihrer Entstehung hin-
weisen.
Betrachten wir sie vom Standpunkte Kandinsky 8 , auf dessen
Grundlegung Jaspers fuBt, so lost sich allerdings die Schwierigkeit
einfach durch die Annahme echter Halluzinationen kutaner Art
neben optischer Pseudohalluzination. So in dem Falle Kandinskys
(Krit. u. klin. Betracht., S. 42), wo der Kranke einen ihm „gezeigten“
Lowen ,,mit seinem Geistesauge“ sieht, aber dessen Tatze mit ziem-
hch schmerzhaftem Drucke an der Schulter fuhlt.
Damit erscheint mir aber in unserem Falle die Schwierigkeit
nicht beseitigt, weil nicht einzusehen ware, warum fast nur gerade
im kutanen Gebiete halluziniert wiirde; vielmehr deutet gerade
diese Beschrankung auf eine in diesem Sinnesgebiete liegende Be-
sonderheit. Die Losung ware in dem zu suchen, was wir iiber den
objektiven und subjektiven Tastraum und die in ihm sich ab-
spielenden Trugwahrnehmungen wissen. Das ist freilich recht
wenig, insbesondere soweit die Trugwahrnehmungen in Betracht
kommen. Jaspers (1. c., S. 486) nimmt an, daB das Vorkommen der
gleichen Unterscheidung wie bei Gesicht und Gehor zwischen
Pseudohalluzinationen und Halluzinationen, wenn auch bezuglich
des Tastsinnes noch nicht sichergestellt, doch nicht zu bezweifeln
sei. Man muB demgegeniiber betonen, daB die von Jaspers gegebene
Unterscheidung des subjektiven Tastraumes vom objektiven doch
eine rein theoretische ist und daB selbst, wenn sie vorhanden ist,
es durchaus fraglich bleibt, ob jedesmal der Unterschied dem
Kranken auch bevmfit wird und auch von der entsprechend
differenten Wirkung gefolgt ist. Die von Jaspers angenommene
Moglichkeit der Unterscheidung des objektiven vom subjektiven
Tastraume erscheint verwirklicht in der Angabe des Kranken
vom Gefiihl des AusreiBens der Hand („aber nicht an ihr, sondem
nur in der Vorstellung“). Das gleiche gilt auch von dem nur in
der Vorstellung gefiihlten Bisse am Ohr.
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276
Pick, Zur Lehre vom Verhaltnis
Abergerade dasZeugnis ausgezeichneter Selbstbeobachtung 1 ),
das damit dem Kranken ausgestellt wird, bringt durch das Fehlen
der Hervorhebung des gleichen Gegensatzes in den iibrigen Fallen
den Beweis, daB dieser in der Tat nicht da oder nicht feststellbar
war. DaB an der Leibhaftigkeit der Empfindungen in diesen Fallen
nicht gezweifelt werden kann, daftir biirgt nicht bloB die auch in
der Beschreibung der optischen und akustischen Pseudohallu-
zinationen gegebene Differenzierung gegeniiber den echten Hallu-
zinationen, sondem auch die Beschreibung, die er von den taktilen
Tnigwahmehmungen (Analogic mit dem Sodbrennen und Pliisch!)
gibt.
Es ware demnach durchaus denkbar, daB dadurch die sonst
grundlegende Differenz zwischen Halluzinationen und Pseudo-
halluzinationen hinsichtlich der Leibhaftigkeit fiir die taktile Form
derselben aufgehoben ware. Und in diesem Sinne spricht wohl die
Tatsache, daB im vorliegenden Falle die fast ausschlieBlich im Ge-
biete der kutanen Empfindungen vorhandenen Trugwahmehmungen
des Charakters der Leibhaftigkeit nicht entbehren, trotzdem sie
nach ahem als pathologische Vorstellungen klassifiziert werden
mussen. Vielleicht daB dabei im Sinne Jaspers ein Schwanken
des psychologischen Urteils hinsichtlich des Beahtatscharakters
eine Rolle spielt. Es ware aber auch denkbar, daB sich, um Jaspers
eigene Worte zu gebrauchen (1. c., S. 498), das psychologische
Urteil fiber die Leibhaftigkeit in Gegenwart der Erscheinungen
und bei besonnenem BewuBtseinszustande sich irrt, weil die Diffe¬
renz zwischen subjektivem und objektivem Baum fiir die kutane
Sensibilitat sich doch wesentlich von derjenigen im Gesichts- oder
Gehorsinn imterscheidet.
Wie immer das sein mag, jedenfalls darf man sagen, daB die
Scheidung zwischen den beiden Formen der Trugwahmehmung
im Gebiete des Tastsinnes praktisch jedenfalls nicht immer mog-
lich ist. In gewissem Sinne bestatigt wird das durch das, was unser
Kranker bezuglich der einzigen, noch einen anderen Sinn, den Ge-
schmackssinn betreffenden Trugwahmehmung angibt. Die Angabe
des subjektiven Charakters derselben ist ebenso pregnant, wie die
Angabe bezuglich der Leibhaftigkeit derselben. Die theoretischen
Grundlagen fiir die Entscheidung der durch diesen Gegensatz auf-
gerollten Frage liegen hier wohl analog dem, was wir von der
Scheidung des objektiven und subjektiven Tastraumes gesagt;
ja man kannBedenken tragen, ob auch normalerweise eine Trennung
der beiden moglich ist. Alle diese Erwagungen fiihren fiir den vor-
liegendeh Fall zu dem SchluB, daB im Bereiche der kutanen und
Geschmacksempfindung eine Scheidung zwischen Halluzination
und Pseudohalluzination nicht immer nachweisbar ist.
*) Bei dieser Gelegenheit mochte ich auch darauf hinweisen, wie gut
die Augaben des Kranken von seinen „Vorstellungen 4< mit dem iibereim
stimmen, was wir jetzt neuerlich von diesen psychischen Gebilden wissen;
so die Angabe, daO der Gedankc an Medizineinnehmen von der Vorstellung
einer Hand mit dem Loffel begleitet ist. r .
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zwischen pathologiacher Vorstellung und Halluzination.
277
Einen weiteren Beitrag zu der Frage, wie trotz der erkannten
subjektiven Natur der Pseudohalluzinationen die Trugwahr-
nehmung die Wirkung der Leibhaftigkeit im Gefolge haben kann,
mag die nachstehende Beobachtung illustrieren.
Es handelt sich um einen 29 jahrigen Hauslerssohn, der wegen
Depression, Suicidideen, Schlaflosigkeit am 3. V. 1901 zur Klinik
aufgenommen wurde. Er war ins Bein geschossen worden und batte
nach erfolgter Heilung den vermeintlichen Tater, jedoch erfolglos
geklagt. Nachdem er sich beruhigt hatte, erhangte sich ein Mann
seiner Bekanntschaft; er regte sich sehr auf, schlief wenig, niuBte
immer daran denken. „Der Korper war ruhig, der Geist unruhig“;
er muBte bestandig dariiber nachdenken, was ihm am Tage zuge-
s to Gen. Nachts traumte er davon. Haufig verfiel er in einen Halb-
schlaf, und sah dann alle moglichen Gestalten, lebende und tote,
wie im Nebel; die Gestalten bewegten sich. Es war ihm nie der Ge-
danke gekommen, daB das wirkliche Gestalten gewesen seien, er
hatte aber Angst vor ihnen. Spater horte er Stimmen, er halte dies
ftur eine starke Tauschung. Er habe nur bemerkt, daB sich das Be-
nehmen der Umgebung gegen ihn verandert habe, daB man ihm
etwas Schlechtes antun wolle.
Bei einem neuerlichen Examen sagt er, die Bilder haben sich
ihm vorgemacht, sie seien bloB so im Nebel erschienen, er habe sie
nicht im Detail gesehen. Dabei sei er wach gewesen, habe nicht ge-
schlafen und alles gehort, was um ihn vorging und hat sich die
Bilder vor den Augen vorgemacht.
Es ist nicht zufallig, daB gerade ein Suicid von solchen Er-
scheinungen gefolgt ist. Es ist mir aus der Klinik noch der Fall
eines Taubstummen erinnerlich, der einen an einen Baum Erhangten
gesehen und dann lange Zeit die Trugwahmehmung des am Baum
Hangenden hatte; es lieB sich nicht entscheiden, ob ein anschlieBen-
der Angstzustand mit der Trugwahmehmung direkt in Verbindung
stand.
In der Einleitung zu der 1. hier mitgeteilten Beobachtung habe
ich den darin gelegenen Vorteil besonders hervorgehoben, daB die
Angaben iiber die Leibhaftigkeit von dem Kranken gemacht wurden
ganz unbeeinfluBt durch irgendwelche auf die erorterte Kontro-
verse bezugnehmenden Fragen des Untersuchers. Die gleiche Vor-
urteilslosigkeit kommt nun Beobachtungen zu, die ich iiber Tag-
traumerei in dem Jahrb. f. Psych, u. Neur. XIV. 1896 und im
Joum. of ment. sc. Juli 1901 veroffe'ntlicht habe.
In der letzten Arbeit resumiere ich die Frage des BewuBtseins-
zustandes wahrend der Traumerei dahin, daB es reichliche Ueber-
gange vom lebhaften Spiel der thantasie bis zu den deliranten
Traumzustanden der Hysterie gebe. Das ist fur die hier diskutierte
Frage insofem von Belang, als es verstandlich macht, wie der Be-
wuBtseinszustand fiir die Leibhaftigkeit des bloB Phantasierten
von entscheidender Bedeutung sein wird.
Als einen weiteren Beitrag zu den hier diskutierten Fragen
mochte ich zwei Beobachtungen von Deliranten mitteilen, die
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27S Poppelreuter, Ueber den Vereuch einer Revision der
namentlich auf die Realit&tsfrage ein helles Licht zu werfen ge-
eignet sind.
Eine an Delirium tremens erkranfcte Frau erzahlt aus ihrem
Delirium folgendes: Sie ging in einen Laden, sich anstatt des zer-
rissenen Kleides ein neues zu kaufen, aber wie erstaunte sie, als
sie zahlen wollte; sie hatte viel Geld, aber wie sie es in der Hand
nahm, zerrann es in nichts, so oft sie aucb danach haschen wollte.
Sie bekam wohl das Kleid, aber auch dieses verschwand, als sie es
anfaBte und anziehen wollte. Ebenso ging es mit anderen Gegen-
standen, die sie kaufen wollte; wie sie sie in die Hand bekam,
war alles wie durch Spuk fort (Beobachtung Kane vom 26. XII.
1894.)
Ein Delirant (Valenta 15. XI. 1888) erzahlt: Er habe sich mit
dem Messer zweimal in die Brust gestoBen, aber nichts gespiirt;
er habe das Messer gesehen, beschreibt es, aber nicht gefiihlt; als
er sich die Wunde zugefiigt, habe er zwar keinen Schmerz gefiihlt,
aber die Wunde war da, er habe die Weichteile auch auseinander-
gezogen; da es aber nicht schmerzte, habe er noch einmal zuge-
stoBen. Er sei auch ins Wasser gesprungen, habe aber nichts gefiihlt;
das Wasser miisse wohl warm gewesen sein.
Historisch mochte ich zu dem Vorstehenden bemerken,
daB ConoUy, dessen Name nur mit dem No-Restraint verkniipft
ist, in seinen Inquiries concern, the indication of Insanity 1830,
S. 113, die Frage diskutiert, warum die Geisteskranken an der
Wirklichkeit ihrerHalluzinationen glauben, und betontvonRranken
mit geringergradigen Fieberdelirien, daB sie Widerspriiche bei Prii-
fung durch andere Sinne bemerken.
(Aus dem psychologischen Laboratorium der Berliner Psychiatrischen Klinik.
[Direktor Geh. Rat Bonhoeffer].)
Ueber den Versuch einer Revision der psychophysiologischen
Lehre von der elementaren Assoziation und Reproduktion.
Von
Dr. phil. et med. WALTHER POPPELREUTER.
Im folgenden gebe ich einen zusammenfassenden Bericht
iiber meine Arbeiten, die toils erschienen sind, teils im Manuskript
vorliegen. (1—3. S. 279.)
§ 1. Kritik mi der herkommlichen Lehre.
Die neuere Entwicklung der Psychologie und Psychopatho-
logie wendet sich allmahlich von der sog. Assoziationspsycho-
logie ab. Dem Tatsachenreichtum gegeniiber erweist sich das
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psyohophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 279
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Schema als ohnmachtig. Es ist aber hervorzuheben: die Angriffe
richten sich gegen die Assoziationspsychologie als das System ,
welches den Reichtum der seelischen Vorgange unter dem Dogma
zusammenpreBte, nicht gegen die besondere Lehre vom elemen¬
taren Vorgang. Die hat man vielmehr ohne kritische Priifung hin-
genommen, ja die neuen Lehren auf die alte geradezu aufge-
pfropft.
Wie schon Leibnitz die alte englische Assoziationspsychologie
in der Form ablehnte, daB er sie nur fiir die „niederen“ Seelen-
vorgange gelten liess, — so hat auch die neuere, besonders die
, ,Denkpsychologie“ den anschaulichen Vorstellungen die Ge-
danken“, ,.BewuBtheiten*‘, den „assoziativ-reproduktiven Ten-
denzen“ die „Akte“, die „determinierenden Tendenzen" schlecht-
hin beigefiigt.
Im Gegensatz dazu wird hier im vorliegenden die Aufgabe
verfolgt, die spezielle Lehre von der elementaren Assoziation und
Reproduktion der Vorstellungen selber in kritische und neu auf-
bauende Untersuchung zu nehmen. Dem Grundsatz foigend, daB
jede Weiterentwicklung immer wieder zu einer Revision der Grund-
lagen auffordem muB.
Es ergab die experimentelle Untersuchung, daB die iibliche
Form der Lehre von der elementaren Assoziation und Reproduc¬
tion, ganz abgesehen davon, ob ihr eine generelle Erkl&rungs-
eignung zukommt oder nicht, in sich selbst unhaltbar ist. DaB
der als elementar angesprochene Vorgang willkurlich erzeugt, im
Sinne des Beweisens also ein Kunstprodukt sei. v
Hier handelt es sich natiirlich nicht um eine Kritik derjeni-
gen Form der Lehre, wie sie, in die Weite und Breite hinein defi-
niert, leider jetzt noch vielfach iiblich ist, daB alle psychischen
Vorgange auf dem Zusammenhang der Erfahrung, also auf dem
Gedachtnis, also auf der Assoziation und Reproduktion beruhten.
Was bei dem englischen Sensualismus, dem Schopfer dieser Ver-
einfachungstendenz, eine groBe Tat war, das ist fur eine gegen-
Wartige exakte Psychologie allgemeine Verw&sserung.
Zu der Aufstellung des Gtesetzes der A. u. R. fiihrte damals
nicht die Ableitung als Erfolg einer direkt-en Untersuchung,
sondem eine nur begriffliche Reduktion. Man lieB die besondere
Verlaufsart der verschiedenen seelischen Prozesse — ob es Denk-,
Willens- oder sonstige Vorgange waren —, auBer acht , es blieb
1 ) Nachweis der UnzWeckmafiigkeit, die gebrauchlichen Gedachtnis-
experimente zur Gewinnung elementarer Reproduktionsgesetze zu ver-
wenden. Zeitschr. f. Psych. Bd. CXI. S. I. 1912.
*) Zwei elementare Gesetze des Vorstellungsverlaufes. Bericht uber
den V. Kongr. f. exp. Psychologie. Leipz. 1912.
*) Ueber die Ordnung des Vorstellungsablaufes. I. Teil. Arch. f. d.
ges. Psych. Bd. XXV. 1913. (Auch gesondert erschienen.)
.Ich weise darauf hin, daB die seit dem .Erscheinen dieser Ab-
handlungen fortgesetzten Untersuchungen in einigen wesentlichen Punkten
Erweiterungen und auch Richtigstellungen gebracht haben, die in dies
Ref era t mit hineingearbeitet sind.
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280 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der
das Schema der assoziativen Vorstellungsketten iibrig. Diese
begriffliche Reduktion machte man zum elementaren wirklichen
Vorgang durch den Satz: sind zwei Empfindungen {Vorstellungen,
Gefuhle, motorische Impulse) A und B in raumlicher oder zeit-
licher Kontiguitat geniigend stark und geniigend oft erlebt worden,
so reproduziert spater das A das B als Vorstellung b. Schema-
tisch ausgedriickt A->b. (Wobei man also zu den beiden Gruppen
von Assoziationen kam, zu den simultanen und den sukzessiven;
ich enge meine Betrachtungen vorlaufig nur auf die letzteren ein).
Wiirde man unter diesem Gesetze nur einen knappen Ausdruck
roher Erfahnmgstatsachen verstehen wollen, so ware dagegen
natiirlich nichts einzuwenden. Indem man aber die speziellere
Physiologisierung dieses Gesetzes vollzog, A an die eine, B bzw.
b an die andere Himstelle verlegte und den Vorgang der Repro-
duktion als ein Weiterschreiten der nervosen Erregung auf dem
gebahnten Wege A-*b beschrieb, hat man einen wirldichen Vor¬
gang behauptet, der einfach ist , nicht etwa zum einfachen be-
grifflich reduziert ist.
So fruchtbar auch diese Vereinfachung sich besonders in
der Lehre von der Aphasie und Apraxie gezeigt hat; keinesfalls
ist damit, wie man das so oft hort, der zugrunde gelegte einfache
Vorgang A-*b bewiesen. Das Schema, etwa das W ernicke-Licht-
Aeirasche, ist ja nur die graphische Darstellung von Erfahrungs -
beziehungen in einer so allgemeinen groben Form, dafi die be-
sondere Dignitat der Erfahrungszusammenhange, alle die Besonder-
heiten der verschiedenen Verlaufe, in Wegfall gekommen sind.
Es hat also keinen Sinn, hier von Beweisen iiberhaupt zu sprechen,
oder, wie dies iiblich ist, das Schema als irreal hinzustellen. Die
Kritik hat ihre Berechtigung nur gegeniiber den Autoren, die,
die Absicht der Urheber verkehrend, die Uebersetzung des Schemas
zur Wirklichkeit vollzogen , und damit die Behauplung der Repro-
duktion A-+b als psychophysiologischen Orundvorganges aufgestdlt
haben . Bei Untersuchungen, die liber die groben Erfahrungszu¬
sammenhange hinausgehen, konnen nicht abstrahierte Schemata,
sondem nur nachgewiesene, wirkliche Vorgange zu grunde ge-
legt werden.
Nach einem ausdriicklichen, tatsachlichen Beweise des Grund—
vorganges A->b sucht man vergeblich. Es gibt keinen. Die ex-
perimenteUe Psychologie und Psychopathologie haben eine eigens
darauf’gerichtete Ableitung und Prufung dieses Gesetzes unterlassen ,
sie haben es stillschweigend als elementar hingenommen, um sich
sofort weitergehenderen Fragen, dem Einflusse der Wiederholung,
des Stoffes, der Latenzzeit, der Reproduktionszeit der patho-
logischen Minderleistung usw. zuzuwenden.
GewiB war es ein groBer Fortschritt der psychologischen
Methodik, als man zur FeststeUung der Gosetze der A. u. R. be-
sondere Verfahren anwandte, die — im Gegensatz zu demfriiheren
Vorgehen, sich auf die Analyse des gewohnheitsm&Bigen Vor-
stellungsverlaufes zu beschranken, — die Assoziationsstiftung imd
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 281
Reproduktionspriifung unter die Leitung des Laboratoriums
brachte. Aber trotzdem muBten sie alle die Frage nach den Ge-
setzen der elementaren A. u. R. unbeantwortet lassen, Sie konnten
sie nicht beantworten, einfach deswegen, weil sie nur das vnllens-
md/Uge Gedachtnis, die vnllensmajlige Einpragung und Repro-
duktion zum untersuchten Tatbestand hatten. Indem
man z. B. Reihen sinnloser Silben, wie ich sie neben-
stehend abdrucke, zusammenstellte, wollte man mog-
lichst gleiche Glieder von Assoziationsketten schaffen.
Damit, daB man nun diese Reihen lemen lieB, glaubte
man „sukzessive Hauptassoziationen“ zwischen je zwei
aufeinanderfolgenden Gliedem zu stiften. Und schlieB-
lich, wenn man die Vp. die Reihe spater wieder auf-
sagen lieB, so sagte man, die erste Silbe reproduziere
die zweite, diese die diritte usw. 1 ) Besonders tritt
deutlich uns diese Meinung in der vielgebrauchten
Treffermethode G. E. Mullers entgegen, wobei sich die
Vp.-Reihen von Paaren sinnloser Silben u. a. mehr oder
weniger oft einpragen muBte, um dann spater auf die
eine vorgezeigte Silbe die darauffolgende, bezw. eine
andere Silbe der Reihe zu nennen. Obwohl man bei alien
diesen Experimenten die auBerliche Exaktheit ins
Uebertriebene steigerte, ,,Gedachtmsapparate“ kon-
struierte, um nur ja dafiir zu sorgen, daB die Silben strong
sukzessiv in exaktem Tempo wahrgenommen werden
sollten usw. — innerlich, im Sinne der elementarge-
setzlichen Beweisfiihrung, sind alle diese Verfahren in-
exakt. Vergleicht man z. B. die theoretischen SchluB-
ausfiihrungen G. E. Mullers und Pilzeckers a ), wo die
Reproduktionstendenz mit dem Gesetze der Massenan-
ziehung parallelisiert wird, die DarsteUung a ~*b, c^d, e->f mit
dem wirklichen Vorgang, dann ist ganz fortgefallen, daB es sich
doch hier offenbar um willlcurliche Einpragung und unUkurliches
Reproduzieren gehandelt hat. Das sind im allgemeinen Vorgange
von hoher Kompliziertheit; man kann sie zwar begrifflich als
Reihen von a-»b, c >d, e->-f symbolisieren, keinesfalls aber fiir
elementare Assoziationen und Reproduktionen ausgeben.
Selbstverstandlich hat hier kein glattes Uebersehen der Denk-
und Willensbeteiligung vorgelegen, dazu sind die Erlebnisse doch
zu handgreiflich, wohl aber eine theoretische AuBerachtlassung.
Denn da man ja an der Richtigkeit der Kontiguitatsassoziation
und -Reproduktion nicht zweifelte, die Untersuchung gleich auf
die besonderen Faktoren richtete, so konnte man sich berech-
tigt glauben bei vergleichenden Untersuchungen den konstan-
ten Faktor zu vemachlassigen. Hatte man die gestifteten Asso-
') Eine DarsteUung der hier bekampften Assoziationalehre und der
haupts&chUchsten Literatur geben Ebbinghaus. Grundziige der Psychologie.
I. Bd. 1909 und Offner, I>ehre vom Ged&chtnis. Berlin. II. Aufl. 1913.
*) Experimenteile Beitrage zur Lehre vom Gedachtnis. Leipzig 1900.
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282 P o p p e I r c u t. e r , Ueber den Versuch einer Revision der
ziationen als etwas vom Willen an sich Unabh&ngiges behauptet,
so konnte es ja auch nichts ausmachen, wenn man die Vp. ver-
anlaBte, das Vorhandene willensmaBig quasi herauszugeben.
Man wertete dabei wohl die Willensbeteiligung als Erlebnis, er-
kannte natiirlich auch die „assoziationskr8ftigende“ Wirkung
der affektiven Willensbeteiligung — aber man lieB unbeachtet,
dafi gerade die Ordnung der Reproduklion, der zeitliche Verlauf
durch die Willensvorgange beeinfluBt werden muBte.
Oerade die zeitliche Ord/nung, das Oesetdiche des zeitlichen Ver-
• laufes ist das,worauf es der erkldrenden Psychologie ankommt. 1st nun
der Verlauf der Reproduklion in der Form der gliedweisen Ketten-
assoziaiion und Reproduktion a~*b^*c-*d-+e ->/ der elementare
Vor gang ? Sicher ist, daB das durch willensmaBige Versuche
nicht bejaht werden konnte, daB es einer ausdriicklichen Recht-
fertigung bedurfte. Als ich selbst vor Jahren diesen Nachweis
fiihren wollte, muBte ich mich vom Gegenteil iiberzeugen. Die
platte Erfahrung, daB innerhalb bestimmter Grenzen die Re-
produktion in der Ordnung verlauft, wie die Vp. sie will, muB
notwendig die Frage auslosen, ob nicht auch die angeblich gliedweise
Kettenassoziation und Reproduklion ein Produkt willensmafligen
Ordnens sei ?
Diese Frage wurde nicht gestellt, ja im Gegenteil, es wurde
die Rolle des Willens als ordnenden Faktors damit begrundet,
daB diese elementare kontiguitive Ordnung der Reproduktion
durch Eingreifen willensmaBiger Prozesse abgeandert werde.
Ganz klar liegt das zutage in der neuerlichen Aufstellung Achs 1 ),
daB der Vorstellungsverlauf neben den assoziativ reproduktiven
Tendenzen von den „determinierenden Tendenzen“ bestimmt
werde. Als Beweis wird hier angefiihrt, daB, obwohl eine repro-
duktive Tendenz bestiinde, nach wiederholtem Lemen des Wort-
paares jaus—wel auf jaus hin wel zu sagen, durch Eingreifen der
determinierenden Tendenz des Reimens auf jaus hin nun etvoa saus
geantwortet werde. Nun muB aber doch die Frage sich aufdrangen,
ob nicht auch die als elementar behauptete Ordnung, der willen s-
m&Biges Einpragen und Reproduzieren zum Grunde liegt, ihr
ganzes Dasein der Determination, also dem Willen des Versuchs-
leiters und der Versuchsperson ihr Dasein verdankten?
Aus den Versuchen, welche die undeterminierten,
d. h. von der Denk- und Willensbeteiligung moglichst befreiten
Vorgftnge der Assoziation und Reproduktion zum Untersuchnngs-
ziel hatten, ergab sich die Notigung, die herkommliche Lehre
von der kontiguitiven Assoziation und Reproduktion weitgehend
abzuandem.
Ich mochte noch ausdriicklich betonen, daB diese und die
folgende Kritik nicht auf diejenigen Arbeiten zutreffen kann, die bei
mehr praktisch gerichteter Fragestellung das willensmaBige
1 ) N. Ach, Willenst&tigkeit und Denken, Gottingen 1905. A 7 . A eh,
Willensnkt und Temperament, Leipzig 1910.
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psychophysiologischen Lehre von der elements ren Assoziation. 283
Ged&chtnis untersucht haben, denen elementargesetzliche Frage-
stellungen iiberhaupt femlagen, wie besonders den Arbeiten
Meumanns 1 ). Selbstverstandlich haben wir all diesen Arbeiten
sehr viel zu verdanken; nur fiir elementargesetzliche Fragen
sind sie nicht entscheidend. Wesentlich ist aber, daB die Ueber-
nahme dieser Untersuchungsmethoden durch die Psychopatho-
logie, wie sie schon zu einer recht groBen Literatur gefiihrt hat,
leider zumeist in elementargesetzlicher Absicht erfolgte, so daB
man sich dem falschen Glauben hingab, auf diese Weise zu einer
exakten Psychopathologie zu kommen. Diese von der Psycho¬
logic in die Psychiatric ubemommenen Methoden sind genau
ebenso exakt und unexakt als die klinischen Untersuchungs¬
methoden. Fiir weiteres Material in dieser Hinsicht muB auf
spater verwiesen werden.
§ 2. Der elementare Reproduktionsvorgang, im Gegensatz
zum determinierten. 'j
,, Elementar" ist natiirlich ein relativer Begriff. Weil ein
Referent mir vorwarf, ich hatte unterlassen, zu definieren, was
hier darunter zu verstehen sei, so scheint das doch nicht so selbst¬
verstandlich zu sein. DaB eine Reproduktion zum mindestens
elementarer verlauft, wenndie speziell ordnenden Denk- und
Willenseinflusse fortfallen, scheint mir auch jetzt einer ausfiihr-
lichen Begriindung nicht erst zu bediirfen. Es kann hier aber eine
Unklarheit entstehen durch den Sprachgebrauch der Psycholo-
gie von den „Elementen“, den nicht weiter zuruckfuhrbaren Er-
lebnisbestandteilen. Diese Anwendung des Begriffes liegt hier
fern, ich verstehe hier elementar nicht im Sinne der moglichst wenigen
Erlebnisbestandteile, sondem im Sinne des Orundvorganges der
Assoziation und Reproduktion, der durch Eingreifen anders-
artiger Vorgange komplizierter werden muB. Sollte sich also etwa
herausstellen, daB ein strukturell so einfacher Vorgang, wie a-+b,
nur durch Eingreifen andersartiger Umst&nde vereinfacht
wird, dann wiirde dieser Vorgang weniger elementar sein, als
etwa ein Vorgang von 20 Bestandteilen, bei dem letzteres nicht
der Fall ist.
Als undeterminierte Vorgange der A. und R. haben diejenigen
zu gelten, in denen ein auf eine bestimmte Ordnung zielender Ein-
prdgungs- und Reproduktionswille fehlt, und durch das passive Ver-
halten der Vp. ersetzt wird. Es ist dies.die vulgfire Art des Erfah-
rungmachens: wir sind den Eindriicken passiv hingegeben, ein
besonderer Einpr&gungswille hat nicht statt; bei der Reproduk¬
tion iiberlassen wir uns dem freien Gange der Erinnerungen.
Die Falle, wo es auf eine Stoffeinpragung, etwa auf ein Auswendig-
lemen ankommt, sind Ausnahmen. Ob dies Verhalten auch unter
den Bedingungen des Laboratoriumexperimentes verwirklicht
werden kaim, kann hier noch dahingestellt bleiben.
*) Mewnann, Oekonomie und Technik des GedachtnisRes. Leipz. 1912.
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284 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der
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Wir untersuchen hier zuerst reine Vorstellungsprozesse,
die motorischen Vorgange miissen schon deshalb ausgeschlossen
bleiben, weil sie in ganz besonderer Weise determinativ sind.
Es ist also Fragestellung: tin Oeschehnis, das aus den suk-
zessiv verlaufenden Empfindungen A B C D E F besteM, set ohne
EinprdgungswiUen wahrgtnommen warden, wit verlauft die pas¬
sive Reproduktion, wenn etwa A spader als Reproduktionsmotiv
■wieder gegeben wirdl Nehmen wir da ein bestimmtes Beispiel: die
Vp. hat hintereinaDder eine Reihe von einzelnen Bildern gesehen,
etwa 12 in 60 Sekunden. Nach einer Latenzzeit wird die Repro-
duktion eingeleitet, etwa durch Vorzeigen des ersten Bildes. Der
Ausfall des Experimentes ergibt: es ist gar keine Rede davon, dap
etwa, wit es die atte Theorie wiU, nun die einzelnen Vorstellungs-
bildchen hintereinander das Beumfitsein der Vp. passierten oder
iiberhaupt einzeln in der kontiguitiven Ordnung auftrdten.
Wir haben es nickt mit einem kettenartigen Ablaufen der Einzel-
glieder zu tun, sondem mit einem Vorgang von mslen einzelnen
Stadien.
Das erste Stadium, das sich an das Wiedererkennen, an die
Bekanntheitqualitat anschlieBt, ist zu kennzeichnen als das Sta¬
dium der mmmarischen Totalerinnerung, die sich am besten sprach-
lich in allgemeinen DaB-Satzen kennzeichnen lftfit. „Erinnerung,
daB Sie mir im Laboratorium eine Beihe von Bildern gezeigt
haben“, ,,da8 ich eine Reihe von diesen Bildern gesehen habe“.
Diese summarische Totalerinnerung enthalt nicht etwa die rasch
hintereinander aufgetauchten Vorstellungsbildchen, sondem sie
ist iiberwiegend unanschavlich. Sie ist eine verdichtete VorsteUung
des ganzen Oeschehnisses, die sprachlich adaquat nicht wiederge-
geben werden kann. Aussagen der Vppen sind: „Wissen um den
damaligen Vorgang“, ,,blo8 gedankliches, unanschauliches Er-
innem“, ,,Gefiihl des Ganzen“, „Hinweis auf das damalige Ge-
schehnis“. Psychologen bevorzugen den Marbeschen Terminus
,,BewuBtseinslage oder den AcAschen Ausdruck „BewuBtheit“.
Es ist wichtig, sich durch eigene Versuche gerade iiber diese ersten
Stadien der Reproduktion zu orientieren. Dabei ist zweckmaBig,
sich des bekannten methodischen Hilfsmittels zu bedienen, die
Reproduktion in verschiedenen Stadien durch die Selbstbeob-
achtungsaufforderung oder sonstwie abzubrechen. 1 ) Es ist das
ein Verfahren, das sich in der Psychologie mindestens ebenso
heuristisch erweist, wie die ahnliche fraktionierte Destination
fiir den Chemiker. Der Versuchsleiter gibt also etwa das Re¬
produktionsmotiv und unterbricht den Reproduktionsvorgang
etwa nach 1 / l0 , y 4 , 1,0, 2,0 Sekunden, um dann die Schilderung
des soeben Erlebten zu bekommen. So gelingt es muhelos, dieses
meist sehr kurz dauernde I. unanschauliche Stadium zu erfassen.
Gerade dieses zeigt die denkbar groBte Heterogenitat gegen-
x ) Vgl. hierzu die Di-skiission und Vortrag Baades , PsychologenkongreB
zu ( iottingen 1914.
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psvchophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 285
liber der Theorie der gliedweisen Kettenreproduktion der ein-
zeinen Vorstellungsbildchen. Es sind eben die einzelnen anschau-
lichen Vorstellungen der Bildchen gar nicht vorhanden, und doch
wird das friihere Geschehen in verdichteter Form wiedererlebt.
Es ist auch nicht etwa eine Somme von undeutlichen oder frag-
mentarischen Einzelvorstellungen, sondern eben ein Ganzes,
die Yoratdlung eines Geschehnisses. Sind schon in dem ersten Sta¬
dium anschauliche Vorstellungen aufgetreten, so handelt es sich
doch nur urn %nschauliche Teile eines im wesentlichen unanschau-
lichen Erlebnisses. Es ist also etwa bei unserem Beispiel das Labo-
ratoriumszimmer mit der Versuchsanordnung fragmentarisch an-
schaulich gegeben, mit der „Bedeutung“, des Bildergeschehens.
Ohne scharfe Grenzen geht dieses Stadium in das zweite iiber,
das zu kennzeichnen ist, als das Stadium der Differenzierung der
Einzelheiten. Es werden einzelne Teile des Geschehens, in unserm
Beispiele also einzelne Bilder, anschaulicher und differenzierter.
Auch hier ist noch ein im wesentlichen unanschaulicher Hinter-
grund des Ganzen gegeben; die anschaulichen Teile machen nur
einen mehr oder weniger groBenTeil des ganzen Erlebnisses aus.
Die Vppen reden von einzelnen anschaulichen Fetzen. Mit dem
Fortdauern der Reproduktion werden die Teile mehr oder weniger
anschaulicher. Es ware aber eine falsche Kennzeichnung, wenn man
dieses Auftreten der anschaulichen Teile eine sukzessive Repro¬
duktion a-*-b-»c-xi-»-e.nennen wiirde. Es handelt sich
nicht um ein eigentliches Kommen und Gehen, oder auch nur
um ein sukcessives Kommen im strengeren Sinne, also suk¬
zessive weiterschreitende Reproduktion, so wie sie die alte Theorie
lehrte. Es ist vielmehr ein anschavliches Klarerwerden einzelner
Teile in einem Erlebnis, das stets in alien seinen Phasen ein ein-
heitliches Ganzes bildet. Deswegen schlage ich hier den Ausdruck
vor „allm&hliche Explikation der anschaulichen Teile von Total-
vorstellungen“. Also explicatio von Teilen, die in einem Ganzen
impliziert sind.
Sehr wesentlich ist nun die Ordnung der Explikation. Man
konnte die alte Theorie wenigstens teilweise darin gerettet finden,
dab das Gesetz der kontiguitiven Reproduktion in ein Gesetz der
kontiguitiven Explikation zu verwandeln sei. Ich habe hier sehraus-
fiihrliche quantitative Bestimmungen immer wiederholt, aus denen
sich ergibt, daB die Explikation, die Reihenfolge des Auftretens
der einzelnen anschaulichen Teile, dem Gesetz der engsten Konti-
guitdt nicht gehorcht. Es expliziert sich nicht zuerst b, dann c,
dann d usw., sondern die Explikation scheint eine vdllig regeUose
zu sein, es kommen die Teile in einer Reihenfolge, die mit der ur-
spriinglichen kontiguitiven Ordnung nicht mehr iibereinstimmt,
zuerst vielleicht c, dann b, dann f usw. Zudem laBt sich eine
strenge sukzessive Reihenfolge iiberhaupt nicht feststellen. Die
Vp. sagt etwa: besonders deutlich wurde mir das Bild mit dem
rot, das grime war zwar auch noch etwas deutlich, die iibrigen
Honatuchrlft f. Piychiatrle u. Neurologle. Bd. XXXVII. Heft 5. 19
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286 Poppelreuter, Uebar den Versuch einer Revision der
aber verschwommen. Die bestimmende Gesetzm&Bigkeit fiir die
Reihenfolge der Explicatio werden wir erst spater kennen lemen.
Das theoretisch wesentlichste der Analyse des zweiten
Stadiums ist folgendes: die alte Theorie behanddte die Reproduk-
tion als einen zeitlich strong sukzessiven Ablauf von Vorstellung
zu Vorstellung. So richtig das ist, wenn man nur eine ganz
grobe Analyse will, so falsch ist das bei genauerem Zusehen.
Was man da als einzelne Vorstellung zusammenfafite, erweist sich
als ein Vorgang Von einzelnen Stadien. (Der gebrjiuchliche Ter¬
minus Vorstellungsofelauf ware deshalb wohl besser in -verlauf
abzuandem.) Die explizierten Teile kommen nicht, um gleich
wieder zu gehen, sie passieren nicht bloB, sondem sie kommen,
um vorerst einmal dazubleiben; auch dieses Verhalten bekam
in der alten Theorie keinen Ausdruck.
Diese Explikation geht nur bis zu einem dritten, dem op-
timalen Stadium, wo also die reproduzierte Totalvorstcllung
des friiheren Geschehnisses in der, je nach den Umst&nden wech-
selnden, bestmoglichsten Vollst&ndigkeit und Differenzierung
vorliegt. Daran schlieBt sich nun das vierte Stadium, in welchem
die Erinnerung nun wieder weniger differenziert und weniger
anschaulich vorliegt, praktisch, von anderen sich geltend machen-
den Reproduktionen allmahlich wieder aus dem BewuBtsein
verdrangt wird. Es ist fiir eine psychophysiologische Theorie
wesentlich auf diesen Charakter des An- und Abstieges ausdriick-
lich hinzuweisen.
Mit dieser Beschreibung ist nur eine Norm des Reproduk-
tionsverlaufes gegeben. Alle die vielen Besonderheiten und Kom-
plikationen verwischen diese Norm bald mehr, bald weniger;
fast immer lassen sich aber im Experiment die Abweichungen
gesetzlich aufklaren. DaB besonders das erste imanschauliche
Stadium wohl a 11 e r Reproduktionen der psychologischen Fest-
stellung so sehr entging, daB man die unanschaulichen BewuBt-
seinsinhalte als spezifische Bestandteile nur des Denkver-
laufes in Gegensatz zum elementaren, assoziativen Verlauf brachte,
das beruht, abgesehen von der Schwierigkeit im Feststellen
des Unauschauhchen, darauf, daB bei experimentellem Vorgehen
fast stets die Reproduktionen schon vor dem eigentlichen Beginn
des Versuches eingeleitet sind. Wenn eine Vp., die gestem sinn-
lose Silben gelesen hat, heute wieder ins Laboratorium kommt,
sich vor die Versuchsanordnung setzt usw., so ist das erste Stadium
der Reproduktion langst abgelaufen, ehe der Versuchsleiter den
Versuch beginnt. In dieser Hinsicht sind sichere Beobachtungen
des taglichen Lebens, Falle von unvermuteter Einwirkung eines
Reproduktionsmotives, beweisender als Laboratoriumsexperi-
mente. Weiterhin wurden diese Stadien auch deshalb auBer acht
gelassen, weil der Versuchsleiter ja eine bestimmt determinierte
Leistung, etwa die sukzessive Angabe der gelesenen Silben oder
gesehenen Bilder verlangte.
Diese Totalreproduktion von Geschehnisvorstellungen ist
der allerscharfste Gegensatz zu der iiblichen Lehre, welche die
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psychophj-siologisclien Lehre von der elementaren Assoziation. 287
Reproduktion als das vorsteUungsm&Bige Wiederablaufen der
Empfindungskette darstellten.
'Eine emfache Erwagung biologischer Natur: in der weitaus
groBten Mebrzahl der Falle praktischer seelischer Betatigung kommt
es ja gamicht auf das genaue Wiedererleben des friiher Empfundenen
an, sondem nur auf die Bereitschaftsstellung der
friiheren Erfahrungen. Die seelische Betatigung auch bei der Re¬
produktion ist fast stets determiniert, in einer jeweiligen Situ¬
ation ist die Benutzung fruherer Erfahrungen meist einer beab-
sichtigten Neuordnung, Verwertung, unterworfen. Z. B.: Man
hat etwa einer krimineUen StraBenszene beigewohnt, da kann der
Richter den Zeugen fragen, vie lange hat es gedauert, welche
Personen haben Sie erkannt, war der Soundso betrunken? usw.
Je nach diesen Fragen wird die Reproduktion anders determiniert.
Und doch liegt ein und dieselbe Totalerinnerung hier zum Grunde,
je nach der Determination ist die Explikation verschieden. Die
verdichtete TotalvorsteUung der elementaren Reproduktion gibt nur
das Stenogramm, am dem nur das fur den jeweiligen Zweck ndtige
genauer gelesen wird.
Eine — und nicht einmal die leichteste und haufigste —
spezielle Determination ist die vergangenheitsgetreue Reproduk¬
tion des friiheren Geschehnisses in der kontiguitiven Ordnung*
welche die alte Theorie als die elementare behauptet. Elementar ist
die Totalreproduktion, die das Material fur alle moglichen willens-
maBigen Gestaltungen abgibt. Hat man etwa bei experimenteller
Priifung dieser Sache eine Reihe von 20 Bildem vorgefiihrt, die
in regelloser Folge verschiedene GroBen, verschiedene Farben,
verschiedene Arten von Gegenstanden darstellen, so kann man
das gut verfolgen: die undeterminierte Reproduktion, die „Er-
innerung an die Reihe", ist zuerst die verdichtete TotalvorsteUung
mit den ganz unregelmaBig explizierten Einzelbildem. Deter¬
miniert man nun, immer aufgrund dieses einen Empfindungs-
erlebnisses: nenne von der gestem gesehenen Reihe 1. die groBen
Bilder, 2. die bunten Bilder, 3. etwa die Tierbilder, 4. die Zahl
der Wiederholungen usw., stets hat die (anschauliche) Explikation
eine bestimmte Ordnung, sie befolgt eine Begiinstigurg des Ver-
langten.
Analysiert man diese determinierten Reproduktionen, so
ergibt sich, dafi der Tatbestand der undeterminierten Reproduk¬
tion auch hier stets zum Grunde liegt. Auch bei der Aufgabe aUe
TierbUder der Reihe zu nennen, ist zuerst die verschwommene
Totalerinnerung des ganzen Geschehnisses da, bei der weiteren
Reproduktion werden die Tierbilder nicht allein, sondem nur
uberwiegend klarer expliziert usw.
Das gibt den zwingenden Grund, hier von einem elementaren
Reproduktionsvorgang zu reden\
Der elementare FaU der friiheren Theorie, daB die VorsteUung
a die VorsteUung b hervorrufe, ist experimenteU iiberhaupt nicht
herstellbar. Ein solcher Fall laBt sich wohl nur darstellen ent-
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288 Poppelrouter, Ueber den Versuch einer Revision der
weder durch begriffliche Vereinfachung, indem man einen langeren
Vorgang eine Vorstellung nennt oder aber scheinbar durch ein©
auf die Einfachheit gerichtete Willensordnung. Man versuch©
doch die Sache so einfach wie moglich zu machen: eine bestimmte
blaue Figur sei mit einer bestimmten roten in zeitlicher Kon-
tiguitat hftufig wahrgenommen. DaB nun die Beproduktion so
verliefe: „an das Sehen der blauen Figur schlieBt sich die Vor¬
stellung der roten“, davon ist gar keine Rede. Vielmehr: ist das
Verhalten passiv und wird eine Vorbereitung der Reproduktion
vermieden, indem die blaue Figur ganz unvermutet gezeigt wird,
dann erinnert sich die Vp., ,,da8 sie diese Figur zusammen mit
einer roten unter den und den Umstanden sehr oft wahrgenommen
hat“. Wir haben also auch hier eine Totalerinnerung an ein Ge-
schehnis mit anschaulichem Teil, nicht „ein Auftreten der Vor¬
stellung b“. Das scheint nur dann der Fall zu sein, wenn der Ver-
suchsleiter die Aufgabe stellt, zu der vorgezeigten die zusammen
gesehene Figur zu nennen, und dann das Nennen des Bildes als
Reproduktion protokolliert.
Mit Recht hat man schon immer frtiher das Vorgehen der
Assoziationspsychologie die Vorstellungen als Abbildchen der
Empfindungen zu behandeln, kritisiert. Wundt sprach ironisch
von den „Doubletten“ der Empfindungen. Doch haben sich alle
die dahinzielenden Argumente nicht auf die elemental© Repro¬
duktion, sondem auf den komplizierteren hoheren Vorstellungs-
ablauf gerichtet.
Was ist denn nun eine Vorstellung? In den Lehrbiichem
meint man diese Frage am besten zu beantworten durch die Auf-
forderung: stelle dir doch einen Apfel vor! So gewiBesist, daB
daraus bei vielen Personen ein „Vorstellungsbild“ resultiert,
das man wegen der gleichen sinnlichen Qualit&ten wohl als Dou-
blette der Empfindung bezeichnen konnte — so gewiB ist auch,
daB dieses Vorstellungsbildchen Ergebnis unUkiirlichen Visuaii-
sierena ist, daB sich solche Vorstellungen nur einstellen, wenn
sich jemand ,,einen Apfel anschaulich vorstellen will“. Ueber
die speziellere Genese dieses Vorganges wissen wir noch so gut
wie nichts. Uebrigens, daB solche Vorstellungen nicht die elemen-
taren sein konnen, geht ja schon daraus hervor, daB eine Anzahl
von Menschen zu einem solchen hochst anschaulichen Visualisieren
iiberhaupt nicht fahig sind — und die miiBten in Konsequenz
der Assoziationspsychologie die kompletesten Idioten sein! Diese
Produkte willkurlichen Vergegenwartigens sind Ausnahmeerleb-
nisse, die auf komplizierteren, spezielleren Bedingungen beruhen.
Diese Vorstellungen als ' elementare erkl&rend zu verwenden,
bedeutet einen Circulus vitiosus.
Schade, daB der Begriff „Gedachtnis“ gerade von unserer
Wissenschaft durch die naturphilosophische Neigung, Analogien
fiir Identitaten zu nehmen, so verwassert worden ist. Die Vulgar-
psychologie versteht unter ,,Gedachtnis“ fast nur die willens-
maBige Rekonstruktion, die absichtliche Vergegenwartigung des
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 289
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Friiheren: wenn etwa gelernte Worte so wie sie gelemt worden
sind, reproduziert werden. Sie scheidet davon stronger als die
wissenschaftliche Psychologie die ,,Erinnerung“ und die „Er-
fahrung”. Nach unseren Ergebnissen ist die elementare Repro-
duktion das 'passive Erinnem, das „ins BewuBtsein kommen“. Es
ist lehrreich, feststellen zu miissen, daB hier die Wissenschaft die
genauere Tatsachentrennung der Vulgar psychologie unklar ge-
macht hat.
Nur scheinbar sind also die iiblichen experimentellen Ge-
d&chnisvorg&nge mit „exaktem“ Material elementarer als freie
Erinnerungsvorgange. Wenn man, wie ich es nun jahrelang ge-
tan habe, die elementaren Laboratoriumsreproduktionen mit
Fallen des freien Vorstellungsverlaufes vergleicht, dann bieten
letztere inbezug auf das Wesentliche densdben Tatbestand dar.
Man wird auf der StraBe gegriiBt und man erinnert sich passiv,
„daB man sich mit dieser Person in einer Gesellschaft unterhalten
hat“ usw. Auch hier kein sukzessives Durchlaufen der einzel-
nen Erlebnisbestandteile, sondem eine verdichtete Totalvor-
stellung des Geschehnisses, mit mehr oder weniger anschaulichen
Einzelheiten.
Wichtig sind hier die zeitlichen Verh<nisse: Die iibliche
Lehre nahm es als selbstverst&ndlich hin, daB die Schnelligkeit
des Ablaufens der einzelnen Vorstellungen bedingt sei durch die
„St&rke“ der zwischen den einzelnen GUedem bestehenden Asso-
ziationen. Vor alien Dingen stellte sie den Reproduktionsverlnnf
parallel dem Empf indung sverl&ui, indem sie die sukzessive Re-
produktion der kontiguitiven einzelnen Glieder lehrte. Die Sach-
lage ist aber eine ganz andere. Selbst wenn das Empfindungs-
gescbehen etwa 10 Sekunden gedauert hat, in einem Beispiel etwa
ein Bild in jeder Sekunde gesehen worden ist, so kann doch trotzd m
bei der Reproduktion in einer Reproduktionszeit von nur
1 Sekunde eine Vorstellung des ganzen Geschehnisses auftreten.
Die zeitlichen Verhaltnisse, die bei den Empfindungen wirklich
verlaufende Zeit sind, sind in der Reproduktion nur phanomenal
erlebte. Die Dauer des Reproduktionsvorganges, des Verlaufes
der einzelnen Stadien, steht zur Dauer des zugrunde liegenden
Empfindungsvorganges in keinem direkten Verhaltnis.
Um mit wenigen Sfttzen den elementaren Reproduktions-
vorgang zu charakterisieren:
Die Reproduktionstendenz geht nicht sukzessiv von Teil zu
Teil in der kontiguitiven Ordnung, sondem sofort auf die TotaXi-
tdt der jeweiligen Oeschehnisvorstellung. Das Reprodukt entunckelt
sich zwar in einzelnen Stadien aus dem Unanschaulichen heraus
sukzessiv zur groweren Anschaulichkeit und Differenzierung der
Teile, zu grdfSerer VoUkommenheit; es ist aber stets das Erlebnis
in alien seinen Stadien ein Ganzes, eine mehr oder weniger voU-
stdndige Geschehnisvorstellung. Die sukzessive Reproduktion eines
Gliedes nach dem andem ist nicht das elementare Verhalten,
sondem Produkt willensm&Biger Determinierung, also im Sinne des
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29J Poppelreuter, Ueber den Versuoh einer Revision der
Beweisens eins von den willensm&Bigen Kunstprodukten, an
denen die Psychologic leider so reich ist.
Man mag hier eine einfache Erwagung biologischer Natur
gelten lassen: wenn die alte Theorie, die als elementaren Repro-
duktionsvorgang die Wiederholung des perzeptiven Oeschehens
als sukzessives Vorstdlungsgeschehen behauptet, richtig ware,
so lage darin doch eine ganz ungeheure Diskrepanz mit der prak-
tischen biologischen Funktion. Es kommt ja, mit den verscnwin-
dend geringen Ausnahmen der motorischen Einiibungen und des
Auswendigler ( nens, wohl fast nie auf die vorstellungsmaBigen
Wiederholungen der friiheren Empfindungen, resp. Wahmeh-
mungen an, sondern auf die Verwertung der friiheren Erjahrungen
zu gegenwdrtigem Oebrauche. Was ware das fur eine iiberflussige
Einrichtung, wenn beim Horen „Festgemauert in der Erden“
sofort der ganze Reproduktionsmechanismus abschnurren resp.
ausdriicklich gehemmt werden miisste ? Es ist ja ein wahres Gluck,
daB die Theorie Unrecht hat, daB die friiheren Wahmehmungen
in Form der verdichteten Geschehnisvorstellungen reproduziert
werden. Weiterhin: In teleologischer Abkiirzung kann man sagen:
die passive Reproduktion hat an sich gar keine sdbstandige
Aufgabe, da jede augenblickliche vitale Situation seelischer Be-
tatigung unter der Leitung eines von Fall zu Fall weehselnden
bestimmten Zweckes bezw. einer bestimmten Absicht steht. Darin,
daB diese augenblicklichen Zwecke von Fall zu Fall mannigfachst
variieren, liegt schon die Forderung einer gewissen Totalitat und
Indifferenz des Reproduktes. Die passive Reproduktion bietet
das allgemeine Material dar, die spezidle Oestaltung ist Sache der
verschiedenen jeweiligen Umstdnde. Es ist dazu die sukzessive
Wiederholung des Friiheren der denkbar ungiinstigste, die Dar-
bietung von verdichteten Totalvorstellungen der gunstigste Mecha-
nismus. Wir werden das noch spater naher auszufiihren haben;
ich habe diese Satze deswegen hier schon hingeschrieben — trotz
der Gefahrlichkeit biologisch-teleologischer Ueberlegungen —
weil mir gerade hierin die Berechtigung liegt, die passive Repro¬
duktion als den Orundvorgang hinzustellen, als das Grundlegende
fur den sog. „hoheren‘‘ Vorstellungsablauf Der hohere Vorstellungs-
verlauf ist der denk- und willensmaBig geordnete. Um diese er-
klarend zu verstehen, mtissen wir auf das dieser speziellen Ord-
nung zugrunde liegende Material zuriickgreifen. Diese „niederen“,
elementaren Vorgange haben wir in der hier gesohilderten Re¬
produktion vor uns.J
Im vorangegangenen haben wir uns nur eine allgemeine Charak-
terisierung verschafft. Natiirlich ist hier von aQ den Besonder-
heiten, der Lange und Kompliziertheit der Geschehnisse, von der
Art des sinnlichen Materiales, Haufigkeit der Wiederholung,
Llinge der Latenzzeit, Dauer der Explikation usw., abgesehen
worden — alles Dinge, die sich erst im Rahmen einer exakten
psychophysiologischen Theorie besprechen lassen. Vorher bedarf
es aber eines kurzen, gesonderten Eingehens auf die motorischen
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 291
Vorgange. Fur die Klarheit der Probleme ist es nicht forderlich
gewesen, daB bei der experimentellen Untersuchung unseres Gegen-
standes fast immer die Komplikation mit dem Motorischen vor-
gelegen hat. Besonders gilt das fiir die iiberwiegende Verwendung
sprachmotprischen Materiales. Abgesehen von der Bequemlich-
keit der Herstellung war hierfiir bestimmend das Ideal experi-
menteller Exaktheit. Sprachmotorisches Material ermCglicht
in exquisiter Weise qvuantifizierbare Reproduktionen, im Gegensatz
etwa zu optischem Materiale. Dazu kam der Fanatismus des
Messens. Jede direkte psychologische Zeitmessung bedarf des
motorischens Reagierens. Bei sprachlichem Materiale — besonders
bei der Treffermethode — schien diese Messung ausgezeichnet zu
gelingen. Dabei schematisierte man zweierlei: Man lieB etwa bei sinn-
losen Silben die motorischen Spracbimpulse ebenso glied-, ketten-
artig assoziiert sein, wie die VorsteUungen, also die „Klang- und
Schriftbilder“. Man statuierte zwei Parallelketten, die eine
Kette aus Sprachvorstellungen, die andere Kette aus Sprach-
impulsen. Dabei verschwieg die Theorie, daB, wenigstens bei Labo-
ratoriumsexperimenten, alle motorischen Reaktionen nur auf
Grund von einleitenden Willensvorgangen stattfinden konnen,
d. h. nicht Bewegungen, sondem ,,Handlungen“ sind. Zwischen
„Ketten assoziativ aneinandergereihter sprachmotorischer Im¬
pulse “ und einem willensmaBigen, sukzessiven Aussprechenist aber
doch ein ganz gewaltiger Unterschied! Zum zweiten iibersah man
die ganz erheblichen Veranderungen, welche das zum Zwecke
der Zeitmessung hervorgerufene motorische Reagieren in dem
ganzen ReproduktionsprozeB hervorbringt. Bei alien diesen,
die „Reproduktionszeib“ messenden Versuchen — ich erinnere
nur an die Treffermethode, wo die Zeit zwischen dem Zeigen der
einen Silbe bis zum Aussprechen der ihr folgenden Silbe gemessen
wird — besteht eine vorherige motorische Einstdlung , die, von Fall
zu Fall verschieden, den ReproduktionsprozeB im Sinne des mo¬
torischen Reagierens beeinfluBt. Dadurch bekam man dann,
bei vorangegangener reichlicher sprachmotorischer Einiibung,
solche Falle, wo unmittelbar die auf die vorgezeigte folgende Silbe
sich motorisch einstellte. So entstand der Schein, als wenn, bei
sprachlichem Material, die gliedweise Assoziation und Repro¬
duction, die man theoretisch schon voraussetzte, auch wirklich
vorhanden sei. Aber es ist ja gerade die spezifische Wirkungs-
weise der determinierenden Tendenzen, daB sich der Vorgang all-
inahlich mechanisiert; je langer man die Uebung fortsetzte, um
so eher schien die Reproduktion eine streng kettenartige zu sein.
Umgekehrt nahm man dann wieder die Ordnung der motorischen
Reaktionen fiir die Ordnung der reproduzierten VorsteUungen.
Die motorischen Impulse miissen, das ist physikalisch selbst-
verstandlich, eine streng sukzessive zeitliche Verlaufsweise haben,
es miissen die betretfenden Muskeln in strenger zeitlicher Ord¬
nung innerviert werden. SoU eine Reihe sinnloser Silben hinter-
einander aufgesagt werden, so ist eine streng sukzessive motori-
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292 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der
sche Bildung der einzelnen Sprachelemente natiirlich notwendig.
Arbeitete man nun mit der Voraussetzung der kontiguitiven
Assoziation und Reproduktion, machte man femer die unzu-
treffendeVoraussetzung von dem parallelenVerlauf der eigentlichen
Sprachvorstellungen und der motorischen Impulse, dann erblickte
man in dem streng sukzessiven, kontiguitiven Verlaufe der einzel¬
nen reproduzierten Glieder den elementaren, natiirlichen Vorgang.
Auch ganz abgesehen davon, ob man wenigstens fur die ,.motori¬
schen Assoziationen und Reproduktionen‘‘ das Gesetz der kon¬
tiguitiven Ordnung gelten lassen kann oder nicht, liegt hier doch
eine Verkennung des vollig heterogenen Verlaufe# der eigentlichen
Vor8teUungen und der motorischen Impulse zu Grunde. Es ist
ja gerade die wohlbekannte spezifische Leistung des Sprach-
motorischen, daB simultan bestehende akustische Vorstellungen
zu einer sukzessiven motorischen Umsetzung fiihren. Wenn
einer Vp. 6 Zahlen vorgesprochen werden, so hat die Vp.
hinterher eine simultane akustische Vorstellung der Lautfolge,
die nur phanomenal zeitlich gegliedert, nicht eine wirklich
stattfindende Sukzession ist. Wenn die Vp. diese 6 Zahlen nach-
sprechen soli, dann erfordert das die Umsetzung in sukzessive
Artikulationen, eine Leistung, die ins Gebiet der Willenshand-
lungen, der Eupraxie, gehort, und unter dieser Problemstellung
erklart werden muB! Vom Lesen weifl man schon lange, daB nicht
die sukzessiv gelesenen einzelnen Buchstabenelemente die ent-
sprechenden akustischen Vorstellungen und sprachmotorischen
Impulse sukzessiv parallel auslosen, etwa nach dem Schema:
-►
(optisch) V a t e r
I I I 1 I
(akastisch) V a t e r
l l l l l
(motorisch) V a t e r
sondern es lost ja das simultane Schriftbild das simultane Klang -
bild aus, und dieses wird in die sukzessiven motorischen Artiku¬
lationen umgesetzt. Das Schema hierfur wiirde also sein:
(optisch) (V a t e r)
I
(akustisch) (V a t e r)
(motorisch) V
a
t
N
e
_ r
l ) Ich erinnere hier an Liepmanns der Handlung vorausgehenden
„Entwurf“, der auch nicht sukzessiv, sondern simultan ist.
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 293
Wie das hier im Kleinen ist, so ist das bei der sprachmotorischen
Wiedergabe der Beihen gelesener Silben oder Worte im groBeren
MaBstab. Auch hier fiihrt eine simultan bestehende akustische
Lautfolgevorstellung zur sukzessiven motorischen Dmsetzung auf
Grundvondarauf gerichteten Willensordriungen. Keines-
falls liegen bier sukzessive motofische Assoziationen und Repro-
duktionen vor. Denn das wiirde besagen: ist eine Reihe jaus —
wel — kip — for.laut gelemt worden, so schlieBt sich an
den sprachmotorischen Impuls jaus der von wel, an diesen der
von kip. Das hat man immer behauptet, ohne die Tatsachen zu
befragen. Denn ohne eine vorausgehende, willensmaBige Ein-
stellung schlieBen sich die Impulse nie so kettenartig aneinander.
Man mag noch so oft die Reihe laut gelesen haben, ohne eine aus-
druckliche motorische Determination erfolgt auf das Erleben des
Reproduktionsmotives jaus nie und nimmer die sukzessive mo¬
torische Realisierung. Meine Versuche lehrten: selbst ein lOOOmaliges
lautes Lesen in 10—20 tdgvger Verteilung der Reihe vom
Typus jaus — wel vermag es nicht, derartige ,,motorische Asso¬
ziationen“ hervorzubringen , dap ohne motorische Determinierung
eine motorische Umsetzung sich voUzieht. Wenn auch schlieBlich
ein fast unmerkliches Minimum an motorischer Determinierung
geniigen kann um eine motorische Kette zum Ablaufen zu bringen,
— die motorische Determinierung, die da immer bei der Einiibung
vorangegangen ist, darf doch nicht ignoriert werden. Mag es
auch immerhin solche ,,passiven motorischen Assoziationen und
Reproduktionen“ geben, fiir die Tatbestande des Laboratoriums
sind sie nicht vorhanden.
Fiir die Heterogenitat des Verlaufes der ,,motorischen Re-
produktionen“ und der passiven Vorstellungsreproduktion nur
noch eine Illustration: hort die Vp. bei paMtvemVerhalten ,,Vater
unser“, so wird sie darauf hin an das Gebet ,,denken“, die akustisch
anschauliche Vorstellung ist anschauliches Detail einer verdich-
teten Totalvorstellung. Stellt sich aber die Vp. auf sprachmotori-
sches Reagieren ein, so wird sie „automatisch“ mit der sprach¬
motorischen Fortsetzung reagieren.
Auf die nahere Genese der motorischen Vorgange kann hier
nicht eingegangen werden, das ist ein Gebiet fur sich; wir miissen
sie aber streng scheiden von den Vorgangen der elementaren
Vorstellungsreproduktion. Es ware vorlAufig am besten, fiir die
motorischen Vorgange die alles gleichmachenden Ausdriicke
Assoziation und Reproduktion zu vermeiden.
Das von der Psychologie so bevorzugte sprachliche Material
ist also deswegen fiir exakte Untersuchung unseres Gegenstandes
so wenig geeignet, weil die hier bestehende, durch jahrelange
Uebung gefestigte motorische Determinierung sehr schwer, viel-
leicht iiberhaupt nicht zu beseitigen ist. Trotzdem kann man,
wie ich dies versuchte, auch an sprachlichem Material das Be-
stehen des Totalitfttsgesetzes nachweisen.
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294 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der
§ 3 . Theorie des Vorganges der elementaren Assoziation
und Reproduktlon.
Ich gedenke im folgenden die Theorie streng durchzufiihren,
dad die unmittelbare Grundlage der Reproduktion nicht gesucht
werden kann in den Empfindungen resp. deren Nachwirkungen,
sondern in den Auffassungen, dap die Gesetze des Assoziierens die
Gesetze des Auffassens sind.
Es ist eine alte, von der Assoziationspsychologie beseitigt
und in der neueren Psychologie wieder zu Ehren gekommene
Unterscheidung: die Zweiheit von Akt und Inhalt, die Zweiheit,
die in dem Satze liegt: den Ton (Inhalt) wahrnehmen (Akt,
Funktion). Es ist das keine nur logische Unterscheidung, wie
dies nach der jetzt iiblichen, logisch gefarbten Darstellung dieses
Problems scheinenkonnte. Leider ist der Ausdruck ,,wahrnehmen“
zu sehr mit Empfinden synonym gebraucht, so daB wir hier den
Ausdruck ,,auffassen“ wahlen miissen. Die Assoziationspsycho-
logie hat hier die Zweiheit beseitigt, indem sie den Ton als Em-
pfindung mit dem wahrgenommenen Ton identifizierte. Stumpf 1 )
hat dagegen das Argument gestellt, die Trennung von Empfindung
und Auffassung sei die nicht zu umgehende Konsequenz der
innerhalb bestimmter Grenzenmoglichen, gegenseitigunabhangigen
Variability: ein und dieselbe Empfindung kann das eine Mai mehr,
das andere Mai weniger wahrgenommen, aufgefaBt werden. Ich
mochte hier als Argument — das dieses letztere unter sich be-
greift — in den Vordergrund stellen die heterogene Gesetzlichkeit
des Empfimdens und Auffassens. Vorgange mit heterogener Ge¬
setzlichkeit miissen verschieden sein, das ist ein Satz von wohl
axiomatischer Geltung. Setzen wir Empfinden und Auffassen
als zwei Mechanismen, so gilt fur den ersteren das Gesetz
des zeitlich streng eindimensionalen Verlaufes. Fur das Auffassen
der Empfindungen gilt dies nicht, denn die Auffassung fiihrt zu
Geschehnisvorstellungen, die simultan andauem und dabei die
zeitliche Sukzession nur phanomenal enthalten. Wird eine Melodie
gehort, so folgen sich die Empfindungen streng sukzessiv, die Wahr-
nehmung, Auffassung der Melodie aber fiihrt zu einer Geschehnis-
vorstellung, welche die vorangegangene Sukzession der Empfin¬
dungen simultan enthah.
Die Quelle der falschen Theorie der Assoziat ionspsychologie
kann man in einem Grundirrtume aufsuchen: in dem Basieren
der A. und R. auf den Empfindungsvorgang. Die Lehre, die Em-
pfindungsreihe A—B— C —D .... wird reproduziert als Vor-
stellungsreihe A->b-»c-»d—.besagt ja nichts weiter, als
daB die Vorstellungsvorg&nge nur (abgeschw&chte oder lvicken-
hafte) Wiederholungen der Empfindungsvorgange sind. Wir
sahen schon oben, daB das bloBe Konstruktion ist, daB Empfin¬
dungen und Reproduktionen ganz heterogene Verl&ufe haben,
') Stumpf. Erscheinungen und Psychische Funktionen. Abh. der
Kgl. Pr. Akademie d. VViss. v. J. 1906. Berlin 1907.
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peychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 295
Der Umstand, der hier die schlichten Tatsachen iibersehen lieB,
war die Verschiebung des Problems in ein ganz anderes Gebiet.
in das des „Zeitsinns“. Je mehr man hier in dem Bestre’ben nach
physikalischer Exaktheit den Vorgang elementarer gestalten wollte,
je mehr man mit gleichbleibenden Metronomschlagen u. a. arbeitete,
desto mehr entfemte man sich von dem Vorgang der A. und R.
So kam es, daB man schlieBlich sogar die durch das spezielle
Experiment erzeugten Faktoren, Spannungs-, Erwartungsgefiihle
usw. als ,,Faktoren“ des Zeitsinnes behauptete. Diese kiinstliche
Einengung fiihrte dazu, daB man auf dem Gebiete der A. und R.
die Geschehniswahrnehmung als unmittelbares ,,Gedachtnis“
als ,,perseverierende Empfindungen" usw. buchte, also als etwas
ganz anderes.
Eine einfache Ueberlegung fiihrt mit Notwendigkeit dazu,
fiir die Reproduktion nicht die Empfindungsvorgange, sondern
die Geschehniswahrnehmungen, Geschehnisauffassungen in An-
spruch zu nehmen. Der Grundsatz der strengen psycho-physio-
logischen Bedingtheit verlangt mit Recht die unmittelbare Grund-
lage der Reproduktion in einem dispositionellen Hirnzustande. Die
Ursache fur dieses „Engramm“ kann aber nicht schlechthin
in dem vorangegangenen Empfindungsvorgang gesucht werden,
wie fast allgemein geschieht, sondern in denjenigen Vorgdngen,
die dem Bestehen der blofien Latenz unmittelbar vorangehen. Diese
Vorgange sind nicht die Empfindungen , sondern die Geschehnis-
auffassungen, allgemein gesagt die Auffassungsvorgange. Die
Sachlage ist nicht so:
(physiologisch:) Reiz — Engramm — Neuerregung,
(psychologisch:) Empfindung — nichts —Reproduktion,
sondern zwischen Empfindung und bloBe Latenz schiebt sich die
Auffassung, die Geschehniswahrnehmung. Hat die Vp. 4 Zahlen
gehort, so haben zwar die akustischen Empfindungen etwa in
4 Sekunden sukzediert, aber nach der 4. Sekunde besteht eine
Geschehnisvorstellung, eine Totalvorstellung, die ganze Reihe
der 4 Zahlen ist im BewuBtsein simultan vorhanden. Diese Ge¬
schehnisvorstellung ist es, die allmahlich in das Stadium der bloBen
Latenz iibergeht, und auf die dann die spatere Reproduktion
bezogen werden muB. Danach ware die Reproduktion erst das se-
kundkre, gegeniiber dem primaren der Geschehnisauffassung.
Noch bevOr auf diesen Mechanismus der Geschehnisauf¬
fassung naher eingegangen werden soil, kann schon in der bloBen
Tatsache eine Erklarung fiir den oben geschilderten Verlauf der
elementaren Reproduktion leicht gefunden werden: es kommt
deshaVb bei der Reproduktion zum Auftreten allmahlich sich ent-
wickelnder Geschehnis-Totalvorstellungen, weil bereits in der Auf -
fas8ung solche gebildet worden sind. Es ist deshalb auch verst&nd-
lich, daB die Reproduktion nicht erst die Empfindungsreihe nach -
einander wiederholt, sondern sogleich auf die Totalitdt geht . Das
Engramm der Reproduktion ist ja der vor der Latenz bestehende
Hirnzustand, und dieser ist das physiologische ,,Correlat“ der
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296 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der
Greschehnisvorstellung, welche das Vorangegangene simultan ent-
halt. Wenn vor der Latenz eine Geschehnisvorstellung simultan
bestehen kann, dann kann sie auch spater als simultane Gre¬
schehnisvorstellung reproduziert werden.
Eine vollstandige Lehre der Reproduktion erfordert also
eine Theorie der Auffassung, im besonderen des .Vorgangs der
Greschehnisauf f assung.
Die naheliegendste, die alte Theorie von Herbart , hat sich
mit einigen Abwandlungen noch bis heute erhalten. Sie erklart
die Zeit- resp. Gteschehniswahrnehmung damit, daB jede Em-
pfindung eine entsprechende Vorstellung zuriicklieBe, welche
eine Zeitlang noch im BewuBtsein bliebe. Wenn also die Em-
pfindungen ABCD... sukzessiv verliefen, dann schlosse sich
daran jedesmal eine Vorstellung, so daB am Schlusse die Vorstel-
lungen abed.... zusammen vorlagen. Es sind an sich unwesent-
liche Abwandlungen, ob man hier von „zentralen Nachbildem“,
oder von „perseverierenden Empfindungen“ spricht. Ob diese
Theorie nun richtig oder falsch sei, dariiber konnte man eigent-
lich garnicht streiten. Sie ist unbezweifelbar richtig im Sinne der
Elementaranalyse. Wenn man das komplexe Erlebnis in Em-
pfindungs- und Vorstellungsteile auflost, dann wird man zu keinem
andem Ergebnis kommen konnen. GlewiB, trotzdem liegt hier
keine theoretisch befriedigende Problemlosung vor. Denn gegen
diese Grundvoraussetzung, daB eine psychologische Theorie mit
dem letzten Resultat der Elementaranalyse zu einem befriedi-
genden AbschluB gekommen sei, lassen sich die schwersten Be-
denken erheben. Denn wenn man das Hinterlassen der entsprechen-
den Vorstellung, einerlei, ob hier Empfindung und Vorstellung
nur quantitativ oder qualitativ getrennt wird, auch als Elementar-
vorgang betrachten wiirde, selbst dann ist uns nur erklart, warum
spater nach Ablauf der Empfindungen die Anzahl der betreffen-
den Vor8tellungen besteht , nicht aber, warum diese Geschehnis¬
vorstellung in ihrer Totalitat eiwas durchaus eigenartiges ist , inso-
fern sie eben die einzelnen Vorstellungen in der bestimmten phano-
menalen zeitlichen Gliederung in sich enthalt. Die Hypothese,
daB jede Vorstellung ein ,,Temporalzeichen“ bekame, ist keine
Erklarung, sondem nur eine Zuriickschiebung des Problems,
denn dann muB ja noch erklart werden, warum qnd wie aus den
der einzelnen Vorstellung anhaftenden isolierten Temporalzeichen
die zeitliche Ordnung des Ganzen, die doch eben ganz etwas anderes
als die Summe der Temporalzeichen ist, entsteht. Die Herbarte che
Erklarung, daB die einzelnen Vorstellungen sukzessiv blasser
wiirden, und daB dieses Dunklerwerden mehr und mehr als Ver-
gangenheit erlebt werde, hat, abgesehen von dem Einwand, daB
dunklere Vorstellung nicht ohne weiteres auch zuriickliegendere
Vorstellung ist, mit der Tatsache eine vemichtende Kollision,
daB bei der Geschehnisvorstellung der Reihe A B C D E.
nicht etwa a b die dunkleren sind, sondem die in der Zeitstrecke
mittleren Vorstellungen. Grewohnlich hat man doch vom Anfang
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 297
eines Geschehnisses eine klarere Erinnerung als von der Mitte;
wiewohl die letztere zeitlich naher liegt.
Auch die Theorie, welche die die zeitliche Ordnung durch die
zwischen je zwei Gliedem bestehende, engste Assoziation erklart,
kann bei der tatsachlichen Unrichtigkeit dieser Lehre nicht als
Stiitze dienen.
Trotz der Unzulanglichkeit dieser Lehren lege ich hier Wert
auf die Feststellung, dab auch in dieser Form schon die Tatsache
des an die Empfindungen sich anschlieBenden simultanen Be-
stehens einer Totalvorstellung zu einer Widerlegung der iiblichen
Lehrevonder sukzessivenKettenreproduktion hatte fiihren miissen.
Z. B. hat Offner aus der Tatsache, daB die Empfindungen ,,per-
8everierten“, die Assoziierung also spater als die Empfindungen
stattfande, daraus nicht den SchluB gezogen, der zu einer Ueber-
einstimmung mit den beobachteten Tatsachen hatte fiihren
miissen. Sondem er wollte mit dieser Erweiterung der G. E.
Mullerachen Theorie nur verstandlich machen, daB an die Stelle
der „Hauptassoziation“ a->-b auch die „Nebenassozjation“ a-*d
etwa treten konne, und daB zwischen Simultanassoziation und
sukzussiver Assoziation kein wesentlicher Unterschied bestiinde.
Alle diese Theorien sind erfunden unter der leitenden Idee,
alles Psychische in Empfindung und Vorstellung aufzulosen, nicht
durch induktiven Tatsachenzwang. Betrachtet man die Sach-
lage nicht unter dieser Idee, dann wird man nicht umhin konnen,
hier in der Geschehnisauffassung eine spezifische psychische Leis-
tung, einen spezifischen nervosen Mechanismus zu sehen, den es
vorlaufig gilt, moglichst genau kennen zu lemen. In diesem Sinne
sei es verstanden, wenn wir sagen, die Psyche produziert die simul¬
tanen Geschehnisvorstellungen, auf Grund des Empfindungsmafe-
rials. Darin liegt eben, daB es nicht gelingt, aus den bloBen Em¬
pfindungen und deren Vorstellungen allein die Leistung zu be-
greifen, sondern daB hier eine spezifische psychische Arbeitsweise
offenbar wird, die erst dann anzuzweifeln ist, wenn die Reduk-
tion wirklich vollzogen worden ist.
Die iibrigen Beziehungen zwischen Auffassung und Repro-
duktion sollen ihre Ableitung erst finden, nachdem im folgenden
eine Darstellungsweise entwickelt ist, die uns die Zusammenhange
vielleicht auch psychophysiologisch verstandlich macht.
§ 4. Das Prinzip der einander systemweise ttbergeordneten
reglstrierenden Mechanismen.
Es ist schon eingangs erwahnt, daB im vorliegenden der Leit-
satz der moglichst elementargesetzlichen Untersuchung nicht
gleichbedeutend ist mit dem Grundsatz der Elementaranalyse;
der bekannten Forderung, die einzelnen nicht weiter zerlegbaren
Bestandteile, die Elemente der Erlebnisse herauszuanalysieren.
So wesentlich diese Aufgabe zur Erledigung bestimmter Frage-
stellungen ist, sie ist an sich nur eine Unteraufgabe im Dienste der
hoheren Forderung, die verschiedenen grundlegenden, elementaren
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298 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der
Leistungen der Psyche zu begreifen. Wie es dem Physiologen kein
selbstandiges Forschungsziel ware, moglichst genau samtliche
chemischen Elemente der Leber herauszuanalysieren, sondem wie
es ihm Ziel ist, die physiologische Leberfunktion kennen zu lemen,
so sind auch fiir den Psychologen, soweit er auf den Namen eines
Naturforschers Anspruch erhebt, die elementaren seeHschen
Leistungen Untersuchungsziel. DaB das von den Psychologen so
wenig beachtet wurde, erklart, warum die Neurologie und Psychi¬
atric, der diese Betonung der elementaren Leistungen eine Selbst-
verstandlichkeit ist 1 ), mit der groBen Masse der ,,BewuBtseins-
tatsachen“, die die Selbstbeobachtung in der normalen Psychologie
zusammengetragen hat, so wenig anfangen kann. 2 )
Die Einseitigkeit der Assoziationspsychologie war, den ganzen
seelischen Mechanismus unter den einen Grundvorgang des Empfin-
dens und des vorstellungsmaBigen Wiederholens der Empfindungen
zu bringen: alle seelischen Leistungen variieren den einen Grund¬
vorgang a->b. Pate dieser Theorie war offensichtlich die Anatomic
und Physiologic: das Zentralnervensystem besteht auch aus weiter
nichts wie aus Zellen und verkniipfenden Fasem. Selbst wenn
man es gelten lassen kann, daB Leitung und Zellregung als
physiologische Grundvorgange zu gelten haben, so fiihrt das doch
keineswegs zur radikalen Assoziationspsychologie in der iiblichen
Form, denn die allerverschiedensten Funktionsweisen konnten ja
hinsichtlich dieser Zweiheit miteinander ubereinstimmen. Bei der
biologischen Vielfaltigkeit der Verrichtungen aller organischen
Wesen ist das Bestehen eines einzigen Grundmechanismus schon
von vomherein so unwahrscheinlich, daB das onus probandi der
Gegenseite iiberlassen bleiben kann. Sei es auch, daB das eingangs
erw&hnte Prinzip der Erfahrungsbedingtheit alles Psychischen
strenge Geltung habe, so ist das doch nur ein zusammenfassender
Grundsatz, der noch keineswegs zum Grundgesetz a->b fiihrt. Ganz
verschiedenepsychische Arbeitsweisenkonnen dem einen Gesetz der
Erfahrungsbedingtheit unterliegen. Wenn schon im Subkortikalen
eine groBe Summe an sich selbstandiger Mechanismen vorhanden
ist, ich erinnere nur an die Mechanismen der Atmung, der Kreis-
laufregulierung, des Gleichgewichts, ist dann nicht schon von vorn-
herein unwahrscheinlich,daB das GroBhirn ein so einfacher stereoty¬
per Mechanismus sei, wie ihn die Assoziationspsychologie darstellt ?
Das Schwierige ist die Heraussonderung dieser Einzelmecha-
nismen aus ihrem komplexen Zusammenarbeiten. Auf die be-
weisendsten experimenta naturae, die die pathologische Einzel-
storung liefert, kann sich die Psychologie natiirlich nicht allein
*) Man fragt nicht danach, was der Aphasische erlebt, sondern priift,
was er leistet.
*) Ein Beispiel dafiir: Einer nach Hunderten von Nummem zahlenden
Literatur iiber die geometrisch optischen Tausohungen steht in der normalen
Psychologie keine einzige Abhandlung gegeniiber, die sich mit dem genaueren
Studium der Leistung der zielgerichteten Wiilkiirbewegung beschaftigt hfttte.
etwa fur Liepmanns Apraxieforschungen die normale Vorarbeit geleistet
hatte.
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psychophysiologischen Lebre von der elementaren Assoziation. 299
stiitzen. Siebraucht es auch nicht,da ihrzur Trennung der seelischen
elementaren Einzelmechanismen andere Methoden zur Verfugung
stehen. Diese unterwerfen sich alle dem naturwissenschaftlichen
Grnndsatz, daft Vorgange verschiedene sind, die eine verschiedene Ge-
setzlichkeit haben. Methoden, die diesem Prinzip njicht folgen, wie
etwa die von Stumpf, die sich auf das unmittelbare Selbsterleben
der psychischen Funktionen beruft, konnen hier nicht in Betracht
gezogen werden.
Die Einzelmechanismen und ihr Zusammenarbeiten in der seeli¬
schen Totalitfit miissen auch psychophysiologisch, als Leistungen
materiellen Geschehens begriffen werden. Es liegt kein AnlaB vor,
dieser Aufgabe, die in der Sinnespsychologie so heuristisch sich
erwies, auf dem Gebiete der intellektuellen Leistungen so angstlich
aus dem Wege zu gehen, wie dies ganz neuerdings Mode geworden
ist. Der hier stets wieder — gerade von nicht naturwissenschaft-
licher Seite — erhobene Einwand, die feineren physiologischen
Vorgange seien uns doch noch zu unbekannt, als daB es verlocken
konnte, den Boden der rein psychischen Empirie zu verlassen, soli
uns hier nicht storen. Denn dieser operiert immer mit jener Veber-
empirie, als wenn man die feineren physiologischen Vorg&nge wirk-
lich kennen miisse, um iiberhaupt zu psychophysiologischen
Theorien zu gelangen. Es handelt sich hier ja gar nicht um eine
Erkenntnis, die bis zu den letzten feinsten Vorgangen gelangen
will, etwa im Sinne der physikalischen Chemie, sondem, da es sich
hier um biologische Mechanismen handelt, so ist eine Erkenntnis
schon dann wertvoll, wenn sie zum summarischen Begreifen
der Leistungen fiihrt. Der Photograph begreift die Leistung
des Photographierens, wenn er auch von den feineren photo-
chemischen Vorgangen nichts weiB. Um einen Elektromotor zu
erklaren, braucht man nicht auf die theoretische Elektrodynamik
einzugehen. Die Heringsche Theorie hat uns verschiedene Seh-
leistungen erkennen lassen (erklart), obwohl wir liber die Chemie
der Assimilation und Dissimilation nichts wissen. In dieser be-
scheidenen Absicht soli hier die psychophysiologische Theorie
gebracht sein, daB die Mechanismen des Empfindens, Auffassens
und Reproduzierens zu begreifen sind als Vorgange spezifischen
Registrierens.
Zuerst einige rein physikalische Darlegungen: Wenn eine orts-
feste Stimmgabel schwingt, so ist dieses physikalische Geschehen
strong momentan sukzessiv. Wird der Stimmgabelmechanismus
in einer bestimmten Weise mit einem anderen Mechanismus, etwa
zwei Mareyschen Kapseln, kombiniert, dann registrieren diese den
Stimmgabelvorgang zur Jeweiligkeit. Jedesmal, wenn an der
Stimmgabel eine Bewegung erfolgt, erfolgt auch eine in dem
Kapselsystem. Wir haben also hier ein Zusammenarbeiten zweier
an sich undbhangiger Systeme, 1. den registrierten Vorgang,
2. den registrierenden Vorgang und 3. ein Ergebnis desRegistrierens,
ein Registrogramm I. Ordnung. Kommt nun ein drittes System
hinzu, etwa ein rotierendes Kymographion, dann erfolgt jetzt eine
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300 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der
Registrierung 11. Ordnung, wobei jetzt das sukzessive Geschehen
des subponierten Geschehens vom superponierten System zur Simul -
taneitdt , zur Dauer registriert wird. Wird jetzt noch ein weiteres
System superponiert, etwa vor dem arbeitenden Kymographion
eine photographische Kamera aufgestellt, dann wird diese wieder
verschiedene Registrierungen 111. Ordnung leisten konnen. Re-
gistrierungen zur vorubergehenden Jeweiligkeit dann, wenn im
Apparat nur eine Mattscheibe ist, zur dauernden Jeweiligkeit dann ,
wenn eine photographische Platte mit EntwicklungsprozeB hinzu-
kommt. Eine iibergeordnete Registrierung IV. Ordnung wird er-
folgen, wenn das subponierte Geschehen kinemaiographisch aufge-
nommen, und dadurch die subponierte Registrierung III. Ordnung
selber wieder so registriert wird, daB die Sukzession zur Simul -
tanitdt fuhrt . Man sieht leicht, daB, von technischen Schwierig-
keiten abgesehen, eine unendliche Zahl solcher Systems einander
registrierend ubergeordnet werden kann.
Die Gesetzlichkeiten bei denjenigen physikalischen Vorgangen,
die wir als registrierende herausheben, sind eigenattige; es lassen
sich da bestimmte Satze aufstellen. die uns nachher fruchtbar
werden sollen. Zuerst: es ist die Registrierung innerhalb einer
theoretisch unendlich groBen Anzahl von Variationen unabhdngig
von der speziellen (physikalischen) Natur der registrierenden Me -
chanismen. Man konnte die Stimmgabelschwingungen elek-
tromagnetisch umsetzen, in Tone umsetzen, diese phonographisch
registrieren, verschiedene Widerstandsanderungen von Selen-
zellen benutzen usw. usw., die Registrierung an sich bleibt. Wir
kommen zur alleinigen Bedingung, daB die Zuordnung zweier
Systeme so getroffen sein muB, dafi die Veranderungen des einen
Systems solche Veranderungen im andem System hervorrufen,
dafi die Ordnung der Veranderungen in beiden Systemen uberein-
stimmt (mathematisch ausgedriickt, daB fiir beide Vorgange die-
selben Funktionsgleichungen aufgestellt werden konnten).
Diese relative Unabhangigkeit von dem Speziellen des Re-
gistrierens gestattet uns, bei bloBem Gegebensein des registrier-
ten Vorganges und seines Registrogramms hoherer Ordnung Er-
kenntnisse zu ziehen, ohne dafi wir iiber den speziellen Mechanismus
des Registrierens ein genaueres Wissen brauchen.
Die zweite Gesetzlichkeit ist die Tatsache, dafi jedes regi¬
strierende System seine Eigengesetzlichkeit hat; das Funktionieren
der Mareyschen Kapseln, des Kymographions usw., hangt von
ganz anderen Gesetzen ab als die Stimmgabelschwingungen. Inner¬
halb einer Systemkette von einander iiber-, unter- und neben-
geordneter registrierender Systeme haben wir es mit soviet Einzel -
gesetzmafiigkeiten zu tun , als Mechanismen kombiniert sind.
Das dritte ist die in bestimmten Grenzen mogliche, gegen-
seitig unabhangige Variability . Es kann die Kapsel einmal grob,
einmal fein gestellt sein, das Kymographion einmal schnell, ein¬
mal langsam rotieren. Und umgekehrt, es kann aus dieser Varia -
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 301
bilitat mil Sicherheit auf die Verschiedenheit zweier Systeme ge-
schlossen werden.
Das vierte ist das bei jeder Einzelregistrierung festzustellende
Auftreten von Registrierungsbesonderheiten. Ein theoretisches
Ideal ist die adaquate Registrierung, bei der samtliche Verande-
rungen des einen Systems vom anderen registriert werden. Prak-
tisch ist das nie der Fall, es gibt daher nur inadequate Registrierun-
gen. So registriert die photographische Platte nur die aktinischen
Helligkeiten, nicht die Farben. Als Unterarten inadaquater Re¬
gistrierung ist es praktisch, zu sondem: 1. die fehlerhafte, unvoll-
kommene, und 2. die elektive Registrierung. Fehlerhaft ware die
Registrierung etwa durch eine astigmatische Linse des photo-
graphischen Apparates, elektiv durch Verwendung eines Farben-
filters, das nur bestimmte Farben durchlaBt. Wichtig ist der
Sonderfall, daB ein registrierender Mechanismus eine mehrfache
Variabilitat der Elektion zulaBt, wie etwa ein photographischer
Apparat mit einem System von verschieden einstellbaren Licht-
filtern.
DaB nun fur die beiden Systeme, des Reizgeschehens und
der Empfindung, als physikalische Vorgange betrachtet, das Be-
stehen eines Registrierungsverh<nisses behauptet werden kann,
ist wohl nicht erst zu begriinden. Wenn wir nun zeigen werden,
daB auch die Auffassungsvorgange , d. h. die Wahrnehmungen
hoherer Ordnung, weitere iibergeordnele Systeme innerhalb eines
Systemaufbaues von registrierend zusammengeordneten Mechanis-
men darstellen, so haben wir damit nur die Erweiterung einer
bereits bewahrten Erkenntnis vollzogen.
Die Assoziationspsychologie wiirde eine uber die Empfindung
hinausgehende superponierte Registrierung nicht zulassen, da
sie ja der Empfindung ohne weiteres BewuBtsein zuschreibt,
in der ,,aufgefaBten Empfindung*' keine Zweiheit, sondem eine-
Einheit sieht. Die Nachwirkung dieser Registrierung I. Ordnung,
der Empfindung, bezeichnet sie demzufolge als Reproduktion..
Hier soli, wie schon angedeutet, die Theorie durchgefiihrt werden,
dap dem registrierenden Mechanismus der Empfindung noch weitere
registrierende Systeme uber - und nebengeordnet sind, dap die Re¬
produktion nicht auf dem Registrogramm der Empfindungen, sondern
der Auf fa#sung en beruht. Dadurch, daB wir uns den Vorgang super-
ponierter Registrierung physiologisch leicht verstandlich machen
konnen, haben wir noch den Gewinn auch fur die Auffassungs-
vorgange, welche ja Aufmerksamkeit usw. subsumieren, ein
psychophysiologisches Begreifen zu bekommen.
Fiihren wir dies einmal kurz beim Optischen durch: Das Reiz-
geschehen wird zur Jeweiligkeit registriert durch die physikalische
Abbildung auf der Retina. Schon bei dieser Registrierung I. Ord¬
nung haben wir eine groBe Anzahl von Registrierungsinadaquat-
heiten, die durch die fehlerhafte Optik, ungenaue Abblendung
und elektive Farbenabsorption gesetzt sind. Dieser Registrierung
ist die Umsetzung der Retina als weiteres System iibergeordnet^
Monatsschrift f. Psychiatric u. Ncurologle. Bd. XXXVII. Heft 5. 20
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302 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der
Auch in dieser Registrierung II. Ordnung haben wir eine groBe
Zahl von Registrierungsbesonderheiten und Inadaquatheiten,
die verschiedene Farbentiichtigkeit und physiologische (!) Seh-
scharfe von Zentrnm und Peripherie, die Unerregbarkeit des
fclinden Flecks, Kontrast, Nachwirkung, Adaptation und Ermii-
dung, soweit als die Sinnesphysiologie diese Vorgange als reti-
naler Genese bewiesen bat. In der Pupillenregulierung haben
-wir bier einen selbstandigen variablen Einstellungsmecbanismus
vor uns. Dieses Geschehen der Retina wird registriert vom Zen-
tralorgan. Das ware zunachst das Corpus geniculatum externum und
weiterhin die Calcarina und Couvexitat. Es beweist zum mindesten
die heuristische Fruchtbarkeit der Fragestellung nach dem Auf-
bau registrierender Mechanismen, dad man hierdurch fast auto-
matisch die Fragestellungen fiir die spezifischen Leistungen der
zusammengeordneten nervosen Einzelsysteme bekommt. So
iindet in den Corpora geniculata externa nocb eine doppelte Re¬
gistrierung der beiden Retinae statt, wenn die anatomische
Tatsache stimmen sollte, dad direkte Kommissuren der beiden
Gangbenaggregate nicht vorhanden seien. Jedenfalls wiirde in
diesem Falle die Empfindungsregistrierung nicht in den Corpora
geniculata zu suchen sein, denn die Tatsachen der binoku-
laren Farben- bezw. Helligkeitsmischung und -beeinflussung, die
Identitat einesTeiles des Sehfeldes u. a. m. beweist eine Registrierung
des Doppelten zur Einheit, die nach vorlaufiger Kenntnis der
Anatomie erst weiterbin zentral erfolgen kann, im kortikalen
Sinneszentrum. In dieser Registrierung III., resp. IV. Ordnung,
haben wir wieder charakteristische Eigengesetzbchkeiten und
Inadaequatheiten. Die binokulare Farben- bezw. Helligkeits¬
mischung und -beeinflussung ist schon erwahnt, ob bier schon
die ,.Tiefenempfindung“ anzusetzen ware, das ist noch eine offene
Frage.
Als fiir unser Thema letzte superponierte Registrierung
haben wir die Auffassung der Empfindungen. Ich muB es einer
sp&teren Verdffentlichung iiberlassen, darzulegen, daB es sich auch
bier um eine Zusammenfassung handelt, daB „die“ Auffassung,
die hier als ein einheitliches System behandelt wird, auch noch
•eine Mehrzahl von iiber-, unter- und nebengeordneten registrieren-
den Systemen enthalt. DaB die Auffassung, der Mechanismus
des Registrierens von Empfindungsmaterial, dem Mechanismus
des Empfindens iibergeordnet ist, dafiir haben wir den Beweis
in der Zusammenfassung zur Simultanitat der Geschehnisvor-
stellungen. Es liegt hier eine ebensolche Zweiheit vor, wie es
bei registrierten Stimmgabelschwingungen der Fall ist. Ebenso
wie es moglich ist, das Kinematogramm sukzessiver Vorgiinge
auch simultan sichtbar zu machen, so ist es auch bei der Repro-
duktion. Auffassungsprodukt ist die Geschehnisvorstellung, dies
Produkt wird als Ganzes in der spezifischen ph&nomenalen zeit-
lichen Gliederung reproduziert; in der Auffassung wird die Vor-
arbeit, tvelche in der Zusammenfassung des Sukzessiven zur Simul-
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peychophysiologischen Lehre von der elementaren Aasoziation. 303
ianeitdt besteht, bereits geleistet; deshajb braucht die Reproduktion
nicht die Wiederholung der friiheren Sukzession, es geniigt die „Er-
innerung an die Sukzession Wir sehen im Kinobilde, wie das
Schiff versinkt, eine Summe einzeln sukzessiver Empfindungen,
die zur Einheit des Geschehnisses aufgefaBt werden. Die Erinner-
ung a n diesen Vorgang kann eine simultane Vorstellung sein.
Die andere Registrierungsbesonderheit sind Volgange, die
man z. T. ale Aufmerksamkeit benannt hat, der wir jetzt eine
kurze Sonderbetrachtung widmen miissen.
Im Vorangegangenen ist eine Erw&hnung der Aufmerksam¬
keit peinlich vermieden, da hier eine andere Darstellung gegeben
werden soil, als sie in der Literatur vorliegt. Man pflegt die Frage
so zu behandeln, daB man ,,die Aufmerksamkeit" bei der A. und
R. ,,eine wichtige Rolle“ spielen laBt. Darin liegt begriffen eine
Zweiheit; Assoziation - Reproduktion einerseits seien ein de facto
anderes Geschehen als ,,die Aufmerksamkeit" anderseits. Man
behauptet zwei de facto getrennte Vorgange. Danach ware es also,
pathologisch oder nur ideell, moglich, den einen Faktor bei
Bestehenbleiben des andem in Fortfall kommen zu lassen. Wundt
hat das ja auch ausgesprochen — in seiner Theorie des Apper-
zeptionszentrums —, dessen pathologischer Ausfall die Assoziation
und die Reproduktion in ihrer unbeeiniluBten Wirkungsweise
zum Vorschein kommen lieBe. Es kann sich vorlaufig eriibrigen,
alle die verschiedenen Aufmerksamkeitstheorien hier aufzuroUen,
da es uns hier nur darauf ankommt, daB sie sfimfclich die Zweiheit
der Faktoren aussprechen, daB Assoziation und Reproduktion
an sich unabhangig von „der Aufmerksamkeit" vor sich gehen
konnte. Diese Trennung der beiden Faktoren soil im folgenden
fur die jenigen Aufmerksamkeitsvorgange, die man als „Auffassen"
herausgesondert hat, beseitigt werden. Im Gegensatz dazu wird die
Theorie verteidigt, daB diese Auffassungsvorgdnge den Votgangen
der Assoziation und Reproduktion immanent sind. Eine allgemeine
„Aufmerksamkeitstheorie" ist hier nicht beabsichtigt.
Es ist in der Literatur von vielen hervorgehoben, daB ,,die
Aufmerksamkeit" der ,,Unaufmerksamkeit“ nur euphemistisch
gegeniibergestellt ist, daB hier ebenso wenig ein diametraler
Gegensatz besteht wie bei warm und kalt, die ja auch die vulg&re
und friihere Physik als zwei entgegengesetzte ZustSnde behandelte.
Schranken wir unsere Betrachtung nur auf das Auffassen ein, so
ist es besonders deutlich, daB hier nur graduelle Unterschiede be-
stehen. Man kann ein und denseitben Ton einmal mehr, das andere
Mai weniger auffassen, was identisch ist mit einmal grbBerer, ein¬
mal geringerer Aufmerksamkeitszuwendung. So klar und einfach
hier die Tatsachen selber sind, so mannigfaltig sind doch hier die
-erklarenden Theorien. Eine Gruppe von Theorien sieht hier die
Forderung und Hemmung durch iibergeordnete Faktoren, sei es
durch ein Apperzeptionszentrum, sei es durch andere Faktoren.
Eine zweite Gruppe von Theorien hat hier als urs&chlichen Faktor
.die Leibniz-Herbarta che Enge des Bewufitseins behauptet, wobei
20 *
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304 Pop pel router, Ueber den Versuch einer Revision der
man neuerdings besonders die Deutung zugrunde legte, daB die
BewuBtseinsenergie einen.nurvon Fall zu Fall wenig wechselnden,
im allgemeinen aber konstaftten Betrag besitze, der verschieden
verteilt werden konne. Entfallt auf eine Empfindung mehr, dann
bleibt fiir die andere wenigeriibrig... Gerade diese Theorie hat die
mannigfachsten Variationen. Eine dritte Gruppe von Theorien
sieht das haupts&chlichste hier in den verschiedenen motorischen
und nutritiven Anpassungsvorgangen der Sinnesorgane, die eine
verschiedene Steigerung der Intensitat der Eindriicke bewirken
sollten. .. ;
Die wichtigste Forderung des Problems scheint mir die The¬
orie des Kontinuums der Bewuptseinagrade zu sein, gerade dann,
wenn man sie von der Apperzeptionstheorie ihres Urhebers Wundt
loslost. Es ist ein Verdienst Wirths 1 ), gezeigt zu haben, daB hier
eine selbstandige Tatsachenbehandlung moglich ist. Ein und den
selbenTon einmal mehr, einmal Weniger beachten heiBt: der Ton
hat einmal einen groBeren, einmal einen kleineren Bewufitseins-
grad, d. h. ein und derselbe Ton, ein und dieselbe Empfindung
kann in verschiedener Weise auffassend registriert werden; das Er-
gebnis der Registrierung ist der einmal in hohem, einmal im
niedrigen BewuBtseinsgTade registrierte Ton. BewuBtseinsgrade
sind demnach Gradbestimmtheiten, die nicht der Empfindung,
sondem dem Registrogramm der Empfindungen zukommen. So
wie die „Bildscharfe“ der Photographic, nicht dem photogra-
phierten Gegenstand zukommt. Von ,,Bewufitseinsgrad der
Empfindungen" zu reden, hat also theoretisch keinen Sinn; doch
konnen wir uns immerhin dieser Abkiirzung bedienen.
Ist eine Mehrheit simultaner optischer Empfindungen gegeben,
so resultiert aus der Registrierung des Auffassens das von Wundt
treffend so genannte Relief der Bewu/itseinsgrade. Diebeherrscher.de
Methode ist hier das tachistoskopische Experiment, bei dem eine
Mehrheit verschiedener optischer Eindriicke nur fiir einen kurzen
Moment sichtbar gemacht wird. Es ergibt sich da die Registrie-
rungsinadaquatheit, daB die Teile des zugrunde liegenden Emp-
findungskomplexes in ungleicher Weise registriert werden, die einen
mehr, die anderen weniger, d. h. verschieden hohen BewuBtseins-
grad bekommen. Die Verschiedenheit des BewuBtseinsgrades
ist nur nicht nur eine Verschiedenheit der Erlebnisse, sondern der
Dynamik der samtlichen sich an die Auffassung an schliependen
Prozesse, vor allem der Reproduktion. Der Zusammenhang, dap
das mehr aufgefapte auch eher, besser reproduziert wird, ist als ein
so 8eU>8tver8tdndlicher erschienen, dap eine ausdruckliche experi-
mentelle Untersuchung daruber bis jetzt noch fiir unnotig befunden
wurde. (Die GesetzmaBigkeit gilt streng nur fiir Auffassung und
Reproduktion innerhalb eines Sinnesgebietes, fiir die aus mehreren
Sinnesgebieten sich zusammensetzenden Komplexe gilt sie nicht
*) W. Wirth. Die exp. Analyse der Bewufltseinsph&nomene. Braun¬
schweig. 1908.
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psychophysiologischen Lehre von der elementarep Assoziation. 305
mehr, wofiir hier nur die geringe Reproduzibilitat aller Geriiche
angefiihrt werden soil; doch das alles muB hier auBer Betracht
bleiben.) Diese allgemeine dynamische Beziehung, die von anderen
Theorien im Sinne des „f6rdemden Faktors“ behandelt wurde,
wird nach unserer Darlegung, bei der ja die Reproduktion nicht
auf die Empfindungen, sondern auf die Auffassungen gegriindet
wird, zu einer immanenten. Es bUden sich bei einem und demselben
Empfindungsmaterial durch verschiedenwertige Registrierungen dutch
das superponierte System verschiedenartige Engramme. Man kann
daher, mit hier belanglosen Ausnahmen, den BewuBtseinsgrad als
eine Funktion der engrammformierenden Arbeit behaupten. (Wiirde
man fur BewuBtseinsgrad den teilweise synonymen 0. E. Miiller-
schen Terminus der ,,Eindringlichkeit“ nehmen, so lage auch diese
Beziehung zur Reproduktion im Worte drin.) Abgesehen von der
Dynamik besteht vor allem die Abhangigkeit der Auffassungs-
eriebnisse und der Reproduktionserlebnisse voneinander, daB die
Verteilung der Beumfitseinsgrade bei der Auffassung auch eine
entsprechende Verteilung der Beumfitseinsgrade bei der Reproduktion
bedingt. Es ist sehr wichtig, daB mit dieser Bezeichnung die Her-
vorbringung der verschiedenen Reliefs der BewuBtseinsgrade als die
Eigengesetzlichkeit desjenigen registrierenden Mechanismus be-
wiesen wird, der zwischen Empfindung und Reproduktion ein :
geschaltet ist, so wie die verschiecTene Linseneinstellungsweise in
den Gesamtmechanismus des phptographischen Registrierens einge-
schaltet ist. Wie dort die Folgen der verschiedenen Linsenformen,
der verschiedenen Blenden usw. fur sich untersuchbar sind, so sind
auch die als „verschiedene Auffassungsweisen“ gekennzeichneten
variierenden Mechanismen einer Sonderuntersuchung zuganglich,
nur daB hier die Verhaltnisse ungleich schwerer zu jiberschauen
sind. Abgesehen von einzelnen Arbeiten der Wundts chen Schule
ist hier noch das meiste ohne ausdruckliche Untersuchung ge-
blieben, und demzufolge miissen die genaueren Beziehungen
zwischen Auffsassungsweise und Reproduktion erst zukiinftig
genauer ausgearbeitet werden.
Eine weite Komplizierung kann hier vermieden werden, wenn
man die Auffasssungsweisen in uribeeinflufite, elementare und be-
einfluBte, komplizierte trennt. Gerade die letztere Kategorie
enthftlt die iiberwiegend groBere Zahl der Verschiedenheiten, be-
sonders alle die auf vorangehender willensmaBiger Einstellung,
Determinierung beruhenden. Bei dem angegebenen tachistosko-
pischen Experiment kann man die Vp. in verschiedener Weise
determinieren: beim Achten auf die linke Ecke ergibt sich auch
eine Verschiebung des Reliefs der BewuBtseinsgrade zugunsten
der linken Ecke, beim ,,Achten auf die blauen Figuren“ bekommen
diese den hoheren BewuBtseinsgrad usw. Vergleichen wir aber mit
diesen determinierten die indeterminierten Auffassungen, die wir
als elementarer ansehen miissen, dann sind die Verhaltnisse ungleich
einfacher und, jedenfalls in den Hauptpunkten und beim Optischen,
leichter gesetzlich zu iiberschauen.
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306 Poppelreuter, Ueber den Vereuch einer Revision der
Die Gesetzlichkeiten dieser passiven Auffasssungsweise fallen
z. T. unter die Rubrik des als ,,passive Aufmerksamkeit" bezeich-
neten, des „Auffallens" .Wild eine simultane Mehrheit verschiedener
optischer Figuren tachistoskopisoh dargeboten, so fallen diese in
verschiedenem Grade auf, sie haben ohne weiteres einen ver-
Bchiedenen BewuBtseinsgrad. Wenn es auch keiner besonderen
Untersuchung bedarf, daB die groBere Auff&Uigkeit der roten Farbe,
dem intensiveren Eindruck, der groBeren, der zentraler gelegenen
Figur zukommt, so sind doch die genaueren Verhaltnisse bei Auf-
fassungen anderen Sinnesmaterials noch fast ganz unerforscht-.
Produkt des Auffassens ist stets ein Games; es wird wie im zeit-
lichen so auch im raumlichen eine Synthese von Mehrheiten voll-
zogen. Das sinnesphysiologische Material kann restlos in ,,Ele-
mente“ zerlegt werden, das Ganze ist additiv darstellbar. Nicht
eo bei der Auffassung. Diese produziert stets ein Ganzes, den Totals
eindruck, der mehr ist als die Summe der Teile. Um das auch ter-
minologisch zu trennen sollte man bei Empfindungen von Ele-
menten, bei Auffassungen von Teilen reden. Die Teile eines Total-
eindruckes differieren hinsichtlich ihrer BewuBtseinsgrade nach den
bestimmten Gesetzen, die wir beim Optischen vorhin angedeutet
haben. Es ist eine theoretisch sehr bemerkenswerte Tatsache,
doyS Beum/itseinsgrad und Differemierung der Teile innerhaRt des
Ganzen einander parallel gehen. Unter Differenzierung ist diejenige
Erlebnisweise zu verstehen, welche innerhalb eines Totaleindrucks
die einzelnen Teile unterscheidbarer macht. Exponiert man tachisto-
skopisch eine groBere Mehrheit verschiedener Figuren, so hat man
fiber diese Verhaltnisse ein gutes Kriterium an der unmittelbaren
Wiedergabefahigkeit. Sind es etwa 20 Figuren, so wir die Vp.
vielleicht 4 oder 5 hinterher genauer angeben konnen. Es sind das
nur diejenigen Teile, die von besonders hohem BewuBtseinsgrade,
die ,,gut“ aufgefaBt worden sind und dementsprechend adaquat
wiedergegeben werden konnen. Die fibrigen Teile konnen mehr
und mehr nur inadaquat wiedergegeben werden, die Vp. sagt etwa r
„es war noch etwas Farbiges da, welche Form es hatte, kann ich
nicht sagen“, usw. Obwohl man diese Dinge gelaufig kannte, so-
wurden doch die Erlebnisteile mit nur inadEquater Feststellungs-
moglichkeit frfiher nicht in ihrer groBen theoretischenBedeutung
gewertet, da man hier eben nicht ,,exakt“ vorgehen kann. So
wertete man bei quantitativer Untersuchung der Reproduktion
nur die Teile optimaleren BewuBtseinsgrades mit adaquater Fest-
stellungsmoglichkeit; was naturlich die Theorie umso erheblicher
beeinflussen muBte, einen je geringeren Bruchteil des ganzen die
optimaleren Teile ausmachten. Dieser Bruchteil kann — man ver-
gegenwartige sich eine simultane Gegebeiiheit von 100 verschieden-
farbigen Figuren! — ein sehr geringer werden. Wenn wir den Be-
ziehungen zwischen dem BewuBtseinsrelief der Auffassung und der
Reproduktion n&her nachgehen, so finden wir sie hier im Optischen
verh<nism&Big eindeutig. Doch nur erst nach einigen Einschran-
kungen. Man konnte empirisch sagen: jedes Reprodukt ist nur eine
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psychophyeiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 307
unvoUkommene Erneuerung der in der Auffassung produzierten
TotalvorsteUung. Trotzdem aber hat es guten Erfolg, wenn wir uns
an dem nur selten gegebenen Grenzfall orientieren und die Re-
produktion als Erneuerung dee Auffassungsproduktes bezeichnen,
hinter der eben aus gut bekannten Grunden jeder empirische
Sonderfall bald mehr, bald weniger zuriickbleiben muB. Gerade
deshalb ist es wichtig, die besondere Art dieser Unvollkommenheit
genauer kennen zu lemen. Auch phyeikalische Reproduktionen
konnen, verglichen mit dem Original, in verschiedener Weise un-
vollkommen sein. Erstens so, daB sie nur stiickweise wire, wenn
also etwa die eine H&lfte einer Photographic ganz ausfiele. Zweitens
so, daB etwa eine Verzerrung, eine Aenderang des Figiirlichen,
der Farben usw. eintr&te. SchlieBlich so, daB die Photographic
nur eine summarische skizzenhafte Wiedergabe darstellte. Offen-
bar haben wir es, wenn wir Reproduktionserlebnisse ganz ver¬
schiedener Sonderfalle wahllos daraufhin vergleichen, mit all
diesen Unvollkommenheiten zu tun. Nehmen wir aber experimen-
tell kontrollierte einfache Fftlle, so ist doch die letztere Art der Un¬
vollkommenheit die Regel. Die Reprodukte sind meist aufierst
summarisch, skizzenhaft im Vergleiche zu den TotalvorsteUungen
der Auffassungen. Nehmen wir den Fall einer Reproduktion im
optimalen Stadium, so stimmt das Relief der Beumfitseinsgrade
in Auffassung und Reprodukt relativ uberein. Obwohl der totale Be-
wuBtseinsgrad des Reprodukts meist bedeutend niedriger ist als
der der originalen Auffassung, so ist doch die Relation beziiglich
der einzelnen Teile der Reliefs erhalten. Sind in der Auffassung
der Empfindungen ABODE die A und B von besonders hohem
BewuBtseinsgrad gewesen, so ist es auch in der reproduzierten
Vorstellung so, daB a b einen hoheren BewuBtseinsgrad hat als die
iibrigen. Ja es l&Bt sich nach neuen, nicht abgeschlossenen
Versuchen behaupten, da/3 die Different der hohen und niedrigen
BeiDufItseinsgrade in der Reproduktion noch scharfer ausgeprdgt
ist als wie in der Auffassung, daB die Reproduktion das Relief der
BewuBtBeinsgrade unter bestimmten Umst&nden karikiert.
Ebenso, wie bei simultanen Mehrheiten eine Registrierung in
verschiedenen BewuBtseinsgraden erfolgt, so ist es auch bei
sukzessiven Mehrheiten.
In den Geschehnisauffassungen wird nur eine bestimmte zeit-
liche Strecke des perzeptiven Materiales registriert; die am Schlusse
vorliegende Auffassung registriert nur einen begrenzten vorher-
gehenden Bereich, dessen Umfang sich leider recht schwer be-
stimmen laBt. In der Literatur pflegt dieser von Wundt so genannte
Aktualitdtsbereich nur auf wenige Sekunden begrenzt zu werden, auf
Grand von Versuchen einerseits uber den sogenannten ,,zeitlichen
Umfang des BewuBtseins“, wo z. B. Anzahl und Tempo der Me-
tronomschlage bestimmt werden, welche die Vp. ohne Zahlen noch
als eine exakte zeitliche Einheit umspannen und unmittelbar hinter-
her noch richtig bezeichnen kann, und anderseits iiber den Umfang
des unmittelbaren Behaltens, etwa vorgesprochener Zahlen oder
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308 Poppelreuter, Ueber den Verauch einer Revision der
Silben. Diese Versuche bestimmen aber nur denjenigen Aktualitats-
bereich, bis zu dem eine Jtegistrierung in optimalem Beumfitseinsgrad
erfolgt, d. h. den Unifang der Aufmerksamkeit in euphemistischem
Sinne. Denn nur dieser ist auch der Bereich der adnaquaten Fest-
stellungs- und Aussagemoglichkeit. Bei der Frage nach dem Um¬
fang iiberhaupt muB aber der ganze Umfang genommen werden,
der sich im Registrieren auch der Teile in bloB niedrigem BewuBt-
seinsgrade auBert. Wenn auch bei einer vorgesprochenen Reihe von
6 Zahlen oder sinnlosen Silben die Lautfolge als Ganzes hinterher
simultan und in so hohem BewuBtseinsgrade vorliegt, daB eine
unmittelbare richtige Wiedergabe erfolgen kann, so liegt doch bei
einer tReihe von 20 Zahlen, wo eine solche Wiedergabemoglichkeit
nicht mehr besteht, trotzdem hinterher eine Totalvorstellung der
Lautfolge vor; nur daB eben hier das Relief der BewuBtseinsgrade
ein so niedriges ist, daB die Teile nicht mehr differenziert sind.
Es liegt im Wesen der Sache selbst, eben weil die BewuBtseinsgrade
auch Feststellungsgrade sind, begriindet, daB der ganze zeitliche
Registrierungsbereich des Auffassens bei Einbeziehung der Teile
niedrigen BewuBtseinsgrades aus der bloBen Selbstbeobachtung
gar nicht exakt bestimmbar ist. Jedenfalls ist bei Einbeziehung
der Teile niedrigen BewuBtseinsgrades der zeitliche Bereich des Auf¬
fassens, der Aktualitatsbereich, bedeutend viel w e i t e r zu nehmen
als es nach der Literatur geschieht, sicherlich auf mehrere Minuten
auszudehnen. Der Klarheit der Sache wegen kann man in diesem
Sinne enge und weite Aktualitaten unterscheiden.
Um Aktualitatsbereiche zu bestimmen, muB man zuerst zu-
sehen, welchen VerSnderungen eine Auffassung in der postper-
zeptiven Zeit unterworfen ist, ehe sie ins Stadium der bloBen Latenz
iibergeht. Denn wenn man ein langeres perzeptives Geschehen,
etwa 40 Sekunden untersucht, so befindet sich der 10 Sekunden
dauemde Anfang am Schluss des ganzen Geschehens bereits in
einem postperzeptiven Stadium von 30 Sekunden. Danach muB
zweierlei untersucht werden: 1. der EinfluB der ,,leeren“ post¬
perzeptiven Zeit an sich und 2. der EinfluB der weiteren Ausfiillung
der postperzeptiven Zeit. Es wird die Sache zumeist so beschrieben,
„nach einer gewissen Zeit gingen die Eindriicke wieder aus dem
BewuBtsein heraus“. So richtig diese Darstellung ist, wenn wir
den psychischen Verlauf nur im groben nehmen, so falsch ist sie
doch im einzelnen. Nehmen wir nur das konkrete Beispiel von
gehorten Zahlen: 5, 7, 3, 1, 8, 6. Bleibt das BewuBtsein hinterher
frei, so liegt hier eine differenzierte Totalvorstellung vor. Aber
diese Totalvorstellung andert sich nun nicht etwa subtraktiv nach
der Vergangenheit hin, so daB also 5, 7 aus dem BewuBtsein zuerst
herausgingen, sondem die Aenderung ist divisiv, es andert sich die
Totalvorstellung im ganzen; sie wird vongeringerem BewuBtseins¬
grade und damit das akustische Ganze verschwommener. Es
ist nicht so, daB einige Glieder ausfielen, die iibrigen bestehen
blieben. Bei unserm Beispiel ist es ja auch nicht der Anfang,. der
zuerst leidet, sondem gerade die Mitte, die Zahlen 3,1. Diese fallen
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 309
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-auch nicht aus, so daB eben nur 4 Zahlen iibrig blieben, sondern
es besteht eine Totalvorstellung von 6 Gliedern , in der die mitt-
leren nur von so geringem BewuBtseinsgrade sind, daB eine
Differenzierung und exakte Aussagemoglichkeit nicht mehr be¬
steht. Es ist dann die charakteristische Sprachmelodie von
6 Zahlen noch vorhanden, so daB die Vp., wenn sie das Erlebnis
genau kennzeichnen wollte, sagen miiBte: 5, 7, x, x, 8, 6. Man
darf hier eben nicht das Resultat quantitativ determinierter Me-
thoden dem Erlebnis parallelisieren, d. h. die Glieder als fehlend
rechnen, die die Vp. nicht mehr anzugeben vermag. Wenn eine
Vp. sagt: ich habe die mittleren Zahlen vergessen , so ist das auf
den kritischen Sprachgebrauch der Vulgarpsychologie zuriick-
zufiihren, der ebenso, wie er das ,,Nichtauffassen“ als „nicht sehen“
so auch die Unmoglichkeit genauer Angabe als ,,vergessen" be-
zeichnet. Der Psychologe darf hier, wie es in praxi fast durchweg
geschieht, das Wort „ vergessen" nicht anwenden. Beim richtigen
Vergessen miissen die Auffassungen und Reproduktionen voll-
standig fehlen, die Vp. darf sich dann auch nicht mehr an den
Versuch iiberhaupt erinnern. Die Vp. verrat sich ja in den meisten
Eallen, indem sie etwa sagt: ich habe die 6 Zahlen vergessen; also
weiB sie doch noch, daB es 6 Zahlen waren!
Es ist eine groBe Liicke gelassen worden dadurch, daB durch
die fast ausschlieBliche Verwendung der determinierten Methoden
die Veranderungen der Auffassungen in der postperzeptiven Zeit
nicht zur Untersuchung und theoretischen Wertung gekommen
sind. Besonders interessant ist das automatische Abstrahterwerden
der Auffassungen. Es ergibt sich da bei unserm Beispiel ungefahr
folgende Reihenfolge:
1. Totalvorstellung 6 Zahlen 5
2 . „ - "
3.
4.
5.
^ 3 1 8 6
6 Zahlen 5 7 x x 8 6
6 Zahlen 5 x x x x 6
6 Zahlen x x x x x x
einiger Zahlen
Zahlen
7. irgendein Gedachtnisversuch.
genau
(Beachtet man dieses Verhalten, die zunehmendeHypofunktion
mit zunehmendem Abstrakterwerden, dann wird man nicht so all-
gemein, wie das bei den meiston Psychologen geschieht, im Ab-
strakteren die ^hohere 44 Leistung sehen. Doch davon spater!)
Werten wir nun diese so gekennzeichneten unanschaulicheren Teile
auch als Bestandteile, die in den Aktualitatsbereich hineingehoren,
dann miissen wir, wie gesagt, den Urnfang recht viel groBer nehmen
als bei alleiniger Beriicksichtigung der ,,engen“ Aktualitaten,
sicherlich also weiter als mehrere Sekunden. Die weiten Aktualitaten
lassen sich, wie gesagt, durch Selbstbeobachtung nicht exakt fest-
stellen, wir miissen hier indirekte Methoden zu Hilfe nehmen, die
aber alle unvollkommen sind. Das erste ware eine Zuhilfenahme
der nachtraglichen willensmd/iigen Schilderung eines Geschehnisses.
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310 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der
Wir konnten die Aktualit&t soweit ansetzen, als es noch moglich
ist, unmittelbar hinterher eine vollstandige Schilderung des Er-
lebten zu geben ohne Zuhilfenahme neu einsetzenden Besinnens.
Dabei bekommt man Aktualitdten von einigen Minuten heraus.
Diese Methods gibt aber sicherlich noch zu enge Begrenzungen,
da hier ja natiirKch der eben erwahnte Umstand der Ignorierung
der Teile niedrigen BewuBtseinsgrades eine FehlerqueUe ist. Dio
Vp. neigt dazu, nm „gute“ Auskunft geben zu konnen, viel eher,
als die Aktualitat zu Ende ist, mit dem Besinnen einzusetzen.
Bessere Bestimmungen erhalt man durch die Frage nach der To-
talitat der Auffassungen. Wir konnen feststellen, daB sich Ge-
schehnisauffassungen mit VergroBerung der postperzeptiven Zeit
verdichten, zusammenziehen, die Differenzierung der Einzelheiten
verlieren. Es ist das ein selbstandiger, d. h. ohne Eingreifen anderer
Faktoren sich vollziehender Vorgang. Man kann mm die Aktualitat-
bis zu dem Punkte ansetzen, bis zu welchem noch eine solche ver-
dichtete Totalauffassung eines Geschehnisses moglich ist. Liest
man einer Vp. erst 50 und dann 100 sinnlose Silben vor, dann ist
in letzterem Falle hinterher eine a n d e r e Geschehnisauffassung vor-
handen als im ersteren Falle. Die Vp. weiss die beiden Auffassungen
ja ganz gut voneinander zu scheiden, indem sie etwa sagt, im
zweiten Falle wftren es ja sehr viel mehr Silben gewesen als
im ersteren Falle, oder „BewuBtsein eine Viertelstunde lang
sinnlose Silben gehort zu haben“. Bei diesen Versuchen sehen
wir recht deutlich, daB feste Grenzen der Aktualit&ten nach der
Vergangenheit hin iiberhaupt nicht existieren, daB wir dem Wort
„zeitlicher Bereich“ keine physikalischen Begriffe zugrunde legen
konnen, wie etwa den zeitlichen Bereich der Walze einer phono-
graphischen Registrierung. Der psychische Tatbestand ist eben
auch hier ein durchaus eigenartiger. Die Registrierung vollzieht,
ehe sie allmahlich nach der Vergangenheit zu aufhort, mit dem
Vorangegangenen eineVerdichtung, eine Zusammenfassung langerer
und detaillierterer Geschehnisse zu undifferenzierten Totalvor-
stellungen. Wir haben eine schone Analogic mit dem Raumlichen.
Wenn wir auf einen Berg steigen, zu dessen Fiiflen eine Stadt liegt,
so wird auch der Gesichtswinkel immer kleiner, der zu iiberschauende
Raum weiter, das Relief der Stadt mit zunehmender Steigung dabei
immer gleichm&Biger und undifferenzierter.
Man kann nun die Geschehnisauffassung haben: ich habe eben
einige Stunden lang Musik gehort; ist darum auch der Aktualitats-
bereich auf einige Stunden festzusetzen ? Ich mochte die Frage
bejahen, ohne aber hiermit etwas Bewiesenes aufzustellen. Denn
ich glaube nicht, daB ein neues Besinnen, eine neuerliche Repro-
duktion erfolgt, wenn jemand etwa auf die Frage, was hast du heute
morgen getan ? antwortet: ich habe zuhause gearbeitet. Die exakte
Beantwortung der Frage nach den weiten Aktualitatsbereichen ist
deswegen nicht notwendig, Weil hier noch bestehende Auffassung
und Reproduktion ohne scharfe Grenze ineinander iibergehen und
es fiir unsere Theorie gleichgiiltig ist, ob wir es bei diesen weiten
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psychophyBiologischen Lehre von der elementaren Association. 311
Aktualitaten mit dem Hineinspielen von Reproduktionen zu tun
haben oder nicht.
Die passiv roproduzierten elementaren Geschehnisvorstellungen
haben, zumal in den ersten Stadien, einen recht grofien zeitlichen
Umfang reap. Inhalt. Das ergibt grofie Schwierigkeiten fur das
experimentelle Vorgehen. Fiir einen Vetsuchstag kann man, streng
genommen, deswegen nur einen einzigen passiven Reproduktions-
versuoh machen. Hat man etwa an einem Versuchstage 4 Reihen
sinnloser Silben lesen lassen, die Reihen I, II, III, IV, und gibt
man dann bei vollig determinationslosem Verhalten Silben, etwa
aus der Reihe I, als Reproduktionsmotive, so findet nicht etwa
eine Beschr&nkung der Reproduktion auf die Reihe I statt, sondem
es wird eben geweckt ,,die Erinnerung an die Versuchsstunde “,
es kommen bei der Explikation auch Silben aus den Reihen II,
HI, IV. In alien den Fallen, in denen eine wesentlichere Einengung
der Reproduktion auf eine engere Aktualitat stattfindet, lassen sich
besondere determinative oder andero Einfliisse nachweisen oder
vermuten.
Der Anted der Reproduktion bei den Gesohehnisauffassungen
wird uns erst sp&ter beschaftigen konnen. Wir wollen aber, zur
Klarheit der Darstellung, schon jetzt die Scheidung vomehmen
von direkten Gesohehnisauffassungen und indirekten, wobei eben
unter letzteren die Gesohehnisauffassungen zu verstehen sind, bei
denen eine die Auffassung beeinflussende Komplikation mit der
Reproduktion von Geschehnisvorstellungen vorliegt. Wenn etwa
das Wort „Rugen“dieVp. „aneinenFerienaufenthaltvon 4Wochen“
erinnert, dann hat hier selbstverst&ndlich keine Aktualitat von
4 Wochen vorgelegen, wohl aber besteht eine reproduzierte Ge-
schehnisvorstellung.
Eine weitere wichtige Beziehung ist folgende: bei der Re¬
produktion handelt es sich in jedem Stadium um ein Ganzes, das
sich hinsichtlich seiner Details auseinanderfaltet. Oben wurde
der Vorgang so beschrieben, da/S die Einzelheiten der Totalvor-
eteUungen sich explizierten, womit ausgesprochen war, da 13 sie in
der Totalvorstellung impliziert seien. Die Reihenfolge dieser Ex¬
plikation richtet sich nicht nach der engsten Kontiguitat, weder im
Raumlichen, noch im Zeitlichen, sie scheint vielmehr regellos zu
sein, sobald man mit Material arbeitet, das keine groBeren Diffe-
renzen der BewuBtseinsgrade aufweist. Untersucht man aber Auf-
fassungen, welche Teile sehr hohen und sehr niedrigen BewuBtseins-
grades haben, so ist die GesetzmaBigkeit offensichtlich, dafi die
Teile hoheren Bewuptseinsgrades bei der Explikation den zeitlichen
Vorrang haben. Erinnert man sich einiger Geschehnisse, die einzelne
ganz besonders auffallige Stadien batten, so kann man mit einiger
Sicherheit darauf rechnen, daB diese sich zuerst explizieren. Und
zwar geschieht diese Explikation in vielen Fallen so schnell, daB
das Stadium der diffusen Allgemeinerinnerung verdeckt wird-; so
daB man sehr leicht — wie ich dies friiher auch tat — geneigt sein
konnte, hier an eine kettenartige sukzessive Reproduktion der be-
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312 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der
sonders auff&lligen Teile zu glauben. Im Rahmen unserer Totalit&ts-
theorie ist das ohne weiteres verstandlich; es ist ja immer schon
eine gelaufige Ansicht gewesen, daB die tieisten Engramme auch
die am schnellsten widererregbaren sind.
Eine. weitere wichtige GesetzmaBigkeit: Wenn durch Ein-
greifen komplizierender Umstande, besonders dutch determinative
Aenderung dee Auffassens ein anderes Relief der Bewufitseinsgrade
entsteht, ale es bei passiver Auffassung der Fall war, dann ist dock
eine passive Reproduktion dieser Auffassung moglich. Diese verlduft
dann ganz so, wie wenn es sich bei dem betreffenden determinierten
Relief um eine passive Auffassung gehandelt hatte. Wenn auch willens-
maBig etwa bei einem Bilde auf eine bestimmte Einzelheit geachtet
worden ist, das Relief der Bewufitseinsgrade sich also zugunsten
der Einzelheit verschoben hat, so wird doch, auch bei passiver Re¬
produktion das damals resultierende Relief reproduziert, ohne daB
<ler betr. willensmaBige ProzeB von neuem vollzogen werden miiBte.
Ein letztes schwerwiegendes Argument fur die Griindung der
Reproduktion auf die Auffassung liegt darin, daB die Auffassimg
Oestalten reproduziert und auch OestaUen reproduziert werden.
Die Assoziationspsychologie hat die wichtigen Tatsachen
ignoriert, die neuerdings wieder unter dem Problem der sog. ,,Ge-
staltqualitat" lebhafte Untersuchung gefunden haben. Es ist hier
nicht der Ort, tiefer in das Problem einzudringen, es sollen hier
nur die fur unsere Theorie der A. u. R. notigen Hindeutungen ge-
geben werden. — Man pflegt das Problem so darzustellen, daB zu
einem bloBen Empfindungskomplex ein zweites, eben die ,,Gestait-
qualit&t" hinzukommen wiirde, als etwas, was die Psyche dazu
produziere. Darin liegt die Meinung, es gabe in der Auffassung reine
Empfindungen, zu denen die Gestaltqualitat hinzutrate. Nach
unserer Darstellung, nach der es eben nur ,,aufgefaBte Empfin-
dungen“ als Erlebnisse gibt, ware die mit den Tatsachen doch viel
ungezwungenere Aufstellung naheliegender, daf} die Auffassung
das Empfindungsmaterial gestaltet. Denn wir sehen ja, daB aus ver-
schiedener Auffassung verschiedene Gestalten resultieren, bei Zu-
grundeliegen ein und desselben Empfindungsmaterials.
DaB die Gestalt Auffassungsprodukt ist, das ist der ein-
fache Ausdruck der Tatsachen, daB bei Zugrundeliegen desselben
Empfindungsmateriales aus verschiedener Aiiffassungsweise ver¬
schiedene Gestaltungen resultieren. Nun meinen die Anhanger
der ,,Gestaltqualitat“ als eines abtrennbaren Zweiten hierfiir den
Beweis anfiihren zu konnen, daB die ,,Gestaltqualitat" im un-
mittelbar Erlebten fehlen konne. Das herangezogene Beispiel
ist hier immer die ,,bloBe Folge von Tonen“ ,,ohne Melodie".
Nach der hier vertretenen Schilderung, nach der es ,.Empfin¬
dungen" wohl als Material gibt, an der sich die auffassende Re-
gistrierung betatigt, nicht aber selber unmittelbar Erlebtes sind,
konnte das Argument nicht gelten. Unsere Theorie wiirde ver-
langen, daB aUes unmittelbar Erlebte, eben weil es uns nur als
AufgefaBtes gegeben ist, bereits gestaltetes Produkt ^ei. Demnach
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 313
diirfe es eine blofie Folge von Tonen wohl ale physiologische, ob-
jektive Folge geben, nicht aber ale erlebte Folge, die, nach dem
tatsachlichen Befunde, doch schon ein gestaltetes Erlebnis ist.
Der tatsachliche Beweis fur unsere Ansicht liegt in den be-
kannten Beziehungen der Gestaltauffassung zu den Auffassungs-,
BewuBtseinsgraden, zu der Aufmerksamkeit. Aus jeder verschie-
denen Verteilung der Bewufitseinsgrade, der Aufmerksamkeit,
resultiert eine andere OestaUqualitat, das haben die Arbeiten von
Schumann und neuerdings Benussis gezeigt. Besonders schon
kann man sich das an einem optischen Komplex klar machen,
der aus einer unregelmaBigen Mehrheit von verschiedenfarbigen
Punkten besteht. Hat man efrwa je drei rote, grime und blaue
Punkte unregelmafiig durcheinander hingelegt — ich mufi schon
bitten, das Experiment selbst anzustellen —, so ffillt stets der
rote, griine oder blaue Punkt heraus, je nachdem, welche Auf-
fassungsweise angewandt wird, ob auf rot, auf blau oder
auf griin geachtet wird. Es ergibt das jedesmal ganz anders ge-
staltete Auffassungs produkte.
(Eine restlose Auflosung des Gestaltproblems in das Problem
der Bewufitseinsgrade ist aber nicht moglich, wie dies hier nicht
n&her auseinandergesetzt werden soli. Nur eins mufi erwahnt wer-
den; bei der Gestaltqualitat kommt es nicht so sehr auf die ab-
soluten, als auf die relativen Betrdge der Beioufitseinsgrade an. Jeden-
falls, wenn wir ,,Gestalt" in dem engeren Sinne fassen, wie er
in der Literatur vorliegt, dann konnen wir aussprechen, dafi die
jeweilige Gestalt von den absoluten Betragen der Bewufitseins-
grade relativ so unabhangig ist wie eine Melodie von der Tonhohe.
Aus der Transposition resultiert ja auch nicht dieselbe Gestalt,
wenn wir es strong nehmen, sondem nur eine homologe Gestalt.
Wenn wir, wie es viele Berechtigung hat, die Homologie der
Gestaltqualitftt als IdentUdt behandeln, dann kann man mit Sicher-
heit sagen, dafi die Gestaltqualit&t unabhangig sei von den ab¬
soluten, und nur abhangig von den relativen Betragen der Be-
wufitseinsgrade.)
Wenn wir unter diesen Gesichtspunkten das Verhaltnis von
Auffassung und Reproduktion betrachten, dann ist es eine Tat-
sache von grundlegender Bedeutung, dafi Auffassung und Repro¬
duktion homologe OestaUqualitaten zeigen. Diejenige Gestalt, welche
Produkt des Auffassens ist, ist auch die Gestalt des Reproduktes,
zum mindeten, wenn wir vollstandige Reproduktion zugrunde
legen. Sind bei der Auffassung besondere gestaltbeeinflussende
Faktoren beteiligt gewesen, etwa die willkiirliche Zusammenfassung
optischer Einzelfiguren zu Einheiten, dann sind diese bei der Re¬
produktion nicht mehr no tig, die passive Reproduktion iiberliefert
das gestaltete Produkt. Ist also ein Bild in einer bestimmten
Weise als bestimmte Gestalt aufgefafit worden, dann zeigt auch
das Reprodukt diese Gestalt 1 ). In diesem Zusammenhang
*) Von den auf ganz bestimmten komplizierendenUmstanden beruhenden
Krinnerungsfiilschungen soli hier abgesehen werden.
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•314 Poppelreuter, Ueber den Vereuoh einer Revision der
stoBen wir nun auf ganz eigenartige Tateachen, die besonders
Lipps und Cornelius hervorgehoben haben, welche mit der iibliehen
Assoziationspsycholegie recht erheblich kollidieren. Die Tat-
sache liegt in dem treffenden Wort von Cornelius „symbolischer
Charakter der Vorstellung". Wenn wir von der Empfindung,
genauer von der Wahraehmung, Auffassung eines regelmdfiigen
Achteckes sprechen, dann scheint es uns doch selbstverst&ndlich,
daB dieses Achteck auch symmetrisch einigermaBen genau sein
mud, d. h. die charakteristische Eigenschaft der regelmaBigen
acht Seiten hat. Wenden wir uns nun aber zur Reproduktionl
Es wird von alien Psychologen die — von Ausnahmen abgesehen —
diffuse Erscheinungsweise der reproduzierten Vorstellungen hervor¬
gehoben. Nehmen wir den speziellen Fall: die Vp. erinnert sich
beim Zurufen des Wortes , .Achteck“ an eine Schulsituation,
,,wo weiB auf schwarz ein regelmaBiges Achteck auf der Tafel
steht“. Hat nun dieses Achteck auch die sinnliche Eigenschaft
der acht symmetrisch gleichen Seiten? Die Vpp. pflegen bei
der Frage hiemach in Verlegenheit zu geraten; sie miissen zugeben,
daB das gar nicht der Fall ist, daB sie iiberhaupt auBerstande
waren, hier ein Urteil iiber die genaueren Eigenschaften der Be-
grenzungslinien des Vorstellungsbildes zu geben. Trotzdem be-
haupten sie, daB es die ..Vorstellung eines regelmaBigen Achteckes"
gewesen sei. Els liegt hier also, wenn das Wort gestattet sei, keine
,,achteckige Vorstellung" vor, sondern ,,die Vorstellung eines
Achteckes". Es ist der Genitivus objectivus, nicht possessivus,
der hier die Sachlage kennzeichnet. Die genauere Erklarung ist
noch nicht gegeben, hier geniigt aber die Tatsache, dafi hier
die OestaUqualitdt reproduziert rverden kann, ohne dafi eine sinn¬
liche Fundierung anschaulich imReprodukt vorhanden zu sein braucht.
Nehmen wir noch kompliziertere Reproduktionen, etwa die Vor¬
stellung von Rembrandts Anatomic, dann ist die Sache noch deut-
licher. Daraus geht nun hervor, daB die Unvottkommenheiten
in der Erscheinungsweise der reproduzierten Vorstellungen fur
die charakteristischen Gestaltqualit&ten relativ unerheblich sind.
Das Ganze des Reproduktionserlebnisses ist dem Ganzen des
Auffassungserlebnisses hinsichtlich der charakteristischen Ge-
staltqualitat homolog, ohne daB doch im Reprodukt eine sinnliche
Grundlage der bestimmten Gestaltqualitat vorhanden zu sein
braucht. Wenn auch das Reprodukt fast ganz unanschaulich und
dunkel ist, so ist es doch immerhin noch eine charakteristische Skizze
des Originals. Gerade diese Tatsachen zeigen mit aller Scharfe
die Arbeitsweise von Auffassung und Reproduktion nach ganz
se0>8tdndigen Gesetzen, die gegeniiber den Empfindungen hier
obwalten.
Worauf wir schon friiher hinwiesen, es ist im „Totaleindruck‘ <
die Gestaltung des Ganzen in hohem MaBe auoh durch diejenigen
Teile mitfundiert, die von so geringem BewuBtseinsgrad sind,
daB sie isoliert nicht mehr feststeUbar sind. Die Eiindriicke der Peri¬
pherie des Sehfeldes sind nur seiten so klar bewuBt, daB sie eine
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psychophysiologischen Lehre von dear elementaren Assoziation. 315
Feststellung, eine Angabe ermoglichten. Trotzdem aber ist der
Totaleindruck, die Gestaltung des Ganzen ein anderer, wenn die
peripheren Details da sind, als wenn sie fehlen. So ist es auch
bei den Reprodukten: gerade deshalb, weil in der fast gesetz-
maOigen Regel das Ganze der Reprodukte einen viel geringeren
BewuBtseinsgrad zeigt als das Ganze der Auffassungen, iiberwiegt
noch mehr die Anzahl der Teile geringeren BewuBtseinsgrades,
die aber trotzdem eine chaxakteristische Gestalt des Erlebnisses
fundieren. Wir konnen uns erinnem, ,,in Darmstadt im Museum
gewesen zusein**, und doch sind, zumal in den ersten Stadien der
Reproduktion anschauliche Einzelheiten nur vielleicht so ,,fetzen-
weise“ gegeben, daB sie unmoglich allein das ganze Erlebnis aus-
machen konnen. Es kann uns ,,eine Melodic vorschweben“ ohne
irgendwelche deutlicheren Tonfolgen; trotzdem ist eine charak-
toristische Gestaltqualitat vorhanden, die dem Original homo¬
leg ist.
Soviel ich sehe, ist die in dem Begriff ,,Continuum der Be-
wuBtseinsgrade“ liegende Theorie noch von keinem einzigen
Forscher — soweit ich das iiberblicken kann — bis zu der Kon-
sequenz durchgefuhrt worden, dafi es isolierte Empfindungen als
psychische Oegebenheiten uberhaupt nicht gibt. Und obwohl das
paradox erscheint, zeigen doch einige einfache Ueberlegungen,
daB man daran zum mindesten mit Grand zweifeln kann. Beson-
ders die Assoziationspsychologie pflegt die Sache so darzustellen,
daB die Empfindung ohne weiteres etwas BewuBtes sei, so etwa,
daB der Reizung etwa der Calcarina die bewuBte Empfindung
folge. Besonders bei ihren erkenntnistheoretisch beeinfluBten
Vertretern wird ,,die Empfindung** als etwas „unmittelbar Ge-
gebenes** behandelt. Das unmittelbar Gegebene, das ,.Psychische“
hat aber wie Stumpf das ausdriickt, bereits an der Wurzel „ein
Doppelantlitz**, di eZweiheit von Inhalt und Funktion**, den Ton(l)
wahrnehmen (2). Nun heiBt wahmehmen auch „sich zu BewuBt-
sein bringen**, d. h. feststellen. Es ist ohne weiteres klar, daB, wenn
man das Feststellen als ein Zweites betrachtet, es eine isolierte
Empfindung psychisch gar nicht geben kann. Wenn es sie gabe,
dann konnten wir sie ebensowenig feststellen wie die Beseelung,
die nach einigen Naturphilosophen jeder lebenden KorperzeUe
zukommen soli.
Ueber das Wesen dieser Zweiheit ist, mit erkenntnistheore-
tischen Beweisgriinden, viel gestrittdn worden. Es bewahrt sich
aber jetzt unsere Vorantersuchung iiber die GesetzmaBigkeiten
registrierender Systemketten ;sie gestattet uns diese Dinge einfacher
zu sehen und vor allem auch psycho-physiologisch zu verstehen.
Die Zweiheit von Empfindung und Auffassung, wenn wir sie ver¬
stehen als registriertes Material einerseits und Registrierung dieses
Materials anderseits, ist eine reale, weil es sich hier um Vorg&nge
heterogener Gesetzlichkeit handelt. Es ist aber ganz nachdrucklich
darauf hinzuweisen, da/3 im unmittelbar gegebenen Psychischen
diese Zweiheit von Empfindung und aufgefafiter Empfindung nur
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316 Poppelreuter, TIeber den Versuoh einer Revision der
eine ideellc Zweiheit ist. 1st das unmittelbar Gegebene ,,die aufge-
faBte Empf indung 44 , so liegt hier ebenso eine Einheit und ebenso
eine Zweiheit vor, wie bei einem Geb&ude, das uns photographiert
vorliegt. Die reale Einheit ist die Photographie, die ideelle Zwei¬
heit ist photographiertes Gebaude und Photographie. Es geht nicht
an, mit dieser Ein- und Zweiheit erkenntnistheoretisch Fangball
zu spielen; man muB sich die Dinge sachlich klar machen. DaB
die Zweiheit von ,,Empfindung 44 und ,,bewuBter, aufgefaBter
Empfindung 44 eine reale sei, das kann eine Psychologie, die sich auf
die einzigeErfahrungsquelle des unmittelbaren Selbsterlebensstiitzt,
nur dann behaupten, wenn sie die Inkonsequenz begeht, auch die
indirekte, die objektive Erfahrung psychologisch zu befragen.
Legen wir den Fall zugrunde, daB eine simultane Mehrheit von
Tonen gleicher Intensitat C D E F G das eine Mai so aufgefaBt
wird, daB E und D, das andere Mai, daB E und F dominieren,
den groBeren BewuBtseinsgrad haben, dann ist doch das unmittelbar
Gegebene, soweit es das Auffassungsprodukt anbetrifft, in den zwei
Fallen etwas durchaus verschiedenes. Daft hier ein identisches
Empfindungsmaterial zugrunde liegt, das ist Ergebnis objektiv ge-
rickteter Erfahrung, die zwar auch naturlich, zumal bei Psychologen,
bewufit vorhanden sein kann, die aber nicht unmittelbar erlebt wird .
Die Empfindungen sind also rein physiologische Vorgange, wenn
anders man nicht den Begriff der mathematischen Differentiale
hier brauchen wollte. Man darf hier am wenigsten Erlebnis und
objektive Tatsache verwechseln, wie dies der gewohnheitsmaBige
Fehler der rein deskriptiven Psychologie ist. Besonders bei op-
tischem Material ist nichts leichter als von einer unwissentlichen
Versuchsperson bei identischem Empfindungsmaterial und Ver-
schiedenheit des Beachtungs-, BewuBtseinsgrades die Aussage zu
bekommen, daB sich im zweiten Fall gegeniiber dem ersten
der empfindungsmdfiige Tatbestand gedndert habe, daB das Beobach-
tungsobjekt ein anderes geworden sei. Die Vp. sagt dem Ver-
suchsleiter etwa: Sie haben die Linie rechts groBer gemacht! —,
wo weiter nichts stattgefunden hat, als eine ,,Hinlenkung der
Aufmerksamkeit 4 4 der Versuchsperson auf die rechtsliegende
Strecke.
Noch ein weiterer Unterschied muB festgehalten werden.
der Unterschied zwischen dem Vor gang des Auffassens, der
die Auffassungen verschiedenen Beumfitseinsgrades produziert, die
Empfiudungen zu Auffassungsprodukten verarbeitet, und dem
Beumfitsein der eigenen Tdtigkeit des Auffassens, dem Selbsterleben
dieses Vorgangs. Von diesem Vorgang des Selbsterlebens der
eigenen Tatigkeit sprechen wir hier nicht. Der Unterschied muBte
hier erwahnt werden, weil durch die iibliche Verwischung dieses
Unterschieds bei den „Funktionspsychologen 44 viel Unklarheit
entstanden ist. Wir sprechen also hier nur von dem Vorgang des
Auffassens als solchem, noch nicht von dem Selbsterleben dieses
Vorganges. Wir diirfen dies tun, da es sich hiCrbei nicht um wesent-
liche Beziehungen zu unserem Thema handelt.
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 317
Eb Bind nun noch sehr weitgreifende Untersuchungen not-
wendig, um nun auch die spezielleren Gesetze der Dynamik der
A. undR., wie sie sich in solchen Ausdriicken, wie ,,Assoziations-
starke“, ,,A 880 ziationsfestigkeit“, ,, Reproduktionsgesehwindig-
keit“, ,,Reproduktionsbereitschaft“ usw. auBern, auch in den
Rahmen der revidierten Theorie harmonisch einzufiigen. Was ich
in dieser Hinsicht selbst arbeiten konnte, findefc sich in den hier
referierten Arbeiten.
So leicht wie die alte Theorie hat es die hier vertretene mit der
Quantifizierung leider nicht, sie liefert nicht so schone Tabellen.
Wenn wir uns da zuerst die Frage vorlegen, wie den verschiedenen
• Reproduktionsstadien quantitativ beizukommen sei, so konnen
wir zwar ohne weiteres die quantitative Beziehung in den ver¬
schiedenen zunehmenden Vollkommenheitsstadien erblicken, aber die
genaue, tabellarisch quantitative Festlegung stoBt auf recht er-
hebliche Schwierigkeiten. Denn wie soil man die Teile, welche etwa
nnanschauliche Totalvorstellungen konstituieren, quantitativ be-
stimmen, wo doch eben die Teile noch oder schon nichts mehr
Unterscheidbare8 sind? Wie wollte man etwa sogar physikalisch
die groBere Vollkommenheit einer Photographic gegeniiber einer
verschwommenen Skizze festlegen ? Wie dort im Physikalischen,
so sind wir auch hier in Psychologischen auf die nur relativ unge-
naue Quantifizierung angewiesen. Die haupteachlichste quantitative
Frage bei der Reproduktion ist hier, wie friiher auch, das quanti¬
tative Verhaltnis zwischen Wahrnehmung bzw. Auffassung einer-
seits und Reproduktion andererseits. Bei sprachmotorischem
Material und determiniert gliedweiser Reproduktion hatte man es
leicht, da konnte man die „richtige“ Reproduktion samtlicher
Glieder gleich 100 pCt. setzen, die Auslassungen und Fehler ab-
ziehen. Hier geht das nicht, denn den 100 pCt. wiirde entspret hen
die vollst&ndige Erneuerung der friiher in der Auffassung be-
standenen Totalvorstellung. Und die gibts vielleicht nur als Hallu-
zination. Trotzdem kann man aber in zwei zu vergleichenden
Fallen I und II sagen: die Reproduktion I nahert sich hinsichtlich
ihrer Vollkommenheit mehr der Auffassung als die Reproduktion II,
also war die Reproduzibilitat von I groBer als die von II. Dabei
wiirde man aber nur aquivalente Stadien beider Reproduktionen,
am naheliegendsten die beiden optimalen Stadien vergleichen
konnen. Auf Grand einiger Erfahrang laBt sich dann auch eine
gewisse absolute Wertung der Reproduktion aus der Tatsache her-
holen, dafl mit zunehmender Verringerang der Reproduzibilitat
die Verdichtung zunimmt, die Entwicklung explizierterer Stadien
mehr und mehr ausbleibt. Die Verringerang der Reproduzibilitat
durch Zunahme der Latenzzeit und anderer Umstande laBt die Ent¬
wicklung des anschaulich explizierten optimalen Stadiums mehr und
mehr ausbleiben, es geht die Reproduktion fiber die ganz unan-
schaulichen summarischen Totalvorstellungen bis zur Null. Man
kann auch den quantitativen Vergleich in die Explikation ver-
legen und die in bestimmter Zeiteinheit explizierten Teile zahlen,
Mawt-ehrlft f. Piyohlatrie n. Neurotogle* Bd. XXXVII. H*ft 5. 21
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318 Poppelreuter, TJeber den Vereuoh einer Revision der
wodurch man auch mit Vorsicht benutzbare quantitative Be-
stimmungen erhalt.
Leider ist es bis jetzt nioht gelungen, eine direkte quanti-
tatdv exakt formulierbare Wertung der Beunifitsemsgrade durch-
zufuhren, es fehlt uns da der Yergleichspunkt, den wir bei der
quantitativen Wertung der Empfindungen am aufteren Reiz haben.
Sonst ware unsere Aufgabe, bei der direkten Beziehung zwischen
BewuBtseinsgrad und Reproduzibilitat, gelost. So sind wir auch
hier auf die nur vergleichsweise Wertung angewiesen. Je groBer
die Reproduzibilitat, desto groBer der totale BewuBtseinsgrad,
desto hoher das Relief. Nun sind es an und fur sich zwei ver-
schiedene Tatsachen, einerseits die Entwicklung des Reprodukte'-
in einzelnen Stadien vom niederen zum hoheren BewuBtseinsgrad,.
und anderseits die Verringerung der BewuBtseinsgrade dutch
Verringerung der Reproduzibilitat, etwa durch VergroBerung der
Latenzzeit. Diese beiden finden ihre Einheit, wenn man die ver-
schiedene Erregungshohe der Vorgange in den nervosen Auf-
fassungsmechanismen zugrunde legt. Dann ist es verstandlich,
daB ein und derselbe Effekt, die Verringerung der BewuBtseins¬
grade und der Reproduzibilitat, das eine Mai durch die im Anstieg
schwachere Erregung, das andere Mai durch die — in der Latenzzeit
geschadigte — geringere Erregungsfahigkeit hervorgebraeht wird.
Der EinfluB des „Vergessens“ zeigt sich also nicht darin, daB
aus einer Summe oder Kette von Assoziationen einzelne Glieder
verloren gingen, also rein substraktiv ware, wie es die willens-
maBigen Methoden darstellen, sondem er ist divisiv. Die Total-
vorstellungen werden verdichteter, summarischer, die anschauliche
Explikation immer weniger moglich. Da im allgemeinen zuriick-
Iiegendere Geschehnisse auch die weniger wichtigen sind, so liegt
es nahe, in dieser verdichteten summarischen Darbietung der
friiheren Erfahrungen eine recht okonomische Einrichtung der
Psyche zu sehen. Dabei muB auch besprochen werden die
Beziehung zwischen BeproduJctionszeit und Reproduzibilitat. Die
von der Assoziationspsychologie hier behauptete generelle Be¬
ziehung, daB die Reproduktionsgeschwindigkeit mit zunehmender
Reproduzibilitat wiichse, kann hier nicht einfach ubernommen
werden. Denn, vergleicht man zwei Falle von passiven Repro-
duktionen, von denen der eine niederer, der andere hoherer Repro¬
duzibilitat ist, dann findet man scheinbar gerade die umgekehrte
Beziehung: die Reproduktion niederer Reproduzibilitat ist raeoh
erledigt, die Reproduktion hoherer Reproduzibilitat braucht mehr
Zeit. Nach der Totalitatstheorie ist das in sich plausibel: kleine
Vorrate sind rascher verteilt als groBe. Trotzdem aber besteht
wohl die Beziehung zu recht, daB der Vorgang des Anstiegs der Re¬
produktion zum optimalen Stadium mit wachsender Reproduzibili¬
tat rascher verlauft.
Das sieht man besonders bei der durch Wiederholung der Auf-
fassung erhohten Reproduzibilitat. Gerade diese Falle liefem die
am raschesten anschaulichen Reproduktionen. Dabei ist natiirlich
nicht die Wiederholung an sich, sondem die Wiederholung in
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren Aseoziatioji. 319
hoherem BewuB tseinsgrade, resp. die durch Wiederholung sich
steigemde Erhohung der BewuB tseinsgrade das wirksame Moment. .
DaB die bloBe Wiederholung der Auffassungen in niedrigem Be-
wuBteeinsgrad an sich keine groBeren Reproduzibilitaten schafft
— die Hauser der StraBe unseres t&glichen Weges —, ist ja auch
ein ausschlaggebendes Argument fiir die Griindung der Repro-
duktion auf die Auffassungen, anstatt auf die Empfindungen.
§ 5. Der sinnvolle Vorstellungsverlauf.
Die elementargesetzliche Erklarung des geordneten Vor¬
stellungsverlauf es , d. h. derjenigen intellektuellen Prozesse, welche
der praktischen Betatigung des Menschen zugrunde liegen, muB
stets den einzelnen Forschungswegen auf unserem Gebiet die Rich-
tung vorschreiben. Erst recht muB das diejenige Psychologie,
welche die Beachtung ihrer Ergebnisse von der Pathologie bean-
sprucht. Von Erklarung im Sinne der Physik kann man hier hatiir-
lich nicht sprechen, denn zu jeder Erklarung gehort ja die Kenntnis
der Einzelbedingungen, die bei der iiber die ganzen Jahre des Lebens
sich erstreckenden Komplikation der psychologischen Bedingungen
naturlich nicht gegeben sein kann. Die Erkferung muB also eine
grobere sein, sich auf einzelne als typisch herausgegriffene Vor-
gange stiitzen, wobei vorlaufig immer noch die Abgrenzungen der
Vulgarpsychologie den Labyrinthfaden bilden miissen. Schema-
tismus ist dabei nicht zu vermeiden.
Um die erklarende Fruchtbarkeit der hier dargelegten Theorie
zu zeigen, soli nur die eine Frage erledigt werden, wie sich die
Vorstellungen, die wir bei einer rohen inhaltlichen Analyse des
komplexen sinnvollen Vorstellungsverlauf es finden, auf die ele-
mentaren Grundgesetze in der Form zuriickfuhren lassen, daB
auch hier die elementare Reproduktion das Material liefert . Die je-
weilige Ordnung des Vorstellungsverlauf es, die durch die ver-
schiedenste gesetzmaBige Verarbeitung dieses Materiales zustande-
kommt und die zum groBen Teile als determinierende Tendenzen
zusammengefaBt werden, kann hier naturlich nicht genauer be-
sprochen werden. Wenn das in kurzen Worten fiir die Gesamtheit
der intellektuellen Prozesse moglich ware, so wiirde das schon die
Falschheit der Erklarung genugsam beweisen.
Als die neuere Denkpsychologie in auBerster Anspannung der
Methode der Selbstbeobachtung praktisch gegebene intellektuelle
Vorgange analysierte!), da war das Ergebnis die Verurteilung der
Assoziationspsychologie, welche die Denkvorgange, im besonderen
beim ,,Verstehen“ sinnvoller Sprache, als eine Reihe von anschau-
lichen Vorstellungen beschrieb. Die beriihmte Reihe V x V 2 V 3 . . . .
wurde in Aoht und Bann getan. Da man nun die iibliche Lehre der
A. und R., die doch wohl zu ,,exakt“ abgeleitet schien, selber nicht
anzweifelte, so nahm man ihr hier die Erklarungseigenschaft und
fiigte den anschaulichen Vorstellungen die unanschaulichen BewuBt-^
seinsinhalte als eine neue Klasse von Elementen bei. Es lafit sich
der Denkpsychologie dabei der Vorwurf nicht ersparen, bei diqser
Aufstellung der volligen auch genetischen Heterogenitat der unan«^
21 *
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320 Poppelreuter, Ueber den Versuch ewer Revision der
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8 chaulichen und anechaulichen BewuBtseinsinhalte voreilig gewesen
zu sein. Denn, weim auch oberflachlich, so hatte doch die lite-
ratur schon seit langem das Unanschauliche als einer Natur mit
dem Anschaulichen behauptet. Von alten Psychologen abgesehen,
Wundt sprach mit der Assoziationspsychologie von ,,dunkleren“
Vorstellungen, James hatte die Lehre von den ,.fringes", Marbe
die Lehre von den ,, BewuB tseinslagen* ‘ ohne diese Gegensatzlich-
keit entwickelt. Die bloBe Feststellung geniigte also nicht; zu
einer so schwerwiegenden Theorie hatten doch wohl Beweismittel
kommen miissen. Immerhin ist der Nachweis, in welch weitem Be-
trage beim praktisch gegebenen Denkverlauf das Unanschauliche
iiberwiegt, gegeniiber der alten Bildcheptheorie bemerkenswerter
Fortschritt genug. 1 )
Legen wir die hier entwickelte Theorie der elementaren A. und
K». zugrunde, dann ist ein Widerspruch, wie ihn die Denkpsychologie
mit der friiheren Theorie aufwies, nicht mehr vorhanden. M. M. n.
finden die sinnvollen, die „Bedeutungserlebnisse‘ ‘ gerade dann erst
ihre Erklarung, wenn man das Totalitatsgesetz anwendet.
Der allgemeine Zusammenhang des Ganzen, den die Totalitats-
reproduktion bewirkt, macht eine Wahrnehmung, ein Repro-
duktionsmotiv „sinnvoll“, gibt die Bedeutung. Auch der Vp.
unbekanntes Material vorausgesetzt, von „sinnlos“ kann man nur
bei Gelegenheit der ersten Auffassung dieses Materiales sprechen.
Auch sinnlose Silben werden sinnvoll, sobald sich die passive Re-
produktion anschlieBt. Der ReproduktionsprozeB, der auf die
Totalitat des friiheren Geschehnisses geht, gibt „die Bedeutung,
die Silben won — laf in dem und dem Zusammenhang gesehen zu
haben“ 2 ). Das ist doch eine ebensolche Bedeutung, wie wenn re-
produziert wird: „Rhe!, sagt der Segler, wenn das Boot wendet“
usw.
Doch wenden wir uns erst einmal vom Sprachlichen ab zum
sinnvollen Optischen. Der Denkpsychologie ist entgangen, daB hier
in weit scharferer Weise ein Widerspruch mit der herkommlichen
Assoziationslehre besteht, als es bei sinnvollen Worten der Fall ist.
Man sieht etwa das Bild eines Holzfallers; mit erhobener Axt neben
einem Baum stehend. Sollte man nicht erwarten, daB sich nun die
Vi. V». V,. anschlieBen, und man die anschauliche Vorstellung
der niedersausenden Axt hatte. Sicherlich hat sich doch in der
Erfahrung der Anblick der erhobenen Axt dem Anblick des Nieder-
sausens angeschlossen, man kann sich die Kontiguitat nicht schoner
l ) Vjgl. hierzu Killpes Sammelreferat liber die Denkpsychologie auf
dem Berliner PsychologenkongreB 1912.
’) Wenn dagegen eingewendet wiirde daB das Sinnvolle hier eben der
sinnvolle Zusammenhang, das psychologische Laboratorium etc. sei, so ware
dagegen zu sagen, daB es sinnlose Reproduktionen beim Normalen dann
gar nicht gibt und daB die ganzen hier gegebenen Ausfiihrungen sich nur
auf das beziehen, was wirklich gegeben ist. Ob hier noch unterhalb dieses
Sinnvollen noch hypothetische Prozesse anzunehmen seien, das kann ja
der beweisen, der sich von solchen unkontrollierbaren Reduktionen Erfolg
verspricht. Bei der geringen Kenntnis der wirlclichen seelischen Vorgange
vermag ich an die Fruchtbarkeit hypothetischer Orundprozesse vorl&ufig
nicht zu glauben.
Gok igle
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psychophysiologischen Lehre von der elementaren AssoziatiOn 321
wfinschen. Nun, dieses V, tritt gar nicht anschaulich auf; nicht-
psychologische Menschen wundem sich, wie man auf den sonder-
baren Gedanken kommen konne, danacb zu fragen. Und trotzdem
erlebt man, trotz der isolierten Einzelpbase und des Fehlens der
iibrigen anschaulichen Einzelphasen, den ganzen Vorgang. Aller-
dings im wesentlichen unanschaulich. Dieses Unanschauliche tritt,
abgesehen vom Erlebnisnachweis —, den iibrigens naive Vppen
oft nicht gelten lassen — darin hervor, dab die Vp. den ganzen
Vorgang sprachlich schildem kann: ,,Der Mann erhebt die Axt
und wird in die Kerbe hauen, um den Baum zu fallen'*. Wenn man
hier den Ausweg brauchen wollte, dab hier eben nichts Unanschau-
liches, sondem eben nur die Worte reproduziert seien, dab das ,,Ver-
stehen** hier also durch verbale Reproduktion erzeugt sei, so wider-
legt sich das, neben anderen Griinden, dadurch, dab sensorisch
Aphasische nicht agnostisch werden. Ich habe fiber diese Frage
Versuche mit kinematographischen Szenen gemacht, u. a. auch
mit sinnlosem Figurenmaterial. Z. B. war es eine identische Figur,
diefortwahrend andere Lagen im Gesichtsfelde einnahm, sich dxehte
und im Gesichtsfelde hin- und herhfipfte. Nach Vorzeigen der un-
bewegten Figur ergab sich denn auch kurz hinterher noch eine
anschauliche Reproduktion des betr. Geschehnisses, eine anschau¬
lich sich bewegende Figur. Aber schon einige Tage spater war die
Reproduktion fiberwiegend unanschaulich und bedurfte zur an¬
schaulichen Explikation der wittensjn&Qigen Hervorbringung.
Das Unanschaulichwerden vollzieht sich also auch bei diesem „sinn-
losen“ Material ganz fiberraschend schnell. Dab hier aber spezifisch
unanschauliche ,,Bedeutungen“ anzunehmen seien, verbietet die
doch immerhin anfanglich beobachtete passive anschauliche Ex¬
plikation, auch des bewegten Vorgangs. Wenn schon also aus sich,
durch den bloben Einflub der Latenzzeit ein rasches Unanschaulich¬
werden eintritt, eine Reproduktion in der Form des bloben Wissens
verlauft, so lassen sich noch besondere Umstande namhaft machen,
die dieses Unanschaulichbleiben noch eigens begfinstigen. Dab
gerade bei optischen Reproduktionsmotiven die Explikation der
anschaulich optischen Vorstellungen unterbleibt, das mub dadurch
begfinstigt werden, dab in der Auffassung die gegenwartige
reproduzierende Wahmehmung von relativ hohem Bewubtseins-
grad ist. ,,Die Aufmerksamkeit richtet sich auf das Reproduktions-
motiv“; es ist also der totale Bewubtseinsgrad des Reproduktes
schon dadurch ein relativ niedrigerer. Dab, wie man das angenomm
nommen hat, die optischen Empfindungen an sich die optischen
Vorstellungen hemmen mfibten, ist nicht der Fall. Wenn wir, in
Gedanken versunken, die optische Aubenwelt nicht beachten,
dann konnen die optischen Vorstellungen sehr anschaulich sein;
dabei sind aber die optischen Empfindungen genau ebenso da, wie
wenn sie gut aufgefabt wfirden. Das Fehlen der anschaulichen
Explikation wird also durch die optische Inanspruchnahme der
Auffassung noch begfinstigt. Dazu kommt noch etwas anderes:
Als ich the Reproduktion kontinuierlicher kinematographischer
Szenen mit der Reproduktion von entsprechend langen Reihen
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322 Popp'ei-reuter, Ueber den Versuch einer Revision etc.
diakontinuierlicher Einzelbilder verglich, da fiel mir auf, daB iin
letzteren Fall© die anschauliche Explikation der Einzelbilder eine
vielausgesprochenere war. Es ist ganz sicher, daB der Reproduktion
gerade der koniinuierlichen Geschehnisse die Besonderheit zukommt,
die anschauliche Explikation der Einzelphasen herabzudriicken.
So daB dann die EinzelphEase, besonders im Lessingschen ,,frucht-
baren Moment das Geschehnis vorwiegend unanschaulich repro-
duziert. Wenn wir uns klar machen, daB die w r eitaus iiber-
wiegende Anzahl von optischen Geschehnissen der vulgaren Er-
fahrung schon deswegen kontinuierliche sind, weil die Oertlichkeit
meist fur geraume Zeit konstaiit bleibt, so wird es verstandlich,
warum gerade bei solchen sinnvollen Bildem usw. die Reproduk-
tionen im unanschaulichen Stadium bleiben.
Eine besondere Wichtigkeit beanspruchen die Bedeutungs-
- erlebnisse der sinnvollen Worte , die dem Sprachverstandnis uhd
Spontansprfcchen zugrunde liegen. Hierbei muB man sich vor
aUem die ganz besondere Rolle klarmachen, die die Worte von den
hier beschriebenen Reproduktionsmotiven unterscheidet. Wir
haben hier ja nur diejenigen elementaren Falle zugrunde gelegt,
w© ein bestimmtes individuellesGeschehnis zur Reproduktion kommt.
Das ist aber nur dann der Fall, wenn ein bis dahin unbekanntes Wort
ein neues Geschehnis weckt. (Vgl. das obige Beispiel vom Worte
Rhe!) Wir haben hier also nur Falle zugrunde gelegt, wo die Re-
produktionsmoglichkeit nach einer Richtung hin stattfindet. Sehen
wir uns aber die sinnvollen Worte an, so haben wir hier multiple
Reproduzibilitdten ganz enormen Umfanges. Gegeniiber den un-
* zahligen Erfahrungszusammenhangen bezw. verarbeitenden Auf-
fassungen, in denen Worte vorkommen, ist die Anzahl der Worte
versehwindend gering. Einer kleinen Anzahl von Reproduktions¬
motiven steht also eine Unzahl moglicher Reproduktionen gegen-
iiber. Angesichts dessen muB es wundernehmen, wie man das Pro¬
blem des SprachverstancLnisses dadurch gelost zu haben glaubte,
daB das ,,Wort die entsprechende Vorstellung weekte**. Gerade
das Umgekehrte ist Problem, warum alle die vielen moglichen
Reproduktionen jeweils ausbleiben? Nehmen wir nur ein solch
konkretes Wort wie ,,Soldat“ — fur wie zahlreiche Totalvorstellun-
gen ist dies Wort ein Reproduktionsmotiv! Wie kommt es, daB
alle diese ausbleiben, wenn etwa gehort wird ,,im Siebenjahrigen
Kriege kam ein Soldat abends durch ein Dorf ... V* Im umge-
kehrten Falle ware jedes Sprachverst&ndnis dann unmoglich. Das
gilt schon f ur die textlich isolierten Worte; und wenn nun noch dazu
kommen muB die Aufweisung aller der vielen Faktoren, welche den
gerade in den jeweiligen Zusammenhang passenden Sinn geben
sollen, wenn dazu kommt die Besonderheit der syntaktischen und
grammatischen Verhaltnisse, dann muB man von vornherein die
Hoffnung auf geben, hier eine glatte Subsumption unter den
Elementarvorgang der Assoziation und Reproduktion vomehmen
zu konnen. Hier muB alles in miihseliger Einzelarbeit geleistet
werden. Nur das eine kann mit einiger Sicherheit auf Grund der
hier gegebenen Prftmissen gesagt werden: Nimmt man die Be-
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^ Google
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J'orger, Ueber A^oKiationen bei Alkohplikem. 323
<Leutungserlebnis8e der sinnvollen Worte rein deskriptiv, unter
Verzicht auf die Erkl&rung dee jeweils zuetande gekommenen
speziellen Sinnes, datin ist keine Schwierigkeit vorhanden, in der
unanschaulichen Erlebnisweise und der Totalit&t der Vorstellungen
das Zugrundeliegen der elementaren Reproduktion zu behaupten.
Ein groBer Teil pathopsychologischer Untersuchungen beruht
mehr oder weniger wesentlich auf der hier bekampften Lehre.
Es ware zu fragen, ob nicht wenigstens ein Teil der Diskrepanz
klinischer Falle mit den zugrunde gelegten Theorien durch An-
wendung der hier rfcvidierten Lehre von der A. und R. ihre Har-
monie finden wiirden. Wenn mir das auch personlich so zu sein
scheint, so kann doch nur die Einzeluntersuchung Entecheidendes
bringen. Die einfache Uebertragung des psychologisch Gewonnenen
auf die Pathologie muB zu einem Schematismus fiihren, von dem
beide Teile wenig haben. Die vorliegende Untersuchung scheint
wir zu beweisen, daB die Uebertragung der in der Psychologie iib-
lichen willensmaBigen Gedachtnismethoden nie und nimmer die
von Pathologen ausgesprochene Hoffnung erfiillen kann 1 ), damit
zu den pathologischen Veranderungen der Grundfunktionen zu ge-
langen. Das stereotype Ergebnis, daB die Psychosen mit Intelli-
genzdefekt weniger leisten als Normale, ist sicherlich zumeist
weniger auf die Stoning der Grundprozesse der A. und R. zu be-
ziehen als auf die Stoning der determinierenden Vorgange. Und
das laBt sich schon sehr schwer beim Normalen, beim Kranken
noch schwerer auseinanderhalten. Zudem stellt das iibliche Aus-
wendiglemen eine so spezielle intellektuelle Leistung dar, daB sich
weitergehende Schliisse von selbst verbieten. Und wenn auch
schlieBlich diese Storungen das Interesse des Untersuchers finden,
so lassen sich diese auch ohne die von der Psychologie ubemommene
AuBerliche zeitraubende Exaktheit gewinnen.
(Aus der psychiat. Uuiversitats-Klinik Burgholzli-Zurich.
[Dir. Prof. Dr. Bleuler].)
Ueber Assoziationen bei Alkoholikern.
Von
JOH. BEN. JORGES,
II. Aftsistent des Burghdlzli.
(SchluB.)
Wenn wir nun die Schwankungen im Verlaufe des Experimented
selbst zeigen mochten, so ist es klar, daB wir damit nicht die eben
besprochenen Anfangsreaktionen meinen, die man nicht als voll-
ghltig ansehen kann, sondern es sind die Verhaltnisse, die die ver-
schiedenenKategorien derReaktionen im erstenTeil gegeniiber den
50 Reaktionen des zweiten Teils zeigen. Dies sollen die iolgenden
Zahlen darstellen:
„ *) Vgl. Gregors „Psychopathologie“. Leipzig 1912 und Ranschburgs
,,Ueber das gesunde und kranke Gedaohtnis". Leipzig 1910.
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324 J 6 r g e r, Ueber Assoziationon bei Alkoholikem.
Tabelle V.
Nam©
Tag
Teil
Ko-
ordina-
tion
Pr&-
dikat
Ko-
existenz
Mo-
tori sch
Sinnlos
1. J. E. . .
0
I
21
1
7.
12
2
II
43
1
8
9
0
3. M. J. . .
4.
I
25
4
8
2
7
ii
30
14
2
2
1
7.
i
17
15
8
3
3
II
28
16
• 5
1
1
5. Sch. G. .
0
I
6
6
1
28
1
II
4
7
0
36
0
40.
I
17
13
1
18
a
II
20
14
6
9
0
6. W. R. . .
0
I
18
7
2
2
a
II
22
9
2
6
2
6.
I
23
18
0
2
2
II
29
21
1
4
0
8.
I
26
18
1
1
0
II
60
0
2
0
0
7. Sch. R. .
3.
I
25
1
5
11
2
n
38
2
5
5
0
11. B. J. . .
3.
i
21
1
4
7
11
ii
12
5
6
3
23
12. L. K. . .
5.
i
8
24
10
5
1
ii
12
28
4
0
2
13. K. F. . .
7.
i
32
4
7
1
0
ii
20
32
0 i
1
1
14. Ru. . . .
21.
i
29
5
l ;
f 11
1
ii
36
0
8 1
1 8
0
Die vorliegende Tabelle wird in Analogic der zweiten und dritten
leicht verstandlich sein. Jede wagrechte Kolonne entspricht der 1.
oder 2. Halfte einer Reaktionsreihe. Es folgt aus der Tabelle das
gleiche Resultat fur das Verhaltnis der ersten zu den zweiten 50 Asso-
ziationen, wie vom ersten Assoziationsexperiment zu einem nach-
folgenden. Die inneren Assoziationen nehmenzu, die Koexistenzen,
motorischen und sinnlosen Reaktionen ha bon im zweiten Teil die
Tendenz abzunehmen. DieAusnahmen davon mochten wir, wie
friiher, teils individuellen Faktoren zuschreiben, teils einer Auf-
merksamkeitsstorung.
Die Zahlen in Tabelle VI sprechen nicht so deutlich wie
die der vorhergehenden. Die Wiederholungen des Reizwortes zeigen
fast ebenso oft die Tendenz zum Fallen als die zum Steigen. Die
Wiederholungen der gleichen Reaktionsworte hingegen steigen
durchgehend sowohl in der Anzahl der Worte, die wiederholt
werden, als auch in der Anzahl der Wiederholungen selbst. 1st diese
Tendenz zur motorisch-mechanischen Abwicklung der Reaktion
wohl ein Erschopfungssymptom ? Oder ist es eine Aufmerksam-
keitsstorung ?
Wir fiigen hier als kleinen Exkurs einige Bemerkungen iiber
die Komplexe bei, wie sie sich in den Reaktionsreihen zeigen.
Vera Strasser (6) kommt in ihrer Studie zum Schlusse, daB ihre
Go i igle
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J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 325
Tabelle VI..
Name
Tag
Teil
Wieder-
holung
des
Reiz-
wortes
Wieder-
hohing
von
Reak*
tionen
Re-
produk-
tionen .
Wahr-
schein-
liches
Mittel
•
1. J. E. • • •
0
I
18
V.
34
14
II
22
7,
39
15
3. M. J. . . .
4.
I
1*
•A
24
12
II
2
*/l7
2
12
7.
I
3
Vi*
36
11
II
1
V,i
41
11
5. Sch. G. . .
0
I
14
0
35
13
II
7
0
31
14
40.
i
5
7.
39
11
II
5
v».
41
16
6. W. E. . . .
0
I
6
7.
15
17
II
2
Vi.
27
16
5.
I
6
•/»
28
14
II
8
Vi,
32
16
8.
I
12
7,
37 .
16
II
8
Vi,
40
17
7. Sch. R. . .
3.
I
6
7.
31
10
11
8
7i,
27
10
11. B. J. . . .
3.
0
0
7.
23
10
II
1
7n
16
9
12. L. K. . . .
5.
I
0
7,r
25
10
II
0
7u
32
10
13. K. F. . . .
7.
I
3
7,
46
10
II
6
7..
48
10
14. Ru. ...
21.
1
7
7.
34
12
II
3
7,
51
13
Experimente gegen die Erwartungen der Zurchergchule fiihrten,
die das AsBoziationsexperiment mit Komplexmerkmalen belastet
annimmt. Sie sagt S. 45: ,,Warum nun, wenn die affektbetonten
Vorstellungen eine bo grofie Bereitschaft besitzen sollen, im Asso-
ziationsexperimente sich zur Geltung zu bringen, treten sie nicht
bei den Alkoholikem auf, deren Krankengeschichte von affekt¬
betonten Vorkommnissen so uberfiillt sind, und deren Affekt- und
IntellektauCerungen sich eben gerade durch die Labilitat aus-
. zeichnen. Ich meine damit nicht, daB die Assoziationsreihen eines
jeden Alkoholikers uns auf Komplexe hinweisen sollten, aber es ist
merkwiirdig, daB im Experiment derartige in der Entwicklung des
Seelenlebens eines Alkoholikers sich so oft wiederholende Vor-
kommnisse, wie z. B. Mord, Selbstmord, Brandstiftungsversuche,
auch die Komplexe des Wandertriebes, der Eifersucht nicht auf-
tauchen, wenn auch nicht bei jedem, dessen Leben damit behaftet
war.“
Wir haben kein Urtoil dariiber, ob in der Betrachtungsweise
von der AdZerschen Lebenslinie und den Organminderwertigkeiten
aus die Komplexe im Assoziationsexperiment ein anderes Aus-
sehen haben. Wir mochten aber im nachfolgenden einige Asso-
ziationen zusammenstellen, die doch gewiB nicht anders als kom-
plexbetont anzusprechen sind.
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526
J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem.
No. 11.
B. J., Delirium tremens, Landwirt:
53. Hunger
— Katze
7
Durst.
54. weifi
— Wais©
12
+•
55. Kind
— Sohn
10
Bruder.
56, auf passe n
— Tochter
10
lie ben.
57. Bleistift<
— lieb
7
Feder.
58. traurig
— Messer
6
lieblich
59. Pflaume
— Birne
25
+•
60. heiraten
—• Lamp©
9
lieben.
«
61. Haus
-— Messer
9
Stadt.
Der Krankengeschichte dieses Patienten entnehmen wir, daB
©r in der G©meinde seit Jahren als schwerer Schnapssaufer be-
riichtigt war. Seine Frau war nicht lange vor der Intemierung
gestorben und hatte mehrere Kinder als Waisen hinterlassen. Nicht
latige nachher brachte sich ein Kamerad des Patienten um, mit dem
©r viel herumgetrunken hatte. Endlich sahen sich die Behorden
veranlaBt, den Patienten wegen Drohungen gegen Gemeinde-
genossen und Angehorige ins Gefangnis zu stecken und von dort
aus wegen Delirium tremens in der Irrenanstalt zu intemieren.
Alle diese Vorkommnisse spielen in den oben zitierten Asso-
ziationen. Auf ,,weiB“ reagiert Patient mit ,,Waise“, dann folgen
,,Sohn“, ,.Tochter“ und ,,heb“ als Reaktionsworte, ,,aufpassen—
Tochter“ und ? ,Bleistift-—lieb“ sindsinnloseReaktionen. ,,Waiser“—
,, Sohn‘ ‘—, ,Tochter‘ 4 —. ,lieb ‘ 4 bedeutet eine Perse verationsreihe.
Auf ,,traurig“ reagierte Patient mit ,,Messer“; die Reaktion ist
©rttw r eder durch den Selbsttnord seines Freundes oder durch seine
Drohungen gegeniiber Angehorigen und Mitbiirger komplex-
betont. Dies zeigt auch die verlangerte Reaktionszeit der folgenden
Reaktion ,,Pflaume“—,,Birne“ von 25 y 5 Sekunden an, wahrend
fiir die komplexbetonte Reaktion ,,traurig“—,,Messer <£ die Zeit
nicht verlangert ist. Die Verlangerung der Reaktionszeit ist auf eine
nachfolgende nicht komplexbetonte Reaktion verschoben worden.
Endlich erscheint das Komplexwort ,,Wasser <£ perseverierend als
. sinnlose Reaktion nach 2 Reaktionen wieder.
Besser noch ist vielleicht das folgende Beispiel: Es stammt aus
einer Assoziationsreihe, die am 5.Tage nach dem Eintritt des
Deliranten E. W. aufgenommen wurde:
86. bezahlen
—- Schulden
13
+.
87. Schlange
— Pferd
54
+.
88. fein
— grob
8
+•
89. Liebe
— sittlich
75
(unsittlich).
90. helfen
— behaglioh
15
geholfen.
Die Bedeutung der Komplexreaktion ,,Schlange“—,,Pferd‘ fc
konnten wir nicht erfahren. Zu ,,Liebe 4< —,,sittlich“ sagte Patient
nach langen Ausfliichten, es geb© auch eine unsittliche Iiebe, er
nehme sich eben auch von Zeit zu Zeit ein Madchen.
Vielleicht treten wirklich in den Assoziationen der Alkoholiker
die Komplexkonstellationen nicht so offensichtlich und so haufig
auf, wie in den Assoziationen Normaler. Diese beiden Beispiele
diirften aber geniigen, um zu zeigen, daB der EinfluB der Komplexe
auch bei Alkoholikem nicht fehlt. Wir weisen auch auf den zitierten
zweiten Fall mit Satzreaktionstypus (Patient No. 9, H. J.). Alle
seine Reaktionen drehen sich mehr oder weniger um Frau, Kind
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Jorger-, Ueber Asseziationen bei Alkoholikem. 327
und semen Aufenthalt in der Anstalt, und seine an und fur sich
aehr veri&ngerten Reaktionszeiten werden von solchen unter-
brochen,die bis zu 140 l / 6 Sekunden ansteigen. Auch in den zitierten
Tabellen Strassers kann man ersehen, wie viele Reaktionen komplex-
betonte sein mfiseen, wie die stark erhohte Reaktionszeit angibt,
meist verbunden mit mangelnder Reproduktion. Daft man solche
Reaktionen da und dort auch mit Hilfe des Patienten selbst nicht
zu einem Komplex gehorend nachweisen kann, spricht nicht dafiir,
daft sie nicht doch komplexbetont sind. Es ist iibrigens moglich,
daft die Alkoholiker weniger Komplexreaktionen haben, sind doch
auch ihre Delirien auffallend arm an Komplexinhalten. Auch der
Organische, der ja so viele Aehnlichkeiten mit dem Alkoholiker
hat, bildet allgemeine Pathopsychismen (GroBenwahn, KleinheitS-
wahn), aber sehr wenig katathyme Reaktionen.
Besprechung der Ergebnisse.
Es ist nun nicht leicht, die Ergebnisse unserer Untersuchung
einzuordnen und einen Schliissel zu ihrer Erklarung zu finden.
Wir haben im ersten Abschnitt der Arbeit versucht, einen Teil
der Resultate in Parallele zu setzen mit den ErgebnissenRrwwc/i-
weilers bei organischen Patienten. Wir bezeichneten diese Resultate
mit „organisch“, ohne damit eine Erklarung geben zu wollen. Es
war dies, um nochmals zu resiimieren:
Die Vermehrung der Klangassoziationen und der sinnlosen
Reaktionen, eine sehr haufige Wiederholung des Reizwortes, eine
erhohte Zahl von Perseverationen und Wiederholungen derselben
Reaktionen, eine verlangerte Reaktionszeit und eine verminderte
Zahl von Reproduktionen.
Es erhebt sich nun die Frage nach der Ursache einer solchen
Storung. Wenn sie in ihren Erscheinungen analog der Storungen
ist, die im Assoziationsexperiment bei Versuchspersonen mit einer
paralytischen oder senilen, also organischen Veranderung auf-
treten, so diirfte vielleicht die Ursache ebenfalls entsprechend be-
griindet werden konnen. Es ist sehr gut denkbar, daft der Alkohol
anatomisch ahnlich auf das Gehim und speziell die Zelle wirke,
wie die schadigenden Agentien bei Paralyse und Senilitat. Viele
sich gleichende Prozesse sind selbst makroskopisch nachweisbar,
wie Reduktion der Gehimmasse, Verdickung der Haute und
anderes. Wir wissen aber iiber die feineren anatomischen und vor
allem funktionellen Zusammenhange der Schadigungen nichts. Die
Frage bleibt darum offen.
Daft auch von anderer Seite und in anderen Zusammenhangen
an einen Parallelismus von alkoholischen und organischen Psychosen
gedacht wird, zeigt ein Referat in der Zeitschrift fiir Neurologic
und Psychiatric xiber eine uns leider nicht zugangliche russische
Arbeit Stiedas in der Rundschau der Psychiatrie, Neurologie und
experimentellen Psychologie 18. 366. 1913. Verfasser zieht
Parallelen zwischen den alkoholischen und senilen Psychosen und
schreibt verschiedenen atiologischen Faktoren sowohl der exogenen
Alkoholintoxikation als auch der endogenen Noxe bei Senilitat eine
bestimmte Lokalisation in den Geweben des Zentralnervensystems zu.
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328 Jcrger, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem.
Wir mochten aber dieee „organischen“ Storungen auch in
Vergleich ziehen mit den Ergebnissen der Assoziationsexperimente
Aschaffenburgs im Erschopfungszustand, mit der Frage, ob diese
Storungen nicht als ein Erschopfungssymptom zu betrachten waren.
Nach Verwom und Krapelin bedeutet ,,Ermiidung“ die durch Auf-
haufung und Vergiftung mit Zersetzungsprodukten entstehenden
L&hmungserscheinungen; „Erschopfung“ die Wirkung des Ver-
brauchs notwendiger Stoffe. Aschaffenburg (5) kommt aber in
seinen Betrachtungen zum Schlusse, ,,mit dem Ausdruck der Er-
schopfung nichts weiter zu bezeichnen, als eine Summe von Schadi-
gungen, die zu einem das MaB der gewohnlichen Ermudung iiber-
steigenden Zustand fiihren sollte“. Die Erschopfung hat nun nach
seinen Arbeiten folgende Einwirkung auf das Assoziationsexperi-
ment: 1. sie lockert die engen begrifflichen Beziehungen zwischen
Reizwort und Reaktion, und es treten solche Assoziationen auf,
die der langgewobnten IJebung ihre Entstehung verdanken. Die zu-
gerufene Vorstellung wirkt immer weniger durch den Inhalt;
Klang und Tonfarbe bestimmen die Reaktion; 2. die motorischen
Reaktionen sind erleichtert durch eineErleichterungderBewegungs-
antriebe; 3. der EinfluB auf die Dauer der Reaktionen ist gering,
wenn vorhanden, im Sinne der Verlangerung der Zeiten imd Streu-
ung der Werte.
Der Alkohol kann nun sehr gut einerseits durch seine Giftig-
keit „ermudend“ auf die Zelle wirken; anderseits kann auch die
so geschw&chte Zelle in den Zustand der „Erschopfung <( geraten
sein. Ob dem so sei, lassen wir offen. Fur uns geniigt, daB unsere
Resultate mit denen Aschaffenburgs parallel gehen.
Leider beziehen sich die seinen nur auf die Erleichterung der
motorischen Fahigkeiten, Vermehrung von Klangassoziationen
und eine Tendenz zur Verlangerung der Reaktionszeit. Wenn nun
die Uebereinstimmung der beiden Resultate sich auch nicht auf
alle Teile bezieht und darum nicht weitgehend genug ist, um daraus
das Wesen der Alkoholstorung bei den Assoziationen als eine Er-
schopfungswirkung zu erklaren, so ist sie doch so, daB sie in Dis-
kussion gezogen zu werden verdient.
Endlich braucht die ,,Erschopfung“ nicht so tiefgehende Sto¬
rungen zu machen wie die Vergiftung mit Alkohol. Es kann sehr
gut sein, daB die Alkoholstorungen eine Fortsetzung von Storungen
sind, die mit den Symptomen von „Erschopfung“ beginnen. Bei
Aschaffenburgs Versuchen z. B. erscheint die Tendenz zur Ver¬
langerung der Reaktionszeit, wahrend sie beim Assoziations-
experiment der Alkoholiker konstant geworden ist. Wahrscheinlich
hatte Aschaffenburg auch eine Tendenz zu verminderter Repro-
duktionsfahigkeit gefunden, wenn er in seinen Versuchen die Re-
produktionsreihe aufgenommen hatte.
Es tritt nun ein scheinbarer Widerspruch auf. Wenn man die
aufgezahlten Symptome als „organische“ ansieht und sie mit einer
Erschopfungswirkung in Zusammenhang bringen will, so ist es
merkwiirdig, daB sie, wie wir oben zeigten, im Laufe eines Experi-
mentes nicht zu-, sondern abnehmen, gleichw ie in der Reihe mehr-
facher Experimente bei der gleichen Versuchsperson. Dies fiihrt
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J o r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 329'
zur Frage, ob man nicht auch eine Aufmerksamkeitsstorung als ’
Erklarung herbeiziehen kann. Die Versuchsperson konnte ihre
Aufmerksamkeit erst im Laufe des Versuches allmahlich konzen-
trieren, sie wurde sich erst nach und nach ,,einstellen“. Jung (1)
weist in seinen Assoziationsstudien immer wieder auf eine solche
Storung hin. Er bezeichnet das Auftreten von Klangreaktionen und
Verflachung des Reaktionstypus direkt als Kriterium fiir eine Auf-
merksamkeitsstorung. Er zeigt auch, daB im Assoziationsexperi-
ment, das unter den Bedingungen der Ablenkung gemacht wurde,
eine Verflachung nach der Richtung des Gewohnten und Mechani-
sierten stattfindet. Die Aufmerksamkeit kann nicht im vollen
MaBe dem Assozieren zugewandt werden, infolgedessen treten Re-
aktionen^auf, die als lange eingeiibte motorische Reaktion bereit-
liegensie bedingen dann die Erhohung von Klangreaktionen und
eine Verflachung des Typus.
Es mtiBte dann also beim Alkoholiker so sein, daB er nicht
imstande ware, sowohl im ersten Experiment einer Versuchsreihe,
als auch im Anfange eines einzelnen Experimentes selbst seine Auf¬
merksamkeit zu konzentrieren.
Dem widerspricht aber schon die Beobachtung, daB die Ver-
suchspersonen dem Experiment mehr Aufmerksamkeit schenken,
je naher man dem Beginn der Sitzung steht und je neuer und un- •
gewohnter der Vorgang ist. Einer Sache, die man schon ver-
schiedentlich gemacht hat, wendet man viel weniger Aufmerksam-
keit zu, man laBt sich mehr ablenken und iiberlaBt der mechanischen
und eingeiibten Abwicklung der Reaktion die Leitung. Unsere Er-
gebnisse widersprechen aber dieser Ueberlegung. Darum kann es
sich auch im Anfange eines Assoziationsexperimentes nicht um eine
Aufmerksamkeitsstorung handeln und ebensowenig in den spSteren
Experimenten der Serie.
Dazu kommen aber als Argumente gegen eine Aufmerksam-
keitsstorung die Beobachtungen, die wir als zweite Komponente
der Assoziationsstorung auffuhrten. Es sind: die hohe Zahl von
koordinativen und pradikativen Assoziationen, mit andem Worten
der hohe Reaktionstypus, dann die verminderte Zahl von Identi-
taten und sprachlich-motorischen Reaktionen und Konsonanzen;
alle diese Werte steigen im Experiment sowohl als auch in der Serie
parallel mit der Zunahme der Reproduktionsfahigkeit.
Vielleicht sind diese Resultate als Zeichen einer Auf fassungs -
storung zu betrachten. Die Symptome der ,,organischen“ Storung
verschwinden sowohl im Experiment als auch in der Serie von Ver-
suchen, sie machen diesen Zeichen der Auffassungsstonmg Platz,
oder besser gesagt, sie lassen sie tibrig. Die Auffassungsstorung
bildet eine Teilerscheinung der ,,organischen“, sie geht tiefer und
iiberdauert darum die Zeichen der ersteren.
Der Alkoholiker faBt weniger schnell auf. Um sich das Reiz-
wort zu verdeutlichen, spricht er es sich noch einmal vor. Verlang-
samte Auffassung und Nachsprechen des Reizwortes bedingen eine
Verlangerung der Reaktionszeit. Je mehr nun die Versuchsperson
im Verlauf des Assoziationsversuchs sich in dasselbe einarbeitet,
■desto mehr antwortet sie demReiz entsprechend,man mochte sagen,
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330
J o r g e r, Ueber Aasoziationen bei Alkoholikem.
desto mehr reagiert sie smngem&B. Es steigen die inneren Asso-
ziationen, die sprachlich-motorischen versch winden, ebeneo Identitat
und Klang, es kommen weniger Fehler vor, es schwinden Perse-
verationen und sinnlose Reaktionen. Die Versuchsperson kann
dann auch ihre Reaktionen, die sie auf besser aufgefaBte Reize ge-
geben hat, besser behalten und vermag dann eine groBere Zahl der-
selben zu reproduzieren.
Weil nun die Versuehsperson weniger schnell auffaBt, laBt sie
sich im Anfange oft verleiten, auf den bloBen Klangreiz eine Ant-
wort zu geben, sie nimmt dazu eingesessene Assoziationen zu Hilfe,
sie antwortet mit einer sprachlich-motorischen Reaktion. Hat sie
keine solche zur Hand, so gibt sie irgendeine Evokation auf den
Reiz, es entsteht eine sinnlose Reaktion. Ihre Aufmerksamkeit
wendet sie aber nicht weniger dem Experimente zu als spater.
Will man mm die Aunassungsstorung annehmbar erscheinen
lassen, so miiBten sich auch die Ausnahmen einordnen lassen, die
in den Tabellen vorkommen, yor allem No. 7 der zweiten Tafel, bei
welchem die Zahlen gegen die Regel zu- resp. abnehmen. Nimmt
man fur diese Ausnahmen eine Aufmerksamkeitsstorung an, die
gegen den SchluB hin grofler wird, so ergibt sich die Zvmahme der
sprachlich-motorischen Reaktionen, d. h. der Uebergang zum
flachen Typus von selbst.
Im Sinne der Annahme einer Auffassungsstorung spricht auch
der Uebergang von den Wortreaktionen zu den Satzreaktionen
innerhalb eines Experimentes, wie oben gezeigt worden ist. Im
Anfange der Reihe wirkt der klanglicheReiz allein, je mehr die Auf-
fassung des Sinnes zunimmt, desto mehr hat die Versuchsperson
die Tendenz, zum Wort eine sinngemaBe Erklarung in der Reaktion
zu geben. Reagiert sie nur in Worten, so dominieren Koordinationen,
pr&dikative und kausale Reaktionen, reagiert sie in Satzen, so
werden die Reaktionen in immer langere Erklarungen eingehullt.
DaB die Versuchsperson in Satzen reagiert, hat aber mit der Auf¬
fassungsstorung nichts zu tun, dieses Zeichen gehort zur „orga-
nischen" Komponente der alkoholischen Assoziationsstorung und
ist als ein Kriterium der GroBe der Storung anzusehen.
Als letztes Argument fiir eine Auffassungsstorung muB die
deutliche Tendenz sprechen, gegen den SchluB der Experimente
hin immer wieder gleiche Reaktionen zu wiederholen. Dadurch,
daB die Auffassung verlangsamt erscheint, kommt die Reaktion
gleichsam so oft wieder, bis der Begriff aufgefaBt wurde. Wir
sehen im taglichen Leben, daB wir selbst oft eine Frage wieder¬
holen, die wir nicht verstanden haben, und daB uns ein schlecht
aufgefaBter Begriff immer wieder beschaftigt, so lange bis er ent-
weder als verstanden gleichsam auf die Seite gelegt wurde, oder
durch andere aktuellere Gedankengange in die Vergessenheit ge-
driickt wird. Darum wiederholt der Alkoholiker so oft Reizworte,
die er nicht aufgefaBt hat, darum antwortet er so oft mit der
gleichen Reaktion, so lange bis er die Gedankenverbindung erfaBt
hat oder bis neue in seinem wenig mobilen Assoziationsschatz
fliissig geworden sind. In diesem Sinne spricht die Verteilung der.
wiederholten Worte. Es gibt deren zweiArten. Die einen nannten
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Jorgtor, Ueber Assozi&tkmen bei Alkoholikem.
331
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wir mit Brunschweiler die unpersonlichen AeuBerungen des „Iohs",
z. B. das Reizwort „Mann"; ,,Mensch“ oder „Leute". Antwortet
eine Versuchsperson mit einem solchen, so kommt diese Beaktion
iiber die ganze Reaktionsreihe gleichmaBig zerstreut vor. Die
anderen Worte aber, mit denen die Versuchspersonen perseverieren,
kommen z. B. iiber 20—30 Reaktionen verteilt vor, vorher und
nachher aber nieht mehr. Dafi dies gegen den SchluB des Experi-
mentes haufiger vorkommt als in der ersten Halite, zeigten wir
schon oben. Wir fiigen noch ein Beispiel bei:
Der Patient No. 3, M. J M reagiert in der Reaktionsreihe des
7. Tages 20 mal mit ,,Mensch“. Er braucht diese Reaktion das
erstemal bei dem 10. Reizwort, das letztemal beim 100. Mit „Leut«“
reagiert er 6 mal das erstemal bei dem 19., das letztemal beim
95. Reizwort. Mit dem Wort „Wasser“ hingegen beantwortet er
5 mal Reaktionen zwischen dem 7. und 37. Reiz, mit „Kinder“
3 mal zwischen dem 62.—99. Reize. Auf einer anderen Assoziations-
tabelle „Tiere" 3 mal vom 72.—99. Reizwort. Ein anderer Patient
reagiert vom 38.—72. Reiz 8 mal mit „Eigenschaft“, vom 29. bis
67. 5 mal mit ,,zum Essen".
Es bleibt noch eine Beobachtung zu erklaren iibrig, die
Schwierigkeiten zu machen scheint, wenn wir bei den Alkoholikem
eine Auffassungsstdrung annehmen wollen. Es ist die groBe
sprachmotorische Leichtigkeit, mit der die Alkoholiker im gewohn-
lichen Gesprache reagieren. Wenn wir sie aber im ersten Teil der
Assoziationsreihe unterbringen, wo die sprachlich-motorischen
und die Klangassoziationen vorwiegen, so ware sie von der ,,orga-
nischen" Storung abzuleiten. TJnterbindet man hingegen einem
Alkoholiker seinen RedefluB und seine Konfabulationen, verlangt
man etwas Bestimmtes und etwas Positives von ihm, dann tritt
der zweite Teil in sein Recht, der Alkoholiker schuldet lange die
Antwort, und der Inhalt derselben zeigt, daB er die Frage schlecht
oder gar nicht aufgefaBt hat.
Unter dieser Betrachtungsweise gibt es auch einen Erklarungs-
versuch, durch welchen der oben hervorgehobene Unterschied
zwischen unserem Versuchsmaterial und dem aus der Krdpdinschen
Schule ersichtlich ist. Setzt man die Untersuchungen Riidins (7)
iiber die Wirkung einer einmaligen Gabe als erstes Glied einer
groBen Versuchsreihe, als folgendes Glied der Kette die Experi-
mente von Krapdin und Kiln (8) und Smith, die einen leichten
chronischen Alkoholismus erzeugten, und als drittes Glied unsere
Versuchspersonen, so muB auch eine entsprechende Steigerung
der Symptome sich ergeben. Der Abstand zwischen unseren Ver¬
suchspersonen und denen der zitierten Autoren ist ein sehr groBer.
Durch ihn konnen sehr wohl alle oben erwahnten Verschiedenheiten
entstehen, die den klinischen vom experimentell erzeugten chro¬
nischen Alkoholismus unterscheiden.
Setzt man nun sowohl das Experiment mit der einmaligen^
Alkoholgabe als auch diejenigen Versuche mit mehrmaliger Ver-
giftung in den ersten Teil der Assoziationsreihe, so gehoren die
Versuchsergebnisse zur „organischen“ Komponente. Das Gift
hat noch nicht so lange und intensiv gewirkt, daB die Auffassungs-.
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332 J-'d-r g e r, Ueber Assotriationen bei Alkoholikem.
storung sichtbar wird, dafl sie eine scheinbare Umkehr der Ergeb-
nisse der einzelnen Assoziationsgruppen zeitigen kann. Aus einer
solchen Ueberlegung heraus durften wir auch von dem experimented
erzeugten Alkoholidtnus ausgehen, um die Storungen des chro-
nischen im klinischien Sinne zu betrachten.
Es bleibt fraglich, ob diese Auffassungsstorung etwas Selb-
atandiges iat, oder ob sie eine Teilerscheinung der organisohen
Storung iat, so daB erst die grofie organische Komponente wirkt,
die rasch verschwinden wiirde und dann als Best eine Auffassungs-
storung iibrig lieBe. Diese wiirde dann im Laufe des einen Experi-
mentes zum andem, d. h. mit der fortschreitenden Emiichterung,
abnehmen.
SchluB-Satze.
I. Die Storungen bei den Assoziationen der Alkoboliker lassen
sich in 2 Gruppen zerlegen:
1. Eine Verlangerung der Reaktionszeit, eine Neigung zu
Wiederholungen von Reizworten und Reaktionsworten, eine er-
bdhte Zahl innerer Assoziationen und eine entsprechend verringerte
Zahl sprachbch-motorischer Assoziationen.
2 . Eine Vermehrung sinnloser Reaktionen und Perseverationen,
verminderter Reproduktionsfahigkeit, Neigung zu Reaktion in
Satzform. Vermehrung von Klangassoziationen.
II. Die unter 1. aufgezahlten Ergebnisse zeigen sowohl in der
einzelnen Assoziationsreihe als in der Serie von Experimenten
wahrend der Erbolung unter Abstinenz eine Zunahme oder zum
mindesten die Tendenz, ausgesprochener zu werden. Die unter 2
aufgezahlten Zeichen nehmen im Gegensatz dazu ab.
III. Die letzteren Ergebnisse mit der verlangerten Reaktions¬
zeit gehen parallel den Resultaten Brunschweilers bei organischen
Kranken.
IV. Die sub 1 aufgezahlten Ergebnisse lassen sich mit einer
Auffassungsstorung am besten erklaren.
Literatur- Verzeichnis:
1. C. G. Jung und Fr. Riklin , Experimentelle Untersuchungen iiber
Assoziationen Gesunder, Diagnostische Assoziationsstudien. Band. I.
1. Beitrag Leipzig, Amb. Barth. 1906. 2. K. WehrUn , Ueber Assoziationen
von Imbezillen und Idioten. Diagnostische Assoziationsstudien. Band I.
2. Beitrag. Leipzig, Amb. Barth. 1906. 3. C. G . Jung , Ueber das Verhalten
der Reaktionszeit beim Assoziationsexperiment. Diagnostische Assoziations¬
studien. Band I. 4. Beitrag. 4. H. Brunschweiler , Ueber Assoziationen bei
organisch Dementen. Diss. Zurich 1912. Gebr. Leemann. 5. G . Aschaffen-
burg, Experimentelle Studien iiber Assoziationen. I. und II. Psycholog.
Arbeiten herausgegeben von E. Krapejin. Leipzig, Engelmann. 1896.
6. F. Stra88er- Eppelbaum, Zur Psychologic des Alkoholismus. Schriften fur
Individualpsychologie. No. 6. Miinchen, Reinhardt. 1914. 7. E. Riidin ,
Ueber die Dauer der psychischen Alkoholwirkung. Psycholog. Arbeiten
herausgegeben von E. Kr&pelin. Leipzig, Engelmann. 1904. 8. E . Kilrz
und E. Krdpelin, Ueber Beeinflussung psychischer Vorgange durch regel-
m&Bigen AlkoholgenuB. Psycholog. Arbeiten herausgegeben von E. Kr&pelin.
III. Leipzig, Engelmann. 1901. 9. E . Fiirst , Statistische Untersuchungen
iiber Wortassoziationen und iiber familiare Uebereinstimmung in Reaktions-
typus bei Ungebildeten. Diagnostische Assoziationsstudien. Band II.
10. Beitrag. Leipzig, Amb. Barth. 1910. 10. E. Krdpelin, Die Psychologic
des Alkohols. Intemat. Monatsschr. zur Erforschung des Alkoholismus#
Band XXL 1911.
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)/,'/,-i : -'.f/iri j.* t Hr l \ i suinln? iii.nl Nevrokgie lid. XX.M'7/
Taf. 1.
wmmm-
tV-.-siS
ron i K&tgtr m lietifm iY li' o
Qrjgjr4l frcrrri
Digitize^ fry
UN>VER51TV
(Au.8 der Nervenheilanstalt Maria Theresien-SchJossel.)
Zur Frage der operativen Behandlung
der SchuBverletzungen peripherer Nerven.
Von
Professor Dr. EMIL REDLICH.
(Hierzu Taf. I.)
Die Frage der operativen Behandlung der SchuBverletzungen
peripherer Nerven gehort mit zu den aktuellsten der Kriegsneuro-
logie. Das ist begreiflich, da es sich um ungemein haufige Ver-
letzungen handelt — ich selbst habe bisher et^a 400 hierher
gehorige Falle gesehen — und die dadurch bedingten funktio-
nellen Schadigungen sind von so weittragender Bedeutung, daB
jeder, der mit Kriegsverletzten zu tun hat. sich immer wieder
vor die Frage nach der rationellsten Art der Behandlung dieser
Falle gestellt sieht.
Genauer genommen spitzt sich die Frage auf die Entscheidung
der Fruh- oder Spatoperation zu. Wir wissen ja, daB ein nicht
unbetrachtlicher Teil, selbst der schweren Falle heilt, falls man
geniigend lange wartet. Da der Kxieg nunmehr tiber 9 Monate
dauert, hat ein jeder von uns schon entsprechende Erfahrungen
gesammelt, die sich natiirlich im spateren Verlaufe noch mehren
werden. Ich mochte nur erwahnen, daB ich auch Falle, deren
Prognose mir recht zweifelhaft erschien, im Laufe der Monate
heilen sah; ich habe z. B. einen Fall von Fazialislahmung nach
Lanzenstich vor dem Ohre gesehen, wo komplette Lahmung
des Fazialis mit schwerer Entartungsreaktion, Anasthesie im Be-
reiche des II. und III. Astes des Trigeminus und schwerste Atro-
phie mit nahezu erloschener elektrischer Erregbarkeit im Masseter
bestand. Nach 6 Monaten war sowohl die Fazialislahmung wie
die Lahmung des motorischen V. Astes vollstandig geheilt; nur die
sensible V. Lahmung bestand teilweise fort, so daB der Mann wieder
an die Front abgehen konnte. DaB die Heilung in andem Fallen
keine komplette ist, sondem — dauemd ? — Reste der Lahmung
zuriickbleiben, ist zuzugeben, kann aber nicht imbedingt gegen
das konservative Verfahren sprechen, da ja auch nach der Ope¬
ration anerkanntermaBen die Heilung nicht immer eine voll-
standige ist.
Aber ein Teil der Falle heilt nicht aus und in diesen muB,
wie ja allgemein anerkannt ist, versucht werden, durch Operation,
Neurolyse oder Naht des Nerven, Heilung zu erzielen. Die Frage
Monatischrift f. Piychiatrie u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 6. 22
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334 R e d 1 i c h , Zur Frage der operativen Behandlung
ist nur, wann der Zeitpunkt fur die Operation gegeben ist, schon
wenige Wochen nach der Verletzung oder, wie andere wollen,
erst nach einigen Monaten (3—6 Mona ten), selbst spater. Weder
die langjahrigen Erfahrungen der Friedenspraxis, noch diejenigen
im ru8sisch-japanischen Kriege oder in den Balkankriegen haben
eine Entscheidung gebracht 1 ). Daher wird man sich wundem
diirfen, wenn auch im jetzigen Kriege der Standpunkt der
einzelnen Autoren, die sich iiber diesen Punkt geauBert haben,
ein verschiedener ist, zumal die Beobachtungsdauer der Falle,
fiber die wir verfiigen, noch eine viel zu kurze ist. Nicht ohne
Berechtigung meint daher Lewandowsky 2 ), es sei bis zu einem
gewissen Grade Temperamentssache, ob man sich ffir die Friih-
oder Spatoperation entscheidet.
Die Grfinde, die ffir und gegen die Frfihoperation sprechen,
sind in der letzten Zeit von verschiedenen Seiten diskutiert wor-
den, so daB ich von einer neuerlichen Erorterung derselben wohl
absehen kann. Ich selbst habe anfanglich, wie viele andere Neuro-
logen — ich nenne z. B. nur Oppenheim , Cohn , Rothmann und
viele Andere — einen ziemlich konservativen Standpunkt ein-
genommen. Mit zunehmender Erfahrung aber habe ich mich immer
mehr der Empfehlung einer operativen Behandlung — freilich
durchaus nicht fur alle Falle — zugewendet. Abgesehen von
Anderem, was spater zur Sprache kommen soli, spricht auch
ein psychologisches Moment daftir, nicht allzu lange mit der
Operation zu warten. Solange der Kranke unter dem Shok der
frischen Lahmung steht, entschlieBt er sich leicht zu einer ihm
angeratenen Operation. Wartet man langer, dann hat sich der
Kranke mit der Lahmung bis zu einem gewissen Grade abgefunden,
hat sie zum Teil auch korrigieren gelernt; in solchen Fallen ist
es mir wiederholt passiert, daB Kranke, bei denen ich die Ope¬
ration ffir absolut indiziert hielt, selbst wenn es sich um einen
relativ leiehten Eingriff handelte, die Vornahme derselben ver-
weigerten. MaBgebend aber ffir die relative Anderung meines
Standpunktes waren die Erfahrungen, die ich bei fiber 40 Fallen,
die Herr Primarius von Frisch im hiesigen Rudolfinerhaus und Prof.
Zuckerkandl auf meineVeranlassung hin operierten. Ich beziehe mich
da nicht nur auf die makroskopischen Veranderungen, wie sie sich
bei der Operation ergaben, sondern vor allem auf die mikroskopische
Untersuchung der exzidierten Nervenstticke, die ich gleich Spiel -
meyer u. A. in alien Fallen vomehmen lasse. Obwohl diese Unter-
suchungen lange noch nicht abgeschlossen sind 3 ), mochte ich schon
') Die Literatur der letzten Jahre findet sich zum Teil bei Obem-
dorffer , Die Nervennaht. Sammelreferat, Centralblatt fur die Grenz-
gebiete 1908, S. 307 und bei Costs y Nervennaht, Nervenanastomose und
Neurolyse. Ztschr. f. d. ges. Neurol., Ref. Bd. 6, 1913, S. 721.
*) Lewandowsky, Die Kriegsverletzungen des Nervensystems. Berl.
klin. Woch. 1914, S. 1929.
*) Die Untersuchungen werden fortgesetzt werden und wird mein
Ass is tent Dr. Reznizek spater dariiber im Detail berichten.
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der SchuBverletzungen peripherer Nerven. 335
heute einige Punkte hervorheben, die mir von Interesse er-
scheinen.
Man hat vielleicht von mancher Seite bei der Indikations-
stellung zur Operation etwas zu einseitig die Frage der Konti*
nuitatsunterbrechung des Nerven in den Vordergrund gestellt.
Die Erfahrungen der letzten Kriege hatten ergeben, daB es sich
da um ein relativ seltenes Vorkommnis handelt; man hat von
10—15pCt. derFalle gesprochen, wo die L&hmung peripherer Nerven
auf diese Weise zustande kommt. Ich habe den Eindruck gewonnen,
daB diese Zahl vielleicht doch zu gering bemessen ist, was mit
den Erfahrungen von Cassirer 1 ) und Nonne iibereinstimmt. Denn
wir haben in einer nicht unbetrachtlichen Zahl von Fallen den Nerv
vollstandig durchschossen gefunden, mitunter waren die durch -
trennten Teile des Nerven vom Projektil formlich nach dem
Wundkanal fortgerissen und hier durch Narbengewebe fixiert.
In andern Fallen sahen wir — relativ haufig am Ischiadicus —
eine nur partielle Durchtrennung des Nerven mit Erhaltenbleiben
einer Briicke.
In solchen Fallen Von Kontuinitatstrennung des Nerven
nach SchuBverletzungen ist die Moglichkeit einer spontanen
Restitution in der Regel wohl ausgeschlossen. Denn abgesehen
davon, daB zwischen den beiden Nervenenden eine oft recht be-
trachtliche Lticke klafft, sind die mit dem ausgedehnten, derben
Narbengewebe der Umgebung meist direkt verloteten, haufig
kolbig aufgetriebenen oder aufgesplitterten Nervenenden in ihrer
histologischen Struktur schwerst geschadigt. Oft lassen sie nichts
mehr Von der normalen Struktur des Nerven erkennen, be-
stehen vielmehr aus derbem Bindegewebe mit reichlichen, zum
Teil neugebildeten GefaBen, deren Wandungen vielfach ver-
dickt oder leicht infiltriert sind. Daneben findet sich Blut-
pigment, hier und da noch kleine Entziindungsherde, meist
aus Lymphozyten bestehend, gelegentlich auch kleine An-
haufungen von Leukocyten. Auch in groBerer Distanz von der
Stelle der Kontinuitatstrennung zeigt der Nerv noch schwere
Veranderungen. Wir konnen zwar hier seine Zusammensetzung
aus einzelnen Biindeln noch erkennen, aber wir finden eine sehr
intensive Wucherung des Peri- und Endoneuriums, die die Nerven-
fasem formlich erstickt; nur ganz gelegentlich ist noch ein er-
haltenesNervenbiindelchenzusehen. Ineinem solchenFalle—durch-
scho8sener N. ischiadicus in der Mitte des Oberschenkels — konnte
ich einen nicht gerade haufigen Befund erheben. An der Peri¬
pherie des kolbig aufgetriebenen, proximalen Nervenstumpfes
land sich (Fig. 1) eine Insel hyalinen Knorpels (I), an den sich gegen
die Peripherie hin osteoides Gewebe mit Rnochenkorperchen
anschloB (II). Nach der Richtung des SchuBkanals — derselbe
ging Vom Trochanter nach abwarts gegen die Mitte des Ober¬
schenkels — liegt es nahe anzunehmen, daB durch das Projektil
l ) Cassirer , D. med. W. 1915, S. 520.
22 *
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336
R e d 1 i c h , Zur Frage der opcrativen Behandlung
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ein Periostfetzen mitgerissen und in den Nerven implantiert
wurde, woselbst er einheilte; denn wir wissen, daB solche implan-
tierte Periostlappen hyalinen Knorpel und Knochengewebe pro-
duzieren konnen. Ich mochte bemerken, daB Kirschner 1 ) in einer
Mitteilung aus der letzten Zeit kurz erwahnt, daB die den Nerven
umschlieBenden Narben mitunter durch Einlagerung von Periost-
bestandteilen teilweise verknochert sein konnen (s. a. Cassirer).
Es liegt auf der Hand, daB in solchen Fallen von Kontinui-
tatstrennung des Nerven die strikte Indikation zur Operation —
Resektion der veranderten Anteile und Naht des Nerven — ge-
geben ist. Aber es braucht hier, vor Neurologen, nicht erst weit-
lkufig auseinandergesetzt werden, daB wir aus dem klinischen
Befunde keine absolut verlaBlichen Anhaltspunkte fur die Dia¬
gnose der Kontinuitatstrennung des Nerven gewinnen konnen.
Das konstante Sinken der galvanischen Muskelerregbarkeit, das
iibrigens nach den Angaben von Oekonomakis 2 ), Spielmeyer 3 )
— auch ich habe vereinzelt ahnliche Erfahrungen gemacht —
mitunter bei SchuBverletzungen sehr friih eintritt, ist nicht ein-
deutig, da dies auch bei heilbaren Formen von schweren Lah-
mungen vorkommen kann. Oppenheim 4 ) hat angegeben, daB bei
kompletter Unterbrechung des Nerven, die sonst bei SchuBver¬
letzungen haufigen Schmerzen relativ wenig ausgesprochen sein,
selbst fehlen konnen, was ich bestatigen kann. Aber er betont
mit Recht, daB dieses Verhalten nicht entscheidend ist; denn es
konnen auch trotz voller Kontinuitatsunterbrechung Vom zen-
tralen Stumpf ausgeloste Schmerzen nach der Peripherie hin pro-
jiziert werden. von Wagner-Jauregg b ) hat darauf hingewiesen, daB
man durch die Palpation sich mitunter davon iiberzeugen konne, ob
die Kontinuitat des Nerven erhalten oder unterbrochen sei; das
gilt natiirlich nur von den oberflachlich gelegenen Nerven. Er hat
weiterhin angegeben, daB, wenn man durch Druck auf den Nerven
peripher von der Verletzung noch Schmerzempfindungen auslosen
konne, dies ein Beweis dafiir sei, daB noch leitende Nervenfasem
im Nerven enthalten sein miissen. Das betont auch Cassirer
(s. a. spa ter).
Wichtiger aber, weil viel haufiger als die Falle mit Konti¬
nuitatsunterbrechung des Nerven sind diejenigen, wo zwar die
Kontinuitat des Nerven erhalten ist, aber infolge der Schu/tverletzung
so schwereV eranderungen im Nerven eingetreten sind , daft eine spontane
Restitution unmoglich ist. Das haben in den jetzt gefiihrten Diskussi-
onen iiber dieVerletzung der peripheren Nerven schon Leivandowsky ,
Spielmeyer , Ouleke , Kirschner , Cassirer , Nonne u. A. erwahnt.
*) Kirschner, t)ber SchuBverletzungen der peripherischen Nerven.
Deutsche med. Woch. 1916.
*) Oekonomakis , tJber traumatische Lahmungen der peripheren
Nerven nach SchuBverletzungen. Neurol. Centralbl. 1914, S. 486.
a ) Spielmeyer , Zur Frage der Nervennaht. Miinch. med. Woch.
1915, S. 68.
4 ) Oppenheim , Zur Elriegsneurologie. Berl. klin. Woch. 1914, S. 1853.
*) s. Wien. klin. Woch. 1916, S. 279.
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der Schuflverletzungen peripherer Nerven.
337
Nach dem was ich bei den Operationen gesehen habe, was mir
die histologische Untersuchung der exzidierten Stticke der Nerven
gezeigt hat, kann ich das nur Vollauf best&tigen. Wir finden in
solchen Fallen den Nerven, sei es im ganzen Umfange, sei es
partiell, in dem ihn umgebenden derben, mitunter fast knorpel-
harten Narbengewebe fest eingebettet, so dab es mitunter nur
mit Hilfe des Messers gelingt, ihn freizulegen. Der Nerv ist dann
nicht selten spindelig oder gleichmaBig aufgetrieben, Verande-
rungen, die sich oft noch eine Strecke weit proximal und distal
Veifolgen lassen; bisweilen kann man in solchen Fallen die Nerven
al8 verdickte, derbe, empfindliche Strange scho.n durch die Haut
durch fiihlen.
Die histologische Untersuchung zeigt in derTat,daB hierschwere
Ver&nderungen des Peri- und Endoneurium mit Bildung derben,
stellenweise noch infiltrierten Bindegewebes Platz gegriffen haben.
An der Lasionsstelle selbst ist auf mehr minder weite Strecken
die eigentliche Struktur des Nerven vollstandig ausgeloscht.
Da nun fur die Regeneration des Nerven ein Auswachsen der zen-
tralen Anteile gegen die Peripherie oder, wie von Bethe an-
genommen wird, mindestens die Verbindung mit dem zentralen
Stumpf notwendig ist, wird man es begreiflich finden, daft dieses
derbe Gewebe ein formlich undurchdringliches Hindernis fiir das
Auswachsen der zarten Achsenzylinder darstellt. Spielmeyer
hat schon darauf hingewiesen, daB die BielschowsJci-F'&rbvng
in solchen Fallen zeigt, daB tatsachlich die Achsenzylinder die
derbe Narbe nicht zu durchwachsen vermogen, sondem in ihrem
Verlaufe abirren. Ich habe Gleiches gesehen und mochte in dieser
Beziehung noch einen Fall mit Neurombildung am Ulnaris nach
SchuBverletzung an der Ellbogenbeuge erw&hnen. Es handelte
sich um eine iiber 2 cm lange, durch die Haut tastbare Auftreibung
des N. ulnaris knapp oberhalb des Epicondylus intemus. Sie
wurde exstirpiert und histologisch untersucht. Dabei zeigte
sich im M orcAi-Praparat, daB im proximalen Anteil des Nerven,
der auch eine starkere Verdickung des Perineurium aufwies, die
Nervenfasem erhalten waren, hochstens eine leichte Degene¬
ration aufwiesen; im distalen Anteil waren alle Nervenfasem
schwerst degeneriert. Hier fand sich nur mehr Bindegewebe mit
reichlichen Abraumzellen. (Die Operation wurde 10 Wochen
nach der Verletzung ausgefuhrt.) Zwischen beiden Anteilen fand
sich ein Gewebe, das auBer derben Bindegewebsfasem (an der
Peripherie) feinere, teils untereinander verflochtene, teils knauel-
formig angeordnete Faserchen enthielt. Die Silberfarbung zeigt,
daB es sich hier um Achsenzylinder handelt, die infolge des Wider-
standes des neu gebildeten Narbengewebes nicht weiter auswachsen
konnten und ahnlich wie bei Amputationsneuromen ein Neurom
gebildet hatten.
Ich mochte noch eines interessanten Befundes in solchen
Narben Erwahnung tun, namlich der Anwesenheit von Fremd-
korpem. Da ich diesen Befund imter 8 bisher imtersuchten Fallen
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338
R e d 1 i c h , Zur Frage der operativen Behandlung
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bereits 4 mal erheben konnte, auBerdem Chiari 1 ), Cassirer [1. c.]
Nonne 2 ) Ahnliches erwahnen, handelt es sich offenbar um einrelativ
h&ufiges Vorkommnis. In meinen Fallen — Verletzung des Me-
dianus, Ulnaris, Badialis nahe der Oberflache mit ausgedehnten
Hautnarben — fanden sich im Nerven Haare, die von der um-
gebenden Haut in den Nerven fortgerissen waren. Chiari er-
w&hnt Baumwollfasem aus der Kleidung, die in den Nerven
deponiert wurden, Cassirer Knochenstucke und Tuchfetzen,
Nonne GeschoBsplitter.
In drei der erwahnten Falle konnte ich nur ganz vereinzelfc
Bruchstiicke von Haaren im Nerven nachweisen. Ich wurde auf
ihre Anwesenheit durch die gleich zu erwahnenden Fremd-
korperriesenzellen aufmerksam, wahrend in einem dritten Falle
(Verletzung des Radialis an der Umschlagstelle am Oberarm),
Von dem die Fig. 2 herriihrt, die Haare ungemein zahlreich waren
und sofort in die Augen fallen muBten. Hier ist der Langsschnitt
der Nerven auf eine ziemlich betrachtliche Strecke hin durch
Bindegewebe unterbrochen, in dem sich inmitten von Infiltra-
tionsherden, die aus Lymphozyten und sparlichen Plasmazellen
bestehen, Langs- und Querschnitte zahlreicher, ausgefranster
Gebilde finden, die meist eine zarte Langsstreifung und Pigment
aufweisen, mit einzelnen Farbstoffen, speziell mit Karbolfuchsin,
sich deutlich farben. Professor Nobl und Professor Joannovics ,
die meine Pr¶te zu begutachten die Liebenswiirdigkeit hatten,
haben diese Korper mit Sicherheit als Lanugohaare agnosziert.
AuBerdem finden sich im Praparat ungemein zahlreiche Riesen-
zellen mit groBem, unregelmaBigem, hellem Protoplasma xmd
sehr zahlreichen, meist hellen Kemen, die entweder an der Peri¬
pherie, manchmal ringformig angeordnet, seltener im Zentrum
sitzen. Diese Fremdkorperriesenzellen liegen zum Teil dicht an
den Fremdkorpem; kleinere Harchen werden von ihnen form-
lich umschlossen (Fig. 3). Aber auch dort, wo keine Fremdkorper
zu sehen sind, finden sich noch reichlich solche Riesenzellen.
Es liegt auf der Hand, daB in solchen und fihnlichen Fallen,
wo der Nerv auf eine Strecke hin durch derbe Narben wenigstens in
seiner Struktur vollst&ndig imterbrochen ist, eigentlich die gleichen
Bedingungen gegeben sind, wie wenn seineKontinuitat unterbrochen
ware. Selbst wenn, wie dies Spielmeyer und auch ich gesehen habe,
an det Peripherie des Nerven vielleicht noch ein kleinstes Nerven-
biindel das Narbengewebe uberbriickt, ist die Wertung des Falies
keine andere. Auf spontane Restitution ist hier nicht zu rechnen.
Auf die Anwesenheit dieser, wie ich mich iiberzeugt habe, nicht
seltenen, schweren Verandenmgen weisen bei oberfl&chlich ge-
legenen Nerven oft ausgedehnte Narbenbildung in der Haut oder
in der Tiefe fiihlbare, derbe Narben hin.
Man wird in diesen Fallen stets vor der Frage stehen, ob
J ) Chiari , Dtsch. med. Woch. 1914, S. 2055.
*) Nonne , Medic. Klinik 1915, S. 501.
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der SchuBverletzuneen peripherer Nerven.
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man sich mit der einfachen Neurolyse begniigen oder lieber
resezieren und nahen soil. Eine Entscheidung dariiber wird
man nur selten dureh die elektrische Reizung des zentral von
der Narbe gelegenen Anteiles des Nerven gewinnen. Ein
positives Ergebnis konnte durch kleinste, erhaltene Anteile
des Nerven bedingt sein, die aber fur die Restitutionsmoglichkeit
des Nerven, wie wir gesehen haben, bedeutungslos sind. In den
Fallen mit schwerer Entartungsreaktion — und diese kommen
ja fur die Operation meist nur in Frage — wird wohl nur ganz
ausnalimsweise die elektrische Reizung des proximalen Anteiles
des Nerven einen positiven Effekt erzielen. Ich mochte also
gleich Gerulanos 1 ), Oekonomakis 2 ), Spidmeyer (1. c.), Stoffel 3 )
u. A. raten, in zweifelhaften Fallen — von groBter Bedeutung ist der
Palpation sbefund bei der Operation — lieber bis ins Gesunde zu
resezieren und zu nahen. Sonst kann es passieren, daB man nach
Monaten sich von der Erfolglosigkeit der Operation uberzeugt
und neuerdings zu operieren gezwungen ist. Wo ein Teil des
Nerven intakt, der andere schwer Verandert sich zeigt, wird
man wenigstens den letzteren resezieren miissen, wiewohl dann
die Verhaltnisse der Naht sich ungiinstiger gestalten.
In jenen Fallen, wo der Nerv nur von Narbengewebe kom-
primiert ist, in Kallusmassen eingebettet oder durch Aneurysmen
komprimiert ist, in seiner Struktur aber intakt ist, wird man
sich fur die Neurolyse entscheiden konnen. In vereinzelten
Fallen haben wir uns wegen heftiger, auf andere Weise nicht
beeinfluBbarer Schmerzen zur Neurolyse entschlossen, eine In-
dikation, fiir die bekanntlich insbesondere Hashimoto nach den
Erfahnmgen im russisch-japanischen Kriege, r.euerdings auch
Auerbach 4 ) sich eingesetzt haben. Wir haben einen solchen Fall
operiert, wo der Nerv nicht mit der Umgebung Verwachsen war;
es war aber in ihm selbst eine kleine derbe Stelle zu fiihlen. Da
Lahmungserscheinungen in diesem Falle ganz fehlten, konnten
wir uns zur Resektion nicht entschlieBen; ein Erfolg der Operation
in' Hinsicht auf Beseitigung der Schmerzen blieb freilich voll-
standig aus.
Was nun die Erfolge der Operation im allgemeinen betrifft,
so kann ich heute noch nicht irgendwie maBgebende Ergebnisse
Vermelden 6 ); dazu ist der Zeitraum, der bei der Mehrzahl der
Operierten seit der Operation verstrichen ist, ein viel zu kurzer.
Gibt doch Gerulanos nach seinen groBen Erfahnmgen im Balkan-
kriege an, daB es nach einfacher Neurolyse 2—3 Monate, mit-
unter selbst 7 Monate bis zur Heilung dauem kann. Bei Nerven-
') Gerulanos, SchuBverletzungen der peripheren Nerven. Beitr. z.
klin. Chir. Bd. 91, S. 222, 1914.
*) Oekonomakt8 f Ueber traumatische Lahmungen der peripheren Nerven
nach SchuBverletzungen. Neurol. Centralbl. 1914, S. 486.
s ) StojfeU Munch, med. Woch. 1915, S. 20.
4 ) Auerbach, D. m. W. 1915, No. 9.
5 ) Auch dariiber wird mein Assistant Dr. Reznizek sp&ter ausfiihrlich
berichten.
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340 R e d 1 i c h , Zur Frag© der operative!! Behandlung etc.
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naht sah er in einfachen Fallen manchmal erst nach 8—9 Mona ten.
bei komplizierten nach 10—12, ja unter Umstanden sogar erst
nach 24 Monaten Heilung eintreten (s. iibrigens .spater).
Bei der hente noch meist giiltigen Anschauung, daB die
Heilung in der Weise erfolgt, daB vom zentralen Stumpf aus
die Fasern in die Peripherie hineinwachsen, wiirde die Hei-
lungsdauer natiirlich in erster Linie von der Lange der zu durch-
wachsenden Strecke abhangen. Vanlair hat bekanntlich dies-
beziiglich genauere Zahlenangaben gemacht. Es wird daher be-
greifhch erscheinen, daB je weiter zentralwarts die Lasion sitzt,
um so langer die Heilungsdauer ist. Hamit h&ngt es wohl auch
zusammen, daB im allgemeinen die Resultate an den oberen
Extremitaten friiher einsetzen als an den unteren. Ziemlich all-
gemein wird auch betont, daB zentral gelegene Lasionen, speziell
in den Plexus, relativ ungiinstig sind (Bruns, Etzold u. A.),
wofiir Spielmeyer unter anderem auch die ausgesprochenen, reak-
tiven Veranderungen der zentralen Ganglienzellen verantwort-
lich macht. Aber ich muB betonen, daB ich in mehreren Fallen nach
Resektion des N. medianus, resp. ulnaris und radialis schon nach
wenigen Wochen die ersten Zeichen einer wiederkehrenden Motilitat
beobachten konnte, speziell was die Handbeugung und Hand-
streckung betrifft, wahrend die ersten Fingerbewegungen erst
viele Wochen spater sich zeigten. Obrigens hat auch Cassirer
angegeben, daB er schon nach 6 Wochen Wiedereintreten der ersten
Bewegung sah, ahnlich Thiemann 1 ). Es ist nicht ganz leicht,
eine so schnelle Wiederkehr der Funktion mit der herrschenden
Lehre vom Auswachsen des zentralen Stumpfes nach der Peripherie
in Einklang zu bringen. Bei Neurolyse sahen wir in einztlnen
Fallen relativ rasch Heilung oder Besssrung der Motilit&ts-
storungen.
Die vor der Operation oft sehr heftigen Schmerzen wurden
in einer Zahl von Fallen bald giinstig beeinfluBt. Das Verhalten
der Sensibilitat ist wechselnd. Neben Fallen, wo sie friiher als
die Motilitat sich riickbildete, gibt es, wenn auch selten, solche,
wo sich dies umgekehrt verhalt.
Freilich ist mit dem Angegebenen, d. h. der Distanz zwischen
Verletzungsstelle imd der Peripherie allein, gewiB nicht die ver-
schieden lange Heilungsdauer in den einzelnen Fallen erklart;
hier spielen gewiB auch die speziellen Verhaltnisse des Falles
vielfach mit.
Von groBter Wichtigkeit ist aber die Frage, ob tatsachlich,
wie dies von verschiedener Seite behauptet wurde, die Resultate
bei der Friihoperation, das ist etwa 4—6 Wochen nach der Ver-
letzung, soviel besser und friiher sich einstellen, als wenn man spater
operiert. Die primare Operation, d. h. immittelbar nach der Ver-
letzung, verbietet sich bei den SchuBverletzungen wohl meist
von selbst. Nach meinen Erfahrungen sind die Resultate bei
') Thiemann, M. m. W. 1915, S. 523.
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Schuster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie etc.
341
Friihoperationen (in den ersten 6—8 Wochen) durchaus nicht
immer giinstiger als bei Operationen zu einem spateren Zeitpunkt
(nach 2—4 Monaten), auch besteht dort noch die Gefahr der
Infektion. Der einzige Fall, bei dem unter unseren Operierten
Eiterung eintrat, wurde 5 Wochen nach der SchuBverletzung
operiert. Die chirurgischen Verhaltnisse fiir die Operation in
einem spateren Stadium sind freilich infolge der ausgedehnten
Narbenbildungen nach mancher Richtung hin schlechter geworden.
Immerhin mochte ich, wenn der klinische Befund nicht strikte
Indikationen fiir eine friihere Operation bringt, im allgemeinen
doch glauben, daB man 3—4 Monate ruhig zuwarten kann; in
neurologischer Beziehung sind die Verhaltnisse bis dahin in vielen
Fallen schon besser zu iibersehen. Zu einer allgemeineren Emp-
fehlung der Probeinzisionen, wie sie vielfach empfohlen werden,
habe ich mich nicht entschlieBen konnen. Bei der ungemein
groBen Zahl hierher gehoriger Falle diirfte uns iibrigens die sta-
tistische Verarbeitung derselben nach einem entsprechenden
Zeitraum zu einer scharferen Indikationsstellung beziiglich der
Operationen bei SchuBverletzungen der peripheren Nerven ver-
helfen, als dies heute moglich ist.
Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik
der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
Von
PAUL SCHUSTER.
in Berlin.
(Hierzu Tafel EE u. III.) *
Die Meningitis serosa spinalis circumscripta gehort zu den-
jenigen Krankheiten, deren pathologisch-anatomisclies Substrat
weniger durch das Verdienst der Anatomen als vielmehr durch
das der Kliniker bekannt geworden ist. Nach Adler scheint von
Anatomen lediglich Strobe 1903 in dem Handbuch der patho-
logischen Anatomie des Nervensystems von Flatau-Jacobsohn
deutlich auf die Meningitis serosa spinalis circumscripta (cystica)
hingewiesen zu haben. Die meisten anderen Anatomen, selbst
Virchow haben (vgl. Adler) anscheinend das anatomische Bild
der in Frage stehenden Krankheit nicht beobachtet. Die Griinde
dafiir, daB die Meningitis spinalis circumscripta dem Auge der
Anatomen entgangen ist, wahrend sie von den Klinikem — auch
anatomisch — erkannt und beschrieben wurde, ergeben sich a us
dem Wesen der Krankheit und sollen erst sp&ter erortert werden.
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342 S c h uster, Beitrag zur Kenntius der Anatomie und Klinik
Aber auch die Kliniker wurden erst relativ spat auf das
Krankheitsbild aufmerksam und es dauerte weiter geraume Zeit,
bis sich das neu aufgestellte Krankheitsbild Eingang in die Klinilr
verschaffte. Auch heute hat der klinische und anatomische Sym-
ptomenkomplex noch nicht die Verbreitung und Anerkennung
unter den Neuropathologen gefunden, welche ihm — wenigstens
nach der Meinung eines seiner besten Kenner, Horsleys — ge-
biihrt.
Der englische Forscher halt das Leiden fiir ein relativ hau-
figes, fiir h&ufiger jedenfalls als den Riickenmarkstumor. Da
Horsley, soweit man auf Grand der Literatur hieriiber ein Urteil
gewinnen kann, wohl die meisten Falle von Meningitis circumscripta
spinalis beobachtet hat, so diirfte seine Schatzung derHaufig-
keit des Leidens als ganz besonders zuverlassig gelten. Freilich
darf dabei nicht iibersehen werden, daB Horsley den Krankheits-
begriff anscheinend sehr weit fallt. (Vgl. den Fall XV in der
Oppenheimachen Publikation.)
Jedenfalls gehort Horsley, trotzdem seine Publikation „On
chronic spinal meningitis" erst im Jahre 1909 erschienen ist, zu
denjenigen Autoren, welche das Leiden am langsten kennen
und welchem die Erforschung der Krankheit in erster Linie zu
danken ist. Ca. 11 Jahre vor der Horsleyschen Veroffentlichung
hatte H. Schlesinger schon iiber einen Fall benchtet, welcher
offenbar in die Gruppe der uns hier interessierenden Krankheits-
falle gehort. Bei einem 36jahrigen Mann hatten 9 Jahre hindurch
die klinischen Zeichen der Querschnittskompression bestanden;
der Tod war an einer interkurrenten Krankheit erfolgt. Bei
der Sektion war eine intradurale, 3 cm lange Cyste ventral unter-
halb der Halsanschwellung gefvmden worden.
Auch der von Spiller, Musser und Martin 1903 berichtete
Fall, der offenbar unter die allerersten der gliicklich operativ
behandelten zu rechnen ist, gehort hierher. Der pathologisch-
anatomischen Beschreibung durch Strobe (1903) ist weiter oben
schon gedacht worden. Strobe spricht sich klar iiber die Patho-
genese des hauptsachlichsten Krankheitsproduktes, der zart-
wandigen kleinen subduralen Cysten aus. Er faBt sie als F o 1 g e -
erscheinungen einer chronisch entziindlichen
Abkapselung einzelner Bezirke des Arachnoidalraumes des
Riickenmarks auf und beruft sich bei dieser Erklarung auf ahn-
liche Verhaltnisse innerhalb der cerebralen Meningen. Die Cysten
stehen nach Strobe ihrer Nachbarschaft gegeniiber unter einem
erhohten Druck und wirken infolgedessen wie ein Tumor.
Einen Tumor t&uschte auch der 1904 von Schmidt beob-
achtete Fall vor, welcher mit Erfolg operiert wurde.
Trotzdem, wie wir sahen, bis zur Mitte des vorigen Dezenniums
schon eine ganze Reihe hierhergehoriger Publikationen erschienen
war, war das Krankheitsbild der circumscripten spinalen Menin¬
gitis serosa bei uns ziemlich unbekannt geblieben bis zu den Jahren
1906 und 1907. In diesen Jahren veroffentlichten Oppenheim
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
343
und Krause eine Beihe Von Aufsatzen, durch welche die allgemeine
Aufmerksamkeit auf die Krankheit gelenkt und von nun ab
dauemd auf ihr haften blieb. Ahnliche, wie die von Oppenheim
und Krause gemachten Beobachtungen wurden in den folgenden
Jahren Von Kraufi, de Montet, Adler und K. Mendel, Bruns,
Spiller, Bliji, Munro, Weisenberg und Muller, Fleischmann u. A.
gemackt; auch Oppenheim vervollstandigte seine friiheren Beob¬
achtungen noch weiter im Jahre 1909. Die Kasuistik ist, wie die
obige Zusammenstellung zeigt, einstweilen noch eine recht kleine.
Da auch mikroskopisch untersuchte Falle so gut wie ganz fehlen,
ist es verstandlich, daB vieles in der Pathogenese und Pathologie
der Krankheit noch im Dunkeln ist. Was besonders die Dia-
grose angeht, so kann das Vorliegen der Krankheit zwar heute
vom Kliniker am Krankenbett vermutet, die exakte Diagnose
aber nur in den allerseltensten Fallen gestellt werden. Wie schon
weiter oben kurz erwahnt wurde, ist das Symptomenbild der
Meningitis serosa spinalis demjenigen des Riickenmarkstumors
auBerordentlich ahnlich; die Entwicklung und der Verlauf des
Leidens ahneln zum wenigsten demjenigen des Tumors.
Nachdem wir uns nunmehr kurz iiber das Wesen der in Frage
stehenden Krankheit orientiert haben, soil iiber einen hierher-
gehorigen Krankheitsfall berichtet werden, dessen anatomische
Untersuchung vorgenommen werden konnte. Im AnschluB daran
soil dann eine Reihe der noch unklaren Punkte aus der Patho-
genese, Pathologie und Differentialdiagnose des Leidens erortert
werden.
Der 55j&hrige Kaufmann H. aus Capstadt wurde mir am
7. Januar 1912 von Herm Kollegen Katz vorgestellt. Pat. war
im wesentlichen stets gesund gewesen, hatte keine Lues gehabt,
trank nicht, hatte jedoch friiher stark geraucht.
Vor ca. 3 Jahren trat allmahlich ein Druckgefiihl in der rechten
Schultergegend auf, zu welchem sich etwas spater — etwa vor
2 Jahren — das Gefiihl von Eingeschlafensein, Kriebeln und
Stechen im rechten Arm hinzugesellte. Im Gktober 1911 — also
ca. vor einem Vierteljahr — bekam Pat. nach einer Erkaltung
und starkem Schwitzen lebhafte Schmerzen im rechten Arm. Lang-
sam trat nun eine Bewegungsschwache der rechten Hand und an-
scheinend auch eine Atrophie derselben auf. In der Heimat des
Kranken wurde die Diagnose einer amyotrophischen Lateral-
sklerose gestellt. Storungen des Hautgefiihls machten sich nicht
bemerkbar.
Der Kranke wurde mit Massage und Elektrizitat behandelt,
das Leiden machte jedoch Fortschritte. Von sonstigen nervosen
Beschwerden (Kopf- oder Genickschmerzen) berichtet Pat. nichts.
In den allerletzten Wochen bemerkte Pat. auch vereinzelte
Parasthesien in der linken Schultergegend und im linken Arm.
Jetzt klagt Pat. iiber ziemlich intensives Kriebelgefiihl in
der rechten Schulter und im rechten Arm, iiber starke Schmerzen,
welche stundenweise den rechten Arm befallen und besonders
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344 sch uster, Beit rag zur Kenntnis der Anatomic und Klinik
die Streckseite des Vorderarmes und die laterale Partie des Ober-
armes betreffen. In der linken Schulter und in der linken Hand
verspiirt Pat. die gleichen, wenn auch wesentlich geringeren Be¬
ech werden. Selten hat Pat. Schmerzen im oberen Teil des Biickens.
Die Schmerzen im Riicken und in der Gegend der Schulterbl&tter
nehmen zu, wenn Pat. auf dem Riicken liegt. Die Schmerzen
in der Schulter und im Oberarm steigem sich, wenn Pat. den
Kopf nach hinten beugt, so z. B., wenn er semen Kopf beim Rasieren
auf die Kopflehne legen muB.
Die Untersuchung zeigte einen gut genahrten, kraftigen Mann
von frischem Aussehen. Die rechte Lidspalte und die rechte
Papille waren eine Spur enger als die entsprechenden Gebilde
links. Die Pupillenreaktion und der Augengrund waren normal;
auch war der tibrige Himnervenbefund ein durchaus normaler.
Die Schultergegend war unauffallig. Der rechte Oberarm er-
schien in toto leicht atrophisch, der Oberarmumfang betrug rechts
1 cm weniger als links. Am Vorderarm war die Gegend der Ex-
tensoren besonders atrophisch.
Die lnterossei, der Daumenballen und Kleinfingerballen
waren rechts in mittlerem Grade abgemagert. Die linke Hand
war frei von Atrophien. Die Finger der rechten Hand standen
im Metacarpophalangealgelenk in leichter BeugesteUung, ebenso
in den Interphalangealgelenken. Die aktive Streckung der drei
letzten Finger war nicht moglich, wohl dagegen ihre Beugung.
Fingerspreizung und Abduktion des kleinen Fingers rechts schlecht.
Die Streckung und Beugung der rechten Hand war geniigend.
Die Beugung des Vorderarmes war kraftig, die Streckung nicht
Vollig ausreichend. Die Sensibilit&t fiir Beriihrung, Schmerz,
Temperaturreize war iiberall, besonders auf dem rechten Arm
in Ordnung. Auch die linke Korperseite war frei von jeder Sto-
rung der Sensibilitat. Vasomotorische Storungen fehlten Vollig,
ebenso trophische Storungen der Haut.
Der Tricepsreflex und der Vorderarmperiostreflex waren auf
beiden Seiten gesteigert. Rechts war eine VergroBerte Ellenbogen-
driise fiihlbar. Fibnllare Zuckungen fielen nirgendswo auf. Keihe
Druckempfindlichkeit der Nervenstamme. Bei der elektrischen
Untersuchung ergab sich eine Herabsetzung der faradischen Er-
regbarkeit s&mtlicher Nervenstamme des rechten Armes. Fast
alle Muskeln des rechten Armes waren faradisch direkt erregbar,
faradisch unerregbar war bei direkter Reizung nur der Extens.
digit, communis.
Bei galvanischer Reizung fand sich trage Zuckung im Extens.
digit, communis, in den Interosseis, in dem Abduct, poll, longus
und Extens. poll, longus.
Die Patellarreflexe waren beiderseits gleich und erheblich
gesteigert, die Achillessehnen- und FuBsohlenreflexe waren normal
auslosbar. Kein Babinski. Die Beine w'aren kraftig, ohne Atro¬
phien, der Gang unauffallig. Die Gegend der Querfortsatze
der unteren Cervicalwirbel war leicht druckempfindlich; in den
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
345
Supraklavikulargruben nichts Abnormes. Keine Halsrippe. Der
Organbefund war ohne Besonderheiten. Nnr erschien das Herz
etwas nach links vergroBert und die GefaBwandungen waren
hart. Urin frei von EiweiB und Zucker. Nirgends Zeichen von
Lues. Die von Herm Dr. Katz vorgenommene Rontgenunter-
suchung der Halswirbels&ule und- der Regio supraclavicularis
ergab nichts Pathologisches. Auch die Blutuntersuchung nach
Was8ermann ergab ein negatives Resultat.
Von der Vomahme einer Lumbalpunktion wurde Abstand
genommen, weil keine wesentliche Forderung der Diagnose von
ihr erwartet werden konnte und weil die Vomahme der Punk-
t-ion bei der Moglichkeit eines Tumors des Cervikalmarks von
verschiedenen Seiten ( Nonne , Neumark) als nicht unbedenk-
lich beZeichnet wird. SchlieBlich muB noch hervorgehoben
werden, daB der Untersuchungsbefimd des Patienten stets ab-
solut konstant erschien, daB besonders keine Schwankungen in
dem Verhalten der Reflexe oder in dem Sensibilit&tsbefunde
bemerkt wurde.
Auf Grund der vorstehenden Krankengeschichte wurde der
Patient von mir der chirurgischen Klinik mit folgender Diagnose
iiberwiesen: In unmittelbarer N&he des Riickenmarks, rechts
in der Hohe des 6.—8. Cervikalsegments und ersten Dorsalseg-
ments sitzender extraduraler (?) Tumor.
MaBgebend fiir meine Diagnose waren folgende Punkte:
Ein peripherisches Leiden, welches schon durch die Tendenz der
Erscheinungen zur Doppelseitigkeit und durch das Fehlen eines
raumbeengenden Prozesses (Halsrippe oder dergl.) in der Fossa
supraclavicularis unwahrscheinlich geworden war, konnte an-
gesichts der Steigerung der Sehnenreflexe an Armen und Beinen
ausgeschlossen werden. Gegen eine beginnende amyotrophische
Lateralsklerose oder eine chronische Poliomyelitis sprachen die
sehr erheblichen, konstanten und im Vordergrund des Symptomen-
bildes stehenden Schmerzen. Die gleichen Grtinde sprachen auch
gegen eine beginnende Syringomyelie oder Gliose. Gegen die
letztgenannte Affektion lieB sich auch der Mangel trophischer
und vasomotorischer Hautstorungen und das Fehlen Von Sen-
sibilitatsstorungen, besonders solcher dissoziierter Natur, an-
fiihren. Auch eine atypische multiple Sklerose — die ja manch-
mal schon zu diagnostischen Irrtumem AnlaB gegeben hat — schien
im Hinblick auf die Pragnanz der Wurzelerscheinungen sehr
unwahrscheinlich. Schon per exclusionem kam man somit zur
Annahme eines Tumors. Es braucht nicht weiter ausgefiihrt zu
werden, daB man zu dieser Diagnose erst recht kam, wenn man
statt des negativen den positiven Weg der Betrachtung ging.
Die Differentialdiagnose zwischen intra- und extramedullaren
Sitz des Tumors konnte fast sicher zugunsten des extramedullaren
Sit-zes gestellt werden: Es bestand keineswegs das Bild der Quer-
schnittmyelitis, es fehlten dissoziierte Empfindungsstorungen,
dagegen waren sehr ausgepragt die den Krankheitsverlauf ein-
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346 Sch ustor, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik
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leitenden hinteren und vorderen Wurzelsymptome, besonders
die radikul&ren Atrophien.
Bis hierher schien die Diagnose sich in recht gut gesicherten
Bahnen zu bewegen; ein weiteres diagnostisches Vordringen
war gewagt. Wenn man jedoch beriicksichtigte, daB eine leichte
Druckempfindlichkeit der seitlichen Partien der Halswirbel be-
stand, und daB gewisse Bewegungen des Kopfes die Schmerzen
im Arm und in der Schulter steigerten, so schien dies mehr fur
einen extraduralen als fiir einen intraduralen Sitz Verwertet werden
zu konnen, wenn auch allerdings zu bedenken war, daB ein wichtiges
Kriterium der — dazu noch seltenen — extraduralen Tumoren,
das ausgedehnte Langenwachstum, anscheinend nicht Vorhanden
war. Da die Rontgenuntersuchung kein positives Resultat er-
geben hatte, so muBte der Knochen selbst wahrscheinlich intakt
sein. Man kam somit — wenn man alle angedeuteten Umstande
und vor allem die Tatsache ins Auge faBte, daB die klinischen
Erscheimmgen eigentlich fast nur solche seitens der hinteren und
vorderen Wurzel waren, wahrend Kompressionserscheinungen
des Marks so gut wie vollig fehlten, — zu der Vermutung, daB der
angenommene Tumor rechts seitlich innerhalb des Wirbelkanals
nahe den Austrittsstellen der Wurzeln aus der Dura saBe. Mit
Sicherheit oder selbst nur mit groBer Wahrscheinlichkeit durfte
dieser letzte Teil der Lokaldiagnose freilich nicht gestellt werden,
zumal die Differentialdiagnose zwischen extra- und intraduralem
Sitz eines Tumors allgemein als wenig aussichtsvoll bezeichnet
wird.
Die Hohendiagnose war eine recht einfache, da nur Wurzel¬
symptome — und zwar solche der vorderen und hinteren Wur¬
zeln — zur Verfiigung standen. Die Wurzelsymptome — Schmerzen
im Bereich der unteren Cervikalwurzeln, Atrophien im Gebiet
der unteren Cervikalwurzeln und das okulopupill&re Symptom —
wiesen iibereinstimmend auf die namliche Hohe, das 6.—8. Cer-
vikal- und 1. Dorsalsegment hin.
Bei der Erfolglosigkeit der bisherigen Behandlung und bei
der scheinbaren Sicherheit, mit welcher die Tumordiagnose ge¬
stellt werden konnte, wurde dem Patienten von einer Reihe kon-
sultierter Neurologen ebenso wie von mir selbst die operative Be¬
handlung anempfohlen.
Der Kranke wurde Von Herm Geh. Rat Prof. Bier in der
Konigl. Universitatsklinik am 21. Februar operiert. Die Dorn-
fortsatze vom 4. Halswirbel bis zum 3. Brustwirbel wurden frei-
gelegt. Der Domfortsatz des 7. Halswirbels wurde abgetragen.
An der Dura selbst war nichts Abnormes zu bemerken. Nur er-
schien der ganze uneroffnete Duralsack auffallig breit und au/ierdem
vorgewolbt. Die Dura wurde nun gespalten. Hierbei entleerten
sich mit einem kleinen, schneU versiegenden Strahl ca. 50 ccm (?)
Spinalfliissigkeit. In der Hohe des 1. Dorsalnerven rechts war die
Dura leicht mit den weichen Hauten verwachsen und die Ober-
flache des Riickenmarks wurde vom Operateur als etwas rauh
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
347
und uneben und faserig belegt bezeichnet. AuBerdem bezeichnete
der Operateur die unterste Cervikalwurzel rechts als etwas triiber
und dicker als die entsprechende Wurzel links.
Es wurde jetzt noch der Domfortsatz des 6. Cervikal- und
des 1. Brustwirbels fortgenommen und das Ruckenmark in diesen
Hohen revidiert. Ein Tumor wurde jedoch nirgendwo gesehen
oder gefiihlt. Dann wurde die Dura und ebenso die Muskulatur
und die Haut dicht vernaht.
Der weitere Verlauf war durch eine unmittelbar nach der
Operation einsetzende auffallige Aenderung des Krank-
heitsbildes charakterisiert:
22. II. Die Beine sind vollig gelahmt und gefiihllos, auch die
Arme werden schlecht bewegt. Die friiheren Armschmerzen sind ver-
schvmndeny aber jede Beriihrung beider Arme ist auBerordentlich
schmerzh’aft. Urin kann nicht spontan entleert werden. Puls
120, Temp. 37,5. Pat. ist ftuBerst schwach.
23. II. Temp. 37,5, Puls 100. Lahmungserscheinungen nicht
gebessert.
24. II. Klagt iiber Schmerzen in beiden Armen, Temperatur-
steigerung.
25. II. Bewegt die Arme und H&nde etwas besser. Beine
jedoch noch gelahmt. Temp. 38,8.
26. II. Pat. ist benommen. Temp. 38,5.
27. II. Temp, wieder normal. Klagt iiber Schmerzen in den
Armen, die aber andere seien wie die friiheren. Scheint an den
Beinen jetzt wieder ein wenig zu fiihlen.
28. II. Das Fieber, welches in der letzten Woche zeitweise
bestand, ist jetzt nicht mehr vorhanden, Pat. ist jedoch auBerst
schwach, hat eine sehr trockene, borkige Zunge und macht einen sehr
schlechten Eindruck. Die Beine sind auch heute noch vollig ge¬
lahmt, ihre Sensibilitat fast vollig aufgehoben. Patellar- und
Achillesreflex beiderseits lebhaft, Sohlenreflex fehlt rechts ganz,
links vielleicht eine Spur vorhanden. Bauchreflex fehlt beider¬
seits. Die Arme und Hande werden willkiirlich bewegt, ihre Sen¬
sibilitat ist anscheinend gut erhalten.
Lebhafte spontane Schmerzen in beiden Armen, Klagen
iiber starkes Jucken in beiden Schultern, besonders der rechten.
Willkiirliche Entleerung von Stuhl und Urin aufgehoben, Bauch
aufgetrieben, anscheinend Parese der Darmmuskulatur, Appetit
fehlt vollig; gelegentlich Erbrechen. Genauere Untersuchung
des Patienten unmoglich wegen der enormen Schmerzen, welche
der Kranke bei alien Beriihrungen der Extremitaten empfindet.
29. II. Temp. 36,5, Puls 80. Starkes AufstoBen, Leib ge-
spannt. Einl&ufe werden nicht gehalten. Auf Glyzerinspritze
Stuhl.
1. III. Erster Verbandwechsel. Wunde per piimam geheilt.
3. III. Puls klein, 60 Temp. 35,8. Pat. ist sehr unruhig, klagt
iiber Atemnot. Atmung oberfl&chlich, 20 in der Minute. Koch-
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348 Sch uster, Beitrag zur Kenntiiis der Anatomi© und Klinik
salzinfusion (subkutan). Digalen, Koffein bringen keine Besse-
rung. Zunahme der Herzbeklemmung.
4. III. Friih morgens 4 Uhr Exitus.
Die am 4. Marz 12 Uhr von Herm Prof. Westenhofer vor-
genommene Sektion des Gehims undRiickenmarks ergab im wesent-
Uchen folgendes:
Das Gehim zeigt iiberall eine leichte milchige Trubung der
weichen Haute (alte Leptomeningitis).
Ein Tumor.wurde nirgendwo im Riickenmark oder in dem
Wirbelkanal gefunden. Frische Erweichung des unteren Cerwkal-
marks bis zum 3. Dorsalsegment reichend . In der Hohe des unteren
Cervikalmarks links eine kleine, ca. linsengroBe, etwas eingedriickte
S telle. Alte strangformige, diinne und feine Verwachsung der
weichen und harten Himhaut im Bereiche des Halsmarks auf der
hinteren Peripherie des Riickenmarks. Im Cervikalmark sieht man
auf dem Querschnitt beiderseits in der Gegend der Vorderhomer
— rechts mehr als links — erweichte Stellen mit zahlreichen
KomchenzeUen. Im linken Seitenstrang scheint eine — nicht
weit abwarts reichende — Degeneration zu sein. Operationsstelle
besonders auch die Hautwunde gut aussehend, nicht gerotet.
Das Ruckenmark wurde zur Untersuchung in 10 proz. For-
mollosung gelegt.
Mikroskopisch untersucht wurde das Ruckenmark vom 3. Cer-
vikalsegment bis hinab zum 2. Dorsalsegment. Es wurde die
Weigertsche und die van Giesonsehe und in einigen Hohen auch
die Nifil sche und die Marchische Methode angewendet. Die
mikroskopische Untersuchung des Riickenmarks ergab — wie
die weiter unten folgenden Protokolle zeigen — zwei, offenbar
voneinander unabhangige Reihen Von Veranderungen. Einmal
fanden sich gewisse, sehr in die Augen fallende ganz frische imd
akut entstandene Veranderungen des Querschnittes. Anderseits
lieBen sich & 11 e r e, viel weniger in die Augen springende Verande¬
rungen, besonders auf der rechten Seite des Riickenmarks nach-
weisen.
Die ganz frischen, akut entstandenen Erscheinungen ent-
sprachen offenbar der nach dem operativen Eingriff entstandenen
plotzl chen Aendenmg des Zustandes; die ftlteren Veranderungen
muBten dagegen mit dem urspriinglichen Leiden des Patienten
in Verbindung gebracht werden.
Die Trennung der frischen von den alteren Veranderimgen
Vernrsachte im allgemeinen keine Schwierigkeiten; nur vereinzelt
entstanden Zweifel hinsichtlich des Alters und der Herkunft ge-
wisser Abweichungen von der Norm.
Hohe des 3. Cervikalsegments (Ai/SZ-Praparat).
Keine nennenswerten Ver&nderungen an der Pia, die Riicken-
marksquerschnittsfigur erscheint normal. Auffallig ist die starke
Erweiterung der Fiss. long, anter. imd des perivaskularen Raumes
des von der vorderen Fissur in das linke Vorderhom ziehenden
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Wonalsschrift fur P-s\cnmfrie nrni Neurologic Bd. XXXVII
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349
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GefaBes. In der Mittelzone des rechten Vorderhomes ist eine —
anscheinend durch Ausfall nekrotischen Materials entstandene
— kleine Gewebsliicke (frische Ver&nderung). Gleichfalls frische
Verftnderungen stellen leichte randstandige Erweiterungen der
Oliatna schen und Areolierungen der Peripherie der ganzen weiBen
Substanz dar sowie geringe Kerninfiltrationen langs der Septen
in den Hinterhomern und Hinterstrangen.
Die Zahl der groBen Vorderhomzellen ist beiderseits gleich
und nicht verringert. Fast samtliche Zellen sehen jedoch stark
verklumpt aus und haben keine deutliche Differenzierung zwischen
den Granula und der Zwischensubstanz.
Hohe des 4. Cervikalsegments ( Weigert-van Oieson - Prap.)
Fig. 1, Taf. II—III.
Auch hier fallt wieder die starke Erweiterung der vorderen
Fissur und ebenso die Erweiterung der perivaskularen Raume
in den Vorderhomem auf. Pia nicht verdickt. Rechts in der
hinteren Partie des Vorderhomes und in der Mittelzone sieht
das Gewebe in einem kleinen Bezirk grob siebartig durchlochert
aus. Hier hat das Gewebe die Farbe nicht genugend angenommen.
(Anscheinend frische nekrotische kleine Partien.) Die Vorder¬
homzellen sind beiderseits in geniigender Anzahl vorhanden und
von ziemlich unauffalligem Aussehen (van Gieson ); extramedullare
vordere und hintere Wurzeln rechts und links unauffallig. WeiBe
Substanz in der Peripherie spurweise areoliert.
Im rechten Hinterstrang, in der Mitte zwischen Hinterhom
und hinterem Septum, eine keulenformige geringe Aufhellung
(Glia hier leicht Verdickt und infiltriert). Im linken Hinterstrang
findet sich an einer symmetrischen Stelle die Andeutung einer
Aufhellung. Auf W et#er£-Pr¶ten sieht man, daB die Lich-
tung rechts und links durch einen geringen Faserausfall bedingt
wird.
Hohe des 5. Cervikalsegments ( Weigert-van Giason-Praparate)
Fig. 2, Taf. II—III.
Die Pia ist hier im ganzen eine Spur verdickt. Die extra-
spinalen Wurzeln, sowohl die vorderen als auch die hinteren*
sind anscheinend unversehrt und fftrben sich bei Weigert kraftig.
Auch hier fallen wieder die erweiterte Fiss. anterior und ebenso
die groBen Gewebsspalten auf, welche die GefaBe iiberall um-
geben. Bemerkenswert ist, daB in dieser Hohe ein Unterschied
in der GroBe der Vorderhorner sich zu zeigen beginnt: das ganze
rechte Vorderhom ist in seinem antero-posterioren Durchmesser
ein wenig schmaler als das linke. Das Vorderhom sieht infolge-
dessen etwas zusammengedriickt aus. AuBerdem ist der mediale
Teil des rechten Vorderhorn 3 auf Weigrcrf-Praparaten ein wenig
faaerarmer als der mediale Teil des linken Vorderhorns. Die Degene-
rationszone in den Hinterstrangen verhaJt sich ebenso wie in C 4 ,
hat nur C 4 gegeniiber an Intensitat zugenoramen.
Die Betrachtung der Vorderhomzellen auf van Gieaon-Vt&-
paraten ergibt, daB in imgefahr der Hftlfte der Schnitte das rechte
Mon.Uschrift f. Psychiatric u. Neurologle. Bd. XXXVII. Heft <i. 23
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3ol) Schuster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomic rind Klinik
Vorderhorn suspekt erscheint. Manchmal war die laterale Zell-
gruppe rechts sehr wenig zellreich und die Zellen dieser Gruppe
waren geschrumpft, manchmal waren rechts in der medialen
Gruppe mehrere geschrumpfte Zellen sichtbar. Auf andern Pra-
paraten dagegen war das rechte Vorderhorn ebenso wie das linke
unauffallig hinsichtlich der Zellanzahl und des Aussehens der
Zellen.
Hohe des 6. Cervikalsegments ( Weigert - und van Gieson-
Praparate) Fig. 3, Taf. II—III.
Der Ruckenmarksquerschnitt ist auffallig platt und breit.
Die ganze rechte Halfte des Querschnittes erscheint besonders
abgeflacht und sieht seitlich leicht zugespitzt aus. Das rechte
Vorderhorn ist deutlich kleiner als das linke; der von der Mitte
zur Seite verlaufende Durchmesser ist dabei nicht verkleinert,
sondern lediglich der anteroposteriore Durchmesser. In seinen
lateralen Teilen sieht das Vorderhorn wie zusammengedriickt
aus. Auch das Hinterhorn ist rechts kleiner und besonders schmaler
als links, doch ist der GroBenunterschied zwischen rechts und links
am Hinterhorn weniger auffallend. Das rechte Vorderhorn ist
auf vielen — nicht auf alien — Schnitten weniger zellreich als
das linke, besonders betrifft dies die vordere mediate Gruppe.
Die vorhandenen Vorderhornzellen sehen nicht selten ge¬
schrumpft aus; dies gilt iibrigens auch fur die Zellen des linken
Vorderhorns. Trotzdem muB das Aussehen der Zellen im all-
gemeinen — besonders im Hinblick darauf, daB nur van Gieson-
Praparate zur Verfiigung stehen — als geniigend bezeichnet wer-
den. Die Aufhellungszone, welche inC 4 imrechten Hinterstrang
begann und in C s deutlicher wurde, ist in C» kaum mehr sichtbar,
dagegen ist die entsprechende Zone im linken Hinterstrang
jetzt deutlicher gelichtet als in C 6 .
Die extraspinalen vorderen Wurzeln sind auf einigen Wei-
gert- Schnitten etwas blaB, die hinteren Wurzeln sind demgegen-
iiber samtlich durchaus intakt. Die GefaBe der grauen Sub-
stanz, besonders des rechten Vorderhorns, sind stark gefiillt,
desgleichen in den extraspinalen Wurzeln. Im Mittelbezirk der
grauen Substanz links ist eine kleine ganz frische Blutung. Daran
anschlieBend zeigt der linke Seitenstrang in seinen dem Mittel-
und Hinterhorn angelagerten Teilen eine starke Quellung und
teilweisen Zerfall der Markscheiden sowie Erweiterung der Glia-
maschen (frische Veranderung). Der Markscheidenzerfall nimmt
jedoch nur eine ganz geringe Ausdehnung in der Langsrichtung
•des Ruckenmarks ein, die Pia ist unerheblich verdickt.
Hohe des 7. Cervikalsegments (Weigert-, Marchi-, van Gieson-,
JVi/M-Praparate) Fig. 4, Taf. II—III.
Weigert- Praparate: Auch hier erscheint der ganze Riicken-
marksquerschnitt ziemlich platt. In dieser Hohe beginnen die
schweren frischen Veranderungen. Bei Weigert erscheint die ganze
auBere Halfte des rechten Seitenstranges — mit Ausnahme einer
ganz schmalen, weniger befallenen Randzone — fast imgefarbt.
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
351
Die Markscheiden sind hier fast samtlich zerflossen oder stark
gequollen und in Zerfall begriffen. Ahnliche viel kleinere Herde
eines frischen Zerfalls sind im rechten und linken Hinterstrang
und im rechten Vorderstrang. Das rechte Vorderhom ist kleiner
und im anteroposterioren Durchmesser abgeplattet gegeniiber
dem linken. Im linken Hinterstrang keine Aufhellungszone,
dagegen im rechten Hinterstrang unmittelbar an dem Hinter-
hornrand eine ganz schwach gelichtete Stelle.
Die extraspinalen vorderen und hinteren Wurzeln sind in-
takt. Das rechte Hinterhom erscheint deutlich schmaler als
das linke.
Bei Marchi (Fig. 8, Taf. II—III) tritt die Differenz zwischen
der GroBe des Vorder- und Hinterhorns rechts und links deutlich
zutage. Das groBe Gebiet des rechten Seitenstranges, welches
bei Weigert fast farblos erschienen war, erscheint bei Marchi mit
Fettkomchenzellen besetzt.
Im rechten Vorderhom weniger Zellen als im linken. Im Hinter¬
strang und Vorderstrang rechts ganz kleine runde frische Herde.
Auf der rechten Seite weniger austretende vordere Wurzelfasem
als links.
Auf van Gieson -Praparaten (Fig. 9, Taf. II—III) treten be-
sonders gut die stark gefullten GefaBe in dem erkrankten rechten.
Seitenstrang hervor. Der leicht verdickten Pia in der Gegend der
hinteren Langsfissur aufgelagert sieht man eine krausenartige
Bildung, welche allem Anschein nach aus strangartigenWucherungen
besteht. Die Wucherungen sind aus derbem faserigem, kerna^mem
Gewebe zusammengesetzt, welches lamellenartig angeordnet ist.
Das Gewebe wird von seltenen GefaBen mit stark fibros verdickten
Wandungen durchzogen. Bisweilen ist das Lumen der GefaBe
vollig verschwunden.
(Diese zwischen Pia und Dura liegenden Bildungen entsprechen
offenbar den sowohl bei der Operation wie auch bei der Sektion
festgestellten feinen Rauhigkeiten und Strangen.)
Die Nifil -Praparate des 7. Cervikalsegments entstammen
einer etwas tieferen Lokalisation innerhalb des Segments als
die iibrigen Schnitte. Auf den Ai/JZ-Praparaten tritt abgesehen
von der frisch erkrankten Partie im rechten Seitenstrang noch
ein anderer groBerer, ganz frisch entstandener EntzundungsprozeB
zutage. Derselbe betrifft den vorderen Teil des linken Seiten-
und Vorderseitenstranges und setzt sich bis in die SuBeren Teile
des Vorderhoms fort. Hier ist auch eine kleine Blutung. Auch
in diesem Entziindungsherd sind massenhafte Fettkomchenzellen.
Der zuletzt beschriebene Entziindungsherd erstreckt sich — ebenso
wie zwei ganz kleine weitere, beiderseits in den Hinterstrangen
neben der Medianlinie — offenbar nur sehr wenig nach oben und
nach unten hin.
Im rechten Vorderhom sieht man in der Hohe der Nifil-
Praparate zwar geniigend zahlreiche Zellen. Die meisten der
Zellen sind geschrumpft und haben die Farbe iibermaBig stark
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352 Sch uster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik
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angenommen (site Veranderungen), nur die geringere Anzahl
der Zellen erscheint blaB und gebl&ht (frische Veranderungen).
Keine einzige Zelle im rechten Vorderhom erscheint bei Nifil
normal. Im linken Vorderhorn sind die lateralen Teile — mit
ihnen auch die Zellen — durch den frischen ProzeB zerstort; in
den medialen Gruppen sind einige — geschrumpfte und verklumpte
— Zellen vorhanden. Es muB betont werden, daB der frische
EntziindungsprozeB auf der rechten Seite des Ruckenmarks
nicht so nahe an das rechte Vorderhom heranreicht, daB man
die Zellver&nderungen des rechten Vorderhoms durch die Nach-
barschaft des Prozesses im Seitenstrang erklaren konnte.
Hohe des 8. Cervikalsegments ( Weigert- und won Oieson-
Praparate) Fig. 5, Taf. II—III.
Die rechte Halfte des Querschnittes ist etwas schmachtiger
als die linke; das Manko kommt in erster Reihe auf Rechnung
der grauen Substanz des Vorderhorns der rechten Seite. In den
Hinterstr&ngen sind die gelichteten Partien, welche in den hoheren
Segmenten vorhanden waren, nicht mehr zu sehen. Ausgedehnte
frisch erkrankte Bezirke mit Aufquellung der Markscheide, Er-
weiterung der Gliasepten und Markzerfall sind in den lateralen
hinteren Seitenstrangteilen. Auf proximaleren Schnitten des
8. Segments findet sich auBerdem noch ein groBer frischer, stark
mit Fettkomchen durchsetzter Herd, welcher links vom Vorder-
seitenstrang aus seitlich ins Vorderhom zieht. Mehrere kleine
Herdchen sind im rechten Seitenstrang; fast die ganze weiBe
Substanz sieht leicht areoliert aus. Beide Vorderhomer haben
geniigend zahlreiche Zellen, die Zellen sind jedoch fast alle (offen-
bar frisch) geblaht und gequollen und zeigen keine Granula mehr.
Viele der mittelgroBen GefaBe haben homogen aussehende ge-
quollene Wandungen, alle GefaBe sind stark gefiillt, besonders
diejenigen der grauen Substanz. In der Basis des linken Hinter-
horns und in der Peripherie des linken Hinterstrangs findet sich
eine kleine ganz frische Blutung. Die Pia ist im ganzen wohl etwas
mehr als in den hoheren Segmenten verdickt; die von ihr aus-
gehenden Septen sind gleichfalls etwas verdickt.
In der Mitte der hinteren Zirkumferenz des Querschnittes
sieht man auch hier die bei dem vorigen Segment beschriebene
krausenartig zusammengeschnurrte derbe, stark faserige Ge-
websbildung mit ziemlich groBen GefaBen, deren Wandungen
auBerst stark verdickt sind.
Die hinteren extraspinalen Wurzeln sind duschaus intakt.
Von den vorderen Wurzeln sehen einige — besonders links —
sehr diinn aus und haben die Farbe bei Weigert schlecht an¬
genommen.
Hohe der 1. Dorsalwurzel (Weigert- und van Gteacm-Pra-
parate) Fig. 6, Taf. II—III.
Die Querschnittfigur des Ruckenmarks hat keine deutliche
Abplattung mehr, jedoch erscheint das rechte Vorderhom auch
in dieser Hohe im antero-posterioren Durchmesser kleiner als das
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
353
linke. Die frisch erkrankten Partien der weiBen Substanz nehmen
auch hier wieder lediglich die Peripherie ein und betreffen fast
die ganze Zirkumferenz des Riickenmarks mit Ausnahme des
rechtsseitigen Vorderseitenstranges. Die Pia ist iiberall gleich-
maBig leicht verdickt und nur vereinzelt — so an den Vorderen
Wurzeln — sieht' man leichte SeptenVerdickungen von der Pia
in die weiBe Substanz ziehen. Die GefaBwandungen sind leicht
verdickt und die GefaBe — vor allem in der Pia — abnorm an-
gefiillt. Die krausenartige Auflagerung auf die Mitte der hinteren
Zirkumferenz ist hier nicht mehr vorhanden.
Mehrere ganz frische Blutungen in oder an der grauen Sub¬
stanz; eine etwas ausgedehntere lateral neben dem linken Hinter-
horn.
Die Vorderhornzellen sehen auf beiden Seiten in der Mehrzahl
blasig gequollen, geblaht aus und haben einen randstandigen
{oder iiberhaupt keinen) Kern. Zwischen diesen frisch erkrankten
Zellen sind — vorzugsweise im rechten Vorderhom — einige ge-
schrumpfte und sehr stark tingierte Zellen sichtbar, welche keine
Einzelheiten der Struktur mehr erkennen lassen.
In einigen Praparaten ist die Zahl der lateralen Vorderhom-
zellen rechts erheblich geringer als links, jedoch besteht dieser
Unterschied nicht in alien Schnitten.
Die hinteren Wurzeln sind vollig normal, dagegen sind in
den vorderen geringe Faserausfalle. Die Hinterstrange zeigen nur
ganz minimale, kaum sichere Lichtungen, beiderseits symme-
trisch neben der Mittellinie.
Hohe des 2. Dorsalsegments (Weigert- und van Gieson-'Pi&-
parate) Fig. 7, Taf. II—III.
Ein Unterschied in der GroBe und Konfiguration der beiden
Ruckenmarkshalften besteht nicht, allerdings ist auch in dieser
Hohe das rechte Vorderhorn etwas schmachtiger als das linke.
In den Hinterstrangen sind keine alte Lichtungen und Aufhellungen
vorhanden.
Die Intensitat der frischen Erkrankungsherde hat sich gegen-
iiber D x Verringert. Aber auch in D, sind noch erhebliche frische
Entziindungs- und Erweichungsherde sichtbar: In den lateralsten
Partien des rechten Seitenstranges und ebenso des linken Seiten-
stranges sieht man segment- oder sektorformige Gebiete mit auf-
gequollenen und zerfallenen Markscheiden, zahlreichen Fett-
kornchenzellen und gefiillten GefaBen.
Im linken Hinterstrang ist eine frische kleine Blutung. Die
Pia erscheint nur unerhebhch verdickt, nur in der Gegend und
um die hinteren Wurzeln sind deutliche Verdickungen, welche
zum Teil krausenartig gefaltet sind. Die extraspinalen Wurzeln
sind normal.
Die Vorderhornzellen sind in vielen — allerdings nicht in
alien — Schnitten links zahlreicher als rechts. Beiderseits sieht
man nicht seiten aufgequollene, kernlose (frisch erkrankte) Zellen.
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354 S c h uster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik
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Fassen wir die vorstehenden anatomischen Protokolle zu-
sammen, so ergibt sich:
Das Biickenmark ist in der Hohe zwischen C 6 und D t abge-
plattet, besonders in seiner rechten H&lfte. Die graue Substanz
und in erster Linie das Vorderhom ist auf der rechten Seite er-
heblich schmachtiger in der Ausdehnung von C 5 bis D 2 . Die Zahl
der Vorderhomzellen ist auf der Strecke C 5 bis D 2 rechts etwas
kleiner als links; allerdings ist der Zellausfall kein sehr groBer
und nicht auf alien Praparaten gleichmaBig ausgepr> am
sichersten ist der Zellausfall in C fl und C 7 , weniger sicher in D,
und D 2 ; in C 8 erschienen auf beiden Seiten die Vorderhom¬
zellen gleich zahlreich. Fast nirgendwo ist das Aussehen der Vor-
derhornzellen ein normales; Von C 3 ab bis zu den obersten Brust-
segmenten finden sich Zellveranderungen. In den hoheren Ab-
sohnitten bis hinab zu dem 7. Cervikalsegment dominieren offen-
bar altere (und geringgradigere) Veranderungen (Schrumpfung
und Verklumpung), dagegen herrschen auf der Strecke C 8 bis
D 2 die frischen Zellveranderungen (starke Blahung, Aufquellung)
vor.
In den Hinterstrangen sind auf kurze Strecken unerhebliche
Lichtungen vorhanden, welche sich fundamental von den frischen
Veranderungen der Seitenstrange unterscheiden. Die deutlich-
sten dieser Aufhellungen sind im 4. und 5. und 6. Cervikalsegment
und entsprechen allem Anschein nach der auf eine kurze Strecke
aufsteigenden sekundaren Degeneration einer hinteren Wurzel.
(Allerdings wurde die zugehorige hintere Wurzel nicht gefunden.)
Die extraspinalen hinteren Wurzeln erscheinen iiberall in
alien Hohen, durchaus normal und intakt. Von den vorderen
Wurzeln sind diejenigen des 6. und 8. Cervikal- rmd 1. Dorsal-
segments etwas suspekt. Sie zeigen leichte Faserausfalle und
erscheinen stellenweise bei Weigert etwas blaB. (Es soli jedoch
ausdriicklich betont werden, daB auf diese Wurzelveranderungen
kein Wert gelegt wird und daB die Wurzelaufhellungen nicht
sicher als krankhaft aufgefaBt werden.)
DievordereLangsfissur und die die GefaBe umgebenden Lymph-
spalten sind ganz besonders im obersten Cervikalmark erwei-
tert. Eine erhebliche Piaverdickung besteht nirgends, jedoch
ist eine ganz leichte piale Verdickung Von der Hohe des 6. Cer-
vikalsegments ab nicht in Abrede zu stellen. Zu dieser Verdickung
addiert sich noch die weiter oben als ,,halskrausenartig“ charakte-
risierte bindegewebige Verdickung, welche in der hinteren Peri¬
pherie des Querschnittes der Pia aufgelagert ist. Die GefaBe sind
durchweg stark gefiillt. Im untersten Cervikal- und obersten
Brustmark sind die Wandungen der kleinen PiagefaBe vielfach
erheblich verdickt. Die ziemlich groBen GefaBe, welche die
,,Halskrause c ‘ durchziehen, haben eine erhebliche Wandver-
dickung. Ganz frische kleine Blutungen finden sich in groBer
Zahl, hauptsachlich in der grauen Substanz.
Die ausgedehntesten Veranderungen zeigen in alien Hohen
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
355
die Seitenstrange. In C 3 —C 6 erscheinen die Randpartien nur leicht
siebartig gelichtet, auf der Strecke von C a bis D x dagegen sind
groBe Bezirke der Seiten- und Vorderseitenstrange schwer betei-
ligt. Stellenweise gehen die Veranderungen auf das linke Vorder-
hom iiber (C 7 ). In D 2 stellen die erkrankten Partien mir noch
einige Rreissegmente und Kreissektoren dar, welche von der
Peripherie der weiBen Substanz ausgehen.
Es entsteht nun die Notwendigkeit, die gefundenen anato-
mischen Veranderungen mit dem klinischen Befunde zusammen-
zubringen. Dies soil zuerst nur ganz im allgemeinen, ohne die
Berucksichtigung von Einzelheiten geschehen. Halten wir das
Ergebnis der Klinik und dasjenige der anatomischen Unter-
suchung gegeneinander, so gewahren wir sofort, daB zweifellos
ein erhebliches quantitatives MiBverhaltnis zwischen beiden
besteht: den sehr stark ausgesprochenen und vielfaltigen Mark-
veranderungen entspricht kein ausreichender klinischer Befund
— wenigstens kein vor der Operation erhobener. Die massigen
anatomischen Veranderungen in den Seitenstrangen konnen nur
mit dem Zustand des Patienten nach der Operation, mit den akuf
einsetzenden und schweren Ldhmungserscheinungen auf motori -
schem und sensiblem Qebiet , in Zusammenhang gebracht werdefr.
DaB diejenigen anatomischen Veranderungen, welche nach Ab-
zug der genannten noch iibrig bleiben, dem urspriinglichen Krank-
heitsprozeB zugehoren, werden wir weiter Unten sehen. Vorab
geniige die Feststellung, daB in dem anatomischen Befund zwei
Reihen Von Veranderungen auseinander gehalten werden miissen:
der eine, am meisten in die Augen springende Teil der Verande¬
rungen entspricht den postoperativen Symptomen, der andere,
unscheinbarere Teil, den urspriinglichen klinischen Erscheinungen.
Wenn wir zu dem gleichen SchluB, daB namlich neben den
alten Veranderungen des Riickenmarks auch frische vorhanden
seien, auch schon auf Grund der bloBen Betrachtung der mikro-
skopischen Praparate gekommen waren, und wenn wir dem-
gemaB in den weiter oben gebrachten Protokollen auch schon
vieKach zwischen alten und frischen anatomischen Storimgen
unterschieden hatten, so muB diese UntersCheidung doch jetzt
vervollstandigt \md fur alle gefimdenen Veranderungen durch-
gefiihrt werden. Erst wenn dies geschehen ist, konnen wir den
Versuch machen, das ursprungliche Krankheitsbild des Patienten
anatomisch zu begriinden.
Die Sonderung der alten von den frischen anatomischen
Veranderungen ist fur das Gros des Befundes leicht.
Um mit der ziemlich stark in die Augen fallenden, (wenn auch
fur die Auffassung und Deutung des Krankheitsbildes weniger
wichtigen) besonders rechterseits ausgepragten Abplattung des
Riickenmarksquerschnittes und mit der — der rechtsseitigen
Abplattung ziemlich parallel gehenden — Verschmalerung des
rechtsseitigen Vorderhoms zu beginnen, so muB zuerst dem Ver-
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356 Schuster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomic und Klinik
dacht nachgegangen werden, ob es sich bei diesen Veranderungen
nicht etwa um Artefakte handelt, welch© moglicherweise bei der
Hartung und Preparation entstanden sein konnten, Dieser Ver-
dacht ist unbegriindet: Zuerst sei daran erinnert, daB schon bei
der Operation , also intra vitam, das Riickenmark durch seine
Breite auffiel. Auch muB betont werden, dafi bei der Hartung
des Riickenmarks selbstverstandlich sorgfaltig darauf geachtet
wurde, daB das Organ vor jedem Druck u. dergl. bewahrt war.
DaB ferner nicht die in einigen Segmenten bestehenden frischen
Erweichungen der weiBen Substanz, — die sich bei der Formalin-
hartung moglicherweise anders als die normale weiBe Substanz
verhalten und infolgedessen die Querschnittsfigur verschieben
konnten, — die Ursache fur die festgestellten Assymmetrien
sein konnten, ergibt sich daraus, daB die Differenzen
zwischen rechter und linker Halfte des Querschnittes sich
auch in solchen Segmenten fanden, in welchen iiberhaupt
nichts von frischen Erweichungen zu sehen war, sowie daraus,
daB in denjenigen Hohen, welche frische Erweichungszonen
aufwiesen, dies© bald rechts , bald links , bald beiderseits saBen,
wahrend die Verschmalerung des Querschnittes und besonders
diejenige der grauen Substanz immer nur rechts saB. SchlieBlich
spricht doch auch der Umstand gewiB gegen das Vorliegen eines
Artefaktes, daB gerade die verschmalerte rechte Seite des Quer¬
schnittes es war, welche sich bei der mikroskopischen Unter-
suchung als diejenige der starksten Zellveranderungen offenbarte.
Aus dem Gesagten ergibt sich schon, daB die geschilderten
Differenzen zwischen den beiden Seiten der Cervikalanschwellung
als alte Ver&nderungen angesprochen werden miissen.
Zu den alteren Veranderungen gehort weiter eine Erschei-
nung, welche wahrscheinlich in einem gewissen Zusammenhang
mit der vorhin besprochenen Abplattung des Riickenmarksquer-
schnittes steht, nfi.mlich die fast uberall zutage tretende gleich-
maBige Erweiterung der vorderen Fissur imd der perivaskularen
Raume. Auf die Entstehung dieser Veranderungen werden wir
noch weiter unten zuriickzukommen haben.
DaB die von C 4 bis C 6 sichtbaren Aufhellungszonen in den
beiden Hinterstrangen gleichfalls alt und nicht frisch sind, kann
mit Sicherheit angenommen werden. Sie stellen die einzigen
systemartigen oder wenigstens angedeutet systemartigen ana-
tomischen Veranderungen des Falles dar und sehen schon auf den
ersten Anblick vollkommen verschieden von den spater noch zu
besprechenden frischen Veranderungen aus. Es fehlen bei ihnen
alle frischen Abbauprodukte, Fettkornchenzellen, Markzerfall
usw. vollkommen; man gewahrt vielmehr auf Markscheidenprfc-
paraten lediglich eine ziemlich gleichmaBige Aufhellung gewisser
Hinterstrangbezirke und sieht auf van 6?ie*on-Praparaten, daB
eine leichte Vermehrung des die Nervenfasern umgebenden Stiitz-
gewebes stattgefimden hat.
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
357
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Schwerer zu beurteilen sind die Zellveranderungen in den
Vorderhornem hinsichtlich ihres Alters. Auch hier wird man
einen Teil der Erkrankungen als relativ alt anzusprechen haben,
namlich diejenigen Zellen, welche geschrumpft und verklumpt
aussehen. Derartige Zellen finden sich hauptsachlich im oberen
Cervikalmark — und zwar rechts sowohl als links.
Auch den Zellausfall, welcher sich besonders in dem rechten
Vorderhom des 5., 6. und 7. Cervikalsegments geltend macht,
wird man als eine relativ alte Erscheinung ansehen miissen.
Schauen wir uns nunmehr nach den frischen anatomischen
Veranderungen ura, so miissen wir als solche in erster Reihe die
erheblichen in den Seitenstrangen konstatierten Erweichungen
des unteren Cervikalmarks und des obersten Brustmarks sowie
die vereinzelt auch im Hinterstrang befindlichen Veranderungen
ansprechen. Die Quellung der Markscheiden, der Zerfall des Marks,
das massenhafte Auftreten von Fettkornchenzellen und andem
Zellen, die ganz frischen Blutungen: alles dies laBt keinen Zweifel
an der Richtigkeit unserer Auffassung zu. Die zirkumskripten
kleinen runden Stellen im Hinterstrang einzelner Segmente,
welche auf Weigert- Pr¶ten ganz hell aussehen, entsprechen
durchaus den Querschnitten der bekannten ,,nekrotischen Stifte",
wie man sie nach Traumen des Riickenmarks beobachtet. Auch
die kleineren Entzundungsherde in der grauen Substanz, welche
gelegentlich zu punktformigen NekTosen gefiihrt haben, sind
offenbar jungen Datums. Jungen Datums sind schlieBlich auch
diejenigen Zellerkrankungen in den Vorderhornem der beiden
untersten Cervikal- und des obersten Dorsalsegments, welche
sich als Zell blahtingen mit Kemverlust, Homogenisierung des
Zelleibes usw. pr&sentieren.
Wir haben bis jetzt zwei Reihen von Veranderungen noch
nicht hinsichtlich ihres Alters untersucht: namlich die gering-
fiigigen Veranderungen an der Pia und die Erscheinungen an den
GefaBen.
Betreffs der geringfiigigen aber in ihrer Konstanz doch wohl
sicheren Piaverdickung wird sich ein vollig sicheres Urteil aus
dem histologischen Befunde allein kaum gewinnen lassen. Denn
es sind sowohl rein faserige Stellen vorhanden, als auch solche,
in welchen sich zellige Elemente finden. Wenn man aber bedenkt,
daB sich schon bei der Operation ebenso wie spater bei der Sektion
makroskopisch diinne piale Gewebsstrange in der Hohe des Cer-
vikalmarkes zeigten, wahrend gleichzeitig die cerebrale Pia getriibt
aussah, so wird man zu dem SchluB kommen, daB die bei der mikro-
skopischen Untsrsuchung festgestellten spinalen Veranderungen der
Pia wahrscheinlich zum groBeren Teile alteren, und nur zum ganz
geringen Teil jiingeren Datums sind. Zweifellos von erheblichem
Alter sind die lamellenartig angeordneten , ,krausenformigen‘*
Gewebsstrange, die dorsal zwischen Pia und Dura liegen. Das
geht nicht nur aus der auBerst derben kemarmen Beschaffenheit
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358 s c h uster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik
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ihres Gewebes, sondem auch aus dem Aussehen der groBen, sehr
dickwandigen GefaBe hervor, welche die Krause durchziehen.
Die sonstigen GefaBveranderungen sind offenbar nicht ein-
heitlich zu beurteilen. Neben den Zustanden frischer kongestiver
GefaBfullung ohne Wand verander ungen innerhalb der weiBen
und grauen Substanz sieht man altere, in Gestalt derber Wand-
verdickungen sich darstellende Verander ungen, welche unbedingt
— wie die eben genannten GefftBe der ,,Halskrause“ — viel alter
sein miissen.
Nachdem wir eine Scheidung zwischen frischen und alten
Befunden vorgenommen haben, miissen wir jetzt den weiter
oben schon begonnenen Versuch, die einzelnen anatomischen
Veranderungen hinsichtlich ihrer Beziehungen zum klinischen
Verlauf zu priifen, fortsetzen.
Wenn wir mit den als frisch gekennzeichneten anatomisclien
Befunden beginnen, so kann man bei ihnen wohl eine Beziehung
zu dem urspriinglichen anatomischen ProzeB und den urspriing-
lich vorhanden gewesenen klinischen Symptomen ausschlieBen.
Es ist schlechterdings imdenkbar, daB die ausgedehnten Be-
zirke von Markzerfall und Erweichung in den Seiten- und Vorder-
seitenstrangen des Halsmarks — dies sind die wiehtigsten der
frischen Veranderungen — vor der Vornahme der Operation be-
standen haben und klinisch latent geblieben sein sollten.
Wenn wir uns umgekehrt fragen, welche klinischen Erschei-
nungen man als Korrelat der konstatierten frischen Verande¬
rungen hatte erwarten sollen, resp. welcher Anteil der bis zum
Tode des Patienten beobachteten Symptome am ehesten auf
die frischen anatomischen Befunde zuriickzufuhren sei, so werden
wir unbedingt zu dem SchluB gedrangt, daB die plotzliche und
schwere Anderung des Krankheitsbildes, welche ca. 10 Tage
vor dem Tode einsetzte, mit den in Frage stehenden anato¬
mischen Veranderungen zusammenhangt. Bis zu dem Augenblick
der Operation waren keine nennenswerten Seitenstrang- und
Hinterstrangsymptome vorhanden gewesen, nach der Operation
dagegen traten schwere Lahmungserscheinungen und schwere
Sensibilitatsstorungen seitens der Arme und Beine auf und die
Urinentleerung war gestort. Die genannten Storungen waren
so konstant imd blieben bis zum Tode im wesentlichen so un-
verandert, daB sie schon ante exitum kaum mehr als postope¬
rative ,,Kommotionserscheinungen‘‘ gelten konnten, sondem als
grob anatomisch begriindet angesehen werden muBten. Wir werden
also nicht fehl gehen in der Annahme, daB infolge der unver-
meidlichen Manipulationen und Zerrungen, denen das Riicken-
mark wahrend der Operation ausgesetzt war, ein akuter Mark¬
zerfall in dem durch die urspriingliche Erkrankung vielleicht
besonders geschwachten Organ hervorgerufen wurde. Fur diese
Auffassung spricht auBer dem schon Gesagten auch der Umstand,
daB die myelitische Erkrankung uberall deutlich von der Peri¬
pherie zum Zentrum vordrang und besonders ausgepragt in den-
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 359
jenigen Segmenten war, welche der Operationshohe entsprachen.
Auch die zahlreichen kleinen, ganz j ungen Blutungen sowie die
frischen Zellerkrankungen in den Vorderhomem von C 8 , D, und
D 2 fiigen sich zwanglos unserer Auffassung. DaB die myelitisehen
Veranderungen in der weiBen Substanz keine sekundaren Degene-
rationen hervorgerufen haben, ist ohne weiteres verstandlich,
wenn man bedenkt, daB der Kranke nur 11 Tage nach der Ope¬
ration lebte. Es mag schlieBlieh noch bemerkt werden, daB die
frischen Veranderungen unseres Falles durchaus denjenigen ent-
sprechen, wie man sie bei Wirbelsaulenschiissen mit bloBer Fern-
wirkung der Geschosse auf das Riickenmark sieht.
Wir wollen jetzt auch fur die anatomischen Veranderungen,
welche wir als alte angesprochen haben, die Entstehung festzu-
stellen suchen. Dabei miissen wir von denjenigen Befunden aus-
gehen, welche schon bei der Operation erhoben werden konnten;
denn ohne sie bleibt der Sektionsbefund unklar. Bei der Ope¬
ration erschien der ganze noch uneroffnete Duralsack auffallend
breit und dick und bei der Eroffnung der Dura spritzte eine ge-
wisse Menge Liquor wie eine Fontane unter hohem Druck heraus.
Es fanden sich endlich schon bei der Operation leichte Verwach-
sungen der Dura mit den weichen Hauten sowie eine gewisse
Rauhigkeit und Unebenheit der Pia. Bei der Sektion war von
der — anscheinend lokalen — Drucksteigerung des Liquor begreif-
licherweise nichts mehr zu sehen; es fanden sich iibrigens bei
der Sektion auch keine Anzeichen fur das Vorhandensein einer
aUgemeinen Drucksteigerung des Liquor. Wohl jedoch notierte
der Obduzent — in Obereinstimmung mit dem Befunde des Ope-
rateurs — ganz feine alte Verwaehsungen im Bereich des Cer-
vikalmarks und — als recht wichtigen Befund — eine milchige
Triibung der weichen Haute des Gehirns.
Wenn wir die bei der Operation und die nachher sowohl
bei der Sektion als auch bei der mikroskopischen Untersuchung
festgestellten Veranderungen zusammenhalten, so kommen wir
zu dem SchluB, daB intra vitam in der Hohe des unteren Cervikal-
marks eine hochstwahrscheinlich abgekapselte Erweiterung der
Riickenmarkshaute, also eine cystenartige Bildung, bestanden
habe. Die Wande der Cyste wurden offenbar zum Teil gebildet
durch feine kulissenartige Strange und Verwaehsungen, von denen
die Operation und die Sektion nur noch die Reste hat zutage
fordem konnen. Der Cysteninhalt bestand aus gestautem Liquor.
Unsere Deutung entspricht durchaus derjenigen des Anatomen
Strobe . Strobe prazisiert seine Auffassung folgendermaBen: ,,solche
Cvsten, welche wohl als Folge chronisch entziindlicher Abkaps-
lung einzelner Bezirke des Arachnoidalraumes zu deuten sind,
konnen auf ihre Umgebung komprimierend wirken und es kann
das Mark entsprechend ihrem Sitz leicht eingedellt sein.“
Die Bildung der Verwaehsungen zwischen den Riickenmarks-
hauten und damit die Entstehung der cystenartigen Liquor-
ansammlimg waren das Resultat einer chronischen spinalen
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3(30 S c liuster, Beit rag zur Kenntnia der Anatomie und Klinik
Arachnitis des unteren Cervikalmarks. Dies© mit Cystenbildung
einhergehende Arachnitis des Rfickenmarks darf bei der patho-
logisch-anatomischen Beurteilung des Falles nicht isoliert, sondem
nur im Zusammenhang mit den alten cerebralen Piatrfibungen
betrachtet werden: Wir haben es ofienbar mit einer
alten e n t z ii n d 1 i c h e n Erkrankung der weichen
Haute, sowohl des Hirns als auch der oberen
Rfickenmarksabschnittezutun.welchesich von
a nd er n c hr on isc h en E n t z find u ngen der Haute
dadurch auszeichnet, dad siezu einer lokalen
Liquorstauung und zur cystenartigen A b -
kapselung des Liquors gefiihrt hat.
Auf Grand dieser Auffassung lassen sich die meisten der
,.alten“ Ver&nderungen unseres Falles hinreichend erkl&ren.
Die Abplattung des Riickenmarksquerschnittes, welche beson-
ders die rechte Seite betroffen hatte und hier zu einer Zuspitzung
der lateralen Konvexitftt gefiihrt hatte, ist ersichtlich auf den
Brack der abgekapselten Liquormenge zuriickzufiihren. Auf
die gleiche Ursache wird auch die Erweiterung der perivasku-
laren R&ume und des vorderen L&ngsspaltes zu beziehen sein.
Schwerer erkl&rlich sind die ftlteren Ver&nderungen der Vor-
derhomzellen, welche sich besonders in den oberen und mittleren
Cervikalsegmenten (rechterseits anscheinend mehr als links)
fanden. Da das Gewebe in der Umgebung dieser Zellen im wesent-
lichen intakt war, und besonders keine alten entziindlichen Ver-
anderungen zeigte, so liegt es nahe, die Verklumpungen und
Verkleinerungen der Vorderhornzellen nur als den Ausdruck einer
Drackatrophie auffassen, welche infolge des lang bestehenden
Cystendruckes zur Entwicklung gelangt ist und der Abplattung
des ganzen Riickenmarksquerschnittes parallel geht. (Die — be¬
sonders in der Operationshohe stark ausgesprochenen — friachen
Zellerkrankungen haben genetisch nichts mit dem Cystendruck
zu tun.)
Es bleiben von sicher alten Ver&nderungen des nervosen
Gewebes nur noch die geringen Hinterstrangsver&nderungen zu
erkl&ren. Sowohl die Form der Querschnittsfigur der atrophischen
Hinterstrangpartie als auch die Beschr&nkung der Ver&nderung
auf zwei bis drei Segment© weist darauf hin, daB es sich um sekun-
d&re Degenerationen handelt, welche mit Erkrankungen verein-
zelter hinteren Wurzeln in Zusammenhang stehen. An dieser
Erkl&rung der Hinterstrangsver&nderungen wird man festhalten
miissen, trotzdem es nicht gelang, die erkrankte hintere Wurzel
selbst ausfindig zu machen. Denn eine andere Entstehungsursache
als eine aufsteigende Degeneration l&Bt sich fiir die sich fiber
zwei Segment© erstreckende minimale Hinterstrangserkrankimg
kaum denken. DaB die Wurzelaffektion selbst nicht gefunden
wurde, ist wohl dadurch zu erkl&ren, daB keine Serienschnitte
angefertigt worden waren. Obrigens spricht die Unauffindbarkeit
der prim&r erkrankten hinteren Wurzel gleichfalls daffir, daB
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361
der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
es sich nur um ganz unerhebliche Wurzelverander ungen gehandelt
haben kann.
Als Entstehungsursache der postulierten vereinzelten Wurzel-
erkrankung werden wir fraglos gleichfalis die Druckwirkung des
Liquor spinalis ansprecben diirfcn; die Annahme einer derartigen
Einwirkung kann auf keine Schwierigkeit stoBen, da wir wissen,
daB bei allgemeiner Drucksteigerung des Liquor cerebrospinalis
— z. B. beim Hirntumor — recbt haufig Veranderungen an
zahlreichen hinteren Wurzeln gefunden weriden. Die in C«, C 8
und Dj gefundenen geringen Verdiinnungen und Lichtungen
einzelner vorderer Wurzeln miissen nach dem Gesagten gleich-
falls auf eine Schadigung durch Druckwirkung zuriickgefiihrt
werden.
Bis jetzt haben wir den klinischen und den anatomischen Be-
fund nur ganz im allgemeinen und in groBen Ziigen einander
gegeniibergestellt: Wir haben lediglich gefolgert, daB das bei der
ersten Untersuchung des Patienten festgestellte Krankheitsbild
des Ruckenmarkstumors auf die Anwesenheit einer umschriebenen
Fliissigkeitsansammlung innerhalb der Riickenmarkshaute zu-
ruckzufiihren war, daB dagegen die akut entstandenen schweren
motorischen und sensiblen Lahmungssymptome im Bereich aller
4 Extremitaten den frischen Entziindungs- und Erweichungs-
erscheinungen der weiBen Substanz entsprechen. Wir wollen ims
jetzt mit den Einzelheiten des klinischen Befundes befassen und
ihre anatomische Begriindung festzustellen suchen.
Die ca. 3 Jahre vor der ersten von mir vorgenommenen Unter¬
suchung einsetzende allm&hliche Entwicklung der Symptome
ist verstandlich. Den ersten Anfangen der haupts&chlich rechts
lokalisierten spinalen Leptomeningitis entsprachen offenbar das
Druckgefiihl und die iibrigen leichten Par&sthesien in der Schulter-
gegend. Die Leptomeningitis, die zuerst nur die Gegend des 5. und
6. Cervikalsegments betraf, setzte sich spater nach abw&rts fort,
demgemaB traten die anf&nglich auf die Schulter beschrankten
abnormen Sensationen spater auch in den distaleren Teilen der
Extremitat auf. Die von dem Kranken deutlich angegebene
und betonte akute Verschlimmerung nach starkem Schwitzen
brachte zuerst das Symptom wirklicher Schmerzen. Wahrschein-
lich trat nach einer damals allem Anschein nach iiberstandenen
Erkaltung zuerst eine deutliche Absperrung des Liquor cerebro-
spianlis infolge frischer seroser Exsudation auf. Erscheint der
klinische Verlauf bis zu diesem Punkte auf Grund des anatomi¬
schen Befundes hinreichend durchsichtig, so entstehen dem Ver-
standnis jetzt dadurch Schwierigkeiten, daB die konstatierten
anatomischen Veranderungen den klinischen Symptomen gegen-
iiber zu geringfiigig erschienen. Fur das dauernde Fortbestehen
der erheblichen Schmerzen im rechten Arm gibt der Sektions-
befund keine geniigende Erklarung. Da es sich bei den Schmerzen
offenbar um ein radikulares Symptom handelte, so durfte man
mit einer gewissen Sicherheit eine erhebliche Erkrankung einer
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362 s c h uster, Beitrag ziir Kermtnis der Anatomie und Klinik
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oder mehrerer hinterer Wurzein erwarten. Demgegeniiber hat
die anatomische Untersuchung keine nennenswerten Verande-
rungen an den extramedullaren hinteren Wurzein ergebeu. Aller-
dings haben wir aus den auf 2—3 Segmente beschrankten uner-
heblichen Degenerationszonen im Bereiche der Hinterstrange
den SchluB gezogen, daB dennoch eine leichte Erkrankung einer*
oder zweier hinterer Wurzein vorhanden sein miisse, welche sich
der anatomischen Feststellung entzogen habe, Aber selbst wenn
wir diese Annahme als bewiesen ansehen, so bleibt es noch immer
unwahrscheinlich, daB eine ganz geringgradige Wurzelerkrankung
die intensiven und dauernden Schmerzen hervorgerufen haben
solle.
Angesichts dieser Sachlage konnen wir uns nur vorstellen,
daB die starken radikularen Schmerzen auf eine dauernde Reizung
der extramedullaren Wurzein durch den hohen und standig zu-
nehmenden Druck — mit dessen Mechanik wir uns noch spater
zu beschaftigen haben werden — zuriickzufiihren sind. Die Ent-
wicklung und der innere Bau der — wie man annehmen muB —
von Strangen imd Gewebskulissen durchzogenen Cyste gestatten
die Annahme, daB die hinteren Wurzein dauernd gegen eine
straffere Unterlage — etwa gegen diq gespannte. Dura — gedriickt
oder gar abgeknickt wurden, ohne daB anderer^eits die Abknickung
eine so Starke war, daB sie eine erhebliche Degeneration der Fasem
erzeugt hatte. (Ubrigens findet sich nur bei Horsley eine Mit-
teilung iiber das Befallensein der spinalen Wurzein.) jl as in den
letzten Wochen vor dem Eintritt des Patienten in meine Behand-
lung erfolgte Dbergreifen der Schmerzen auf den linken Arm
spricht nicht gegen unsere soeben geltend gemachte Auffassxmg.
Ahnlichen, wenn auch nicht ganz so groBen Schwierigkeiten
begegnet die Erklarung der Paresen und Atrophien im Bereiche
der rechten oberen Extremitat. Es muB zuerst festgestellt werden,
daB die ganz unerheblichen Aufhellungen vereinzelter vorderer
extramedullarer Winzeln in der Hohe C 6 , C 8 , D x bei weitem keine
geniigende Erklarung fur die — wenn auch nicht maximalen —
so doch recht deutlichen Muskelatrophien auf der Streckseite
des rechten Vorderarms und fur die Atrophie der kleinen Hand-
muskeln geben. Die konstatierten Vorderhornveranderungen da-
gegen sind hierzu eher imstande. In C 5 , C 6 , C? imd D! erschien
einmal die Zahl der Vorderhornzellen rechts zum mindesten
verdachtig auf Ausfalle, auBerdem waren in den genannten Hohen
sichere alte Zellveranderungen nachweisbar — allerdings meist
auf beiden Seiten. (Die sichere Beurteilung der Vorderhornzellen
war dadurch erschwert, daB sich vielfach offenbar auf die alten,
frische postoperative Zellveranderungen aufgepfropft hatten.)
Die Schwierigkeit besteht nun darin, zu entscheiden, ob die be-
schriebenen alten Zellveranderungen und die Zellausfalle als
geniigende anatomische Unterlage fur die Muskelatrophien an-
zusehen sind.
Legen wir den bei andem spinalen Amyotrophien (Polio-
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
363
myelitiden, Syringomyelien) gewonnenenMaBstab an die in unserem
Falle gefundenen Zellveranderungen, so ergibt sich, daB die
Zellveranderungen unseres Falles quantitativ als auffallend ge-
Ting im Vergleich zu den bei sonstigen spinalen Amyotrophien
gefundenen bezeichnet werden miissen. Zur befriedigenden Er-
klftrung des klinischen Bildes wird man sich deshalb nach etwaigen
weiteren Momenten umsehen miissen, welche moglicherweise
als Hilfsursachen fur die Ausfalle im Bereich des peripherischen
motorischen Neurons in Betracht kommen konnten. Da liegt
die Annahme nahe, daB die durch den Fliissigkeitsdruck der Cyste
hervorgerufene, vorzugsweise die rechte Riickenmarkshalfte be-
treffende, Abplattung des Riickenmarks, welche in ihrer Hohen-
lokalisation (C 6 bis Dj) vollkommen den motorischen Ausfalien
entsprach, derart schadigend auf das Vorderhom und moglicher¬
weise auch auf die vordere Wurzel eingewirkt habe, daB trotz
relativ geringfugiger histologischer Veranderungen erhebliche kli-
nische Storungen resultierten. Ebenso wie fiir das Zustandekommen
der jstarken Schmerzen wird man demnach auch fiir das Zustande¬
kommen der motorischen Symptome ein dynamisches Moment,
den Kompressionsdruck der Fliissigkeit, als unterstiitzend wirk-
sam annehmen miissen.
DaB in unserem Falle eine Anzahl anatomischer Befunde, be-
sonders Veranderungen des linken Vorderhoms erhoben wurde, fiir
welche im Gegensatz zu den soeben besprochenen Verhaltnissen
ein deutlicher klinischer Ausdruck fehlte, ist kaum auffallig.
Denn weder die Zell ausfalle noeh die alten Zellveranderungen des
linken Vorderhornes waren erheblich; anderseits fehlte die auf
der rechten Seite so deutliche Verkleinerung der ganzen Vorder-
homsubstanz links vollkommen.
Wie erinnerlich zeigten auch die sensiblen Formationen der
linken Riickenmarkshalfte leichte Veranderungen, namlich geringe
Hinterstrangaufhellungen in C 4 bis C 6 . Diese linksseitigen Hinter-
strangveranderungen, welche in ihrer Konfiguration vollkommen
denjenigen des rechten Hinterstranges entsprachen, miissen ebenso
wie diese — und aus den gleichen Griinden — wahrscheinlich
mit ganz leichten Hinterwurzelausfallen in Zusammenhang ge-
bracht werden, trotzdem solche anatomisch nicht nachgewiesen
werden konnten. Als klinischen Ausdruck jener (moglicherweise
der Untersuchung entgangenen) Wurzelveranderungen waren die
Parasthesien zu betrachten, welche sich in der afierletzten Zeit
im Bereich der linken oberen Extremitat und Schulter bemerkbar
gemacht hatten.
t)ber die okulopupillaren Symptome braucht angesichts
der bis ins obere Brustmark herabreichenden Vorderhomverande-
rimgen ebenso wenig gesprochen werden, wie iiber die Reflex-
steigerung an oberen und unteren Extremit&ten.
Ein Symptom verdient jedoch noch eine kurze Besprechung,
weil es allem Anschein nach diagnostisch eine gewisse Rolle spielen
kann: ich meine die von dem Patienten ausdriicklich betonte
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364 Sch u s t e r , Beitrag zur Kenntnig der Anatomic und Klinik
Steigerung seiner Arm- und Schulterschmerzen bei gewissen Kopf-
bewegungen. Vor kurzem hat Meyer in Wurzburg (in der Berl. klin.
Wochenschr. v. 31. VIII. 1914) eine Arbeit veroffentlicht, in welchem
er tiber ein neues Symptom bei Armneuralgien berichtet. Das von
Meyer gemeinte Symptom bezieht sich auf die Brachialneural-
gien und besteht darin, daB eine Steigerung der Schmerzen ein-
tritt, sobald der Kopf stark z u r ii c kgebeugt wird. Es handelt
sich also um genau die gleiche Erscheinung, welche mir bei meinem
an zirkumskripter spinaler Meningitis serosa leidenden Kranken
aufgefallen war. Aus der Obereinstimmung der Afeyerschen
imd meiner eigenen Beobachtung, resp. aus der Eigenart der ganz
charakteristischen subjektiven Angaben der Patienten ist ohne
weiteres zu entnehmen, daB es sich in der Tat — wie Meyer an-
nimmt — um ein irgendwie anatomisch begriindetes, und nicht
um ein Zufallsymptom handelt. Meyer glaubt, daB das Symptom
durch Zerrung des Brachialplexus zustande kommt. Demgegen-
iiber halte ich es im Hinblick auf den anatomischen Befund des
vorliegenden Falles, bei welchem sich alle anatomischen Ver-
anderungen innerhalb des Duralsackes abspielten, fur wahrschein-
licher, daB das Symptom durch besondere mechanische Ver-
haltnisse hervorgerufen wird, welche innerhalb der Ruckenmarks-
haute zur Geltung kommen. Ohne mich an dieser Stelle in eine
ausfiihrliche Besprechung der Meyerschen F&lle einzulassen,
mochte ich die Meyerochen Falle zum Teil als Stiitze fiir
meine Auffassung verwerten. Denn ich hege auf Grund der von
Meyer mitgeteilten Krankengeschichten den Verdacht, daB ein
Teil der Falle jenes Autors moglicherweise gleichfalls an — weim
auch abortiven — exsudativen Prozessen innerhalb des Dural¬
sackes gelitten haben mogen. Der giinstige Verlauf der Falle
spricht keinesfalls gegen meine Auffassung. t)brigens nimmt
Meyer selbst bei einigen seiner mit Muskelatrophien, Paresen
und Sensibilitatsstorungen einhergehenden „NeuraJgien“ einen
radikidaren Sitz an und halt sie offenbar fiir sehr hoch sitzende
Neuritiden. Dber den genaueren Entstehungsmodus der Schmerz-
steigerung bei der Einnahme der „Rasierstellung des Kopfes“
wage ich nur Vermutungen anzustellen. Ich stelle mir vor, daB
es sich dabei um eine Art radikularen Inkarzerationssymptoms
oder Abknicksymptoms handelt (ahnlich dem, wie ich es fiir die
Entstehung der permanenten Schmerzen in unserem Falle an-
genommen habe), welches irgendwie mit der Volums- und Ge-
staltsveranderung der intraduralen Cyste bei den Bewegungen
der Halswirbelsaule zusammenhangt.
Die Empfindlichkeit der in der Tiefe des Wirbelkanals liegen-
den Gebilde gegeniiber den die Wirbelfortsatze treffenden mecha-
nischen Einwirkungen wird im vorliegenden Falle durch die kon-
stant angegebene Druckempfindlichkeit der unteren Halswirbel
bewiesen.
Wenden wir uns nunmehr, nachdem wir die hauptsachlichsten
Punkte unserer Beobachtung besprochen haben, zu den in der
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
365
Literatur niedergelegten Beschreibungen ahnlicher Falle, so konnen
wir konstatieren, daB auch in den bisher beobachteten Fallen
die Pathologie der von der Cyste ausgehenden Druckwirkung
nicht vollig aufgeklart worden ist. Besonders auffallig erscheint
es den Autoren ( Horsley , Oppenheim), daB die klinischen Erschei-
nungen in der Begel einseitige sind, wahrend doch die cystische
Anftreibung des Meningealsackes anf beide Riickenmarkshalften
wirke.
Auch Wei/ienbury betont die — wenigstens anf&ngliche —
Einseitigkeit der Symptome, hebt dagegen umgekehrt die diffuse
Wirkung des Cystendruckes hervor. Die von Oppenheim gegebene
Deutung der Druckwirkung der meningealen Cyste im allgemeinen,
daB namlich durch die Verwachsungen zwischen den Riickenmarks-
hauten ein Teil des Liquors abgesperrt werde und dadurch ein
Druck ausgeiibt werden konne, ist klar und wird von alien Autoren
in der namlichen Weise gegeben. Die groBte Schwierigkeit sieht
Oppenheim darin, daB der Druck streng einseitig auf das Riicken-
mark wirken konne, und daB die Fliissigkeit nicht nach oben
ausweiche. Beide Schwierigkeiten scheinen mir geringer zu
sein als der genannte Autor annimmt. Denn die Absperrung
des Liquors durch Zwischen- und Querkulissen kann, wie mein
Fall beweist, zweifelsohne eine derartige sein, daB der Cysten-
inhalt vorwiegend eine Riic kenmarkshalf te driickt. Man kann
sich femer recht gut vorstellen, daB die Verwachsungen gelegent-
lich ahnlich den Venenklappen als Ventile wirken, welche
wohl den Fliissigkeitsstrom in die Cyste hinein-, ihn jedoch nicht
wieder hinauslassen. DaB derartige komplizierte Mechanismen
bei der Sektion oder bei der Operation kaum aufgedeckt werden
konnen, leuchtet ohne weiteres ein; daB sie aber angenommen
werden miissen, zeigt die deutlich vorwiegend einseitige Abplattung
des Halsmarks in unserem Falle. tlbrigens fand auch Horsley
in alien seinen Fallen eine Verschmalerung des Riickenmarks.
Bei der Wiirdigung der bisher gefundenen, nur wenig in die
Augen fallenden anatomischen Veranderungen darf man nicht ver-
gessen, daB die makroskopische Betrachtung w & h -
rend der Operation oder gar bei der Sektion
iiberhaupt kaum geeignet ist, uns eine Anschauung
von den wirklichen Druckverhaltnissen der Cyste w&hrend
des Lebens zu geben. Denn bei der Operation sind ja die
Riickgratshohle und der Duralsack von der einen Seite her
eroffnet und bei der Sektion fehlt der von den Gef&Bwftnden
und der Herztatigkeit geschaffene Blutdruck sowie der Druck
der iibrigen Fliissigkeitsmassen. SchlieBlich ist — wenigstens
gegeniiber den Verhaltnissen am Kadaver — noch erwahnenswert,
daB die Erwarmung des Cysteninhalts auf Korpertemperatur
den Cystendruck intra vitam etwas groBer macht, als er bei der
Sektion erscheint. Zieht man alle die genannten und ahnliche
Momente in Betracht, so wird man sich recht gut mechanische
Verhaltnisse denken konnen, unter welchen ein streng lokalisierter
Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 6 . 24
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366 Schuster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik
ewseitiger Druck seitens einer meningitischen Cyste auf das
Riickenmark ausgeiibt wird. Die Schwierigkeiten fiir das Ver-
standnis der Druckwirkung der meningitischen Cysten scheinen
mir deshalb geringer zu sein als Oppenheim anzunehmen geneigt
ist. (DaB die postmortale Anderung des Fliissigkeitsdruckes des
Liquor cerebrospinalis gegeniiber den Verhaltnissen intra vitam
verandernd auf gewisse klinisch feststellbare Phanomene wirkt,
glaube ich vor einer Reihe von Jahren (1899) an einem Beispiel
gesehen zu haben, als ich fand, daB das Bruit de pot fel6 am
Schadel eines Tumorkranken, welches unmittelbar vor dem Tode
noch deutlich vorhanden gewesen war, n a c h dem Tode verschwun-
den war.)
Eine mangelnde Kongruenz zwischen dem klinischen Bilde
und dem autoptischen Befunde zeigte auch der Kraufi sche Fall,
dessen Zugehorigkeit zur Meningitis spinalis cystica mir ubrigens
etwas zweifelhaft erscheint. In diesem Falle hatte der Krank-
heitsprozeB den Riickenmarkskanal nicht verengt und das Mark
nicht affiziert; trotzdem hatten die Zeichen der Querschnitts-
lasion bestanden.
Der Krau jfische Fall, welcher anatomisch durch das Vorhanden-
sein einer — anscheinend von den Wirbeln ausgehenden und bis
an den Riickenmarkskanal hinanreichenden — Cyste charakte-
risiert war, fiihrt uns zur Besprechung der Frage, ob die mit Cysten-
bildung einhergehende Entzundung der weichen Riickenmarks-
haute eine idiopathische, von irgendwelchenEntzundungsvorgangen
benachbarter Gewebe tmabhangige Erscheinung sein kann — wie
dies z. B. von Spitter, von Weifienburg und MuUer u. A. angenommen
wird — oder ob die cystische Arachnitis nur als Begleiterscheinung
einer entweder medullaren oder duralen, reap, spondylitischen
Affektion vorkommen kann. Der nichtidiopathischen, sondern
sekundaren Genese der Mening. cyst, spinalis scheint die Mehr-
zahl der Autoren zuztmeigen. Horsley hat wiederholt das Leiden
als Begleiterscheinung einer Meningogliosis beobachtet; Oppen¬
heim, Kraufi und andere Autoren haben Falle beschrieben, in
weichen sich die Affektion zusammen mit einer Wirbelaffektion
oder auch zusammen mit einem intrameduUaren Leiden (Syringo¬
myelic, Gliosis) vorfand. Auf der andern Seite haben — wie schon
angedeutet — einige Autoren z. B. Weifienburg und MuUer und
auch Bruns das Leiden vollig isoliert, ohne jedes b^leitende
spondylitische oder medullSxe Symptom gesehen und geben
ausdriicklich ihrer tJberzeugung Ausdruck, daB die Men. spinalis
cystica durchaus sdbslandig und isoliert auftreten kann.
Wenn auch das bisher vorliegende Material noch keine sichere
Entscheidung daruber treffen laBt, welche der beiden Auffassungen
die zutreffende ist, so scheint doch unser eigener Fall eher zu-
gunsten der Annahme zu sprechen, daB die Arachnitis eine pri-
m&re, idiopathische Erkrankung sein kann, welche weder von
einem spondylitischen noch einem medullaren ProzeB auszugehen
braucht. Dabei mtissen wir allerdings fiir unseren Fall die Bin-
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
367
schr&nkung machen, da(3 die spindle Legalisation des arachni-
tischen Prozesses hochstwahrscheinlich eine sekundare war. Denn
es liegt doch angesichts der in unserem Falle konstatierten cere-
bralen Piatrubung der Verdacht sehr nahe, daB die spinale Affek-
tion sich im AnschluB an die cerebrale entwickelt habe, reap,
nur eine Teilerscheinung eines allgemeinen cerebrospinalen Pro¬
zesses darstelle.
Wie dem aber auch sein mag , soviet steht jedenfaUs jest, daft
das Vorkommen intramedvllarer Verdnderungen neb en denjenigen
der Meningitis cyst, spinalis keinen Grund dafiir abgeben kann,
die Zugehorigkeit eines derartigen FdUes zu dem in Frage stehenden
Krankheitsbild zu beanstanden.
Unter den in der Literatur als Mening. cystica spin, beschrie-
benen Fallen finden wir solche, welche viel erheblichere intra-
medullare Veranderungen darbieten als die in unserem Falle ge-
fvmdenen.
Diejenigen intramedullaren Veranderungen xmseres Falles,
welche als erhebliche zu bezeichnen sind, waren — wie wir gesehen
haben — ganz frischer postoperativer Natur; sie kommen also
bei der Frage der Angliederung unseres Falles an das Krankheits¬
bild der Meningitis serosa iiberhaupt nicht in Betracht. Die ein-
zigen hierbei in Betracht kommenden intramedullaren Verande¬
rungen unseres Falles waren ziemlich geringfiigig und betrafen
einmal die isolierte, sich iiber nur zwei Segmente erstreckende
Hinterstrangslichtung, anderseits die Abplattung des Riicken-
marks. Da diese Veranderungen — ganz abgesehen von ihrer
relativen Unerheblichkeit — nur als Begleit- und Folgeerschei-
nungen des sich innerhalb der weichen Ruekenmarkshaute ab-
spielenden entziindlichen Prozesses gelten konnen, so ergibt sich,
dap das Wes entliche der anatomischen Veranderungen unseres
Falles in dem mit Cystenbildung einhergehenden extramedvUaren
Proze/i zu erblicken ist, und es ergibt sich daraus weiter — nomi-
natio jit a potiori — die Zugehorigkeit des Falles zu der Gruppe
der Falle der Meningitis cystica spinalis.
Im Gegensatz zu meiner soeben geauBerten Auffassung
konnte man moglicherweise zu der Vermutung kommen, es handle
sich bei der Cystenbildung run den sekundaren, und bei den spi-
nalen Veranderungen um einen primdren, etwa mit Schrumpfung
einhergehenden ProzeB. Diese Vermutung ware angesichts der
histologischen Befunde nicht aufrecht zu halten: In keinem ein-
zigen Praparat fand sich irgend welche Retraktion oder Sklero-
sierung des medullaren Gewebes oder etwas Ahnliches, vielmehr
hatte man uberall gleichmaBig den Eindruck, daB von der hin-
teren Peripherie her, besonders rechterseits, das Riickenmark
zusammengepreBt werde. tJbrigens mag bei dieser Gelegenheit
darauf hingewiesen werden, daB Horsley und Montet in ihren Fallen
gleichfalls eine Abplattung des Markes beobachteten. Wenn ich
somit annehme, daB in meinem Falle — ebenso wie in manchen
andern — der meningitische ProzeB ein primarer war, so bleibt
24*
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368 So huster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik
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immer noch die Frage nach der Natur der Arachnitis. Manche
Autoren sehen in der Lues, andere in der Tuberkulose die Haupt-
atiologie des Prozesses. Horsley denkt abgesehen von der Syphilis
auch an die Gonorrhoe. An eine traumatische Atiologie glaubt
Horsley auffalligerweise nicht. Demgegeniiber scheinen mir ein
von Krau/i und ein von Weisenburg und Muller beobachteter
Fall eine traumatische Atiologie recht wahrscheinlich zu machen.
Der Kraufische Kranke hatte sich beim Sprung aus einem Wagen
genau an der Stelle verletzt, an welcher spa-ter die offenbar vom
Wirbel ausgehende Cyste lokalisiert war und in dem Weisenburg-
schen Fall war das Leiden nach einem Fall aufs GesaB zur Ent-
wicklung gelangt. Soweit man vom rein klinischen — nicht durch
eine operative oder autoptische Kontrolle korrigierten — Stand-
punkt aus sich ein Urteil bilden kann, mochte ich mit Weisen¬
burg die traumatische Atiologie im Gegensatz zu Horsley fur re-
lativ haufig halten. So glaube ich wiederholt unter meinem
UnfaUbegutachtungsmaterial Krankheitsfalle gesehen zu haben,
bei welchen sich im AnschluB an ein Riickentrauma ein Krank-
heitsbild entwickelt hatte, dessen langsame Entwicklung und
Symptomatologie ich jetzt am ehesten der Meningitis circumscripta
spinalis cystica zuschreiben mochte. Zugunsten einer trauma-
tischen Atiologie der chronisch verlaufenden Arachnitis cystica
sprechen nicht am wenigsten auch unsere wahrend des Kxieges
gemachten Erfahrungen. Von Marburg , Bauer u. A. sind Falle
einer akuten Arachnitis cystica circumscripta nach Riicken-
schussen beschrieben worden. Dbrigens sehe ich keinen Grand,
der sich a priori gegen eine traumatische Genese geltend machen
lieBe; im Gegenteil lassen sich manche klinische Erfahrungen
aus dem Gebiete der cerebralen Meningitis — z. B. das Vorkommen
traumatischer kleiner zirkumskripter cerebraler Meningitiden bei
Kindern — recht gut fur das analoge Vorkommen der spinalen
Meningitis verwenden.
Die Betrachtung der cerebralen Meningen scheint mir nicht
nur hinsichtlich der genannten Analogien von Wichtigkeit fur
die Beurteilung der spinalen zirkumskripten Meningitis. Ich ver-
mute vielmehr auf Grand des von mir beobachteten Falles, daB
die zirkumskripte spinale Meningitis haufig nur eine Teilerschei-
nung einer allgemeinen, sowohl das Gehirn als auch das Riicken-
mark beteiligenden, also cerebrospinalen Meningitis ist, deren
cerebraler Anteil von vomherein einen gutartigen, milden Verlauf
zeigt und klinisch eventuell verborgen bleiben kann. Auch in
unserem Falle hat die vom Obduzenten notierte geringe milchige
Trubung der weichen cerebralen Hirnhaut, nach der sorgfaltig
erhobenen Anamnese zu urteilen, offenbar niemals erhebliche
klinische Erscheinungen gemacht.
DaB bei dem schlieBlichen Zustandekommen des klinischen
Bildes der spinalen Meningitis cystica auch Erkaltungen, fieber-
hafte Zustande und ahnliche Momente insofern eine Rolle spielen
konnen, als sie latente Rrankheitszustande zuerst bemerkbar
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
369
werden oder wieder aufleben lassen, halte ich im Hinblick auf
analoge Beobachtungen bei der cerebralen serosen Meningitis
fair recht wahrscheinlich. Unser Kranker gab auf das bestimm-
teste an, daB sich sein Zustand nach starkem Schwitzen im Oktober
1911 erheblich verschlimmert habe.
In ahnlicher Weise beobachtete Oppenheim einen Patienten,
bei welchem die ersten erheblichen Rrankheitserscheinungen
plotzlich nach einer Erkaltung auf der Jagd auftraten.
Wir miissen uns jetzt noch mit den klinischen Symptomen
der Meningitis serosa spinalis circumscripta, besonders mit der
Differentialdiagnose gegeniiber dem Tumor beschaftigen. Wir
haben gesehen, daB die Symptome des Leidens im wesentlichen
auf die Steigerung des lokal erhohten intraduralen Druckes zu
beziehen sind. Hieraus ergibt sich ohne weiteres die nahe Ver-
wandtschaft des klinischen Bildes mit demjenigen des spinalen
Tumors. Die Ahnlichkeit der beiden Krankheitsbilder ist so groB,
daB SpiUer und — bei kleineren Cysten — auch Weisenburg eine
Unterscheidung der beiden Krankheiten fiir unmoglich halten.
Auch Oppenheim hebt wiederholt die auBerordentlichen Schwierig-
keiten der Differentialdiagnose hervor. In auffalligem Gegen-
satz zu der Meinung der iibrigen Beobachter steht die Ansicht
Horsleys , daB einige deutliche Unterschiede zwischen den beiden
genannten Symptomenbildem vorhanden seien. Horsley meint,
daB sowohl die motorischen Erscheinungen als auch der Schmerz
und die Sensibilitatsstorungen soweit diese Symptome keine
Leitungs- (Strang-) symptome seien, nicht so sehr einzelne Wurzel-
bezirke betrafen als vielmehr game Extremitaten , also mehrere
Wurzelbezirke. Er begriindet diesen angeblichen symptomato-
logischen Unterschied gegeniiber dem Tumor damit, daB bei
der Meningitis nicht — wie beim Tumor — eine einzelne Wurzel
bedrangt wiirde, sondern ganze Wurzel gruppen. Oppenheim halt
die Horsleysche Ansicht nicht fiir zutreffend. Auch ich habe mich
weder bei der Durchsicht der bisher beschriebenen Falle noch bei
dem Studium meines eigenen Falles von der Richtigkeit des ge¬
nannten differentialdiagnostischen Momentes iiberzeugen konnen.
Gegen die Horsleysche Auffassung, daB der Druck der meningi-
tischen Cyste im Gegensatz zu dem Druck eines langsam wach-
senden Tumors nicht eine einzelne Wurzel, sondern ganze Wurzel-
serien befalle, spricht a priori schon die — von Horsley selbst be-
tonte — haufige Einseitigkeit der klinischen Erscheinungen.
Denn die Einseitigkeit der Symptome beweist doch, daB die
Drackwirkung der Cyste — mag sie nun als Zerrung, als Ab-
klemmung oder sonstwie aufzufassen sein — sich bei der Meningitis
• cystica ebenso zirkumskript und lokal begrenzt geltend machen
kann wie beim Tumor. Als einen weiteren differentialdiagnostischen
Unterschied gegeniiber dem Tumor fiihrt Horsley den Umstand
an, daB bei der Meningitis niemals trophische Storungen in der
Haut auftraten. Auch dieser Satz scheint keine unbedingte
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370 Sc hustei, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik
Geltung zu haben, denn der von Weisenburg berichtete Fall zeigte
vasomotorische Storungen: eine Schwellung des Beines mit
Cyanose der Zehen. Aber aelbst fiir den Fall, daB in der Tat
trophische und vasomotorische Storungen in der Regel bei der
Meningitis fehlen, so ware damit fiir die klinische Diagnose des-
halb nicht allzu viel gewonnen, weil auch beim Riickenmarkstumor
die Storungen der genannten Art keineswegs zu den haufigen Vor-
kommnissen gehoren.
Von einer andem Seite sucht dem differentialdiagnostischen
Problem die von mehreren Autoren (Oppenheim, Montet, Weisen¬
burg u. A.) betonte Beobachtung beizukommen, daB sich bei der
Meningitis cystica — offenbar infolge von Schwankungen des
Cystendruckes — groBere oder kleinere Schwankungen in der
Intensitat der Symptome gelegentlich wiederholter Untersuchun-
gen zeigten: Man hat ein mehr oder weniger erhebliches Ab- und
Anschwellen einzelner Symptome, der Sensibilitatsstonmgen, der
motorischen Erscheinungen und Schwankungen in dem Verhalten
der Sehnenreflexe gesehen. Weisenburg erwahnt eine Beobach-
timg Munros, nach welcher eine Lfihmung bald spastischen, bald
schlaffen Charakter zeigte. Aber auch dies Symptom, des Schwan-
kens der Intensitat der Symptome, ist weder in der Mehrzahl der
veroffentlichten Falle noch in meinem eigenen Fall vorhanden
gewesen, ist also keineswegs ein einigermaBen konstantes. Diffe-
rentialdiagnostisch brauchbar wird das Symptom nur dann sein,
wenn es sehr ausgesprochen ist, also wenn es sich schon fast um
echte Remissionen handelt. Denn 1 e i C h t e Schwankungen, be-
sonders solche hinsichtlich der Sensibilitatsgrenzen sieht man be-
kanntlich recht haufig auch bei dem Riickenmarkstumor.
Unter gewissen engbegrenzten Voraussetzungen — d. h. wenn
die Frage der Differentialdiagnose zwischen Tumor und Menin¬
gitis cystica einmal bei einem kindlichen Patienten zu erortem
ware — konnte man sich der Bemerkung Horsleys erinnern, daB die
Meningitis spinosa cystica nur bei Erwachsenen vorkomme. Sollte
sich die Horsleysehe Beobachtung bestatigen, so wiirde in der
VerschommgdesKindesaltersseitensder spinalen serosenMenin¬
gitis einauffalligerUnterschied gegeniiber der cerebralen serosen
Meningitis liegen. Freilich konnte der genannte differentialdiagno-
stische Unterschied nur bei Patienten des ersten Kindesalters in
Betracht kommen. Denn Schmidt und Fleischmann haben Falle
von Meningitis cystica bei Patienten des spateren Kindesalters
beschrieben. Eine andere Bemerkung des groBen englischen
Arztes, daB die Meningitis spinosa cystica fast stets die tieferen
Teile des Riickenmarks befalle, stimmt mit den Ergebnissen der
Literaturdurchsicht nicht iiberein, vielmehr betrifft von den
biaher beschriebenen Fallen von Meningitis cystica fast die Halite
die hoheren Abschnitte des Riickenmarkes. Weisenburg macht
darauf aufmerksam, daB die klinischen Symptome bei der Menin¬
gitis cystica deshalb eine groBere Ausdehnung annahmen als bei
dem Riickenmarkstumor, weil die Meningitis serosa sich in longi-
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
371
tudinaler Bichtung iiber einen relativ langen Abschnitt des Riicken-
marks erstrecke, wahrend der Tumordruck in longitudinaler
Richtung nur beschr&nkt wirke. Leider trifft auch dieser diffe-
rentialdiagnostische Hinweis fur die Mehrzahl der bekannten F&lle
nicht zu.
Man konnte im Hinblick auf den entziindlichen Charakter
der Meningitis cystica daran denken, dem in einigen Fallen notier-
ten Drackschmerz der Wirbelsaule eine gewisse differentialdiagno-
stische Bedeutung beizulegen, wenn sich nicht das gleiche Sym¬
ptom auch bei dem Spinaltumor f&nde.
Vielleicht bringt uns das weiter oben genauer beschriebene
Symptom der SchmerzbeeinfluBbarkeit durch gewisse Bewegungen
der Wirbelsaule differentialdiagnostisch etwas weiter. Denn es
ist immerhin nicht unwahrscheinlich, daB sich bei den Bewe¬
gungen der einzelnen Wirbel gegeneinander mechanische Einwir-
kungen auf die spinalen Wurzeln eher und leichter und damit
Schmerzen geltend machen werden, wenn das von den Bewe¬
gungen der Wirbelsaule in erster Lime mechanisch beeinfluBte
Gebilde fliissige Konsistenz wie bei der Meningitis cystica hat,
als wenn es solider Natur wie beim Tumor ist. In ersterem Falle
namlich, wenn das komprimierende (und seinerseits wieder in-
folge der Wirbels&ulen&etrej/ttngr gepreBte) Gebilde fliissigen In¬
halt hat, wird sich der erhohte Druck bis in die allerverstecktesten
Taschen und Nischen des Duralsackes fortsetzen konnen, eine
Moglichkeit, die bei solider Natur des komprimierenden Agens
in weit geringerem Made vorhanden sein wird.
Eine andere Moglichkeit, differentialdiagnostisch verwend-
bare Unterschiede zwischen den beiden in Betracht kommenden
Zustandsbildem aufzufinden, scheint mir in der Durchforschung
des Liquor cerebrospinalis zu liegen. Bisher sind bei der Menin¬
gitis circumscripta anscheinend nur vereinzelt derartige Unter-
suchungen vorgenommen worden. Weisenburg fand in seinem
Falle in der Lumbalfliissigkeit viele Lymphozyten und Leuko-
zyten so wie auOerdem gewisse groBe einkemige Zellen, konsta-
tierte also einen Befund, der von demjenigen der meisten Spinal-
tumoren erheblich abweicht.
Sehen wir so, daB die Betrachtung des klinischen Zustands-
bildes nur wenig Anhaltspunkte fiir die Unterscheidung des
Riickenmarkstumors von der Meningitis serosa circumscripta
bietet, so fragt es sich, ob etwa in der Entwicklung und im Ver-
laufe der Meningitis Besonderheiten vorhanden sind, welche eine
Trennung vom Tumor ermoglichen. Recht wichtig erscheint mir
in dieser Hinsicht eine Bemerkung Oppenheinw, daB er einmal
bei einer spinalen serdsen Meningitis das Vorangehen von Kopf-
und Nackenschmerzen beobachtet habe und dies auf einen menin-
gealen EntziindimgsprozeB cerebraler Art bezogen habe. Ich lege
deshalb auf die Oppenheimeche Beobachtung besonderen Wert,
weil ich mir auf Grand des autoptischen Befundes meines eigenen
Falles die Ansicht gebildet habe, daB die spinale serose Menin-
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372 Schuster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Kliuik
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gitis oft nur eine Teilerscheinung einer — werrn auch sehr uner-
heblichen und fast symptomenlos verlaufenden — allgemeinen
cerebrospinalen Meningitis darstelle (vgl. weiter oben S. 368).
Wenn Weisenbury die langsamere Entwicklung einer Cyste —
im Gegensatz zu derjenigen eines Tumors — betont, so wird man
mit dieser — iibrigens wohl keineswegs stets zutreffenden — Be-
merkung in praxi wenig anfangen konnen. Sehr viel bedeutungs-
voller fur die Differentialdiagnose ist offenbar ein anderes Mo¬
ment, welches sich gleichfalls mu* bei Betrachtung des Krank-
heits verlaufes offenbart: namlich die bei der Meningitis spinosa
cystica bestehende Moglichkeit der temporaren oder gar endgiil-
tigen Riickbildung des ganzen Krankheitsbildes. Schon Strobe
hatte im Jahre 1903 darauf hingewiesen, daB die spinalen Cysten
zur Riickbildung imd Abheilung gelangen konnten, ohne nennens-
werte Veranderungen der Leptomeninx zu hinterlassen. Vom
rein klinischen Standpunkt aus hat Oppenheim bei der Besprechung
eines von Krause operierten Falles die gleiche Vermutung aus-
gesprochen. Der weiter oben schon erwahnte, ein ahnliches Ver-
halten zeigende Fleischmannsche Fall betraf ein 19jahriges Mad-
chen, bei welchem im Alter von 15 Jahren nach einer fieberhaften
Affektion ein (von Fleischmann als cervikale Meningitis serosa
aufgefaBtes) Krankheitsbild mit Nackensteifigkeit und Brown-
Sequardschen Symptomen aufgetreten war. Im 11. Lebensjahr
hatte bei dieser Patientin ein anscheinend identischer Zustand
schon einmal bestanden, war aber dann wieder vollkommen zu-
riickgegangen. Auch wahrend der Zeit, als Fleischmann die Pa¬
tientin beobachtete, trat ein Riickgang der Erscheinungen auf.
Der Autor hatte iibrigens anfanglich bei der Patientin die Dia¬
gnose einer spinalen Neubildung gestellt und war erst nachher,
besonders veranlaBt durch die spontane Riickbildung der Sym-
ptome, zu einer anderen Auffassmig gekommen.
Es muB schlieBlich noch ein Symptom erwahnt werden,
welches moglicherweise differentialdiagnostisch eine Rolle spielen
konnte, namlich das Auftreten von Fieber.
Das Vorkommen von Fieber wurde — so viel ich sehe — nur
in einem einzigen der sicheren Falle konstatiert. Schmidt beob¬
achtete einen 16jahrigen Knaben, bei welchem sich mit 14y 2 Jahren
unter dauemden leichten Temperatursteigerungen Schwache der
Beine, Stuhl- und Urinbeschwerden eingestellt hatten. Nachher
traten weitere spinale Erscheinungen seitens der Motilit&t und
Sensibilitat auf. Mit Riicksicht auf das Fieber dachte man an
Wirbelkaries. Die Operation ergab eine tJberraschung, namlich
eine 8 cm lange, 1% cm breite Cyste, welche mit ihrer Hinter-
flftche mit der Dura verwachsen war. Das Knochengeriist erwies
sich als intakt. Der Schmidtsche Fall legt die Vermutung nahe,
daB voriibergehende Temperatursteigerungen auch in einem Teil
der librigen Falle vorhanden gewesen sein mogen, und mahnt
dringend zu dauemden Temperaturmessungen bei Patienten mit
den klinischen Erscheinungen des Spinaltumors. Mit der von mir
Gck igle
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der Meningitis serosa spinalis circumscripta.
.373
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weiter oben geauBerten Ansicht, daB die spinale zirkumskripte
Meningitis haufig nur eine Teilerscheinung resp. eine durch be-
sondere Umst&nde hervorgerufene lokale Exazerbation einer all-
gemeinen eerebrospinalen Leptomeningitis darstelle, wiirde das
Auftreten von Fieber in gewissen Stadien des Krankheitsverlaufes
durchaus iibereinstimmen.
Unsere auf den Weiterausbau des Krankheitsbildes der Me¬
ningitis serosa circumscripta und auf die Sicherung der Diffe-
rentialdiagnose gegeniiber dem Riickenmarkstumor gerichteten
Bestrebungen werden sich nach dem Vorstehenden im wesentlichen
darauf rich ten miissen, die Entwiclclung des Krankheitsbildes in
symptomatologischer und atiologischer Hinsicht zu erforschen imd
die Beziehungen des Leidens zu anderen, besonders akuten Krank-
heitserscheinungen — auch solchen intemer Art — festzustellen.
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der Diagnose von komprimierenden Ruckenmarkstumoren. Dtsch. Ztschr.
f. Nervenheilk. Bd. 47 u. 48.
Gck igle
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374 M u s k e n s , Psychiatrie, Neurologic und Neuro-Chirurgie.
Psychiatrie, Neurologic und Neuro-Chirurgie.
Von
Dr. L. J. J. MUSKENS,
Amsterdam.
Nachdem Manner wie Erb, Oppenheim, Nacke und Rothmann
sich in dieser Zeitfrage geauBert haben, konnte es iiberfliissig
erscheinen, daB uber die praktisch schon an vielen Orten zustande
gekommene Scheidung der Neurologie und Psychiatrie weiter
diskutiert wird. Schon vor \ielen Jahren wurde von anderen und
mir 1 ) die notwendig gewordene Selbstandigkeit der Neurologie
befurwortet. Die AeuBerungen Bonhoeffers fordern jedoch zu
einer Beantwortung auf, und zwar der Objektivitat des Gegeu-
standes wegen vielleicht auch seitens eines Auslanders, der mit
den preuBischen Verhaltnissen vdllig unbekannt und in einem
Milieu tatig ist. wo sich die Verhaltnisse unter ganzlich anderen
Umstanden entwickelt haben. Obwohl der Berliner Psychiater
namentlich die Unterrichtsseite ins Auge faBte, laBt er sich zu
autoritativer Aussprache uber die Entwiekelung der Neurologie
und Neurochirurgie bestimmen, die kaum unwidersprochen bleiben
kann. Das in Frage stehende Problem scheint mir in zwei Fragen
zu gipfeln. Erstens hat die Neurologie fiir Praxis und Wissenschaft
nicht nur gegeniiber der intemen Medizin, sondern auch der
Psychiatrie selbstandige Existenz-Berechtigung, ev. ist diese
Selbstandigkeit eine Notwendigkeit geworden. Und zweitens gibt
es Umstande, die es wiinschenswert erscheinen lassen, daB neben
ausschlieBlich oder besonders diagnostisch tatigen, vorwiegend
organischen Neurologen auch solche auftreten, welche nach ge-
horiger Vorbereitimg ihre eigenen Operationen ausfiihren?
Die erste Frage scheint mir zu beantworten mit der Gegen-
frage, ob es in der Jetztzeit denn noch moglich ist, daB ein Mensch
imstande ist, dermaBen die Psychiatrie und Neurologie zu be-
herrschen, daB Kranke und ihre Hausarzte auf beiden Gebieten in
vollem Vertrauen ihm die folgenschweren Entscheidimgen
uberlassen konnen? Es braucht an dieser Stelle kaum darauf
hingewiesen zu werden, daB auf der einen Seite hier die Berufs-
wahl, die Heiratsfrage, die Intemierung in den psychopatho-
logisehen Fallen zu entscheiden gilt, auf der andem ein EntschJuB
uber die so delikate und noch keineswegs auf festem Boden ruhende
Wahl zwischen Lumbalpunktion imd Palliativ-Operation bei
Neuritis optica, uber die richtige Behandlungsweise bei beginnen-
der Epilepsie u. a. m. zu treffen ist. Ein Teil der Aufgaben, z. B.
die Behandlung der Neurasthenie, fallt naturgemaB sowohl dem
Psychiater als dem Neurologen vom Fach zu.
*) Nederlandsche Tydschrift. 1903. Deel II. Nr. 11.
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Muskens, Psychiatric, Neurologic und Neuro-Chirurgie. 375
MuBte die Antwort schon vor 12 Jahren im negativen Sinne
gegeben werden, so ist dieselbe jetzt 1 ) angesichts der inzwischen
rapid erfolgten Entwicklung der Neurologie (iiber die Psychiatrie
kann ich mir kem Urteil erlauben) jedenfalls ganz auBer Diskussion
gestellt. DaB die Erfahrung der Praxis im selben Sinne lautet
und daB Bonhoeffer schlieBlich damit einverstanden ist, entnehme
ich seiner Beobachtung, daB dort, wo auf unserem nunmehr
unabsehbar groBem Gebiete sich jemand besonders in einer thera-
peutischen Sonderspezialitat innerhalb derselben ausgebildet hat,
etwa auf Grund von eigenen Untersuchungen, und zwar auch
in der organischen Neurologie, das Verhaltnis der ihm zustro-
menden Falle organischer und funktioneller Erkrankungen be-
trachtlich von dem der allgemeinen Polikliniken abweicht. —
Zwar mag ein einzelner in seiner Ausbildimg und Anlage besonders
Bevorzugter wirklich die jetzigen Fragestellungen auf beiden
Gebieten umfassen konnen; jedenfalls sind solche Manner Aus-
nahmen und wohl im Aussterben begriffen. Schon jetzt sind Fach-
genossen, denen, wie Bonhoeffer , ein eigenes Urteil sowohl iiber
zerebrale Gefiihlsstorungen, als auch iiber die neuen Gesetzes-
vorlagen iiber Zurechnungsfahigkeit usw., anvertraut werden
kann, schwer zu finden.
DaB kein Neurologe den Wert der psychiatrischen Be-
obachtungsweise der Grenzgebiete fiir die Studenten bestreiten
wird, da von ist wohl ein jeder iiberzeugt. Ja, ich glaube sogar
personlich, daB kein Neurologe, ohne ein oder mehrere Jahre in
einer Irrenanstalt gearbeitet zu haben, seinerAufgabe in kleineren
Bevolkerungszentren wenigstens, gewachsen sein kann, ganz ab-
gesehen davon, daB nach meinem Dafiirhalten man nur durch
selbstandige wissenschaftliche Tatigkeit mit der Neurologie griind-
lich vertraut werden kann, und sowohl die meisten Neurologen,
als die Psychiater im Anfang ihrer Karriere kaum ein besseres
Medium dafiir finden konnen als eine Irrenanstalt, nicht zu weit
von einem wissenschaftlichen Zentrum entfemt. — Ebenso wie
Bonhoeffer sind wir iiberzeugt, daB auch der Dozent fiir Psy¬
chiatrie vor allem in der organischen Neurologie gut einge-
arbeitet sein muB. Aber weiter konnen wir nicht gehen, wenn wir
auch der Meinung sind, daB es auch fiir die Studenten von Wert
ist, daB der Dozent der Psychiatre in Konkurrenz Neurologie
treibt, so weisen wir doch die von Bonhoeffer gegebene Frage-
stellung, ob es zeitgemaB ware, daB fiir spinale und periphere
Nervenerkrankungen besondere Lehrstiihle zustande kommen
miissen, zuriick. — Wir meinen, daB die uns beschaftigenden Krank-
heitsgruppen wichtige soziale, menschliche und wissenschaft¬
liche Probleme reprasentieren, daB ganz gut nebeneinander reine
Psychiater und reine Neurologen existieren konnen; daneben haben
aber auch Neurologen-Psychiater in der Praxis Existenzberech-
l ) Schon 1884 wurde von Bonders die Frage aufgeworfen, ob auf die
Dauer der Unterricht in der Neurologie dem Psychiater aufgetragen werden
konnte.
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376 Muskens, Psychiatrie, Neurologic und Neuro-Chirurgie.
tigung. Was Bonhoeffer zuzugeben geneigt ist, daB Privatdo-
zenten und Assistenten im Rahmen der einheitlichen psychiatri-
schen Klinik die Neurologie lehren und bearbeiten, das lehnen
wir unter Dank fiir die Bereitstellung der Klinik hoflich, aber
nicht weniger entschieden ab. Denn die Erfahrung lehrt, daB
diese unter Direktion eines klinischen Lehrers untergebrachten
Nebenfacher nicht iiber den Gesichtskreis des betreffenden Chefs
hinauszugehen gewohnt sind.
Konzentrieren wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf die zweite
Frage, ob innerhalb der organischen Neurologie Raum ist fiir
eine weitere Arbeitsteilung, oder aber ob, wie Bonhoeffer die
Frage formuliert, die Neurologie den zahlreichen anderen
Spezialfachem zur Seite zu stellen ist, die eine solche spezielle
Behandlungstechnik erfordem, so daB auch das Handwerk, die
betreffende Chirurgie, den Neurologen in die Hand gegeben werden
muB. Obwohl wir ruhig die Antwort der Entwickelung der Dinge
selbst iiberlassen konnten, wie es ja auch dem Autor selbst nicht
entgangen ist, daB eine besonders vertiefte Beschaftigung mit einer
Sonderspezialitat von selbst Konzentrierung von Material mit
sich bringt, und obwohl Bonhoeffer selbst zugibt, ,,daB eseinmal
gute chirurgische Nervenspezialisten geben wird“, so liegt schon
jetzt geniigend Erfahrung vor, eine prazise Antwort auf die Frage
zu formulieren. Ja, es will mir scheinen, als ob der jetzige Zustand
der organischen Neurologie mit ihren unsicheren (euphemistisch
gesprochen) Aussichten, ihren noch nicht geniigend fest begriin-
deten Indikationen, eben jetzt eine Epoche herbeifiihrt, in der
eine besondere Beschaftigung mit Neuro-chirurgie seitens des
Spezialisten not tut. — Da von so vielen Seiten zugegeben wird,
daB, in dieser Spezialit&t wenigstens, die geteilte Verantwortlich-
keit keine Verantwortlichkeit ist, der Neurologe den Eingriff so
lange wie moglich hinausschiebt und der allgemeine Chirurg
durchaus nicht mit Enthusiasmus den Auftrag empfangt, so er-
hebt sich unabweisbar die Notw'endigkeit, daB die voile schwere
Verantworttmg fiir die Eingriffe denjenigen der Neurologen, die
sich die dazu erforderliche chirurgische Vorbildung angeeignet
haben, eben jetzt gradezu das Messer in die Hand driickt.
Vorlaufig erheischt die operative Behandlung des Zentral-
Nervensystems zu viele in ausgedehntem Experimentieren miih*
sam erworbene Kenntnisse von der Widerstandsfahigkeit und
den elektrischen und sonstigen Reaktionen von Gehim und Riicken-
mark, zu viel Einsicht in die topographische Anatomie imd in den
Verlauf der intrazerebralen Verbindungen; zu viel haben wir
Spezialisten noch iiber die Bedingungen der Liquor-Sekretion zu
erforschen, als daB der allgemeine Chirurg unter Leitung des als
Nichtoperateur nur maBig in diesen wichtigen Details erfahrenen
Diagnostikers, hierin das beste leisten konnte. In diesem Ge-
dankengange bleibe es dahingestellt, ob vielleicht in femer Zu-
kunft, nachdem einmal die Diagnosen und die Indikationen festeren
Boden erlangt haben, die betreffenden Eingriffe wiederum den
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Mus kens, Psychiatrie, Neurologie und Neuro-Chirurgie. 377
allgemeinen Chirurgen iiberlassen werden konnen. Die aufrichtige
Bemerkung Bonhoeffers , der als Zuschauer sich gelegentlich dem
Eindruck nicht entziehen konnte, ,,daB der Cliirurg bei seinem
Eingriff sich der Dignitat des Gewebes bewuBter sein konnte“,
spricht in dieser Hinsicht Bande.
Es ist mit der Selbstandigkeit der Neurologie dieselbe alte
Geschichte, die sich in der Entwickelung aller Spezialfacher,
zuletzt noch der Urologie, wiederholt hat. Die Spezialdiagnostiker
finden nur lauwarraes Interesse und ungeniigende Vorkennt-
nisse fiir ihr Gebiet beim allgemeinen Chirurgen, der berufen ist,
an ihrem Organe zu operieren. Darum fangen sie an, selbst zu
operieren, imd machen es, doppelt interessiert wie sie sind, besser
als jene, und berichten ihre augenfallig besseren Resultate; das
arztliche imd das groBe Publikum entscheidet in kurzer Frist im
Sinne einer vollstandigen Abtrennung. Nolens volens verzichtet
der allgemeine Chirurg nach kurzer Zeit. — Sehr lehrreich ist in
dieser Hinsicht die allerletzte Spaltung. zugunsten der Urologie.
Wahrend Jahre hindurch auf den Berliner Chirurgen-Kongressen
der Nierenc.hirurgie eine Anzahl Arbeiten gewidmet waren, fehlen
dieselben plotzlich fast vollig 1914. Die Spezialitat der Urologie
hat damit in Deutschland ihre Selbstandigkeit erworberi. Nicht
so einfach liegen jedoch die Dinge in der Neurologie.
Wenn es mir gestattet ist, meinen eigenen Werdegang kurz
anzufiihren, so mochte ich daran erinnem, daB ich, nachdem
ich mich im letzten Dezennium des vorigen Jahrhunderts wahrend
einiger Jahre unter hollandischen Fachmannem in die Neuro¬
logie eingearbeitet hatte und nachher wahrend je eines Jahres-
kursus an der Harvard-(Boston) und eines an der Cornell (New-
York) Universitat arbeitete, zu der Ueberzeugung kam, daB
selbst erstklassigen Diagnostikem vollwertige Resultate versagt
bleiben miiBten, es sei denn, daB auch die Chirurgie selbst, und
damit die voile und ungeteilte Yerantwortimg der Eingriffe,
ihnen selbst anheimgestellt wiirden. Ich muB hinzufiigen, daB
das Ungeniigende des bestehenden Zustandes zum Teil meinen
Lehrern vollbewuBt war, und ich nur den Rat meines ersten
Lehrers befolgte, als ich zunachst, speziell fiir diese chirurgische
Ausbildung, ein paar Jahre in London tatig war. Sobald ich be-
gann, unabhangig zu arbeiten, wurde mir deutlicher, warum
verhaltnismaBig noch so wenige Neurologen den so klar ange-
wiesenen Weg einschlugen, ganz abgesehen davon, daB seine
eigenen Operationen zu machen fiir den Neurologen eine empfind-
liche Belastung seines Budgets bedeutet, nicht nur im Anfang,
sondem auch spater. Ungleich den Urologen, Otiatern und anderen
selbst operierenden Spezialisten stellten sich nicht nur die Chi¬
rurgen, sondern auch die Intemisten, und zuerst auch die Psy¬
chiater, jener Spezialisierung ablehnend gegeniiber. Weil femer
der Natur der Sache nach die Resultate nicht so auf der Hand
liegen, wie in gewissen anderen Zweigen der Medizin. wurde ich
bald mit den zum groBten Teil am griinen Tisch konstruierten,
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378 Muskens, Psychiatric, Neurologic und Neuro-Chirurgie.
jetzt aber auch von Bonhoeffer gegen die Abzweigung der Neu¬
rologic und Neuro-Chirurgie formuherten Bedenken bekannt.
Erstens macht man sich Sorgen dariiber, daB der selbst
operierende Neurologe (ich nehme an, daB ein ,,Lapsus calami* 4
vorliegt, wenn Bonhoeffer eine geradezu kriminelle Experi-
mentiemeigung bei dem im Vergleich mit dem konsultierenden
Nervenarzt imd Chirurgen weit mehr an dem Wohlergehen
seiner Kranken interessierten Spezialisten anzunehmen geneigt
ist) weniger gute Chancen geben sollte, technischen Details
gegenuber als der Allgemein - Chirurg. Fragen wir uns zu-
n&chst, in welcher Hinsicht denn die Gefahren eintreten
sollten. Erstens konnte man bei der Operation auf andere
Organe stoBen, in welche nur der Voll-Chirurg erfolgreich einzu-
greifen vermag. — Allein, eine einfache Ueberlegung zeigt, daB
wir in der Him- und Riickenmarks-Chirurgie abgegrenzte Re-
gionen haben, bei denen nicht, wie z. B. in der Nieren-Chirurgie,
Komplikationen mit Eingeweiden usw., gang und gabe sind.
Ohne Gefahr, die Grenzen seiner Kompetenz zu iiberschreiten,
hat deshalb der Neurologe den Vorteil seiner speziellen Uebung,
seiner genauen Kenntnis der anatomischen Verhaltnisse und
,,der Dignitat des Gewebes**. Zweitens sollte das nicht so regel-
maBige Operieren mehr Gelegenheit zur Infektion, zur Blutungs-
gefahr fiir den Kranken bieten. Nicht nur ich selbst habe unter
ein paar Hundert Operationen in keinem Falle Infektion (hochstens
eine seltene und harmlose Ligatureiterung in einer mir nicht be-
kannten Umgebung), und nur in einem Falle schwerste Hamor-
rhagie bei einer Gasser-Operation unter abnormen Verhaltnissen
erlebt, sondern auch Cushing hat die gleichen Erfahrungen gemacht.
Man soli nicht aus dem Auge verlieren, daB im Prinzip nur der
Spezialist nie mit gefahrlichen Infektionen in Beriihrung kommt. —
Dann soli das Material ungeniigend sein. In dieser Hinsicht wird
der Hausarzt und sein Berater die Frage zu entscheiden haben,
wen er vorziehen wird: den Spezialisten, der vielleicht kaum ein
paar mal pro Monat derartige Operationen vollfiihrt, dabei
genau in den das Gebiet betreffenden Detailfragen auf dem
Laufenden ist, und durch seine taglichen Interessen sein kann ,
dazu als Neurologe auch die Tragweite der nicht-operativen MaB-
nahmen beurteilen kann oder den allgemeinen, nicht in die Einzel-
fragen vertieften Chirurgen, der die Operation wahrscheinlich
seltener macht, nur im seltensten Falle ein Organkenner, und
jedenfalls nur auf die eine, operative, Seite der Sache angewiesen ist.
Erweitem sich nun die Indikationen zu Eingriffen im Falle
der Spezialisierung ? Zweifellos und gliicklicherweise. DaB es
hier eine legitime Erweiterung des Arbeitsfeldes gilt und daB man
nicht das Recht hat, die ganze Frage mit einem ,,Eindruck von
zu viel operieren*‘ abzufinden, dafiir gestatte ich mir aus
eigener Erfahrung einige Beispiele zu geben, welche zur Geniige
illustrieren, daB eben die auf diese Weise erreichte groBere Ziel-
bewuBtheit, und die relative Sicherheit, den Kranken auf alle
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M u s k e n s , Psychiatric, Neurologic und Neuro-Chirurgie. 379
Falle keinen Schaden zu bringen, in gewissen Fallen vorteilhaft
in die Wage fallt. lm Anfang des jetzigen Krieges seitens des
Antwerpener Roten Kreuzes nach Antwerpen eingeladen, eine
Abteilung von Verletzungen des Zentral-Nervensystems zu iiber-
nehmen, hatte ich Gelegenheit, 7 Falle von Querlasion des Riicken-
markes zu beobachten. DaB ich, wo alle Erfahrungen ausstanden
oder sich dem Eingriffe gegeniiber ungiinstig verhielten, den Mut
hatte, in den zwei allerschwersten Fallen einzugreifen, schreibe
ich nur dem Umstande zu, daB ich mir bewuBt war, daB unter
den gegebenen Spitalverhaltnissen, bei dem Alter der Kranken usw.,
der Eingriff, wenn nicht niitzlich, so doch auch nicht gefahr-
lich fiir die Kranken sein wiirde. Dadurch gelangte ich in ein paar
Wochen zu dem Satz 1 ), daB die Eingriffe bei schwerer Quer¬
lasion (mit Verlust der Reflexe) des Riickenmarkes, in geiibter
Hand w r enigstens, weit dankbarer verliefen, als irgend welche
Eingriffe bei #ira-SchuB 2 ), ein jetzt vollauf von den Beobach-
tungen Marburgs und Ranzis, sowie Goldsteins bestatigter Satz.
Sicherlich wiirden die Autopsien allmahlich auch ohne diese Ein¬
griffe zu diesem Leitsatz gefiihrt haben, aber auf dem Wege der
Ueberlegung auf Grund der klinischen Erfahrung dazu zu ge-
langen, hat jedenfalls vom Standpunkte der betreffenden Kranken
kaum abzulehnende Vorteile!
DaB nicht nur in der Kriegspraxis der von mir vertretene
Standpunkt fiir die Kranken gewisse Vorteile bietet, dafiir erlaube
ich mir noch folgende Beispiele anzufiihren. Jeder, der sich mit
der Literatur der traumatischen Epilepsie infolge Schadeldefekts
befaBt hat, weiB von den zahlreichen Fallen mit fast ausnahms-
los ungiinstigem Verlauf zu erzahlen.
Einer von meinen beiden 3 ), jetzt 6 Jahre nach der Operation
anfallfreien einschlagigen Fallen hartnackiger, nicht auf
interne Therapie reagierender Epilepsie war zweimal (Wagner-
Lappen) von einem chirurgischen Universitatsprofessor imd erst-
klassigen Neurologen vergebens operiert worden. Bei der ersten
Operation wurden von mir die ganze Gegend der deformierten
Scheitelbeine ohne Erfolg abgetragen. In einer zweiten Operation
wurde die Dura mater weit geoffnet und es stellte sich nun heraus,
daB zwei groschengroBe Knochensplitter innerhalb der Dura, auf
und in dem Cortex lagerten, die entfemt wurden. Ebenfalls
nach Monaten kein Erfolg. Erst nach der dritten Operation,
bei der das entladende Zentrum entfernt wurde, erfolgte definitive
bis jetzt dauernde Heilung; die Patientin verdiente ihren Unterhalt
und heiratete spater wieder. — In diesem Fall war es wiederum die
Sicherheit, daB der Kranken nicht durch die sukzessiven Ein-
*) Nederlandsche Tydschrift voor Geneesk. 1914. Bd. 13. Nr. van
15. Oktober. Neurol. Zentralbl. 1. Januar 1915.
*) Tangentialschiisse ausgeschlossen.
8 ) Im Ganzen sind von den Hunderten, vielleicht Tausenden operierten
noch nicht dreiftig Falle mit bleibendem Erfolg bekannt. Vergl. meine
Mitteilung, Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft fiir Chirurgie. 1913.
I. S. 149, iiber die zwei einzigen von mir operierten derartigen Falle.
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380 Lowy, Neurologische und peychiatrische Mitteilungen
griffe geschadet wurde, die zmn planmaBigen, schrittweisen Vor-
gehen fiihrte. In diesem selben Falle hatte der nicht-selbst ope*
rierende Xeurologe-Psychiater zweier unserer groBten Kranken-
hauser, eben weil er der XichtgefabrJichkeit der Eingriffe skep-
tischer gegeniiberstand, wiederholt und naehdriicklich die Ope¬
ration im beaten Falle fur nutzlos erklart. auch noch naeh meiner
Indikationsstellung. Tatsachlich kam es in diesem Falle nur zur
Operation, weil die Allgemeine Gesellschaft fiir Wohltatigkeit
es miide wurde, die Kranke und ibre Kinder wbchentlich zu sub-
ventionieren und eine einmalige Ausgabe fiir die Operation in
einer PrivatanstaU vorzog.
In Hinsicht auf die Lokaldiagnostik sei noch folgender.
einem Experimentum crucis gleiehzustellender Fall berichtet:
Im vorigen Jahre war bei einem Eingriffe wegen Tumor cerebri
einer unserer in pathologischer Himanatomie erfabrensten psy-
chiatrischen Universitiitsdozenten anwesend. wahrend einer der
meistbeschaftigten Chirurgen der Hauptstadt bei der Operation
assistierte. In der Mitte des freigelegten Feldes zeigte nach der
Durazuriicklagerungein umschriebenesFeldbesondere GefaBverhalt-
nisse bei ungewohnlicher Konsistenz. Meinen Kollegen gegeniiber
wurde dieses Gebiet als die wahrscheinliche Stelle, an der der
Tumor an die Oberflache kam. bezeichnet. Der Chirurg konnte
keinen Unterschied in der Konsistenz fiihlen, der Pathologe ver-
neinte eine besondere GtefaBversorgung, und beide lehnten die
Vermutimg als nichtbegriindet ab. — Die spater von meinen
psychiatrischen Kollegen freundlichst selbst vorgenommene Sek-
tion bestatigte, daB genau dort das Gliosarkom die Oberflache
beriihrte! Fiir die richtige Diagnostik nach der BloBlegung waren
hier wenigstens zwei Sinneseindriicke, die sich in einem Indi -
viduum verstarken miissen, unentbehrlich. Sehon aus lokal-
diagnostiscben Rxicksichten muB deshalb fiir bestimmte Falle
die gemeinsame Behandlung eines Nervenarztes und eines Chi¬
rurgen dem einheitUchen Auftreten des Xeurochirurgen nach-
stehen.
Neurologische and psyehiatrische Mitteilongen
aus dem Kriege.
Von
Dr. MAX LOWY,'
Marienbad und Hclonan, derzcit Oberarzt im 6. dfterreichiachen Landsturmregiment.
Neurologische und psychische Storungen waren bei meinem
Regimente selten, wenn ich absehe von den Tetaniesymptomen
nach Dysenterie, iiber welche ich in meiner ersten Mitteilung be-
richtete, und von den (als Erkaltungsfolgen aufgefaBten) sehr haufi-
gen Ischiasfallen, vereinzelten Interkostalneuralgien, V. Neuralgien
und ganz seltenen Fallen von Herpes zoster. Von den etwa 1000
Mann des meiner Obsorge anvertrauten Bataillons waren mir sehr
viele (als meine engeren Heimats- und Kindheitsgenossen oder als
Klienten meiner Privatpraxis) schon in ihrem ZiviUeben bekannt.
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aus dem Kriege.
381
Das Regiment entstammt durchwegB dem Egerlande, dessen Be-
wohner sind deutscher Zunge und werden, dem Typus und dem Dialekt nach,
dem frankischen und teilweise dem bajuwarischen Stamme angegliedert.
Nut in einzelnen Grenzgebieten des Egerlandes hat wohl aueh ein slavischer
Einschlag aus der Zeit vor dem DreiBigjahrigen Kriege Spuren hinterlassen.
Die Egerlander sind meist groBe und maBig kraftige Landleute (von einem
kleinen Industriewinkel abgesehen). AJs Landsturmleute des ersten Auf-
gebots gehoren sie dem Alter von 32 — 38 Jahren an. Landesiiblioh ist der
GenuB von leichtem Bier, durchsehnittlioh 3 —4 Halbliterglasern taglich,
Sonn- und Feiertags bedeutend mehr. Schnaps wird im Egerlande als
regelmaBiges Getrank fast gar nicht getrunken. Wein nur von den Be-
sitzen.de n und bloB gelegentlich. Schwere Alkoholiker kommen in deii
disponierten Standen (Schenkwirte, Kellner, Koche usw.) vor und gelangen
dann auch zum SchnapsgenuB. ' ,
Von den Psychosen des Friedens, welehe im Sommer ja zum groBen
Teile durch meine Htinde gelien, iiberwiegen weitaus die depressiven Storun-
gen, dann folgen die ausgesprochen manisch-melancholischen, dann die
Zwangsvorstellungskranken auf depressiver und psychasthenischer Basis
und die Hypoehonder, endlich die Dementia praecox und die Epilepsia
besonders der Jugendlichen. Ausgesprochene Hysterien und Paranoien
sind selten. Progressive Paralysen, senile Demenzen und Neuropathien
schwer degenerativer Form finden sich unter meinen Landsleuten viel
seltener als unter meinem aus den verschiedensten Standen und Rassen
gemischten Kurpublikiun.
Selbstmord und Selbstmordversuche sind auch bei weitgehender
Depression und bei schweren Hysterien sehr selten. Der ganze Menschen-
sehlag erscheint etwas schwerfailig, eher hart als weichmiitig und ist uberdies
durch seine Rauflust bekannt.
Nach der Prasentierung waren natiirlich schon diejenigen
ausgeschaltet, welehe manifeste Psychosen gehabt hatten. Immer-
hin hatte ich mich wegen der schweren psychischen und korper-
lichen Belastungsprobe, die ein modemer Krieg darstellt, auf eine
groBere Zahl peychischer Storungen gefaBt gemacht. Dabei glaubte
ich der Aetiologie nach Analogien mit den Haftpsychosen erwarten
zu diirfen. Gemeinsam haben ja ICrieg und Haft — wenigstens fiir
unsere sofort an die Front gelangten Landsturmleute — die schwere
und plotzliche Aenderung der gesamten Lebenslage und die plotz-
liche totale Unterdruckung der Selbstbestimmung gegeniiber dem
freien Schalten dieser alteren Manner in ihrer biirgerlichen Stellung,
endlich die Gemiitslage der unbestimmten Erwartung oder der
Besorgnis und Angst usw. Dagegen hat die Haft noch besondere
atiologische Momente: die Einsamkeit der Zelle, die Ausschaltung
der eigenen Betatigung und das SchuldbewuBtsein, welch letztere
Umstande alle neben der unbestimmten Unruhe fiir die paranoische
Fftrbung, fiir die Eigenbeziehung, kombinatorische Betatigung,
illusionare Verkennung im Sinne der Bedrohung und Verfolgung
usw. ausschlaggebend sein mogen. Ich erwartete aber immerhin
ganserahnliche und andersartige hysterische Dftmmer- imd Auf-
regungszustande, Angst- und Schreckpsvchosen, reaktive De-
pressionen, Manien und Melancholien bei manisch-depressiv Be-
lasteten, weiter Alkoholabstinenzerscheimmgen und eventuell auch
Erscheinungen der sexuellen Abstinenz.
Diese Voraussetzungen trafen jedoch bei meinem Kranken-
materiale, Mannem mittleren Lebensalters germanischer Basse —
sonst nur in einem sehr geringen Teile jiidischer Basse — nicht ein.
(Vou zwei den Haftpsychosen ahnlichen Fallen —• einem ganserahn-
liohen Zustandsbilde und einer paranoid-phantastischen, kombinatorischen
imd halluzinatorischen Episoae ohne Orientierungsstbrung bei einem
Monatsschrift f. Psychiatrie u. N< urologie. Bo. XXXVII. Heft 6. 25
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382 Lowy, Neurologuohe und peychiatrische Mitteilungen
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Degenerierfcen. — wie aueb von einer Schreokpsychoee, soli sp&terhin die
Red© sein, denn diese Fftlle gehorten nicht dem eigenen Regiment©, sondem
dein Hinterland© und einer anderen Rasse an.)
Wie schon erwahnt, sind die Egerlander mit ganz geringen
Ausnahmen an den regelmaBigen BiergenuB in mittleren und in
groBeren Quanten von Jugend an gewohnt. Trotzdem und trotz
wochenlanger und ganz sicher totaler Abstinenz — Alkohol war
in keiner Form mehr vofhanden und wochenlang in keiner Weise
erreichbar — gab es kein Abstinenzddir. Auch nur Andeutungen
da von waren mir bestimmt nicht entgangen, da ich bei alien, die
&rztliche Hilfe in Anspruch nahmen, genau auf solche Andeutungen
achtete. Ich fahndete aiif Handetremor, Schwitzen, Schwache-
gefiihl, Unruhe, Angst und bei Fiebemden durch Druck auf die
Bulbi auch auf Gesichtshalluzinationen. Dazu kommt, daB gerade
zu jener Zeit fast alle Angehorigen des Bataillons mit verschieden-
gradigen Darmstorungen dysenterischer Natur zur Untersuchung
kamen.
In der Regel zwar sind die initialen Magendarmstdrungen bei Deli-
ranten schon als Prodromalerscheinungen des Delirs und somit wohl als die
gleichzeitige Folge jener Intoxikation aufzufassen, welche auch das delirante
Himschadigungssyndrom schafft. Hier aber wird durch den dysenUrischen
Charakter der Durchfalle und des gelegentlichen Erbrechens zugleich dieser
und auch der Einwand ausgeschaltet, daB diese Diarrhoen selber schon
Abstinenzerscheimmgen waren. Die erw&hnten Darmstorungen kfimen
sonach vielmehr neben der Alkoholabstinenz als ein zweites atiologisches
Moment fur Delirium tremens in Betracht.
Aber trotz ihrer und trotz des manche Dysenterief&lle begleitenden
Fiebers, wie auch bei den nicht seltenen Fieberfalien pneumonischer, pleu-
ritischer Herkunft usw. fehlten delirante Symptome. (Ebenso blieben sie
auch wahrend einer Influenzaepidemie mit Anginen und Bronchitiden aus.
Jedoch war wahrend der Influenzazsit der AlkoholgenuB wieder moglich
geworden und wurde gewiB nicht versaumt.)
Nur ein einziger meiner Dysenteriekranken, der viele blutige Stiihle
bis zum Abgange von reinem Blute und Erbreohen gehabt hatte, erlitt eine
peychische Alienation. Diese trat ein, nachdem ich ihn psychisch intakt
abgegeben hatte und er einige Tage (ohne Opium und Alkohol gebraucht
zu haben) beim Train mitgefuhrt worden war, um eine Sanitatsanstalt zu
erreichen; diese hatte aber der Gefechtslage wegen immer wieder den
Standort wechseln miissen und war mit dem landesiiblichen Fuhrwerk des
Patienten nicht erreichbar gewesen. Als der Train gerade wieder mit dem
Bataillon zusammentraf, wurde ich von der Begleitmannschaft gerufen,
t ,der Mann sei im Sterben“. Ich fand ihn entfiebert, nicht kollabiert, mit
kraftigem Puls von normaler Frequenz, auch nicht- sehr erschopft. Jedoch
hatte sein Blick der Begleitmannschaft an dem betreffenden Tage den
Eindruck gemaoht, als stiirbe Patient. Ich fand eine Hochziehung beider
Oberlider mit starrem Ausdruck, also einen jjPseudograefe 4 *, aber einen
anderen, als ich ihn bei manischen Zuatanden verschiedener Herkunft oder
bei Angstzustanden gesehen habe. Hier bot sich der Ausdruck eines stieren
Staunens, der Ratlosigkeit, der Desorientierung mit Apathie. Der Patient
erkannte mich, sprach mich mit Herr Doktor an, meinte, es gehe ihm ganz
gut, erwies sich leidlich orientiert. Er konfabulierte nioht, auch nioht
bezuglich der Zahl der Stiihle, was ich sp&ter im Hinterlande bei einem sehr
herabgekommenen schwer Ruhrkranken ( Shiga-Kruse , gegeniiber den iiber-
wiegenden Flexner- Fallen) beobachtet habe. Auch zeigte er keine aus-
gesprochene Merkfahigkeitsstorung. Halluzinationen und Wahnideen waren
nicht festzustellen. Er bot aber eine der Hemmung un&hnliche Verlang-
samung der Reaktion, eine scheinbare Schwerhorigkeit, ahnlich der oft im
Beginne des Typhus alxlominalis bestehenden, eine verlangsamte Auffassung*
zerstreuten Klang der Stimme beim Antworten, einen abwesenden Ausdruck
tmd eine auffallige Unbekiimmertheit um seine Gesundheit, um die ein-
geschlagene Fahrtrichtung, den entsetzlichen Regen usw.
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aua dem Kriege.
383
Es sind dies lauter Erseheinungen, die ich auf eine Ersohwerung der
Konzentration zuruckfiihren mochte.
Der Zustand machte nicht den Eindruok ernes hysterischen Dammer-
zustandes oder einea Fieberdelirs, auoh nioht einea Angstzustandes — Patient
war ja aehon tagelang aufier Feuerbereich. Am ehesten kommt eine be-
ginnende Amentia oder ein Korsakoff-verwandter Zustand aus Erachopfung
in Betraeht, etwa im Stile der von Bonhoeffer nach l&ngerdauemder er-
schopfenderKrankbeit beobaohteten emotionell-hyperasthetischen Schwftohe -
zost&nde. Dafl Alkoholabstinenz hier im Bilde eine Rolle apielte, kann
wohl ala ausgeaehloasen gelten. (Leider konnte ich iiber dieaen Patienten
Bibua vom 6. Landsturmregiment nichts waiter erfahren.) -
Ich kann mich dahin resiimieren: bei etwa 1000 gewohnheits-
m&Bigen m&Bigen und zum Teile starken Biertrinkem ist nach
wochenlanger Abstinenz unter sonst fur das Delirium tremens
disponierenden Momenten, wie Darmstorungen, Fieber, Pneu-
monien usw. kein einziges Abstinenzdelir vorgekommen. Aller-
dings kamen vielleicht gerade im Felde sonst ungewohnte — sit
venia verbo — „antidispositionelle“, entgiftende Momente gegen
den Ausbruch eines Delirs in Wirkung: Dies waren die starke
korperliche Bewegung und der Aufenthalt in freier Luft. In
meiner Land- und Stadtpraxis habe ich namlich beobachtet, daB
der Schenkwirt, der Schuster, der Koch, der Beamte — also Berufe
unter Dach und ohne schwere korperliche Arbeit — an Delirium
tremens, Halluzinosen, Korsakoff, Neuritis alcoholica erkranken,
w&hrend der Schmied, der Bauer, der Forster verschont bleiben,
trotzdem gerade manche von diesen letzteren bis 40 halbe Liter
auf einem Sitz tranken. (Dagegen betreffen Bierherz, Nephritis,
Zirrhose meiner Erfahrung nach die „Freiluft- und Schwerarbeits-
gruppe“ in gleicher Weise wie die Stubenhocker.)
Inwieweit diese Beobachtung allgemeinere Gultigkeit bean-
spruchen kann, und insbesondere ob sie auch fur Schnapstrinker
gilt, kann ich zurzeit nicht eruieren. Ich sah n&mlich seinerzeit-
an der Prager Klinik auch eine hinreichende Anzahl delirierender
FloBer, also ausgesprochene Freiluftschwerarbeiter, jedoch waren
es Schnapstrinker. Ebenso weiB ich nicht, ob die etwa anzu-
nehmende „Entgiftung“ der saufenden Alkoholiker durch kdrper-
liche Arbeit und Bewegung in freier Luft schon zu der parallelen
Annahme einer Entgiftung des Alkoholikers in der Abstinenz durch
die gleichen Mittel berechtigt. Jedenfalls schien mir dieser Unter-
schied in der Disposition der Freiluftschwerarbeiter und der
Stubenhocker fur das Delirium tremens auch in diesem Zusammen-
hange erwahnenswert, um nicht vielleicht ein der Abstinenz, den
Darmstorungen, dem Fieber usw. entgegenwirkendes „antidispo-
sitionelles" Moment zu iibersehen. Immerhin konnte ich zwei
„Abstinenzffille“ beobachten. Davon ist aber der eine kein
psychiatrischer, und der andere ist der Wirkung starker Alkohol -
dosen nach longer Abstinenz zuzuschreiben, iiberdies spielt in beiden
der Schnaps eine kausale Rolle.
Einer der ganz seltenen Schnapstrinker beim Regiment, ein Koch,
kollabierte nach Tangem Marsoh und wurde fiir sterbend gehalten. Er hatte
durch viele Tage keinen Alkohol mehr erlangen konnen. Auf Kampfer-
injektionen und in der Stadt, an deren Toren er zusammengebrochen war,
rasoh beechafften Kognak eriolgte iiberraschend schnell voile Erholung.
Mehr habe ich iibor ihn nioht erfahren, da er einem anderen Bataillon dee
Regiments angehorte.
25*
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384 L 6 w y , Neurologische ufad. psychiatrische Mitteilungen
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Der zweite Fall war ein pathologischer Rausch. Em als Ordonnanz
bestellter Lehrer hatte sich durch ordentliche F.iihrung, Besonuenheit, ernste
Haltung und durch grp Be Findigkeit auf gefahrlichen Patrouillengangen.
und in schwierigen Situationen vielfach ausgezeichnet. Er hatte so das Ver-
trauen aller seiner Vorgesetzten erworben und sollte vom Ersatzreservisten
zum Korporal befordert werden. Einmal urn die Mittagszeit zum Dienst
antretend, stellte er den befehlgebenden Offizier dariiber zur Rede, daB er
warten miisse; er sei um 2 Uhr bestellt und es sei schon ziemlich dariiber.
Scharf ziirechtgewiesen ging er noch mehrere andere der anwesenden Offi-
ziere mit undienstlichen Fragen an und schien sein Militarverhaltnis ganz
vergessen zu haben. Wahrend dieser Vorfalle von mir scharf beobachtet,
raachte er in Sprache imd Bewegung durchaus nicht den Eindruck eines
Betrunkenen oder der Heiterkeit, sondern hochstens den einer gewissen
Gereiztheit. Dabei war auch seine Orientierung und Personenkenntnis und
seine auBere Haltung ganz korrekt, wenn man von der AuBerachtlassung
seiner militarischen Stellung imd der Kriegssituation absieht. Sofort von
seinem momentanen Dienste enthoben und in seine nahegelegene Ubikation
geschickt, maohte er seinem unmittelbar vorgesetzten Offizier den Eindruck
schwerer Trunkenheit, murrte etwas und verfiel bald in tiefen Schlaf. Nach-
her hatte er fast voile Amnesie fiir das Vorgefallene: er wuBte mir, es sei
etwas sehr Peinliches geschehen, er miisse etwas angestellt haben, im ubrigen
hatte er nur noch die Erinnerung, dafl er von einem Kameraden mehrere
Glaschen Kognak hintereinander angeboten bekommen und rasch getrunken
habe, bevor er zum Dienste antrat. Auch gibt er durchaus glaubwiirdig an,
friiher niemals Kognak und seit langerer Zeit liberhaupt- nichts Alkoholisches
getrunken zu haben. Diese Erklarung seines ganz auffalligen Verhaltens —
und gerade auf diese Auffalligkeit bei auBerer Korrektheit der Haltung, der
Sprache und Bewegung basierte ich meine Diagnose des pathologischen
Rausches — und die Besonnenheit seiner Offiziere klarte die fiir den Be-
treffenden hochst gefahrliche Situation dahin, dafl von einer Strafverfolgung
abgesehen wurde. Er fiihrte sich for tab wieder ganz niichtem und be-
scheiden und so vorziiglich, daB er bald zum Korporal und spater zum Zug-
fiihrer avancierte.
Ueberhaupt gab es, als nach langer Abstinenz Alkohol wieder
kauflich wurde, und zwar nur in Form von Schnaps und Kognak,
mehrfach schwere Rausphe im Rastorte unter der Mannschaft.
An demselben Tage, an dem sich der pathologisqhe Rausch er-
eignet hatte, traf ich zu Ehren des Rasttages so schwer Betrunkene,
daB sie taumelnd und lallend sich nach ihrer Ubikation zurecht-
fragen muBten, weil sie sie nicht finden konnten, jedoch kam es
zu keinen Unzutraglichkeiten im Dienste. Ein Verbot bereitete
dem hastigen Einkauf und GenuB derAlkoholika wie demSchenken-
besuch in Rastorten ein ranches Ende und damit auch den Trunken-
heitsfallen, welche scharf mit dem sonst so gesetzten Wesen der
Egerlander Landsturmmanner kontrastiert hatten.
Sicher auf sexuelle Abstinenz zuriickgehende Storungen kamen
mir nicht zur Beobachtung. Zur Zeit der schweren Strapazen fehlten
nach vielen ubereinstimmenden Angaben die Morgenerrektionen
und jede Libido ganzlich.
Von psychiatrisch-atiologischem Interesse im Felde scheint
mir nachst der Alkoholfrage besonders die Wirkung des Artillerie -
fetters. Nicht nur mir, sondern auch den Nichtarzten auffallig
wurde ein besonderer Gesichtsausdruck bei den dem Artilleriefeuer
lange ausgesetzt Gewesenen. Ich bezeichnete diesen Gresichtsaus-
druck als ^Kanonengesicht^, Es stellte sich ein, nachdem wir
tagelang im feindlichen Artilleriefefuer gelegen hatten, ohne selbst
zu einer energischeh Aktion zu gelangen — entsprechend der
Aufgabe, eine bestimmte Stellung zu halten. Wir hatten keine
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aus detn Kriege.
385
nehnenswerten Verluste, aber auch kerne bombensicheren Deokun-
gen und wurden st&ndig beunruhigt durch Bestreiohen tinseres
ganzen Wald- und Berggebietes mit Schrapnellfeuer nnd spater
auch mit schwerem Geschtitz (Granaten usw.) unter groBem
Munitionsaufwand der feindlichen Artillerie. Esbegann meist mit
dem Morgengrauen, ging bis zur Mittagsstunde. zur Menagezeit
gegen %2 „spuckten sie uns schon wieder in die Suppe“. Von da
ab ging es bis zum Dunkelwerden und wiederholte sich endlich spftt
abends oder nachts nochmals und iiberdies auch schon bei kleinen
Truppenbewegimgen (Ankunft der Fahrkiichen, Betatigung der
Sanitatsabteilung, scilicet mit nicht entfalteter Fahne). Wir hatten
alle nach etwa 11 tagiger unausgesetzter BeschieBung einen Aus-
druck diiaterer Spannung im Gesicht, der bei einzelnen auch etwas
weltschmerzlich-ironisches hatte. Dieser Ausdruck' — in beidgn-
Formen dem der Paranoiker nicht unahnlich — verlor sich nach
einigen Tagen der Entfernung aus dem standigen Artilleriefeuer.
Auch an uns begegnenden Infanterietruppenkorpern habe ich diesen
Ausdruckge8ehen,darunterauchanreichsdeutschenTruppen,welche
wohl frisch vom westlichen Kriegsschauplatz eingetroffeh waren.
Ein wonig hauften sich im Artilleriefeuer die Diarrhoen der
Mannschaft; zur selben Zeit bestand aber auch Dysenterie, welche
fast alle ergriffen hatte. Bei starkem Artilleriefeuer stieg nun. die
Zahl der Stiihle bei vielen und die Zahl der Austretenden vermehrte
sich sichtlich, auch wurde die Konsistenz der Stiihle diinner und
der Blutgehalt stieg (Vermehrung der Peristaltik). Einzelne klagten
iiber Magendruck und Uebelkeit — fraglich ob als Dysenteriefolge
oder als Begleiterscheinung resp. als Aequivalent der Angst.
Darunter waren Leute, welche sich spaterhin bei einem StuTm-
angriff durch auBerordentliche Bravour hervortaten. Es scheint
eben beziighch der Affektlage etwas ganz anderes Zu seiru sich
kampfend in eigner Tat zu fiihlen, als wehrlos dem feindlichen
Feuer standzuhalten.
Einmal war ich etwa 7 Stunden mit dem Bataillonskoihmahdo
und meiner Sanitatsabteilung dem schwersten Artilleriefeuer ginz-
lich ohne Deckung ausgesetzt, da die uns angewiesene Stellung
knapp vor und zwischen zwei von unseren auffahrenden Batterfen
zu liegen kam. Kaum hatten diese zu feuem hegonnen, so fegte
ein standiger Hagel von feindhchen Schrapnells und Granaten
heriiber. Der war so dicht und imausgesetzt, daB das- Erreichen
einer Deckung oder des einige hundert Schritte hinter uns gelegenen
Waldrandes aussichtslos erschien. Wir vermochten Wohl Zeituhg
zu lesen, zugleich dabei die Richtung der „russischen Reisenden",
wie ich die schweren Granaten wegen ihres Gerausches in der Luft
nannte, imd der Schrapnells verfolgend; ich hatte aber wahrettd
der Lekture ein Druckgefuhl im Magen und einen zusammen-
ziehenden iiblen, dem bitteren ahnlichen Geschmack im Munde.
Dieser wich mit dem Nachlassen des Feuers.
Nach mehreren Monaten des Frontdienstes beobachtete ich
an mir auch eine. akust-ische Ueberempfindlichkeit gegeD deh
Kanonendonner mit ahnlichen Sensationen im Magen und Munde,
auch wenn es sich nur um vereinzelte Schusse der eigehen Artillerie
ohne Antwort vom Gegner handelte. Dabei war der Eindruck des
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386 L 6 w y , Neurologisohe und peychiatrische Mitteilungen
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Infanteriefeuers nach wie vor kaum nennenswert. Doch ist diese
eigene Beobachtung nicht rein, da ich zu jener Zeit vielfach Fieber
hatte und vergesaen habe, bei anderen dieser Erscheiniing nach-
zugehen.
Sicher beobachtete ich bei der Mannschaft nach schwerer
BeschieBung gehaufte Klagen iiber Par&sthesien und Schw&ohe-
gefiihl in den Beinen (wohl Analogs des Knieschlottems und des
Weichwerdens in den Knien, also des Tonusverlustes der Muskulatur
bei Angstzust&nden). Diese Sensationen fixierten sich bei einer
Anzahl und bestanden dann noch tagelang bis wochenlang auch
auBer Feuerbereich — ohne Trousseau, d. h. ohne daB die Par-
ftsthesien etwa tetanischer Natur gewesen waren. (Daran war
n&mlich zu denken, weil die gleichzeitig bestehende Dysenteric des
ostlichen Kriegsschauplatzes in einer Anzahl von Fallen von
Tetanie begleitet resp. gefolgt war.) Einzelne dieser Dauergruppe
nicht-tetanischer Parasthetiker wie sen meist syjnmetrische, ge-
legentlich halbseitige hysteriforme Analgesien an Handen und
FUBen — seltener an Armen und Beinen — auf, sockenformig oder
pantoffelformig nur den VorderfuB einbegreifend, handschuhformig,
strumpfformig unter Freilassung von Hand imd FuB an den Vorder-
armen und Unterschenkeln usw. In einem dieser F&lle bestanden
Klagen iiber schlechtes Sehen, es fand sich eine hochstgradige
konzentrische Gesichtsfeldeinschrankung.
(Aehnliche Par&sthesien und Sensibilit&tsstorungen sah ich im
Hinterlande zusammen mit weiter unten noch zu erw&hnenden
psychischen Stbrungen oder rein (und daim von den Patienten
meist als Bheumatismus bezeichnet). Einzelne davon schwanden
nach monatelangem Bestehen zugleich mit der Ruckkehr des
Corneal- und Rachenreflexes.)
In vereinzelten Fallen des Bataillons bestanden im Felde und
noch gehaufter nach dem Verlassen des Gefechtsraumes hypo-
chondrische Klagen iiber den Magen und iiber Bheumatismus, die
objektiv nicht begriindet waren, sich durch ihre hypochondrische
Diktion verrieten und bei einer irrelevanten Therapie oder vieUeicht
mit der zunehmenden korperlichen und psychischen Erholung
schwanden.
Hartnackiger erwies sich ein Fall von traumatischer Neurose
mit querulatorischem Timbre.
Dieee entstand durch einen echten Unfall, n&mlich durch den Fall
eines Pferdes von einer Boschung herab auf den unten stehenden Infante-
risten. Er erlitt eine geringe Quetschung an der linlcen Hiifte. Die Schmerzen,
iiber die er unausgesetzt klagte, saQen in der rechten Hiifte, ohne daB er hier
eine Quetschung gehabt oder gefiihlt h&tte und erwiesen sich weder durch
Znspruch noch durch Ablenkung, noch durch Medikation beeinfluBbar.
Ignorierung wurde paranoid-querulatorisch gedeutet. Trotzdem tat der
Mann nach emeutem Ausmarsch seinen Dienst. Bei einem Sturm, bei
welchem sich das ganze Bataillon auBerordentlieh bewahrte, hatte er sich
noch besonders hervorgetan — er fing allein eine ganze Gruppe von Russen.
Sofort nachher waren alle seine Besohwerden in der Hiifte verschwunden,
wie er selbst angab, und blieben es auch, so lange ich ihn beobachten konnte.
Der friiher miirrisch wehleidige Geselle wurde frisoh und aufger&umt.
Von Epileptikem bekam ich auf dem Marsche und im Ge-
fechtsraum nur vereinzelte zu Gesicht. Sie zeigten typische Krampf-
anf&lle mit anschlieBender kurzer BewuBtseinstrubung. Es stellte
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aus dem Kriege.
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8ioh heraus, daB sie schon in Zivil seit Jahren daran gelitten hatten,
bei der Pr&sentierung aber die Meldung ihres Leidens unterlieBen.
Dies sind die Beobachtungen am eigenen Bataillon von August
bis November. In einer Zwischenpause des Frontdienstes im
Oktober hatte ich Gelegenheit — dank der Gastfreundschaft von
Prof. PUcz, Ordinarius der Krakauer psychiatrischen Universitats-
klinik, welche als klinisches Festungsspital geisteskranken Soldaten
und Offizieren mit den verschiedensten psychischen Storungen
als Aufnahmestatte diente —, ein interessantes Psychosenmaterial
eingehend mitzubeobachten.
Auch die psychiatrische Abteilung des Krakauer Garnisons-
spitals (Abteilungs-Chefarzt Dr. Hawel aus Bohnitz bei Prag)
konnte ich besichtigen. Ueber die Krakauer Falle wird wohl von
befugter Seite zusammenfassend berichtet werden. Doch will ich
nicht verfehlen hervorzuheben, daB es sich in diesen Aufnahme-
statten fast durchweg urn ausgesprochene Psychosen aus dem
Kampfraume handelt, wahrend diese in meinem eigenen Ursprungs-
materiale — der kampfenden Landsturmtruppe — fehlten. Es
scheint mir fur diesen Umstand neben der Basse, vor allem das
hohere Alter meiner Landsturmmanner und Offiziere in Betracht
zu kommen. Ob diese meine Annahme zutrifft, kann spaterhin
eine darauf gerichtete Statistik (iiber Lebensalter, Truppengattung
und Nationalit&t) der Krakauer Aufnahmestatten unschwer lehren,
eben wegen der Gemeinsamkeit des Kampfraumes und der SuBeren
Umstande.
Eine weitere Bereicherung meiner kriegspsychiatrischen Er-
fahrungen brachte mir eineKommandierung zum k. u. k. Buhrspitale
in Pisek und die Freundlichkeit des Garnisonchefarztes und Chef-
arztes des k.u.k. Beservespitals in Pisek, Stabsarzt Dr. HeinrichTyl.
Was ich sah, entsprach durchaus dem Bilde, wie es mir Stabsarzt
Dr. Tyl nach seinen friiheren schon geheilten Fallen im vorhinein
skizziert hatte. Diese Kriegspsychose nach Tyl betrifft zum aller*
groBten Teile vom serbischen Kriegsschauplatz kommende Offiziere.
Ein Teil der Kranken hatte noch wenige Tage vor dem Eintreffen
im Kampre gestanden. Dr. H. Tyl betont mit Becht an erster
Stelle die depressive Grundstimmung und durchaus pessimistische
Auffassung der Kriegslage: durch Hervorhebung vor allem der
deprimierenden Umstande in den eigenen Erlebnissen bei friiher
nicht dazu Neigenden, die konsequente Ignorierung gunstiger und
aussichtsreicher Vorkommnisse, die Neigung zu krankhafter, ge-
legentlich ungeheuerlicher Uebertreibung des Bedrohlichen in der
allgemeinen Cage, alles Ausdruck der eigenen generalisierten und
generalisierenden Hoffnungslosigkeit.
In der Mehrzahl jener Falle, welche frisch vom serbischen
Kriegsschauplatze kamen, fiel Stabsarzt Tyl zugleich eine hoheBeiz-
barkeit und Erregbarkeit auf. In einem solchen von mir mitbeob-
achteten Falle erinnerte sie direkt durch das Schwanken zwischen
Buhrung imd Gereiztheit an den manischen Stimmungswechsel, nur
fehlte die Heiterkeit. (In diesem Falle bestanden pantoffel- und
handschuhformige Anasthesien, Fehlen des Bachenreflexes.)
In alien Fallen war trotz des in den ersten Tagen durchweg
schlafrigen Ausdrucks (auch der Erregten) der Schlaf schlecht,
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388 L 6 \v y , Neurologische und paychiatrische Mitteilungen etc.
die Sohreckfoilder der eigenen. Erlebnisse kehrten im Traume wie
auoh atnTagein V orstellungen undErinnerungsbildem immer wieder.
Ee bestehen in der Regel. nebeneinander Unruhe und Apatbie
mit; deutlichen subjektiven und objektiven ,,Gedankenlucken“,
dem ^Vacuum”, d. h. mit momentaner Gedankenleere, welche zu
einem Abreifien des Gedankenfadens fiihrt. Diese Erscheinung
beruht aul einer Konzentrationserschwerung, welche auch objektiv
bei der Merkfahigkeitspriiiung (durch 4 aufgegebene einfache
Zahlen) oder beim Kopfrechnenlassen nachweisbar ist, (wahrend
das Gedachtnis an sich ungestort erscheint). Diese Konzentrations-
achw&che ist nicht identisch mit Ermiidbarkeit und mit der er-
wahnten Schlafrigkeit. Sie findet sich sowohl bei Erregten wie bei
Apathischen und besteht nach Wochen der Erholung noch, nachdem
der im Felde ja alien fehlende Schlaf langst eingeholt ist. (Das
Nachholen des Schlafes bringt auch den Ausdruck der Apathie bei
diesen Kranken nicht voll zum Schwinden.) Die Konzentrations-
schwache steigt zwar durch langere ermiidende Inanspruchnahme,
aber sie besteht auch beim Ausgeruhten von Beginn des Examens an.
In einem Falle bfcstand deutliche subjektive und objektive Hemmung
in Sprache, Bewegungen und im Gedankenablaufe, eine isolierte Selbst-
anklage als Massenmorder (am Maschinengewehr), eine gewisse depressive
Eigenbeziehung, ,,er moge nicht ausgehen, weil seine Bekannten es alle
wissen und die Leute mit ihm als Morder nicht werden verkehren wollen“,
der Gedanke, deswegen nicht weiterleben zu konnen — neben Schlaflosigkeit,
st^lndigem zwangsmaBigen Erinnern an die Schreckerlebnisse, an von
Hunden benagte heiclien, an den von ihm erschossenen feindlichen Kom-
mandanten usw.). Abmagerung, Obstipation, Appetitlosigkeit, Steigerung
der Reflexe, Gesichtsfeldseinschrankimg.
Die somatische Untersuchung aller Falle ergab regelmaCig
Steigerung der Patellarreflexe, haufig konzentrische Gesichtsfelds-
einschrankung, noch haufiger Analgesien an den Extremitaten
oder halbseitig, ferner mehr minder starken Tremor, bei einem der
Apathischen auch des Kopfes. Fast alle waren abgemagert und
erschopft, manche von schlechtem Appetit, obstipiert.
Da die Mehrzahl der betroffenen Offiziere Stabsarzt Dr. Tyl
seit Jahren arztlich und personlich sehr gut bekannt war, ware
ihm eine vorbestehende besondere psychische Labilitat und Vulnera-
bilitat aufgefallen. Mangels einer solchen betont H. Tyl die bohe
Spannung und Verantwortung des Offiziers, die psychische und
korperliche Ueberanstrengung, endlich die Besonderheiten des
sudlichen Kriegsschauplatzes — das sind koupiertes Terrain (Hiigel,
undurchdringliche Kukuruzfelder) und die entsprechende Kampf-
methode des Gegners —, endlich kommt die schwer deprimierende
Wirkung der Riickzuge in Betracht. Der Verlauf und Ausgang ist
nach mehrwochentlicher Ruhe giinstig, die Mehrzahl der Kranken
steht schon wieder an der Front.
Zvsammenfassend la,fit sich sagen: es handelt sich um reaktive
Storungen bei Gesunden, um einen Niederbruch unter der Belastung
durch die Kriegserlebnisse und Kriegsstrapazen . Es entstehen
psychopathische Episoden von Erregung und reaktiver Depression.
Bald iiberwiegt die Apathie , bald die Erregung , am haufigsten besteht
eine Mischung von Depression , Erregbarkeit und Apathie.
Die Krankengeschichten einzelner solcher und anderer Falle
sollen spater folgen.
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