Skip to main content

Full text of "Mschrft Psychiat Neurol 1915 37"

See other formats




7T 























Digitized by 


Go i gle 


OrigiJr "il frcrrv 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 































. ' 

' -?• €■% $ •> * ■ • ; * i f |r 

R •• * ',V. J([ $. W/ff 1 

* 

■ 1 V t i 

v :> -• ‘ * " 1 (>* vt 

. . -- - ...i <&>? * ,*.■ t • • • 




• • V vs! V- 

' \ *.l| 1 

...•; _ ■ 

. 

< U . t 

" - •• 1 , 

■ , , *■ :,•■•>> ' '* * i I 

.... >», . 

I 


• I i , T . . i 

• ■. 

■ . . ..■■■ 


Digitizer by \ jO 5lC 


* -« 


'XxSf 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 


















v. • t • ■ ^ . rV^TJ •' 





•»>•; • v" * •.'■ /.;*■ < . - — ■ - 

■*■ — . .... ,.f . — . 

♦ - . •• ■**•• ■- : ^ - • 







Digitized by 


Go gle 






J . 


\ ;•;■ 
- 1' . 






' 

Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 































Monatsschrift 

fiir 

Psychiatrie und Neurologie. 


Herausgegeben von 


K. Bonhoeffer. 


Bd. XXXVII. 


Mit zahlreichen Abbildungen im Text und 3 Tafeln. 



BERLIN 1915 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSB 15. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 





Alle Beohte vorbehalten 


Gedruckt bei Imberg & Lefson, G. m. b. H. in Berlin SW 48 


Digitized by C^QuQle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhalts -V erzeichnis. 


Original-Arbeiten. s** 

Bimbaum, Karl, Pathologische Uberwertigkeit und Wahn- 

bildung. 39, 126 

Bonhoeffer, K., Doppelseitige symmetrische Schlafen- und 
Parietallappenherde als Ursache vollstandiger dauemder 
Worttaubheit bei erhaltener Tonskala, verbunden mit 

taktiler und optischer Agnosie. 17 

—. —, Psychiatrie und Neurologie. 94 

Borchardt, Ludwig, Ungewohnlicher Symptomenkomplex bei 

einem Fall von symptomatischer Psychose.116 

Budvl, H., Beitrag zur vergleichenden Bassenpsychiatrie . 199 

Forster, E., und Erich Scldeavnger, tJber die physiologische 

Pupillenunruhe und die Psychoreflexe der Pupille 197 
Jdrger, Joh. Ben., tJber Assoziationen bei Alkoholikem . 246, 323 


Kramer, Franz, Lahmungen der Sohlenmuskulatur bei Schufi- 

verletzungen des Nervus tibialis. 11 

Ldwy, Max, Neurologische und psychiatrische Mitteilungen 

aus dem Kriege .380 

Marburg, Otto, Beitrage zur Frage der kortikalen Sensi- 

bilitatsstorungen. 81 

Meyer, Hugo, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysen- 

cyste.228 

Mingazzini, 0., tTber den gegenwartigen Stand unserer 

Kenntnis der Aphasielehre.150 

Muskens, L. J. J., Psychiatrie, Neurologie und Neuro- 

chirurgie.374 

Pick, A., Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen 143 
— —•, Zur Lehre vom Verh&ltnis zwischen pathologischer 

Vorstellung und Halluzination.269 

Pojypelreuter, W., t)ber den Verauch einer Revision der 
psycho physiologischen Lehre von der elementaren 
Assoziation und Reproduktion.278 


293386 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 















— IV — 

Selte 


Redlicliy Emil , Zur Narkolepsiefrage . 85 

— —Zur Frage der operativen Behandlung der SchuB- 

verletzungen peripherer Nerven. (Hierzu Taf. I) . . 333 

Romer , C., t)ber die Pathogenese des Sonnenatichs . . 104 

Schroder , P Von den Halluzinationen. 1 

Schultz , J. H., Beitrage zur somatischen Symptomatik und 

Diagnostik der Dementia praecox . ..205 

Schuster , P., Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik 
der Meningitis serosa spinalis circumscripta. (Hierzu 

Taf. II—III).341 

Buchaazeige 141 

Ludwig Edinger . 267 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 









(Aus der psychiatrischen. und Nervenklinik zu Greifswald.) 

Von den Halluzinationen. 

Von 

Prof. P. SCHRODER. 

Ueber Halluzinationen ist wahrend der letzten Jahre reichlieh 
und ausfiihrlich in der psychiatrischen Literatur geschrieben 
worden. Den Inhalt der Arbeiten machen der Hauptsache nach 
psychologische und philosophische Erorterungen aus iiber das 
Wesen und Zustandekommen der Sinnestauschungen, iiber das 
Problem des Halluzinierens in erkenntnis-theoretischer Hinsicht, 
iiber die Frage der Lokalisation der Halluzinationen im Gehim 
und ahnliches mehr; dagegen stehen symptomatologische und 
klinische Fragen stark im Hintergrund, neues Untersuchungs- 
material wird nur sparlich beigebracht, und vorwiegend alter© 
Schilderungen und Auffassungen, bis zuriick zu Johannes Muller 
und Esquirol , geben die Grundlage ab fiir die Auseinandersetzungen, 
sowie fiir die Aufstellung, Bekampfung und Verteidigung von 
Theorien, deren Angelpunkte auch ihrerseits im wesentlichen die 
gleichen geblieben sind. Es hat fast den Anschein, als habe sich bei 
den Autoren allmahlich, und schon seit langem, eine fixierte Vor- 
stellung davon festgesetzt, wie eine „echte“ Halluzination be- 
schaffen sein miisse und als werde mit diesem B e g r i f f gearbeitet; 
was nicht ganz in die Definition paBt, gibt Gelegenheit zur Auf¬ 
stellung verschiedener Gruppen von ,,Pseudohalluzinationen“. Das 
Halluzinieren gilt als ein mehr oder weniger einheitlicher, von 
anderen psychotischen Erscheinungen gut abgrenzbarer elemen- 
tarer Vorgang, Illusionen und Halluzinationen werden theoretisch 
scharf geschieden, die alte rein auBerliche Einteilung nach Sinnes- 
gebieten bzw. nach der Ein- oder Mehrzahl der beteiligten Sinnes- 
gebiete ist die vorherrschende; es wird eingehend erortert, wodurch 
die in letzter Linie alien Halluzinationen zugrunde liegenden eigenen 
Vorstellungen (Erinnerungen) des Kranken fiir ihn den Charakter 
der Wahmehmung erhalten, es wird nach Erklarungen gesucht fiir 
die Grundlage desRealitatsurteils u.s.f. Auf der anderen Seite sehen 
wir jedoch, daB fiir die Mehrzahl der Kliniker der Begriff des Hallu¬ 
zinierens ein gut Teil dieses alten starren Geprages verloren hat. 
Damit haben auch die in Betracht kommenden theoretischen Frage- 
stellungen allerlei Verschiebungen gegeniiber der Zeit vor fiinfzig 
und mehr Jahren erlitten, und so kann es kommen, daB sich die 
Erorterungen in manchen der psychologischen und philosophischen 

Mouatssohrift f. Psyohlatpie u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 1. 1 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



2 Schroder, Von den Halluzinationen. 

Schriften iiber das Halluzinieren aus den letzten Jahren mit den 
klinischen Bediirfnissen und Wiinschen nicht iiberall decken. 

Aeltere und neue Definitionen stimmen, scheint es, darin 
ii herein, daC Halluzinationen (fiir den Kranken, subjektiv be- 
trachtet) Wdhrnehmungen sind, ,,Wahmelunungen ohne au Ceres' 
Objekt“ (E. Mendel), ,,Wahmehmungen ohne Erregung des be- 
treffenden Sinnesgebietes durch ein aufieres Objekt, nur infolge 
innerer Reize“ ( Binsivanger ), ,,Wahrnehmungen, denen keine wirk- 
lichen Dinge entsprechen“ ( Goldstein ), ,, Wahmehmungen oder 
Sinnesempfindungen, welchen das Individuum voile Realitat bei- 
mifit, trotzdem keine physiologische Erregung bei ihnen vorhanden 
ist“ ( Heveroch ). Halluzinationen sind nach diesen bestimmt formu- 
lierten Erklarungen dem Kranken das gleiche wie seine normalen 
Wahmehmungen, ,,die echten Halluzinationen sind in jeder Be- 
ziehung den normalen Wahmehmungen gleiche psychologische 
Phanomene", sie „unterscheiden sich von der Wahmehmung . . . 
subjektiv, als psychischer Tatbestand durch nichts“ (Goldstein). 
Das ist eine Auffassung, die man allenthalben, prazise oder weniger 
prazise, wiederfindet, gegen die sich aber manches vorbringen und 
geltend machen lafit. 

Sucht man am Krankenbett nach Halluzinationen entsprechend 
den angefuhrten Definitionen, dann sind Halluzinationen etwas ver- 
haltnismaCig Seltenes; denn tatsachlich sind der Halluzinanten 
nicht gerade sehr viele, fiir welche die Sinnestauschungen den vollen 
Charakter der ihnen sonst bekannten alltaglichen Wahmehmungen 
haben. Solche Halluzinanten gibt es, ihre charakteristisChen An- 
gaben lesen wir immer wieder als Paradigmata in Einzelabhand- 
lungen und Lehrbiichem, und auf ihre oft sehr prazisen und pra- 
gnanten Schilderungen werden dieTheorien von den Halluzinationen 
mit Vorliebe aufgebaut; aber es sind das nur ganz bestimmte 
Gruppen von Kranken, die groCtenteils einigen wenigen, in den 
Klimken und Anstalten nicht einmal haufigen Krankheitstypen 
angehoren. Hauptsachlich handelt es sich um Deliranten aller Art 
und um Kranke mit akutem Alkoholwahnsinn, sowie mit anderen 
akuten halluzinoseahnlichen Episoden; meist werden den Schilde¬ 
rungen dieser Kranken als nahe verwandt, aber schon ins Normale 
heriiberfuhrend, angegliedert die Selbstbeobachtungen in Traumen 
und hypnagogen Zustanden, sowie diejenigen besonderer ,,Kunstler- 
naturen“ mit stark sinnlichem Vorstellungsvermogen. Diesen 
gegeniiber trifft es aber fiir die grofie Mehrzahl der psychisch 
Kranken und Abnormen nicht zu, dafi ihnen ihre Sinnestauschungen 
in jeder Beziehung den normalen Wahmehmungen gleichen; das 
ist ein Grund, der es unberechtigt erscheinen lassen muB, die oft 
geschilderten, voll leibhaftigen Sinnestauschungen allein als ,,echte“ 
zu bezeichnen und ihnen das Gros der anderen als weniger oder 
gar nicht ,,echt“ nur anzugliedem. Eine solche Einteilung und 
Bewertung tragt den klinischen Tatsachen und den klinischen 
Bediirfnissen schlecht Rechnung; sie kann Interesse haben fiir 
mancherlei psychologische Einzelfragen und Erorterungen, aber 


Digitized by 


Go igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Schroder, Von den Halluzinationen. 


3 


daB sie klinisch von einschneidender, nicht nur von oberflachlicher 
symptomatischer Bedeutung ist, miiJJte erst noch dargetan werden. 
Gerade so berechtigt und moglicherweise sogar fruchtbarer fiir die 
psychologische Betrachtung der Halluzinationen konnte es sein, 
umgekehrt die von den Autoren mit Vorliebe als echte heraus- 
gehobenen nur als besondere, verhaltnismaBig seltene Ausnahmen 
dem Gros der haufigsten Sinnestauschungen anzureihen. 

Wer halluzinierende Geisteskranke untersucht, ohne bestimmte 
Gruppen eigens auszuwahlen, dem muB auffallen, wie die bei weitem 
meisten Kranken in ihren Angaben und Schilderungen imruer 
wieder zu erkennen geben, daB es etwas Besonderes, Eigenartigee, 
Ungewohnliches ist, was sie wahrzunehmen vermeinen, etwas, das 
von den gewohnten Alltagswahmehmungen abweicht nicht nur in 
seiner Deutungsmoglichkeit und Erklarbarkeit, sondem auch in 
seinem elementaren sinnlichen Charakter; das geht bereits hervor 
aus der haufigen Heranziehung von Vergleichen, von unbestimmten 
und ungenauen Benennungen, sowie aus dem sehr haufigen Ge- 
brauch der Redewendungen ,,als ob“, ,,wie wenn“ (z. B.: mir ist, 
als ob es mir im ganzen Korper heraufzieht, wie wenn meine Frau 
eben gerufen hatte usw.). Es ist dann oft leicht nachzuweisen, daB 
die Benennung, welche die Kranken zunachst wahlen, nur eine 
denominate e potiori ist, weil es genauere sprachliche Bezeich- 
nungen fiir das, was die Kranken wahrzunehmen vermeinen, iiber- 
haupt nicht gibt, oder weil die Kranken sich vorerst nicht die Miihe 
geben, ganz prazise zu sein; sie berichten von Sprechen, das sie 
horen, von einem Stechen, das sie fiihlen, und fragt man weiter, 
so geben sie an, es sei eigentlich gar kein Sprechen, es seien nicht 
einmal eigentlich Worte, es sei eigentlich auch kein Stechen usf. 
Allerdings ist das Verhalten verschiedener Kranken darin ver- 
schieden, je nach ihrer Neigung und Fahigkeit gut zu beobachten, 
bzw. nach der jeweiligen Moglichkeit, von diesen Fahigkeiten Ge- 
brauch zu machen; von imbezillen, benommenen, affektvoll sehr 
erregten oder von dement gewordenen Kranken wird man solche 
Aufschliisse seltener erhalten. l)azu kommt, daB wir selber das 
Wahlen solcher nicht ganz oder iiberhaupt nicht zutreffenden Be- 
zeichnungen bei dem ersten oberflachlichen Krankenexamen nicht 
selten unterstiitzen, dadurch, daB wir direkt und suggestiv fragen 
beispielsweise nach Stimmen, nach bestimmten korperlichen Be* 
lastigungen, nach Gestalten usw., und daB wir uns mit einer be- 
jahenden Antwort auch zufrieden geben. DaB ein groBer Teil der 
Kranken mit sprachlichen Halluzinationen (Phonemen) dafiir den 
Terminus ,,Stimmen" wahlt oder ihn wenigstens sofort akzeptiert, 
ist gleichfalls gewiB kein Zufall, sondem hat als Grund, daB ihnen 
dieser besondere Name fiir das Besondere der Wahmehmung, fiir 
ihre Andersartigkeit, ihr Abweichen von dem sonstigen Sprechen- 
horen, passend erscheint; denn Kranke mit sprachlichen Halluzina¬ 
tionen von vollkommener Sinnlichkeit und Leibhaftigkeit reden 
nicht von Stimmen (falls nicht auch sie besondere Griinde dazu 
haben), sondem geben an, daB diese oder jene bestimmte an- 

1 * 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



4 Schroder, Von den Halluzinationen. 

wesende oder in der Nahe befindliche Person dies oder jenes 
spreche (projizierte Phoneme Wernickes). 

Am besten bekannt ist die Andersartigkeit, das Abweichen 
von den gewohnlichen Wahmehmungen bei einem groBen Teil der 
Sensationen Geisteskranker; die Empfindungen und Wahmehmun¬ 
gen, xiber die berichtet wird (in der Haut, in den Eingeweiden, in 
einzelnen Korperabschnitten, im ganzen Korper), machen dem 
Kranken ganz gewohnlich den Eindruck des Neuen und Ungewohn- 
lichen, das er aus gesunden Tagen her nicht kennt. Damit hangt 
es zusammen, dafi gerade solchen Kranken ganz besonders haufig 
fur das Eigenartige, das sie vermittelst des Gefiihlssinns wahr- 
zunehmen glauben, in unserer Sprache die Worte und Bezeich- 
nungen fehlen, und dafl sie deshalb zur Verstandlichmachung 
immer wieder Vergleiche wahlen, oder aber sich selber neue Worte 
schaffen bzw. alten Worten einen speziellen neuen Inhalt geben 
(Kunstausdriicke der Kranken). Es ist richtig, daB solche Sen¬ 
sationen haufig sind gerade bei Kranken mit tiefgreifenden, meist 
nicht wieder ausgleichbaren psychischen Veranderungen, bei 
Kranken, welche oft allgemein die Neigung zu absonderlicher, 
manirierter, verschrobener Sprechweise haben; aber es ist nicht 
angangig, in alien Fallen die allgemeinen psychotischen Erschei- 
nungen (Demenz, Versehrobenheit, Zerfahrenheit) als Erklarung 
fiir sonderbare Benennungen krankhafter Empfindungen geltend 
zu machen, vielmehr wird man sehr haufig in den eigenartigen 
Bezeichnungen das sprachliche KGrrelat fiir die eigenartigen, un- 
gewohnlichen Wahmehmungen zu erkennen haben. Das diirfen 
wir in der Regel ohne weiteres dann annehmen, wenn festzustellen 
ist, da£ die Kranken sich korrekt und nicht von dem iiblichen ab- 
weichend ausdriicken, solange von ihren Sensationen und den damit 
im Zusammenhang stehenden Wahnideen die Rede nicht ist. Man 
lauft die Gefahr einerPetitio principii zu Gunsten der Voraussetzung, 
daB Halluzinationen im engeren Sinne sich von der normalen Wahr- 
nehmung in nichts unterscheiden, wenn man allgemein behauptet, 
die psychischen Funktionen miiBten um so tiefer damieder liegen, 
je mehr die Sinnestauschungen, welche fiir real gehalten werden, 
von der normalen Wahmehmung abweichen. 

Eine weitere wichtige, bekannte und haufig zu machende 
Beobachtung ist die, dafi Kranke, welche nach ihren ersten Angaben 
oder nach ihrem Verhalten augenscheinlich auf einem oder 
mehreren bestimmten Sinnesgebieten halluzinieren, bei naherem 
Befragen nicht sicher, oder nicht ganz sicher zu entscheiden ver- 
mogen, welches Sinnesgebiet ihnen das angeblich Wahrgenommene 
vermittelt. Auch das ist eine Eigenschaft, durch welche sich Hallu¬ 
zinationen sehr haufig von den normalen Wahmehmungen unter¬ 
scheiden; es sei denn, daJJ man wieder in alien solchen Fallen die 
Bezeichnung Halluzination fiir unzulassig erklart. Derartige 
Kranke gebrauchen kurz hintereinander und anscheinend pro- 
miscue fiir die gleichen krankhaften Wahmehmungen die Bezeich¬ 
nungen Horen, Sprechen, Fiihlen, Sehen usw.; das wiirde, um 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSfTY OF MICHIGAN 



Schroder, Von den Halluzinationen. 


5 


einmal physio-psychologisch zu reden, etwa heiBen: die Vor- 
stellungen, welche derartigen Halluzinationen zugrunde liegen, 
werden von den Kranken nicht zu einem bestimmten Sinnesorgan 
hinausprojiziert. Die Kranken sind sich nicht klar, welches Sinnes- 
gebiet beteiligt ist. Geht das noch weiter, so laBt sich durch Be- 
fragen oft feststellen, daB es sich iiberhaupt nur ganz allgemein 
um ein Yemehmen, Empfinden, Wahmehmen handelt, ohne aus- 
gesprochen sinnlichen Charakter oder nur mit ganz leichter, schwer 
naher bestimmbarer sinnlicher Farbung; z. B. ant wort ete eine 
Kranke auf die Frage nach ,,Stimmen“: ,,Mir ist es so, als ob ich 
mit meiner Mutter und meinen Bekannten irgendwie in Ver- 
bindung stehe durch irgendwelche Zeichen . . . es ist wie ein Hauch , 
als ob es Betvegung ware, so daB ich mit ihnen in Verbindung trate. 
Die Bewegung verbindet sich mir wie Schatten , oder noch weniger 
wie Schatten, ... die Stimmen sind wie ein Hauch, sie kommen 
aus dem ganzen Korper , auch aus den FiiBen“; d. h. es werden 
hier von der Kranken in einem Atem fur die gleichen Wahr- 
nehmungen Bezeichnungen oder Vergleiche aus den verschiedensten 
Sinnesgebieten angewendet. Von solchen Halluzinationen mit ge- 
ringer, unbestimmter sinnlicher Farbung kann man einerseits zu 
Sinnestauschungen mit dem Charakter voller Leibhaftigkeit, 
andererseits zu Vorgangen, welche bloB als Gedanken ungewohn- 
licher und fremdartiger Natur empfunden werden, alle Uebergange 
bei denselben Kranken in kurz aufeinander folgenden Veriaufs- 
stadien beobachten. 

Fehlerquellen bei der Bewertung solcher Auskiinfte der 
Kranken konnen sich nach mehreren Richtungen ergeben. Die 
Kranken unterscheiden, gerade wie ungebildete und wenig gut 
beobachtende Gesunde, vielfach nur schlecht z wise hen Wahr- 
nehmungen und hinzugedachten Erklarungen; Erklarungs- 
vorstellungen auf einem bestimmten Sinnesgebiet beweisen nicht 
ohne weiteres die Beteiligung dieses Sinnesgebietes bei dem hallu- 
zinatorischen Vorgang; die Kranken selber falsehen oft sehr rasch 
ihre Erinnerung und fiigen dann bei ihren Berichten als angeblich 
wahrgenommen vieles hinzu, was tatsachlich zu keiner Zeit bei 
ihnen den Charakter der Wahmehmung gehabt hat. DaB man 
wieder in weitem MaBe bei den Priifungen von dem Entgegen- 
kommen und dem Verstandnis des Untersuchten abhangig ist, 
braucht nicht erst gesagt zu werden. Gut beobachtende, vollig 
klare Kranke geben sich nicht mit der nachstliegenden, kurzweg 
e potiori gewahlten Benennung zufrieden, welche vielen anderen 
geniigt. SchlieBlich ftndem chronisch kranke Halluzinanten recht 
oft ihre Begriffe und ihr altes Erfahrungsmaterial aus gesunden 
Tagen allmahlich derart ab, daB eine Verstandigung mit ihnen liber 
die besondere Art ihrer Tauschungen schwer oder nicht mehr mog- 
lich ist. 

Klinische Beispiele fur das Gesagte erscheinen fast iiber- 
fliissig, da es sich um allgemein bekannte Dinge handelt; die folgen¬ 
den Nachschriften aus Krankengeschichten sollen deshalb auch 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



6 


Schroder, Von den Hallu 2 i‘nationen. 


Digitized by 


nur einige Einzelheiten kurz erlautem helfen, insbesondere was das 
haufige Abweichen des Inhalts der Sinnestauschungen von nor- 
malen Wahrnehmungen und die Unsicherheit der Kranken beziig- 
lich der Beziehung ihrer Halluzinationen auf bestimmte Sinnes- 
gebiete betrifft. 

Ein Kranker 1 ) &ufierte bei einer Unterredung (Protokoll vom 16. II. 
1914) zunachst spontan: 

„Ohne daB ich will, spreche ich, wie kommt das ?“ und setzte sogleich 
fortfahrend hinzu, „wie kommt das nun, daB ich das hore ?“ Auf die Frage: 
Horen Sie es oder sprechen Sie es ? erwiderte er: „Ich hore das und ohne 
daB ich will, spreche ich; ich selbst personlich spreche es nicht, ich werde 
gezwungen, und dann diese Kopfschmerzen / (faBt sich an den Hinterkopf), 
jetzt ist der Knoten am Kopf hinten wieder groBer. 44 (Lst es Horen oder 
Sprechen ?) „Sprechen ist es auch, ich habe auch groBe Kopfschmerzen da- 
durch; . . . das ist gerade, als wenn ich spreche , z. B. hore ich: Sie sind doch 
einmal auf dem Bahnhof D. gewesen. 44 (Ist es Horen oder Sprechen?) 
,,Das laBt sich gar nicht beschreiben, Herr Professor . . .; ich halte den 
Mund dabei ganz still und der Kehlkopf geht hin und her, auf und ab und 
namentlich (greift wieder an den Nacken) an dem Kopf hinten. 44 Der 
Kranke schildert dann, nach weiteren Einzelheiten gefragt, ein einige Tage 
zuriickliegendes Erlebnis bei einer arztlichen Visite mit den Worten: „Als 
die Herren vorbeigingen, sah ich mit einem Male, wie hier oben (zeigt auf 
seinen Hinterkopf) ein Mann darin stand und nahm etwas heraus und 
ein anderer sagte: du hast genug, hast alle Taschen voll! Dann fiihlte ich 
das hier im Kehlkopf; . . . man hat das Gefuhl, da oben (zeigt wieder auf 
den Hinterkopf) steht einer und biickt sich, er steht krumm und macht 
gar nichts. 44 (Das ist doch aber nicht moglich!) „Nein, es ist auch eigent- 
lich nicht moglich, beschreiben kann man das nicht. 44 

Was dieser Kranke, ein Volksschullehrer, der sich selber gut 
beobachtete, uns in alien seinen Angaben vor allem erkennen laBt, 
ist die Unmoglichkeit, mit unseren Worten und Begriffen uns seine 
krankhaften Empfindungen und halluzinatorischen Erlebnisse klar 
zu machen; er unterscheidet bei seinen Wahrnehmungen offenbar 
nicht zwischen Horen und Selbersprechen (bzw. Sprechbewegungen- 
machen), er behandelt beides als das gleiche oder als etwas inein- 
ander Uebergehendes; er hat aber dazu noch gleichzeitig immer 

*) Fall I. Karl R., 56 Jahre, Lehrer. Von jeher psychopathisch, 
seit langerem schon erregbarer; friiher nicht krank. Seit Mai 1912 un* 
ruhig, angstlich. Wegen zunehmender Angst, planlosem Umherirren und 
Verdacht der Selbstmordneigung Aufnahme in die Klinik am 30. VII. 1912. 
Korperlicher Befund negativ, keine Arteriosklerose. Ratios -angstlich, 
monotone Unruhe; zittert, schiittelt sich, stottert. Schon nach einigen 
Tagen Beruhigung. Still, zuriickhaltend. Keinerlei Anhaltspunkte fiir 
Halluzinationen. Entlassungsversuch miBgliickt; kann sich zu Hause zu 
nichts recht entschlieflen, wieder angstlicher. Geordnet, orientiert, klar; 
bei Anrede stets eine eigenartige, verlegene Unruhe, Zupfen, Erroten, 
Stott ern; allerlei Bedenken iiber etwaige Vergehen im Dienst. Nach einigen 
Wochen wieder ruhiger, kommt aber mit allerlei hypochondrischen Klagen. 
Zuriickhaltend und wenig gesellig. Kann sich nicht aufraffen zu Ent- 
schliissen. Im September 1913 zunehmende Aengstlichkeit, gibt jetzt bei 
Befragen an, seit einigen Tagen ganz deutlich Stimmen zu horen, die ihn 
rufen und ihm von Hause erzahlen. Schlechter Schlaf, verstarkte Unruhe. 
Dann wecliselndes Verhalten. Leicht ablehnend, gereizt und miBtrauisch. 
Sehr viel Halluzinationen, fiber die er oft klagt. Physikalische Erklarungs- 
vorstellungen: Elektrizitat usw. Wird langsam ruhiger, keine Krankheits- 
einsicht, halt sich fiir gesund. Am 1. V. 1914 nach Hause entlassen. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Schroder, Von den Halluzinationen. 


7 


eigentumliche Empfindungen, die er an eine umschriebene Stelle 
im Hinterkopf lokalisiert und von denen er abweehselnd und an- 
scheinend promiscue angibt, er fiihle, er sehe und er hore sie an 
dieser bestimmten Stelle. Auch darin auBert sich also bei ihm die 
Andersartigkeit seiner Halluzinationen gegeniiber normalen Wahr- 
nehmungen, daB Kombinationen von Sinnesempfindungen zu- 
stande kommen, die dem Gesunden unbekannt sind. 

Bei einer anderen Kranken 1 ) kommt zu der Unbestimmtheit, 
man mochte fast sagen Verwaschenheit der Sinnesqualitaten die 
Unbestimmbarkeit der Lokalisation der eigenartigen Empfindungen 
hinzu. Sie berichtet u. a. (Protokoll vom 14. und 20. II. 1914), als 
sie nach ihren „Stimmen“ gefragt wird, iiber welche sie sich viel 
beklagt und von denen sie taglich zu erzahlen liebt: 

„Es ist mir, als wenn es hier ist (zeigt auf die Brust), aber es ist im 
Kopf, es ist immer so, als wenn es eben im Kopf fnrchtbar schreit , als wenn 
der Schall das ist, . . . dann ist es so, als wenn die Wellen so heraus sprudeln, 
als wenn es nachlaBt vom Kopf herunter und als wenn es hier (zeigt auf das 
linke Ohr) so herauffliegt. Es ist nur ein SchaU; als wenn es WeUensprudel 
sind, die wollen sie dann sprechen lassen. Wenn ich an den Kopf hinten 
fasse, ist es wie ein Sprudel und es zieht auch quer durch den Kopf, und 
es ist dann, als wenn eine Stimme bloB gegen das linke Ohr fliegt und sagt: 
siehst du wohl! Es ist, als wenn ich ein schneidendes Wasser hore , das 
Sausen, das darin ist.“ Die ausdruckliche Frage, ob sie etwas hore , wird 
dann wieder beantwortet: „Ja ich hore wirkliche Stimmen im Kopf und 
dann manchmal mehr nach unten, nach dem Mund, als wenn es wegziehen 
will ... Es ist immer die richtige sprechende Stimme, die spricht iiber 
alles, ich bin der Meinung, daB es im Kopf ist, daB ich es nur im Kopf 
hore; dann f&ngt es im Kopf an zu schreien. 44 

Besonders prazise Angaben hat ein Philosophiestudent ge- 
macht, der an einer ersten, nur kurzdauernden akuten katatoni- 
schen Psychose erkrankt war. Er glaubte, in Gedankenverbindung 
mit seinem Philosophie-Professor zu stehen; dessen Gedanken 
wurden ihm verstandlich gemacht durch leichtes Aufeinander- 
klappen seiner eigenen Zahne und durch rhythmisches Zucken 
seiner Zungenspitze. Das ganze war ,,nicht ohrenhaft“, ,,nicht 
Ton“, er hdrte nichts, sondem ftihlte das unfreiwillige rhythmische 

*) Fall II. Frieda B., Beamtenfrau, 64 Jahre. Vor 10 Jahren, in 
der Menopause, etwa ein Jahr lang unruhig, unzufrieden, schimpfte viel. 
Sonst nicht krank. Seit Sommer 1913 bei jeder Kleinigkeit erregt. Singen 
und Pfeifen in den Ohren; ist angeblich gleichzeitig schwerhorig geworden. 
Seit derselben Zeit hort sie Stimmen ,,aus sich heraus 44 . Zog sich zuriick, 
besorgte aber ihre Wirtschaft vollstandig. Schlechter Schlaf. 18. I. 1914 
Aufnahme in die Klinik. Schlechte Schulbildung, aber nicht ausgesprochen 
imbezill. Die Stimmen in ihrem Innern erzahlten ihr alles, was sie zu Hause 
tat, die Stimmen wissen auch alles, sie sprechen ihr oft ihre Gedanken 
nach und geben ihr Befehle. Die Kranke erzahlt ausfiihrlich und gern, ohne 
besonders lebhaften Affekt, ohne MiBtrauen und ohne Absonderlichkeiten. 
Halluziniert andauernd in der gleichen Weise. Otologisch: Starke Rest© 
friiherer Mittelohreiterung, erhebliche Schadigung des nervosen Apparates. 
Allmahlich l&Bt das Halluzinieren nach, schwindet aber nicht ganz. Stets 
orientiert, geordnet, besonnen, entgegenkomraend. Haufig unsinniger In¬ 
halt der Gehorstauschungen. Nichts fur Arteriosklerose. Keine Merk- 
sehw&che, keine Konfabulationen, nichts Delirantes. 14. III. 1914 ent- 
lassen. 


Digitized by 


Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



8 


Schroder, Von den Halluzinationen. 


Digitized by 


Bewegen der Zahne; er gab ausdriicklich an, es seien nicht die ihm 
aus psycho-physiologischen Studien bekannten Innervationggefiihle 
bei Sprachbewegungen gewesen, sondem eben einfache grobe 
Zuckungen, deren jede einer Silbe entsprach. Er habe in einer Ver- 
bindung mit dem Professor gestanden, ,,sagen wir in einer tele- 
phonischen . . . aber das ist nur ein sehr unvollkommenes Bild 
dafiir 44 ; Gedankeniibertragung sei der richtige Ansdruck, Horen 
wie beim Telephon sei es eben nicht. 

Ein Beispiel schlieBlich dafiir, wie die Kranken in ihren An- 
gaben vielfach schwanken und wechseln, ob es sich um bloBe Ge¬ 
danken oder um Gesprache, gesprochene Auftrage und Befehle 
handele, die sie vermittelst des Gehors vemehmen, ist ein Kranker 1 ), 
der viel von „Stimmen“ erzahlte und von ganzen Gesprachen, 
die er horte, z. B. daB der Oberarzt ihm herauf sage, er solle heute 
Abend entlassen werden, noch um 6 Uhr, daunt er mit dem Abend- 
zug fahren konne, oder daB sein Herr ihn frage, wie es ihm gefalle 
usw. Bei genauerem Befragen (Protokoll vom 9. XII. 1913) gab 
er dann sofort und mit Bestimmtheit an, das Sprechen, das er 
meine, klinge nicht so, wie beispielsweise das Sprechen des Arztes 
jetzt. Die zweimal unmittelbar wiederholte Frage: Wie klingt es V* 
wird einmal beantwortet: ,,Klingen tut es gar nicht, das sind wohl 
bloB die Gedanken im Ohr 44 und dann: „Es klingt ganz dumpfig, 
wie aus weiter Feme . . . der hat mir das nicht laut gesagt, ich habe 
es empfunden . . . eine ganz genaue Behauptung ist das iiberhaupt 
nicht; viel dariiber reden laBt sich da nicht. 44 Auf die Frage: 
HabenSie es nun gehort oder nur in Gedanken gehabt ?“ antwortete 
er: „Na wir wollen mal sagen in Gedanken gehabt, fuhr aber spon- 
tan nach einer kurzen Pause fort: ,,oder wir konnen ja auch sagen 
gehort . . . Herr Arzt, wer weiB da richtig mit Bescheid! 44 Ein 
andermal fiigte er noch hinzu: ,,Es ist, als wenn man in den Ohren 
Schmerzen darin hat 44 . 

Von Kranken der gleichen Art, oft auch von denselben Kranken 
zu anderen Zeiten lhres Krankheitsverlaufes kann man andrerseits 
horen, daB das, was sie sprachlich vemehmen, genau so sei wie 

x ) Fall III. Wilhelm R., Maurer, 36 Jahre. Friiher starker Trinker, 
in den letzten Jahren nicht mehr; erkrankte anscheinend plotzlich am 
2. XII. 1913. Bis dahin gesund, hat bis zuletzt gearbeitet. Behauptete 
alsdann, er werde mit Rontgenstrahlen bearbeitet, ein Rittergut gehore 
ihm, er sei der Sohn eines Grafen; lachte im Stillen viel vor sich hin. Auf- 
nahme 8. XII. 1913. Orientiert, geordnet, kein Rrankheitsgefiihl. Habe 
in der Nacht vom 3. zum 4. XII. das erste Mal Stimmen gehort, die ihm 
allerlei erzahlten; seitdem dauernd Stimmen. Er habe jeden Menschen 
anrufen konnen, der gar nicht in seiner Nfthe war. Jetzt sei es mehr, als 
wenn er seine eigenen Gedanken fiihle. Dabei euphorischer Stimmung. 
Nach einigen Tagen allerlei H^jochondrisches. Sein Bett sei ein Apparat 
mit Messern, er konne es vor Elektrizit&t nicht aushalten, der RiiCken sei 
ganz verbrannt, durch das Waschwasser verliere er seine Augen. Wird 
angstlich, miC trail is ch, gereizt. Allmfl-hliches Abklingen; nach etwa neun 
Wochen (Mitte Februar 1914) weitgehende Krankheitseinsicht, aber noch 
gelegentlich Horen einer Stimme und etwas zuruckhaltend im Weeen. 
1. IV. 1914 von der Frau abgeholt. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Schroder, Von den Halluzinationen. 


9 


alles Sprechen, daB das, was sie wahmehmen, empfinden usw., 
genau denselben Charakter habe, wie alle ihre Wahrnehmungen 
und Empfindungen sonst, und daB Zweifel an der Realitat nicht 
auftauehen, d. h. daB es sich um ,,echte“ Halluzinationen im Sinne 
der Autoren handelt. Doch gibt es Halluzinationen, die niemals 
voll leibhaftig, niemals vollig den normalen Wahrnehmungen gleich- 
artig sind; das bekannteste Beispiel dafiir stellt die groBe Mehrzahl 
der isolierten Gesichtstauschungen dar, die den Kranken immer 
nur den Eindruck von Schatten, von flachen, nicht korperlichen 
Erscheinungen usw. machen. Fur voll leibhaftig und unbedingt 
fur real wird anscheinend die Mehrzahl der szenenhaften deli- 
ranten Erlebnisse, so wie ein bestimmter, umschriebener Teil der 
Phoneme gehalten (speziell bei den akuten Halluzinosen); be- 
hauptet wird die Leibhaftigkeit vielfach von den Kranken auch 
fur taktile und fiir manche der an sich meist wenig lebhaft empfun- 
denen Geruchs- und Geschmackstauschungen; doch ist bekannt, 
wie selten letztere sicher als rein halluzinatorisch bedingt nachweis- 
bar sind und welch groBe Rolle gerade bei ihnen illusionare Ver- 
kennungen und wahnhafte Faktoren spielen. — 

Die mitgeteilten Nachschriften aus Krankengeschichten ent- 
halten an mehreren Stellen Hinweise auf die Erscheinung des sog. 
Gedankenlautwerdens; zwei von den Kranken haben zu anderen 
Zeiten das Symptom in der ausgesprochenen, charakteristischen 
Weise gehabt, daB sie ihre eigenen Gedanken (beim Nachdenken, 
Lesen, Schreiben) wiederholen, mitsprechen, nachsprechen, vor- 
sprechen horten. Mit dem Namen Gedankenlautwerden, der dafiir 
iiblich geworden ist, wird allerdings nur wenig gesagt; denn man 
darf nicht vergessen, daB schlieBlich alle sprachlichen Halluzina¬ 
tionen (Phoneme) ein Lautwerden eigener Gedanken des Kranken 
sind, und es wiirde, streng genommen, den uns gelaufigen Auf- 
fassungen vom Wesen der Halluzinationen durchaus entsprechen, 
wenn wir auch die Gesichts-, die Gefiihls- usw. Tauschungen ent- 
sprechend als ein „Gedankensichtbarwerden“, ,,Gedankenfiihlbar- 
werden" usw. bezeichnen wollten in demselben Sinne wie wir vom 
Gedankenlautwerden sprechen, und wenn wir schlieBlich das kom- 
binierte Halluzinieren (beim Deliranten) ein ,, Gedankenerleben‘ 4 
nennen 1 ). Was das Gedankenlautwerden von anderen Phonemen 
unterscheidet, ist daB der Kranke selber sein Denken und das 
halluzinatorische Wahrnehmen als zwei gesonderte und meist auch 
zeitlich aufeinander folgende Vorgange empfindet, femer, daB er 
in dem Halluzinierten seine eigenen Gedanken und deren sprach- 
liche Formulierung wiedererkennt, wahrend anderen Halluzinieren- 
den das Vemommene fremdartig und nicht als ihr eigenes Denk- 

Von „Gedankensichtbarwerden t4 in einem spezielleren Sinne hat 
bereits einmal Halbey (Allg. Ztschr. f. Psych., Bd. 65, S. 307, 1908) ge- 
sprochen bei einem Kranken, der das, was er in Worten dachte und was 
er horte (z. B. bei der Predigt) in Buchstabenschrift oder in stenographischen 
Zeichen 20—30 cm vor sich sah; derselbe Kranke hatte vorher das Symptom 
des Gedankenlautwerdens in der gewohnliehen akustischen Form. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Schroder, Von den Halluzinationen. 


10 - 

produkt erscheint. Gerade die sprachlichen Halluzinationen geben 
auch meist die beste Gelegenheit, festzustellen, daB es tatsachlich 
flieBend alle Uebergange vom bloBen Vorstellen und Denken zum 
„echten“ Halluzinieren gibt, mit anderen Worten, daB diejenigen 
Elemente, welche die Vorstellungen (Erinnerungen) der Kranken 
den Wahrnehmungen ahnlich oder gleich machen, sich in alien 
Gradabstufungen hinzugesellen konnen, von bloBen Andeutungen 
bis zur Hervorrufung des Eindruckes voller Leibhaftigkeit und 
Realitat 1 ). 

Es wird mit Recht betont, daB nicht schlecbthin alles, was 
auf den ersten Blick und auf die ersten Angaben der Kranken bin 
als halluziniert erscheint, tatsachlich halluziniert ist. Oft stellt sich 
heraus, daB es sich lediglich urn Konfabulationen, tun festgehaltene 
Traumerlebnisse und dergleichen mehr handelt. Angaben uber 
Bearbeitung mit Elektrizitat, uber Beeinflussung durch Rontgen- 
strahlen usw., welche zunachst als durch Sensationen bedingt er- 
scheinen konnen, sind recht haufig nur Erklarungsideen fur Vor- 
gange, die mit abnormen korperlichen Empfindungen nichts zu tun 
haben, beispielsweise fiir das Gedankenlautwerden, fiir imperative 
Phoneme, fiir Pseudospontanbewegungen und ahnliches mehr. 
Sodann haben wir allenthalben mit Irrtumem und Selbsttau- 
schungen der Kranken zu rechnen; die Kranken unterliegen Er- 
innerungsfalschungen beziiglich ihrer Halluzinationen naturgemaB 
noch in weit hoherem Grade als schon der Gesunde beziiglich seiner 
Wahrnehmungen, eben weil bei ihnen die das nachtragliche Falschen 
begiinstigenden Momente besonders haufig in besonders starkem 
MaBe vorhanden sind (lebhafter Affekt, krankhafte Eigenbeziehung, 
Wahnbildung, Merkschwache usw.). Was fiir die retrospektive 
Falschung gilt, gilt ebenso bereits fiir die Falschung des Wahr- 
nehmungsvorganges, beispielsweise durch Auffassungsstorungen 
und durch krankhafte Eigenbeziehung; es ist bekannt, daB es 
Kranke genug gibt, deren „Halluzinationen“ sich bei naherem 
Zusehen ganz oder zum iiberwiegenden Teil aus dem Symptom des 
Beziehungswahnes erklaren lassen. Die Haufigkeit solcher Falschun- 
gen laBt es fiir das Studium der Halluzinationen ratsam erscheinen, 
sich soweit irgend moglich mit zurzeit gerade halluzinierenden 
Kranken zu beschaftigen, und Angaben iiber zuriickliegende Sinnes- 
tauschungen stets mit der notigen Vorsicht zu verwerten 2 ); nur 
dann kann man vermeiden, daB man den Leibhaftigkeitscharakter 


l ) Vgl. Goldstein; „Es finden sich alle Uebergange zwischen den 
lebhaften Vorstellungen und den der Wirklichkeit ahnlichsten Halluzina¬ 
tionen, die sich von wirklichen Wahrnehmungen in keiner Weise unter- 
scheiden. “ 

s ) Koppen weist in einem interessanten Aufsatz ,,Zur psychischen 
Analyse der Halluzinationen“ (Charit6-Annalen, Bd. 36) an der Hand 
sorgf&ltiger stenographischer Nachschriften nach, wie wenig wirklich 
sinnlich erlebt in gewissen Fallen Halluzinationen sind und wie oft es sich 
vielmehr lediglich um Selbstt&uschungen der Kranken handelt, als hat ten 
sie Sinnliches erlebt und als produzierten sie nicht nur Gedachtes oder 
irgendwie anders Er innertes. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Kramer, Lahmungen der Sohlenmuskulatur etc. 


11 


von Halluzinationen im Moment des Erlebens bei den Kranken 
iiberschatzt. Das spatere Ueberzeugtsein der Kranken ist noch 
nicht ohne weiteres Beweis dafiir, daB ihre angeblichen Wahr- 
nehmungen im Moment der Wahmehmung tatsachlich leibhaftig, 
gleich normalen Wahrnehmungen, gewesen sind. 

Die psychologische und phdosophische Betrachtung der 
Halluzinationen wird nach dem Gesagten nicht auBer acht zu lassen 
haben: Halluzinationen sind krankhafte Erscheinungen, die nur 
schwer isoliert, losgelost von dem psychotischen Gesamtzustand, 
in dessen Rahmen sie auftreten, beurteilt werden konnen; das 
Halluzinieren ist nicht ein einheitlicher, stets gleich zu bewertender 
Vorgang, deshalb wird auch vermutlich nicht eine Theorie fiir alle 
Halluzinationen passen; aus demselben Grunde empfiehlt es sich 
nicht, wie das vielfach geschieht, kurzweg iiber die Halluzination 
zu spekulieren, sondern sich zu vergegenwartigen, daB es mannig- 
fach differenzierte Fhanomene sind, welche man als Halluzinationen 
zu bezeichnen pflegt ( W . Specht); den Charakter eines sinnlichen 
Erlebnisses haben die einzelnen Halluzinationen in sehr verschiede- 
ner Gradabstufung; den Alltagswahmehmungen in jeder Beziehung 
gleich sind die Sinnestauschungen fiir den Kranken nur in einem 
Meinen Teil der Falle; die Ausscheidung der voll leibhaftigen und 
den normalen Wahrnehmungen fiir vollig gleichwertig gehaltenen 
Halluzinationen als „der“ echten ist kiinstlich und praktisch nicht 
durchfiihrbar; es gibt bestimmte Arten von Sinnestauschungen, 
die erfahrungsgemaB niemals oder selten den Alltagswahmehmun¬ 
gen gleich sind (isolierte Gesichtstauschungen);. haufig sind die 
Kranken nicht imstande, mit Bestimmtheit anzugeben, vermittelst 
welches Sinnesorgans sie wahrzunehmen vermeinen; durch Wahr- 
nehmungstauschungen und durch Erinnerungsfalschungen be- 
kommt fiir die Kranken sehr vieles den Wert von Wahrnehmungen, 
was in keinem Moment den Charakter einer Wahmehmung ge- 
habt hat. 


(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Kgl. Charite (Direktor 
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Bonhoeffer). 

Lahmungen der Sohlenmuskulatur bei Schufiverletzungen 
des Nervus tibialis. 

Von 

Prof. Dr. FRANZ KRAMER, 

Assistent der Klinik. 

Die groBe Zahl von SchuBverletzungen der peripheren Nerven, 
die wir jetzt zu sehen bekommen, bietet vms Grelegenheit, Sym- 
ptomenbilder zu studieren, denen wir in Friedenszeiten nur selten 


Digitized by 


Goi igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



12 


Kramer, Lahmungen der Sohlenmuskulatur 


Digitized by 


begegnen. Dadurch, daB die Geschosse den Korper an jeder be- 
liebigen Stelle durchdringen konnen, treffen sie oft Nerven in 
Teilen ihres Verlaufes, wo sie gegen die Mehrzahl anderer traumati- 
scher Einwirkungen geschiitzt sind. Wir finden infolgedessen die 
Nervenlasionen nicht nnr an den iiblichen Pradilektionsstellen, 
sehen partielle Lasionen einzelner Nervenaste und erhalten da¬ 
durch ungewohnliche Symptomkombinationen. Wir konnen 
dann die Wirkung derartiger partieller Ausfalle fur die Funktion 
einer genaueren Betrachtung unterziehen. Ich mochte hier die 
Aufmerksamkeit auf eine derartige Nervenlasion lenken, von der 
wir in kurzer Zeit 4 Falle zu sehen bekamen, und die, wie mir 
scheint, relativ h&ufig vorkommen diirfte. Es handelt sich in alien 
4 Fallen um eine L&sion des Nervus tibialis unterhalb des Abganges 
der Zweige fur die Unterschenkelmuskulatur, wo also der motorische 
und sensible Ausfall sich nur auf den FuB erstrecken kann. Die 
praktische Bedeutung der Lasion scheint mir vor allem darin zu 
liegen, daB die erheblichen subjektiven Beschwerden des Ver- 
letzten zunachst im Widerspruch zu stehen scheinen gegeniiber 
dem geringfiigigen objektiven Befund, der erst bei sorgfaltiger 
Untersuchung die Nervenlasion konstatieren laBt. 

I. Walter W., Infanterist, 21 Jahre, erhielt am 20. VIII. 1914 einen 
GewehrschuB in den linken Unterschenkel, war im Vorlaufen, als er ge- 
troffen wurde, fiel sogleich hin. Bald naeh der Verletzung fiihlte er Schmerzen 
im FuB, die jedoch nicht sehr erheblich waren, doch stelite sich bald 
Kribbeln im FuBe ein. 

Pat. kam am 24. VIII. in das Reservelazarett im Koniglichen zahn- 
ftrztlichen Institut. Es fand sich eine EinschuBwunde an der Innenseite 
des linken Unterschenkels 12 cm oberhalb des Malleolus internus. Im 
Rontgenbild fand sich das GeschoB (InfanteriegeschoB) in den Weichteilen 
der Wade 12 cm fiber dem Calcaneus. 

Am 5. IX. 1914 wurde Pat. uns zur neurologischen Untersuchung 
zugaschickt. Er gab an, daB er keine Schmerzen mehr habe, jedoch noch 
iiber Kribbeln und Taubheitsgefiihl in der linken FuBsohle klage, auch sei 
der linke FuB schwach. Die Untersuchung ergab eine leichte Behinderung 
der Dorsal- und Plantarflexion des FuBes, die durch die ortlichen Wund- 
verhalt-nisse ausreichend erklart war. Die Zehenstreckung erwies sich als 
gut, die Beugung samtlicher Zehen erfolgte in normalem Umfange, doch 
mit erheblich herabgesetzter Kraft. Der Achillessehnenreflex war vor- 
handen und beiderseits gleich. 

Die elektrische Untersuchung ergab im Peroneusgebiet normales 
Verhalten, in der Wadenmuskulatur eine geringfiigige Herabsetzung. Der 
Flexor digitorum brevis war faradisch nicht reizbar, der GroBzehenballen 
und die lnterossei faradisch herabgesetzt, jedoch deutlich zu bekommen. 

Die Priifung der Sensibilitat ergab eine Herabsetzung fur alle Quali- 
taten an der linken FuBsohle. 

Aus der Krankengeschichte des Reservelazaretts ist zu entnehmen, 
daB die EinschuBwunde nicht zuheilte und sezernierte. 

Am 6. X. wurde das GeschoB durch Inzision (10 cih langen Schnitt, 
4 cm oberhalb des Knochels) entfernt; es fand sich in der Mitte des Schnittes 
in der Tiefe der Muskulatur. Danach erfolgte prompte Wundheilung. 

Am 31. X. 1914 ergab die Nachuntersuchung folgendes: Pat. klagt 
noch iiber Taubsein und Kribbeln in der linken FuBsohle. Beim Gehen 
klagt er iiber Schmerzen in der ganzen FuBsohle und auch im FuBriicken, 
haupts&chlich beim Auftreten. Die Bewegliohkeit der Zehen hat sich 
nicht gebessert. Sensibihtfttsstorung unverandert. Achillessehnenreflex 
beiderseits positiv. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



bei SchuBverletzungen des Nervus tibialis. 


13 


Elektrisch: Unterschenkelmiiskulatur galvanisch und faradisch nor¬ 
mal. Flexor digitorum brevis faradisch stark herabgesetzt, doch erregbar. 
Abductor hallucis nur maBig herabgesetzt. Kleinzehenballen und Interossei 
faradisch nicht sicher zu erhalten. Galvanisch findet sich im Flexor digi¬ 
torum brevis, im GroB- und Kleinzehenballen und in den Interossei trage 
Zuckung. 

II. Fr. v. L., Hauptmann, 41 Jahre, wurde am 22. VIII. 1914 ver- 
wundet, er erhielt einen Granatsplitter in die linke FuBsohle und einen 
zweiten in den linken Unterschenkel. Am 28. VIII. wurde er in die chirur- 
gische Klinik der Koniglichen Charit6 aufgenommen. Die obere EinschuB- 
wunde fand sich an der AuBenseite des linken ITnterschenkels handbreit 
iiber dem Malleolus externus. Das Fragment steckte in den Weichteilen. 
An der FuBsohle war die EinsehuBoffnung des Granatsplitters zu sehen. 
An der oberen EinschuBstelle fand sich eine Fraktur der Fibula. Der 
oberflachlich sitzende Granatsplitter in der FuBsohle wurde alsbald ent- 
fernt; hierbei fiel die Gefuhllosigkeit dieser Gegend auf. Am 2. IX. be- 
gann Pat. die ersten Gehversuche zu machen, doch wurden diese sehr ge- 
stort durch heftige Parasthesien und Schmerzen in der FuBsohle, die 
dauernd bestanden und noch an Intensitat zunahmen. 

Am 5. IX. 1914 sah ich den Patienten in der chirurgischen Klinik. 
Es fand sich eine Sensibilitatsstorung an der FuBsohle fur alle Qaulitaten 
und Schwache der Zehenbeugung. AuBerdem wraen die FuBbewegungen 
etwas beeintrachtigt, was jedoch in den lokalen Veranderungen (Schwellung, 
Fibulafraktur) geniigende Erklarung fand. Der Achillessehnenreflex war 
beiderseits erhalten. Die Schmerzen und qualenden Parasthesien in der 
FuBsohle hielten noch in der Folgezeit an. Um diese vielleicht zu beseitigen, 
wurde am 16. IX. das GeschoB aus dem Unterschenkel durch Operation 
entfernt. An der Innenseite parallel der Tibiakante an der Grenze zwischen 
mittlerem und unterem Drittel 1 cm von der Kante entfernt wurde ein- 
gegangen und in der Tiefe ein scharfrandiger Splitter gefunden und entfernt. 
Die Wunde, ebenso die Fraktur heilten glatt. Die Beschwerden wurden 
allmahlich geringer, doch klagte Pat. bei einer Untersuchung in der Nerven- 
klinik am 8. X. 1914 noch iiber erhebliche Parasthesien in der FuBsohle. 
Els fand sich folgendes: Die Zehen des linken FuBes stehen in leichter 
Krallenstellung, sonst ist die Zehenstellung nicht merklich verandert. Die 
FuBsohle zeigt eine leichte Abplattung des FuBgewolbes bei Vergleich mit 
der rechten Seite. Dorsal- und Plantarflexion des FuBes geschehen in nor- 
malem Umfange mit guter Kraft, ebenso die Dorsalflexion der Zehen. 
Die Beugung samtlicher Zehen geschieht in normalem Umfange, doch mit 
erheblich geringerer Kraft als rechts. Die Muskulatur der Sohle und des 
GroBzehenballens fiihlt sich schlaffer an als links. Bei Zehenbeugung ist 
die rechts deutlich fiihlbare Kontraktion der Sohlenmuskeln links nicht 
zu bemerken. Die faradische Elrregbarkeit in dem kurzen Zehenbeuger, 
dem GroBzehen- und Kleinzehenballen, den Interossei ist aufgehoben; 
galvanisch besteht in diesen Muskeln samtlich trage Zuckung und Ueber- 
wiegen des AnSZ iiber die KSZ. Die elektrische Erregbarkeit in den Unter- 
schenkelmuskeln ist normal. 

An der FuBsohle findet sich eine Sensibilitatsstorung fur alle Quali- 
t&ten. Der Achillessehnenreflex ist beiderseits vorhanden. 

Am 31. X. 1914 ergab eine Nachuntersuchung den gleichen objektiven 
Befund. Pat. gab an, daB die subjektiven Beschwerden abgenommen 
hatten, jedoch bei etwas langerem Gehen sich noch zeigten. Die Par¬ 
asthesien sind noch in geringem Grade vorhanden. Durch Druck auf die 
Operationsnarbe werden die Parasthesien noch deutlich ausgelost. 

III. Walter M., 25 Jahre, Unteroffizier der Reserve. 

Am 14. IX. 1914 Verwundung; wurde im Liegen durch Flankenfeuer 
getroffen und erhielt einen GewehrschuB durch beide Fersen. Das Ge¬ 
schoB ging zuerst durch den linken, dann durch den rechten FuB und kam 
hier als Querschlager heraus. Er kam zuerst in ein Hilfslazarett bei Rasten- 


Digitized by 


Go gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



14 


Kramer, L&hmungen der Sohlenmuskulatur 


Digitized by 


burg. In dem Berichte des leitenden Arztes wird mitgeteilt, daB die Wunde 
operativ freigelegt wurde; es fand sich, daB der Nervus tibialis unterhalb 
des inneren Knochels durchtrennt war. Es gelang nicht, die Enden zu ver- 
einigen, da das gesamte Gewebe einschlieBlich der Nerven und GefaBe 
breiig zerstort war. 

Pat. wurde am 5. X. 1914 in die Nervenklinik aufgenommen. 

Am linken FuB war die Wunde gut verheilt, ohne Storungen zu hinter- 
lassen. Am rechten FuB fand sich an der AuBenseite unterhalb des Malleolus 
externus eine kleine Wunde, welche der AusschuBoffnung, an der Innenseite 
unterhalb des Malleolus externus eine groBere Wunde, welche der EinschuB- 
und Operationswunde entsprach. Die Bewegungsfahigkeit des FuBee und 
der Zehen war wegen der Schwellung nicht sicher zu beurteilen, die Zehen- 
beugung war unmoglich. 

Die elektrische XTntersuchung war ebenfalls durch die Schwellung 
erschwert, doch schien in der Sohlenmuskulatur ein sicherer Unterschied 
zu ungunsten der rechten Seite zu bestehen. Die Sensibilitatsprfifung ergab 
eine Aufhebung fur alle Qualitaten in den vorderen drei Vierteln der FuB- 
sohle, wahrend die Fersengegend frei war. Der Achillessehnenreflex war 
beiderseits vorhanden. 

Am 29. X. 1914 ergab die Untersuchung folgendes: Dorsal* und Plantar- 
flexion des FuBes geschehen mit guter Kraft, ebenso die Dorsalflexion der 
Zehen. Die Zehenbeugung ist unmoglich. Die Zehen stehen in leichter 
Klauenstellung, die FuBwolbung ist leicht abgeplattet. Der Achilles- 
sehnenreflex ist beiderseits vorhanden. Dorsalflexoren, Wadenmuskulatur 
sind elektrisch intakt, ebenso der Tibialis posticus. Im Flexor digitorum 
brevis, dem GroBzehen- und Kleinzehenballen, in den Interossei ist die 
faradische Reaktion aufgehoben, galvanisch findet sich langsame Zuckung. 
Die Sensibilitatsstorung ist unverandert. 

Patient hat auBer Taubheitsgefiihl in der FuBsohle im Liegen keine 
wesentlichen Beschwerden. Aufgetreten ist er mit dem FuBe noch nicht, 
weil er wegen einer Fraktur des Calcaneus noch vollige Bettruhe halt. 

IV. Walter S., 25 Jahre, Reservist. 

Erhielt am 20. VIII. einen GewehrschuB in die linke Wade. Am 
nftchsten Tage begann er fiber heftige Schmerzen im linken FuBe zu klagen. 
Am 23. VIII. wurde er in die I. medizinische Klinik aufgenommen. 

Es fand sich eine EinschuBoffnung im oberen Drittel der linken 
Tibia, eine AusschuBoffnung an der gegeniiberliegenden Seite der Wade. 
Auf dem Rontgenbild zeigte sich ein kreisrundes Loch in der Tibia mit 
radiarer Splitterung. Auch nach Heilung der Wunde blieben die Schmerzen 
in der FuBsohle bestehen und traten besonders intensiv beim Auftreten 
mit dem FuBe auf. 

23. IX. 1914 Aufnahme in die Nervenklinik. Klagt noch fiber heftige 
Schmerzen in der linken FuBsohle, vermeidet es, damit aufzutreten, da 
dabei die Schmerzen zunehmen. 

Dorsalflexion des linken FuBes etwas weniger ausgiebig als rechts, 
jedoch mit guter Kraft. Plantarflexion links etwas schwacher als rechts. 
Adduktion und Abduktion des FuBes gut. Dorsalflexion der Zehen gut. 
Plantarflexion geschieht in normalem Umfange, doch erheblich schwacher 
als rechts. Dabei ist links in der Sohle keine Muskelkontraktion zu fiihlen. 
Die FuBsohle ist druckempfindlich, besonders am Innenrande. Sensibilitat 
an der FuBsohle ffir Beriihrung gestort, ffir Stiche keine deutliche Storung. 
Patellarreflex beiderseits positiv und gleich. 

Achillessehnenreflex ebenfalls beiderseits positiv. 

Elektrischer Befund: Faradisch ist erloschen der Gastrocnemius, samt- 
iche kleinen FuBmuskeln, mit Ausnahme des Extensor digitorum brevis; 
alle anderen Muskeln, auch der Soleus, sind erhalten. Galvanisch findet sich 
trage Zuckung in den Sohlenmuskeln und im Gastrocnemius. 

13. X. Schmerzen erheblich geringer. Klagt fiber Schmerzen in der 
linken FuBsohle, setzt den FuB schonend auf. Stechen im MittelfuB. Waden¬ 
muskulatur links magerer als rechts. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSSTY OF MICHIGAN 



bei Schuflverletzungen des Nervus tibialis. 


15 


Dorsalflexion des FuBes und der Zehen gut. 

Plantarflexion des FuBes links etwas schw&cher als rechts, Plantar - 
flexion der Zehen links erheblich schwacher. Sensibilitat fiir Beriihrungen 
an der FuBsohle unsicher, fiir Stiche besteht Ueberempfindlichkeit. 

Druckempfindlichkeit der MittelfuBknochen. 

Achillessehnenreflex beiderseits positiv. 

Faradisch: Gastrocnemius und Soleus links erregbar, doch etwas 
schw&cher als rechts. Abductor hallucis und Kleinzehenballen bei starken 
Stromen etwas zu bekommen. Flexor digitorum brevis erloschen. 

Galvanisch zeigen diese Muskeln trfige Zuckung. Sonst iiberall auch 
im Gastrocnemius schnelle Zuckung. 

29. X. 1914. Schmerzen erheblich geringer. Kann einige Schritte ohne 
Beschwerden gehen. Bei langerem Gehen schmerzt der FuB, besonders an 
der Innenseite im Verlauf der MittelfuBknochen. Befund sonst unverandert. 
Interossei faradisch sehr stark hcrabgesetzt, galvanisch nur bei starken 
Stromen zu erhalten, Zuckungsqualitat nicht sicher zu beurteilen, aber 
anscheinend schnell. 

Das Symptomenbild stimmt in alien 4 Fallen in den wesent- 
lichen Ziigen iiberein. Die Verletzung des Nerven hat in den 
ersten drei Fallen mit Sicherheit unterhalb des Abganges der 
Aeste fiir die Unterschenkelmuskeln stattgefunden, im Falle 1 
und 2 liegt sie im unteren Drittel des Unterschenkels, im Falle 3 
unterhalb des Malleolus, nur im Falle 4 liegt sie hoher in einer 
Qegend, wo auch Zweige fiir die Wadenmuskeln, den Tibialis 
posticus und den Flexor longus geschadigt sein konnten. Die an- 
fftnglich bestehende Schadigung des Gastrocnemius zeigt uns auch 
tatsachlich, dab diese Zweige nicht ganz verschont geblieben sind, 
doch ist diese Schadigung ziemhch schnell zuriickgegangen, 
wahrend die Lahmung der FuBmuskeln bestehen blieb, so daB 
wir auch hier annehmen miissen, daB die Lasion vorwiegend die 
fiir den FuB bestimmten Teile des Nerven betroffen hat. Im Fall 3 
ist die Durchtrennung des Nervus tibialis, wie operativ festgestellt 
wurde, total, im Falle 2 entspricht der Befund ebenfalls einer 
kompletten Unterbrechung des Nerven, wahrend im Falle 1 aus 
dem faradischen Erhaltensein einzelner Muskeln und im Falle 4 
aus der fortschreitenden Besserung auf eine Schadigung des Nerven 
ohne vfillige Durchtrennung zu schlieBen ist. 

Der funktionelle Ausfall auf dem Gebiete der Motilitat be- 
schrankt sich im wesentlichen auf eine Beeintrachtigung der Zehen- 
beugung. Fiir diese Bewegung stehen an Muskeln zur Verfiigung 
die Interossei, der Flexor digitorum longus, der Flexor digitorum 
brevis. Die Funktion verteilt sich auf diese 3 Muskeln derart, daB 
die Interossei die Beugung der Grundphalangen, der Flexor brevis 
die der zweiten, der Flexor longus die der dritten Phalangen be- 
sorgt. In den Fallen 1, 2 und 4 ist die Beugung der Zehen in nor- 
malefr Ausgiebigkeit moglich und nur in der Kraft erheblich herab- 
gesetzt. Da in diesen Fallen, wie der elektrische Befund zeigt, die 
Interossei und der Flexor brevis ausgefallen sind, so kann die er- 
haltene Zehenbeugung nur auf den Flexor longus bezogen werden. 
Es entspricht diese Beobachtung durchaus den Ausfiihrungen von 
Duchenne. Dieser gibt an, daB der Flexor longus bei isolierter 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



16 


Kramer, L&hmungen der Sohlenmuskulatur etc. 


Wirkung zwar nur kraftig auf die Endphalangen wirkt, aber die 
erste und zweite Phalange mitnimmt und dadureh eine aus- 
giebige Beugung aller Zehen, allerdings mit verminderter Kraft, 
zustande bringt und daB der Flexor brevis im wesent lichen nur die 
Aufgabe hat, die Kraft der Zehenbeugung zu verstarken. DaB im 
Falle 3 die Zehenbeugung ganz ausgefallen ist, ist wahrscheinlich 
darauf zuruckzufiihren, daB bei der ausgedehnten Zertriimmerung 
des Gewebes unterhalb des Malleolus internus auch die Sehnen des 
Flexor longus betroffen wurde. Dem entspricht auch die Tatsache, 
daB bei Reizung dieses Muskels am Unterschenkel eine Beugung 
der Zehen nicht zu erzielen war. Duchenne gibt noch an, daB bei 
isolierter Wirkung des Flexor longus eine Drehung der Zehen von 
auBen nach innen um die Achse der ersten Phalanx erfolgt und 
daB der Flexor brevis diese Drehung zu kompensieren habe. Ich 
habe jedoch diese Drehung in unseren Fallen trotz darauf ge- 
richteter Aufmerksamkeit nicht konstatieren konnen. Die Lah- 
mung der Interossei und der Muskeln des GroB- und Kleinzehen- 
ballens, deren Wirkung im wesentlichen mit der der Interossei 
identisch ist, ist im Gegensatz zu den analogen Verhaltnissen der 
Hand am FuB von geringfugigen Bewegungsausfalien begleitet. 
Sie pragt sich in der erwahnten Schwachung der Beugung, der 
Grundphalangen aus. Die Krallenstellung der Zehen, die auf die 
Beeintrachtigung der Beugung der Grundphalangen und der 
Streckung der Mittel- und Endphalangen zu beziehen ist, ist in 
unseren Fallen, wie erwahnt, vorhanden, jedoch nicht sehr aus- 
gesprochen. Es ist wahrscheinlich, daB die Deformation erst nach 
l&ngerem Bestehen der Lahmung deutlicher hervortritt. 

Wir sehen, daB die motorischen Storungen nur verhaltnis- 
m&Big geringe sind und erst bei genauerer Untersuchung zutage 
treten. Die Konstatierung dieser Ausfalle ist in der Regel noch da- 
durch erschwert, daB die sonstigen ortlichen Veranderungen, 
Schwellungen, Frakturen usw. eine allgemeine Beeintrachtigung 
der Beweglichkeit herbeifiihren und daB erst die elektrische Unter¬ 
suchung Klarheit dariiber bringt, daB es sich tatsachlich um eine 
Nervenschadigung handelt. 

Die Sensibilitatsstorung betrifft in den Fallen 1, 2 und 4 das 
gesamte Ausbreitungsgebiet des Nervus tibialis an der FuBsohle 
(Plantaris externus und internus, Nervus calcaneus). Im Falle 3 
beschrankt sie sich auf die Gebiete des Plantaris externus und 
internus, da der Nervus calcaneus schon oberhalb der Lasionsstelle 
abgeht und daher verschont geblieben ist. Die Konstatierung der 
Empfindungsstorung an der FuBsohle macht gewisse Schwierig- 
keit, da es sich um ein Gebiet handelt, das auch normaler weise 
infolge der Hornhautbildung eine etwas mangelhafte Sensibilitat 
besitzt; nur sorgfaltige Vergleichung mit der gesunden Seite kann 
hier ein sicheres Resultat ergeben. 

Die subjektiven Beschwerden waren in alien vier Fallen er- 
heblich. Wir haben dabei zwei verschiedene Arten zu unterscheiden; 
einmal klagten die Patienten uber Parasthesien und Taubheits- 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Bonhoeffer, Doppelseitige symmetrische etc. 


17 


gefiihl in der FuBsohle. besonders im Falle 2 wurde diese Empfin- 
dung als besonders unangenehm und qualend bezeichnet. Diese 
Beschwerden sind als direkte Folge der Nervenlasion aufzufassen. 
Auch nach den sonstigen bisherigen Erfahrungen scheinen sie ge- 
rade bei SchuBverletzungen besonders haufig und intensiv auf- 
zutreten. Die andere Kategorie von Klagen besteht in Schmerzen 
in der FuBsohle, die sichinsbesonderebeim Auftretengeltendmachen. 
Sie wurden vor allem geauBert in den Fallen 1 und 4. In dem 
letzteren Falle stehen sie ganz im Vordergrunde des Krankheits- 
bildes. Es ist zu vermuten, daB diese Beschwerden zu beziehen 
sind auf die Lahmung der kleinen FuBmuskeln und deren Rtiok- 
wirkung auf die Statik und Mechanik des FuBes. Nach Duchenne 
dienen die Interossei und die Muskeln des GroBzehenballens vor 
allem dazu, beim Gange die Abwicklung des FuBes bis zu den 
Zehenspitzen zu vervollstandigen, indem sie die Zehen durch gleich- 
zeitige Beugung der Grundphalangen und Streckung der Mittel- 
und Endphalangen mit ihren Spitzen gegen den FuBboden driicken. 
Fehlen diese Muskeln, so erfolgt die Abwicklung nur bis zu dem 
Kopfchen der Metatarsalknochen, und das Stiitzen des FuBes auf 
diese gibt erfahrungsgemaB haufig zu Schmerzen Veranlassung. Es 
ist wahrscheinlich, daB auch in unseren Fallen auf diese Weise die 
Schmerzen zustande gekommen sind. AuBerdem kommt auch. 
noch die durch den Ausfall des Flexor digitorum brevis mangel- 
haft gewordene Stiitzung der FuBwolbung und die dadurch be- 
wirkte Lockerung des FuBgeriistes in Betracht, die zu Zerrung an 
den Gelenken der FuBwurzel und dadurch zu Schmerzen ftihrt. 

Erwahnenswert ist noch, daB im Falle 4 anfangs trotz noch 
bestehender Entartungsreaktion im Gastrocnemius der Achilles- 
sehnenreflex normal auslosbar war; anscheinend hat das Erhalten- 
sein des Soleus fur das Bestehen dieses Reflexes ausgereicht. 


Doppelseitige symmetrische Sehlalen- und Parietallappen- 
herde als Ursaehe vollst&ndiger dauemder Worttaubhelt 
be! erhaltener Tonskala, verbunden mit taktiler und op- 

tiseher Agnosie. 

Von 

Prof. Dr. K. BONHOEFFER 

in Berlin. 

A. H., 47 J&hre, Arzt, ist nach Angab© seiner Frau 3 bis 4 Jahre vor 
seiner Erkrankung durch Reizbarkeit aufgefallen. Um Weihnachten 1909 
ein kurzdauernder Krampfanfall, der keine Residuen hinterlieC. Spaterhin 
traten noch einige Schwindelanf&lle auf. H. besorgte seine Praxis in vollem 

MonatflBOhrift f. Psyohiatrie u. Neorolo^le. Bd. XXXVII. Heft 1. 2 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



18 


Digitized by 


Bonhoeffer, Doppelseitige symmetrische 

Umfang, Gedachtnisstorungen wurden nicht beobachtet. Ging am 30. VI. 
1910 nach Angabe der Frau nach Erledigung seiner Praxis vollig gesund 
zu Bett. Am 1. VII. frlih zeigte er sich ohne jedes Verst&ndnis fiir Worte 
und Aufforderungen seiner Umgebung. Er sprach zunaclist nicht. Nach 
eimger Zeit sprach er wieder, schrieb selbstgebildete Worte. H. wurde 
zunaclist zu Hause behandelt, ohne daB sich der Zustand ftnderte. Am 
2. IX. erfolgte die Aufnahme in die Klinik. 

Somatischer Befund: H. sieht alter aus, aLs er ist. Das linke Auge 
ist durch SchuBverletzung in der Kindheit vernichtet. Am Herzen stark 
klingender 2. Aortenton. Puls: Etwas erhohter Druck, regelm&Big, 80 p. m. 
Arteria radial is stark geschlangelt und rigide. Urin frei. Bei spaterer 
Untersuchung Verbreitung der Herzdampfung nach links. SpitzenstoB zwei 
Querfinger auBerhalb der Mamillarlinie. Ueber alien Ostien scharfes, lautes 
systolisches Gerauscli. 

An den Extremitaten nichts von Lahmungserscheinungen. Keine 
Veranderung der passiven Beweglichkeit, kein hemiplegischer Gang, nur 
gelegentlich, aber keineswegs regelmaBig, etwas Taumeln. Patellar- 
und Achillesreflexe sind beiderseits lebhaft. Es besteht beiderseits 
Tibialisplianomen, links ist gelegentlich Babinski und Oppenheim aus- 
zulosen. Die Pupille des rechten Auges reagiert auf Licht. Konvergenz 
ist nicht zu priifen. Der Augenhintergrund ist frei Der linke Mundfacialis 
erscheint etwas weniger innerviert als der rechte. Auf Stiche reagiert Pat. 
mit Abwehrbewegungen. 

Die Sprechweise des Kranken ist ausgesprochen paraphasisch und 
g&nzlich unverstandlich, der Gesichtsausdruck deprimiert und ratios. Auf 
Fragen und Aufforderungen keinerlei Zeichen von Verstandnis. Auf der 
Abteilung sclilaft er in der ersten Zeit viel, irrt zeitweise im Zimmer umher, 
findet sein Bett nicht wieder, legt sich gelegentlich zu anderen Patienten 
ins Bett, uriniert mitunter ins Zimmer. Die spezielle Priifung der cerebralen 
Funktionen ist im folgenden niedergelegt. 

MotiUtat und Sensibilitdt. 

Ein merkbarer Unterschied im Gebrauch der rechten und linken Hand 
besteht nicht. Eine genaue Messung der willkiirlichen groben Kraftleistung 
lafit sich nicht ausfiihren, doch zeigt sich, daB H. Dinge unter Umstanden 
mit guter Kraft- festMlt. 

Er manipuliert im ganzen gut, halt kleine Gegenstande (Korkenzieher, 
Ziindholz usw.) mit guter Opposition zwischen den Fingern, dreht Ver- 
schraubungen auf, bricht Semmeln entzwei, macht- Perkussionsbewegungen 
richt ig usw. Anzeichen von Ataxie sind dabei nicht bemerkbar. Auf Schmerz- 
reize reagiert er beiderseits in gleicher Weise. Eine spezielle Priifung der 
Bewegungsempfindung hat sich wegen des fehlenden Wortverstandnisses 
nicht bewerkstelligen lassen. Ueber Tastfahigkeit- siehe unten. 

Akustisches Geblet. 

Otoskopisch ist der Befund negativ (Kgl. Ohrenklinik, Breslau). Es 
macht zunachst Miihe, festzustellen, ob Pat. iiberhaupt hort. Es ist zeit¬ 
weise nicht moglich gewesen, seine Aufmerksamkeit akustisch zu wecken. 
Er dreht sich hkufig auf der Abteilung nicht von selbst um, wenn Larm 
entwickelt wird. Grelle Glockentone, die hinter ilim erzeugt werden, ver- 
anlassen ihn zu keiner Reaktion, erst als versehentlich sein Haar beriihrt 
wird, dreht er den Kopf zur Seite. Wenn dann in best-immten Zeitabschnitten 
wieder geklingelt wird, dreht er den Kopf ofters nach der Richtung des 
Gerausches, spater dann wieder nicht. Die Untersuchungen miissen ofters 
wiederholt werden, da das Verhalten sehr wechselt- und Pat. anscheinend 
leicht ermiidet. 

Vereinzelt ist es vorgekommen, daB beim Versuch, ihn zum Nach- 
sprechen zu bewegen, eine dem Vorgesprochenen ahnliche paraphasische 
Wortbildung es wahrscheinlich maclite, daB die Horf&higkeit erhalten sei. 
Beim Vorsprechen der Zahlenreihe 1, 2, 3, 4 sagt er plotzlich: „Was 


Go i -gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Schlafen- und Parietallappenherde als Ursache etc. 


19 


gemeinen mit der zwei“, wobei Ablesen vom Munde sicher ausge- 
schlossen werden konnte. 

Zu Zeiten gelingt es, das Vor handensein des Gehors mit Sicherheit 
zu erweisen. 

Hoher, pfeifender Ton (Kinderpfeife) zunachst keine Reaktion. Dann 
deutliche Reaktion, greift nach den Ohren, je nachdem hinter dem einen 
oder anderen Ohr gepfiffen wird. Dabei Gesichtsausdruck, als ob ihm das 
unangenehm ware. Reagiert weiterhin auf jeden Pfiff mit der Mimik des 
Unbehagens. 

RevolverschuB (so weit entfernt vom Patienten, da 13 die taktile Er- 
schiitterung nicht in Betracht kommt): Halt sich die Ohren zu, fahrt schreck- 
haft zusammen, sagt dabei „das tut wolch“. Bleibt einige Zeit schreckhaft. 
Im ganzen tritt hervor, daB, wenn es erst gelungen ist, akustisch die 
Aufmerksamkeit zu wecken, daB dann die Reaktionen oft gut und sicher 
erfolgen. Aber die Erweckbarkeit der Aufmerksamkeit ist an den einzelnen 
Tagen verschieden, ohne daB von eigentlicher Benommenheit gesprochen 
werden kann. 

Eine unerwartet giinstige Konst el lation fur die Untersuchung ergab 
die Priifung mit der Bezoldschen Tonreihe (gemeinsam mit den Aerzten 
der Ohrenklinik ausgefuhrt). Pat. reagiert auf den Ton der Stimm- 
gabeln, indem er mit dem Zeigefinger nach dem betreffenden Ohr fahrt 
und ihn hin und her schwenkt, oder indem er das Ohr reibt, auch den Kopf 
gelegentlich der Tonrichtung zudreht. Es ergibt sich dabei, daB er links 
deutlich reagiert, wahrend rechts ofters die Reaktion ausbleibt. Es ergibt 
sich aus der Priifung, daB nicht nur die Sprachsexte, sondern auch weit 
darviber hinaus das Gehor fiir hohe und tiefe Tone erhalten ist. Bei der 
Untersuchung ist die Mitwirkung optischer oder taktiler Eindriicke sicher 
ausgeschlossen, ebenso lag sicherlich nicht etwa ein perseveratorisches 
Wiederliolen vor. Die Reaktion erfolgte niemals ohne den akust-ischen Reiz 
und war auBerdem stets von den lebhaften Ausdrucksbewegungen, die der 
Kranke auch sonst zeigte, begleitet. 

Verstandnis fiir Gerausche und Fahigkeit der Identifikation von 
Gegenstanden aus den Eigengerauschen war nicht festzustellen. 

Aphasische StSrung. 

Das Wortverst&ndnis fehlte wahrend der ganzen fast einjahrigen 
Beobachtung vollstandig. Es ergab sich kein Anhaltspunkt dafiir, daB er 
jemals ein Wort, einen Auftrag, der ihm lediglich akustisch entgegengebracht 
wurde, verstanden hatte. Die Spontansprache ist im hochsten MaBe para- 
phasisch. Die Paraphasie ist literal und verbal, in der spiiteren Zeit der 
Beobachtung scheint es manchmal, als ob die verbale Paraphasie iiber- 
woge. Der erhaltene nicht paraphasische Wortschatz beschrankt sich im 
wesentlichen auf konventionelle Wendungen. ,,Entschuldigen Sie“, „wie 
meinen“, „wie gehts ?“, „was Neues ?“, „Ihr Diener“, ,,liebenswiirdig“, 
„gnadige IVau“, „Kollege“ usw. 

Bezeichnungen von Konkreten kamen spontan in der ganzen Be- 
obachtungszeit vielleicht nur zwei- bis dreimal vor. 

Es beeteht zeitweise ein ausgesprochener Rededrang, der bei der 
hochgradigen Paraphasie mitunter fast den Eindruck einer fremden Sprache 
erweckt. 

Versuche, den Patienten zum Kachsprechen zu bewegen, miBlingen 
meist. Es erfolgt meist keine Reaktion, oder er nickt mit dem Kopfe, oder 
es folgen ganzlich unahnliche paraphasische Silben (eine gelegentliche 
Ausnahme ist oben erwahnt). Auch seinen Namen kann er nicht sprechen. 

Zum Reihensprechen ist er nicht zu bewegen. 

Affektive Einfliisse beeinflussen die Spreclileistungen. Der unerwartete 
Anblick dee ihn besuchenden Bruders August veranlafit ihn zu der folgenden 
lebhaften Anrede an den begleitenden Arzt: „Gestatten Sie, mein Bruder. 
Her Ho .... Nun wie geht’s August . . . eine Zigarre . . . Ihr Diener Herr 
Kollege. “ 

2 * 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



20 0 a a i> > f er , 

AIk vrird, ^4rb<;k • u&& 

*H£l ' ,J)&£ I*.t ^Oi'lUHld *' 

1>^^n'r»^ ; gT*elii£hn w.e,nu *v> uborUunp?. gelingt. sa 
♦.ini.! as idoiiu rnb^hob i*i f d^jrtiu* .-eirum Schlutt za xiehen. ilb or d.er*. 

btft* ubt er Verlriiiftu gegen-- 

iiht-r apiWb^n. JEindr do-ken*.) 

V . ;V; \ r /-Lesen, : • < 

’Zum Lttiitlfs^ii ihf H' §0$ fcu bevvegen, Snv vium gelujia- o-u 
S eim Iiit^e^be dafiar «u bek6*a&meii. Jsi liyst eia#ein‘e j&*hJw,y3b dj/tufti 'i, 
riehtig*. ivalil> unter 7a U$1cm ii afolohen ehimnl dk 2 bmuH und sHgi t; das £$ 
*Vfei'V t$Fjem#L* wird ri(diti£ gefe%?d. Mei*t 

niiel) beta .?ifr».iieuii^r4 X3c*^.f»rc:l-iT>-<-W^riu : * 

Sail a letam, Iiu«i •. ,,a* o, »•»*>, a ? mb \ 

Sfoll 3 htseju- best ' ,4 k, s P im *•, fit., *v a., i<\u Q* g. itst. 

Sal) p It-SMU, bw?r isi p'' 

Falsali# Hankua/i odor Ai£b|mbeo jeder fv»*akm*n ist ait- Kegok 

. Semen \>>rjgr^cbr*c>b*?a«?« NiMnma best or (^Vh^; nirli ih o tth.aich neb oieh 
hMibb'b K&i& Eoieben. da& qb thn haV: " ‘'" - '* • ’ '. 

Ue^hinobone Atiftrnge bet'higt er ?ue. Ian.. '/lent Ji<-n tii&, V^r^tdiKiriiss:' 
fSjtr Sehrbi nur v^miges Mai, ajb,•;vtffg€^ciliri^beri.'swd j; ’*$£&•; 
bin kein licit, da irh *el» mich U5idr(wii!d dabei &bhatt nod iaebth $jy. dh ; 
Tefa et et W&ib ho?h s ‘ •- ^ ' ^ 

Emma! best er <[»*mrati pldfzlioh den Aoidmck ernes Kjankeivi^gea^ 
(psyc'huit-r, umi NVi vvuklinLk Breslau) , Jvt4forUaU> Berkun* U*\ 

Dot fonirtki- ihm yichf iieU imaiJuvOeluXi. Er *obtebt goiegtfhtlit-ii. 
d»H Biat t Paipter weg rttit don W.r»riLeA 3 ikiii das )jem 4 '. 

Scbreiben. 

Beim SehreibversMAli fet,nr bv '*'* be^oidai^bt.- 

inab ibin die Fedor t»4k<r.<le«x Bkd^tiiidijrf'clk*' ^i^xi.d ciriiokT'. u.bd 
.•.•Se'hVcdbtk>wegiing^> -p*is^'V:.’imt 'dm*- -HAnd;uiaeht.' ; 

flSiut'ig gefingt nad'^er g^h; und 

> ; ietier iinruak acier bleibi oliiie Keakt iou sityjnn. 




Daa einsige, was er isxx 

si luvs Haften m buebstabeTtaJuiltehen Uebildeti. Di^v ' ke\iT^ti -viodt.r 
auch Wean man dem Fatienteo:- Vdrlagea mm- Absehr^bon gibt odor auab 
Fygaron Varaeiduiet- 

Verhalten gegen fiber optischer> EiadrUcken* 

Fat. -Ht&hi ohm Zwei.M. wie *wh soli an M* tlem beuu U^n Oe«agtcn 
urgtbt. Er iit Mynp. Das central Sehen. ist, efimUen. Er best geiogent.lit*it 
idfiinen I>ru< k „ 

Die -PrVifua# deK : ^KahmMdj^ r&wtit >Schwi«rigkeu:eri y wexl die 
Armegbarkeit tUm : h •ciptifeb^: K-eiie %ertweise fiberhaupt Ktark lierab^Sf#^| 
|p VVuxl^rboct4' PruiH/igou lasaen aber touen Xwodel, dab sr.:n*i hor^ouial 


Go gle 



Schl&fen- und Parietallappenherde als Ursach© etc. 


21 


Digitized by 


und von unten rechts ins Geeichtsfeld hereingefiihrte Gegenstande keine 
Reaktion auslosen. Gelegentlich gelingt es auch am Perimeter zu zeigen, 
daB WeiB [ein Quadratzentimeter groB] von links ins Gesichtsfeld gefiihrt, 
regelmaBig eine Zuwendung des Auges (das link© Auge ist, wie erwahnt, 
durch eine alte Verletzung erblindet) hervorruft, wahrend von rechts keine 
Reaktion erfolgt. Ob der hemianopische Gesichtsfelddefekt rechts voll- 
standig ist oder nur segmental, ist nicht sicher festzustellen. Es scheint 
gelegentlich, daB von rechts oben ins periphere Gesichtsfeld fallende Ein- 
driicke Reaktionen auslosten. Ob er Far ben erkennt, l&Bt sich nicht fest- 
stellen. Mit Wollproben, die man ihm in die Hand gibt, manipuliert er, 
ohne Zusammengehoriges zusammenzulegen. 

Die Priifung des optischen Erkennens ist erschwert durch die hoch- 
gradige Paraphasie und durch das Schwanken der optischen Aufmerksam- 
keit. Es sind haufige, kurzdauernde Untersuchungen notig, um zu einem 
Urteil zu kommen. Dabei ergeben sich ausgesprochene Schwankungen in 
der Leistung. Wahrend er zu gewissen Zeiten alien Eindriicken gegeniiber 
sich indifferent verh&lt, so daB nicht festzustellen ist, was auf Kosten der 
schweren Erweckbarkeit der optischen Aufmerksamkeit zu setzen ist und 
was gnostische Storung ist, gibt er zu andern Zeiten durch deutliche Mimik 
zu erkennen, ob er erkannt hat oder nicht. 

Verhalten gegen farblge Bilder. 

Dreht die Bilder in der Hand hin und her mit dem Bemiihen, sie zu 
erkennen. 

Schmetterling ? Dew ist ein Z—Zsich. 

Starch? Stoch. Dew wird ein Storchich sein. 

Regenschirm f O zut zutlich. 

Hahn ? Ah, das ist ein Zattoich. Lebhafte Mimik, als ob er erkannt 
h&tte. Sieht sich dann das Bild langer an und schiittelt den Kopf. 

Apfel ? Das kenn ich nicht, was es ist links oder rechts, das weiB 
ich nicht. 

Katze ? Das ist Zachich — Mitzich, ich ich (Mimik des Verstandnisses). 

Helm ? Das ist ein Zeweck, Goblech, Rech, Zellaup psch. Keine Miene 
des Erkennens. 

Brennendes Hava ? Aha mit dem Tone des Erkennens. Das ist Feuch. 
Das ist solch r&uichig. 

Nlchtfarbige Bilder. 

Kinderwagen ? „Das ist esso ein Fanzig geh oh Euch 1, 2, 3.“ Unsicher, 
ob er erkennt. 

Schwan ? Das ist der Halbsch, Halb, Hallstig, das ist ein Zeich, 
Lebeich, Ewelch. 

Hirsch ? Das ist Pschich. Ja, der heiB also. Auf Wiederholung der 
Frage, was das ist, besinnt er sich, halt das Bild an der Spitze: „Ein Recheich“ 
Auf die Frage: 1st das ein Hirsch ? keine Reaktion. Bei groBen bunten 
Bildern: Ball, angaschnittener Kuchen, PfefferfaB, Loffel, Ei kein Zeichen 
des Verstandnisses. Als ihm das Bild verkehrt in die Hand gegeben, dreht 
er es nicht richtig, bemiiht sich jedoch anscheinend durch nasale Haltung, 
es auf seine temporal© Retinahalfte einzustellen. 

Gegenstande, die ihm vor’s Auge gefiihrt werden, ignoriert er meist. 
Hochst selten greift er danetch. Geld, Uhr, Schadel, Gehirn, Kaninchen, 
Perimeter, Miloroskop rufen keinerlei Interesse hervor, solange sie ihm 
lediglich vor Augen gehalten werden. 

Vor den Spiegel gestellt, sieht er hinein, schiittelt den Kopf und 
greift an seinen Bart. 

Vor dem brennenden Weihnachtsbaum zeigt er keinerlei Zeichen von 
Verst&ndnis. 

Das Essen nimmt er nicht an sich, wenn es ihm lediglich vor Augen 
gefiihrt wird. 

Auf Qesttn nur unsichere Reaktion. Gelegentlich lacht er, wenn er 
achen sieht, streckt die Zunge heraus, wenn sie ihm herausgestreckt 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



22 


Bonhoeffer, Doppelseitige symmetrische 


Digitized by 


wird, viel haufiger bleibt die entsprechende Reaktion aus. Sichere Anhalts- 
punkte dafiir, dafi er Gesten versteht, kaum je. Einmal gelingt as, ihn 
durch Gesten zum Aufstehen zu bestiramen. Bei Bedrohen mit Messer 
oder Nadel keine Furchtreaktion. Ein brennendes Streichholz blast er erst 
bei starker Annaherung aus, wenn ihm die Hitze belastigt. Personen er- 
kennt er, soweit es sich um von friiher bekannte handelt. Seine Frau und 
seinen Bruder begriifit er mit unzweideutigen Ausdriicken des Erkennens. 
Freilich lafit sich dabei nicht mit Sicherheit sagen, inwieweit hier tat- 
sachlich lediglich einsinnige optische Wahrnehmung in Betracht kam, ob 
nicht Unterstiitzung durch Stimmklang eine Rolle spielte. Bei Aerzten 
und Personal kamen wohl gelegentlich Verkennungen vor. Aeufierungen, 
wie: „Wo komst du her alschter Freund “, plotzliche zornmiitige Aggression 
gegen einzelne und ebenso zartliches Begriifien und Umarmungsversuche 
spree hen in diesem Sinne. 

Taktiles Erkennen. 

W&hrend optische Eindriicke den Kranken nur in geringem Mafie zu 
Reaktionen veranlassen, wird dies meist sofort anders, wenn er gleichzeitig 
mit den Handen zufassen und mit den Gegenstanden manipulieren kann. 
(XTeber die Leistungen bei Kombination optisch-taktiler Eindriicke s. u.) 

Gibt man dem Pat. bei verbundenen Augen Gegenstande in die Hand, 
so tritt dieselbe Erscheinung ein, die bei isolierten optischen Eindriicken 
zu beobachten war. Er manipuliert auffallig wenig mit den Gegenstanden, 
gibt sie meist nach kurzer Zeit zuriick, ohne irgendeine Zweckbewegung 
gemacht zu haben, die darauf hinweist, dafi er den Gegenstand erkannt 
hat. Er sucht sich auch die Binde von den Augen zu schieben und macht 
paraphasische Aeufierungen, die den Sinn haben, dafi „er nicht sehen kann“. 
Man gewinnt den Eindruck, dafi auch der isolierte taktile Eindruck nicht 
geniigt, das Verst and nis wachzurufen, sondern dafi die Kombination 
beider Sinnesgebiete erforderlich ist, um uberhaupt Reaktionen zu erzielen. 

Verhalten bei kombinierten optisch-taktilen und anderen mehrsinnigen 

Reizen. 

Es treten im wesentlichen zwei Reaktionsformen hervor, je nachdem 
er erkannt hat oder nicht. Im letzteren Fall Mit er die Dinge, die er bei 
offenem Auge in die H&nde bekommt, in den Handen, dreht sie hin und 
her und legt sie dann weg oder gibt sie zuriick, ohne dafi aus der Art des 
Manipulicrens, aus den begleitenden sprachlichen Aeufierungen oder der 
Affektreaktion zu entnehmen ist, dafi er den Gegenstand erkannt hat. 
Anderes reagiert er, wenn er etwas richtig erkannt hat. Er pflegt dies durch 
die Lebhaftigkeit der Affektreaktion, ein Aufleuchten des Gesichtes, viel- 
leicht auch durch eine gew r isse Aehnliclikeit der paraphasischen Wort- 
bildungen mit der eigentlichen Wortbezeichnung, mitunter auch durch den 
zweckmafiigen Gebrauch zum Ausdruck zu bringen. Schliissel , Ziindholz- 
8chachtel y Zigarren , Zigarette , Perlcussionshammer dreht er in den Handen 
hin und her, betrachtet sie dabei, gibt sie dann zuriick, ohne dafi sich aus 
der Hantierung zeigt, dafi er die Gegenstande erkannt hat. 

Ebenso verfahrt er mit dem Stethosfcop , als as ihm gereicht wird. 
Er wendet es hin und her und gibt es zuriick. Ein andermal hantiert er 
aber ganz geschickt damit, er nimmt es auseinander, schraubt es auch 
richtig wieder zusammen, fuhrt es dann aber wie ein Fernrohr ans Auge. 
Wieder ein anderes Mai setzt er es zuerst richtig ans Ohr, dann legt er es 
seitlich ans Ohr, ohne die Horplatte anzulegen. 

Biirste und Kamm? Zeigt auf die Biirste und sagt: „Das geheucht 
zu, das ist geheucht 41 , halt dann den Kamm ans Auge (Perseveration). 
Auf die Frage, was ist das (die Biirste), auch als ihm das Biirsten des Bartes 
vorgemacht wird, keine Reaktion, gibt beide Gegenstande zuriick, als ob 
er sie nicht erkennt. 

Schadel in die Hand gegeben! „Ah das ist Spillbewoisch, ganz hiibseh“, 
klopft damn herum. Auf die Frage, was ist das, dreht er ihn hin und her. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Schlafen- und Parietallappenherde aJs Ursache etc. 


23 


sagt dann: ,,das ist zu schwach, das ist doch zu schwach**. Kein Zeichen des 
Erkennens. Dann plotzlich lachend: „friiher ja, aber geht zu schwach**. 

Kamm gegeben! Kammt sich. 

Zahnbiirste! Ja, das ist, das verstell ich (versteh ich?). 

Geld gegeben / 2 Mk.: Z wanzig, fuchsig auch ach. 

3 Mk.; „Ja so kimilch.** 

20 Mk.: „ Ja das sind zwolf sich“ — dann plotzlich 
„zwanzig“. 

20-Mk.-Schein: A da ist ein, das sind zwenftig. 

Gesichtsausdruck zeigt an, da£ er erkennt. 

Gewehr f „Ah das ist Gewolf‘% duckt sich, als ob es losgehen konnte, 
halt die Hand vor’s linke (ausgeschossene) Auge. 

Helm / „Ja das ist Schwelch," klopft am Wappen herum. Als er ihm 
aufgesetzt wird, sagt er „ja**, nimmt ihn dann ab und setzt ihn selbstandig 
wieder auf und nimmt ihn spater wieder herunter. 

Tennisscfdager / Kein Zeichen des Erkennens. 

Mensurschldger l In die Hand gegeben, sagt er „Korb“, tastet ab, be- 
sinnt sich, sagt dann w'ieder, „das ist ein Kolb". 

Perimeter / Kein Zeichen des Verstandnisses. 

Mikro8kop / Kein Zeichen, da£ er erkennt. Manipuliert gar nicht 
damit. 

Es wird ihm eine in Spiritus eingelegte Himhemisphdre in die Hand 
gegeben. Zunachst greift er nicht danach, dann nimmt er sie in die Hand, 
macht einige abreibende Gesten mit der Hand, dreht sie in der Hand hin 
und her, riecht dann daran und sagt: „Das ist was drin, also die ist Glich, 
uhich, ein Girich, ein Lorch.“ Geht mit dem Gehirn im Laboratorium hin 
und her, macht Bewegungen, als ob er die Wolbung abtasten wollte, sagt 
dann: „Zweigiech, das ist liebrig, zwei geich.“ Legt die Hemisphare auf 
den Tisch, manipuliert daran, sagt mit lebhaftem Ausdruck: „Das ist 
eine Girig, ein Girig, ein Girig, wie heiBe das nicht, das ist Girich, auch 
ein Girig. 4 * Trocknet sich dann mit dem zugereichten Handtuch die Finger, 
nimmt seine Brille ab, putzt sie und setzt sie wieder auf, sagt dann wieder: 
„Das ist ein Girig.** 

Ein Kaninchen , das ihm vor Augen gehalten wird, beachtet er zunachst 
nicht, dann macht er abwinkende Bewegungen; als ihm die Hand an das 
Tier gebracht wird, schrickt er zusammen, schlagt einigemal wie abwehrend 
nach dem Tier, sagt: „Das agstigt mich!** Das angstliche Zuriickschrecken 
wiederholt sich ofters, sagt: „Ich habe Angst, das bei£tig.“ Hat offenbar 
das Tier, aber nicht das Kaninchen erkannt. 

Gewicht und Wage! Manipuliert so mit ihnen, da£ man den Eindruck 
bekommt, dafi er sie nicht erkannt hat. Steht dann auf, putzt sich an 
einem an der Wand hangenden Handtuch erst die Hande, wischt sich den 
Mund und putzt sich dann die Nase damit. 

Mit einer Schachtel Pillen hantiert er gut, bringt aber die geoffnete 
Schachtel nicht wieder zusammen. Ebenso nimmt er aus dem Gewicht- 
stander die Gewichte heraas, tut sie aber nicht wieder hinein. 

Haarbilr8te! Klopft, betrachtet sie, geht dann ans Waschbecken, 
taucht sie ins Wasser, spritzt sie dann auf der Erde aus. Als ihm die Be- 
wegung des Haarbiirstens vorgemacht wird, biirstet er dann richtig weiter 
und perseveriert in dieser Beschaftigung. Gelegentlich kommt es vor, daft 
er die ihm in die Hand gegebene Haarburste zum Munde fiihrt, wie etwas 
Eflbares (ohne da£ Perseveration vorgelegen hatte!). 

Hantieren mit Streichholzschachtel und Zundholzf „Na, das geht nicht. “ 
Streicht an, jedoch nicht an der richtigen Flache der Schachtel und am 
falschen Ende des Ziindholzes. Sagt dann, fast deprimiert, als es nicht 
geht: „Ja, friiher ech sich.** Als ihm die Zundholzschachtel wieder- 
gegeben wird, sagt er: „Ja, das ist Feuch 4 * (Ausdruck des Erkennens), 
nimmt ein Ziindholz und brennt richtig an, wirft es dann weg. 

Soil ein Licht anzixnden ! Fragt: ,,Won sie each V' Versucht ein 
Streichholz anzuziinden, benutzt wieder zuiiaclist- das verkehrte Ende, 
dreht dann das Ziindholz um, streicht es an der falschen Flache der Schachtel 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



24 


Bonhoeffer, Doppelseitige symmetrische 


Digitized by 


an, sagt dazu: ,,Das ist zu duh. “ Als es schlieClich brennt, ziindet er 
nicht das Licht an, sondern blast es in ungeschickter Weise aus. 

Zigarrentasche nimmt er, sieht sie an, macht sie auf, nimmt Visiten- 
karte heraus, versucht anscheinend zu lesen, was darauf steht, kein Zeichen 
des Verst&ndnisses. Ein anderes Mai betrachtet und betastet er sie, nimmt 
zwei Zigarren heraus, lacht dann, als ob ihm jetzt erst das Verstandnis 
aufgegangen ware, nimmt eine, legt die andere weg, beiBt die Spitze ab. 

Aufgemachtes Messer und Zigarre. Schneidet die Zigarre nicht ab. 
Er ist niemals imstande, den ganzen Akt des Herausnehmens, Abschneidens, 
Anziindens, In-den-Mund-steckens der Zigarre im Zusammenhang und in 
einer Folge auszufiihren, wahrend jeder der einzelnen Teilakte gelegentlich 
richtig vor sich geht. 

Kartenspiel nimmt er richtig in die Hand, als ihm Schellass vor- 
gelegt wird, sagt er, „das ist Schelch“, benennt dann auch alle anderen 
Karten mit Schelch oder Selch. 

Schachbrett und Schachfiguren. Zweifelhaft, ob er sie kennt. Er 
macht nichts damit. 

Seine Kleider , die ihm hingelegt werden, ignoriert er zun&chst. Es 
wird ihm eine Hose in die Hand gegeben. Manipuliert damit herum, schlieB- 
lich stiilpt er sie sich wie ein Hemd iiber den Kopf. 

Die Hose wird ihm so in die Hande gelegt, wie er sie im Moment 
des Anziehens zu halten hat; er zieht spontan die Pantoff ein aus. Es gelingt 
durch Gesten, ihn dazu zu bringen, mit einem Bein die Hose anzuziehen, 
versucht dann mit dem anderen Bein in dasselbe Hosenbein zu steigen, 
zieht sie dann nach vergeblichen Versuchen wieder aus. 

Hosentrdger legt er wieder weg, ohne irgend etwas mit ihnen zu 
machen. 

Es wird ihm ein Strumpf halb angezogen, zieht ihn weiterhin richtig 
an, zieht den zweiten Strumpf iiber den anderen FuB, aber verkehrt, so 
daB die Ferse auf den FuBriicken zu sitzen kommt. Ein andermal zieht er 
den zweiten Strumpf iiber den ersten. 

Einen Pantoff el, der auf der Erde steht, zieht er richtig an, aber auf 
den nackten FuB. 

Es wird ihm ein Rock in die Hand gegeben. Wendet den Aermel um 
und manipuliert an ihm herum. Setzt sich den Rock iiber dem Arm 
auf den Stuhl. Kommt nicht dazu, ihn anzuziehen. 

Mit der Gummiunterlage deckt er sich gelegentlich zu. Das Essen 
l&Bt er im allgemeinen stehen, wenn es ihm nicht direkt in die Hand gegeben 
wird. Einmal wird aber auch beobachtet, daB er von einem Tisch spontan 
eine Semmel wegnimmt, sie durchbricht und richtig iBt. Ein andermal 
wird ihm ein Stuck Semmel gereicht, er dreht sie hin und her, priift ihre 
Konsistenz, sieht sie sich an, fiihrt sie zum Munde und legt sie wieder weg. 

Meist iBt und trinkt er richtig, wenn ihm die Tasse zum Trinken, 
das Brot in die Hand gegeben wird. Ebenso verhalt es sich mit dem Waschen, 
Kftmmen und Biirsten. 

Auf Geschmack- und Geruchsreize reagiert er richtig. Eine rohe 
Kartoffel, in die er hineingebissen hat, spuckt er aus unter dem Zeichen 
des MiBbehagens. 

Cajeputol, das ihm unter die Nase gehalten wird, wehrt er ab, rvimpft 
die Nase, sichtlich unangenehm beriihrt. Dieselbe Reaktion auf Baldrian 
und Essig. 

Orientierung im Raum. 

Er findet in der ersten Zeit sein Bett fast nie wieder, auch spater ist 
er unsicher darin. Hftufig versucht er ins Zimmer zu urinieren, indem er 
sich an ein Bett oder an die Tur stellt in offenbarer Verkennung des Ortes. 
Gelegentlich findet er das Klosett spontan. Er versucht, sich zu anderen 
Patienten ins Bett zu legen, anscheinend ohne sexuelles Motiv. Anf&nglich 
rennt er sehr haufig an Gegenstande an. Spa ter tritt das weniger her vor. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Schlafen- und Parietallappeixlierde als Ursacbe etc. 


25 


Psychisches Verhalten. Spontaneity. Affektivit&t. 

Es bestehen auff&llige Schwankungen in der Spontaneitat des Kranken. 

In der ersten Zeit des Aufenthaltes ist er oft durch seinen paraphasi- 
schen Rededrang und sein ratloses Umherlaufen storend. Er geht auch 
gelegentlich bei den Kranken umher, fuhlt den Puls, macht Gesten, die zu 
bedeuten scheinen, dafi sie ruhig liegen sollen. Auch spaterhin kamen solche 
Episoden noch, aber es ist doch haufiger, dad er untatig und uninteressiert 
im Bett liegen bleibt. Er zeigt dann auch die Zeichen der Flexibilitas 
caerea. Zur Defakation und Urinentleerung verl&flt er das Bett. Ueber 
die hinsichtlicli der einzeinen Sinnesterritorien bestehenden Differenzen 
in der Erweckbarkeit der Aufmerksamkeit ist oben gesprochen worden. 
Zu Zeiten der starkeren Spontaneitat iibertriebene Affektreaktionen. 
Streichelt den Arzt oder andere Personen der Umgebung, sucht sie zu 
umarmen, lebhafter Ausdruck und Mitteilungsbedurfnis. Zweimal kommt 
es zu heftigen zornmutigen Erregungszustanden, ohne dad ein ausreichender 
Anlad festzustellen war, wahrscheinlich aus Situationsverkennungen heraus: 
Er wird blad vor Erregung, geht mit drohenden Fausten auf die Umgebung 
los,rennt umher, gestikuliert lebhaft, erhebt seine Stimme zu paraphasischem 
Briillen. — Mitunter ist er auch grundlos abweisend, kehrt sich ab, wenn 
man ihn begriidt. Im ganzen ist w£hrend der ganzen Dauer des Aufenthaltes, 
abgesehen von der allerletzten Zeit, bemerkenswert die affektive Anregbar- 
keit des Kranken und das Erhaltenbleiben der affektiven Ausdrucks- 
bewegungen. Niemals zeigen sich bei den affektiven Ausdrucks- 
bewegungen apraktische Beimengungen. 

Verlauf. 

In den ersten fiinf Monaten anderte sich wenig im Befinden des 
Kranken. 

Am 9. III. 1911 ein epileptischer Anfall mit nachfolgender Temperatur- 
steigerung. Danach mehrere Tage matt und sclilafsiichtig. Keine Lahmungs- 
ersoheinungen. Erholt sich bald wieder. 

Am 13. III. Besuch seiner Frau, begriidt sie mit lebhafter Freude, 
kiidt sie, sagt Mama, im librigen ganz p&raphasisch. 

Am 10. VI. 1911 erneuter epileptischer Anfall. Seit dem Anfall unge- 
schickter, verschiittet das Essen, mud mit dem Loffel genahrt werden. 
Schl^ft seit dem Anfall mehr als zuvor. 

26. VI. bis 2. VII. 1911 Pneumonie. 

Von Mitte Juli wieder wesentlich besser. Verhalten wie friiher. 

Am 30. IX. 1911 wenige Sekunden dauernder Anfall, Beginn mit 
langsamen Beugebewegungen der Finger der rechten Hand, dann auf den 
linken Arm iibergreifend. Beine unbeteiligt. Nach dem Anfall Hypotonie 
des rechten Armes ohne Parese. In der Folgezeit haufige Temperatur- 
steigerungen. Ueber den Lungen beiderseits hinten unten Dampfung, 
abgeschwachtes Atemgerauscli. 

Schlaft viel. 

Zunehmende Xeigungi Gegenstiinde, die ilim gegeben werden, zum 
Munde zu fiihren. 

25. X. Epileptischer Anfall. Entwicklung einer hy'po.statischen 
Pneumonie, Knisterrasseln, Auswurf. 

Am 3. XI. 1911 Exitus. 

Die klinische Diagnose lautete auf sensorische Aphasie, ver- 
bunden mit agnostischen und geringeren apraktischen Symptomen. 

Als anatomische Unterlage wurden doppelseitige Erweichungs- 
herde angenommen, welche die hinteren Absehnitte des Schlafe- 
lappens, das Parietal- und Occipitalhirn betrafen. Auf doppel¬ 
seitige Herde wurde geschlossen wegen des volligen Ausbleibens 
einer Restitution der Worttaubheit und der Seelentaubheit, 
wegen der dauernd bestehenden agnostischen StorungenS auf 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




2$ .bJ‘f 'i* r * f i’ r , .\ i«u»-**i r.u&)tft 

opti^ehbbi mm ||I i^dKafetilem (re I Met i\ Daxu Unm die Arideutimg 
doppfdsevfeer' i\r&m if leneympt mne (Ti'f.n;vlisphafiOHU‘ij. leddeiseifcs 
jBtih’tnxta. -inut negatvy). 


fcthrt'Ml dink* eme Sdiiuiigo/ig *lrM Sdistpiihlrmg 

vrurde, /**!.. 

T^t^fichUch.. -dex-. anaionHschv BeXfimi ire rferi 

iieien Punktej? die klirusehe Puvgnw-, 

Iter inftk'r‘^hj)sn«‘h< IV-lmtd. iin'i enen Viehirn or gab 

iH^der^bs afie ^IrwoiebimgiH.Uorde ike*. l%rietaJUtF?e -urul ■$&> 


Rjti . b l b. n ebeti 


lappeas ■ 0( ? i* itotb’ mdtts nnd link* nnhe/n h&tik 

Ypftf r\M h, '*J£flkk die b*’ ibiliK <Iv-r 1 $ebtRfeii\viwtn|ig timi 

dttf* d*>r U. 1 d/lWitwin d un l*:* der C.\ru* anu^Ur**- upd 

r ; dfett *j&t;r£erkt • dtep J^rd bie an 
..die "ttiV yiRjr^jnoti'. Hidjlbu • uHrt or fim/Jj liber *iy aVo^> 

1 be VMriteiv ii>V^ v sib* Kerde- lii-m Itirner d.r htnier^n Zenti'aiwiudimg, 
♦ un ci Hifivk Inxd.Ir dn m(#kt "la^o.iu!,. Xiikt\ : ,bu'lJr*d' i«'b itejr. 
H<nf veu-den 0‘-ri}iib>KvnM'l!invor\ bep*nr/t. liitAkf be ;<H(i Hi i'efi- 

vhkJiml^ Mini die He * . <M- J and dit MediwnUin |m ? d.*< Oe.-tpiMib 

Pfjd r>«\«*T;db trues. Hu •///.*? Kf jm w f >• m le lien derselbe Hefund.* b-s debt 
tuer rt voiA\Veb *b*T r dr*t*sb ^rliiare\vindn rtiju itud d% .Herd- *oA)d?its> in 
rler Kebfab $p'p*d M ii» die Tiele ip ]ink^< 

l •>#? ifl unr itr den Htnteven THn i^iidr^rV.^)i. 

]>;.- » bd .ire -\Wr«i in l«>i*' in >f\U i* r -harlot »n»d in Shru-seebiul l.e 


Go gle 


Ongindl.'frd 



Fark'twlRippen;>k : . ! U jsjvtlm pfe. 


Fig. 


Bui 

mZ/mJvZjz 


itifi N< j n.ir^kvl Im ^i n »r ermv ^hi/ ■.•»*■•{if »j ?•!“ Af a rIdHgHrstdj S»lmm 1 (.?•); 

ki^Lrier*’ j r;, n*:*fot : ' s ilfri-ri,' -M* ityfr 

V/Ht i I'..f»*'V!:hi-.'hi«'in j .j d|f‘ TiotV* MMHjt.'Mii. 

Lirik* ia v * 1 1 j iUn\ }> if i'* »tr>t> \\ Vti;i 1 o »-f p iraaivltnrdh: 

j oi-Utj rter •#<& Fr^wilM- 


wmmxgmaszss&BBR 

§j$ y k *%*? v 

TorukfdirirW 

'-.•. -\. ,• ■■ •. 'i,’ ?j\*ivj 

xorie^l. nw\i :Pyt 

J 1? ‘ r i nal, j n "mm 

7 : .!•; '*•;.vlf^; frpu^" < 

■ : v- d^u. i 

• ..«i»f-r.. g$g larvmJ* j 

'!!tir;V" ».,•<-<?>• -:-k, 
> \ oii Uin. c^j ti<\rrt % 

k- Mi'fit t-riutu)', *••> | *; * f 

1} MWi ‘hfj4£fe* -.-tt.jHFji \Hi 
d vrMag'i^r Hf- V1 v d? 

< 1VJ , -dbh itahtta. frtl^ndpr 

m( di^ vS;dad+-K> varlol^f 

‘h^’ i * er ? •: 

■ii .w tiiluj d •'• Spir/i v !*-r A vnird.v! 
w-.rdifVmf.. y t \v.r ,; n*h' *n Wmchuv-rsT i*■<>* 


\y x u % 


nqiifl 


aj ftcfn'. 

3 F MIC'HH 






ti Ju o \ t c* r . 

;»e !'« i! JVldt vc>Jlie. Krholir-n. kt aid der puriahiJer* .»Soi-K; 
'gm \'. deV UiK’Tf AU-Omii r dec Ilf. S.ldafrmvmdon*.:. u»fi der v.\re ; n£& 

kai> ; klsdtir ‘‘Kii^iii < yioaritHt m*<f 


ttrJjmu 1 


rnediaTe Flik*hci der (iimn^gegeiid hind nmikt Dm Hmigeltt zufifeidwimyr 

in das ontereLangOHindel lunem* s on ihm M IfttVra] em 

0*e $&*bkjr^4 \ f$*mi. wft*r ; fHtde interim) 
fcidr gteiehfrdk' lateral \\AUi in dig:. Anxi*? licwO iru t de nl* eiii £ttiJzdimrK r 
^troifer* zvtjstdien Tap^rum und Fa*soKnd hra \*.ink hervor, An 4m iuuerfu 
Vku riU^ln'ckt> *i eUi jjpoh ein pi rit*M*>*v I/ie gaftze 
Sfarkk\Mvr*cJueht ini dark n^iutwrl. jJtv ’ : A eumkw t»t Vrvveit^rk 

iifdiU' iicuiet KK.ii <.*111 mi; ?*.y'm»n»-i uvehe* 1 ?dd Iter; H^rii 

jkjp-lit ilber die interpurietHikfnrte WU- Dir Au.daii on Mki* kinder eat spricJil 
taxi vnlliti dern der UVikt'U HoU«4 Ks staht c1>vh>. mehr vm %r?j busftleu 
IVjI des KaKciriil. iotiggnddmi% inferior 

Selmitt :? ( 17 ): NderfAifd^id^ Aiesehen der flejrcr$pjikreii>ehmtit*- 
infolim <Hs doppekeit iiem - v nnuemsOjeii AnsUdlen dor hpmdei.i Portion. 


[.-•uk* &in d*>r )|, id nUi dn- I nt erpnr.i<-? tdfmvlte l:mv^i', 

D*e »w; de* Maiknuunek utd'U* in die nRrreii JSimVvi median- 

vmvts b»N iudeu RiaPkran/ de; i'ra. run. u, .>. n// Rind.- nnd d». v einsi ralilohdi 


V . * ; ;R‘ 

igitizes by G() 







.Sohlft r<>rtv: Ymd . 


blrfrd<: 


Mwtrkkeg*‘l *nnd ififakt db*‘* xd>n&en media len ilrrnpHr^yrt. 

rv.n Tivnl gehi ln< aVjtJ dii 4 * ; .Yt.»*n>b>:« lu.uul. \\ arval Kind kpinu ’Tapcfum- 
tast-m in»■>«! *:r)i.‘lfM r oind? d**iS.d b-ldeii -it !’&>.{ ^inx. lrmeu <*ben am 
mvedKr-reu Wrnrik-d liegi kNm'V ;£«|»fVh.-d-^s K^reeps maim* and vo n 
liter Hii/i £«»ht (Hur- gaux 'dumie l^idlif li y/iie '$*:■ U i<• b f ari dor' nVerliawen 

Und HridnrW^f*teb \V)d Wkelwaiid emlang, 5^vyi^heu Marktftgefc kk’nririA 
ubd: Tapeiimi ckv Y**nwkeL> Uegr xmtf ebte gnn/ sobt&aAh, iuG^Ohkop^h- 
k-Hum siobtimrrNtenohl Sirat. sainttal. intern. V»->’r« YtnWren L:rrvpdnhidei 
tebk die pai iarnle Parttep^beaso von.-deia tyra? t»m inmnnia,. 

Es iM lli»r f.k't d»i.s;ik- Anlril VOli bidden Ymd ahHi d/^-rT T?H dnnnz-T a 4 ' 
normal v«irUai»d»*r\. 

AVrAte d<?.r Atefimd fast* tram ubj^eiu-tuniiK-tul rait d» m link***]. 
did3 v..xn th?t qhwvii -Fartet-id vrititiji*4-vv)^. lbtdte stbMA Y<>w bidden - 
Stiu k d*4 miiW'n l/un^dmmFb vino <ten. tlanibfThr^i-rnli-ii S»r,n nm 
interna in isi wyniK nnbr rofidH-n .:U Unk 


Selmitt 3 <34) 


Schmit t (34); f>.-r fford link# nmfuBt <tuli« j u i>»»< h di» run/e K. 01 ;- 

vexi|b h tdrii BolVivlttd14 bte -berab ?a tv dr it tv n T^iViJJui^wii^uug* 

geht naeh n.beb tawd*. d*n,<Jhw>Q abbaagteru H \nd dt»r I rvt>>vjia ritual- 
; mT# Itev&n iiod ^rstn Virt Vidh r nd vas Mark, 1 V-. afairenmidtf- "Mark- • 
teger dm JVa&ruUauK, l^r axdgetedh, Autten go hr dnv iWd bis eud dan 
and (lHdUditA]U"^haiHi fdivk hter >Yteeic?nUte longit^dinalis JiifnriAiv 
-liit’VijifI * * Wpetum vAUfcr. I>te l^pobitn^rlm'te ikt'lrU- m dan 

P^K-op* major hmain at,v>r.k *r^!adm‘t. Dvt dmt Fotnq** tm.mr. nahaUaganda 
IW and i^i **i&m ^tiarker gv^?hu 

reduici«rt^ Did ’^ Part ieu de* untdren Lkngs))iUVdi>Jft sibci ddnt&h. 

-Dfces,. ; gimtiim- ..ititerwum sc-lir si ark und demdirriiilert 4 

. ftechte :• •ileifc •:Hefti klei i\#r. Dre Jntefparkiialfiirche ist intakt, inid 
e# i<tdht <et^ r a die tier uiit^ren Par*WdIn dvr Ifete Tekiht 

desf' Hef,d VentvikeL •; .(fordfipiv. • ink .stark aufgeheilt. 

Ay^totE«ajj/lfltik^ • die- ddm Forceps ivomiaJdrvV^isd anUi^dnde diehte aagtr^aJe 
^rabl^an^cliiniii wbni^iehUg and knnm jdisbibar: mi\ is^ hi^r vine dm 11fche 
' ^^£cht/' .$titbkfkii5r.' iie-htbar* 

Die Vantrikiet sinci bvidm^vit* ermdtert, 

■Scfimit 4 [ti’A. Sdimtio dt.irah 'dm Hplipninm <N.»rporis autor zeigea 
\jbcfail flie mitUtirdn Partin Ballmn^ Uotdiioh ddtevm ^riertv< b^pncWs 
basiij i<i ciia Farbung gtif,. Do.rsn) v<t siv niebt pan/ abfnr dovh d^utlich 
b*«MT ais in- dvv' Msttv. the Ansdtbmmgd^ -Herde < bteibt links- bn abngeri 
im ^Meat-iielmi di^elbn, i?w*w< iPitigsbiindtd it> dem S<*b|oten)Hppen- 



■> */. 


i i ' ( 

i 1 ^ y?Av • f j* 




''Ad i-V.b:'/ 




Digitized by (jO gle 






il ls v\:i ^vmmftfr.iM> In- 


timed ^.‘dy .UhJIV -r~ srhiHMii: r }ic^n dm. Herd seller! J»l>. 

liocisT^v 1.-4#- »*:* in ife'r i,m*r/dci» .1 w>\m* f.»*--;t»f -vikd.K-u al*» links. Link* ist dor 

;uM# I k ''HdJlUd >*\M iuili?iur. mir rftit- 
fUi^P :-.* Uif.uh-u K ljtd<*l i X<i} • }-v i ‘ Ynj ?ltiiI*k.~vUMh • Vdfjtrttodei* I - * Vo!| . k.T 




mr klvitiX* Kfmytywk fp*L^>fjpKU \\7nditit^i‘ 
kupfm de I Vr JXrd pJd U(\i<* eHtdbbrb unde- in die Tiefe and ddrkt *U* 
\>ntrik< kitM’b hi- .v»n* Hulnv. Du- ^vconuie dorsalo Stt»hki-«uiz>.duc*ftg.iih#>t- 
do h r T>* return foil If mtnii'i di-v^en U«\k- nook \ v>l i 144. 

tb*« hfH U\ vv>in SrbiiuV-niMppeti vi»u dc-Y IX Seid.drrnviodun X <!•«• 
vje? dritieh TeU giliy ilyr znr f. ScliUit^mviiftiiiurit* 'skill st»iifcend$ 

Tod 1 > ‘1 ilt. 

In ibnXr.ttfrX«k’i) ^ehutHYXendn Mbi-t pjjSg Puivimr X die Solmdt- 
tfevn?, }\»i\ jovar UnU* p w, & irmi )‘r idler. Die YetUrikidw^nd Xidgt sicli im 
^jyrifeS? dftiibfcii: ^^Waser^eliic'lit zn 

'lloehrY, XutM^lnindv*] neitheX w^t^r iti die Jffrlih 

m»d tst nut- fftiiiiU tip* 8trut. si*£r. intent. yi&ni dnntite& 
9 pinvaidbKdl ^irvtnv. A>t H»-?.d uiufajtffc nvkfs mndi die t SiXon-Me 
•‘O*uitin^ uanz. 

Xinlcs der inttsorjUfcf it,sicii amais«>t,2*\n. 

Srhi*.ft .'* >(';», j. *W*hvv. vv;rk)i ih^ri .sk-.h :der Herd schnell. 'Link-. n>UJi 
a* *v■ /1 dec L TWd|>orair> vbensp die S:uj>r;wiartiimd\vuidling zu r.iueru 

• £rod?mj Ts?tL Per Htxrd liakf in eke TietX bis m dem LLosoiikerii. 

J>/r S-Xhuk-i i<\ inuikt, DeV Hord erxii'^'kf^- sikh horn t ier if& Murk 'dies 
Selieifellnnjirhv uml i-r v : *n deni dorsalen StiU'k riea .'•viteie.i.i? < faudatus 
nur <lnr«-b Hiif ’yXftMle leaserpl««U: .Die l»iKal<> 

Parfm ?iah* Unlkem isi .m«.»*li -demlioU aetei beUi., Day beid^sv Seiten- 
^fitrikei 'A.»nd ■ ^v/^it'erT-* fbnbiriib ; tet ■ die iialkedi^aain^ iti iXc Breito 
py/Awm. W^ifewl wn b^tiragt, 

hei riigi n»«.-bt 1 *’tii uud lunritik hier few' ■»ti^<djjjk©ich. noch 

ci*W ilebiet ipfr' i . Tfyinpnraii^ nnd div^ iiu anliegyndn \Vdiuiin^kirppe Tind 
d>r 11. Teiopdriih^.^ ■'■£$ xtaht- iind tst. iiut gdarbi: di^ t^ergad^- 
\yindnbi> der iVbiruintd- z^r Drir:’lV»n>v 1^ dnreh diebiatere 

!v.a:i»nj.‘>ur >if\d die j^ihtietiridkmizimg ^eirijrlteu.- kinks, uodet.aieh jateral 
i'iVf* .eif‘r antstei^endeen;- S<;:bleil> erne lie lie Z^uy in de'rr* Bfor'f..i*Xi rter er^Ten 
liv titnteeni, ifae ^b ^uf *mer it uww. li\& in die 






^iaai 




Str* 

v ^a^3WP55W 







dl frejn ; -. • 

OF MICH 



Go gle 






»md lift|'p- v r<h>/ffi»‘ »}.K Irsadir Ht 

. 

iViH-jv/Mf^f‘rn hutciii \v'ri>t|forj Uiot. T'W^iii ,:i, 

fhf !,Ui*r»!i\f, iim 15 iru-i'' , lti.'nk**j • i Jusiim - 1 ‘hd . \v>r» oiyrn 




jfluV’uUit.. jpfvcrvhiu > i «‘hrm‘ h< <<ifisi«ii- \ itm hnjtlMri .uu* aufcjdndiu v(>onso 
«iiy /-'* iltlit ./johMndt* HimHhjtljj li'K. vItmu ^rlil^UrnlapjiOiu 


iSrjilaiM H fSfaj, 


SrhiuV ' f» Zit .itln (if- vyii.ntfi IMdIkrde^ uml 

MnittdU*r Keiimtt sdu>n ftwas m.«hr vojn lanKeiiket n. I>r IhiJcs- 
Vl* i£*> Jhk'fM )lM ■*,}?)% -f'iinv}i \ <Tsrh:uulrri. Hud vVfnMud di<*f*rsjtp ^hitifan- 





Go gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 






r £ i i t * fge; 


: -wmilii>i-.< "isi-’n dVi} der z\v«4te»i< drim" \ft■$& inseh-ni<k herein. fn i^r 
• v ftt£e/ istv'dcr gim*:e Mark^tji*] <J.e* • geliektvt. Eirlwdten is 1 

iliii uid^ro ab#reelitA \Mei&tArkt*t* 

Kasm^nia^n sn-h huvraf an Corpus ge/benlavuru fco&emnTi ArdHger 1; 

Fir) AiilAil He* &ukeii RintKdienk*}* fin'**’ <0p 

Kiel i anf *p»tdr*H Bt bnit'Hi rekt j*\ dbu StdiUttf*ri lappebst iel fortes 2-t- 

:lt>'f'hl$ xei^tVieh dry dr Vv—,' Svlvii zugekebrte Ant'll Her i. Seh'tajeii- 
W»r}«|.ru}i- a»r- /wVi Wiudm^-h b*’Dw diner* AfHPlL die 
Windiiug; \y\ im .Aiiifn .;m erb&lten, da* Murk Her Hbereti 'Win- 

duiigskuppe <mdd»-T UiixUt^u KAppe zH’stor^ D;ts £nr iimereti Kapsul 
< iustruh}cndn AJark de- nhu* Yijappeiis jst, <$tark an.fi:<A»>.•!»*,- umerer Toil 
d<s Balkerlu--. u*>eh gAiHtiev. 


SritniM 7 (it¥) 


Winriunpskuppi; der; f. HfthlMim wimiting e.in kleiuerflWjfekk i>i*v In>-H ir& 
beidersfifs intake. 

Der Balked ^igP.tn Afrinenv baaiilen. dwii WntrfkVl.- .r,n^<dtcd]irU*tj Teit 
iif dev MiMe nock erne h •■ichte U?*btung,. • 

HoehfA finder sirrh in rfieser 8 chnittebene eiu 9 « 2 bftf{ ma^eJfu'iebeaer* 
etwa >rb 8 en*fro£&% fceirh tiedytmim mit eijier derheh B$adeg^\^eWehfcHt 
iuiiHehei<W.v'>V.ctem dii^^it'header Herd ifetroffen fender .mfeUalsie 

lAtk^ikeniz nteit, Hie • •' -eiitec WieBMHh dire* ffaubeiiFedrvs, 

• I'.'tar SHilmgei isr in >einein iauemi ; uml &u#eri&Ti • Kor H von »:iem Hettfe 
mtfhetrnflWi. 

Dfe Ausdelimoig des .f4<difiikgellierdw gel it l Sene 9f» Vt* 12$}'* von Her 
Sc limi t hdhe* wetelie dm hmtere- En.de der C'orponi mapAfiam trifjft, bis 
zitr Se built hdhc, die dareh die vordersfen Schm n ebenen dc* Smeteuk 
aateriur tlrdami geht.Hkr [Schmitt 8( 1AA] ist noeh eiine.kiefnevo AuthaUun^ 
m der (torn .m«r<iitiJeu Oinhua pallidas 1>er 

Seh3&felaj[>f>eh_ ist reciils intakt, links noch in iier.- .iCuppe/«ier':I. 


'wmdung. mn kletnev Herd. Im Miirklager-der rechien 
erne Ers’ieji‘hung'?.ojic nuf. 





Sfchi&fen- unU IVrfyifcH 1 Li.pper\l‘*rd<? ai& OivHnhft <a 33 

Schmitts die dureh das rhia*m.i ^vu. wvyu <n dk^-m *.;im* ms* 
’^nrotitV^ vs n\*/s>nv. w eict*e- die imthtet*. hmiyle T^tHv*mmur>Tm 

Ottijko^ 1 Au&e I^r in) ■ .}fark\rd*T: V. i 

frx&ch^rfc d^rwefcbiuig.shfeff'd/ wefchEi Vine iVeiuK^w^rl^ &£&k1[ k»ii d«r Tim* 
gnbung^bgt, &>ht bi,<- in deiv 1V,1 ;st irtihirus uoch v<»ni. Vom Herd 
'ergrHfeti die • ’*Ovrus torninattrs nber- tmd 


Sditiitit & (JL2<}1 


imterhalb d<\s Balkans und dii? irijiere l^rtie dcs Gyro* -rectus. Dor 
mBSfsre^ Riixdensaiun isi, ttrha.lten. Ervreicht tst tmr das Marklager it\ Fwm 
z^Jhlre3*;luT Jdeiner Hbrde vail da&v r ii»r,b^nlte^ tociet*erhalfceoeu MiFurk^toided)-.' 
p& x%tet)L ( Sekuiaci&re tV in 4e?n Balked hemtoiefoem «m3 

nfebi da. Aid (?rngehmtg <i*a Herds* aim* Vs 

gir>n?ft d*’ CUHqriivherxw^. perG&hrivorga.dk -StimhirnherUeM? 

■iftt erst un Bt^um, 

Epikrise. 

Was zynaebst die Beziehtmgm tltr -anatowii^hen ^funcU*. zn 
dem kliniscbesi Bilde artkingt, ho k#ftp dear Herd kn rechten Stiin- 
him fur die plotzUeh emgefretehen ttud sttatlomir gdmebenen 
apbaaischeti und agstosiisdwu Stftnmgen auBcr Betraeht- bSeiben. 
Der Herd isi jimgeri«n ; 'Dsttu»>iv JEe iei nmdi &wn»* pi Harbenbildung 
nnd mir in g&ritigenri Xbnfang zuv des: Myeliiifi ge- 

kotamen, Ei> i&fckein Zweifel. d&li dbr iSKffifdikMtCTd- <% TjTr.saebe 
dines der^abivnrtder lieobaeltfurig atifgetE^^iv, miteidfepiischea 
Kr&mpfeu einhergehendeu Insult* 1 getyeseji is}-. Er tnvt em, ais 
sclion da# ynUent.wie kelte 1< linistke Bi34 ijyr sebk’irik: heir : Aphasde 
uud AgO->sio vorlag Auch der kks&^Bwswe Sehliugel 

kanrt uftch kiimsdien Erkkrimgen t'ikr kite iuw zo besprechende 
vSifjrtmg ninht in Behnwht kominen. -.. ;, ;’ / .1' 

■;.ffi*' Stbriingen kowimen 

»Uem die syjumetrfeebvrv Herdt? bn Park-tad- ubd Schlait-uhirn in 
Botrae'irtik'-- / >• A -. ."•.' '• 

Mooatseobrlft t Psychjatrie vs. Konro<t)ffis. iid. XXX VI r, Beft l. 3 


Go gle 








34 


B o n h o e f f e r , Doppelseitige symmetrische 


Zunachst das akustische und Sprachgebiet. Die Worttaubheit 
war von Anfang an bis zum Lebensende, also wahrend 18 Monaten, 
vollstandig. Niemals konnte festgestellt werden, daB der Kranke 
ein Wort sicher verstanden hat, ein Befund, der bekanntlich bei 
einer langer bestehenden sensorischen Aphasie ungewohnlich ist. 
Es hat uns, wie schon bemerkt, dieser Umstand, wenn auch nicht 
allein, die Veranlassung gegeben, einen doppelseitigen Ausfall der 
ersten Schlafenwirkung im Bereich der W emickesoYien Stelle anzu- 
nehmen, entsprechend der alten Auffassung, daB die gewohnlich 
eintretende, weitgehende Restitution der Worttaubheit bei Ver- 
nichtung der Wernicke schen Stelle auf einem Eintreten des rechten 
Schlafelappens beruhe. Der anatomische Befund hat uns recht 
gegeben. Er beweist aber auch, daB eine Vorstellung von der 
Mitwirkung der rechten Hemisphere, wie sie Niefil-Mayendorf 
hat, nicht aufrecht zu halten ist. Dieser sagt, daB die regelmaBige 
Mitwirkung der rechten Wortklangsphare beim Sprachakt durch die 
Paraphasie bewiesen werde, denn diese erlosche, wenn beide Wort- 
klangspharen untergegangen seien. Bei unserem Kranken bestand 
dauemd eine sehr starke Paraphasie trotz fast volliger Vemichtung 
auch der rechten Wort-klangsphare. v . Niefil konnte ihr Erhalten- 
bleiben anatomisch mit dem Rest der erhalten gebliebenen Heschl- 
schen Windung rechterseits in Verbindung bringen. Demgegen- 
iiber ist aber zu sagen, daB dieser Rest doch anderseits nicht aus- 
gereicht hat, Wortverstandnisreste zu erhalten, und daB bei der 
starken Schadigung der rechten Wortklangsphare dann zu minde- 
stens nichts geradezu ein Plus an Paraphasie, wie es die ausge- 
sprochene Logorrhoe mit sich brachte, in Erscheinung treten durfte. 

Wichtig im Hinblick auf die Doppelseitigkeit der Herde im 
hinteren Abschnitt der ersten Temporalis war das Verhalten des 
Gehors, und es muB als eine besonders giinstige Konstellation 
betrachtet werden, daB die Priifung mit der kontinuierlichen Ton- 
reihe zu einem Ergebnis fiihrte. Die mit alien Kautelen vorge- 
nommene Untersuchung lieB keinen Zweifel dariiber, daB der Ton 
der'Stimmgabel den Kranken zu charakteristischen Ausdrucks- 
bewegungen, die sowohl die Tatsache der Perzeption als die 
Richtung im Raume zu erkennen gaben, veranlaBte. Es scheint 
mir nicht zu weit gegangen, aus der GesetzmaBigkeit der Reaktion 
den SchluB zu ziehen, daB die Perzeption der Tonskala erhalten 
war. Diese Feststellung ist wichtig, weil es meines Wissens der 
erste Fall doppelseitiger Schlafenlappenherde ist, bei dem diese 
Untersuchung durchgefiihrt werden konnte, und sie ist wichtig 
im Hinblick auf die von Wernicke vertretene Annahme, daB die 
Worttaubheit auf einemVerluste der Perception der Sprachsexte be¬ 
ruhe. Da der Kranke unfahig war, nachzusingen, oder sich im 
speziellen dariiber auszudriieken, wie er dieTone wahmahm, sondem 
nur feststellbar war, daB die gepriiften Tone der Tonreihe die Auf- 
merksamkeit des Patienten fesselten und ihn veranlaBten, mit 
dem Zeigefinger nach dem betroffenen Ohr zu deuten, so kann 
natiirlich nicht gesagt werden, ob er die Tone nach Hohe und 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Schlafen- und Parietallappenherde als Ursache etc. 35 

Dauer wie ein Gesunder wahrnahm. Das Vorhandensein der 
Reaktion auch innerhalb des Bereiches der Sprachsexte spricht 
jedenfalls mit groBer Wahrscheinlichkeit dafiir, daB die Wort- 
taubheit nicht in der einfachen Weise einer akustischen Ausfalls- 
erscheinung der Skala von (b') bis g" zu erklaren ist, sondem daB 
es sich um einen Verlust iibergeordneter Assoziationskomplexe 
handelt. Die Horfahigkeit war beiderseits vorhanden,. aber sie 
war rechts weniger gut als links. Ich hatte zunachst bei makro- 
skopischer Betrachtung angenommen, daB unser Fall gegen die 
Flechsigsche Auffassung einer ganz umschriebenen Localisation 
des Gehors in der HesctUschen Windung sprache, da diese zu fehlen 
schien. Das ist nicht der Fall. Denn die Verfolgung an Schnitt- 
serien hat ergeben, daB rechts ein kleines, in der Tiefe liegendes, 
gute Fasem enthaltendes Stuck der Heschlschen Windung erhalten 
geblieben war, und daB rechts die Strahlung vom Mark des 
Temporallappens nach dem inneren Kniehocker besser erhalten 
war als links. 

Man wiirde bei unserem Befunde unter Zugrundelegung der 
Richtigkeit der Flechsigschen Lehre von der Endigung der Hor- 
bahn in der HescMschen Windung sagen miissen, daB ein ganz 
kleiner Rest erhaltener Heschl scher Windung in der rechten 
Hemisphare geniigt, die Tonskala beiderseits, und zwar links besser 
als rechts zu erhalten. DaB links und rechts gehort wurde trotz 
Fehlens der linken Heschlschen Windung, wiirde in der nicht 
totalen Kreuzung der Horbahn eine ausreichende Erklarung finden. 

Anderseits wiirde aber auch gesagt werden miissen, daB ein 
solcher Rest Heschlseher Windung in der rechten Hemisphare 
nicht geniigt, eine Worttaubheit zur Restitution oder auch nur 
zur Besserung zu bringen. Es liegt darin ein Bedenken, die Lokali¬ 
sation der Worttaubheit ausschlieBlich an die Heschlsche Windung 
gebunden zu erachten. 

Vor der Aufteilung des Hirns in Schnittserien glaubte ich in 
der vorliegenden Beobachtung auch eine Bestatigung einer von 
mir gelegentlich ausgesprochenen Auffassung zu haben, daBnamlich 
das anscheinend regelmassige Erhaltenbleiben gewisser Reste von 
Funktionsleistung nach Zerstorung der imHimmantel gelegenerPro- 
jektionszentren auf eine Mit wirkung der phylogenetisch alteren sub- 
kortikalen Hirnteile zu beziehen sei. Dafiir schien mir zu sprechen 
das Erhaltenbleiben von zentralen Sehresten nach ausgedehnten 
doppelseitigen Durchbrechungen der Sehstrahlung im Occipital- 
und Parietalhim, das Bestehenbleiben des Pyramidenbahnpradi- 
lektionstypus auch nach doppelseitiger Durchbrechung der 
Pyramidenbahn in der inneren Kapsel. v. Niefil-Mayendorf hat 
mir in der Kritik meiner diesbeziiglichen Bemerkungen 1 ) die 
Behauptung zugeschoben, ich hatte von Fallen gesprochen, in 
denen eine vollstandige Zerstorung der Extremitatenzonen beider 
Hemisph&ren vorgelegen hatte. Von solchen Fallen habe ich 
nirgends gesprochen. Was ich gesehen habe, ist aber das, daB 

l ) Jahre3bericht d. schles. Ges. fur vaterl. Kultur. 1910. p. 32. 

3* 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



36 Bonhoef f er , Doppelseitige symmetrische 

bei doppelseitiger Durchbrechung der Pyramidenbahn in der 
inneren Kapsel und der dadurch herbeigefiihrten Paraplegic die 
Plantarflexion des FuBes und die Kniestreckung gut und kraftig 
geblieben ist, was bei der Annahme einer doppelseitigen Inner¬ 
vation der bei der Hemiplegie normalerweise erhaltenen Muskel- 
gruppen nicht der Fall sein diirfte. Solche Falle konnen an die 
Mitwirkung der phylogenetisch alteren Hirnteile, auch bei der 
Willkiirinnervation und bei der bewuBten Empfindung denken 
lassen. Der vorliegende Fall beweist, wie gesagt, nachdem sich die 
Heschl sche Windung zum Teil intakt erwiesen hat, nichts. Ich 
bin mir auch klar dariiber, daB die Auffassung gelaufigen Auf- 
fassungen iiber die Bindung aller willkiirlichen Vorgange an die 
Hirnrinde widerspricht und keineswegs sicher zu begriinden ist. 
Es hat aber meines Erachtens doch auch von vornherein eine ge- 
wisse innere Wahrscheinlichkeit, daB den subkortikalen Teilen 
von ihren urspriinglichen, spater von der Rinde iibernommenen 
Funktionen nicht alles verloren gegangen ist, und daB nach Aus- 
schaltung der Rinde manches wieder mit einer gewissen Selb- 
standigkeit hervortreten kann, mag man sich den Impuls nun von 
anderen Rindenstellen ausgehend denken oder scnst woher. 

Agnostische und apraktische Storungen. Bei der infolge der 
hochgradigen Paraphasie und dem Fehlen der Conkreta auBerst 
gestorten Fahigkeit des Kranken, sich sprachlich auszudriicken, 
sind die SchluBfolgerungen auf vorhandenes Verstandnis oft aus- 
schlieBlich aus den anderen Expressivbewegungen des Kranken 
zu ziehen, und es fehlen deshalb insbesondere alle Angaben iiber 
die nuancierteren Vorgange in dem Kranken bei dem Er- 
kennungsakte. 

Es ist bei vielen Reaktionen unseres Kranken nicht leicht, zu 
sagen, ob eine agnostische oder apraktische Storung zugrunde liegt. 
Die Tatsacbe, daB Gegenstandsgerausche, taktil oder optisch ihm 
entgegengebrachte Eindriicke fiir sich allein vielfach keinerlei 
Interesse erweckten, konnte ebenso daran denken lassen, dass eine 
TJnmoglichkeit, die zugeordneten Handlungsfolgen eintreten zu 
lassen — also eine apraktische Storung — vorlag, als daran, daB 
der einsinnig entgegengebrachte gegenstandliche Reiz nicht zum 
Akt des Wiedererkennens ausreichte. Vielfach wiederholte Unter- 
suchungen haben mir aber doch keinen Zweifel dariiber gelassen, 
daB eine agnostische Storung vorlag. DaB die schwere Erweckbar- 
keit des Interesses fiir einen Gegenstand nicht an dem Ausfall der 
psychomotorischen, sondem an der Unzulanglichkeit der gnosti- 
schen Akte gelegen war, ergab sich, wie ich glaube, mit Sicherheit 
aus der Tatsache, daB der Akt des Erkennens, wenn er erfolgte, 
sich in der Gebarde der freudigen Ueberraschung zu erkennen 
gab (in der Mimik und in der sonstigen Art der Reaktionen 
war meist keine apraktische Komponente festzustellen) weiter- 
hin daraus, daB das Hinzutreten der sensorischen Erregungen 
von einem zweiten Sinnesterritorium aus vielfach offenbar 
den Erkennungsakt erleichterte. Das optische Gegenstandsbild 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Schlafen- und Parietallappenherde als Ursache etc. 


37 


allein und noch weniger das taktile allein geniigten nicht, eine 
adaquate Reaktion hervorzurufen, sondem lieBen den Rranken 
meist gleichgiiltig. Dagegen lieB die Summation optischer und 
taktiler Reize den Kranken oft zur Identifikation des Gegenstandes 
gelangen, und auch wenn er nicht dazu gelangte, zeigte sich in der 
Art, wie er den Gegenstand zur Seite legte, nichts eigentlich 
Apraktisches. 

Die agnostische Stoning betraf das optische, akustische und 
taktile Gebiet ziemlich gleichmaBig, die letzten beiden vielleicht 
etwas mehr. Die bei geschlossenen Augen ihm in die Hand ge- 
legten Gegenstande losten iiberhaupt keine Reaktion aus, abgesehen 
von der, sich das Auge nach MogUchkeit freizumachen. Dasselbe 
war bei Erzeugung von Gegenstandsgerauschen der Fall. Aber auch 
der lediglich das Auge treffende Reiz geniigte nur ganz ausnahms- 
weise. Es ist nur einmal beobachtet worden, daB er spontan nach 
einer auf dem Tisch liegenden Semmel gegriffen hat, sonst ignorierte 
er das Essen, das vor ihm hingestellt wurde, dagegen aB er, wenn 
es ihm bei offenen Augen in die Hand gegeben wurde. 

An der Tatsache, daB ein Zusammenwirken mehrsinniger Reize 
den gnostischen Prozefi, der von einzelnen Sinnesterritorien aus 
kaum erweckbar war, begiinstigte , kann nicht gezweifelt werden 
und sie findet wohl ihre Erklarung darin, daB die fur die Einzel- 
sinnidentifikation in Betracht kommenden akustischen, taktilen 
und optischen Himterritorien in ihrer ganzen Erweckbarkeit zu 
stark herabgesetzt waren, daB aber auf dem Wege der Assoziation 
eine Verstarkung der im einzelnen zu schwachen Erkennungs- 
merkmale moglich wurde, die in einzelnen Fallen noch zur Identi¬ 
fikation und jedenfalls zu einer Anregung des Identifikations- 
prozesses fiihrte. 

Neben der agnostischen Storung bestand sicher auch eine 
ideotorisch-apraktische. Vielfach kam beim Manipulieren mit Gegen- 
standen, die der Kranke erkannt hatte, der Handlungsvorgang nicht 
zum AbschluB. Er bringt eine Schachtel, die er richtig geoffnet, 
nicht mehr zusammen, Gewichte, die er aus einem Satze richtig 
herausgenommen, nicht mehr wieder in ihn hinein. Die Folge 
des Zigarrenabschneidens, Mundsteckens und Anziindens kommt 
nicht zu Ende. Er vergiBt die Striimpfe und zieht die Schuhe iiber 
den nackten FuB usw. In manchen Fallen ist es zweifelhaft, ob 
einer Fehlhandlung eine agnostische oder apraktische Storung 
zugrunde liegt, so, wenn er das Stethoskop ans Auge fiihrt und 
durchsieht, oder wenn er die Haarbiirste wie eine Handbxirste ins 
Wasser steckt. 

Bemerkenswert ist, daB motorisch apraktische Handlungen 
keine wesentliche Rolle spielten, er manipulierte mit beiden Handen 
gleich, sogenannte amorphe Bewegungen kamen niemals vor. Er 
schraubt Stiel und Platte des Stethoskopes gut zusammen, dreht 
den Wasserhahn richtig auf, wascht sich die H&nde, er iBt und 
trinkt richtig, wenn ihm die Dinge in die Hand gegeben werden. 
Zufassen, HandschluB, Weglegen Handoffnung gelingt ihm meist 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



38 


Bonhoef f er , Doppelseitige symmetrLsche etc. 


richtig. Sprachliche Auf tr age zu Handlungen befolgt er nicht, 
eine Priifung der Ausdrucksbewegungen und Objekthandlungen 
aus dem Gedachtnis lieB sich deshalb nicht ausfiihren. Auch zum 
Nachahmen von Bewegungen ist er meist nicht zu bewegen (weil 
das Verstandnis fur Gesten fehlt ?). Nur ganz gelegentlich kommt 
es vor, daB er die Zunge herausstreckt, wenn man ihm die Be- 
wegung vormacht oder daB er lacht, wenn man ihn anlacht. 
Die Schrift ist nicht apraktisch. Wenn er, was selten gelingt, 
zum Schreibakt zu bringen ist, so schreibt er vollig paragraphisch 
mit stark persevatorischem Charakter, aber er schreibt Buchstaben. 

Die geringe Ausbildung der motorisch apraktischen Storung ist 
bemerkenswert im Hinblick auf die Lokalisation der Herde. DaB 
die einfachen sensomotorischen Akte intakt waren, ist bei dem 
Freibleiben der vorderen und hinteren Zentralwindungen im Ein- 
klang mit den Liepmannschen Aufstellungen. Das Vorhandensein 
der tief ins Mark bis zum Ventrikel einschneidenden Herde im 
Parietalhirn konnte aber bei der weitgehenden Lostrennung der 
motorischen Region von den hinteren Himpartien nach sonstigen 
Erfahrungen ausgesprochene apraktische Erscheinungen erwarten 
lassen. Vielleicht versteht sich ihr Ausbleiben beziehungsweise 
ihre geringe Ausbildung aber daraus, daB beiderseits von der 
Marginalwindung der vordere Teil erhalten geblieben war. DaB 
Herde in der Angularwindung nicht von motorischer Apraxie be- 
gleitet zu sein brauchen, darauf habe ich an anderer Stelle 
friiher hingewiesen. 

In anatomischer Hinsicht sei in diesem Zusammenhang nur 
auf zwei Punkte kurz hingewiesen, zunachst auf den Verlauf der 
Sehbahn. Die Schnittserie zeigte die Calkarinagegend iiberall 
intakt, dagegen sehen wir eine Durchbrechimg des Marklagers 
des Parietalhirns bis auf die Tapetumschicht des Ventrikels. Das 
sagittale Mark und das untere Langsbiindel war beiderseits zer- 
stort, mit Ausnahme des basalen Teiles und eines Restes der 
unteren Partien des lateralen Teiles. 

Dieser laterale Rest reichte rechts ein wenig mehr als links 
in die Hohe. Da rechts eine deutliche, wenn auch vielleicht nicht 
komplette Hemianopsie vorlag, wahrend links das Gesichtsfeld da 
war, so bleibt keine andere Annahme, als daB das geringfiigige Plus, 
was rechts an Sehstrahlung und Stratum sagittale internum vor- 
handen war, Trager des erhaltenen Gesichtsfeldes war. Es wiirden 
also innerhalb der Sehstrahlung vor allem die etwas unter der Mitte 
und die daranstoBenden ventralen Teile des Fasciculus longitudinalis 
inferior und des Stratum sagittale internum sein, welche der 
Leitung der Sehfunktion dienen. Das wiirde ungefahr mit der 
v. Morakow&chen Auffassung ubereinstimmen, der in den vorderen 
Occipitalpartien die mittleren und teilweise auch die ventralen 
Etagen des Stratum sagittale internum hierfiir in Anspruch nimmt. 

Fur die Topographie im Splenium des Balkens ergibt sich 
aus der hier sich findenden Degenerationszone, daB es auf dem 
Frontalschnitt die mittlere Abteilung ist, welche die aus dem 
Scheitellappchen und der 1. und 2. Schlafenwindung kommenden 
Balkenfasern enthalt. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit etc. 


39 


Digitized by 


Pathologische Ueberwertigkeit und Wahnbildung 1 ). 

Von 

KARL BIRNBAUM 

in Berlin-Buch. 


Inbaltsiibersicht. 

Allgemeines. 

Begriffsbestimmung. 

Psvchopathologie der Ueberwertigkeit. 

Wertungsuberwertigkeit und Wahnbildung. 

Logische Ueberwertigkeit und Wahnbildung. 

Associative Ueberwertigkeit und Wahnbildung. 

Das klinische Bild der Ueberwertigkeitswahnpsychosen. 

Ueberwertige Idee und Wahnidee. 

Bedingungen der Ueberwertigkeitswahnbildung. 

Die klinische Stellung der Ueberwertigkeitswahnpsychosen. 

Allgemeines. 

Die iiberwertigen Vorstellungen sind eigentlich von jeher seit 
ihrer Aufstellung und Heraushebung durch Wernicke 2 ) in engsten 
Zusammenhang und innerste Beziehung zur Wahnbildung gebracht 
worden. Wernicke selbst nennt in seinem ersten Aufsatz die iiber- 
wertigen Ideen glattweg fixe Ideen, identifiziert sie also mit den 
umschriebenen stabilen wahnhaften Einzelgebilden der alten Nomen- 
klatur. Er hebt des weiteren die aus ihnen unmittelbar und folge- 
richtig hervorgehenden ,,logischen Eelirien“, also richtige Wdhn- 
prozesse, heraus und stellt schlieBlich sogar eine besondere auf 
ihrem Boden sich erhebende Wahnpsychose auf, die zirkumskripte 
Autopsychose auf Grund einer iiberwertigen Idee. 

Andere Autoren ( Pfeiffer usw.), die diese Schopfung Wernickes 
aufnahmen und weiter verarbeiteten, sind im wesentlichen in den 
gleichen Bahnen gewandelt, und auch durch ihre Arbeiten zieht 
sich gewohnlich als Leitmotiv diese Anschauung von der engsten 
Verbindung zwischen iiberwertiger Idee und Wahnbildung. Aber 
selbst in den Fallen, wo das Moment des iiberwertigen Komplexes 
nicht so ausdriicklich in den Vordergrund gestellt wird, wie etwa 
bei Friedmanns ,,milden“ Wahnformen 3 ), lftBt die Darstellung 
diesen Zusammenhang nicht vermissen 4 ). 

*) Aus der Irrenanstalt Buoh der Stadt Berlin. (Direktor: Geheimrat 
Richter.) 

*) Wernicke, Ueber fixe Ideen. Dtsch. med. Woch. 1892, und Grand - 
rifi der Fsychiatrie. Leipzig. 

') Friedmann, Beitrage zur Lehre von der Paranonia. Monatsschr. 
f. Neurol, u. Psych. Bd. 17. 

*) Lomer identifiziert sogar, allerdings ohne weitere Belege und Be- 
griindung, iiberwertige Idee und Paranoia in einem kleinen Aufsatz („Liebe 
und Paranoia", Neurol. 25bl., 1904), der auch sonst einige Beziehungen zu 
unserem Thema aufweist. Unter Paranoia versteht er dabei „das Ueber- 
machtigwerden bzw. -sein gewisser Vorstellungskomplexe, deren Ueber- 
gewicht am Ende so groJ3 wird, da£ sie sich die Krafte des logischen Denkens 
dienstbar macht und dadurch in ihrer Wertigkeit herabdriickt". 


Go i igle 


Original frn-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



40 


B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit 


Der enge innere Zusammenhang zwischen iiberwertiger Idee 
und Wahnbildung ist nach alien diesen Arbeiten unbestritten. 
Worm er begriindet liegt, und wie er im einzelnen zu erklaren ist, 
ist sowohl von Wernicke selbst wie seinen Nachfolgem an der 
Hand von Einzelfallen wiederholt dargelegt worden. Immerhin 
ist doch bis jetzt eine allgemeine Erorterung aller Beziehungen 
zwischen diesen beiden Erscheinungen noch nicht gegeben worden. 
Und doch ist gerade sie sowohl fiir die Frage der Wahngenese wie 
der Wahnpsychosen iiberhaupt von besonderem Wert. Einmal 
ist das Problem der Wahnentstehung sonst gewohnlich von einer 
anderen Seite her, von anderen Gesichtspunkten und Voraus- 
setzungen aus in Angriff genommen worden — man denke an die 
vielen Beitrage zur Paranoiafrage —, daher verspricht eine anders 
eingestellte systematische Bearbeitung ebenso in allgemein-patho- 
logischer wie klinischer Hinsicht an sich schon einigen Nutzen. 
Sodann aber — und das ist noch wesentlicher — sind hier die 
Bedingungen fiir die Inangriffnahme des Wahnproblems selten 
giinstige. Sonst mufite man zumeist von irgendwelchen allgemeinen 
und unbestimmten, oft mehr vermuteten als erwiesenen, mehr er- 
schlossenen als direkt wahrgenommenen psychischen Gebilden aus- 
gehen, von eigenartigen Mischaffekten, verandertem Allgemein- 
gefiihl, abnormer Selbstempfindung u. dgl., und kam daher nur zu 
leicht zu einer Auffassung, die mehr oder weniger in der Luft 
schwebte. Hier dagegen hat man von vomherein sicheren Boden. 
Hier ist ein fester Ausgangs- und Mittelpunkt gegeben, ein kon- 
kretes, klar wahmehmbares und faBbares, deutlich abgegrenztes 
psychisches Gebilde, eben der iiberwertige Vorstellungskomplex, 
dessen Einzelbestandteile, Vorstellungsinhalt wie GefiihLsfarbung, 
sich ebenso einwandfrei erkennen, wie seine inneren Beziehungen, 
Folgen und Wirkungen sich klar iibersehen lassen. 

Aber auch abgesehen von der Frage der Wahnbildung darf 
eine Erorterung der Ueberwertigkeitserscheinungen als angebracht 
gelten. Die pathologische Ueberwertigkeit ist an sich eine so 
charakteristische Erscheinung mit so wichtigen Sekundarsym- 
ptomen, ist ein so bedeutungsvolles psychisches Element von stark 
symptomenbildender Kraft, daO sie in jedem Falle eine groJJere 
Beriicksichtigung verdient, als fiir sie bisher in Arbeiten allgemein 
pathologischen Charakters abgefallen ist und ihre emeute Er- 
orterung keiner weiteren Begriindung bedarf. 

Eine Darstellung der Beziehungen zwischen Ueberwertigkeit 
und Wahnbildung muB natiirlich viel Bekanntes und Selbst- 
verstandliches heranziehen, denn im Grunde spielen dabei ahnliche 
Faktoren mit, wie sie ganz allgemein den Wahnbildungen zugrunde 
liegen. Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Nicht sowohl 
die Auffindung neuer Elemente als die Heraushebung der bekannten 
unter eigenartigen Bedingungen ist hier das Wesentliche. Erst 
dadurch kommt das Charakteristische der Erscheinungen zur 
richtigen Geltung. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


41 


Begrilfsbestimmung. 

Vor allem anderen gilt es nun, erst ncch einmal festzulegen, 
was unter pathologischer Ueberwertigkeit verstanden werden soil. 
Der Begriff der Ueberwertigkeit ist an sich ein so unsicherer und 
dehnbarer, daJJ ohne exakte Definition mit ihm alles und nichts 
anzufangen ist. DaJJ man bei dieser Begriffsbestimmung von 
Wernickes Fassung und tarstellung auszugehen hat, ist selbst- 
verstandlich. Bei ihr stehen zu bleiben ist freilich nicht ganz leicht. 
Denn iiberraschenderweise lassen gerade die diesem Problem ge- 
widmeten Arbeiten Wernickes in mehr als einer Beziehung die 
Klarheit, Bestimmtheit und Eindeutigkeit vermissen, wie sie doch 
gerade zur Begriindung und Festigung eines neuartigen und 
prinzipiellen Standpunkts erforderlich sind. Das gilt nicht nur 
fiir die herangezogenen Falle, auf deren Wesensverschiedenheiten 
seinerzeit schon Hitzig hingewiesen hat, sondem in gleichem Mafle 
auch fiir die Begriffsbestimmung selbst, und man kann daher 
Koppen 1 ) nicht so ganz Unrecht geben, wenn er dem Autor die zu 
weite und unbestimmte Fassung seiner iiberwertigen Idee zum 
Vorwurf macht, ,,die bald als ein allgemeiner Begriff erscheint, der 
die Wahnidee, fixe Idee und Zwangsidee umfaJJt, bald als gleich- 
bedeutend mit dem Begriff der fixen Idee nach Emminghaus (der 
fixe Idee eine sich nicht weiter entwickelnde, vereinzelt blei- 
bende Wahnidee nennt), bald endlich in einem ganz bestimmten 
Sinne verwandt fiir eine pathologische Ideenbildung, die sich von 
alien bisher bekannten Abarten pathologischer Ideen unter- 
scheidet.“ 

Wernickes Definition der iiberwertigen Idee, soweit er sie 
uberhaupt in bestimmte Fassung gebracht hat, geht zunachst 
einfach dahin: ,,Ueberwertige Ideen sind Erinnerungen an irgend- 
ein bescnders affektvolles Erlebnis oder auch eine ganze Reihe 
derartiger zusammengehoriger Erlebnisse.“ Nun braucht die Er- 
innerung an ein besonders affektvolles Erlebnis an sich gewifi noch 
nicht in jedem Falle iiberwertig zu werden, und umgekehrt braucht 
nicht jede iiberwertige Idee auf einem affektvollen Erlebnis zu 
basieren. Wernicke selbst hat iibrigens, wie wir gleich noch sehen 
werden, daneben noch anders bedingte Formen iiberwertiger 
Ideen anerkannt. Jedenfalls trifft diese Definition ganz sicher noch 
nicht das Wesen der Ueberwertigkeit. Wernicke fiihrt nun im 
gleichen Zusammenhang noch andere, pragnantere Kennzeichen 
an, mit denen man eher weiter kommt. Er nennt die iiberwertigen 
Ideen ,,herrschende Ideen*‘, fiigt hinzu, daO sie der Korrektur 
durch entgegengesetzte Erfahrungen schwer zuganglich seien, je 
nachdem bedingungslose Voraussetzungen fiir das Handeln bil- 
deten und betont schlieBlich, daji sie sich gewohnlich unter dem 
EinfluB irgendeines lebhaften Affekts entwickelten. Diese beiden 
Momente, das Dominieren und die affektvolle Betonung diirften 

Kdppen , Zur Lehre von der iiberwertigen Idee. Allgem. Ztschr. 
f. Psych. Bd. 51. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY 01 MICHIGAN 



42 


B i r n b a u m , Pathologische I'eberwertigkeit. 


als Hauptpunkte fiir die Definition festzuhalten sein, und es ergabe 
sich dann ein iiberwertiger Vorstellungskomplex als ein solcher, 
der dutch uberstarke Gejuhlsbetonung eine dominierende Stellung, 
ein behert8chendes Uebergewicht im seelischen Leben erhalten hat. 
Diese nachweislich vorherrschende Gefiihlsbetonung — nicht wie 
Ziehen l ) und ahnlich Friedmann 2 ) meint, eine abnorme Steigerung 
der Energie, resp. Intensitat der Vorstellungen —, scheint mir die 
wesentliche Grundlage der Ueberwertigkeit zu sein, von der man 
iibrigens, wie noch zu zeigen sein wird, auch leicht zum Verstandnis 
der mit jener verkniipften psychologischen Erscheinungen und 
speziell der Wahngebilde gelangt. 

Mit den Komplexen Freud-Bleuler-Jungscher Anschauung 
decken sich die iiberwertigen Vorstellungen gewifl nicht. Von 
allem anderen abgesehen, kann diesen Komplexen iiberhaupt die 
Ueberwertigkeit in unserem Sinne abgehen und geht sie auch 
vielfach ab, und die als charakteristisch fiir sie geltenden Wir- 
kungen sind gewohnlich ganz andere als die, welche wir hier als 
Ueberwertigkeitsfolgen kennzeichnen werden. Auch mit der 
Katathymie , speziell der katathymen Wahnbildung Maiers (Ztschr. 
f. d. ges. Neurol, u. Psych., Bd. 13), die als Wirkungen gefiihls- 
betonter Vorstellungskomplexe auf die krankhaften psychischen 
Erscheinungen, insbesondere auch auf die Wahnsymptome charakte- 
risiert werden, lassen sich die iiberwertigen Ideen nicht identifi- 
zieren, wie dies wohl nach Picks Vorwurf (Neurol. Zbl., 1913): 
Katathymie sei nur ein neuer Name fiir den alten Begriff der iiber¬ 
wertigen Idee, naheliegen konnte. Auch hier sind die Beziehungen 
zwischen gefiihlsbetontem Komplex und Wahnsymptomen andere 
als zwischen iiberwertigen Vorstellungen und den an sie gekniipften 
Wahngebilden, und auch hier sind nur in den selteneren Fallen 
die wirksamen gefiihlsbetonten Komplexe ihrem sonstigen Charakter 
nach zugleich als iiberwertige zu kennzeichnen, namlich nur dann, 
wenn diese Gefiihlsbetonung eben zugleich eine dominierende ist. 

Erst durch dieses Dominieren , die Monopolisierung der Gefuhls- 
tone zugunsten eines Inhalts (Ziehen) hebt sich der iiberwertige 
Komplex als eine charakteristische und eigenartige Erscheinung 
gegeniiber sonstigen gefiihlsbetonten heraus, denn das bloBe Ueber- 
wiegen gegeniiber anderen Inhalten ist an sich noch nichts be- 
sondersartiges, vielmehr etwas durchaus Alltagliches, wie es eben 

1 ) Ziehen (Lehrb. d. Psych.) fafit im iibrigen das Gebiet der Ueber¬ 
wertigkeit en so weit, datf der Begriff an klinischem Wert verliert. Er 
spricht von Stereotypien als primaren motorischen Ueberwertigkeiten, 
von perseveratorischer Ueberwertigkeit bei Dementia hebephrenica, bringt 
das impulsive Irresein in engste Beziehung zu den iiberwertigen Vorstellungen 
und rechnet die Onomatomanie und Zwangsvorstellungen gleichfalls in 
ihr Bereich. 

2 ) Friedmann (Ueber den Wahn, Wiesbaden 1894) stellt die iiber¬ 
wertigen Ideen mit den Zwangs- und Wahnideen zusammen, denen er, 
wie gesagt, abnorme Intensitatssteigerungen der Vorstellungen resp. einen 
Reizzustand der Vorstellungssphare iugrunde legt, und sucht von dieser 
Grundlage aus zu einer allgemeinen iftieorie der Wahnbildung zu gelangen* 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


43 


durch die allenthalben anzutreffende ungleiche Verieilung der Ge- 
fiihlsbeziehungen gegeben ist. 

Die besondere Fixiertheit , die Dauerhaftigkeit und Hartnackig- 
keit der der Ueberwertigkeit zugrunde liegenden Gefiihlsbetonung 
(Neifiers ,,fixierte Affekte“) kann man nicht unbedingt zu den 
Wesenselementen der Ueberwertigkeit rechnen, so wesentlich sie 
auch fur deren besondere Auspragung und Wirksamkeit sein und 
so haufig sie auch in einzelnen Fallen den Ausschlag fur die Schwere 
der Folgeerscheinungen geben mag. Jedenfalls gibt es passagere 
Ueberwertigkeiten, auf temporaren Gefiihlsiiberbetonungen be- 
ruhend. Schon im Bereich des Normalen findet man einen Weehsel 
der dominierenden Vorstellungskreise parallel dem Weehsel der 
beruflichen und sonstigen Interessen oft genug vor. 

Auch die Art der Entstehung der iiberwertigen Vorstellungen 
kann nicht als ausschlaggebend mit in die Begriffsbestimmung 
hineingezogen werden, wie es Wernicke mit der ausdriicklichen 
Heranziehung des affektvollen Erlebnisses als Ausgangspunkt tut. 
Mag auch die erlebnisbedingte Entstehung der iiberwertigen Ideen 
zweifellos die praktisch wichtigste, weil haufigste, so wie auch fur 
die anschlieBende Wahnbildung wesentlichste, sein, so konnen sich 
doch Ueberwertigkeit en auch unabh&ngig von affektvollen Erleb- 
nissen durch allerhand Dauereinfliisse herausbilden, durch Uebung, 
Gewohnung, standige Beschaftigung u. dgl., und Wernicke selbst 
muB die ,,durch haufige Benutzung bedmgte Erregbarkeit und 
Ansprechbarkeit der betreffenden Vorstellungsgruppen“ als weitere 
Ursachen der Ueberwertigkeit anerkennen. Im Rahmen des All¬ 
tags geben etwa die so entwickelten Berufs-, Sport-, Sammler- 
und sonstigen Liebhaberiiberwertigkeiten halbwegs bezeichnende 
Beispiele dafiir ab. 

Noch weniger gehort natiirlich der spezielle Inhalt und die 
besondere Oefuhlsfdrbung des iiberwertigen Komplexes in die Be¬ 
griffsbestimmung. Die Besonderheit und der Wert der iiber¬ 
wertigen Ideen liegt ja — das hat schon Neifier seinerzeit richtig 
hervorgehoben — eben gerade darin, daB sie nicht auf inhaltliche, 
sondem auf formale Beziehungen hinweist. Nichtsdestoweniger 
ist freilich der spezielle Inhalt durchaus nicht bedeutungslos. Fur 
das soziale Verhalten solcher Falle kann er z. B. von groBer, ja 
entscheidender Wichtigkeit sein, und auch fur manche wissen- 
schaftliche Fragen, insbesondere auch fur die uns hier inter- 
essierende nach der Verkniipfung der iiberwertigen Idee mit Wahn- 
gebilden, gibt er vielfach den Ausschlag. Uebergehen darf man also 
die speziellen Inhalte der iiberwertigen Vorstellungen gewiB nicht, 
wenn man deren Zusammenhang mit den Wahnbildungen auf- 
decken will. In die Begriffsbestimmung gehoren sie aber jeden¬ 
falls nicht hinein. 

Mit der gegebenen Charakteristik sind nun die Ueberwertig- 
keitserscheinu ngen an sich durchaus noch nicht in das Gebiet des 
Pathologischen verwiesen. GewiB, es ist unverkennbar, daB Falle 
dieser Art, bei denen also die uberstarke Gefiihlsbetonung das Ver- 


Digitized by 


Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



44 


B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit v j 


Digitized by 


haltnis der einzelnen seelischen Elemente so weitgehend ver- 
schiebt, die Mafibeziehungen zwischen ihnen so schwer stort und 
durch einen beherrschenden Faktor alle iibrigen so vollig ver- 
drangt, daU solche Fall© schwerster seelischer Dysharmonie vor- 
wiegend patbologisch sein werden. Immerhin kann dies aber doch 
noch nicht an sich schon gelten. Ein Blick auf die Psychologic des 
Alltags weist zur Geniige auf physiologische Ueberwertigkeiten hin, 
auf Erscheinungen, die zwar nicht von gewohnlicher und durch- 
schnittlicher Art, aber doch noch im Bereich des Normalen liegen. 
Besonders das weite Gebiet der Leidenschaften in all ihren Formen 
(Liebesleidenschaft, Eifersucht, Rachsucht usw.) gibt charakte- 
ristische Beispiele dafiir ab. Gerade hier sind ja durch ubermachtige 
Gefiihlsbetonung bestimmter Inhalte, die auf dies© Weise ein maJ3- 
loses Uebergewicht erhalten, die Bedingungen fiir die Bildung 
von Ueberwertigkeiten von vornherein gegeben 1 ). 

Wie soil man nun die physiologische von der pathologischen 
Ueberwertigkeit unterscheiden? 

Wernicke meint, nicht sowohl darauf komme es an, obdasMotiv 
fur den der betreffenden Erinnerung anhaftenden Affekt aus- 
reichend sei, als vielmehr darauf, ob das Symptom der iiber- 
wertigen Idee nicht allein bleibe, sondern bald eine Reihe anderer 
psychotischer Symptom© hinzutraten. Nun, ich glaube, daB man 
im allgemeinen das charakteristische Mi fiver haltnis zwischen aus- 
losendem Reiz und dominierender Affektreaktion doch wohl zur 
Unterscheidung von normal und pathologisch heranziehen kann, 


l ) Wernicke fiihrt als Beispiele fiir Ueberwertigkeiten, die in der Breite 
des Normalen liegen, gewisse ethische , dsihetische usw. Begriffe an. Diese 
Exemplifizierung erscheint mir nicht eben gliicklich. Vor allem ist mir dabei 
nicht recht verstandlich, wie sich diese ii6erwertigen Ideen, die doch wohl 
gegeniiber den anderen die richtige „natiirliche“ hohe Wertigkeit aufweisen, 
zu den normal wert igen verhalten. Als Normalwertigkeit ist nach Wernicke 
ganz allgemein ,,eine ganz bestimmte Abstufung von Erregbarkeitsverhalt- 
nissen“ zu verstehen, „w r elche bei verschiedenen Individuen innerhalb einer 
gewissen Breite verschieden, doch bei jedem Individuum einen pr&formierten 
Besitz gewissermaBen von Rangunterschieden unter den Vorstellungen be- 
dingt“. Die so charakterisierten ,,norma Zwertigen 4 ‘ Vorstellungen — bei 
denen Wernicke es allerdings ganz dahingestellt sein laBt, welch „ganz be¬ 
stimmte Abstufung“ nun eigentlich ilire Normalwertigkeit ausmacht — 
bringt er nun — nach kurzem Hinweis, daB die Verschiedenheit der Charak- 
tere wesentlich durch die verschiedene Wertigkeit der Vorstellungen be- 
dingt werde, von denen ihr Handeln imter bestimmten gegebenen Verhalt- 
nissen abhangt — bringt er, sage ich, in eine eigentiimliche, nicht leicht zu 
iibersehende Beziehung zu jenen iiberwertigen, indem er unvermittelt fort- 
fahrt: ,,Wir miissen schon in der Norm damit rechnen, daB solche iiber - 
wertige Vorstellungen einer Korrektur durch entgegengesetzte Vorstellungen 
schwer zuganglich sind“ usw. — Ich wiirde meinen, dafl man, wenn nun 
einmal die Wertigkeit dieser Begriffe gekennzeichnet werden soli, die natiir- 
liche hohe Rangstufe der ethischen usw. Vorstellungen am besten durch den 
Ausdruck Hochwertigkeit treffen wiirde. Von Ueberwertigkeit wiirde man 
dann erst bei einer iiber die natiirliche Hochwertigkeit hinausgehenden 
Steigerung der Wertigkeit reden, wie sie vielleicht beim Sittlichkeits- usw. 
Fanatismus in Betracht kame. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



imd Wahnbildung. 


45 


so richtig auch der Hinweis Wernickes auf den Querulanten, der. 
zu Unrecht verurteilt, alien Grund hat, sich zu emporen, an sich 
sein mag. Ebenso wie umgekehrt das Hinzutreten abnormer Er- 
scheinungen als pathologisches Erkennungsmerkmal gelegentlich 
versagen kann, wie schon das Beispiel der Verliebtheit, der eroti- 
schen Ueberwertigkeit, zur Geniige beweist, denn diese fuhrt be- 
kanntlich eine ganze Anzahl hart ans Pathologische grenzender Be- 
gleiterscheinungen, speziell auch wahnhaft gefarbter, mit sich: 
wahnhafteMiBdeutungenindifferenterVorgange, Eigenbeziehungen, 
Erinnerungsfalschungen u. a. m. 

Neben dem MiBverh&ltnis zum Affektwert des auslosenden 
Erlebnisses und der Tatsache der pathologischen Sekundarerschei- 
nungen diirfte schlieBlich zur Kennzeichnung des pathologischen 
Charakters der Ueberwertigkeit auch die nachweislich dbnonne 
Grundlage, auf der sich der Vorgang erhebt, heranzuziehen sein. 
Wernicke hat auf diesen pathologischen Untergrund zweifellos zu 
wenig Wert gelegt, wodurch es bekanntlich moglich wurde, die 
ganze Streitfrage einseitig nach der einen Richtung der partiellen 
Geistesstorungen zu verschieben. 

Mit dieser Kennzeichnung: durch affektive Ueberbetonung be- 
dingtes Dominieren bestimmter Inhalte im seelischen Leben ist also 
der Begriff der Ueberwertigkeit geniigend umgrenzt und abgegrenzt. 
DalJ im iibrigen diese Ueberwertigkeit gegeniiber den sonstigen Be- 
ivufitseinsinhalten zumeist Hand in Hand geht mit einerUeberwertig- 
keit des betreffenden Inhalts gegenuber seiner natiirlichen, durch- 
schnittlichen, ,,objektiven“ Wertigkeit ist unverkennbar. Immerhin 
macht doch nicht das Verhfiltnis zur objektiven Wertigkeit des 
gleichen Inhalts als vielmehr zur Wertigkeit der ubrigen Bewufit- 
seinsinhalte das Wesen der Ueberwertigkeit aus und gibt <len 
Ausschlag fiir den Begriff. Dafl auch Wernicke die Ueberwertig¬ 
keit in diesem letzteren Sinne aufgefallt wissen wollte, dafiir sprechen 
schon die von ihm gew&hlten Beispiele physiologischer Ueber¬ 
wertigkeit (die Begriffe der Ehre, Reinlichkeit, Schamhaftigkeit 
usw.), denn bei diesen kommt ja eine Ueberwertigkeit im Sinne 
eines die natiirliche Wertigkeit uberragenden Uebergewichts wohl 
uberhaupt nicht in Betracht. 

Ueber die Richtigkeit und Zweckmafiigkeit der Bezeichnung 
..Ueberwertigkeit" lfiflt sich vielleicht noch streiten. Moli (Allgem. 
Ztschr. f. Psych., Bd. 51) will im Hinblick auf die Minderwevtig- 
keit der psychischen Leistungen bei den Ueberwertigkeitsvorgangen 
und die auf einseitiges Ueberwiegen bestimmter Gefiihlstatigkeit 
zuriickzufiihrende Beschrankung der Gedankenbewegung lieber von 
uber wiegender oder iibeTwaltigender Idee sprechen, Koppen (1. c.) 
halt die Bezeichnung „dominierende“ Idee fur richtiger. Nun, es 
ist hier wie so oft: Die Bezeichnung ist einmal von autoritativer 
Seite fiir eine pragnante Erscheinung gepragt und dadurch ein 
fiir allemal mit ihr verkniipft, und das ist schon Grund genug, 
sie trotz etwaiger Unzuliinglichkeiten beizubehalten. 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



46 


B i r n h a u m , Pathologische Ueberwertigkeit 


Soviet liber die iiberwertigen Vorstellungen im allgemeinen. 
Fiir unsem Zweck, also speziell die Frage ihres Zusammenhanges 
mit der Wahnbildung, ist nur noch eine Einschrankung notig. Uns 
konnen nur diejenigen Ueberwertigkeitsformen interessieren, die 
in den Mechanismus des seelischen Lebens wirksam eingreifen, in- 
dem sie als gleiehberechtigte resp. iibergewichtige Komponenten 
in den seelischen Gesamtbetrieb eingehen und diesen charakte- 
ristisch beeinflussen. Denn nur dadurch, daB sie in den engsten 
Konnex mit den sonstigen Bestandteilen des Seelenlebens treten, 
konnen sie solche Wirkungen entfalten, wie sie mit den uns hier 
angehenden Wahnbildungen gegeben sind. Die isoliert bleibenden, 
speziell den Zwangsvorstellungen nahestehenden iiberwertigen 
Ideen, wie sie Friedmann erst jiingst herausgehoben und in ihren 
Beziehungen gekennzeichnet hat 1 ), fallen von vomherein fiir unsere 
Betrachtung aus. 

DaB schlieBlich unsere ganze Darstellung sich auf rein psycho - 
lotfischem Gebiete zu bewegen und da zu verbleiben hat, Uegt in 
dem rein psychologischen Charakter des uns hier beschaftigenden 
Gebildes begriindet. Von anatomisch-physiologischen und -patho- 
logischen Deutungen im Sinne der Wernicke schen Theorie aus- 
zugehen, erscheint, abgesehen von der unzureichenden Erfahrungs- 
grundlage, schon deswegen nicht angebracht, weil damit die Be¬ 
trachtung von einem Gebiet, auf dem sie geniigend Erklarungs- 
moglichkeiten findet, auf ein ganz wesensverschiedenes, das dem 
Verstandnis doch wohl viel weniger zuganglich ist, verschoben 
wird. Hier kommt es lediglich auf psychologische Erkenntnisse 
an, und zwar wird es sich dabei, wie schon jetzt zu iibersehen ist, 
im wesentlichen um die Feststellung der psychischen Wirkungen 
handeln, die gewisse extrem-einseitige Ver&nderungen in der Ver- 
teilung der Gefiihlsbetonungen auf das Vorstellungsleben ausiiben. 

Psychopathologie der Ueberwertigkeit. 

Eine vollstandige Charakteristik der allgemeinen Wirkungen 
iiberwertiger Komplexe auf das seelische Leben zu geben, ist hier 
nicht beabsichtigt. Wie diese in den Mittelpunkt und Vorder- 
grund des BewuBtseins riicken, wie sie Aufmerksamkeit und 
Interesse machtvoll an sich ziehen und bedingungslos an sich 
fesseln, wie sie Denken und Fiihlen, Streben und Wollen riicksichts- 
los in ihre Bahnen drangen, wie sie zum ausschlaggebenden Leit¬ 
motiv fiir alle Entschliisse, zur beherrschenden Triebkraft fiir alles 
Handeln werden, kurz wie sie den alles iiberragenden und zuriick- 
drangenden Lebensinhalt ausmachen, das interessiert uns hier 
nicht. Lie ungemeine Bedeutung all dieser Folgeerscheinungen 
fiir das auBere Handeln und das personliche Verhalten und damit 
gerade fiir das praktische Leben, soli deshalb nicht verkannt und 
unterechatzt werden. Speziell dieser Seite der Ueberwertigkeit 

J ) ,,Zur Auffassung und zur Kenntnis der Zwangsideen und der 
isoiierten uberwertigen ldeen.“ Zt-schr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 1913. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


47 


bin ich eben im Hinblick auf die praktischen (sozialen) Folgen in 
anderem Zusammenhang eingehend nachgegangen 1 ). 

Uns geht hier nur an, was an Folgen und Wirkungen sich 
direkt oder auf Umwegen im Vorstellungsleben geltend macht, zu 
Auffassungs-, Urteils-, Erinnerungs-, Werturteils- usw. Falschungen 
fiihrt und damit die Basis fur Wahnideen und -prozesse abgibt. 

Die Erscheinungs- und W irkungsformen der Ueberwertigkeit, die 
hierbei in Betracht kommen, sind nun verschiedener Art. Sie 
lassen sich ohne allzu groBe Kfinstelei in einige halbwegs charakte- 
ristische und differente Typen zerlegen. Es sind im wesentlichen 
ihrer drei, die unter Beibehaltung des Ausdrucks Ueberwertigkeit 
etwa folgendermaBen zu kennzeichnen waren: 

1. Assoziative Ueberwertigkeit , d. h. also beherrschendes Ueber- 
gewicht bei der assoziativen Tatigkeit; 

2. logische Ueberwertigkeit , beherrschendes Uebergewicht in 
logischer Hinsicht bei Urteil und SchluBfolgerung; 

3. „Wertung8“uberivertigkeit, beherrschendes Uebergewicht im 
Wertung6bereiche, bei der Einschatzung, beim Werturteil. 

Diese verschiedenen Ueberwertigkeitserscheinungen, deren 
Eigenart nun im einzelnen klargelegt werden soil, erzeugen Wahn- 
mechanismen und -prozesse von verschiedener Art und Bedeutung. 
Ihr Anteil an der Wahnbildung ist daher verschieden groB. Am 
geringsten ist er bei den Wertungsfiberwertigkeiten, mit denen 
deshalb begonnen werden soil. 

Wertungsuberwertigkeit und Wahnbildung. 

Die aus verstarkter Geffihlsbetonung eines Objekts sich ohne 
weiteres ergebende Ueberschatzung desselben ist eine aus der All- 
tagserfahrung gentigend bekannte Tatsache. Dinge, die einem 
besonders am Herzen liegen, seien sie sonst wie sie wollen, ein 
Sammelobjekt, ein Sport, eine Arbeit, pflegen stets in ihrem Werte 
zu hoch eingeschatzt zu werden. In Fallen dominierender Affekt- 
betonung erreicht nun diese Wertiiberschdtzung die denkbar hoch- 
sten Grade. So wird z. B. bei erotischer Ueberwertigkeit die 
Person, an die die Liebesleidenschaft sich knfipft, ihrem Werte 
nach in jeder Beziehung, sittlicher, asthetischer usw., maBlos iiber- 
trieben eingeschatzt und durch ein solches falsches Werturteil mit 
alien moglichen in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen Vorziigen aus- 
gestattet, so wird bei querulatorischer Ueberwertigkeit der ein- 
genommene Rechtsstandpunkt weit fiber Gebfihr bewertet und als 
der einzig berechtigte gewfirdigt. Auch die Einschatzung des realen 
Wertes, der praktischen Bedeutung, der sozialen Wichtigkeit u. dgl. 
wird unter dem EinfluB der fiberwertigen Betonung eine falsche, 
und diese Richtung der Werturteilstauschung fallt ffir das Vor¬ 
stellungsleben besonders ins Gewicht, da darunter am meisten die 


In „Psychopathische Verbrecher“. Kapitel „Psychopathischer 
Fanatismus und pathologische UeberwertigkeitenLangenscheidt, Berlin 
1914. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



48 B i r n b a u m , Pathoiogische Ueberwertigkeit 

Auffassung der realen Verhaltnisse und Beziehungen not leidet. 
Das naheliegendst© Beispiel gibt in dieser Hinsicht die Ueberwertig- 
keit von Erfindungs-, Reform- u. dgl. Ideen, die aus der Wert- 
iiberschatzung heraus ihre Trager zu einer ganz falschen An- 
schauung iiber die praktische Bedeutung, die realen Wirkungen 
und Folgen usw. dieser Gedankengebilde fiihrt. 

Durch die beherrschende Ueberbetonung wird nun aber nicht 
nur ein falsches Werfcurteil erzeugt, sondem ein erzeugtes auch 
fixiert. Die Ueberwertigkeit macht das Werturteil auch uner- 
schiitterlich und unkorrigierbar. Das dominierende Uebergewicht 
der Affektbetonung des einen Inhalts verhindert die geniigende 
Betonung der iibrigen, speziell auch der entgegengesetzten, kon- 
trastierenden. Sie werden ihm gegeniiber unterwertig, daher in 
ihrem Werte und ihrer Bedeutung unterschatzt, und sie konnen 
deshalb nicht regulierend und richtigstellend auf diese verfalschten 
Werturteile einwirken. Unfahigkeit zur Wiirdigung eines anders- 
artigen Wertstandpunktes, zur Anerkennung der Berechtigung 
einer von der eigenen abweichenden wertenden Stellungnahme sind 
der natiirliche Ausdruck dieser Storung im Wertungsbereiche, 
fur die wiederum der Querulant charakteristische Belege darzu- 
bieten pflegt. 

Diese Wertungsstorung unter dem EinfluB des iiberwertigen 
Komplexes kann nun aber noch weiter gehen. Durch un- 
geniigende Betonung aller sonstigen Inhalte geht jede richtige 
Bewertung derselben und damit jede objektive Wertung xiber- 
haupt verloren. Es kommt zu einer mehr oder weniger weit- 
gehenden allgemeinen Wertverschiebung , zu einer Umgestaltung 
der gesamten personlichen Wertskala, die sich bei alien moglichen 
Lebensdingen, bei der Beurteilung aller sonstigen Verhaltnisse 
und Beziehungen schwerwiegend und beeintrachtigend bemerkbar 
machen muB. Die Vorrangstellung des iiberwertigen Komplexes 
im Wertungsbereiche und Wertsystem macht diesen schlieBlich 
zur Grundlage aller Wertungen, zum Wertmafistab filr aUe Dinge. 
Das wertende AugenmaB, die richtige wertende Stellungnahme, 
die richtige Orientierung in der Umwelt und den personlichen 
Lebensbeziehungen geht verloren. Was als gut und schlecht, 
wertvoll und wertlos, wichtig und unwichtig usw. zu gelten hat, 
hangt dann allein da von ab, ob es mit dem iiberwertigen Komplex 
iibereinstimmt oder ihm widerspricht. So erhalten alle Werte, 
die allgemeinen wie die speziellen, ihren Werfccharakter von der 
Eigenart der iiberwertigen Vorstellung. Wie bedeutungsvoll, ja 
entscheidend dies im Hinblick auf etwaige Urteilsverfalschungen 
sein kann, ergibt wieder am besten das Bild der queralatorischen 
Ueberwertigkeit. Die eigenen iiberwertigen Rechtsanschauungen 
werden hier bestimmend fiir die Beurteilung aller Vorkommnisse, 
des eigenen und fremden Tuns und Verhaltens, und entscheiden 
allein dariiber, ob etwas recht oder unrecht, gut oder schlecht, 
berechtigt oder unberechtigt ist. Bei entsprechend verfalschtem 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


49 


Rechtsstandpunkt muB es dadurch, wie auf der Hand liegt, un- 
mittelbar zu wahnhaft gefarbten SchluBfolgerungen kommen. 

Aehnlichen Verhaltnissen, wie hier im Gebiet der Wertungs- 
iiberwertigkeiten werden wir iibrigens bald auch im Bereich der 
logischen Ueberwertigkeit begegnen. Wie hier zum MaB fur den 
Wert und die Bedeutung jeder Sache so wird dort der iiberwertige 
Komplex zum alleinigen Mali fur die Realitat jeder Auffassung, 
die Riehtigkeit jedes Urteils. 

Noch eins ist bei der verfalschenden Wirkung der Wertungs- 
iiberwertigkeit zu beachten. Die ungerechtfertigte Einschatzung 
des betreffenden iiberwertigen Inhaltes ubertragt sich mit natiir- 
licher Folgerichtigkeit unmittelbar auf all die Dinge, die mit ihm 
in Zusammenhang stehen oder gebracht werden. Wird beispiels- 
weise irgendein Vorfall iiberwertig betont und demgemaB iiber- 
trieben eingeschatzt, so werden auch seine Ursachen also etwa 
fremde Verfehlung oder eigene Verschuldung oder auch seine Folgen 
und Wirkungen, etwa die Stellungnahme der anderen dazu in 
ihrer Bedeutung maBlos iiberschatzt und damit auch in ein falsches 
Licht geriickt. 

Nun ist gewohnlich von alien Dingen, die mit dem iiberwertigen 
Komplex in Beziehung treten konnen, das eigene Ich am haufigsten 
und engsten mit ihm verkniipft. Das bringt ja die iiberstarke Ge- 
fiihlsbetonung, die die Person dem betreffenden Inhalt zugewendet 
hat, die enge innerliche Gefiihlsbeziehung zu ihm schon von selbst 
mit sich. Die Person identifiziert sich vielfach gewissermaBen mit 
dem iiberwertigen Komplex, ,,erblickt darin den Ausdruck ihres 
eigensten Wesens“ (Wernicke). Dadurch geht nun die Wertiiber- 
sch&tzung, die dem iiberwertigen Inhalt anhaftete, auch auf die 
eigene Person als deren Trager iiber, und diese ungerechtfertigte 
Wertiibertragung findet ihren unmittelbaren Ausdruck vor allem 
in einer entsprechenden Selbstuberschdtzung. Die Trager iiber- 
wertiger Erf indungs-, Reform- und sonstiger Ideen fiihlen sich als 
etwas Besonderes, als Vertreter hoher Missionen, als Vorkampfer 
fiir wichtigste Lebensinhalte und -ziele usw. Auch bei den Ueber- 
wertigkeiten querulatorischen Charakters kann man beobachten, 
wie in den (selteneren) Fallen, wo von Natur aus kein besonders 
gesteigertes Selbstgefiihl besteht, aus der Verfcretung des iiber- 
wertigen personlichen Rechtsstandpunktes direkt eine iibertriebene 
Selbstbewertung herauswachst, das erhohte SelbstbewoiBtsein, 
Vertreter des wirklichen Rechts, des einzig berechtigten Stand- 
punkts zu sein. So ergibt sich also eine Wahnanschauung im Sinne 
des Orofienwahn8 als natiirliche und ziemlich unmittelbare Folge 
dieser Wertungsiiberwertigkeit. 

DaB sich an diesen GroBenwahn gewohnlich noch andere 
wahnhafte Erscheinungen anschlieBen, hat nun allerdings nur noch 
wenig mit den Ueberwertigkeitswirkungen zu schaffen. Sie er- 
geben sich vielmehr in natiirlicher folgerichtiger Weiterentwicklung 
und in einer von anders bedingten GroBenwahnbildungen her schon 
genugsam bekannten Weise aus dem Gregensatz, der sich unver- 

Mooatsechrift f. Psychiatric u. Nourolotfle. Bd. XXXV1T. Heft 1. 4 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



50 


B i r n b a u in , Pathologi.sehe Ueberwertigkeit 


meidlich zwischen eigenem und fremden Werturteil, zwischen 
eigener subjektiv gefalschter Anschauung und fremder objektiver 
Stellungnahme resp. objektiver Wirklichkeit iiberhaupt ent- 
wickelt. Dieser Widerspruch, diese Diskrepanz verlangt bekannt- 
lich aus psychologischen Bediirfnissen heraus einen gedanklichen 
Ausgleich, er erfolgt unter Aufrechterhaltung der iibertriebenen 
Einschatzung des iiberwertigen Komplexes und des eigenen Ichs 
durch Erkldrungstvahnideen , und zwar naturgemaB solche der 
Beeintrachtigung. Die mit der eigenen nicht iibereinstimmende 
geringe Wertschatzung der personlichen Erfindungen, Reform- 
ideen usw. gilt dann ebenso wie das ganze Verhalten der Um- 
gebung als Ausdruck von Neid, HaB, schlechten Absichten und was 
sonst an derlei allbekannten Dingen in solchen Situationen nahe- 
liegt. 

Soviel iiber die — relativ geringfiigige — Rolle, welche die 
Wertungsiiberwertigkeit im Bereich der Ueberwertigkeitswahn- 
bildungen spielt. 

Logische Ueberwertigkeit und Wahnbildung. 

Weit starker fallt fiir die Entstehung von Wahngebilden die 
zweite Folge beherrschender Gefiihlsbetonung, die logische Ueber¬ 
wertigkeit, ins Gewicht. 

Sie verstarkt von sich aus ohne weiteres den Realitats-, 
Wahrheits- und Richtigkeitswert der iiberwertigen Vorstellungen 
und Urteile, verleiht bloB Erdachtem und Erfundenem Wirklich¬ 
keit scharakter, laBt bloB Mogliches und WahrscheinlichesgewiB und 
sicher, Annahmen und Vermutungen zu festen Ueberzeugungen, 
zu unumstoBlichen Wahrheiten werden. 

Psychologisch ist diese Entstehung eines unbegriindeten Re - 
alitats - und Wahrheitswertes aus dem beherrschenden Uebergewicht 
des Oefilhls heraus ohne weiteres verstandlich. Von den Objekten 
des Glaubens, speziell des religiosen, her wissen wir ja zur Geniige, 
wie mit zunehmender Gefiihlsbetonung der feste Glaube, die Zu- 
versicht, die Ueberzeugungsstarke, das Vertrauen in die religiosen 
Objekte, ihre Kraft und ihre Hilfe bis zur Unerschiitterlichkeit zu 
wachsen pflegt. So wird auch im Gebiet der iiberwertigen Vor¬ 
stellungen allein durch das dominierende Gefiihlsiibergewicht, ganz 
unabhangig von der Unterstiitzung und Begriindung durch Tat- 
sachen und Erfahrungen, die iiberwertige Erfindungsidee fiir ihren 
Trager zu einer zweifellos richtigen und wirklich durchfiihrbaren, 
die iiberwertige hypochondrische Befiirchtung zur Ueberzeugung 
einer entsprechend schweren Erkrankung, der iiberwertige Eifer- 
suchtsverdacht zur GewiBheit der Untreue, usw. Jeder iiber¬ 
wertige Komplex wiegt also seiner Natur nach in logischer Hinsicht 
schwerer, als es seinem objektiven, wahren logischen Wert ent- 
spricht. 

Im Gegensatz zu dieser logischen Ueberwertigkeit erhalten 
nun umgekehrt — ahnlich, wie wir das schon im Bereich der 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


51 


Wertungsiiberwertigkeit eahen — die sonstigen und speziell 
die entgegengesetzten, widersprechenden kontrastierenden For- 
stellungen eine zu geringe, ungeniigende Gefiihlsbetonung und 
damit eine ungeniigende logische Geltung. Ihre logische Wertigkeit 
wird geringer als ihrem Wirklichkeits- und Wahrheitswert ent- 
spricht. Hand in Hand damit geht dann wieder der Verlust der 
Fahigkeit, sich gegeniiber den iiberwertigen Vorstellungen die ihnen 
zukommende Geltung zu verschaffen und kritisch, kontrollierend 
und korrigierend gegen sie anzukampfen. Die natiirliche Folge ist, 
daB die iiberwertige Idee ihre unbegriindete und unberechtigte 
logische Geltung, ihren iibertriebenen Realitats- und Wahrheits¬ 
wert behalt, also unanfechtbar und korrekturunfahig wird. Daraus 
erklart sich wiederum die in all solchen Fallen ausnahmslos zutage 
tretende Einsichtsbsigkeit in die meist vollig unlangliche und selbst 
fehlende Begriindung und Vertiefung des iiberwertigen Vorstellungs- 
komplexes, die Verstandnislosigkeit gegeniiber alien berechtigten 
und direkt selbst verst andlichen Einwanden wie iiberhaupt gegen- 
iiber jeder von der eigenen in diesem Punkte abweichenden An- 
sicht, ja die Unfahigkeit, eine solche auch nur zu erfassen, kurz und 
gut, die ganze Verbohrtheit bei selbst offenkundiger Unsinnigkeit 
des eingenommenen Standpunktes. 

Diese abnorm erhohte und unerschiitterliche logische Geltung 
des iiberwertigen Komplexes laBt nun aber das sonstige Vor- 
stellungsleben in logischer Hinsicht nicht unberiihrt. Sie wird 
im gleichen UebermaB auch bei der weiteren Gedankenarbeit wirk- 
sam und greift damit auf weitere seelische Inhalte iiber. Die iiber - 
wertige Anschauung stettt sich durch ihr logisches Schwergewicht 
als die wichtigste , grundlegendste , unanfechtbarste Erfahrung , als 
die Grundtatsache dar. Sie wird damit zur Grundlage, zum un- 
verriickbaren Fundament fur jede fernere Erfahrung und gewinnt 
so eine unbedingte Vorherrschaft gegeniiber alien anderen Er- 
fahrungen iiberhaupt. Wernicke hat auf dieses in seinen Folgen 
verhangnisvollste Moment besonderes Gewicht gelegt: die iiber - 
wertige Idee als unumstojiliche Voraussetzung fiir jede weitere Er¬ 
fahrung. 

Wahrend sonst jede Einzelerfahrung als singulare, einmalige 
Erscheinung sich dem groBen Kreise der personlich gewonnenen 
oder von anderen iibemommenen allgemeinen Erfahrungen ein- 
und unterzuordnen hat, und im Sinne dieser feststehenden All- 
gemeinerfahrungen zu beurteilen und zu beworten ist, wird sie 
hier umgekehrt zur beherrschenden, das ganze Erfahrungsmaterial 
bestimmenden. Alles iibrige wiegt nicht mehr entsprechend seinem 
Realitats- und Erfahrungswert. Die iiberwertige Anschauung 
wird die leitende, die richtunggebende, die ausschlaggebende Ueber- 
zeugung, nach der sich die sonstigen Anschauungen zu richten 
haben, in deren Sinne die Urteile zu bilden, die Tatsachen zu 
deuten sind. Eine Erklarung, eine Auffassung, die mit der iiber¬ 
wertigen Ueberzeugung nicht glatt in Einklang zu bringen ist, wird 

4* 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



52 


Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit 


einfach nicht anerkannt, wird fallen gelassen oder wenigstens ent- 
sprechend modifiziert. 

Mag immer die Freudsche Theorie sich spater einmal als 
richtig oder falsch erweisen, was man einzelnen ihrer Anhanger 
in jedem Fall zum Vorwurf machen muB, ist, daB diese auf sie nach 
Art einer uberwertigen Idee wirkt. Nicht nur, daB sie alles ohne 
weiteres im Sinne der Theorie deuten und diese Deutung ohne 
weiteres fur unumstoBlich richtig halten, erkennen sie jede andere 
Auffassung xiberhaupt nur soweit als richtig und berechtigt an, 
als sie mit jener ubereinstimmt. Statt daB wie sonst bei wissen- 
schaftlicher Forschung jeder neue Tatbestand, jeder neue Ein- 
wand voraussetzungslos neu gepruft wird, wird er von ihnen un- 
widerlegt und unbesehen verworfen, sofern und weil er der iiber- 
wertigen Idee nicht entspricht, und sie gehen umgekehrt soweit, 
daB sie die vorgebrachten Einwendungen ohne weiteres im Sinne 
und zum Beweis der Richtigkeit ihrer Hypothesen sich zurechtlegen. 
Die gegenteiligen Ansichten, selbst wohlfundierte, werden dem- 
gemiiB, wenn sie nicht einfach als Ausdruck des Unverstands, der 
Verlogenheit, Priiderie und Selbsttauschung fiir sie gelten, als 
Beleg fur die Wirksamkeit affektvoll verdrangter Widerstande 
bei Heraushebung des Komplexes u. dgl. aufgefaBt. 

So wird das logische Geltungsbereich des uberwertigen Vor- 
stellungskomplexes majilos erweitert , die Einzelerfahrung wirdzur Er- 
fahrung von allgemeinster Geltungskraft, auf der sich alle weiteren 
aifbauen. Da nun der iiberwertige Komplex bei seiner logischen 
Ueberwertigkeit iiber alien Zweifel erhaben ist, so ist nur eine Er- 
klarung, eine Auffassung, eine Weiterverarbeitung moglich, die 
ihm entspricht, meist sogar nur allein moglich, und das so sich 
ergebende Urteil, die daraus hervorgehende SchluBfolgerung 
bekommt dadurch leicht fiir ihren Urheber den Charakter des 
Zwingenden, unbedingt Beweiskraftigen, unanfechtbar Richtigen. 

l>ie ganze weitere geistige Orientierung, der ganze Erfahrungs- 
neuerwerb geht nun unter der Direktive, am Gangelbande der als 
unantastbar richtig geltenden uberwertigen Erfahrung vor sich. 
Ein uberwertiges Forurteil im wahrsten Sinne des Wortes siegt 
bei der weiteren Verarbeitung der Erlebnisse iiber die objektive 
Sachlage und die Gesamterfahrung. Fehlurteile und Fehlschliisse 
sind die logischen Folgen dieser zu allgemeinen und zu weitgehenden 
Verwertung des dominierenden Komplexes, ein logisches Delirium 
(Wernicke) schlieBt sich folgerichtig an die iiberwertige Idee an. 
Steht beispielsweise bei erotischer Ueberwertigkeit die Tugend 
und Treue der Geliebten als fundamental Tatsache, als uner- 
schiitterliche Ueberzeugung fest, so muB jede fremde Mitteilung, 
jede eigene Beobachtung des Gegenteils, so beweiskraftig sie 
auch immer sein mag, so aufgefaBt und modifiziert werden, daB 
sie mit jener vermeintlichen Grundtatsache in Einklang kommt: 
Die fremde Darstellung beruht einfach auf schiefer oder iiber- 
triebener Auffassung, ist lediglich Niederschlag der Gehassigkeit 
und Verleumdungssucht; ist der Sachverhalt an sich unbestreitbar, 


Digitized by 


Goi igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


53 


so ist er eben ganz harmlos zu deuten, bedeutet nur einen Scherz 
der Geliebten, einen Versuch den Liebhaber auf die Probe zu stellen 
und ahnliches. 

Diese Urteilsfalschungen infolge logischen Uebergewichts des 
tiberwertigen Komplexes, diese logischen Delirs gehoren zu den 
haufigsten und wichtigsten Fol geerscheinungen jenes patho- 
logischen Symptoms, die man kaum je vermiBt, wenn man auf 
Wahnbildungen im AnschluB an iiberwertige Ideen stoBt. Be- 
sonders ausgepragt findet man sie bekanntlich im Gebiet der 
querulatorischenUeberwertigkeit, wo die iiberwertigeUeberzeugung 
einer der Person angetanenen rechtlichen Benachteiligung nun den 
davon Beherrschten alle weiteren rechtlichen Vorkommnisse und 
sonstigen ZusammenstoBe analog beurteilen laflt. 

Auch den bereits vorhandenen Erfahrungsbesitzstand und 
-Niederschlag laBt die logische Ueberwertigkeit des dominierenden 
Vorstellungskomplexes nicht unberiihrt. Ihr EinfluB macht sich 
auch bei jenem im gleichen Sinne und mit den gleichen Wirkungen 
geltend. So gut wie die neu erworbenen haben sich auch jene 
fruher gewonnenen Erfahrungen nach ihm zu richten, und auch sie 
erleben analoge Rectifizierungen ihres Inhaltes durch naehtragliche 
Korrektur der Erinnerungen im Sinne der beherrschenden Idee. 

So greift die logische TJeberwertigkeit mit ihrer Wirkungskraft 
weit iiber die Sphare des uberwertigen Komplexes selbst hinaus, und 
sie kann auf diesem Wege es unter Umstanden zu enorm weit- 
gehenden Aenderungen des librigen BewuBtseinsinhaltes bringen. 
Diese sekunddren Wahngebilde bleiben naturgemaB auch nicht 
immer steril, sondem wirken eventuell selbstandig von sich aus 
inhaltverfalschend weiter. Davon gelegentlich spater mehr. 

Assoziative TJeberwertigkeit und Wahnbildung. 

Bei diesem Eingreifen des xiberwertigen Komplexes in die 
weitere Gedankenarbeit sprach eigentlich schon dessen letzte wirk- 
same Eigenheit, die assoziative TJeberwertigkeit, wesentlich 
mit. Fur das Uebergewicht der dominierendenVorstellungen bei der 
assoziativen Tatigkeit ist ja von vomherein durch die naturliche 
Einstellung und Konzentration von Aufmerksamkeit und Interesse 
auf jene Ideen der giinstigste Boden gegeben. Sie werden damit 
in den Vordergrund der Gedanken geriickt, in eine beherrschende 
Zentralstellung im BewuBtsein, in dauernde und hochste BewuBt- 
seinsbereitschaft gebracht, kurz und gut, zum Kern einer be- 
sonderen seelischen Einstellung gemacht. 

Diese besondere Konstellation mit dem iiberwertigen Kom- 
plex als Mittelpunkt begiinstigt nun bei jeder gedanklichen Tatig¬ 
keit sein Uebergewicht im assoziativen Wettbewerb der auf- 
tauchenden Vorstellungen. Er bestimmt die Auslese, die Auswahl 
in seinem Sinne und zu seinen Gunsten. Von alien in Betracht 
kommenden assoziationsfahigen Vorstellungen werden nur die- 
jenigen aufgenommen, angegliedert und assimiliert, welche der 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



54 


Bimbaum, Pathologische Ueberwertigkeit 


iiberwertigen Idee adaquat sind, in ihrer Richtung liegen, ihr in- 
haltlich entsprechen. Die nieht mit ihr inhaltlich iibereinstimmen- 
den, entgegengesetzt gerichteten werden umgekehrt vom BewuBt- 
sein ferngehalten, von der assoziativen Verarbeitung ausge- 
schlossen. Es zeigt sich also hier eine ahnliche Erscheinung wie im 
Gebiet der logischen und Wertungsiiberwertigkeit auch: Wie dort 
eine logische Unterwertigkeit und eine Wertunterschatzung 
der Gegenvorstellungen sich geltend machte, so hier eine Unter¬ 
wertigkeit an assoziativer Kraft und Wirksamkeit. Die Folgen sind 
naturgemaB auch ahnliche. Da nur all die Vorstellungen wirksam 
werden konnen, die der Bestatigung, der Bekraftigung, der Siche- 
rung und dem Ausbau der iiberwertigen Idee dienen, dagegen alle 
diejenigen nicht, die ihr widersprechen, sie kontrollieren und korri- 
gieren, so bleibt die iiberwertige Idee selbst bei fiir den Unbe- 
fangenen einwandfrei erkennbarer inhaltlicher Unrichtigkeit in 
ihrem Bestand, in ihrem subjektiven Realitats- und Richtigkeits- 
wert unangetastet, ja sogar unantastbar, weil eben unter solchen 
Umstanden nicht ausgleichs- und korrekturfahig. So dient diese 
Einengung der assoziativen Moglichkeiten , wie sie durch die iiber- 
ivertige Idee als Leitmotiv im Assoziationsgetriebe gegeben ist, direkt 
der Erhaltung von Bestand und Wirkungskraft des iiberwertigen 
Komplexes gegeniiber berechtigten Gegenvorstellungen. 

MitdieserdieassoziativenBeziehungeneinschrankendenTendenz 
geht nun aber gleichfalls unmittelbar aus der assoziativen Ueber¬ 
wertigkeit heraus, Hand in Hand eine weitere, scheinbar entgegen- 
gesetzte: die Tendenz zur Erwezterung der assoziativen Beziehungen 
der iiberwertigen Ideen. Sie macht sich an alle moglichen seelischen 
Inhalte heran, bringt sie mit jenen in Verbindung und fiihrt so ganz 
neue Vorstellungsverkniipfungen herbei. Freihch ist auch diese 
Assoziationserweiterung keine unbegrenzte, auch sie bringt die 
Gedanken nicht aus dem durch die dominierende Idee gegebenen 
und beherrschten Vorstellungsring hinaus. Die ganze fortschreitende 
Gedankenarbeit, Auffassungen, Deutungen, Urteile, Schliisse, alles 
halt sich im Rahmen der beherrschenden Einstellung, halt sich eng 
an die Vorstellungskreise, die mit der iiberwertigen Idee und durch 
sie gegeben sind. Man sieht, beobachtet, greift im wesentlichen nur 
auf, was dazu gehort, dazu palit, damit iibereinstimmmt; was nicht 
dazu paBt, ihr widerspricht, wird teils iibersehen und unbeachtet 
gelassen, teils, zumal wenn es sich allzu aufdringlich bemerkbar 
macht, um iibersehen zu werden, entsprechend umgedeutet. Ein 
Vorgang iibrigens, der, wie schon Wernicke zur Geniige betont hat, 
auch wieder durchaus dem normalpsychologischen Leben angehort: 
„Die krankhafte Ueberwertigkeit einzelner Vorstellungen einmal 
zugegeben, entspricht dies durchaus dem normalen Vorgange, 
daB im Sinne gewisser herrschender Ideen, jede Wahrnehmung 
gedeutet, beachtet oder nicht beachtet oder auch geradezu unter- 
driickt wird.“ So kommt es zu Wahmehmungsfalschungen, speziell 
zu illusionarer MiBdeutung fliichtiger Eindriicke, im Sinne der 
dominierenden Einstellung, — einzelne undeutlich gehorte AeuBe- 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


55 


rungen werden mit Vorliebe in diesem Sinne mijBverstanden —, 
des weiteren auch zu Auffassungs- und Urteilsfalschungen analogen 
Charakters. 

Auch die Erinnerungen werden zur iiberwertigen Idee in 
Beziehung gebracht und verandern sich dann leicht unter dem 
EinfluB der dominierenden Konstellation, Unwillkiirlich und un- 
bewuBt wird dann nachtraglich manches so gesehen, wie es dem 
iiberwertigen Vorstellungskomplex entspricht. Dabei kommt es 
nicht nur zur bloBen Umgestaltung des tatsachlich Erlebten, zu Er- 
innerungsverfalschungen, sondern dariiber hinaus auch gelegentlich 
zur Neuerfindung vermeintlicher Erlebnisse, also zu Erinnerungs- 
falschungen, und umgekehrt wird manches tatsachlich Vorge- 
fallene, weil den iiberwertigen Ideen entgegenstehend, iibersehen, 
fiir die Reproduktion mehr oder weniger unzuganglich und fallt 
fiir die Riickerinnerung einfach aus (negative Erinnerungsfalschung 
im Sinne Wernickes). 

Diese Tendenz zur Erweiterung der assoziativen Beziehungen 
des iiberwertigen Komplexes zu seinen Gunsten, wie sie in der 
Verarbeitung der Eindriicke und Erinnerungen im Sinne der vor- 
herrschenden Einstellung zum Ausdruck kam, kann nun noch 
weiter gehen und zu ganz ungerechtfertigten Verkniipfungen der 
iiberwertigen Ideen mit andersartigen Vorstellungen fiihren. 
Allerhand Dinge und Vorkommnisse des alltaglichen Lebens, 
das Verhalten und Treiben der Umgebung usw., die an sich nichts 
mit dem iiberwertig betonten Inhalt zu schaffen haben, werden 
unter dessen dominierendem Einflusse leicht in irgendwelche Be¬ 
ziehung zu ihm gesetzt, sei es daB sie etwa falschlicherweise als 
Ursachen, sei es daB sie als Wirkungen und Folgen des iiberwertig 
betonten Komplexes aufgefaBt werden. So kommt es zu allerhand 
Beziehungskonstruktionen. Innere Beziehungen werden in die Binge 
hineingelegt oder aus ihnen herausgedeutet, die in Wirklichkeit 
gar nicht existieren. Zufalliges zeitliches oder raumliches Zu- 
sammentreffen wird in diesem Sinne gleich als innerer Zusammen- 
hang aufgefaBt, Zufall aller Art fiir Absicht gehalten. Diese Be- 
ziehungskonstruktion im Sinne der Einstellung braucht nicht direkt 
den Charakter des BeziehungswaAns zu tragen — so etwa wenn 
man, unter dem iibermaehtigen Eindruck von Kriegszustand und 
Mobilisation stehend, nun auf der StraBe oder Eisenbahn alle mog- 
lichen Vorgange und Beobachtungen ohne weiteres darauf zuriick- 
fiihrt —, aber die enge Verkniipfung, die der iiberwertige Komplex 
mit der eigenen Person zu haben pflegt, bringt es doch mit sich, 
daB es bei diesen unberechtigten Assoziationen sehr leicht zur 
Eigenbeziehung und damit zur BeziehungswaAnbildung kommt. 
So laBt z. B. die iiberwertige Vorstellung einer personlichen Ver- 
schuldung oder eines anhaftenden Makels einen gleich Verhalten 
und AeuBerungen der Umwelt damit in Zusammenhang bringen, 
wie der hart an der Grenze des Normalen noch stehende Fall des 
von iiberwertigem SchuldbewuBtsein beherrschten Onanisten zur 
Geniige lehrt*. 


Digitized by 


Gok igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



56 


B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit 


Beidieser vermehrter Beziehungssetzung derauBeren Eindriicke 
zum iiberwertigen Komplex kommt iibrigens ein Moment meist 
gleichzeitig zum Ausdruck und zur Wirksamkeit, das gleichfalls 
zu den allgemeinen Kennzeichen der Ueberwertigkeit gehort und 
daher auch im Rahmen unserer Betrachtung nicht ganz iibergangea 
werden darf, wiewohl es nicht direkt wahnbildend wirkt. Es ist jene 
Erscheinung, die man vielleicht am besten als Aktivitat der iiber- 
wertigen Idee bezeichnen kann, und die in dem von ihr ausgehenden 
starken Antrieb zur Betatigung in ihrem Sinne liegt. Diese Aktivitat 
ist natiirlich die Folge der iibergroBen Intensitat des dem Komplex 
anhaftenden Affekts und tritt daher bei alien mit ihm zusammen- 
hangenden seelischen Vorgangen — am augenfalligsten natiirlich 
beim Willensakt in dem geradezu triebartigen Drang zum Handeln 
in seinem Siime — hervor, des weiteren aber auch in der deutlichen 
Aktivitat der auf den Komplex eingestellten Aufmerksamkeit 
und des Interesses, indem diese direkt nach allem suchen, was auf 
den iiberwertigen Inhalt Bezug hat und Bezug haben konnte, 
speziell auch nach allem, was in seinem Sinne spricht, ihn bestatigt 
und sicherstellt. Ebenso gehort hierher ein geradezu aktives 
Forschen in der Vergangenheit, ein Drangen nach Riickwarts- 
revidierung der BewuBtseinsinhalte zwecks Anpassung der Er- 
innerungbestande an den Inhalt des iiberwertigen Komplexes und 
entsprechender Umgestaltung ihrer Einzelheiten. 

Auch in dem starken Drange, dem Zwange zu innerlicher Be- 
schaftigung mit der iiberwertigen Idee, zum Nachdenken iiber sie 
und Weiterdenken, sei es auch in griiblerisch-nutz- und abschluB- 
losem, kommt diese aktive Wirkungskraft der Ueberwertigkeit zum 
Ausdruck. In unserem Bereich der Tendenz zu Beziehungskon- 
struktionen drangt nun die Aktivitat der iiberwertigen Vor- 
stellungen zu direktem Suchen nach etwaigen Beziehungen. Die 
Person betrachtet, beachtet, beobachtet bewuBt die Umgebung 
daraufhin, ob dieser etwa irgendwelche Beziehung zu den in Be- 
tracht kommenden Erscheinungen anzumerken ist, ob sie z. B., 
was jeden in Beziehungen zu anderen Menschen Stehenden natur- 
gemaB besonders interessieren muB, dazu irgendwie Stellung ge- 
nommen hat. 

Dieser Aktivitat des iiberwertigen Komplexes bei der asso- 
ziativen Tatigkeit und speziell der Urteils- und SchluBbildung ist es 
wohl mit zuzuschreiben, wenndiegeistige Verarbeitung vielfach nicht 
sowohl langsam, allmahlich, systematisch fortschreitend, als viel- 
mehr unvermittelt, impulsiv, schnell und sprunghaft nach Art eines 
Kurzschlusses vor sich geht und man also auf ein plotzliches, ein- 
fallsweises Erkennen des vermeintlichen Zusammenhanges, ein 
plotzliches Klarsehen im Sinne der iiberw r ertigen Idee u. dgl. stoBt. 

Weiter ergibt sich aus der Einstellung auf den iiberwertigen 
Komplex und aus seinem beherrschenden Uebergewicht im Asso- 
ziationsgetriebe eine eigenartige Erscheinung, die uns gleichfalls 
von den sonstigen Wahnbildungen her schon langst vertraut ist: 
das Auffalligwerden und die Bedeutungssteigerung indifferenter Dinge. 


Digitized by 


>sle 


Original fro-m 

_MICH!GAN 



und Wahnbildung. 


57 

Die besondere seelische Einstellung laBt an sich belangloses, 
sonst unbeachtet und unberiicksiehtigt Gebliebenes, ganz gleich, 
ob eben wahrgenommen oder bereits der Vergangenheit zugehorig, 
sich nun besonders herausheben und verandert, speziell nicht mehr 
indifferent, erscheinen. Unter dem Scheinwerfer des iiberwertigen 
Komplexes und damit unter neuartigem und schwerwiegenden 
Gesichtspunkt betrachtet, erscheint es nun auffallender, be- 
deutungsvoller, undzwar,wie naheliegend, vor allem in dem Sinne, 
daB es bedeutungsvoile Beziehungen zu dem iiberwertigen Inhalt 
darbietet. So gewinnen — um das alte Beispiel wieder aufzu- 
nehmen — die AeuBerungen, die Mienen, das Gebaren der Um- 
gebung, mogen sie auch objektiv und damit auch fur den nicht ,,Ein- 
gestellten“ noch so unauffallig und indifferent erscheinen, fur jenen 
andem in dem Sinne Bedeutung, daB sie die innere Beschaftigung 
mit dem den iiberwertigen Vorstellungen zugrunde liegenden Vor- 
fall und die — sei es giinstige, sei es ungiinstige — Beurteilung 
desselben verraten. 

Auch fiir diese Bedeutungssteigerung indifferenter Dinge gilt 
iibrigens, was schon von den Beziehungskonstruktionen unter dem 
EinfluB beherrschender Ideen betont wurde: Sie brauchen durch- 
aus nicht zu ivahnhaften Erscheinungen fiihren. Mir selbst erschienen 
beispielsweise in den ersten Tagen und unter dem Einflusse der 
Mobilisation auf einer Eisenbahnstrecke, die ich taglich befahre, 
alle moglichen gewohnlichen Dinge, Signale, Transportmittel, kurz 
der ganze Bahnbetrieb in einer Weise auffallend und bedeutungs- 
voll verandert, wie es den tatsachlichen Verhaltnissen — davon 
konnte ich mich nachtraglich geniigend iiberzeugen — durchaus 
nicht entsprach 1 ). 

Noch eine charakteristische Erscheinung gehort in den Rahmen 
der Vorstellungs- und Urteilsfalschungen aus assoziativer Ueber- 
wertigkeit: die Nachauflen-Verlegung (Exoprojizierung Lowy) der 
eigenen auf den uberwertigen Komplex beziiglichen Oedanken. Aus 
der beherrschenden Konstellation ergibt sich ja ohne weiteres 
die unwillkiirliche und unbewuBte Neigung, das, was einem inner- 
lich vollig ausfiillt und beherrscht, auch den auBeren Vorgangen 
unterzulegen, die eigenen Gedanken auch fiir die Basis fremden 
Verhaltens anzusehen. Am charakteristischsten kommt dies nun 
in der Form zum Ausdruck, daB die Person meint, und aus den 
AeuBerungen, den Mienen herausliest, andere hatten von den 
DingenKenntnis, die ihr eigenes Ich so erfiillen, beschaftigten sich 
so wie sie selbst damit und nahmen dazu Stellung. Diese wahnhafte 
Auffassung diirfte also meines Erachtens nicht ohne weiteres, 
wie es wohl vielfach geschieht, als einfache Erklarungswahnidee 
zu deuten sein, zu der etwa vorausgegangene Eigenbeziehungs- 
vorstellungen den AnlaB geben. 

x ) Borihoeffer hat in einem jiingst gehaltenen Vortrage speziell auf die 
Spionenriecherei der ersten Kriegswochen als Ausdruck jener Neigung, 
harmlose Dinge im Sinne der herrschenden Idee aufzufassen und bedeu- 
tungsvoll herauszuheben, hingewiesen. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



58 


B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit 


Aus all dem Angefiihrten ist zu ersehen, daB auch die asso- 
ziative Ueberwertigkeit und gerade sie in besonders hohem MaBe 
verfalschend auf den BewuBtseinsinhalt wirkt, indem sie weit- 
gehend auf andere Vorstellungskreise iibergreift. Was diese Tendenz 
zur Erweiterung der assoziativen Beziehungen klinisch zu bedeuten 
hat, werden wir spater noch erwagen miissen. 

Zum Zwecke eines leichteren Gesamtiiberblickes liber die 
verschiedenen aus pathologischer Ueberwertigkeit hervorgehenden 
wahnbildenden Rrafte seien zum Schlusse noch einmal die Haupt- 
formen dieser Ueberwertigkeit mit ihren psychopathologischen 
Begleit- und Folgeerscheinungen kurz zusammengestellt: 

1. Aus Ueberwertigkeit im Wertungsbereiehe sich ergebend: 

Unberechtigte Ueberschdtzung von Wert und Bedeutung des 

Komplexes bei gleichzeitiger Unterschdtzung sonstiger Werte; all - 
gemeine Wertverschiebung im Sinne des iiberwertigen Komplexes , 
unrichtige Wertverteilung zu dessen Gunsten und dadurch Verlust 
des wertenden Augenmafies fur alle Dinge und der Fahigkeit zu 
richtiger Einschatzung von Wert und Bedeutung der Erscheinungen 
der Umgebung und der personlichen Beziehungen zu ihnen; Wert - 
uberschdtzung des eigenen Ichs durch Identifikation der eigenen Per¬ 
son mit dem iiberwertigen Komplex und als dessen natiirlicher Aus- 
druck im Vorstellungsleben Grofienwahn; Erklarungsivahnideen 
speziell im Sinne der Beeintrdchtigung infolge des Widerspruchs 
zwischen iibertriebener Selbst- und geringer Fremdeinschatzung 
resp. objektivem Verhalten der Umwelt. 

2. Aus Ueberwertigkeit in logischer Beziehung: 

Unberechtigte Steigerung des WirklichkeitsWahrheits- und 

Richtigkeitswertes und der hgischen Geltungskraft des uberwertigen 
Komplexes und der ihm entsprechenden Vorstellungen bei gleich¬ 
zeitiger Herabsetzung der logischen Wertigkeit der Gegenvorstellungen; 
daraus hervorgehend herabgesetzte Korrekturfahigkeit der iiber¬ 
wertigen Vorstellungen; Einsichtslosigkeit in ihre Mangel und Ver- 
standnislosigkeit fur das Gewicht widersprechender Tatsachen; 
unberechtigtes Uebergewicht des iiberwertigen Komplexes im Rahmen 
der Gesamterfahrung, daher Ausgestaltung , Orientierung und Re - 
vidierung des gesamten Erfahrungsmaterials (des Neuerwerbs wie des 
alten Besitzstands) im Sinne der iiberwertigen Vorstellungen (lo- 
gisches Delirium; positive und negative Erinnerungsfalschungen 
usw.). 

3. Aus assoziativer Ueberwertigkeit: 

Einengung des Assoziationsbereichs zugunsten des iiberwertigen 
Komplexes durch Auswahl der Assoziationen in dessem Sinne 
(Forderung der adaquaten, Fernhaltung der Gegenvorstellungen); 
daraus wieder hervorgehend Herabsetzung der Korrekturmoglich - 
keiten und Verstarkung der Ueberzeugungskraft der iiberwertigen Idee; 
unberechtigtes Uebergewicht des iiberwertigen Komplexes bei jeder 
Art geistiger Tatigkeit , daher Wahmehmungs-, Auffassungs-, 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


59 


Urteils- und Erinnerungsfalschungen im Sinne und zugunsten der 
iiberwertigen Idee; Erweiterung der assoziativen Beziehungen durch 
unberechtigte Beziehungskonstruktionen (vermehrte Eigenbezie- 
hungen. Beziehungswahn), Bedeutungssteigerung indifferenter Dinge, 
Auflenprojizierung der eigenen seelischen Inhalte . 

Aktivitdt des iiberwertigen Komplexes bei der assoziativen 
Tfttigkeit (Suchen im Sinne der herrschenden Idee). 

Aus dieser Zusammenstellung geht als wichtigstes und fur 
unsere weiteren Erorterungen grundlegendes Ergebnis unverkenn- 
bar hervor, daB die Ueberwerfcigkeit der Vorstellungen vermoge der 
ihr innewohnenden gesteigerten (logischen, assoziativen usw.) 
Geltungskraft an sich geniigt, um von sieh aus, ohne weitere Mit- 
wirkung besonderer Hilfskrafte, Wahnmechanismen und Wahn- 
vorgange der verschiedensten Art hervorzurufen. Das kann nicht 
weiter wundemehmen, wenn man sich erinnert, daB diese Ueber- 
wertigkeit zum gut Teil die gleichen Erscheinungen mit sich fiihrt, 
die iiberhaupt den Wahnbildungen zugrunde liegen. In dieser 
Hinsicht ist besonders auf das im schon Wesen der Ueberwertigkeit 
liegende Uebergewicht gewisser Gefiihlsbetonungen hinzuweisen, 
dessen Bedeutung fiir die paranoischen Prozesse schon langst an- 
erkannt ist. So leitet Moeli die Wahnbildungen der Paranoia 
geradezu von einer ,,auf einseitiges Ueberwiegen bestimmter Ge- 
fiihlstatigkeit zuruckzufiihrende Beschrankung der Gedanken- 
bewegung“ ab. (Diskuss.-Bem. in allgem. Ztschr. f. Psych. Bd. 51). 

DaB die genannten drei wahnbildenden Krafte der Ueber¬ 
wertigkeit nicht allesamt in jedem einzelnen Falle von iiberwertigen 
Vorstellungen ausgepragt und vertreten zu sein brauchen, daB 
sie auch vereinzelt vorkommen konnen, bedarf wohl keiner weiteren 
Erwahnung. Natiirlich sind die Bedingungen fur eine Stabilisierung 
der iiberwertigen Idee, fiir eine Fixierung ihres hohen Realitats- 
werts, sowie fiir eine Steigerung ihrer logischen und assoziativen 
Wirkungskraft und damit fiir einen WahnprozeB am giinstigsten, 
wenn gleichzeitig alle drei Ueberwertigkeitsfunktionen wirksam 
sind und so von verschiedenen Seiten her gleichzeitig im Sinne der 
Wahnbildung gearbeitet wird. 

Das klinische Bild der Ueberwertigkeitswahnpsychosen. 

Bevor nun nach diesen psychologischen Vorbemerkungen in 
der Erorterang fortgeschritten und auf spezielle klinische Fragen 
naher eingegangen wird, erscheint es zweckmaBig zunachst erst 
einmal an der Hand von Beispielen die dargestellten psycholo¬ 
gischen Zusammenhange zu veranschaulichen und die entworfenen 
Anschauungen von den Ueberwertigkeit8tvah?ibildungen im Rahmen 
klinischer Bilder auf ihre Richtigkeit hin zu priifen. Da es hierbei 
vor allem auch darauf ankommt, der Mannigfaltigkeit der in praxi 
vorkommenden Krankheitsbilder nach Moglichkeit gerecht zu 
werden, so sind, soweit erforderlich, auch fremde Beobachtungen 
mit herangezogen. Die Darstellung verzichtet natiirlich entsprechend 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



60 


B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit 


Digitized by 


der hier gestellten Aufgabe auf die Schilderung aller vcrhandenen 
Details und beschrankt sich auf die Heraushebung der fur die Frage 
der Ueberwertigkeit und der Ueberwertigkeitswahnbildungen in 
Betracht kommenden Punkte. Die Falle selbst sind nun nicht mehr 
gruppiert nach den bisher festgehaltenen allgemeinen psycholo- 
gischen Gesichtspunkten, sondem mehr nach aufierlichen (auf den 
speziellen Inhalt beziiglichen), wie sie nun einmal in der Klinik der 
Wahnprozesse immer noch iiblich sind. Das erleichtert die An- 
kniipfung naheliegender klinischer Fragen und Betrachtungen 
erheblich, wahrend umgekehrt eine Gruppierung nach dem vorher 
benutzten psychologischen Schema wegen der groBeren Kom- 
pliziertheit der in praxi vorkommenden Falle, des verwickelten 
Zusammenwirkens und Ineinandergreifens der verschiedenen Seiten 
der Ueberwertigkeit sowie des Hineinspielens anderer psychischer 
Faktoren auf gewisse Schwierigkeiten stcBen wiirde. 

Die einfachsten und am leichtesten zu iibersehenden Falle von 
abnormer Ueberwertigkeit sind die, bei denen bestimmte Werte 
irgendwelcher Art, die in Erfindungs- Re form ideen u. dgl. Vcr- 
stellungskomplexen niedergelegt sind, eine pathologische Ueber- 
betonung aufweisen. Reine Falle dieser Art sind durchaus nicht so 
haufig, wie die Zahl der pathologischen Erfinder, Religionsstifter 
und sonstigen Weltverbesserer erwarten lieBe. Koppen hat einen 
solchen hierhergehorigen Fall publiziert 1 ). 

Es handelt sich um einen erblich nicht belasteten Menschen, einen 
einfachen Schuster, der still fiir sich gelebt, viel Versammlungen besucht 
und viel gelesen hatte. Dadurch war er mit den modernen Friedensideen 
in Beriihrung gekommen, hatte diese in sich aufgenommen und war nun so 
in ihren Bann geraten, daJ3 er, ganz von ihnen erfiillt, sie in wichtigen 
Lebensfragen zur entscheidenden Richtschnur nahm. Als er seinen militari- 
schen Dienstverpflichtmigen nachkommen sollte, verweigerte er dies unter 
dem Einflu# der iiberwertigen Ueberzeugung von der ITngerechtigkeit der 
Kriege und lie# sich auch durch die unvermeidliche Bestrafung nicht von 
von dieser die eigenen Interessen schwer schadigenden Stellungnahme 
abbringen. Abgesehen von diesem ihn beherrschenden ungewohnlichen 
Standpunkt war er frei von falschen Anschauungen, sowohl im allgemeinen, 
wie speziell hinsichtlich seiner personlichen Beziehungen zur Umwelt. 

Ich ziehe den Fall, der allerdings gerade die fur uns wesentliche 
Beziehung zur Wahnbildung nicht aufweist, aus verschiedenen 
Griinden heran. Er zeigt zunachst das Vorkommen von iiber- 
werfcigen Vorstellungen, die in keiner Weise wahnhaften Inhalt 
ha ben, im Gegenteil inhaltlich sogar eher als richtig resp. bereehtigt 
bezeichnet werden dxirfen, und an die sich auch weiter keine Wahn- 
bildungen anschliefien. Auf der anderen Seite lafit sich das, worauf 
es uns hier ankommt, leicht ableiten. An Stelle der inhaltlich rich- 
tigen, liefien sich, sofem es sich um einen exaltierteren, unklareren 

x ) Charit6-Annalen. Bd. 29. — Ein anderer von Koppen heran- 
gezogener Fall eines geLsteskranken Erfinders (Allgem. Ztschr. f. Psych., 
Bd. 51, ausfuhrlich in der Gutachtensammlung aus der Kgl. Charity, Berlin 
1904) gehort wohl niclit hierher. Es handelt sich um induzierte Erfindungs- 
ideen eines erheblich Schwachsinnigen, der eine psychogene Haftpsychose 
mit Beeintr&chtigungs- und Grofienwahnideen darbot. 


Got igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


61 


Menschen handelte, sehr wohl solche wahnhaften Inhalts, un- 
wahrscheinliche, unmogliche, unsinnige Erfindungs-Reform- usw. 
Ideen denken, und sie wiirden bei gleicher iiberwertiger Betonung 
denselben unerschiitterlichen, korrekturunfahigen Realitats- und 
Richtigkeits wert erhalten. Und zur Herbeifiihrung der sekundaren 
Wahngebilde brauchte man sozusagen nur die naheliegende 
logische Konsequenz aus der iiberwerfcigen Ueberzeugung zu ziehen, 
die in anderen Fallen von dem Trager selbst gezogen zu werden 
pflegt, in diesem Falle aber — wohl wegen der noch halbwegs gluck- 
lich equilibrierten seelischen Veranlagung, vielleicht auch der aus- 
reichenden Urteilsfahigkeit — ausblieb. Aus der Wertiiberschatzung 
des iiberwertigen Lebensinhaltes ergabe sich dann in folgeriehtiger 
Weiterentwicklung eine analoge Ueberschatzung der eigenen 
Person, die sich mit der Idee identifiziert, der GroBenwahn, Trager 
eiher bedeutenden Mission, einer wertvollen Lebensaufgabe, ev. 
auch Martyrer fur eine groBe Idee, die Abriistungs- und Welt- 
friedensidee, zu sein, und die Diskrepanz zwischen eigener Selbst- 
einschatzung und Bewertung des eigenen Tuns und fremder Be- 
urteilung und Stellungnahme sowie die daraus hervorgehenden 
Konflikte erzeugten weiter mit ebensolcher psychologischer Folge- 
richtigkeit den Beeintrachtigungswahn, der sich in der oben ge- 
kennzeichneten Situation zu Unrecht best raft, ungerecht verfolgt 
glauben wiirde. 

So ist die psychologische Struktur der pathologischen Er- 
finder, Reformatoren usw. im allgemeinen iibrigens nicht. Bei ihnen 
handelt es sich gewohnlich um psychopathische Naturen, bei denen 
das Primdre nicht die iiberwertige Betonung des betreffenden Inhalts , 
sondern ein abnormes PersonlichkeitsgefuM , eine maBlos gesteigerte 
Ichbetonung bildet. Diese ist es, die die krankhafte Selbstiiber- 
schatzung, den GroBenwahn nach sich zieht, und erst von ihr aus 
kommt es zur iibertriebenen Einschatzung des betreffenden Ideen- 
komplexes, indem alles, was zu dem Ich in Beziehung tritt, resp. 
gesetzt wird, entsprechend iibermaBig betont und in seinem Werte 
iiberschatzt wird. ^ 

Der nachste Fall zeigt die einfachste Form aus der wichtigsten 
Gruppe der Ueberwerfcigkeitswahnbildungen, der querulatorischen . 

(Eigener Fall.) Ein ungebildeter, geistig beschrankter und sehr leicht 
reizbarer Mensch, Bergwerksarbeiter, war schon auf friiheren Arbeitsstellen 
dadurch aufgefalien, da]3 er sich bei geringfiigigem Anled3 ohne Schuld 
schlecht behandelt und im Verdienst zuriickgasetzt glaubte. Eine Gefangnis- 
strafe, die er gelegentlich w^egen einer Mii3handlung eines Obermeisters 
bekam — er hatte sich von diesem ohne objektiven Grund benachteiligt 
geglaubt — empfand er gleichfalls als ein schweres ihm zugefiigtes Unrecht, 
fiber das er innerlich nicht hinwegkam. Wie er selbst angab, war ihm 
danach alles zu wider, das ganze Leben war ihm d&hin, er hatte keine Ruhe 
mehr, lief von einer Stelle zur andern, weinte nachtelang, konnte mit keinem 
Menschen mehr sprechen usw., weil er immer wieder an das ihm angetane 
Unrecht denken muBte. 

Spaterhin kam es nun zu einem Vorfall, der fthnlich, nur noch starker, 
auf ihn wirkte. Wegen eines Kontraktbruehs bekam er von dem Betriebs- 
fiihrer der Zeche^ auf der er arbeitete, den Lohn fiir einige Tage Arbeit 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



62 


Bimbaum, Pathol ogisc he Uoberwertigkeit 


Digitized by 


statutenmaBig abgezogen. Bei seiner beschrankten Urteilskraft vermochte 
er das Berechtigte dieser Mafiregel nicht zu fassen, er konnte es nicht ver- 
stehen, daft einem der verdiente Lohn fiir seine Arbeit vorenthalten werden 
konne, und geriet nun dariiber in hochgradige innere Erregung. Er wurde 
wieder unruhig und unfahig zu arbeiten und zu schlafen. Standig qualte 
ihn der Gedanke, daJ3 er zu seinem rechtmaBig erworbenen Geld kommen 
miisse. Fiir die Aufklarung von seiten des Gewerbegerichts, daB die von 
ihm beabsichtigte Klage aussichtslos sei, hatte er kein Verstandnis, im 
Gegenteil, seine Erregung und Unruhe wuchsen dadurch noch. Unerschutter- 
lich setzte sich in ihm die Ueberzeugung fest, der Betriebsfuhrer, der die 
Auszahlung verweigert hatte, sei an der unrecht maBigen Vorenthaltung 
des Lohnes schuld und dafiir verantwortlich, und an ihm miisse er fiir das 
ihm angetane Unrecht Rache nehmen. Er erklarte selbst, sein Leben sei 
vergiftet, und er konne nicht eher ruhen, bis er sich geracht habe. Er 
suchte dann den Betriebsfuhrer auf und schoB ihn nieder. 

Die iiberwertige Idee, die Ueberzeugung, der Beamte habe 
ihm ein Unrecht angetan, ist in diesem Falle als eine wahnhafte ?u 
bezeichnen. Diese Falschanschauung ist lediglich aus der Urteils- 
unfahigkeit und der allgemeinen Neigung sich bei jeder Gelegen- 
heit beeintrachtigt zu fiihlen hervorgegangen. Die iiberwertige 
Affektbetonung hat mit der Beeintrachtigungswahnidee nur in- 
soweit zu tun, als sie ihr unkorrigierbaren Realitatswert verleiht. 
Dariiber hinaus erzeugt sie dann allerdings ncch den iiberwertigen 
Rachegedanken, der die Person vollig beherrscht, nicht mehr los- 
laBt und riicksichtslos aggressiv vorwarts treibt. Eine konsekutive 
Wahnbildung im Sinne der iiberwertigen Vorstellung fehlt hier ganz, 
es besteht tatsachlich nur die eine zirkumskripte ,,fixe u Idee, 
in der man die ganze Autopsychose sehen kann, sofem man die 
auBerhalb des eigentlichen Krankheitsbildes liegenden abnormen 
Ziige des Habitualzustandes vernachlassigt. Die enge Umgrenztheit 
des Wahninhalts entspricht der Begrenztheit des affektvollen 
Erlebnisses, das sich inhaltlich auf einen engen Kreis von person- 
lichen Beziehungen beschrankt. Klinisch entspricht das Bild 
am meisten gewissen Persecutes persecuteurs Magnans. 

Von besonderer Bedeutung, weil bezeichnend fiir den engen 
Zusammenhang der iiberwertigen Idee mit der Charaktereigenart 
ist hier noch die aus dem Vorleben einwandfrei nachweisbare 
habituelle Neigung zu wahnhaften Beeintrachtigungsideen und 
vor allem zu iiberwertiger Betonung dieser Inhalte. 

Der folgende Fall von querulatorischer Wahnbildung aus iiber¬ 
wertiger Idee ist durch seinen progressives, Charakter ausgezeichnet. 
Er stimmt im wesentlichen mit den iiblichen Fallen von Queru- 
lantenwahn iiherein. 

(Eigener Fall.) Der Produktenhandler W., ein von jeher leicht erreg- 
barer, aufbrausender und gewalttatiger Mensch, ist schon wiederholt mit 
der Polizei in Konflikt- geraten, wobei er sich schon verschiedentlich zu 
Unrecht bestraft und absichtlich schikaniert- glaubte. Da er infolge seines 
Alteisenhandels und der unordentlichen Fiihrung seines Trodelbuches 
polizeilich besonders scharf in seinem Geschaftsbetrieb iiberwacht werden 
muBte und auch mehrfach Strafmandate erhielt, so wurde er in der Ueber¬ 
zeugung von absiclitlichen polizeilielien Schikanen noch bestarkt. 

Schon von vornherein in dieser schiefen Auffassung befangen, wurde 
er zu allem Ungluck noch von einem Vorkommnis betroffen, das ihn be- 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


63 


sonders stark und dauernd erregte, und iiber das er infolge der bestehenden 
besonderen seelischen Verfassung nicht so leicht hinwegkommen konnte: 
Ein fremder Mann fuhr einmal mit seinem (W.s) unbeaufsichtigt dastehenden 
Fuhrwerk davon. W. nahm den Dieb fest und brachte ihn zur Polizei. 
Da festgestellt wurde, daB nicht Diebstahl, sondern grober Unfug vorlag, 
wurde jener von dort wieder entlassen und kam spater mit einer geringen 
Strafe davon. Diese Sache mit dem ,,Pferdedieb“ gewann nun eine ganz 
iibermaBige Bedeutung in W.s seelischem Leben und verlieh seiner Ansicht 
von der ungerechten Behandlung durch die Polizei voile GewiBheit und 
iibermaBiges Schwergewicht. Von dieser Ueberzeugung beherrscht, ging er 
nun in Wort und Schrift aggressiv gegen die Polizei vor, wobei der Kern- 
punkt seiner Angriffe im wesentlichen immer wieder der war, daB die Polizei 
Unschuldige verfolge, Diebe aber laufen lasse. Er zog sich schlieBlich eine 
ganze Anzahl Anklagen durch sein rabiates und bedrohliches Treiben zu 
und wurde nun wegen seines auffallenden Verhaltens zur Beobachtung 
seines Geisteszustandes in eine Irrenklinik geschickt. Hier brachte er 
immer wieder seine alten Ansichten vor, daB die Polizei ihn schikaniere, 
warf ihr immer wieder vor, daB sie den Pferdedieb freigelassen habe und 
erklarte sogar, sie stecke mit jenem unter einer Decke. Auch den Aufenthalt 
in der Klinik deutete er in dem gleichen Sinne als beabsichtigte polizeiliche 
Schikane. Auch die Gerichte nahmen die Polizei in Schutz und gaben ihm 
unrecht. Spater nach 51 StGB. freigesprochen und einer Irrenanstalt 
iiberwiesen, brachte er die gleichen AeuBerungen wie vorher vor und er¬ 
klarte, die Polizei habe ihn widerrechtlich interniert, weil sie die Klage 
gegen ihn verloren habe. Auch die Irrenarzte, der Direktor und der Anstalts- 
geistliche seien an dem Komplott beteiligt, das die Polizei gegen ihn ge- 
richtet habe. Die Aerzte und Gerichtsbeamten, die bei seiner Entmiindigung 
mitwirkten, erklarte er fur ein Verbrechervierblatt, die einen Meineid be- 
gingen, indem sie ihn fur geisteskrank erklarten. Auch blieb er unbelehrbar 
dabei, er habe nur sein gutes Recht verteidigt, ihm dagegen sei unrecht 
geechehen, und in der Irrenanstalt sei er mundtot gemacht worden. Tat- 
sachen der Vergangenheit st elite er mit unverkennbaren Erinnerungs- 
falschungen und Falschdeutungen im Sinne seiner iiberwertigen Vor- 
stellungen dar: Der ihn seinerzeit begutachtende Arzt habe in der Ver- 
handlung gesagt, es sei bedauerlich, daB der Pferdedieb nicht verurteilt 
sei; das Gericht habe ihn freigesprochen, weil er in seinem Rechte sei; 
entmundigt sei er, weil sie ihm auf dem Gericht nicht die Entschadigung 
auszahlen wollten usw. 

In diesem Fall© bestand schon langere Zeit infolge einer patho- 
logischen Affektveranlagung und gewisser Dauerreize eine wahn- 
hafte Auffassung im Sinne des rechtlichen Beeintrachtigungs- 
wahns, aber eigentlich erst das besonders erregende Erlebnis ana- 
logen Inhalts machte diesen Vorstellungskomplex zum domi- 
nierenden und zur unerschiitterlichen Grundlage fur die Verar- 
beitung jeder weiteren Erfahrung. Auffassungs- und Erinnerungs- 
falschungen, Fehldeutungen und Fehlerklarungen im Sinne der 
beherrschenden Ueberzeugung, fiihrten dann neben der Tendenz, 
jeden neuen Vorgang in inner© Beziehung zu dem vorherrschenden 
Gedankenkomplex zu setzen, die progressive Ausbreitung des 
Wahnprozesses herbei. 

DaB in diesen Fallen von Querulantenwahn aus xiberwertiger 
Idee selbst die Wahnrichtung durchaus nicht so eindeutig im Sinne 
der rechtlichen Beeintrachtigung festgelegt ist, wie es nach den all- 
gemeinen Erfahrungen scheinen konnte, und nach der Krankheits- 
bezeichnung selbstverstandlich sein miiBte, zeigt der folgende Fall, 
der deshalb prinzipielle Bedeutung beanspruchen darf. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



64 


Birnbaum, Pathologisch© Ueberwertigkeit 


Digitized by 


(Eigener Fall.) 54 jahriger Schiffskapitan, aus dessen Vorleben in 
psychopathologischer Hinsicht vor den hier in Betracht kommenden Vor- 
gangen nicht s Wesentliches bekannt geworden ist, war vor 11 Jahren dnrch 
eine Anordnung auf hoher See, die einem Matrosen das Leben kostete, mit 
seiner Mannscliaft in Differenzen geraten und hatte dann durch ein teils 
unglaublich kindisches, teils unverantwortlich bedrohliches Verhalten, das 
sogar den Verdacht auf Geistesstorung wachrief, die Disziplin auf dem 
Schiffe vollig untergraben. Auf die Beschwerde der Mannschaft hin wurde 
er infolgedessen von einem deutschen Konsul in Ostasien von seiner Stellung 
abgesetzt. Er geriet dadurch in eine sehr schwierige Lage, bekam keine 
rechte Dauerstellung mehr, kam wirtschaftlich in Not und hatte auch 
gesundheitlich schwer zu leiden. In seiner Mittellosigkeit suchte er schliefilich 
eine Arbeiterkolonie auf, wo er nun jahrelang blieb. Die Erinnerung an 
die erfolgte Absetzung hatte ihn aber all die Jahre hindurch nicht verlassen. 
Er empfand sie dauernd als ein schweres ihm angetanes Unrecht und kam 
um so weniger dariiber hinweg, als er dadurch zugleich existenzlos geworden 
war. Er kampfte dagegen mit alien Mitteln an, verfafite zahlreiche Ein- 
gaben, Antrage und Beschwerden an Gerichte und andere Behorden, unter 
anderem einen „Hilferuf eines deutschen Seemanns an den Reichstag 44 , in 
denen er immer wieder betonte, daJ3 ihm Unrecht geschehen, er ungerecht- 
fertigt als Kapitan abgesetzt worden sei, und Klage liber die Verurteilung 
fiihrte. Er erklarte, er erkenne die Absetzung nicht an, bestreite die Wahr- 
heit mid Echtheit der Akten und Zeugenaussagen, es seien Sehiebungen 
zugunsten des Steuermanns vorgenommen usw. Mit seinen Eingaben, die 
er auch in der Arbeiterkolonie fortsetzte, wurde er jedoch immer wieder 
abgewiesen, und da er schliefllich die Erfolglosigkeit seiner Bemiihungen 
um Aenderung seiner Lage erkennen muflt e, und die Sorge um die Zukunft 
auf ihn lastete, kam er auf Selbstmordgedanken und aufierte solche auch. 
Er wurde deswegen nun nach ziemlich sechsjahrigem Aufenthalt in der 
Arbeiterkolonie in die Irrenanstalt liberwiesen. 

Auch hier hielt er in der Folgezeit an der Ueberzeugung, daJ3 ihm 
schweres Unrecht zugefiigt sei, und da# ihm, wenn ihm nur die Klage- 
erhebung gelange, kein Gericht der Welt verurteilen konne, unerschiitter- 
lich, fest und liej3 sich auch von dem Gedanken, mit alien nur denkbaren 
Mitteln seiner gerechten Sache zum Siege zu verhelfen, nicht abbringen. 
Ebenso brachte er auch die an die Absetzung gekniipften Beeintrachtigungs- 
wahnvorstellungen und Erklarungswahnideen in gleicher Weise und mit 
gleicher Ueberzeugungsfestigkeit vor: Der Konsul habe eine fahrlassige, 
ja sogar arglistige Rechtsbeugung begangen, indem or ihn auf die Aussagen 
teils miCgiinstiger, teils gemeingefahrlicher Schiffsleute aufier Brot und 
Lohn brachte. Weil er am Tatort unbequem war, und man einen Skandal 
durch Aufdeckung der schlechten Verlialtnisse an Bord vermeiden wollte, 
habe man ihn als geisteskrank hingestellt und abgeschoben. Die Regierung 
wage nicht, aus Furcht, ihre Autoritat konne leiden, das gescheheneUnrecht 
wieder gutzumaehen usw. 

Neben diesen einwandfrei querulatorischen Wahnideen kam nun aber 
von der Zeit des Irrenanstaltsaufenthalts an eine ganz neue und eigenartige 
Note in seine Gedankenwelt hinein. Die Ueberweisung und den Auf ent- 
halt in der Irrenanstalt empfand er zunachst nicht, wie sonst der Querulant, 
aufs schwerste und sah darin auch nicht den Ausdruck einer ungerechten 
Behandiung und Vergewaltigung, sondern dies© Umgestaltung seiner Lage 
war ihm vielmehr recht, weil er nun einen neuen Weg sah, um zu seinem 
Rechte zu kommen. Er fa!3te jetzt die Hoffnung, die Armendirektion werde, 
um die durch ihn verursachten Kosten zuriickerstattet zu erhalten, seine 
Sache in die Hand nehmen und gegen den Konsul die Klage erheben. Diese 
Hoffnung macht ihm nun nicht nur den Anstaltsauf ent halt, den er an sich 
als einen Makel fur sein Ehrgefiihl empfindet, ertraglich und halt ihn 
innerlich aufrecht — er sagt selbst, wenn er diese Hoffnung nicht hatte, 
wiirde er sich nach der Entlassung aus der Anstalt im Auswartigen Amt 
erschiefien —, sondern sie beherrscht und bestimmt auch zugleich mit der 
iiberwertigen Ueberzeugung des ihm angetanen Unrechts seine ganze 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


65 


Digitized by 


Gedankenwelt und -richtung. Er erklart selbst, seine Sache sei nicht .aus- 
sichtslos. Das ersehe er daraus, daB die Stadt Berlin ihn in die Irrenanstalt 
geschickt habe. Die Armendirektion werde wohl die Kosten einklagen 
und das Auswartige Amt den Konsul notigen, nun endlich der Sache ein 
Ende zu machen und sich abzufinden. Die Aerzte, speziell auch der, der 
den juristisehen Teil seiner Klagesache leite (in Wirklichkeit ist von seiten 
der Anstalt in seiner Sache nicht das mindeste unternommen worden), 
flatten ihm auf das bestimmteste gesagt, daB ihm sein Recht werde. Jeder 
Arzt habe ihm versichert, daB seine Sache gut stiinde, und er fur sie eintreten 
werde. ,,Wer die ProzeBsache unter dem Schutze der Aerzte fiihrt, der fahrt 
gut“, ist seine ausdriieklielie Ueberzeugung. Die Akten seien von der 
Direktion eingefordert, sie wdirden von den Aerzten, dem Direktor an der 
Spitze, gepriift, und dann wiirde ein Gutachten abgegeben, auf Grund 
dessen der Konsul bezahlen miisse. Es sei ein teurer SpaB fiir jenen, denn 
er werde eine hohe Entschadigung fordern usw. 

Einwande des Arztes, daB man seine Sache auch anders, weniger 
giinstig, und so, wie sie in den Akten stehe, ansehen konne, und er sie auch 
so ansehe, laBt, er nicht gelten: er wisse genau, daB man ihm recht gebe, 
jeder verniinftige Mensch miisse ihm recht geben. Auch der Arzt stimme 
ganz gewiB in seiner Meinung mit ihm iiberein, und er sage das nur, um 
ihn zu prufen. Die Zeit in der Irrenanstalt erklart er fiir lediglich eine 
Probezeit. Die Angelegenheit selbst schatzt er sehr hoch ein und meint, 
sie sei auch fiir die Allgemeinheit von groBer Wichtigkeit. Nachtraglich 
bringt er nun auch AeuBerungen vor, die angeblich friiher autoritative 
Personen in seiner Sache getan hatten, w’obei sie einen ahnlichen giinstigen 
Standpunkt vertreten haben sollen: So habe beispieLsweise der Vorsitzende 
vom Seeamt gesagt: ,,Kapitan, verlassen Sie sich auf mich, ich wdll Ihre 
Ehre wiederherstellen“, und den iibrigen Beisitzern erklarte er: ,,Zur Be- 
kampfung auBergewohnlicher Sachen gebraucht man auBergewohnliche 
Mittel“ usw. 

Diese Anschauungen vertritt Pat. immer wieder mit lebhafter Be- 
tonung. Irgendw^elche Abschw T achungen der intellektuellen Fahigkeiten 
oder GefiihLsanderungen und -mangel sind bei ihm nicht aufgetreten. 

Der Fall gewinnt, wie ohne weiteres zu ersehen ist, durch das 
Hineinspielen, ja schlieBlich sogar Vorherrschen von Wahn- 
gebilden Bedeutung, die sonst dem Bilde des Querulantenwahns 
fremd zu sein pflegen. Zunachst bietet die Erkrankung nichts, was 
aus dem Rahmen des Beeintrachtigungswahns aus querulatorischer 
Ueberwertigkeit hinausfiele. Als Ausgangspunkt, wie immer, die 
iiberwertige Ueberzeugung von dem ihm angetanen Unreeht und 
daraus hervorgehend dann die entsprechenden Falschdeutungen, 
Erklarungswahmdeen, Erinnerungsfalschungen usw. Es bleibt 
aber nicht dabei, und der Uebergang in ein neues Milieu, die Irren¬ 
anstalt, bedeutet in dieser Beziehung einen Wendepunkt in der 
Wahnrichtung. An Stelle des — richtiger allerdings wohl neben 
den — bisherigen rechtlichen Beeintrachtigungswahn tritt nun 
ein ganz andersgerichteter, den man umgekehrt als rechtlichen 
Forderungsivahn bezeichnen muB. Alles, was nun geschieht, wird 
nun nicht mehr in dem Sinne weiterer Benachteiligung aufgefaBt 
(die Aerzte stecken durchaus nicht wde sonst beim Querulanten- 
wahn mit den Behorden unter einer Decke, so wenig wie man ihn 
in die Irrenanstalt gebracht hat, um ihn unschadlich zu machen), 
sondern im Gegenteil, alles was von fremder Seite ausgeht (Irren¬ 
anstalt siiberweisung, arztliche MaBnahmen usw.) geschieht zu 
seinen Gunsten und seinem Nutzen, dient dazu, ihm zu seinem 

Monateachrift f. Paychiatrie u. Neurol ogle. Bd. XXXVII. Heft 1. 5 J 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



66 B i r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeit 

Rechte zu verhelfen. Die Gnindlage fur diese andersgerichteten 
Wahngebilde geben wiederum (iberwertige Vorstellungen ab, und 
zwar sind es diesmal iiberwertige Hoffnungen , die durch die ver- 
anderte Situation angeregt wurden und die nun ebenso wie vorher 
die iiberwertigen querulatorischen Ideen zu festen Ueberzeugungen, 
zu unumstoBlichen Voraussetzungen fiir jede weitere Erfahrung 
werden, Wahrnehmungen, Auffassungen und Erinnerungen nun 
in ihrem Sinne falschen usw. 

Nebenbei bemerkt tritt iibrigens in diesem Falle auch die aus 
der Ueberwertigkeit des persordichen Reehtsanspruehs sich er- 
gebende Ueberschatzung der Bedeutung des eigenen Kampfs unis 
Recht hervor, wie sie aus der Ueberzeugung von der Wichtigkeit 
der eigenen Saehe fiir die Allgemeinheit spricht. 

Was aus diesem Fall nun als allgemeines prinzipiell wichtiges 
Ergebnis zu entnehmen ist, ist die Erkenntnis, daB der Queru- 
lantenwahn aus iiberwertiger Idee durchaus nicht mit Natur- 
notwendigkeit zu demublichenSymptomenbildundVerlauf kommt, 
sondem daB die Wahnrichtung von auBeren Einfliissen mitbe- 
stimmt wird und daher mit deren Aenderung gelegentlich iiber- 
raschend umschlagen kann. Merkwiirdig ist dabei nur, daB ein- 
ander so vollig widersprechende Wahngebilde, wie hier der recht- 
liche Beeintrachtigungswahn auf der einen, der Forderungswahn 
auf der anderen Seite, nicht nur ohne weiteres auf dem gleichen 
psychischen Boden sich nacheinander entwickeln, sondern sogar 
nebeneinander ungestort bestehen bleiben und sich vertragen 
konnen. Es bedarf wohl nicht erst noch besonderer Hervor- 
hebung, daB nichts an dem Krankheitsbilde dafiir sprach, daB 
das Auftreten der Forderungswahnideen hier etwa die Bedeutung 
eines den geistigen Zerfall einleitenden Symptomes hat. 

Aus den angefiihrten drei Fallen kann man ersehen, wie eng 
auBerlich differente Wahnbildungen: fixe Idee querulatorischen 
Inhalts, progressiver querulatorischer WahnprozeB und querula- 
torischer Beeintrachtigungswahn mit anschliefiendem rechtlichem 
Forderungswahn ihrem Wesen nach zusammengehoren konnen und 
wie vorsichtig man in dieser Hinsicht mit der Zuteilung zu diffe- 
renten Krankheitstypen sein muB. Selbstverstandlich soli damit 
nicht in Abrede gestellt werden, daB es Formen von Querulanten- 
wahn gibt, die durchaus nicht wie die hier erorterten scheinbar 
verschiedenartigen Falle von iiberwertigen Vorstellungen ihren 
Ausgang nehmen, also ihrem Mechanismus und Charakter nach zu 
anderen Typen gehoren. 

Zweifellos ist es nun aber, daB gerade querulatorisch-wahnhafte 
Symptome im Rahmen der Ueberwertigkeitserscheinungen sehr 
hS,ufig sind und eine ungemein groBe Rolle spielen. Das beruht 
wohl nur zum Teil auf der von Wernicke betonten groBen Bedeu¬ 
tung, die die Rechtsvorstellungen im sozialen Leben im allgemeinen 
haben, vor allem doch wohl auf der natiirlichen menschlichen — und 
bei den hier in Betracht kommenden psychopathischen Charakteren 
besonders ausgesprochenen — Neigung alles zur eigenen Person in 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


67 


Digitized by 


Beziehung Stehende besonders stark zu betonen. So kommt ©s 
nur zu leicht — auch unter Verhaltnissen, wo eigentlich© Rechts- 
beziehungen nicht in Frag© kommen — zur U©b©rschatzung d©r 
personlichen Anrecht©, Anspriiche, Berechtigungen und durch iib©r- 
mafiig© Betonung derselben zu querulatorischen Symptomen. 

Di© Bild©r, auf d©r©n Untergrund sich dies© querulatorischen 
Erscheinungen erheben, konnen ganz verschieden aussehen. Nicht 
selten liegen ihnen erotische Ueberwertigkeiten zugrund©. 

[Fall von Kahlbaitm 1 )]. N., 35 jahriger Photograph, exzentrisch- 
psychopathischer Charakter, der sich durch vielseitige, speziell philo- 
sophiscne Lekture ©ine gewisse hohere Bildung angeeignet hatte und infolge- 
dessen im Beruf keine rechte Befriedigung fand, hatte gelegentlich des 
Verkehrs in einer fremden Familie ein besonderes personliches Interesse 
an dem j lings ten Madchen, damals ©in Kind von zwolf Jahren, gewonnen, 
und in seinem Grlibeln liber sein Leben glaubt© ©r endlich darin seinen 
hoheren Lebensinhalt gefunden zu haben, fur dieses kleine Madchen sich 
dauernd zu interessieren und fur die Ausbildung und sittliche Reinheit 
desselben einzutreten. Dieses zunachst mehr philosophische Gefuhl des 
Interesses entwickelte sich spater zur Liebe, und mit dem Auftreten eines 
viel jlingeren Mannes in dem n&heren Familienkreis gesellte sich auch 
Eifersucht hinzu. Infolgedessen kam es fiir ihn zu inneren Kampfen und 
nach auBen zu Konflikten mit jenem jiingeren Mann, was dazu fiihrte, daB 
der Vater dee jungen Madchens dem N. sein Haus und weiteren Familien- 
verkehr verbot. Damit war nun wieder sein Lebensinhalt ins Schwanken 
gebracht; er geriet in Verzweiflung und ergab sich dem Trunk©, und erst 
nach einigen Wochen kam er wenigstens &ufierlich ins Gleichgewicht zuruck. 
Seine Gedanken blieben aber nach dem Aufenthaltsorte des Madchens, 
den er inzwischen verlassen hatte, gerichtet, er fand keine Ruhe und kehrte 
schlieBlich unter Im-Stich-lassen der aussichtsvollen Stellung, die er in¬ 
zwischen gef unden hatte, in das Stadtchen zur lick. Er versuchte nun nicht 
etwa, sich mit dem Vater des Madchens auszusohnen und in freundschaft- 
licher Weise wieder Eingang in der Familie zu finden, sondern ging mit 
Drohungen und GewaltmaBnahmen vor, um sich den Verkehr zu erzwingen 
Er schrieb dem Vater in einem mit „Ultimatum“ iiberscliriebenen Brief, 
„da£ er mit etwas Unabanderlichem zu rechnen habe, mit etwas, was mit 
der Kraft einer Naturgewalt blindlings und unerbittlich seinen Weg stiirmt, 
unbeklimmert um etwaige sich dagegen anstemmende Vernunftschliisse, 
welche sich solcher Gewalt gegeniiber als ohnmachtig erweisen“. Dabei 
glaubte er den Verkehr mit dem Kind© als sein Recht in Anspruch nehmen 
zu diirfen, und diesen Rechtsanspruch leitete er davon ab, daB er mit dem 
Madchen langere Zeit in freundschaftlichen Verkehr gestanden habe und 
sie ihn liebe. Von diesem unbedingten Rechtsanspruch war er so durch- 
drungen, daB er sogar mit Waffengewalt ihn geltend zu machen suchte, 
und als er deswegen in die Irrenanstalt gebr«w;ht wurde, hielt er unbeirrt 
an dieser Ueberzeugung fest und war davon auch nicht durch Hinweise 
abzubr ingen, die ihm das Unberechtigte seines Tuns darlegten und ihm 
klar machten, daB das Madchen sein Interesse gar nicht er wider©, sondern 
sogar Furcht vor ihm habe. Selbst an der Berechtigung seines Attentats 
(er war mit Dolch und geladenem Revolver bei der Familie eingedrungen, 
indem er eine Aussprache mit dem Madchen forderte) hielt er unverandert 
fest. Dabei sah er in dem Vater, wie uberhaupt in jedem, der sich gegen 
das Verhftltnis mit dem Madchen aussprach, seine unbedingten Feinde. 


l ) Kahlbavm, Fall von Pseudoparanoia. Allgem. Ztschr. f. Psych. 
Bd. 49, von K. als Charakterirresein „Parethosie“ bezeichnet. Der Fall 
entspricht dem letzten Fall in Wernickes Aufsatz iiber fixe Ideen. Von 
Hitzig („Ueber den Querulantenwahnsinn“, Leipzig 1895) wurde er als 
originare Paranoia aufgefaBt. 

5* 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



68 


Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit 


Auch durch die Intern ierung wurde er vonseinem verbohrten Stand- 
punkt nicht abgebracht, und aLs er versuchsweise aus der Anstalt entlassen 
wurde, machte er sogleich wieder die alten Annaherungsversuche, so daB 
er von neuem in Konflikte mit der Polizei und damit in die Irrenanstalt 
geriet. 

In diesem Falle hat sich unmittelbar an einen iiberwertigen 
erotischen VorstellungBkomplex, der im wahrsten Sinne des Wortes 
zum Lebensinhalt wurde, eine iiberwertige Rechtsidee, die Ueber- 
zeugung eines unbedingten personlichen Anrechts an die geliebte 
Person, angeschlossen und aus ihm ergeben. Sie wird nun zum 
Leitmotiv fur das seelische Leben, so daJ3 sich von diesem vor- 
herrschenden Rechtsstandpunkt im wesentlichen alle weiteren ab 
normen Erscheinungen ableiten lassen: Die unumstofiliche Ueber- 
zeugung von der Berechtigung des eigenen Tuns und Treibens, das 
auf Verwirklichung dieses Rechtsanspruchs hinarbeitet, die Ver- 
standnislosigkeit gegeniiber alien Einwanden und dem Gewicht 
der Tatsachen und die falsche Beurteilung des eigenen Verhalt- 
nisses zu den andem, die, je nach dem sie den eigenen Standpunkt 
anerkennen oder ablehnen, ohne weitereBegriindung als Feinde oder 
Freunde gelten. 

In flieBenden Uebergangen fiihrt dieser Fall von iiberwertigen 
Rechtsvorstellungen aus erotischer Ueberwertigkeit hiniiber zu 
den Liebesverfolgerinnen, die einen besonderen Spezialtyp der 
Persecutes persecuteurs auf Grand einer iiberwertigen Idee bilden. 
Lie Symptome dieser Falle entsprechen im allgemeinen den eben 
gekennzeichneten, nur pflegen die queralatorischen Elemente, iiber¬ 
wertige Rechtsvorstellungen und rechtlicher Beeintrachtigungs- 
wahn erotischer Farbung noch starker hervorzutreten. Den AnstoB 
zu ihrer Entstehung gibt gewohnlich ein aufierer AnlaB, eine un- 
verbindliche AeuBerang, ein nichtssagendes, aber erotisch ge- 
deutetes Verhalten des mannlichen Partners, seltener ein wirkliches 
Liebesverhaltnis, in vereinzelten Fallen sind auch innere An- 
regungen, die Heirats- und Versorgungswiinsche des altemden oder 
gealterten Madchens als wirksame Krafte heranzuziehen. Aus 
ihnen erwachst — ohne geniigende Begriindung, aber trotzdem 
durchaus beherrschend, — der Gedanke an Ehe und sonstige Ver- 
sorgung und bei der engen Verkniipfung dieses Gedankens mit der 
eigenen Person die iiberwertige Ueberzeugung eines personlichen 
Rechtsanspruchs darauf. Diese Ueberzeugung wird nun zum 
Fundament fiir die ganze personliche Anschauung, sie fiihrt auf 
der einen Seite zu Erinnerungstauschungen erotischen Inhalts, die 
die Berechtigung und Begriindung des eigenen Rechtsstandpunktes 
darlegen, auf der anderen bei dem der eigenen Auffassung wider- 
sprechenden Verhalten des m&nnlichen Partners folgerichtig zum 
Beeintrachtigungswahn: seine Ablehnung erscheint im Sinne der 
iiberwertigen Ueberzeugung als Bruch des Heiratsversprechens und 
Meineid, eine ungiinstige richterliche Entscheidung als Parteilich- 
keit usw., wogegen die Kranke dann in der iiblichen queralato¬ 
rischen Weise ankampft und Stellung nimmt. 


Digitized by 


Gca igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


69 


Digitized by 


(Eigener Fall.) Erblich nicht belastete Frau, Mantelnaherin, Witw© 
und Mutter dreier Kinder > die Armenunterstiitzung bezieht, wird bald 
nach dem Tode ihres Mannes mit einem 67 jahrigen Rentier N. auf amt* 
lichem Wege in seiner Eigenschaft als Armenkommissionsvorsteher bekannt. 
Sie verliebt sich aufs heftigste in ihn, schreibt ihm gliihende Liebesbriefe, 
in denen sie ihm sogar sexuellen Verkehr mit ihr nahelegt, und laBt davon 
nicht ab, wiewohl der Angebetete sie weder einer Antwort wurdigt, noch 
uberhaupt beachtet. Sie macht sogar einen Selbstmordversuch mit 
Schwefelsaure, der sie ins Krankenhaus bringt imd eine Speiserohren- 
verengerung herbeifiihrt, die eine Operation bald notig macht. Als 
Grund fur den Suicidversuch gab sie an, sie habe den N. so lieb, und er 
sei am Abend vorher nicht zum Rendezvous gekommen, und morgens in 
der Spreehstunde habe er ihr erklart, aus ihrem Verh&ltnis konne nichts 
werden. Von der Armenkommission wird sie als eine fast unzurechnungs- 
fahige, liigenhafte Person bezeichnet, die als Mutter von drei Kindern im 
Liebestaumel den Selbstmord veriibte. 

Nach einigen Monaten wird sie der Irrenanstalt iiberwiesen, weil sie 
laut arztlichem Attest sich von N. verfolgt glaubte. Beziiglich ihres Ver- 
haltnisses zu N. erklart sie hier, sie habe aus seinem Benehmen zu 
schlieBen gemeint, daB er ihre Neigung erwidere. Sie habe ihn zweimal 
vor dem Hause getroffen, und er habe sie dann im Hausflur gekiiBt. (In 
Wirklichkeit hat sie ihn vor dem Hause abgepaBt,-ohne daB es zu irgend- 
welchen Annaherungen gekommen war.) Sie konne die Gedanken an N. 
nicht loswerden, daher moge es wohl gekommen sein, daB sie die Ver- 
folgungsauBerungen getan habe. Weiter gibt sie an, seit der Affare mit N. 
habe sie sich von ihm immer verfolgt geglaubt, er lachelte und sah sie 
immer an. Auch sei sie von Mannern auffallend oft angesprochen worden, 
was ihrer Ueberzeugung nach auch auf N.s Veranlassung geschehen sei. 
Aus der Anstalt spater entlassen, fiihrte sie bei den Behorden Beschwerde, 
sie sei nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus in groBter Not, in alien 
Vierteln wiirde sie aufs argste und schroffste von den Armenvorstehern 
behandelt. Sie nehme an, daB man sie bei jenen verleumdet habe, und 
zwar habe sie den Armenvorsteher N. in Verdacht, mit dem sie ein ideales 
Liebesverhaltnis entsponnen habe, das sich spater wieder gelegt habe. 
Sie habe sich seinetwegen vergiften wollen und habe, da sie korperlich sehr 
heruntergekommen war, Schadenersatz von ihm gefordert, vielleicht ver- 
folge er sie deswegen. N. habe sie wohl als Hure ausgegeben, und dem- 
entsprechend werde sie von den Armenvorstehern behandelt. Von der 
Armendirektion verlangt sie ein Armenattest, um gegen N. wegen einer 
Abfindungssumme zu klagen, da er ihr die Ehe versprochen habe. Im 
xibrigen legte sie ein ausgesprochen querulatorisches Verhalten an den Tag, 
drangte standig auf Unterstiitzungen, belastigte die Armenvorsteher und 
Aerzte und beschimpfte in hochst erregter Weise den Armenvorsteher N. 
SchlieBlich stellte dieser Strafantrag gegen sie, da sie fast taglich vor seiner 
Wohnung turbulent© Szenen machte und vor alien Leuten oehauptete, er 
habe sie geschandet und durch Nichtinnehaltung des gegebenen Ehe- 
versprechens in Not und XTngliick gestiirzt. Bei den Vernehmungen erklarte 
sie, das Benehmen des Herrn N. sei seinerzeit so gewesen, daB sie bastimmt 
annehmen muBte, er wollte selbst ein Verhaltnis mit ihr anfangen, wozu 
sie auch geneigt war. In dem Glauben sei sie um so mehr bestarkt worden, 
als N. ihre Brief© annahm und drei Zusammenkunfte mit ihr im Hausflur 
seiner Wohnung hatte, sie dort kiiBte und Andeutungen machte, welche sie 
als indirekten Heiratsantrag nahm. Als sie gemerkt habe, daB N. sie nur 
als Spielzeug gebrauchen wolle, habe sie allerdings in let-zter Zeit mit ihm 
gebrochen. An diesen Schilderungen friiherer Vorkommnisse ist nur soviel 
richtig, daB sie den N. vor seiner Wohnung aufgelauert hatte und gegen 
ihn zudringlich geworden war. 

Diases Treiben der Kranken ging etwa zwei Jahre, bis sie schlieBlich 
von neuem der Irrenanstalt iiberwiesen wurde, da sie fortgasetzt mit 
Larmen, Beschimpfungen und Bedrohungen vorging und selbst mit Selbst¬ 
mord und Ermordung ihrer Kinder drohte. D8^ ^rztliche Ueberweisungs- 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



70 


Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit 


attest hebt charakteristi$cherweise hervor, sie leide an der Wahnidee, daft 
ein Armenvorsteher ihr die Ehe versprochen habe, und sie sei in der Sache 
schon an alle moglichen Behorden gegangen. In der Anstalt hielt sie an 
ibren bisherigen Anschauungen fast, meinte, der Arzt, auf dessen Gesund- 
beitsattest sie ihre Armenimterstiitzung verloren hatte, stecke mit N. 
unter einer Decke, erklarte, man habe sie gesund in die frrenanstalt gebracht 
und drangf e in ziemlich einsichtsloser Weise heraus. 

Soviel vorerst fiber den Fall. Er geht symptomatologisch 
schon fiber das fibliche Bild der Liebesverfolgerinnen hinaus und 
bietet einen entschieden groBeren Reichtum an Einzelzfigen dar. 
Im einzelnen finden sich zunachst die Erscheinungen der erotischen 
Ueberwertigkeit, an die sich zahlreiche Erinnerungsfalschungen 
positiver und wohl auch negativer Art sowie sonstige MiBdeutungen 
und Auffassungsfalschungen anschlieBen, die alle inhaltlich der 
fiberwertigen Ueberzeugung, daB N. sie wieder liebe und heiraten 
wolle, entsprechen. Sodann besteht wiederum die tiberwertige 
Anschauung eines Anrechts auf Ehe und Yersorgung, woraus sich 
die Ueberzeugung eines Anspruchs auf Schadenersatz herleitet. 
Und schlieBlich trict als dritte beherrschende Idee das abweisende 
Verhalten des N. in den Vordergrund des BewuBtseins, auf derem 
Grunde sich nun Eigenbeziehungs- und Beeintrachtigungswahn- 
vorstellungen erheben, die von sich aus noch durch entsprechende 
Erklarungswahnideen eine Erweiterung und Systematisierung er- 
fahren. Aus den letzten beiden Erscheinungen leiten sich im wesent- 
lichen die querulatorischen Zfige her, die auch in diesem Falle ziem¬ 
lich ausgepragt — stfirker als sie in der obigen Darstellung zum 
Ausdruck gebracht wurden — hervortraten. 

Der Krankheitsfall bietet fibrigens neben den hier nur berfick- 
sichtigten psychologischen Zusammenhangen auch ein ungewohn- 
liches klinisches Interesse dar und hebt sich dadurch vor all den 
andem hier angeffihrten heraus. Er soli daher spater noch einmal 
aufgenommen und dann speziell auf die Besonderheiten seines Ver- 
laufs hin betrachtet werden. 

Die bei dieser Gruppe herausgehobenen Erscheinungen der 
erotischen Ueberwertigkeit verdienen, soweit sie noch ins Gebiet 
physiologischer Verliebtheit fallen, noch eine kurze Zusammen- 
stellung. Gerade sie lassen besonders deutlich erkennen, wie groB 
die Bedeutung und wahnbildende Kraft der Ueberwertigkeit auch 
in solchen Fallen sein kann, wo auBer dieser dominierenden Affekt- 
betonung andere wirksame Momente fiberhaupt kaum und patho¬ 
logische ganz gewiB nicht in Frage kommen. 

Die erste und naheliegendste Folge erotischer Ueberwertigkeit 
ist die FaUchung des Werturteils fiber das fiberwertige Objekt, die 
Wertfiberschatzung, die in der geliebten Person bedingungslos das 
in jeder Beziehung vortrefflichste Wesen sehen laBt. Dieses falsche 
Werturteil wird zum unerschfitterlichen Fundament ffir jede weitere 
Erfahrung, macht blind gegen alles, was ihm widerspricht, selbst 
gegen das Gewicht unbestreitbarer Tatsachen, laBt eine Auffassung 
und Deutung nur im Sinne seines Inhalts zu und ffihrt so zu Auf¬ 
fassungsfalschungen und Fehldeutungen. Dazu gesellt sich die 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


71 


Digitized by 


Neigung zur Exoprojektion des eigenen GefuMszustandes, zur Ueber- 
tragung der eigenen Gefiihlsregungen auf das Seelenleben der ge- 
liebten Person, die Tendenz, das eigene Empfinden derem Denken 
und Fiihlen zugrunde zu legen. So erklart sich mir wenigstens am 
einfachsten die Neigung des Verliebten seine Liebe stets ervviderfc 
zu glauben. Es entspricht dies auch sonstigen Erfahrungen, wonach 
beispielsweise die zunehmende Sehnsucht nach einem Menschen 
zugleich auch die GewiBheit wachsen laBt, dieser miiBte mit gleicher 
Sehnsucht an einen zuriickdenken u. dgl. 1 ). 

Und schlieBlich kommt als wichtigste und auffallendste Wir- 
kung noch die Einstellung der Gedankenwelt auf den uberwertigen 
erotischen Komplex und damit die Tendenz jeden sich darbietenden 
seelischen Inhalt mit diesem in Verbindung zu bringen hinzu. Die 
aus ihnen sich ergebenden Erscheinungen sind im wesentlichen 
zweierlei Art: Einmal, und ganz allgemein wird alles mogliche, was 
einem begegnet, irgendwie in Beziehung zur geliebten Person gesetzt 
(zum mindesten fiihrt es immer wieder die Gedanken zu ihr hin), 
zum andem und im speziellen werden die verschiedensten Vor- 
kommnisse im Sinne des Wiedergeliebtwerdens aufgefaBt und ver- 
arbeitet, woraus die bekannten MiBdeutungen harmlosester Ein- 
driicke, die Eigenbeziehungsideen und Erinnerungsfalschungen, die 
alle die erwiederte Neigung und die vermeintlichen Bestatigungen 
derselben zum Inhalt haben, entstehen. 

Eine weitere Gruppe von uberwertigen Vorstellungen ist durch 
einen hypochondrischen Inhalt gekennzeichnet. Die einfachsten 
Falle, die hart an der Grenze des Normalen liegen, sind die, wo 
ein affektvoiles Erlebnis hypochondrischen Charakters eine iiber- 
wertige Krankheitsxiberzeugung nach sich zieht. Falle dieser Art 
finden sich beispielsweise bei Friedmann 2 ) und Baimist 3 ). 

Bei ersterem handelte es sich um einen belasteten, nervos gearteten 
Knaben von 13 Jahren, der zur Zeit, wo er sich erneut in einem nervosen 
Zustand befand, einem kranklich aussehenden Soldaten begegnete und von 
dessen stinkendem Atemhauch getroffen wurde. Er wurde dadurch ver- 
stimmt, geriet in Verzweiflung und war fortan von der Ueberzeugung be- 
herrscht, dai3 er von jenem angesteckt sei. Er bemuhte sich nun, seine 
ganze Lebensweise danach einzurichten, wie er seine Umgebung vor seinem 
eigenen Pesthauch schiitzen und so die weitere Ansteckung verhindern 
konnte und machte zu diesem Zwecke die unsinnigsten Manover. 

Im Raimitfa chen alinlich gearteten Falle hatte ein Mann, der spater 
gelegentlich an eigentUmlichen psychogenen Storungen erkrankte, im 
Eisenbahnwagen ein fremdes Trinkglas benutzt, das, wie ihm nachher 
vorwurfsvoll mitgeteilt wurde, einer Frau gehorte, die eben mit ihrer 


x ) Nahe liegt freilich noch eine andere Deutung, wonach der Wunsch 
als Vater des Gedankens die Ueberzeugung des Wiedergeliebtwerdens 
wachruft und aufrechterhalt. Die eben angedeutete Erfahrung, dafi die 
Sicherheit. dieser Ueberzeugung mit der Starke des eigenen Gefuhls zu 
wachsen pflegt, lieBe sich allerdings wohl besser mit der oben gekennzeich- 
neten Auffassung als mit der, dab hier lediglich eine subjektive Wunsch- 
realisierung vorliege, in Einklang bringen. 

*) Friedmann , Ueber den Wahn. Wiesbaden 1894. 

3 ) Baimist , Hysterie. Berlin 1913. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



72 


Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit 


Digitized by 


schwindsiichtigen Tochter aus der Stadt kam. Im Nu entstand nun bei 
ihm die iiberwertige hypocliondrische Idee: ,,Sobald ich das Wort Schwind- 
sucht horte, erstarrte in mir alles. Mir schwebte nur der Gedanke vor, 
ich habe mich durch dieses Glas mit Schwindsucht angesteckt. Ich wurde 
auf einmal verstimmt, den ganzen Weg iiber bis nach Hause fiihlte ich 
Schmerzen im ganzen Korper. Zu Hause fuhr ich fort, triibselig zu sein, 
ich horte fast auf zu essen und zu trinken. Waa man mit mir auch sprach, 
womit ich auch beschaftigt war, im Kopfe war bei mir immer nur der eine 
Gedanke: Ich habe die Schwindsucht.“ Er begann nun ununterbrochen 
Schmerzen erst in der einen, dann in der anderen Seite zu fiihlen, ging 
keiner Beschaftigung mehr nach, magerte ab usw., bis schliefllich durch 
arztliche Aufklarung iiber die Natur des Zustandes die iiberwertige hypo- 
•chondrische Ueberzeugung allmahlich ihre Kraft und Wirksamkeit verlor. 

Angstbetonte Vorstellungen hypochondrischer Farbung im 
Anschlufi an solche Vorkommnisse sind an sich durchaus naheliegend 
und berechtigt, unberechtigt ist nur die Ueberwertigkeit, die 
diesen Befiirchtungen unumstoBlichen Wirklichkeitswert verleiht, 
sie zu unanfechtbaren Ueberzeugungen macht. 

Interessant ist in beiden Fallen die plotzliche, schnelle, sprung- 
hafte Entwicklung des Wahnurteils, das so gleich ganz fertig da- 
steht und im zweiten Falle die anschlieBenden korperlichen Be- 
schwerden, die als psychogene Erscheinungen schon langst bekannt, 
in diesem Falle gewissermaBen als logische Delirien auf korper- 
lichem Gebiete aufzufassen sind, die sich folgerichtig aus der iiber- 
wertigen hypochondrischen Idee ergeben. Im ubrigen ist hier mit 
der hypochondrischen Ueberzeugung die Wahnbildung erschopft. 
Der auf die Korpersphare sich beziehende Wahninhalt begiinstigt 
ja naturgemaB nicht gerade die Ausbreitung auf andere Vor- 
stellungsgebiete. Immerhin konnen weitere Wahnideen sich an 
die hypochondrischen anschlieBen, deren Inhalt selbstverst&ndlich 
von der Art der Gedankenreihen abhangt, die sich an die iiber- 
wertigen Krankheitsyorstellungen ankniipfen. So geben beispiels- 
weise die an ein korperliches Trauma sich anschlieBenden iiber- 
wertigen hypochondrischen Ueberzeugungen von Krankheit, Un- 
heilbarkeit und dauemder Erwerbsunfahigkeit die Grundlage ab, 
von der weitere Vorstellungsverfalschungen ausgehen. 

[Fall von Pfeiffer 1 )]. Ein crblich nicht belasteter, friiher angeblich 
gesunder Mann erlitteinen Unfall, der mit einer sehr erheblichen Emotion ver- 
kniipft sein mufite, und als dessenFolgen in den ersten arztlichen Zeugnissen 
„Herzklappenfehler“ und ,,Blutandrang zwischen Brust und Lunge 44 betont 
wurden. Auf diesem Boden entstand bei ihm die mit angstlich-depressiver 
Gefiihlsbetonung verkniipfte iiberwertige Idee, daj3 er infolge des Unfalls 
unheilbar krank und dauernd erwerbsunfahig sei. Als dann bei weiterer 
Begutachtung doch eine Besserung des Grades seiner Erwerbsunfahigkeit 
konstatiert wurde, war ihm das ganz unfai3bar, und er ging nun in der 
iiblichen querulatorischen Weise bei den verschiedenen Behorden mit An- 
tragen, Berufungen, Eingaben und Klagen wegen seiner Rentensache vor, 
aus der Ueberzeugung heraus, da!3 er als unheilbar Erwerbsunfahiger 
Vollrente zu beanspruchen habe. Diuchdrungen von der Berechtigung 
seiner Anspriiche begab er sich schliefilich in die Klinik, um sich auf eigene 


A ) Ueber das Krankheitsbild der zirkumskripten Autopsychose auf 
Grund einer iiberwertigen Idee. Monatsschr. f. Xeurol. u. Psychiatrie. 
Bd. 18. 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


73 


Kosten begutachten zu lassen. Hier fiel — ahnlich und noch in erhohtem 
Mai3e wie bei den fruheren, 8 und 10 Jahre zurlickliegenden Begut- 
achtungen — auf, daB seine Aufmerksamkeit infolge der vermeintlichen 
krankhaften Vorgange an seinem Herzen g&nzlich auf die Vorgange in 
seinem eigenen Korper gerichtet und durch die seinen Unfall und seine 
Rentenangelegenheit betreffenden iiberwertigen Vorstellungen ganz in 
Anspruch genommen war. AuBerdem auBerte er Beziehungswahnideen, 
vermoge deren ihm der ihm an sich unfaBbare, weil mit seiner eigenen 
iiberwertigen Ueberzeugung unvereinbare Standpunkt der Begutachter, 
daB ihm keine Vollrente zustfinde, verstandlich wurde. Er erklarte durch 
die Machenschaften des Vertrauensarztes der Berufsgenossenschaft, so wie 
des Polizeikommissars und zweier Brief trager, die von ersterem beeinfluBt 
seien, w r aren den begutachtenden Aerzten die Akten falsch zugestellt oder 
die Seiten, deren Inhalt seiner' Sache giinstig war, aus den Akten heraus- 
gerissen worden. AuBer diesen Erklarungswahnideen traten auch noch 
Erinnerungstauschungen zutage, die zugunsten seiner Auffassung sprachen. 
So berief er sich zur Begr(inching seiner Rechtsanspriiche immer wieder 
auf die angeblichen AeuBerungen zweier Professoren, von denen der eine 
ihm — was im Widerspruch mit dem Akteninhalt steht — Vollrente zuge- 
billigt habe, der andere ihm erklart habe, die Akten seien ihm falsch zuge¬ 
stellt. — Die Urteilsfahigkeit des Patienten war, sobald es sich nicht um 
seine Rentensache handelte, eine gute. 

Die symptomatologischen Einzelheiten des Falles: die durch 
die iiberwertige hypochondrische Idee bedingte Unfahigkeit, die 
tatsachliche korperliche Besserung zu fassen, die Erinnerungs- 
falschungen im Sinne der herrschenden Vorstellungen und die aus 
dem Widerspruch zwischen eigener Ueberzeugung und fremder 
Stellungnahme sich ergebenden Erklarungswahnideen bediirfen 
keiner weiteren Erorterung, sie halten sich durchaus im Rahmen 
der iiblichen Ueberwerfcigkeitsfolgen. Von allgemeiner Bedeutung 
ist, daB hier unter dem EinfluB der Unfallversicherungsgesetz- 
gebung sich an die iiberwertige Ueberzeugung von unheilbarer 
Krankheit und Erwerbsunfahigkeit unmittelbar die iiberwertige 
Rentenanrechts-Ueberzeugung anschlieBt, die von sich aus wieder 
zu den rechtlichen Beeintrachtigungsvorstellungen und dem queru- 
latorischen Verhalten fiihrt. Der Fall ist charakteristisch fiir den 
Querulantenivahn des Unfallneurotikers aus uberwertiger Idee . 

Diese Ueberwertigkeit und Wahnrichtung querulatorischen 
Inhalts ist naturgemaB infolge der Haufigkeit von Betriebsunfallen 
die haufigste und charakteristischste Folge hypochondrischer iiber- 
wertiger Ideen im AnschluB an ein korperliches Trauma. Liegt 
eine andersartige Gedankenrichtung naher, so konnen sich 
natiirlich auch ganz andere iiberwertige und Wahnvorstellungen 
daraus ergeben. So kam es in einem Falle von Friedmann 1 ) 
unter dem aufregenden Eindruck eines operativen Traumas, 
der Kastration, bei einer hysterischen etwas beschrankten Frau 
zur iiberwertigen Idee ihrer Unfruchtbarkeit, also eines person- 
lichen Makels und im AnschluB daran zu Eigenbeziehungs- und 
Verachtungswahnideen. Die naheliegende Befiirchtung, dadurch 
der Liebe des Gatten verlustig zu gehen, wurde unter dem EinfluB 
der dominierenden Idee zur Ueberzeugung, daB dieser von ihr 

x ) Monatsschr. f. Psych. Bd. 17. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



74 


Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit 


Digitized by 


nichts mehr wissen wolle, ebenso wie die das BewuBtsein be- 
herrschende Vorstellung korperlicher Minderwerfcigkeit sie auf den 
Gedanken brachte, die Dienstboten verspotteten sie wegen ihrer 
Kinderlosigkeit. 

Besonders bezeichnend fur die eigenartige Richtung, welche 
die iiberwertigen und Wahnideen im AnschluB an ein korperliches 
Trauma nehmen konnen, ist ein kiirzlich von Grimme — leider nur 
ganz kurz — veroffentlichter Fall 1 ). 

Der Patient erlitt mit 19 Jahren eine anscheinend nicht sehr erheb- 
liche Verletzung der auBeren Geschlechtsteile. Diese erwekte allerlei Be- 
furchtungen und die Neigung zu hypochondrischer Selbstbeobachtung. Uliter 
den Befiirehtungen spielte der Gedanke, bei dem Unfall eine unheilbare, 
die Ausiibung des Geschlechtsverkehrs hindernde Erkrankung seines Ge- 
schlechtsorgans erworben zu haben, eine groBe Rolle. Im Laufe der nachsten 
Jahre traten die Besorgnisse wieder zuriick, wurden aber wieder rege, als 
Patient 10 Jahre spater heiratete. Auf ihrer Grundlage entwickelte sich 
sofort ein Eifersuehtswahn, als er am Tage nach der Hochzeit seine Frau 
vom Hofe eines Nachbarn kommen sah, mit dem sie zusammen groB ge- 
worden war. Die vorhandenen Befiirehtungen verdichteten sich jetzt zu 
Erklarungswahnideen. Waiter traten Beziehungsvorstellungen auf, die sich 
aber in engen Grenzen hielten und nur unter dem Einflusse des Neben- 
buhlers in Erscheinung traten. Zu einer Ausdehnung des Eifersuclitswahns 
auf andere Personen und andere Beeintrachtigungsideen kam es nicht. 
Nur in spateren Jahren kam es auf Grund einer korperlichen Erkrankung 
seiner Frau noch einmal zu einer neuen Erklarungswahnidee. Im iibrigen 
blieb der eng umschriebene Symptomenkomplex bei unverandertem Affekt 
iiber 30 Jahre bestehen. Eine Beeintrachtigung der Personlichkeit trat 
dabei nicht ein. 

Die eigentiimliche Richtung, welche hier die Wahnbildung 
im AnschluB an die iiberwertige hypochondrische Idee nimmt, ist 
natiirlich durch die Besonderheit des auslosenden korperlichen 
Traumas gegeben, das im Bereich der Sexualsphare wirksam war 
und naturgemaB die Gredanken leicht auf dieses Gebiet hinlenken 
muBte. Interessant ist, dafi die hypochondrische Ueberwertigkeit, 
die im Laufe der Jahre bereits zuriickgetreten war, nach zehn 
Jahren emeut dominierend wurde, als Patient in eine Lebenslage 
kam, in der sie neue Bedeutung und neuen Gefiihlswert gewinnen 
muBte (Verehelichung). Unter ihrem EinfluB tritt dann auf ein 
ziemlich belangloses Vorkommnis hin eine weitere iiberwertige 
Idee sexuellen Inhalts auf, eine Eifermchtsidee. Sie ist nach dem 
schon geniigend hervorgehobenen Modus entstanden, daB die 
Person, auf die iiberwertige sexuell-hypochondrische Vorstellung 
eingestellt, nun ohne weiteres den neuen Eindruck mit diesem vor- 
herrschenden BewuBtseinsinhalt in Beziehung bringt. JJaraus er- 
klart sich auch das plotzliche unvermittelte Auftreten der gleich 
fertigen, also nicht erst durch langes reifliches Ueberlegen ent- 
wirckelten Eifersuchtswahnidee. Diese beschrankt sich inhaltlich 
auf die eine bestimmte Person, auf die sie durch den erregenden 
Vorfall hingelenkt worden war, und blieb nun so fixiert und im 
wesentlichen zirkumskript ein ganzes Menschenalter hindurch. 

Allgem. Ztschr. f. Psychiatrie. Bd. 71. S. 781. 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


75 


Womit diese immerhin nicht ganz alltagliche Verlaufsart in Ver- 
bindung zu bringen ist, warden wir spater noch untersuchen miissen. 

Mit diesem Fall ist nun eine weiter wichtige Form iiberwertiger 
Ideen herangezogen, di eEifersuchtsideen. Gerade diese iiberwertigen 
Vorstellungen verdienen hier eine ganz besondere Hervorhebung, 
denn sie neigen in besonderem MaBe zu sekundarer Wahnbildung, 
indem sie durch ihr assoziatives Uebergewicht alle moglichen Binge 
in Beziehung zu der dominierenden Vorstellung der Untreue bringen. 
Welche ganz unvermittelten, unlogischen, ja unsinnigen Zusammen- 
hangskonstruktionen dadurch zustande kommen konnen, zeigt ein 
Friedmann scher Fall 1 ). Hier war es einer 40 jahrigen Frau von er- 
regtem Charakter passiert, daB an ihren Mann durch Namens- 
verwechslung der Brief einer zweideutigen Bame kam, der zur Fort- 
setzung eines Liebesverhaltnisses aufforderte. Bariiber wurde sie 
zunachst nur zweifelhaft und verstimmt, als aber nach % Jahren 
eine Partei ins Haus zog, die ein uneheliches Kind zur Pflege hatte 
und in der angeblich ein leichtfertiges Frauenzimmer verkehrte, 
da kam ihr der Verdacht, daB ihr Mann der Vater des unehelichen 
Kindes sei und daB ihr dies verheimlicht bleiben solle. Zugleich 
glaubte sie aus anziiglichen Sticheleien jener Leute herauszuhoren, 
was ihren Verdacht best&tigte. 

Mit den bisher gekennzeichneten Formen: Erfindungs-, 
querulatorische, hypochondrische, erotische und Eifersuchtsideen, 
diirften die praktisch wesentlichsten Vertreter der iiberwertigen 
Vorstellungen erschopft sein, soweit eine Zusammenstellung nach 
auBerlichen Eigentiimlichkeiten, nach dem bloBen Inhalt, in Frage 
kommt. Nur auf zwei weitere Erscheinungsformen mochte ich 
wenigstens noch lcurz hinweisen, weil sie in halbwegs typischer Form 
sich immer wieder vorfinden. Es handelt sich dabei einmal um die 
iiberwertige Betonung eigener Verschuldung, die in ungemein cha- 
rakteristischer Weise Eigenbeziehungs-, Beachtungs- und MiB- 
achtungswahnideen nach sich zu ziehen pflegt, auf der anderen um 
die iiberwertige Heraushebung fremder Verursachung und Schuld 
an dem affektbetonten Vorfall, was dazu fiihrt, diesen fremden 
Urheber auch mit allerhand anderen Vorkommnissen in Beziehung 
zu bringen und diese auf ihn zuriickzufiihren. 

Die Tendenz zu dieser Art Gedankenrichtung mit ihren cha- 
rakteristischen iiberwertigen und Wahnideen ist aus gewissen 
psychologischen Neigungen leicht verstandlich: Das natiirliche 
Bediirfnis, sich mit dem affektvollen Erlebnis zu besch&ftigen, lenkt 
die Gedanken mit Vorliebe nach zwei Richtungen hin, einmal nach 
dessenUrsachen, und zum andern nach dessen Folgen und Wirkungen 
zu fragen (wobei naturgemaB entsprechend der besonderen prak- 
tischen Bedeutung speziell die Beteiligung der Mitmenschen daran 
interessiert). 

Der folgende Fall gibt die aus iiberwertiger Betonung fremder 

*) a. a. O. 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



76 


Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit 


Verursachung sich ergebenden Wahnbildungen — freilich nicht 
grade in der cbarakteristischsten Auspragung — wieder. 

(Eigener Fall.) O perns anger, ein ansgesprochen nervoser, hypochondri- 
scher und psychopathisch-exzentrischer Mensch, hatte aus einem ziemlich 
belanglosen Grunde seine Stellung an einer hervorragenden Biihne, die er 
einige Jahre inne gehabt hatte, gekiindigt erhalten. Dies traf ihn besonders 
schwer, einmal, weil die Stellung recht ehrenvoll und er sich keiner Pflicht- 
verletzung bewufit war, sodann weil er seine Existenz dadurch bedroht 
und seine von ihm zartlich geliebte und materiell unterstiitzte Mutter ge- 
fahrdet sah. Er empfand dieses Vorkommnis als ein schweres ihm zuge- 
fiigtes Unrecht, dessen Aufhebung er erst auf gutlichem Wege und dann durch 
Drohungen mit gewissen, ordinarem Klatsch entnommenen Enthiillungen 
iiber angebliche sexuell-perverse Betatigungen des friiheren Chefs zu er- 
reichen suchte, mit dem naheliegenden Ergebnis einer gerichtlichen Anklage 
gegen ihn. Er suchte nun nach der Ursache fiir die ungerechtfertigte Enfc- 
Jassung und legte sich diese im Hinblick auf die von ihm aufgegriffene 
Klatschgeschichte so zurecht, dafi man an seine Stelle einen sexuell Per- 
versen bringen wolle. Dies wurde nun fiir ihn der beherrschende Gesichts- 
punkt. Er entdeckte jetzt unter erneuter Heranziehung von allerlei Klatsch 
alles mogliche perverse Treiben bei seinen bisherigen Kollegen, sah gleich- 
zeitig allerhand gegen ihn gerichtete Intriguen der bisherigen Berufs- 
genossen, wo in Wirklichkeit nichts vorlag und diese gar nichts gegen ihn 
batten, und glaubte endlich ein ganzes Komplott. gegen sich gerichtet, das 
er nun durch riicksichtslose Bekampfung aller Homosexuellen und speziell 
der Kollegen zu vernichten suchte. Der Kampf gegen diese Homosexuellen 
wird schliefilich zum Leitmotiv fiir sein Handeln, er will ihn direkt zu 
seinem Beruf machen und sich der Polizei fiir diesen Zweck zur Verfiigung 
stellen. Erst nach Einstellung des Verfahrens und unter dem Einflusse der 
Irrenanstaltsinternierung kam er zu einer gewissen Beruhigung und Selbst- 
besinnung. 

Charakteristischer als dieser sind die gleichfalls hierherge- 
horigen Falle, die wieder an den Querulantenwahn aus iiberwertiger 
Idee erinnem, wo etwa die Ueberzeugung, daB eine bestimmte 
Person die Schuld an einem niederdriickenden Erlebnis tragt, iiber- 
wertig und ihr nun auch die Schuld an alien weiteren unlieb- 
samen Vorkommnissen in den Schuh geschoben wird. Wernicke 1 ) 
hat den Fall einer 63 jahrigen Erzieherin beschrieben, fiir die ein 
tatsaehliches schuldhaftes Verhalten einer fremden Person, die 
demiitigende Behandlung von seiten eines mit der Auszahlung von 
Armenunterstiitzungen betrauten Beamten, zum AnlaB wurde, 
daB sie von dem Zeitpunkt an alle moglichen personlichen Kran- 
kungen, amtliche Vorladungen, polizeilichen Exmittierungen, Ab- 
holung durch Schutzleute usw. auf dessen Urheberschaft zuriick- 
fiihrte. 

Die iiberwertigen Vorstettungen eigener Verschuldung konnen 
entsprechend der groBenBedeutung, diegerade Schuldvorstellungen 
im Seelenleben des Kulturmenschen haben, eine groBere Wichtig- 
keit beanspruchen. Bei ihnen beziehen sich die sekundaren Wahn- 
gebilde wie naheliegend vor allem auf den Eindruck, die Wirkungen, 
welche die eigenen Verfehlungen auf andere ausiiben. 

(Fall von Friedmann.) 40 jahrige ledige Musiklehrerin aus belasteter 
Famili© und von Charakter exalt iert und eigenartig verschlossen, hatte 

x ) Krankenvorstellungen. Breslau 1899/1900. 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


77 


sich in den letzten Jahren liberanstrengt und zur Erholung einen Luft- 
kurort aufgesucht. Hier hatte sie eines Abends von einem Pensionsgenossen 
zu ihrem Schutze die Begleitung nach Hause erbeten, und da sie sich 
fiirchtete, ihn vor dem Hause an der Hand festgehalten, damit er sie noch 
ein Stuck in den dunklen Hausflur weiterbegleitete. Ueber dieses nicht 
ganz korrekte Verhalten hat sich nun niemand, auch der betreffende Herr 
nicht, aufgehalten, nur sie selbst empfand einige Besorgnissc. Nach Hause 
zuriickgekehrt, nahmen ihre Skrupeln standig zu, und nachtraglieh er- 
kannte sie jetzt auch, dafi man sich in den nachsten Tagen doch fast all- 
seitig in der Pension von ihr zuriickgezogen hatte. Als nun aber im folgenden 
Herbst der betreffende Herr ihr ein Korbchen Trauben zum Geschenk 
sandte, war sie jetzt iiberzeugt, da£ sie jener flir unmoralisch hielt und 
schickte ihm sofort das Geschenk zur tick. Der Zufall wollte es, dafi sie 
in der nachsten Zeit- den Herrn in Gemeinschaft mit anderen traf, und 
nim meinte sie wahrzunehmen, dafi der eine sie scharf fixierte und dabei 
tiufierte: ,,ALso die Hefe lief ere ich nicht. “ Dies hielt sie fiir eine Anspielung 
oder Ulkerei gegen sie. Allmahlich hauften sich die Wahrnehmungen dieser 
Art, wenn sie auch niemaLs besonders zahlreich wurden. Zunachst be- 
gegneten ihr an einer bestimmten Stelle bestimmte ihr bekannte Herren 
viel haufiger als friiher: das waren zweifellos Aufpasser. Weiterhin fiel 
ihr auf, daJ3 junge Leute sie frech anschauten und auf der Strafie gerade 
vor ihr abbogen. Vor allem aber konnte sie ab und zu direkt auf sie beziig- 
liche Spottreden von Passanten auffangen, z. B. „schlechte Person* 4 , „bigotte 
Person* 4 oder „also ich komme dahin 44 (eine deutliche Anspielung auf ein 
Rendezvous), ja sogar einmal seitens eines bekannten Herrn „also ich gehe 
nach X 44 (dem Wohnort des Betreffenden). Wohlbekannte Personen ver- 
mieden es, sie zu grufien, in der StraJ3enbahn kam es vor, dafi man mit 
Fingern auf sie zeigte (Dinge, die sie in Wirklichkeit gar nicht so erkennen 
konnte, da sie stark kurzsichtig ist und mit niedergeschlagenen Augen 
iiber die Strafie geht). All diese sie stark erregenden Beobachtungen machte 
sie iibrigens nur auf der Strafie, sonst nicht. 

Ueber die Saehlage war sie sich innerlich klar: Jener Herr, ein „un- 
feiner Kerl 44 oder „Bauer“, wie er war, hatte sich seiner Erfolge bei ihr 
geriihmt, und da er viele Bekannte besafi, wufiten viele darum, und die 
Sache war zum Stadtgesprach geworden. Jede einzelne ihrer Wahr¬ 
nehmungen war ihr ein neuer Beweis dafiir und fiir sie unumstofilich. Ja 
als der Herr selbst auf einen Brief hin sie aufsuchte imd sie freundlichst 
in jeder Hinsicht beruhigte, sah sie in seinem Verhalten nur die Bestatigung 
ihrer Annahme: Er habe immerfort verlegen gelachelt und ihr dadurch 
die Gewifiheit gegeben, dafi er die Schwatzerei gegen ihren guten Ruf 
angestiftet habe. 

Nach ungefahr 2 \U jalirigem Gesamtverlauf ist der Beachtungswahn 
schlie£lich langsam zuriickgetreten, ohne da£ eine wirkliche Einsicht in 
seine Krankhaftigkeit erreicht wurde. 

Aus der Ueberwertigkeit von den Schuldvorstellungen ergibt 
sich hier ohne weiteres auf dem genugsam betonten Wege der 
Exoprojektion eigener selbstqualerischer Gtedanken, der Eigen- 
beziehung im Sinne naheliegender daran geknupfter Befurch- 
tungen und der Erklarungswahnideen ein Beobachtungs- und 
Verachtungswahn, dessen die normale Breite noch nicht tiber- 
schreitende Analogie wir bereits friiher in dem Eigenbeziehungs- 
wahn des von uberwertigem SchuldbevmBtsein beherrschten 
Onanisten gefunden haben. 

Aehnlich wie der Gedanke an eine personliche Verfehlung 
kann natiirlich auch jede andere das SelbstbewuBtsein stark herab- 
mindemde dominierende Vorstellung wirken. Es sei an den friiher 
erwahnten Fall von sekundarem MiBachtungswahn erinnert, der 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



78 


Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit 


in ahnlicher Weise dadurch zu stand© gekommen war, daB durch 
©ine Kastration die Idee einer personlichen Minderwertigkeit 
wachgerufen und iiberwertig geworden war. 

Wie nachhaltig iibrigens gerade das iiberwertig© SchuldbewuBt- 
sein zu wirken vermag, zeigt ein anderer, von Wernicke beobach- 
teter Fall, wo ein 70jahriger Mann noch ziemlich ein Jahrzehnt 
nach dem affektvollen Erlebnis unter dem EinfluB der Erinnerung 
daran einem solchen Beachtungs- und Verachtungswahn verfiel. 
Erst 9 Jahre nach der von ihm selbst als makelhaft empfundenen 
Handlungsweise — Im-Stich-lassen eines Madchens, dem er friiher 
einen Antrag gemacht, als er ihre miBlichen Vermogensverhaltnisse 
erfuhr — war es hier zu Eigenbeziehungs- und MiBachtungswahn- 
vorstellungen gekommen, als der Kranke zuf&llig den ihm nur 
dem Namen nach bekannten Bruder eines Herm traf, der seinerzeit 
ebenso wie er selbst in dem Lokal des Vaters der Verschmahten 
verkehrt hatte: Er glaubte nun, AeuBerungen iiber sein ehrloses 
Verhalten zu horen, denen bald auch weitere Bel&stigungen von 
seiten dieses Herm, spater auch von seiten anderer von jenem 
vermeintlich aufgeklarter Personen nachfolgten usw. 

Ob iibrigens in diesem Falle jene die Schuldgedanken wieder 
wachrufende zufallige Begegnung allein zur Erklarung der so spat 
und ganz unvermittelt und impulsiv aufgetretenen Wahnbildung 
ausreicht, muB dahingestellt bleiben. Da ahnliche auflere Voraus- 
setzungen doch gewiB wohl auch vorher schon einmal gegeben 
waren, ohne daB es zu solchen paranoischen Erscheinungen kam, 
wird man hier wohl noch andere wirksame Hilfskrafte inneren 
Ursprungs (zunehmendes Alter?) mit heranziehen miissen. 

Soviel zur Kennzeichnung der klinischen Falle. Was sonst 
noch iiber ihre klinischen Eigenheiten, speziell im Hinblick auf die 
Wahnbildungen, iiber die Bedingungen fur ihr Auftreten, iiber ihre 
symptomatologische Ausgestaltung, ihren Verlauf und schlieB- 
lich und vor allem iiber ihre klinische Stellung zu sagen ist, soil 
nunmehr im Zusammenhang angefiihrt werden. 

Ueberwertige Idee und Wahnidee. 

Schon die oberflachliche Betrachtung lafit erkennen, daB 
man bei den mit der pathologischen Ueberwertigkeit in Zusammen¬ 
hang stehenden Wahnbildungen zweierlei zu unterscheiden hat: 
Einmal die Wahngebilde, die mit den iiberwertigen Ideen selbst 
gegeben, mit ihnen identisch sind, d. h. also die iiberwertigen Vor - 
siellungen von wahnhaftem InhaU, zum andem aber die an die 
iiberwertigen Vorstellungen sich anschlieBenden, aus ihnen hervor- 
gehenden, sekundaren Wahngebilde. Diese beiden Wahnformen 
sind naturgemaB entsprechend ihrem verschiedenen Charakter 
auch in ihrem Verhaltnis zur Ueberwertigkeit verschieden zu 
beurteilen. 

DaB die iiberwertigen Vorstellungen nicht in jedem Falle inhalt- 
lich einen ivahnhaften Charakter zu tragen brauchen, wurde schon 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


79 


friiher betont, und es geniigt, hierdaran zu erinnem, daBgerade 
bloBe Erinner ungen an affektvolle Erlebnisse, wie sie Wernicke 
als typische Vertreter der iiberwertigen Ideen hingestellt hat, 
oft genug nur die Tatsachen, also die objektive Wirklichkeit, 
wiedergeben, und daB selbst in den Fallen, wo das Bestehen von 
primaren Wahngebilden beinahe als das Selbst verst&ndliche gilt, 
bei den querulatorischen Ueberwertigkeiten eine wirklich erlittene 
rechtliche Benachteiligung den Inhalt der iiberwertigen Vor- 
stellungen ausmachen kann. 

Immerhin ist nicht zu verkennen, daB die iiberwertigen Ideen 
doch mit Vorliebe emeu wahnhaften Inhalt haben. 

Die Vrsachen sind verschiedener Art. Zunachst und vor allem 
liegt es daran, daB der pathologische Affekt, der zur Entstehung 
der Ueberwertigkeit von Vorstellungen fiihrt, zugleich auch seinen 
bekannten verfalschenden EinfluB auf den Inhalt dieser Vor- 
stellungen ausiibt. So findet man denn besonders oft iibertriebene, 
einseitige und schiefe Urteile von Ueberwertigkeitscharakter vor, 
zu denen eben die die iiberwertigen Ideen hervorrufenden seelischen 
Erregungen geniigend AnlaB geben. Des weiteren bedingen gefiihls- 
betonte Erwartungen der verschiedensten Art, sowohl lustbetonte 
(Hoffnungen) wie unlustbetonte (Befiirchtungen), wie sie gleich- 
falls sich leicht nach affektvollen Erlebnissen einstellen und zu 
iiberwertigen Ueberzeugungen werden, vielfach den wahnhaften 
Inhalt dieser Vorstellungen. Und endlich neigen die psycho- 
pathischen Charaktere, die — wie noch zu zeigen sein wird — ganz 
besonders zu Ueberwertigkeiten tendieren, zugleich aus lhrer 
pathologischen Eigenart heraus auch zu abnormer Verarbeitung 
der Vorstellungen im Sinne wahnhafter Verfalschung. 

Trotz alledem bleibt doch bestehen, daB man iiberwertige 
Idee und Wahnidee nicht ohne weiteres identifizieren darf, 
wie es gelegentlich immer wieder einmal geschieht, und wie es 
wohl auch Wernicke getan hat, als er seine iiberwertigen Ideen 
als fixe Ideen veroffentlichte. 

Die gemeinsamen Seiten, die Beriihrungapunkte dieser beiden 
Gebilde sind, soweit sie im Einzelfalle vorliegen, auf formalem 
Gebiete zu suchen: Starkste logische Geltungskraft, Tendenz als 
unerschiitterliches Fundament fur jede weitere Erfahrung, als 
inhalt- und richtunggebende Leitvorstellung fur alle weiteren 
Assoziationen zu wirken, und Auffassungs-, Erinnerungs-, Urteils- 
falschungen, falsche Beziehungskonstruktionen usw. im Sinne 
ihres Inhalts herbeizufiihren, sind Erscheinungen, die beiden ge- 
meinsam sein konnen. Fiir die iiberwertigen Ideen sind sie 
charakteristisch, sie gehoren zu ihrem Wesen, im Gebiete der 
Wahnbildungen finden sie sich speziell bei den aktiven Wahn- 
ideen mit ausgesprochen wahnbildender Kraft. Sie konnen aber 
sehr wohl fehlen, ohne daB damit der Wahncharakter behoben 
ist. Umgekehrt ist der pathologisch gefalschte Inhalt, der zu 
den unentbehrlichen Kennzeichen des Wahns gehort, nur vielfach 
bei den iiberwertigen Ideen vorhanden, er kann ihnen jedoch auch 


Digitized by 


Gca igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



80 


Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit etc. 


abgehen, ohne daB dadurch der Ueberwertigkeitscharakter auch 
nur im mindesten beeintrachtigt wird. 

Also: iiberwertige Idee ohne wahnhaften InhaU und Wahnidee 
ohne Ueberwertigkeitscharakter , diese vorkommenden Moglichkeiten 
zeigen an, wie weit diese beiden pathologischen Erscheinungen 
sich trotz aller Beriihrungen voneinander entfemen konnen. 

Was nun die sekundaren , erst aus den iiberwertigen Vor- 
stellungen sich ergebenden und sich an sie anschlieBenden Wahn- 
gebilde angeht, so kann man ihnen iiberhaupt keine weitgehende 
Sonderstellung einraumen. Sie stellen Erscheinungen dar, die in 
das allgemeine Gebiet, nicht in eine bestimmte Spezialsphare der 
Wahnbildung fallen. Beziehungswahnvorstellungen jeghcher Art 
trifft man aflenthalben an, wo nur immer die eigene Person oder 
ein an sie gebundener Inhalt sich besonders im BewuBtsein heraus- 
heben, und die anderen sekundaren Wahngebilde (logische De- 
lirien, Erklarungswahnideen usw.) sind sowohl ihren Ursachen 
wie ihrer Entstehungsart nach bis zu einem gewissen Grade als 
normalpsychologische Erscheinungen zu bewerten. Ihrem Auf- 
treten liegen durchaus natiirliche psychologische Triebkrafte, 
Bediirfnisse und Notwendigkeiten zugrunde: Beim logischen 
Delirium das innere Bestreben, eine fundamental, unumstoBliche 
subjektive Wahrheit entsprechend ihrer Bedeutung im Gebiete 
derErfahrungen zu verwerten, bei denErkliirungs- und dergleichen 
Wahnideen die Tendenz, unverstandliche oder einander resp. den 
sonstigen Erfahrungen widersprechende Erfahrungen auszugleichen 
und den gesamten Gedankeninhalt und Erfahrungsbesitz einheit- 
lich zu gestalten. Ebenso sind auch die seelischen Vorgange, die 
diesem Zwecke dienen, rein normalpsychologischer Natur, und sie 
entgleisen nur deshalb ins Pathologische, fiihren nur deshalb zu 
wahnhaften Ergebnissen, weil ihre Ausgangskomponente, eben der 
iiberwertige Vorstellungskomplex, nicht normal und richtig ist. 

Voraussetzung fiir solche an sich folgerichtig gebildete, oft 
systematisch entwickelte, wenn auch, weil von den unrichtigen 
Voraussetzungen des iiberwertigen Komplexes ausgehend, inhalt- 
lich falsche Gedankengebilde: logische Delirien, Erklarungswahn- 
bildungen usw., ist nun immerhin eine halbwegs unversehrte Be- 
schaffenheit des sonstigen Geisteslebens oder wenigstens der 
intellektuellen Punktionen, und unter diesem Gesichtspunkt diirfte 
die Wernicke sche Behauptung: „daB in diesem Sinne (sc. des 
logischen Deliriums usw.) die Geistesstorung nicht partiell bleibt, 
sondem sich verallgemeinert, ist nur ein Beweis mehr fiir die 
Intaktheit des iibrigen geistigen Geschehens und den zirkum- 
skripten Charakter der zugrundehegenden Punktionsst6rung“, 
diirfte, meine ich, diese Feststellung wenigstens nicht so jeder 
Beweiskraft entbehren, wie es nach Hitzigs ablehnender AeuBe- 
rung 1 ) erscheinen konnte. (SchluB im nachsten Heft.) 

x ) Querulantenwahnsinn. S. 63. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Alls der I. chirurgischen Klinik [Vorstand: Hofrat Prof. Dr. A. Freiherr 

von Eiselsberg .].) 

Beitrage zur Frage der kortikalen Sensibilit&tsstbrungen 1 ). 

Von 

OTTO MARBURG 

in Wien. 

(Hierzu 1 Abbildung im Text.) 

Bereits im Jahre 1882 hat Edinger 2 ) zeigen konnen, daB eine 
Beziehung der hinteren Zentralwindu ng zu Vcrderarm und Hand 
besteht. Bei einem angeborenen I efekt dieser Teile findet sich eine 
schwere Schadigung der hinteren, eine leichtere der vcrderen 
Zentralwindung. Aber auch heute ist man sich, trotz vieler darauf 
gerichteter Untersuchungen, ncch nicht vcllstandig im klaren fiber 
den Charakter dieser Benehungen. Vielleicht wird den genannten 
Verhaltnissen am besten die Larstellung vcn v. Monakow gerecht, 
die ungefahr alles bisher Eekannte fiber die Frage der Sensibilitat 
zusammenfaBt. Nach v. Monakow 3 4 ) dient sowohl die vordere, als 
auch die hintere Zentralwindung, sowie der Gyrus supramarginalis 
der Sensibilitat. 1 ie vordere Zentralwindung jedcch nur der unbe- 
wuBten tiefenSensibilitat, sowie SchmerzundTemperatur; die hintere 
Zentralwindung in erster Linie der bewuBten Sensibilitat, dem 
Tastsinne, der Gyrus supramarginalis vielleicht dem Muskelsinne, 
beide natfirlich bewuBt. Er schlieBt sich den Meinungen der ver- 
schiedenen Autcren an, daB es hauptsachlich die Endabschnitte der 
Extremitaten sind, die bei kortikalen Lasionen Geftihlsstorungen 
zeigen. 

Was nun die feinere Lokalisation dieser Geffihlsstorungen am 
Korper anlangt, so liegen die hypasthetischen Zcnen, wie 
v. Monakow ausfiihrt, zum Teil senkrecht zur Verteilung der spinalen 
Segments. Nun sind aber in den letzten Jahren eine ganze Reihe 
von Fallen bekannt geworden, bei welchen die Verteilung der 
Sensibilitatsstorungen bei kortikalen Herden vielfach spinal-seg- 
mentaren Charakter zeigte. Ohne auf die bereits s iemlich betracht- 
liche Literatur nfiher eingehen zu wo lien [siehe letzterebei Muskens*)] 
will mir scheinen, daB der Begriff spinal-segmentare Storung hier 

1 ) Dies© Arbeit war fur die ^dtngrcr-Festschrift bestimrat, die infolge 
der Kjiegsereignisse nicht erscheinen kann. 

2 ) Virchows Arch. 1882. LXXXIX. S. 59. 

3 ) Die Lokalisation im GroOhirn. Wiesbaden 1914. Bergmann. 

4 ) Nenrolog. Zbl. 1912. No. 15 

Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neumlogie. Bn. XXXVII. Heft 2. 6 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



82 


Marburg, Beitrage zur Frage 


Digitized by 


wohl nur annahernd zu gebrauchen ist. Es handelt sich zumeist um 
eigenartige flachenformige Verteilung der Sensibiltiatsstorung, ohn© 
daB mehr als eine Aehnlichkeit mit spinalen Segmenten hervortritt. 
Das gilt in erster Linie fur die Storungen der Sensibilitat derH ande, 
bei welchen merkwiirdigerweise ulnare oder radiale Gebiete isoliert 
getroffen sein konnen. Versucht man eine Reihe solcher Falle 
nebeneinanderzustellen, so findet man, daB bei der Affekticn der 
radialen Seite die Sensibilitat des Daumens und Zeigefingers und 
zumeist auch jene des Mittelfingers gelitten hat, wahrend bei 
Affektion der ulnaren Seite die zwei letzten Finger und gelegentlich 
auch der Mittelfinger getroffen ist. Gute Beispiele liefern dafiir 
u. a. Falle von Bonhoefjer 1 ) (Fall I, IV), Mu&kens (Fall II, III), eine 
sehr charakteristische Beobachtung von Dijerine und Pelletier 2 ), 
sowie eine von Andrt-Thomas und Begnard*). * » fogg 

Ich kann diesen erwahnten Fallen, denen sich sicherlich noch 
andere in der Literatur an die Seite stellen lassen werden, 
drei eigene Beobachtungen anfiigen. Alle drei betreffen SchuB- 
verletzungen des Gehims. Zwei davon sind Tangentialschiisse, 
einer ein SteckschuB. Alle drei wurden operiert und hatten den 
vollstandig gleichen Befund einer ziemlich umschriebenen Lasion 
des Cortex mit gleichzeitiger leichter Abszedierung der oberflach- 
lichen Partien. Alle drei sind seit langem ausgeheilt und zeigen die 
gleich zu beschreibenden Residualsymptome. 



Fig. 1. Grenzen der Sensi- 
bilitatsstorung der Hand. 


Fall I. G. St. wurde cun 10. IX. bei Ra- 
waruska durch einen SchrapnellstreifschuC 
verletzt. Keine BewuBtlosigkeit, kein Er- 
brechen. Er konnte sich zu FuB zum Hilfs- 
platze begeben, und nach einem kurzen Auf- 
enthalt in einem Etappenspital kam der Pa¬ 
tient am 21. IX. nach Wien. Hier zeigte sich 
ein kleiner vertikaler Substanzverlust links 
am Scheitelbein, dessen genaue Lage ober- 
fl&chlich nach der Kronleinschen Konstruktion 
mit der oberen Spitze die Rolandoache, mit 
der unteren die Sylvisehe Furche trifft, so daB 
etwa das mittlere Drittel der erstgenannten 
Fvirche erreicht ist. 

Es zeigt sich ein geringer Grad sensori- 
sche Aphasie, leichte Schwftche der r. oberen 
Extremitat, deren Reflexe entschieden ge- 
steigert sind, und schlieBlich eine sensible 
Stonmg. Diese betrifft die Radialseite der 
rechten Hand und gilt fiir alle Qualitaten inkl. 
die Stereognose. Am 24. IX. wurde der Patient 
von Hofrat von Eiselsberg debridiert, kleinste 
Knochensplitter aus der Hirnrinde entfemt, 
der um diese befindliche kleine AbszeB curet- 
tiert. Reaktionslose Heilung nach Mitte Ok- 
tober. 


Bonhoeffer , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. 1904. Bd. XXVI. S. 57. 

2 ) Dejirine-Pelletier, Revue neurol. 1912. XXIII. S. 728. 

3 ) Andre-Thomas (Regnard), Ibid. S. 729. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




der kortikalen Sensibilit&tsstbru ngen. 


83 


W&hrend die leichten Motilit&tsstdrungen, gleich wie die Stoning der 
Sprache, gleich nach der Operation zu schwinden begannen und heute als 
nahezu geschwnmden zu bezeichnen aind, blieb die Sensibilit&tsstorung in 
ihrer urspriinglichen Ausdehnung bestehen. Betroffen sind der Daumen, 
der Zeigefinger, der Mittelfinger sowohl volar ala dorsal, daa ganze Gebiet des 
Thenar und der Handflache zwischen den Fingem und dem Daumen (Fig. 1). 
Es besteht hier eine komplette Anasthesie fur alle Gefiihlsqualitaten inkl. 
Schmerz und Temperatur. Deagleichen ist die Vibrationsempfindung voll- 
standig erloschen. Das Lagegefiihl und der stereognostische Sinn fehlen 
ganz. Dafl bei der schweren allgemeinen Stoning der Sensibilitat ein Lokali- 
sieren von Gefiihlseindriicken unmoglich ist, liegt auf der Hand. Dabei ist 
die Motilitat der Finger vollst&ndig frei und erfolgt in vollem Umfange; nur 
erscheinen die Bewegungen kraftlos, was wiederum nur fiir die Finger gilt. 
Es besteht keine Ataxie. 

Fall II. F. G. erlitt bereits am 26. VIII. nahe Lublin einen Tangential- 
schuB links. Gleich danach schlechtes Sprechen und Schwache der ganzen 
rechten Korperhalfte. Der Kranke kam am 17. IX. in unsere Behandlung. 
Es fand sich links liber dem Scheitelbein etwa, 6 cm von einander entfemt ein 
reaktionsloser Ein- und AusschuB. Der Kranke bot eine nahezu komplette 
sensorische Aphasie und hatte eine Sensibilitatsstorung, die allerdings die 
ganze rechte obere Extremit&t betraf im Sinne einer leichten Hypalgesie. 
Es fiel aber gleich anfangs auf, daB auch hier der Daumen, Zeige- und Mittel¬ 
finger stark betroffen waren und Verlust der Stereognose boten. Die rechts- 
seitige Hemiparese, die daneben bemerkbar war, war eine schlaffe, mit ge- 
steigerten Sehnenreflexen. Das Debridement am 19. IX. (Prof. Ranzi) ergab 
einen RinnenschuB mit eingebrochener Tabula interna; der Knochendefekt 
wird auf 6 cm Breite erweitert, ein unter der Dura im Gehim selbst befind- 
licher AbszeB riihrt von vielen kleinen in das Gehim gedrungenen Knochen- 
splittem her. Er wird ausgeraumt. Schon am 30. IX. laBt sich deutlich eine 
Verbesserung der Sprache erkennen. Ein Gleiches gilt fiir die rechtsseitige 
Parese. Einen Monat nach der Operation werden Sprachubungen mit dem 
Kranken vorgenommen, die gute Fortschritte nehmen. Wahrend aber die 
Sprache und die Motilitat deutliche Besserung zeigen, ist die Sensibilit&ts- 
storung, so weit sie die Hand betrifft, unverandert. Die Hypalgesie des 
Vorder- und Oberarmes aber ist gleichzeitig mit der Parese geschwunden. 
Zum Unterschied von dem erstbeschriebenen Fall ist hier die Beriihrungs- 
empfindung nicht ganz gestort. Nur das Lokalisierungsvermogen ist ge- 
sch&digt. Der Kranke lokalisiert proximalwarts 1 ). 

Fall III. Der dritteFall betrifft einen 42 Jahre altenKollegen(Zahnarzt), 
der gleichfalls auf dem nordlichen Kriegsschauplatz einen Schrapnellstec kschuB 
am linken Scheitelbein erlitten hatte und zwar am 1. September. Er kam 
am 15. IX. an die Klinik, bot fast komplette sensorische Aphasie mit rechts- 
seitiger leichter Hemiparese, leichter Hemi-Hypalgesie, aber schwerer stereo- 
gnostischer Storung des Daumens, des Zeige fingers und des Mittelfingers der 
rechten Hand. Er wurde noch am selben Tage vom Hof rat von Eiselsberg 
debridiert, die Kugel wurde entfemt, der darunter gelegene AbszeB aus- 
geloffelt, wonach eine reaktionslose Heilung eintrat. SchlieBlich besserte sich 
die Parese und die Sprachstorung so, daB der Kranke heute gleich einem 
Normalen spricht, bewegt. Er vermag jedoch seinem Beruf deshalb nicht 
nachzugehen, weil er die Instrumente, die er hauptsachlich mit Daumen, 
Zeigefinger und Mittelfinger fixiert, in der Hand nicht spurt. Seine Storung 
der Sensibilitat betrifft vorwiegend Muskelgefiihle und Stereognose, wahrend 
die anderen Qualitaten nur eine Herabsetzung zeigen. Interessant ist, dafl 
auch hier das Lokalisierungsvermogen geschadigt erscheint. 

Die eben dargestellten drei Fall© entbalten drei Dinge gemein- 
sam: die Sprachstorung, die leichte Parese und die Storung der 


l ) Diese beiden Kranken wurden in der Geselischaft fiir innere Medizin 
vom 4. November demonstriert. 


6 * 


Digitized-by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



84 


Marburg, Beitr&ge zur Frage etc. 


Sensibilitat. Wahrend aber die ersten beiden nach der Operation 
sich rasch zuriickbildeten und nur im Fall II infolge des grofieren 
Herdes heute noch bestehen, ist die Sensibilitatsstorung zu einem 
stationaren Symptom geworden. Sie stellt sich dar, wenigstens in 
dem reinsten Falle, als eine Art partieller Tastlahmung. Freilich 
nicht in dem JFerntc&eschen Sinne, da gerade in diesem Falle die 
Storungen der anderen Sensibilitatsqualit aten sehr tiefgehende 
sind. Aber in den zwei anderen Fallen tritt doch das Moment der 
Tastlahmung gegeniiber den Storungen der anderen Sensibilitats- 
Qualitaten mehr in den Vordergrund. Der Umstand, daB alle drei 
Falle die linke Hemisphere betreffen und ich trotz ahnlichen Sitzes 
beiLasionenderrechtenHemispharenichtsAehnlichesfindenkonnte, 
spricht sehr dafiir, daB es sich um gnostische Storungen handelt 1 ). 
Schon Muskens ist es aufgefallen, daB solche Storungen haufiger 
bei linksseitiger Lasicn sich finden, was auch fiir die Falle von 
Dejerine-Pelletier und Andre-Thomas und Regnard gill. 

Ich mochte hier nicht in der Deutung dieser Beobachtungen 
zu weit gehen, aber das eine kann man wohl sagen, daB die Lasion 
in einem Gebiete sich finden diirfte, das zwischen vorderer Zentral- 
windung und den Gyri prcfundi der ersten Temporalwindung links 
gelegen ist. Da aber die Erscheinungen, die av.f letztere zu be> iehen 
waren, die Hemiparete und die Sprachstorungen, zuriickgegangen 
sind, so muB man annehmen, daB die Schadigung, die den statio¬ 
naren Ausfall bedingt, das dazwischen gelegene Rindengebiet be- 
trifft. Das ist die hintere Zentralwindung und der Gyrus supra- 
marginalis. Es steht diese Vermutung in vollem Einklange mit den 
Annahmen v. Monakows so weit sterognostischer Sinn, Muskelgefiihl 
und Tastsinn in Frage kommen. Vielleicht besteht eine kleine 
Divergenz in der in unserem Falle unbest reitbaren Tatsache der 
schweren Schadigung vcn Schmerz und thermischer Sensibilitat. 
Im Falle I wurden die starksten iaradischen Strome nicht emp- 
funden. Im Falle II und III jedoch handelt es sich nur um eine 
Herabsetzung dieser Empfindungen. Da aber gerade im Falle I 
die Parese so rasch schwand und jede Bewegung moglich ist, so 
muB man wohl annehmen, daB — und hier spielen vielleicht in- 
dividuelle Momente eine Rolle — auch das parietale Windungs- 
gebiet der protopathischen Sensibilitat in weitem AusmaBe dient. 

Es stimmt diese Annahme weiters auch mit dem von Muskens 
entworfenem Schema ii herein, der die Radialseite der Hand in das 
Gebiet knapp fiber der Sylvi&chsxx Furche, das der Ulnarseite iiber 
die Mitte der hinteren Zentralwindung und den angrenzenden 
Scheitellappen reichen laBt. 

Eine zweite Frage, die sich hier entscheiden laBt, ist die Frage 
der Verteilung der Sensibilitat auf Korperareale. Es scheint in der 


x ) Ich hatte iibrigens kiarzlich Gelegenheit, auch einen analogen Fall 
der rechten Hemisphare zu untersuchen — linksseitige Hemisparese mit 
Hemianasthesie und Astereognose im Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Des- 
gleichen einen Fall isolierterer Affektion im Gebiete des kleinen und vierton 
Fingers. 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage. 


85 


Tat, daB hier ein vorgebildeter Mechanismus besteht, der Daumen, 
Zeigefinger und wohl auch Mitt elf inger in sich begreift. Lie ge- 
nannten Finger sind diejenigen, welche fiir feinere Tastvorgange 
als we sent lie h in Frage kommen, und es scheint, daB es sich hier 
um Zentren fiir ganz bestimmte Empfindungsmechanismen handelt, 
die kombiniert aufzutreten pflegen, ahnlich wie wir kombinierte 
Bewegungsmechanismen in der Kinde vertreten haben. 

v. Monakow gibt die Moglichkeit solcher Zentren zu. Es ist 
auch bemerkenswert, daB dieses Yorkommen vorwiegend an die 
linke Hemisphare gekniipft zu sein scheint, wenn auch, wie u. a. ein 
Fall von Bonhoeffer beweist, die rechte Hemisphare Ahnliches 
zeigen kann. 

Entschieden aber muB man dagegen Stellung nehmen, solche 
kombinierte EmpfindungsmechanismenmitkortikalerfokalerLokali- 
sation als spinal-segmentar bezeichnen zu wollen. Eine bloB 
auBerliche Ahnlichkeit berechtigt doch nicht zur Identifikation. 

Ich mochte also resiimierend schlieBen: In der hinteren Zentral- 
windung und dem benachbarten Gyrus supramarginalis besitzen 
wir ein Zentrum fiir kombinierte Empfindungsqualitaten, dessen 
Ausfall besonders linksseitig zu einer Tastlahmung des Laumens, 
Zeigefingers und Mittelfingers fiihrt, mit gleichzeitiger Schadigung 
der protopathischen Sensibilitat und des Lokalisierungsvermogens. 


Zur Narkolepsiefrage. 1 ) 

Von 

Professor Dr. EMIL REDLICH 

in Wien. 

Wenn ich im folgenden im wesentlichen doch nur an der Hand 
eines kasuistisch zu verwertenden Falles mich mit der Frage der 
Narkolepsie beschaftige, so mochte ich zur Entschuldigung an- 
fiihren, daB es bisher der einzige Fall ist y den ich gesehen habe, 
auf den alle Charaktere der von Gilinmu beschriebenen Narkolepsie 
passen. Das zeigt, daB es sich dabei um ein recht seltenes Vor- 
kommnis handelt; ich mochte das schon hier gegeniiber Friedmann 
betonen. Das ergibt sich auch bei einer Durchsicht der Literatur; 
denn nur ein kleiner Teil dessen, was als Narkolepsie beschrieben 
wurde, verdient diese Bezeichnung. Die Mehrzahl der speziell in 
neuerer Zeit publizierten Fftlle gehort meines Erachtens in andere 
Kategorien: ich glaube die Frage der ,,Narkolepsie*‘ ist durch diese 
Arbeiten eher erschwert als geklart worden. 

A ) Dieser Aufsatz war fiir die geplante Festschrift bestimmt 

gewesen. 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



86 


R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage. 


Digitized by 


Es wird am besten sein, wenn ich zunachst die Kranken- 
geschichte meines Falles gebe und auf Gruadlage des bei unserem 
Kranken BeDbachteten zu den meist diskutierten Punkten Stellung 
zu nehmen versuche. 

Josef S., ein 19 j&hriger Mechanikergehilfe, wurde am 4. VI. 1914 in 
die Nervenheilanstalt Maria-Teresien-Schlossel aufgenommen. Der Vater 
des Patienten war starker Trinker; er starb an Wassersucht. Die Mutter lebt 
noch, ist gesund, ebenso 4 Geschwister. In der Familie soil kein Fall einer 
Nerven- oder Geisteskrankheit vorgekommen sein. Als Kind hatte Patient 
Masem und Mittelohrentziindung (reehts). Spater war er stets gesund. 
Er absolvierte mit mittlerem Erfolge die Volksschule, lemte dann das 
Mechanikergewerbe, in dem er bis zum Mai 1914 tatig war. Er trinkt im 
allgemeinen wenig, hatte bisher zweimal einen Rausch. Seit kurzem raucht 
er, 5—6 Zigaretten taglich. Vom 16.—17. Jahre war er Onanist, auch sollen 
Pollutionen haufig aufgetreten sein. Seit dem 17. Jahre sexueller Verkehr, 
in jeder Woche einmal; bisher keine venerische Infektion. 

Obwohl Patient nicht streitsiichtig ist, vertragt er sich zu Hause 
schlecht, angeblich weil sein jlingerer Bruder bevorzugt wird. (Eine Anamnese 
von seiten der Eltem war leider nicht zu erheben.) 

Patient hat stets gut geschlafen. hatte auch stets Gelegenheit, seinem 
Schiafbediirfnis Geniige zu tun. 

Seit 5—-6 Monaten treten bei ihm eigentiimliche Schlaf- oder, wie 
er es nennt, „Traumzustdnde“ auf. Wenn er einen solchen Anfall heran- 
nahen merkt, was er an einem Gefiihl von Mattigkeit und Kopfschmerz 
spiirt, so setzt er sich, wenn irgend moglich, nieder, um einige Minuten 
zu schlafen . Der Schlaf liberfallt ihn auch bei der Arbeit, beim Schreiben, 
Lesen usw., gleichgiiltig, ob er steht oder sitzt, auch im Gehen, wobei eran 
andere Personen anstofit. Er kann aus dem Schlaf durch Anruf geweckt 
werden, kann sich aber desselben fiir gewohnlich nicht erwehren. Gelingt 
ihm dies infolge intensiver Anstrengung trotzdem, so bleibt er schl&frig 
und verf&llt spater um so sicherer in Schlaf. Der Schlaf dauert 6—10 Minuten; 
hat er aber Gelegenheit, beim herannahenden Schlaf anfall sich nieder- 
zulegen, so dauert ein solcher Anfall auch langer; einmal schlief er sogar 
einen halben Tag. Wahrend des Schlafes tr&umt er oft, z. B. von Erlebnissen 
des Tages, daher spricht er von Traumzustanden. Er weiB immer, daB er ge¬ 
schlafen hat, meist auch von dem, wovon er getraumt hat. Nach dem Schlaf 
hat er leichten Kopfschmerz, der aber rasch wieder vergeht; dann fiihlt er 
sich wieder wohl. Die Anfalle kommen etwa 2—3 mal taglich, ungefahr um 
10 Uhr vormittags und 4 Uhr nachmittags und wahrend der Mittagszeit. 
Aufregungen haben keinen EinfluB auf die H&ufigkeit der Anfalle. Hingegen 
treten die Anf&lle leichter auf, wenn Patient allein ist, ruhig sitzt, liest usw. 
Trotzdem Patient auch jetzt nachts gut schlaft, hat er den ganzen Tag ein 
Qefiihl von Miidigkeit und Schlaf rig ke it, mufl haufig gahnen. 

Seit 4 Monaten hat Patient auch beim lauten Lachen das Qefiihl , als 
miisse er zusammensturzen, knickt daJbei in den Knieen ein , beutelt etwas mit 
dem Kopf, l&Bt auch gelegentlich, wenn er etwas in der Hand halt, dies 
fallen oder verschiittet Fliissigkeit aus einem Glase, das er indenHanden 
hat. Niemals aber kommt es durch das Lachen zu einem Schlafzustand oder 
einem Anfalle mit Bewufltlosigkeit. Auch sonst sind niemals Anfalle mit 
BewuBtlosigkeit, Zuckungen, ZungenbiB, Urinabgang oder Ahnliches 
aufgetreten. 

Die Untersuchung ergibt folgendes: 

Pat. ist klein, von gutem EmAhrungszustand. Das Gesicht ist immer 
etwas kongestioniert, der Gesichtsausdruck hat etwas Schl&friges, die Lid- 
spalten sind eng, die Oberlider leicht herabh&ngend. Der SchAdel ist 
lAnglich, seine groBte Zirkumferenz betragt 56 cm; er ist nirgends per- 
kussionsempfindlich, die Austrittsstellen der Nervenstamme sind mcht- 
druckempfindlich. Rontgenbefund (Prof. Dr. Schuller): Sch&del ger&umig, 
3 mm dick, seine Innenflache normal. Sella von normaler GroBe. _ |g 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage. 


87 


Die Pupillen gleich, mittelweit, reagieren prompt auf Lichteinfall und 
Akkommodation. Die Augen frei bewegUoh, kein Nystagmus. Der Augen- 
hintergrimd normal, Visus rechts 6 /b* links 5 /»- Die Gesiehtsinnervation 
gleich. Kein Facialisphanomen. Die Zunge wird gerade vorgestreckt, 
weicht beim Vorstrecken nicht ab, zeigt keinen Tremor. Corneal- und Wiirg- 
reflexe vorhanden, prompt. 

Kein Zittem der vorgespreizten Finger, keine Ataxie der oberen oder 
unteren Extremit&ten. Die Sehnenreflexe der oberen Extremit&ten m&Big 
lebhaft, gleich. Die unteren Extremitaten ohne Stdrung, die Sehnenreflexe 
lebhaft, gleich. Hautreflexe normal. Sensibilitatsstorungen am Rumpfe 
und den Extremitaten fehlen. Der Harnbefund normal. 

Am 17. VII. wurde eine Lumbalpunktion vorgenommen: Der Druck 
betrug (mit dem Quincke schen Apparat gemessen) 190 mm Wasser; es wurden 
7 ccm klarer Flussigkeit entleert. Bei der Untersuchung fand sich in 1 com 
eine Zelle; EiweiB- und Globulingehalt normal. 

In psychischer Beziehung ist zu bemerken, daB Pat. zunachst ohne 
auff&llige Besonderheiten ist. Er fiigt sich tadellos in das Anstaltsleben, ist 
gef&llig, hilfsbereit. Er ist zufrieden, nicht erregbar oder streitsiichtig, im 
Gegenteil ist eine gewisse Schlappheit oder Inaktivitat unverkennbar. Er 
liest nichts, weder Zeitungen noch Bucher, halt sich meist etwas abseits von 
den anderen Kranken; am liebsten sitzt er allein auf einer Bank im Korridor 
oder Garten, ohne Versuch, sich irgendwie zu besch&ftigen. 

M| Ueber das Verhalten des Kranken w&hrend seines Aufenthaltes in 
der Anstalt (4. VI.—31. VII.) w&re folgendes zu bemerken: Die oben er- 
w&hnten Schlafanf&lle stellten sich mehrmals t&glich ein; sie traten mit 
Vorliebe dann auf, wenn Pat. allein war, z. B. im Garten saB oder sonst 
unbeschaftigt war. Einmal wurde er von mir, auf einer Gartenbank sitzend, 
in einem solchen Zustande angetroffen; er bot vollig den Anblick eines 
Schlafenden ; die Augen waren geschlossen,derKopf gegendie Brust gesunken, 
die Respiration flach. Beim Versuch, die Augen zu offnen, fand man einen 
gewissen Widerstand. Trotz dreimaligem Oeffnen der Augen erwachte 
Pat. nicht; die Pupillen waren eng, die Reaktion nicht zu priifen. Beim 
vierten Versuch, die Augen zu offnen, erwachte Pat. Er ist zun&ohst oblige 
Sekunden etwas schwer besinnlich, dann wieder wie sonst. Er weiB, daB er 
geschlafen hat. 

Es wurde verschiedentlich versucht, das Auftreten der Schlafanf&lle 
therapeutisch zu beeinflussen. Von der Voraussetzung ausgehend, daB trotz 
dem anscheinend guten Schlafe vielleicht die Schlaftiefe nicht geniigend sei, 
daB also, wenn man so sagen darf, das Schlafquantum, resultierend aus 
Schlafzeit und Schlaftiefe, ungeniigend seien, erhielt Pat. mehrere Nachte 
hintereinander ein Schlafmittel (0,5 Medinal oder 1 g Adalin), worauf Pat. 
tats&chlich langer als gewohnlich schlief. Ein EinfluB auf die Schlafanf&lle 
war dadurch nicht zu erzielen. Es wurde dann umgekehrt versucht, gegen 
die standige Schl&frigkeit des Pat. einzuwirken, dadurch, daB ihm mehr¬ 
mals t&glich schwarzer Kaffee verabreicht wurde, zweimal auch 0,2 
Coffein. natr. salicyl. subkutan injiziert wurde. Auch das war wirkungslos, 
Pat. behauptete, eine Aenderung nur insoweit zu merken, als der dem 
Schlafe sonst vorausgehende Kopfschmerz geringer sei. Nach der oben er- 
w&hnten Lumbalpunktion klagte Pat. lange iiber Kopfschmerz. Mehrere 
Tage spater stieB Pat. in der Nacht plotzlich den Ruf aus: ,,YVer da“. Ge- 
weckt, war er sehr angstlich und erz&hlte, er habe auf dem Gange gehen 
gehort; er habe dann gesehen, daB dasFenster aufging und maskierte M&nnei 
hereingeblickt h&tten. Als er sie anrief, seien sie verschwunden. 

Ebenso wenig EinfluB wie die erwahnten MaBnahmen hatten jene, 
die auf eine Hebung des allgemein-nervosen Zustandes einzuwirken ver- 
suchten, wie z. B. hydriatische Prozeduren (Halbb&der), allgemeine Fara¬ 
disation, Strychnininjektionen usw. Pat. fiihlte sich subjektiv zwar etwas 
wohler, die Schlafanf&lle blieben unbeeinfluBt. 

Pat. wurde nach achtwochentlichem Aufenthalte im wesentlich unver- 
anderten Zustande entlassen, da wegen des beginnenden Krieges die Anstalt 
ger&umt werden muBte. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


8S R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage. 

Am 18.X. 1914 hatte ich wieder Gelegenheit, den Pat. ambulatorisch zu 
untersuchen. Eristseit seiner Entlassung wieder in seinem Bemfe als Auto - 
mobilschlosser t&tig. Nach der Entlassung schlief er anfanglich taglich 4—5 
mal wahrend der Arbeit ein, mit Vorliebe dann, wenn er z. B., um etwas an 
einem Auto zu richten, sich auf den Boden legen muBte. Er fiihlte dann eine 
groBe Mattigkeit, das Werkzeug fiel ihm aus der Hand und er schlief fest ein; 
seine Arbeitskollegen, die das Einschlafen merkten, weckten ihn des ofteren 
dadurch, daB sie imter grofiem Ger&usch ein Werkzeug in seiner Nahe auf 
den Boden fallen lie Ben. Der Schlaf dauerte meist nur kurze Zeit, etwa 
5 Minuten; daB er dabei getraumt hatte, ist ihm jetzt nicht bewuBt. Seit 
einiger Zeit geht es besser. Meist h&lt er es bis Mittag aus; nach Tisch aber 
fiihlt er ein unbezwinglichesBediirfnis, zu schlafen. Er schlaft dann etwa eine 
Viertelstunde, meist so fest, daB er gar nichts hort. Nachmittags schl&ft er 
des ofteren bei der Arbeit ein. Abends fiihlt er sich so miide, daB er in dem 
Zuge, in dem er nach Hause fahrt, meist einschlaft und von Bekannten ge- 
weckt werden mufi, soli er nicht die Station, in der er aussteigen soil, iiber- 
fahren. In der Nacht schlaft er etwas unruhig, erwacht ofters. Beim Lachen, 
gelegentlich auch sonst beim Gehen, knickt er fur einen Moment zusammen, 
kann sich aber gleich wieder aufrichten. Kopfschmerz besteht jetzt selten; 
Appetit und Stuhl ist in Ordnung. Seine Stimmung ist gut; zu Hause, wo er 
iibrigens nur wenig ist, vertragt er sich mit seiner Umgebung jetzt leidlich. 
Sexuell hat er in normaler Weise verkehrt. Er trinkt und raucht sehr maBig. 
Sein Gewicht ist seit der Entlassung so ziemlich gleich geblieben. 

Der objektive Status ist unverandert. Speziell sei hervorgehoben, daB 
Facialisphanomen, Trousseau fehlen, ebenso eine elektrische Uebererreg- 
barkeit. Bei Priifung mit dem galvanischen Strom findet sich: 


Nervus ulnaris dext. 

K.S.Z. 

1,2 MA 


A.S.Z. 

2,8 „ 


AO.Z. 

5 


K.S.Te. 

5 

Nervous medianus dext. 

K.S.Z. 

1 


A.S.Z. 

4 

Nervus fetcialis dext. 

K.S.Z. 

2,8 „ 


AS.Z. 

5 


Ebenso fehlen Anzeichen einer myasthenischen oder mvotonischen 
Reaktion. 

Fassen wir das Wesentliche der Krankengeschichte unseres 
Falles zusammen, so ergibt sich, daB bei einem 19 jahrigen Pat., 
Sohn eines Trinkers, sonst aber hereditar nicht belastet, der 
zunachst auch keine Zeichen einer besonderen psychopathischen 
Konstitution darbot, seit mehreren Monaten Anfalle bestehen, 
die man nach der Schilderung und nach der Beobachtung nicht 
anders als Schlafanfatte bezeichnen kann. Eingeleitet von Kopf- 
schmerzen und einem Gefiihl von Schlafrigkeit treten diese Zu- 
stande auf, in denen Pat. ganz den Eindruck eines Schlafenden 
macht; Kopf und Lider sinken herab, das Gesicht ist leicht konge- 
stioniert,die Respiraticn flach. Pat. spricht auch von Traumzu- 
standen , weil er, wie er behauptet, wahrend dieser Zustande des ofteren 
traume. Auch Gowers hebt dies bei einem seiner Falle hervor. 
Pat. ist nur selten und dann nur voriibergehend imstande, das 
plotzlich auftauchende Schlaf bediirfnis zu unterdriicken, wohl aber 
kann er meist durch Anrufen oder Riitteln geweckt werden, ist dann 
wie beim Erwecken aus dem natiirlichen Schlafe kurze Zeit etwas 
schwer besinnlich, dann aber wieder ganz in Ordnung. 

Die Anfalle kommen mehrmals des Tages, wahrend der Arbeit, 
auch auf der StraBe beim Gehen, mit Vorliebe aber dann, wenn 


Gck igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 





R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage. 


8» 

Pat. ohne Besehaftigung in ruhiger Umgebung sitzt, wo also die 
Bedingungen fiir den Schlaf liberhaupt die giinstigsten sind. Die 
Dauer der Schlaf anfalle ist kurz, einige Minuten, unter den eben 
erwahnten giinstigen Bedingungen auch langer, eine halbe selbst 
mehrere Stunden. Ich mochte auch noch hervorheben. daB Pat. 
trotz gutem Nachtschlafe immer einen schlafrigen Eindruck macht 
und auch sich selbst immer schlafrig und miide fiihlt. 

Der Fall gleicht also in Bezug auf die Anfalle vollstandig dem, 
was Gelineau seiner/eit als Naikolepsie beschrieben hat. Gelineaus 
Kranker hatte nach der Wiedergabe des Falles bei Lowenfeld 1 ) 
Anfalle — unter Umstanden bis zu 200 an einem Tage —, in denen 
er in Schlaf verfiel. , ,Die Lider senken sich, die Hand laBt die 
Gabel, das Messer, das Glas fallen; der Satz, den er mit lauter 
Stimme begonnen, wird nur mit Miihe beendigt, unter Stammeln 
und mit leiser Stimme, sein Kopf sinkt herab, er schlaft. Dabei 
hort er, was um ihn gesprochen wird. Wahrend des Schlafes sinkt 
der Puls von 66—68 auf 58—60. Die im Wachen engen Pupillen 
werden etwas weiter.“ 

Ganz ahnlich ist es in einem von Westphal 2 ) etwa gleichzeitig 
mit Oilineau beschriebenen Falle, einen 36 jahrigen Mann be- 
treffend, der seit sieben Jahren an solchen Schlafanfalien litt. 
Bei dem von Westphal selbst beobachteten Anfalle z. B. heiBt es, 
,,die Lider senken sich allmahlich wie beim Einschlafen, die Augen 
Tollen nach oben. Pat. hort zu sprechen auf, der Kopf sinkt auf die 
Brust herab, Pat. bietet das Bild eines im Sitzen Eingeschlafenen. 
Nach kurzer Zeit hebt er den Arm, wie wenn er sich recken wiirde, 
wischt sich die Augen. Manchmal gehen die Anfalle in wirklichen 
Schlaf uber; er wird bei der Visite tatsachlich offers schlafend an- 
getrcffen. Ein solches Einschlafen tritt auch beim Gehen auf der 
StraBe auf.“ 

Ich will auf die Literatur der Narkolepsie hier nicht im Detail 
eingehen. Sie findet sich eingehend wiedergegeben bei Lowenfeld 
(1. c.), Friedmann 3 ), Stocker 4 ) Engelhard 6 ) u. a. Mit Gowers* •*) ) u. a. 
rechne ich zur Gelineaus chen Narkolepsie aber nur jene Falle, wo 
die Anfalle den vollen Charakter des Schlaf es haben. Das gilt z. B. 
fiir die Falle von Ballet, 1 ) einen Fall von Cormoc (zitiert bei Engel - 


*) Lowenfeld, Ueber Narkolepsie. Miinch. med. Woch. 1912. S. 1041. 

•*) Westphal, Eigentiimliche, mit Einschlafen verbundene Anfalle. 
Arch. f. Psych. Bd. 7. S. 631. 1877. 

а ) Friedmann , Ueber die nicht epileptischen Absenzen oder kurzen 
narkoleptischen Anfalle. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 30. S. 462. 
1906, und Zur Kenntnis der gehauften, nicht epileptischen Absenzen im 
Kindesalter. Ztschr. f. d. ges. Neurol. Orig. Bd. 9. S. 245. 1912. 

4 ) Stocker, Zur Narkolepsiefrage. Ztschr. f. d. ges. Neurol. Orig. Bd. 18. 
S. 217. 1913. 

б ) Engelhard , Zur Frage der gehauften kleinen Anfalle. Mon. f. Psych. 

Bd. 36. S. 113. 1914. 

•) Qowers , Handbuch der Nervenkrankheiten. III. S. 404, und Grenz- 
gebiete der Epilepsie. Deutsch von Schweiger. S. 106. 

7 ) Ballet , Contributions 4 l’6tude du sommeil pathologique. Rev. 
de m6d. 1882. S. 945. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



90 R e d 1 i c h , Zur Xarkolepsiefrage. 

hard), dann von einem Falle von Guleke (zitiert bei Engelhard ), 
einem Falle von Pitres und Brandeis 1 ), von Dercum 2 ), einer Be- 
obachtung von Stocker u. A. 

Indem ich es mir vorbehalte, auf die Frage der Narkolepsie und 
die daran ankniipfenden Diskussionen der letzten Zeit noch sp&ter 
einzugehen, will ich zur Charakterisierung unseres Falles noch 
hervorheben, daB er sich in einer Beziehung von den Fallen von 
Gelineau , Westphal u. A. unterscheidet, namlich dadurch, daB 
Gemiitsbewegungen keinen EinfluB auf die Haufigkeit der Anfalle 
hatten. Dagegen stimmt er mit der Mehrzahl der Beobachtungen 
,,echter Narkolepsie 44 , wie ich zunachst mit Gowers sagen will, 
wieder darin iiberein, daB die Behandlung, soweit ich wenigstens 
die Beobachtung fortsetzen konnte, ohne EinfluB blieb. Wir haben 
es mit einer Allgemeinbehandlung versucht, mit SuggestivmaB- 
regeln; wir haben den natiirlichen Schlaf gefordert, ihn zu hemmen 
gesucht, z. B. durch schwarzen Kaffee, durch subkutane Injektion 
von Coffein, das Gowers riihmt; die Anfalle kamen in wenig ver- 
anderter Frequenz immer wieder. 

Noch ein Symptom teilt unser Fall mit dem von Gelineau 
und Lowenfeld ; beim Lachen hatte der Pat. das Gefiihl, als miisse 
er zusammensinken, knickte dabei in den Knien ein, lieB auch 
gelegentlich einen Gegenstand, den er in der Hand hielt, fallen. 
Bei Gilineaus Patienten trat dieses eigentiimliche Verhalten, das 
an Oppenheims Lachschlag 3 ) erinnert, uberhaupt als erstes Symptom 
auf. „Wenn er aus vollem Halse lachte oder in seinem Handel ein 
gutes Geschaft vor sich sah, fiihlte er plotzlich eine Schwache in 
seinen Beinen, die unter ihm einknickten. 44 Oder bei Lowenfelds 
Patienten: ,,Beim Lachen fiihlte er eine gewisse Muskelerschlaffung; 
beim Gehen fing er dabei an, zu straucheln und in den Beinen 
zusammenzuknicken. Er muBte sich anhalten, um nicht hin- 
zusfciirzen. Hielt er etwas in der Hand, entfiel es ihm.“ Spater 
heiBt es: ,,Beim Lachen trat eine ailgemeine Bewegungshemmung 
ein, so daB er nicht sprechen, auch nichts in der Hand halten 
konnte. Dabei kam es auch vor, daB er den geoffneten Mund nicht 
mehr schlieBen konnte, auch soli das Gesicht verzogen gewesen 
sein. Beim Lachen trat fur einige Sekunden eine Unfahigkeit, sich 
zu riihren, eine formliche kataleptische Starre ein. 44 

Als ein weiteres wichtiges Charakteristikon unseres Falles 
nach der negativen Seite hin ist das Fehlen epileptischer oder sicher 
hysterischer Symptome zu erwahnen. Niemals ist bei unserem Kran- 
ken ein Anfall mit voller BewuBtlosigkeit, Zuckungen, ZungenbiB, 
Urinabgang usw., wie sie fur epileptische Anfalle charakteristisch 
sind, beobachtet worden, auch fehlt jede Andeutung einer epi- 

1 ) Pitres und Brandsis . Sur uti cas de Narkolepsie. C. r. de soc. de Biol. 
1910. I. S. 844. 

2 ) Dercum , Profound somnolence or Narkolepsy. Journ. of nerv. and 

ment. dis. 1913. S. 185. Bd.40. 

3 ) Oppenheim , L?hrbuch der Nervenkrankheiten. VI. Aufl. 1913. 
S. 1421. ;J 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage. 


91 


leptischen Charakterveranderung oder Demenz. Das ist wichtig 
zu betonen, denn es ist zweifellos, daB ©s Fall© von Epilepsie gibt, 
wo den narkoleptischen gleiche Schlafanfalle vorkommen; das gilt 
z. B. fur einen von Schultze 1 ) beschriebenen Fall. Wir werden sehen, 
daB man bier vielfach von ©iner symptomatischen oder sekundaren 
Narkolepsie gesprochen hat. 

Auch fur die Diagnose der Hysterie kann ich bei unserem Pat. 
nichts finden. Als auffallig war nur sein Verhalten nach der Lumbal- 
punktion zu bezeichnen, die schwere und vor allem auffallig lang 
andauemde Reaktion nach derselben, ein nach meinen Erfahrungen 
Bei funktionellen Erkrankungen recht haufiges Verhalten. Aber 
es geniigt nicht, bei unserem Pat. Hysterie zu diagnostizieren. 
Die Hysterie muBte darum in Betracht gezogen werden, weil es 
bekannt ist, daB auch bei ihr Schlafanfalle vorkommen, am auf- 
falligsten in Form der bekannten Tage, selbst Wochen andauemden 
Schlafanfalle, aber auch solcher von kiirzerer Dauer. In der 
Literatur der Narkolepsie finden sich auch zweifellos der Hysterie 
zugehorige Falle verzeichnet, meist freilich mit Anfalien, die man 
besser als somnambule zu bezeichnen hatte. Hierher rechne ich 
einzelne der Falle von Berkhan 2 ), wahrend ich andere der von diesem 
Autor beschriebenen Falle eher als epileptische auffassen mochte; 
Zweifelhaft erscheinen mir die Fall© von Mendel 3 ), Fischer 4 * ) u. A. 
obwohl ich personlich geneigt bin, sie zur Hysterie zu rechnen. 
Auch Klienebergers 6 ) Fall ist mir nioht ganz klar. 

Ein Punkt bedarf noch einer besonderen Besprechung. 
Friedmann ist in seiner bekannten Arbeit 6 ) auf die gehauften kleinen 
Anfalle des Kindesalters zu sprechen gekommen und hat die 
Griinde angegeben, die ihre Sondersteflung von der Epilepsie 
nahelegen. Uns interessiert vor allem der Umstand, daB Friedmann 
hier diese Falle in gewisse Beziehung zur Oelineauschen Narkolepsie 
brachte und darum auch von kurzen narkoleptischen Anf alien sprach. 
Die Schilderung, die er von den Anf alien seiner Falle gibt, hat aber 
kaum etwas mit der Gtlineauschen Narkolepsie gemeinsam, es 
handelt sich vielmehr um Absenzustande, eine Bezeichnung, die 
Friedmann fur die Charakterisierung dieser Anfalle mit Recht an 
erster Stelle nennt. Obwohl Friedmann in seiner zweiten 
Arbeit 7 ) iiberhaupt nicht mehr von narkoleptischen Anfallen, 

l ) Schultze , Ueber pathologische Schlafzustande und deren Beziehungen 
zur Narkolepsie. Ztschr. f. Psych. Bd. 52. S. 724. 1896. 

а ) Berkhan , Eigentiimliche, mit Einschlafen verbundene Anfalle. 

Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 2. S. 177. 1892. 

3 ) Mendel , Ueber Anfalle von Einschlafen. Dtsch. med. Woch. 1880. 
S. 266. 

4 ) Fischer , Epileptoide Schlafzustande. Arch. f. Psych. Bd. 8. S. 200. 

б ) Klieneberger, Ueber Narkolepsie. Berl. klin. Woch. 1913. S. 246. 

•) Friedmann , Ueber die nicht epleptischen Absenzen oder kurzen 
narkoleptischen Anfalle. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 30. S. 762. 
1906. 

7 ) Friedmann , Zur Kenntnis der gehauften nicht epileptischen Ab¬ 
senzen im Kindesalter. Ztschr. f. d. ges. Neurol. Orig. Bd. 9. S. 245. 
1912. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



92 


R e d 1 i c h , Zur Narkolepsiefrage. 


Digitized by 


sondern nur mehr von gehauften, nicht epileptischen Absenzen im 
Kindesalter spricht, ist die durch Friedmanns Arbeit angeregte 
Literatur doch vielfach wieder auf erstere Bezeichnung zurfick- 
gekommen. Das gilt z. B. von Mann 1 ), der diese Anfalle mit der 
Spasmophilie in Be: iehung brachte, indem er bei denselben eine 
Steigerung der galvanischen Erregbarkeit nachwies, ein Symptom, 
das auch Friedmann in seiner zweiten Publikation bei eimelnen 
Fallen bestatigen konnte. Sieht man aber Manns Beschreibung 
genauer durch, so muB mansagen, daB seine Falle mit der Narkclepsie 
OeUneaus nichts zu tun haben, es fehlt sogar jede Aehnlichkeit mit 
einem Schlafzustande. Es ist mir zweifellos, daB einzelne seiner 
Falle zur Epilepsie gehoren. So ist von den Fallen seiner ersten 
Publikation im zweiten Falle wahrend eines Anfalles Pupillen- 
starre nachgewiesen worden, in der zweiten Publikation sind bei 
Fall I Anfalle mit ZungenbiB verzeichnet. Seiche Falle mochte ich 
als Kombination von Tetanie und Epilepsie auffassen. (In parenthesi 
sei iibrigens bemerkt, daB unser Fall keine Zeichen von Spasmo¬ 
philie aufwies.) Auch von den Fallen von Rohde 2 ), die dieser Autor 
der Narkclepsie anreiht, hat die Mehrzahl meines Erachtens nichts 
mit der OUineau schen Narkclepsie gemein, das gleiche gilt von 
Schroder 3 ). 

Zu betonen ist auch, daB es sich bei diesen Fallen nahezu stets 
um Kinder handelt, wahrend die Falle „echter“ Narkolepsie er- 
wachsene Individuen, hochstens solche im jugendlichen Alter, 
betreffen. Stocker, dessen wir schon erwahnten, meint daher mit 
Recht, daB der Ausdruck Narkclepsie fiir die gehauften nicht 
epileptischen Anfalle des Kindesalters unglficklich gew&hlt 6ei; 
ahnlich auBert sich auch Engelhard 4 ). Dem kann ich mich nur 
anschlieBen; man tut meines Erachtens besser, die noch offene 
Frage der Narkclepsie nicht dadurch zu komplizieren, daB man die 
gleichfalls ncch ungeklarte Frage der Pathogenese dieser gehauften 
kleinen Anfalle damit verqu ickt. Es sei mirgestattet, fiber letztere hier 
noch einige Worte zu sagen. Man hat ihre epileptische Natur aus- 
geschlossen, war sogar, wie z. B. Heitbronner 5 ) und dessen Schfiler 
Engelhard, geneigt, sie der Hysterie zuzurechnen. Den Argumenten, 
die man in dieser Hinsicht beigebracht hat (plotzliches gehauftes 
Auftreten im Kindesalter, trotz jahrelangem Verlaufe Intakt- 
bleibenderPsyche, Wirkungslosigkeit antiepileptischer MaBnahmen, 


1 ) Mann , Erregbarkeitssteigerung bei narkoleptischen Anfalien. 

Ztschr. f. med. Elektrologie. 1911. S. 82, und Ueber die Beziehungen der 
narkoleptischen (gehauften, kleinen, nicht epileptischen) Anfalle zur Tetanie. 
Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 50. S. 263. 1913. 

2 ) Rohde , Zur Genese von Anf&llen und diesen nahestehenden Zu- 

standen bei sogenannten Nervosen. Ztschr. f. d. ges. Neurol. Orig. Bd. 10. 
S. 473. 1912. 

8 ) Schroder , Ueber Narkolepsie. Neurol. Zbl. 1913. S. 598. 

4 ) Engelhard , Zur Frage der gehauften kleinen Anfalle. Mon. f. Psych. 
Bd. 36. S. 113. 1914. 

B ) Heitbronner , Ueber die gehauften kleinen Anfalle. Dtsch. Ztschr. 
f. Nervenheilk. Bd. 31. S. 472. 1906. 


Google 


Original from 

UNIVERSSTY OF MICHIGAN 




R e d 1 i c h , Zur Narkolepsielrage. 


<J3 


EinfluB affektiver Momente auf die Auslosung und Haufigkeit der 
Anfalle, Wirksamkeit su£ gestiv wirkenderMomente u. a.), kommt, wie 
ich mit Leivandoiusky 1 ) betcnen muB, nicht durchaus die beweisende 
Kraft zu, die man ihnen vielfach zi geschrieben hat. Die Aus- 
fiihrungen, die Engelhard bei Besprechung einzelner seiner Falle 
gegen die Diagnose der Epilepsie vorbringt, muB ich zum Teil fiir 
gezwungen erklaren; ich wiirde vielmehr nicht anstehen, den einen 
oder anderen seiner Falle unbedenklich als Epilepsie zu diagnosti- 
zieren. In anderen Fallen dxirfte, wie Vogt 2 ) mit Recht meint, die 
Sachlage spaterhin, selbst nach jahrelangem Bestande ausschlieB- 
lich kleiner Anfalle durch das Auftreten zweifellos epileptischer 
Anfalle ncch geklart werden. Fur andere hierhergehorige Falle 
laBt sich freihch vorlaufig ein endgiiltiges Urteil noch nicht abgeben. 

Doch kehren wir nach dieser Abschweif ng zu der uns be- 
schaft igendenFrage derNarkc lepsie zuriick. Qelineau hatte, ahnlich, 
wie spater Westphal , angenommen, daB es sich bei ihr um eine 
Neurcse spezifischer Art handle; ihm hatte sich Lowenfeld ange- 
schl ssen, der die Nark< lepsie als einen Morbus sui generis erklarte. 
Anderseits ist von Gelineau selbst, Ballet , Lowenfeld , Friedmann , 
Oppenheim , Lhermitte 3 ) u. A. hervorgehoben wprden, daB echte 
Schlafanfalle bei anderweitigen Erkrankungen, z. B. bei der 
Epilepsie, der Hysterie, bei allgemeiner Psychopathie, dann bei 
Diabetes, Magen- und Leberaffektic nen, bei allgemeiner Obce- 
sitas usw., vorkommen (symptomatische odersehundareNarlcolepsie ). 
Das beweist aber meines Erachtens ncch nicht, daB es 
keine ,,echte*‘ Narkolepsie geben konne. Erinnern wir uns an die 
Epilepsie, die ja in unserer Frage immer wieder herangezogen 
werden muBte. Auch hier wissen wir, daB epileptische Anfalle 
ohne ein grob-anatomische Hirn- oder anderweitige Erkrankung 
in chronischer Weise auftreten konnen, daB aber anderseits eben- 
sclche Anfalle als symptomatische Erscheinung bei verschiedenen 
Erkrankungen des Gehims, bei Allgemeinerkrankungen, Intoxi- 
katicnen usw., vcrkommen. Wie aber hier bei den symptomatischen 
epileptischen Anfalien die Grundkrankheit nachweislich sein muB, 
unter Umstanden freilich erst der Obduktionsbefund Aufklarung 
bringt, so wxirden alle jene Falle mit narkc leptischen Anfallen, 
beidenensich ein ander weitig es Leiden f eststellenlaBt, als symptoma- 
tisch aufzufassen sein. Sehen wir von diesen Fallen ab, dann bleibt 
eine, wie wir gesehen haben, freilich kleine Zahl von Fallen iibrig, 
bei denen sich s< lche Schlafanfalle finden, ohne daB ein ausge- 
sprochenenes nervoses oder allgemeines Leiden, vor allem Epilepsie 
und Hysterie, besti nde. Das waren die Falle ,,echter Narkc lepsie**. 

Klinisch lassen sich diese Falle charakterisieren durch das 
gehat fte Auftreten vcn krr dai emden, dem natiirlichen Schlafe 
volLtandig gleichenden Anfallen bei sonst gesunden, hochstens 

x ) Lewandow8ky, in Handbuch der Neurologie. Bd. VI. S. 713. 

*) Vogt , Epilepsie in Aschaffenburgs Handbuch der Psychiatrie. 
Spezieller Teil I. 1. S. 150. 

8 ) Lhermitte, Les Narkolepsies. Rev. neiuol. 1910. II. S. 203. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



94 


Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologic. 


leicht neuropathischen Individuen, meist im erwachsenen Alter. 
Charakteristisch ist ferner die lange Dauer des Leidens, die geringe 
therapeuthische BeeinfluBbarkeit. Ein patho-physiologisches 
Verstandnis dieser Falle fehlt uns, wie man gestehen muB, freilich 
noch. Qflineau hatte angenommen, daB diese Schlafanfalle zustande 
kommen dadurch, daB die nervosen Zentralorgane, vor allem die 
Briicke, zu wenig Sauerstoff erhalten oder ihn wenigstens zu rasch 
verbrauchen, eino Erklarung, die schon Ballett als ganz hypothetisch 
zurfickgewiesen hatte. L&ivenfeld legte das Hauptgewicht auf 
motorische Hemmungsvorgange, ahnlich Friedmann , der es freilich 
dahingestellt sein laBt, ob es sich dabei um ein Nachlassen der 
Rindentatigkeit oder um eine Reizung eines vasomotorischen oder 
Hemmungszentrums handle. Keineswegs komme man aber mit 
der Annahme einer Himanamie aus. Friedmann zieht aber, worauf 
ich mehr Gewicht legen mochte, als Vergleichsobjekt den Zustand 
vor dem natfirlichen Einschlafen heran und meint, daB es sich 
vielleicht um ein Symptom der Gehimmiidigkeit handle. In der Tat 
haben wir bei unserem Falle — und das gleiche ist bei einzelnen 
FallenderLiteraturhervorgehoben—gesehen, daB derKrankeimmer, 
auch auBerlich, den Eindrack besonderer Schlafrigkeit machte 
und immer fiber eine gewisse Mfidigkeit und Schlafrigkeit klagte. 
Auch die Details fiber das Auftreten und die Begtinstigung der 
Schlafanfalle, die wir bei unserem Kranken beobachtet haben, 
erinnem an ein gesteigertes Schlafbedfirfnis, das sich aber in einer 
pathologischen Form auBert. Es hatte, glaube ich, angesichts des 
Umstandes, daB wir beztiglich des normalen Schlafes nur mehr 
minder zutreffende Hypothesen haben, wenig positiven Wert, 
weiterzugehen und eine wirkliche Erklarung dieser pathologischen 
Schlafanfalle zu versuchen. Es wird richtiger sein, uns vorlaufig 
mit der Registrierung der interessanten Tatsache an sich zu be- 
gnfigen, in der H ffnung, daB wir spater einmal einen Einblick 
in das Wesen der Erscheinung gewinnen werden. 


Psychiatric und Neurologic. 

Von 

Prof. Dr. K. BONHOEFFER 

in Berlin. 


Vor kurzem hat Erb 1 ) einen „emstenAppell“an die medizinischen 
Fakultaten und die Unterrichtsverwaltungen ergehen lassen. E6 
sei ihre emstl a ft e Pf licht, ebensogut wie ffir die Opht halmologie, ffir 
die Ohrenheilkunde, die Psychiatrie und die Padiatrie, auch ffir die 

‘) Neurolog. Zentralblatt 1914. 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologie. 


95 


Vertretung der Neurologie ale selbstandiges Fach zu sorgen. An 
der sachlichen Berechtigung dieeer Trenmmg besteht fiir Erb keiner- 
lei Zweifel. Hemmnisse personlicher Riicksichten, Sympathien 
und Antipathien und der stark kcnservative Zug der alten Fakul- 
taten, ,,der Zopf“ miisse iiberwunden werden. 

Erb ist fiir eine vollige Selbstandigkeit der Neurologie. Wo 
diese noch nicht moglich ist, halt er an Stelle der an der Mehrzahl 
der preuBischen Universitaten iiblichen Verbindung mit der 
Psychiatric die Verbindung mit der inneren Klinik fiir das geringere 
Uebel. Als wertvolle Unterstiitzung seiner Auffassung gilt ihm der 
Psychiater P. Nacke 1 ), der sich mit Entschiedenheit gegen die 
„Annektierung“ der Neurologie durch die Psychiatrie aussprach. 
Erb nennt die Beschaftigung der Psychiater mit der Neurologie eine 
„nebenamtliche“, indem er sich damit einen Ausdruck Roihmanne 2 ) 
zu eigen macht, der sich vor kurzem mehrfach in ahnlichem Sinne 
wie Erb ausgesprochen hat. 

Diese temperamentvollen Angriffe lassen es gebot en erscheinen, 
wieder einmal die sachliche Seite der psychiatrischen Anspriiche 
zu priifen. Ich beschranke mich auf die Frage der Vertretung der 
Neurologie an den Hochschulen, die auch Erb an die Spitze seiner 
Forderungen stellt. Die Forderung, daB das neurologische Kranken- 
material in den groBeren allgemeinen Krankenhausem Spezialisten 
unterstellt werde, lasse ich beiseite. Sie liegt auf einem anderen 
Gebiete. Ich mochte aber keinen Zweifel dariiber lassen, daB ich 
darin mit Erb im wesentlichen iibereinstimme. Ich habe auch in 
diesem Sinne seinerzeit mein Votum abgegeben, als es sich in 
Breslau um die Schaffung einer neurologischen Abteilung am 
st&dtischen Krankenhaus handelte. Ich weiche allerdings von Erb 
ab, insofem ich es gleichzeitig fiir erforderlich oder wenigslens 
fiir sehr wiinschenswert halte, daB dieseneurologischen Spezialisten 
gleichzeitig eine ausreichende klinisch-psychiatrische Schulung 
haben, so daB sie auch der Beurteilung und Behandlung psychischer 
Fftlle gewachsen sind. 

Wenn man die Forderung auf stellt, die Neurologie als selb- 
st&ndiges Fach auf der Hochschule einzufiihren, so heiBt das, wenn 
wir die Unterrichtsseite ins Auge fassen, und mit dieser will ich 
mich zunachst nur beschaftigen, daB der Lehrstoff des Faches 
von den iibrigen Disziplinen so wesentlich verschieden ist, einen 
solchen Umfang und eine so groBe praktische Bedeutung hat, 
daB er dem Studierenden gesondert gelehrt werden muB. So hat 
dieEntwicklung der spezialisiertenUntersuchungs-undBehandlungs- 
technik zur Abtrennung der Otologie, der Laryngologie und der 
Orthopfidie von der Chirurgie gefiihrt. Die praktische Wichtigkeit 
der Sauglingsfiirsorge und auch die physiologische Verschiedenheit 
des kindlichen Organismus von dem des Erwachsenen haben zur 
Trennung der Padiatrie von der inneren Medizin gefiihrt. 


x ) Neurolog. Zentralblatt 1912. 
a ) Neurolog. Zentralblatt 1914. 


Digitized by 


Go igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Bonhoeffer, Psychiatrie und Neurologie. 


9b 


Wie steht es in dieser Hinsicht mit der Neurologie ? Es ist 
zunachst notig, dariiber klar zu sein, was das Gebiet umfaBt. Die 
Vertreter der Neurologie im engeren Sinne pflegen das zunachst 
an der Hand der Anatomic und des Materials der neurologischen 
Praxis zu entscheiden: Die peripheren, spinalen und die cerebralen 
organischen Erkrankungen geboren ihnen zu. Aber dazu kcmmt 
auc h das ganze Gebiet der f u nkt ionellen Neu rosen und Psychopat hien. 
DaB fiir den neurologischenPraktiker auch die Psychosen im engeren 
Sinnehinzugehoren,soweit nichtdieNotwendigkeitder geschlc ssenen 
Anstaltsbehandlung sie ihm entzieht, ist nicht zweifelhaft. Das ist 
schon im Hinblick auf die Differentialdiagncse zwischen fu nkt io¬ 
nellen Neurosen und initialen Geisteskrankheiten erfcrderlich. 
Mit anderen Worten, der praktizierende Neurologe wird klinisch das 
Gesamtgebiet derNerven- und Geisteskrankheiten zu beherrschen 
ha ben. Als Lehraufgabe machen die Neurologen die eigentlichen 
Geisteskrankheiten dem Psychiater nicht streitig. Kcnzessicnen 
werden wohl von einzelnen, jedenfalls auch von Erb, fur das Gebiet 
der sogenannten funktionellen Neurosen gemacht, von mancher 
Seite sind vielleicht auch die organischen Gehimkrankheiten als 
von den Psychiatem mitzubearbeitendes Grenzgebiet zugelassen. 

Jedenfalls wird auch von den strengsten Vertretem der Lcs- 
losung der Neurologie zugegeben, daB sich der Lehrstcff der 
Neurologie mit dem der Psychiatrie in einem weiten Bereich iiber- 
schneidet. Diese Tatsache wird fiir die Instanzen, denen die Ver- 
teilung des Unterrichte6 an den Hcchschulen obliegt, die Fest- 
stellung notig machen, in welcher Ausdehnung der neurolcgische 
Stoff in dem Lehrstoff anderer Disziplinen enthalten ist. E6 ge- 
schieht dies, wie ich glaube, nicht am besten dadurch, daB man sich 
an die anatomische Einteilung der peripheren, spinalen usw. Er¬ 
krankungen halt; c enn so erzielt man kein Bild v n der tatsach- 
lichen Zusammensetzung des neurologischen Krankenmaterials, 
welches der neurologischen und auch der allgemeinen Praxis, fiir die 
der Student ja zunachst auszubilden ist, zuflieBt. 

Es ist bis jetzt, soweit mir bekannt, niemals der Versuch ge¬ 
macht worden, sich dieses tatsachliche Material einmal von diesem 
Gesichtspunkte aus durchzusehen. 

In Berlin und in Breslau besteht seit langen Jahren im Rahmc n 
der psychiatrischen undNervenklinikeine sehr frequentierteNerven- 
poliklmik, der eingroBes neurclogischesMaterial aus Stadt und Land 
zuflieBt, unbeeinfluBt von dem Odium der ,,Irren‘ klinik, das an 
kleinerenOrtendasperiphere,spinaleundfunktionellnerv6se Material 
aus de l Polikliniken der psychiatrischen Klinik — in iibrigens deut- 
lich abnehmendem MaBe — mitunternoch abhalt. Ich kenne auch 
das neurologische Krankenmaterial, wie es den Sprechstunden der 
Neurologen in den groBen Stadten zuzuflieBen pflegt. 

Die Durchsicht einer Reihe von Jahrgangen von mehreren 
tausend Zugangen hat mir zahlenmaBig bestaligt, was ich schcn 
immer eindrucksmaBig sagen konnte, das weitaus iiberwiegende 
Krankenmaterial, das dem Neurologen zuflieBt, sind nicht die 


Digitized by 


Gca igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologic. 


97 


organischen Falle, sondern funktionell neurotische Zustande und 
Psychopathien. Eigentliche Geisteskrankheiten und organische 
Nervenkrankheiten sind in der Minderzahl, und zwar so, daB etwa 
20 bis hochstens 35 pCt. den organischen Erkrankungen des Nerven- 
systems und Gehirns (die Paralyse, die ich den Psychosen zuge- 
rechnet babe, nicht mit eingerechnet) zukommen. «. ^ 

Das Verhaltnis mag sich fiir einzelne Neurologen, die innerhalb 
des Fachs noch eine Sonderspezialitat pflegen, und auch jetzt in 
der Kriegszeit mit den vielen Verletzungen des Nervensystems 
etwas verschieben. Die groBe Masse bleiben aber die sogenannten 
funktionellen Zustande. Mit anderen Worten, der iiberwiegende 
Teil dessen, was dem Neurologen in seiner praktischen Tatigkeit 
zufallt, sind Falle, die das psychische Gebiet zum mindesten stark 
beriihren oder ihm ganz zugehoren. Es ist das ein Punkt, der in 
seiner Bedeutung nicht untersch&tzt werden darf und der der 
Psychiatrie unter alien Umstanden das Recht gibt, ihren groBen 
Anteil an der Ausbildung der Neurologen zu beanspruchen. 

DaB die Kenntnis des Grenzgebietes der psychopathischen 
Konstitutionen im weitesten Sinne dem Studierenden durch den 
Psychiater, d. h. von der psychiatrischen Betrachtungsweise aus zu 
vermitteln ist, ist emsthaft, glaube ich, nicht zu bestreiten und wird 
auch darum nicht anders zu beurteilen sein, weil es natiirlich auch 
innere Mediziner und Neurologen nicht psychiatrischer Provenienz 
gibt, die auf Grund einer besonderen Veranlagung fiir psycho- 
logische und psychopathologische Fragen diesen Zustanden 
spezielles Interesse zuwenden und besonderes Verstandnis entgegen- 
bringen. 

Aber man tausche sich nicht. Die pragnante, humoristische, 
historisch durchaus verstandliche, ich glaube von Dejerine 
stammende Umschreibung der Aufgabe der Psychiatrie: Le 
psychiatre est celui, qui enferme, l’alien4 celui, qui est enferm4, 
steckt auch heute noch vielen im Blute. leh erinnere mich einer in 
ihrer selbstverstandlichen Harmlosigkeit charakteristischen AeuBe- 
rung gerade meines friiheren verehrten intemen Heidelberger 
Kollegen, der mir gelegentlich sagte: „Kollege, ich habe einen Para- 
lytiker auf meiner Klinik, mit dem gebt es nicht langer, den muB 
ich zu Ihnen verlegen.“ Implicite, die Aufgabe der psychiatrischen 
Klinik fangt auch beim Paralytiker erst an, wenn die 6peziellen Be- 
handlungsmittel der geschlossenen Anstalt in Betracht kommen. 
Ich glaube es gibt keinen Psychiater, der nicht solchen Erfahrungen 
bei seinen Kollegen gelegentlich begegnet ist. Es ist eine recht ver- 
breitete Auffassung, daB die Aufgabe der Psychiatrie sich mit der 
Erforschung, Behandlung und der forensischen Beurteilung der 
Geisteskrankheiten, die sich in den geschlossenen Anstalten finden, 
erschopfe. Besonders auch das Gebiet der forensischen Psychiatrie 
wird uns immer geme und mit besonderem Nachdruck uberlassen. 
Man reiBt sich anderwarts nicht um diese verantwortliche, zeit- 
raubende und haufig mit allerhand auBeren Unannehmlichkeiten 
verbundene Tatigkeit. Es ist kein Zweifel, daB die forensische 

Monateschrift f. Psychiatric u. Neorolo^le. Bd. XXXVII. Heft 2. 7 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



.98 


Bonhoeffer, Psychiatrie und Neurologic. 


Psychiatrie wichtig ist, und daB sie in der psychiatrischen Klinik 
— kaum jedoch in der Hauptklinik — gelehrt warden muB, aber 
man darf ihre Bedeutung nicht iiberschatzen. Die Notwendigkeit, 
die sie mit sich bringt, naturwissenscbaftliche Erscheinungsfonnen 
in einen juristischen Rahmen einzuzwangen, bleibt immer etwas 
Unnatiirliches. Der wissenschaftliche Wert, den diese forensiscben 
Falle vor allem fiir die Anstaltspsychiater haben, beruht fast 
lediglich darin, daB sie die Notigung mit sich bringen, sich eingehend 
mit ihnen zu beschaftigen, und daB sie eine Erweiterung des 
Materials bedeuten, insofem die betreffenden Individuen erfahrungs- 
gemaB haufig dem wichtigen Gebiete der psychopathischen Konsti- 
tutionen zugehoren, also einem Gebiete, das sonst der geschlossenen 
Anstalt nur in geringerem Umfange zuflieBt. 

Gegeniiber den die klinische Psychiatrie auf das Material der 
Anstaltspsychiatrie einengenden Bestrebungen muB daran fest- 
gehalten werden, daB die Lehraufgaben der psychiatrischen Klinik 
andere sind, und daB sie enger und weiter zu stecken sind, als uns viel- 
fach zugestanden wird. Enger insofem, als es nicht erforderlich ist, 
den Studierenden in die letzten Kompliziertheiten der Differential- 
diagnoseder Geisteskrankheiten im engeren Sinne einzufiihren. Ganz 
abgesehen davon, daB es iiberhaupt nichtmoglich ist, ohne denBesitz 
einer in Jahren erworbenenEmpirie indiesenFragen zu einem eigent- 
lichen Verstandnis zu gelangen, ist es fiir die praktischen Bediirfnisse 
des Arztes tatsachlich geniigend, wenn er die wichtigsten psychischen 
Krankheitsgruppen kennen lemt. Es ist nicht Sache der psych¬ 
iatrischen Kliniken, den Studierenden zum Anstaltspsychiater, oder 
auch zum Gerichtspsychiater auszubilden. Es muB das betont 
werden, weil auch seitens mancher psychiatrischer Kliniker mit- 
unter zu sehr spezialistischen Neigungen, differentialdiagnostischen 
und nosologischenNuancen,forensisch psychiatrischen Spezialfragen 
nachgegangen wird. Das hatte eine gewisse Berechtigung, als das 
Horen der psychiatrischen Klinik noch fakultativ war und bei den 
wenigen Horem ein spezielleres Interesse oder Physikatsabsichten 
bestanden und haufig auch schon gewisse Fachkenntnisse voraus- 
gesetzt werden konnten. In die allgemeine Klinik, wle sie jetzt 
von alien gehort werden muB, gehort das nicht, es sind das Auf- 
gaben fiir Spezialvorlesungen, die nebenhergehen. 

Zu den unerlaBlichen Aufgaben des psychiatrischen Unterrichts 
gehort aber die Untersuchungstechnik der klinischen Psychiatrie. 
Die psychiatrische Explorationsform, die Art und Weise, wie man 
zu der Feststellung des geistigen Besitzstandes gelangt, die speziellen 
Fragestellungen, die sich bei den einzelnen psychischen Symptom- 
gruppierungen erheben, gehoren naturlich an die erste SteUe. Aber 
der organische Befund am Nervensystem ist nicht weniger wichtig 
Man wird nicht in Abrede stellen konnen, daB, wenn sich im Bereich 
psychischer Erkrankungen die Grundfrage, ob organisch oder nicht, 
erhebt, ein Urteil ohne die Kenntnis auch der neuropathologischen 
Untersuchungsmethodik nicht gewonnen werden kann. Es ist nicht 
notig, auf diese schon viel erorterte Frage nfiher einzugehen. GewiB 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologie. 


99 


trifft es im allgemeinen zu, daB jemand, der spater ala Anstalts- 
psychiater fungiert, ein guter Psychiater sein kann, auch wenn er 
die Elektrodiagnostik nicht in alien Einzelheiten beherrscht. Aber es 
ist doch nicht zu leugnen, dafi das Kapitel der Paralyse und der 
iibrigen luetischen Zentralerkrankungen, der Arteriosklerose, der 
toxischen und toxisch-infektiosen Psychosen, des Korsakow, der 
endokrinen Psychosen, der multiplen Sklerose und der gehim- 
atrophischen Prozesse, der schweren katatonen Erkrankungen, der 
Hysterie, der Epilepsie, der Idiotie und vieler anderen der 
Psychiatric unzweifelhaft zugehorigen Prozesse in ihrer Sympto- 
matologie so viele Beziehungen auch zu den Erkrankungen der 
spinalen, der peripheren und sympathischen Gebiete haben, daB 
diese schlechterdings im Rahmen auch der psychischen Erkran¬ 
kungen mitbehandelt werden miissen. Ich will auch nicht n&her 
darauf eingehen, daB die Histopathologic der Geisteskrankheiten 
und des Gehims nicht getrieben werden kann, ohne die patho- 
logische Anatomie des iibrigen Zentralnervensystems, daB die 
Frage des endogenen und exogenen, der Vererbung und vieles 
andere untrennbar beiden zugehort. 

GewiB gibt es periphereNervensch&digungen undRiickenmarks- 
erkrankungen und auf der anderen Seite psychische Erkrankungen, 
die nach unseren bisherigen Kenntnissen die iibrigen Gebiete des 
Nervensystems nicht mit alterieren. Eine rheumatische Facialis- 
lahmung oder ein Caudatumor ist gewiB wesensverschieden vom 
Querulantenwahn, aber dieser steht jenen nicht ferner als etwa 
eine Phobie, welche die Neurologie unbedenklich fiir sich be- 
ansprucht, die aber ohne Zweifel zum mindesten ebenso der 
Psychiatric zugehort. Es handelt sich eben um die Endglieder 
einer zusammenhangenden Reihe. 

Die Forderung, wegen der Verschiedenheit dieserEndgliedereine 
Scheidung im Unterricht fiir die Studierenden durch Schaffung be- 
sonderer Lehrstiihle fiir die peripheren und spinalen Erkrankungen 
eintreten zu lassen, scheint mir nicht berechtigt zu sein und auf einer 
Ueberschatzung der peripheren Neurologie innerhalb des Gesamt- 
gebietes zu beruhen. Soweit die klinischeVorlesung selbst denpropS- 
deutischenUnterrichthierinnichtleisten kann, laBt er sich inSonder- 
kursen, wie sie zum groBen Teil schon in der psychiatrischen und 
Nervenklinik, wie auch in der inneren Klinik eingerichtet sind, aus- 
reichend pflegen. Gegen die Erteilung von eigentlichen Lehrauftragen 
an in dem Fach besonders tatige Dozenten ist natiirlich nichts 
einzuwenden. Das Gegebene wird aber immer sein, daB sie im 
Rahmen der psychiatrischen und Nervenklinik, die das Material 
innerhalb ihres Lehrgebietes braucht, eingerichtet werden. An sich 
kann der untersuchungstechnischen Seite der peripheren Neurologie 
in dem Unterricht der Studierenden in der bisherigen Weise in aus- 
reichendem MaBe geniigt werden. 

Erfordert nun die spezialisierte Behandlungstechnik der 
Neurologie analog den chirurgischen Unterfftchem der Laryn- 
gologie, Otologie, Orthopadie eine entsprechende Hervorhebung 
des Gesamtfachs durch besondere Lehrstiihle? Ob die chirur- 

7* 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



100 


Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologie. 


gische Neurologie, fur die sich Rothmann neuerdings erwarmt hat, 
eine erstrebenswerte Spezialitat sein wird, ist mir nicht iiber 
jeden Zweifel erhaben. Man mag wohl gelegentlich als Zuschauer 
bei Himoperationen den Eindruck ha ben, daB der Chirurg bei seinem 
Eingriff sich der Dignitat des Gewebes, in dem er arbeitet, bewuBter 
sein konnte. Aber das ist etwas, was sich verliert, sobald der Chirurg 
sich etwas in die Spezialdisziplin eingearbeitet hat. Bei deni Roth¬ 
mann vorschwebenden ausschlieBlichen Neurochirurgen scheint mir 
die Versuchung, wahrend der Operation zu experimentieren, und 
auch die Gefahr nicht ganz fernzuliegen, daB er bei den doch ver- 
haltnismaBig nicht sehr groBen absoluten Zahlen der fur die 
Operation in Betracht kommenden Erkrankungen — man kann 
von Zeiien, wie sie jetzt der Krieg mit seiner groBen Zahl von 
SchuBverletzungen des Nervensystems mit sich bringt, als einem 
Ausnahmezustand absehen — unwillkiirlich dazu gelangen wird, 
die Indikationen zur Operation etwas weiter zu stellen als gut 
ist. Ich habe bei Horsley , dem doch ein groBes intemationales 
Material zu Gebote steht, durchaus den Eindruck, daB er zu viel 
operiert. Hat der Neurochirurg aber wenig zu operieren, so wird die 
Operationstechnik Not leiden. Die Zweiteilung der Arbeit zwischen 
dem Chirurgen und dem neurologischen Diagnostiker und Berater 
bei der Operation hat, wie ich glaube, jedenfalls den Vorteil, 
daB man die Sicherheit hat, daB dem zu Operierenden — es 
handelt sich doch meist um recht schwere Ffille, die auch hinsicht- 
lich der Beachtung des Allgemeinzustandes bei der Operation groBe 
Anforderungen stellen — all die kleinen speziellen Vorteile einer 
groBen chirurgischen Routine, wie sie dem allgemeinen Chirurgen 
zu Gebote steht, zugute kommen. Im Einzelfall kann es gewiB 
auch einmal anders liegen und ich will die Moglichkeit, daB es 
einmal gute chirurgische Nervenspezialisten geben wird, nicht in 
Abrede stellen. Was aber hier zur Diskussion steht, ist etwas 
anderes. Daruber kann wohl kein Zweifel bestehen, daB die chirur¬ 
gische Seite der Neurologie die Einrichtung eines Sonderlehrstuhls 
in absehbarer Zeit nicht erforderlich macht. 

DaB die Elektrotherapie ein Gebiet ist, dessen praktische Er- 
folge es notwendig erscheinen lassen, seinetwegen besondere Lehr- 
stiihle fur Studierende zu begriinden, wird auch kaum zu begriinden 
sein. Ihre Erfolge, lediglich von der physikalischen Seite aus be- 
trachtet, beschranken sich auf ein recht kleines und auch selbst hier 
hinsichtlich der organischen Wirkung noch diskutables Gebiet. Ihre 
wesentliche Wirkung geht bei der groBen Mehrzahl der damit Be- 
handelten iiber die Psyche, ist also Psychiatrie im eigentlichen 
Wortsinn. 

Damit komme ich auf die Seite der Lehrtatigkeit, nach welcher 
ich die Aufgabe der Psychiatrie wohl mit der Mehrzahl meiner Fach- 
genossen weiter gesteckt sehe und die ich fur die Gesamtausbildung 
des spateren Arztes fur ebenso wichtig halte, wie die Kenntnis der 
Hauptformen der desorientierenden Geistesstorungen und ihre 
Behandlung. Die Psychopathologie als die Lehre von den gesetz- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Bonhoeffer, Psychiatrie und Neurologie. 


101 


m&Bigen Zusammenh&ngen in der Pathologic der psychischen Vor- 
gange ist mehr als jede andere medizinische Disziptin geeignet, ein 
Gagengewicht zu bilden gegeniiber den — der Ausdruck sei er- 
laubt — Disziplinen des objektiven Befundes. Sie lehrt, daB auoh 
die subjektiven Symptome inneren Gesetzm&Bigkeiten unterliegen 
und sie scharft das Auge fiir das, was in einem vorliegenden Befunde 
individuelle Beaktionsform und psychisch bedingt ist. DaB in 
dieser Richtung die Ausbildung des kiinitigen Arztes einer Er- 
ganzung bedarf, habe ich an anderer Stelle 1 ) ausgefiihrt, und eret 
neuerdings hat wieder Bleuler 2 ) auf diese Liicke hingewiesen. Das 
Streben nach exakten objektiven Befunden gehort so sehr zu den 
Grundlagen der arztlichen Ausbildung in den Hauptfachern der 
Chirurgie und inneren Medizin, daB es kaum vermeidbar ist, daB der 
Blick des Studierenden an dem psychologisch und psychopatho- 
logisch bedingten vorbeigleitet, obwohl dieses oft wichtiger ist, als 
der vermeintUche objektive Befund. Es ist durchaus zu wiinschen, 
daB schon der Studierende Anregungen in dieser Richtung bekommt. 
die ihm sonst oft verhaltnismaBig spat und unter manchen Ent- 
t&uschungen miihsam durch die Praxis des Lebens gebracht 
werden. Es ist kein Zweifel, daB gerade das groBe Gebiet der 
psychopathischen Konstitutionen, wie es die neurologisch-psyoh- 
iatrische Klinik dem Studenten vorfiihrt, von alien am geeignetsten 
ist, die auBerordentlicheBedeutung zu zeigen, welche dasPsychisehe 
auch innerhalb der somatischen Pathologic hat. ■■ 

Es ist hier nicht der Ort, eingehend auszufiihren, von welcher 
praktisch therapeutischen Bedeutung das ist. Mit Recht hat 
Bleuler wieder darauf hingewiesen, daB das Bliihen des Kur- 
pfuschertums zu einem wesentlichen Teil auf einer besseren Be- 
wertung der psychischen Momente im Kranken seitens dieser Heil- 
kiinstler beruht. Es ist auch kein Zweifel, daB der Staat groBe Er- 
spamisse in der Unfallfiirsorge gemacht hatte, wenn der Blick der 
Aerzte bei der sogenannten Rentenneurose nicht lange Zeit in stark 
ubertriebener Weise durch die sogenannten objektiven Symptome 
der Reflexsteigerungen, der vasomotorischen Erscheinungen usw. 
gebannt gewesen ware. Die Erkenntnis der psychischen Quelle, die 
hierflieBt, muBteerst durch die schwerenMiBerfolge, welche dieVer- 
abreichung hoher Renten mit sich brachte, klar werden. I'* 

DaB der natiirliche Weg, die psychologischen und psycho- 
pathologischen Vorgange bei diesen und anderen Zustanden dem 
Studenten klar zu machen, die psychiatrische Klinik ist, kann 
kaum bestritten werden. In dieser erwachst ihm aus dem haufigen 
Anblick grober Falle und leichterer aller Abstufungen allmahUch 
auch das Verstandnis fiir die feineren Nuancen, in denen sich die 
Mitwirkung psychogener Faktoren zeigt. 


*) Berliner klin. Wochenschr. 1912. Ueber die Bedeutung der psy- 
chitrischen Unterauchungsmethodik fiir die allgemeine ftrztliche Ausbildung. 

*) Bleuler, Sanunlung klinischer Vortrftge, begriindet von Volkmann 
Nr. 701 >v Die Notwendigkeit medizinisch-psychologischen Unterricht8‘*. 


Digitized by 


Go igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



102 


Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologic. 


Damit ist aber auch ausgesprochen, daB diese der Zahl nach 
umfangreicliste Klientel der Neuropathologen im allgemeinen am. 
zweckmaBigsten durch den Psychiater dem Studenten zur Kenntnis 
gebracht, wird. Es scheint mir irrtumlich und nur durch das starkere 
Interesseamorganischenundpathologisch-anatomisch Fundierbaren 
erklarlich, wenn seitens der Neurologen bei der Begriindung ihrer 
Forderungen nach selbstandigen Lehrstiihlen auf die besondere 
Wichtigkeit und die Sonderstellung der Erkrankungen des peri- 
pheren und spinalen Systems hingewiesen wird. GewiB sind auch 
diese Erkrankungen wichtig, aber sie stehen quantitativ gegeniiber 
den oben genannten Zustanden zuriick, und sie stellen fur den 
sp&teren Praktiker entfemt nicht solche Behandlungs- und soiiale 
Schwierigkeiten dar, wie das groBe Kapitel der sogenannten 
Neurosen, psychopathischen Konstitutionen und der leichteren 
Defektzustande. Es ist wohl auch zuzugeben, daB eine eingehende 
psychiatrische Vorbildung mehr als eine andere dazu befahigt, in der 
groBen Gruppe der sogenannten funktionellen Neurosen und 
Psychopatbicn eine differential-diagnostische Vertiefung herbei- 
zufiihren, und gerade das Auge des Studenten fur die initialen 
meist noch nicht als solche erkannten Psychosen zu scharfen, deren 
Kenntnis fur ihn wichtiger ist, als die der psychischen Erkrankungen 
mit groben Erscheinungen, bei denen den Praktiker meist nur die 
Unterbringungsfrage interessiert. Kurz gesagt: Die psychiatrische 
Klinik soil fur den Studierenden nicht nur der Ort sein, wo er einen 
Einblick in das aus dem sozialen Korper zur Ausscheidung gelangte 
Anstaltsmaterial bekommt, sondern sie soli ihm auch das Auge 
scharfen fur die mannigfache Durchdringung der dem allgemeinen 
Arzte und dem Nervenarzte zuflieBenden Klientel mit psychopatho- 
logischen Faktoren. Ohne einen Ueberblick iiber die Pathologie 
des gesamten Zentralnervensystems kann das nicht \ermitlelt 
werden. 

Ich habe bisher im wesentlichen die unterrichtliche Aufgabe, so- 
weit sie den Studenten betrifft, im Auge gehabt. Wie steht es nun 
mit den anderen Aufgaben der Klinik , der Forderung der Forschung 
innerhalb der Spezialwissenschaft und der Ausbildung des wissen- 
schaftlichen Nachwuchses 1 Hier pflegt als Haupteinwand gegen die 
Verbindung von Psychiatrie und Neurologie der gemacht zu werden, 
daB das Gebiet der Psychiatrie so umfangreich sei, daB es die voile 
Arbeitskraft eines Forschers beanspruche, so daB die Neurologie 
nur ,,nebenamtlich“ betrieben werden konne. Ebenso liege es mit 
der Neurologie. Das Argument scheint einleuchtend. Aber es ist 
es meines Erachtens wirklich nur 6cheinbar. Es ist eine Tauschung, 
zu glauben, daB der Psychiater oder der Neurologe auch nur inner¬ 
halb seines engeren Faches auf alien Gebiet en als Forscher wissen- 
schaftlich fordemd wirken kann. Die Spezialisierung ist innerhalb 
der Facher schon viel zu groB. Universales Arbeiten ist in 
einer Zeit, in der groBe Teile der Forschung komplizierte Spezial- 
techniken geworden sind, nicht mehr moglich. Ich kenne niemand, 
der in der normalen und pathologischen Anatomie, in der patho- 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Bonhoeffer, Psychiatric und Neurologie. 


103 


logischen Histologie, der pathologischen Physiologie und Chemie 
dee Nervensystems, in der Vererbungslehre und in derKlinik oder 
auch nur in einem Teil dieser Gebiete gleichmaBig fruchtbar ge- 
arbeitet h&tte. Ja selbet innerbalb der engeren klinischen Tatigkeit 
liegt es so. Wer in peripherer Neurologie, in Elektrophysiologie, 
Diagnostik und Therapie sich spezialistisch vertieft hat, pflegt 
meist nicht auch Grundlegendes in der GroB I impathologie zu 
arbeiten. Die Spezialisierung bringt es mit sich, daB die Ergeb- 
nisse groBer Arbeitsgebiete innerhalb des einzelnen Faches auch 
vom Fachgenossen nicht in eigener Forschung uberpriift werden 
konnen, sondem ubemommen werden miissen. Es ist nicht notig, 
an der Arbeitsleistung auch der hervorragenden Fachgenossen 
diesen Nachweis zu fiihren. 

Das spezielle Forscherinteresse des Einzelnen grabt sich nach 
Begabung und Interesse oder nach der iibemommenenSchulrichtung 
an dieser oder jener Stelle ein und die Neuorientierungen iiber das 
Gesamtgebiet eines Faches pflegen nicht aus Arbeiten, die von 
vomherein das Gesamtgebiet im Auge haben, sich zu ergeben, 
sondem aus der Vertiefung in eine einzelne Frage hervorzugehen. 

Die wissenschaftliche Auflosung einer Disziplin in einzelne 
Spezialgebiete ist als ein naturlicher und notwendiger Vorgang der 
Forschertatigkeit zu betrachten. Es ist begreiflich und berechtigt, 
daB jeder Dozent innerhalb seines Spezialgebietes auch lehrtatig 
sein will. Diese Lehrtatigkeit in den Spezialgebieten hat sich 
aber nicht auf die Gesamtheit der klinischen Studenten, sondem 
auf einzelne besonders Interessirte und auf die im Spezialfach 
sich Weiterbildenden zu erstrecken. 

Es ist eine Aufgabe der Kliniken, ebenso der inneren und 
der chirurgischen, wie der psychiatrischen, gegeniiber dieser 
spezialisierenden Wirkung, die im Wesen der Forschung liegt, 
gleichzeitig die gemeinsame Grundlinie der Disziplin festzu- 
halten. Es ist im Interesse der Vermeidung der Gefahr der Ein- 
seitigkeit, wenn die Basis, von der der Forscher ausgeht, durch 
die ganze Breite des Faches dargestellt wird. Es ist fur den 
Forscher, der auf neurologischem Gebiete arbeitet, ebenso 
niitzlich und notwendig, daB er psychopathologisch die notige 
Schulung hat, wie fiir den Psychiater die Kenntnis der Pathologic des 
iibrigen Zentralnervensystems unentbehrlich ist. In dieser Richtung 
hat die psychiatrische und Nervenklinik zu wirken. Es ist gewiB 
kein Nachteil, wenn an der Klinik jeder klinische Assistent sowohl 
auf der psychiatrischen, wie auf der Nervenabteilung als Stations- 
arzt tatig ist, wie ich es prinzipiell immer gehalten habe. Es ist 
vielmehr das, was den praktizierenden Neurologen am besten 
auf seine spatere T&tigkeit im Leben vorbereitet. 

DaB das gesamte Gebiet dem beginnenden wissensc h aftlich en 
Arbeiter zur Verfiigung steht, ist aber auch vom Gesichtspunkt der 
Arbeitsauswahl erwiinscht. Es kann sich so am besten ganz von 
selbst die Differenzierung in der Arbeitsrichtung entwickeln, je 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



104 Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenaiichs. 

nachdem dem einen mehr die psychopathologische Seite, dem 
andem die Beschfiftigung mit dem organischen Material zusagt. 

Ich kann also auch fiir die Fortentwicklung der neurolcgischen 
und der psychiatrischen Wissenschaft keinerlei Nachteile, soodem 
nur Vorziige in der Vereinigung von Psychiatric und Neurologie in 
der Klinik erblicken. 

In letzter Linie ist die erfolgreiche Forschert atigkeit ja 
iiberhaupt eine Personenfrage. Das zeigt nicht zuletzt die wiseen- 
schaftliche Entwicklung der Neurologie. Sie ist von inneren 
Klinikern, Psychiatem und Nur-Neurologen gefordert worden. 
Es wird kaum zu sagen sein, von wem am meisten. Sie hat deutschen 
Forschem nicht weniger zu danken als auslandischen, obwohl der 
unterrichtlicheEntwicklungsgang hier unddort ganz verschieden ist. 

Es ist selbstverstandlich und braucht kaum gesagt zu werden, 
daB es eine Aufgabe der Unterrichtsverwaltung ist, wie in anderen 
Spezialfachern, so auch die wissenschaftliche Arbeit der auf Einzel- 
gebieten des Nervensystems erfolgreich arbeitenden Forscher durch 
Lehrauftrage zu unterstiitzen. Das kann aber ohne Schadigung des 
neurologisohen Materials der psychiatrischen Kliniken geschehen 
und darf nicht zu einer Losung der organischen Verbindung der 
Neurc- und Psyehopathologie auf der Hochf chule fiihren. 

Den Zopf t ehe ich an anderer Stelle als Erb. Der Zopf ist 
die alte Auffassung von der Psychiatrie ,,le psychiatre est cel i, 
qui enferme“. Gerade auf dem Wege, den die Unterrichts¬ 
verwaltung in dieser Frage auf den preuBbchen Hochschulen 
eingeschlagen habe, wird es gelingen, ihn zu beseitigen. 


(Aus der inneren Abteilung des AUgemeinen Krankenhauses St. Georg, 
Hamburg [Direktor Professor Dr. Deneke ]). 

Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs. 

Von 

Dr. C. ROMER. 


Die Erkrankungen der nervosen Zentralorgane infolge ther 
mischer Einfliisse haben in der deutschen Iiteratur bisher verhalt- 
nismaBig wenig Beachtung gefunden. Wohl ist, besonders von 
militararztlicher Seite, die Frage des „Hitzschlags“ eingehend unter- 
sucht worden, so in der ausfiihrlichen Arbeit von Steinhausen (1) 
(„Ueber die klinischen und atiologischen Beziehungen des Hitz- 
schlags zu den Psychosen und Neurosen“), den eigentlichen „Sonnen- 
stich “ dagegen haben nur wenige Autoren zum Gegenstand ihrer 
Untersuchungen gemacht. Der Grand dafiir liegt wohl im wesent- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs. 


105 


Digitized by 


lichen darin, daB unter den in Europa obwaltenden klimatischen 
Verhaltnissen der reine ,,Sonnenstich“ wenig haufig beobachtet 
wird. Immerhin ist die Zahl der an Sonnenstich jahrlich Erkrankten 
doch nicht so gering, wie man vermuten konnte. 

Die leichtesten Grade der Insolation, die nur zu mehr oder 
weniger ausgedehnter Dermatitis fiihren, kommen zum allerge- 
ringsten Teil in arztliche Behandlung. Sie bieten auch wenig kli- 
nisches Interesse. Weit haufiger suchen solche Kranke den Arzt 
auf, welche die charakteristischen Storungen des Nervensystems 
nach Insolation auftveisen , in Form von Reizbarkeit, leicht ©in- 
tretender Erschopfung, Aryhthmi© d©r Herzaktion usw. Vom kli- 
nischen neurologischen Standpunkte aus am interessantesten, schon 
weil in atiologischer Bedeutung am eindeutigsten, sind jedoch die 
Fall© von reinem ,,Sonnenstich'\ d. h. die Erkrankung des Zentral- 
nervensystems infolge direkter Einwirhung der strahlenden Sonne 
auf das Gehirn und seine Haute. Die Pathogenese dieser Erkrankung 
soli im folgenden an der Hand von drei im Jahre 1914 hier beob- 
achteten Fallen untersucht werden. 

Fall 1. Kl., Arbeiter, 41 Jahre, hat sich am 23. VI. in betrunkenem Zu- 
stande in die Sonne gelegfc; wurde mit starker Hautrotung der unbekleideten 
Korperteile in das Krankenhaus eingeliefert. Wahrend der folgenden 
8 Tage trat schwere Somnolenz auf; Pat. nimmt fast keine Nahrung zu sich. 

1. VII. Tiefe Somnolenz. Cyanose. Rochelnde Atmung. Pupillen- 
reaktion auf Licht erhalten. Hautreflexe fehlen. Sehnenreflexe gesteigert. 
Kein Fieber. 

Lumbalpunktion: Druck 120 mm Wasser. 

Liquor wasserklar. 

Zellen 23/3. 

Nonne-ApeUsche Reaktion negativ. 

2. VII. Exitus letalis. 

Obduktion (Prof. Dr. Swvmonds): Pia mater leicht weifllich verf&rbt. 
Im Subarachnoidealraume vermehrte serose Fliissigkeit. MaBiger Hydro¬ 
cephalus intemus. Himsubstanz makroskopisch unver&ndert. 

Fall 2. W., Lehrling, 16 Jahre. Am 19. VII. stundenlanges Sonnenbad, 
ohne Kopfbedeckung, nur mit Badehose bekleidet. Seither heftige Kopf- 
schmerzen. 

24. VII. Aufnahme ins Krankenhaus. Braunrote Verfarbung der 
ganzen Haut, nur mit Aussparung der von der Badehose bedeckten Partie. 
Teilweise entziindliche Rbtung der Haut mit Schwellung und Schmerzhaftig- 
keit. Sonst objektiv keine nachweisbaren Veranderungen. Keine Nacken- 
steifigkeit. Langsame Herzaktion. Kein Fieber. 

Lumbalpunktion: Druck 320mm Wasser. 

Liquor wasserklar, reichlich, steril. 

Zellen 16/3 (einkemige). 

Nonne-Apeltsche Reaktion negativ. 

Pandysohe Reaktion schwach positiv. 

25. VII. Unmittelbar nach der Lumbalpimktion Nachlassen der Kopf- 

schmerzen. Seitdem beschwerdefrei. | 

28. VH. Geheilt entlassen. 

Fall 3. Sch., Arbeiter, 16 Jahre. Am 12. VII. liber den ganzen Tagaus- 
gedehntes Sonnenbad am Elbufer im Sande, ohne Kopfbedeckung, nur mit 
einer Badehose bekleidet. Gibt an, dabei eingeschlafen zu sein. Seitdem 
Kopfschmerzen. 

16. VII. Bettlagerig, Kopfschmerzen, Erbrechen. 

20. VII. Wegen starker, anhaltender Kopfschmerzen von seinem Arzt 
mit der Diagnose ,,Himhautentziindung“ dem Krankenhause iiberwiesen. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



106 


R 6 m e r , Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs. 


Digitized by 


Guter Em&hrungszustand. Die Haut des Riickens ist in der ganzen 
Ausdehnung, ebenso die Haut der Beine, hochgradig gerotet, leicht odematos, 
fiihlt sich heiB an. Stellenweise lost sich die Epidermis in groBen Blattem ab. 
Die iibrige Haut des Gesichts, Kopfes und der Extremitaten ist braunrot, 
nicht erheblich entziindlich gerotet. Nur die Genital- und Analgegend 
(Badehose) von normaler Farbe und Beschaffenheit. Temperatur 38° in der 
Achselhohle. 

Puls weich, beschleunigt, im librigen kein krankhafter Befund an den 
inneren Organen. Urin frei von EiweiB* imd Zucker. 

Sensorium frei. Keine bemerkenswerte Storung am Nervensystem. 
Druckempfindlichkeit der Waden. Deutliche Nackenstarre imd Kemig sches 
Ph&nomen. Augenhintergrund o. B. 

Lumbalpunktion: Druck 280 mm Wasser. 

Liquor wasserklar, reichlich. 

Zellen 720/3 (etwas mehr polynukleare als mono- 

nukleare). 

Nontie-Apeltsche Reaktion +. 

Pandysche Reaktion 4-. 

Kein Blut. Bakteriologisch steril, serologisch o. B. 

Kein Fibrinnetz. 

Unmittelbar nach der Spinalpunktion gibt Pat. Erleichterung an. 

21. VII. Weniger Kopfschmerzen. Kein Fieber mehr. Subjektiv 
bedeutend wohler; objektiv frischer, keine Nackenstarre mehr, Kemigsches 
Ph&nomen verschwunden. 

22. VII. Keinerlei Beschwerden mehr. 

23. VII. Lumbalpunktion: Druck 150 mm Wasser. 

Liquor wasserklar, reichlich. 

Zellen 234/3 (vorwiegend mononukleare). 

Nonne-Apeltsche Reaktion +. 

Pandysche Reaktion +. 

Serologisch o. B. 

27. VII. Lumbalpunktion: Druck 110 mm Wasser. 

Liquor klar, leicht gelblich gefarbt. 

Zellen 24/3. 

Nonne-ApeUsche Reaktion negativ. 

Pandysche Reaktion schwach positiv. 

28. VII. Arbeitsfahig entlassen. Die Haut des Riickens ist braunrot 
wie die iibrige Haut, an einzelnen Stellen noch leichte Schuppung, keine 
entziindliche Rotung mehr. 

Die drei kurz wiedergegebenen Krankengeschichten zeigen in 
eklatanter Weise die Einwirkung der direkten Sonnenbestrahlung 
auf das Gehim, bzw. die Hirnhaute. Und zwar lassen die drei Falle 
hinsichtlich der Schwere der Veranderungen deutliche und bemer¬ 
kenswerte Unterschiede erkennen. Im Fall 1 handelt es sich um 
eine Storung des Sensoriums, die an sich zu der Annahme berechtigte, 
daB die Lumbalpunktion eine Veranderung der Spinalfliissigkeit er- 
geben werde. Indessen ergab diese einen nach alien Richtungen 
normalen Liquorbefund. Dagegen wurde bei der Obduktion ein 
maBiger Hydrocephalus intemus festgestellt, femer eine Ver- 
mehrung der Fliissigkeit im Subarachnoidealraume und eine weiB- 
liche Verfarbung der Pia. Es handelte sich somit um einen ent- 
zundlichen Zustand der serosen Haute des Gehims. 

Konnte in diesem Falle geltend gemacht wereen, daB derartige 
Befunde auch sonst bei Alkoholikem und an Herzschwache ver- 
storbenen Individuen zu erheben sind, so diirfte im Falle 2 ein solcher 
Einwand nicht zu machen sein. Hier ergab die wegen Kopfschmerzen 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



R 6 in © r , Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs. 


107 


ausgefuhrt© L jmbalpunktion einen ganz erheblich vermehrten Druck 
bei reichlicher Spinalfliissigkeit. AuBerdem ist beachtenswert, daB 
zwar die Nonne-A peltsche Globulinreaktion negativ ausfiel, die feinere 
Pandysche Reaktion mit verdiinnter Karbolsaure dagegen deutlich 
positiv. Damit ist wohl der Beweis einer bestehenden entziindlichen 
Reizung im Cerebrospinalsystem erbracht. Unmittelbar nach der 
kiinstlichen Emiedrigung des erhohten Liquordruckes verschwanden 
die Beschwerden, ohne wiederzukehren, ein Beweis, daB die Drack- 
erhohung die Ursache der Kopfschmerzen war. 

Am eindeutigsten und lehrreichsten ist Fall 3, vor allem auch 
deshalb, weil es hier in mehrfachen Spinalpanktionen gelungen ist, 
den Ablauf der akuten Hirnhautentziindung zu verfolgen. Die 
Untersuchung bei der Aufnahme ergab klar die Symptom© einer 
meningealen Erkrankung. Die Spinalpunktion bestatigte die Dia¬ 
gnose durch erhohten Liquordruck, vermehrte Zellenzahl, positive 
Globulinreaktion. Wiederum brachte die Druckregulierung alsbaldige 
Besserung. Die zweite Spinalpunktion lieB eine Verminderung 
des Drucks und der Zellen erkennen. Bei der letzten Punktion 
waren die pathologischen Veranderungen des Liquors verschwunden, 
nur noch die Pavdysche Reaktion deutete auf die Anwesenheit von 
EiweiBkorpem hin, vielleicht nur Reste zerfallener Erythrozyten, 
die, wie die gelbe Verfarbung des Liquors zeigt, zweifellos durch die 
friiheren Eingriffe in den Liquor gelangt waren. 

Da unsere 3 Patienten bis zu dem Tag© ihrer Erkrankung an 
Insolatio gesund gewesen waren, sind wir berechtigt, die beschriebenen 
Veranderungen auf die stattgefundene Sonnenbestrahlung zurwckzu- 
fuhren. Auf das Vorkommen solcher Veranderungen ist schon von 
verschiedenen Seiten aufmerksam gemacht worden. Merkwiirdiger- 
weise sind die in der deutschen Literatur beschriebenen Falle nur 
ganz vereinzelt. Auch ist nicht immer klar zu erkennen, ob es sich 
im jeweiligen Falle um reinen Sonnenstich oder um Hitzschlag ge- 
handelt hat. 

Nach Oppenheim (2) werden die Erscheinungen der Insolation 
von einzelnen Autoren auf Himhyperamie, von anderen auf Throm¬ 
bose und multiple kapillare Blutungen in der Med. oblongata zu- 
ruckgefuhrt, doch ist auch Anamie, Oedem der Pia y Meningitis usw. 
gefunden worden. ,,Nach den neueren Erfahrungen von Dopier , 
Dufour, Potelet y Gastinel-Marc, Storey u. A. ist es nicht mehr zu be- 
zweifeln, daB eine serose Meningitis in vielen Fallen die Grundlage 
der Himerscheinungen bildet, zumal es gelungen ist, durch Lumbal- 
punktion Heilung herbeizufiihren“. 

Storeys (3) Fall betraf einen Kranken, der sich von einem 
schweren Hitzschlage anscheinend erholt hatte, aber nach 4 Tagen 
plotzlich bewuBtlos und komatos wurde. Nach einer Lumbalpunktion 
kehrte innerhalb weniger Stunden das BewuBtsein zuriick und er- 
folgte scheinbare Genesung, bis nach weiteren 4 Tagen sich wieder 
tiefe BewuBtlosigkeit einstellte. Auch diesmal verschwand die Be- 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



108 Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs. 

wuBtlosigkeit wieder nachEntleerung von Liquor und trat endgiiltige 
Heilung ein. 

Genauere Angaben uber den Liquorbefund bei Erkrankung an 
Sonnenstich macht Dufour (4). Ein schwerer Fall von Sonnenstich 
mit meningealen Reizerscheinungen und langerdauemder Verwirrt- 
heit wird durch mehrmalige Lumbalpunktion der Heilung zugeffihrt. 
Die erste Punktion fordert bei starkem Druck eine hamorrhagische 
Fliissigkeit zutage, die mikroskopisch Erythrozyten und zahlreiche 
Polynukleare enthalt. Die spateren Punktionen ergeben noch gelb- 
liche Fliissigkeiten mit maBig vielen Lymphozyten. Heilung nach 
zwei Monaten. 

Oastinel & St. Marc (5) fiihrten bei einem Manne mit Koma 
infolge Insolation die Spinalpunktion aus mit unmittelbar giinstigem 
Erfolge. Von dem Moment an, wo der Liquor abzuflieGen begann r 
lieB die Benommenheit nach. Wenige Augenblicke nachher war das 
Sensorium vollig klar, nur leichte Kopfschmerzen bestanden noch. 
Der Liquordruck war stark erhoht, die Fliissigkeit klar, enthielt 
etwas Albumen, keine zelligen Elemente. 

Schulize (6) fiihrt in Nothnagels Handbuch drei Falle von Inso¬ 
lation an,ohne fibrigens dieEntstehung einerMeningitis durchdirekte 
Sonnenstrahlen als gesichert anzusehen. 1. Fall von Huguenin: 
Ein 16 jahriger Lehrling, der sich stundenlnag auf einem See die 
Sonne auf die oberen nacktenTeile desKorpers hatte scheinenlassen, 
erkrankt zugleich an starkem, brennendem Hauterythem der inso- 
lierten Teile und an Meningitis, die nach einer Woche Dauer in Ge- 
nesung iiberging. 

2. Fall von OvArmut: 6 monatiges Kind, das lange dem Sonnen- 
brand ausgesetzt war, stirbt an Meningitis. 

3. Fall von Hardy: Eine Frau, die lange Zeit den bloBen Kopf 
der Sonne aussetzte, starb ebenfalls an Meningitis. 

SchuUze gibt die Moglichkeit der Meningitis infolge Sonnenstichs 
zu, weil: 

1. zufallig Bakterien im Blute kreisen konnen, 

2. aus dem durch die Hitzeeinwirkung chemisch veranderten 
Blute toxische Stoffe sich bilden konnen, 

3. besonders bei Kindem auch ohne bekannte Ursache eine serose 
Entziindung der Himhaute eitrig werden konne. 

Meist findet sich bei Hitzschlag nur starkere venose Injektion 
der Meningen. Oft erfolgt der Tod, ehe eine eitrige Meningitis ent- 
stehen konnte. In manchen Fallen ist aber eitrige Meningitis be- 
schrieben worden. 

Nach Kaufmann (7) kann man in Fallen von Insolation, die 
rasch todlich endeten, Meningitis serosa begegnen. 

Birch-Hirschfeld (8) bezeichnet in seinem GrundriB der all- 
gemeinen Pathologie als die wahrscheinlichste Ursache des Sonnen¬ 
stichs eine „paralytische Erweiterung der GefaBe der Himhaute 
und der Hirnrinde und sich anschlieBende Zirkulationsstorungen. 
In Fallen, wo eine eitrige Meningitis auf die Insolation folgt, ist 


Digitized by 


Go igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs. 109 

sicher neben dem thermischen EinfluB eine infektiose Krankheits- 
ursache anzunehmen; der ©rster© wirkt dann lediglich als Gelegen- 
heitsursache fur den Ausbruch, vielleicht auch fiir die Lokalisation 
der Entzfindung.“ 

Eversbusch (9) fand oft krankhafte Veranderungen des Auges 
im Sinne von Hyperamie der Papillen, Neuritis bzw. Neuroretinitis 
optica mit und ohne Pigmentinfiltration. Er betrachtet diese Ver¬ 
anderungen als Folgen akuter Gehimhyperamie mit Beteiligung 
der Sehnervenscheiden. 

Die Kenntnis der feineren histologischen Veranderungen des 
Gehirns verdanken wir in erster Linie den Arbeiten von Amato und 
Scagliosi. Amato (10) fand die kleinen Pyramidenzellen der Him- 
rinde stark verandert, besser erhalten die groBen Pyramidenzellen 
und die polymorphen Zellen. An der Kleinhirnrinde stellte er 
schwere Veranderungen des Chromatins der Purlcinje schen Zellen 
fest. Das Rfickenmark zeigte Chromatolysis der Vorderhornzellen. 
Die Ursache der Veranderungen sieht A. in der Einwirkung der 
chemischen, ultravioletten Strahlen. 

Scagliosi (11) suchte in Tierversuchen die histologischen Ver¬ 
anderungen zu studieren, in dem er Kaninchen der strahlenden 
Sonne aussetzte. Er fand regelmaBig Zerfall der Chromatinsub- 
stanzen des Kornkorperchens der Ganglienzellen, den er z. T. als 
direkte Strahleneinwirkung ansieht, z. T. als sekundar bedingt 
durch Einwirkung des chemisch durch die Ueberwarmung ver- 
anderten Blutplasmas auf das Zentralnervensystem. 

HubM und Pigache (12) fanden die Cerebrospinalfliissigkeit 
weiBlich triib und vermehrt. Ferner stellten sie bei akuten Fallen 
in der grauen Substanz Abblassung der Ganglienzellen, Cytolyse 
und Vakuolenbildung fest. 

Ueberblicken wir nach dieser kurzen Uebersicht die in der 
Literatur niedergelegten Beobachtungen fiber die klinischen, patho- 
logisch-anatomischen und histologischen Befunde am Zentral¬ 
nervensystem ,beim reinen Sonnenstich, so finden wir fibereinstim- 
mend folgende Angaben: 

1. Kopfschmerzen, meningitische Erscheinungen, Nackensteifig- 
keit, Somnolenz, Verwirrtheit szustande, Koma, Lahmungen. 

2. Veranderungen des Liquor cerebrospinalis in alien Abstu- 
fungen, je nach der Schwere der klinischen Erscheinungen, von der 
einfachen Drucksteigerung infolge vermehrter Spinalflfissigkeit, 
bis zur eitrigen Meningitis mit Zellvermehrung und positiver EiweiG- 
reaktion. 

3. Als pathologisch-anatomische Grundlagen der klinischen Er¬ 
scheinungen: Hyperamie der Meningen und der Himrinde, Trfibung 
und Verdickung der Hirnhaute, Cytolyse, Vakuolenbildung, Chrom- 
atolyse, besonders der Pyramidenzellen der Hirnrinde. 

Die von uns in den besehriebenen drei Fallen erhobenen Be¬ 
funde decken sich somit mit den in der Literatur niedergelegten Be¬ 
obachtungen. Leider ist die mikroskopische Untersuchung der Him- 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



110 Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs. 

rinde im ersten Falle unterblieben; indessen ist auch schon oben 
darauf hingewiesen worden, daB die Beinheit dieses Falles nicht 
auBer allem Zweifel steht. 

Es diirfte nunmehr von Interesse sein, dem wirksamen Agent 
bet der Entstehung dieser , ,Meningo-encephalitis Solaris “ nachzu- 
forschen. Vor allem muB noch einmal betont werden, daB bei der 
vorliegenden Frage nur diejenigen FSlle beriicksichtigt werden 
diirfen, bei denen es sich um reine Insolation handelt, im Gegensatz 
zum Hitzschlag oder Warmeschlag, der haufig mit dem Sonnenstich 
verbunden ist. 

Birch-Hirschfeld (8) bezeichnet „als Insolation die schadliche 
Einwirkung strahlender Sonnenwarme auf den Kopf“. Nach 
Thiem (13) tritt Sonnenstich ein, „wenn ein ruhender Korper der 
direkten Sonnenbestrahlung ausgesetzt ist. Dabei kann die AuBen- 
temperatur verhaltnismaBig niedrig sein“. Lenzmann (14) sagt: 
,,Der Sonnenstich kommt nur durch direkte Bestrahlung des un- 
bedeckten Hauptes und Nackens zustande, es gehort dazu unbedingt 
die scheinende Sonne ; Wahrend der Hitzschlag auch bei bedecktem 
Himmel eintritt, und zw’ar moistens gerade bei schwiiler, dumpfer 
Temperatur. — Die Ueberhitzung des Korpers spielt beim Sonnen¬ 
stich eine nur nebensachliche Rolle — es konnen allerdings Tem- 
peratursteigerungen um 2° vorkommen —; es handelt sich hier um 
eine Lahmung der grauen Hirnrinde durch die intensive Einwirkung 
des Lichts und der Sonnenhitze“. Wie unsere Krankengeschichten 
zeigen, sind in obigen drei Fallen die Bedingungen erfiillt, um einer- 
seits einen Hitzschlag abzulehnen, andererseits die Erkrankung als 
reinen Sonnenstich ansprechen zu konnen. Alle 3 Individuen hatten 
„mit unbedecktem Kopfe und Nacken“ stundenlang ,,in der strah- 
lenden Sonne geruht". Um eine Ueberhitzung kann es sich we- 
nigstens in dem 2. und 3. Falle nicht gehandelt haben; selbst wenn, 
was aber nicht der Fall war, die Luft an den betreffenden Tagen des 
Sonnenbades schwiil und dumpf gewesen ware, so h&tte die Lage 
des Badeplatzes am Elbufer und die so gut wie vollige Nacktheit 
der beiden Badenden eine Warmestauung sicher abgewendet. 

Sind demnach die von uns beobachteten Falle als reine Inso¬ 
lation aufzufassen, so sind von vomherein fur diese Falle die von 
vielen Seiten fiir den Hitzschlag verantwortlich gemachten toxischen 
Ursachen abzulehnen. Schultze (6), Senftleben (15), Thiem (13) 
nehmen an, daB die Ursache des Hitzschlags toxische Substanzen 
sind, die sich durch Hamolyse bilden; Birch-Hirschfeld (8) glaubt, 
daB diese bei der Muskelarbeit entstehen und infolge unzureichender 
Ausscheidung durch Haut und Nieren im Blute sich anhaufen. 
Scaglosi (11) halt eine chemische Veranderung des Blutplasmas 
infolge Ueberwarmung des Blutes fiir wahrscheinlich und lftBt von 
da aus wieder sekundar die Alteration des Zentralnervensystems ent¬ 
stehen. 

DaB, wie Schultze (6) und Birch-Hirschfeld (8) angeben, ein 
Sonnenstich als Oelegenheitsursache, wenn zufallig Bakterien im 
Blute kreisen, einmal eine Meningitis auslosen kann, ist ohne weiteres 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Romer, Ueber die Puthogene.se des Sonnenstichs. 


Ill 


zuzugeben; sicherlich kann aber auch eine sterile eitrige Meningitis 
durch irgendwelchen Reiz auf die Himhaute entstehen, wie vor ahem 
durch die Arbeiten SchottmuUers (16) auf diesem Gebiete bewiesen 
wurde. Es bedarf also keineswegs des zufalligen Kreisens von 
Bakterien im Blute zur Entstehung einer Meningitis, sondem es 
handelt sich eben bei der durch Insolation entstandenen Meningitis• 
um eine echte Meningitis serosa [ Kaufmann (7)]. 

Wir machen also einzig und allein die strahlende Sonne fur die 
Entstehung der Meningitis beim Sonnenstich verantwortlich, indem 
wir ihr eine direkte Einwirkung auf die Himhaute, eventuell auch die 
Hirnrinde, zuschreiben. Zur Begrundung dieser Anschauung soli 
noch einmal auf die Erfahrungen hingewiesen werden iiber die 
Wirkung der Lichtstrahlen auf das Oewebe. Daran ankniipfend wird 
die Frage zu beantworten sein, welcher Teil des Spektrums, welche 
Strahlenqualitat die schadliche ist. Wir haben ja bei der Wirkung 
der Sonnenstrahlen nicht nur die Warmestrahlen, sondem auch die 
■chemischen, ultravioletten Strahlen zu beriicksichtigen. Sehen wir 
von dieser Trennung ab, so ist die Wirkung der Sonnenstrahlen auf 
den Korper in erster Linie eine erwar mends. Nach Lenkei (17) nimmt 
die Temperatur der Haut bei freier Bestrahlung im Durchschnitt 
um 2,34° (gemessen mit dem Hautthermometer) zu, w&hrend die 
Rektaltemperatur, wenn iiberhaupt, nur um hochstens 0,05° steigt. 
Es erwarmen sich also die oberflkchlichen Schichten des Korpers 
bei freier Bestrahlung mehr als das Korperinnere, weil eben das un- 
unterbrochen zirkulierende Blut, durch den Lungenkreislauf vor 
Ueberhitzung geschiitzt, die Temperaturkonstanz des Korpers 
erhalt. Der Effekt der Bestrahlung der Haut ist derselbe wie bei 
jeder Warmeapplikation und auBert sich in einer aktiven arteriellen 
Hyperamie, zugleich mit einer Steigerung der Lymphsekretion; 
Dieser Zustand kann nach Aussetzen der Warmeapplikation noch 
iiber 24 Stunden andauem. Die erwarmende Wirkung der Sonnen¬ 
strahlen beschrankt sich aber keineswegs auf die oberen Haut- 
schichten. Schmidt (20) konnte z. B. zeigen, daB die von der Tropen- 
sonne durch die ganze Schadeldecke ohne Haar (10 mm dick) in 
das Schadelinnere eingestrahlte Warmemenge pro Minute pro qcm 
0,02 Kal., d. i. lpCt. der gesamten auffallenden Warmemenge, be- 
tragt. Er schreibt aber der sekundaren, durch Leitung der in der 
Sch&deldecke absorbierten Sonnenwarme entstehenden Erwarmung 
der Hirnrinde fur-die Entstehung des Sonnenstichs eine groBere 
Bedeutung zu als der primaren Erwarmung der Hirnrinde durch 
Bestrahlung, wenngleich die Moglichkeit einer direkten Durch- 
strahlung des Schadeldaches oder wenigstens einer sehr rasch in 
die Tiefe dringenden Erwarmung der ganzen Schadeldecke vor- 
handen ist. Zu der Wirkung der Warmestrahlen des Sonnenlichts 
summiert sich aber noch hinzu die der chemisch wirksamen Strahlen, 
die nach Durchdringung der Haut in der Tiefe ihrerseits ihre eigenen 
spezifischen Wirkungen entfalten. Wir wissen durch die Unter- 
suchungen zahlreicher Autoren [Leukei (17), HasseWaich (18), 
Finsen u. A.], daB die Haut eine natiirliche Schutzdecke des Korpers 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



112 


Romer, Ueber die Pathogenese des Sonneustichs. 


gegen Licht darstellt, und zwar in verschiedenem Grade, je nach der 
Dicke, der Farbe und dem Blutgehalt. Leukei (17) konnte zeigen, 
daB nur eine relativ geringe Menge der Lichtstrahlen dureh die 
Haut hindurehgelangt: blasse Haut laBt zirka y i00 des auffallenden 
Lichts bis zu 5 mm durch, etwas dunklere nur V 2 oo» stark dunkle 
nur noch — l / 10000 des auffallenden Lichts. Auch fiir die 

Warmestrahlen bestehen Unterschiede, indem die Haut der WeiBen 
ungefahr die doppelte Menge durchlaBt wie die der Neger [Schmidt 
(21)]. Hasselbach (IS) ist es gelungen, zahlenmaBig die Permeabilitat 
der Haut auszudriicken. Einerseits ergaben seine Untersuchungen 
eine groBe Lichtabsorption bei zunehmender Dicke der Hautschicht, 
andererseits ist auch daraus ersichtlich, „daB von den (chemisch) 
wirksamen Lichtstrahlen eine nicht zu unterschatzende Quantitat 
bis an die gefaBfiihrenden Papillen des Coriums hineingelangen, wo 
sie dann bei ungestorter Zirkulation vom Blute verschluckt werden‘*. 
Auf die BlutgefaBe der Cutis und Subcutis wirken die Stahlen in der 
Weise ein, daB durch direkte Beeinflussung der GefaBmuskulatur 
und -Endothelien die BlutgefaBe mehroder weniger stark und dauernd 
erweiterfc werden. So entsteht das lAchterythem , dem bei starkerer 
Einwirkung der Strahlen Dermatitis, seros-hamorrhagische Ent- 
ziindung, Oedem und Thrombosierung der oberflachlichen GefaBe 
folgt. Diese letzteren Veranderungen beschleunigen wiederum 
ihrerseits das Auftreten der direkt durch das Licht hervorgerufenen 
Zellnekrose [Wickham (19)], wie durch die Befunde Jensens am mit 
Finsenlicht bestrahlten Kaninchenohr und die Untersuchungen 
einiger franzosischer Autoren am Sonnenerythem beim Menschen 
in ubereinstimmender Weise gezeigt worden ist. DaB fur die Pene- 
trationsfahigkeit der Lichtstrahlen der Zustand der Haut, die In- 
taktheit der Blutzirkulation und ahnliche Umstande von hoher Be- 
deutung ist, ist nach dem Gesagten einleuchtend. Fiir unsere Frage, 
ob die Sonnenstrahlen direkt auf die Meningen einwirken, ist auBer- 
dem wichtig, daB die Durchlassigkeit der verschiedenen Gewebe 
eine ungleiche ist: Oodneff fand, daB die Durchdringungsfahigkeit 
des Sonnenlichts am starksten ist gegeniiber der Haut, weiterhin 
gradatim abnehmend fur Knochen, Gehirn, Leber, Muskeln, Blut, 
Milz, Nieren. 

Daraus geht hervor, daB wir nicht ohne weiteres annehmen 
konnen, daB eine nach Quantitat und Intensitat genugende Menge 
von Lichtstrahlen direkt die Schadelbedeckungen durchdringen, um 
den Sonnenstich hervorzurafen. Unter normalen Verhaltnissen 
wird nur ein ganz geringer Prozentsatz der Sonnenstrahlen die 
Schadeldeeke durchdringen, aber auch unter pathologisch verander- 
ten Bedingungen konnen nur wenige Strahlenquantitaten bis unter 
das knocheme Schadeldach gelangen, zumal wir wissen, daB ein 
ganzer Teil des Sonnenspektrums mit Sicherheit in den oberflach¬ 
lichen Hautschichten vollkommen absorbiert wird. Auf diese 
Eigenschaft der Spektralfarben muB daher in Kiirze eingegangen 
werden. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Romer, Ueber die Pathogenese des Soimenstichs. 


113 


Nach den Arbeiten von Finsen, Freund, Behring, Burk u. A. 
darf os als feststehend gelten, daI3 die Penetrationsfahigkeit der 
einzelnen Strahlen des Spektrums auf die Haut in umgekehrtem Ver- 
haltnis steht zu ihrer entziindungserregenden Wirkung. Es haben 
also die kurzwelligen, im Spektrum bei Violett liegenden Strahlen 
mit ihrer starken entzundungserregenden Wirkung nur eine geringe 
Penetrationskraft, wahrend die langwelligen, beim Rot liegenden 
Strahlen eine starke Penetrationskraft haben, bei mangelnder Wirk- 
samkeit hinsichtlich der Entziindungserregung. Die Quarzlampe, 
welche nur die kurzwelligen Farben von Blau bis Ultraviolett ent- 
halt, verursacht demnach starke oberflachliche Entziindung, ohne 
in die Tiefe zu dringen. Nun bestehen aber hinsichtlich der Pene- 
trationsfahigkeit lebenden Gewebes, wie oben ausgefiihrt, noch 
individuelle Verschiedenheiten beim einzelnen Menschen, die haupt- 
sachlich bedingt sind durch den Unterschied in der Menge des 
Hautpigments und der Blutfiille der Haut, iiberhaupt der Be- 
schaffenheit der zu durchstrahlenden Gewebe. 

Am wenigsten tief gelangen die kurzwelligen, ultravioletten 
Strahlen; sie werden schon in der Epidermis absorbiert. Die klein- 
welligen hyperultravioletten und ultravioletten Sonnenstrahlen 
werden jedoch ohnedies nur zu einem geringen Teile wirksam, da 
beim Passieren der Atmosphare der groBte Teil dieser Strahlen ver- 
loren geht [Schanz (23), Berner (24)]. Die Absorption der noch zur 
Wirkung kommenden Strahlen beruht in erster Linie auf dem Haut- 
pigment, das selbst nach den grundlegenden Untersuchungen von 
Unna, dem sich Widmark, Hammer, Rollier, Lenkei, Solger u. A. 
anschlossen, ein Produkt der Einwirkung gerade und einzig und allein 
der violetten und ultravioletten Strahlen ist. Das Hautpigment 
hat vor allem den Zweck, das tieferliegende Gewebe vor dem Ein- 
dringen der chemisch wirksamen Strahlen zu schiitzen. Es wirkt 
wie ein Filter, das die entzundungserregenden Strahlen von der Tiefe 
femhalt [Meiroiosky (25), Solger (26)]. — [Unter dieser Voraus- 
setzung verstehen wir wohl den Sinn der im ganzen Tierreich ver- 
breiteten Pigmentierung wichtiger Organe (Solger); wir verstehen 
auch, warum die Bewohner der heiBen Zonen starker pigmentiert 
sind, und warum sie trotz der intensiven Belichtung keinen Schaden 
leiden.] 

Wahrend also die ultravioletten Strahlen in der Haut Verande- 
rungen hervorrufen, aber auch schon in der Epidermis absorbiert 
werden, erreichen die violetten Strahlen, die der Haut nicht schadlich 
sind, das Kapillametz der Haut, wo sie nach Burk zu 99 pCt. vom 
Blute absorbiert werden. Da die absorbierte Lichtmenge in geradem 
Verhaltnis steht zu der Dichte des Kapillametzes und dem Hamo- 
globingehalte des Blutes, so muB auch die Penetrationsfahigkeit der 
Strahlen bei anamischer Haut eine groBere sein als bei gut durch- 
bluteter, ebenso, wie sie gesteigert sein muB bei alien Sch&digungen 
der Haut, die mit einer Storung des Blutumlaufes einhergehen. 

Durch die Haut und das Kapillametz hindurch dringen die 
dem roten Teile des Spektrums naheliegenden Strahlen. Sie werden 

tl Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologie. Bd. XXXVII. Heft 2. 8 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



114 


Romer, Ueber die Pathogenese des Sonnenstichs. 


erst in den tieferen Teilen des Integuments absorbiert, sind aber hin- 
sichtlich ihrer toxischen Wirkung auch relativ barmlos, da es sich 
nicht um chemisch wirksame Lichtstrahlen handelt, sondem um 
Warmestrahlen. Moglicherweise summieren sich zu diesen lang- 
welligen Lichtstrahlen, die primar von der Sonne ausgehen, noch 
Sekundarstrahlen, die erst in der Haut entstehen; nach neueren 
Untersuchungen scheint es namlich, als kame dem Pigment die 
Fahigkeit zu, die absorbierten kurzwelligen Strahlen des Spektrums 
aufzuspeichem und in langwellige Strahlen umzuwandeln, die dann 
die Haut als Warmestrahlen durchdringen ( RoUier , Meirowsky). Wie 
dem auch sei, soviel ist sicher, daB bis in das tieferliegende Gewebe 
nur langwellige Strahlen gelangen konnen. Lenkei gibt an, daB bis 
zu einer Tiefe von 5 mm bei dunkler Haut fast nur noch gelbe Strahlen 
dringen. Bei Gelb aber liegt auch das Maximum der Warmewirkung 
des Soxmenlichts. Schmidt (20), welcher sich besonders mit dem 
Sonnenstich in den Tropen beschaftigt hat, hat schon 1903 die Ver- 
mutung ausgesprochen, daB die ,,hellen, in die Tiefe dringenden 
Warmestrahlen, nicht die ultravioletten, den Sonnenstich hervor- 
rufen.“ 

Nach alledem scheint doch die Annahme einer direkten Durch- 
strahhmg der Schadeldecke geniigend gestiitzt. Es kann kein Zweifel 
sein, daB sowohl direkte Strahlen die Meningen und die Himhaut 
erreichen, als auch sekundare durch Leitung der Warme im Schadel- 
dach entstehende. Beide Arten treten gleichzeitig in Wirkung und 
summieren sich gegenseitig. Ob im Einzelfalle die direkten Strahlen 
oder die geleitete Warme die groBere Rolle spielt, wird von individu- 
eJlen Verschiedenheiten abhEngen, wobei die Beschaffenheit des 
Schadeldaches vermutlich eine wesentliche Rolle spielt. Wahrschein- 
lich wird die Menge der direkten Strahlen zu den sekundaren in der 
Regel in einem umgekehrten Verhaltnis stehen. DaB zweifellos neben 
den Warmestrahlen auch chemisch wirksame Strahlen fur die Ent- 
stehung des Sonnenstichs von Bedeutung sind, konnen wir mit gutem 
Grunde annehmen. Dafiir spricht u. a. auch, daB die Erscheinungen 
der Hirnhautreizung in der Regel nicht alsbald, sondem erst nach 
einer gewissen Latenzzeit auftreten, worauf schon Lenkei hinge- 
wiesen hat. In den von uns beobachteten Fallen betrug diese Latenz¬ 
zeit ca. 4 Tage. 

Wir haben uns also nach dem Gesagten die Entstehung eines 
Sonnenstiches folgendermaBen vorzustellen: Wird der unbedeckte 
Kopf von der Sonne direkt bestrahlt, so wirken alle Strahlenquali- 
taten auf die Haut ein. Die wenigen durch die Atmosphare zu uns 
gelangenden ultravioletten Strahlen rufen in der Epidermis Pigment- 
bildung hervor und werden von diesem absorbiert , wahrscheinlich 
auch in langwellige Strahlen umgewandelt. Die Strahlen groBerer 
Wellenlangen gelangen durch die oberflachlichste Hautschicht bis 
zu dem Kapillametz der Cutis und Subcutis und erzeugen hier Ge- 
faBerweiterung, Hj'peramie, Oedem, bei starkerer Einwirkung 
Thrombosen. Bei ungestortem Blutkreislauf dringen durch die Haut 
nur wenige Strahlen in die Tiefe, ist aber der Kapillarkreislauf ge- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

• UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Romer , Ueber die Pathogenese des Sonnenetichs. 


115 


schadigt (Dilatation, Thrombosen), so gelangen groBere Mengen 
langwelliger Strahlen durch die Haut hindurch, sogar auch durch 
das knocheme Schiideldach. Sie wirken sowohl als Warmestrahlen 
wie auch als Lichtstrahlen, in demselben Sinne wie auf die Blut- 
bahnen der Haut, auf die Meningen und ihre GefaBe ein, indem sie 
eine reaktive Entziindung mit Leukozytenauswanderung und ver- 
mehrter Fliissigkeitsabsonderung hervorrufen (Meningitis serosa, 
Meningitis purulenta sterilis). Ein Teil der direkten Strahlen erreicht 
schlieBlich die Hirnrinde selbst. Die Wirkung dieser direkt zu den 
Meningen und zum Gehirn gelangenden Strahlen wird noch ganz 
wesentlich unterstiitzt durch die sekundaren Warmestrahlen, welche 
durch Leitung der in der Schadeldecke absorbierten Warme ent- 
stehen. Wir sehen also schlieBlich als wirksames Agens eine Summe 
von Strahlen, die sich zusammensetzt einerseits aus den direkten 
Sonnenstrahlen, sowohl den aktinischen wie den chemisch wirk- 
samen, andererseits aus den sekundaren Leitungs-Warmestrahlen, 
von den Bedeckungen aus. 

Es leuchtet ein, daB dieWirkung der in Betracht kommenden 
Strahlen abhangig ist, in erster Linie von der Intensitat und Dauer 
der Besonnung. Unter den gewohnlichen Verhaltnissen geniigt in 
unserem Klima eine kurzdauernde Bestrahlung nicht, um Reiz- 
erscheinungen hervorzurufen; nur wenn der unbedeckte Schadel der 
Sonne lange Zeit ausgesetzt wird, kann eine Summierung der Strahlen - 
wirkung eintreten, die intensiv genug ist, um eine Tiefenwirkung zu 
be wirken. Es ist auch nicht zweifelhaft, daB die Disposition zum 
Sonnenstich eine individuell verschiedene ist; Schmidt (20) und 
Jones (27) geben dafiir Beispiele an. Vor allem ist wohl die Dis¬ 
position verschieden je nach der Ausbildung des Hautpigments, 
ferner je nach der Dichtigkeit des Kapillametzes der Haut und der 
Beschaffenheit des darin zirkulierenden Blutes. Und so ist es auch 
durchaus erklarlich, warum anamische, wenig pigmentierte Indi* 
viduen leichter vom Sonnenstich befallen werden als vollbliitige, 
wettergebraunte Menschen, vollends aber die Neger. Bei diesen 
bildet eben die dunkle Haut einen geniigenden Lichtschutz selbst 
gegen die Tropensonne, obgleich die in den Tropen eingestrahlte 
Energie nach Schmidt (22) doppelt so groB ist wie bei uns im Hoch- 
sommer. In praktischer Beziehung ergeben sich daraus besonders 
auch hinsichtlich der in den letzten Jahren allgemein beliebt ge- 
wordenen Sonnen- und Lichtbader wichtige Gesichtspunkte, auf die 
jedoch hier nicht iiaher eingegangen werden soli. 

Ergebnis: 1 . Die anatomische Grundlage des ,,Sonnenstichs“ 
ist eine Meningitis (bzw. Meningoencephalitis) acuta mit Druck- 
steigerung und pathologischer Zellen- und EiweiBvermehrung im 
Liquor cerebrospinalis. 

2. Die Veranderungen werden hervorgerufen durch direkte 
Einwirkung der strahlenden Sonne auf die Hirnhaute und das Ge- 
him; und zwar kommen zur Wirkung: 

a) direkte Warmestrahlen, deren Durchdringungsfahigkeit er- 
wiesen ist; 

8 * 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



116 


Borchardt, Ungewohnlicher Symptomenkomplex 


Digitized by 


b) sekundare Warmestrahlen, die leitende Warme von den Be- 
deckungen aus; 

c) direkte Lichtstrahlen, welche bei geschadigten Bedeckungen 
bis zur Gehimoberflache eindringen konnen; 

d) sekundare, durch Umwanrflung aus kurzwelligen Licht- 
strahlen in der Haut entstandene langwellige Strahlen. 

Literatur- Verzeichnis: 

1. Steinhau8en: Leuthold-Gedenkschrift. 1906. 2. Opperiheim: Lehr- 
bueh der Nervenkrankheiten. 6. Aufl. II. S. 1033. 3. Storey : Hitzschlag. 
Brit. med. Joum. 27.1. 1912. Ref. Dtsch. med. Woch. 1912. S. 133. 

4. Dufour : Erfolge der Lumbalpunktion bei Sonnenstich. Revue Neurolog. 
1909. No. 6. Ref. Neur. Zbl. 1910. S. 218. 5. Gastinel u. S. Marc y Spinal- 
punktion bei Hitzschlagen. Gaz. d’hopit. Bd. 104. Ref. Neurol. Zbl. 1911. 

5. 1387. 6. Schultze : Krankheiten der Hirnh&ute in Nothnagels Handbuch. 

Bd. IX. 1901. S. 70. 7. Kaufmann : Lehrbuch d. speziell. patholog. Ana¬ 
tomic. 8. Birch-Hirschfeld : GrundriB der allgem. Pathologie. 1892. S. 240. 
9. Ever8hu8ch : in Pentzold-Stintzing, Handb. d. inneren Krankheiten. VII. 
S. 581. 10. Amato : A. Die Ganglienzelle bei der Insolation. Virchows Arch. 
195. S. 544. 11. Scagliosi: Ueber den Sonnenstich. Virch. Arch. 165. S. 15. 
12. Hvbll u. Pigache: Nervose Erkrankungen nach Hitzschlag. Arch. d. 
Neurologic. 1908. Ref. Neur. Zbl. 1909. S. 1156. 13. Thiem: Unfall- 

erkrankungen. II. S. 223. 14. Lenzmann: Pathologie und Therapie der 
plotzlich das Leben gefahrdenden Krankheitszustande. 1907. 15. Senft- 

leben: Ueber die Entstehung des Hitzschlages. Berl. klin. Woch. 1907. 
S. 775. 16. Schottmuller: Ueber Meningitis. Jahreskurse fur arztl. Fort- 

bildung. Okt. 1913. Munch, med. Woch. 1910. S. 1984. 17. Lenkei : Wir- 
kung der Sonnenbader auf die Temperatur des Korpers. Ztschr. f. phys. u. 
di&tet. Therapie. XI. 1908. 18. Hasselbalch: Chemische und biologische 
Wirkung der Lichtstrahlen. Strahlentherapie II. S. 403. 19. Wickham : 

Durch Strahlen hervorgerufene histologische Gewebsveranderungen. Strah¬ 
lentherapie. III. S. 64. 20. Schmidt: Entstehung des Sonnenstichs. Arch, 
f. Hyg. Bd. 65. 21. Derselbe: Sonnenstich und Schutzmittel gegen Warmr - 
at rah lung. Ebenda. Bd. 47. 1903. 22. Derselbe: Wirkung der tropischen 
Sormenbestrahlung auf den EuropAer. Dtsch. med. Woch. 1910. S. 1984. 
23. Schanz : Licht und Lichttherapie. Strahlentherapie V. S. 453. 24. 

Berner : Wirkung der kiinstlichen Hohensonne auf das Blut. Ebenda. V. 
25. Meirowsky: Pigmentfr&ge. Strahlentherapie II. S. 104. 26. Solger: 

Beziehungen zwischen Licht \md Hautfarbstoff. Ebenda. S. 93. 27. Jones : 
Ungewohnlicher Fall von Sonnenstich. Ref. Dtsch. med. Woch. 1905. 
S. 1812. 


(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Konigl. Charite, Berlin 
[Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Bonhoeffer].) 

Ungewohnlicher Symptomenkomplex bei einem Fall 
von symptomatiseher Psychose. 

Von 

Ur. LUDWIG BORCHARDT. 

(Hierzu 3 Abbildungen im Text.) 

Die Patientin, deren Krankengeschichte im folgenden mit- 
geteilt werden soli, befindet sich seit nabezu 10 Monaten in der 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



bei einem Fall von symptomatischer Psychos©. 


117 


psychiatrischen Klinik. Eer Fall ist bisher diagnostisch noch 
keineswegs ganz geklart und zeigt in seiner Symptomatologie eine 
Reihe von Besonderheiten, so daB sich eine ausfiihrliche Wieder- 
gabe der Krankengeschichte rechtfertigt. 


Es handelt sich um ©in© 47 j&hrige Frau X., di© am 10. I. 1914 von 
ihrem Sohn in die Charity gebracht wurde. Si© stammt aus geeunder 
Famili© und soli selbst friiher ni© ernstlich krank gewesen 8©in, si© war 
aber immer ©igentiimlich, „©twas komisch 44 . Vor iy t Jahren hatte si© 
nach einem Schreck ©in© Sprachstorung bekommen und ist deshalb in einem 
Sanatorium gewesen; damals soli si© auch Sehstorungen gehabt haben. 
Vor 4—5 Wochen soli si© an starkem Durchfall ©rkrankt sein, der arztlich 
behandelt wurde. Si© fiihlte sich so matt, daB si© ihren Haushalt nicht 
mehr versehen konnte, obwohl si© noch Interesse dafiir zu haben schien. 
Si© muBte in den letzten Wochen im Bett liegen, hatte auch iiber Schmerzen 
in den FuBen zu klagen, di© aber bald wieder nachlieBen. Seit 3 Wochen 
fiel ©in© psychische Veranderung auf: si© ist gleichgiiltig gegen di© Um- 
gebung geworden, was si© sprach, hatte keinen Sinn. Si© begann in 8inn- 
loser Weis© Geschenke zu machen, wollt© ihrer Aufw&rterin ihr Biifett 
und Klavier schenken. Dies© Symptom© veranlaflten di© Einlieferung in 
di© psycliiatrisch© Klinik. 

Die Krank© selbst hat in der letzten Zeit die Anamnese noch in folgen- 
der Weis© erganzen konnen: si© habe in der Schule gut gelernt und stets 
gut© Zensuren bekommen. Mit 14 Jahren sei si© aus der Schule gekommen, 
habe aber keinen Beruf erlernt, sondern sei bei ihren Eltern geblieben. 
Si© sei zweimal verheiratet gewesen, von jedem Mann habe sie ein gesundes 
Kind; Fehlgeburten habe sie nicht gehabt. Der erste Mann sei an Lungen- 
schwindsucht, der zweite Mann an Magenkrebs gestorben. Beide Manner 
sind Oberfeuerworker gewesen. Sie habe in Kiel, Cuxhaven und schlieBlich 
jahrelang in Helgoland gelebt. Ernstlich© Krankheiten habe sie nicht 
durchgemacht, sei aber immer sehr zart gewesen. Vom 8. bis 17. Lebens- 
jahr habe sie an Migr&neanfallen gelitten, die sie in typischer Weise schil- 
dert. Im ubrigen war sie gesund bis zu dem Krankheitsfalle vor 1 % Jahren. 
Ueber psychische Veranderungen in damaliger Zeit weiB sie nichts, sie 
will sich nur matt gefiihlt haben und klagte auBerdem iiber Schlaflosigkeit, 
Herzklopfen, Schmerzen in den FiiBen, besonders in den Zehen, Schleier- 
und Schwarzsehen vor den Augen. Die Sehstorungen, die vor 1 1 / 2 Jahren 
aufgetreten waren, beschreibt sie in der Weise, daB sie 14 Tage lang iiber- 
haupt nicht recht sehen konnte und alles durfch einen Schleier sah, so daB 
sie z. B. die Schwane auf dem vor dem Hause befindlichen Teich vom Fenster 
aus nicht erkennen konnte. Dies© Storung i£t dann plotzlich wieder voll- 
kommen verschwunden. Es scheint, daB sie damals auch gelegentlich 
Doppelsehen gehabt hat, doch ist ihre Schilderung daruber nicht sehr 
charakteristisch. 

Die Berichte des Sanatoriums besagen, daB die Kranke damals im 
Anschlusse an zahlreiche seelische Aufregungen „Krftmpfe“ bekommen 
haben soli, bei denen sie ohne BewuBtseinsverlust „steif“ wurde. Sie war 
vom Oktober 1912 bis Dezember 1912 im Sanatorium, wog damals 37,5 kg. 
Die inneren Organ© waren ohne krankhafte Veranderung, auch am Nerven- 
system fand sich nichts Pathologisches. Kniereflexe normal, kein Romberg. 
Sensibilitat normal. Die Augen sind augen&rztlich untersucht worden, 
zeigten normale Pupillenreaktion, normalen Augenhintergrund. Nystagmus 
war nicht vorhanden. Im Sanatorium gingen die Beschwerden zuriick. 
Die Kranke nahm an Korpergewicht zu, so daB sie als „im wesentlichen 
gesund 44 entlassen werden konnte. Sie soil im Sanatorium entschieden 
hysterische Ziige dargeboten haben, so daB der Arzt das Leiden ,,im wesent¬ 
lichen als Hysteric 44 ansah. 

Bei der Aufnahme in die psychiatrische Klinik verhalt sich die Kranke 
zun&chst ruhig, aber schon in der ersten Nacht wurde sie erregt und schlieB- 
lich so laut, daB sie in die unruhige Abteilung verlegt werden muBte. Am 
Morgen war sie etwas ruhiger, gab ihre Personalien, ihren Geburtstag 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



118 


Borchardt, Ungewohnlicher Symptomenkomplex 


Digitized by 


richtig an. Zeitlich war sie unorientiert, gab als Jahr 1400 an, behauptet, 
sie sei schon 3 Tage in der Klinik, und zwar habe sie ihr Sohn im eigenen 
Auto hergebracht. Sie befinde sich jetzt in einem Krankenhaus oder 
Sanatorium, wisse aber den Namen nicht. Uebrigens brauche sie hier nicht 
zu liegen, denn sie fiihle sich gar nicht schwach. Sie wolle ausfahren, deni} 
sie habe eine Autofahrt verabredet und sie konne ja in 5 Minuten wieder 
hier sein. Sie bittet um sofortige Entlassung, fangt an zu weinen, um- 
klammert die Hande des Arztes, sie miisse unbedingt um 10% L*hr fort- 
fahren, sie sei zum Mittagessen eingeladen bei Freunden, die hatten eine 
Villa, welche direkt neben ihrer eigenen liege. Strafie und Hausnummer 
kann sie nicht angeben, sie meint aber, der Chauffeur wiirde es finden, er 
konnte es ja im Adre£buch nachsehen. Auf Zureden laBt sie sich beruhigen. 
Ueber ihre Familienverhaltnisse gab sie an, sie habe nur eine Schwester 
gehabt, die im Februar 1813 (!) im Alter von 27 Jahren an Magenkrebe 
gestorben sei, das sei voriges Jahr gewesen, jetzt sei 1914. „Ich bin n&m- 
uch ganz zerfahren, hier kommt man ganz durcheinander. “ Ueber ihre 
ehelichen Verhaltnisse berichtet sie in unrichtiger Weise, sie habe nur ein 
einziges Kind, das im Jahre 1901 geboren sei, von ihrem zweiten Mann 
habe sie kein Kind. Sie habe in der letzten Zeit in Berlin gelebt, und zwat 
in den letzten zwei Jahren in ihrer Villa im Westen, fur die sie 50 000 Mark 
erspartes Geld eingezahlt habe. Am nachsten Tage erzahlt sie, sie habe 
von ihrem ersten Mann 2 Sohne im Alter von 13 und 12 Jahren; der altere 
habe sie hergebracht. (Warum ?) ,,Er hat sich wohl gesagt, es ist besser, 
ich weiB es auch nicht, man nimmt es wohl an. Er wird sich wohl gesagt 
haben, es ist das Sicherste, um allem moglichen vorzubeugen. “ (Welchem 
moglichen?) „Wegen Krankheit, daJ3 ich krank werde. “ 

Sie behauptet weiterhin, sie sei krank, wahrscheinlich die Lunge, es 
sei Schwindsucht, das konne man sich schon allein denken. Sie hat schon 
in den letzten 2 Wochen in ihrer Villa in Berlin W im Bett gelegen. Ihre 
Angaben geschehen in flietfender Rede, ab und zu wirft sie smnlose Worte 
dazwischen, spricht z. B., als sie sich auf das Alter ihrer Sohne besinnt, 
plotzlich von Pfennigen. Sie denkt auch oft lange nach, bevor sie An¬ 
gaben macht, verwechselt Daten und Namen. Einmal sagt sie plotzlich, 
ihr Sohri sei 38 oder 49 Jahre alt und Kaufmann in Rutland. Von Sinneq- 
t&uschungen ist. nichts Sicheres nachzuweisen. Ihre Stimmung ist ruhig, 
sie ist freundlich und zuganglich, nur ab und zu zeigt sie eine leichte Gereizt- 
heit und weinerlichen Affekt. 

Der korperliche Befund war etwa folgender: 

Schlecht genahrte Frau von 30 kg Korpergewicht. Das Herz ist ge- 
8und, fiber beiden Lungenspitzen etwas abgeschw&chter Schall, Bronchitis 
auf beiden Seiten. Temperatur war gelegentlich leicht erhoht, subfebril, 
doch ist starkeres Fieber niemals beobachtet worden. Die rechte Pupille 
war etwas weiter als die linke, beide rund, Lichtreaktion beiderseits etwas 
tr&ge und wenig ausgiebig, rechts schlechter als links, Konvergenzreaktion 
erhalten. Die Papillen erschienen beiderseits abgeblaBt, wahrscheinlich 
infolge Atrophie, und zwar rechts blasser als links (Untersuchung durch 
Herrn Prof. Bruckner ). Facialis und Hypoglossus frei. Reflexe an den 
Armen geeteigert, Bauchdecken etwas gespannt, Bauchreflexe nicht zu er- 
zielen. Kniereflexe beiderseits gesteigert und gleich, Patellarklonus. 
Achillessehnenreflexe beiderseits gesteigert, aber kein Fufiklonus, kein 
Babinski. Die Blutuntersuchung nach Wassermann ist im Laufe der 
Beobachtung mehrmals vorgenommen worden und ergab stets ein negatives 
Resultat. Auch die Lumbalflilssigkeit ist mehrfach untersucht worden 
und zeigte weder vermehrten EiweiCprehalt noch Lymphozytose. Auch 
im Liquor war die Wassermannsche Untersuchung immer negativ. 

In den nachsten Tagen nach der Aufnahme war die Kranke vielfach 
sehr unruhig, am Tage meist ruhiger als nachts; sie schlief schlecht, ver- 
suchte aus dem Bett zu klettern, meinte, sie miisse sofort weg, um Eink&ufe 
zu machen, sie wiirde bald wieder da sein, sie miisse sich vor allem ein Korsett 
kaufen. Auf Zureden lafit sie sich schnell beruhigen. Sie will das Schutz- 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 





boi F411 Vo n 


brett.-.vara Sett*. h^uutergenoixuriVjii s^^p0S^ . d# PffogOfiii eitten 

■pmtOBiiiim* wenw.sie d»» ^mt*' fammwu: '. ^i*. : Ar$t‘ vemnnchi me oiiied 

J^xig ; »tj& ^oldeiien DuJmoiv u*eu xi&*w ^tv: ;sf*reefieV.-er sblle sieh. 

4en Kmg m &&&£■■■ V3I& abhoten*- dbirk Saniund seit 

oiuigtsn Jabrex* tosh ^iit gbldefte^ Aut-Oy das miisd^tvtw' 100 Sfill^Bon g*v 
kostet hab^ Bh mi <d#& eiswsigo m Berjira mid babe 'vte! Autmb&\ gemtiffixi 


.. . 4 B* .•$$; «U*& tinsige uk 'Berlmmid batw geiiitn-ht 

tinier deh Leiitefi, das ware Ihr a)w 4 g*K demr. thrl. VmtotS&m loetrii.gv 


TrUHard^, 100 000 ha be &m von itoem Vatdr* 000 000 wn' dVer 
xlea iWt von einar Venmn^eri*’-•. ':$wig!g^tiVen .:'kt,-'.;^ • 4ebr- !*»<• 

g&dglich. Anf.dfc Frage, ob $kj nicbt vielleielil /.kuni ; Kafs^''B^ixlrang6« 
babe, 8Rgt -««?■„ w sebreibn t&glichemV Fostfearte an ihii. Spati?T ^prlcht* 
me von einexn goldeaen Sarg, tkm mesirb ang^schailt babe, mu n’OlJe sicIj 
aile Miiiio gebtfiu zu sterban. Knrz damn/mwo.t «ii\ tie aai dock ganz geauiid 
uad Wanglie ^<Sit sterb^a. Am den Axzt, er moge 

aeine auf ;^siner Pnmkarte rnffschteiben* si6 gixige bento fort, 

bi der ersten FfoxeK sie wisse nur xioch nieht in aiOdies. 




'SSi fci Mem*/ e* gioge. 'rite'gm. sie set bier sehr zumeden, 
whortiti hierV Fragt pltelieb don Atzfc, oh er ihi: sobon etnon 

: $e; ^b.%\ siv.geru wnea hahmy hihr 

m, : . iS^Vf jh^rit^ t; ‘ la ^- ^im moht m mgeir 
'.)§.& verJ&iigr nderfetMt naOh >1 arise, gibt meb aber *c»br *e.hi »Vil xnfrwkmi 


Digitized by CsOv)glC 


UNIVE 


Origirralfrom 

SETY OF Ml 


n • 






120 B; o-r’cj/fc- a> dt»> TJngowohnirch&r iSyipptoraeokonipka; 

Dew? 0Mt ;rnj Uonne fiieht rveanen (sagt es aber doeh •'Violfach 

zu ’^\terwh aidgolegt, Auf die Fmge. wie 

sxv ...Soli v.h nial kmgofcfjgen sain•? Aid die Beiner* , . . sr dii* Jbei&t netiv 
mean ^cjfiwftger bat mxeb reiiigebraciit «#£ mexiveti : d^an .*$$ 

babe da* tbiti am pfixed K«rp«r wie zer^*b!agea ge- 

<w«^n i^L SI? gibtdapn iixr %ei IT *Tkbre and. 1300 

: goborejo { 1908; 'bi*': \ 4 •?)./ '-uPm said I T Jafrrb. e* kaiin aber aueb 1&96 go-. 

Dev andere Kobb j»ei te Fdbrimr 13<r7 oivd jotfci H ,Tarittf 

YJSicJ^fr^ !<&i feidKbby'gibjr-. : u}%& oft tfrk&m Ant- 

■yvoti&X aw* lIViatd^erki>api3fe^l *>£w. Ur«fri*t 7MW ' fteeMm*- **gt: ^ B. 


(5 & \ 4) *>, : (15 4 17} bvmn ink ruebt. {$M 19) reebjxe ieh nxeht, sie r.echn^ 
&p<& M -ip f>7 richt*^•.'Uf.; Veu^b nebti^v Bei andbron (><I4cbi rtfe 

nie hi oh ftb»uci^ A!Jgemejc<e 

mvd k'tdiicli, racgni /w£hr*?«d *.fer UateTHtieblmg \r ..*,Ste- wo!Ion 

i&*#Haeketv bb isfc -ttfc&i. gaufc im*- bin;'" f-r&gfc oft ^mhendpreh ;• ■*&&? ■■ 
. Dokt'VirV det\ Emdeu^k ro&ebe icih dock tutht, oh >dk iff* w&reV' 


Go gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 






bei einem Fall von symptomatischer Psychos©. 


121 


Die Schrift der Kranken ist auffallend schlecht, z. T. mit Auslassung von 
Buchstaben oder Worten, z. T. so schlecht, daB sie ganz unleserlich ist 
und sich als unkenntliches Gekritzel darstellt (s. Figur 1 und 2). 

Anfang Februar oft euphorische Stimmung. (Wie geht’s ?) „Herr- 
lich, groBartig, wunderbar!“ Gelegentlich wieder sehr angstlich, meint, 
ihr Sohn sei tot, behauptet, ihr FuB sei ab. Oft auch weinerlich mit aus- 
gepr&gtem Krankheitsgefuhl. Klagt iiber Schmerzen in Hiiften und Ge- 
lenken; kein objektiver Befund. Korperlich findet sich ein leichter, aber 
doch deutlicher Intentionstremor. 

In den nachsten Wochen blieb sie bei ihren GroBenideen, sie habe 
ein goldenes Auto, ihre Villa im Westen sei noch im Bau. (Sind Sie denn 
reich ?) Sie habe ihr gutes Auskommen. Auf die Frage, ob sie wirklich 
iiber Millionen verfiigen konne, lacht sie und sagt: „I Gott bewahre, aber 
iiber hunderte von Mark!“ Ueber die Ereignisse der neueren Zeit ist sie 
nicht orientiert, von der Verm&hlung der Prinzessin im Kaiserhaus weiB 
sie nicht8. (Letzter Krieg ?) ,,70-71.“ Oertlich orientiert, zeitlich nur 

mangelhaft, Merkfahigkeit schlecht. Sprache etwas verwaschen, leichte 
Mitbewegungen dabei Auch die Pupillenreaktion ist wieder trage. Augen- 
hintergrund unver&ndert. Beim Fingernasenversuch auch jetzt wieder 
leichtes Vorbeifahren; Sehnenreflexe lebhaft. 

Im weiteren Verlauf kommt das Krankheitsgefuhl allmahlich immer 
deutlicher zum Vorschein. Wenn sie auch gelegentlich immer noch an- 
gibt, es gehe ihr gut, sie habe keine Beschwerden, so hat sie doch ofter als 
anfangs somatische Klagen, Schmerzen im Riicken, im linken FuB, will 
wissen, ob sie iiberhaupt gesund werde, wie lange sie noch hier bleiben miisse; 
fiirchtet, daB sie bald sterben miisse; klagt bald iiber Hunger und Durst, 
bald iiber Appetitlosigkeit, abwechselnd iiber Verstopfung oder Durch- 
f&lle, iiber Schlaflosigkeit oder zu viel Schlaf, w&hrend objektiv Appetit, 
Schlaf und Verdauung gut ist. 

8. V. Fragt den Stationsarzt nach dem Namen seiner zukiinftigen 
Frau Gemahlin, sie solle doch auch X. heiBen (nennt ihren eigenen Namen). 
Sie sei wohl mit ihr verwandt, diese Fraulein Braut oder vielmehr Frau 
Braut. Zwei Herren hatten ihr erzahlt, daB sie so heiBe und bildschon sei. 
Unmittelbar darauf meint sie aber wieder, daB ihre Schw&gerin all© diese 
Ding© vor 4 Wochen in einem Caf6 gehort h&tte und es ihr bei einem Besuch 
mitgeteilt habe. Pupillenreaktion normal , Augenhintergrund wie oben, 
Hirnnerven im iibrigen normal. Bauchreflexe normal im Gegensatz zu 
friiher, beiderseits Patellar- und FuBklonus, aber kein Babinski. Rechts 
plantarer FuBriickenreflex, Gang sehr wackelig, nur mit Unterstiitzung 
moglich. Auf den Lungen immer noch Bronchitis. 

11. V. Merkfahigkeit schlecht, weiB nicht, daB sie gestern Besuch 
ihres Sohnes hatte. 

14. V. Andeutung von Oppenheimschem Phanomen auf der linken 
Seite. Von Bauchdeckenreflexen nur der linke obere schwach vorhanden. 

28. V. Bauchreflexe samtlich schwach vorhanden. 

12. VI. tritt wieder ein groBer Erregungszustand auf, Patientin wird 
sehr laut, jammert, sie wiirde nicht wieder gesund, muB in die unruhige 
Abteilung verlegt werden. Am nachsten Tage bat sie um Verzeihung, 
sie sei mcht Herr ihrer Sinne gewesen, jetzt sei sie wieder ruhig. Woher 
die Aufregung gekommen sei, wisse sie nicht. 

Im Laufe des Juli wird eine gewisse Krankheitseinsicht fiir die 
Psychos© erkennb^, sie sagt, sie sei doch bei klarem Verstande, habe 
aber friiher irre Reden gefiihrt, sie habe dem Arzte ein goldenes Auto 
kaufen wollen. Auf Befragen gibt sie an, sie besitze etwa 3500 Mark und 
meint, daB das zum Automobu nicht reiche, es sei aber doch wenigstens 
ein Anfang, das andere wiirde ihr die Schwagerin vorschieBen. Ihr Ver- 
sprechen beziiglich einer Brillantbrosche einer Pflegerin gegeniiber motiviert 
sie mit ihrem guten Herzen. Korperlich immer noch hinfftllig, l&Bt mehr- 
mals Stuhl und Urin unter sich. 

Anfang August beginnt sie ihre fruheren Ideen zu korrigieren. Sie 
weiB, daB sie kein goldenes Auto verschenken kann, halt sich auch nicht 


Digitized by 


■v Google 


Original from 

UNIVERSSTY-QE-MCH1GAN 



) 22 B o r <:*• h a r d i J U ngt-woholicber Syusptonleakomp]ex 

i*udre.. fiir.'r^idv .,»so 

•imd ; : pf t.linlK' ; int Jetst gut ; sift wtoiB tn«?h den Namt*n »ior 


dabei sitid, dktf Sferbieu dabei Oinft Rcrlie apieit. Ihre AiAwurteu kind lit* 
ganzeo Itfkilifh geordnet* SubjKktrv fiihlt *ie stch woW, frugt aber un- 
mittefhar damuiv »>b we aueh vrieder gcaund. wwde- 

&ltte Angusi ifiug «W an. aufzii-tnheri unci vixnhetu^hen, iiihlte m* h 
aber nboii.-.aeiir' ^ofa^naihl Auf Vorhaltung ihr&v Versprecdumgen an die 
Pflegermnyu #£«, die wotte daa in Zukunft nwtcfdassen, de«m 8ii> syl 
gar ninht re-icb..' 'Von 'jetzt an gehi &$ lhr zusehefids beaser, aueh korperlich 
j&otgfc k?krl^ eiii^ doutUaho G^reichtmnttdime kg). Sift i*f ori^n? im, 
begtrmi sidvanf xter Ableiluug tt.'vrm tu bmduifttgen, verl&ngi ilire .Brill**, 
urn leseii ku kor^n, wil as-ifo laiigweUig «&*, frent nick, dab me jotzt..gwt 
i&ufeii kauri, doeii ist dire Atfekt btgi-r aueh jbtat notdi selir .tfeefeei&d. fa* 
Baufe d/A*? feptember beginni .Me/ iui^h dem. Garten zu geben, verhKH 4rh 


i n (t«»; jRb'pf «etev am 1 baba. fcueib fairoh den Tod itinr beiden M&nndr 

.,z>i yi$ftjet-iA. -abar.- & Ste: ntovhm hitch ftfiu*0v 

i__ v :• .' i. . . ‘ • -i t '■ :: ■■ ' • -*•*•• • * • d •' : ••< 4: . t: . ..- * w. . ; . »:v-. - * .:: i ... t . : . 


an und erigblt gltdehgnJtig^ Dingo, sie sei ^ mehv nn Garten 

•aber feoie iv.w. Frkgc niturAhiigd ob sio xeirkUeb irinder g^vind ^irde.*. 
c? ew uoah liiibem \vurde, gibr ^icb a)>er imt jtKier Antwcvrt oirne 

ateres zufrieden. An t\w-:Zeii ■ ihirer lirarikheii. hal-. -re.la.liv inite Er* 


wic? 


urst.es, er/nnert aich auf:b 
, .-^rwkhnteo. <*e3cbenkc«» h»l.n\ b/w. miU'hw ov.lbr Kir behmiptM, 

5<ie;iito al)e diese ohtOil go^nbir ^ efen. Vob. 

\iti& vungebJWet- hatte. nr-rvo^ K|«? sieht dtje Ideen j^v.t aW-kronk- * 

baft an, und ^t*iB nicbty *eie -aie 4azu g^ufnrnen konn^ 4 , t*tei r en^r 


spbt^ren Fi<pL»fati<m eur.ht- sie nach ErlddruugeiO fur ifare Jdoeil ^mii be 
hauptot^ . iite rmeh 11 den sen habertv infrini z B* ibVe Angabe. daO ibr 






bei einem Fall von symptomatischer Psychose. 


123 


Sohn Kaufmann in Rutland sei, erklare sioh daher, da£ ihr Sohn russische 
Sprachstudien treibe. Die Idee mit der Villa sei vielleicht daher gekqmmen, 
da£ sie in Aussicht gehabt habe, ein Haus ihrer Schwiegereltern zu iiber- 
nehmen und dafi sie das vielleicht als ihre Villa angesehen habe. Intelligenz- 
fragen beantwortet sie jetzt sehr bereitwillig. Die Intelligenz erweist sich 
als mafiig, Merkfahigkeit und Kombinationsfahigkeit ist noch keineswegs gut. 
Sie berichtet jetzt iiber ihr fruheres Leben zusammenhangend und, soweit 
sich objektiv feststellen lafit, auch der Wahrheit entsprechend. Die Sprache 
ist etwas nasal, doch ist diese Sprachstorung nach rhinologischer Unter- 
suchung lediglich lokal bedingt. Die Schrift zeigt keine Storungen mehr 
(s. Figur 3). Korperlich erweisen sich die inneren Organe, speziell auch die 
Lungen bei Rontgendurchleuchtung vollkommen normal, Zeichen fur 
Tuberkulose lassen sich nicht finden. Pupillenreaktion normal, Augenhinter- 
grund zeigt den gleichen Befund wie immer, das Gesichtsfeld ist normal, 
sowohl in den zentralen wie in den peripheren Teilen, an den Reflexen kein 
pathologiseher Befund. Der Gang ist manchmal etwas eigehtiimlich 
st amp fend, meist aber ganz gut. 

Es handelt sich also um eine Patient in, die anscheinend aus 
voller Gesundheit heraus, vielleicht im AnschluB an eine psychische 
Emotion, vor iy 2 Jahren erkrankt ist, und zwar standen damals 
im wesentlichen somatische Beschwerden im Vordergrund, die auf 
den Arzt den Eindruck der hysterischen machten, die aber jetzt 
retrospektiv doch den Gedanken an ein organisches Leiden des 
Zentralnervensystems nahelegen, obwohl der objektive Befund 
damals absolut negativ war. Nach einer relativ langen Zeit des 
Wohlbefindens setzten ohne erkennbare aufiere Veranlassung zu 
Er.de des vorigen Jahres wieder Krankheitserscheinungen ein, 
zunachst auch wieder rein korperliche Symptome, Durchfalle, 
Schwache, Mattigkeit usw., die so erheblich wurden, daB sie die 
Patientin ins Bett zwangen. Alsbald gesellten sich psychische 
Storungen hinzu, die sich vorwiegend in Konfabulationen, in ganz 
unsinnigen, maBlosen GroBenideen und in Orientierungsstorungen 
auBerten. Die Affektlage war dabei stets wechselnd, bald heiter, 
bald traurig oder angsthch, im ganzen aber stets flach und ober- 
flachlich; das Krankheit sgefuhl war in Bezug auf die korperlichen 
Symptome sehr oft ausgesprochen, fehlte zu anderen Zeiten wieder 
ganz. Eine Krankheitseinsicht fiir die psychischen Storungen 
fehlte im ganzen und kam nur gelegentlich fiir kurze Zeit zum 
Vorschein. Bei diesem psychischen Symptomenkomplex mujBte 
diagnostisch in erster Lmie eine beginnende Paralyse in Frage 
kommen, um so mehr, als auch die objpktiven korperlichen 
Symptome, die Pupillenstorungen, die Opticuserkrankung, die 
Sprach- und Schriftstorung und die passageren Pyramiden- 
symptome in dieser Richtung zu verwerten waren. Es lag nahe, 
die vor 1 y 2 Jahren beobachtete Krankheitsphase fiir den Beginn 
der Psychose zu halten, die dann eine langere Remission durch- 
gemacht hat, bis sie jetzt im Anfang des Jahres wieder emeut ein- 
setzte. Immerhin muBten einige Symptome an der Diagnose 
stutzig machen, z. B. der relativ giinstige Ablauf der Psychose, dje 
eine weitgehende Riickbildung zeigt. In rein praktischer Be- 
ziehung kann man fast von einer Heilung sprechen, obwohl natiir- 
lich tatsachlich von einer Heilung im Sinne der klinischen 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



124 


Borchardt, Ungewohnlicher Symptomenkomplex 


Digitized by 


Psychiatric nicht die Bede sein kann: die Einsicht in den krank- 
haften Zustand ist zwar bis zu einem gewissen Grade vorhanden, 
aber die immer noch wechselnde und stets oberflachliche Affekt- 
lage und die Beizbarkeit und Empfindlichkeit der Kranken zeigt 
noch den residufiren Krankheitszustand. Auch die einfaltige Art, 
mit der sie taglich fiber gleichgfiltige Dinge auf der Abteilung 
berichtet, zeigt, daft es ihr noch an der notigen Kritik fehlt. Das 
dauemde Hinausdrangen aus der Anstalt, die Leichtigkeit, mit 
der sie sich immer wieder beruhigen und trosten laftt, sind gleich- 
falls in dieser Hinsicht erwahnenswert. Dazu kommen auch noch 
die Reste der Merkfahigkeitsstorung und die schlechte Kom- 
binationsfahigkeit, die den Defektzu stand charakterisieren. Von 
korperlichen Symptomen sind es die Erscheinungen am Opticus 
und das Zurfickgehen der Pupillenstorungen, zumal ohne spezifische 
Therapie, die Zweifel an der Diagnose Paralyse aufkommen lassen, 
vor allem aber die konstant negativ ausgefallene Wassermannsche 
Probe im Blut und in der Spinalflfissigkeit und das dauemde 
Fehlen der Lymphozytose und Eiweiftvermehrung im Liquor, die 
das Vorliegen einer Paralyse unwahrscheinlich machen. Daft die 
Anamnese bezfiglich der Lues keine Anhaltspunkte ergeben hat, 
ist zwar nicht ausschlaggebend, steht aber doch im Einklang mit 
dem objektiven Befund. 

Muft demnach an der Diagnose einer Dementia paralytica 
mit gutem Grund gezweifelt werden, so fragt es sich weiter, auf 
welcher anderen Basis sich der oben beschriebene Symptomen¬ 
komplex entwickelt hat. Man konnte wohl an eine arteriosklero- 
tische Erkrankung denken, doch ist auch daffir das Krankheits- 
bild wenig charakteristisch. Dazu kommt, daft die Pat. noch relativ 
jung ist und daft sich keinerlei Anhaltspunkte ffir eine Arterio- 
sklerose bei der korperlichen Untersuchung haben finden lassen; 
auch die Rontgendurchleuchtung hat an der Aorta keine ent- 
sprechenden Veranderungen nachweisen konnen. Eine weitere 
Moglichkeit ist die, daft sich die Psychose auf der Basis einer In¬ 
toxication entwickelt hat, speziell die Alkoholintoxikation kame 
hier im Hinblick auf den Augenbefund in Frage, doch auch ffir diese 
Annahme lassen sich keine Argumente anffihren (von der negativen 
Anamnese ganz abgesehen), Allerdings sind vorfibergehend leichte 
ataktische Storungen beobachtet worden, aber echte neuritische 
oder polyneuritische Symptome wurden dauemd vermiftt. Was 
andere schadigende, speziell erschopfende Ursachen bet rifft, die 
als Entwicklungsboden ffir die Psychose in Frage kommen, so 
mfissen die gelegentlich beobachteten subfebrilen Temperaturen, 
die vor Beginn der geistigen Erkrankung aufgetretenen Durchf&Ue 
oder die fast konstant vorhandene leichte Bronchitis Beachtung 
verdienen; bei der allgemeinen Macies wurde naturgemaft auch an 
eine Tuberkulose gedacht. Es hat sich aber im Laufe der Beob- 
achtung gezeigt, daft die Lungen klinisch und rontgenologisch ganz 
frei sind von Tuberkulose, auch die fibrigen inneren Organe sind, 
wie in der medizinischen Klinik festgestellt werden konnte, durch- 


Go i igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



bei einem Fall von symptomatischer Psychose. 


125 


aus gesund, und was die Macies betrifft, so ist sie nicht als eine 
erworbene, sondem als eine angeborene Storung anzusehen, nicht 
als Krankheit, scndem als Konstitutionsanomalie aufzufassen (sog. 
Status asthenicus). Tatsachlich gibt auch die Patientin an, daB 
sie schcn vcn der friihesten Kindheit besonders zart gewesen sei 
und immer ein sehr niedriges Korpergewicht gehabt habe. Uebrigens 
hat sie hier in der Klinik um 6 kg zugenommen. Soviel aber scheint 
festzustehen, daB ein organisches Leiden des Zentralnervensystems 
bei der Kranken vorliegt, dessen Symptome auBer dem Opticus- 
befund zwar immer nur angedeutet und voriibergehend nachwe'nbar 
waren, aber doch in ihrer Gesamtheit wohl ausreichen, um ein 
solches annehmen zu konnen. Man ist, glaube ich, auf Grund der 
bereits geschilderten Symptome wohl berechtigt, dieses organische 
Leiden als eine spat einsetzende und ungewohnlich verlaufende 
multiple Sklerose aufzufassen. Mit dieser Annahme laBt sich der 
Augenhintergrundbefund am ehesten in Einklang bringen, da trotz 
der dauemd in gleicher Intensitat vorhandenen, namentlich 
temporalen, Abblassung der Papillen das Gesichtsfeld und die 
Sehscharfe normal ist. Fur eine luetische oder metaluetische 
Opticuserkrankung ware dieser Befund und Verlauf im hochsten 
Grade ungewohnlich. Da ein zentrales Skotom letzthin nicht nach- 
weisbar war (friiher war eine spezielle Priifung daraufhin nicht 
moglich), glaubte auch eine Zeitlang der konsultierte Augenarzt 
(Herr Prof. Bruckner) an die Moglichkeit, daB die Abblassung 
als kongenitale Anomalie ohne pathologische Bedeutung sei. Bei 
der hochgradigen Blasse hielt er aber den Befund doch mit Wahr- 
scheinlichkeit fiir pathologisch. Auch die Tatsache, daB die Ab¬ 
blassung vor 1 y 2 Jahren vom Augenarzt noch nicht konstatiert 
warden konnte, spricht ja durchaus fiir die Annahme einer patho- 
logischen Veranderung. Es ist demnach sehr wohl moglich, daB 
die Sehstorungen vor 1 y 2 Jahren den ersten Schub einer multiplen 
Sklerose eingeleitet haben und daB jetzt als Residuum dieses 
Krankheitsschubes am Sehnerven die Abblassung zuriickgeblieben 
ist. Die iibrigen gelegentlich konstatierten organischen Symptome, 
Fehlen der Bauchreflexe, Intentionstremor usw. fiigen sich ohne 
weiteres in dieses klinische Bild ein. 

Wenn auch nach diesen Ausfiihrungen der Fall diagnostisch 
noch keineswegs restlos geklart ist, so scheint doch mit einiger 
Reserve die wahrscheinlichste Annahme die folgende: bei einem 
von Hause aus an den Korperorganen (Status asthenicus) und 
speziell am Nervensystem (Migraneanfalle) minderwertigen und 
widerstandsschwachen Individuum ist als endogene Nervenkrank- 
heit eine multiple Sklerose aufgetreten, und im Verlauf dieser 
multiplen Sklerose machen sich, vielleicht ausgelost oder begiinstigt 
durch interkurrente exogene Faktoren (Durchfalle usw.) psychische 
Storungen geltend, die unter der ungewohnlichen Form eines 
paralytisch aussehenden Symptomenkomplexes in Erscheinung 
treten. DaB eine symptomatische Psychose sich unter dem klini- 
schen Bilde einer paralytisch aussehenden Erkrankung presentiert. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



126 


Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit 


ist zwar relativ selten, aber doch schon wiederholt beobachtet. In 
seiner Darstellung der symptomatischen Psychosen im Handbuch 
der Psychiatric erwahnt Bonhoeffer mehrere hierher gehorige Falle, 
die iibrigens auch Sprach- bzw. Schriftstorungen darboten; der 
weitere Verlauf klarte aber die wahre Natur der Krankheit auf. 
Aus dem russisch-japanischen Kriege berichtet Stieda iiber kurz- 
dauemde Psychosen im Verlauf des Abdominaltyphus, die gleich- 
falls in ihrer Symptomatologie, in ihren unsinnigen GroBenideen 
zunachst an Paralyse denken lieBen, bis sie nach wenigen Tagen 
zur Heilung kamen. Fast das gleiche klinische Syndrom bot ein 
Fall von symptomatischer Psychose, der vor einigen Jahren in der 
Breslauer Klinik beobachtet wurde und der auch zur Autopsie 
gekommen ist. Es handelte sich um einen alten Alkoholisten, der 
bereits im Jahre 1904 ein Delir iiberstanden hatte und der Beit 
dem Jahre 1908 an Schwindel, Ohnmachtsanfalien und Gedachtnis- 
schw&che erkrankt war. In der Klinik war er stumpf-euphorisch 
und produzierte massenhaft GroBenideen, glaubte Millionen zu 
besitzen usw. Die Pupillenreaktion war schlecht, auch die Sprache 
war deutlich gestort, der Gang ataktisch-paretisch. Die Liquor- 
untersuchung fiel negativ aus. Nach voriibergehender Besserung 
mit Korrektur verschlimmerte sich der Zustand und fiihrte im 
Jahre 1910 zum Tode. Die Autopsie zeigte endarteriitische Ver- 
anderungen der GefaBe und strichformige Verodungen der Rinde, 
aber keine progressive Paralyse. 

In diesen zum Vergleich herangezogenen Fallen hat der 
weitere Verlauf schlieBlich stets eine sichere Diagnose ermoglicht. 
In dem von mir geschilderten Fall ist eine sichere Diagnose bisher 
trotz 10 monatlicher Beobachtung noch nicht moglich gewesen. 
So lange ein pathologisch-anatomischer Befund noch nicht er- 
hoben ist, wird die Moglichkeit, daB es sich hier vielleicht trotz 
aller Gegenargumente doch um eine langsam, mit groBen Remis- 
sionen verlaufende Paralyse handelt, diskutabel sein. Dieser 
Einwand ist schlechterdings nicht endgiiltig zu widerlegen, wenn 
auch der stets negative Befund im Blut und Lumbalfliissigkeit 
in hohem MaBe dagegen spricht. 


Pathologische Ueberwertigkeit und Wahnbildung. 

Von 

KARL BIRNBAUM 

in Berlin-Buch. 

(Schlufl.) 

Bieten somit die Ueberwertigkeitswahnbildungen so manches 
dar, was sich durchaus nicht auf ihr Bereich beschrankt, sondern 
allgemeinere Geltung beansprucht, so liegt die Frage nahe, ob 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



127 


und Wahnbildung. 

diesen Bildem iiberhaupt irgendwelche charakteristische Eigen- 
heiten zukommen. 

Nun, es ist klar, wenn solche existieren, konnen sie nur durch 
die Beziehung zum uberwertigen Komplex gegeben sein. In dieser 
Hinsicht kame vor allera in Betracht, daJ3 der iiberwertige Vor- 
stellungskomplex — der selbst freilich schon meist anderweitig 
verursacht und determiniert, Folge und Nachwirkung eines be- 
sonderen seelisch wirksamen Vorgangs, eines affektvollen Erleb- 
nisses ist —, daft dieser iiberwertige Vorstellungskomplex nachweis- 
lich den Ausgangspunkt fur die Entstehung, die treibende Kraft 
fur die Weiterentwicklung und das determinierende Moment fiir 
die Ausgestaltung der Wahnbildung ist und bleibt. Diese enge 
Verquickung von uberwertigem Inhalt und Wahn (resp. auch 
noch dem auslosenden Erlebnis) muft naturgemaft irgendwie in der 
Symptomatologie zum Ausdruck kommen. Sie findet in der Tat 
auch ihren charakteristischen Niederschlag in der engen Gruppierung 
aller Wahnerscheinungen um den uberwertigen Komplex und das 
Erlebnis als Kern und Zentrum und in der Beschrankung ihres 
Inhalts auf den durch jene Faktoren gegebenen — Erscheinungen, die 
bekanntlich durch die natiirliche Tendenz der Ueberwertigkeit, 
keine anderen als die ihr ad&quaten Inhalte zuzulassen, zur Geniige 
erklart werden. 

Mag es nun aber auch halbwegs berechtigt sein, den Zu- 
sammenhang der Wahnbildung mit dem Erlebnis und dem iiber- 
wertigen Komplex auf der einen, das Zirkumskriptbleiben und die 
Enge des Wahnfeldes auf der anderen Seite als die charakteristi¬ 
schen Kennzeichen der Ueberwertigkeitswahnbildungen anzusehen, 
so ist doch nicht zu verkennen, daft geniigend einwandfreie, unbe- 
dingt hierhergehorige Wahnformen vorkommen, die sich an diese 
Oharakteristika nicht kehren, sondem gewissermaften daruber 
hinausfuhren. 

Die Erscheinungen, die hierbei in Betracht kommen und die 
das an sich einfache und leicht iibersehbare Bild der Ueberwertig- 
keitswahnprozesse zu komplizieien und zu verwischen pflegen, sind 
friiher schon angedeutet worden. Einmal wirken die aus den iiber- 
wertigen Ideen hervorgegangenen Wahngebilde, wie geartet.sie 
auch sonst sein mogen, von sich aus weiter. Sie verlangen weiter 
Erklarungen, fordem Auflosung der durch sie erzeugten inhalt- 
lichen Widerspriiche, drangen selbst zu weiterer gedanklicher 
Verarbeitung, greifen so um sich und ziehen neue inhaltliche Ver- 
falschungen nach sich. Kurz und gut, der Rahmen, der um die 
iiberwertige Idee als Wahnzentrum lag, wird gesprengt, die sekun- 
daren Wahngebilde werden zu neuen wahnbildenden Kraftzentren, 
die selbstandig weiterwirken und damit also eine Erweiterung, 
eine Ausbreitung, ein Fortschreiten des Wahnvorgangs herbei- 
fiihren. Das ist das eine. Hinzu kommt nun aber noch dies: 
Mit der weiteren Progression der Wahnbildung und dem damit 
wachsenden Abstand von dem Ausgangspunkt, dem Erlebnis resp. 
der uberwertigen Idee, entfemen sich naturgemaft die Wahn- 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



128 


Bimbaum, Pathologische Ueberwertigkeit 


Digitized by 


vorstellungen auch inhaltiich immer mehr von jenen, sie fiihren 
nun von sich aus den Wahngedankengang weiter und zwar in der 
ihrem Inhalt entsprechenden Richtung, die durchaus nicht dem 
der Ausgangsvorstellungen zu entsprechen braucht. So kann z. B. 
der Beziehungs-, Beachtungs- und Vorfolgungswahn, der sich an 
die uberwertigen Gedanken einer begangenen personlichen Ver- 
fehlung anschlieBt, dermaBen iiberwuchem und seinem Inhalt 
gemaB sich ausbreiten, daB der durch ihn erzeugte BewuBtseins- 
inhalt nichts mehr vom Erlebnis und der an dieses gebundenen 
uberwertigen Idee verrat. In manchen F&llen kommt nun noch 
erschwerend hinzu, daB die Person auch noch von sich aus, ge- 
wissermaBen aus ihrer Charaktereigenart heraus, in den Wahn- 
prozeB eingreift und die Wahngebilde in der ihr naheliegenden 
Gedankenart und -richtung weiterverarbeitet, daB auBere 
Situationen und Vorgange, im Verlaufe des Wahnprozesses sich 
geltend machend, als neue richtunggebende Krfifte mit in den Wahn- 
vorgang hineinverarbeitet werden und dergleichen mehr. Auch 
neue iiberwertige Vorstellungen konnen im Laufe des Prozesses 
und unter dem Einflusse neuer auBerer oder innerer Erlebnisse 
sich einstellen und damit die Wahnrichtung verschieben. Ich er- 
innere an den oben angefiihrten Schiffskapit&n, bei dem zunachst 
die iiberwertige Vorstellung des ihm angetanenen Unrechts und 
infolgedessen Beeintrachtigungswahnvorstellungen vorherrschten, 
bis schlieBlich mit der Ueberfiihrung in die Irrenanstalt iiberwertige 
Zukunftfchoffnungen sich geltend machten und damit ein ganzes 
Heer von ,,Fbrderungs“wahnideen ins BewuBtsein riefen. So 
konnen schlieBlich recht komplizierte Bilder von Ueberwertig- 
keitswahnprozessen zustande kommen, die mit ihrem unverkenn- 
baren progressivem Umsichgreifen und ihrer wechselnden Wahn¬ 
richtung die an sich charakteristische Herkunft ziemlich verdecken 
konnen. Der eine von den beiden Pfeifferschen Fallen (a. a. O.) 
ist in dieser Hinsicht recht bezeichnend: 

Ein alteres, erblich belastetes Fraulein von eigenartigem Charakter, 
insbesondere von iibertriebener Scheu und Zuriickhaltung gegeniiber dem 
mannlichen Gesehlecht, erlebte mit 30 Jahren ein Attentat auf ihre Keusch- 
heit von seiten des Gatten ihrer Kusine, das fiir sie wegen ihres peinlichen 
weiblichen EhrgefiihLs mit einem gewaltigen Affekt verkniipft sein muBte, 
und das nach ihren eigenen Angaben mit gro£em Widerwillen und Todes- 
angst fiir sie verbunden war. Die Erinnerung an dieses Erlebnis qu&lte 
sie unaufhorlich, drangte sich immer wieder in den Vordergrund ihres 
BewuBtseins und versetzte sie in Scham und Erregung. Allmahlich trat 
dann im Laufe der Zeit eine Beruhisung ein, und nach Jahren schien sie 
den Vorgang ganzlich vergessen zu haben. 

Sp&ter geriet sie in miBliche Lebensverh&ltnisse, und in dieser traurigen 
Lage erschien ihr ein Better und Heifer in Gestalt eines Superintendenten, 
der ihr freundlich entgegenkam und in fiirsorglichster Weise acur Erleichte- 
rung ihres ungliicklichen Daseins beizutragen suchte. Dieses Verhalten 
des Superintendenten hatte fiir sie wiederum die Bedeutung eines Kom- 
plexes von affektvollen Erlebnissen, und als Reaktion darauf stellten sich 
zunachst die Gefiihle der Verehrung und Dankbarkeit, spater der Zu- 
neigung und Liebe ein. Auf diesem Boden setzte sich nun die iiberwertige 
Vorstellung fest, da£ das Verhalten des Geistlichen nicht allein auf 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


129 


Digitized by 


Menschenfreundlichkeit zuriickzufiihren sei. Im Sinne dieser Ueberzeugung 
sah und deutete sie nun seine Handlungen und Reden. Es fiel ihr auf, 
dafi er sie mit grower Liebenswiirdigkeit behandelte, in seinen Predigten 
haufig von Liebe sprach, ihr bedeutungsvoll die Hand driickte, ebenso wie 
auoh seine Sohwester ihr, offenbar zum Zeichen der Billigung des Ver- 
haltnisses, oft warm die Hand gedriickt habe usw. So war sie schliefilich 
von seiner Liebe iiberzeugt und zweifelte nicht an der bevorstehenden 
Bewerbung. 

Auf der anderen Seite war ihr nicht entgangen, dafi ihre Freundinnen 
und Bekannten, denen nach ihrer Ansicht das verhalten des Superinten- 
denten auch aufgefallen sein muBte, ihr ein solches Gliick nicht gonnten. 
Man sprach sogar schon in der Stadt davon, dass sie jenem nachlaufe. 

In diesem Stadium leiser Befurchtungen und banger Zweifel an der 
Verwirklichung ihrer sehnlichsten Wiinsche traf sie nun nach jahrelanger 
Trennung mit jener Kusine zusammen, deren Mann 20 Jahre vorher das 
Attentat auf sie versucht hatte, was eine Erneuerung des mit dem Erlebnis 
verkniipften Affektes und damit der friiheren iiberwertigen Idee zur Folge 
hatte. Der ihr seit jener Zeit auhaftende Makel erschien ihr nun, wo der 
Superintendent ihr seine Liebe geschenkt hatte, noch weit schimpflicher 
als friiher, und zugleich stellte sich bei ihr die Befiirchtung ein, die Kusine 
habe vielleicht von dem Erlebnis Kenntnis und konne es dem Superinten- 
denten mitteilen. Unter dem EinfluB dieser seelischen Einstellung fand sie 
nun am nachsten Sonntag in der Kirche ihre Befurchtungen bereits be- 
statigt. Der Superintendent sprach in seiner Predigt von Unkeuschheit 
und Wollust und warf ihr dabei verachtende Blicke zu, eine plotzliche 
Aenderung seines Verhaltens, die sie sich eben nur dadurch erklaren konnte, 
da£ er durch die Kusine von allem unterrichtet sei. Die Bestatigung fur 
diese Annahme fand sie bald darin, datf sie bei einem Versuche der Riick- 
sprache bei ihm nicht vorgelassen wurde. Nun deutete und verarbeitete 
sie alle weiteren Vorkommnisse im Sinne dieser fur sie feststehenden Ueber- 
zeugung. Ein Besuch der Kusine am Tage nach der Predigt geschah, um 
sich an ihrem Ungliick zu weiden, deren Versuch, sie zu trosten, war ledig- 
lich Heuchelei. Als die Kusine ihr des weiteren auf ihre schriftliche Beichte 
beruhigend und ohne jede Gereiztheit iiber das damalige Verhalten ihres 
Mannes antwortete, kam sie auf den Gedanken, diese habe schon von 
vornherein um die Sache gewuBt, und das ganze sei ein Komplott, dessen 
Hauptanstifterin die Mutter der Kusine war, die sich fur Vermogensverluste, 
welche ihre Familie infolge von Differenzen mit den Eltern der Patientin 
erlitten hatte, rachen wollte. 

Der weit ere Verlauf zeigte eine ununterbrochene Ket-te von Be- 
ziehungswahnideen im Sinne der iiberwertigen Idee: Trostende Zuspriiche 
von Freundinnen waren mit versteckten Krankungen vermlscht, auf der 
StraJ3e wurde sie von guten Bekannten absichtlich ubersehen, harmlose 
Bernerkungen der Hausbewohner enthielten verletzende Anspielungen auf 
ihr Erlebnis, alle moglichen I<eute wetteiferten in dem Bestreben, ihr ihre 
Geringschatzung zu zeigen usw. Ein Selbstmordversuch aus Verzweiflung 
iiber die vermeintlichen Anfeindungen und Krankungen hatte sehliefilich 
ihre Einlieferung in die Klinik zur Folge, und auch hier bezog sie sofort 
harmlose Aeufierungen von Warterinnen und Mitpatientinnen auf sich und 
las krankende Anspielungen aus ihnen heraus; Die dazu notige Kenntnis 
ihres Vorlebens erklarte sie sich aits Mitteilungen der Warter, die sie dahin 
gebracht hatten. 

Im iibrigen war die Urteilskraft der Patientin eine gute. 

Es diirfte kaum zweifelhaft sein, daB es sich auch hier trotz 
des gelegentlichen Wechsels der Wahnrichtung und des Fort- 
schreitens und der Verallgemeinerung des sekundaren Beeintrach- 
tigungswahns um eine typische Ueberwertigkeitswahnpsychose 
handelt. 

Monatsschrift f. Psychiatrie u. NeuroJogie. Bd. XXXVII. Ilelt 2. 9 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



130 


B i r n h a u in , Pathologische L’eberwertigkeit 


Nach alledem scheint es mir, ak ob es nicht berechtigt w&re, 
die zirkumskripten Wahngebilde so strong von den progressiven 
zu trennen, als es Wernicke tut, — wenigstens so wait es sich um 
die hier dargestellten, rein psychologisch entwickelten Ueber- 
wertigkeitswahnbildungen handelt —, wenn ich auch auf der 
andem Seite nicht der Ansicht Hitzigs (1. c.) folgen kann, der die 
,,fixen Ideen“ nur fur rudimentar entwickelte, noch nicht weit 
genug vorgeschrittene Falle von progressiver Wahnbildung h&lt. 
Ich meine vielmehr — und das soil bald noch naher ausgefuhrt 
werden —, daB gewisee psychologisch noch genauer zu charak- 
terisierende Formen von fiberwertigen Ideen ihrer Natur nach 
mehr zum Zirkumskript- und Stationarbleiben tendieren, andere 
dagegen mehr zum Progressivwerden. 

Bedingungen der Ueberwertigkeitswahnbildung. 

Um fiber diese verschiedenartigen Erscheinungen, die man 
in den klinischen Fallen von Ueberwertigkeitswahnbildungen an- 
trifft, Klarheit zu bekommen, ist es erforderlich, zun&chst einmal 
klarzulegen, von welchen Bedingungen das Auftreten von Wahn- 
vorgdngen bei pathologischer Ueberwertigkeit uberhaupt abhftngt. 

Nun, vorerst kann man ganz allgemein sagen, daB dazu eine 
gewisse Eignung des Erlebnisses sowie der daran gekntipften fiber- 
wertigen Vorstellungen erforderlich ist. Nicht zum wenigsten 
kommt es dabei auf die Besonderheit ihres Inhalts an. Am ge- 
ringsten ffir eine Wahnbildung sind naturgemaB solche fiberwertige 
Komplexe geeignet, die einfach erledigte Tatbest&nde wieder- 
geben. So wird beispielsweise die fiberwertige Erinnerung an 
den Tod eines teuren Angehorigen als eines abgeschlossenen un- 
ab&nderlichen Geschehnisses im allgemeinen kaum der richtige 
Boden ffir sekundare Vorstellungsverfalschungen sein. Andere 
fiberwertige Inhalte, wie die Erfindungs- und dergleichen Ideen, 
geben im grcBen ganzen nur die Grundlage ffir jene Wahnerschei- 
nungen ab, die wir im Gefolge der Wertungsfiberwertigkeit sich 
einstellen sahen. Wieder andere, der fiberwertige Gedanke an 
einen personlichen Makel, eine eigene Verfehlung, pflegen vorzugs- 
weise im Sinne der assoziativen Ueberwertigkeit zum Beziehungs-, 
Beachtungs- und Verachtungswahn zu ffihren. Am gfinstigsten 
liegen ffir eine sekundare Wahnbildung, sowohl was den Umfang 
wie die Auspragung angeht, wohl jene Falle, in denen Erlebnisse 
, oder Erfahrungen mit sozial bedeutungsvollem Inhalt zum AnlaB 
resp. Gegenstand der Ueberwertigkeit werden. Denn durch sie 
werden entsprechend ihrer groBen praktischen Bedeutung unver- 
meidlich weitere Ueberlegungen bezfiglich ihrer Ursachen und 
Wirkungen nahegelegt und angeregt, die dann im Sinne und in 
der Richtung der fiberwertigen Anschauung einseitig weitergeffihrt 
werden. Besonders solche Erlebnisse und Erfahrungen, die eigenes 
oder fremdes Verhalten und Handeln in fiberstark betonter Weise 
zum Ausdruck bringen, kommen hier in Betracht. Wenn man 
Falle mit ausgebreiteter Wahnbildung unter diesem Gesichtspunkt 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


131 


genauer betrachtet, wird man fast stets finden konnen, daB ahn- 
hche Verhaltnisse .wie die hier hervorgehobenen ihnen zugrunde 
Jiogan. 

Auch fur das Stationar- und Zirkumskriptbleiben resp. das Fort - 
schreiten der Wahnbildung ist der Inhalt des Erlebnisses und des 
uberwertigen Vorstellungskomplexes nicht ohne Belang. Affekt- 
volle Erlebnisse und iiberwertige Erinnerungen, die auf das Ver- 
halten einer ganz bestimmten Person in ganz bestimmten Lebens- 
beziehungen Bezug haben, warden z. B. von vomherein dazu 
tendieren, auch den anschlieBenden wahnhaften Gedankengang 
auf diesen engen Vorsteflungs- und Beziehungskreis zu beschranken. 
Das baste Beispiel bieten dafiir jene Falle von ganz zirkumskriptem 
Eifersuchtswahn, der lediglich auf eine bestimmte Person be- 
schrankt und gerichtet bleibt, nachdem einmal ein iiberstark 
betontes Erlebnis den Verdacht auf diese hingelenkt hatte. In 
anderen Fallen liegt es einfach in dem eigenartigen Inhalt der 
uberwertigen Vorstellung begriindet, daB es nicht recht zu einem 
Umsichgreifen der anschlieBenden Wahnbildung kommt. So sind 
etwa iiberwertige Ideen hypochondrischen Inhalts, weil sich auf 
ein ganz eng begrenztes Lebensgebiet beziehend, schon ihrer 
ganzen Natur nach zu einer fortschreitenden Wahnbildung nicht 
eben geeignet und f&hig. Immerhin zeigen doch einzelne der oben 
angefuhrten F&lle — Beeintrfichtigungswahn im AnschluB an ein 
affektbetontes korperliches Trauma und die damit verkmiipften 
hypochondrisch-iiberwertigen Vorstellungen und Eifersuchtswahn 
‘ im AnschluB an analoge Erscheinungen — zeigen schon zur Geniige, 
daB der durch den besonderen Inhalt der genannten Faktoren 
gegebene Rahmen leicht genug gesprengt werden und von einer 
bedingungslosen Gresetzm&Bigkeit in dieser Hinsicht nicht gut die 
Rede sein kann. 

Auf der anderen Seite hlBt sich nicht verkennen, daB in all 
solchen Faflen auch die psychische Eigenart des Tragers der uber¬ 
wertigen Vorstellungen fur die Entstehung und Gestaltung dieser 
Ueberwertigkeitswahnbildungen ins Gewicht fallt. Im Grunde 
handelt es sich ja bei diesen Vorgftngen stets um reaktive Er¬ 
scheinungen, um psychologisdhe Realrtionen einer bestimmt ge- 
arteten Person auf ein bestimmtes Erlebnis resp. auf die seelischen 
Nachwirkungen desselben, und es ist klar, daB die innere Stellung 
nahme zu dem affektvollen Ereignis und die Art der Verarbeitung 
des beherrachenden BewuBtseinsinhalts von dessen psychischer 
Eigenart ein gut Teil abhangen muB. Je nach Temperament und 
Sinnesart (miBtrauischer, egozentrischer usw.), Stimmung (ge- 
reizter, optimistischer, peseimistischer), kurz, je nach der seelischen 
Individuality und tempor&ren seelischen Verfassung werden sich 
die psychischen Begleit- und Folgeerscheinungen der uberwertigen 
Vorstellungen verschieden gestalten, und je nachdem wird in dem 
einen Falle der Gedankengang sich in der Richtung der Wahn¬ 
bildung bewegen, in dem andem aber nicht, wird der Wahninhalt 
sich so oder so gestalten. So kann beispielsweise die Erinnerung 

9* 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



132 Bi r n b a u m , Pathologische Ueberwertigkeifc 

an den Tod eines geliebten Menschen in jedem Falle iiberwertig 
sein. Der eine nimmt ihn aber, wiewohl nicht dariiber hinweg- 
kommend, einfach als unabanderliche Tatsache hin, die hochstens 
die bisherige Bewertung der Lebenswerte beeinfluBt, das Vor- 
' stellungsleben aber sonst unverfalscht laBt, wilhrend ein anderer 
entsprechend seiner seelischen Eigenart sich selbst die Schuld an 
dem Todesfall beimiBt und zu wahnhaften Selbst beschuldigungen 
kommt, ein dritter endlich aus seiner Natur heraus alle Schuld 
auf andere walzt und aus dieser Einstellung heraus nun deren 
weiteres Tun und Lassen stets im Sinne der Boswilligkeit, schlechter 
Gesinnung usw. auffaBt und umdeutet, also ein ganzes logisches 
Delir daran anschlieBt. 

Ebenso wie fiir die Wahribildung auf Grund pathologischer 
Ueberwertigkeit muB auch fiir die Entstehung der uberwertigen 
Ideen selbst eine besondere Eignung, sei es des Erlebnisses, sei es 
der Personlichkeit, herangezogen werden. Ganz einfach und iiber- 
sichtlich liegen die Verhaltnisse hier freilich nicht. 

Zunachst: Auf den besonderen Inhalt und Gefuhlsfdrbung 
des Erlebnisses kommt es dabei gewiB recht wenig an, sonst konnten 
nicht so vollig verschiedenartige Erlebnisse, wie die angefiihrten 
Beispiele sie darboten, in ganz analoger Weise zu uberwertigen 
Ideen fuhren. 

Wichtiger scheint schon das Verhdltnis des Erlebnisinhalts zur 
sonstigen Oedankenwelt der betroffenen Person zu sein. Wernicke 
hat schon seinerzeit die Schwervertraglichkeit resp. Unvereinbar- 
keit von Erlebnis- und vorhandenem BewuBtseinsinhalt als wesent- 
liches Moment in dieser Beziehung hervorgehoben, wodurch ge- 
wissermaBen ein unassimilierbares Novum entstehe, und ahnliches 
hat auch Friedmann bei der Heraushebung speziell der isolierten 
uberwertigen Ideen im Auge gehabt, wenn er von der durch das 
Erlebnis herbeigefiihrten plotzlichen Vemichtung der gewohnten 
Beziehungen und Assoziationen spricht. Immerhin zeigen doch 
schon andere Ueberwertigkeitsformen, erotische, Erfindungs- und 
dergleichen iiberwertige Ideen, daB man mit dieser Diskrepanz 
zwischen altem Vorstellungsbesitz und neu hinzutretendem nicht 
alien Moglichkeiten fiir das Auftreten von iiberwertigen Ideen 
gerecht wird, und daB die Grundbedingungen dafiir wo anders 
gesucht werden miissen. 

Diese grundlegenden Bedingungen fiir die Entstehung der 
uberwertigen Vorstellungen sind in der Person selbst und zwar 
in ihrer psychischen Reaktionsart gelegen: Auf der einen Seite 
besteht die in der abnormen Gefiihlsorganisation begriindete 
;positive Tendenz, die gesamte affektive Energie stets einseitig 
auf einen einzigen Inhalt festzulegen — Bonhoffer 1 ) spricht in 
dieser Hinsicht von der infolge ab ovo bestehender Temperaments- 

*) Klinische Beitrage zur Lelire von den Degenerationspsychosen. 
Halle 1908. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


133 


anomalie gegebenen Neigung zu einer Disharmonie in der Dynamik 
der Vorstellungen in dem Sinne, daB bestimmte Vorstellungsgebiete 
von einem andauemden AffektfiberschuB begleitet sind — auf der 
anderen Seite eine negative Tendenz, die durch die abnorme 
psychische Gesamtkonstitution bedingte Unfahigkeit, durch natfir- 
liche — verstandes- oder geffihlsm&Bige — Hilfsmittel und Gegen- 
krafte (entgegenwirkende Trostvorstellungen. seelisch befreiende 
Aussprache, kritische Verarbeitung des affektvollen Erlebnisses 
und dergleichen) die beherrschende Affektkraft abzuschwachen 
und damit zugleich ihre pathologischen Wirkungen auszugleichen. 
Gewissen psychopathischen Naturen, starr fanatischen und 
Ahnlichen, aber auch geistig beschrftnkten und anderen, f&llt dieser 
Ausgleich solcher ihrem ganzen Wesen und Denken widerstreitenden 
Erlebnisse besonders schwer, und daher sind sie von vornherein 
der gekennzeichneten Gefahr besonders ausgesetzt. 

DaB fiber diese allgemeine Tendenz zur Ueberwertigkeit hinaus 
vielfach auch noch die spezielle Richtung, nach der die einseitige 
Affektbetonung geht, durch die besondere personliche Wesensart 
festgelegt ist, sei nebenbei noch erwfihnt. Mafilos erhohtes Selbst- 
geffih! beispielsweise neigt zu fiberwertiger Betonung jeder Ein- 
schr&nkung der personlichen, ungebtihrlich erweiterten Interessen- 
sph&re im Sinne querulatorischer Ueberwertigkeit, fibertriebener 
Kleinmut im Gegenteil zu fibermaBiger Heraushebung jedes per¬ 
sonlichen Makels mit sekundarem MiBachtungswahn, angstliche 
Besorgtheit ums eigene Wohl zu hypochondrischer Ueberwertig¬ 
keit usw. So erklart es sich, daB die fiberwertigen Ideen und die 
Ueberwertigkeitswahnbildungen neben der inhaltlichen Beziehung 
zum affektvollen Erlebnis auch eine solche, oft sogar vor allem 
eine solche, zur psychischen Eigenart ihres Tragers aufweisen 
und daB sie sich aus dieser ebensogut, ja selbst noch besser, als 
aus jener ableiten lassen. 

Nattirlich fallt die personliche Eigenart, die besondere Affekt- 
konstitution vielfach auch ffir weitere Eigenheiten der Ueber- 
wertigkeitserscheinungen ins Gewicht, und so ist z. B. die Verlaufs- 
art, das mehr oder weniger hartnackige Verharren, der schleppende 
Ablauf und die geringe Heilungstendenz von der abnormen Nach- 
haltigkeit und Stabilitat der Geffihlsdispositionen abhangig. 

Die klinische Stellung der Ueberwertigkeitswahnpsyehosen. 

Bleibt noch die Frage nach der klinischen Stellung der fiber¬ 
wertigen Ideen im allgemeinen und der fiberwertigen Ideen mit 
sekundarer Wahnbildung, Wernickes zirkumskripter Autopsychose 
auf Grund fiberwertiger Idee i. e. S., im speziellen. 

Die fiberwertige Idee hat, wie bekannt, schon Wernicke als 
bloBes Symptom anerkannt, das bei den verschiedenen Krankheiten 
(Melancholie und anderen) vorkame 1 ), und dasselbe muB auch von 

l ) Im Widerspruch dazu nennt er gelegentlich allerdings die iiber- 
wertige Idee gleicnzeitig zirkumakripte Autopsychose, heht sie also als 
besondere Krankheitsform Iteraus. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



134 


B i r n b a n in , Pathologische Ueberwertigkeit 


der iiberwertigen Idee mit wahnhaftem Inhalt, der eigentlichen 
fixen Idee, gelten. Aber auch die Autopsydhose auf Grand einer 
iiberwertigen Idee, die iiberwertige Idee mit anschlieBender Wahn- 
bildung kann nur den Rang eines eigenartigen Symptomen- und 
Verlaufskomplexes be&nspruchen, der bei verschiedenen Erkran- 
kungen vorkommen kann, sofern nur die Bedingungen fiir den 
Ueberwertigkeitsmechanismus, fiir eine einseitige Yersohiebung 
der Gefiihlsbetonungen zueunsten eines Inhalts gegeben sind. 
Die zirkumskripte Autopsychose aus iiberwertiger Idee laBt sich 
also nicht ohne weiteres, wie ihr Schopfer es meinte, als Krankheit 
sui generis aufrechterhalten, oder wenigstens nur mit einer gewissen 
nioht belanglosen Einschrankung, auf die wir gleich noch naher 
eingehen warden. 

So kommt beispielsweise dieses charakteristische Symptomen- 
und Verlaufsbild mehr oder weniger ausgepragt bei der Dementia 
praecox vor„ spezieH natiirlioh am Anfang der Erkrankung, wo 
•tiefgreifendere Storungen noch fehlen und nach normalpsycho- 
logischen Gesetzen ablaufende Mechanismen daher noch moglieh 
sind und im AnschluB an affektvolle Erlebnisse, deren atiologische 
Bedeutung fiir die Grunderkrankung selbstverstandlich trotzdem 
dahingestellt bleiben muB. Auch unter den von mir angefiihrten 
Fallen befindet sich ein solcher Fall von typischer Schizophrenic, 
bei dem das durchaus charakteristische Bild der Ueberwertigkeit6- 
wahnbildung in flieBender Weiterentwicklung im Laufe der Jahre 
in einen ebenso charakteristischen Zustand katatonischer Yer- 
blodung ausgelaufen ist. 

Es ist jene oben naher gekennzeichnete ,,Ldebesverfolgenn“, 
jene Witwe, deren dominierende Liebesneigung zu dem Armen- 
vorsteher der Ausgangspunkt fiir eine Reihe iiberwertiger Vor- 
stellungen mit nachfolgender Wahnbildung wurde: Aus der eroti- 
schen Ueberwertigkeit hatten sich zunachst wahnhafte Eigen- 
beziehungsideen, Auffassungs- und Erinnerungsfalschungen ent- 
wiokelt, die zu der wahnhaften Ueberzeugung erwiederter Liebe 
und gegebenen Heiratsversprechens fiihrten; daran schloB sich 
dann die iiberwertige Vorstellung eines rechtlichen Anspruchs auf 
Ehe und Yersorgung mit den entsprechenden querulatorisohen 
Begleiterscheinungen, und endlich ergaben sich aus dem ab- 
lehnenden Verhalten des Partners MiBdeutungen im Sinne einer 
von jenem ausgehenden Verfolgung, ein weitgehender Beziehungs- 
und Beeintrachtigungswahn. So sah der Fall eine ganze lange 
Zeit hindurch aus (man kann auf sicher mehr als drei Jahre, mog- 
licherweise auf beinahe sieben, rechnen), und dann entwidkelte 
sich das Bild langsam und allmahlich ohne akute Steigerungen 
und Aenderungen immer mehr im Sinne einer Dementia praecox 
katatonischen Charakters. In den letzten Jahren vor ihrem nach 
zirka 14 jahriger Krankheitsdauer erfolgtem Tode (an Nephritis) 
bot die Patientin einen typisch schizophrenen Endzustand dar: 
vollig stumpfes Verhalten mit faselig-verworrenen AeuBerungen 
und zeitweise Mutazismus, Bewegungsstereotypien und Grimas- 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Waftnbildung. 


135 


sieren. Der Pall selbst wurde, wienaturlich, in den ersten Jahren 
der Beobachtung als Paranoia chroniea aufgefaBt. Wenn ich 
selbst jetzt zuriickblickend nach Auffalligkeiten in der rein ,,para- 
noischen“ resp. Ueberwertigkeitswahnphase suche, so finde ich 
eigentlich nur die in dem ersten Erkrankungsjahr erfolgte AeuBe- 
rung der Kranken, der Armenvorsteher beobachte sie durch ein 
Loch in der Decke ihrer Wohnung. La diese Bemerkung sich aber 
nur in dem arztlichen Ueberweisungsattest vorfand, wahrend der 
Anstaltsbeobachtung dagegen weitere AeuBerungen nicht fest- 
gestellt werden konnten, so wage ich nicht, daraus weitgehende 
Schliisse zu ziehen. 

Nun, diese Beobachtung steht nicht isoliert da. Aehnliche, 
wenn auch weniger charakteristische, findet man unter den von 
Margulies 1 ) publizierten Fallen, in denen iiberwertige Ausgangs- 
vorstellungen gleichfaUs eine Rolle spielen, und die man wohl zum 
gut Teil nicht, wie der Autor selbst es tut, der Paranoia, als 
vielmehr der Dementia paranoides zurechnen diirfte. 

Natiirlich ist die Klarstellung des klinischen Charakters einer 
solchen Erkrankung nur solange schwierig, als diese sich noch in 
der Phase rein psychologisch entwickelter Krankheitserscheinungen 
befindet. Ist im weiteren Verlauf erst dieser enge Rahmen ge- 
sprengt, und hat die Wahnbildung die Bahnen einer in psycho¬ 
logisch natiirlichem und folgerichtigem Zusammenhang mit der 
iiberwertigen Idee stehenden Entwicklung verlassen, stellen sich 
den Ueberwertigkeitssymptomen wesensfremde Krankheitsziige ein, 
dann bietet die Erkenntnis, daB hier eine von den anerkannten 
typischen Erkrankungen ungewohnlicherweise aus irgendwelchen 
vorlaufig noch unbekannten Griinden voriibergehend und initial 
unter dem Bilde einer Ueberwertigkeits wahnbildung, einer zirkum- 
skripten Autopsychose auf Grund einer iiberwertigen Idee, ver- 
laufen ist, keine Schwierigkeiten mehr. DaB es immerhin eine 
geraume Zeit dauern kann, bis diese Entscheidung moglich ist, 
zeigt der eben angefiihrte Fall zur Geniige. 

Wie weit diese Ueberwertigkeitswahnbildungen bei anderen 
Krankheitsformen vorkommen, laBt sich auf Grund der Literatur 
nicht recht sagen, es ist wohl im allgemeinen nicht besonders darauf 
geachtet worden. Wenn ich mein eigenes Material iiberblieke, so 
scheinen diese Beziehungen doch recht selten zu sein. 

In dem Gros der Falle, die hier in Betracht kommen, handelt 
es sich nun aber nicht um Symptomen- und Verlaufsbilder von 
Psychosen, die sonst gewohnlich unter anderem Bilde verlaufen, 
als vielmehr um Erkrankungen, fur die dieser Erscheinungskomplex 
gradezu charakteristisch ist, und insofem ist es nun wenigstens 
halbwegs berechtigt, von dieser Art Falle, die speziell ja auch 
Wernicke im Auge hatte, als von besonderen Krankheitsformen 
zu reden. Damit ist nun freilich noch nicht gesagt, daB jene fiir 


Margtdiis, Die primare Bedeutung der Affekte im ersten Stadium 
der Paranoia. Monatssehr. f. Psych, u. Neur. Bd. 10. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



H i r n b a u in , Pathologische Ueberwertigkeit 


136 

sie charakteristischen Zeichen nun die einzigen waren, die iiber- 
haupt im Krankheitsbilde vorkamen, und daB sonst nichts Patho- 
logisches vorlage. Wernicke hat dies bekanntlich gemeint (,,Ele¬ 
ment arsymptom, das die ganze Krankheit ausmacht“) und hat 
damit, wie ich schon hervorhob, den sonstigen geistigen Zustand 
beziiglich der pathologischen Besehaffenheit zweifellos unter- 
schatzt. Also nicht, weil die Ueberwertigkeitswahnbildungen die 
einzigen Krankheitserscheinungen, sondem weil sie die Haupt- 
und Wesensziige der Psychose ausmaehen, und nicht, wie sonst, 
die untergeordnete Rolle mehr zufalliger Symptome spielen, 
ist ihre selbstandige Heraushebung angebracht. 

Wenn man nun diese typischen Falle von Ueberwertigkeits- 
wahnpsychosen, in denen im AnschluB an ein affektvolles Erlebnis 
einKomplex von iiberwertigen Vorstellungen auftritt, nur aus der 
Ueberwertigkeit erklarbare, mehr oder weniger ausgedehnte Wahn- 
bildungen nach sich zieht und im weiteren Verlauf sich im wesent- 
lichen auf diese Symptome beschrankt, wenn man, sage ich, diese 
Art Falle an ein klinisches System heranbringt, so ist es unver- 
kennbar, daB man sie bei den psychogenen Krankheitsformen 
(in dem Sinne und mit der Einschrankung, wie ich sie in meinen 
friiheren Arbeiten gekennzeichnet habe) unterbringen muB, wie 
dies auch Bonhoeffer in seinem Stuttgarter Referat getan hat. 

Die Ueberwertigkeitswahnpsychosen, Wernickes zirkumskripte 
Autopsychosen aus iiberwertiger Idee, gehoren zu den typisch 
psychogenen Erkrankungen, und sie sind speziell zu den Haupt- 
typen psychogener JFaAwpsychosen zu rechnen. Damit sell nun 
aber durchaus nicht das Gebiet der psychisch bedingten Ueber¬ 
wertigkeitswahnpsychosen ungebiihrlich und unbereehtigt aus- 
gedehnt werden und nun etwa jede psychogene Wahnpsychose, 
die sich an ein affektvolles Erlebnis anschlieBt, inhaltlich daran 
ankniipft und sich dauemd auf diesen Inhalt beschrankt, ohne 
weiteres als Ueberwertigkeitspsychose gelten, sondem erst dann 
und nur dann, wenn sich auch wirklich eine iiberwertige Idee und 
der Zusammenhang der Wahnbildung mit dieser nachweisen laBt. 
Die Ueberwertigkeitswahnpsychosen bilden eben nur eine Gruppe 
der psychogenen Wahnerkrankungen neben anderen andersartigen 
und andersbedingten. 

DaB zur Entstehung dieser eigenartigen psychogenen Storungen 
eine besondere psychische Krankheitsbereitschaft der betreffenden 
Person, eine eigenartige ,,;psychogene Disposition", erforderlich ist, 
habe ich schon friiher hervorgehoben und auch schon angedeutet, 
daB infolge dieses fur die Erkrankung notwendigen pathologisch 
praformierten Bodens der psychische Gresamtzustand nicht so 
unfehlbar intakt ist, daB man von einer isolierten Storung reden 
kann. Beziiglich dieser psychogenen Disposition will ich hier nur 
noch bemerken, daB diese sich zwar wohl am haufigsten als ange- 
borene auf degenerativem Boden erhebt, daB aber weitere Er- 
fahrungen immer zwingender auf eine erworbene, erst im Laufe 
des Lebens entstandene hinweisen. Sie kann durch alle moglichen 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbiidung. 


137 




Einfliisse, sei es dauemd, sei es voriibergehend, herbeigefiihrt 
werden, sofem dies© nur imstande sind, die psychischen Gleich- 
gewichtsverhaltnisse im Sinne einer Beeintrachtigung der Gefiihls- 
verteilung zu storen. Wernicke zieht beispielsweise in einem seiner 
Falle das kritische Riickbildungsalter und vorangegangene Ueber- 
anstrengungen als solche dispositionsfordernde Faktoren heran, 
in anderen Fallen lassen sich auch andere, Unfalle, Alkohol- 
miBbrauch, Alters- und ahnliche Schadigungen anfiihren. Be- 
sonders bei den querulatorischen Ueberwertigkeitsformen stoBt 
man ofterauf eine solche, durch auBereEinfliisse erworbenepsycho¬ 
gene Disposition zu Ueberwertigkeitsbildungen. 

Kann man nun auch die Frage, ob die zirkumskripte Auto- 
psychose aus iiberwertiger Idee eine partielle Geistesstorung ist, 
aus den angefiihrten Griinden nicht, wie Wernicke , prinzipiell be- 
jahen, so laBt sich doch nicht ableugnen, daB Falle vorkommen, 
wo die auBerhalb der Ueberwertigkeitssymptome gelegenen psychi¬ 
schen Eigenheiten so wenig auffallig und abnorm erscheinen, daB 
man nicht gut von einer allgemeinen Storung des seelischen Gesamt- 
zustandes, ohne die nach allgemeiner Auffassung eine Wahnbiidung 
nicht denkbar ist, reden kann. Im iibrigen, meine ich, diirfte die 
Erregungundablehnende Haltung, die sich seiner>eit gerade gegen 
diese Betonung der Partialitat einer geistigen Storung richtete, 
eigentlich weniger dem Gewicht der Tatsachen, die dieser Auf¬ 
fassung widersprechen, entsprungen sein, als der Besorgnis, eine 
neu gewonnene grundlegende Erkenntnis, die die Monomanien 
und ahnlichen fortschritthemmenden psychiatrischen Unrat ent- 
femt hatte, konnte dadurch wieder von neuem bedroht werden. 

DaB auch die Zirkumskriptheit der Wahnbiidung bei iiber- 
wertigen Ideen klinisch nicht so hoch bewertet werden kann, wie 
dies von Wernickes Seite her geschieht, wurde gleichfalls schon 
friiher gelegentlich angedeutet. Denn mag auch die ,,fixe Idee“, 
die umgrenzte Wahnbiidung, das ,,Delirium circa unam rem“ 
(Pfeiffer), mit Vorliebe bei diesen Ueberwertigkeitswahnbildungen 
vorkommen und daher halbwegs fiir sie charakteristisch sein (ent- 
sprechend der Tatsache, daB die iibervvertige Affektbetonung an 
einen eng begrenzten Kreis von Dingen, die durch das erregende 
Erlebnis festgelegt sind, sich festzuheften pflegt und nur an 
diesem haften bleibt), so liegt doch das Hinausgehen aus dem 
Rahmen des iiberwertigen Komplexes, das Weitergreifen und 
Fortschreiten des Wahnprozesses, durchaus im Bereich der Ent- 
wicklungsmoglichkeiten dieser Ueberwertigkeitswahnbildungen 
und zeigt sich auch oft genug in geeigneten Fallen. Wie weit dies 
gehen kann, dafiir bietet neben anderen oben gekennzeichneten 
Fallen beispielsweise der zuletzt angefiihrte Pfeiffer ache Fall einen 
geniigenden Beleg. Man kann also sehr wohl — und wohlbegriindet 
durch die Erfahrung — von progressiven Autopsychosen auf Grund 
iiberwertiger Ideen reden, zu denen jene zirkumskriptcn Wernickes 
in flieBenden Uebergangen hiniiberfuhren, und es geht wohl nicht 
zu weit, wenn man etwa in dem kiirzlich von Gaupp veroffent- 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



138 


Birnba u m , Pathologische Ueberwertigkeit 


Digitized by 


lichten Fall des Massenmorders Lehrer Wagner 1 ) seiner ganzen 
Entstehung und Entwicklung nach ein charakteristisches Beispiel 
dieter progressiven Ueberwertigkeitswahnbildung sieht. Gaupp 
hat iibrigens selbst auf die Rolle hingewiesen, welche liberwertige 
Vorstellungen in diesem Falle bei der Wahnbildung spielten. 

Bei W., einem erblich belasteten, charakterologisch abnormen 
Menschen, spiehen speziell liberweftige Vorstellungen sexuellen Inhalts 
eine verhangnis voile Rolle. In den Junglingsjaliren lift er schwer unter 
deni Gedanken an die von dim veriibte Onanie. Er quiilte sich mit Angst, 
Skrupeln und Gewissensbissen und kam zu Falschauffassnngen im Sinne 
dieser ihn beherrschenden Yorstellungen. Er betraehtete sich im Spiegel 
und nahm sein schlechtes Ausseben wahr. Er projizierte nach aufien, was 
ihn innerlich beschtiftigte und qualte. Er war iiberzeugt, daU auch andere 
ihm seine geheimen Siinden anmerkten, er glaubte es aus allerhand An- 
deutungen herauszumerken, aus einem harmlosen Scherz eines Kom- 
militonen las er gleich Vorwiirfe wegen seines Rasters heraus. Unfahig, 
sich von der Onanie zu befreien, litt er spater schwer darunter, das Laster 
zu verbergen, das mit seinem Selbstgefiihl unvereinbar erschien, kam 
dadurch iminer mehr zu atzender Selbstkritik und wurde nervos. 

1901, im 28. Lebensjahr, traf ihn nun ein neues ihn aufs schwerste 
erscluitterndes Vorkommnis sexueller Farbung, iiber das er um so weniger 
hinwegkam, als es an sich seinen ubermaftigen Stolz und durch die Not- 
wendigkeit, es gelieim zu lialten, auch sein ausgepragtes Walirheitsgefiihl 
verletzte: In der Ortschaft M. verging er sich, bald nach seinem Dienst- 
antritt als Unterlehrer, unter dem Einflu/3 von Alkohol, gegen den er von 
jeher intolerant war, sexuell an Tieren, allerdings ohne daJ3 irgendwelche 
Zeugen zugegen waren. Die Folge war eine ausgesprochen liberwertige 
Returning dieser geschlechtlichen Verfehlung. Seine Verzweiflung iiber die 
veriibte Tat, seine Angst vor Entdeckung und seine Scham, dafi er sich 
an der ganzen Mensehheit vergangen, war ganz ungeheuer. In iiberwertiger 
EiiiKchatzung seines sexuellen Tuns rneinte er etwas Sehlimmeres und 
Verabscheuungswiirdigeres als Mord und Tot selling begangen zu haben. 
SchuIdbewuBt.sein und Entdeekungsangst bekommen nun das beherrschende 
Uebergewicht in seinem Gedankenleben, bestimmcn die ossoziative Ein- 
stellung und fiihren wahnliafte Eigenbeziehungsvorstellungen nach sich: 
In Unruhe iiinhergehend und voll gespannter iingstlicher Erwartung glaubt 
er wahrzunehmen, da/3 andere ihm seine schandlichen Handlungen ansehen. 
Bald merkt er auch, daj3 sie iiber ihn Bemerknngen machen, hinter seinem 
Riicken auf ihn deuten, gemeinschaftlich iiber ihn lachen und hohnen. 
Im Wirtshaus hort er sogar am Nebentisch zotige Aeufierungen fallen, die 
auf seine sexuellen Verirrungen Bezug haben. So geriet er, sich als Gegen- 
stand der allgemeinen Spotterei glaubend, in hochgradige Erregung. Auf 
der anderen Seite fiirchtete er auch die Entdeckung und trug deshalb einen 
Revolver bei sich, uni sich jeden Augenblick erschiefien zu konnen, wenn 
der Landjager kame. 

Als W. spater auf ein einsames Dorf R. versetzt wurde, gingen zwar 
Gram und Verzweiflung und Abscheu vor sich selbst mit ihm, immerhin 
trat doch aber insofern eine gewisse Beruhigung ein, als die Angst vor 
Verbaftimg sich zunachst legte, und auch die Eigenbeziehung vorerst ruhte. 
So blieh er die ersten vier bis fiinf Jahre in R. frei von weiteren Beziehungs- 
wahnideen, hielt allerdings an den fruheren beziiglich der Biirger von M. 
nach wie vor fest. Und sooft er wieder dorthin kam, nahm er an Mienen, 
Gebarden und Worten der Einwohner wahr, dafl er noch immer Gegenstand 
des Hohnes und Spottes sei. Von 190S dehnte sich nun aber der Beziehungs* 
wahn auch auf R. und die benachbarten Dorfer aus: Auch hier Ver- 
hohnungen, Verspottiingen und Andeutungen von Freunden und Kollegen, 


1 ) Munch, med. Wocli. 1914. No. 12, und Monographic. Berlin 1914. 
Springer. 


Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Wahnbildung. 


139 


aus denen er ihrWissen von derSodomie herauislas. Dadurch steigerten 
sich seine Qual und sein H&J3 gegen sich selbst sowohl wie gegen die Burger 
von M. als die Verbreiter des Hohns und Spotts. Als die Verfolgungen 
immer qualender wurden, lie 13 er sich nach D. versetzen, aber auch hier 
machte er bald die gleichen Beobachtungen. So reifte denn schlieJ31ich 
der schon friiher gefafite Entschlui3 zur Vernichtung seiner Familie und 
der mannlichen Einwohner von M. zur Tat, 12 Jahre nach jenem er- 
sehutternden Erlebnis. 

Dieser Fall enthalt in seiner Symptomatologie meines Er- 
aehtens nichts, was sich nicht zwanglos aus dem inneren Zu- 
sammenhang mit dem iiberwertigen Ideenkomplex erklaren lieBe, 
und auch zur Erklarung der exquisiten Chronizitat des Verlaufs 
und der unverkennbaren Tendenz zur Progression des Wahns 
reicht die Tatsache, daB der im Mittelpunkt des Gedankenlebens 
stehende Vorstellungskomplex durch den an ihn gebundenen 
abnorm starken und hartnackigen Affekt dauernd das Ueber- 
gewicht im seelischen Leben beh&lt, wohl vollig aus. Damit soli 
natxirlich die von Gaupp besonders betonte Bedeutung einer 
abnormen Charakterveranlagung spezificher Art durchaus nicht 
herabgesetzt werden, aber wenn man beriicksichtigt, daB der 
iiberwertige Komplex es ist und bleibt, der das ganze Krankheits- 
bild beherrscht, indem er fur Entstehung, Symptomengestaltung 
und Verlauf entscheidend wirkt, dann wird man dessen pat ho- 
genetischen Wert trotzdem nicht geringer einschatzen konnen. 

Gaupp sieht in dem Fall eine typische Paranoia, allerdings 
eine ,,milde“ Wahnform im Sinne Friedmanns , und dem wird man 
sich anschlieBen miissen, sofern man an der Paranoia im Sinne 
der bisherigen Krapelin schen Auffassung festhalt 1 ), und das natiir- 
liche Ergebnis dieser Betrachtung w&re dann das, daB die psycho- 
genen Ueberwertigkeitswahnpsychosen , soweit sie chronisch progressiv 
verlaufen , zum Teil wenigstens mit zu jenen systematisch fortsc.trei- 
tenden Wahnprozessen zu rechnen sini y die vorlaufig noch unter 
dem Sammelnamen „Paranoia“ zusammengefafit werden. Eine 
Auffassung, die iibrigens wohl nicht allzu abseits von dem Wege 
liegt, den einige jiingere Arbeiten in der Paranoiafrage einge- 
schlagen haben. 

Im ubrigen ist auch nicht einmal gesagt, daB die iiberwertigen 
Ideen und die Ueberwertigkeitswahnbildungen in jedem Falle 
einen chronischen Charakter haben miissen. GewiB ist die chronische 


x ) Die neue Krapelinache I*ehre von der Paranoia (Ueber paranoide 
Erkraukungen, Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych., Bd. 11), die als deren 
typische Vertreter die paranoischen Erfinder, Reformatoren usw. ansieht, 
als Wahnkern den GroJBenwahn, ,,die sieghafte Ueberzeugung von der 
eigenen Vortrefflichkeit“ und als Wahnmaterial Wunsch- und Traum- 
realisierungen betrachtet, will mir nicht als gluckliche Weiterentwicklung 
dee bisherigen Krapelin schen Standpunkts in dieser Frage erscheinen. 
Wurde bisher im wesentlichen die streng systematisclie, durch Urteil und 
Kritik logisch aufgebaute Wahnbildung ak der fur die echte Paranoia 
char a kter ist isc he Wahntypus angesehen, so wird nun an seine Stelle ein 
ganz andersartiger gesetzt, der, soweit ein Urteil nach der kurzen Ver- 
offentlichung moglich ist, mit anscheinend ganz anderen Wahnmechanismen 
(zum Teil wohl auj-osuggestiven ?) arbeitet. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



140 Birnbaum, Pathologische Ueberwertigkeit etc. 

ihre haufigste Verlaufsform, insofem die zugrundeliegende iiber- 
starke Affektbetonung sich zu fixieren neigt, und ganz gewifi ist 
sie auch ihre charakteristischste Verlaufsform, insofem gerade erst 
bei langem Verharren der iiberwertigen Affekte die Ueberwertig- 
keitsfolgen weitgehend und charakteristisch zur Geltung kommen. 

Aber schlieBlich konnen die Ueberwertigkeitsprozesse gelegent- 
lich auch einmal ebenso schnell zum Abklingen kommen, wie sie 
unter dem akuten AffektstoB entstanden sind, und man bekommt 
dann akute Verlaufsbilder, die nur dadurch, dajJ die Krankheits- 
erscheinungen auf einen kurzen Zeitraum zusammengedrangt sind, 
sich von den sonst iiblichen Ueberwertigkeitspsychosen abheben. 

Als hierhergehorig erscheint mir einer der von Friedmann (1. c.) 
veroffentlichten Falle: 

Ein erblich nicht belasteter, sonst sehr ruhiger und besonnener, nur 
fiir seinen Stand exaltierter Mann, Tagelohner, bisher im groften ganzen 
gesund, erfahrt, als er von einem wegen allgemeiner Nervositat und Schlaf- 
losigkeit notig gewordenen Landaufenthalt zuriickkehrte, durch seinen • 
Schwager, wahrend seines Fortseins habe einmal ein Landsmann in seiner 
Wohnung — mit seinen zwei Kindern zusammen — iibemachtet. Er geriet 
dadurch in den nachsten Tagen in grofie Aufregung und Eifersucht auf 
seine Ehefrau, mit der er bisher gut zusammengelebt hatte, wiewohl ein 
Vorkind von ihm schon vor der Heirat da war. Nun uberhaufte er nicht 
nur die Ehefrau mit Vorwiirfen und glaubte auch all ihren Versicherungen 
nicht, sondern er verlegte sein Nacht lager ins Nebenzimmer imd stellte 
sich hier, mit einem grofien Messer bewaffnet, zwei Nachte auf Lauer. 
Mitten in der Nacht drang er dann ein, behauptete, zuverlassig gehort zu 
haben, daB ein fremder Mann dagewesen sei, und da!3 der mit der Frau 
sexuell verkehrt habe. Sie habe auf seiner eigenen Unter hose gelegen, an 
dieser habe er sichere Spermaspuren frischer Art entdeckt, auch die Frau 
habe absolut so ausgesehen wie nach einem solchen Akt. Also unverkenn- 
bare iliusionare FaLschauffassimgen und MiJ3deutimgen im Sinne der iiber- 
wertigen Eifersuchtsidee. Er maclite stundenlang deshalb groflen Aufruhr 
und Larm und wiederholte das in der nachsten Nacht in etwas milderem 
Grade nochmals. Keine Vernunftrede hatte EinfluS; grade weil es toricht 
orscheine, wenn die Frau unter solchen Umstanden einen Mann bei sich 
empfange, habe sie es aus ,,Schlauheit“ getan. Sie sei immer etwas leicht- 
fertig gewesen, er wisse jetzt (was nicht richtig ist), dafl sie noch ein zweites 
Vorkind habe, sie sei auch wahrscheinlich auf Nebenwege gegangen, als sie 
noch Monatsdienste in einem Bureau lelstete, was er von nun ab trotz 
seines kleinen Verdienstes verbot. Auch in den nachsten zwei Wochen 
blieb er stark erregt und stritt anhaltend mit seiner Frau sich herum, dann 
beruhigte er sich rasch, arbeitete wieder, und die hauslichen Diskussionen 
horten damit auf. Aber eine rechte Einsicht hat er auch nachtraglich 
nicht gewonnen. Dabei ist er psychisch in der Folgezeit andauernd ganz 
natlirlich geblieben. * 

Also ©in UeberwertigkeitswahnprozeB, der nicht viel iiber 
14 Tag© anhielt. 

DaB im iibrigen auch die chronisch verlaufenden Fall© ein© 
begrenzte Dauer haben konnen und nicht unbedingt der Unheilbar- 
keit verfalien sind, sofern es nur gelingt, die der Chronizitat zu- 
grunde liegende hartnackige Affektbetonung durch geeignete 
psychische MaBnahmen, insbesondere durch wirksame Gegen- 
vorstellungen abzuschwachen, hat schon Wernicke ausdriicklich 
hervorgehoben und damit einen wichtigen prognostischen Hinweis 
gegeben. der in ganz gleicher Weise fiir afle psychogenen Wahn- 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Buchanzeige. 


141 


bildungen gilt: bei der Verlaufsvoraussage stets auch den EinfluB 
psychisch wirksamer auBerer Faktoren mit in Anschlag zu bringen. 

Aus all dem Angeffihrten laBt sich ersehen, daB es trotz aller 
charakteristischen Eigenheiten, welche sich an diesen Ueberwertig- 
keitswahnprozessen auffinden lassen, doch Schwierigkeiten macht, 
das ganze Krankheitsbild so eindeutig zu kennzeichnen, wie es 
Wernicke bei seiner Darstellung der zirkumskripten Autopsychose 
aus fiberwertiger Idee getan hat. Das von ihm entworfene Bild 
in alien Einzelheiten aufrechtzuerhalten, dfirfte daher im Hinblick 
auf die hier angedeutete ungewohnliche Mannigfaltigkeit der mog- 
lichen Erscheinungsformen bedenklich sein. Die psychisch be- 
dingten, durch psychclcgische Mechanismen entwickelten psychoti- 
schen Prozesse sind eben in alien ihren Wesensziigen viel starker 
variationsfahig und durch auBere Einfliisse modifikationsfahig, als 
es nun einmal die echten Psychosen sind. Das entbindet freilich 
die klinische Forschung nicht von der Verpflichtung, auch diese 
Krankheitsbilder moglichst scharf in ihrer Eigenart herauszuheben 
und von andersartigen zu trennen. DaB bei einem solchen Versuch 
dann psychologische Moment© in einer Weise in den Vordergrund 
gestellt werden, die weit fiber das bei klinischer Darstellung typi- 
scher Psychosen fibliche MaB hinausgeht, liegt nun nicht sowohl 
in einer besonderen psychologisierenden Neigung des Bearbeiters 
als in der Natur dieser Storungen begrfindet. 


Buchanzeige. 

Ludwig Frank, Affektslorungen. Siudien iiber Hire Aetiologie und Therapie. 

Berlin 1913, Julius Springer. 

Die Behandlung des reichen Materials verdient eine eingehendere 
Wiirdigung schon wegen der Grfindlichkeit, mit der die einzelnen Falle 
einer Analyse unterzogen werden. Die Methodik, die F. anwendet, ist der 
Psychoanalyse Freuds verwandt, allerdings gereinigt von Auswiiehsen 
dieses Autors. linmerhin ist auch Verf. nicht frei von der Tendenz, alle 
Krankheitssymptome einseitig durch das Symptom der Verdrangung zu 
erkl&ren. Er nennt seine Methode die ,,Psychokatharsis“. Er bezeichnet 
sie als eine objektive; eine Amfassung, die man nicht teilen kann, da auch 
seine Methodik von der Tendenz zu Deutungen und willkurlichen Er- 
g&nzungen nicht frei ist. Er hebt selbst ganz richtig hervor, dafl die Methodik 
Freuds in gleichem Mafie unter der Komplexwirkung des Arztes wie unter 
der des Patienten steht, und daB haufig die erstere iiberwiegen diirite- 
Diese P'ehlerquelle ist auch bei seiner Methodik nicht gering zu bewerten. 

Die psvchologischen Begriffe, deren sich F. bedient, sind nicht immer 
scharf, prazise, im wesentlichen benutzt er den Freudschen Verdiangungs- 
und Konversionsbegriff. Als Zuriickstauung bezeichnet F. im Gegensatz 
zur Verdrangung das Zuriickhalten, das Nicht-bewuBt-werden-lassen 
eines Affektes, wahrend es sich bei der Verdrangung urn einen schon bewuftt 
gewordenen Affekt handeln solle. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



142 


Buchanzeige. 


Digitized by 


Die Methodik ist im wesentlichen eine oberflachliche Hypnose; die 
Patienten bleiben im bewufiten Zustande, sie konnen selbst in jedem Augen- 
blick den Schlafzustand unterbrechen. Das Material fafit F. als Psycho- 
neurosen zusammen. Er rechnet dazu die Neurasthenic, die Angstneurosen, 
die sexuellen Anomalien. Je naeh dem Inhalt des krankhaften Prozesses 
spricht er von Wut-, Eifersuchts-, Aergerneurosen. Ob mit einer solchen 
Nomenklatur die Erkennung des Wesentlichen der krankhaften Prozesse 
gefordert wird, bleibe dahingestellt. In vielen der angefiihrten Falle wird 
man zweifeln, ob wirklich die vom Verf. angenommene letzte Ursache fur 
den KrankheitsprozeB maBgebend ist. So schildert er einen Fall von 
,,Fremdgefuhl“, bei dem er den Zustand auf eine im Alter von 3 V 2 Jahren 
wegen Prolapsus ani vorgenommene Untersuchung in Chloroformnarkose 
zuruckfiihrt. Wir haben Zweifel, ob es sich nicht um einen Depressions- 
zustand gehandelt hat, und ob nicht die oben bezeichnete Ursache vom 
Verf. hineingedeutet wurde. Die Umgrenzung des Neurastheniebegriffes 
erscheint uns nicht scharf genug, vor allem glauben wir, dafi die Abgrenzung 
von den Depressionszustanden nicht immer ausreichend geschieht. 

In der Auffassung vieler Krankheitsbilder, so z. B. der traumatischen 
Neurosen, stimmt Ref. mit dem Verf. grofitenteils iiberein, vor alien Dingen 
auch darin, da(3 fur die Ausbildung der Neurosen sehr haufig der Anspruch 
auf Entschadigung von Bedeutung ist. 

Eine besondere Besprechung verdient noch das „psychoneurotische 
Stottern“. Der vom Verf. angefuhrte Fall wirkt nicht uberzeugend fur 
seine Behauptung, daB das Stottern zuweilen als Angstneurose aufzufassen 
ist. Im iibrigen scheint ja auch eine wesentliche Besserung in dem frag- 
lichen Fall nicht eingetreten zu sein. 

In seinem SchluQwort spricht Verf. die V 7 ermutung aus, daB Falle 
von Chorea minor, das Asthma nervosum, das manisch-depressive Irre- 
sein auf Storungen in der unterbewuBten affektiven Tatigkeit beiuhen 
konnten; eine Auffassung, die in mannigfacher Beziehung bedenklich zu 
sein scheint. Was Verf., der sich mit seltener Hingabe in die Psyche der 
Psychoneurotiker vertieft hat, liber die Erforschung und die Behandlung 
der von ihm geschilderten krankhaften Zustande sagt, ist als durchaus 
berechtigt anzuerkennen. Es erscheint auch uns bedauerlich, dafi die 
Psychoneurosen haufig noch die Dorcane der Neurologen sind, die, wie 
der Verf. sagt, , ; mit der Psychologic in der Regel auf noch gespannterem 
FuBe stehen als die meisten Psychiater.“ Kutzinski. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen. 

Von 

A. PICK 

in Prag. 


Schon bei der Ausgestaltung der ersten Ansatze der Apraxie- 
lehre lag es nahe, von diesem Zweige der Aphasieforschung noch 
mehr als von dieser Aufklarung psychopathischer Erscheinungen 
zu erwarten. NaturgemaB war es insbesondere die von mir zuerst 
naher studierte, von Liepmann sogenannte ideatorische Apraxie, 
die unmittelbar Ankniipfung nicht bloB versprach, sondern alsbald 
auch darbot. 

Unter den alsbald zur Darstellung gebrachten Erscheinungen 
war es eine eigentiimliche ,,Hemmung“, die verstandlicherweise 
besonderes Interesse erregen muBte und trotz mehrfacher Versuche 
auch jetzt als nicht geklart bezeichnet werden muB. 

In meinen ,,Studien zur motorischen Apraxie ' 4 habe ich unter 
Heranziehung vereinzelter analoger schon sonst beschriebener 
Beobachtungen iiber eine Erscheinung im Rahmen anderer jetzt 
als ideatorisch-apraktisch zu bezeichnender berichtet, die darin 
bestand, ,,daB in einem gewissen Stadium motorisch-apraktischer 
Tatigkeit plotzlich ein Stillstand eintritt, der anscheinend erst durch 
von auBen auf den Kranken einwirkende Moment© unterbrochen 
wird“. So blieb z. B. ein zum Trinken aus einem auf dem Tische 
stehenden Topfe gebrachter Kranker durch lange Zeit, mit dem Ge- 
sichte in den Topf versenkt, in dieser Position, wahrend welcher er 
auch photographiert wurde. Gerade dieser Standard-Fall nun, 
der die Erscheinung postepileptisch zur Beobachtung brachte, 
legte schon damals den Gedanken nahe, daB Storungen des Be- 
wuBtseins, ganz allgemein gesprochen, bei der Entstehung der 
besprochenen Erscheinung mit im Spiele sein mochten; es lag auch 
der SchluB nahe, daB man ahnliche Erscheinungen auch in anders 
bedingten psychopathischen, durch Anomalien des BewuBtseins 
charakterisierten Zustanden erwarten konnte. 

Das mochte ich nun durch die nachstehende Mitteilung be- 
statigen, vor allem aber einen Beitrag zur Aufklarung der Er- 

x ) In seiner Darstellung der Apraxie im Handbuch von Lewandowsky 
(I, S. 1038) bezeichnet, wie ich jetzt nachtraglich sehe, Heilbroivner meine 
diesbeziigliche Mitteilung als Bestfttigung friiher von ihm gemachter Mit- 
teilungen. Falls dies richtig ist, dann sind diese letzteren auch Liepmann 
entgangen, in dessen an meine Arbeit anschlieBenden Diskussion Heil- 
bronners Beobachtungen ebenfalls keine Erwahnung finden. 

Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologie. Bd. XXXVII. Heft 3. 10 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



144 Pick, Zur Erklarung gewisper Hemmungserscheinungen. 


Digitized by 


scheinung liefern, die, wie erwahnt, bisher noch nicht zu wiinschens- 
werter Sicherheit gediehen ist. 

Bei einem in den 40er Jahren stehenden Schuster, der schon immer 
etwas leicht erregbar gewesen, hatte sich aus AnlaB der Mobilisierung ein 
schwerer Angstzustand entwickelt, in dera er sich die Adern an der linken 
Hand durchschnitt. In der Klinik ist er zuerst sehr angstlich, spater tritt 
die Angst zuriick, und es bleibt eine auch vom Kranken ofters ausgesprochene, 
durch Greifen an den Kopf illustrierte Ratlosigkeit. W&hrend dieser erfolgt 
das nachstehend teilweise mitgeteilte Examen: 

22. VHI. (Wie geht es ?) Gut (mit leiser Stinune). 

(Kennen Sie mich?) Ja. 

(Wer bin ich ?) Ich habe Sie schon einroal gesehen. 

(Wir haben uns doch schon ofters gesehen!) Ja, das ist wahr. Alles 
habe ich gesehen, ich weiB nicht, was mit mir vorgeht (greift sich dabei, 
wie auch sonst gelegentlich mit entsprechender Mimik an den Kopf). 

(Wer sind Sie ?) K. 

(Wie alt ?) 35. 

(Was sind Sie ?) Blickt ratios im Zimmer herum, dabei halt er die 
Arme langere Zeit in fast gestreckter Haltung vor sich gesenkt und etwas 
nach der rechten Seite hin. 

(Sind Sie Schneider?) Ich bin Schuster. 

(Wo wohnen Sie?) Jetzt bin ich da. 

(Was ist das hier ?) Blickt den Assistenten wie fragend, dabei Idchelnd 
an. Es wird mit dem Finger nach der hinter ihm an der Wand befindlichen 
13hr gewiesen und gefragt, was das ist; er greift nach dem hinweisenden 
Finger und sagt: Das ist ein Finger. Erst nach mehrmaligem wort lichen 
Stimulieren versteht er und sagt: Das ist eine Uhr. 

Aufgefordert, die Zeit abzulesen, tut er dies richtig, beschreibt ganz 
genau die Sbellung der Zeiger. Es wird ihm ein Schliissel gezeigt: er benennt 
ihn richtig, lacht dabei. Dann steht er auf, blickt auf demTisch umher, 
lftutet mit der ihm in die Augen fallenden Glocke, sagt dann kindlich lachend: 
Das lautet. 

(2 Zweihellerstiicke): laBt er zun&chst aus der Hand auf den Tisch 
fallen. Gefragt, was das sei, schaut er sie genau an und sagt: Da steht ein 
Zweier, dann: Das ist ein Zweihellerstiick. Andere Geldsorten erkennt er, 
schaut aber immer langere Zeit darauf. 

(Was ist 1 Krone wert ?) Denkt lange nach, wiederholt immer: Krone, 
Krone. 

(Ist sie 100 h wert ?) — — — — 

(Was habe ich Sie gefragt ?) Ob 1 K 100 h wert ist. 

(Wissen Sie es nicht ?) — —- 

(Pfeife) -4-. 

(Was macht man damit ?) Rauchen. 

Nach einer hervorgeholten Zigarette greift er rasch, ziindet sie korrekt 
an. (Nach Ausweis spaterer AeuBerungen raucht er nur Zigaretten.) 

(Ring) +. 

(Leuchter) +. 

(Kerze) +. Ziindet die Kerze sofort an, dann fiihrt er, in der 
Hand das brennende Ziindholzchen, den ausgestreckten Arm horizontal 
im Bogen weit nach auBen und wieder zuriick, legt dann das fast herunter- 
gebrannte Holzchen in die Schale. 

(Soli die Kerze ausloschen!) Statt dessen dreht er den Leuchter be- 
st&ndig in der Hand herum. 

Aufgsfordert, eine zweite gereichte Kerze anzuziinden, tut er es korrekt. 
Als die Kerze zufallig aus dem Leuchter faJlt, hebfc er sie schnell zugreifend 
geschickt auf, gibfc eie in den Leuchter. Aufgefordert, die andere auf dem 
Tische stehende auszuloschen, nimmt er sie und macht wie zuvor eine halb- 
kreisformige, langsame, horizontale Bewegung und behalt dann die Kerze 
langere Zeit hindurch in der entsprechenden EndsteJlung. Als man vor ihn 
hintritt, nahert er die Kerze langsam zu sich, nimmt sie in die andere Hand 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Pick, Zur Erklarung gowisser Herarmmgserscheinungen. 145 


Digitized by 


und Mit sic wieder langere Zeit weit zur Seit© von sich. Streckt dann den 
rechten Arm, der nicbts halt, auch weit horizontal aus und halt ihn so. 
Macht mit diesem dann rythmische, langsame Auf- und Abbewcgungen 
und stellt dann langsam die Kerze, die er in der Hand halt, auf den Tisch; 
den anderen Arm dreht er noch weiter nach hinten und l&ttt ihn dann iiber 
die Stuhllehne herabhangen. Der Aufforderung, auszuloschen, kommt er 
nicht nach, fragt: Warum soli ich sie ausloschen ? Auf Anruf mit seinem 
Namen erwidert er stereotyp: Ich bin der K. Dann sfceht er plotzlich auf, 
nimmt eine hochfahrende, energische Pose ein, wirft sich in die Brust und 
bleibt so stehen. 

Es wird ihm der Leuchter mit der zweiten brennenden Kerze in die 
andere Hand gegeben; zunachst halt er langere Zeit beide Kerzen in den 
horizontal seitlich ausgestreckten Handen, dreht dann, zunachst auf einem 
Fleck bleibend, die beiden Arme nach rechts. Dann setzt er sich in Be- 
wegung und geht, beide Kerzen in den Handen vor sich ausgestreckt haltend, 
unter leicht drehenden Bewegungen bis zu dem oberhalb des Wapchtisohes 
befestigten Spiegel und schaut sich dort einige Zeit ein. Dann, das Wasch- 
becken erblickend, setzt er sofort beide Kerzen nieder und beginnt sich ganz 
korrekt Zu waschen, nachdem er vorher sich dazu auszuziehen begonnen, 
lafit sich auch im Abtrocknen durch nichts storen. Nachdem er fertig ist, 
zieht er den Mantel an, nimmt dann wieder die Kerzen auf und tragt sie 
wie zuvor zum Tisch, wo er sie hinsetzt. Als die eine ausgeloscht wird, 
ziindet er sie wieder an der anderen an, lacht, blickt den Assistenten (der 
dariiber lacht) an und lacht herzlich. 

Es wird ihm eine Pfeife gereicht; er nimmt sie, betrachtet zunachst 
das Bild daran, offnet sie, die gefiillt ist, und versucht sie zunachst an der 
brennenden Kerze anzuziindeu; da das nicht gleich gelingt, nimmt er die 
Ziindholzelschachtel und ziindet an. Sitzt dann da und pafft vor sich hin. 
Auf Aufforderung, die Kerze auszuloschen, tut er es jetzt. 

Es wird ihm die Pfeife weggenommen: er will sie haben, versucht, ihr 
mit dem Munde nachzukommen und sucht sie mit Gewalt zu bekommen; 
macht dabei Rauchbewegungen mit dem Munde in der Luft. Als er die 
Pfeife nicht bekommen kann, ziindet er lachend eine Kerze nach der anderen 
an; schlagt sich dann den Takt auf den Tisch und spielt dabei mit der halb- 
offenen Ziindholzschachtel. 

Am folgenden Tage ist die hier besonders hervorgehobene Erscheinung 
nur noch in Haltungsanomalien der Arme erkennbar. 

Der eben gegebenen Beschreibung aus dem Zeitpunkte, in 
dem die zu besprechende Erscheinung zur Beobachtung kam, ist 
die Anmerkung nachzuschicken, dab sofort, noch wahrend der 
Beobachtung des gehemmten Verhaltens des Kranken die Aehn- 
lichkeit desselben mit dem zuvor erwahnten Falle auffiel; wenn 
dies vielleicht in der Beschreibung nicht so deutlich hervortritt, 
so liegt dies an der fehlenden Unterstziitzung durch den optischen 
Eindruck, der begreiflicherweise aus auBeren Griinden nicht fest- 
gehalten warden konnte und spater nicht mehr zu erreichen war. 
Vielleicht tritt auch das Eigentiimliche in dem reaktiven Verhalten 
des Kranken gewissenObjekten gegeniiber in dervon einem Assisten¬ 
ten wahrend der Beobachtung abgefaBten Beschreibung nicht so 
deutlich hervor, weil natiirlich die Fiille der Erscheinungen es nicht 
gestattete, die Details derselben zu erfassen und sofort auch noch 
schriftlich zu fixieren. Es war aufler der ,,Hemmung“ namentlich 
das Impulsive, Abrupte, Plotzliche in den Handlungen, was ofters 
auffiel, und daB gerade das letztere etwas Besonderes war, wurde 
dadurch nahegelegt, daB der Kranke auch in den folgenden Tagen 
noch vereinzelt die gleiche Erscheinung zeigte, z. B. plotzlich auf 

10 * 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



146 Pick, Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen. 


den in sein Gesichtsfeld gekommenen Gegenstand formlich losfuhr 
und damit entsprechend hantierte, wahrend allerdings die Hem¬ 
mungserscheinungen nicht mehr deutlich hervortraten. Immerhin 
wird auch der Leser der Beschreibung die Erscheinungen ent- 
nehmen, die bei dem Kranken auf dem Boden eines, allgemein 
gesprochen, getriibten BewuBtseinszustandes nebeneinander nach- 
weisbar waren. 

Es ist schwer, von der Natur des Gesamtzustandes des Kranken 
irgendwie prazise Rechenschaft zu geben; er wird symptomato- 
logisch verst&ndlich, wenn ich die eingangs gegebene Beschreibung 
dahin erganze, daB sich allmahlich die Aengstlichkeit ganz verlor 
und der Kranke etwa 1 Monat seit der mitgeteilten Beobachtung 
ein lappisch albernes, von haufigem Lachen begleitetes Benehmen 
bei guter Orientierung und Auffassung zeigte und spater vollstandig 
genas. 

Sehen wir von den ideatorisch-apraktischen Erscheinungen 
ab, so sind es zunachst die der Hemmung, welche unser Interesse 
erregen und dann wetter mitten hinein zwischen die beiden eine 
andere, der letzteren gegensatzliche, die ich nun zum Verstandnis 
der ersteren verwerten mochte. 

Man wird bei der Deutung der an unserem Kranken beob- 
achteten Erscheinungen gewiB nicht vorsichtig genug sein konnen, 
und dieser Vorbehalt mag fiir alles hier dazu Gesagte gelten; das 
eine erscheint aber recht wahrscheiniich, daB namlich dem Kranken 
gelaufige Handlungen in einer der Norm sichtlich widersprechenden 
Weise durch den Anblick eines dazu geeigneten Objektes oft un- 
mittelbar ausgelost werden. Man beachte das Anziinden der Kerzen, 
das Waschen, das Sichansehen im Spiegel u. a. Es ist das sichtlich 
eine hervorstechende Erscheinung, die es nahelegt, etwa in ihr als 
einem dazu gegensatzlichen Zustande die Erklarung der ,,Hem¬ 
mung" zu suchen. 

Es ist eine gewiB zuverlassige Methode wissenschaftlicher 
Forschung, dort, wo eine Erscheinung mangels geniigender Hand- 
haben nicht aus sich selbst heraus gedeutet werden kann, die Hilfs- 
mittel dazu in der einer Erklarung vielleicht eher zuganglichen, 
ihr gegensatzlichen Erscheinung zu suchen. Insofern unsere 
Kenntnis von den psychischen Vorgangen im Kranken auf den 
Darbietungen seiner Motilitat beruht, liegt es auch schon in dem 
Gegensatze zwischen den der ,,Einfiihlung“ des Beobachters mehr 
zuganglichen motorischen EntauBerungen desselben zu den 
Hemmungserscheinungen, daB die letzteren unserem Verstandnis 
viel schwerer zuganglich sind, wofiir die Geschichte der Katatonie 
deutlich Zeugnis gibt. 

Unser geordnetes Verhalten zur Umwelt hangt von einem 
bestimmten Gleichgewicht zwischen Impulsen und Hemmungen 
ab; es werden eberisowenig durch alleSinneseindriicke entsprechende 
Handlungen ausgelost werden diirfen, wie andererseits nicht Hem¬ 
mungen die normalen, auch durch Sinneseindriicke ausgelosten 
Reaktionen beeintrachtigen diirfen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


Pick, Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen. 147 

Sehen wir nun bei unserem Kranken einen ungehemmten 
Uebergang zu entsprechender Aktion bei ihm gewohnten Hand- 
lungen einfach durch den Sinneseindruck ausgelost, so ist es viel- 
leicht nicht zu weit hergeholt, anzunehmen, daB die ,,Hemmung“ 
nur eine scheinbare ist, die Grundlage derselben vielmehr das 
Ausbleiben oder die Unwirksamkeit jener Anreize ist, die normaler- 
weise zu einem geordneten Wechsel von Reaktionenfiihren, seider- 
selbe durch Reize aus der Umwelt oder durch Denkvorgange be- 
dingt. 

Dieser hier ganz selbstandig aus den Erscheinungen des neuen 
Falles entwickelte Gedankengang fallt nun mit erst nachtraglich 
hervorgeholten Erwagungen zusammen, die ich ahnlichen ,,Hem- 
mungserscheinungen“ in dem schon erwahnten Falle von Apraxie 
gewidmet hatte. Schon damals (s. Studien S. 81) hatte ich die 
Hemmung mit einem Fragezeichen versehen und aus gewissen Er¬ 
scheinungen den SchluB gezogen, daB wenigstens in diesem Falle 
die Grundlage der motorischen Pause in dem Fehlen entsprechender 
Assoziationen 1 ) zu sehen ware. Aehnlich wie dort, nur noch haufiger, 
sehen wir hier, wie ein Sinneseindruck und die ihm entsprechende 
sofortige Reaktion der Hemmung ein Ende machen, was den eben 
gezogenen SchluB stiitzt, daB neben intrapsychischen Vorgangen 
auch die zentripetalen dabei eine Rolle spielen. Gestiitzt wird 
diese Deutung auch durch die zuvor erw&hnte Tatsache, daB das 
impulsive Verhalten einzelnen Objekten gegeniiber die Erschei¬ 
nungen der Hemmung iiberdauerte. 

Fast drei Wochen sp&ter, nachdem die vorstehenden Er¬ 
wagungen schon zu Papier gebracht waren, ergab sich *im Ver¬ 
halten des Kranken ein Moment, das eine entschiedene Bcstatigung 
der hier versuchten Deutung erbringt. Bei Gelegenheit eines 
Examens machte der Kranke verschiedene eigentiimliche Hand- 
lungen. Er legte z. B. auf den neben seinem Sitz stehenden Tisch 
beide Hande flach auf oder nahm den Tintenloscher und klopfte 
wiederholt darauf. Befragt, was er da tue, sagte er: Das ist so eine 
,,Herangezogenheit“ (dieses Wort ist die wortliche Uebersetzung 
eines vom Kranken im Tschechischen gebrauchten Wortes, das An- 
ziehungskraft bedeutet); der Kranke, dariiber befragt, erlautert 
auch noch miindlich, daB es ihn zwinge, das oder jenes zu tun. 

Diese ganz spontan erfolgte Erkl&rung des Kranken, eines 
Schusters (!), die sichtlich mit AeuBerungen zusammenfallt, wie 
wir sie namentlich in katatonen Zustanden 2 ) von den Kranken 

x ) Wenn ich damals, noch ganz im Banne der Assoziationspsychologie 
stehend, die in Betracht kommenden Vorgange ihr entsprechend klassi- 
fizierte, so ware jetzt nach 10 Jahren eine entsprechende Korrektur anzu- 
bringen; insofern jedoch hier keine Veranlassung gegeben ist, auf diese 
psychologischen Fragen einzugehen, kann das unterbleiben. 

2 ) Auch Heilbronner macht an der zuvor zitierten Stelle auf die Aehn- 
lichkeit der Erscheinung mit katatonischen Bildern aufmerksam; doch ist 
zu beacliten, dafi er bei dieser Parallelisierung die Hemmungsersche inungen, 
das Fehlen der Initiative im Auge hat. DaB es hier die Hemmungslosigkeit 
wiederist,die sich analog katatonen Erscheinungen darstellt, dient jedenfalls 
zur Stiitze auch fiir die gleiche Deutung der gegensatzlichen Erscheinungen. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



148 Pick, Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen. 

auBern horen, personifiziert sehr gut das, was wir als Deutung seines 
friiheren Verhaltens angenommen und als Gegensatz zu den schein- 
baren Hemmungen fur die Erklarung dieser letzteren verwertet 
haben. 

Auch spater machte der Kranke eine bestatigende AeuBerung 
beziiglich des ,,Zwanges“, und kurz darauf erklarte er, das befehle 
ihm der ,,Obere“, doch erfolge dieser ,,Befehl“ nicht etwa sprach- 
lich, sondern das Gefiihl in der Hand sage ihm das. 

Noch im Stadium voller Rekonvaleszenz wuBte sich der 
Kranke an die Tatsache zu erinnern und gab als Ursache seines 
Verhaltens eine ,,WiBbegierde“, ein ,,Hinziehen“ an. 

In den zitierten ,,Studien“ (S. 26) erorterte ich auch die von 
Wernicke fur das Verhalten solcher Kranken mit Hemmungs¬ 
erscheinungen herangezogene Deutung derselben als einer Willen- 
losigkeit, die ich wohl (auch schonfriiher) als allgemein gxiltig nicht 
anerkennen konnte, aber doch als gelegentliche Ursache fiir das 
zeitweise Sistieren der spontanen Bewegungen zulieB. Das scheint 
mir in einer der Einsichten in die Willenshandlung entsprechend 
modifizierten Fassung auch jetzt noch angangig und fiir unseren 
Fall giiltig; manwird sagen diirfen, daB, entsprechend dem zuvor 
von der Reaktion auf intrapsychische und zentripetale Reize Ge- 
sagten, diese Reaktion eben ausbleibt und dadurch das Haften an 
der zuletzt erfolgten entsteht. 

An der zitierten Stelle hatte ich betont und halte auch heute 
daran fest, daB bei Erklarung der Efrscheinungen solcher Falle 
mit der iiblichen ,,BewuBtseinstriibung“ und Aehnlichem nichts 
zu wollen ist und wies dabei darauf hin, daB die Erscheinungen 
erst im Stadium des Nachlasses der (postepileptischen) BewuBt- 
seinsstorung zur Beobachtung kamen, der damalige Kranke auch 
eine solche im gewohnlichen Sinne des Wortes nicht auf wies. 

Beides trifft nun auch im vorliegenden Falle zu; auch hier 
sehen wir, daB die Erscheinung patent wird, nachdem die schwere 
Agitation des Angstzustandes nachgelassen. Wenn ich aber die 
BewuBtseinstriibung in dem gewohnlichen Sinne ablehne, so kann es 
andererseits doch keinem Zweifel unterliegen, die eigenen AeuBe- 
rungen des Kranken sprechen schon dafiir, daB sein Denken gewiB 
nicht normal war und daB darin die Grundlage fiir die eigentiim- 
liche hier besprochene Erscheinung zu suchen ist. 

Gegen die von mir seinerzeit gegebene Deutung der Er¬ 
scheinung hat Liepmann (Ueber Storungen des Handelns usw. 
1905, S. 117) im Rahmen einer breiteren Darstellung der Perse¬ 
veration eine Einwendung erhoben, auf die ich nicht so ausfiihrlich 
eingehen kann, wie sie es notig machen wiirde. Der Hauptgrund 
liegt darin, daB ich Liepmanns Versuch, die Erscheinung aus sich 
selbst heraus an der Hand einer anatomisch-physiologisch orien- 
tierten Theorie der Willkiirbewegungen zu deuten, einfach nicht 
mitmachen kann; einerseits weil ich die Theorie selbst nicht fiir 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Pick, Zur Erklarung gewisser Hemmungserscheinungen. 149 

geniigend 1 ) und auch die pathologischen Erscheinungen fiir zu 
vielseitig deutbar halte. Deshalb erscheint mir der Weg, die Er- 
scheinung aus den Begleitumstanden, unter denen sie auftritt oder 
verschwindet, aus gegensatzlichen ihr zwischendurch folgenden 
Erscheinungen oder sonst ahnlich zu erklaren, mindestens ebenso 
aussichtsreich als der zunachst exakter erscheinende; bei naherem 
Zusehen diirfte man zu der Ueberzeugung kommen, daB die von 
mir bevorzugte Methode nicht minder den Anspriichen einer 
exakten Methodenlehre entspricht. 

GewiB ist es richtig und trifft auch fiir den vorliegenden Fall 
zu, daB die Stillstande, die Hemmungen, nicht allein aus dem Weg- 
fall anschlieBender Bewegungen erklart werden konnen; aber es 
ist doch wahrscheinlicher, daB dieser Wegfall bzw. der Wegfall der 
normalerweise die anschlieBendenWillkiirbewegungen einleitenden 
psychischen Vorgange die Dauererscheinung mit bedingt als das 
Umgekehrte; das Auftreten von gelaufigen Handlungen beim 
ErbUcken entsprechender Objekte spricht doch sehr fiir diese Er¬ 
klarung. 

Ihr gegeniiber erhebt Liepmann die Frage, ob ein volliges 
Sistieren der Spontaneitat sich nicht eher in dem Unterbleiben der 
Einleitung zu einer Handlung zeigen miiBte, als in dem Verharren 
in ganz abnormen Stellungen, welches doch eine Fortdauer der 
Innervation voraussetzt. Dieser Einwand wird durch die Annahme 
entkraftet, daB die Spontaneitat erst sistiert, nachdem die fort- 
dauernde Bewegungsinnervation schon eingesetzt; wir sagten ja 
eben, daB die sonst anschlie/3enden Bewegungen nicht eintreten. 

Den zweiten Einwand formuliert Liepmann dahin, daB bei 
Ausbleiben der Impulse zum Motorium, der subkortikale Apparat 
eine mehr ,,natiirliche“ passive Haltung veranlassen diirfte. Ich 
kann diesen Einwand nicht gelten lassen angesichts unserer vollen 
Unkenntnis davon, wie in diesem Falle Cortex und subkortikale 
Apparate zusammenarbeiten. 

Was endlich den Hinweis Liepmanns auf das krampfhafte 
Festhalten eines einmal ergriffenen Gegenstandes betrifft, eine 
Erscheinung, die ja auch in der Paralyse zur Beobachtung kommt, 
so ist das in der Tat ein ganz anderer Fall, bei dem natiirlich ein 
Ausbleiben von Impulsen fiir niemanden in Frage kommt. 

Im iibrigen habe ich selbst (1. c. S. 36) angenommen, daB ver- 
schiedene Momente der besprochenen Erscheinung zugrunde 
liegen diirften; die vorliegende Beobachtung scheint mir eine ge- 


*) Es ist hier nicht der Ort, das naher auszufiihren; nur zwei Punkte 
mochte ich anfiihren, die mich ganz besonders zu dieser Kritik fiihren; es 
sind einerseits die Lehren, die von Sherrington ihren Ausgang genommen. 
und andererseits die ge&nderte Stellung, die man jetzt gegeniiber den Be- 
wegungsvorstellungen einnimmt. Noch weiter als Liepmann geht Kleist 
(Ztschr. f. Psychol, u. Neur. Bd. X. 1908. S. 118 f.) in der anatomischen 
Pimdierung der in Rede stehenden Erscheinung. Ich halte diese natiirlich 
erst recht fiir ungeniigend begriindet. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


150 Mingazzini, Ueber den gegenw&rtigen Stand 

wisse Bestatigung fur das eine von mir angenommene zu erbringen 
geeignet 1 ). 

Die hier beschriebene Erscheinung von durch den Sinnesein- 
druck sofort ausgelosten entsprechenden Handlungen ist auch an 
sich interessant, weil ihr Mechanismus gerade durch den Gegensatz 
zu den neben ihr einhergehenden Hemmungserscheinungen be- 
sonders deutlich hervortritt. Wo dieser als Vergleich dienliche 
Gegensatz fehlt, kann der jener Erscheinung zugrunde liegende 
Mechanismus leicht miBdeutet werden; daB es sich nicht um irgend- 
wie bedingten Tatigkeitsdrang handelt, ist schon durch das Stuck- 
weise der Erscheinung wie aus dem Tempo des ganzen Verhaltens 
des Kranken ersichtlich; am ehesten erinnert es an Handlungen bei 
Katatonen, die von diesen als unwiderstehlich, als gezwungen ge- 
deutet werden. Die nachtraglichen AeuBerungen des Kranken 
boten einen Beweis fiir die Richtigkeit der hier gleich anfangs ins 
Auge gefaBten Deutung. Damit fallt aber wieder Licht auf die 
Hemmungserscheinungen, die ja der Katatonie gerade den Namen 
verliehen haben. 


Ueber den gegenwartigen Stand unserer Kenntnis 
der Aphasielehre. 

Von 

Dr. G. MINGAZZINI, 

ordentl. Professor der Neuropathologie an der Kgl. University t Rom. 

(Hierzu 26 Abbildungen im Text.) 

Eine kurze und so viel als moglich klare Zusammenfassung des 
gegenwartigen Zustandes, des sich auf die Lehre fiber die Aphasien 
beziehenden Patrimoniums, und eine deutliche, moglichst kurze 
Darlegung der auf diesem verwickelten Gebiete der Neuropathologie 
noch zu losenden Fragen, dies ist die Aufgabe, die — ich hoffe nicht 
ohne Vorteil fur den Leser — zu iibernehmen ich mir erlaubt habe. 

Vor allem ist es angebracht, uns zu vergegenw r artigen, wie bis 
vor wenigen Jahren unbestritten angenommen wurde, daB der 
Sitz der motorischen Aphasie mit jenem der verbo-motorischen 
Bilder identisch und ausschlieBlich auf die Pars opercularis des 
dritten G. frontalis links beschrankt sei. Einem solchen Schematis- 


x ) Ich mocht© nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daB spater Hart¬ 
mann in umfassender Weis© Erscheinungen von Hemmung neben solchen 
von Apraxie als Ausbleiben der Reaktion aof die entsprechendo Sinnesein- 
driicke gedeutet hat (Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 21. Bd. 1907.) Doch 
bedurfte es einer breiten, iiber den Rahmen dieser Mitteilung hinausgehenden 
Erorterung, um die hier gegebene Deutung mit seinen Aufstellungen in Be- 
ziehung zu setzen. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



unserer Kenntnis der Aphasielehre. 


151 


mus haben jedoch die Befunde nicht entsprochen; die Vermehrung 
der Beobachtungen, und vor allem die Einfiihrung des Studiums 
der Serienschnitte der Himhemispharen, haben daranf hingewiesen, 
daB die Brocasche Zone links ausgedehnter ist als man zuvor an- 
nahm, denn nicht nur die Verletzungen der Pars opercularis, 
sondern auch der Pars triangularis der F s , des vorderen Teiles der 
Insula und vielleicht der Operculum Rolandi, auf der linken Seite, 
konnen die motorische Aphasie verursachen. Unter den soeben. 
erwahnten Zonen ist es die Pars opercularis der linken dritten 
Frontalwindung, welche mehr als jede andere in Beziehung mit der 
verbo-motorischen Aphasie steht; was dadurch bewiesen wird, 
dafi eine solche Stor ung langer anhalt, wenn dieses Lappchen verletzt 
ist, als wenn die andern eben erwahnten Windungen verletzt sind. 

Einige Forscher [wie Nie/3l v. Mayendorf (50)] haben be- 
hauptet, daB das bloBe Operculum Rolandi (oder besser gesagt, der 
untere Teil des linken G. praecentralis) ausschlieBlich eine be- 
standige motorische Aphasie hervorrufen miisse; jedcch hat die 
Kritik der anatomischen Falle, auf welche sich diese Lehre stiitzt, 
deutlich dargetan, daB andere Gebilde, besonders der Nucleus 
lenticularis, gleichzeitig beteiligt waren. Aber die ,,erweiterte“ 
Brocasehe Zone (wie Monakow sie zu nennen pflegt) funktioniert 
nicht bloB links; in der Tat hat bisweilen bei den Rechtshandern 
eine Zerstorung dieser Zone auch rechts zur motorischen Aphasie 
AnlaB gegeben, umgekehrt manchmal bei den Iinksh&ndem 
[J5 l. Mendel (46), ich (34)]. Bei den Rechtshandern hingegen, be¬ 
sonders wenn es sich um Geschwiilste handelt, die sich langsam 
in der link en Brocoschen Zone bis zur Zerstorung derselben ent- 
wickeln, fehlte zuweilen jede Sprachstorung; wie auch bei den 
Linkshandern Verletzungen der rechten Brocaschen Zone nicht 
immer motorische Aphasie hervorgerufen haben. In anderen 
Worten, nicht immer wird ein Rechtshander aphasisch durch Ver- 
letzung der linken F s und umgekehrt, ein Linkshander wird nicht 
immer aphasisch, infolge von Verletzung der rechten F*. Zu diesem 
fiige man noch hinzu, daB gewohnlich bei den Kindern die Zer¬ 
storung selbst der linken Brocoechen Zcne fast nie eine motorische 
Aphasie oder hochstens nur in fliichtiger Weise verursacht. Diese 
Tatsache erlangt eine auBerst groBe Bedeutung, wenn man sich der 
Versuche Kalischers erinnert, der unter Entfernung des Striatum 
bei Papageien (gleichgiiltig ob rechts oder links) einen bald 
von vollstandiger Riickkehr der Sprache gefolgten voriibergehenden 
Mutismus erzielte; dieser aber verschwand von neuem endgiiltig, 
falls in einer zweiten Operation auch das Corpus striatum der ent- 
gegengesetzten Seite entfemt wurde [Kalischer (27)]. Hieraus 
konnen wir schlieBen, daB die, die motorischen Sprachbahnen 
des Papageies bildenden anatomischen und physiologischen Mecha- 
nismen in beiden GroBhimhemispharen im gleichen Grade 
funktionieren. Eine solche Gleichwertigkeit muB wahrscheinlich 
das Him des Homo primigenius besessen haben; und dies erklart, 
warum kraft des biologischen Gesetzes, nach welchem die Onto- 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



152 


Mingazzini, Ueber den gegenw&rtigen Stand 


genese kurz die Phylogenese rekapituliert, sich ebenso wahrend 
der Entwicklung der kindlichen Sprache wiederholt. Und es ist 
wahrscheinlich anzunehmen, in Uebereinstimmung mit Wernicke, 
daB dieSprachfunktion, infolge desOekonomiegesetzes, die Neigung 
auf weist, sich nur von einerSeite(der linken) zu verschieben, wahrend 
jedoch die anatomischen und physiologischen Mechanismen, auch 
auf der weniger geiibten Seite, unversehrt bleiben; so daB bisweilen 
.wahrend des ganzen Lebens, infolge der Anpassung, die Sprach- 
funktion ohne irgend welche Anstrengung hingegen in der rechten 
Hemisphare vorherrschen kann. 

Hier halte ich es gerade fur angezeigt, eine Tatsache 
hervorzuheben, welche die engen Beziehungen zwischen der linken 
GroBhimhemisphare und anderen Funktionen, wie z. B. jenen der 
Mimik, beweist. Bekanntlich verursachen die Herde, welche den 
mittleren Teil des Corpus callosum befallen, links Dyspraxie; 
dies erklart sich, indem man [mit Liepmann (31) u. A.] annimmt, 
daB die dem Sensomotorium rechts entspringenden expressiven 
Bilder ihre Richtung von den aus dem linken Sensomotorium 
kommenden erhalten und deshalb den Balken durchziehen miissen. 
Bei den Untersuchungen fiber die mimischen Storungen scheint 
das Gegenteil einzutreten, denn wie aus den (leider zu wenig be- 
kannten) vor mehreren Jahren von meinem Schuler Dr. Falatti (18) 
ausgeffihrten Beobachtungen hervorgeht, werden bei den Links- 
hemiplegikern (Verletzung der rechten Hemisphare) die mimischen 
Bewegungen mit den rechten Gliedern besser ausgeffihrt, als 
bei den Motoriech-Aphasischen (gleichzeitig Rechthemiplegikem) 
mit den linken Gliedern (Verletzung der rechten Hirnhemisph&re). 
In Wirklichkeit aber ist dies eine Bestatigung des Vorherrschens 
der Bilder der Tatigkeit im linken Sensomotorium. In der 
Tat konnen die Motorisch-Aphasiker beim Vollziehen der aus- 
drucksvollen mimischen Bewegungen die entsprechenden Zentren 
links, die daran gewohnt waren, mit den Bildem des verletzten 
motorischen Sprachzentrums mitzuwirken, nicht mehr in Tatigkeit 
bringen; sie sind aber gezwungen, die weniger geiibten linken in 
Anspruch zu nehmen. Deshalb gelingen die mimischen Be¬ 
wegungen der linken Glieder weniger leicht. 

Oben habe ich betont, daB die obwohl in einem verschiedenen 
Grade auf beiden Seiten funktionierende Zone der motorischen 
Aphasie nicht bloB die Oberflache der kurz vorher erwahnten 
Windungen, sondem class sie sich auch auf die Tiefe, auf die Sub¬ 
cortex, bis zum vorderen Drittel des sogenannten Corpus striatum 
oder, um mich genauer auszudrficken, bis zur proximalen Spitze 
des Lenticularis, erstreckt. Ist die Projektion der Broca&chen 
Zone in den Lenticularis (und in die innere Kapsel) gedrungen, 
so verliert sie ihren phasisch-motorischen Charakter, um sich 
mit verbo-artikulare Eigenschaften besitzenden Neuronen in 
Verbindung zu setzen. In der Tat geht aus den Resultaten 
der klinischen und pathologisch-anatomischen Befunde hervor, 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




miHoror K/>.nr<fcfj(4 vier Aphaakkebm 


t)ysarthiete?^ekt ; ^Vijart hrie venirsacfat. l : m diesen so itinfttrtttwieii 
Ptmki zn beweMsen, babe ieh die vtoii verfieitiotfeuen Ilifetfessern 
(sowie einige von mir) vfjtgmommmmy t'ntersut'bimgw yisamnwn- 
gitstelit, satweit si« an vmt .nwti>fise})e.n Spraehstdr.mgcm: Wfaflene 
PattenSeri, die bei der Scfction V©rfeifcu»igW» dek Lentienkrih 
uiUer AuNwchluB bfer fttmdnda &afwie*en, bettvfjteii. 

Diese Bonbaohtungea )mbo k-!i in vier S6i*ien eingeudlt. )>ie 
yrhte Cituppe besteld iFig. 1) au* F&Hwi ton Jvradkejb bei dehen 
huk." »it*hr Oder minder .grotto 'torn dor Irinteren z>vei Drittel 
drai. Vieidei) de$ Unsenkernes Verletai ond die erweiteric- 
Jiro6i0H^ iJnvs-rseHrt-cHier tafr* unverabhrt war.. Kiertsu. 

g«hbwn-:; ; b«i ; yFa)l ; ' ; yifjfii' Bouq-im -.(1*3), noun von Mouitfr (49) umi 


■femet y‘dri .Mifls-Bpiikr {48[ 


Schema 1. Keihe: Dysarthria plus mimwsve gtavia. 
(Laesit) purl. post, n, 


Digits 


/ Go, gle 


Original frci 








M jf.n jj- a x z i ii i\ iteber deri gegei\vviirtigt>n Stand 




£&?<$*? inning <i^‘ Hf*rch*v 
' ' im $cii tmv* 


■vy•• iittT \ di «V i _ VtlJ-UI VX\ 


1 5ourjfu>? iiWcwr oo) 

*1 •Tivfiun) 

\ ,. l.Dcibnit i 

k > ' n‘ c i«trmi'} 

'7 ;*%-•: • ^d>dvM) 

B'V* * .4 ^TMrwVtV 


&ufc B^tia 


i\mse 


Ynr. 

•IVtlfix: lt*wl 


hi\tU Rfttui " j> 


I insula., A M ef&dstriAnv; i * E > np, mi.. N.L iimlm* lentii'iiiarA 
C l cap. SfttV, *Tfs~ thalamus, (' c Corpus ediloaura;. Pn putameu, 
Nc uaclens c«ufetus — odex. aiit Pars anterior' j>' =-.. Pars 
posterior, tn s= Pars media. Die Bez^ioimungen goben die iiidierten 
Formationen .n>r . 


Sc-herotU 2 . Jlfniip.. Apli. n»nt . jnoojnv -1 db^rtliria. 

(Laosdo iiwompl, p, «nk u. fc’ntxc.} 


} + 

if 1 

f 7 F 

§* i 


*r . 

'Ipt 

r II 


V ; 

I 

7 '.^V ’ > .1 

j <» !>; 

jfeC>;| 


Ui 

>1 

»:.*■ ft- ' 

’• ?•) 

I ■' V , 

f ,J 

j. - • ■ ■ { 

. 

■i : P. A 

f M 

: Ah:i 







utiseror. Keuntnif* cier 


r' . V- W'-<■ l'i ••'•;. 135.. 

'. . • a ^ ft } <?*> rt K ^ ’ 

•, . ty. y.- ; , "■ hrt •; t . .vV./y,^ - V 


>•:• N&jcnen 
>fer Autorr»n 


. I !.--A If ' ; VE ' 

i| l 


NL 


!; Mnutier (Glfti?,©) 

; (Oelmi) ; y : 


M 


m 



*■ *' >; •*. 


Ant-, j <mt. Jj Putauien. pais rupil. ,-ky •'.? 

4 a- ' ant. 4-. •'••■.••••• 

!i - Kept dis, JfC aM.jjy .4 ■ ; 4'’5'<‘i" 4 ~r '•+■ ~r, jj'-b *• 

h) dies«m Hch&ma tritt dent-itch liervor, wjo der Lmf.eHkern ; 
mehr pder weniget aiisgedohnt in tier himeren Halite pud bet 
einigen in deh hinteren Mvei DrkteLo verleUt war - aniintdeiii 1stes 
' ftpgebraefit. hervomtheben, tvie aueh -Selir oil die an&w Kftpsei 
das (und manehina} dk loot ere Insel; d&ran beteiligt 

woKl die psttiortieo ^iesten dentlkhe i\v*artk©©n' 
(Ivingsaitxkeit, Zogerung. peinliefae Aiwprarhe uod Steckeii- 
yjil^n^fcwiM ©inert wirkliclum Baji&rkrou* attf., 

Det zweiten Rerim' (l?rg- 2) gtdkkeo die Fall© vwyBatj^ten 
an; Gaeh derek 'Idde tpaib 41* varderen y.wei Drill©! doaliniteii 
Ijinsenkerns tuoltr Otter wet tig, abo? nteht yonst&i$ig; vartefzt 
tend. Hier/.u gehortso/wet Fiiiie von' Mottlhr (! c..), 'Bitme Kranfeen 

■ ■* r/Hc- 



Hy^artbriei* Atiigetv)©- 
aen, die fast an die 
4 kaf 1 bfte kiieOen (8k- 
ttelbst- teelktr- 
ie ’iVorte schlecbt aut>, 
otier ill© Worte war© a 
goTftctezu wnverst find- ’ 

I ie b).: A niierfieuj Batten ’ 
alio rt*iduare %nvpr 
tome vpk oiotoriseher 
Aphaste aufgeftieson 
(am epVaehen iijt ^fele- 
gnvphenstil). 

Hie dritte Reihe 
(Fig. ,3) umfaBt Fiille 
too Patiekteo, die von 
H V'olktkotiiger unri dan- . * 
ertuier root t n%'ker 

Aphasia befallen tvaten 
end bei donae tier 
ganze linke JJnsenkern 
zerstbrt war Hseratx 
gebbren ,3 Ffiik -foii 
M&ritfer (f. a), [Om- 
taftt. FrmcJwr, Atml- ^ 

lard} esses von .. u . „ .. . . . . ... 

HHt* nud .:m an «, mp k «ab. ' 

detoir fbtFlktrww (1 < j. »*ontpt. n. iBntk-. t 




Original from 


CHIGAN 


Gocgle 









Mi ii g ? r in i den gegenwsirt.igen Stand 


Beaseidfvnuni 

'll des Hordes im Sc 
der Fie* 8 


Andere Forma uanen 
l&diert 


Named der Autoren ,;i 

Mon tier. i. t\ (Cnnlant.) 

(Farther) i 
(Mail lard) 

Houquti* (urn) 

IteW'&fn (l HOT) 


vFitt Pa ; g. + -4 + + 

-h ji-Fi; F , Fa . - r -— 

*r tj'Kj, /I ?v> * 4 •* * •*■'■* 

4 F,: D#*:: : r —^V-r- 

4? ■ •!; f&W> VDfJg.. blfefrijfc 4 / ;~f-p — 4* ~ 


It* den Pallm* d$rJV\ S^tie war die kortikal* «?*d die Fisljkorti* 
kale 6ege$*d 4er ;efw<dte'rt.<f-n i^o^ischen Zone imfe dn^r^etni; 
nur das Linsenkems «od die attstoBctode 

darub&rliegemle ^y^«^ti^hiitgegegeiid ,. die iolr deshalb regio* 
supra- unrl • : praeleid-k?ularis geoaimt h&be. y?nxeu \ r olktiin»;lig 
oder fast zemorF . Die. Horde jtehyneft die ganxe, wr -’dam Kopfe 
des . liegende- .$»• imd erstreeken- sieli 

mediafo&irfo- in.jdner Woi% daii ; *ie • Yollstandig die' %lbern r 
stTalilungentFenrieu.. Bm die? on Pat Lenten exit *vi<;fcHU‘ ?o>h mm keine 
fiysarT.hrfe, >voty aber eim? ' voiktandig<* mul dauernde moforise'he. 
Apltasie, FaHe timer Art wmif n yon ■ Dejcrine (&m Mmilwr, \, r. 




KFhi'TrnA. Aph. motofia : eornpl. A Ke'iiie 

i ; LaeMO~regim*i>: piae-^jjjralen.tic.). 


Digitize 


Go 


8 













-imsere? K*?<nntniK der Aphaaietehr** 


B^mehmnig dm Herder im Schema 
( 4 . lieihe) dar Fig, 4 


Nfiitiori dar Antorni 


1 <! Dkj&miti {tm* MouTi^r, i c„ pi 352 );— * - . • — • — • — 

^ f-Liepmami Ouc'ii^^ ' • * - < •* * ■ - - r * •■.- . 

'L^pitiAnri-:• (Kieri#c\bfcHf)' ; - .;. -F- 4*^44 4‘ 4F* .4- 4* F F"+ • -r 

j i. ,. (Brink) ' 4 - — .F — ~r — F 

pj§ - ■.-. . .. dCeramow&i). — — — — 4- -.f- •— - 

&f . * (Fnui p.) I . — — — — — -- — - 

%■■?, M im£*tizkd (D*Ate^io) !• o o.o o t/ <> o 6 b F o n o o o xi o a *>• x* 

A I * **'■'• f -»*. 

2 CorfOHi i^dnonrno . . ) f .—. ■ ■■■ . ■ 

1ft ;! ftaggi (CFijora)" •,* -r **4* 4r*4”*'*F'"F*F*F * F * ~F * t *■ 

8 3o2), Lujmutnn (22), Lxeqmin n v ~ Qu?nl cm Cortesi (12). 

&d$gK Best# \i) und mir (33, 35) mitgeieUt. 

Eiiiige dieser in Kkikt* veroffentli^Wtw. .F&lte ( Coriesi, B&tta, 
%in& Wtftig-. bekanni, ttnd : *Txfifeb . m ; -p0 -$frge- 

hmuht, siF ntehi mt zu erwahnen, son-dcm 

; ' ntmdiihren.. 

¥tiiiCarte*k Patient nut. vollHtmjdr^et V&ikh 
bnd l»*?i di^r WiFiMvdurig fhni rmr< * migo SUben mitttin- bis- f&m 

HterMypi&trhe. Worte au8Zu?<pr€(‘hon, £vmpiomeivkVm>p.Wx«'dfct bii* Sum Todr 
b>ft beat tod. Kxitus. 

Linfe Hemisphere p. Er\% ei c hung tier Si. ralilangfefi tier T * * (fid T \ 

J nedfwm -tfehtutl# am Xivoau xi^r Brora, Uuks.. Zm;?oruni* ;i«vr >r,hko.n i.lcaien 
der F* umi -F 4 , big faei «ur 
dt^r^ Balketi war an(3erdi*m xorn drx&fxvrlt’zL 


Full Ifotfa. H WHFrd irrr I; R^gin >(ipmF>r»fi?J).Uofi 


Fe»U :8*$ta. Pitimi XtJitxirr, §# Jubri' alt, Analphnhct Heit liUgvfaitr 
•S' t vvb?a tfyiiejiX 'p^yclii^by, »iiirch FixriUus. t Ver - 

i^fijttbarfeeit cht\ra)don4ic*rrt^ Bturimgi 1 !! ahF; Afifang^ vluJd 
b^&nd ‘tijmi Patieut &ii t'W&fu Fcjiistftr yiud jur.upRt? gasfikuiiet^rid 


DWtiaab, Goggle 




h r >S M i n g » x •/ i u i den gegenvv&ctigeu Strtnd - 7 v^:v{^'; 

him Kinder; pidtzlieh bnrten die. VVbrte auf. wViKrend er fortfiibi*. inti dap 
Haiixieu Zoiclien zu nmeheri. Von jfeoer Zeit -an gelatig <es ihm nieht mehr» 
e-in Wort ujtid utiruhie vh**v 

Xt&ph wenigen Tagen ufthxn man lmlt$ *>ine FCetrupare^e iv&hr, die sieli ztmi 
Ted bc**erte, Am H. VICE 1.9.1.3 wurcte- Patient in die : irr&mminlt *$u. 
P»4M^%t^nwme.tv * 


Bwr ^oim% narh &m&tn f&ntvii£ indik Status 

W^ider Tat^tieheu : Bm gprad# Zunge fet nfc&h 

alien Bkhtimgen Min Ibewglicln dk* Xe&olabM^|ialte f&tft Jinks ieicht Imra.b; 
dot'h vollsueht P&tkmfc mit. dgn Lippensikhtlidie B^e^yn^m; 'Pnrc^sf. *amt> 
Hcher BevvegjxTJgea tier linken Glied^r 2 die; ujad V^flilern rfer 

Pateliarreiiex smd gesteigefi ;' Bobinski iink&. Patient vfcrstfcht : shtntlioM- 
Fragen, die an ihn geiielUei warden. hihgegtdvivenn; er bemuhi, zu mi- 
won en cider die Worn* zu VNiederh*dm. dw ihm vorzekpi^ehtm \verd^TK 
lingt ihxn dies iix keiner Wefet*- E? behifft iitfh’ h\i tie® ..Be'^gtiixgen• iwd der 
^fVmlieh lebhftften MjmJk 


. Pigv' 7 :. - , 

Fail IhfiJrt (-. avudrdiF Ki^g.5 u. 6.F 
- s «‘ I i niti um Xi wan rjes: proximaien 
* t Vi )&g d r vs Put^i n u?i 1 . H Herd mv 
F Begk< Ku]w[eutieulk|#i 


FtUt|-hV/?/<i; SrhdTt am XVs^aii des 
Fajvut dm #nnd*du 3 V IF Herd in- 
1. II? gu* supra-(true Exit i^ilum 


In. tier Jrreuitnstah dan men dig eViVobilteii; ^Sioi^ngeu unverande^ 
fr<rt bis txvm Tode. 

2. IX. lfH3 ExituS- - ' r ' •, v ,: '•: ~ , a 

Sektiori : Bet den m i%la‘nJosen SerF>i^angelegt gn Seimir t en dor OroB- 
hirnhpjnisy>haren iindet man liiiks am Nive«vh $P’p en * 

Zone einen Substar^verlust , der den hbiieren vind v^rderen 'Fexl des jLinsen - 
kerrie<* betTifft nnd da * \entmle Ernie der F5ftl ken&drahhmgen (Pig. ,f* 6, 7) 
./et-st.ortov- Hoehlz ein jcuj ln/ischor lierd im Put amen «ltd in der Cap^ula 
mterm «l -extt-rin*. . 

_ Pall iiin\Wdfferttlidr.t); Clememina^ $1 . Jahre ait, 

Anantnc^fl^ehe Angaben fehFm 

Die fed d<^r objektiv^n .-^jfe'nr#^iibgij&■■ 

mit Konfirnfetnr bej Flnxi’m miy t-iioh* \ix>d Weittkrarnpt jEs gelTngt ihg 



Go gle 




u usurer titer Apha^hlfhrv*, 


xvieht* vtmlef Rponian v not*}/ dwirek '\yi^l^r^oi4.mg, mxui -Stiha her vortubringeri; 
bisweileji gtbi sie sirk dutch dttdge xdemf*ntar*?. *xutyi&fce BeWegimgeiv zu 
v^fehen. Sit're^Bteht gana j^nim, Wf^ iiuia hir ^gt. Si* Weist w*der 
Symptom* dar-WoHtH ubhetfc nodi dhr Agftosk stub f basea tmd SchmbsG 
warden uicfet* nntersucht.): Patkc* ttt war tint Mug* nfehr w*iuig^ ttiundliab 
b^fohiene urifznfiihrefi; ^i-^'j9«»f*>W<rbis* 

.••■weilen dtiffch Narhahmung ausgefiUirt.» #hwmt wit setie xmlnhig;, transitive 
Handbiifigeri . aji&arofuW^ti^ '.fetict-m'. mstdexi leiehter mis die iutransrtiv'cm 
vbU^ge;s. 

Ife-Jfoaiifce-; fda*' -goring* spo&tane mid horvargeruferu© Auf* 

juerld?a?akeit. aaf t . wie auoh e$n& ietehiv AbU*rikbarkeii ; CTediithl-p.ts sohieckk 
Tiiritzteturiiien, Ap&tie und leichie : Emotivitik • (Lack imd VVeiiikfttfljpf)* 

JDer ^u&iaiid. vnit «$e-ts imv^mndert bis zurn Tud. 

N&eb einem halbert J&hre Extras. 

pbdnktlou. In don dfetn Caput colliculi mxidvibi ^hbpr^h^nden 
■fkihniitm. fecmerfet *&a*t bates eiti*. Erweiejhtinin welch^ deit i?berea- Abifereu 
•‘Winteei fjtef Pummeiis bef&Ufc X21 d&n d arch das -vOrd^fe XJzit&zT dm 
IJmbiimi#btsfmdet^ioji (Fip* SJ &w Sub* 
^tftruzve.rlxiKt., der sicii Jixkiery»rl% erstrwoki* oben siimljjrh* linfc.en Balkan- 
strahiujjg^d bis fast zum'Diudaid* reivh e*id uhd ventrnhyaal*itie Capsula 
das Clamlrurn u/id uuerut* ^rrftdreml. 


Zur BeqtmmiiayjMi dm lasse-ich clio Falle mit der Zer- 

8tdruxi£pr^k4tioi^t^l^ liiike^^ prSfontifcuiaxe.n Zone, ixifolgte 
doren eine dauerndo .matomc&e (komplette) Aphasie herror- 
gerufen worden isi t zusamto^ 

1. Liepmann und Qymtel: Volktit ndigd uud d&nerncie mp*Uxri«che 
Aphasfo, linker Jja^enkem nnvw^ehrfu Der vo*d<hftf Tell <lm- 
selben war wegsm z&hkekbfcr ErwekhuBgen vo0M4ti4i.g- Vo m 
Balken au^gegdmkcd. 

MonaUschrift I. PsycFtiatxie u N>ur«i!t»gie 04. XXXYU llefi 3. |1 



160 


Mingazzini, Ueber den gegenw&rtigen Stand 


2. Liepmann (Fall Kienscherff): Vollst&ndige, dauemde motorische 
Aphasie, N. lenticularis links unversehrt. Erweichungsherd 
in der linken Insel, der viele Balk«nfasem zerstort und sowohl 
die F* wie das Operculum Rolandi vollst&ndig vom 1. Lenti¬ 
cularis isoliert hatte. 

3. Liepmann (Fall Brink): Vollst&ndige dauemde motorisch© 
Aphasie. Linsenkem links unversehrt. Vollst&ndige Unter- 
brechung des Balkens, infolge eines Substanzverlustes, der auf 
diese Weise den 1. Lenticularis (vorderen Teil) vollstandig von 
den verbo-motorischen Zonen ausgeschaltet hatte. 

4. Liepmann (Fall Ceramowitz): Verletzung der linken Hemisph&r© 
ahnlich der vorigen. 

5. Liepmann (Frau P.): Vollstandige dauemde motorische 
Aphasie. N. lenticularis links intakt. Unmittelbar vor dem- 
selben gelegener Herd. 

6. Mingazzini (Fall D’Alessio): Vollstandige dauemde motorische 
Aphasie. Substanzverlust links, der den Punkt betrifft, in 

welchem der Balken seine Strahlungen aussendet; das vordere 
Ende des 1. Linsenkemes war somit von den Markstrahlungen 
der phasisch-motorischen Zonen beider Seiten isoliert. 

7. Besta: Vorgestellt auf dem italienischen NeurologenkongreB 
in Florenz (April 1914). Umschriebene Verletzung an der 
Spitze des Putamens links, vollstandige, dauemde motorische 
Aphasie. 

8. Dejerine (anonym): Vollstandige dauemde motorische Aphasie; 
der linke Linsenkem war intakt, die Mark&usstrahlung der 
verbo-motorischen Zone bis zur Spitze desselben verletzt. 

9. Cortesi ; Vollstandige und dauemde motorische Aphasie. Links 
Zerstorung der Marksubstanz der F a und F* und der Balken- 
ausstrahlungen. 

10. Raggi (Gajera): Vollst&ndige und dauemde motorische 
Aphasie. Links proximalwarts Zerstorung des oberen auCeren 
Winkels des Putamen und der Balkenausstrahlung, wie auch 
Zerstorung der Capsula ext. et extrema. 

Die bisher gesammelten Beobachtungen berechtigen uns also 
zurfolgendenBehauptung: ret iduare Symptomeeinertermotorischen 
Aphasie entwickeln sich inftlge unvollstandiger Zerstorung des 
vorderen Drittels des linken Linsenkemes; ausgepragte Dysarthrien 
treten auf, wenn die beiden hinteren Drittel desselben verletzt 
sind; vollst&ndige Anarthrie, wenn der game 1. Lenticularis zerstort 
ist; andauemde motorische Aphasie nach Verletzung der Zona 
praesupralenticularis der genannten Seite. Man begreift somit, 
dab, je schwerer und ausgedehnter die Zerstorung des linken 
Linsenkemes ist, um so mehr die Dysarthrie dazu neigt, sich der An¬ 
arthrie zu n&hem, um schliefilich den Grad eines wahren Mutismus zu 
erreichen. Es sind dies die nicht seltenen F&lle, in denen selbst der 
erfahrene Arzt sich im Zweifel befindet, ob es sich um eine 
motorische Aphasie oder um eine vollst&ndige Anarthrie handelt. 


Digitized by 


Go gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



unserer Kenntnia der Aphasielehre. 


161 


Hieraus ergibt sich, wie die Broca&chQ Zone, deren Verletzung einen 
dauemden Mutismus zur Folge haben kann, als vordere (frontale) 
Grenze den Pol (Caput) des Caudatus, als distale Grenze die 
proximalsten Schnitte darbietet, zu denen die Heschlachen Win- 
dungen gelangen; sie entspricht dem Viereck P. Maries, aber 
mit ausgedehnteren Grenzen, da sie nicht bios das Viereck, 
sondern auch die Pars opercularis der F a umfaBt. Sie enthalt 
daher das Operculum frontale und Rolandicum (die Foci fiir die Be- 
wegungen der Zunge, des Mundes und der Larynx), die Insula, die 
Capsula externa, das Claustrum, den Fasciculus arcuatus und 
die Zone des Stabkranzes der F s . Die Zerstorung des ganzen 
Vierecks P. Maries (41, 42) (besonders, wenn es erweitert ist, 
(Quadrilatere + Pars opercularis der F s ) ist geniigend, aber nicht 
notwendig, eine dauemde motorische Aphasie hervorzurufen. Not- 
wendig, um eine motorische dauemde Aphasie hervorzurufen, ist 
ausschlieBlich, wie es das Schema der Fig. 4 zeigt, dieUnterbrechung 
der phasisch-motorischen Projektionsfasem und der 1. Balkenaus- 
strahlungen an der Eintrittsstelle oberhalb und vor dem linken 
Linsenkem (namlich die Zerstorung der Regio prae-supra lent icu- 
laris). Dies beweist, daB es Zustande gibt, deren zufolge eine Ver¬ 
letzung des linken Linsenkemes eine motorische Aphasie hervor- 
rufen kann, doch berechtigt sie nicht dazu, wie P. Marie behauptet, 
die Teilnahme der erweiterten Brocaechen Zone an der motorischen 
Funkticn der Sprache auszuschliefien. 

Dieser Begriff erklart die Bedeutung einigerSysteme vonMark- 
fasem, auf welche kiirzlich mein Assistant,Dr. Ayala, in einer iiber die 
Architektur des menschlichen Linsenkemes angestellten Studie die 
Aufmerksamkeit gelenkt hat. Legt man namlich vertiko-transversale 
Serienschnitte durch dieses Ganglion an, so sieht man, dem vorderen 
Ende des Putamen entsprechend, Gruppen von Markfasem, welche 
vcn oben nach unten in das Ganglion dringen und sich hier bis 
ungefahr zum vorderen Drittel ausbreiten. In den Horizontal- 
schnitten femer (besonders in den oberhalb des Foramen Mcnroi 
angelegten) sieht man der Rinde der mittleren Insel und des 
Operculum frontale entspringende Markfasem das Claustrum und 
die Capsula externa durchdnngen, um im Putamen, besonders in 
dem mittleren und dem vorderen Teile, auszustrahlen. Es ist 
hoohstwahrccheinlich, dafl die erste Gruppe der Rrocoschen 
Projektionsfasem aus der Pars opercularis der F* kommend und 
wesentlich phasisch-motorischer Natur zu deuten ist, wahrend 
die zweite insulo-prazentrale (horizontale) Projektion wahrschein- 
lich, wie ich weiter oben erw&hnt, als von gemischter phasisch- 
artikularer Natur zu betrachten ist. 

Man konnte den Einwurf erheben, daB in den in den obigen 
Tabellen zusammengestellten Fallen (Figg. 1, 2, 3) fast best&ndig 
auch ein Teil (der vordere) des Claustrums und der Capsula 
externa mit erkrankt waren; man hatte sc mit das Recht, zu 
zweifeln, ob die Sprachstorungen unter diesen Umst&nden nicht 
blofi denLenticularis, sondern der gleichzeitigen Lasion der beiden 

11 * 


Digitized by 


Goc igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




162 At i n j*ft **%» ti l y liflboi'iien gefjtjuwtvrtignH Stwid 

andoren Gebilde zugosehripben werdon kikinem Einige Fiille eebtei? 
Dysartbrie. Yetaffentlieht von Pkiv:a (57), 'Btzta (2). CostanJim (El) 
njEid von mir, in demon die Dysarthrig dureb au»r 

acbliafilich 4es wordkn war, gestation 

ab**r die Bahiu.ifitting, dy>d«'f*elbo gwwiB vin*6o-ttf 1-ikuitiw- Fasero 
entbiUt, 1>(»?:• bexvgkt ■ ■»»<•• b das miter dem Namen'.'firogreasive' 

.UftS^nkaindngortfcmt'ioa (vepfftnfertde Syiniifoxtt, hj wnfeifceijo 
raafi ^abrtiinimt, tvyo did xdic&cfest foichte X>ysathtrje nach unti 
naeb bis x«r Anartbrie guht* |b mohr dor liaaehkem, degeoeriert. 
Was niebt aussehlielU, dab aneb die anderen beitbm Gebilde 
(Capsula ext imdO&Ustrum, wahrschoinlich awcfs die hmieteIngel) 
vorb>.>art ikul&re Pasera ent hitite rx; j» dies- wurde dip bald ’a phasiscb - 
motorise lien' bald dysari Imseboig bi'ters hex VerletJuwg der nut lleren 

„ Zone der Suhii inula be* 

merkten Stbrungen er- 
( 2 klarejk louidii die Ver- 

/C~\f Jetzungeu tier n»it,t!<s- 

—' Jl ren Zone dor Jimilk, 

/"?';••. r 9\ tfes Operculum Rtrlan^ 

f di (pr&xentrale), of* 

f . 1. scbwoTO J>yhart hrien 

vf hervorrufeo, die bis- 
/ \i: • weileft den nbaraktor 

der motorise hex* Apha - 
Ji'C-V 1 ( .. 'Wmr' sie efteirhfeUi. ist os io- 

'/♦• : .VV. > j Xfj gisch.dalSnnznwbmen, 

* A f \ X ' I Vi ill dtej^|z^®^ile«55b)ie 

/"* 'W&rO, }\ (I nmhk nmiOpercMilum 


( \jj pi'aee.JgormschU', d.h. 

V v*i . phasiseh - moiorische 

T'""' y. ' wid rnrhoartikiilbre 

*'••':* i l ' ./ Fasernentbabywelche 

jf^v V V I / die besagfen beiden 

y M ’ \, ^ / GangliundHrohxsiehend 

ly. \ ;y_ zimi LmBenkern ziehen 

%» y and hier ink eehten 

verlHi-artxkuiiireri Pa- 
sent in Verbindnng 
freten ,(Scbe)pa&Fig,9d 

Fig, 20. Schema zum ISazhwcie der -Axi -unit Wziae* **» y&lcfaf tick dim 
au# der erweiterten Brpvcutchen Zone fink* komrrvenden phatiwh-ffMtortacfan 
Neurone^ xmtd&i verbotirtikul&rvn Linsenfarnmuromn if* Verbiiudung seUen. 

Auk* 4e^ P, mid dor Ifitmiot &nt emr cUe pHftsi&di motorischen 

Neuroaeukom3, 4 &us, dxircbzizhim sii|>ra pm^lsftticuiari» 

A*' treten' :m: y6r:^t4n4uag mit xiea veH>»:*an>.bAi&ren Neuroixen 2', 3% 4 r . 
Aus clem Fa komix^n Keuroae gemiBohter Natur 

(phasi^eh^m^fiotiache und verbom’tiktxl&c^} §f »se tneten^ Oamula externa 
und dae Claustrum dttrchzt^heud ? mit d«n Kbur^ri^ echter verboartikularer 
Natur 5\ dam WnticulariB is Verfeudun^. Die phasisch' 

motorischeis Neurttpe, di© aua der erwiterteri i?ro«*sK?iien Zone rechts 
ksommen, K duimhtiahen den Balkea tend, die Z^na supra prtie lenticular is 






uneerer Kenntnis der Aphasielehre. 


163 


A, um in den linken Linsenkern zu ziehen, und sich mit den verboartikul&ren 
Neuronen 1' zu verbinden. 

Folglich mfissen wir annehmen, daB das Gebiet der motorischen 
Aphasie eine ausgedehnte bilaterale Rindenzone, ohne scharfe 
Grenzen, umfaBt (erweiterte Brocasche Zone), die in zwei Gebiete 
geteilt werden kann: Eine (neopbyletische) links prfidominierend, 
der Fj und der Insula anterior vorausgehend, besteht aus Neuronen- 
komplexen, die, das darunterliegende Centrum ovale durchziehend, 
sich dicht oberhalb und vor dem Ende oder dem frontalen 
Drittel des linken Lenticularis, an der Stelle, an welcher sich die 
Balkenausstrahlungen kreuzen, konzentrieren, mit den von der 
rechten Seite kommenden homologen vereinigen, um zum vorderen 
Ende des (linken) Lenticularis (Regio supra — et praelenticularis) 
zu ziehen. Der andere (palaophyletische), dem mittleren Teile 
der Insula und dem Operculum praecentrale entstammende Anteil 
bildet gemischte, zumTeil verbo-aurikulare, und zum Teil phasische 
Fasem, die, das Clau6trum und die Capsula externa durchziehend, 
quer in die hinteren zwei Drittel des Lenticularis dringen (Fig. 10). 
Die nicht gemischten phasisch - motorischen Neuronegruppen 
artikulieren sichungefahr im vorderen Drittel der Lenticularis mit 
verbo-artikularenFasem, die in den hinteren zweiDritteln desselben 
Ganglions verlaufen; liber deren Schicksal es gegenwartig nicht 
mogUch ist, ein Urteil zu fallen. 

Ob nun die dauemde Stummheit, die bei der Zerstorung der 
Regio supra-praelenticularis eintritt, wie es mir scheint, davon ab- 
h&ngt, daB die die Nebenimpulse der rechten phasisch-motorischen 
(Rrocoschen) Gegend zum linken Lenticularis, durch den Balken hin- 
durch tragenden Fasem unterbrochen werden, oder ob hingegen, 
wie Liepmann meint, die Fasem verletzt sind, die von der linken 
Brocaschen Zone zur homologen rechten ziehen, ist schwer zu sagen. 
Immerhin ist diese letztere Annahme nicht auszuschlieBen, denn 
auch Verletzungen des rechten Linsenkemes verursachen, wenn 
auch selten, Dysarthrie; es ist nicht unwahrscheinlich, daB bei 
einigen Individuen Sprachbahnen direkt, oder vielleicht ausschlieB- 
lich, auch durch das rechte Ganglion lenticulare ziehen, und dies 
um so mehr, als einige Autoren [Mahaim (43—45), Beduschi (3a) 
Dejerine u. A.] Falle von Verletzungen des linken Lenticularis, 
ohne Dysarthrien mitgeteilt haben. 

Die anatomischen Befunde drangen folglich dazu, Erklamng 
fiber die mehr oder minder groBe Flfichtigkeit der motorischen 
Aphasie nur von der Topographic der Verletzung zu verlangen. 
Dies widerspricht dem von Monahow (39) so gehegten allgemeinen 
Begriff der Diaschisis nicht. Wir sehen in der Tat oft, daB nach 
einem, infolge einer selbst beschrankten Erweichung des linken 
Brocaschen Gebietes, aufgetretenen Iktus der Patient (eine oder 
hochstens zwei Wochen lang) durchaus nicht versteht, was man 
ihm sagt und nicht in der Lage ist , ein Wort zu reden, und daB nur 
nach 14—20 Tagen die Sprache vollstandig zurfickkehrt und der 
Patient fast alles versteht. Man muB also hochstwahrscheinlich 


Digitized by 


Go igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



164 Mingazzini, Ueber den gegenwartigen Stand 

annehmen in diesem Verhaltnisse, daB wahrend dieses Zeitraumes 
die zahlreichen von den (nicht sehr) bekannten, mit der noch 
funktionsfahigen verbomotorischen Zone in Verbindung stehenden 
Bindenzonen (verboakustische, optische Zone usw.) kommenden 
Beize unterbrcchen seien. Die Wirkung der Diaschisis kann nur 
meines Erachtens vcriibergehend sein; aber, sotald die Wirkungen 
derselben voriiber sind, miissen wir den Grund der kiirzeren 
oder definitiven Andauer des Verlustes bestimmter Furktionen 
des Zentralnervensystems nur im Licht der pathologischen 
Anatomie und durch die Kenntnis des Verlaufs der Leiturgs- 
bahnen und ihrer Beziehurgen zu erkl&ren versuchen. Auf diese 
Weise erklart es sich vielleicht- tatsachlich, wie Zerstorungsherde 
der linken Brocoschen Zone, die eine betr&chtliche Ausdehnung 
aufweisen, eine leicht reparable motorische Aphasie hervorrufen 
konnen; w&hrend hingegen beschrankte (supra- und pralentiku- 
l&ren) Herde derselben zu den unvermeidlich dauemden Symptomen- 
komplexen AnlaB geben. So verstehen wir, was Monakow be- 
hauptet: namlich, daB die motorische Aphasie um so langer dauert, 
je mehr der Zerstorungsherd sich dem Gebiete des Stabkranzes 
und der inneren Kapsel nahert. Doch ist es, um eine dauemde mo¬ 
torische Aphasie zu haben, nicht notwendig, daB der Zerstorungs- 
herd bis zur ventrikularen Wand des fronto-Brocoschen Segments 
reiche (Monakow). Alles hangt in der Tat von dem mehr oder 
weniger Intaktbleiben des Stabkranzes der l.Begio operculo frontalis 
ab. Die Anstrengung, die in solchen Fallen der Patient ncch aus- 
iibt, um das Wort auszusprechen, indem er noch einen kleinen Teil 
brauchbarer Fasern findet, geht bisweilen in eine Verlangerung 
der Silben und in ein beginnendes Stocken (Pseudo-Dysarthrie) auf. 
Dies erklart, warum es (Monakow (39,1. c.) vor allem die Verletzung 
des Balkens und der Stabkranzzone sei, die zu schweren Dysarthrien 
(Bradylalie) oder auch zum Mutismus fiihren kann. So versteht 
man, warum die Symptomatologie eines von oinem (spater ope- 
rierten) Tumor befallenen Patienten, bei welchem der Tumor links 
in dem Gebiete des Caput corporis striati und des vorderen Teiles 
der Insula sich enfaltete, in einer zwischen motorischer Aphasie 
und Anarthrie (Bradylalie, schwere Aussprache der Mitlaute, die 
bei der Wiederholung schlecht ausgesprochen wurden) bestand 
(Monakow). Die erwahnten SchluBfolgerungen finden die beste 
Bestatigung in den Besultaten der eingehenden Analyse, die dies- 
bezuglich von Monakow iiber die Befunde der verschiedenen Formen 
der motorischen Aphasie angestellt wurden. In der Tat waren in 
einigen Gruppen von Fallen, in denen die motorische Aphasie vom 
Beginn des Lebens stets fortdauerte (I. u. VI. Gruppe, Monakow, 
39, 1. c., S. 699 und 730), die Verletzungen des linken Brocoschen 
Gebietes nicht nur sehr tief, sondem in alien reichte der Zerstorungs- 
herd bis zu den homolateralen Balkenstrahlungen. In den Fallen 
hingegen, in denen die Fahigkeit der Wortwiederholung moglich 
war (II. Gruppe, Monakow, 39, S. 701), war die linke Begio supra- 
und praelenticularis zum guten Teile verschont. Wenn Monakow 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



unserer Kenntnis der Aphasielehre. 


165 


in den sogenannten negativen Fallen darauf besteht, daB es sich 
fast immer um einen langsam entwickelten Tumor handelt, der mit 
der Zeit das ganze erweiterte Brocasche Gebiet bis zum Lenticularis 
zerstort, so stimmt das gerade mit dem iiberein, was wir weiter 
oben erwahnt ha ben; namlich, daB anatomisch schon praformierte 
phasisch-motorische und verboartikulare Bahnen bei einigen 
Menschen auch direkt in den rechten Lenticularis hinabsteigen 
konnen, wie man bei den Rechtshandern annimmt, und nach und 
nach ihre wenig ausgeiibte Funktion wieder aufnehmen konnen. 

Monaleow (39) behauptet, daB die Moglichkeit der Wieder- 
aufnahme der Funktion der erweiterten Brocaschen Zone links 
mehr vom Emahrungszustande des iibrigen Gehimes, als von 
der Topographic der Vcrletzung abhangt, und dies entnimmt er 
der Tatsache, daB die Falle, die einen leichten Verlauf nehmen 
und nur voriibergehend bestehen, durch Traumen und bei jungen 
Leuten hervorgerufen werden, wahrend bei denen, in welchen 
durch Erweichungen bedingte Hirnherde vorhanden sind, die 
motorische Aphasie dauemd und sehr schwer ist. Diese Erklarung 
konnte man annehmen, wenn wirklich diese Uebereinstimmung 
der Beziehungen zwischen der Natur der Verletzungen und der 
Wiederaufnahme der phasisch-motorischen Funktion eine be- 
standige ware, was aber nicht der Fall ist. Wenn die Traumata ge- 
wohnlich nicht einen dauemden aphasischen Symptomenkcmplex 
verursachen, so hangt dies davon ab, daB ihre Wirkung fast 
immer auf die Rinde oder hochstens auf das subkortikale 
Mark der Brocaschen Zone beschrankt bleibt, wahrend die 
Erweichungen mit Leichtigkeit das entsprechende ovale Zentrum 
befallen und sogar den linken Linsenkem auch den Balken 
abspalten. Sicher muB der Emahrungszustand der Rinde 
(Encephalitis, Arteriosklerose, Atrophien usw.) der homologen 
rechten Brocaschen Gegend die Schnelligkeit und die mehr oder 
wenig groBe Leichtigkeit beeinflussen, mit welcher diese die 
Funktion wieder aufnehmen kann. Aber zwischen dieser und der 
Annahme Monakows, daB andere Zonen der Hirnhemispharen, 
auBer den beiden (rechten und linken) Brocaschen Zonen, an 
dieser Wiederaufnahme der Funktion beteiligt sein konnen, 
ist ein gehoriger Abstand; und es scheint mir dies kein un- 
bedingt anzunehmendes Prinzip zu sein. Es besteht kein Zweifel, 
daB, wenn der Mensch sich zum spontanen Sprechen entschlieBt, 
seine Sprache nicht nur im AusstoBen von Sprachsymbolen be¬ 
steht, sondem auch zum Antrieb zu dieser Handlung (Lobus 
frontalis) und in der Erweckung der sensorischen mit den Sprach- 
motorischen Foci verbundenen Engramme (Lobus ocupitalis). 
Mit einem Worte, das Sprechen lost sich in einem Komplex von 
Handlungen auf, an welchem ein sehr ausgedehnter guter Teil der 
Hirnrinde und des subcorticalen Mark beteiligt ist. Nur in diesem 
Sinne, kann man meines Erachtens sagen, besteht kein Sitz der 
Sprachvorstedungen. 

Bisher haben wir fiber die motorische Aphasie vom Broca schen 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



166 


Mingazzini, Ueber den gegenwartigen Stand 


Digitized by 


Typus geredet. Was die beiden Unterformen derselben, n&mlich die 
echte motorische Aphasie und die transkortikale motorische 
Aphasie betrifft, so ist es angebracht, mit der ersten beginnend, 
schon jetzt festzustellen, daB die klinischen, von genau studierten 
Befunden gefolgten F&lle bereits bewiesen haben, daB die echte 
motorische Aphasie nicht immer von einer subkortikalen Ver- 
letzung der Brocaschen Zone abhangt. Zur Ausbildung dieser 
Form ist es nach Monakow notig, daB auBer den Projektionsfasem 
direkt oder indirekt auch Assoziationsfasem, die zwischen dem 
frontalen Ende des GroBhims, der Insel und der F L ausgebreitet 
sind, und vor allem der Fasciculus arcuatus verletzt seien. Monakow 
(1. c., S. 771) fiigt jedoch hinzu, daB es notig sei, daB an dem 
krankhaften Prozesse auch die Balkenfaserung beteiligt sei. 
Diese letzte SchluBfolgerung, zu der Monakow gelangt, ist 
eine Bestatigung dessen, was ich soeben behauptet habe: 
namlich, daB der dauernde Mutismus davon abhangt, daB die 
Balkenstrahlungen (links) zerstort oder auBer Funktion gesetzt 
sind; und hauptsachlich an der Stelle, an welcher sie in den Kopf 
des Putamens (Regio prae-supralenticularis) miinden. Dies wird 
durch die Untersuchung jener wenigen Falle bewiesen, in welchen 1 ) 
die reine motorische Aphasie genau intra vitam studiert und in 
denen eine hinreichende Zahl von Serienschnitten der GroBhim- 
hemisphare hergestellt wurden. 

Diese Falle, soweit aus der Literatur zu ersehen ist, sind die folgenden: 

1. Fall. Dejertne - Pelissier. FallReeb. Patient litt an echter motorischer 
Aphasie; er sprach nicht, noch konnte er die Worte wiederholen, doch war 
die inner© Sprache sehr gut, und konnte er schreiben. 

*) Anmerkung : In der Mehrzahi der sogen. Fall© von eohter motorischer 
Aphasie 

a) fehlen manchmal die Sektionen, und hierher gehoren die folgenden 
Fftlle: 1. Fall Trosseau (Clinique, 2. Edit. \ol. II); 2. Mesnei( Annelesmed. 
psych. 1877); 3. F6r6 (Soc. de BioL 1885); 4. Dickinson (in Bastian du 
Aphasia. S. 90); 5. Prevost (Revue m6d. de la Suisse. Rom. V. 6. S. 309); 
6. Collins (The Faculty of speech. 1898); 7. Idelsohn (D. Z. f. N. 1898); 
8. Jaccond (Cours de Clinique m6d. T. 1); 9. Willie (Disorders of speech. 
Edinburgh 1894); 10. Collins (The Faculty of speech. 1898); 11. Marburg , 
(W. k. W. 1899); 12. Bucco (Nuova ser. clin. 1902); 13. Hunter (Glasgow, 
Medical Journal. Januar 1909); 

b) oder fehlen die Hirnschnitte wie in den Fallen von Ogle (St. Georg 
Hosp. report. 1867); Ballet (Soc. de neur. 1900); Banti (1886); 

c) sind die Schnitte der Hemisphare beschrieben, so fehlen die Figureu, 
um sich einen genauen Begriff von der Ausdehnung der Verletzung maohen 
zu konnen. Dejerine (Soc. de Biol. 28. II. 1891): 

d) oder der Patient konnte mit Schwierigkeit reden, so daB es sich 
mehr um eine Dysarthrie als um eine echte motorische Aphasie handeln sollte. 
Fall Dufour (Bull, de la Soc. Anat. 1895), Kauders (Med. Jahrb. 1886); 
auch der Fall Bramwell (a remark, case of aphasia. Brain 1898) kann nicht 
der echten Form beigezahlt warden, da Pat. samtliche Worte gut wieder- 
holte und spontan alle Worte aussprach, ausgenommen die Namen von 
Personen und Sachen. 

Andererseits ist es iibrigens nicht unmoglich, daB einige Falle von 
motorischer Aphasie, welche dem Typus Broca beigezahlt werden oder 
infolge von Verletzungen der Linsenkernzone dem echten Typus ange- 
horten, und daB es sich um Analphabeten oder um Individuen handelte, 
bei denen es nicht leicht war, den Lichtheimschen Versuch anzustellen. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




wnwrer ; tier .if >hu»i< Ochre 


Links hafcte der Herd db>. $aroJ*. F*, den Rand der F* I&iig* der 
2, Frontalfurehe, d i# untetv Halft* der Fa rand Ffc* d*m vordaren Ahluing 
dea Gyro# sippram&rtfirialis, die g&nze instihi (mifc Auim&hme eines Btttcke» 
des retro dmil&rett Dyrns)rdie ifop&nto exterha* die YamimiBr imd-deu an- 
der Cftpsula extreme *crsibrU 8ie wrsehcmte vb&dai:td% die 
gr«.tien Kerne,.miiterh&ib v*>neiner Mehtfm fteioeh t wnMbttehmvn. 
weteh* der &u Ifeten Kmp&el Dm L&don obm (oberi&lb 

Oangtfen wad iii iffltAtfnpoHteriafmi Oebiete der Iriael) 
imtfcrbr&rh den ArcvAfttn#., d^n Fofi des mittl#ren Segments des 

Sl4bkrar«^, das kompakie BftiuUd dec BfrVkeidasera, &o dai$ sde J&srt den 
ftuSeraien Wmkel deer lateralen VebirikeL** stretch t r vmt welehem aie der 
gameo IHcke der cpmdipnaZtt graven Subsiaite noch getrennt war* Vbrn 
feommfc $ie der gan^en Hohe nacb deni Fvfi des vorderen 'Segment* §&!&- 
kranzes, vor dea gr&ueu seidraicn Kernen. 

2, Falk jRetruujr*a-Manoja (noch nieht veroffentlfchi). I>h«e motv- 
risehe ApJbams dutch ^toe Lasion der linken priilentikrah^en Region ver* 
ursuehr. t>i& l^paraf.e. behinden 8ich in meineni L^b#irat«rmm. 


Fig. 10. 

Fall Ttomxigva. H -■*= Herd; 

in der Regie ^apmleiitieoi rand at a vertical, Teabsorbtei%. 

Trssatti, A\; 55 Jahre ait. itdbige vM:wr JJciu*. die aieh irmerh&lb 
VA Stunden. tofgtet)* tritt.folgedd^' bm scum riaaH IV# &dxreu auigetretenam 
Toika unvemnderi-e.Sypiptoriiai : oi»^gie anil VvlUlejadige fepontane Aphemie, 
trie ftudh bei Wiederhohmg der Worter ' 'S-iibm und 

. linger Mitl«u?e> Die Z&htfwirmvite Prufumj I&Ut bald poeitrv. bald unstcher 
aua; Da^- Verstandliia der gebdri ed Worte iat gut. X4 ¥q£ Lgsen i*s 

urnnogUch,die Fattentin erk^Ufit hiir die BdeJiktabeUi verfttekt aher m«;hl 
<fon Stnn der g^Ufdct^n oder geaeJgtebwen Wdrfen Da^ apont«me 
Selwreibeu, una^- Diktat war ettraa .redi,iiieft j 

^ebrieb die Kraake ?um . Teil nuch lunge W#rt<a gut xvb, kunnle 'afoer 
nicist xaWen. Es: bestanvi kerne Dyspmxie. 

'^^ j^ektwn: In- t).m Fro«taI»cJbiVHt^r> der Hirnhemi^phaTe bemerkt 
jiroximahv^ris Eo^Tptior# link?;, dm fronlnl.en Kudea dm 


Putamen, dm fordernn Segm^ttea der itmoren Kap^el pnrf dz* 
Oandatufi (Fig. 10). la dm .OAphtVjlgfeadon Frontaktlmxrteri vom 
Balkenknie xitm Splenitmv findet man linka einen Snbstanzrerlu^ 
in der Zone, in. weicber (lie 'pit^mal^rts aus der Pars of^reularis 
der F t (Fig, 11) der Fa (Fig, 1.2) ni>4 ; lif«b 











Uebar don gegoawiirtegwa Stand 

rnehr distialiviiFte) aus der Pa konnnenden Slarkfasem {Fig. 13) 
links mil den Balkenstrahlungen konflnieren. Atich Her waren 


Mi a|i : z z i u i 


ISfc 1JL 

3<W flvtmpM K ■= Herd; 

iti (itir 1. Ro&iu bis dMbmsubu^ii-' Gebmto, 

i -7 :. 1 1 *'v Y J ^ ■ 7 ’ * J '• . v 


Fall I&fuogno (B. Figg. iOn 

• . .• % ‘ . ,\V, v ’’:’*.V,7 v • •. y.vir «; * *• \ ( 

also bStntHcfae Oder last samtlicbe Ba.ikenau8strahlui)jgen in der 
pra- uddysnpmltudikuliiren Zone zerstort. Die Gyri temporalis 
transvem vrawn ynyerselict. 


H«»rd i fast wie ini vorigen Schnitt. 


itizedby GOOgk 


UNIVER 


Origrr-alffcrri* 

SUY--0 F MICHf GA Pj 




Fig/ 13. 

Fail Romagna f». Fipgvl©; 11, 12), H = Herd 
im Btfpeich der iinkeix BA]k«n.a\isstmbKmj§. and der i- K&psel. 

Scktiun . M?hr korukaJer sia^kortifolcf gubstHf^etkiM.- dw'kbksa 
H^mispiiare, dr* Pajr* <ii>ercul&m der F» urui 

nimmt r die gatszlfch zemdrt Bifid* *r dnngt m dla weifie Subsraa? sm& hioier 
d^raelben. euv and endigt am .Xiveiui d&> ndifferee Q^rua 

*f4gulcvris. ' • "•• ;._^ 

l)ia niikra^kapiMcb^ Ual^rsuehuiig der Sebmtte der Hiratendaitb&ren 
?4’ li^kerddsen $we?» d&& d«?r iiMfcr tfcr If j sj^h ^fetdbz- 

verfusfc £tch &o Vgttiflft* die ftegia{mn) £^t voi^ 

at&adig i$t« \ '' ■- - : ' \ '• V v i'^" 

4, Fflt. i &■ Peli^ter ;{^€tjj;.■ 

liernipltgie mlt t^takir Apbte*ie die Axm fed sSixfuicigjaigi.■ ^o^bert Ba 
?>Iieb bur e*h ' Volfetfi-udiger MutLsmus (swoh] ^pVhta&r wic auj‘ Weder- 
fetasg:,;4etAVSrtejr) lAt&ihtfafr&fyenri&klib 'feUJiisig Tfinc<m X*>een 

wilfri'todip erhait^iL * \. ' . , ; ; , ' ' - ' r ’ 

Sektion: Lbvks Pam npercuV .und VrUngul, der T if Operculum 
x oiaMi^um* losute, teams die gun* ©nveit erte, Br^cafclje 2^ §<^me die ganze 

Markat^idtalilun^ #erijmnwr Zone eind vollstAnriig' ^ercd<»H ; ebe{&o ili*,Mxn : 

^ahbia^eoQidfe^ Balked lmk», Der Itfuclem wnt de^haib^fceirali 

voTft 8y«tem dgr/reqliten tmd der lioken Seite isolien. 

BedmgObgen smcl also natweudig, daroit 
• ••^3^plfeflAat© „ramc \&phasie^ zustande kcfumit, 

iL h. ifid frtt^gritat dor en\*eitcrten Broca *cfoen Zone 

vmd die JKrhaltang ttar- Assaziation^bahnen mit dem wQtwmbviv 
Centrum rferfeehfe.n -Eand, OndUa der Tat genugt es. das Mer 


unserer Ejeruiiiiis der Apbasieteb^ 169 

3, Fall, LcdanuiM^nakmv. Fraa, 5& : JaJ^e.cil.iVdiabotiisck\Aj)opiekti-; 
lorcxer Aid&i], galoigt veil rechter G^siclitB- uml Ai v mpar^a Vonjeaar ,2eii 
cui voii8tand^er Muiasmuss Sdwblil spojitbm vrier ^urWiederbola ng. Voli- 
atfihdig erii^ltett die Seim!* \tnd Koinplette fotivkibfeit der iimeraiu 

Spraehe. 


Go ole 







170 M i r; g a ■% 7. * n. t , Ueber dee gegenwlirtigeu Stand 

bcigogobene Schema. (Fig. 14J sazuschauen, gm die Ueberzeugijmg 
zu ge^-itinea, daii wemgstftim-sin 'Werner.Anted der erweit often 
i?roc«Htdmn Begion {Uiskf*} jittnjcrerhfllten war. Die Integritat dieses 

Tei les macht die inhere 
■h Revokation der 

Silbon mdglich, daiiec 
. ' j der gl.peklich© positive 


Ausfail der Lichtheim- 
sehen Proiie; gleiehzei' 
tig wird das Erhaiten 
bieiben dordie motori- 
sche Zone tier recfateii 
Ha^d(Fig:;l4)hdtideh 
uttvereehrt gebUehd- 
non motoriscbenWort- 
hiiderh verbindenden 
Khsern. demPatient ett 
pest at ten j mebr oaer 
weniger gut/ zu schrei- 
ben ; |e nach der Aus- 
debnung des Hordes 
Imiessen wird die La- 
Sion der linker: Baiken- 
anssehalarg und die 
pridentikulare V&r- 
letzung weder diespou- 
feane Spraebe uceh die 
Wiederhoiu ng dcrWbr- 
ter gestatten. Diase 
ScbiuBfipleenihgen er- 
klaxon 


waryin ayc.h 
eim Bindeavorietzuhg 
des Ikom&ihm Gfebie- 
tes das BiJd derteinen 
rnotorischen Aphaaie 
hm^rcyfert kann; es 
genygt, dad ein Toil 
diesev Zone gerettet. wird, d&ioit es mcgliek ist^ dhs game Won 
(die Er:gramme dot motoriaclien Silbenbilder) in die Erirmerung 
(la parole interieure) zainickzurufen ursd die (Aeaoziatioas-) Fasern, 
die die entsprechende Zone i»it .der. okdorisehen : '0egeind der 
rochten Hand verbinden (d. h. keine Agrapbie) unversebrt. lassen 


Pi* a- 

•Schema: Aphasia motc«ria pura. 


llezeichnung den Herdes im Schema 
4 ■ tier Fig 14 


XWaen der AotorSo 


Xi6)6xwi9. (Fall Reel' 
LtfdSnia Alanakyw 
Heftfiheife (kail laficjuiat) 
R«r«agna-iila6o>a ; ; 







uneerer Kenntnis der Aphasielehre. 


171 


Was die motorische (transkorticale) Assoziationsaphasie be- 
trifft, so beweisen die bisher gesammelten Falle, daB sie durch eine 
Zerstorung irgend eines Teiles der der vorderen Region der Sprache 
entsprechenden Marksubstanz hervorgerufen werden kann. Um 
jedoch besser den Mutacismus dieser Unterform zu verstehen, 
behalte ich mir vor, spater bei der sensorischen transkortikalen 
Aphasie darauf zuriickzukommen. 

Voller Schwierigkeiten ist noch die Kenntnis der motorischen 
Sprachbahn oder, wie einige sie nennen, der Phonationsbahn. 
Das hangt von der Tatsache ab, daB beim Menschen die zentrale 
Bahn des Facialis und des Hypoglossus viel weniger als bei 
den hoheren Tieren, die Affen einbegriffen, bekannt ist. 
Mir (38) selbst gelang es nur, mittels an Affen angestellter Ver- 
suche, durch Entfernung des kortikalen Zentrums dieser Nerven 
oder durch peripherische Trennung des Hypoglossus, nachzuweisen, 
daB die entsprechenden Fasern vom vorderen Segment der inneren 
Kapsel in das mediale Fiinftel des Pes pedunculi, in die dorsomedialen 
Gruppen der Briickenpyramidenbahnen, in das dorsomediale Seg¬ 
ment der Pyramide und dann in die contralaterale Fibrae rectae der 
Raphe ziehen; das letzte Segment dieser Bahn von den Fibrae 
rectae, bis zum Hypoglossuskerne aber bleibt eine noch ungeloste 
Frage. AuBerdem ist noch nicht festgestellt, ob eine besondere 
motorische Sprachbahn besteht, oder ob dieselben Fasern, welche 
zum Bewegen der Lippen bestimmt sind und die fur andere Be- 
wegungen (pfeifen, blasen, kiissen usw.) bestimmten Muskeln 
ebenfalls die Impulse fiir die Bewegungen, die diese Teile beim 
Sprechen vollziehen, iibertragen. Da, wie die klinische und patho- 
logische Anatomie lehrt, ein genauer Parallelismus zwischen den 
glossolabialen Paresen und den Dysarthrien fehlt, ist anzunehmen, 
daB beide Bahnen getrennt sind. Jedoch sind wir noch weit ent- 
femt, mit Genauigkeit die Strecke der hypothetischen motorischen 
Sprachbahn angeben zu konnen resp. zu demonstrieren. Demnach 
scheint es mir angebracht, die hauptsachlichsten Meinungs- 
verschiedenheiten der Autoren, welche sich mit diesem Argument 
beschaftigt haben, zusammenzufassen. 

Nach Oalassi (19) soli die Sprachbahn, nachdem sie den 
Pedunculus verlassen, in den Pes lemniscus superficialis treten,um 
dann die Kerne der Oblongata zu erreichen; dieses segmento- 
pedunkulare Biindel degeneriere bei alien Hemiplegien mit Aphasie, 
hingegen ware es bei den Hemiplegien ohne Aphasie intakt. Die 
Resultate Galassis stiitzen sich auf fiinf Sektionen von Hemi- 
plegischen, von welchen vier von vorwiegend motorischer 
Aphasie und rechter Hemiplegic, einer nur von letzterer befallen 
waren; doch war keine der von Galassi studierten Aphasien eine 
echt motorische. Hoche (23—24) laBt die Phonationsfasem durch 
den Pes lemniscus superficialis und folglich hinter der Pyramiden- 
bahn ziehen: diese Fasern am Niveau der bulbo-protuberantialen 
Furche angekommen, sollen die Linea medians erreichen, um in 
den Kemen des Facialis und des Hypoglossus zn endigen: jedoch 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



172 


Mingazzini, Ueber den gegenwartigen Stand 


bestand in den Fallen, auf welche sich diese Annahme stiitzte, 
eine Verletzung, nicht nur (links) dee FuBes der F t , sondem auch 
des unteren Teiles der Fa und der Insula. Henschen bemerkte 
das Zusammentreffen der Degeneration des Pes lemniscus links 
in einem Falle, in welchem die Sprache langsam und skandiert 
war. Collier und Buzzard ianden den Lemniscus in einem Falle 
von Himtumor, der links sich bis zur inneren Kapsel erstreckte 
und AnlaB zu einer motorischen Aphasie (mit rechter Hemiplegie) 
gegeben hatte, degeneriert. Auch Pacetti (58), S. Sergi (61) u. A. 
nahmen Sprachstorungen bei L&sion des Hauptlemniscus wahr. 
Ladame und Monakow (40) fanden in einem Falle von echter 
Aphasie weder dasPyramidenbiindel noch denN.facialis degeneriert. 
In der inneren Kapsel stellten sie fest, daB das Phonationsbiindel 
sich haufig mit den anderen Biindeln verschlingt. Die Fasem des- 
selben waren hier naher dem Thalamus als dem Lenticu laris. 
Am Niveau der hinteren Schichten des Dwyaschen Korpers findet 
man es zwischen den Fasern der Linsenkemschlinge und jenen 
der fronto-pontinen Bahn; mehr distalwarts verlauft ein Teil des 
in Frage stehenden Biindels in der Mitte des pedunkularen Anteils 
der Schleife, ein anderer Teil lost sich davon ab, um direkt mit dem 
Himstiele in die graue Substanz zu ziehen. In der Briicke und in 
der Pyramide ist das Phonationsbiindel innerhalb der dorso- 
lateralen Biindel der Pyramidenbahn gelegen. Im unteren 
Teile des Bulbus, in der Hohe der Kerne des Pneumogastricus und 
des Hypoglossus nehmen die Fasem des Phonationsbiindels eine 
mediate Richtung, nach der Raphe zu, und endigen damit, sich in 
bogenformige Fasem im Stratum interolivare umzuwandeln. Dcch 
ist dies Biindel wirklich das Biindel der Aphasie ? Flechsig hatte 
geleugnet, daB die F* Projektionsfasem besitze: Dijirine hat hin- 
gegen nachgewiesen, daB die F s wohl Projektionsfasem, aber keine 
Kapselfasern besitze, da die der Verletzung derF # folgenden herab- 
steigenden Degeneraticnen am Thalamus aufhoren ( Ftaenkl , Onuf 
und Mdhaitn). Das Hoche-Monakounche Biindel ware nur das Biindel 
des Operculum Rclandicum (d. h. das Hypoglossusbiindel), und 
wollte man diesem Biindel die Funktion eines wirklichen 
aphasischen Biindels beanspruchen, so ware die Ursache der 
Aphasie selbst nur in den Verletzungen des unteren Drittels der 
C. a. zu suchen. 

LeidermuB man zugeben, daB sich bei der motorischenAphasie 
gewohnlich die Verletzungen auch des Operculum frontale mit den 
Lasionen der F a oder der Zona lenticularis vereinigen; ja es ist 
bis heute ncch kein eimiger Fall von nicht komplizierter 
(d. h. ohne Parese des Facialis und Hyplossus) motorischer 
Aphasie beschrieben, die von isolierter Verletzung des ent- 
sprechenden Sprachgebietes abhangt. Im allgemeinen sind der 
Lemniscus superficialis und medialis die beiden Gebilde, die bisher 
in den Fallen von motorischer Aphasie resp. Dysarthrie degeneriert 
oder verletzt angetrcffen wurden. Ebenso ist es sicher, wie einige 
von mir veroffentlichten Befunde (32) beweisen, daB die Nerven- 


Digitized by 


Got, igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



unserer Kenntnis der Aphasielehre. 


173 


zallen dee rechten Hypoglossuskemes verandert (atrophisch) sind, 
sowohl bei den von schwerer rechter Facio-lingu al-rarese ohne 
motorieche Aphasie befallenen Patienten, ale auch bei den von 
beiden Syndromen Befallenen. Dies wurde beweisen, daB wenigstens 
dieaelben Nervenzellen dee Hypoglossuskemes, aus dem die zu den 
Bewegungen der Zunge bestimmten Fasem entspringen, so wo hi 
zum Sprecben ale zur Verrichtung der anderen (niedrigen) Funk- 
tionen dieses Organs dienen. 

Zur sensorischen Aphasie iibergehend, gestatten uns die bisher 
erhobenen Befunde zu behaupten, 1. daB das Gebiet, dessen Zer- 
storung, wenn auch nur voriibergend AnlaB zu dieser Form von 
Aphasie geben kann, sehr ausgedehnt ist und das ganze von den 
binteren Aesten der Art. Sylvii versorgte Gebiet umfaBt, namlich das 
hintere Drittel der T 1 , die T*, T 3 , die Gyri temper, transversi, die 
Gyri (sub) angularis und supramarginalis; 2. daB eine dauemde sen- 
sorische Aphasie nicht ohne die gleichzeitige Verletzung links, wenig- 
sten der T 1 und des Gyrus t emp, transversus posterior von Heschl 
{Wernicke&c\\o Kemzone — Monakow) bestehen kann; und je mehr 
mansich von diesem zentralenPunkteentfemt,um so mehr neigt die 
sensorische Aphasie dazu, zu verschwinden. DaB ein auf den ganzen 
Gyrus temporalis transversus ausgedehnter malazischer JJefekt 
immer (der Annahme Quensels zuwider) eine dauemde sensorische 
Aphasie verursacht, beweist der Fall von Agostini (s. unten), in 
welchem die vollstandige Verletzung links der Gyrus temporalis 
transversus und der oberen Flache des T 1 wahrend 10 Jahren 
keine wahmehmbare, sensorische aphasische Storung verursacht 
hatte. Da, wo sich die Zerstorung genannter Kemzone bestfitigt, 
besteht der dauemde Symptomenkomplex, welcher die sensorisch 
aphasische Storung bildet, in Schreibstorungen (Fehler,Verschreiben, 
Verlangsamung des Schreibens), leichten Irrtum im Lesen, Ver- 
drehung der Worte, der Silben (Paraphasien), und Wortamnesien. 
Sind aber die Krankheitsherde vaskul&ren Ursprungs, so bemerkt 
man auch eine bedeutende Herabsetzung der geistigen Fahigkeiten, 
doch ist es nicht sicher, ob dies von den lokalen [Dementia aphasica, 
Bianchis (4)] oder von anderen begleitenden Faktoren (Arterio- 
sklerose, multiple Herde, Himhautverletzungen) abh&ngt. Gerade 
vor kurzem habe ich (34) den Fall eines Patienten, reif an Jahren, 
mit vollstandiger sense rischer Aphasie (Verletzung des linken 
Schlafenlappens) beobachtet, dessen Verhalten keine wahmehm- 
baren Symptome einer Geistesschw&che bekundete, 

Seit den epochemachenden Untersuchungen von Wernicke 
und Licktheim ist auch bekannt, daB auBer der klassischen Fo rm der 
partiellen sensorischen Aphasie, klinische Krankheitsbilder be- 
schrieben wurden, fiir welche die Lasion entweder des subkortikalen 
Markes, oder der einer nicht ganz topographisch bestimmten tiefen, 
unter der Wernicke schen Zone liegenden Himsubstanz angenommen 
wurde; es wurde daher die erste unter dem Namen: sensorische 
subkortikale (perzeptive oder reine) Aphasie gekennzeichnet, 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



174 


Mingazzini, Ueber den gegenwartigen Stand 


wahrend die letztere sensorische assoziative Aphasie (oder auch 
transkortikale) benannt wurden. Die Autonomie dieser beiden 
Formen verliert jedoch immer mehr Boden, da sie von den moisten 
Forschern heute als Uebergangsformen der vollstandigen sensori- 
schen Aphasie betrachtet werden. In der Tat, in den Fallen 
von (subkortikaler) perzeptiver sensorischer Aphasie, die bisher 
bekannt waren, handelte es sich um ein klinisches Bild, das 
sehr oft sich nach zwei apoplektischen Insulten entwickelt hatte, 
und was noch mehr ausmacht, [Veraguth (66), Pick (53), 
Serieux (62), Liepmann (30), Hitzig, Oehuchten (21), Bonvicini (5)], 
es wurden die Herde nie an einer genau konstanten Stelle 
gefunden. AuBerdem konnten einige Patienten, bei denen die 
subkortikale Substanz des Lobus temporalis mehr oder weniger 
verletzt war, die Worte wiederholen. Zuweilen scheint es, daB der 
Symptomenkomplex der perzeptiven sensorischen Aphasie manch- 
mal von Verletzungen des peripheren Gehorapparates (Labyrinth) 
abhangig gewesen sei. 

Gleiches sage man beziiglich der assoziativen sensorischen 
Aphasie. Auch hier hat man bemerkt, daB sich der meist fast stets 
sehr ausgedehnte Herd unterhalb des Lobus temporalis sin. befand, 
doch wechselte der Sitz von Fall zu Fall. Ja, mankann behaupten, 
daB es sich in den Fallen von assoziativer sensorischer Aphasie, 
um ausgedehnte Erweichungsherde handelte, die bald links im 
Marke des Gyrus angularis (Pick), oder im Gyrus angularis und im 
Splenium [ Monakow (39)], bald in der Insula [ Touche (65)], im Marke 
des Gyrus temporalis secundus [ Mahairn (45)], manchmal im tiefen 
Teile des Gyrus temporalis primus, im Gyrus supramarginalis 
(Heubner), oder im vorderen Teile des Gyrus lobus temporalis 
[Oordinier (20)] den Sitz hatten, ja sogar Falle von Tumor des linken 
Corpus striatum [Monakow] verbunden mit Arteriosklerose zeigte das 
Bild. In einem meiner Falle waren (36) links der Gyrus insulae 
posterior, die Marksubstanz die der hinteren Halfte des Gyrus 
supramarginalis entspricht, und ein Teil des Lobulus pariet. inf. 
sowie die Basis des postdorsalen Teiles der Gyrus temp. inf. et 
medius befallen. In fast samtlichen vorhergehenden Fallen war 
nicht nur die Marksubstanz (der kurz zuvor erwahnten Zone) be- 
falien, sondem auch die Hirnrinde. Mit anderen Worten: man kann 
als festgestellt annehmen, daB die assoziative sensorische Aphasie 
von einer Lasion in der ausgedehnten Zone des hinteren Gebietes 
der Aphasie (Marksubstanz der beiden ersten Schlafenwindungert 
des Gyrus supramarginalis und angularis) und in einer solchen 
Tiefe, daB die mittleren und langen Assoziationsfasem des linken 
Lobus temporalis wie auch die Balkenfasern unterbrochen werden, 
abhangig ist. Monakow behauptet, daB eine andere Bedingung zur 
Entwicklung der in Bede stehenden Aphasie notig sei, nanuich, daB 
in der rechten Hemisphere (keine groben) histopathologische 
Verfinderungen bestehen, ja da wo diese pathologisch-anatomischen 
Bedingungen bleiben, gehe dann die transkortik assoziative* oder 
in vollst&ndige sensorische Aphasie iiberein: Ausspruch, der, wie 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



unserer Kenntnis der Aphasielehre. 


175 


mir scheint, keinen apodiktischen Wert haben kann, denn es ist 
nicht immer das wirkliche Vorhandensein anderer, selbst feiner Ver- 
letzungen, auBerhalb des makroskopischen Herdes, nachgewiesen 
worden. 

Auf einen Punkt miissen wir unsere Aufmerksamkeit richten. 
Wie in der Tat aus meiner analytischen Studie der bisher 
untersuchten Falle hervorgeht, sind die echten Assoziations- 
aphasien (sowobl die sensoriscben wie die motorischen), sehr 
selten. Ihr ist sogar zu entnehmen, daB, je mehr der Herd dazu 
neigt, von der verbo - akustischen Zone (Rinde) nach dem 
entsprechenden (Mark) Zentrum zu ziehen, hauptsachlich die 
Assoziationsbahnen zu verletzen, es um so schwerer, ist, nicht 
bloB den Sinn der gehorten Worte (assoziative - sensorische 
Aphasie) zu verstehen, sondern auch sich einen Begriif von den 
Gegenstanden zu bilden, obwohl die zur Funktion der Wortwieder- 
holung notwendigen Babnen samtlich intakt bleiben. Dehnt sich 
hingegen der Herd nach der Insel aus, so entsteht das Bild der 
sogenannten (transkortikalen) motorischen Assoziationsaphasie; 
wahrend der vom Nervus acusticus iibergeleitete sensorische Reiz, 
durch die Funktion der intakten Subcortex zur Wortwieder- 
holung AnlaB geben kann, bildet der KrankheitsprozeB hingegen 
ein Hmdernis im Erwecken derselben, besonders in der logischen 
und grammatikalischen Ordnung, wie auch in der Freiheit der 
Wahl. Bisweilen kann es der Fall sein, daB eine etwas 
ausgedehnte Zerstorung besteht, die nicht so sehr die Zone der 
Assoziationsbahnen mit den entsprechenden Zentren (der moto¬ 
rischen oder der semorischenAphasie), als den Beriihrungspunkt der 
Gebiete der gehorten und ausgesprochenen Worte befallt; dies sind 
die ziemlich haufigen ,,gemischten“ Falle der Assoziationsaphasie, 
diesowohl das Wortverstandnis, als das spontane Sprechen befallen; 
und in diesem Falle ist die Vorstellung der Begnffsattribute ver- 
haltnismaBig besser erhalten. Wie also infolge einer Zerstorung 
(Erweichung) der Ketten, welche die Rindenelemente mit der verbo- 
akustischen Zone verbinden, die Fahigkeit, den Sinn eines Wortes 
zu begreifen, ausbleibt, so kann dieser Mangel auch von der Atrophie 
der Elemente (diffuse Atrophie des Lobus frontalis) abhangen, da 
die noch intakte Assoziation der verboakustischen Symbole nicht 
mehr in der Hirnrinde das Bild des Gegenstandes findet. Indessen 
ist es angebracht, hervorzuheben, daB aus dem vorderenTeile dieser 
Assoziationsgegend subkortikale Neurone entspringen, die zum 
vorderen Sprachgebiete (Insula ant., F >t dem unteren Teile der ca) 
ziehen und die gelaufige Sprache ermoglichen. So erklart sich auch, 
wie ein Zerstorungsherd, der die verboakustische Zone befallt, 
auf die Begriffszone und folglich auf die verbomotorische, wie aus 
dem Schema der Fig. 15 ersichtlich, eine Riickwirkung ausiiben kann. 

♦ Je mehr hingegen ein solcher Herd dazu neigt, von der Peripherie 
(Rinde) zum Zentrum zu ziehen, namlich von der verboakustischen 
Zone zum Zentrum dor Hemisphere, und je mehr Neigung er auf- 
weist, die transkortikalen Bahnen zu verletzen, d. h. die vorwiegend 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 3. 12 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



176 


Mingazzini, Ueber den gegenw&rtigen Stand 


Digitized by 


assoziativen Bahnen, um so schwieriger wird es sein, nicht blofi den 
Sinn der gehorten Worte zu verstehen, sondem auch sich einen Be- 
griff der Gegenstande zu bilden, obwohl samtliche, zum Prozesse 
der Wortwiederholung notigen Bahnen intakt bleiben (Fig. 15). 
Wenn aber der (subkortikale) Herd sich vor der Insel ausdehnt, 
so begreift man, wie im allgemeinen unter diesen Umstanden das 
Bild der sogenannten transkortikalen motorischen Aphasie auftritt. 
Wahrend in derTat, wie oben gesagt, der durch denNervus acusticus 
iibergeleitete sensorischeReiz mittels derFunktion dersubkortikalen 
Bahnen zur Wiederholung der Worte AnlaB geben kann, verursacht 
derKrankheitsherd einHmdemis im Erwecken derselben, besonders 
beziiglich der logischen und grammatikalischen Anordnung, so wie 
auch in der Freiheit der Wahl der Worte. Zuweilen kann es endlich der 
Fall sein, daB eine etwas ausgedehnt eZerstorung besteht, die nicht so 
sehr die Zone der Assoziationsbahn (der Worte) als den Beriihrungs- 
punkt betrifft, der zwischen ihr und dem Gebiete besteht, in welchem 
die Bilder der gehorten und gesprochenen Worte erwachen: dies 
sind die Falle von transkortikaler Aphasie, in denen Storungen so- 
wohl des Wortverstandnis als der spontanen Sprache bestehen; 
hier sind die Begriffsattribute verhiltnismafiig besser erhalten. 

Diese, von K. Goldstein (22) verteidigte Theorie, die mir sehr 
rationell erscheint, unterscheidet sich von jener Moutiers (49) da- 
durch, daB sie die Notwendigkeit entsprechender Erinnerungsbilder 
anerkennt, die zusammen mit den Wortbildem vor das BewuBt- 
sein treten, von letzteren aber keinen wesentlichen Teil bilden. 
Diese Erinnerungsbilder stellen die Bahn dar, die den zentralen 
Sprachapparat mit der auBeren Welt vereinigt. In derselben sind 
Assoziationskomplexe aneinandergereiht, namlich verbo-motori- 
sche und sensorische Bilder. Deshalb, nach Goldstein, horen wir 
nicht die einz einen Tone, welche akustisch ein Wort bilden, hin- 
gegen aber eine einzige tonale Funktion, die sich in uns wie ein 
verwickeltes und doch einzigds akustisches Erkennen abspielt; 
und dies trifft gerade zu, wed das neue Erkennen sich in einem 
durch vorheriges Erkennen gebildeten und akustisch als ein Ganzes 
erkannten Assoziationskomplex entwickelt. 

Fig. 15. 

Schemaiische DarsteUung der 
Herde, welche die associative 
(tranekortikale) und die per- 
zeptive Form der sensorischen 
Aphasie, wie auch die trans- 
kortikale motorische Aphasie her- 
vorrufen. 

S =Area verboacustica; M «* 
Area vorbomotoria; B = Him* 
rinde, in welcher sich die Be* . 
griffe bilden (sogenanntes Be* 
griffszentrum); ss subkorti¬ 
kale verbosensorische Bahn; 
sm = subkortikale verbomotori* 
sche Bahn. 



Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 





Ufitaeror Kermtuk Aet Apba.*fcM\re, 


Die in der verbo»kust^^e X v^rboivkw^tk^hfeu 

Beiztuigen worden tint irontAlep Rihde li geleit#t* >v*> <de sicli m& tien Be- 
griffsbildern ftwo«3«jv Xkim kom?kte,n 8pr^riiHn kehrt dm l&driiisbild 
(der KompJexe dea ho goiormt^n BiJttes) ssuriick und inti, m V in Vei> 
bindung imfc der Hahn die es zpm Gebfete tier verbomptoriicfee^ Ed.~ 


grwnme fti&fftv '.; : : .'•>,• : ;-‘ t> • 

Bin Herd in.** uni <kkr B*hn SB' {^.morfecb.r : ■ fcrttrt.«knrtifci4k? ApJnwde 
(aensorische m\ sif*sn$#n : Sinn«)3 vxsehw^rt Ufa A&sodaUb**., d*r • -’tfdSfe 
akustischeii Biidet-'-mii . den fegfiffm bder erschxvert si* mid; storkgiekh* 
iseitig &ueh die Biklcmg der Begtiffe. Em Herd in h, m dor M*rk*ub*t&nz 
der verbomotorischen Zone, ey^bwrt, din geunti^ gian^ntik»iisriio Velar- 
beitung tier Worn? umi dire korr^kte JkiUenMge?,; e$* ftdgt damn* erne 
motorische, ^rvwgend ^sozjaf fy* Ap>wk (timisk^rtUmle motoribsrh# 
Aphasie.) Bin Beni, in c Verkin eieaclaeiiig das *ogene,iixd e Zexi&rum dot 
Begriffsverttrbeit.urtg wfe *uek die verboafoi^tfeeh^ tmd v^rbcwxioior^eit* 
Region; in di&wtx i Falk mnl der Bra-iike die Zekhen- der *ogen>MmteiM ge- 
taischten tTam&Prtik&len Apba^k de meh? iirh <k?r Herd : ' n 

rMh&rt r uzp m ro^Jhr r^etn :; ^h : ••■• ftwis^ ■ 

kiVriatokd); sensorkoken Apba-sie jsnen der s&ns^riacbem da 


w! ^Uid, di* 

Wbn# dien&A* ^C'» - . ., f „ 

Boim 8* tidium der A^exi^ t&nsapiianien i*f. nk ht *u nmgehen. 
•iteii• dnatdnu^hea Grand JHfc 4te Srfceheimmg ^d'or.>chen, daU os 
dem Kjr&nken goHngt f . Worte m Tviedetliubn.;• uber aicht ftponiaivzu 
i=prechen, Jiimge Imben beluuiptet, daB die Gyn toinporaJi^ trana- 
vnrbi sur. W^ferhi*dbag- : .4i)t ; -Wfert4 notweiidig aciDa (Qtimsei, 
Betti).] d&M dom, ^m pv^i^ffeiUlicto Fall 

Agostinis, in weldiem di.oWe 'Wimiuiigwi }iak> waren, urui 

mttzd&m ^edete Pntl^dlgnf^ di^ Worte noeh be^er 

Fall Agostini \t\n^ Patier^ wurde tm Alter von 53 Jahren 

(t l Jahre vor dein Torle) von einer recditen Pivroae \md Isiebten Sprach- 


Fig. 16. 
Fall Agoatini, 


Go gle 


;r.;.r. v,v!Original from 

NPi^RSFtY OF MICHIGAN 





m 


M I n z z i , t r eter ddn gsegenwirtigen Stand 


niorungeti hetv\tk*m: %%ch 10 Jahren mud© eine volletfendige Untersu chung 
vorgenomtnsft (Patient hafcte ein^ Verbrochen begangen), behufs Begiit- 
aehtung, elite lekshlfc Spastische Parese und Hypoasthesi© 

(die .sterepgrtc^il^^ ^jinbc-gnffen ) feet* Patient verstaud vqU- 

?bm sa^te; er spraeh gelfeufig ohne trgeiid eiaen para- 

nK^TtivTiAfi TiWKtivV" ? ■ tyuSil tn iUrr* III I rrn trj r*litrv -fi nil *a*4 



Fig. 17. 

FaH (s. Fig. Ui). L. Herd* dk* .■Attgstruhlung: 

d©r F: 3 bi>$rc$md* bi^ at< d*& L Futamen. 

SekMion': Xn- 'd#r ; OtoflUeha derUntea Gipfthirrdiem nimrni 


Gyrus frontalis -i^c^jrtdns^■. die dixtob w*£- konsistenten Bind** 

gewebe atisgaktaudet* Hohle erseisi am<L E’men. anderen Substangverkist, 
in Gaatalt *iifoer ;gro&*& HdbleV Jindet m*n f dem \ r O£derert Am des Gyrus 
wpramargin^its und <ies ftnfi^ende* Teifes der en%$pre<&$nd, die voil-, 
atfendig vei^ithunj nd^n smd, Em to lotvrreres eingeCiUtrt m dringfc 

u»goffe.hv H orn tier hmeun so cjtaB-.os fastdieWand dm lateimlen Tnntaikels 
beriihrt. Emeu kleinen Su'b&tan^verhist innamt man ebenffetis am oberea 
Toil© des Gyrus frontalis i^eendeasv vordem. Genu siipeiius (desseJben), wahr. 
Bel einem Fmntals^hnitt dumb den vbrderen -Sumt'any.yerlust \ Fig. 17 )■ 
bernerkt »mn links einsn fceilfdrmigen, von &u0eci ix&Vh mnerx gerichteten 
s&mtliobe Atiaatrfelilu^gen der Pars opercular** der 
F, unci in den/iiitmittfelbar dM&left S«xhiut.ten die Ausstraidnngen der 
Pars inferior do* Gyrus praeoentmlis betriflts Obeli reicht er hva m die N&he 
dies ventmiaterai* :/! Randes dor inner on Kapsel, samt liehe Baikenaua* 
strahlungen vers«3.hjcinend, ventral w&rfcs endigt ev im Kaiir&is Anterior [vertk>*) 
fiss. SylVil# ins. Idnern an tlm Put amen, auflati an die Insula (er* 

wMinte Hbhfe steht distal vrferts La keiiier VerbfndvitJ^ snif 

Be cm Anlegen eines Frontalsehaittes durch das vordereDrittel dor 
dktalen Holxie I Fig. 16) sieM man, wieiinks der Ventral© Tei'1 der P< Uftd vie» 


da* Corpus genie ill. lateral© Bind in nui ihr Voldmen redu^iert. Id 

durcb die distale E .viremto t des (katidalort) Sub$ftanssyotlust es 


Gocgle 




Keiuttnu* der Apbutuetebre. 179 

/.*•' • . v l' i'i' 1 '' ’’*• \ ’ . *'■* % v j ■ *' Tj •?■ a > . ' * ->■•' “v : ' 

^ ’ " s ‘ \ ' * ' \ h ' > : V >■ • /■ • .• ,. 

19) ausgefiihrf^iabemerkf man link* einen Subatara- 
it des Mark de* I*ibul*i$ parietaii* inferior und re*p ciea die obere 


ft 

L/ v-ij 

:•; **•/*.; J 


Fig* 18. 

Fail 4 #<>*£w. Herd im 1. g. supramarglnalis (k. Fig, 17), 


Lippo des Gyrus aagul&ris bikiendon Teilea: der domilt* Rand des Gyrus 
terapo?&3fe Recundus bit teilweiae zerst ort. 


Fail Agoetmu Herd isxi fcappen des g. a/igularis, 


Digitized by CjO 


y •pffgin^kfrom 
RSlPf OF Ml 




180 Min g a s*?.i n i , Ikber den gogonwiMigen Stand 

Dieser Fall beweiKt; da B die Zeratonirig dor gg. -fompoiades 
tTansrersi und dos toveteveh Teiies der Gaps. ejctoma uttd dor Caps, 
interna (wenigsteus dfes v'orderexi Segmented) links die Wieder- 
hohmg der Wort© meld hinder!. 

Sehr beweteeml ht such foigender (nooh imveroffentlicbter) 
Fall dm :Dr.,. Gia^n^M. V.^ ; ' \ 

Fall Giannuii. patient An- 
alphabet, dor 4 Jahre bindureb. 
best antigen aphasischen 


©men 

ff^r SjyiAp^omenkoiopJex auiww* <i h. 

ef Versteid alio an ihn gen'chtblen 
Frozen. u v ar fabig, jedes Wort* ent • 
toeder genau, odor outer pampba- 
skulwn I’Vhlerp, zn ^iederhoten, 

• ' . ir •. .npQUt&n. aber gekng ee ifam rticht* 

trgvad Wort tfu 8agen; nberdfea 
’ litt er an $ehagk>8k 

Bek der Sekiion land man 

•;... links (Fig. *J0) dt*A Substaiizver- 

dereine betraf dk Pat^ ©p^r- 
l jH ^fp ctrfaris der F» und fast das gauze 
. - . Op^rcukipj rolandknm, dk Itegio 

• wk freilassefcd; die 

r : ‘ ‘ ivreite befcmt den Gyros medius 

insulae* ften mittkren 1VB das 
JIS^HUp Claustrwm. der Capsula *?^terni 
iijrncl interaa his £ur auikren. Grenge. 
dm der dritte zerstbrt<e 

ften Canons, den oeeipiF 

- and einen Tail des Lobulu^ 

>^©t.%arafao;dio F&bigkeifc 
. nit hi der spontanea Bpsache, 
sondern dor Wort^icdorholimg. 
erfeiltorj, shenso bardie Regie 

pr&elemWcnikms in.t&fetv 

Man Tergleiche nun diese 
v •; 3 joist besebriebenen Falte: 

> omer fast reinon 
J” . / roQtaiisciieii Aph&sie- (giite 

§»7 Sehrifl. innere Sprache erhal* 

fen,; dor spontaiien 

Spntche und dor Wiederholung 
dorWorte), den., von mir iniAn- 
fange der Arbeit angefiihrten; 
idnrwitrrdfe 

zerkurt und die Hirnrinde in 
•b to der taXt ,nwkpn©tederPatientkein 
^ art A«^pr60h«».. Das Gegen- 


uft.oirow>o^iiK«. iMmrn . • i % /. 

' oiiie ptfcitrr\*..fta!r; A&tid^runa .U«*r- ^ •^0 '-e A(jOgttlii, 

.Ik'igg.l’i—1 y) in weJchem taks 
dieOapsuift «*xt^rna.- ditO'lauKf riiifl iu«i dxeGyrt iemporaiw traasvem 

verfetz# -waryo f reeiito 


Gocgle 






181 




imserer Kezmtms der AjOiaisiefohrp. 

Regio praelenticularis war intakt und Patient eprach gut (epontan 
tmd wfed&rhplend die Worte), Im Falle Gian,m<iis {transkottikale 
mbtonsebe Apfeasie) endlieh, waren Fig, §Q die Regia praelenti 4 
cuiaris und djua Gyri temporales Iransrerss Ur.df» inlsdtt, die ganze 
2$egio opereukris war xeraiort, das insulare und aubinsulare Gebiot 
wftien quer durehtreont; detn PatiGntengeiaiig es aber aioht spoBtan, 
aaeh nur era Wort auszusprecheh, walrrettd ©r die Worte gut wieder- 
hoite. Hierauseutspringt dieFolgerung, l dab rljeAnnahme, daB die 
Integritat der OapsoJa externa jwie Kit fit v. Maytndorj meint) fur 
die Wort wiederhoiufig aotwendjg sei, nichi anfrecht. erhaltenwerdoa 
kann, denrt irj einem Falls, in welebcm eino line&te JXerstbruOjg 
der linken Fttbinsuliifen Gegettdbe&tand. war sowoh't die ganze 
apootan© Spmehe, wie die Wkdofholung der Wort© gut erfeakan 
(Httnidgm- idfa) , & daft die Tritegritat der Gyri temporal!* t ranaversi 
(Heschl) zuf Wiederholung des ausgesprcxjheaen Worte© nicht 
cotwendig ist, wie es Qmnael imd Betti meinen, denn in den er- 
waiuiten Fallen, in welehen dies© Wimlungen zerstort waren, war; 


Ftp. M, 

Fall CosMrti'in*. i^op^= P&r> opore> g. ff\ tertu 
wtildie links, vf-fc $j; vdibt^ruiig degen erieit 1st 


die Wiederholung trotzdoru robglich, 3. daB man, faUs die Wieder¬ 
holung der Worte moglich ist, die Regio supra - premiers! kukris 
ein . iatakt fmtkt, Ee bjteibt fplgkeh lelder npeh eiu Bill sol, welches 
die fiir die Wiederholung der Worte beat iiuinfe Balm sei, 

DaB jedoch der SchluB, »ti dem ieh gelangt bin, einige Aus- 
flaknien erleiden barm, bowetot der (higher noeh unveroffonfliehte) 
Fall Yon Ooataniini, der in meinem Laboratorinm stndiert wurde. 









182 M i n g a zti il l * Ueber den gegenwurtigen Stand 

; 

Fail Coiiattftm (unverof feniiiehi). Pananelh, 65 J&bre &£k 
Anarartese uabekaniit. Mftn nur, da£ Patient se»it 1^06 6?«rimgea 
dementiaien Ckarakters aufweiet* die sich vor alien* >o sfer TIfct&liigkei$ f 
die BefehJe zu veratehen beku&den. Die objektive Untersuchung ergibf :. 
Leicbte Xnsuffmem: de* writer* ri VIZ EVwas beschraokte und langsatna 
Bewgimgen der Oiiedar, melnvreohts; pazetiseb.spastisoher Gang; tiefe 
IWlexe JfeWiaH. Pupillen > Dichtreaktion vorhanden. Keine Sehluckr 
fttomugen, .Heiniaij<>|>^ia bomonima lateralis dext. Beim spontanea 


Fig .22. 

Fall Goftatiiinii gtt. « gg. tempor. transv. 
fast vollstSvdig versehwvmdea. 


Neigung *£ur Ed>oJftUe and tfur Perseveration: fast volktandtge Keden: 
BeschrankuT^ de» Wortaoharzefe m\t ParaphasierL Ausgepr&gte Wort* 
•t&uhft&it. Kom<kte Wit^lerhoiung -aeibst schwerer und ]anger Worte. 
Kwz* a&mtlkthe Haupteharaktere der transkortikafen seasomehen 
Aphaeie, j.'\* . ' : ■"/ ;; \ % . 

Sektion Link* Grobbirnliemisphare: Einveiv\h\jng (^H€iren Datunia) im 

nuttleren Teiie ties Lnbiis frontalk; betfalien to geirade der miitiere Teil der 
Fj—F 4 —P, (d&BVc<rde<ra Emie des Striatum riplfregriffep (FfgV 81). T, iat 
sehr redujfJtert. 3>er und vordere Tvdi tie# T t rixsorbiert (Fig. 22k 

Der Gyru$ oooipf falls EC« < der i*obulu^ <fer Zobutue ling, der ndtilere 

Toil und mi Ted de* T, rind scum groSct* Ted t^otbkH (Kg.-23^24). Die 
Gyri temporales triMBfcverri sklerorieffc 

jmdwanrgePftsernder entsprecJiondeaMark^cksensindorhttKen (Fig. 22—23). 

3>& such hifer der Patient die Worte wiockrholenkornite und 
dieGyri tempprales tramvem -nieht mohr in der Lag# waxen, die 
akueiisehen Eindjriidce m fcken, soM es?klar.''da8 die Wfadetholung 
der Worie ntcht. “^r^rwirklidHt- wird. Mim . kornite 

zum 


jedoch hier bdmerken, d&ii die^ Rogio prafeieniiciilariB mi 





l 


r 

n .. »l*r 




v^s r J& v ^^-' ^*T' • 

H^xvr '*i». 


)\ 



d,:»:,.-oi,GO gle 



unserex KenotoniatJ« Aphaaidchr*:-. I S3 

gmfian Teil verletzt war, lin'd konnte Patient die Worte 

wiederhoJen, Dies wurde jtowejb&nV cted zuweiteu auch dutch die 
Kegio supra — 1st, was im Eiakknge 

etcht JGQiit deal, was welter oben herveigehoben wurde, namlich, dad 
die fiponfcahe Spraehe sicb in ranigen Fallen dureb das reehte Gebiet 
entiaden kann. 


Fig. 23. 

Fell CoBtarUini (s. Figg. 21- 


Naob alledein, was bisber dargelegt wurde.. miifile ©s sohoinen 
dafi das Vorhandenwiu einer mehr odor wenigor a msohriebenen 
ram Verst-Sndnia des Sinnes der Wort© bestuanite Hemispiihren- 
zone nicbt in Zweifel gessogen werden konnte. Dud dock iat. diem 
nicht so. Momkow hat gerade bebauptet, dab eine Lokaiisrerung 
derakastischen Eindrucke (verboakaKtisefae Zone) nor aiigemraunen 
werden kann, wenn man annimmt. daii das erst e Register der 
akustisehen Wellen — jener namlich, welch© fur fcurze Zeit bleiben 
— in einer beschrankten Zone der Spracbregioi* atattfinde. Letzfcero 
w&i» fur die Orientierungshewogangen des Kopfes and der Augon 
und zu der unmittelbaren Enlfalfcung der Frkparationsarbeit fiir 
eine weit.ero zent.rale IVifferenzienmg der akustischeti Eindracke 

lessen 


notig, Die weiberb Adsarheitung de» Bfozessesv idfolged* 
dag urspriingliche akwstiache Bikl (die fortgegetzte Registriervmg) 
sich in ein Wortzeiohen umbildet. als ’Mittal dee 'YerstS-ndniases 
(Symbol oder sekyndareldeniifikatIon)dander hingegea (Momkou) 
nicht in der OehorsHpbiire. gondern in derganzen Gro&lwrnrindc sl at t. 









Googl 


le 


Original frc-rr 


184 Mingiiiaini, Ueber dongegonwartigeu Stand 

Der Begriff eines Gegenstaudes, die Revocation dos vorfe- 
akugtischeiv Symbols lmd des entsprochenden verbomoto- 
•rischen Bildes stellon io der Tat etaen fast einzigen ProzoS 
dar. Aus der GroBhimrinde kommende Neuronenketten, die zur 
Yereimgung und Association der aus der verboakustiecben Zone 
konitnenden Ausstrahlungeii {jestiiiinit iind- nehnien hieran tail; 




i,' 




mSmtg 

w 

Fig. 34. 

Fali C'DAtantini (s. Figp. 21—23). 

was die 8ek.nnd.ftrt*' Identifikat-Jon dea verboak«sti*'chcm Symbols 
and. iolglicb don Sitiri des Wortes 7.11 bogteifen ermdgfeht. In deni 
Falk* nun 4 in welnhotn cine Hummus von Nebrpiayi durcb eineun 
groben Herd zcnndrt wird, is.t , der Meinung Momiymnach. die 
Folge ein veriiftltnisnuiliig bestandiger Syniptoraenkoninlex: Diese 
Tatsacheft werden auUefdera slots von ciner Femsivnmg der 
Neurone (Biawdiisi?), wc*lcijeixidirekt naif, dent Herde assoziiert and, 
begleitet. • • gerade Weil diese z.um Ted durofe den KnVnkheit«f>rozeO, 
zum Teil durcb die individueUeu Mousenie bediogt ist. bietet sde 
vera rider Uo he Komponeirte. Aue der Vereinigung dieser boiden 
Beetandteiiewird sich das besowdeiie Kmnkheitf&ild nach der 
sensoriscben Aphaeie biJden. Desfaalb diirfen die Symptom© der 
senuorischen Apbasie Oidht mil den Grenzen der direktdureh den 
Herd verletzton GrnBbimiindo idem ifiy.iert werdeu. In anderen 
Worten, was, nach Monakow, Inn der senaoriscben Aphasie baupt- 
sachlich verier zt ist, si rid die im Bprachgebiele loka Bsjbrtsn Nervbag- 
apparate die daxii diejien, das VetKt&fidms der VVorte zu ertnog- 



unserer Kenntnia der Aphasielehre. 


185 


lichen, n&mlich die Assoziationsfasem. Hier verschwinden nicht 
die „mnestischen Bilder der Wortlaute“, sondem nur die Fahigkeit, 
sie zu entfemen oder sie in der ersten Rindenzone, in welche die 
zentrale akustische Ausstrahlung dringt, zur Entfaltung zu bringen. 
DaB schon ein einseitiger (linker) Herd dieser ,,Fahigkeit der Ent- 
fesselung“ schwer schaden muB, ist leicht zu begreifen, wenn man 
bedenkt, daB der entsprechende Apparat auf beiden Seiten gelegen 
ist (die Gehorssphare steht mit den primaren akustischen Zentren 
beider Seiten in Verbindung) obwohl er beiderseits nicht in gleicher 
Weise von den beiden Hemisphfiren beniitzt wird. Wie man sieht, 
neigt diese Theorie dahin, der verboakustisohen Zone jede 
psychische Bedeutung zu entziehen, indem sie dieselbe auf das 
Niveau eines einfachen Vereinigungsgebietes herabsetzt. Mir 
scheint es nun, daB dies von einem allgemeinen Standpunkte aus 
angenommen werden kann; insofern als die Bedeutung des Sinnes 
des Wortes um so leichter und schneller begriffen wird, je aus- 
gedehnter die Beteiligung der hierzu notigen Elemente (Auf- 
merksamkeit, Nachdenken, Reproduktion der Erinnerungen usw.) 
ist. Hier muB noch eines anderen Elemente Rechnung getragen 
werden, welches bei uns ganz besonders Bianchi hervorgehoben 
hat, namlich der vor der Himlasion, der Urheberin der Aphasie, 
vorhandenen Kultur des Patienten. Denn je ausgedehnter die Asso- 
ziationen zwischen einem Worte und den anderen Bildern (besonders 
der sensorischen) sind, um so schwerer werden die Folgen sein, 
beziiglich des Verstandnisses, nicht der Worte, sondem des Sinnes. 
Ob sich nun der psychische Punkt des Wiedererkennens, wie die 
meisten annehmen, in der Wernicke&chen Zone, d. h. an der Be- 
riihrungssteUe zwischen den Neuronen, den Tragem der verbo- 
akustischen Eindriicke und den sogenannten Wahrnehmungszonen, 
oder an der Stelle, an welcher dieEndneurone oder interassoziativen 
Neurone sich in derRinde kreuzen, verwirklicht, istmeinesErachtens 
eine etwas transzendentale Frage. Klinisch wenigstens verursachen 
die Lobi frontalis und parietalis, wie auch der Hinterhauptlappen 
und der untere Teil des Schlafenlappens, falls sie verletzt sind, 
sicher keine wahmehmbare Veranderung in der Erkennung des 
Sinnes der Worte. 

Bei Beriihrung der Fragen, die sich auf den Sitz der sensorischen 
Aphasie beziehen, habe ich stets von Fallen gesprochen, in denen die 
Wemickesche Zone mehr oder weniger auf einer (der linken) Seite 
zerstort war. In der letzten Zeit aber hat man die Aufmerksamkeit 
auf die Folgen gerichtet, welche der Zerstorung beider (der rechten 
und der linken) Wernickeschen Zonen entspringen. Bastian (7) hat zu 
diesem Zwecke vier Krankengeschichten von Patienten zusammen- 
gestellt [die Falle Kahler-Pick, Mills, Wernicke und Pick (54)], 
die bei der Sektion eine Zerstorung beider Zonen (der rechten 
und der linken) der Schlafenlappen, die der Wernickeschen Zone 
entsprechen, aufwiesen. Bei alien diesen Kranken war die Wort- 
taubheit so vollstandig als moglich, zum Unterschiede von dem, 
was in der durch Verletzung der linken Wernickeschen Zone ver- 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



186 


Mingazzini, Ueber den gegenw&rtigen Stand 


ursachten sensorischen Aphasie der Fall ist, in 'welcher derPatient, 
wie ich verschiedentlich wahrgenommen habe, stets die F&higkeit 
behalt, den Sinn einer ziemlichen Anzahl von Worten zu verstehen. 
Von grofier Wichtigkeit ist der von Pick (54) beschriebene Fall, in 
welchem Patient nicht in der Lage war, die Bedeutung einiger Worte 
zu verstehen, und dennoch war er f&hig, zu reden und in voll- 
kommener Weise zu schreiben. Bei der Sektion fand man beide 
Schlafenlappen stark atrophiseh und von gelber Farbe (links, 
die hintere H&lfte des Gyrus temporalis medius und die Insula). 
Die beiden Erweichungen resp. Atrophien waxen nun zu ver- 
schiedenen Zeiten entstanden. Nach der ersten, die sich im linken 
Schlafenlappen entwickelt hatte, hatte man nicht das geringste 
Zeichen einer akustischen Aphasie wahrgenommen; nur als 6 Jahre 
sp&ter auch der rechte Schlafenlappen in Erweichung verfiel, ent- 
stand eine vollstandige sensorische Aphasie, obwohl die vollst&ndige 
F&higkeit zu reden und laut zu lesen fortbestand. Wenn nun nacn 
der Zerstorung der Wernickeschen Zone keine wahmehmbaren 
Zeichen einer Worttaubheit aufgetreten sind, und wenn sich 
letztere vollst&ndig im zweiten Zeitabschnitt, gleich nach der Zer¬ 
storung des rechten Schlafenlappens, entwickelt hat, so ist die einzige 
und wahrscheinlichste Erkl&rung die, daft auch in den rechten 
Schl&fenwindungen die verbo-akustischen Bilder registriert sind 
und daB die rechte verboakustische Zone mittels der schrftg durch 
das Corpus callosum ziehenden Kommissurfasem auf die dritte 
Frontalwindung links einwirkt. 

Auch ich habe Gelegenheit gehabt, intra vitam (mit Herm 
Kollegen Dr. Giannuli) drei von vollst&ndiger sensorischer Aphasie 
befallene Patienten zu studieren und spater die Untersuchung der 
entsprechenden Gehime anzustellen (37). Die Ergebnisse unserer 
Forschungen sind eine unbestreitbare Bestatigung der von Bastion 
vertretenen Theorie. Dem Studium derselben entnimmt man 
nicht nur, daB die bilaterale Verletzung des verboakustischen 
Zentrums eine vollstandige sensorische Aphasie verursacht, sondern 
daB sie auch den Wortschatz sehr beschriinkt. Bei den Versuchen, 
zu sprechen, geht jede Anstrengung des Patienten (sowohl in der 
spontanen Sprache, wie bei derWiederholung) in eine Jargonaphasie, 
Oder, besser gesagt, in dasAusstoBen zahlreicher einsilbiger, bisweilen 
auch einiger zwei- oder dreisilbiger Worte paraphasischen Charakters 
auf, so unterscheidet er sich auch vom vollstandig motorischen 
Aphasiker, dem nur zwei oder drei (stereotypische) ein- oder zwei- 
silbige Worter zur Verfiigung stehen. Daher scheint der SchluB zu- 
l&ssig, daB, wahrend die linke verboakustische Zone mit der GroB- 
himrinde zahlreiche und komplizierte Verbindungen eingeht, so daB 
die Bedeutung der komplexen Begriffe verstanden werden kann, 
mittels der Tatigkeit der Zone selbist, ist das rechte verboakusti¬ 
sche Zentrum zu mehr elementarer Funktion bestimmt, wie z. B. 
dem Erkennen des Sinnes des Namens der konkreten GegenstAnde 
und der elementaren Begriffe. DaB iibrigens die Wernickesche Zone 
rechts mit der linken zusammenarbeitet und sogar die Funktionen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



unserer Kenntnis der Aphasielehre. 


187. 


der letzteren iibemehmen kann, wird dadurch bewiesen, daB Ge- 
schwiilste, die die gauze Regio temporalis links zerstort haben,. 
J Bramwell, Westphal (69), Monakow, Reich u. A.], zu keiner sensori- 
schen apbasischen Storung AnlaB gegeben haben. Ich selbst babe 
einen Fall von sklerotischer Himatrophie untersucht, welche den 
linken Schlaf en-undHinterhauptlappen befallen hatte; und dennocb 
hatte Patient stets die Bedeutung der Worte und der Satze ver- 
standen, er konnte lesen und die Schrift verstehen. Dies ist ein 
anderes wichtiges Argument, welches die Teilnahme beider GroB- 
hirnhemispharen an der Sprachfunktion beweist. 

Um die andere Storung zu erklaren, die man infolge der 
bilateralen Zerstorung der Wernickeschen Zone bemerkt, namlich 
die Beduktion der Wortsprache [ Beduschi (31)] bis zum AusstoBen 
ein- oder zweisilbiger Worte, ist es notwendig, zu erwagen, daB die 
orweiterte Brocasche Zone links zur aufeinanderfolgenden Konghi- 
tination der akustischen Silbenengramme (die ibr aus den beiden 
■entsprechenden, rechten und linken, Zonen zuflieBen) in die ent- 
sprechenden verbo(silben)motorischen Bilder, bestimmt ist. Falls 
die Ueberleitung der verbo-akustischen Beizungen wegen der Ver- 
letzung der bloBen linken verbo-motorischen Begion aufgehoben, 
oder wenigstens erschwert ist, ffthrt die Brocasche Zone immerhin 
fort, die Beize von der rechten verboakustischen Zone zu 
cmpfangen, die jedoch von geringer Wirksamkeit sein werden, im. 
Vergleich zu jenen, die ibr von der links gelegenen verboakustischen 
Hauptgegend zugefiihrt wurden. In dieser Lage gplingt es dem 
Brocaschen Gebiete nicht, die Bilder der motoriscben Wortkom- 
ponente zu koordinieren, und das Besultat wird sein, daB sie Worte 
abgibt, die fast ganz voll von paraphasischen Fehlern sind. Werden 
dann noch die von dem anderen rechten, verboakustischem Zentrum 
kommenden Beize aufgehoben, so bleibt sie von alien den Beizen 
(der akustischen Bilder), auf welche sie zu antworten gewohnt war, 
abgesperrt, der Patient aber wird in denVersuchenzu sprechen, eine 
Menge einsilbiger Worte oder auch Agglutinationen zweier ein- 
silbiger Worte, wie ein Kind, anatoBen. AJles dies erklart sich, wenn ; 
man annimmt, daB die kindliche Brocasche Zone schon in an- 
geborener Weise praformierte kinetische Engramme der Silben 
der Worte besitzt und daB es nur der Erziehung der Sprache 
gelingt, die Silbenengramme mit dem operkularen Teile des Gyrus 
praecentralis zu vereinigen oder, in anderen Worten gesagt, die 
inneren (im mnestischen Assoziationsapparat enthaltenen) Buch- 
staben- und Silbenbilder mit den Ausfiihrungsapparaten (Oper¬ 
culum rolandicum), welche die zur Aussprache notigen Gaumen-, 
Lippen-undZungenbewegungen hervorbringen sollen, zu assoziieren. 
Um aber lange Worte auszusprechen und vor allem, um Satze zu 
bilden, bedarf die Brocasche Zone einer extrakinetischenAssoziation, 
insofem als die zur Zusammenstellung von Worten und Satzen not- 
wendige Vorstellung in der Successio temporis, nicht auf den 
optisch-raumlichen, sondem gewohnlich auf den akustischen Bich- 
tungen beruht. So erklart es sich, wie bei den Storungen der den 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



188 


Mingazzini, TJeber den gegenwfirtigen Stand 


verboakustischen Engrammen entsprungenen Reize (sensorische 
Aphaeie) die Brocasche Zone den (melokinetischen) Buchstaben- 
und Silbenschatz bewahrt, wahrend der Wortschatz fehlerhaft 
wird (Paraphasien); daher kommt es, daB, wenn die verboakusti- 
schen Reize beiderseits fehlen, nur eine (motorische) Entladung von 
Silben auftritt. So versteht man auch, wie eine partielle Ver- 
letzung der kinetischen Engramme des Wortes (d. h. der Brocoschen 
Zone) nicht immer den Mutismus verursacht, wohl aber eine Zer- 
stiickelung der Buchstaben und Silben, eine Verlangsamung der 
Wortansprache, den Dysarthrien ahnliche, aber nicht identische 
Storungen (Pseudodysarthrien, Liepmann). 

Bisweilen jedoch kann man nicht bloB eine fast vollstandig 
sensorische Aphasie, sondern das Bild einer totalen Aphasie haben, 
wenn, wie aus den Beobachtungen Liepmanns und Beduschis (3) 
hervorgeht, links die Wernicke sche Zone und der ganze Lobulus 
parietalis inferior — die tiefe Marksubstanz einbegriffen — zer- 
stort wurden. Die Patienten, bei denen diese Art von Verletzungen 
wahrgenommen wurden, verhielten sich so, als waren sie von einer 
totalen Aphasie befallen; sie verstanden die Bedeutung einiger 
Eragen, ihr Wortschatz war fast auf das Minimum herabgesetzt, 
weil er aus einer Reihe zwei- bis dreisilbiger Worte bestand, so 
daB sie sich dem Bilde der totalen Aphasie naherten. Um dieses 
Syndrom zu erklaren, geniigt es, daran zu erinnem, daB durch die 
Verletzung des jetzt erwahnten (temporoparietalen) Gebietes nicht 
die verboakustischen Reize leitenden Fasem, sondern die Asso- 
ziationsfasern ladiert sind, welche die optischen Vorstellungen (und 
vielleicht auch die Taktil- und Sehvorstellungen) der Gegenstande 
mit dem Mark, dem hinteren Teile des (linken) Lobulus parietalis 
inferior verbinden, wo, hochstwahrscheinlich, sich die Sehfasem, die 
auch dem rechten Hinterhauptlappen entstammen, nachdem sie den 
Balken durchzogen haben, versammeln. In diesem Falle wird der 
mnestische (optisohe) Vorstellungsschatz des Patienten die EinbuBe 
eines bedeutenden Teiles von Bildern erfahren. Die nicht mehr 
angeregten verboakustischen Bilder werden ihrerseits fast alle 
untatig und fclglich auch die Foci der linken Brocoschen Zone, 
wahrend die sparlichen verboakustischen Reize (aus der rechten 
Wemickeachen Zone) ncr die Silbenbilder der intakten rechten 
Brocoschen Zone durch den Balken erwecken konnen. 

Wahrend also der groBte Teil der Befunde zur Annahme fiihrt, 
daB umschriebene Gebiete, obwohl ohne scharfe Grenzen, bestehen, 
die, wenn Bie zerstort sind, motorische oder akustische Aphasie 
hervorrufen, stehen die Falle von Wortblindheit, gefolgt von 
Obduktionen, scblecht im Einklang mit der Annahme eines fokalen 
Punktes, wo zum Verstandnis der Schrift und des Schreibens be- 
stimmte Fasem zusammenlaufen. Als diese Zone wurde in der Tat 
von einigen ( Dejerine) der Gyrus angularis betrachtet, und von an- 
deren (Lewandowski) wurde sie in den hinteren Teil derselben Win- 
dung verlegt. Die Untersuchung der lvickenlc sen Serienschnitte der 
Gehime der von Wortblindheit befallenen Patienten beweist aber, 
daB in diesen Fallen nicht bloB der Fascic. longit-inferior unter- 


Digitized by 


Goi igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



unserer Kountpie dor Aphastelelirc. 189 

brochon Oder degeneriort war, sondern daB such die optischen Aus- 
strahlungen der Fascic> longittid sup, und die oberflScblipJi«n Mark- 
iasern des Gyrus angu laris mehr oder wenigor in der Verfetzung Pin- 
begriffen waxen. d. h, untereinander auflerst. eng as60iderte ; Biindel 
[der Hinterhaupilappeo. der Sehlafetdappen (Area- verlwaeusticfl) 
und das Centrum der Augenbewegungen (Gyrus angukris)]. l>as 
Verstaodnis do? Simses der grapbisehen Symbols*ist also wahmsbein- 
lich Ton der Beteiliguug etnas Erregungskomplexes abivangig, von. 
Reizen, dieihr Subeirat in einer ausgedelmfen Hiraoberflaehehaben, 
welehe sieh voiH Bobus ccoipitalis zam Lobus temporalis pfid zum 
Gj-rue praecontraKs erstrockt. Die Storyng entspringt Imuptstick!ieh 
dwni der Verarbeitung der Sobeindrueke iru scg, stereopsychiiieiien 
€febfete (Rinde oder LeiBungsbahnen des Lobns temporalis uiid des 
Ldbus occipitalis) gesetztep .Hiadermsse, insofern als sie den 
anderen afeustiJio*motoriscJieii Komponeiiters der Wort e daa Zu- 
sammenarbeR^i^nit den Sehkomp^nentep nicht gestaft et, t M ' 

Be?.iiglit!)i der Schriftstivniogeij mud man anerkennen, dab das- 
Bestehen dor grapbiseb-mokorischeti Riider, wie rfoiruber an- 
genommen warden, betttzntage mebr als je bek&rapft wird. Bas 
Bestehen der sekundaren, der Wortbbndheit . dureB dr-n■■Veriest 
des Sehbxldes der Buchstaben und dor Worte odor der Apbetme 
infolge des \ 7 eriustes der motAtisehen Bprachbilder entsprungenen 
Agrapbie wird bingegen coo fast aiien Autoren angenontmen. 

Die mqdemeo Keanintssn tiher den Meciianismus der mot.orisciion 
Apraxie gestatten sogar die Agrapbie ala eine Form von Apraxie 
(graphWbe Apraxie I. die in der Gruppe der Apraxien rnehr 
odor woniger deutlich ist, zu botmehten. Liepniann( 31) bebauptet 



Pig. 2G. 

Fall Bravitfo. T 1 T* supmmtirg. und angul. 
teiNfcfee reabsorbiert. 


aufierdam, dad, obwohl der ranestisch-assoziative Apparat der 
Schrift verechieden ist- von dam der Ausfuhrung der Sefarift, 
dieselben audit get remit seiii diirfen. und zwar vom topographiscken 
Standpmdste aus. Hiemacli ist es wahrscheinlich, dad die (mnemo- 


Original from 

iTY OF MICHIGAN 


Go gle 




190 


Mi n g ft z x i h i, t5|ber deo gegeawsrtigMi Stand 


ItinetisoheH) Engramme tfer iBinclbowijgungeti nicht nut vor uad 
hint or dom Gyrus centr&ite -anterior, sondernauek innerhalb dee- 
selben gelegen «ind, so d&B das mototisohe Zeatrum der Hand nicht 
bloB graphiisch - mnost isch© Element e ent,halt, die Idee »as ▼«- 
schisdeaen Teilea (dem verhomoforischem, akustischem and Sell- 
gebiet) etttkorwnen, sondern mch. Innervationselemente,Jedenfalls 
konnen auch die Heuroner, deren Verietzung die Wortbimdheit und 
die Agraphie hervomifen konnen, bald rechts, bald links liegen. 
Dies beweiet ein Fail Brave t to* ( 9). 

Pali HraveiUt. Hot eioemReehtshtadigen trates twvch eicafii XkU» 
links Henaipajese und SprMchztdnmgen ftuf. Patient verst and gttt slltrFragen 
und antwortete mit pftrftphsw«<;bej> Fehleru, verst and aher nicht, was « 
W, ebenso gelang es rhm nut (<Mie,h beta. Abschreibea) wt-rage unleaeriickir 


Zersf-cnmg (bis ztir Resorption) der zwei binteren Drif-ielder Gyri ten»puraies 
supretaus und (Fig. 2:; >t. 2(5), eines Totles der P t , <3fa g. supramarg., 

dm Gyrus -angulftn* mat dor Gyri temporalc. 1 ? traiwvetai. 


Fig, . 

Fall Bravetta. s - links, D «= rftvjitaj; gft..— g. nngulftris 
tecbts volJstana'tg reabsorb wi• 

Hier fcritfc deutlich bervor, d&0 die rechte Himregion (Gyros 
nrigularis). ftereii Eerstbrvjng die Cceedaa.vnrfodrutn und die Agtaphie 
hervorgerufen hatie, reeht & lag, tvAhrend die Region der sensorischen 
Aphaeie -{T Gyros terap. trank.) fast ausschliefiUch suf det linken 
Sette funktionieren muLJte, da- tfer Patient kesrte aph&sisqb seneo- 
riscben Stdnmgen atifwieft. Aucfc Monakote und ieh (Si^habenFafle 
von Patietiton verbffentKcht, die, trot-z einer zierolich ausgedebnten 
Eerstbmng des Xobos temporalis und occipitalis links, korrefcfc 
w hreiben und aucb den Sinn dor Wort# verstehen koanten, Allee 
dies beweisfc noeh einmal, dall die Zonen, in deiten web die zur Atts- 
arbcitimg gSmtlichcr (perzeptiven und ejektfren) Pomen. der 
Spraeha bestiiwmten Keurnnen bonzc-ntrieren, in ein onddewelben 
Person b&ld'Tebhts tind bald links Ifeasea konnett. • 


Google 


Bl frar 




unserer Kenntiiis der Aphasiek-hrt*. 191 

Es ist nicht inuner moglich, die gnostischen Funktionen von 
den phasischen zu trennen, wie bereits weiter oben erwahnt wurde. 
Auf diese Weise wird es klar, warum, falls einige sensorische, die 
Wortbilder anregende Reize gestort werden, hieraus, wenigstens 
klinisch, einige besondere klinische Bilder entstehen. Ich deute hier 
auf die mit demNamen taktile undoptische Aphasiegekennzeichnet e 
Form hin. Einige leugnen das Symptom ,,taktile Aphasie" nicht, 
daes bewiesen ist, dab bisweilen bei Intaktsein des Tastsinnes der 
Hand es einigen Patienten nicht gelingt, den Namen auf dem Wege 
des Gefiihls zu finden; aber sie glauben, daB diese Schwierigkeit 
von einer Storung der zentripetalen Gefiihlskomponente und von 
ihrer zentralen Verarbeitung abhangen konne: daher. die Un¬ 
moglichkeit, das entsprechende Wortbild zu finden. 

Auf die gleichen Schwierigkeit en stoJit man beziiglich der 
Frage vom Bestehen einer optischen Aphasie. In s&mtlichen Fallen, 
in denen das Symptom der optischen Aphasie bestand, wurden 
auch andere optische zentrale Storungen wahrgenommen, wie z. B. 
Hemianopsie, Hemiaehromatopsie, Alexie, Storung der Orientierung 
im Raume resp. Sehagnosie und Schwache des zentralen Visus. 
Deshalb ist es auch hier schwer zu entscheiden, ob die Ursache 
der Schwierigkeit, die Objekte mit ihrem Wertsvmbole zu kenn- 
zeichen, von einer mangelhaften Erkennung, Oder von einer 
Lasion der zwischen den Sehkomponenten des Gegenstandes und 
der zentralen Wortinnervation liegenden Assoziationsfasern (trotz 
Erhaltenseins der Erkennung) abhangt. In der Tat ist es 
natiirlich, da 13 das Hervorrufen des Wortes, das einen Gegen- 
stand bezeichnet, nicht moglich sein wird, wenn entweder die 
Fahigkeit, die Attribute des Gegenstandes zu erkennen, ver- 
schwunden oder das hervorzurufende Wortbild verletzt ist usw\ 
Diese Storungen treten in die Gebiete der Agnosien und der 
Asymbolien oder in.jenes der eigentlichen Aphasien ein; in ihnen 
ist die Unmoglichkeit, den Namen des gesehenen Gegenstandes 
hervorzurufen, eine sekundare Erscheinung. Die optische Aphasie 
ware also nicht zu einer autonomen Existenz berechtigt, wenn es 
nicht Falle gabe, in denen die Unmoglichkeit, den Namen dessen, 
was man sieht, hervorzurufen, weder von agnostischen Storungen, 
noch von aphasischen Unordnungen herkommt: namlich Falle, in 
denen sowohl die primare und sekundare optische Identifizierung, 
wie auch die Fahigkeit, das gesprochene Wort zu verstehen und 
es auszusprechen, keine wahmehmbaren Lasionen zeigen. Die 
echte, so betrachtete optische Aphasie ist aber eine seltene Tatsache. 
In den zahlreichen veroffentlichten Fallen bestanden stets Kompli- 
kationen mit anderen Storungen. Diese Komplikationen sind jedoch 
keine notwendigen Folgen und noch weniger eine direkte Ursache 
der Storung, sondern Erscheinungen, die auf die N&he der zu ver- 
schiedenen iSjnktionen bestimmten Himrindezonen, die gleichzeitig 
durch denselben Herd verletzt sind, zu beziehen sind. In der 
Tat gibt es Falle, in denen jedes Zeichen einer optischen Asymbolie 
fehlte [Bruns (10), Pick und Zaufatt (55), Brandenburg (11)]; femer 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Xeurologie. Bd. XXXVII. Heft 3. 13 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 






190 _ M i n g a a z i n i t U&bet den g£j2en%r&ffcjgen Stemd 

kmetifiohen) Engramroe der Handhewegungeii nijcbt nut vor und 
hintgr dem Gyrus centr&Jis aaitsKpr, fioftdem auch Stmerbalb des- 
Helbon gelegen «ind, so dafi da« tttotnru&beJgenfmm der Hand nichi 
bloS grapbigcfa - mnestieebe Element a entimlt, dm hint aue ver- 
achmdmm Teilen {ddm verl^omotorischem, akuslischem und Seh~ 
gablet} ankominen, ?ondern aup^Innervationsekmente. Jodenfalls 
knnmm auch die Neurone, deren Verletzung die Wortblindheit und 
die Agraphia hervorrufeu koonert. haM reehts, bald links liegen. 
Hies beweist eiit Fall Jfameifas (9). 

FaD Bitweua ' 


Bei «uem, jFiecIitsfuiridigeii fr&ten a$*e.b ewtim Iktus 
link© Hen^parese mud Sprtvohst orungen $uf. Pat ient verst arui gut all© Fragen 
und antwortet© •xnlt 'Fehlem. verstand a\m nicht* w&s er 

las, ebenso gelang es ikm (a\ich beim Ab^chreiben) v»enige Uideserliche 
Zeiekeri oder eimge Wort # volter paragraphi&cber Febler ru <schr©ibecL 

Eme apraktfeche Storur^ Itmtand niehx. Bei der 3ektion fend m*a recht* 
Zerstqrung (bis zxxr IteoTpUoa) der zvcei hintercnXhrit 1^1 der Gy ri temporales 
suprepm* und medium (Fig; $&),^ eines Teife der P ? > des g. supraraarg., 

de» Gyrus angui&riirs imd<ter Gyri l:ehij^rAl*es ; 'trM^ ve ^i^ 


. “ • • .■ 

Fail ■ Rratv-im. 8 -- links, D « feckW; ku - g . angularis 
sreehts veliete'iidik rekbaOrbawt. 


Hior tritfc deutlicb henror, dafi die reehte Hiraregion (Gyms 
itngulaiis), deten Zerstoning die Gcbcitas verfcoruia uftddie Ag*»pbie 
hervorgemfen hatte, reeihfs lag, vdhrend die Region der serieorisehen 
Aphaeie (T Gyrus temp, trans.) fast ausschHefilicfc anf deaf linkett 
Seite ftmktionieren ntmfite, da der Patient keine aphaslsc-h senso* 
riecfaen Storungenauf wies. Aueh Momhno und fob Falle 

von Patienten verbffeatiiehfc, die, trot? einer zietolfoh ausgedebntea 
Zerstbrung deft Jkbbus temporalis und oc«Spit^i&!X3^^ korbi»fc£' 
schreiben and aueh den Sinn dec Worte veretehenkounten, Alles 
dies beweietnocfo emmal, dafi die Zonetn in denen sieb die zur Aos- 
arbeitung «&mt.!icfaer (porzeptiven nnd ejeittivetv) Fbnaen der 
Sprache best irnmten Neuronen konzentriereh, in ein und deraelben 
Perst»n bald reoht$ nnd bald links liegen konnen. 


unserer Kenntnis der Aphasielelire. 191 

Es ist nicht immer moglich, die gnostischen Funktionen von 
den phasischen zu trennen, wie bereits weiter oben erwahnt wurde. 
Auf diese Weise wird es klar, warum, falls einige eensorische, die 
Wortbilder anregende Reize gestort werden, hieraus, wenigstens 
klinisch, einige besondere klinische Bilder entstehen. Ich deute hier 
auf die mit demNamen taktile undoptische Aphasiegekennzeichnet e 
Form hin. Einige leugnen das Symptom ,.taktile Aphasie“ nicht, 
da es bewiesen ist, daB bisweilen bei Intaktsein des Tastsinnes der 
Hand es einigen Patienten nicht gelingt, den Namen auf dem Wege 
des Gefiihls zu finden; aber sie glauben, daB diese Schwierigkeit 
von einer Storung der zentripetalen Gefiihlskomponente und von 
ihrer zentralen Verarbeitung abhangen konne: daher. die Un¬ 
moglichkeit, das entsprechende Wortbild zu finden. 

Auf die gleichen Schwierigkeiten stoBt man beziiglich der 
Frage vom Bestehen einer optischen Aphasie. In s&mtlichen Fallen, 
in denen das Symptom der optischen Aphasie bestand, wurden 
auch andere optische zentrale Storungen wahrgenommen, wie z. B. 
Hemianopsie, Hemiachromatopsie, Alexie, Storung der Orientierung 
im Raume resp. Sehagnosie und Schw&che des zentralen Visus. 
Deshalb ist es auch hier schwer zu entscheiden, ob die Ursache 
der Schwierigkeit, die Objekte mit ihrem Wertsymbole zu kenn- 
zeichen, von einer mangelhaften Erkennung, oder von einer 
Lasion der zwischen den Sehkomponenten des Gegenstandes und 
der zentralen Wortinnervation liegenden Assoziationsfasem (trotz 
Erhaltenseins der Erkennung) abhangt. In der Tat ist es 
natiirlich, daB das Hervorrufen des Wortes, das einen Gegen- 
stand bezeichnet, nicht moglich sein wird, wenn entweder die 
Fahigkeit, die Attribute des Gegenstandes zu erkennen, ver- 
schwunden oder das hervorzurufende Wortbild verletzt ist usw. 
Diese Storungen treten in die Gebiete der Agnosien und der 
Asymbolien oder in jenes der eigentlichen Aphasien ein; in ihnen 
ist die Unmoglichkeit, den Namen des gesehenen Gegenstandes 
hervorzurufen, eine sekundare Erseheinung. Die optische Aphasie 
ware also nicht zu einer autonomen Existenz berechtigt, wenn es 
nicht Falle gabe, in denen die Unmoglichkeit, den Namen dessen, 
was man sieht, hervorzurufen, weder von agnostischen Storungen, 
noch von aphasischen Unordnungen herkommt: namlich Falle, in 
denen sowohl die primare und sekundare optische Identifizierung, 
wie auch die Fahigkeit, das gesprochene Wort zu verstehen und 
es auszusprechen, keine wahmehmbaren Lasionen zeigen. Die 
echte, so betrachtete optische Aphasie ist aber eine seltene Tatsache. 
In den zahlreichen veroffentlichten Fallen bestanden stets Kompli- 
kationen mit anderen Storungen. Diese Komplikationen sind jedoch 
keine notwendigen Folgen und noch weniger eine direkte Ursache 
der Storung, sondern Erscheinungen, die auf die N&he der zu ver- 
schiedenen Funktionen bestimmten Hirnrindezonen, die gleichzeitig 
durch denselben Herd verletzt sind, zu beziehen sind. In der 
Tat gibt es Falle, in denen jedes Zeichen einer optischen Asymbolie 
fehlte [Bruns (10), Pick und Zaufdtt (55), Brandenburg (11)]; femer 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 3. 13 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 





190 M i u g a $ % i a i ♦ Uebfcr 4m gegenvr&rtigQn Stand 

fcinetischen) Bngramtne der Haadbev/egtingen nicht mar rot and 
ihinter dem Gyrus centralis Anterior, madesm auch innerh&lb des- 
selbea gelegen <ind, so dttB das wotoriscbeiJeritriim der Hand niciit 
blofl graphieeb - mnestiselie Element a enthalt, die hier ana ver- 
schiedeneo Tedett (deni verbomotomebem. akustischem und Seh- 
gehiet) Rftbonimea, .semderaaucb limervaiionaeleinente. Jedenfails 
kbnnen anchdie Kenrone^ deren Verletzuhg die Wortblindheit and 
die Agraphie hervomitey kormen, bald rechts, bald links liegen. 
Dies beweisi ein Fall Bravet/a* (11). 

Fall BmttffPi. JJei ejBenr R^KtWJjfiodigen trat«n nacb eiteem Ilctus 
link* Kerm|)ftr<»« und Spranl^t;orijQf|fcnauf. Patient verstand gut aile Fragea 
und aatwirtete roil jftrapHs^sflrejiFehlern. veretand aber aiyht, was «r 
i«&, abenso getang es ihm ibi? (tweh beitn Absehreibea) wnige viuleswliohe 
Zeit&en Oder einjge Wort# yoll^r gwber pwotgraphssejjer Feh]*r«t *chreibe». 
Fine apraktisclie Stbntrig iw^tand nicht. Bei der ffektion f*nd m reobts 
ZerstiVuug (bis stur Eeearptjonlder zwt-i hihteren iDtitteJ der Cfjti f-emporales 
supreunvi und mediue (Fig. 2iS u- einos Toiler, der P lt dcs g. Supramarg., 
; des Gyrus angularis uwd dr-r Gyr*t i-rviporalys trausversi. 


Fall liravetio. S; =f. ibtka, 4) -- reekis^ ga — g. angularis. 
rerfete A'oUgtdnclig Ttiabaorbiert. ■. 

Hier tritt dettfcliejb beryor, dafl die radii b Himregioa (Gyrus 
angularis), deren Zerstbrung die Iked l as verboruro und die Agraphie 
hervorgeruf an hatte. rechts lag, wjihrend die Region der eenaoriischen 
Aphasie (X Gyrus tamp, trans.) imi auattchlteulicb auf der linken 
Seite funktionjeren muliUv da der Patient koine aphasisch senso- 
riseben Storungen aufwies, Auc.b Momkow and ich (34) haben Falle 
von Patienieft verbffeotlieht, die, trot* oiner ziamlicb ausgedehnten 
Zerstbrung des Ijobiie taniporalif! und occipitalis links, korrekt 
sohreiben ond a ueh den Sinn der Wort a vefstehea kormten. Alias 
dies beweist noch einmal. daB die Zonen, s« denen sicb die««r Aus- 
arboitang f&mtlicher (peszeptiven und ejbktiveh} Potmen der 
Sprache bestimniten Koitronea konzeatrieren, in ein und derselben 
•Person bald reebts und bald links liegen fconne®. 










uneerer Kenntuis der Aphasielehre. 


191 


Es ist nicht immer moglich, die gnostischen Funktionen von 
den phasischen zu trennen, wie bereits weiter oben erwahnt wurde. 
Auf diese Weise wird es klar, warum, falls einige sensorische, die 
Wortbilder anregende Reize gestort werden, hieraus, wenigstens 
klinisch, einige besondere klinische Bilder entstehen. Ich deute hier 
auf die mit demNamen taktile undoptische Aphasiegekennzeichnel e 
Form hin. Einige leugnen das Symptom ,,taktile Aphasie“ nicht, 
da es bewiesen ist, daB bisweilen bei Intaktsein des Tastsinnes der 
Hand es einigen Patienten nicht gelingt, den Namenauf dem Wege 
des Gefiihls zu finden; aber sie glauben, daB diese Schwierigkeit 
von einer Storung der zentripetalen Gefiihlskomponente und von 
ihrer zentralen Verarbeitung abhangen konne: daher.die Un- 
moglichkeit, das entsprechende Wortbild zu finden. 

Auf die gleichen Schwierigkeiten stoBt man beziiglich der 
Frage vom Bestehen einer optischen Aphasie. In s&mtlichen Fallen, 
in denen das Symptom der optischen Aphasie bestand, wurden 
auch andere optische zentrale Storungen wahigenommen, wie z. B. 
Hemianopsie, Hemiachromatopsie, Alexie, Storung der Orientierung 
im Raume resp. Sehagnosie und Schwache des zentralen Visus. 
Deshalb ist es auch hier schwer zu entscheiden, ob die Ursache 
der Schwierigkeit, die Objekte mit ihrem Wertsymbole zu kenn- 
zeichen, von einer mangelhaften Erkennung, oder von einer 
Lasion der zwischen den Sehkomponenten des Gegenstandes und 
der zentralen Wortinnervation liegenden Assoziationsfasern (trotz 
Erhaltenseins der Erkennung) abhangt. In der Tat ist es 
natiirlich, daB das Hervorrufen des Wortes, das einen Gegen- 
stand bezeichnet, nicht moglich sein wird, wenn entweder die 
Fahigkeit, die Attribute des Gegenstandes zu erkennen, ver- 
schwunden oder das hervorzurufende Wortbild verletzt ist usw. 
Diese Storungen treten in die Gebiete der Agnosien und der 
Asymbolien oder in jenes der eigentlichen Aphasien ein; in ihnen 
ist die Unmoglichkeit, den Namen des gesehenen Gegenstandes 
hervorzurufen, eine sekundare Erscheinung. Die optische Aphasie 
ware also nicht zu einer autonomen Existenz berechtigt, wenn es 
nicht Falle gabe, in denen die Unmoglichkeit, den Namen dessen, 
was man sieht, hervorzurufen, weder von agnostischen Storungen, 
noch von aphasischen Unordnungen herkommt: namlich Falle, in 
denen sowohl die primare und sekundare optische Identifizierung, 
wie auch die Fahigkeit, das gesprochene Wort zu veretehen und 
es auszusprechen, keine wahmehmbaren Lasionen zeigen. Die 
echte, so betrachtete optische Aphasie ist aber eine seltene Tatsache. 
In den zahlreichen veroffentlichten Fallen bestanden stets Kompli- 
kationen mit anderen Storungen. Diese Komplikationen sind jedoch 
keine notwendigen Folgen und noch weniger eine direkte Ursache 
der Storung, sondern Erscheinungen, die auf die N&he der zu ver- 
schiedenen Funktionen bestimmten Hirnrindezonen, die gleichzeitig 
durch denselben Herd verletzt sind, zu beziehen sind. In der 
Tat gibt es Falle, in denen jedes Zeichen einer optischen Asymbolie 
fehlte [Bruns (10), Pick und Zaufall (55), Brandenburg (11)]; femer 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologie. Bd. XXXVII. Heft 3. 13 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



192 


M i n g a z z i n i , Ueber den gegenwartigen Stand 


bostand in jenem Bruns und in einem Moelis (47) nur die Un- 
fahigkeit die Farben zu benennen, sie fehlte aber in den anderen 
Fallen von Pick und Zaufall und von Vorster. Andererseits bestehen 
enge Beziehungen zwischen der optischen Aphasie und der Alexie; 
doch auch hier ist das Zusammentreffen nicht notwendig, denn 
bei einigen Kranken bestand Alexie ohne optische Aphasie (Mona - 
kow, Dejerine) und bei anderen optische Aphasie ohne Alexie 
[ Thomsen , Jansen (46), Moeli (47)]. Wir miissen also die optische 
Aphasie als eine Storung der Evokation erklaren, insofern als die 
optischen Bilder der Gegenstande und die (akustischen) Wortbilder 
beide vorhanden sind, denn sie konnen angewandt werden, die 
einen zur Identifizierung der gesehenen, hervorgerufenen Sachen, 
die anderen, um die mittels der anderen Sinne, auBer dem Gesicht, 
wahrgenommenen Gegenstande zu benennen; nur die normale 
Assoziation zwischen optischen Bildem der Gegenstande und 
Wortbildern ist unmoglich. Solange femer die Veranderung sich nur 
auf die Betastung und das Gesicht beschrankt, wahrend die Be- 
nennung der Gehors-, Geschmack- und Geruchseindriicke moglich 
bleibt [Fall Vorster (67)], kann man noch an eine beschrankte 
Storung der Assoziationen denken, und es ist hier interessant, 
hervorzuheben, daB die taktile Aphasie durch organische Ver- 
letzungen allein noch nicht nachgewiesen worden ist, sondem 
stets in Begleitung der optischen Aphasie. 

Erstreckt sich aber die Schwierigkeit oder die Unmoglichkeit 
des Wachrufens auf samtliche Sinne, so geht man zur sogenannten 
amnestischen Aphasie (Amnesia verborum) fiber. Sie entfaltet sich 
oft als zeitwediges Regressionssymptom, das die sensorische 
Aphasie begleitet, und dann ist sie als die Folge einer schweren 
Storung der Reize anzusehen, welche aus dem, besonders durch 
die hinteren Aeste der Sylvii links versorgtem Hirngebiete kommen. 
Jedoch sind die Falle nicht selten, in denen die amnestische Aphasie 
sich als Regressionssymptom der motorischen Aphasie zeigt, namlich 
eines Rrankheitsprozesses, der das vordere Sprachgebiet befallen 
und die Regio temporalis freilaBt. Die amnestische Aphasie tritt 
femer auch als isoliertes Symptom auf, und als solches ist sie in 
Fallen wahrgenommen worden, in denen ein grober, entweder die 
basalen Schlafenwindungen, oder den Gyrus angularis oder das 
Gebiet der motorischen Aphasie betreffender ProzeB langsam 
zum Fortschreiten neigt. Gerade gestfitzt auf einige dieser Befunde 
hat Mills versucht, das sogenannte Namenerinnerungszentrum in 
den mittleren Teil des Gyrus temporalis medius atque inf. sin. 
(Naming centre) zu lokalisieren. Aber die Falle, auf die sich diese 
Theorie stfitzt, beziehen sich vorwiegend auf Himtumoren, die von 
diesem Standpunkte aus nicht zu verwerten sind. Immerhin ist 
nicht zu vergessen, daB die Abszesse des linken Schlafenlappens 
otitischen Ursprungs, die so haufig im mittleren Teile des 
Gyrus temporalis inferior beginnen, oft durch die Amnesia ver¬ 
borum angezeigt werden und als solche klinisch ein wertvolles 
Zeichen bilden. Ich selbst veroffentlichte vor einigen Jahren einen 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



unserer Kenntnis der Aphasielelire. 


193 


AbszeBfall von otitischem Ursprunge, der sich ungefahr im Mittel- 
punkte des Lobulus temporalis inferior entwickelt hatte. Auch 
hier war das zuerst auftretende Symptom eine typische amnesti- 
sche Aphasie, dem bald darauf ein sensorisch aphasisches Syndrom 
folgte. Der Fall gelangte zur Heilung nach Ausleerung der Eiter- 
ansammlung. 

Die seit mehr als einem halben Jahrhundert gesammelten Be- 
obachtungen haben unsalso gelehrt, daB die Sprache, die letzteund 
edelste Funktion, die der Mensch erworben hat, die Beteiligung 
anderer geistiger Prozesse, mit denen sie verkettet ist, nicht ent- 
behren kann, so daB die Zone, in welcher sich die Foci fur 
die einzelnen Wcrtbilder ausarbeiten und konzentrieren, sehr ver- 
schieden ist von der Zone, welche, wenn verletzt, das aphasische 
Syndrom setzt. Heutzutage wissen wir, daB die zur Funktion der 
Sprache bestimmten Hirnzonen wohl umschrieben sind, jedoch ohne 
scharfe Grenzen, ausgedehnter als man glaubte und daB sie, obwohl in 
einem verschiedenen Grade, in beiden Hemispharen funktionieren. 
Ebenso ist nicht zu vergessen, daB infolge der Uebung und vielleicht 
infolge einer angeborenen Disposition das Vorherrschen einiger Be- 
kleidungen phasischer Bilder von einem Menschen zum andern ver- 
schieden ist und daB alle untereinander verbunden und nicht ganz- 
lich unabhangig von den sensorischen Bildern sind. So viele und so 
wichtige Faktoren verhindem deshalb, daB ein Fall von Aphasie 
dem andern gleiche und verbieten zu scholastische Schemata, eine 
Verschiedenheit, die nicht wundemehmen kann, wenn man be- 
denkt, daB beim Menschen das zentrale Nervensystem sich in steter 
Entwicklung befindet. Der Gewichtsunterschied zwischen den 
beiden GroBhimhemispharen, die Asymmetrie der Windungen und 
Furchen, die manchmal vollstandige und andermalen kaum ange- 
deutete Kreuzung der Pyramiden, die aberrierenden Biindel sind 
sehr eloquente Beispiele dieser Unbestandigkeit. 

Ein Punkt beginnt indessen gesichert zu werden, namlich, daB 
die hierzu bestimmten Mechanismen nicht nur Gruppen von Nerven- 
zellen, sondern auch Biindel von Nervenfasem sind; sowohl die 
einen wie die andern, wenn sie isoliert verletzt sind, bedingen 
wesentlich identische und bloB dem Grade nach verschiedene 
Storungen; zwischen den kortikalen, subkortikalen (perzeptiven) 
und Assoziationsaphasien bestehen die verschiedenartigsten Zwi- 
schengrade, so daB es schwer fallt, die einen von den anderen zu 
trennen. 

Eine andere Ansicht aber beginnt jetzt sich Bahn zu brechen, 
namlioh, daB die verschiedenen Formen der Sprache untereinander 
verbunden sind; deshalb entfaltet sich die sensorische Aphasie stets 
unter Storungen des Lesens und der gesprochenen wie der ge- 
schriebenen Sprache; die Agraphie resp. die Dysgraphie ist eineFolge 
der Abtrexmung der verbomotorischen, verbosensorischen und verbo- 
optischen Bilder aus dem Rindenarmzentrum. Die Fahigkeit zum 
Lesen versagt, so oft die anderen Grundformen der Sprache gestort 

13* 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



194 


Ming a z z ini, Ueber den gegenwartigen Stand 


Digitized by 


sind; sogar die motorische Aphasie, selbst in den reinsten Fallen, 
zeigt ihre Verbindung mit den verboakustischen Bildern durch eine 
(nicht immer wahrnehmbare) Unsicherheit oder Verlangsamung im 
Begreifen des Sinnes der Worte oder durch die Schwierigkeit im 
Lesen. Die Sprache, die letzte der vom Menschen in der Phylo- 
und Ontogenese erworbene Funktion, ist also ein Zeichen der 
Bedeutung, welche die Assoziationsbahnen in der Entwicklung 
des Geistes haben. 

Fassen wir das Vorhergehende zusammen, so konnen wir 
folgende SchluBsatze aufstellen: 

Die Aphasie Typus Broca , entwickelt sich, wenn die ,,er- 
weiterte“ Brocasche Zone, welche die Pars triangularis und oper- 
cularis der F 3 , die Insula anterior und das Operculum Rolandi 
umfaBt, verletzt ist. Sie enthalt die mnestischen Engramme der 
motorischen Silbenbilder und im Gebiete des Operculum rolan- 
dicum wahrscheinlich auch verboartikulare Elemente (phasisch- 
motorische und Artikulationsfasern). 

Von den subkortikalen, aus dieser Zone kommenden Projek- 
tionen steigen einige (die vorderen) als motorisch-phasische Fasern 
in den Kopf des Linsenkernes (zusammen mit den Balkenaus- 
strahlungen), am Niveau des Gebietes, das man supra- und prae- 
lenticularis nennenkann; andere dringen als gemischte phasisch-arti- 
kulareFasern durch die Capsula externa hindurch in die zwei hinteren 
Drittel des erwahnten Ganglions. Hier vereinigen sie sich mit dem 
verboartikularen Fasern, die den Linsenkern durchziehen. Die 
Verletzung des linken Linsenkernes verursacht motorische Aphasie, 
wenn das vordere Drittel zerstort ist, und eine schwere Dysarthrie 
bis zur Anarthrie, wenn die hinteren zwei Drittel verletzt sind. 

Die Zerstorung der linken Regio prae- und supralenticularis 
verursacht eine bestandige motorische Aphasie, sowohl in dem 
spontanen Sprechen wie in der Wiederholung der Worte. Daher 
der sowohl bei der reinen Aphasie, wie bei der vom Typus Broca 
bestehende Mutismus. Das ,,erweiterte“ Brocasche Gebiet, der 
Linsenkern einbegriffen, funktioniert rechts, an zweiter Stelle, 
mehr oder weniger je nach den Individuen. Wird das homologe 
Gebiet links zerstort, so kompensiert es nicht, sondern ubernimmt 
allmahlich die friiher durch das linke Gebiet ausgeiibten Funktionen. 
In diesem Falle ist es richtiger, von einer Wiederaufnahme der 
Funktion der ersten Stelle als von einer Kompensation zu reden. 

Bei der reinen motorischen Aphasie konnen die Verletzungen 
auch kortikal sein (Brocasches Gebiet). In diesem Falle bleibt aber 
ein Teil der Brocaschen Region, die durchaus nicht befallen ist, be- 
stehen, was die Assoziation mit dem motorischen Zentrum der Hand 
und das Wachrufen der inneren Sprache ermoglicht. Das Bestehen 
einer motorischen Sprachbahn ist noch nicht mit Sicherheit fest- 
gestellt worden; immerhin kennt man bisher Bruchstxicke. 

Die Rindentaubheit entsteht, wenn die Gyri temporalis 
transversi und ihre subkortikalen Ausstrahlungen beiderseits 
zerstort sind. Die sensorische Aphasie ist eine schwere, obwohl 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



unserer Kenntnis der Aphasielehre. 


195 


unvollstandige, wenn der Gyrus temporalis transversus posterior 
und das hintere Drittel des Gyrus temporalis supremus links ver- 
letzt sind. Sie wird erst vollstandig, wenn die Wernicke schen Zonen 
beiderseits verletzt sind; in letzterem Falle gelingt es dem Kranken 
nur, eine Reihe von Silben, oder am meisten, von einsilbigen 
Wortern auszustoBen. Ebenso bleibt, wenn nicht bloB die Kern- 
zone der Wernicke schen Zone verletzt, sondern die ganze kortikale 
und subkorfcikale Substanz der T 2 links zerstort ist, der sensorisch 
Aphasische fast seines ganzen Wortschatzes beraubt, so daB man 
an das Bild der totalen Aphasie erinnert wird. 

Bei der sensorischen Assoziationsaphasie findet man haupt- 
sachlich die dem hinteren Aphasiegebiete angehorende Mark- 
substanz verletzt. Sie erheischt jedoch die Unterbrechung der 
Assoziationsfasern des linken Schlafenlappens. Die reinen Formen 
von motorischer oder sensorischer Assoziationsaphasie sind selten; 
was beobachtet ist, weist einen mehr oder weniger gemischten 
Charakter auf. Die motorische Asszioationsaphasie hangt von 
der der vorderen Region der motorischen Aphasie entsprechenden 
Marksubstanzverletzung ab; in diesem Falle wurde die linke 
Regio praesupralenticularis fast stets unversehrt vorgefunden. 
Die Wortwiederholung. welche in beiden Formen von Assoziations¬ 
aphasie moglich ist, erheischt als Bedingung weder die Integritat 
der Regio subinsularis, noch die der Gyri temporales transversi, 
sondern die Erhaltung der linken Regio supra-praelenticularis 
oder zum mindesten der Balkenausstrahlungen, die bei den sen¬ 
sorischen Formen unberiihrt sind. Es ist auch wahrscheinlich, 
daB die Wortwiederholung auf dem Wege von der Wernike schen 
Zone zu der motorisch-aphasischen Zone vor sich geht und von 
hier aus, durch den Balken verlaufend, durch die linke und bis- 
weilen auch durch die rechte Regio lenticulo-capsularis hinabsteigt. 

Es ist nicht moglich, wenigstens vom klinischen Standpunkte 
aus, das Bestehen einer Zone (mittlerer Teil des Gyrus temporalis 
inferior), deren Verletzung eine Amnesia nominum hervorruft. 
vollstandig zu leugnen. 

Die Coecitas verborumund die Agraphie konnen nicht in be- 
sonderen Zonen lokalisiert werden. Sie entwickeln sich, so oft die 
verschiedenen (verbomotorischen, optischen, verbo-akustischen) 
Komponenten der synergischen Funktionen, denen die Erkenntnis 
des Sinnes der geschriebenen Worte oder die ideatorisch-kinetische 
Erinnerung der graphischen Bewegungen entspringen, verletzt 
sind. Selbst bei den Rechtshandigen konnen die entsprechenden 
Engramme rechts liegen. 

Die Himgebiete, deren Verletzung aphasische Grundformen 
(motorische und sensorische) verursacht, diirfen nicht mit dem Sitze 
der entsprechenden Engramme identifiziert werden. Diese konnen 
nicht von ihren psychischen (assoziativen) Antrieben „ getrennt 
werden; ohne ihre Beteiligung konnen sie nicht genau funk- 
tionieren. Folglich ist die Sprache als der Prototyp einer hohen 
Assoziationsfunktion zu betrachten. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



196 


Digitized by 


M i n g a z z i n i , Ueber den gegenwartigen Stand etc. 


Literaturverzeichnis . 

1 . Besta , Atti del IV. Congr. dei neurologi italianl. Firenze. 1914. 
2. Derselbe, Un caso di afasia motrice etc. Morgagni. 1906. 3. Beduachi , 
La syndr. de l’aph. tot. L’Enc^ph. 1890. F. 8. 3a. Derselbe. La zona lentic. 
Riv. ital. diNeurop. Vol. V. F. 2. 4. Bianchi, II Policlinico. 1894. Afasia rap. 
all* intellig. 5. Bonvicini , Ueber subkortikale sensorische Aphasie. Jahrb. f. 
Psych. 1905. 6. Betti , La psicopatol. del lobulo pariet. inf. etc. L’Osped. 
Magg. 1913. S. 11. 7. Bastion , Treatise on Aphasia etc. London 1897. 
8. BramweU, Right sided hemipl. etc. Clin, studien. VII. 1909. 9 . Bravetta, 
Le afasie. Milano 1914. 10. Bruns , Neuer Fall von Alexie etc. Neurol. Zbl. 
1894. 8. 11. Brandenburg 9 Rechtsseitige homon. Herm. Arch. f. Ophthalm. 
1897.33. 12. Cortesi, Un caso di afasia tot. etc. Riv. di patol. nerv. Firenze 
1908. 13. Costantini , F., Le lesioni del lentic. Riv. di Patol. nerv. anno 

XVI. 1911. S. 227. 14. Dejerine-Pelissier (in Pelissier 1. cit.). 1 b. Dejerine 
(in Moutier, 1. c. S. 351). 16. Derselbe, in Moutier, 1. c., S. 352. 1900). 
17. Dercum , A case of Aphasie etc. Journ. of nerv. dis. Nov. 1907. 18. 

Falcetti Contrib. all studio delle mim. Riv. di Patol. nerv. A. XII. 19 
Galassi, 11 fascio motore della parola. Rif. med. 1892). 20. Qordinier, Case of 
brain tumor etc. Amer. Journ. med. 1899. 21. Gehuchten et Goris, Surd. verb, 
pure. LeNeuraxe. 1901. 22. K. Goldstein, Ueber Aphasie. Beitr.z. med. Klinik. 
1910. H. 1. 23. Hoche, Ueber die zentralen Bahnen etc. Neurol. Zbl. 1896. 
24. Derselbe, Arch. f. Psych. Bd. 30. S. 103—108. 25. Heubner , Ueber 
Aphasie. Schmidts Jahrb. 1887. 26. Jansen, Optische Aphasie etc. Berl. 
klin. Woch. 1895. 27. Kalischer , Das GroBhirnder Papageien. Abt. d. k. pr. 
Akad. d. W. 1905. 28. Liepmann und Quensel , Ein neuer Fall von mot. 
Aphasie. Mon. f. Psych. Bd. 26. 29. Liepmann , Zum Stand der Aphasie- 
frage. Neurol. Zbl. 1. V. 1909. 30. Derselbe, Fall von reiner Sprachtaubheit 
etc. Psych. Abhandl. 1898. 31. Derselbe, Motorische Aphasie etc. Mon. f. 
Psych. Bd. XXXTV. 32. Mingazzini, Weitere Untersuchungen iiber die 
motorischen Sprachbahnen. Arch. f. Psych. Bd. 54. H. 2. 33. Derselbe, 
Nuovi studi sulla sede dell’af. motr. Riv. di patol. nerv. 1910. S. 137 34. 
Derselbe, Ueber die Beteiligung beider Hirnhemispharen. Folia Neurobiol. 
Bd. VII. No. 1/2. 1912. 35. Derselbe, Ueber den Verlauf einiger Hirnbahnen 
etc. Arch. f. Psych. Bd. 51. 36. Derselbe, Klinische und pathologisch 

anatomise he Beitrage zum Studium der transkortikalen sensorischen 
Aphasie. Folia Neurol. IV. S. 603, 1910. 37. Derselbe, Anat. cl in. dei cent ri 
nervosi. Un.-Soz. Torino 1913. 38. Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen 
und bulbaren Ver&nderungen. Mon. f. Psych. Bd. 22. 1910. 39 . Monakow, 
Die Lokalisation im GroBhirn. Wiesbaden 1914. (Die gesamte Literatur 
vollstandig beriickBichtigt!) 40. Monakow-Ladame, Observ. d’aphteiie pure 
etc. Euc^phale. S. 198. 1908. 41. Marie, P., Rev. d. 1. question de l’aphasie. 
S6m ; m6d. 1906 17. X. 42. Derselbe, A propos d’un cas d’aphasie Soc. 
d’Hop. 1907. 43. Mahaim , Un cas de 16sion lentic. sans aphasie. Gaz. de 

H6p. 1909. S. 95. 44. Derselbe, Un nouveaux cas etc. Bull. ac. r. de 
Belgique. 1911. 45. Derselbe, Aphasie Congr. de Geneve. R. Neur. S. 903. 
1907. 46. Mendel , K., Ueber Rechtshirnigkeit etc. Neurol. Zbl. 1913. S. 156. 
47. Moeli , Ueber Aphasie etc. Berl. klin. Woch. 1890. S. 337. 48. Mills - 
Spiller , The symptomatology of lesions etc. J. f. n. dis. Aug. Sept. 1907. 
49. Moutier , L’aphasie de Broca. Paris 1908. Steinheil. 50. Hiefilv. Mayen - 
dor I, Die aphasischen Symptome. Leipzig 1911. 51. Pick , Beitr&ge zur Lehre 
von den Storungen der Sprache. Arch. f. Psych. 1892. 52. Derselbe, 

Fall von transkortikaler Aphasie. Neurol. Zbl. 1890. 53. Derselbe, Beitr&ge 
zur Pat-hologie etc. des Zentralnervensystems. 1898. N. 6. 5. 8. 54. Derselbe, 
Ref. in Mingazzini (37. S. 609 u. ff.) 55. Pick und Zaufall, Otitischer Gehirn- 
abszefi etc. Prag. med. Woch. 1896. 10. 5. 56. Pelissier , L’aph. motr. prue. 
Paris 1912. 57. Piazza , Contrib. clin. ed anatomopat. alle lesioni etc. Riv. 
di Patol. nerv. Anno XI, f. 2. 1906. 58. Pacetti, Sopra un caso di ram- 

mollin. del Ponte. Riv. sperim. di Fren. Vol. XXI. F. II—III. 59. Quensel , 
Ueber Erscheinungen und Grundlagen etc. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. 
Bd. 35. S. 25. 59a. Romagna , Contrib. clin. etc. Riv. di pat. nerv. 1912. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Forster- Sc hlesinger, Ueber dio physiologi.sehe etc. 197 


F. 2. 60. Reich , Ausgedehnter Tumor etc. A. Z. f. Psych. Bd. 67. 1910. 
61. S. Sergi, Ueber den Verlauf der zentralenBahnendesHypoglossus. Neurol. 
Zbl. 1906. No. 11. 62. Serieux , Cas de surd. verb. pure. Rev. med. 1893. 
63. Souques (ref. in Moutier, 1. c., S. 357). 64. Derselbe, Deux cases d’aphasie 
etc. Bull, de la Soc. m&l. de Hop. de Paris. 18. VII. 1907. 65. Touche , 
Aphasie avec lesions. Arch, gener. de med. 1901. 66. Veraguth, Fall von 
trans. r. Worttaubheit. D. Z. f. N. 1900. 67. Vorster, Beitrag zur Kenntnis 
etc. Arch. f. Psych. 30. 1898. 341. 68. Wilson, Progr. lentic. Degener. Brain 
1912. Vol. 34. S. 14. 69. Westphal, zit. in Monakow. (39) 70. Witzel- 
Thomsen, Ueber einen giinstig verlauf. Fall etc. Dtsch. med. Woch. 1896. 
No. 15. 


(Aus der Nervenklinik und der ersten medizinischen Klinik 
der Konigl. Charity.) 

Ueber die physiologische Pupillenunruhe 
und die Psychoreflexe der Pupille. 

Von 

Prof. Dr. E. FORSTER und Dr. ERICH SCHLESINGER. 

Seit Laqueurs Feststellungen mittels der Zehnder- Westimschen 
Lupe faBt man die sogenannte physiologische Pupillenunruhe als 
eine Ausdrucksbewegung seelischer Vorgange auf. Nach den iiber- 
einstimmenden Ergebnissen einer Reihe von Autoren fehlt die 
Pupillenunruhe beim gesunden Menschen nie, wenn eine vollige 
Adaptation an das bei der Untersuehung benutzte Licht einge- 
treten ist. Auf zugefiihrte sensorische, sensible oder rein psychische 
Reize reagierte die Pupille immer im Sinne einer Erweiterung. 
Weiler bestatigte in seiner zusammenfassenden Arbeit von 1910 
auf Grund eigener Untersuchungen diese Angaben; er fand dabei, 
es sei nicht giinstig, wenn das zur Beleuchtung des Auges bei 
diesen Beobachtungen verwendete Licht gar zu gering sei und hielt 
eine Lichtstarke von 25 MK fiir die giinstigste. Die Ausschlage 
des Irissaumens iiberschritten nach seinen Feststellungen bei 
manchen Personen kaum die Breite von 1 mm, bei anderen er- 
weiterte sich die Pupille um 2—2% mm. Bei Frauen fanden sich 
im allgemeinen groBere Ausschlage als bei Mannem. Weiler stellt 
folgende SchluBsatze auf: 

1. Die Pupillenunruhe und die Erweiterungsreaktion der 
Pupille bei den dem Organismus zugeleiteten sensorischen, sen- 
siblen und psychischen Reizen fehlen beim Gesunden nie. 

2. Die Erweiterungsbewegung auf sensible Reize ist groBer 
als die auf sensorische und psychische Einwirkungen. 

3. Es ist wahrscheinlich, daB die Pupillenreaktionen auf 
sensorische und psychische Einfliisse ihren Ursprung einer von der 
Himrinde ausgehenden Hemmung des Sphinktertonus verdanken, 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



198 Forster - Schlesinger, Ueber die physiologische etc. 

wahrend bei der sensiblen Erweiterung eine aktive Mitwirkung 
des Dilatators infolge einer Sympathikusinnervation nicht auszu- 
schlieBen ist. 

Diese Erfahrungen sind von Bumke fiir die Klinik verwertet 
worden. Nach seinen Untersuchungen konnen auch bei Individuen, 
bei denen die Lichtref lexbahn ungestort ist, die auf psychische, 
sensorische und sensible Reize normalerweise auftretenden Iris- 
bewegungen fehlen und zwar hauptsachlich bei der Dementia 
praecox. Bumke schreibt: ,,Wir diirfen somit feststellen, daB die 
Psychoreflexe und die durch das Wechselspiel der psychischen 
Vorgange bedingte Pupillenunruhe bei der Dementia praecox auf 
der Hohe der Krankheit stets feblen, daB femer dieses Symptom 
den anderen katatonischen Zeichen oft, aber nicht immer, voraus- 
geht und, wo es einmal vorhanden ist, nicht wieder verschwindet.“ 

Aehnliche Eefunde erhob Bumke bei der Imbezillitat. Eine 
ganz einwandfreie Erklarung der katatonischen Pupillenstorungen 
konnte Bumke noch nicht beibringen. 

Unsere eigenen Untersuchungen wurden mit dem von einem 
von uns (Schlesinger) konstruierten und von der Firma Carl ZeiB, 
Jena, gebauten Peripupillometer ausgefiihrt. Auf eine Beschreibung 
des Apparates wollen wir nicht eingehen und verweisen hierfiir 
auf die Publikation in der Deutschen medizin. Wochenschrift, 
No. 19, 1913. Wichtig fur das vorliegende Thema ist nur der Hin- 
weis, daB in dem Apparat eine Einrichtung vorhanden ist, welche 
gestattet, die Akkommodation des untersuchten Auges auszu- 
schlieBen. Dies wird dadurch erreicht, daB der Patient ein seitlich 
unterhalb des Schwellenwertes der Pupillenreaktion beleuchtetes 
Kreuz fixiert, das durch eine Linse in seinen Fempunkt eingestellt 
ist. Nur durch eine solche Einrichtung werden in praxi unkontrol- 
lierbare Aenderungen der Akkommodation zwangslaufig ausge- 
schaltet. Bei striktem Fixieren, wozu das hellerleuchtete Kreuz 
besonderen Impuls verleiht, sind auch alle Bewegungen der Bulbus- 
muskulatur nach Moglichkeit vermieden. 

Bei unseren Untersuchungen normaler und pathologischer 
Versuchspersonen haben wir stets das gleiche Resultat erhalten: 
Nach geniigender Adaptation fiir dunkel, respektive fiir das zur 
standigen Besichtigung der Pupille erforderliche seitlich ange- 
brachte Lampchen von ca. 3 Meterkerzen Intensitat, ergab sich, 
daB die PupiUenunrnhe stets fehlte und daB auf sensible, sensori¬ 
sche und psychische Reize eine Erweiterung nicht mehr eintrat. 

Um dem Einwand zu begegnen, daB eine Erweiterung der 
durch das Fixieren eines unendlich femen Objektes fast maximal 
dilatierten Pupille nicht mehr moglich sei, haben wir auch bei 
diffusem Licht untersucht, bei dessen Ausschaltung stets noch 
deutlich meBbare Erweiterung eintrat. Auch bei dieser Belichtung 
horte nach geniigender Adaptation das anfanglich vorhandene 
Pupillenspiel vollkommen auf. 

Bei unseren Untersuchungen stellte es sich heraus, daB es 
auBerordentlich wichtig ist, fiir eine moglichste GleichmaBigkeit 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



B u d u 1, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie. 


199 


der Lichtquelle zu sorgen, da schon zufallige Schwankungen der 
Intensitat von ca. 0,2 Meterkerzen ausreichen, pupillomotorisch 
zu wirken. Eine praktisch ausreichende GleichmaBigkeit erreichten 
wir nur bei ganz geringen Intensitaten, bei denen durch Anwendung 
von Rheostaten die Schwankungen unter das oben angegebene 
MaB herabgesetzt waren. 

Demzufolge kommen wir zu folgendem Ergebnis: Die physio- 
logische Pupillenunruhe, sowie die auf sensible, sensorische und 
psychische Reize erfolgende Pupillenerweiterung ist eine Folge 
standiger kleiner Schwankungen der Akkommodation, eventuell 
auch der Lichtintensitat. Sie kommen dadurch zustande, daB der 
Patient infolge beabsichtigter oder unkontrollierbarer Reize ver- 
anlaBt wird, momentan seine Akkommodationseinstellung zu 
andern. Ihr Fehlen bei der Dementia praecox erklart sich leicht 
durch die geringe psychische Reg6amkeit. der Kranken, die sich 
durch unbedeutende auBere Reize wenig oder gar nicht ablenken 
lassen. So wird es auch verstandlich, daB Bumke bei manchen 
Fallen von Dementia praecox auf die (starkeren) sensiblen Reize 
noch Pupillenerweiterung fand, nicht aber auf rein psychische. 


Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie. 

(Auszug aus den Untersuehungsergebnissen einer Dissertation 

[russisch]) 1 ). 

Von 

Dr. med. H. BUDUL. 

Zur vorliegenden Studie wurde das Krankenmaterial der 
Dorpater Psychiatrischen Universitatsklinik fiir den Zeitraum 
1896—1913 (18 Jahre) entnommen. Die Kranksheitsbe- 

zeichnungen entsprechen der Zeit, in der die Krankenge- 
schichten niedergeschrieben sind. Das Material bestand aus 
3180 Krankengeschichten, von denen 64 pCt. sich auf das mann- 
liche, 36 pCt. auf das weibliche Geschlecht bezogen. Die Patienten 
verteilten sich nach den Rassen und Nationalitaten wie folgt: 
54pCt. Esten (ugro-finnisches Volk), 22,6 pCt. Letten (Indo- 
germanen), 10,4 pCt. Russen (Slawen), 8,3 pCt. Deutsche (Ger- 
manen), 4,7 pCt. Juden (Semiten). Esten und Letten sind auf dem 
Lande politisch und kulturell fast gleichgestellt; die Russen, 
Deutschen und Juden haben in der Provinz fast keinen Bauem- 
stand. Das Gros unter den estnischen und lettischen Patienten 
bilden die landbearbeitenden Bauern. 

Im folgenden wird das Wichtigste aus den Untersuchungser- 
gebnissen angefiihrt. 

*) Eingereicht und von der Redaktion angenommen Mai 1914. 


Digitized by 


oogle 


Original from 

UMVERSITYOFMICHIGAN 



200 


B u d u 1, Beitrag zur vergleichenden Rassenpaychiatrie. 


Digitized^ 


Esten 

Letten 

Russen 

Deutsche 

Juden 


Melancholie. 

204 oder 

50 „ 

21 „ 

16 „ 


M. 

70 

Fr. 

134 

M. 

24 

Fr. 

26 

M. 

10 

Fr. 

11 

M. 

6 

Fr. 

10 

M. 

1 

Fr. 

8 


I M. 6\ 
1 Fr. 10/ 


68 pC’t. (54) 
16,7 pCt. (22,6) 
7,0 pCt, (10,4) 
5,3 pCt. (8,3) 
3,0 pCt. (4,7). 


Rechts (in Klarnmem) sind die Prozentzahlen des Anteils 
jeder einzelnen Nationalitat der Kranken an die Gesamtzahl (3180) 
notiert. 

Am meisten Erkrankungsfalle an Melancholie geben die Esten. 
Aus der Krankengeschichte geht weiter hervor, daJJ die Melan- 
choliker estnischer Nationalitat den grofiten Prozentsatz der Selbst- 
mordversuche liefem: 20pCt. gegeniiber 12,5 pCt. Suizidversuche 
der Patienten lettischer Nationalitat. In dieser Beziehung stehen 
die Frauen bei den Esten den Mannern weit voran. Diese Tatsache 
ist um so mehr bemerkenswert, als Selbstmord bei den Esten im 
allgemeinen seltener vorkommt als bei Letten, Russen und Deut- 
schen. Die Juden geben noch weniger Selbstmordfalle als die Esten. 


Imbezillitat und Idiotie. 


Esten 

Letten 

Russen 

Deutsche 

Juden 


r M. 
j Fr. 

50i 

8| 

58 oder 

f M. 
i Fr. 


17 „ 

1 M. 

4l 


i Fr. 

It 

o JJ 

1 M. 

4 l 


i Fr. 

2 I 

6 ,, 

1 M. 

1 Fr. 

4 l 
11 

5 „ 


18,7 pCt. (22,6) 

5.5 pCt. (10,4) 

6.6 pCt. (8,3) 
5,5 pCt. (4,7) 


Der groOte Prozentsatz der Erkrankungsfalle an Imbezillitat 
und Idiotie ist bei den Esten und Juden zu verzeichnen. 


Traumatische Neurose. 


„ 4 r M. 31 \ 

Esten { Fr. 3/ 

34 oder 

77,2 pa. (54) 

Letten j 

1 M. 

| Fr. -1 

1 „ 

2,3 pa. (22,6) 

Russen j 

[r.-I 

8 „ 

18,2 pa. (10,4) 

Deutsche * 

1 lfc.il 

1 „ 

2,3 pa. (8,3) 

Juden ' 

f M. -( 
l Fr. — 1 

0 „ 

0 P a. (4,7). 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Budul, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie. 201 

Dem Berufe nach war die Verteilung der Traumatiker wie 
folgt: 

1 . Eisenbahnbeamte: 

23 Esten, 

7 Russen, 

1 Lette, 

1 Deutscher. 

2. Fabrikarbeiter: 

6 Esten. 

3. Freien Beruf Ausubende: 

5 Esten (2 M. u. 3 Fr.), 

1 Russe. 

Es waren also unter den Traumatikem: 

72,8 pCt. Eisenbahnbeamte, 

13,6 pCt. Fabrikarbeiter, 

13,6 pCt. freien Beruf Ausubende. 

Aus den Krankengeschichten ist weiter zu entnebmen, da*, 
von aUen Patienten estnischer Nationalist Eisenbahnbeamte 
5,7 pCt. waren, von Letten 3,5 pCt., von Russen 25,3 pCt., von 
Deutschen 2,3 pCt. 

Von diesen letzten ist die Zahl der Traumatiker: 
bei Esten 34,3 pCt., 

,, Letten 4,4 pCt., 

,, Russen 10,8 pCt. 

Nach diesen Tatsachen scheint es, dab die Esten am meisten 
zu einer Erkrankung an traumatischer Neurose disponiert sind. 

DaJ 3 unter den Juden kein Traumatiker verzeichnet worden ist, 
ist wohl hauptsachlich dem Umstande zu verdanken, daB die 
Juden fast keine Beziehung zu den Berufen gehabt haben, die, der 
Erfahrung nach, stark eine Entstehung der traumatischen Neurose 
fordern. 

Weiter haben die Esten ausgesprochene Neigung zu pro- 
trahierten Affektschwankungen. Die Juden stehen in .dieser Be¬ 
ziehung den Esten ziemlich nahe. 

Paranoia, 
f M ^01 

Esten Fr 18 J 88 °der 53,1 pCt. (54) 

Letten 3 |} 38 » 29,7 pCt. (22,6) 

Russen |J£ _^j 6 „ 4,7 pCt. (10,4) 

Deutsche yj 5 10 >> P^- (&>3) 

Juden (pr. 4} 6 ” 4 > 7 PC t - ( 4 - 7 )- 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



202 Budul, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie. 


Bei der Erkrankung an akuter und chronischer Verrficktheit 
laBt sich nicht nur ein quantitativer, sondem auch ein quali- 
tativer Unterschied zwischen verschiedenen Nationalitaten merken, 
was aus der folgenden Tabelle uber den Inhalt der Wahnbildung 
zu ersehen ist. Es werden hier nur Esten und Letten berfick- 
sichtigt, weil die Zahl der anderen zu gering sind: 

bei Esten bei Letten 


GroBenwahn. 12,3 pCt. 25,7 pCt. 

Darunter GroBenwahn auf religioser Grund- 

lage. 6,2 pCt. 2,9 pCt. 

Verfolgungswahn. 29,2 pCt. 14,3 pCt. 

Religiose Wahnideen. 23,1 pCt. 6,1 pCt. 

Hypochondrische Wahnvorstellungen . . 21,5 pCt. — 

Darunter religiosen Charakters (Versfindi- 

gungswahn). 12,3 pCt. — 

Erfindungswahn . 3,1 pCt. 11,4 pCt. 

Querulantenwahn.. — 8,3 pCt. 


Wenn man sich kurz ausdrficken will, so darf man sagen, daB 
bei Letten die Wahnvorstellungen mit Ueberschatzung, bei Esten 
mit Unterschatzung der Personlichkeit verknfipft sind; die Letten 
sind mehr aktiv, Esten mehr passiv; die religiosen Wahn¬ 
vorstellungen spielen bei den Esten eine viel groBere Rolle als 
bei den Letten. 

Im groBen ganzen laBt sich formulieren, daB die Esten ofters 
an funktionellen und emotionellen, die Letten ofters an organischen 
und rationellen Geisteskrankheiten leiden. Organische Nerven- 
krankheiten kommen bei Letten haufiger vor als bei Esten. 


Alkoholismus. 


Esten 

(M. 961 
l Fr. 111 

107 Oder 44,6 pCt. (54) 

Letten 

l M. 14 i 
IFr. 21 

16 „ 

6,7 pCt. (22,6) 

Russen 

iM. 82 i 
IFr. 31 

85 „ 

35,4 pa, (10,4) 

Deutsche 

i M. 291 
IFr. 31 

32 „ 

13,3 pa. (8,3) 

Juden 

IS.=I 

0 „ 

0 pa, (4,7). 


Am meisten Erkrankungsfalle von Alkoholismus geben die 
Russen. Der Alkoholismus scheint unter den slawischen Volkem 
fiberhaupt verhaltnismaBig stark verbreitet zu sein. Das Um- 
gekehrte ist bei Juden der Fall. Die Letten sind weniger geneigt, 
sich der Trunksucht zu ergeben, als die Esten, doch ist die geringe 
Zahl der Alkoholiker lettischer Nationalitat wohl teilweise zufallig. 


Digitized by 


Got 'gle 


Original from 

UNIVlRSITY OF MICHIGAN 










B u (1 u 1 , Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiutrie. 203 


Lues cerebri (und Lues cerebrospinalis). 


Esten 

I M. 34 \ 

) Fr. 101 

44 

oder 45,8 pCt. (54) 

Letten 

| M. 12 l 

1 Fr. 41 

16 

„ 16,7 pCt. (22,6) 

Russen 

IM. 231 
l Fr. 41 

27 

„ 28,1 pCt. (10,4) 

Deutsche 

1 M. 6 ( 

) Fr. 11 

7 

„ 7,3 pCt. (8,3) 

Juden 

jM. 21 
IF. —1 

2 

„ 2,1 pCt. (4,7) 


Syphilitische Erkrankungen des Nervensy6tems sind unter den 
Esten, Letten und Juden weniger verbreitet als unter den Russen. 
Nervenkrankheiten und Geisteskrankheiten, die ihren Ursprung 
der Syphilis zu verdanken haben, kommen auch bei Deutschen gar 
nicht selten vor, was aus folgender Tabelle zu entnehmen ist: 



Dementia 

paralytica. 

Esten j 

i M. 541 
l Fr. 51 

59 oder 40,4 pCt. (54) 

Letten • 

( M. 301 
l Fr. 21 

32 

21,9 pCt. (22,6) 

Russen 

1 M. 181 
l Fr. If 

19 „ 

13 pCt. (10,4) 

Deutsche ’ 

| M. 361 

1 Fr. —1 

30 „ 

21,3 pCt, (8,3) 

Juden ] 

f M. 5\ 
l Fr. — / 

5 „ 

3,4 pCt. (4,7) 


Tabes dorsalis kommt besonders haufig bei Russen vor. Die 
Zahl der Erkrankungen an Dementia paralytica und Tabes dorsalis 
ist in den letzten Jahren ziemlich stark zuriickgegangen, was wohl 
einer mehr energischen und sorgfaltigen Behandlung der voraus- 
gegangenen Syphilis, als das vor 20—30 Jahren der Fall gewesen 
den zu verdanken ist. Der Verlauf der Dementia paralytica ist in 
den letzten Jahren weniger sturmisch als vor 10—18 Jahren. 


Esten | 

Letten | 

Russen j 

Deutschen j 
Juden | 


Dementia 

M. 

1461 

Fr. 

55/ 

M. 

681 

Fr. 

26/ 

M. 

12 1 

Fr. 

1 / 

M. 

6 1 

Fr. 

7/ 

M. 

12 l 

Fr. 

17/ 


praecox. 

201 oder 57,4 pCt. (54) 


94 „ 

26,9 pCt. (22,6) 

13 ,. 

3,7 pCt. (10,4) 

13 „ 

3,7 pCt. (8,3) 

29 „ 

8,3 pCt. (4,7) 


Digitized by 


Gca igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



204 


B u d u 1, Beitrag zur vergleiclienden Rassenpsychiatrie. 


Unter den Esten und Letten kommt die Erkrankung an Dem. 
praecox quantitativ ziemlich gleich vor. Genauere Beriicksichtigung 
der verschiedenen Verhaltnisse des Intemierens von Geisteskranken 
in eine Irrenanstalt bei Esten und Letten gibt sogar das Recht, zu 
vermuten, daB die Erkrankung an jugendlichem Irresein bei den 
Esten sogar etwas haufiger als bei den Letten vorkommt. Einen 
auBerordentlich hohen Prozentsatz der Erkrankungsfalle geben 
die Juden. Bei Russen und Deutsehen ist er verhaltnismaBig 
gering. Nach dem Erkrankungsalter stehen an erster Stelle in 
aufsteigender Reihenfolge die Juden, dann die Esten, dann die 
Deutsehen und zuletzt kommen die Letten. Es ist bemerkenswert. 
daB entsprechend dem Alter bei der Erkrankung der Prozentsatz 
der hebephrenischen Form des jugendliehen Irreseins am hochsten 
bei den Juden und am niedrigsten bei den Letten ist. Bei Letten 
iiberwiegt entsprechend die Zahl der Erkrankungsfalle an kata- 
tonischer und paranoider Form der Dementia praecox. 


Manisch-depressives Irresein. 


Esten 

i M. 65( 
l Fr. 671 

132 oder 53,2 pCt. (54) 

Letten 

( M. 27( 

\ Fr. 271 

54 

„ 21,8 pCt. (22,6) 

Russen 

1 M. 61 
\ Ft. 81 

14 

„ 5,6 pCt. (10,4) 

Deutsehen 

1 M. 121 
l Fr. 151 

27 

„ 10,9 pCt. (8,3) 

Juden 

I M. 10| 

1 Fr. Ill 

21 

„ 8,5 pCt, (4,7) 


Die Juden und Deutsehen geben nicht nur einen hoheren Pro¬ 
zentsatz der Erkrankungsfalle an manisch-depressivem Irresein, 
sondem werden schon in friiheren Lebensjahren krank als die 
Esten, Letten und Russen. Die Juden und Deutsehen weisen bei 
der Erkrankung diejenige Form des manisch-depressiven Irreseins 
auf, bei der der Wechsel des exaltierten und des Depres^ionszu- 
standes verhaltnismaBig groB ist. 

Weiter kommt bei den Juden haufiger als bei den anderen 
Hysteric vor (13 pCt. statt 4,7 pCt.). Auch das klinische Bild und 
der Verlauf der Hysterie ist bei den Juden ausgepragter als bei den 
anderen Nationalitaten. Fast ebenso haufig wie Hysterie kommt 
bei Juden die Nervositat vor. Auch die Esten haben ziemlich groBe 
Neigung zur Nervositat. Sehr selten erkranken die Juden an 
Epilepsie (1 pCt. statt 4,7 pCt.). 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



(Aus der Psyohiatrischen Klinik der TJniversit&t Jena [Dir. Geh. Prof. 

Dr. 0. Binawanger ],) 

Beitrage zur somatischen Symptomatik and DIagnostik 
der ^Dementia praeeox“ x ). 

Von 

Dr. J. H. SCHULTZ. 

(Mit 9 Kurv. n und 6 Tabellen.) 

In einer kurzen vorlaufigen Mitteilung 2 ) habe ich die Be- 
obachtung erwahnt, daB bei der Priifung auf Adrenalin-Mydriasis 
Dementia-praecox-Kranke 3 ) in einem auffallend hohen Prozentsalz 
eigenartige Erscheinungen bieten; im folgenden soil zunachst die 
diesen Untersuchungen zugrundeliegende Fragestellung prazisiert, 
darauf ein Ueberblick iiber die klinischen Resultate und iiber Be- 
stimmungen des Titers gefd fiver engender Substanzen im Blutserum 
und Liquor Dementia-praecox-Kranker gegeben und endlich versucht 
werden, die in neuerer Zeit gewonnenen somatosymptomatischen 
Befunde bei Dementia praecox mit den vorliegenden neuen Ergeb- 
nissen in Beziehung zu setzen. 

I. Die Fragestellung. 

Seitdem Lewandowsky (36) 1898 nachwiea, daB Kaninchen 
auf intravenose Adrenalininjektion mit denselben Erscheinungen 
reagieren, wie auf Beizung des Halssympathicus — Mydriasis, 
Betraktion der Membrana nicticans, Protrusio bulbi und Lid- 
spaltenerweiterung — ist durch eine groBe Beihe experimenteller 
Arbeiten, die sich bei Biedl (5) und Cords (14) historisch-kritisch 
dargestellt finden, einwandsfrei festgestellt, daB das Adrenalin 

*) Anmerkung: Vorliegende Arbeit lag im Juni 1914abgeschlossen vor, 
ihre Veroffentlichung hat sich aus &uBeren Griinden verzogert. Inzwischen 
hatte Herr Geheimrat Westphal-Borm die Liebenswiirdigkeit, den Verfasser 
durch Uebersendung eines Sonderabdruckes davon in Kenntnis zu setzen, 
daB bereits 1912 in der Bonner Klinik an 10 katatonischen Rranken- 
Adrenalin-Mydriasis beobachtet wurde. Es kann in dieser, in einer FuBnote 
niedergelegten Beobachtung aus der Bonner Klinik, die dem Verfasser bisher 
entgangen war, eine wertvoile Unterstiitzung der im folgenden mit-ge- 
teilten Befunde erblickt werden. 

*) Vortrag in der Medizinischen Gesellschaft Jena. 18. VI. 1914. 

3 ) Der Kiirze halber wird hier der Terminus „Dementia praecox" 
beibehalten; es sollen damit im Sinne der norddeutschen Psychiatric Psycho¬ 
sen mit hebephrenem, katatonem oder paranoidem Typus von im ganzen 
infauster Prognose — Neigung zum Uebergang in defekte Endzustande — 
bezeichnet werden. 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologle. Bd. XXXVII. Heft 4. 14 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



206 


Schultz, Beitr&ge zur somatischen Symptomatik 


ein dissimilatorisches Hormon mit spezifischer Affinitat zu den 
sympathisch innervierten Erfolgsorganen ist. 

Fur den weiteren Ausbau der Lehre von der Adrenalin-My¬ 
driasis wared von besonderer Bedeutung die Beobachtungen von 
Wessely (60), Langley (34), 8. J. MeUzer (39), Ehrmann (17), EUiot 
(18), Loewi (14), Shima (54), Stravb (56) und Frohlich (25). 

Aus ihnen geht hervor, daB normals Warmbliiter auf Adrenalin- 
instillation in den Konjunktivalsack nicht reagieren; dagegen tritt 
bei Kaninchen auf konjunktivale Instillation von Adrenalin My¬ 
driasis ein, wenn vorher das Ganglion cervicale supremum exstir- 
piert wurde (8. J. MeUzer) ; zwischen der vorbereitenden Operation 
und der Instillation muB eine nach Tierart wechselnd lange Zeit 
verstreichen. Das Froschauge dagegen reagiert ohne jeden vor¬ 
bereitenden Eingriff mit Mydriasis auf Adrenalininstillation. 

An isolierten Praparaten von Sphinkter- undDilatatorstiickchen 
lieB sich die spezifische Wirkung des Adrenalins auf den — sym¬ 
pathisch innervierten — Dilatator pupillae am Myographen 
demonstrieren (Wessely). 

Zerstorung der an der Konvexit&t dem Gyrus suprasylvicus 
anterior entsprechenden und an der Basis bis an die Substantia 
perforata anterior reichenden Vorderhimregion fiihrt bei der Katze, 
beeonders kontralateral, zu Adrenalin-Mydriasis, ebenso Durch- 
schneidung der Medulla von der Oblongata bis zum VII. Dorsal- 
wirbel; hier wurde bei halbseitiger Durchschneidung die gleich- 
seitige Pupille adrenalinempfindlich (Shima). Wird eine Durch¬ 
schneidung auf einer Seite des Sympathicus, auf der andem Seite 
der austretenden Spinalwurzeln von Cervicalis VI bis Thoracalis VII 
ausgefiihrt, so sprechen beide Pupillen gleichmaBig auf Adrenalin 
an, ebenso, wenn auf der einen Seite das untere Hals- oder obere 
Brustmark zerstort wird (Stravb). 

Diese Ergebnisse der Nervenphysiologie lassen sich am besten 
mit den von Levxmdomky, Stravb, Cords u. A. geteilten Gesichts- 
punkten vereinigen, daB das Ganglion supremum einen hemmenden, 
wenn auch nicht hindemden EinfluB auf die Ausbildung der rein 
muskularen Erregbarkeit des Dilatator iridis hat; daher wird nach 
Ausschaltung des Ganglions die Iris „sensibler“ fur Adrenalin. 
Hierdurch wird namentlich auch - die von Langendorff 1900 (33) 
beobachtete „paradoxe Pupillenerweiterung“ verstandlich. Langen¬ 
dorff exstirpierte auf einer Seite das Ganglion supremum und durch- 
schnitt auf der andem den Sympathicus praeganglionaer. Bald nach 
der Operation zeigte sich die Pupille auf der Seite der Exstirpation 
enger, wurde aber nach einiger Zeit wieder weiter, oft 60 gar weiter 
als die der andem Seite. Es darf dies nach der oben angefiihrten 
Hypothese so gedeutet werden, daB die Iris vom normalen hemmen¬ 
den EinfluB des Ganglion befreit und fur die in der Zirkulation 
kreisenden mydriasierenden Substanzen empfindlich wird 1 ). 

>) Eingehende Kritik der vorliegenden Hypothesen mit ersohopfender 
Literaturiibersicht bei Cords (14). 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Diagnostik der ..Dementia praecox". 


207 


Aber nicht nur spezielle Veranderungen am sympathischen und 
zentralen Nervensystem disponieren zur Adrenalin-Mydriasis; 
Loewy zeigte 1907, daB pankreatoprive Tiere auf konjunktivale 
Instillation von Adrenalin mit Mydriasis reagieren, was von FaUa 
(21) und Zak (62) bestatigt wurde. Aueh peritoneale Reizungen, 
Duodenalverletzungen u. a. haben dieselbe Wirkung (Zak), ebenso 
Thyreoidinfiitterungen (Eppinger, FaUa und Budinger (19)^, 
Ligatur oder Fistel des Ductus thoracicus ( Biedl und Offer (6)) 
und kiinstliche Adrenalinfiberschwemmung (Cords). 

Auch diese Befunde lassen sich durch Erregbarkeitsverande- 
rungen im Sympathicus-System unschwer deuten; sie sind fur die 
vorliegende Frage bedeutungsvoll, weil sie zeigen, daB Storungen 
der inneren Sekreiion zu Adrenalin-Mydriasis fiihren oder jedenfalls 
mit ihr Hand in Hand gehen konnen, und gerade dieser Gesichts- 
punkt lieB es aussichtsvoll erscheinen, Dementia-praecox-Kranke 
einer derartigen Untersuchung zu unterziehen; liefi sich dock hoffen, 
so eine einfache und ungefahrliche somatisch-klinische Untersuchungs- 
methode zu schaffen, urn die Dementia praecox mit ihren vielgestaltigen 
und komplizierten innersekretorischen Anomalien von anderen 
,,funktioneUen“ Psychosen abzugrenzen. 

Mehr als einer Fehlerquelle muB endlich noch eines Befundes 
gedacht werden; bereits Landolt (14) stellte 1899 fest, daB svJb- 
konjunktivale Adrenalininjektionen beim Kaninchen zu Mydriasis 
fiihren; sie beginnt bald nach der Injektion, und zwar zunachst 
mit einer sektorenformigen eckigen Verziehung der Iris nach der 
Injektionsstelle zu. Ebenso tritt bei alien lokalen Prozessen, die 
zu einer erhohten Durchlassigkeit der Cornea fiihren, Adrenalin- 
Mydriasis auf, da hier eine ganz unverhaltnismaBig konzentrierte 
Adrenalin-Losung direkt mit der Iris in Verbindung kommt, wie 
besonders Bittorf (7) betonte. 

Diesen physiologischen Befunden entsprechen die bisher vor- 
liegenden klinischen Daten. 

So wurde von MeUzer-Auer (40), Zak (62), Qavirelet (26) und 
Cords (14) Adrenalin-Mydriasis bei Sympathicus-Lahmung ge- 
funden, ferner von Zak bei verschiedenen organischen Affektionen 
des Zentralnervensystems (Meningitis tuberculosa, Hydrocephalus, 
Encephalitis, Sklerosis multiplex und vieles andere). 

Wahrend der Niederschrift dieser Arbeit hat Antoni (2) aus 
der Stockholmer psychiatrischen Klinilr Untersuchungen fiber das 
Vorkommen von Adrenalin-Mydriasis bei Psychosen mitgeteilt. 
Er fand bei 20 Fallen von Dementia paralytica 9 mal Adrenalin- 
Mydriasis ,,bei konjunktivaler Applikation”; darunter befanden 
sich frische und altere Falle. Zur Lichtreaktion bestand kein regel- 
maBiges Verhalten. Antoni laBt es offen, ob diese Befunde in 
Analogie zu den Za&schen Stimhimexperimenten zu setzen oder 
im Sinne einer erhohten sympathischen Erregbarkeit aufzu- 
fassen sind. 

Weiter hat Antoni bei einer groBen Anzahl von verschiedenen 
Psychosen Lasionen des Comealepithels durch Reibung mit Watte- 

14* 


Digitized 


Goi 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



208 


Schultz, Beitrage zur somatischen Symptomatik 


bauschchen (!) gesetzt und nun die tierexperimentellen Befunde 
von LandoU u. A. bestatigt, daB die Iris sich erweitert, und zwar 
zuerst sektorenformig nach der Seite der Verletzung. Bei Gesunden 
will er unter denselben Verhaltnissen keinerlei Irisveranderung, 
jedenfalls nie rasche Erweiterung, gesehen haben. 

Femer hat Antoni „an einem sehr groBen Kontrollmaterial 
von Geisteskranken, somatisch Kranken, Gesunden" es als ,,etwas 
ganz Gewohnliches" beobachtet, daB eine deutliche Erweiterung 
der Pupille auf Adrenalininstillation eintritt. Ueber die Grundlagen 
dieser Befunde spricht sich Antoni nicht naher aus. 

Da er weder iiber das verwandte Praparat noch uber die 
Teclinik nahere Angaben macht, ist es schwer, zu seinen Resultaten 
Stellung zu nehmen; jedenfalls stehen sie im Widerspruch zu den 
bisher vorliegenden Mitteilungen. Cords konnte z. B. bei 60 mit 
alien Kautelen, auch bei volligem LichtabschluB untersuchten 
Normalpersonen jeden Alters mit der von ihm genau beschriebenen 
und in sicher pathologischen Fallen einwandsfrei arbeitenden 
Methode keinerlei Reaktion der Iris auf konjunktivale Adrenalin- 
instillation feststellen. 

Vielleicht erklaren sich diese Differenzen durch Verschieden- 
heit der verwandten Praparat e; Antoni spricht von 1 proz. Adre¬ 
nalin. Es sind hier noch eingehende Mitteilungen abzuwarten. 
Die Unabhangigkeit der Adrenalinempfindlichkeit von der Licht- 
reaktion der Pupille ist bereits 1910 von Cords hervorgehoben 
worden und bei der Verschiedenheit der reizempfanglichen Apparate 
a priori anzunehmen; endlich diirften experimentelle Iiisionen 
der Cornea nicht so zu graduieren sein, daB aus den mit ihrer Hilfe 
gewonnen Versuchsergebnissen irgend ein begriindeter SchluB 
abzuleiten ware. 

Die physiologischen Beobachtungen von Adrenalin-Mydriasis 
bei Storungen der inneren Sekretion haben eine Reihe von Nach- 
priifungen bei Krankheitsbildem gefunden, deren Grundlage in 
innersekretorischem Anomalien angenommen wird, so besonders 
bei Basedow und Diabetes. Die Zahl positiver Ergebnisse ist bei 
verschiedenen Untersuchem recht verschieden; Loewy fand von 
18 Diabetikem 10, FaUa von 36 15 positiv; Zak gibt 50, Bittorf 
20pCt. positive Resultate an, Cords endlich beobachtete nur bei 
3 von 11 Fallen deutliche Adrenalin-Mydriasis. Eine klare Bezie- 
hung zum Krankheitsverlauf trat nicht hervor. 

Bei Basedow wurden erheblich weniger positive Falle ge¬ 
funden; Loewy sah unter 3 Fallen 1 positiven, Falta , Budinger 
und Eppinger unter 20 3, Cords unter 5 keinen. 

Ich fand 1911 bei 2 Fallen von Sklerodermie, einem fortge- 
schrittenen, universellen, und einem initialen, sehr deutliche 
Adrenalin-Mydriasis; trophische Storungen der Cornea, die in 
solchen Fallen eine erhebliche Fehlerquelle darstellen (Cords), 
bestanden nicht; Cassirer (12) sah in einem Falle von Sklerodermia 
diffusa keine Erweiterung der Pupille auf Adrenalininstillation. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Diagnostik der ,,Dementia praecox“. 


209 


Die Tatsache, daB Erregbarkeitsveranderungen im Sym- 
pathicusgebiet zu Adrenalin-Mydriasis fxihren, laBt es unumganglich 
erscheinen, der neueren Umgrenzung der Begriffe der Sympathico- 
und Vagotonie noch kurz zu gedenken. 

Es ist das unbestreitbare Verdienst der Wiener Kliniker 
Falta, Rudinger, Eppinger und Hefi, versucht zu haben, die Einzel- 
beobachtungen spezifischer pharmakologischer Erregbarkeit des 
vegetativen Nervensystems zu einer methodischen Priifung zu er- 
heben, wenn sie auch das hochgesteckte Ziel, eine ,,Neurologie der 
inneren Organe" zu schaffen, nur zum Teil erreichten. 

Bekanntlich unterliegen die vegetativen Organe einer kompli- 
zierten Doppelinnervation, die einerseits von dem ,,sympathischen", 
andererseits von dem ,,erweiterten“ Vagus-System ausgefiihrt wird. 
Das erweiterte Vagussystem, das neuerdmgs auch als, ,parasympathi- 
sches System“bezeichnet wird,zerfallt in einen mesenzephalenAnteil, 
dem im wesentlichen der Oculomotorius entspringt, einen bulbaren 
mit Facialis, Glossopharyngeus und Vagus und einen sakralen mit 
dem Hauptstamm des Nervus pelvicus; alle diese ,,autonomen“ 
Stationen sind durch peripher vorgeschobene Ganglienzellen, z. B. 
das Ganglion ciliare im Oculomotoriusanteil, charakterisiert. 
Ihnen steht die im Grenzstrang auch anatomisch mehr geschlossene 
Einheit des Sympathicus gegeniiber. 

Neben dieser anatomischen Scheidung, aber nicht in so genauer 
Deckung mit ihr, wie die Wiener Forscher anfangs annahmen — 
auf diese Divergenz haben neuerdings namentlich Bauer (4), 
Lewandowsky (37), Higier (29) und Biedl (5) hingewiesen—, besteht 
ein funktioneller und pharmacodynamischer Antagonismus; so 
■wird z. B. die Iris durch den Sympathicus erweitert, durch den 
Oculomotorius verengert, und pharmacodynamisch laBt sich das 
Bcsultat der Mydriasis sowohl durch das spezifische Reizmittel 
des Sympathicus, das Adrenalin, als durch das Lahmungsmittel 
des autonomen Systems, das Atropin, erreichen. Reizmittel des 
autonomen Systems — Pilocarpin, Eserin und verwandte — 
fiihren zu Verengerungen, die sich auch durch ein spezifisches 
Lahmungsmittel des Sympathicus darstellen lieBe, wenn ein 
solches bekannt ware. Dieselben Gegenwirkungen lassen sich fast 
an der Gesamtheit der vegetativen Organe, an Speicheldriisen, 
Oesophagus, Darmmotilitat usw., und an den Mechanismen nach- 
weisen, die der Kohlehydratmobilisierung vorstehen. Von be- 
sonderer Bedeutung ist endlich die Tatsache, daB jedes der beiden 
Systeme in demselben Organ hemmende und fordemde Einfliisse 
ausuben kann — es sei an die sympathische Hemmung der My¬ 
driasis erinnert —, so daB eine vierfache Innervation besteht. 

Eine Gleichgewichtsstorung in dieser Gegenspannung beider 
Systeme, im ,,Neurotonus“, fiihrt nach Ansicht der Wiener Forscher 
iiber ,,konstitutionelle“ Anomalien zu ausgepragten Krankheits- 
bildem, zur ,,Vagotonie" — mit herabgesetzter Anspruchsfahigkeit 
fiir sympathicotrope Substanzen und gesteigerter Pilocarpin- 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



210 


Schultz, Beitrage zur somatischen Symptomatik 


empfindlichkeit — oder zur „Sympathicotonie“ mit den entgegen- 
gesetzten Kriterien. 

Die weitere klinische Analyse bekannter Krankheitsbilder, so 
namentlich des Morbus Basedow, nach den Prinzipien dieser 
,,Funktionspriitung des vegetativen Systems*' hat abei sowohl den 
Begriindem der Lehre selbst, als ihren Nachpriifem, von denen 
besonders Petrin und Thorling (5), Bauer (4), Schwenker und 
Schlicht (5), A8chenheim und Tomono (4), Skorzefski und Wasset - 
berg (47) und neuestens Port und Brunow (47) zu nennen sind, 
ergeben, daB reine Typen der geforderten Art selten sind — ein fast 
vollig ,,vagotoner“ Zustand ist z. B. das Asthma bronchiale — und 
daB, wie dies auch Peritz (46) neuerdings bei Spasmophilie und 
Wentzer (59) bei Neurosen feststellten, bei krankhaften Zustanden 

i. a. eine diffuse Erhohung der Beizempfindlichkeit ohne charakteristi- 
sche Reaktionsveranderung vorherrscht. 

Oanz besonders gilt dies fur Erkrankungen, die mit erheblichen 
psychischen Alterationen einhergehen ; so ist fur die hier vorliegende 
Fragestellung eine Beobachtung von Eppinger und Hefi (20) 
bedeutungsvoll: es sollen beim Morbus Basedowii die rein vagotonen 
oder sympathicotonen Falle psychisch unauffallig, dagegen die 
„gemischten“ Falle stets psycho-pathologisch eigenartig sein 1 ); 
femer haben bereits Eppinger und Hefi, spater Potzl, auch bei 
Psychosen ,,Funktionspriifungen des vegetativen Nervensystems** 
vorgenommen. Sie betonen, ,,daB auf der Hohe psychischer Er- 
regung auch das Gleichgewicht des viszeralen Nervensystems er- 
schiittert wird“; antagonistische Reizmittel haben kurze Zeit 
hintereinander denselben auBerordentlich starken Effekt, so daB 
bei der gewohnlichen Pilocarpindosis (0,01), z. B. bei manchen 
besonders erregten Dementia-praecox-Kranken, ,,fast in kontinuier- 
lichem Strahle Nasen- und Mundschleimhaut sezemieren**. Auch 
Spermatorrhoe, Erbrechen und profuse SchweiBe treten bei diesen 
Kranken gelegentlich auf; dagegen zeigten andere, namentlich 
stupordse Kranke eine herabgesetzte Reaktion auf die spezifischen 
Reizmittel beider Gruppen. ,,Vielleicht spielt .... der Wegfall 
zentraler Faktoren eine Rolle, von denen man annehmen kann, daB 
sie unter physiologischen Bedingungen den Antagcnismus der 
viszeralen Nerven kontrollieren** (Eppinger und He/3 (20a )). 

Nach diesen Ergebnissen der physiologischen und klinischen 
Forschung laBt sich der heutige Stand unserer Kenntnisse uher die 
Adrenalin-Mydriasis dahin zusammenfassen: 

Adrenalin-Mydriasis, d. h. Erweiterung der Pupille, auf 
Instillation von Adrenalin in den Konjunktivalsack tritt auf 

1. bei erhohter Durchlassigkeit der Cornea, 

2. bei Veranderung der sympathischen Innervation und — 
wahrscheinlich im Zusammenhang hiermit — 

3. bei organischen Lasionen des Stirn-GroBhirns, 

4. bei innersekretorischen Storungen und 

5. bei peritonealen Reizungen. 

*) S. a. v. Noorden jr. Dissert. Kiel 1910. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Diagnostik der ..Dementia praecox". 


211 


Bei remen und symptomatischen Psychosen ist mit einer 
diffusen Veranderung der Reizempfindlichkeit zu rechnen. (Durch- 
brechung des ,,Yago“- oder „Sympathico-tonus“.) 

Da die Empfanglichkeit der Iris fur konjunktival eingebrachtes 
Adrenalin aber bei verschiedenen Storungen des innersekretorischen 
Gleichgewichts und der pharmacodynamischen Ansprechbarkeit 
gleichmaCig erhoht sein kann, erschien die systematische Priifung 
auf Adrenalin-Mydriasis trotzdem aussichtsvoll; sie geschah im 
Hinblick auf die Moglichkeit, so ein einfaches, praktisch-klinisch 
leicht anwendbares Hilfsmittel zu gewinnen, um die Psychosen 
unklarer Aetiologie mit erheblichen innersekretorischen Storungen, 
insbesondere die Dementia praecox, von anderen, symptomatolo- 
gisch nahestehenden Bildem zu differenzieren. Es handeli sich 
also im folgenden um eine rein klinische FragesteUung. 

II. Klinische Untersuchungen. 

Die Priifung auf Adrenalin-Mydriasis ergibt nur dann ver- 
gleichbare Resultate, wenn jede Untersuchung unter Innehaltung 
bestimmter technischer Kautelen ausgefiihrt wird. 

Cords (14) hat in seiner Monographic die entsprechenden MaB- 
nahmen von ophthalmologischem Standpunkte aus genau prazisiert. 
Die Yersuchspersonen miissen sich vorher mindestens eine Yiertel- 
stunde, besser langere Zeit, bei einer gleichmaBig intensiven Be- 
leuchtung vorbereiten; das Verhalten der Pupillen wird in dieser 
Zeit kontrolliert und erst zum Versuche geschritten, wenn die 
Pupillen sich langere Zeit konstant halten. Nun wird die Weite der 
Pupillen genau notiert; bei diesen Beobachtungen empfiehlt es sich, 
nach meiner Erfahrung, die Befunde von mehreren Untersuchem 
f estlegen zu lassen; wahrend nun Cords bei seinen tierexperimentellen 
und klinischen Beobachtungen die absolute Weite der Pupillen 
gemessen hat, habe ich zunachst in zahlreichen Yorversuchen mich 
davon iiberzeugt, daB fur praktisch-klinische Zwecke eine aus- 
reichende Genauigkeit erzielt wird, wenn ein Auge instilliert und 
nun die Weite beider Pupillen verglichen wird. Wenn auch viel- 
leicht bei diesem groberen Verfahren manche minimalen Aus- 
schlage nicht nachweisbar sind, so hat es den namentlich in der 
psychiatrisch-klinischen Tatigkeit erheblichen Yorteil, daB die 
Benutzung komplizierter MeBinstrumente vermieden wird; in einer 
groBeren Anzahl von Kontrollversuchen wurde „unwissentlich“ 
gearbeitet, so daB derKollege, der das Resultat zu bestatigen hatte, 
nicht wuBte, in welches Auge instilliert und wie das Yerhaltnis 
der Pupillenweiten vorher gewesen war. Es haben sich hier stets 
iibereinstimmende Befunde ergeben. 

Es wurden jeder Yersuchsperson innerhalb 5 Minuten 3mal 
2 Tropfen einer 1 promil. Losung von Suprareninum hydrochloricum 
syntheticum (Hochst) bei riickwarts gebeugtem Kopfe, eventuell 
in Biickenlage konjunktival instilliert, darauf das Auge 10 Minuten 
geschlossen gehalten und die Pupillenweite hierauf, so wie mehrfach 
in Abet&nden von viertel und halben Stunden notiert. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



212 


Schultz, Beitrage zur somatisoheu Symptomatik 


Digitized by 


Bei manchen, namentlich abweisenden Kranken, ist die Ein- 
traufelung ein wenig geduldspriifend. Auch beschrankt gelegentlich 
Zukneifen der Augen oder sonstiger Widerstand die Zuverlassigkeit 
der Resultate. Ich habe daher im Zweifelsfalle nur solche Versuche 
verwerlet, wo eine deutliche Anamie der Lidschleimhaut am 
Verauchsauge bewies, daB das Praparat eine geniigende Zeit auf 
die Bulbusoberflache eingewirkt hatte. 

Wichtig ist es endlich, die Versuchspersonen auch nachher 
noch zu beobachten; wahrend bei Sympathicuslahmungen und 
Comealdefekten die Mydriasis schnell erscheint, wird sie bei inner- 
sekretorischen Storungen oft erst nach einiger Zeit — 30 bis 60 Mi- 
nuten — deutlich, wie alle Beobachter hervorheben. In manchen 
Fallen meines Materials blieb die einmal gesetzte Differenz fiber 
Tage bestehen. 

Irgendwelche Nachteile fiir die Versuchsperson habe ich nie 
beobachtet. Ebenso wenig Cords; Post (zit. nach Cords) sah mehr- 
fach heftige Kopfschmerzen nach der Instillation, doch steht diese 
Angabe ganz vereinzelt da. 

Bei Normalen (20) konnte ich nie eine Adrenalin-Mydriasis 
beobachten. 

Mein Krankenmaterial besteht zurzeit aus 150 zum groBen 
Teile mehrfach untersuchten Fallen; am iibersichtlichsten stellen 
sich die Resultate dar, wenn zuerst die Falle organischer Erkran- 
kung des Zentralnervensystems, dann gruppenweise die ver- 
schiedenen „funktionellen“ Affektionen tabellarisch zusammen- 
gestellt werden. Es handelt sich nur um ausgesprochene, dia- 
gnostisch einwandsfreie Falle, soweit nichts anderes ausdriicklich 
bemerkt ist. 


1. Organische Erkrankungen (28 F&lk). 



Zahl 

der 

Fftlle 

6 

Q 

+ 

T 

— 

Berner kungen 

Paralyse. 

9 

9 


4 

2 

3 

_ 

Taboparalyse. 

2 

2 

— 


— 

2 

— 

Lues cerebri. 

3 

2 

1 

— 

1 

2 

— 

Alkoholismus. 

3 

3 

— 

1 

— 

2 

— 

Alkoholismus + Korsa¬ 
koff . 

1 

1 

__ 

_ 

. 1 

1 

— ■ 

Alkoholismus + Senium 

1 

— 

1 

— 

— 

1 

— 

Cere brale Kinder lahmung 
+ Epilepsie-Trepana- 
tion. 

1 

1 


1 



Kein sicherer 

Taubstummheit, Schftdel- 
defekt. 

1 

1 




1 

kontralateraler 

EinfluO. 

Sklerosis multipl. mit De- 
menz. 

2 

1 

1 

2 


_ 

— 

Sklerosis multipl. ohne 
Demenz. 

1 

1 

_ 


_ _ 

1 

— 

Chorea Huntington fort- 
geschritten. 

2 

2 

—. 

1 

1 

— 

— 

Senile Demenz. 

2 

— 

2 

2 

— 

— 

j — 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 













und Diagnostik der ..Dementia praecox“. 


213 


Digitized by 


Die Resultate stehen in guter Uebereinstimmung mit den 
von Zak, Cords u. A. berichteten klinischen Befunden, sowie mit 
den Tierexperimenten von Shima ; von besonderem Interesse ist 
der Befund, daft auch die senile Involution des Gehims zu Adrenalin- 
Mydriasis zu disponieren scheint, ferner die positiven Resultate 
bei zwei Fallen von Huntington-Chorea. Eigenartig ist ferner die 
Divergenz der Befunde bei reinen Paralysen, die bei unserer Ver- 
suchsanordnung h&ufig positiv sind, und bei Lues cerebri und 
Taboparalyse; eine Diskussion dieser Befunde erscheint zurzeit 
verfriiht. Sie miissen erst an einem groBeren Materiale verifiziert 
werden und sollen hier nur als Kontrollmaterial dienen. Jedenfalls 
ze ; gen von 28 Fallen organischer Himaffektionen 11 eine sichere, 
4 eine fragliche Adrenalin-Mydriasis. 

Ganz anders stellt sich dem gegeniiber das Resultat bei 
„funktionellen“ Affektionen ausschlieBhch der Dementia praecox 
dar. 


2. „Funktionelle“ Psychosen and Neurosen, 

ausschlieClich Dementia praecox (48 Falle). 



Zahl 

der 

Fftlle 

6 

Q 

Resultat 

Bemerkungen 

Epilepsie. 

9 

5 

4 

Samtlich — 

Es handelt sich 
tails um frische, 
tails um alte, 
auch demente 

Falle. 

Hysterie. 

Psychopath. Konstitu- 

9 

2 

7 

Samtlich — 

— 

tion. 

3 

2 

1 

Samtlich — 

— 

Imbecillitat. 

3 

1 

2 

Samtlich — 

— 

Imbecillitat + Hysterie 

2 

— 

2 

Samtlich — 

— 

Melancholia. 

13 

2 

11 

Samtlich — 

— 

Marne. 

Cyklothymie + Base¬ 
dow + degenerative 

2 


2 

Samtlich — 


Ziige. 

Hypochondrie + Art¬ 

1 

* 

1 

+ 


eriosklerose . 

2 

2 

— 

Samtlich —- 

— 

Paranoia. 

1 

1 

—. 

Samtlich — 

— 

Degenerative Psychosen 

3 

2 

1 

2 — 

1 + 

• 


Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind um so mehr von 
Bedeutung, als es sich, mit einziger Ausnahme der Maniefalle, um 
vollig geordnete Kranke handelt, die sich willig und, zu einem 
groBen Teile mehrfach untersuchen lieBen. Diese rein ,,funk- 
tionellen“ Erkrankungen verhalten sich hinsichtlich der Adrenalin- 
Mydriasis wie normale Individuen; besonders zu erwahnen ist, 
daB sich sowohl unter den Melancholien als unter den Hypo- 
chondrien Falle finden, die mit Arteriosklerose kompliziert sind. 
Endlich verlangen die beiden positiven Falle eine kurze Er- 
orterung. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 












214 


Schultz, Beitrage zur eomatischen Symptomatik 


Die positive Adrenalin-Mydriasis bei einer Zyklothymen mit 
Basedow ist nach den sonstigen Resultaten bei nakestehenden 
Fallen — Manie, Melancholie, Hypochondrie — mit groBter Wahr- 
scheinlichkeit auf die innersekretorische Storung zu beziehen; 
es handelt sich um eine 30jahrige Frau mit Struma, leichtem 
Expohthalmus, Tremor manuum, gelegentlicher Taehykardie und 
ausgesprochenen vasomotorischen Storungen. Das Blutbild zeigt 
eine deutliche Mononukleose. Das psychische Bild wird von 
wechselnd intensiven Depressionen, meist exogener Auslosung, 
bekerrscht und ist durck zaklreicke Symptome hysteropathischer 
Reaktion, besonders ausgepragte hysterische Anfalle kompliziert. 
Daneben besteht eine hypomanische, wohl konstitutionelle Grund- 
stimmung, die in den Depressionsintervallen deutlick kervortritt. 
Es handelt sick demnack um einen Grenzfall zwiscken der degenera- 
tiven und eigentlick manisck-depressiven Gruppe. 

Es ist nun von Interesse, daB auck der zweite positive Fall 
dieser Gruppe den degenerativen Zustandsbildem einzureiken ist. 

Es kandelt sick um eine 40 jakrige Frau, die seit 1898 zu wieder- 
kolten Malen in der kiesigen Klinik bekandelt wurde; sie stammt 
aus einer degenerativen Familie und kat bei ihren verschiedenen 
Intemierungen ungemein wechselvolle Bilder geboten von akuter 
Verwirrtheit bald angstlicher, bald heiterer Farbung, ekstatischen 
Zustanden, heftigen Affektexplosionen bis zu pseudoasthmatischen 
Syndromen, akutem Haarausfall und epileptiformen Anfalien; 
in den freien Intervallen zeigt sie sich geordnet, einsichtig und fleiBig. 
Nach den jahen Schwankungen der Zustandsbilder, dem symp- 
tomatischen Polymorphismus und der proteusartigen Unbestandig- 
keit und TJnscharfe der klinischen Einzelbilder, wird auch hier eine 
degenerative, konstitutionelle Psychose anzunehmen sein. 

Beide Falle zeigten bei der Abderhalden-V ntersuchung Schild- 
driisenabbau. (Wegener.) 

Jedenfalls bedarf die Gruppe der ..degenerativen Psychosen" 
noch eingehender Bearbeitung beziiglich der Adrenalin-Mydriasis. 


3. Dementia-praecox-Kranke (60 Fhlle). 


Dementia 

praecox 

Zahl der 
Falle 

+ 

+ T 

paradox 

— 

Bemerkungen 


Q 19 

8 

2 

4 

5 

Sichere F&Ue. 


<3 34 

20 

5 

7 

2 

— 


Q 4 

0 

0 

0 

4 

Fragliche FftUe. 


3 3 

0 

0 

0 

8 

— 


Von 53 klinisch absolut einwandsfreien Fallen von Dementia 
praecox zeigen 28 deutliche, zum Teil auBerordentlich starke 
Adrenalin-Mydriasis, 7 fragliche, 7 verhalten sich refraktar; dagegen 
sind 7 klinisch der Dementia praecox verdachtige Kranke samtUch 
negativ. Es handelt sick bei diesen 7 Fallen um das Grenzgebiet 
gegeniiber der Paranoia (3), dem degenerativen Irresein (1), der 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Diagnostik dor ,,Dementia praeoox“. 


215 


Hysterie (1) und der Imbezillitat (1). Ein Fall endlich ist auf 
hereditar-luetischer Grundlage, aber ohne ,,organische“ Symptome 
unter dem Bilde einer Hebephrenie erkrankt. 

Die Anordnung der sicheren Falle nach den Untergruppen der 
Erkrankung zeigt, dab 6ich die Eesultate im allgemeinen bei den 


4. Untergruppen der Dementia praecox 



Zahl 

der 

Fall© 

++ 

+ 

+ t 

paradox 

— 

Bemerkungen 

Hebephrenie .... 

22 

1 

10 

4 

4 

3 

_ . 

Katatonie. 

20 

3 

8 

1 

4 

4 

— 

Dementia praecox sim¬ 
plex -f paranoides 

8 

0 

5 

2 

0 

1 

_ 

Akute. 

8 

2 

4 

1 

1 

0 

—• 

Chronische. 

42 

2 

19 

6 

7 

8 

— 


verschiedenen Verlaufsformen gleichmaBig verteilen, sowohl was 
das Symptombild (Hebephrenie, Katatonie, Dementia praecox 
simplex und paranoides), als was dieDauer der Erkrankung betrifft. 
Auch zu dem gerade bei der Untersuchung vorliegenden sym- 
ptomatischenBUde, zurAffektlage undpsycbomotorischenReaktion 
heBen sich eindeutige Beziehungen nicht nachweisen. Die Medi- 
kation ist gleichfalls ohne Einflufi, insbesondere verandern Sedative 
und Hypnotika die Reaktion nicht. Dies entspricht den Ergebnissen 
der experimentellen Forschung, daB auch in tiefer Narkose die 
Adrenalin-Mydriasis beim geeigneten Tier auslosbar ist (Cords). 

Yon besonderem Interesse ist die Tatsache, daB eine Anzahl 
von Dementia-praecox-Fallen auf die Adrenalininstillation paradox, 
d. h. mit einer deutlichen Verengerung der Pupille, reagieren; es 
sind dies meist Kranke mit an und fair sich mittelweiten oder unter- 
mittelweiten Pupillen; derartige paradoxe Reaktionen auf Hormone 
sind bereits auf anderen Gebieten beobachtet. So sollen Diabetiker 
nach den Beobachtungen von Falta, Newbugh und Nobel (22) auf 
Schilddrusenfiitterung nicht wie normale Individuen mit Blut- 
drucksenkung, sondem mit Blutdrucksteigerung reagieren. Femer 
zeigte H. H. Dale (5), daB mit Ergotoxin-Praparaten vergiftete 
Tiere auf Adrenalin nicht mehr mit Blutdrucksteigerung, sondem 
Blutdrucksenkung reagieren. Nach dem spezfisch lahmenden Ein- 
flusse des Ergotoxins auf die fordemden Sympathicusendigungen 
erscheint es als das Wahrscheinlichste, daB unter diesen Umstanden 
nur noch die hemmenden sympathischen Mechanismen fur die 
Reizung erhalten bleiben; wahrend sonst bei der Adrenalinwirkung 
die hemmenden Wirkungen durch das physiologische Uebergewicht 
der fordemden, nicht manifest werden, treten sie nun unter dem 
EinfluB der Reizung hervor. Es konnte demnach bei den ,,paradox" 
auf Adrenalin reagierenden Fallen mit dem Vorhandensein einer 
dem Ergotoxin verwandten (wohl endogenen?) Vergiftung hypo- 
thetisch gerechnet werden. Ein ahnlich paradoxes Yerhalten 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 






216 


Schultz, Beitr&ge zur somatischen Symptomatik 


beschreibt Schmidt (52) hinsichtlich des Blutdruckes bei Dementia 
praecox gegeniiber Adrenalin. 

Um der Frage naher zu kommen, ob die beobachteten Storun- 
gen der Adrenalin-Empfindlichkeit bei Dementia praecox in Ver- 
schiebungen der zentralen Erregbarkeit unklarer Genese begriindet 
Bind oder ob vielleicht direkt nachweisbare Anomalien im Adrenalin- 
stoffwechsel bestehen, wurden bei 40 Dementia-praecox-Kranken 
und anderen Psychosen und normalen Kontrollpersonen Be- 
stimmungen des Serumgehaltes an vasokonstriktorischen Substanzen 
vorgenommen, ebenso an 31 Prdben von Liquor cerebro-spinalis 1 ). 

Das Adrenalin kann chemisch oder biologisch nachgewiesen 
werden; die biologischen Methoden bedienen sich meist iiber- 
lebender Tierorgane, an denen die Wirksamkeit der Untersuchungs- 
fliissigkeit gepriift und womoglich mit einer gleich wirksamen 
Adrenalinlosung geeicht wird. Als Testobjekt kann das Froschauge 
(Ehrmann (11)), die iiberlebende GefaBwand (Meyer (5)), der 
iiberlebende Darm (Hoskins (30)) oder Kaninchenuterus (Fraenkel 
(24)), kurz jedes Organ mit entsprechenden, leicht registrierbaren 
Reaktionserscheinungen auf Adrenalin benutzt werden. Die beste 
derzeitige Methode diirfte die Laewen- Trendelenburgsche sein. 
Hier wird die iiberlebende untere Korperhalfte von Rana esculenta 
von der Aorta aus unter konstantem Druck mit Ringer- oder 
Thyrode-Losung durchspiilt und die Zahl der aus der Vena abdomi¬ 
nals abfallenden Tropfen graphisch oder durch Zahlen registriert. 
Bleibt das Praparat konstant, so wird in den Zufuhrungsschlauch 
die Untersuchungsflussigkeit mittels Spritze injiziert; enthalt die 
Fliissigkeit gefaBverengemde Substanzen, so sinkt die Tropfenzahl. 
Trendelenburg (57) gelang mit sehr empfindlichen Praparaten der 
„Adrenalinnachweis“ bis 1 : 800 000 000. 

Wenn auch durch O'Connor (13) darauf hingewiesen ist, daB 
bei der Serumabscheidung durch spontane Gerinnung noch vaso- 
konstriktorische Substanzen frei werden, habe ich doch bei dieser 
ersten Untersuchungsserie von der Verwendung von Plasma ab- 
gesehen, da die bisher vorliegenden Bestimmungen am Blutserum 
ausgefiihrt sind und es mir zunachst daran lag, vergleichbare 
Resultate zu gewinnen. 

Von den zahlreichen bisher vorliegenden Untersuchungen iiber 
den „Adrenalin“-Gehalt des menschlichen Blutserums sind hier 
zunachst die Befunde von Trendelenburg (57) wesentlich, die bei 
normalen Menschen einen Titer von 1 : 2-—2,5 Millionen per ccm 
ergeben; femer scheinen im Verlaufe der weiblichen Fortpflanzungs- 
tfitigkeit erhebliche und konstante Schwankungen zu bestehen, 
die sich mit der Uterusmethode [iVew (43)] und dem Laewen- 
Trendelenburgschen Praparat demonstrieren lassen und endlich 
darf eine Adrenalinamie beim Morbus Basedowii als hochstwahr- 


*) Die Untersuchungen wurden im physiologischen Institut der Uni- 
versitat ausgefiihrt. Herrn Geheimrat Biedermann, sowie besonders Herm 
Professor Schulz bin ich fur die iiberaus giitige Unterstiitzung zu groOtem 
Danke verbimden. 


Digitized by 


Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Diagnostik der ,,Dementia praecox“. 


217 


scheinlich angesehen werden [Fraenkel (24), Brocking-Trendelen- 
burg (57)]. Bei Krankheit sbddern mit Blutdrucksteigerung ist 
eine Adrenalinamie nicht nachweisbar. 

Bei Psychosen hat neuerdings Kasten (31) den Adrenalingehalt 
des Blutes gepriift; seine Untersuchungen beziehen sich auf Im- 
bezille und Senile 

Dagegen ist im Liquor bisher eine vasokonstriktorische Sub- 
stanz noch nicht nachgewiesen; Biedl erwahnt kurz, dab Versuche 
seines Schulers Schivasing negativ ausfielen, eine Notiz, die ich 
erst nach Peststellung und versuchsweiser theoretischer Deutung 
meiner Befunde bemerkt habe. 

Einige beiliegende Kurven eigener Versuche geben ein Bild 
von der Leistungsfahigkeit der Methode; auf Kurve I sind die be- 
obachteten Punkte durch kleine Kreise markiert. 

Eine wesentliche Fehlerquelle der Methode ist darin gegeben, 
daB die Empfindlichkeit des Praparates schwankt, ganz besonders 
jetzt, wo nur Sommerfrosche zur Verfiigung stehen; es ist daher 
notwendig, das Praparat fortlaufend durch Adrenalinpriifungen zu 
eichen. Mit dieser VorsichtsmaBregel gelingt es aber meist, einiger- 
maBen verwertbare Resultate zu gewinnen, wenigstens soweit, 
daB die GroBenordnung des Gehaltes an vasokonstringierenden 
Substanzen festzulegen ist. Selbstverstandlich muB jede Unter- 
suchungsflussigkeit vielfach in gleichen und verschiedenen Konzen- 
trationen gepriift werden. 

Unter Beriicksichtigung dieser Kautelen, und der von Tren¬ 
delenburg neuerdings hervorgehobenen Technizismen, sind die 
folgenden Werte gewonnen. 


5. Gef&Bverengernder Titer 

nach Suprarenin. hydroohlor. synthetic. Hoohst von 0,1 Blutserum. 


Material 


ViX 

v,x 

V»x 

10—• 

IX 

*/,x 

7»x 

7.x 
10—’ 

<7»x 
10—» 

10—* 

Normale. 

7 




7 



_ 



Neurasthenic . . . 

1 

— 

—. 

—i 

1 

— 

-- 

— 

— 

—. 

Tumor cerebri . . . 

1 

—. 

— 

— 

1 

—, 

-- 

—. 

— 

— 

Dementia praecox 
akut. 

2 



1 






1 

Hebephren . . . . 

5 

— 

—. 

— 

— 

2 

1 

2 

-- 

—. 

Kataton. 

13 

— 

—. 


1 

1 

4 

6 

1 

—. 

Epilepsie. 

Akute Erregung . . 
MelancholiemitAngst 

2 

—. 

—. 

1 

—. 

1 

— 


— 

—. 

6 

— 

1 

-- 

2 

1 

— 

_ 

__ 

_ 

4 

2 

1 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

_ 

Debilitat, Basedow . 

1 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


Bei der Tabelle ist besonders zu betonen, daB die Normalfalle 
sich iiber eine groBe Anzahl von Versuchen an verschiedenen Prapa- 
raten verteilen; es handelt sich um Blutsera vonPflegem und Aerzten 
der Klinik. Bei den Dementia-praecox-Kranken fallen die im all- 
gemeinen recht niedrigen Werte auf, wahrend angstliche Melan- 
oholien und ein Basedow ziemlich hohe Werte zeigen. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 







218 


Schultz, Beitr&ge zur somatischen Symptomatik 


Selbstverstandlich kann die kleine Tabelle an sich keinerlei 
Anspriiche erheben; es handelt sich hier nur darum, ob den Diffe- 
renzen der Pupillarreaktion auf Adrenalin typische Unterschiede 
im Gehalt des Blutserums an gefaBverengemden Substanzen ent- 
sprechen. Dies ist nun in keiner Weise der Fall, vielmehr verteilen 
sich Pupillenweite und Adrenalinempfindlichkeit im Vergleich zum 
,,Adrenalin“-Gehalt ganz regellos; auch die ,,paradoxen“ Falle 
nehmen keinerlei deutliche Ausnahmestellung ein. Immerhin ist 
der Befund beachtenswert, daft bei 18 chronischen Fallen von 
Dementia praecox ein so auffallend gleichmaBig niedriger Gehalt 
an gefaBverengemden Substanzen gefunden wurde. Eine kon- 
stante Beziehung zum Nebennieren-Abbau im Abderhalden-Ver- 
such trat dabei nicht hervor. 

Von groBem Interesse ist der in einer Reihe von Versuchen 
einwandsfrei gelungene Nachweis, daB der Liquor cerebro-spinalis 
bei funktionellen Psychosen vasokonstriktorische Substanzen enthalt 
(s. z. B. Kurve VII und IX, gestichelte Efeile). 


6. Gef&Bverengernde Liquorwirkung 

Liquor 0,1 entspricht Suprarenin. synthetic. 


Zahl der Falle 

7*10-* 

7*10—* 

7.10-* 

V 

h-k 

? 

•4 

Bemerkungen 

Paralyse.4 

1 

1 

1 

1 

WR. -f, Norm© -f-, 
Pleocyt. + 

Dement, praec. ... 7 

1 

3 

3 

— 

WR. —, Nonne —, 
Pleocyt. — - 

Manie.1 

1 

— 

— 

— 

WR. —, Nonne —, 
Pleocyt. — 

Tumor cerebri?. . . 1 

... . ^ 1 . L . 

1 


■ 


WR. —, Nonne + ? 
Pleocyt. + ? 


Wie die Tabelle zeigt, ist die GefaBwirkung unabhangig von 
EiweiB- und Zellgehalt und von einer recht erheblichen Intensitfit. 
Es scheint mir danach am wahrscheinlichsten, daB es sich hier um 
den EinflufS von Hypophysen- (Mittellappen-) Sekret handelt, und es 
war mir eine wertvolle Bestatigung, meine Fragestellung auch bei 
Biedl eroffnet zu finden. Eine nahere Klarung dieser allgemeinen 
Frage scheiterte bisher an technischen Schwierigkeiten. 

Eine irgendwie typische Sonderstellung kommt dem Liquor 
bei Dement ia-praecox, wie diese Befunde zeigen, anscheinend nicht 
zu; konzentrierter menschlicher Liquor soli, wie Biedl angibt, in 
Versuchen von Cushing und Gotsch Blutdruckerhohungen und Ver- 
minderungen der Zuckertoleranz hervorgerufen haben, wahrend in 
Versuchen von Carlson und Martin (5) Hundeliquor bei Hunden 
wirkungslos blieb; demgegenuber diirfte in den vorstehenden Ver¬ 
suchen zum erstenmale der sichere Nachweis gefdfiverengernder Sub¬ 
stanzen im Liquor erbracht sein. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




und Diagnostik der , .Dementia praecox 11 . 


219 


III. Bedeutung der neueren somatosymptomatischen Befunde 
bei Dementia praecox. 

Wenn abschlieBend noch kurz versucht werden soil, die vor- 
stehend mitgeteilten neuen korperlichen Symptome mit den 
iibrigen in neuerer Zeit gewonnenen Somatosymptomen in Be- 
ziehung zu setzen, bo muB gleich einleitend betont werden, daB es 
sich hier durchaus um wissenschaftliches Neuland handelt. Soli 
es wirklieh fruchtbar gemacht werden, so ist vor alien Dingen jeder 
Verallgemeinerung gegeniiber die grofite Zurfickhaltung am Platze. 
Nicht von kiihnen Hypolhesen und weitgreifenden Analogien, 
sondem von geduldiger Sammlung exakter Beobachtungen ist 
wirklicher Fortschritt zu erwarten. 

Unter diesem Gesichtspunkte darf gesagt werden, daB unsere 
Kenntnis der korperlichen Erscheinungen der Dementiapraecox 
in letzter Zeit wesentlich bereichert ist. 

Die Abderhaldensche Methodik — ich verweise nur auf die Mit- 
teilungen der Jenaer Klinik — hat gezeigt, daB sich nahezu kon- 
stant Abbau von Keimdriisen, vielfach auch von Schilddriise und 
Gehim, sowie nicht ganz selten von Fankreas, Nebennieren und 
Thymus nachweisen IfiBt. Ich mochte auf Grurid eigener Beob¬ 
achtungen aus meiner Chemnitzer Tfitigkeit noch hervorheben, 
daB Uteruswand- und Schleimhaut vom Serum weiblicher Dementia 
praecox-Kranker nicht abgebaut werden. Die erwahnten Abder- 
haldenschen Kardinalsymptome der Dementia praecox (Keim- 
driisen, Thyreoidea, eventuell Gehim) sind von so vielen Seiten 
bestatigt, daB sie als vollig gesichert anzusehen sind; sie stellen die 
Dementia praecox in einen gewissen Gegensatz zu den ganz „funk- 
tionellen" Erkrankungen, wo bei reinen Fallen endokriner Abbau 
vermiBt wird. 

Dieselbe Ausnahmestellung weist die exakte hamatologische 
Analyse der Dementia praecox zu; auch hier darf nach den zahl- 
reichen in neuester Zeit erfolgten Bestfitigungen die Bedeutung der 
„kapillaren Erythrostase" (Schultz), d. h. einer den vasomoto- 
rischen Storungen der Dementia praecox analogen Erythrozyten- 
vermehrung im kapillaren Ohrblute und das Yorhandensein eines 
weitgehenden Parallelismus von Leukozj^tenformel und klinischem 
Befunde (Schultz) als gesichert angesehen werden. 

Von groBem Interesse sind femer die Beobachtungen von 
Goldstein und Reichenbach (27) liber Abweichungen der elektrischen 
Erregbarkeit bei Dementia praecox, von Hauptmann (28) fiber Ver- 
kiirzung der Blutgerinnungszeit und von Schmidt (52) fiber Aus- 
bleiben der Blutthrucksteigerung bei Adrenalininjektion, wahrend 
die Adrenalin-Kohlehydrat-Mobilisierung ungestort vor sich geht. 
Schmidt hat mit der Engels chen Methode eine Alkaleszenz-Er- 
hohung bei Katatonie gefunden; es muB betont werden, daB damit 
nur eine Verringerung der Reserve-Alkali, nicht eine Anomalie der 
OH-Ionenkonzentration nachgewiesen wird, wie ich schon 1906 
gelegentlich meiner mit der von mir modifizierten Freudenthal schen 
Methode ausgeffihrten Alkaleszenzbestimmungen hervorgehoben 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



220 Schultz, Beitrage zur somatischen Symptomatik 

habe. Die ,,aktuelle Alkaleszenz" ist, wie ich damals nachwies, 
bei Katatonie normal. 

Auch die Stoffwechseluntersuchungen Bomsteins (9) erwiesen 
in Respirationsversuchen mit dem Zuntz-Gepper schen Apparate 
eine deutliche Herabsetzung des Energieumsatzes bei Dementia 
praecox. Da normalerweise wahrend der Pubertat die GroCe der 
oxydativen Prozesse deutlich sinkt, laiJt sich die Dementia praecox 
als eine „pathologisch starke und verlangerte Pubertat auffassen“, 
die sich in Stoffwechselstdrungen und Psychose auBert. 

Zahlreicher zirkulatorischer Phanomene wegen sei besonders 
an die Arbeiten von E. Meyer (42), Ballin und Kuppers (32) ver- 
wiesen; an die neuerdings von Bunge (50) und Tyson und Clark (58) 
wieder genau bearbeiteten Bumke schen Storungen der Pupillen- 
bewegung bei Dementia praecox braucht nur erinnert zu werden, 
ebenso an die Beziehungen der Dementia praecox zu Himschwellung 
[Potzl (48), Reiehard (49)] und die interessanten Befunde Bergers (8) 
iiber Reizstoffe im Serum Dementia-praecox-Kranker. 

Auch die pathologische Anatomie der Dementia praecox ist 
in neuester Zeit durch die Befunde von Alzheimer (1), Sioli (55) und 
Omorokon (44) soweit geklart, daB Gliaveranderungen und Him- 
rindenausfalle zweifellos feststehen. 

Neben diese zum Teil wahrend der Vollendung der vorliegenden 
Arbeit mitgeteilten Befunde tritt nun als weiteres objektives 
Symptom die abnorme Reaktion der Iris auf Adrenalineintraufelung 
und die Hypoadrenalinamie im Trendelenburgschen Versuche. 

Ein ,,Dysadrenalismus“ ist fiir die Auffassung der Dementia 
praecox bereits von Weygand (61) postuliert und Dercum und Ellis 
(16) fanden bei 8 — iibrigens an Tuberkulose gestorbenen! — 
Fallen von Dementia praecox sehr geringe Fettanhaufung in der 
Rindenzone bei Gesamtgewichtsvermehrung; sie deuten die Er- 
scheinungen als Zeichen verminderter Tatigkeit; ja PaUa (45) 
geht so weit, eine eingehende, rein hypothetische Nebennieren- 
theorie symptomatischer Psychosen und des Delicium acutum aus- 
zuarbeiten. 

Wird demgegenuber beriicksichtigt, daB die Adrenalinsekretion 
nach den unumstoBlichen Resultaten von Biedl (5), Ascher (3) und 
Elliot (18) der Splanchnicus-Innervation untersteht, so zeigt sich 
besonders schon, in welchem Zirkel sich vorschnelle atiologische 
Konstruktionen bewegen konnen, und es erhellt dieUnmoglichkeit, 
aus einem Einzel- und dazu Nebennieren-ilf ark- Symptom irgend- 
welche weitgehenden Schliisse zu ziehen; gerade das Adrenalin 
als ein chemisch bekanntes und relativ leicht nachweisbares 
Hormon ist fur die allgemeine Beurteilung „hormonaler“ Einfliisse 
gegeniiber dem Zentralnervensystem von groBem prinzipiellem 
Interesse. Darum moge hier noch kurz erwahnt werden, daB 
Cannon und de la Paz (11) auch unter dem EinfluB psychischer Ein- 
wirkungen — Katzen wurden von Hunden geangstigt — meBbare 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Diagnostik der ..Dementia praecox 11 . 221 

Schwankungen der physiologischen Adrenalinamie demonstrieren 
konnten 1 ). 

Es kann daher eine eingehende Diskussion der Hypadrenalin- 
amie und der Grundlagen der Irisreaktion bei Dementia praecox 
einstweilen unterbleiben, obwohl Beziehungen zu den neueren 
Lehren von der Wechselwirkung der Driisen mit innerer Sekretion 
nahe genug liegen, z. B. die Unterwirksamkeit der hypertrophen 
Nebennieren bei kastrierten Tieren (Schenk (51)). So sehr uns auch 
die neuere Forschung an Beobachtungstatsachen bereichert hat, 
das Wesen und die Zusammenhange der Befunde sind einstweilen 
noch durchaus willkurlich deutbar. 

Endlich noch ein Wort liber die praktisch-klinische Dignitat 
fur die Diagnose der Dementia praecox; da darf gesagt werden, 
je einfacher und gefahrloser eine Methode ist, desto eher hat sie 
Anspruch auf allgemeine klinische Anwendung. So mochte ich 
von Adrenalin-Injektionen zu rein diagnostischen Zwccken nach 
sehr unangenehmen eigenen Erfahrungen dringend abraten, wie 
dies auch Peritz (46) bei ahnlicher Gelegenheit tat; neben die 
AfcderAoMen-Untersuchung konnen einstweilen auBer den be- 
wahrten Pupillen- (Bumke) und Rreislauf-Symptomen (E. Meyer 
u. a.) auf somatischem Gebiete unterstiitzend treten: die Fest- 
stellung der ..kapillaren Erythrostase" (Schultz), eventuell des 
Blutbildes und die Untersuchung auf Adrenalin-Mydriasis event, 
paradoxe Reaktion; hierzu tritt, wenn sich ihre Brauchbarkeit 
bestatigt, noch die — allerdings umstandliche — Priifung der 
elektrischen Erregbarkeit (Goldstein). 

Versuche zu einer Cutireaktion der Dementia praecox blieben 
bisher ergebnislos. 

Ergebnisse. 

1. In Uebereinsthnmung mit den Daten der experimentellen 
Pathologie und Physiologie findet sich Adrenalin-Mydriasis nicht 
selten bei organischen Himaffektionen. 

2. Reine Falle von Neurosen und „funktionellen“ Psychosen, 
auBer Dementia praecox, zeigen keine Adrenalin-Mydriasis. 

3. Bei Dementia praecox findet sich in etwa 50 pCt. sehr deut- 
liche, etwa 15 pCt. fragliche, etwa 15 pCt. negative Adrenalin- 
Mydriasis. Etwa 15 pCt. zeigen auf Adrenalininstillation, Pupillen- 
verengerung: , .paradoxe Reaktion", besonders bei vorher maBig 
weiten Pupillen. 

4. Es besteht keine eindeutige Beziehung der Adrenalin- 
Mydriasis zu symptomatischen Bddem und zum Verlaufe der 
Dementia praecox; oft halt die Mydriasis auffallend lang (tage- 
lang) an. 

5. Die einseitige Priifung auf Adrenalin-Mydriasis unter 
Kontrolle der anderen Pupille und in technisch einwandfreier Weise 

1 ) Aehnliohe Ueberlegungen bei Kilppera (bez. Kreislauf) (32). 

Monatsichrilt t. Piychlatrie u. Neurologle. Bd. XXXVII. Helt 4. 16 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



222 


S c h u 11 z , Beitr&ge zur somatischen Symptomatik 


Digitized by 


ausgefiihrt, ist eine einfache, gefahrlose klinische Methode, die an- 
scheinend praktisch von Interesse ist. 

6. Das Blutserum Dementia-praecox-Kranker zeigt im Laewen- 
Trendeleriburgs chen Praparate auffallend niedrige Werte (Hyp- 
adrenalinamie ?). 

7. Der Liquor cerebrospinalis von organischen Himaffektionen 
und ,,funktionellen“ Psychosen (Dementia praecox, Manie) enthalt 
unabhangig vom EiwexCgehalt erhebliche Mengen gefaBverengem- 
der Substanzen im Laewen-Trendelenburgschen Versuche (Hypo- 
physe ?). 

8. Die neueren somatischen Befunde bei Dementia praecox 
weisen iibereinstimmend dieser Krankheitfgruppe eine Sonder- 
stellung gegeniiber rein ,,funktioneUen“ Psychosen an; zu einer 
einheithchen Theorie geniigen sie nicht. 

9. Versuche zur Darstellung einer Cuti-Reaktion bei Dementia 
praecox sind bisher erfolglos geblieben. 

Literatur- Verzeichnis: 

1. Alzheimer, Beitrage zur pathologischen Anatomi© der Dementia 
praecox. Dtsch. Ver. f. Psych. Breslau V. 1913. 2. Antoni, U, R. E ., 

Adrenalin und Pupille. Neurol. Zbl. 1914. 674. 3. Ascher, L., Innervation 
der Driisen mit innerer Sekretion. Schweizer. Neurol. Gesellsch. XI. 1911. 
Bern. 4. Bauer, J., Funktionspriifung des vegetativen Nervensystems. 
Dtsch. Arch. f. klin. Med. CVII. 1912. 1. 5. Biedl, A., Inner© Sekretion. 
IL Auflage. 1913. 6. Biedl und Offer, Beziehungen der Ductuslymphe zum 
Zuckerhaushalt. Wien. klin. Woch. 1907. 1530. 7. Bittorf, Adrenalinftmie 7 
Zbl. f. inn. Med. 1909. 33. 8. Berger , H., Studie zur Pathogenese der Geistes- 
krankheiten. Ziehens Monatsschr. 1904. XVI. 1. 9. Bomstein, A ., Leber 
den Stoffweohsel bei Geisteskranken. Miinch. med. Woch. 1913. 36. 

10. Bumke, O., Pupillenstorungen bei Geisteskrankheiten. Jena, G. Fischer, II. 

1911. 11. Cannon, W . B., und D.dela Paz , Emotional stimulation of adrenal 

Sekretion. Amer. Journ. of Physiol. 28. 64. 1911. 12. Cassirer , Adrenalin- 
Mydriasis bei Sklerodermien. Berl. Ges. f. Psych. 13. I. 1913. 13. O'Connor , 
J. Af., Adrenalinamie. Miinch. med. Woch. 1911. 1439. 14. Cords , IL, Die 
Adrenalin-Mydriasis und ihre diagnostische Bedeutung. Wiesbaden, Berg- 
mann, 1911. 15. Dale , H . H ., Physiological aetions of Ergotoxin. Joum. of 
Physiol. 1906. 34. 16. Dercum und Ettis, Duettess glands in dementia 

praecox. Joum. of new. and ment. diseases. 1913. 2. 17. Ehrmann , 

Adrenalinbestimmungen im Blute. Dtsch. med. Woch. 1909. 674. 18. EUiot, 
The control of the suprarenal glands by the splanchnic nerves. Joum. of. 
Physiol. XLIV. 5. 6. 1913. 19. Eppinger , FaUa und Rudinger 9 Wechsel- 
beziehungen der Driisen mit innerer Sekretion. Wien. klin. Woch. 1900. 
21. 241. 20. Eppinger , Hep und Potzl , Funktionspriifung des veget. Nerven- 
systems bei Psychosen. Wien. klin. Woch. 1911. 41—42. 20a. Eppinger 
und Hep , Die Vagotonie. Berlin 1910. 21. FaUa , Die Krankheiten der Blut- 
driisen. Berlin 1913. 22. Falta f Newbugh und Nobel 9 Wechselwirkung der 

Driisen mit innerer Sekretion. Ztschr. f. klin. Med. 1911. 72. 97. 23. Fer¬ 
nandez, Adrenalin-Mydriasis. Annales de Ophtalmol. 1912. XV. 24. Fraenkel, 
A. t Adrenalinamie. Arch. f. exper. Pharm. u. Path. 1909. LX. 395. 

25. Froehlich und Loewy, Autonomes Nervensy stem. Ibid. 1910. LXII. 159. 

26. Qautrelet , Adrenalin-Mydriasis. Archives de Ophthalm. 1909. XXIX. 
222. 27. Goldstein und Reichenbach, Dementia praecox. Neurol. Zbl. 1914. 
16. 28. Hauptmann , Blutgerinnung bei Psychosen. S.-W.-D. Neurol. Bad.- 
Bad. Mai 1914. 29. Higier, Vegetative Neurologic. Vogt-Bings Er f ebnisse. 

1912. 1. 30. Hoskins , Adrenalinbestimmung. Joum. of Pharm. and exp. 
Therap. 1911. III. 1. 31. Hasten, Adrenalmaemie bei Psychosen. Arch, f 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



und Diagnostik der ,,Dementia praecox". 


223 


Psychiatric. 60. 655, 32. Kiippera , „ Korperliche" und ,,katatonische" 

Symptome. S.-W.-D. Bad.-Bad. V. 1913. 33. Langendorff, Paradox© 

Ptipillenerweiterung. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 38. 1900. 129. 

34. Langley , Adrenalin. Joum. of Physiol. 27. 1901. 237. 35. Derselbe, 
Neurologic des Sympathieus. Ergebn. d. Physiol. 1910. 36. Lewandowaky , 
Adrenalin-Mydriasis. Zbl. f. Physiol. 1898. 599. 37. Derselbe, Kritik der 
Vagotonie. Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. X. 1913. 38. MengeUe, 

Glandes k Secretion intemA Th6se de Toulouse. 1910. 39. MeUzer, S. J., 
Adrenalin-Mydriasis. Zbl. f. Phys. 1907. 141. 40. MeUzer-Auer, Adrenalin 
bei Sympathicuslahmungen. New York Eye and Ear Animal Repport. 
1906. 41. Meyer , E ., und Tomaachny, Korperliche Erscheinungen der 

Dementia praecox. Ztschr. f. Psych. 64. 1909. 42. Meyer, E., Korperliche 
Erscheinungen der Dementia praecox. Neurol. Zbl. 1912. 483. 1283. 

43. Neu, Gestationsperiode des Weibes und Adrenalin. Munch, med. Woch. 
1911. 2860. 44. Omorokow, Pathologische Anatomie der Dementia praecox. 
Arch. f. Psych. 54. 1914. 1031. 45. Palla, Nebenniere und Psvchosen. 

Wien. klin. Rundsch. 1912. 1011. 46. PerUz, Adrenalin bedenklich. Berl. 
Gesellsch. f. Psych. I. 1913. Diskuss. 47. Port und Brunow, Vegetative© 
Nervensystem. Arch. f. exper. Pharm. u. Path. 76. 1914. 239. 48. Pdtzl, 
Hirnschwellung und Katatonie. Jahrb. f. Psych, u. Neurol. 31. 1910. 

49. Reichardl, Die Hirnschwellung. Arb. aus d. Wiirzburger Klin. 1914. 

50. Runge, Pupillen bei Dementia praecox. Arch. f. Psych. 52. 1913. 

51. Schenk, Kastration und Nebennieren. Arch. f. exper. Pathol. 64. 1914. 

363. 52. Schmidt, W., Adrenalin bei Katatonie. S.-W.-D. Neurol. Bad.-Bad. 

V. 1914 und Munch, med. Woch. 1914. 367. 53. SchuUz, «7. H., Blutunter- 
suohungen bei Psychosen. Ziehens Monatsschr. 1906; Monatsschr. f. Psych, 
u. Neurol. 1914. 35. 54. Shima , Nervensystem und Adrenalinmydriasis. 
Arch. f. Physiol. 127. 1909. 99. 55. Sioli, Histologie der Dementia praecox. 
Psych. Verein d. Rheinprov. 1912. 56. Straub , H. y Adrenalin und Sym¬ 

pathies. Arch. f. Physiol. 134. 1910. 57. Trendelenburg , P., Adrenalin- 
&mie. Munch, med. Woch. 1911. 36. 58. Thyson und Clark, Eye- Syndroms 
of Dementia praecox. Amer. Ausgabe des Arch. f. Augenheilk. 41. 1912. 3. 
Referat. 59. Wentzea, Pharmakologie des Nervensystems. Arch. f. klin. Med. 
113. 1914. 60. We88ely, Adrenalin-Mydriasis. Dtsch. med. Woch. 1909. 
1018. 61. Weygandt, Nebennieren und Dementia praecox. Nordd. Psych, 
u. Neurol. Altona. IV. 1913. 62. Zak, Adrenalin-Mydriasis. Arch. f. Physiol. 
132. 1910. 

Erkl&rung der Kurven. 

(Kurven, gewonnen durch graphische Auftragung der Tropfenzahl pro 
Zeiteinheit. Es wurde stets 1,0 Volum in 15" injiziert.) 

I. bis V. Blutserum. 

I. Fall L.: Stupor (Dem. praecox) (demonstriert zugleich Dichte der 
Beobachtungspunkte). 

II. Fall Hirsem (Dem. paral.); Fall© Lehm., Tuppst., Kuhl, Knote, Schm. 
(Dem. praecox). 

III. Fall Nitsch (Dem. praecox), Fischer (Imbez.), Lask (Tumor cerebri), 
Friedr. (Epil.), Franz (Traum. Neurose); Fall© Flesch, Kuhl, Neusel, 
Chrup, Heinr., Schroder, Heller, Kiihn (Dem. praec.); Wettst. 
(Ep. p. trauma). 

IV. Fall Orth und Wied: Normalfalle. 

V. Fall Lanz (normal); Fall Dittm. (Dem. praec.); Fall Friedr. (Epil.) 
Fall Brett (Mel. mit Blutdruckerhohung). 

VI. bis IX. punktiert Blutserum, gestrichelt Liquor cerebrosp. 

VI. FallMiill, Steintz, Schwes. (Dem.praec.); Fall Helenb. (ders. Psychos© 
im Klimakterium); Fall Fisch (Imbez.); Fall Glaser (Dem. paral.); 
Falle Key, Sieb., Hart, Top. (Dem. paral.). 

VII. Fall Schl. (Depression auf ders. Grundlage). Uebrige Falle s. VI. 

VIII. Fall Sch. u. v.U.: Normalfalle. 

IX. Falle Lehm., Ditt., Grub, Schw., Dup., Grab. (Dem. praec.); Fall 
vob (Manie). 

15* 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Qri 

UNIVERSIT 


gircal from 

y OF MICHIGAN 















Digiti 


AX ^AJn\£ 












































228 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 


(Aus der inneren Abteilung des Marienkrankenhauses zu Hamburg. 

[Chefarzt: Prof. Dr. Allard.]) 

Ein Fall von Akromegalie mit Hypophyseneyste. 

Von 

Dr. HUGO MEYER, 

frdherem Ass is ten ten. 

(Hierzu 1 Abbildung im Text.) 

Bis vor wenigen Jahrzehnten gait die Hypophyse als ein 
rudimentares Organ, das fur die Physiologic und Pathologie des 
menschlichen und tierischen Organismus vollkommen unwichtig 
sei. Flesch war der erste, der 1884 zwei durch Farbung unter- 
scheidbare Zellarten im Vorderlappen der Hypophyse feststellte, 
und zwei Jahre spater stellte Ptere Marie den Symptomenkomplex 
der Akromegalie auf, den er bald in innigem Zusammenhang mit 
Tumoren der Hypophyse brachte. Seitdem haben wir durch die 
Untersuchungen von Tamburini, Hanau, Benda, Erdheim, Stumme , 
Haberfeld, Hochenegg, Fischer, Aschner, Simmonds u. A. eine ziem- 
lich weitgehende Aufklarung iiber die Hypophysis cerebri und 
ihren Zusammenhang mit der Akromegalie, der Degeneratio 
adiposogenitalis und der Graviditat erhalten. Wir wissen heute, 
daB die Glandula pituitaria unbedingt erfcrderlich ist fiir den 
normalen Ablauf des Stoffwechsels und fiir das Wachstum des 
menschlichen und tierischen Organismus; wir kennen femer ihre 
groBe Bedeutung fiir die Vita sexualis und die innere Sekretion. 

Im Vorderlappen der Hypophyse unterscheiden wir seit den 
Untersuchungen von Flesch zwei Arten von Zellen: chromophile 
und chromophobe oder Hauptzellen. Einen groBen Fortschritt fiir 
die Anatomie und Pathologie der Hypophyse bedeutete die spe- 
zifische Ffirbungsmethode von Benda, durch die es erst mogllch 
geworden ist, auch die geringsten Granulamengen der chromo- 
philen Zellen darzustellen. 

Wir unterscheiden im glandularen Teil, wie schon erwahnt, 
zwei Zellgruppen: chromophile und chromophobe oder Hauptzellen. 

Die chromophilen Zellen zerfallen in die mit Eosin stark f&rb- 
baren eosinophilen und in die mit Hamatoxylin gut farbbaren 
basophilen Zellen. Die Eosinophilen enthalten feine, die Basophilen 
grobe Granula. Die Hauptzellen besitzen ein Protoplasma, das 
mit den gebrauchlichen Fixations- und Farbmitteln kaum dar- 
stellbar ist. Die Zellgrenzen sind meist nicht festzustellen. Diese 
drei Zellformen bilden teils ovale, teils rundliche Zellstrange, die 
sich bisweilen auch zu Driisenschlauchen mit deutlichem Lumen 
formieren. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 229 

Dostoiewski und Flesch sowie dessen Mitarbeiter Lothringer 
betrachteten die Chromophoben und Chromophilen als gesonderte 
Zellarten, ahnlich wie die Haupt- und Belegzellen des Magens. 
Infolge dieses Yergleiches bezeichnet man die Chromophoben auch 
vielfach als Hauptzellen. Im Gegensatz hierzu sieht Benda sie 
nach den erkennbaren Uebergangsformen als verschiedene Formen 
oder Funktionsstadien ein und derselben Zellart an. Ihm ist es 
nach den Ergebnissen der histologischen Untersuchung wahr- 
scheinlich, daB die Hauptzellen die Jugendform, den Ausgangs- 
punkt, bilden, wahrend die mit eosinophilen Granulis erfiillten 
Zellen den Hohepunkt, und die Zellen mit basophilen Granulis 
das Endstadium der Sekretion darstellen. Benda ,,halt die Granula 
fiir das funktionell veranderliche und infolgedessen fiir das Sekret- 
produkt der Hypophyse". Erdheim, der sich um die Hypophysen- 
forschung besondere Verdienste erworben hat, nahert sich wieder 
den urspriinglichen Ansichten von Flesch. Bei seinen gemeinsam 
mit Stumme ausgefiihrten Untersuchungen iiber die Schwanger- 
schaftsveranderungen der Hypophyse stellte er fest, daB 6ich die 
Hauptmasse der Eosinophilen im hinteren Teil, die der Basophilen 
in den vorderen Partien des Vorderlappens findet. Die Hauptzellen 
fand er ziemlich gleichmaBig iiber den ganzen Vorderlappen zer- 
streut. Es fiel ihm aber auf, daB sich die Hauptzellen sehr haufig 
im Zentrum der Alveolen und Zellbalken finden, peripher umgeben 
von den chromophilen Zellen. Es gelang ihm festzustellen, daB im 
Verlaufe der Schwangerschaft die Hauptzellen sich in die von 
ihm als Schwangerschaftszellen bezeichnete Zellform umwandeln, 
die sich durch Mitose derart vermehren, daB sie an Zahl den ersten 
Platz unter den spezifischen Hypophysenzellen einnehmen. Sie 
haben die gleiche Gruppierung im Zentrum der Acini und Balken 
wie die Hauptzellen, und hieraus konnte Erdheim mit Recht 
schlieBen, daB sie aus diesen hervorgehen. Im Gegensatz zu den 
Hauptzellen ist ihr Protoplasma gut mit Eosin farbbar, aber 
gleichfalls ohne scharfe Grenzen, und ihr Kern ist sehr groB, zu- 
weilen sogar groBer als die basophilen Zellen, die normaliter die 
groBten Zellen des Vorderlappens sind. Infolge der starken Ver- 
mehrung der Schwangerschaftszellen nimmt die Hypophyse an 
GroBe erheblich zu. Diese Hypertrophie bildet sich aber nach 
dem Partus sehr rasch wieder zuriick. Immerhin ist nach den 
Untersuchungen von Erdheim und Stumme als ziemlich sicher 
anzunehmen, daB nicht alle SchwangerschaftszeDen von der Bild- 
flache verschwinden, sondem daB ein Teil von ihnen in Gestalt 
von Hauptzellen persistiert, denn die GroBe und das Gewicht 
der Hypophyse bei der Multipara ist, wenn zablreiche Geburten 
vorliegen, nicht nur wahrend der Graviditat, sondem auch in der 
Zwischenzeit relativ groBer als bei der Primipara. Sehr instruktiv 
ist in dieser Beziehung eine Beobachtung von Beu/3, der bei einer 
Patientin wahrend der 14., 15. und 16. Graviditat sogar eine 
bitemporale Hemianopsie fand, die im Puerperium stets aUmahlich 
wieder verschwand. Als Ursache nahm er den Druck der ver- 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



230 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 


grofierten Hypophyse auf das Chiasma an. Erdheim sieht also 
die Schwangerschaftszellen als eine dritte Art vcn Chromophilen 
an, die aus den Hauptzellen entstehen end wieder zu Hauptzellen 
sich zuriickbilden, wahrend er fiir eine Entstehung der Ecsincphilen 
und Basophilen aus den Hauptzellen keine Anhaltspunkte findet. 

Erdheim untersuchte auch die gegen den Hinterlappen zu 
gelegenen Kollcidcysten genauer. Er fand, daB das Protoplasma 
des deutlich abgegrenzten Cystenepithels sich farberisch indifferent 
verhalt, wahrend sich basal eft ausgebildete Chrcmophile finden. 
Die meisten Cysten sind aber Reste des embryonalen Hypophysen- 
blaschens. Beim Vergleiche der Cysten mit den Alveclen des 
Vorderlappens fand er also die Lagerung des Cystenepithels und 
der basalen Chromophilen entsprechend derjenigen von Haupt¬ 
zellen und Chromophilen. Erdheim macht daher den SchluB, daB 
die Hauptzellen homolog dem indifferent en Cystenepithel sind, 
also direkt vom embryonalen Epithel des Hypophysisblaechens 
abstammen und gewissermafien ,,eine Art. aus der Embryonal- 
zeit liegengebliebenes Material bilden, das in sich wahrscheinlich 
die Eigenschaft hat, auch postfotal Driisengewebe aufzubauen, 
z. B. die Schwangerschaf tszellen“. Erdheim steht nun auf dem 
von ihm gut fundierten Standpunkt, daB Ecsinophile und Baso- 
phile nicht Sekretionsstadien einer Zellart, sondem zwei ver- 
schiedene Zellformen sind, die nicht ineinander iibergehen. Denn, 
wie schon oben erwahnt, fand er die Hauptmasse der Basophilen 
stets im vorderen, die der Eosinophilen im hinteren Teil des 
Driisenlappens. AuBerdem konnte er als erster nachweisen, daB 
jede der beiden Zellarten fiir sich tumcrbildend auftreten kann, 
wahrend man bisher nur ecsinophile Adencme kannte. Etwas 
spater fand dann auch Notdurft ein basophiles Adenom, das in 
der Neurohypophyse lag. 

Die physiologische Bedeutung der verschiedenen Zellarten 
der Hypophyse ist ncch nicht geklart, und die okkulte Lage des 
Organs wird auch weiterhin dem Studium der Zellphysiclcgie an 
der Hypophyse schwer iiberwindbare Hindemisse in den Weg 
legen. Benda, der ja die Chromophoben und Chromophilen nur 
als verschiedene Sekreticnsstadien der gleichen Zellart auffafit, 
halt die Granula fiir das ,,funkticnell Veranderliche und infdge- 
dessen fiir das Sekretprodukt der Hypophyse". Erdheim, der die 
Chromophilen als selbstandige Zellfcrm ansieht, fclgert die sekretori- 
sche Tatigkeit derselben daraus, daB sie verzugsweise an der 
Peripherie der Acini und Balken, in der Nachbarschaft des gefSB- 
fiihrenden Stromas liegen. Auch die Befunde bei Akromegalie, 
sowie einige neuere experimentelle Ergebnisse scheinen zu dem 
Schlusse zu fiihren, daB die chromophilen, speziell aber die eosino¬ 
philen Zellen in der physiclcgischen Tatigkeit der Hypophyse eine 
ausschlaggebende Rclle spielen. Hierauf sell spater ncch ein- 
gegangen werden. 

Auch die Bedeutung des Kolloids, das sich vorzugsweise in 
den hintersten Alveolen des Vorderlappens und in den Cysten der 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit HypophyBeneyBte. 231 


Pars intermedia findet, ist ncch sehr umstritten. Benda und neuer- 
dings auch Kraus halten es fiir ein Degenerationsprodukt, da sie 
fanden, daB es mit dem Alter an Menge zunimmt. Cagnetto dagegen 
fand eine quantitative Kcrrelation zwischen chromopilen Granulis 
und Kclloid. In einem Falle von Tumor hypophyseos ohne Akro¬ 
megalie, bei dem die chromophilen Zellen fehlten, fand er nur 
sparliches Kclloid, und in dem von ihm zitierten Fall von Hypo- 
physistumor ohne Akromegalie von Carbone zeigte sich das gleiche 
Bild, namlich Fehlen von Chromophilen und Kclloid. Dagegen 
in einem Falle von Hypophysentumor mit Akromegalie, die ja, 
wie unten ncch ausgefiihrt wird, jetzt adgemein als Hyperpituita- 
rismus angesehen wird, waren nicht nur die chromophilen Zeden, 
sondern auch das Kcdcid vermehrt. Auch Borchard spricht dem 
Kodcid der Hypophyse, besonders bei der Akromegade, eine 
groBere Bedeutung zu. Immerhin ist bis jetzt die Frage nach der 
Bedeutung des Kodoids noch nicht entschieden. 

Wie schon erwahnt, findet sich das Kodoid vorzugsweise in 
den Cysten der Pars intermedia. Ihrer Entstehung nach unter- 
scheidet man verschiedene Arten von Cysten. Creutzfeld teilt sie 
in vier Gruppen. Das Kclloid findet sich besonders in den von 
der embryonalen Hypophysenhohle sich ableitenden Cysten. 
Diese besitzen meist ein fdmmemdes Zydnderepithel oder ein 
zwei- bis dreischichtiges kubisches Epithel. Ihre GroBe kann, 
wie es auch in dem hier zu beschreibenden Fade war, sehr be- 
trachtlich werden. 

In der Neurohypophyse findet sich in wechselnder Menge 
Pigment vor, das erst in der aderjiingsten Zeit beginnt, etwas 
mehr in den Vordergrund des Interesses zu riicken. Kohn hat 
es als erster genau untersucht. Weitere Untersuchungen sind 
dann von Stumpf und besonders von Vogel an ca. 100 Hypophysen 
aus den verschiedensten Lebensaltem gemacht worden. Es hat 
sich nach den Feststellungen von Vogel ergeben, daB das Pigment 
des Hinterlappens mit den normaliter in diesen einwandemden 
basophilen Zeden des Vorderlappens in Zusammenhang steht. 
Vogel nimmt ebenso wie Stumpf an, daB das Pigment ein Um- 
wandlungsprodukt der eingewanderten basophilen Zeden ist. Es 
hauft sich vorzugsweise in der Nahe des Hypophysenstieles an. 
Es kommt schon im friihen Kindesalter in sehr geringer Menge 
vcr, nimmt aber mit der Hohe des Alters erhebdch zu. Kohn 
und Stumpf machten ebenso wie Vogel die Beobachtung, daB 
sich wahrend der Graviditat und sogar ncch einige Zeit spater 
nur verschwindend wenig Pigment findet. Im Gegensatz zu Erd- 
heim und Stumme, die wahrend der Graviditat das Eindringen 
basophder Zeden vermissen, fand Vogel in der Mehrzahl seiner 
Fade eine vermehrte Einwanderung der Bascphilen. Tolken hat 
uber 100 Hypophysen in Bezug auf die Einwanderung der Vorder- 
lappemeden untersucht und vertritt die Ansicht, daB es sich nicht 
um Vorderlappenepithelien, sondern um Abkommdnge der um- 
gewandelten embryonalen Zeden der Cysten und des Spaltraumes 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



232 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 

der intermediaren Zone handelt. Besonders groBe Pigmentmengen 
fand Vogel in einem Fall von Tabes und Karzinom der Nebenniere. 
Die grolien Pigmentmassen sind hier vielleicht in Zusammenhang 
mit dem Karzinom der Nebenniere zu bringen, die ja zweifelsohne 
in engster Beziehung zur Pigmentbildung iiberhaupt steht. Fischer 
beschpeibt einen Hypophysentumor, bei dem sich sehr viel Pigment 
im Hinterlappen fand, und auch bei unserem Fall von Akromegalie 
fand sich ziemlich viel Pigment im Hinterlappen. Kachexie hat 
nach den Ergebnissen von Vogel ,,keinen bestimmbaren EinfluB 
auf die Pigmentmenge“. Diese Feststellung macht die auch von 
Fischer in seiner Monographic iiber Akromegalie vertretene Auf- 
fassung des Pigments als Degenerationsprodukt ziemhch hinfallig. 
Vogel zieht aus seinen Untersuchungen wichtige Konsequenzen 
fur die Funktion der Hypophyse. Die Einwanderung der Baso- 
philen in den Hinterlappen, die Bildung des Pigments aus ihnen, 
femer die Anhaufung der Basophilen und des Pigments in der 
Nahe des Hypophysenstiels machen ihm die von verschiedenen 
Seiten vertretene Anschauung wahrscheinlich, ,,daB der Hinter¬ 
lappen und der Hypophysenstiel die Aufgabe eines Verbindungs- 
weges haben, auf dem das Sekret des Vorderlappens in das Gehirn 
gelange.“ Hierfiir sprechen auch die Experimente von Pavlesco 
und Sitbermark, die durch Trennung des Hinterlappens vom 
Infundibulum die gleiche Wirkung erzielten, wie durch Exstirpation 
der ganzen Hypophyse. Femer kann man wirksame Extrakte 
nur aus dem Hinterlappen gewinnen. Vogel vertritt die An¬ 
schauung, daB das Pigment eine ,,unverbrauchte oder unbrauch- 
bare Schlacke des Stoffwechsels“ ist. Die Tatsache der starken 
Verringerung des Pigments in der Graviditat macht es Vogel 
wahrscheinlich, daB infolge des gesteigerten Hypophysenstoff- 
wechsels der Graviden (Erdheim und Stumme) das Rgment wieder 
resorbiert wird. Auch ist ihm die starke Zelleinwanderung in die. 
Neurohypophyse ein Beweis fiir die Sekretionssteigerung in der 
Graviditat. Uber die Beziehungen des Pigments zur Akromegalie 
konnte sich Vogel keine Klarung verschaffen. In dem einen von 
ihm untersuchten Falle fand er im Gegensatz zu dem Fall von 
Fischer nur aufierst sparliches Pigment. 

Unter den mit der Hypophyse in Zusammenhang stehenden 
Erkrankungen steht neben der Degeneratio adiposo-genitalis die 
Akromegalie bei weitem im Vordergrund des Interesses. Piere 
Marie war der erste, der 1886 den Symptomenkomplex der Akro¬ 
megalie aufstellte und mit der Hypophyse in Zusammenhang 
brachte. Der Symptomenkomplex der Akromegalie: Wachsen 
der Akra, Hypophysentumor, bitemporale Hemianopsie, Erloschen 
der sexuellen Funktionen, in vielen Fallen Glykosurie und Poly- 
urie — ist so oft beschrieben worden, daB es sich eriibrigt, noch- 
mals im einzelnen darauf einzugehen. Unter den Theorien iiber 
die Entstehung der Akromegalie, welche die Ursache teils inner- 
halb, teils auBerhalb der Hypophyse suchen, will ich nur einige 
wenige erwahnen. Piere Marie, der ja zuerst die Akromegalie 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyete. 233 

mit Hypophysentumoren in Beziehung setzte, glaubte, daB die 
Akromegalie auf einer Hypofunktion der Hypophyse beruhe, 
indem der Tumor teils durch Zerstorung der Hypophyse, teils 
durch Druck auf diese die Akromegalie hervorbringe. Diese 
Theorie ist inzwischen fast allseitig aufgegeben worden. Wie 
noch weiter ausgefiihrt werden soli, findet sich bei Akromegalie 
stets eine ganz spezielle Geschwulstform, namlich ein Hypophysis- 
adenom, und Fischer bemerkt ganz mit Recht, daB es nach der 
Theorie von Piere Marie ganz unverstandlich bleiben wiirde, 
warum nur etne Form von Hypophysistumoren Akromegalie her- 
vorruft, wahrend alle anderen Arten selbst bei weitestgehender 
Zerstorung der Hypophysen (Cagnetto, Crevizfeld, Fischer u. A.) 
nicht zur Akromegalie fiihren. 

Nach der Theorie von Strumpell hat der Hypophysistumor 
bei Akromegalie keine kausale, sondem nur symptomatische Be- 
deutung. Diese Anschauung erledigt sich von selbst, nachdem 
Hochenegg und v. Eiselsberg in mehreren Fallen durch Entfemung 
des Hypophysentumors die Akromegalie zum Riickgang bzw. 
zum Schwinden gebracht haben. 

Heute ist die Theorie, daB die Akromegalie auf einer Funk- 
tionssteigerung beruhe, also der Ausdruck eines Hyperpituitarismus 
sei, fast ausnahmslos anerkannt. Tamburini und Benda waren 
es vor allem, die den Nachweis fiihrten, daB es sich bei den Hypo¬ 
physistumoren der Akromegalen um eine Adenombildung mit 
Vermehrung der spezifischen chromophilen Zellen handle. Benda, 
der in den chromophilen Zellen die Trager der Hypophysisfunktion 
sieht, muBte daher notwendigerweise zu der Anschauung kommen, 
daB es sich bei der Akromegalie um einen Hyperpituitarismus 
handle. Bevor Benda seine grundlegenden Arbeiten veroffent- 
lichte, segelten die Hypophysentumoren bei Akromegalie unter 
den verschiedensten Flaggen: bald als Karzinom, Sarkom, Endo- 
theliom, bald als Adenom oder Adenc karzinom. Auffallend war 
aber fast immer die relative anatomische Gutartigkeit dieser 
Tumoren. Erst durch seine spezifischen Farbemethoden gelang 
Benda an mehreren Fallen die Feststellung, daB es sich um 
Adenome der spezifischen chromophilen Zellen der Hypophyse 
handle. Es gelang ihm auch noch nachtraglich in einem Fall von 
Mendel, der bis dahin als Sarkom gegolten hatte, durch den Nach¬ 
weis zahlreicher cbromophiler Zellen die Diagnose eines spezifischen 
Adenoms zu sichem. Fast ausnahmslose Anerkennung hat die 
Theorie des Hyperpituitarismus durch die Arbeit von Fischer, 
der fast alle veroffentlichten Falle von Akromegalie einer kritischen 
Durchsicht unterzog, gefunden. Ein gewichtiger Einwand gegen 
diese Theorie war die Tatsache, daB es auch Falle von klinisch 
sicherer Akromegalie gab, bei denen sich nicht die geringste Spur 
eines Hypophysentumors fand. In einem derartigen Falle fand 
Erdheim im Keilbeinkorper ein spezifisches Hypophysisadenom. 
Ferner konnte Haberfeld nachweisen, daB sich im Rachendach 
bei alien Lebensaltern als konstantes Organ ein aus Hypophysis- 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



234 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 

zellen bestehender Komplex, die Rachendachhypophyse, findet. 
Fischer stellt daher mit Recht die Fcrderung auf, daB man bei 
jeder Akromegalie ohne Hypophysentumor den Keilbeinkorper 
und das Rachendach genau untersuchen muBte. Hierdurch findet 
auch der Fall von Petrdn, der noch bis in die allerjiingste Zeit die 
Anschauung vertrat, daB es auch Akromegalie ohne Hypophysis- 
adenom gabe, seine Erledigung. Fischer konnte noch neuerdings 
mit groBter Wahrscheinlichkeit nachweisen, daB es sich in dem 
durch Syringomyelie komplizierten Falle Petrins um eine Kom- 
bination von Syringomyelie und famili&rem Riesenwuchs handeln 
miisse. 

Aber nicht nur groBe Tumoren fiihren zur Akromegalie. 
Ganz geringe Hyperplasien, wie im Falle von Lewis , und sehr 
kleine Adenome, wie in einem Falle j Erdheims, geniigen schon, um 
Akromegalie herbeizufiihren. Allerdings handelte es sich hier stets 
um beginnende Akromegalien, die an einer interkurrenten Krank- 
heit starben. Da also solch geringe Hyperplasien schon eine so 
betrachtliche physiologische Wirkung haben konnen, erklart 
Fischer mit Recht den Einwand Cagnettos fur hinfallig, daB die 
ofter vorkommende Erweichung der Hypophysisadenome nach 
der hyperpituitaristischen Theorie zum Riickgang der Akromegalie 
fiihren miisse. Sehr instruktiv ist auch ein von Salle beobachteter 
Fall von Akromegalie beim Saugling: das Kind, das im Alter 
von 2 y 2 Monaten starb, zeigte die deutlichen Symptome einer 
Akromegalie. Auch hier war kein Hypophysistumor nachzuweisen. 
Die Hypophysis war nur etwas vergroflert. Mikreskopisch fand 
sich aber eine erhebliche Vermehrung der eosinophilen Zellen. 
Alle diese Beobachtungen sind eine Stiitze fiir die Theorie des 
Hyperpituitarismus bei Akromegalie. 

Im Symptomenkomplex der Akromegalie ist von besonderem 
pathogenetischem Interesse das Auftreten von Genitalstdrungen. 
So fand z. B. Creutzfeld bei 118 klinisch beobachteten Fallen von 
Akromegalie in 36,4 pCt. eine Genitalatrcphie. Buday und Janstd 
fanden als erstes Symptom der Krankheit sexuelle Reizung mit 
nachfolgender Impotenz. Auch Creutzfeld fand unter seinen 
118 Fallen in 2,5 pCt. eine Hyperplasia genitalis. 

Die Genitalstorungen bei Akromegalie machen es notwendig, 
ganz kurz auf die Dystrophia adiposo-genitalis einzugehen, die 
zuerst von Frohlich mit Hypophysistumoren in Zusammenhang 
gebracht worden ist. Es ist hier nicht der Ort, auf die einzelnen 
Theorien iiber die Entstehung der Dystrophia adiposo-genitalis 
einzugehen. Wahrend aber die Akromegalie durch eine ganz be- 
stimmte Art von Tumoren des Hypophysenvorderlappens, namlich 
durch chromophile Adenome, verursacht wird, kann nach den 
Untersuchungen B. Fischers und L. Picks die Dystrophia adiposo- 
genitalis durch jede beliebige Geschwulstart in oder neben der 
Hypophyse verursacht werden, die den Hinterlappen schadigt. 
Pick zeichnet diesen Gegeneatz sehr treffend in dem Satze: ,,Die 
Akromegalie ist in ihrer Genese abhangig von der Funktion, die 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyete. 235 


Dystrophia adiposo-genitalis von der Lokalisation der intra- 
kraniellen Neubildung.“ Da nun natiirlich auch die Adencme des 
Vorderlappens komprimierend und schadigend auf den Hinter- 
lappen einwirken konnen, ist der hohe Prozentsatz von Genital- 
storungen bei Akrcmegabe leicht veretandlich. Fischer betont 
das friihzeitige Auftreten der Genitalstorungen, die dadurch die 
Bedeutung eines Friihsymptoms der Akrcmegalie gewinnen. Die 
von Buday und Janscd und von Creutzfeld beobachtete inPiale 
Hyperplasia genitalis erklart Fischer dadurch, daB die VergroBerung 
des Vorderlappens zuerst einen Reiz auf den Hinterlappen ausiibt. 
Wenn dann die Schadigung starker wird, tritt Genitalatrcphie 
ein. Zu Adipositas kommt es bei Akromegalie erheblich seltener. 
Creutzfeld fand sie in 1,6 pCt. seiner Falle, was nach Ansicht Fischers 
aber zu niedrig gegriffen ist. In vielen Fallen tritt sie wahrschein- 
lich infolge der Kcrrelation der Thyrecidea und der Hypophyse 
oder infolge von Kachexie nicht in die Erscheinung. Als ziemhch 
absclut beweisend fiir die Fischersche Anschauung iiber die 
genitalen Storungen muB der Fall Ponchia von Cagnetto betrachtet 
werden. Es handelte sich um eine akrcmegalische Frau, die mit 
57 Jahren ad exitum kam. Mit 27 Jahren trat Menopause ein, 
und bald darauf begann das Wachsen der Akra. Vom 46. bis 
48. Jahre stellten sich aber wieder regulare Menses ein, bei 
weiterem Fortschreiten der Akrcmegalie. Bei der Autopsie wurde 
ein cystisch erweichtes Adencm der Hypophyse gefunden, und 
Cagnetto zieht aus dem Sektionsbefund selbst den SchluB, daB 
der Tumor 11 Jahre vorher beim Wiedereintritt der Menses er- 
weicht sein miisse, da hierdurch naturgemaB eine Druckverminde- 
rung eingetreten war. 

Ziemlich haufige Symptcme bei Akrcmegalie sind Qlykosurie 
und Polyurie. Creutzfeld hatte bei seinen 118 Beobachtungen 
11 pCt. Diabetes mellitus und 8,47 pCt. Diabetes insipidus. Die 
Glykosurie ist nach den Experimenten von Borchardt sehr gut 
mit der Auffassung der Akrcmegalie als Hyperpituitarismus in 
Einklang zu bringen. Es gelang namlich Borchardt durch sub- 
kutane Injektion von Hypophysisextrakten beim Kaninchen 
Glykosurie zu erzeugen. Hierdurch erledigt sich wohl die Meinung 
Aschners, der nach seinen zahlreichen an Hunden ausgefiihrten 
Hypophysisexstirpationen annimmt, daB die Verletzung des 
Infundibulums die Glykosurie hervorrufe. Weniger klar sind die 
Anschauungen fiber das Vorkcmmen von Polyurie bei Akrcmegalie. 
Schafer konnte durch Einverleibung von Hypophysisextrakten 
und durch experimentelle Reizung der Pars intermedia eine Ver- 
mehrung der Diurese hervorrufen, so daB man die Pclyurie bei 
Hypophysisschadigungen als eine Hyperfunktion der Hypophyse, 
besonders der Pars intermedia, ansehen konnte. Auch Simmonds 
und Creutzfeld schlossen sich anfangs dieser Anschauung an. In 
einer kfirzlich erschienenen Arbeit publiziert Simmonds drei Falle 
von Diabetes insipidus. In zwei Fallen fand sich ein Tumor im 
Stiel und in der Neurohypophyse, wahrend die Pars intermedia 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



236 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit HypophyBencyste. 


intakt war, so daB sie sich ohne weiteres mit der Ansicht Schafers 
in Einklang bringen lassen. Fur einen dritten Fall Simmonds ver- 
sagt die Theorie Schafers dagegen vollstandig, denn hier war die 
gesamte Neurohypophyse, der Stiel und die Pars intermedia von 
vollig erweichten Tumormassen durchsetzt, so daB es sich nach 
der Meinung Simmonds nur um einen Funktionsausfall handeln 
kann. Neuerdings haben nun unabhangig voneinander Fami, 
van der Velden und Romer durch Verabreichung von Hypophysen- 
extrakt beim Menschen und bei Tieren festgestellt, daB das Sekret 
der Pars intermedia und der Neurohypophyse eine Herabsetzung 
der Diurese hervorruft. Es gelang ihnen auch mit diesen Extrakten, 
vorhandene Polyurien herabzusetzen. Sie schlossen hieratis, daB 
dem Diabetes insipidus ein Funktionsausfall der Hypophyse zu- 
grunde liegt. Bloch gelang es gleichfalls in jungster Zeit, bei zwei 
Fallen von Diabetes insipidus durch Behandlung mit Pituitrin 
Besserung zu erzielen. Hiermit stimmt auch der dritte Fall von 
Simmonds iiberein. Simmonds, der seit einiger Zeit bei alien 
Autopsien seines Institutes die Hypophyse untersucht, fand noch 
in einigen anderen Fallen ausgedehnte Tumorbildungen der Neuro¬ 
hypophyse. Bei einem Teil der Falle konnte, wie Simmonds selbst 
meint, noch geniigend intaktes Gewebe vorhanden gewesen sein. 
Bei einem Falle aber, in dem die Neurohypophyse, die Pars inter¬ 
media und der Stiel von Karzinommetastasen durchwachsen waren, 
war keine Polyurie vorhanden. In einem anderen Falle von Sim¬ 
monds (Mammakarzinom mit Metastasen) zeigte sich ein Jahr 
ante exitum starke .Polyurie. Ein Jahr spater, bei der Wieder- 
aufnahme ins Krankenhaus, war keine Polyurie mehr vorhanden. 
Vier Wochen spater trat Exitus ein. Auch hier fanden sich wie 
in dem vorhergehenden Falle Tumormetastasen, die die Neuro- 
hypophyse, den Stiel, die Pars intermedia und Teile des Vorder- 
lappens zerstort hatten. Es bestehen hier also vorlaufig noch 
ungeloste Widerspriiche, so daB sich eine eindeutige Erklarung 
fiir das Vorkommen der Polyurie bei Akromegalie heute noch 
nicht geben laBt. Immerhin ist es nach den bisherigen Ergebnissen 
iiber den Zusammenhang zwischen Polyurie, Diabetes insipidus 
und Hypophyse wahrscheinlich, daB nur die Falle von Akromegalie 
von Polyurie begleitet sind, in denen das Hypophysisadenom einen 
starkeren Druck auf die mittleren und hinteren Partien der Hypo¬ 
physe ausiiben kann. Es ware also immerhin in kiinftigen Fallen 
von Polyurie bei Akromegalie darauf zu achten. 

Ich mochte an dieser Stelle nicht verabsaumen darauf hinzu- 
weisen, wie ungemein wichtig es ist, bei alien Autopsien die Hypo¬ 
physe mikroskopisch zu untersuchen. Es hat sich hierbei nach den 
Untersuchungen von Simmonds, dem sich auch Schmorl anschlieBt, 
gezeigt, daB zum Beispiel luetische, tuberkulose und embolische 
Prozesse der Hypophysis, die bisher als ganz vereinzelte Vorkomm- 
nisse galten, keineswegs so sehr selten sind. 

Wir kommen nun zur Besprechung der Therapie der Akro¬ 
megalie. Die interne Organotherapie hat hier vollkommen versagt; 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Meyer, Em Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 237 

©s wurde durch Einverleibung von Hypophysensubstanz oder ent- 
sprechenden Extrakten nie irgendwelche Besserung oder gar 
Heilung erzielt. Nach dem heutigen Stande der Forschung, wo 
wir die Akromegalie als Erscheinungsform eines Hyperpituitarismus 
auffassen miissen, ist dies auch gar nicht anders moglich. Dagegen 
haben die in den letzten Jahren mit Erfolg vorgenommenen 
Operationen von Hypophysistumoren bei Akromegalie (v. Eisels- 
berg, v. Hochenegg, Exner) die Beweiskraft eines Experimentes liir 
die Richtigkeit der hyperpituitaren Auffassung der Akromegalie. 
Es gelang namlich durch Operation der Hypophysistumoren bei 
klinisch sicherer Akromegalie die Symptome zum Schwinden bezw. 
zu erheblichem Riickgang zu bringen: es tritt Involution der 
Akra ein, die Sehkraft bessert sich, die Vita sexualis erwacht 
wieder, die sekundaren Geschlechtsmerkmale treten wieder auf. 
Fischer stellt nach diesen Erfolgen die Forderung auf, daB man 
in alien Fallen, wo das Fortschreiten der Akromegalie eine Lebens- 
gefahr bedeutet, die Operation des Tumors vomehmen miisse, 
wenn nicht im Einzelfall gewichtige Griinde dagegen sprechen. 

Aber nicht nur das „Experiment am Menschen“, die Operation, 
sondern auch die neueren tierexperimentellen Ergebnisse dienen 
zur Bestatigung der hyperpituitaren Ursache der Akromegalie. 
Schafer hat durch Verfutterung des Hypophysenvorderlappens 
■ein deutlich gesteigertes Wachstum bei Ratten erzielt. Fischer 
hebt als besonders beweisend die Experimente Exners hervor. 
Dieser verpflanzte bei jungen Ratten 1—10 Rattenhypophysen 
in das retroperitoneale Bindegewebe. Im Gegensatz zu den Kon- 
trolltieren trat hier ein abnorm gesteigertes Wachstum ein. Dieser 
Effekt dauerte aber nur solange, bis die implantierten Hypophysen 
resorbiert waren. Ein negativer Beweis fur die Auffassung der 
Akromegalie als Hyperpituitarismus sind die Experimente von 
Aschner und von Ascoli und Legnani. Sowohl Aschner als auch 
Ascoli und Legnani stellten ihre Versuche mit Hunden an. Aschner 
erzielte bei erwachsenen Tieren durch. die Hypophysisexstirpation 
nur eine leichte Schadigung der Keimdrusen und Herabsetzung 
der allgemeinen Widerstandsfahigkeit. Bei jungen Tieren dagegen 
zeigte sich ein starkes Zuriickbleiben im Wachstum und Fett- 
leibigkeit, sie wurden still, das MilchgebiB persistierte, die Genitalien 
blieben infantil. Bei Aschners Versuchen wurden diese Erschei- 
nungen nur durch den Ausfall der Vorderlappenfunktionen be- 
dingt. Ascoli und Legnani erzielten gleichfalls durch Hypophysis- 
exstirpation Wachstumshemmung, Atrophie der Genitalien und 
Veranderungen der Drusen mit innerer Sekretion. Es zeigten 
sich also bei Fortnahme der Hypophyse die entgegengesetzten 
Erscheinungen wie bei Akromegalie. 

Zwisohen der Hypophyse und den iibrigen Drusen mit innerer 
Sekretion bestehen sehr weitgehende Beziehungen, die aber zum 
groBen Teil noch sehr erheblicher Aufklarung bediirfen. Der 
innige Konnex zwischen der Hypophyse und den Keimdrusen 
ist bereits erortert worden. Bekannt ist femer seit langem die 

Monatsschrtft f. Psychiatric u. Neurologic. Bo. XXXVII. Helt 4. 16 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



238 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 


Digitized by 


Hypertrophie der Hypophyse bei Thyreodektomien. Ebenso ist 
die Hypophyse bei Myxodem und Kretinismus oft vergroBert, 
bei Basedow atrophiert. Bei Akromegalie ist die Thyreoidea teils 
atrophisch, teils hypertrophisch gef unden worden. Creutzfeld 
hatte 18,6 pCt. Atrophien der Thyreoidea und 5,9 pCt. Hyper- 
plasien der Thyreoidea. Oefters ist auch nach operativer Ent- 
femung der Hypophysistumoren bei Akromegalie ein Wachsen 
der Thyreoidea beobachtet worden (v. Eiselstterg, Exner). Auf 
welcher Ursache in einem Teil der Falle die Hyperplasie, im anderen 
Teil die Atrophie oder Hypoplasie der Thyreoidea beruht, hat 
sich bisher nicht feststellen lassen. Fischer hat femer in einigen 
Fallen von Akromegalie Hypertrophie der Nebennieren beobachtet. 
Auch Delille hat haufig Hypertrophie der Nebenniere bei Akro¬ 
megalie gefunden. 

Im folgenden soil auf einen Fall von Akromegalie naher ein- 
gegangen werden, der besonders deswegen interessant ist, weil 
er in einem relativ friihen Stadium der Krankheit zur Sektion 
gekommen ist. Es folgt zunachst die Krankengeschichte. 

J.-No. 635/1912. August W., 37 Jahre alt. 28. IX. 1912 eingeliefert. 

Anamnese: Pat. gibt an, seit 7—8 Jahren an Gelbsucht zu leiden. 
Im Anfang der Krankheit sei auch manchmal ,,Krampf im ganzen Leib“ 
und Diarrhoe aufgetreten. In letzter Zeit seien aber diese Schmerzen nicht 
mehr wiedergekommen. Pat. hat bis vor 10 Wochen gearbeitet. Damals 
seien die Beine angeschwollen, und diese Schwellung habe immer mehr 
zugenommen. 

Pat. hat Auftreibungen an den Finger- und Zehenenden und sehr 
groBe Hande und Fiifle, jedoch ist ihm dies selbst nie auf gef alien, imd er 
kann daher nichts liber das Auftreten dieser Erscheinung angeben. 

Aufnahmestalus : MittelgroBer Mann in schlechtem Ernahrungszustand. 

Haut hochgradig schmutzig-ikterisch verfarbt, trocken, etwas schil- 
femd. Die Schleimhaute und die Skleren sind ebenfalls dunkelgelb bis 
braunlich verfarbt. Die Muskulatur ist von mittlerer Entwicklung. 

Die Haut an den Armen ist sehr stark abhebbar von der Unterlage, 
das Gesicht sehr eingefallen. 

An den unteren Extremitaten besteht leichtes Oedem. 

Die Zunge ist trocken und leicht belegt. 

Das Zahnfleisch neigt rechts aufien oben zu leichten Blutungen. 

Der Rachen ist etwas gerotet und zeigt geringen Schleimbelag. Die 
TonsiUen sind ohne Besonderheiten. 

Der Thorax ist kurz und gedrungen. 

Die Lungengrenzen sind rechts vora an der 5. Rippe, beiderseits 
hinten am 9. Proc. spinosus, wenig verschieblich. 

Ueberall sonorer Zwngrcnschall und vesikulares Atmen ohne Neben- 
ger&usche. 

Herz : Rechte Grenze zwei Querfinger auBerhalb des rechten Stemal- 
randes. Linke Grenze in der Mamillarlinie. SpitzenstoB in der Mammillar- 
linie undeutlich im IV. Interkostalraiun fuhlbar. Ueber alien Ostien lautes 
systolisches Gerausch. Der II. Pulmonalton ist nicht akzentuiert. 

Puls: Gleichm&Big und regelmaBig, von mittlerer Spannimg und 
Fiillung. 

Abdomen sehr stark aufgetrieben, in den oberen Partien tympanitischer 
Schall. In den abh&ngigen und unteren Teilen starke Dampfung. Deut- 
liohe Fluktuation. Starke Venenzeichnimg. 

Leber und Milz infolge der starken Auftreibung des Leibes nicht 
palpabel. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 239 


Die Hande und Fiifie sind auBerordentlich vergro!3ert, besonders 
auffallig sind die stark aufgetriebenen Endphalangen. Auch die Epiphysen 
der Hand- und Fufigelenke sind stark verbreitert. 

Das Qesicht zeigt keine auffallige VergroBerung. 

Die Pupillenrefiexe und die Patellarreflexe sind normal. 

Urin von bierbrauner Farbe. Enth&lt Spuren von EiweiB, keinen 
Zucker, kein Urobilin. 

Bilirubinprobe positiv. 

Mikroskopisch: Sehr sparliche braungefarbte Zylinder. 

30. IX. Urinbefund unver&ndert. 

1. X. Von heute ab morgens niichtem Karlsbador Salz. 

2. X. Karrellkur dreitagig, ohne Effekt auf die Diurese und den 
Ascites. Die Spannung des Leibes nimmt zu. Die Urinmengen bleiben 
niedrig: 600—700 ccm. Spezifisches Gewicht 1006—1010. 

Der Stuhl enthalt Spuren von Urobilin. Fettsaurekristalle sind in 
ihm nicht nachweisbar. 

Der Urin enthalt sehr reichliches Sediment. Mikroskopisch werden 
ziemlich reichliche gekornte und hyaline Zylinder, sehr reichliche Zylindroide 
und viele Epithelien gefunden. Ferner einzelne Leukozyten, zahlreiche 
Hamsalze. Keine Erythrozyten. Im Urin ist kein Urobiiin nachweisbar. 

Augenhintergrund: Die rechte Papille zeigt etwas undeutliche Be- 
grenzung. Die GefaBe sind etwas erweitert und leicht abgeknickt. Am 
linken Auge normaler Befund. 

Die Rontgenbilder der Hande und FiiBe zeigen keinerlei Exostosen 
und UnregelmaBigkeiten an den Knochen, dagegen erscheinen auf ihnen 
die Weichteile stark verdickt. 

5. X. Seit 2 Tagen wird taglich zweimal 1,0 Diuretin ohne Erfolg 
verabreicht. 

Wegen hochgradiger Leibesspannung Bauchpunktion: Es werden 
6200 ccm gallig gef&rbter Fliissigkeit abgelassen. 

Rivalta negativ. 

Die Leber ist auch nach der Punktion nicht fiihlbar. Die Milz ist 
am Rippenbogen palpabel. 

6. X. Probefriihstiick: Beim Herausnehmen des Schlauches entleert 
sich etwas Blut. Das Probefriihstiick ist schlecht verdaut. 

Salzsauredefizit: 7. Gesamtaciditat: 17. Keine Milchsaure. 

Pepsin in Spuren vorhanden. 

Mikroskopisch nichts Pathologisches nachweisbar. 

Im Stuhl: Urobilinprobe positiv. 

Im Urin: Urobilinprobe negativ. 

Die Temperatur steigt bis 37,8, der Puls bis auf 105, 

Die Urinmenge steigt bis 1200 ccm, spezifisches Gewicht 1010. 

7. X. Der Ascites sammelt sich wieder an. Es bildet sich Oedem 
am Skrotum, das Oedem der Beine wachst. 

Im Stuhl Trypsinnachweis positiv. 

Oelprobefriihstuck: Kein Trypsin nachweisbar. Enthalt viel Sanguis, 
chemisch nachweisbar. Im Urin Bilirubin, aber kein Urobilin. 

9. X. Pat. wird benommen und redet irre. 

11. X. Exitus letalis. 

Es wurde klinisch die Diagnose auf eine biliare Lebercirrhose infolge 
chronischen Choledochusverschlusses gestellt. Die positive Blutprobe im 
Oelprobefriihstuck legte auflerdem trotz Fehlens sonstiger Symptome die 
Vermutung nahe, daB ein Ulcus duodeni vorhanden sei. Ferner wurde 
infolge des akromegalischen Bildes, das die Hande und FiiBe darboten, 
die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf einen Tumor der Hypophyse gestellt, 
obwohl im Gesicht keine Akromegalie vorhanden und nur geringe okulare 
Symptome vorhanden waren. Die Sexualancunnese war leider nicht erhoben 
worden. 

Sektionsprotokoll. 

AeuBere Besichtigung: 172 cm lange, mannliche Leiche. Totenstarre 
eingetreten. Blaurote Totenflecke an den abh&ngigen Korperteilen. Pupillen 

16* 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



240 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 


Digitized by 


mittel- und gleich weit. Skleren und Schleimh&ute von gelber, ikterischer 
F&rbung. Die Haut desgleichen. An den Knocheln m&Biges Oedem. Die 
Hande und Fiifle sind sehr groB, die Endphalangen sind in Trommelsohl&ger- 
form ,stark aufgetrieben. 

Linke Hand 21,8 cm lang. GroBte Breite 12,5 cm. 

Rechte Hand 22,5 cm lang. GroBte Breite 12,5 cm. 

L&nge der FiiBe 28 cm. 

Korpermuskulatur von ikterischer Farbung. Nach Eroffnung der 
Bauchhohle entleert sich ca. 1 Liter triibseroser ikterisch gef&rbter Fliissig- 
keit mit gelblichem Schaum. Die Pleurahohlen sind leer. Der Diinndarm 
ist stark gebl&ht. Das Netz ist zum groBen Teil nach oben rechts iiber die 
Leber zuriickgeschlagen und mit einem kleinen Zipfel an der Zwerchfell- 
kuppe mit dem Wandperitoneum verwachsen. Hier findet sich auch etwas 
Hyperamie des sonst normalen Omentum majus. Das Wandperitoneum 
t zeigt beiderseits vorn unten kleine Stellen leichter Hyperamie. 

Herz: Im Herzbeutel ca. 2 EBloffel klarer, seroser, leicht ikterisch 
gef&rbter Fliissigkeit. Das Herz ist in toto etwas, besonders nach rechts, 
vergroBert. Muskulatur von schlaffer Konsistenz und ikterischer Farbung. 
Fettmuskelgrenze etwas unscharf. Im Herzen fliissiges Blut. Das Endokard, 
die Klappen und die Intima der Aorta, die im iibrigen glatt ist, ebenfalls 
von ikterischer Farbe. Klappen und Kranzarterien ohne Besonderheiten. 

Lungen: Der linke Oberlappen ist vorne locker verwachsen, im 
iibrigen frei von Adhasionen. In den Bronchialverzweigungen findet sich 
reichlich blutig-schaumige Fliissigkeit. Die beiden Oberlappen und der 
rechte Mittellappen sind iiberall lufthaltig. Saft- und Blutgehalt, besonders 
im rechten Unterlappen, stark vermehrt. Im linken Unterlappen finden 
sich einzelne luftleere, im Wasser untersinkende Partien. Der rechte Unter¬ 
lappen ist fast total luftleer. 

Mediastinal- und Halsorgane: Larynx und Thyreoidea nicht ver¬ 
groBert und von normaler Beschaffenheit. Die Thymus ist in Fettgewebe 
umgewandelt. Die Aorta hat glatte, ikterisch gef&rbte Intima. Sonst ohne 
Besonderheiten. 

. Bauchorgane (siehe auch oben). 

£ Milz: Sehr stark vergroBert (17X9X4,5 cm). Totaler „ZuokerguB“ 
des verdickten Peritoneums. Sie ist von ziemlich fester Konsistenz, die 
Schnittflache ist dunkelrot und sehr blutreich. Die Follikel und Trabekel 
t re ten nicht hervor. Am Hilus eine kleine Nebenmilz und mehrere ver- 
groBerte, markig gesohwollene Lymphdriisen. 

Darmtraktus . 

Rectum und Dickdarm ohne Besonderheiten. Das Coecum \md der 
unterste Teil des Colon ascendens, ebenso der imterste Teil des Ileum 

liegen in einem Becessus, der dadurch ge- 
bildet wird, daB eine breite Spange des 
Mesenteriums nach rechts unten mit dem 
Wandperitoneum, wahrsoheinlich ange- 
boren, verwachsen ist. Appendix ca. 6 cm 
lang, ohne Besonderheiten. Der Diinn- 
d arm ist auffallend in Lange und Quere 
vergroBert, desgleichen das Duodenum. 
2 cm unter dem Pylorus findet sich in 
letzterem eine pfenniggroBe strahlige Ul- 
cusnarbe mit schwarz pigmentierter Ura- 
randung. 

Ductus choledochus und pancreati- 
cus mlinden in einer gemeinsamen Oeff- 
nung in die Papilla duodeni. Der Ductus pancreaticus ist total durchg&ngig. 
Pankreas ohne Besonderheiten. 

Leber- und OaUensystem; Die Leber ist von ungef&hr normalen Dimen- 
sionen. Sie ist von harter Konsistenz, ihre Oberflftche stark granuliert, 
von grauer, etwas ikterischer F&rbung. Der Peritonealiiberzug ist verdickt. 



Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 241 


Digitized by 


der vordere Rand ist scharf. Auf dem Durehschnitt zeigt sie sich von zahl- 
reichem Bindegewebe stark durchzogen; in das Bindegewebe sind Inseln 
an8cheinend normalen Gewebes eingeschlossen. Die Farbung ist ikterisch. 

Die Gallenblase ist sehr stark vergroBert und prall gefiillt. An ihrer 
Kuppe ist sie mit der Leber etwas verwachsen. Sie enthalt ca. 100 com 
griinlicher, dunnflussiger Galle. Der Choledochus ist gut durchgangig. 
Der Cysticus ist in ganzer Ausdehnung narbig verengt; nach der Blase 
nimmt die Stenose zu und ist hier fur Sonden fast imdurchgangig. Durch 
Druck auf die Gallenblase entleert sich aber aus ihm etwas Galle. Der 
Hepaticus ist von normaler Beschaffenheit, jjedoch liegt eine Spange des 
narbigen Cysticus unmittelbar an seiner Miindung in den Choledochus. 

Alle Driisen in der Pankreas- und Lebergegend, ebenso die Driisen 
des Mesenteriums sind vergroBert, von weicher, gallertiger Konsistenz und 
gelbbrauner Farbe. 

Magen: Sehr stark aufgetrieben. Schleimhaut an einigen Stellen 
stark injiziert, im iibrigen von normaler Beschaffenheit. Dicht liber dem 
Pylorus findet sich eine breite, schwarz pigmentierte Stelle und mehrere 
kleine von gleicher Beschaffenheit. 

Nieren: Sie sind etwas vergroBert, die Kapsel ist von der glatten 
OberflAche gut abziehbar. Die Zeichnung der etwas verbreiterten Rinde 
ist leicht getriibt. Die Farbe ist ikterisch. 

Nebennieren: Durch Leichenf&ulnis total erweicht. 

Hoden: Sie weisen makroskopisch keine Veranderungen auf und 
sind von normaler GroBe. 

Qehim: Trocken, blaB, von fester Konsistenz. Die Dura und Plexus 
chorioidea sind ikterisch geffirbt. Auf den typischen Schnittflftchen keinerlei 
pathologische Veranderungen. Die Ventnkel sind ohne Besonderheiten. 

Zirbeldruse ohne Besonderheiten. 

Die Nervi optici und das Chiasma zeigen keine Veranderungen. 

Hypophyse: Sie liegt auBerordentlich stark in die Sella turcica ein- 
gekeilt. Ihre Pars cerebralis ist etwas vergroBert. Es gelingt nicht, sie 
ohne weiteres aus der Sella herauszulosen. Bei dem Versuch, sie durch 
AbmeiBeln des Knochens herauszupraparieren, zeigt es sich, dafi der hintere 
Teil der Sella nach dem Clivus zu sehr stark usuriert und erweicht ist. 
Nach Ablosung der usurierten Knochenspange sieht man, daB der glandular© 
Teil der Hypophyse zum groBten Teil aus einer mit gelbbraunlichem Inhalt 
gefiillten Cyste besteht, die nach unten und hinten wachsend den Knochen 
usuriert hat. Sie erscheint von hier besehen zirka pflaumenkerngroB. 
Beim AufmeiBeln des Keilbeinkorpers stellt es sich heraus, daB die Cyste 
auch die ganze rechte Keilbeinhohle ausf iillt. Sie hat das Corpus sphenoidale 
hier unter dem Boden des Tiirkensattels perforiert, so daB dieser selbst 
ganz intakt geblieben ist. Der eigentliche glandulftre Teil der Hypophyse 
zeigt makroskopisch keinerlei Veranderungen, ebenso der Hinterlappen. 

Sektionsdiagnose. 

GroBe Kolloidcyste der Hypophyse mit Perforation des Keil- 
beinkorpers. Biliare hypertrophische Lebercirrhose. Narbiger 
VentilverschluB des Ductus choledochus. Ulcus duodeni. Spleno- 
megalie. VergroBerung von Diinndarm und Duodenum. Ascites. 
Ikterus der gesamten Eingeweide und Muskulatur. Akromegalische 
Veranderungen der Hande und FiiBe. 

Mikroskopischer Befund. 

Der Hypophyaenvorderlajypen zeigt in Schnitten aus verschiedenen 
Teilen ein fast ausschlieBliches Vorherrschen der Eosinophilen, die in 
Str&ngen und Alveolen angeordnet sind. Basophile und Hauptzellen finden 
sich nur in versehwindender Anzahl. In den Kapillaren besteht eine sehr 
Starke Hyperamie. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



242 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysencyste. 


Digitized by 


Die N eurohypophyse, von der nur ein kleiner Teil mitgetroffen wurde, 
hat vermehrte spindelformige Zellen. in ihnen verstreufc ziemlich reichliohe 
pigmenthaltige Stellen. 

Die mit der Hypophyse zusammenh&ngende Cyste besteht aus 
lockerem Gewebe, das reich an kleinen GefaBen ist. Ihre Innenwand ist 
bedeckt von sehr hohem, flimmerndem Zylinderepithel. 

Die Thyreoidea ist mikroskopisch ohne Besonderheiten. 

Die Thymu8drii8e ist stark atrophisch und laBt keinen normalen Bau 
mehr erkennen. Es findet sich im Fettgewebe nur noch sparliches lymphoides 
Gewebe. 

Die Milz ist sehr blutreich, das Bindegewebe ist vermehrt, der sonstige 
Bau normal. 

Die BauchapeichMruse hat auBer starker postmortaler Selbstver- 
dauung keine Ver&nderungen aufzuweisen. 

Die Leber zeigt eine sehr starke Vermehrung des interstitiellen Ge- 
webes. In diesem reichliche kleinzellige Infiltration und betraohtliche 
Gallengangneubildung. Die Leberzellen sind stark gallig pigmentiert. Die 
elastischen Fasern sind vermehrt. 

Die Nieren weisen eine starke, wahrscheinlich terminale Nekrose 
des Parenchyms auf. Einzelne Glomeruli sind atrophisch, die iibrigen gut 
erhalten. Das Bindegewebe ist nicht vermehrt. 

Die Hoden zeigen starke Hypoplasie. Samtliche Samenkanalchen 
sind wenig entwickelt. Sie haben eine breite, bindegewebige, zum Teil 
hyaline Wandung. Die Kanalchen sind im Innern von atypisch aussehenden 
Zellen erfiillt, die nichts von Spermatogenese erkennen lessen. An manchen 
Stellen sind die Kanale ganz verodet; das zwischenliegende Bindegewebe 
ist verbreitert, locker, im ganzen kernarm. Zwischenzellen sind auBerst 
sparlich. 

Mikroskopisches Ergebnis. 

AuBerordentlich starke Vermehrung der eosinophilen Zellen im 
Hypophysenvorderlappen. Kolloidhaltige, in die Keiloeinhohle hinein- 
wachsende Flimmerepithelcyste der Hypophyse. Cirrhosis hepatis. Agonale 
Nephritis. Atrophia testis. 


Der Fall ist nach den verschiedensten Richtungen hin von 
Interesse. Die Hypophysenveranderungen und die Akromegalie 
sind hier gewissermaBen nur ein Nebenbefund, da der Patient 
an einem interkurrenten Leiden zugrunde ging. Der Patient 
hatte von seiner Akromegalie keine subjektiven Beschwerden 
und schenkte dem Wachsen seiner Hande und FiiBe keinerlei 
Beachtung, um so mehr, als der langjahrige Ikterus seine Auf- 
merksamkeit sicher erheblich in Anspruch nahm. Es handelt 
sich hier um einen der nicht sehr haufigen Falle, die relativ friih- 
zeitig zur Sektion kamen. Die akromegalen Erscheinungen waxen 
noch nicht sehr ausgepragt, im Gesicht waren noch keine akro- 
megalischen Veranderungen bemerkbar, und die Reizerscheinung 
an der rechten Opticuspapille war noch zu gering, um auffallende 
subjektive Beschwerden zu machen. Auch Polyurie und Glykosurie 
fehlten. Eine Sicherung der Diagnose auf Akromegalie konnte 
hier nur durch die Autopsie gewonnen werden. Auch hier bildet 
der Befund einer starken Vermehrung der eosinophilen Zellen im 
Hypophysenvorderlappen eine Bestatigung der besonders von 
Fischer vertretenen Auffassung der Akromegalie als Hyper- 
pituitarismus. Die groBe, mit Flimmerepithel ausgekleidete 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysenoysto. 243 

Kolloidcyste, die sich auBerdem an der Hypophyse fand, ist, wie 
weiter unten noch erortert wird, von groBer Bedeatung fur das 
Krankheitsbild gewesen. Trotz ihrer ziemlich betrachtlichen GroBe 
machte sie aber keine wesentlichen Hirndrackerscheinungen, da 
eie fast nur nach der rechten Keilbeinhohle zu gewacbsen ist und 
nach Usurierung des Rnochens diese ganz ausfiillte. Sie ist von 
der Driisensubstanz des Vorderlappens deutlich abgegrenzt ge¬ 
wesen, und wenn wir der Einteilung von Creutzfeld folgen, miissen 
wir sie unter die von der embryonalen Hypophysenhohle sich 
ableitenden Cysten einreihen. Der eigentliche Hypophysenvorder- 
lappen war nur wenig vergroBert, und nur die mikroskopische 
Untersuchung konnte hier die Diagnose der Akromegalie sichem. 
Wir haben es hier also mit einem Parallelfall zu den Fallen von 
Lewie und Salle zu tun, die auch bei beginnender Akromegalie 
nur eine Vermehrung der eosinophilen Zellen ohne wesenthche 
HypophysisvergroBerung fanden. Es zeigt sich auch hier wieder, 
wie es schon Fischer betont, daB schon die bloBe Vermehrung 
der eosinophilen Zellen hinreicht, um eine so bedeutende Ver- 
anderung wie die Akromegalie im menschlichen Organismus hervor- 
zurufen. Aus der Menge des im Hinterlappen vorhandenen Pig¬ 
ments lassen sich irgendwelche Schliisse nicht ziehen. Es ist zwar 
ziemlich reichliches Pigment vorhanden, jedoch ist im Verhaltnis 
zum Alter des Individuums (37 Jahre) die Vermehrung nicht 
abnorm. Auch stehen die bisherigen Pigmentfunde bei Hypo- 
physistumoren in zu groBem Widerspruch zueinander, als daB 
man einen Zusammenhang mit der Krankheit ableiten konnte. 
Wahrend z. B. Fischer in seinem schon fruher erwahnten Fall 
von Adipositas hypogenitalis eine starke Vermehrung des Pigmentes 
fand, sah Vogel in dem von Martins beschriebenen Falle, der ohne 
Akromegalie und ohne Adipositas hypogenitalis verlief, nur sehr 
sparliches Pigment. Um so bemerkenswerter und wichtiger ist 
aber im vorliegenden Falle die weitgehende bindegewebige Um- 
wandlung des Hodenparenchyms und das Fehlen jeglicher Sper- 
matogenese bei dem im besten Mannesalter stehenden Individuum. 
DaB sich hier bei einer noch nicht weit fortgeschrittenen Akro¬ 
megalie schon eine so starke Hodenveranderung fand, beruht, 
wenn wir der Argumentation Fischers folgen, sicher auf der 
Druckwirkung der groBen Kolloidcyste auf den Hinterlappen. 
Diese Einwirkung hat hier hochstwahrscheinlich schon lange vor 
dem Auftreten der ersten akromegalischen Symptome statt- 
gefunden, denn die Cyste muB schon sehr lange bestanden haben, 
da sie den Keilbeinkorper so stark usuriert und seine Hinterwand 
zum Teil zum Schwinden gebracht hat. Wir haben daher in diesem 
Falle Grand zu der Vermutung, daB es auch ohne das Auftreten 
der Akromegalie zu einer Genitalatrophie gekommen ware. 

Der VentilverschluB des Choledochus, die biliare Leber- 
cirrhose und der damit in Zusammenhang stehende Milztumor 
bieten nichts wesentlich Neues. Die im Stuhl nachgewiesenen 
geringen Urobilinmengen, aus denen man einen, wenn auch ge- 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



244 Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit HypophysencyBte. 


Digitized by 


ringen GallenabfluB entnehmen konnte, stehen mit der bei der 
Sektion gefundenen minimalen Durchgangigkeit der Gallen- 
abfluBwege vollkommen in Uebereinstimmung. Klinisch inter- 
essant ist auch das zufallig gefundene Ulcus duodeni, fur das die 
bei einem Oelprobefriihstiick erhaltene starke Blutreaktion in vivo 
den einzigen Anhaltspunkt bot. Dieser Befund ist von Allard 
in einer Arbeit iiber das Ulcus duodeni noch einer besonderen 
Wiirdigung unterzogen worden. 

Was den hier beschriebenen Fall so besonders interessant 
macht, ist die Tatsache, daB schon allein die Vermehrung der 
eosinophilen Zellen geniigt, um das pathologische Wachsen der 
Akra herbeizufiihren. Dieser Umstand sowohl als auch die von 
der Kolloidcyste beeinfluBte starke Yeranderung der Hoden bilden 
eine treffende Illustration zu den besonders von Fischer in den 
letzten Jahren vertretenen Anschauungen iiber das Wesen der 
Akromegalie und den EinfluB der Hypophyse auf das Genital- 
system. 

Literatur- Verzeichnis. 

Allard, Zur Diagnose des Ulcus duodeni. Med. Klinik. 1913. — 
Aschner, Hypophysis und Genitale. Arch. f. Gyn. 1912. Bd. 97. H. 2. — 
Derselbe, Funktion der Hypophyse. Pflugers Arch. 1912. Bd. 146. — 
Ascoli und Legnani, Folgen der Exstirpation der Hypophyse. Munch, med. 
Woch. 1912. — Benda , Verhandl. d. Berl. Phys. Ges. ,,Ueber den normalen 
Bau und einige pathologische Veranderungen der menschlichen Hypophysis 
cerebri 44 . Arch. f. Anat. u. Phys.; phys. Abt. 1900. — Derselbe, Pathologische 
Anatomie der Hypophysis cerebri. In Flatau, Jacobsohn u. Minor, Handb. 
d. pathol. Anat. d. Nervensy stems. — Derselbe, Beitrage zur normalen und 
pathologischen Histologie der menschlichen Hypophysis cerebri. Berl. 
klin. Woch. 1900. — Biedl, Innere Sekretion. Berlin und Wien 1910. — 
Bloch, Ges. f. innere Med. u. Kinderheilk. Wien. Sitzungsber. i. d. Miinch. 
med. Woch. 1914. No. 4. '— Borchardt , Funktion und funktionelle Er- 
krankung der Hypophyse. In Ergebnisse d. inneren Med. u. Kinderheilk. 
1909. Bd. 3. — Buday und Jansco, Ein Fall von pathologischem Riesen- 
wuchs. Dtsch. Arch. f. innere Med. 1898. Bd. 60; zit. nach Fischer. — 
CagneltOy Zur Frage der anatomischen Beziehung zwischen Akromegalie 
und Hypophysis. Virchows Arch. 1904. Bd. 176. — Derselbe, Neuer 
Beitrag zum Studium der Akromegalie mit besonderer Berucksichtigung 
der Frage nach dem Zusammenhang der Akromegalie mit Hypophvsen- 
geschwiilsten. Virchows Arch. 1907. Bd. 187. — Carbone, Gaz. Med. 
Italiana. 1902; zit. nach Cagnetto. — Creutzfeld, Ein Beitrag z!ur normalen 
und pathologischen Anatomie der Hypophysis cerebri des Menschen. 
Jahrb. d. Hamb. Staatskrankenanstalten. 1908. Bd. 13. — Derselbe, 
Drei Falle von Tumor hypophyseos ohne Akromegalie. Jahrb. d. Hamb. 
Staatskrankenanstalten. 1908. Bd. 13. — Dostoiewsky , Ueber den Bau 
des Vorderlappens des Hirnanhangs. Arch. f. mikrosk. Anat. 1886. Bd. 26; 
zit. nach Benda. — Deli lie, zit. nach Fischer. — v. Eiselsberg , zit. nach 
Fischer. — Erdheim und Stumme, Ueber die Schwangerschaftsveranderung 
der Hypophyse. Zieglers Beitr. 1909. Bd. 46. — Erdheim , Ueber einen 
Hypophysistumor von ungewohnlichem Sitz. Zieglers Beitr. 1909. B. 46.— 
Derselbe, Ueber das eosinophile und basophile Hypophysenadenom. Frank¬ 
furter Ztschr. 1910. Bd. 4. — Exner , Beitr. zur Pathologic und Pathogenese 
der Akromegalie. Mitteil. aus d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1909. Bd. 20.— 
Derselbe, Ueber Hypophysentransplantationen und die Wirkung dieser 
experimantellen Hypersekretion. Dtsch- Ztschr. f. Chir. 1910. Bd. 107; 
zit. nach Fischer. — Bleach, Tagebl. der 57. Naturforscherversammlung 
zu Magdeburg. 1894; zit. nach Benda. — Falla, Erkrankungen der Driisen 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Meyer, Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysenoyste. 245 


Digitized by 


mit inneirer Sekretion. In Mohr u. Staehelin, Handb. d. inneren Med. 
Berlin 1912. Bd. 4. — Fami, zit. nach Simmonds. — B. Fischer , Hypo¬ 
physis, Akromegalie und Fettsucht. Wiesbaden 1910. — Derselbe, Hypo¬ 
physis und Akromegalie. Frankf. Ztschr. f. Pathologie. 1912. Bd. 11. — 
Derselbe, Hypophysis und Adipositas hypogenitalis. Frankf. Ztschr. f. 
Pathologie. 1912. Bd. 11. — Frankel, Stadelmann, Benda , Klin. u. anat. 
Beitr. zur Lehre von der Akromegalie. Dtsch. med. Woch. 1901. — Hanau, 
zit. nach Benda. — Haberfeld , Die Rachendachhypophyse. Zieglers Beitr. 
1909. Bd. 46. — v. Hochenegg, Dtsch. med. Woch. 1908. S. 850. — 
Kohn , Ueber das Pigment der Neurohypophyse des Menschen. Arch. f. 
mikrosk. Anat. u. Entwicklungsgesch. 1909. Bd. 75. H. 2; zit. nach 
Vogel. — Kraus, Wissenschaftl. Ges. Deutscher Aerzte in Bohmen, 8. XI. 
1912. Sitzungsber. i. d. Munch, med. Woch. 1912. S. 2706. — Lewis , 
Hyperplasia of the chromophile cells of the Hypophysis as the cause of 
Acromegaly, with report of a case Bull, of the Johns Hopkins Hospital. 
1905. Bd. 16; zit. nach Fischer. — Lothringer, Untersuchungen an der 
Hypophyse einiger Saugetiere und des Menschen. Arch. f. mikrosk. Anat. 
1886. Bd. 28; zit. nach Benda. — Martins , Hypophysistumor ohne Akro¬ 
megalie. Frankf. Ztschr. f. Pathol. 1912. Bd. 11. — Mendel , Obduktions- 
befund eines Falles von Akromegalie. Berl. klin. Woch. 1900; zit. nach 
Benda. — Notdurft , Deutscher ftrztl. Verein, Prag. Nov.-Dez. 1911. 
Sitzungsber. i. d. Dtsch. med. Woch. 1912. S. 735. — Panlesco , zit. nach 
Fischer. — Petrin , Ueber das gleichzeitige Vorkommen von Akromegalie 
und Syringomyelic. Virchows Arch. 1907. Bd. 190. — Derselbe, Be- 
merkungen zur Akromegaliefrage. Virchows Arch. 1912. Bd. 207. — 
L . Pick , Ueber Dystrophia adiposo-genitalis bei Neubildungen im Hypo- 
physengebiet, insbesondere vom praktisch chirurgischen Standpunkt. 
Dtsch. med. Woch. 1911. — Reu/3, Sehnervenleiden infolge von Graviditat. 
Wien. klin. Woch. 1908; zit. nach Erdheim und Stumme. — Romer , zit. 
nach Simmonds. — Salle , Angeborene Akromegalie mit Sektionsbefund. 
Sitzungsber. i. d. Dtsch. med. Woch. 1912. S. 482. — Schafer , zit. nach 
Simmonds. — E. A. Schafer , Die Funktionen des Gehimanhangs. Bern 
1911; zit. nach Fischer. — F. SchuUze und B. Fischer , Zur Lehre von der 
Akromegalie und Osteoarthropathie hypertrophiante. Mitteil. aus d. 
Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1912. Bd. 24. — Silbermark , Die intrakranielle 
ExstiFpation der Hypophyse. Wien. klin. Woch. 1910; zit. nach Fischer. — 
Simmonds , Ueber sekundare Geschwiilste des Hirnanhangs und ihre Be- 
ziehungen zum Diabetes insipidus. Munch, med. Woch. 1914. No. 4. — 
Striimpell , Akromegalie und Diabetes. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. 1897. 
Bd. 11; zit. nach Exner. — Stump f, Zur Histologic der Neurohypophyse. 
Virchows Arch. 1911. Bd. 206; zit. nach Vogel. — Tamburini, Beitrag 
zur Pathogenese der Akromegalie. Zbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 1894; 
zit. nach Fischer. — Tolken , Zur Pathologie der Hypophysis. Mitteil. aus 
den Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1912. Bd. 24. — van der Velden , zit. nach 
Simmonds. — Vogel, Das Pigment des Hinterlappens der menschlichen 
Hypophyse. Frankf. Ztschr. f. Pathol. 1912. Bd. 11. — Simmonds , Ueber 
syphilitische Erkrankungen der Hypophysis, insbesondere bei Lues con¬ 
genita. Dermat. Woch. 1914. Bd. 58. Erganzungsheft. — Derselbe, 
Ueber Tuberkulose der Hypophysis. Zbl. f. allg. Pathol, u. pathol. Anat. 
1914. Bd. 25. No. 5. — Derselbe, Ueber embolische Prozesse in der Hypo¬ 
physis. Virchows Arch. 1914. Bd. 217. — Derselbe, Ueber Hypophysis- 
sohwund mit todlichem Ausgang. Dtsch. med. Woch. 1914. No. 7. — 
Derselbe, Zur Pathologie der Hypophysis. Verhandlungen der Deutschen 
pathol. Gesellschaft. 1914. S. 208. — Schmorl, Diskussion zur Hypophysis- • 
frage. Verhandlungen der Deutschen pathol. Gesellschaft. 1914. S. 213. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



246 


J 6 r g e r, Ueber Assoziationoa bei Alkoholikem. 


(Aus der psychiat. Uuiversitats-Klinik Burgholzli-Ztirich. 

[Dir. Prof. Dr. Bleuler].) 

Ueber Assoziationen bei Alkoholikern. 

Voa 

JOH. BEN. JORGER, 

II. Assistent des BurghOlzli. 

Einleitung. 

Die nachfolgende Arbeit bildet eine Untersuchung in der Frage, 
ob die chronische Alkoholvergiftung auf den Ablauf und die Form 
der Assoziationen eine bestimmte Einwirkung ausiibe, so daB eine 
charakteristische Art der Assoziationen sich zeigen wiirde, wie das 
z. B. fiir die organisch Dementen und Paratytiker von Brunsch- 
tueiler (4), fiir die ImbeziUen und Idioten von Wehrlin (2), fiir die 
Epileptiker von Jung nachgewiesen worden ist. Zum Vergleiche 
mit dem untersuchten Materiale sind die Tabellen und Zahlen her- 
beigezogen worden, die Jung (1) und Riklin in den diagnostischen 
Assoziationsstudien nach ihren Untersuchungen fiir die Gesunden 
als Norm angegeben haben. 

Das fiir die vorliegende Arbeit untersuchte und berechnete 
Material umfaBt 84 Tabellen, die teils von anderen, teils vom Unter- 
sucher selbst aufgenommen wurden. Die Tafeln sind teilweise die 
seit Jahren im Burgholzli angewandten Assoziationstabellen, wie 
sie von Jung und Riklin angegeben wurden; ein kleiner Teil sind 
Tabellen, die in jiingster Zeit von Aschaffenburg und Hans W. Maier 
zusammengestellt worden sind; wahrend erstere Substantive, 
Adjektive und Verben im bekannten Verhaltnis enthalten, be- 
stehen letztere nur aus zweisilbigen Hauptwortem. 

Die Methode des Experimentes war die ebenfalls bekannte. 
Der Versuchsperson wurde das Reizwort zugerufen, die Reaktions- 
zeit mit der 1 / s Sekundenuhr bestimmt, und nach der Aufnahme 
der ganzen Reihe wurde nach einer Pause von 10 Minuten das 
Experiment wiederholt zur Priifung der Reproduktion. 

Es zeigte sich nun bald, daB es nicht geniigte, mit einem 
Patienten nur einmal das Assoziationsexperiment zu machen, 
sondern daB vieles Charakteristische herauskam, wenn das Experi¬ 
ment in gewissen Zeitabstanden wiederholt wurde. Der wieder- 
holten Aufnahme trat aber die Schwierigkeit entgegen, daB die 
Alkoholkranken teilweise nur kurze Zeit in der Anstalt blieben, 
so daB von den einzelnen Patienten nur wenige Tabellen aufge¬ 
nommen werden konnten. 

Diesen Mangel suchte man dadurch zu beseitigen, daB man in 
der Berechnung der Resultate den Tag des Eintrittes des Patienten 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 


247 


in die Anstalt als denjenigen annahm, an welchem der Patient am 
meisten unter dem EinfluB der Alkoholvergiftung stand. Wenn 
nun bei verschiedenen Patienten in langeren oder kxirzeren Ab- 
standen vom Tag des Eintrittes weg das Assoziationsexperiment 
vorgenommen wurde, und man entsprechend diesem Abstand die 
Ergebnisse auf einer Kurve einordnete, so hoffte man dadurch 
gleichwohl ein Resultat zu erhalten. Dieses sollte demjenigen 
gleichen, das man erhalten kann, wenn beim gleichen Patienten in 
gewissen Zeitabstanden das Assoziationsexperiment wiederholt 
wird. Die Erwartungen wurden nicht erfullt. Es zeigte sich, daB 
die Voraussetzung sehr wenig zutraf, denn der Grad der Alkoholi- 
sierung konnte beim Eintritt des Patienten nicht bei alien der 
gleiche sein. Viele kamen im Delirium und waren erst nach einigen 
Tagen zum Experiment befahigt, viele kamen relativ michtern 
und konnten schon am Tage der Aufnahme dem Assoziationsver- 
such unterzogen werden. Infolgedessen ergab die Zusammen- 
stellung der Ergebnisse des Experimentes verschiedener Patienten 
nach den Abstanden vom Tage des Eintrittes geordnet kein Re¬ 
sultat. Man muBte suchen, von der namlichen Versuchsperson 
mehrere Tabellen zu erhalten, die in Intervallen von mehreren 
Tagen aufgenommen wurden. Dem trat leider die baldige Ent- 
lassung vieler Alkoholkranken sehr oft hinderlich in den Weg. 

Es zeigten sich aber noch andere Schwierigkeiten. Sie liegen 
im Assoziationsexperiment iiberhaupt, und es ist nicht ohne Inter- 
esse, einmal auf dieselben hinzuweisen. 

Es war nicht gleichgiiltig, wie derExperimentator der Versuchs¬ 
person die Worte zurief. Das namliche Wort in verschiedenem Ton 
gerufen, kann eine ganz verschiedene Reaktion zeitigen. Zweifellos 
ist es, daB Personlichkeit, Stimmung sowohl des Experimentators 
als auch des zu Untersuchenden seine Einfliisse auf die Reaktionen 
hat. Ich als Schweizer z. B. lose bei einem Schweizer eine andere 
Reaktion mit dem namlichen Worte aus als ein deutscher Kollege 
oder gar eine russische Kollegin. Ebenso wird es einen bedeutenden 
Unterschied ausmachen, ob ein Reizwort, z. B. „Tod“, mit einer 
leichten, moglichst neutralen Betonung oder mit einer gewichtigen 
dumpfen Klangfarbe als Reiz gegeben wird. 

Auch ist es fur die Versuchsperson von EinfluB, ob sie bei der 
erstenUntersuchung vollgespannter Aufmerksamkeit das ,,Examen‘* 
gut bestehen will, oder nach Tagen durch die abermalige Wieder- 
holung der langweiligen Sache sich belastigt fiihlt. Dabei braucht 
diese Gefiihlseinstellung nicht so stark zu sein, daB sie die Schwelle 
des BewuBten iiberschritten hat. 

Weiter ist es ganz und gar nicht gleichgiiltig, ob das Experi¬ 
ment durch Fragen und Erklarungen oder sonstige Storungen 
unterbrochen, oder ob die ganze Reizwortreihe moglichst gleich- 
maBig der Versuchsperson zugerufen wird. Ist auf einen Reiz eine 
Reaktion erfolgt und fragt man dann die Versuchsperson nach 
<lem Sinne ihrer Reaktion, z.B. um das Kriterium fur dieEinteilung 
zu erhalten, oder um den zugehorigen Komplex zu eruieren, so 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



248 J 6 r g e r, IJeber Assoziationen bei Alkoholikem. 

wird die nachste Reaktion durch eine derartige Unterbrechung 
sicherlich beeinfluBt werden. Anderseits ■wird die Erklarung einer 
Reaktion nicht mehr den gleichen Wert haben, wenn sie am Schlusse 
der ganzen Reihe erfolgt ist, statt gleich nach deren Auslosung. 
Man muB freilich zugeben, daB bei Normalen der Unterschied nicht 
groB sein wird, er kann aber sehr groB werden, z. B. bei Versuchs- 
personen mit Storungen der Aufmerksamkeit oder des Gedacht- 
nisses. Wenn 6olche Leute die Reaktionsreihe nach kurzer Zeit 
nur mit vielen Fehlem reproduzieren konnen, so darf man von 
ihnen nicht voraussetzen, daB sie sich der Art und Weise ihrer 
Reaktion noch erinnem, auch wenn die mangelnde Reproduktion 
nicht durch Komplexe bedingt war. 

Diese eben beschriebenen Einflfisse haben natiirlich nichts 
mit denen zu tun, di ejung (1) in seinen diagnostischen Assoziations- 
studien beschreibt, und die er als die Ursache des verschiedenen 
Reaktionstypus fiir Gebildete und Ungebildete angibt. Er erklart 
diesen Unterschied durch eine Yerschiedenheit der Aufmerksam- 
keitsintensitat: 1. Der Ungebildete betrachtet das Experiment als 
etwas Fremdes, die Erregung ist daher groBer, er reagiert mit 
groBerer Anstrengung. 2. Er faBt das Reizwort als Frage oder 
Befehl auf, da er nicht gewohnt ist, auf Worte zu reagieren, die er 
ohne Satzzusammenhang hort, und darum konstruiert er sich zum 
Reizwort einen Fragenzusammenhang, auf den er dann antwortet. 
3. ,,Der Ungebildete kennt sozusagen nur Worte im Satzzusammen¬ 
hang, besonders wenn sie als akustische Erscheinung auftreten. 
Im Satzzusammenhang haben Worte immer Bedeutung. Der Un¬ 
gebildete kennt daher das Wort weniger als bloBes ,Wort‘ oder 
sprachliches Zeichen, sondem vielmehr als Bedeulung.“ Er faBt 
daher einzelne Worte nach ihrem Bedeutungswerte in einem 
fiktiven Satzzusammenhang auf. Aehnlich kann es dem Gebildeten 
mit Wortem einer Sprache ergehen, die er nie geschrieben oder ge- 
druckt liest. Wenn die Reizworte im Dialekt z. B. zugerufen 
werden, so hat er oft Miihe, sie zu verstehen, weil er eben gewohnt 
ist, Dialektworter nur im Satzzusammenhang zu horen. 

Diese Argumente, die Jung zur Erklarung des Reaktionsunter- 
schiedes zwischen gebildeten und ungebildeten Individuen angibt, 
treten zu unseren Bemerkungen fiber verschiedene Einflfisse und 
Variationsquellen bei der Betrachtung der Ergebnisse des Asso- 
ziationsexperimentes hinzu. Einerseits laBt sich keine scharfe 
Grenze zwischen ,,Gebildet“ und „Ungebildet“ ziehen, sondem 
die Uebergange sind flieBend, ebenso wie in der Gruppe der Un¬ 
gebildeten, kein Individuum gleich dem andem in demselben MaBe 
dem Experiment seine Aufmerksamkeit im Sinne des von Jung 
Hervorgehobenen zuwenden wird. Ebensowenig wird bei Un¬ 
gebildeten die ,,Schuleinstellung“ und die Auffassung des Ex- 
perimentes als ,,Frag- und Antwort8piel“ bei alien dieselbe sein. 

Alle diese Einflfisse und Einstellungen sowohl der Versuchs- 
person als des Experimentators wirken auf das Resultat ein. Es 
ist darum nicht verwunderlich, wenn der eine Untersucher in seinen 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 


249 


Ergebnissen viele Reaktionen gehauft findet, die beim andem 
sparlich sind. 

Beweisefurdiese einzelnenTatsachen zu erbringen ist schwierig; 
dies© Arbeit hat sie sich auch nicht zur Aufgabe gestellt, jeder aber, 
der selbst Assoziationen aufgenommen hat, wird ahnliche Er- 
fahrungen gesammelt haben. 

Aber nicht nur das Individuum selbst ist die Quelle einer 
groBen Variationsmoglichkeit der Ergebnisse, sondem auch das 
technische Hilfsmaterial, d. i. das Reizwortschema. 

DaB das Reizwort an und fur sich von eminenter Wichtigkeit 
ist, zeigt sich vielleicht spater bei der Besprechung der Resultate 
durch den Vergleich der Reizwortschemata von Aschaffenburg- 
Maier mit denen von Jung . Es mag ein Wort fur einen Deutschen 
sehr gelaufig sein, und ohne weiteres eine Reaktion hervorrufen, 
wahrend dasselbe Wort einem Schweizer beinahe unbekannt ist 
und wegen seiner Fremdartigkeit fiir den Ablauf der Reaktion 
zeitverlangernd wirkt. 

Eine weitere Schwierigkeit stellte sich bei der Einteilung und 
Berechnung der Ergebnisse selbst ein. Da die Untersuchten ohne 
Ausnahme dem Kreise der Ungebildeten entstammten, so wurde 
die Einteilung ohne Hilfe der Versuchspersonen vorgenommen, 
um moglichst gleiche Bedingungen zu schaffen, wie Jung in der 
Berechnung seiner Reaktionsreihen fiir ungebildete normale Ver¬ 
suchspersonen. Die meisten unserer Versuchspersonen waren 
iiberhaupt zur Mithilfe an der Einteilung nicht befahigt gewesen. 

Bei der Einteilung der Reaktionen tritt sehr bald die Frage 
auf, wo und wie die Grenzen fiir die Einordnung in das Jungsche 
Schema zu ziehen seien. Man kann wohl mit dem gleichen Recht 
eine Reaktion, z. B. ,,weiB-rot“, unter dem Oberbegriff ,,Farbe“ 
koordinieren, als auch auf dem gleichen Gegenstand befindlich sich 
koexistent denken, wahrend der Untersuchte vielleicht den ganzen 
Begriff rein sprachlich motorisch (Reminiszenz an ein Lied) vor- 
gebracht hat. Dies zu entscheiden ist aber nur die Versuchsperson 
fahig. 

Wird sie aber zur Einteilung zugezogen, so wird der Gewinn, 
der dadurch fiir die Klassifikation der Reaktionen entsteht, wieder 
aufgehoben durch eben die aufgezahlten Fehlerquellen, die gerade 
bei Ungebildeten und vor allem bei pathologischen Versuchsper¬ 
sonen durch besondere Einstellung, mangelndes Verstandnis, 
Unterbrechen des Experimentes durch Fragen und anderes, auf- 
treten. Wir haben darum auf die Mitwirkung der Versuchsperson 
beim Einteilen der Ergebnisse verzichtet, mit der Ueberlegung, 
daB die Bearbeitung des Stoffes unter solchen Umstanden gleich- 
maBiger wird, wenn sie nur eine Person vomimmt, die dann iiberall 
die gleichen individuellen Fehler einflieBen lassen wird. 

Auch Aschafferiburg (5) hat auf die Schwierigkeiten bei der 
Einteilung der Resultate hingewiesen. Er sagte: bei der Einteilung 
,,ist aber manches viel schwieriger als man erwarten sollte, und 
manche Verbindung zweier Begriffe laBt sich ohne eine gewisse 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



250 


J c r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 


Willkiir nicht unterbringen“. ,,Immer wieder war ich iiberrascht, 
wie haufig anscheinendganz natiirliche Beziehungen zweierBegriffe 
zueinander fur die Versuchsperson eine ganz andere Bedeutung 
hatten, als man annehmen konnte.“ Er betont dieWichtigkeit der 
Feststellung der Qualitat der Reaktionen durch die Versuchsperson 
selbst. 

Auch Jung weist auf diese Einteilungsschwierigkeiten hin und 
bespricht die Vorteile des Aschaffenburgschen Reizwortschemas, 
von welchem das seine auch von uns beniitzte abgeleitet ist. Dieses 
Schema erlaubt eine annahernd richtige Klassifikation ohne Mit- 
hilfe der Versuchsperson, ,,was fiir psychopathologische Versuche 
von besonderer Wichtigkeit ist“. Die Versuchsperson kann hier 
eben nur sehr selten zur Einteilung zugezogen werden, aus Mangel 
an introspektiver Fahigkeit, wie Jung sagt. 

Wie wir spater zeigen werden, ist fiir das Resultat des Asso- 
ziationsexperimentes nicht nur das einzelne Reizwort an und fiir 
sich von groBem EinfluB, sondem auch die grammatikalische Form 
des Einzelwortes und die Zusammenstellung der ganzen Reizwort- 
reihe. Es ist selbst verstandlich, daB die JaTi^schen Tabellen, die 
nicht nurHauptw6rter,AdjektivaundZeitworterenthalten, sondem 
nebenbei noch, man mochte sagen durch ihre Anordnung zum 
Fang von Komplexen eingerichtet sind, ein anderes Resultat er- 
geben mussen, als die jiingst von Aschaffenburg und Mater zu- 
sammengestellte Reizwortreihe, die nur zweisilbige Hauptworter 
enthalt und womoglich jede Komplexwirkung ausschalten soil. 
Abgesehen von diesem bedeutenden Unterschied haftet dem 
letzteren Schema noch der Nachteil an, daB es viele Worte enthalt, 
die Versuchspersonen aus ungebildeten Kreisen, wie sie die von uns 
untersuchten Patienten darstellen, ungewohnt sind. Es gibt darin 
eine Reihe selten verwendeter Worte und z. T. auch solche, die gar 
nicht bekannt, oder z. B. fiir Schweizer miB- oder schlecht verstand¬ 
lich sind, so die Worte ,,Kiebitz“, ,,Hummer", „Sahne", „Mieder“ 
und andere. Wir benutzten darum fur unsere Experimente vor- 
wiegend die Reizwort-Schemata von Jung-Riklin. In unserer 
Arbeit sind von diesen verarbeitet 39 Tabellen No. 1, 31 No. 2, 
10 Bogen No. 1 und 7 Bogen No. 2 der Aschaffenburg-Maier- 
schen Tabellen, im ganzen rund 8700 Assoziationen. Es ist noch 
zu bemerken, daB im nachfolgenden nicht immer alle Tabellen 
in die Berechnung eingezogen werden konnten, weil Teile der 
Beobachtung ausfielen; darum schwankt die Zahl, wie man 
sehen wird. 

Wir waren uns also der verschiedenen Fehlerquellen bei der 
Berechnung unserer Ergebnisse bewuBt, und versuchten sie mog- 
lichst zu umgehen; einmal im Experiment selbst, indem die Auf- 
nahme der Assoziationen unter weitgehend gleichmaBigen Be- 
dingungen vorgenommen wurden, und die Personlichkeit des Ex- 
perimentators die Versuchsperson durch Sprache, Betonung, 
Unterbrechungen, Fragen usw. so wenig als moglich zu beeinflussen 
suchte. Anderseits sind auch Assoziationen, die von anderen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



J 5 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 


251 


Experimentatoren aufgenommen wurden, in die Berechnung ein- 
gezogen worden, um ein moglichst groBes Material zu erhalten. 
Um in der Art und Weise der Abgrenzung und Auszahlung der 
verschiedenen Arten der Assoziationen sich denen Jungs zu nahern, 
wurde der Autor konsultiert, der so liebenswiirdig war, einen Teil 
der Resultate zu durchgehen und auf Differenzen zwischen seiner 
Auszahlung und der meinigen aufmerksam zu machen. 

Endlich geniigt es nicht, sich diese teils individual-psycholo- 
gischen, teils technischen Schwierigkeiten klarzulegen, sondem 
das schwierigste bildet die Auswahl der Versuchspersonen selbst. 
Wir wissen gar nicht, was den eigentlichen Alkoholiker ausmacht. 
Es ist nicht die chronische Zufuhr des Giftes allein, die einen solchen 
Kranken vom Gesunden unterscheidet. Dem Drange nach Be- 
taubung durch das Gift sind andere psychologische Triebe vor- 
gesetzt. Vera Strasser (6) ist in ihrer Studie ,,Zur Psychologie des 
Alkoholismus" im Sinne der Lehren Adlers geneigt, eine Organ- 
Minderwertigkeit des Magen-Darmtraktus anzunehmen und sieht 
fur die Psychologie des Alkoholikers im Alkohol ,,das bequemste 
Hilfsmittel, das sich in den Dienst irgendwelcher Fiktion stellen 
kann“ und dem Alkoholiker zur Erhohung des Personlichkeits- 
gefiihles dient. 

Wir lassen die Frage nach dieser Seite hin offen. Sicher ist, 
daB sehr oft, wenn die akuten Zeichen des Alkoholismus verklungen 
sind, hinter denselben bei vielen Kranken Zeichen und Symptom© 
hervorkommen, die deutlich fiir eine Schizophrenie, eine Imbe- 
zillitat, eine organische Psychose oder irgendeine Psychopathie 
sprechen, abgesehen davon, daB viele Falle schon von vomeherein 
als kombiniert ersichtlich sind. LaBt man letztere auBer Betracht, 
und stellt man nur diejenigen Falle zusammen, die als „reine Alko¬ 
holiker “ gegolten haben, so kann man mit Recht fragen, warum 
dieses normale oder leicht schizophrene oder psychopathische Indi- 
viduum zum Alkoholiker geworden ist. Allen muB etwas gemein- 
sam sein, das ihnen die iibertriebene Sucht nach dem Gifte ein- 
impft. Was diesesEtwas ist, wissen wir aber noch nicht. Ist es im 
Sinne der Psychoanalytiker die mannliche Hysterie, die ihre 
Komplexe im Alkohol abzureagieren sucht ? 

Die Ergebnisse. 

Vera Strasser (6) sagt in ihrer eben zitierten Studie zur Psycho¬ 
logie des Alkoholismus, daB etwas Spezifisches fiir die Mechanik 
des Assoziationsexperimentes der Alkoholiker durch Einteilung der 
Assoziationsreihen nicht herauskomme. Da sie keine Beweise dafur 
gibt, so mag es, sollte dem wirklich so sein, doch einigen Wert haben, 
diesen Beweis zu erbringen. Negative Arbeit hat fiir denjenigen, 
der sie leisten muB, wenig Erfreuliches. Wenn sie aber gemacht 
ist, so erspart sie einem andem Zeit und Miihe und sagt ihm, daB 
er anderswo suchen miisse. Unter diesen Betrachtungen wurde 
unsere Arbeit begonnen. Wir hoffen zeigen zu konnen, daB das 
Resultat nicht rein negativer Natur war. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



252 


Jorger, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 

Tabelle I. 



Wir stellen in Tabelle I die Zahlen, die Jung und Riklin 
in ihren diagnostischeir Assoziationsstudien fiir ungebildete 
Manner und Frauen angegeben haben mit unseren Resultaten 
zusammen. Unsere Versuchspersonen waren 5 Frauen und 62 
Manner, alle ebenfalls dem Kreise der Ungebildeten entstammend, 
von Beruf: Bauern, Arbeiter, Knechte, Bureaulisten, Handwerker 
ubw. Die Zahl der in der Arbeit verwendeten Assoziationen be- 
tragt 8400. 

Das erste, was in die Augen fallt, ist die sehr groBe Zahl der 
sog. inneren Assoziationen, die sich aus Koordinationen, pradika- 
tiven und kausal abhangigen Assoziationen zusammensetzt. Auch 
zugegeben, daB gerade bei der Einteilung der Koordination im 
Verhaltnis zu derjenigen der Gruppe der Koexistenz eine groBe 
subjektive Note mitspielen muB, und man eine Menge Prozentver- 
haltnisse vom Resultat als Fehlerschwankung in Berechnung zu 
bringen das Recht hat, so muB die immer noch sehr hohe Zahl 
auffallen. Selbst wenn das Resultat von 62,78 der Durchschnitts- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSfTY OF MICHIGAN 













Jorger, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 253 

berechnung der Jungscheri Zahlen von 43 gleichkame, so ware 
sie fur die Gruppe der inneren Assoziationen zu hoch, nach den 
Erwartungen aus den Untersuchungen der Krapelinschen Schule. 

Diese Arbeiten fallen in zwei Gruppen. Riidin (7) untersuchte 
die Wirkungen einer einmaligen Alkoholgabe. Er fand eine Zu- 
nahme der vorzugsweise auf Sprachvorstellungen beruhenden 
Assoziationen, d. h. eine Vermehrung der auderen und ein Zuruck- 
treten der inneren Vorstedungsverbindungen. Der Alkohol be- 
giinstigt das Auftauchen von Sprachvorstellungen, namentlich 
motorischer Art, also Reime, Klangassoziationen, Reminiszenzen, 
Identitaten. Die Dauer dieser psychischen Alkoholwirkungen 
bet rug 12—24 Stunden, oft noch mehr. 

Setzt nun, ehe die Storungen einer einmaligen Gabe ver- 
schwundensind, eine neueGabe ein, sotritt eine einmalige Haufung 
der Wirkungen auf, der chronische Alkoholismus beginnt. Die 
wissenschaftdche Definition des Alkoholikers lautet demnach wie 
Kiirz und Krdpelin (8) resiimieren: ,,Trinker ist jeder, bei dem eine 
Dauerwirkung des Alkohols nachzuweisen ist, bei dem also die 
Nachwirkung einer Alkoholgabe noch nicht verschwunden ist, 
wenn die nachste einsetzt.“ 

Auf einem solchen, experimented erzeugten Zustand basieren 
nun die Arbeiten von Kiirz und Krdpelin (8). Sie fanden, dad die 
regelmadige Zufuhr von Alkohol in mittleren Gaben u. a. eine 
Erschwerung der Assoziationen bedinge. Sie konnten aus ihren 
Versuchen mit 2 Versuchspersonen keine Beeinflussung der Qualitat 
der Assoziationen zeigen. 

In ihrer Arbeit zitieren sie aber die Ergebnisse von Fiirer , der 
eine ,,naehweisbare Abnahme der inneren Assoziationen und 
wesentliche Zunahme der Klangassoziationen fand“. Noch mehr 
sagen die Ergebnisse der weiter besprochenen Arbeiten von Smith. 
Seine Versuchsperson arbeitete 27 Tage lang, 6 Tage ohne Alkohol, 
12 Tage mit Alkohol in Gaben von 40, 60 und 80 g. Hierauf folgten 
6 Tage ohne und nochmals 2 Tage mit 80 g Alkohol. Das Ergebnis 
war u. a. eine verhaltnismadige Abnahme der inneren Assoziationen 
und eine Zunahme der auderen sowie der Klangassoziationen. 
Darf nun dieses experimented erzeugte Versuchsmaterial dem 
chronischen Alkoholismus unserer Versuchspersonen gleichgesetzt 
werden, die alle seit Jahren in unvergleichlich viel hoherem Made 
den Versuchsbedingungen der Arbeiten von Kiirz und Krdpelin 
und Smith nachgekommen sind und die Definition eines Trinkers 
erfiidten ? Krdpelin und Kiirz schreiben den aus ihren Versuchen 
beobachteten Alkoholwirkungen durchaus dieselben Ziige wie der 
akuten Alkoholvergiftung, also der einmadgen Gabe im Versuche zu. 

Unser Begriff des chronischen Alkohodsmus ist ein wesentdch 
anderer. Bei den Experimenten der Krapelinschen Schule haben 
wir nur akute Wirkungen, die sich bei den Trinkem aderdings 
durch Summation perpetuieren konnen. Hat aber nach einigen 
Tagen das Gift den Korper verlassen, so sollte sich nach dieser 
Auffassung die Storung zuriickbdden. 

Monatnchrift f. Piyohi&trie a. Nenrologle. Bd. XXXVII. Heft 4. 17 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



254 


J 6 r g e r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikern. 


Im bisherigen klinischen Begriff des chronischen Alkoholismus 
liegt aber noch etwas anderes: eine Storung, die unabhangig von 
der direkten Giftwirkung besteht, diese iiberdauert und eventuell 
sogar ganz unheilbar sein kann. Das letztere ist z. B. der Fall bei 
den anatomischen Storungen der Leber und im Gehirn. Eine aus- 
gleichbare Storung, die aber wenigstens in Bezug auf die Dauer 
iiber die direkte Alkoholwirkung hinausgeht, ware etwa das alko- 
holische Fettherz. Analoge Veranderungen mogen im Gehim 
des Trinkers bestehen. Jedenfalls treffen wir in den schweren 
Fallen die Atrophie, die die psychischen Funktionen ganz anders 
beeinflussen mub als die blobe Vergjftung durch sieh kumulierende 
Dosen. 

Bei den Alkoholikern unserer Kliniken nun, die eine Auswahl 
von schweren Fallen darbieten, diirfen wir voravseetzen, dab 
solche Storungen, die langst unabhangig von der direkten Ver- 
giftung geworden sind, in der Regel bestehen. Sehen wir doch, 
dab wir den Alkoholismus auf korperlichem und geistigem Gebiet 
in vielen Fallen dauernd, in den gewohnlichen wenigstens eine 
grobere Zahl von Monaten, leicht nachweisen konnen. 

So erscheint unser Material von vomeherein ein anderes als 
das der friiheren Publikationen, und erst die Result ate der Unter- 
suchungen werden zeigen, ob man, wie Krdpelin (10) in seiner 
Arbeit liber die ,,Psychologie des Alkoholismus 44 voraussetzt, auch 
den klinischen Alkoholismus dem Zustande bei rasch aufeinander- 
folgenden Vergiftungen gleichsetzen darf. 

Wir kehren zur Besprechung unserer Resultate zuriick. Ein 
den ersten Resultaten entsprechendes Ergebnis kam auch bei der 
zweiten Gruppe der sog. aujiern Assoziationen heraus, die sich aus 
Koexistenz, Identitat und sprachlich motorischen Assoziationen 
zusammensetzt. In der letzteren Gruppe haben wir noch die Kon- 
trastassoziationen ausgezahlt, um event, ein Urteil durch den Ver- 
gleich der Zahlen zu erhalten, welche in der Arbeit von Fiirst (9) 
liber familiaren Typus der Assoziation stehen. Leider sind dort 
nur wenige Zahlen angegeben, so dab das Vergleichsmaterial un- 
geniigend wird. Jung zahlt die Kontrastassoziationen zur sprach- 
Uch motorischen Gruppe. Wahrend nun die Zahlen fiir die Ko¬ 
existenz denjenigen gleichkommen, die im Jungzchen Schema fiir 
das zweite Hundert aufgezahlt werden, ist auffallend, wie niedrig 
die Werte fiir Identitat sind. Die Fehlerquelle, die durch die Be- 
rechnung und Einteilung durch verschiedene Personen gegeben 
ist, wird bei dieser Gruppe im Verhaltnis zu andern kleiner, denn 
die Uebereinstimmung in der Zahlung mub doch relativ weit- 
gehend sein, wenn Jung die Gruppe folgendermaben charakteri- 
siert: ,,Die Reaktion bedeutete keine Verschiebung oder Weiter- 
entwicklung des Sinnes, sondern ist mehr oder weniger ein syno- 
nymer Ausdruck fiir das Reizvort, der der gleichen Sprache ent- 
stammen kann, wie: grobartig — prachtig, oder eine Uebersetzung: 
Sonntag — dimanche 44 . 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSETY OF MICHIGAN 



J 6 r g e r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 


255 


Weiter ist es auffallig, daB in der zweiten Gruppe unserer 
Tabellen die sprachlich-motorischen Assoziationen inklusive extra 
gezahlter Kontrastassoziationen mit der Durchsehnittszahl 13 nur 
die Halfte erreichen von der Jungschen Durchsehnittszahl von 26. 
Hier sollte man, gemaB den oben zitierten Arbeiten aus der Krdpelin- 
schen Schule und in Anbetraeht der ebenfalls oben dargestellten 
individuellen Fehlerquellen, zum mindesten eine gleich hohe, wenn 
nicht groBere Zahl erwarten, soli sich der flache Typus im Vor- 
wiegen der auBeren Assoziationen bei Alkoholikern bestatigen. 

Im Sinne der Theorien der Verflachung der Assoziationen 
dagegen spricht in der dritten Gruppe unserer Tabelle die Zahl der 
Klangassoziationen. Sie steht im Verhaltnis von 2,52 zu 0,5 der 
Jungschen Zahl. Die Klangreaktionen sind also ubereinstimmend 
mit den Ergebnissen bei akuter Alkoholwirkung bei unseren chro- 
nischen Alkoholikem gegeniiber den Normalen erhoht. 

Bei der vierten sog. Restgruppe sind die Jungschen Zahlen 
und unsere fur mittelbare, sinnlose und Fehlreaktionen als ungefahr 
gleich zu setzen. Die Fehlreaktionen sind freilich bei uns etwas 
niedriger. Es muB offen bleiben, ob die Differenz den Fehlern der 
Berechnung zuzuschreiben ist oder zu den Eigentiimlichkeiten der 
alkoholischen Reaktion gehort. Wir mochten letzteres annehmen 
und werden spater darauf zuriickkommen. 

Zur Wiederholung des Reizwortes , eine Gruppe, die Jung selbst 
quantitativ sehr schwach nennt, zahlt er nur diejenige Wieder¬ 
holung, die von der Versuchsperson als Reaktion gegeben wird. 
Sie war bei uns sehr selten, und die Summe war so klein, daB sie 
kaum in Berechnung gezogen werden kann. 

Die andere Art der Wiederholung des Reizwortes, die Jung 
daneben beschreibt, ist diejenige, daB es Individuen gibt, die es 
nicht unterlassen konnen, das Reizwort sich noch einmal vorzu- 
sagen, um erst dann eigentlich zu reagieren. Biese Art der Re¬ 
aktion hat Jung nicht in genannte Rubrik eingetragen. Er nennt 
eine solche Wiederholung ein Phanomen, das man auch auBerhalb 
des Experimentes bei gewohnlicher Unterhaltung beobachten kann. 
Wir fanden es bei den Alkoholikem auf 100 Assoziationen berechnet 
11, 35 mal, d. h. 874 mal auf 7700 Assoziationen. Entspricht diese 
Haufung dem Normalen? Sicher nicht. 

Schliefllich bleiben in der Restgruppe die sinnlosen Reaktionen; 
sie erscheinen sehr vermehrt. Sie konnen in der Berechnung durch 
verschiedene Zahlen nur im Verhaltnis zu den mittelbaren Asso¬ 
ziationen verschoben werden. Da aber auch die Zahl dieser im 
Vergleich zur Jungschen Zahl leicht vermehrt ist, so sind die sinn¬ 
losen Reaktionen auch unter Beriicksichtigung der Fehlerquotienten 
gegen Jungs Zahlen stark erhoht. 

Die Zahl fur die egozentrischen Reaktionen differiert nicht von 
der Jungs . Dagegen ist die Durchsehnittszahl der Perseverationen 
wieder sehr erhoht. Wir rechneten Perseveration wie Jung , der 
darunter ein Beharrungsphanomen versteht, „welches darin be- 

17* 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



256 J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 

steht, daB die vorangehende Assoziation die folgende Reaktion mit 
bedingt“. 

Nahe verwandt mit der Perseveration ist die folgende Gruppe 
der Wiederholungen. Dazu zahlten wir alle in einer Reaktionsreihe 
wiederholt gegebenen Reaktionen. Piese beiden Phanomene fand 
Brunschweiler (4) in seiner Arbeit iiber die Assoziationen von Orga- 
nikern. Sie sind demnach vielleicht ein Zeichen fur eine organische 
Komponente im Ablauf der Assoziationen des Alkoholikers. Pie 
Zahlen, die Brunschweiler angibt, sind leider nicht in Prozenten an- 
gegeben, so daB sie kein Vergleichsmaterial liefern. 

Die Differenz zwischen der Mittelzahl von 10,9 Jungs und 
unserer Zahl 18 fur die Wiederholungen derselben Reaktion ist groB, 
da die Fehlerquelle bei der Abzahlung nur gering sein muB. Pie 
Art und Weise, wie man gleiche Worte zusammenzahlt, kann von 
einem Individuum zum andern nicht sehr differieren. Wir haben 
in unseren Tabellen die Worte, die wiederholt werden, in den Zahler 
eines Bruches geschrieben, und in dessen Nenner die Zahl der 
wiederholten Male gesetzt. Es ist daraus der Bruch 4e3 / 149 7 ent- 
standen, der aus 83 Assoziationsreihen mit je 100 Reizworten zu- 
sammengereehnet wurde. 

Als letzte Gruppe stellt Jung diejenigen der sprachlichen Bin- 
dungen zusammen, die das Verhaltnis des Reizwortes zur Reaktion 
nach gewissen rein auBerlich motorisch akustischen Prinzipien 
ordnet. Wir haben fur die Gruppe der gleichen grammatikalischen 
Form die Zahlen, die mit der Jung-Riklinschen Assoziations- 
Tabellen gewonnen wurden, extra berechnet. Ihre Zahl 59,1 darf 
mit derjenigen Jungs gleichgesetzt werden. Piese betragt ebenfalls 
im Durchschnitt 59,1. Fur die Aschaffenburg-Maierschen Tabellen, 
die sich aus lauter Substantiven zusammensetzen, ergab sich eine 
Durchschnittszahl von 82. Das zeigt, welch groBen EinfluB die 
Form und Sprache, die GleichmaBigkeit des Reizes auf den Ablauf 
und die Form der Reaktion haben kann. 

Unsere Resultate fur Silbenzahl, Alliteration und gleiche Endung 
sind unwesentlich von den Zahlen fur die Normalen verschieden. 
Auffallend dagegen ist die starke Verminderung der Konsonanz , 
die gegeniiber dem Durchschnitt Jungs von 12,4 sich nur auf 6,73 
bewertet, also etwa die Halfte. Man sollte, auch die Fehlerquellen 
in Betracht gezogen, eine mindestens ebenso hohe Zahl erwarten, 
indem die Konsonanz sich dem Klange nahert, und Klangasso- 
ziationen sind doch nach den zitierten Arbeiten auf der Krdpelin - 
Schule beim AlkohoJiker vermehrt. Jung hat die Konsonanz sehr 
weitgehend abgezahlt, d. h. so oft die erste Silbe von Reizwort und 
Reaktion wenigstens im Vokal ubereinstimmten. Warum dennoch 
diese groBe Differenz entstanden ist, muB vorlaufig offen bleiben ? 

In seinem IV. Beitrag zu den diagnostischen Assoziations- 
studien gibt Jung (3) als allgemeinen Mittelwert fur die Dauer 
einer Assoziation 1,8 Sekunden an. Es wurde zuerst das wahr- 
scheinliche Mittel berechnet, und aus den erhaltenen Individual- 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Jdrger, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 257 

werten das arithmetische Mittel gezogen. Wir haben das gleiche 
getan und fanden die Zahl 2,75. Diese Zahl muB verwunderlich 
erscheinen, ist man doch gewohnt, daB beim Alkoholiker Reizwort 
und Reaktion sich Schlag auf Schlag folgen. Man weiB, wie schnell 
der Alkoholiker mit seiner Ausrede zur Hand ist und wie rasch er 
seine Gedachtnisliicken durch Konfabulationen auszufiillen vermag. 
Statt dessen ergaben unsere Untersuchungen eine Verlangerung der 
Reaktionszeit! Ein gleiches fand auch Brunschweiler bei seinen 
Berechnungen der Reaktionszahl organisch Dementer. Sein Mittel- 
wert betragt allerdings noch mehr, namlich 4,8. 

Wir haben weiter auch die Zahl der durchschnittlichen Re- 
produktionen von Assoziationen berechnet. Bekanntlich kann die 
Versuchsperson, wenn sie nach kiirzerem oder langerem Intervall 
auf die namliche Reizw r ortreihe die namlichen Reaktionen geben 
soli, die Aufgabe nur teilweise erfiillen. Bei unseren Versuchen 
war die Pause im Durchschnitt 10 Minuten. Das Ergebnis war, 
daB von 8600 Assoziationen 5797 reproduziert wurden, das ist 67,4 
auf 100 berechnet. Leider finden sich nirgends Vergleichzahlen. 
Unsere Prozentzahl ist aber zu gering; der Durchschnitt fur Nor- 
male diirfte um 80 stehen. Aus Jungs neuntem Beitrag zu den 
Assoziationsstudien entnehmen w r ir fur die zitierten normalen 
Versuchspersonen 8,37 und 15pCt. mangelhafte Reproduktionen. 
Seine Zahl 33 pCt. ist wohl fur das gesamte bearbeitete Material 
berechnet und stellt nicht eine Zahl fur Normale dar. 

Brunschweiler gibt in seiner Arbeit 37,5 pCt. als ungefahres 
Mittel fur mangelhafte Reproduktion an. Es ergibt dies 62,5 pCt. 
als Parallelzahl zu unserem Wert von 67,4 fur mangelhafte Repro- 
duktionen. 

Diese Ergebnisse unserer Berechnungen zerfallen in zwei Re- 
sultate: eines, das wir als organische Komponente der Alkoholiker 
Assoziationen benennen mochten, das andere, das im entgegen- 
gesetzten Sinne zu sprechen scheint. Zum letzteren rechnen wir: 
den hohen Typus der Assoziationen, mit anderen Worten die zahl- 
reichen inneren Assoziationen, die im Gegensatz zur Gruppe der 
auBeren flachen Assoziationen sehr erhoht sind. Diese, Identitaten 
und sprachliche motorische Assoziationen vor allem sind ver- 
mindert. Dazu kommt die geringe Haufigkeit von Fehlreaktionen, 
das beinahe um die Halfte verminderte Auftreten von Konsonanzen 
und eine sehr haufige Wiederholung des Reizw r ortes. 

Das andere Resultat, das wir als organische Komponente 
bezeichnet haben, ware die Vermehrung der Klangassoziationen 
und der sinnlosen Assoziationen, die erhohte Zahl von Perseve- 
rationen und Wiederholung von Reizworten. Dazu die verlangerte 
Reaktionszeit und die verminderte Zahl der Reproduktionen. 

Brunschweiler fand bei seinen ungebildeten Organischen einen 
Reaktionstypus, der in seiner Form nach tautologischen Verdeut- 
lichungen, Definition durch Ueberordnung, durch Zeit, Ort und 
Zweckbestimmung, Angabe der Haupteigenschaft oder Tatigkeit. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



258 


J 6 r g e r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 


Digitized by 


des Subjekts der Tatigkeit oder Eigenschaft und Definition durch 
ein Beispiel strebt. Etwas Aehnliehes besteht sicher auch bei den 
Alkoholikem, und wenn man die Ergebnisse unter diesem Gesichts- 
punkt betrachtet, so spricht gerade die hohe Zahl der inneren 
Assoziationen, die wir gefunden haben in diesem Sinne, jenes Re- 
sultat, das wir oben von der organischen Komponente abgetrennt 
haben. Wir bringen als Beispiel den Teil einer Tabelle eines 
schweren Schnapssaufers, der im Delirium eingeliefert worden ist 
(J. B., No. 11). Die Zahlen nach den Reaktionen bedeuten die 
Zeiten in 1/5 Sekunden. 


1. 

Kopf 

—. 

Schweiz 

—. 

Hand. 

2. 

griin 

—. 

rot 

9 

4 ** 

3. 

Wasser 

— 

Erde 

10 

Wein. 

4. 

singen 

— 

tanzen 

15 

+ • 

5. 

Tod 

■—. 

Leben 

9 

+. 

6. 

lang 

—. 

kurz 

7 

+• 

7. 

Schiff 

—. 

Wagen 

12 

Stange. 

8. 

Zahlen 

— 

Feder 

14 

Zahlen. 

9. 

Fenster 

— 

Haus 

9 

Tiire. 

10. 

freundlich 

—. 

spotten 

11 

lieblich. 

11. 

Tisch 

— 

Felder 

11 

+ • 

12. 

fragen 

—. 

Husten 

13 

lieben. 

13. 

Dorf 


Stadt 

6 

+ . 

14. 

kalt 

■—. 

warm 

12 

i 

~r • 

15. 

Stengel 

— 

Stange 

12 

4 -. 

16. 

tanzen 

— 

frohlich 

11 

singen. 

17. 

See 

— 

Berg 

10 

+ • 

20. 

kochen 

— 

braten 

11 

warmen. 

22. 

bos 

— 

weinen 

10 

Freund. 

26. 

blau 

— 

Himmel 

9 

grun. 

29. 

rot 

— 

Mehl 

9 

4-. 

30. 

reich 

—. 

arm 

9 

4-. 

31. 

Baum 

— 

Strauch 

9 

4- usw. 


Diese Tabelle wurde am dritten Tage nach der Aufnahme 
aufgenommen. Man sielit in ihr ein Ueberwiegen von Koordina- 
tionen, wahrend Koexistenzen sehr zuriicktreten. Die koordina- 
tiven Beziehungen machen in der ganzen Tabelle 33 auf Hundert 
aus, wahrend Pradikat und Koexistenz sich auf 6 und 10 beziffem. 

Eine andere Assoziationsart, die Brunschweiler fxir die Orga¬ 
nischen als typisch angibt, sind die Gefiihlsreaktionen, die sich 
hauptsachlich durch Interjektionen kundgeben. Bei den Alkoho- 
likern sind sie sehr selten und kommen kaum vor. 

Des weiteren fand Brunschweiler bei fast alien seinen Versuchs- 
personen Perseverationen in Form von Wiederholungen friiherer 
Reizworter oder Reaktionen. Er will diese Form als Exvakuo- 
Erscheinung interpretieren. Wir zitieren als Beispiel einige Re¬ 
aktionen von Alkoholikem, die am Tage des Eintrittes beim ersten 
resp. am vierten Tage beim zweiten Patienten aufgenommen 
wurden: 



(K. H., Tapezierer.) 



18. 

krank 

— der Mensch 

11 

Menschen. 

19. 

Stolz 

— Leute 

10 

4“« 

20. 

kochen 

— Wasser 

12 

Menschen — Leute. 

21. 

Tinte 

— Glas 

12 

+. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



J 6 r g o r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikern. 


259 


Digitized by 


22. bos 

23. Nadel 

24. schwimmen 

25. Reise 

26. blau 

27. Lamp© 

28. siindigen 

29. gross 

30. reich 


Leute 

Fadon 

Mensch 

die Leute 

der Mensch 

Glas 

Mensch 

der Mensch 

der Mensch ist reich 


8 +. 

18 Draht, Stahl. 

10 Leute. 

11 +. 

10 Leute. 

24 Licht. 

10 Leute. 

10 Leute. 

8 Leute usw. 


Auf hundert Reizworte reagiert Patient 26 mal mit ,,Mensch", 
19mal mit ,,Leute". Lie Zahl der wiederholten Worte ist 8, die 
*der wiederholten Male 63. 


Aehnlich perseveriert B. R., geb. 
54. schnell — Schaffhausen 17 


55. Kamin —• 

56. genie Ben — 

57. Pfarrer — 

58. leicht — 

59. Hals — 

60. wiinschen — 

61. Stein — 

62. vornehm — 

63. Schlauch — 

64. lieben — 

65. Ziegel — 


Kamel 

13 

Grafstahl 

23 

Winterberg 

12 

Eschikon 

12 

Riimlang 

12 

Embrach 

9 

Pfungen 

10 

Rorbas 

13 

Freienstein 

10 

Embrach 

Q 

Birchwil 

23 


1860, Brieftrager: 

Kaminfeger. 

genieBbar. 

Pfarramt. 

Leichtigkeit. 

also. 

wiinschbar. 

Steinach. 

Nachnahme. 

Schaltheim. 

lieblich. 

Horgen usw. 


Patient reagiert in sinnloser Weise mit Namen ihm bekannter 
Ortschaften, teilweise auch mit anderen Eigennamen. Beide machen 
zusammen 76 Reaktionen auf hundert Reizworte aus. l>iese Tabelle 


erinnert an jenen Stupor, den Brunschweiler beschreibt, in welchem 
ganze perseveratorische Reihen gebildet werden, der Reiz aber nicht 
beachtet, sondern nur als auslosendes Moment fur eine neue Evo- 
kation betrachtet wird. 


Die egozentrischen Reaktionen , wie sie Brunschweiler bei Or- 
ganischen fand, die als eine ganz unpersonliche AeuBerung des Ichs 
sich darstellen und ebensogut durch ,,man" oder „der Mensch" 
oder ,,Leute" ersetzt werden konnen, sind auch bei Alkoholikern 
haufig. Wir haben eben aus der Reaktionsreihe des Pat. K. H., 
Tapezierer, eine Reihe von Reaktionen als Beispiel zitiert. 

Wir fiigen noch aus einer anderen Reihe einige Proben hinzu, 
<iie am 7. Tage von einem Patienten aufgenommen wurden, der 
als Delirant in die Anstalt kam. 



Nr. 3. M. 

j.. 

Landwirt, Kanonier. 

13. VIII. 1914. 

30. 

reich 


Leute 

22 

+. 

33. 

Mitleid 

— 

Menschen 

10 

+. 

36. 

sterben 

—, 

Menschen 

10 

+. 

40. 

be ten 

— 

Menschen 

25 

+• 

41. 

Geld 

— 

Leute 

11 

Gold, kaufen. 

42. 

dumm 

— 

Menschen 

11 

+. 

43. 

Heft 

—. 

Papier 

9 

+ • 

44. 

verachten 

— 

Menschen 

9 

+. 


Setzt man hier statt „Leute" und ,,Menschen" „ich" ein, so 
kann man ohne eine allzu groBe Deutungswillkur den „Ich"-Kom- 
plex eines Menschen herauslesen, der aus dem Militardienst in 
einem schweren Delirium eingeliefert wurde; man verachtet ihn, 


Goi igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



260 J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikern. 

er verdient Mitleid, sein Geld hat er vertrunken, er ist dumm ge- 
wesen usw. 

Wir haben auf 1700 Reizworte von 17 Versuchsreih en 194 ma 
die Reaktion „Mensch“ gezahlt und auf 600 Reizworte 25mal 
„Mann“. Ob diese Reaktionen, wie Brunschweiler meint, den 
eigentlichen egozentrischen Reaktionen gleichzusetzen sind, wissen 
wir nicht 1 ), das obige laBt sich auf jeden Fall in diesem Sinne aus- 
legen. Wir haben diese Reaktionen nicht zu den egozentrischen 
Reaktionen gezahlt, zumal, da wir sonst die egozentrischen Re¬ 
aktionen gegeniiber den Normalen nicht erhoht fanden. Eine 
einzige Versuchsperson reagierte auBerordentlich haufig im ego¬ 
zentrischen Sinne. Wir zitieren ein paar ihrer Reaktionen: 


W. A., Wirt, 

Delirium tremens; am 

Tage 

des Eintritts aufge- 

nommen: 




55. Kind — 

hab i sechs 

14 


56. auf pas sen — 

ja, kommandieren 

50 

weiB ich, daB ich 



muB. 

57. fleiBig 

Federhalter 

15 

Feder. 

58. traung 

bin ich 

10 

+. 

59. Pflaimie —- 

Zwetschgen 

20 


60. heire/uen —» 

hab ich 

19 


61. Haus — 

das hab ich keins 

10 

+ . 

62. lieb — 

bin ich auch 

8 

+ • 

63. Glas — 

Becher 

17 

Mit dem Glas 




Wasser. 

64. streiten —* 

das han ich auch schon 

25 

nix. 

65. Pelz — 

das han ich auch daheim 17 

+ - 

66. groB — 

bin ich auch 

19 

+ U8W. 

Es fallt iiberhaupt auf, wie bei unseren 

Versuchspersonen 


der Ablauf in den Reaktionen ein auBerordentlich wenig variierter 
ist, es ist, als ob der menschliche Gedankengang immer wieder 
die gleichen Bahnen beschreite. Wir haben schon oben von unserem 
Ergebnis gesprochen, das die Zahl der wiederholten Worte und der 
wiederholten Male in einem Bruche angibt. Aber auch gleiche Re¬ 
aktionen auf dasselbe Reizwort finden sich auBerordentlich haufig, 
eine Beobachtung, die auch Aschaffenburg (5) bei einigen seiner ge- 
bildeten Versuchspersonen machte. Er sagt: ,,daB im allgemeinen 
nur eine geringe Tendenz zur Wiederholung der gleichen Ausdriicke 
besteht. Je reicher der Vorstellungsinhalt und je lebendiger die 
geistigenFahigkeiten wahrend desExperimentes sind, um so groBer 
wird die Zahl der verschiedenen Worte sein, wahrend ein haufigeres 
Wiederkehren derselben Assoziationen als der Ausdruck eines mehr 
oder weniger hohen Grades von Gedankenarmut angesehen werden 
muB.“ (Seite 259 der experimentellen Studien iiber Assoziation I.) 
Diese Gedankenarmut &uBert sich in unseren Ergebnissen nicht 
nur in der hohen Zahl der wiederholten Worte, sondern auch in der 
auBerordentlich haufigen Wiederkehr gleich ablaufender Reaktionen, 
bei verschiedenen Individuen, wie nachfolgende Zusammenstellung 
sagt: 

l ) Bei Imbezillen haben sie sicher nicht allgemein diese Bedeutung. 


Digitized 




Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




J orger, Ueber Assoziationen bei Alkoholikern. 


261 


Auf hundert verschiedene Reizworte der Jungsehen Tabelle I 
waren bei 39 Versuchen 41 Worte, die zusammen 421 mal die 
gleiche Reaktion hervorriefen, im Minimum erfolgte auf dasselbe 
Reizwort bei verschiedenen Versuchspersonen die gleiche Antwort 
3 mal. Fiir die Tabelle II in 31 Versuchen 45 Reizworte die 403 mal 
mit der gleichen Reaktion beantwortet wurden. 

Auf je hundert Reizworte des AscJiaffenburg-Maierschen 
Bogens I waren in 10 Versuchen 17 Reizworte, die 83 gleiche Re- 
aktionen hervorriefen, im Minimum dreimal dieselbe Reaktion 
und fiir den Bogen II in 7 Versuchen 11 Reizworte, die 76 gleiche 
Reaktionen auslosten, im Minimum ein Wort 3 mal dieselbe Re¬ 
aktion. Wir zitieren noch einige solcher Reaktionen: 


kalt 

— warm 

20 mal 

Segel 

Schiff 

20 


reich 

—■ arm 

19 

»> 

neu 

—■ alt 

19 

»> 

Finger 

— Hand 

19 


Weg 

—• StraCe 

16 

9 9 

Beil 

—- Axt 

10 

99 

Frosch 

— Fisch 

8 

99 

Quelle 

—• Wasser 

8 

99 

Beil 

— Sage 

5 

99 


U8W. 


Es sei noch beigefiigt, daB in den oben angegebenen Zahlen 
nicht alle auf das gleiche Reizwort gleichlautenden Reaktionen in 
Berechnung gezogen wurden. 

In diesen fiir verschiedene Versuchspersonen gleichlautenden 
Reaktionen dominieren im allgemeinen die Kontrastassoziationen, 
und die groBte Zahl derselben muB wohl unter die sprachlich- 
motorische Gruppe einzureihen sein, wie oben gegebene Beispiele 
leicht zeigen werden. 

Nebenbei wird wieder der Unterschied der beiden Versuchs- 
tabellen sehr deutlich, wenn auch aus den Zahlen kein Prozent- 
verhaltnis herausgelesen werden darf. 

Eine ahnliche Beobachtung machte auch Aschaffenburg (5) 
in seiner zweiten experimentellen Studie, welche die Assoziationen 
in der Erschopfung zum Gegenstand der Unlersuchung hat. Er 
kommt dabei zum Schlusse, daB die Zahl der mehrfach vorkommen- 
den Antworten ein Ausdruck einer mehr oder weniger groBen Ein- 
formigkeit der Vorstellungen sei. 


Nicht nur die eben beschriebenen Vergleiche mit Brunsch- 
weilers Arbeit sprechen fiir ,,das Organische“ in der Storung des 
Assoziationsablaufes bei den Alkoholikern, sondern auch der Ver- 
lauf der Storung beim einzelnen Individuum. Dies kommt zum 
Vorschein, wenn man die Assoziationsversuche zusammenstellt, 
die in gewissen Zeitabstanden von der gleichen Versuchsperson 
aufgenommen wurden. Die Stbrungen im Reaktionsablauf sind 
groBer, je naher die Assoziationen dem Zustande der Alkohol- 
vergiftung aufgenommen wurden, und gehen um so mehr zuriick, 
je starker die Erholung fortgeschritten ist. Was die eingangs er- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




262 


J 6 r g e r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikern. 


Digitized by 


wahnte Zusammenstellung der Tabellen aller Versuchspersonen 
nach den Tagen des Anstaltsaufenthaltes chronologisch geordnet 
leider nicht ergab, zeigen die eimelnen Individuen in den ver- 
schiedenen sich folgenden Assoziaiionsexperimenten doch sehr 
deutlich und geniigend, wenn auch die Zahl der Tabellen, die vom 
gleichen Individuum stammen, leider nicht groB ist. 


Tabelle II. 


Name 

Tag 

nach der 
Auf¬ 
nahme 

Koordi- 

nation 

i 

i 

Pradikat 

i 

Ko- 

existenz 

Mo- 
tori sch 
+ Kon- 
trast 

Sinnlos 

1. J. E. ... 

0 

64 

2 

3 

21 

1 


7. 

75 

2 

14 

4 

1 

2. Bl. A. . . . 1 

2. 

31 

4 

15 

37 

1 


10. 

50 

30 

17 

10 

— 

3. M. Jf. . . . 

4. 

55 

18 

10 

4 

8 


7. 

44 

31 

13 

4 

4 

4. B. E. ... 

1. 

26 

1 

5 

12 

54 


55. 

74 

7 

7 

6 

— 

5. Sch. 0. . . 

0 

10 

13 

1 

64 

1 


40. 

37 

27 

7 

27 

— 

6. W. E. ... 

1 o 

! 40 

16 

4 

8 

10 


j 5. i 

52 

i 39 

1 

2 

2 


! 8. j 

76 

16 

3 

1 

— 

7. Schu. R. . . | 

i 3. 

63 ; 

| 3 

10 

16 

1 

1 

i 

15. 

41 ! 

! 14 

15 

26 

1 

8. Frau St. . . 

1. 

23 

62 

9 

3 

1 


I 8. 

31 1 

| 52 

10 

13 

1 


In der vorstehenden Tabelle gibt jede wagrechle Zahlenreihe 
die Ergebnisse eines Assoziationsexperimentes wieder. In senk- 
rechter Richtung sind die Kolonnen fur jede Versuchsperson chrono¬ 
logisch nach den Tagen des Anstaltsaufenthaltes geordnet, wobei 
der 0 Tag den Tag der Aufnahme in die Klinik bedeutet und 
fur die Versuchsperson derjenige ist, an welchem er am meisten 
alkoholisiert war. 

Es ist hier am Platze, eine kurze Skizzierung der in dieeer und 
den folgenden Tabellen zitierten Patienten zu geben: 

1. J. E., geb. 1873, Wagner und Fuhrknecht; von 1909—1914 3mal 
wegen Delirium tremens aufgenommen. Symptome rasch verschwindend. 

2 . Bl. A., geb. 1882, verheiratet, Tagelohner, aus kinderreicher 
Familie, viel Stellenwechsel, seit Jahren Potator, 1912 lange in Behandlung 
wegen Lungenerkrankung. 6. VII. 1914 Aufnahme wegen Delirium tremens. 
Rasches Abklingen desselben. Entlassung nach 8 Tagen. XJneinsichtig. 

3. M. Jf., geb. 1885, Landwirt, alsKanonier mit schwerem Delirium 
tremens aus dem Militardienst eingeliefert (6. VIII. 1914), mit etwa 8 tagiger 
Amnesie. Entlassung 13. VIII. *1914. Wenig einsichtig. 

4 . B. E., geb. 1872, W&scher, seit Jahren schwerer tatlicher Alko- 
holiker, uneinsichtig, 9. VII. 1913 bis 4. II. 1914 erster Aufenthalt, baldiges 
Rezidiv. 8. V. bis 5. IX. 1914 zweiter Aufenthalt. Gebessert entlassen. 



Original from 

university of Michigan 





J 6 r g e r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikern. 


263 


5 . Sch. G., geb. 1876, Schmied. Chronischer Alkoholiker, gutmiitig, 
willensschwach. Anstaltsaufenthalt 31. VIII. bis 16. X. 1914. Gebessert 
©ntlassen. 

6. W. E., geb. 1867, Postfaktor, seit Jahren Alkoholiker, immer sehr 
sonderbar. 28. VII. 1914 Eintritt in die Anstalt mit Delirium tremens, 
rasch abklingend. Uneinsiehtig. Ohne Affekte. Wohl ein Schizophrener. 

7. Schu. R., geb. 1856, Biirolist, seit Jahren sehr heruntergesoffener 
Alkoholiker. 1898 erste Aufnahme, 30. VIII. bis 14. IX. 1914 zweiter Auf- 
enthalt in der Anstalt. Chron. uneinsichtiger Alkoholiker. 

8. Er. St., geb. 1865, Schneiderin, seit Jahren schwere chronische 
Alkoholikerin. 1911—>1914 mit 2 Monaten Unterbrechung Anstalts¬ 
aufenthalt. Gebessert entlassen. 

9. H. J., geb. 1879, Eisenbahnarbeiter, verheiratet, seit Jahren 
Alkoholiker, hatte einige Tage vor der Aufnahme einen epilepsieartigen 
Anfall. Aufnahme 9. IV. 1914 mit Delirium tremens, das am 11. IV. ab- 
gelaufen war. 20. VI. 1914 Entlassung in eine Trinkerheilstatte. 

10 . M. A., geb. 1870, ledig, Stadtarbeiter, seit Jahren chronischer 
Alkoholiker. Leichtes Delirium; seit Jahren SchnapsgenuO, mit gelegentlich 
starkeren, tobsuchtsartigen Rauschen. Anstaltsaufenthalt 28. XI. bis 
22. XII. 1913. Gebessert entlassen, wenig einsichtig. 

11 . B. J., geb. 1870, Landwirt, seit Jahren als schwerer Schnaps- 
saufer beriichtigt. Wegen Drohungen verhaftet, Ausbruch von Delirium. 
19 . XI. 1913 Einlieferung in die Anstalt, Delirium nach 3 Tagen ver- 
schwunden. 29. I. 1914 Entlassung in die Trinkerheilstatte. 

12 . L. K., geb. 1870, Kaufmann, ledig. Aufnahme am 12. VIII. 1914 
als Militarpatient mit abortivem Delirium tremens. Entlassung am 20. VIII. 
1914. 

13 . K. F., geb. 1880, Kochin, Trunksucht in der Familie, seit Jahren 
Alkoholikerin, mufite in einem halbdeliriosen Aufregungszustand am 
8. VI. 1914 intemiert werden. Entlassung nach einigen Wochen mit Verdaoht 
auf Dementia praecox. 

14 . R. N., geb. 1850, Schriftsetzer, von 1907—1914 in 3 Malen 11 
Monate in der Anstalt, seit vielen Jahren ein schwerer Alkoholiker. In 
der Anstalt +. Die Sektion zeigte die Ver&nder ungen des chronischen Alko- 
holikers an den inneren Organen. 

Die ersten drei Falle der II. Tabelle sind Deliranten. Sie zeigen 
deutlich die Zunahme der hochwertigen Assoziationen mit der 
wachsenden Zahl der Aufenthaltstage in der Anstalt. Diese Zu¬ 
nahme geschieht bei Koordination und Pradikat gleichzeitig oder, 
wie bei Fall 3 sehr stark bei pradikativen Assoziationen, wahrend 
dafiir die koordinativen leicht abnehmen, doch so, daB in der 
Summe die inneren Assoziationen eine bedeutende Zunahme er- 
fahren haben. Die Versuchsperson stellt sich auf den ihr charakte- 
ristischen Reaktionstypus ein, der entweder der pradikative oder 
der koordinative ist. Diese Einstellung geschieht auf Kosten der 
motorisch-klanglichen Gruppen, die im entsprechenden MaBe ab¬ 
nehmen. 

Fall 4—7 sind Falle von chronischem Alkoholismus, die nicht 
im Delirium eingeliefert wurden. Auch bei ihnen ist die Zunahme 
entweder bei den Koordinationen oder bei den pradikativen Asso¬ 
ziationen deutlich, wahrend motorische und sinnlose Assoziationen 
abnehmen. 

Zur motorisch-klanglichen Gruppe rechnen wir auch die 
Koexistenz. Sie nimmt bei alien etwas zu, aber in solch geringem 
MaBe, daB mit dem Resultat nichts anzufangen ist. 


Digitized by 


Go igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



264 


J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alhoholikern. 


Digitized by 


Eine Ausnahme bildet Fall 7; bei ihm verlauft der Typus 
in umgekehrtem Verhaltnis, Koordination nimmt ab, Pradikat 
nicht in entsprechendem Mafie zu, und vor allem vergroBert sich 
die Zahl der sprachlich motorischen Assoziationen. Wir mochten 
vorlaufig keine bestimmte Erklarung zu diesem Verhaltnis geben; 
es kann ein zufalliges sein, auBerlich bedingt; es kann aber auch als 
Aufmerksamkeitsstorung aufgefaBt werden. denn iiberall wo die 
Auf merksamkeit gestort ist, tret en nach Jung Klangassoziationenauf. 

Wir stellen auf einer weiteren Tabelle jene Zahlen zusammen, 
die wir als Analogon zu einer organischen Stoning in den Alkohol- 
Assoziationen ansprechen mochten. Die Tabelle ist gleich wie die 
oben besprochene geordnet. 


Tabelle III. 


Name 

Tag 

Wieder¬ 
holungen 
des Roiz- 
wortes 

1 

Wieder¬ 
holungen 
von Reak- 
tionen 

i 

Repro- 

duktionen 

wahr- 

scheinlich 

Mittel 

1. J. E. . . 

0 

40 

V. 

73 

15 


7. 

26 

V. 

62 

14 

2. Bl. A. . . 

2. 

0 

7*0 

77 

13 


10. 

1 

Vi. 

77 

14 

3. M. Jf. . . 

4. 

3 

7.. 

63 

12 


7. 

4 

*/>• 

77 

! 11 

4. B. E. . . 

1. 

1 

Vl2 

21 , 

9 


55. 

5 

7* 

88 

10 

5. Sch. G. . . 

0 

i 21 


66 

| 14 

i 

40. 

1 10 

7» 

80 

13 

6. W. E. . . 

0 

8 

7.. 

42 

16 

I 

5. 

14 

”/« 

60 

16 


8. 

20 

7,7 

77 

17 

7. Schu. R. . 

3. 

14 

7/ „ 

58 1 

i 10 


15. 

7 

7,o 

60 

9 

8. Fr. St. . . 

1 . 


5 / 

/is 

69 

1 16 


8. 

? 

7.. 

76 

! io 


Diese dritte Tabelle zeigt, daB die Reproduktionsfahigkeit der 
Assoziationen mit Zunahme der Ernuchterung ohne Ausnahme 
steigt. Das wahrscheinliohe Mittel aus den Reaktionszeiten hat 
die Tendenz zu fallen. Ebenso die Zahlen fiir die Wiederholungen 
des Reizwortes, als auch die der Wiederholung der gleichen Re- 
aktion. Wir mochten auch hier die Ausnahmen auf Kosten der Auf- 
merksamkeit oder zufalliger Storungen setzen. 

Sehr deutlich fur das ,,Organische“ spricht die vierte Tabelle. 
Die Resultatekommen von Pat ient en, die beim ersten Assoziations- 
experiment nicht imstande waren, das Reizwort mit einer Wort- 
reaktion zu beantworten, sondern mehr oder weniger schnell in 
jene Reaktionsform verfielen, welche Brunschweiler als charakte- 
ristisch und bei Organischen sehr haufig vorkommend angibt, 
namlich die, auf das Reizwort mit einem vollen Satze zu reagieren. 
Diese Satze tragen bei Alkoholikem wie bei Organischen meist 


Gck .gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 








J 6 r g © r , Ueber Assoziationen bei Alkoholikern. 


265 


einen Definitionstypus oder den. Pradikatcharakter oder zeigen 
vor allem eine sehr egozentrische Note. Die Versuchspersonen, 
die beim ersten Experiment in Satzform reagierten, gingen dann 
bei weiteren Experimented die nach einigen Tagen stattfanden, 
zum gewohnlichen Worttypus iiber. No. 8 der Versuchspersonen 
der Tabelle II und III bildet einen Uebergang zu dieser Gruppe. 
Beim ersten Experiment, das am ersten Tage nach dem Eintritt 
aufgenommen wurde, verfallt die Versuchsperson gegen den 
SchluB des Experimentes immer mehr in die Satzform, wahrend 
sie im erstenTeile desselben mit einem Worte allein reagierte, z. B.: 


94. zutrieden — 

gliicklicher Mensch 

18 

gute Zeiten. 

95. Spott — 

wenn der Mensch nicht gut ist 

24 

+• 

96. schlafen — 

gehort zur Ruhe 

12 

fiir Ruhe. 

97. Monat — 

gehort zu den Jahreszeiten 

22 

-f ■ 

98. hiibsch — 

hiibsches Bild 

32 

Bild. 

99. Frau — 

gehort zum Manne 

30 

+ • 

100. Schimpfen — 

im Zorn 

17 

bos. 


Wirzitieren noch eine Reihe Reaktionen eines Patienten, Nr. 9, 
H. J., der mit Delirium tremens eingeliefert wurde. Er reagierte 
am 6. Tage nach der Aufnahme in lauter Satzen. z. B.: 

1. Kopf — mein liebes Kind — 10 — im Kopf habe ich die ganze 
Geschichte. 

8. zahlen —• die Dauer, die ich hier bleiben soli —>12 —- miissen 
wir jeden Monat. 

54. weiB —• mein Wunsch ware, daB ich bald nach Hause komme 
und das Gliick mit der Frau von neuem anfange —-140 —- 
damit wir bald wissen, was kommt. 

59. Pflaume — die Frau wiinschte auch, daB ich bald wieder 
zuriickkomme —■ 75 daB man hofft, daB es gut gehe. 

60. heiraten —■ Wenns nur nicht alles so vernimmt im Industrie 
(-quartier), daB ich hier bin — 50 —. das sind wir ja. 

61. Haus — daB wir das nicht verlassen miissen — 25 + —* usw. 

Patient weist fur diese Tabelle bloB 37 pCt. Reproduktionen 

auf; das wahrscheinliche Mittel der Reaktionszeiten betragt 35. — 
In den folgenden Experimenten reagierte er in Worten, und zwar 
am 28. und 46. Tage wie folgt: 


Tabelle IV. 


Tag 

Ko* 

ordination 

Pradikat 

(Koexistenz 

Motorisch 

Sinnlos 

28. 

64 

17 

14 

0 

0 

46. 

70 

12 

l 1 ! 

3 1 

0 


Er zeigte fur: 



| Wieder- 

Wieder- 

Re¬ 

produktionen 

Wahr- 

Tag 

iholungen des 
Reizwortes 

holungen von 
Reaktionen 

scheinliches 

Mittel 

28. 

48 

•/.. 

95 

15 

46. 

13 

io / 2 . 

96 

11 

46. 1 

19 


96 

12 1 ) 


*) Fiir Aschaffenburg-Maier-Tabelle. 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 






266 


Jorger, Uebcr Assoziationen bei Alkoholikern. 


Au8 diesen Beispielen geht wieder deutlich das ,,Organische“ 
hervor. Die Versuchspersonen reagieren im ersten Experiment 
wie viele der Paralytiker und Senilen Brunschweilers in langen 
Satzen und Definilionen, die sehr viel egozentrischen Charakter 
tragen; bei den weiteren Experiment en wird dann zur Reaktion 
mit einem einzigen Wort iibergegangen, und die Zahlenverhaltnisse 
zeigen auch die Zu- resp. Abnahmen, von inneren, von motorischen 
und sinnlosen Assoziationen usw., die wir in den vorhergehenden 
Tabellen darzustellen und zu zeigen versuchten. 

Es ergibt sich aber nicht m r eine Verschiebung der Zahlen und 
Verhaltnisse von einem Experiment zum andem, sondem in der 
einzelnen Tabelle selbst bleiben sich die Werte vom Anfange bis 
zum Schlusse nicht gleich. Wir haben schon oben daratf hinge- 
wiesen, wie die Versechsperson No. 8, die ein Mittelglied war 
zwischen denjenigen, die in Worten und denjenigen, die in Satzen 
reagierten, beim ersten Experiment anfanglich den Wortreaktions- 
typus zeigt, um dann gegen den SchluB des Experiment es zur Satz- 
form liberzugehen. 

Man muB zugeben, daB die ersten Reaktionen auf einem 
Schema nicht immer als vollwertig angerechnet werden diirfen* 
denn der Patient versteht oft das Experiment nicht, und man ist 
gezwungen, ihm nach den ersten Reaktionen nochmals zu erklaren, 
was er eigentlich soil. 

Die Versuchsperson 10, M. A., Erdarbeiter, reagiert z. B. am 
ersten Tage nach seiner Aufnahme folgendermaBen: 


1. Kopf 

—. 

Stuhl 

10 

Hals. 

2. grim 

—. 

Aschenbecher 

5 

schwarz. 

3. Wasser 

—. 

Tafel 

10 

See. 

4. singen 

— 

Kanarienvogel 

7 

Vogel. 

5. Tod * 

— 

Pantoffel 

8 

sterben. 

6. lang 

—. 

Schirmstander 

5 

kurz. 

7. Schiff 

—. 

Parquettboden 

8 

FloB. 

8. zahlen 

—. 

elektrisch Licht 

12 

Geld. 

9. Fenster 

—. 

Eisenfenster 

15 

Scheibe. 

10. freundlich 

—. 

Tischglocke 

15 

brav. 

11. Tisch 

—. 

Tintentrockner 

14 

Stuhl. 


Es ist klar, daB Patient auf den akustischen Reiz allein geant- 
wortet hat und als Reaktion die Namen der ihn umgebenden Gegen- 
stande hersagte, ohne auf den Sinn des Reizes zu achten. Darum 
sind wohl auch die Reaktionszeiten so aufierordentlich kurz, sie 
werden auch in der zweiten Halfte des Experimentes langer. In 
der Reproduktion zeigt sich dann, daB er nicht imstande war, 
nochmals die gleichen Assoziationen zu machen (ausgenommen 
4’?), daB dafiir aber die Reaktionen in der Reproduktionsreihe 
sinngemaB sind, d. h. dem Reizwort entsprechend. Es ist darum 
ein guter Gedanke gewesen, dem Aschaffenburg-Maierschen Reiz¬ 
wort schema einige Reizworte vorzustellen, die als Probereaktionen 
nicht in die Tabelle eingerechnet werden sollen. 

(SchluB im n&ohsten Heft.) 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Ludwig Edinger. 


Am 13. April d. J. vollendet Ludwig Edinger sein 60. Lebensjahr. 
Geboren in Worms, studierte er in Heidelberg und StraBburg. Unter 
dem Einflusse Gegenbauers und besonders Waldeyers erwachte sein 
Interesse fur die Anatomie. Seine Dissertation handelte liber die Schleim- 
haut des Fischdarmes. 1877/79 war er Assistent bei Ku/imaul, 1880 ging 
er nach GieBen als Assistent zu Riegel . Dort habilitierte er sich fur 
innere Medizin (1881) mit einer Schrift: Zur Pathologie des Magens. 
Er las jedoeh nur kurze Zeit, w eil er bald darauf GieBep. verlieB und nach 
Frankfurt iibersiedelte, wo er sich 1882 als Nervenarzt niederlieB. 
Hier begann er seine vergleichend-anatomischen Untersuchungen. 
Jahrelang hatte er nur einen Arbeitsplatz im PPei^ertschen Laboratorium 
flir sich zur Verfligung, bis ihm eines der Zimmer des Theatrum anatomi- 
cum der Senckenbergischen Anatomie als eigenes Laboratorium von 
seinem Freunde Weigert liberlassen wurde. 1894 erhielt er den Professor - 
titel, 1904 den Titel eines Direktors des S enckenber gischen Neurologischen 
Institutes. Bei Eroffnung der Universitat Frankfurt wurde das in- 
zwischen sehr ausgestaltete Institut als neurologisches Institut von der 
Universitat ubernommen und Edinger zum personlichen Ordinarius 
ftir Neurologie berufen. Das sind in aller Ktirze die Hauptdaten des 
auBeren Werdeganges Edingers. 

Edingers Name wird durch seine Leistungen auf dem Gebiete der 
vergleichenden Anatomie des Nervensystems, als deren eigentlichen 
Schopfer man ihn bezeichnet hat, dauernd in der Wissenschaft fort- 
leben. Es ertibrigt, ein Wort iiber seine Bedeutung in dieser Hinsicht 
zu sagen; er genieBt darin einen Weltruf, und Schuler aus aller Herren 
Lander suchen sein Institut in immer groBerer Zahl auf, um sich von ihm 
in die vergleichende Anatomie des Gehirnes einfiihren zu lassen oder 
unter seiner Leitung vergleichend-anatomische Themata zu bearbeiten. 
Sein Lehrbuch der vergleichenden Anatomie des Gehirns, das er all- 
mahlich von einem rel. kleinen Teil seiner „Vorlesungen liber den Bau 
der nervosen Zentralorgane des Menscben und der Tiere“ zu einem groBen 
selbstandigen Werke ausgestaltete, ist ein grundlegendes Werk; es 
war bei seinem ersten Erscheinen eine absolut originale Schopfung, 
die der Ausgang einer fruchtbaren Entwicklung der vergleichenden 
Anatomie des Gehirns geworden ist. Daneben hat er die Anatomie des 
Menschengehirnes — nicht zum mindesten durch die Anwendung der 
vergleichenden Betrachtung — durch eine groBe Zahl von Einzeltat- 
sachen gefordert, aber auch hier besonders fruchtbringend durch die 
Herausgabe seines Lehrbuchs gewirkt, dessen groBe Bedeutung sich 
am besten in der Notwendigkeit immer neuer Auflagen und den Uber- 
setzungen in verschiedene fremde Sprachen dokumentiert. 

Man wiirde aber dem vielseitigen wissenschaftlichen Geiste Edingers 
nicht gerecht werden, wenn man nur seine Leistungen auf dem Gebiete 
der Anatomie wiirdigte. Er ist der Neurologe in des Wortes weitester 
Bedeutung. Die neurologischeKlinik verdankt ihm eineReihe bedeutungs- 
voller Erkenntnisse, ich erinnere nur an seine Forschungen liber den 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



2(58 


Ludwig Edinger. 


Kopfschmerz, seine Lehre vom zentralen Schmerze sowie vor allem an 
seine zwar viel umstrittene, aber sicher sehr fruchtbare und anregende 
Aufbrauchtheorie. Die Anatomie ist ihm iiberhaupt immer wesentiich 
Grundlage zum Verstandnis der Funktionen des Nervensysternes und 
seiner Erkrankungen gewesen. Dieser weitere Gesichtspunkt fiihrte ihn 
zur pathologischen Anatomie , die er besonders dadurch zu fordern suchte, 
daB er eine eigene Abteilung dafur in seinem Institute einriehtete, aus 
der vorziigliche Arbeiten hervorgegangen sind. Das Streben nach Er- 
forschung der Funktionen des Nervensystemes veranlaBte ihn zu 
vergleichend-psychologischen Untersuchungen und brachte uns seine Ein- 
teilung der Leistungen des Gehirnes in Leistungen verschiedener Wertig- 
keit — in Rezeptiones und Motus, in Praxien und Gnosien, die wieder 
von denen des Intcllektus iiberragt werden —, eine Einteilung, die weit- 
gehender Beachtung verdient. 

Wie er bemiiht ist, von alien Seiten die neurologischen Probleme 
zu erforschen, das zeigt am besten die AusgestaMung seines Institutes , 
das aus einem Laboratorium, in dem wesentiich vergleichende und 
normale Anatomie getrieben wurde, sich zu einem Neurologischen In¬ 
stitute ausgewachsen hat mit einer Vielseitigkeit der Arbeitsrichtungen, 
durch die es wohl einzig bisher dasteht. Es besitzt eine anatomisch- 
zoologische, eine vergleichend-anatomische, eine pathologisch-anato- 
mische Abteilung, zu der jetzt noch eine klinische tritt. Durch person- 
liche Beziehungen ist es in dauernder Fiihlung mit der Psychologie 
und der Psychiatric. Und diese Vielseitigkeit bedeutet hier keine Zer- 
splittcrung, weil alleEinzelforschungen zusammengehalten werden durch 
das ungemein ideenreiche und ausgesprochen synthetisch veranlagte 
Denken des Institutsleiters. So sehr viel Einzeluntcrsuchungen wir von 
Edinger besitzen, so sehr er auf exaktc Arbeit und Einzelforschung 
bei scinen Schiilern halt — die zahlreichen alljahrlich aus dem Institute 
erscheinenden Arbeiten legen davon Zeugnis ab —, so wenig hat sich 
Edinger von jeher mit Einzeltatsachcn begniigt, so wenig sind sie ihm 
Selbstzweck, sondern immer nur Grundlagen fur eine iiberschauende 
Betrachtung der groBen Zusammenhange, Anregungen zur Entwicklung 
seiner Ideen und Belege zum Beweise ihrer Richtigkeit. Diese synthe- 
tische Betrachtungsweise entspricht einem Grundzuge seiner ganzen 
Personlichkeit, die ungemein viel Aehnlichkeit mit der des schaffenden 
Kiinstlers hat. Sie macht ihn zu dem besonders anregenden Lehrer, 
ihr verdanken wir seine wertvollsten Entdeckungen und werden wir 
hoffentlich noch viele weitere zu danken haben; denn Ludwig Edinger 
steht, so sehr er auf ein arbeitsreiches und erfolgreiches Leben zuriick- 
blicken kann, noch in der Vollkraft seines Schaffens. 

K. Goldstein . 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Zur Lehre vom Verhaltnis zwischen pathologiseher 
Vorstellung und Halluzlnation. 

Von 

A. PICK 

in Prag. 

• 

Wenn ich seit vielen Jahren gelegentlich der Publikationen 
einzelner besonderer F&lle der Ansicht Ausdruck gegeben, daB die 
Lehre von den Halluzinationen nicht geniigend auf neueren Beob- 
achtungen aufgebaut ist, so habe ich auch jetzt noch, wo gerade 
eine Zahl neuer, groBer zusammenfassender nnd tiefer dringende 
Arbeiten ihr gewidmet worden, doch keine Veranlassung davon 
abzugehen 1 ). Hat doch Jaspers , der Verfasser einer dieser Arbeiten 
es direkt ausgesprochen, daB auch noch weiterhin nur einzelne, 
seltene, sich selbst gut beobachtende Kranke betreffende F&lle 
unsere Kenntnis fordem konnen. 

Namentlich gilt das von dem Verhaltnis zwischen Wahr- 
nehmung und Vorstellung, das gerade in den genannten Arbeiten 
den Gegenstand ebenso wichtiger wie einander widersprechender 
Darlegungen bildet. Es ist wohl sehr eingehend in Rucksicht des 
Normalen betrachtet worden, aber die Kenntnis der Storungen 
der Vorstellungen ermangelt des geniigenden sachlichen Unter- 
baues. Den Intensitatssteigerungen derselben hat man noch gar 
nicht das Interesse zugewendet. Eine auch diese umfassende Dar- 
stellung vonTatsachen ist aber um so notiger, als sie zurKlarlegung 
des zuvor erwahnten Verhaltnisses unerlaBUch erscheint. 

Wenn auf der einen Seite Jaspers 2 ) Pseudohalluzinationen 
und Halluzinationen durch einen Abgrund getrennt sein laBt, 
Riilf*) demgegenuber Uebergange zwischen den beiden behauptet, 
dann bedarf es neuer Beobachtungen zur Beilegung dieses schroffen 
Gegensatzes. 

Einen Beitrag dazu soli die nachstehend mitzuteilende Be- 
obachtung bilden. Der privaten und deshalb nicht systematischen 
Beobachtung entnommen und iiberdies auf Jahre zurlickliegend 
entbehrt sie zum Teil der Vertiefung nach neueren Gesichtspunkten. 
Da es aber zweifelhaft ist, ob diese auf Seite des Patienten eine dem 
Wunsche nach Aufklarung entsprechende Reaktion gef unden hatten, 


l ) Nachdem dieses niedergeschrieben, hat Schroder in gleicliem Sinne 
sich ausgesprochen. (Diese Ztschr.) 

*) In der Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 

*) Nachdem sich schoi* friiher Goldstein zu derselben Ansicht bekannt 
hat, ist ihr neuestens auch Schroder beigetreten. 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 5. 1$ 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Ludwig Edinger. 


268 

Kopfschmerz, seine Lehre vom zentralen Schmerze sowie vor allem an 
seine zwar viel umstrittene, aber sicher sehr fruchtbare und anregende 
Aufbrauchtheorie. Die Anatomie ist ihm uberhaupt immer wesentlich 
Grundlage zum Verstandnis der Funktionen des Nervensyst ernes und 
seiner Erkrankungen gewesen. Dieser weitere Gesichtspunkt fiihrte ihn 
zur pathologischen Anatomic , die er besonders dadurch zu fordern suchte, 
daO er eine eigene Abteilung dafiir in seinem Institute einrichtete, aus 
der vorziigliche Arbeiten hervorgegangen sind. Das Streben nach Er- 
forschung der Funktionen des Nervensystemes veranlaBte ihn zu 
vergleichend-psychologischen Untersuchungen und brachte uns seine Ein- 
teilung der Leistungen des Gehirnes in Leistungen verschiedener Wertig- 
keit — in Rezeptiones und ]\lotus, in Praxien und Gnosien, die wieder 
von denen des lntellektus iiberragt werden—, eine Einteilung, die weit- 
gehender Beachtung verdient. 

Wie er bemiiht ist, von alien Seiten die neurologischen Probleme 
zu erforschen, das zeigt am besten die AusgestaUung seines Institutes , 
das aus einem Laboratorium, in dem wesentlich vergleichende und 
normale Anatomie getrieben wurde, sich zu einem Neurologischen In¬ 
stitute ausgewachsen hat mit einer Vielseitigkeit der Arbeitsrichtungen, 
durch die es wohi einzig bisher dasteht. Es besitzt eine anatomisch- 
zoologische, eine vergleichend-anatomische, eine pathologisch-anato- 
mische Abteilung, zu der jetzt noch eine klinische tritt. Durch person- 
liche Beziehungen ist es in dauernder Fuhlung mit der Psj^chologie 
und der Psychiatrie. Und diese Vielseitigkeit bedeutet hier keine Zer- 
splitterung, weil alle Einzelforschungen zusammengehalten werden durch 
das ungemein ideenreiche und ausgesprochen synthetisch veranlagte 
Denken des Institutsleiters. So sehr viel Einzeluntersuchungen wir von 
Edinger besitzen, so sehr er auf exakte Arbeit und Einzelforschung 
bei seinen Schulern halt — die zahlreichen alljahrlich aus dem Institute 
erscheinenden Arbeiten legen davon Zeugnis ab —, so wenig hat sich 
Edinger von jeher mit Einzeltatsachen begnugt, so wenig sind sie ihm 
Selbstzweek, sondern immer nur Grundlagen fur eine iiberschauende 
Betrachtung der groBen Zusammenhange, Anregungen zur Entwicklung 
seiner Ideen und Belege zum Beweise ihrer Richtigkeit. Diese synthe- 
tische Betrachtungsweise entspricht einem Grundzuge seiner ganzen 
Personlichkeit, die ungemein viel Aehnlichkeit mit der des schaffenden 
Kunstlers hat. Sie macht ihn zu dem besonders anregenden Lehrer, 
ihr verdanken wir seine wertvollsten Entdeckungen und werden wir 
hoffentlich noch viele weitere zu danken haben; denn Ludwig Edinger 
steht, so sehr er auf ein arbeitsreiches und erfolgreiches Leben zuriick- 
blicken kann, noch in der Vollkraft seines Schaffens. 

K. Goldstein . 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




Zur Lehre vom Verhaltnis zwischen pathologiseher 
Vorstellung und Halluzination. 

Von 

A. PICK 

in Prag. 

• 

Wenn ich seit vielen Jahren gelegentlich der Publikationen 
einzelner besonderer F&lle der Ansicht Ausdruck gegeben, daB die 
Lehre von den Halluzinationen nicht geniigend auf neueren Beob- 
achtungen aufgebaut ist, so habe ich auch jetzt noch, wo gerade 
eine Zahl neuer, groBer zusammenfassender und tiefer dringende 
Arbeiten ihr gewidmet worden, doch keine Veranlassung davon 
abzugehen 1 ). Hat doch Jaspers, der Verfasser einer dieser Arbeiten 
es direkt ausgesprochen, daB auch noch weiterhin nur einzelne, 
seltene, sich selbst gut beobachtende Kranke betreffende Falle 
unsere Kenntnis fordem konnen. 

Namentlich gilt das von dem Verhaltnis zwischen Wahr- 
nehmung und Vorstellung, das gerade in den genannten Arbeiten 
den Gegenstand ebenso wichtiger wie einander widersprechender 
Darlegungen bildet. Es ist wohl sehr eingehend in Rucksicht des 
Normalen betrachtet worden, aber die Kenntnis der Storungen 
der Vorstellungen ermangelt des geniigenden sachlichen Unter- 
baues. Den Intensitatssteigerungen derselben hat man noch gar 
nicht das Interesse zugewendet. Eine auch diese umfassende Dar- 
stellung vonTatsachen ist aber um so notiger, als sie zurKlarlegung 
des zuvor erwahnten Verhaltnisses unerlaBlich erscheint. 

Wenn auf der einen Seite Jaspers 2 ) Pseudohalluzinationen 
und Halluzinationen durch einen Abgrund getrennt sein laflt, 
Riilf 3 ) demgegeniiber Uebergange zwischen den beiden behauptet, 
dann bedarf es neuer Beobachtungen zur Beilegung dieses schroffen 
Gegensatzes. 

Einen Beitrag dazu soli die nachstehend mitzuteilende Be- 
obachtung bilden. Der privaten und deshalb nicht systematischen 
Beobachtung entnommen und iiberdies auf Jahre zuriickliegend 
entbehrt sie zum Teil der Vertiefung nach neueren Gesichtspunkten. 
Da es aber zweifelhaft ist, ob diese auf Seite des Patienten eine dem 
Wunsche nach Auf klarung entsprechende Reaktion gef unden hatten, 

') Nachdera dieses niedergeschrieben, hat Schroder in gleicliem Sinne 
sich ausgesprochen. (Diese Ztschr.) 

’) In der Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 

*) Nachdem sich schon friiher Goldstein zu derselben Ansicht bekannt 
hat, ist ihr neuestens auch Schroder beigetreten. 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologie. Bd. XXXVII. Heft 5. 18 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



270 


Pick, Zur Lebre vom Verhaltnis 


diirfte sie deskriptiv genommen auch jetzt noch als wertvolles 
Materia] angesehen werden. Und das vielleicht um so mehr, als 
damit die Moglichkeit und der davon herzunehmende Einwand be- 
seitigt erscheint, daB durch die Fragestellung die Beschreibung 
der Erscheinungen seitens des Kranken irgendwie im Sinne der 
einen oder anderen der strittigen Deutungen beeinfluBt war. 

Sie entstammt der Krankengeschichte eines etwa 20 jahrigen 
heredit&r belasteten DegSnere, die er z. T. selbst niedergeschrieben 
hat. Seine Notizen dariiber werden nur insoweit wiedergegeben, 
als sie dazu dienen, einmal einen allgemeinen Eindruck von seinem 
Zustande zu geben und dann die speziell hier zu besprechenden 
Erscheinungen zunachst in seiner eigenen Darstellung vorzufiihren. 

Die ausfuhrliche Biographie bleibt fort; sie spiegelt nur den 
typischen Lebenslauf Gleichgearteter mit seinen Wechselfalien 
wieder und beschreibt nur ungeniigend die Zwangsvorstellungen, 
Phobien, Tagtraumerei und Tics, an denen er leidet und derent- 
wegen er in verschiedenen Kliniken und Nervenheilanstalten ge- 
weilt hatte. 

Die folgenden Aufzeichnungen sind nur insoweit korrigiert, 
als das Deutsch des Tschechisch als Muttersprache redenden 
Kranken in entsprechende Form gebracht wurde. 

„Die Krankheit macht sich in folgenden Formen kenntlich: 
Entweder ich will an etwas denken und es kommt mir eine Vor- 
stellung mit anderem krfinkenden oder nicht beruhigendem Ge- 
fiihle in den Sinn, so daB ich mir einesteils nicht dessen bewuBt 
werde, was ich geme mir vergegenw&rtigen mochte, und deshalb 
reagiere ich darauf oder ich kann infolge der beunruhigenden Nach- 
wirkung, welche sie zuriicklaBt, nicht wieder denken oder tatig sein. 
Ich bemiihe mich, normale beruhigendere Bilder zu reproduzieren, 
manchmal gelingt es, manchmal nicht. Falls nicht, steigem sich 
die Zwangserscheinungen bis zu Komplikationen, wobei sich leichte 
Tics auslosen. Adexemplum: Wenn ich auf einePhobie reagiere und 
die folgende Vorstellung nicht beruhigend ist, halte ich die urspriing- 
liche vorstellung, die ich angestrebt habe, die vor der Phobie im 
BewuBtsein entstanden ist, fest und k&mpfe gegen die Phobie an; 
z. B. ich will den Gedanken los werden, dies oder jenes wird mir 
nicht gelingen oder jemand wird bald sterben oder in den nachsten 
Tagen wird mir ein Unheil zustoBen oder die oder jene Person wird 
mir ungiinstig sein usw. Manchmal auch fallt mein Blick auf einen 
Gegenstand (Sarg) und es kommt mir der Gedanke, jetzt wird an 
dich bald die Reihe kommen; selbstverstandlich charakterisiert 
die Phobie immer das Bild, wonach die Phobie mehr oder minder 
beunruhigend ist. Am furchtbarsten wirkt die Phobie beim Vor- 
stellen von Personen, die gestorben sind, von denen ich annehme, 
daB die Erinnerung an sie mir Ungliick bringt; oder die Vorstellung 
von ihnen kommt in einem solchen Lichte, daB ihre Gegenwart 
direkt lahmend auf meinen geistigen Apparat wirkt. Taucht also 
so eine Phobie am Vorstellungshorizont auf und es gelingt das Ver- 
drangen nicht, so halte ich die urspriinglich angestrebte Vorstellung 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



zwischen pathologischer Vorstellung und Halluzination. 


271 


iest (meinethalben ich denke, daB eine Person mich freundlich 
empfangen will), kampfe gegen die Phobie an, es verwandelt sich 
aber die erste in eine andere, so daB ich den ganzen Gedanken ver- 
liere und die Phobie tibrig bleibt und beginne nun gegen zwei 
Feinde zu kfimpfen; namlich ich trachte danacb, die urspriingliche 
Vorstellung, die mir soeben entschwunden ist, in der Erinnerung 
mit derselben Gefiihlsnuance zu reproduzieren und ja nur nicht die 
Phobie fiber mich ergehen zu lassen, weil das ffir mich die Bedeutung 
hfitte, als wenn mir jemand sagen wfirde, in dem oder jenem Monat 
wirst du sterben. Hand in Hand geht damit auch Aberglauben. 
Ich traue mich nicht, Krawatten von bestimmter Farbe zu tragen, 
usw.; manchmal ringe ich direkt gegen eine Geftihlsstorung, z. B. 
statt einer Phobie kommt mir das Geffihl, daB mir etwas aus der 
Wange oder dem Gehim davonfliegt, ein schmerzvolles Gefiihl.“ 
„Will ich an etwas denken, nachdem ein Gedankengang ab- 
geschlossen ist, so kommt mir statt einer Vorstellung oder der be- 
absichtigten Vorstellung ein Geffihl, als mochte mir etwas aus dem 
Gehirn spritzen — wobei ein ftirchterliches Angstgeffihl herrscht, 
welches ffir mich fast die Bedeutung eines schmerzhaften hat; 
es tritt dabei noch die Empfindung auf, daB die Kfigelchen sich 
in der Luft verlieren, was mir ebenfalls eine Angstempfindung oder 
Zwangsvorstellung wachruft, oder es steigt ein Gegenstand aus 
meinem Kopf in die Hohe, immer hoher und hoher, wobei das er- 
wahnte Angstgeffihl ebenfalls vorherrscht. Der Gegenstand ffillt 
oder verwandelt sich in einen andem, die Empfindung tritt nach 
langer Qual, wobei die Tics die Konsequenz davon sind, zurfick. 
Femer kommt mir manchmal ohne weiteres die Vorstellung, es 
fftllt von meinem Kopfe oder aus meinem Gehim etwas zur Erde, 
gewohnlich ein Messer, das sich im Boden einbohrt, wobei ich die 
Empfindung habe, als wenn sich die betreffende Situation ereignen 
wfirde. Ignoriere ich diese Sensation, so verstfirkt sich die Empfin¬ 
dung bis zu krankhafter Peinlichkeit, ich sehe, wie sich das Messer 
vertieft oder ich sehe den Boden sich offnen, der Krampf verstfirkt 
sich — ein ftirchterlicher Zustand. Oder es kommt mir unwillkiir- 
lich in den Sinn, daB mir mit einem Hammer ein Nagel in den Kopf 
geschlagen wird. Einmal hatte ich einen Anfall folgender Art: 
Es kam mir in den Sinn, daB ein Nagel in den Boden geschlagen 
wird. Ich beachtete diese Vorstellung nicht, da sah ich in der Vor¬ 
stellung den Nagel immer tiefer dr ingen, vor mir machte sich ein 
Abgrund auf, ich bekam ein ungewohnliches Angstgeffihl; ich sah 
den Nagel an etwas, einen eisernen Gegenstand stoBen, wobei ich 
die entsprechende Empfindung hatte usw. Vor dem Schlafen treten 
die Zustfinde in vermehrter Form auf. Unwillkfirlich, ohne daB ich 
es verhindern kann, sehe ich Figuren auf me'nem Kopf herum- 
tanzen, ich sehe Zirkel oder BeiBzeugrequisiten sich ausdehnen, 
wobei ich einen Krampf bzw. ein ftirchterliches Angstgeffihl aus- 
stehe. Wenn ich an Zucker z. B. denke, kommt mir der Zucker 
im zerbrochenen Zustande in den Sinn, wobei ich eine Empfindung 
habe, als wenn man Zucker brechen wfirde. Sehr hfiufig kommen 

18 * 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



272 Pick, Zur Lehre vom Verhaltnis 

Krampfe; ich habe die Empfindung als wenn mioh etwas zieht 
(Gefiihl): wenn ich an eine Tasse denke, welche vor mir steht, 
so kommt mir in den Sinn, wie wenn die Tasse mit Gewalt her- 
untergeschleudert wird, wobei ich auBer dem Angstgefiihl die 
Empfindung babe, als wenn mich etwas zieht. AuBerdem kommen 
mir in den Sinn die Gestalten von Personen in erregtem Zustande, 
schreiend, drohend, mit so starkem Angstgefiihl, daB ich mir die 
Vorstellung nicht einmal vergegenwartigen kann, sondem unwill- 
kiirlich an etwas anderes denken muB. Ich habe feraer das Gefiihl, 
daB etwas vom Kopf heruntertropfelt zur Erde, wobei ich ebenfalls 
das Gefiihl des Ziehens habe, als wenn mich etwas ziehen wiirde; 
wenn ich eine Flasche mit Medizin sehe, so sehe ich gleich, wie die 
Flasche heftig geriittelt wird, wobei ich das entsprechende Gefiihl 
habe. Ich habe manchmal die Empfindung, als wenn ein schweres 
Gewicht mich driicken mochte; einmal war es mir, als wenn mir 
ein Teppich fiber den Kopf herunterfallen wiirde, wobei ich das 
entsprechende heftige Angstgefiihl hatte. Ich bin. sehr erregt 
innerlich; wenn ich um etwas Sorge habe, denke ich fortwahrend, 
wird es gut ausgehen oder nicht — bei jedem Anlasse vergegen- 
wartige ich mir die beruhigende Vorstellung, zum Zeichen, daB mir 
die Sache gelingt; auf die Art suggeriere ich mir die beruhigende 
Wirkung. Wenn ich an Musik denke, kommt mir eine Melodie in 
•den Kopf, in einem rasenden Tempo mit dem Angstgefiihl, daB ich 
meiner Sinne nicht Herr werde, daB ich das Tempo nicht aufhalten 
werde. Einst hatte ich die Vorstellung, daB mir etwas hinter den 
Kragen fallt, ich hatte dabei ein kitzelndes Gefiihl. Die Wirkung 
war so stark, daB ich urspriinglich dachte, die Tauschung sei Tat- 
sache. Wenn ich mir Hantel vorstelle, wiederholt sich mir dann 
die Empfindung, wie wenn ich lebhaft mit ihnen tumen wiirde; 
manchmal kommt mir ohne weiteres in den Sinn, als wenn ich mit 
einer Axt in Holz gehauen hatte, wobei ich die betreffende Empfin¬ 
dung habe usw. Manchmal kommt mir plotzlich die Vorstellung, 
daB jemand mich am Kragen reiBt; manchmal sehe ich einen, wie 
er mir mit der Hand ins Gesicht greift, wobei ich die Hand in groBer 
Vorstellung mit weiBer oder gelber Farbe sehe und das Gefiihl habe, 
als wiirde mir inwendig etwas reiBen. Die Geffihle sind auf die Art 
wie Sodbrennen." 

Da in der vorangehenden vom Kranken gegebenen Schilde- 
rung gerade die hier in den Vordergrund gestellten Erscheinungen 
nicht immer genug deutlich beschrieben sind, wurde der Kranke 
noch im besonderen dariiber befragt und gab Nachstehendes an: 

Wenn er an einen Kern, an Eis oder ein Zeltchen denkt, hat 
er sofort die angenehme Empfindung des Auflosens derselben im 
Munde und des Schluckens, aber, betont er, nur in der Vorstellung, 
ein andermal bezeichnet er das letztere als Kitzelgefiihl, daB er 
geschluckt hat. Denkt er an das Einnehmen einer Medizin, so sieht 
er sofort, daB jemand sie ihm eingibt, gelegentlich nur die Hand 
mit dem Loffel. Gelegentlich sieht er auch schon friiher die Medizin, 
will an etwas anderes denken und sieht nun, wie jemand ihm mit 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



zwischen pathologischer Vorstellung und Halluzination. 


273 


aller Gewalt den Loffel in den Mund steckt, diesen auf- und ab- 
bewegt und bekommt eine peinliche Empfindung, welche sich. 
bis zu Angstgefiibl steigert durch die weitere Vorstellung, daB ihm' 
jemand den Loffel in den Rachen schiebt. Befragt, wie er die Dinge 
sehe, vemeint er die Frage, ob farblos, gibt vielmehr an, er sehe sie 
so wie sie sind, aber nicht genau, denn es geht zu schnell; oft sieht 
er es in verzerrten Formen; Geruchsempfindungen kommen dabei 
nicht vor. 

Er denkt an einen Revolver und schon kommt ihm die Empfin¬ 
dung eines Knalls, er erschrickt und es kommt ihm der Gedanke: 

,.Morgen wirst du dich erschie!3en“, oder: „Jetzt muBt du verriickt 
werden“. Er hat die Empfindung, wie wenn er den Email gehort 
hatte, er hat ihn aber nicht gehort, sondem es ist nur „Reproduk- 
tion“, so wie wenn man sich einen Ton vorstellt; es ist wie Ohren- 
klingen, so glaubt er „alles“ zu horen. 

Er hort den Nachtwachter pfeifen und unmittelbar danach 
das Pfeifen mehrfach erklingen, „im Gedanken“. .,Die Zustande 
sind so, wie wenn sich der Musiker ein Stiick im Geiste vorstellt.“ 

Er denkt an seine Zustande, z. B. an seine Hand, und plotzlich 
hat er das peinliche schreckliche Gefiihl, wie wenn ihn jemand an 
der Hand ziehen, die Hand ausreiBen wiirde; er hat das Gefiihl 
nicht an der Hand, sondem nur in der Vorstellung. 

Wenn er an die Kaltwasserkur denkt, sieht er plotzlich (in 
der Vorstellung!) jemanden, der ihm Wasser auf den Kopf gieBt 
und spurt, ebenfalls in der Vorstellung, das GieBen, hat direkt die 
kiihle Empfindung. Manchmal hat er die Empfindung, wie wenn 
er Gummi kauen wiirde (infolge eines Gedankenganges); es ist 
wie ein Krampf und dabei hat er einen Nachgeschmack von Gummi ; 
er weiB dabei ganz gut', daB er keinen Gummi im Munde hat, es 
ist „nur im Vorstellungsleben“. Er analogisiert es mit der Empfin¬ 
dung, Pltisch zu beriihren. Haufig peinigt ihn die Empfindung, 
wie wenn ihn jemand mit dem Loffel an den Zahn geschlagen hatte, 
jetzt kommt die Vorstellung oft erst nachher, wahrend die Empfin¬ 
dung oft selbstandig auftritt, wie sie jemand hat, wenn er mit dem 
Loffel an den Zahn geschlagen worden ist. Er denkt an das Gehirn 
und plotzlich kommt ihm die Vorstellung (!), daB es herausgespritzt 
oder daB ihm jemand ein Stiick abgehauen hat, oder daB es herunter- 
gefallen ist. Die Empfindungen dabei analogisiert er mit der Angst- 
empfindung, die man im Traume hat, wenn man traumt, herunter- 
zustiirzen. 

Er sitzt, denkt nach, plotzlich hat er die Empfindung, daB ihn 
jemand am FuBe angehauen hat. Er geht auf der StraBe, plotzlich 
fiihlt er (in der Vorstellung), wie wenn ihm ein Hammer auf den 
Kopf schlagen wiirde; sofort verbindet sich damit die Vorstellung (!) 
einer Hand (beides nicht in Farben); er kampft dagegen an und 
dadurch wiederholt sich das. 

Er sieht einmal ein Pferd, daran kniipft sich der Gedanke, 
daB Pferd konne ihn ins Ohr beiBen und sofort fiihlt er einen BiB 
ins Ohr (in der Vorstellung!). Ein andermal denkt er an seinen 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




274 


Pick, Zur Lehre vom Verhaltnis 


Zustand und es kommt ihm „in den Sinn“, wie wenn jemand ein 
Stuck Shirting zerreiBt. Er sieht plotzlich (in der Vorstellung) 
etwas vom Kopf zur Erde fallen, laBt es zunachst iiber sich ergehen 
und wenn es am Boden angelangt ist, wo es sich wie ein sich dehnen- 
des Schnurchen darstellt, verwandelt es sich in ein Messer und er 
hort, wie wenn er wirklich verfolgt ware; darauf offnet sich der 
FuBboden, das Messer fallt tief und tiefer, er glaubt im Abgrunde 
zu sein (alles in der Vorstellung!), weiB, daB der Teppich und FuB¬ 
boden da sind; dann Gefuhl, wie wenn das Messer aut etwas Eisemes 
gestoBen ware, und dann Gefuhl, wie wenn er (Pat.) auf etwas 
Eisemes gestoBen ware. 

Es bedarf keiner besonderen Erorterung, daB die hier be- 
sonders ins Auge gefaBten Erscheinungen lebhafte Vorstellungen 
sind, woftir ja die eigene Beurteilung des Kranken vor allem spricht 
und daB dort, wo sie den Charakter von Trugwahmehmungen 
annehmen, die allseits anerkannte Steigerung bis zu den Pseudo- 
halluzinationen vorliegt. Sie zeigen namentlich sehr schon das, 
was Kandinsky durch die fur sie auch vorgeschlagene Bezeich- 
nung der ,,Illustrationes“ oder „Hluminationes“ ausdrucken wollte. 

Die Schwierigkeit beginnt aber dort, wo wir ebensosehr durch 
die AeuBerungen des Kranken wie durch die Erscheinungen selbst 
auf die Frage der Objektivitat oder Leibhaftigkeit der Trugwahr- 
nehmungen hingewiesen werden; denn wahrend Jaspers (Zur 
Analye der Tmgwahmehmungen, Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 
1911. 6. Bd. 535) Leibhaftigkeit (als Objektivitatscharakter) ganz 
ausschlieBlich den echten Halluzinationen zuerkennt und bei den 
pathologischen Vorstellungen immer vermissen will, spricht sich 
Riilf (dieselbe Ztschr. 24, 235) im gegenteiligen Sinne aus. Es wird 
deshalb nicht zu umgehen sein, die Einzelerscheinungen des Falles 
an den von Jaspers gegebenen Kriterien kritisch abzumessen, 
ob sie auch so betrachtet, den Anschein einer Bestatigung der 
Ridfschen Ansicht rechtfertigen. 

Wir schlieBen von der Besprechung jene Falle aus, wo der 
Kranke selbst entweder unmittelbar oder durch Analogisierung 
den Vorstellungscharakter der Erscheinungen klarlegt, oder dies, 
wie z. B. bei den extrakampinen Gesichtshalluzinationen, sich ohne 
weiteres aus der Beschreibung ergibt. 

In erster Linie fiihren wir an das Schmerzgefiihl beim Fliegen 
aus der Wange oder dem Gehim, das gewiB nicht abhangig er- 
scheint von dem Angstgefuhl, das eine Reihe anderer Erscheinungen 
begleitet; die Schmerzempfindung des AnstoBens an einen eisemen 
Gegenstand, das Gefiihl des Heruntertropfens oder des BegieBens 
(hygrische Empfindung), den Druck des Gewichts (Druckempfin- 
dung), das Herunterfallen des Teppichs iiber den Kopf (kutane 
Empfindung), das Kitzeln hinter dem Kragen (Kitzelgefiihl), das 
Anschlagen an den Zahn (Beruhrung spezifischer Art), das vom 
Pferd ,,gebi8sene“ Ohr (Schmerzempfindung). 

Es ist nun, um das gleich hier hervorzuheben, gewiB kein Zu- 
fall, daB diesen zahlreichen als echte Empfindungen nachzu- 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



zwischen pathologischer Vorstellung und Halluzination. 275 


weisenden Fallen kutaner Art nur vereinzelte gleichartige Erschei- 
nungen in anderen Sinnesgebieten zur Seite gestellt werden konnen; 
Der gehorte, von Erschrecken begleitete Knall des vorgestellten 
Revolvers und das Sehen des zu Boden gefallenen Gegenstandes, 
der sich dort wie ein Schniirchen bewegt. 

Gerade diese Angabo scheint mir keinen Zweifel an der Leib- 
haftigkeit dieser Gesichtswahmehmung zu erlauben; dasselbe 
glaube ich auch von der eben erwahnten akustischen Wahmehmung 
sagen zu miissen, ebenso wie beide Falle den von Jaspers an ver- 
schiedenen Stellen der zitierten Arbeit (S. 498, 518 und 524) an- 
gefiihrten, zur Vorsicht in der psychologischen Beurteilung mahnen- 
den Bedenken standhalten. 

Aber selbst wenn das bezuglich der beiden einzigen, das Horen 
und Sehen betreffenden Falle bezweifelt wiirde, diirften die Falle 
kutaner Empfindung (ganz allgemein gesprochen) ebensowohl alien 
Bedenken standhalten, wie ihre Zahl und Umschriebenheit, wie 
schon gesagt, auf ein besonderes Moment ihrer Entstehung hin- 
weisen. 

Betrachten wir sie vom Standpunkte Kandinsky 8 , auf dessen 
Grundlegung Jaspers fuBt, so lost sich allerdings die Schwierigkeit 
einfach durch die Annahme echter Halluzinationen kutaner Art 
neben optischer Pseudohalluzination. So in dem Falle Kandinskys 
(Krit. u. klin. Betracht., S. 42), wo der Kranke einen ihm „gezeigten“ 
Lowen ,,mit seinem Geistesauge“ sieht, aber dessen Tatze mit ziem- 
hch schmerzhaftem Drucke an der Schulter fuhlt. 

Damit erscheint mir aber in unserem Falle die Schwierigkeit 
nicht beseitigt, weil nicht einzusehen ware, warum fast nur gerade 
im kutanen Gebiete halluziniert wiirde; vielmehr deutet gerade 
diese Beschrankung auf eine in diesem Sinnesgebiete liegende Be- 
sonderheit. Die Losung ware in dem zu suchen, was wir iiber den 
objektiven und subjektiven Tastraum und die in ihm sich ab- 
spielenden Trugwahrnehmungen wissen. Das ist freilich recht 
wenig, insbesondere soweit die Trugwahrnehmungen in Betracht 
kommen. Jaspers (1. c., S. 486) nimmt an, daB das Vorkommen der 
gleichen Unterscheidung wie bei Gesicht und Gehor zwischen 
Pseudohalluzinationen und Halluzinationen, wenn auch bezuglich 
des Tastsinnes noch nicht sichergestellt, doch nicht zu bezweifeln 
sei. Man muB demgegeniiber betonen, daB die von Jaspers gegebene 
Unterscheidung des subjektiven Tastraumes vom objektiven doch 
eine rein theoretische ist und daB selbst, wenn sie vorhanden ist, 
es durchaus fraglich bleibt, ob jedesmal der Unterschied dem 
Kranken auch bevmfit wird und auch von der entsprechend 
differenten Wirkung gefolgt ist. Die von Jaspers angenommene 
Moglichkeit der Unterscheidung des objektiven vom subjektiven 
Tastraume erscheint verwirklicht in der Angabe des Kranken 
vom Gefiihl des AusreiBens der Hand („aber nicht an ihr, sondem 
nur in der Vorstellung“). Das gleiche gilt auch von dem nur in 
der Vorstellung gefiihlten Bisse am Ohr. 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



276 


Pick, Zur Lehre vom Verhaltnis 


Abergerade dasZeugnis ausgezeichneter Selbstbeobachtung 1 ), 
das damit dem Kranken ausgestellt wird, bringt durch das Fehlen 
der Hervorhebung des gleichen Gegensatzes in den iibrigen Fallen 
den Beweis, daB dieser in der Tat nicht da oder nicht feststellbar 
war. DaB an der Leibhaftigkeit der Empfindungen in diesen Fallen 
nicht gezweifelt werden kann, daftir biirgt nicht bloB die auch in 
der Beschreibung der optischen und akustischen Pseudohallu- 
zinationen gegebene Differenzierung gegeniiber den echten Hallu- 
zinationen, sondem auch die Beschreibung, die er von den taktilen 
Tnigwahmehmungen (Analogic mit dem Sodbrennen und Pliisch!) 
gibt. 

Es ware demnach durchaus denkbar, daB dadurch die sonst 
grundlegende Differenz zwischen Halluzinationen und Pseudo- 
halluzinationen hinsichtlich der Leibhaftigkeit fiir die taktile Form 
derselben aufgehoben ware. Und in diesem Sinne spricht wohl die 
Tatsache, daB im vorliegenden Falle die fast ausschlieBlich im Ge- 
biete der kutanen Empfindungen vorhandenen Trugwahmehmungen 
des Charakters der Leibhaftigkeit nicht entbehren, trotzdem sie 
nach ahem als pathologische Vorstellungen klassifiziert werden 
mussen. Vielleicht daB dabei im Sinne Jaspers ein Schwanken 
des psychologischen Urteils hinsichtlich des Beahtatscharakters 
eine Rolle spielt. Es ware aber auch denkbar, daB sich, um Jaspers 
eigene Worte zu gebrauchen (1. c., S. 498), das psychologische 
Urteil fiber die Leibhaftigkeit in Gegenwart der Erscheinungen 
und bei besonnenem BewuBtseinszustande sich irrt, weil die Diffe¬ 
renz zwischen subjektivem und objektivem Baum fiir die kutane 
Sensibilitat sich doch wesentlich von derjenigen im Gesichts- oder 
Gehorsinn imterscheidet. 

Wie immer das sein mag, jedenfalls darf man sagen, daB die 
Scheidung zwischen den beiden Formen der Trugwahmehmung 
im Gebiete des Tastsinnes praktisch jedenfalls nicht immer mog- 
lich ist. In gewissem Sinne bestatigt wird das durch das, was unser 
Kranker bezuglich der einzigen, noch einen anderen Sinn, den Ge- 
schmackssinn betreffenden Trugwahmehmung angibt. Die Angabe 
des subjektiven Charakters derselben ist ebenso pregnant, wie die 
Angabe bezuglich der Leibhaftigkeit derselben. Die theoretischen 
Grundlagen fiir die Entscheidung der durch diesen Gegensatz auf- 
gerollten Frage liegen hier wohl analog dem, was wir von der 
Scheidung des objektiven und subjektiven Tastraumes gesagt; 
ja man kannBedenken tragen, ob auch normalerweise eine Trennung 
der beiden moglich ist. Alle diese Erwagungen fiihren fiir den vor- 
liegendeh Fall zu dem SchluB, daB im Bereiche der kutanen und 
Geschmacksempfindung eine Scheidung zwischen Halluzination 
und Pseudohalluzination nicht immer nachweisbar ist. 


*) Bei dieser Gelegenheit mochte ich auch darauf hinweisen, wie gut 
die Augaben des Kranken von seinen „Vorstellungen 4< mit dem iibereim 
stimmen, was wir jetzt neuerlich von diesen psychischen Gebilden wissen; 
so die Angabe, daO der Gedankc an Medizineinnehmen von der Vorstellung 
einer Hand mit dem Loffel begleitet ist. r . 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



zwischen pathologiacher Vorstellung und Halluzination. 


277 


Einen weiteren Beitrag zu der Frage, wie trotz der erkannten 
subjektiven Natur der Pseudohalluzinationen die Trugwahr- 
nehmung die Wirkung der Leibhaftigkeit im Gefolge haben kann, 
mag die nachstehende Beobachtung illustrieren. 

Es handelt sich um einen 29 jahrigen Hauslerssohn, der wegen 
Depression, Suicidideen, Schlaflosigkeit am 3. V. 1901 zur Klinik 
aufgenommen wurde. Er war ins Bein geschossen worden und batte 
nach erfolgter Heilung den vermeintlichen Tater, jedoch erfolglos 
geklagt. Nachdem er sich beruhigt hatte, erhangte sich ein Mann 
seiner Bekanntschaft; er regte sich sehr auf, schlief wenig, niuBte 
immer daran denken. „Der Korper war ruhig, der Geist unruhig“; 
er muBte bestandig dariiber nachdenken, was ihm am Tage zuge- 
s to Gen. Nachts traumte er davon. Haufig verfiel er in einen Halb- 
schlaf, und sah dann alle moglichen Gestalten, lebende und tote, 
wie im Nebel; die Gestalten bewegten sich. Es war ihm nie der Ge- 
danke gekommen, daB das wirkliche Gestalten gewesen seien, er 
hatte aber Angst vor ihnen. Spater horte er Stimmen, er halte dies 
ftur eine starke Tauschung. Er habe nur bemerkt, daB sich das Be- 
nehmen der Umgebung gegen ihn verandert habe, daB man ihm 
etwas Schlechtes antun wolle. 

Bei einem neuerlichen Examen sagt er, die Bilder haben sich 
ihm vorgemacht, sie seien bloB so im Nebel erschienen, er habe sie 
nicht im Detail gesehen. Dabei sei er wach gewesen, habe nicht ge- 
schlafen und alles gehort, was um ihn vorging und hat sich die 
Bilder vor den Augen vorgemacht. 

Es ist nicht zufallig, daB gerade ein Suicid von solchen Er- 
scheinungen gefolgt ist. Es ist mir aus der Klinik noch der Fall 
eines Taubstummen erinnerlich, der einen an einen Baum Erhangten 
gesehen und dann lange Zeit die Trugwahmehmung des am Baum 
Hangenden hatte; es lieB sich nicht entscheiden, ob ein anschlieBen- 
der Angstzustand mit der Trugwahmehmung direkt in Verbindung 
stand. 

In der Einleitung zu der 1. hier mitgeteilten Beobachtung habe 
ich den darin gelegenen Vorteil besonders hervorgehoben, daB die 
Angaben iiber die Leibhaftigkeit von dem Kranken gemacht wurden 
ganz unbeeinfluBt durch irgendwelche auf die erorterte Kontro- 
verse bezugnehmenden Fragen des Untersuchers. Die gleiche Vor- 
urteilslosigkeit kommt nun Beobachtungen zu, die ich iiber Tag- 
traumerei in dem Jahrb. f. Psych, u. Neur. XIV. 1896 und im 
Joum. of ment. sc. Juli 1901 veroffe'ntlicht habe. 

In der letzten Arbeit resumiere ich die Frage des BewuBtseins- 
zustandes wahrend der Traumerei dahin, daB es reichliche Ueber- 
gange vom lebhaften Spiel der thantasie bis zu den deliranten 
Traumzustanden der Hysterie gebe. Das ist fur die hier diskutierte 
Frage insofem von Belang, als es verstandlich macht, wie der Be- 
wuBtseinszustand fiir die Leibhaftigkeit des bloB Phantasierten 
von entscheidender Bedeutung sein wird. 

Als einen weiteren Beitrag zu den hier diskutierten Fragen 
mochte ich zwei Beobachtungen von Deliranten mitteilen, die 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



27S Poppelreuter, Ueber den Vereuch einer Revision der 


namentlich auf die Realit&tsfrage ein helles Licht zu werfen ge- 
eignet sind. 

Eine an Delirium tremens erkranfcte Frau erzahlt aus ihrem 
Delirium folgendes: Sie ging in einen Laden, sich anstatt des zer- 
rissenen Kleides ein neues zu kaufen, aber wie erstaunte sie, als 
sie zahlen wollte; sie hatte viel Geld, aber wie sie es in der Hand 
nahm, zerrann es in nichts, so oft sie aucb danach haschen wollte. 
Sie bekam wohl das Kleid, aber auch dieses verschwand, als sie es 
anfaBte und anziehen wollte. Ebenso ging es mit anderen Gegen- 
standen, die sie kaufen wollte; wie sie sie in die Hand bekam, 
war alles wie durch Spuk fort (Beobachtung Kane vom 26. XII. 
1894.) 

Ein Delirant (Valenta 15. XI. 1888) erzahlt: Er habe sich mit 
dem Messer zweimal in die Brust gestoBen, aber nichts gespiirt; 
er habe das Messer gesehen, beschreibt es, aber nicht gefiihlt; als 
er sich die Wunde zugefiigt, habe er zwar keinen Schmerz gefiihlt, 
aber die Wunde war da, er habe die Weichteile auch auseinander- 
gezogen; da es aber nicht schmerzte, habe er noch einmal zuge- 
stoBen. Er sei auch ins Wasser gesprungen, habe aber nichts gefiihlt; 
das Wasser miisse wohl warm gewesen sein. 

Historisch mochte ich zu dem Vorstehenden bemerken, 
daB ConoUy, dessen Name nur mit dem No-Restraint verkniipft 
ist, in seinen Inquiries concern, the indication of Insanity 1830, 
S. 113, die Frage diskutiert, warum die Geisteskranken an der 
Wirklichkeit ihrerHalluzinationen glauben, und betontvonRranken 
mit geringergradigen Fieberdelirien, daB sie Widerspriiche bei Prii- 
fung durch andere Sinne bemerken. 


(Aus dem psychologischen Laboratorium der Berliner Psychiatrischen Klinik. 
[Direktor Geh. Rat Bonhoeffer].) 

Ueber den Versuch einer Revision der psychophysiologischen 
Lehre von der elementaren Assoziation und Reproduktion. 

Von 

Dr. phil. et med. WALTHER POPPELREUTER. 

Im folgenden gebe ich einen zusammenfassenden Bericht 
iiber meine Arbeiten, die toils erschienen sind, teils im Manuskript 
vorliegen. (1—3. S. 279.) 

§ 1. Kritik mi der herkommlichen Lehre. 

Die neuere Entwicklung der Psychologie und Psychopatho- 
logie wendet sich allmahlich von der sog. Assoziationspsycho- 
logie ab. Dem Tatsachenreichtum gegeniiber erweist sich das 


Digitized by 


Goggle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psyohophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 279 


Digitized by 


Schema als ohnmachtig. Es ist aber hervorzuheben: die Angriffe 
richten sich gegen die Assoziationspsychologie als das System , 
welches den Reichtum der seelischen Vorgange unter dem Dogma 
zusammenpreBte, nicht gegen die besondere Lehre vom elemen¬ 
taren Vorgang. Die hat man vielmehr ohne kritische Priifung hin- 
genommen, ja die neuen Lehren auf die alte geradezu aufge- 
pfropft. 

Wie schon Leibnitz die alte englische Assoziationspsychologie 
in der Form ablehnte, daB er sie nur fiir die „niederen“ Seelen- 
vorgange gelten liess, — so hat auch die neuere, besonders die 
, ,Denkpsychologie“ den anschaulichen Vorstellungen die Ge- 
danken“, ,.BewuBtheiten*‘, den „assoziativ-reproduktiven Ten- 
denzen“ die „Akte“, die „determinierenden Tendenzen" schlecht- 
hin beigefiigt. 

Im Gegensatz dazu wird hier im vorliegenden die Aufgabe 
verfolgt, die spezielle Lehre von der elementaren Assoziation und 
Reproduktion der Vorstellungen selber in kritische und neu auf- 
bauende Untersuchung zu nehmen. Dem Grundsatz foigend, daB 
jede Weiterentwicklung immer wieder zu einer Revision der Grund- 
lagen auffordem muB. 

Es ergab die experimentelle Untersuchung, daB die iibliche 
Form der Lehre von der elementaren Assoziation und Reproduc¬ 
tion, ganz abgesehen davon, ob ihr eine generelle Erkl&rungs- 
eignung zukommt oder nicht, in sich selbst unhaltbar ist. DaB 
der als elementar angesprochene Vorgang willkurlich erzeugt, im 
Sinne des Beweisens also ein Kunstprodukt sei. v 

Hier handelt es sich natiirlich nicht um eine Kritik derjeni- 
gen Form der Lehre, wie sie, in die Weite und Breite hinein defi- 
niert, leider jetzt noch vielfach iiblich ist, daB alle psychischen 
Vorgange auf dem Zusammenhang der Erfahrung, also auf dem 
Gedachtnis, also auf der Assoziation und Reproduktion beruhten. 
Was bei dem englischen Sensualismus, dem Schopfer dieser Ver- 
einfachungstendenz, eine groBe Tat war, das ist fur eine gegen- 
Wartige exakte Psychologie allgemeine Verw&sserung. 

Zu der Aufstellung des Gtesetzes der A. u. R. fiihrte damals 
nicht die Ableitung als Erfolg einer direkt-en Untersuchung, 
sondem eine nur begriffliche Reduktion. Man lieB die besondere 
Verlaufsart der verschiedenen seelischen Prozesse — ob es Denk-, 
Willens- oder sonstige Vorgange waren —, auBer acht , es blieb 

1 ) Nachweis der UnzWeckmafiigkeit, die gebrauchlichen Gedachtnis- 
experimente zur Gewinnung elementarer Reproduktionsgesetze zu ver- 
wenden. Zeitschr. f. Psych. Bd. CXI. S. I. 1912. 

*) Zwei elementare Gesetze des Vorstellungsverlaufes. Bericht uber 
den V. Kongr. f. exp. Psychologie. Leipz. 1912. 

*) Ueber die Ordnung des Vorstellungsablaufes. I. Teil. Arch. f. d. 
ges. Psych. Bd. XXV. 1913. (Auch gesondert erschienen.) 

.Ich weise darauf hin, daB die seit dem .Erscheinen dieser Ab- 

handlungen fortgesetzten Untersuchungen in einigen wesentlichen Punkten 
Erweiterungen und auch Richtigstellungen gebracht haben, die in dies 
Ref era t mit hineingearbeitet sind. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




280 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der 


das Schema der assoziativen Vorstellungsketten iibrig. Diese 
begriffliche Reduktion machte man zum elementaren wirklichen 
Vorgang durch den Satz: sind zwei Empfindungen {Vorstellungen, 
Gefuhle, motorische Impulse) A und B in raumlicher oder zeit- 
licher Kontiguitat geniigend stark und geniigend oft erlebt worden, 
so reproduziert spater das A das B als Vorstellung b. Schema- 
tisch ausgedriickt A->b. (Wobei man also zu den beiden Gruppen 
von Assoziationen kam, zu den simultanen und den sukzessiven; 
ich enge meine Betrachtungen vorlaufig nur auf die letzteren ein). 
Wiirde man unter diesem Gesetze nur einen knappen Ausdruck 
roher Erfahnmgstatsachen verstehen wollen, so ware dagegen 
natiirlich nichts einzuwenden. Indem man aber die speziellere 
Physiologisierung dieses Gesetzes vollzog, A an die eine, B bzw. 
b an die andere Himstelle verlegte und den Vorgang der Repro- 
duktion als ein Weiterschreiten der nervosen Erregung auf dem 
gebahnten Wege A-*b beschrieb, hat man einen wirldichen Vor¬ 
gang behauptet, der einfach ist , nicht etwa zum einfachen be- 
grifflich reduziert ist. 

So fruchtbar auch diese Vereinfachung sich besonders in 
der Lehre von der Aphasie und Apraxie gezeigt hat; keinesfalls 
ist damit, wie man das so oft hort, der zugrunde gelegte einfache 
Vorgang A-*b bewiesen. Das Schema, etwa das W ernicke-Licht- 
Aeirasche, ist ja nur die graphische Darstellung von Erfahrungs - 
beziehungen in einer so allgemeinen groben Form, dafi die be- 
sondere Dignitat der Erfahrungszusammenhange, alle die Besonder- 
heiten der verschiedenen Verlaufe, in Wegfall gekommen sind. 
Es hat also keinen Sinn, hier von Beweisen iiberhaupt zu sprechen, 
oder, wie dies iiblich ist, das Schema als irreal hinzustellen. Die 
Kritik hat ihre Berechtigung nur gegeniiber den Autoren, die, 
die Absicht der Urheber verkehrend, die Uebersetzung des Schemas 
zur Wirklichkeit vollzogen , und damit die Behauplung der Repro- 
duktion A-+b als psychophysiologischen Orundvorganges aufgestdlt 
haben . Bei Untersuchungen, die liber die groben Erfahrungszu¬ 
sammenhange hinausgehen, konnen nicht abstrahierte Schemata, 
sondem nur nachgewiesene, wirkliche Vorgange zu grunde ge- 
legt werden. 

Nach einem ausdriicklichen, tatsachlichen Beweise des Grund— 
vorganges A->b sucht man vergeblich. Es gibt keinen. Die ex- 
perimenteUe Psychologie und Psychopathologie haben eine eigens 
darauf’gerichtete Ableitung und Prufung dieses Gesetzes unterlassen , 
sie haben es stillschweigend als elementar hingenommen, um sich 
sofort weitergehenderen Fragen, dem Einflusse der Wiederholung, 
des Stoffes, der Latenzzeit, der Reproduktionszeit der patho- 
logischen Minderleistung usw. zuzuwenden. 

GewiB war es ein groBer Fortschritt der psychologischen 
Methodik, als man zur FeststeUung der Gosetze der A. u. R. be- 
sondere Verfahren anwandte, die — im Gegensatz zu demfriiheren 
Vorgehen, sich auf die Analyse des gewohnheitsm&Bigen Vor- 
stellungsverlaufes zu beschranken, — die Assoziationsstiftung imd 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 281 

Reproduktionspriifung unter die Leitung des Laboratoriums 
brachte. Aber trotzdem muBten sie alle die Frage nach den Ge- 
setzen der elementaren A. u. R. unbeantwortet lassen, Sie konnten 
sie nicht beantworten, einfach deswegen, weil sie nur das vnllens- 
md/Uge Gedachtnis, die vnllensmajlige Einpragung und Repro- 
duktion zum untersuchten Tatbestand hatten. Indem 
man z. B. Reihen sinnloser Silben, wie ich sie neben- 
stehend abdrucke, zusammenstellte, wollte man mog- 
lichst gleiche Glieder von Assoziationsketten schaffen. 
Damit, daB man nun diese Reihen lemen lieB, glaubte 
man „sukzessive Hauptassoziationen“ zwischen je zwei 
aufeinanderfolgenden Gliedem zu stiften. Und schlieB- 
lich, wenn man die Vp. die Reihe spater wieder auf- 
sagen lieB, so sagte man, die erste Silbe reproduziere 
die zweite, diese die diritte usw. 1 ) Besonders tritt 
deutlich uns diese Meinung in der vielgebrauchten 
Treffermethode G. E. Mullers entgegen, wobei sich die 
Vp.-Reihen von Paaren sinnloser Silben u. a. mehr oder 
weniger oft einpragen muBte, um dann spater auf die 
eine vorgezeigte Silbe die darauffolgende, bezw. eine 
andere Silbe der Reihe zu nennen. Obwohl man bei alien 
diesen Experimenten die auBerliche Exaktheit ins 
Uebertriebene steigerte, ,,Gedachtmsapparate“ kon- 
struierte, um nur ja dafiir zu sorgen, daB die Silben strong 
sukzessiv in exaktem Tempo wahrgenommen werden 
sollten usw. — innerlich, im Sinne der elementarge- 
setzlichen Beweisfiihrung, sind alle diese Verfahren in- 
exakt. Vergleicht man z. B. die theoretischen SchluB- 
ausfiihrungen G. E. Mullers und Pilzeckers a ), wo die 
Reproduktionstendenz mit dem Gesetze der Massenan- 
ziehung parallelisiert wird, die DarsteUung a ~*b, c^d, e->f mit 
dem wirklichen Vorgang, dann ist ganz fortgefallen, daB es sich 
doch hier offenbar um willlcurliche Einpragung und unUkurliches 
Reproduzieren gehandelt hat. Das sind im allgemeinen Vorgange 
von hoher Kompliziertheit; man kann sie zwar begrifflich als 
Reihen von a-»b, c >d, e->-f symbolisieren, keinesfalls aber fiir 
elementare Assoziationen und Reproduktionen ausgeben. 

Selbstverstandlich hat hier kein glattes Uebersehen der Denk- 
und Willensbeteiligung vorgelegen, dazu sind die Erlebnisse doch 
zu handgreiflich, wohl aber eine theoretische AuBerachtlassung. 
Denn da man ja an der Richtigkeit der Kontiguitatsassoziation 
und -Reproduktion nicht zweifelte, die Untersuchung gleich auf 
die besonderen Faktoren richtete, so konnte man sich berech- 
tigt glauben bei vergleichenden Untersuchungen den konstan- 
ten Faktor zu vemachlassigen. Hatte man die gestifteten Asso- 


') Eine DarsteUung der hier bekampften Assoziationalehre und der 
haupts&chUchsten Literatur geben Ebbinghaus. Grundziige der Psychologie. 
I. Bd. 1909 und Offner, I>ehre vom Ged&chtnis. Berlin. II. Aufl. 1913. 
*) Experimenteile Beitrage zur Lehre vom Gedachtnis. Leipzig 1900. 


leuf 

schun 

meik 

fis 

kaach 

hot 

nal 

gap 

sosch 

zur 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



282 P o p p e I r c u t. e r , Ueber den Versuch einer Revision der 


ziationen als etwas vom Willen an sich Unabh&ngiges behauptet, 
so konnte es ja auch nichts ausmachen, wenn man die Vp. ver- 
anlaBte, das Vorhandene willensmaBig quasi herauszugeben. 
Man wertete dabei wohl die Willensbeteiligung als Erlebnis, er- 
kannte natiirlich auch die „assoziationskr8ftigende“ Wirkung 
der affektiven Willensbeteiligung — aber man lieB unbeachtet, 
dafi gerade die Ordnung der Reproduklion, der zeitliche Verlauf 
durch die Willensvorgange beeinfluBt werden muBte. 

Oerade die zeitliche Ord/nung, das Oesetdiche des zeitlichen Ver- 
• laufes ist das,worauf es der erkldrenden Psychologie ankommt. 1st nun 
der Verlauf der Reproduklion in der Form der gliedweisen Ketten- 
assoziaiion und Reproduktion a~*b^*c-*d-+e ->/ der elementare 
Vor gang ? Sicher ist, daB das durch willensmaBige Versuche 
nicht bejaht werden konnte, daB es einer ausdriicklichen Recht- 
fertigung bedurfte. Als ich selbst vor Jahren diesen Nachweis 
fiihren wollte, muBte ich mich vom Gegenteil iiberzeugen. Die 
platte Erfahrung, daB innerhalb bestimmter Grenzen die Re- 
produktion in der Ordnung verlauft, wie die Vp. sie will, muB 
notwendig die Frage auslosen, ob nicht auch die angeblich gliedweise 
Kettenassoziation und Reproduklion ein Produkt willensmafligen 
Ordnens sei ? 

Diese Frage wurde nicht gestellt, ja im Gegenteil, es wurde 
die Rolle des Willens als ordnenden Faktors damit begrundet, 
daB diese elementare kontiguitive Ordnung der Reproduktion 
durch Eingreifen willensmaBiger Prozesse abgeandert werde. 
Ganz klar liegt das zutage in der neuerlichen Aufstellung Achs 1 ), 
daB der Vorstellungsverlauf neben den assoziativ reproduktiven 
Tendenzen von den „determinierenden Tendenzen“ bestimmt 
werde. Als Beweis wird hier angefiihrt, daB, obwohl eine repro- 
duktive Tendenz bestiinde, nach wiederholtem Lemen des Wort- 
paares jaus—wel auf jaus hin wel zu sagen, durch Eingreifen der 
determinierenden Tendenz des Reimens auf jaus hin nun etvoa saus 
geantwortet werde. Nun muB aber doch die Frage sich aufdrangen, 
ob nicht auch die als elementar behauptete Ordnung, der willen s- 
m&Biges Einpragen und Reproduzieren zum Grunde liegt, ihr 
ganzes Dasein der Determination, also dem Willen des Versuchs- 
leiters und der Versuchsperson ihr Dasein verdankten? 

Aus den Versuchen, welche die undeterminierten, 
d. h. von der Denk- und Willensbeteiligung moglichst befreiten 
Vorgftnge der Assoziation und Reproduktion zum Untersuchnngs- 
ziel hatten, ergab sich die Notigung, die herkommliche Lehre 
von der kontiguitiven Assoziation und Reproduktion weitgehend 
abzuandem. 

Ich mochte noch ausdriicklich betonen, daB diese und die 
folgende Kritik nicht auf diejenigen Arbeiten zutreffen kann, die bei 
mehr praktisch gerichteter Fragestellung das willensmaBige 

1 ) N. Ach, Willenst&tigkeit und Denken, Gottingen 1905. A 7 . A eh, 

Willensnkt und Temperament, Leipzig 1910. 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elements ren Assoziation. 283 

Ged&chtnis untersucht haben, denen elementargesetzliche Frage- 
stellungen iiberhaupt femlagen, wie besonders den Arbeiten 
Meumanns 1 ). Selbstverstandlich haben wir all diesen Arbeiten 
sehr viel zu verdanken; nur fiir elementargesetzliche Fragen 
sind sie nicht entscheidend. Wesentlich ist aber, daB die Ueber- 
nahme dieser Untersuchungsmethoden durch die Psychopatho- 
logie, wie sie schon zu einer recht groBen Literatur gefiihrt hat, 
leider zumeist in elementargesetzlicher Absicht erfolgte, so daB 
man sich dem falschen Glauben hingab, auf diese Weise zu einer 
exakten Psychopathologie zu kommen. Diese von der Psycho¬ 
logic in die Psychiatric ubemommenen Methoden sind genau 
ebenso exakt und unexakt als die klinischen Untersuchungs¬ 
methoden. Fiir weiteres Material in dieser Hinsicht muB auf 
spater verwiesen werden. 

§ 2. Der elementare Reproduktionsvorgang, im Gegensatz 
zum determinierten. 'j 

,, Elementar" ist natiirlich ein relativer Begriff. Weil ein 
Referent mir vorwarf, ich hatte unterlassen, zu definieren, was 
hier darunter zu verstehen sei, so scheint das doch nicht so selbst¬ 
verstandlich zu sein. DaB eine Reproduktion zum mindestens 
elementarer verlauft, wenndie speziell ordnenden Denk- und 
Willenseinflusse fortfallen, scheint mir auch jetzt einer ausfiihr- 
lichen Begriindung nicht erst zu bediirfen. Es kann hier aber eine 
Unklarheit entstehen durch den Sprachgebrauch der Psycholo- 
gie von den „Elementen“, den nicht weiter zuruckfuhrbaren Er- 
lebnisbestandteilen. Diese Anwendung des Begriffes liegt hier 
fern, ich verstehe hier elementar nicht im Sinne der moglichst wenigen 
Erlebnisbestandteile, sondem im Sinne des Orundvorganges der 
Assoziation und Reproduktion, der durch Eingreifen anders- 
artiger Vorgange komplizierter werden muB. Sollte sich also etwa 
herausstellen, daB ein strukturell so einfacher Vorgang, wie a-+b, 
nur durch Eingreifen andersartiger Umst&nde vereinfacht 
wird, dann wiirde dieser Vorgang weniger elementar sein, als 
etwa ein Vorgang von 20 Bestandteilen, bei dem letzteres nicht 
der Fall ist. 

Als undeterminierte Vorgange der A. und R. haben diejenigen 
zu gelten, in denen ein auf eine bestimmte Ordnung zielender Ein- 
prdgungs- und Reproduktionswille fehlt, und durch das passive Ver- 
halten der Vp. ersetzt wird. Es ist dies.die vulgfire Art des Erfah- 
rungmachens: wir sind den Eindriicken passiv hingegeben, ein 
besonderer Einpr&gungswille hat nicht statt; bei der Reproduk¬ 
tion iiberlassen wir uns dem freien Gange der Erinnerungen. 
Die Falle, wo es auf eine Stoffeinpragung, etwa auf ein Auswendig- 
lemen ankommt, sind Ausnahmen. Ob dies Verhalten auch unter 
den Bedingungen des Laboratoriumexperimentes verwirklicht 
werden kaim, kann hier noch dahingestellt bleiben. 


*) Mewnann, Oekonomie und Technik des GedachtnisRes. Leipz. 1912. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



284 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der 


Digitized by 


Wir untersuchen hier zuerst reine Vorstellungsprozesse, 
die motorischen Vorgange miissen schon deshalb ausgeschlossen 
bleiben, weil sie in ganz besonderer Weise determinativ sind. 

Es ist also Fragestellung: tin Oeschehnis, das aus den suk- 
zessiv verlaufenden Empfindungen A B C D E F besteM, set ohne 
EinprdgungswiUen wahrgtnommen warden, wit verlauft die pas¬ 
sive Reproduktion, wenn etwa A spader als Reproduktionsmotiv 
■wieder gegeben wirdl Nehmen wir da ein bestimmtes Beispiel: die 
Vp. hat hintereinaDder eine Reihe von einzelnen Bildern gesehen, 
etwa 12 in 60 Sekunden. Nach einer Latenzzeit wird die Repro- 
duktion eingeleitet, etwa durch Vorzeigen des ersten Bildes. Der 
Ausfall des Experimentes ergibt: es ist gar keine Rede davon, dap 
etwa, wit es die atte Theorie wiU, nun die einzelnen Vorstellungs- 
bildchen hintereinander das Beumfitsein der Vp. passierten oder 
iiberhaupt einzeln in der kontiguitiven Ordnung auftrdten. 

Wir haben es nickt mit einem kettenartigen Ablaufen der Einzel- 
glieder zu tun, sondem mit einem Vorgang von mslen einzelnen 
Stadien. 

Das erste Stadium, das sich an das Wiedererkennen, an die 
Bekanntheitqualitat anschlieBt, ist zu kennzeichnen als das Sta¬ 
dium der mmmarischen Totalerinnerung, die sich am besten sprach- 
lich in allgemeinen DaB-Satzen kennzeichnen lftfit. „Erinnerung, 
daB Sie mir im Laboratorium eine Beihe von Bildern gezeigt 
haben“, ,,da8 ich eine Reihe von diesen Bildern gesehen habe“. 
Diese summarische Totalerinnerung enthalt nicht etwa die rasch 
hintereinander aufgetauchten Vorstellungsbildchen, sondem sie 
ist iiberwiegend unanschavlich. Sie ist eine verdichtete VorsteUung 
des ganzen Oeschehnisses, die sprachlich adaquat nicht wiederge- 
geben werden kann. Aussagen der Vppen sind: „Wissen um den 
damaligen Vorgang“, ,,blo8 gedankliches, unanschauliches Er- 
innem“, ,,Gefiihl des Ganzen“, „Hinweis auf das damalige Ge- 
schehnis“. Psychologen bevorzugen den Marbeschen Terminus 
,,BewuBtseinslage oder den AcAschen Ausdruck „BewuBtheit“. 
Es ist wichtig, sich durch eigene Versuche gerade iiber diese ersten 
Stadien der Reproduktion zu orientieren. Dabei ist zweckmaBig, 
sich des bekannten methodischen Hilfsmittels zu bedienen, die 
Reproduktion in verschiedenen Stadien durch die Selbstbeob- 
achtungsaufforderung oder sonstwie abzubrechen. 1 ) Es ist das 
ein Verfahren, das sich in der Psychologie mindestens ebenso 
heuristisch erweist, wie die ahnliche fraktionierte Destination 
fiir den Chemiker. Der Versuchsleiter gibt also etwa das Re¬ 
produktionsmotiv und unterbricht den Reproduktionsvorgang 
etwa nach 1 / l0 , y 4 , 1,0, 2,0 Sekunden, um dann die Schilderung 
des soeben Erlebten zu bekommen. So gelingt es muhelos, dieses 
meist sehr kurz dauernde I. unanschauliche Stadium zu erfassen. 
Gerade dieses zeigt die denkbar groBte Heterogenitat gegen- 


x ) Vgl. hierzu die Di-skiission und Vortrag Baades , PsychologenkongreB 
zu ( iottingen 1914. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psvchophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 285 


liber der Theorie der gliedweisen Kettenreproduktion der ein- 
zeinen Vorstellungsbildchen. Es sind eben die einzelnen anschau- 
lichen Vorstellungen der Bildchen gar nicht vorhanden, und doch 
wird das friihere Geschehen in verdichteter Form wiedererlebt. 
Es ist auch nicht etwa eine Somme von undeutlichen oder frag- 
mentarischen Einzelvorstellungen, sondern eben ein Ganzes, 
die Yoratdlung eines Geschehnisses. Sind schon in dem ersten Sta¬ 
dium anschauliche Vorstellungen aufgetreten, so handelt es sich 
doch nur urn %nschauliche Teile eines im wesentlichen unanschau- 
lichen Erlebnisses. Es ist also etwa bei unserem Beispiel das Labo- 
ratoriumszimmer mit der Versuchsanordnung fragmentarisch an- 
schaulich gegeben, mit der „Bedeutung“, des Bildergeschehens. 

Ohne scharfe Grenzen geht dieses Stadium in das zweite iiber, 
das zu kennzeichnen ist, als das Stadium der Differenzierung der 
Einzelheiten. Es werden einzelne Teile des Geschehens, in unserm 
Beispiele also einzelne Bilder, anschaulicher und differenzierter. 
Auch hier ist noch ein im wesentlichen unanschaulicher Hinter- 
grund des Ganzen gegeben; die anschaulichen Teile machen nur 
einen mehr oder weniger groBenTeil des ganzen Erlebnisses aus. 
Die Vppen reden von einzelnen anschaulichen Fetzen. Mit dem 
Fortdauern der Reproduktion werden die Teile mehr oder weniger 
anschaulicher. Es ware aber eine falsche Kennzeichnung, wenn man 
dieses Auftreten der anschaulichen Teile eine sukzessive Repro¬ 
duktion a-*-b-»c-xi-»-e.nennen wiirde. Es handelt sich 

nicht um ein eigentliches Kommen und Gehen, oder auch nur 
um ein sukcessives Kommen im strengeren Sinne, also suk¬ 
zessive weiterschreitende Reproduktion, so wie sie die alte Theorie 
lehrte. Es ist vielmehr ein anschavliches Klarerwerden einzelner 
Teile in einem Erlebnis, das stets in alien seinen Phasen ein ein- 
heitliches Ganzes bildet. Deswegen schlage ich hier den Ausdruck 
vor „allm&hliche Explikation der anschaulichen Teile von Total- 
vorstellungen“. Also explicatio von Teilen, die in einem Ganzen 
impliziert sind. 

Sehr wesentlich ist nun die Ordnung der Explikation. Man 
konnte die alte Theorie wenigstens teilweise darin gerettet finden, 
dab das Gesetz der kontiguitiven Reproduktion in ein Gesetz der 
kontiguitiven Explikation zu verwandeln sei. Ich habe hier sehraus- 
fiihrliche quantitative Bestimmungen immer wiederholt, aus denen 
sich ergibt, daB die Explikation, die Reihenfolge des Auftretens 
der einzelnen anschaulichen Teile, dem Gesetz der engsten Konti- 
guitdt nicht gehorcht. Es expliziert sich nicht zuerst b, dann c, 
dann d usw., sondern die Explikation scheint eine vdllig regeUose 
zu sein, es kommen die Teile in einer Reihenfolge, die mit der ur- 
spriinglichen kontiguitiven Ordnung nicht mehr iibereinstimmt, 
zuerst vielleicht c, dann b, dann f usw. Zudem laBt sich eine 
strenge sukzessive Reihenfolge iiberhaupt nicht feststellen. Die 
Vp. sagt etwa: besonders deutlich wurde mir das Bild mit dem 
rot, das grime war zwar auch noch etwas deutlich, die iibrigen 

Honatuchrlft f. Piychiatrle u. Neurologle. Bd. XXXVII. Heft 5. 19 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




286 Poppelreuter, Uebar den Versuch einer Revision der 


aber verschwommen. Die bestimmende Gesetzm&Bigkeit fiir die 
Reihenfolge der Explicatio werden wir erst spater kennen lemen. 

Das theoretisch wesentlichste der Analyse des zweiten 
Stadiums ist folgendes: die alte Theorie behanddte die Reproduk- 
tion als einen zeitlich strong sukzessiven Ablauf von Vorstellung 
zu Vorstellung. So richtig das ist, wenn man nur eine ganz 
grobe Analyse will, so falsch ist das bei genauerem Zusehen. 
Was man da als einzelne Vorstellung zusammenfafite, erweist sich 
als ein Vorgang Von einzelnen Stadien. (Der gebrjiuchliche Ter¬ 
minus Vorstellungsofelauf ware deshalb wohl besser in -verlauf 
abzuandem.) Die explizierten Teile kommen nicht, um gleich 
wieder zu gehen, sie passieren nicht bloB, sondem sie kommen, 
um vorerst einmal dazubleiben; auch dieses Verhalten bekam 
in der alten Theorie keinen Ausdruck. 

Diese Explikation geht nur bis zu einem dritten, dem op- 
timalen Stadium, wo also die reproduzierte Totalvorstcllung 
des friiheren Geschehnisses in der, je nach den Umst&nden wech- 
selnden, bestmoglichsten Vollst&ndigkeit und Differenzierung 
vorliegt. Daran schlieBt sich nun das vierte Stadium, in welchem 
die Erinnerung nun wieder weniger differenziert und weniger 
anschaulich vorliegt, praktisch, von anderen sich geltend machen- 
den Reproduktionen allmahlich wieder aus dem BewuBtsein 
verdrangt wird. Es ist fiir eine psychophysiologische Theorie 
wesentlich auf diesen Charakter des An- und Abstieges ausdriick- 
lich hinzuweisen. 

Mit dieser Beschreibung ist nur eine Norm des Reproduk- 
tionsverlaufes gegeben. Alle die vielen Besonderheiten und Kom- 
plikationen verwischen diese Norm bald mehr, bald weniger; 
fast immer lassen sich aber im Experiment die Abweichungen 
gesetzlich aufklaren. DaB besonders das erste imanschauliche 
Stadium wohl a 11 e r Reproduktionen der psychologischen Fest- 
stellung so sehr entging, daB man die unanschaulichen BewuBt- 
seinsinhalte als spezifische Bestandteile nur des Denkver- 
laufes in Gegensatz zum elementaren, assoziativen Verlauf brachte, 
das beruht, abgesehen von der Schwierigkeit im Feststellen 
des Unauschauhchen, darauf, daB bei experimentellem Vorgehen 
fast stets die Reproduktionen schon vor dem eigentlichen Beginn 
des Versuches eingeleitet sind. Wenn eine Vp., die gestem sinn- 
lose Silben gelesen hat, heute wieder ins Laboratorium kommt, 
sich vor die Versuchsanordnung setzt usw., so ist das erste Stadium 
der Reproduktion langst abgelaufen, ehe der Versuchsleiter den 
Versuch beginnt. In dieser Hinsicht sind sichere Beobachtungen 
des taglichen Lebens, Falle von unvermuteter Einwirkung eines 
Reproduktionsmotives, beweisender als Laboratoriumsexperi- 
mente. Weiterhin wurden diese Stadien auch deshalb auBer acht 
gelassen, weil der Versuchsleiter ja eine bestimmt determinierte 
Leistung, etwa die sukzessive Angabe der gelesenen Silben oder 
gesehenen Bilder verlangte. 

Diese Totalreproduktion von Geschehnisvorstellungen ist 
der allerscharfste Gegensatz zu der iiblichen Lehre, welche die 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophj-siologisclien Lehre von der elementaren Assoziation. 287 

Reproduktion als das vorsteUungsm&Bige Wiederablaufen der 
Empfindungskette darstellten. 

'Eine emfache Erwagung biologischer Natur: in der weitaus 
groBten Mebrzahl der Falle praktischer seelischer Betatigung kommt 
es ja gamicht auf das genaue Wiedererleben des friiher Empfundenen 
an, sondem nur auf die Bereitschaftsstellung der 
friiheren Erfahrungen. Die seelische Betatigung auch bei der Re¬ 
produktion ist fast stets determiniert, in einer jeweiligen Situ¬ 
ation ist die Benutzung fruherer Erfahrungen meist einer beab- 
sichtigten Neuordnung, Verwertung, unterworfen. Z. B.: Man 
hat etwa einer krimineUen StraBenszene beigewohnt, da kann der 
Richter den Zeugen fragen, vie lange hat es gedauert, welche 
Personen haben Sie erkannt, war der Soundso betrunken? usw. 
Je nach diesen Fragen wird die Reproduktion anders determiniert. 
Und doch liegt ein und dieselbe Totalerinnerung hier zum Grunde, 
je nach der Determination ist die Explikation verschieden. Die 
verdichtete TotalvorsteUung der elementaren Reproduktion gibt nur 
das Stenogramm, am dem nur das fur den jeweiligen Zweck ndtige 
genauer gelesen wird. 

Eine — und nicht einmal die leichteste und haufigste — 
spezielle Determination ist die vergangenheitsgetreue Reproduk¬ 
tion des friiheren Geschehnisses in der kontiguitiven Ordnung* 
welche die alte Theorie als die elementare behauptet. Elementar ist 
die Totalreproduktion, die das Material fur alle moglichen willens- 
maBigen Gestaltungen abgibt. Hat man etwa bei experimenteller 
Priifung dieser Sache eine Reihe von 20 Bildem vorgefiihrt, die 
in regelloser Folge verschiedene GroBen, verschiedene Farben, 
verschiedene Arten von Gegenstanden darstellen, so kann man 
das gut verfolgen: die undeterminierte Reproduktion, die „Er- 
innerung an die Reihe", ist zuerst die verdichtete TotalvorsteUung 
mit den ganz unregelmaBig explizierten Einzelbildem. Deter¬ 
miniert man nun, immer aufgrund dieses einen Empfindungs- 
erlebnisses: nenne von der gestem gesehenen Reihe 1. die groBen 
Bilder, 2. die bunten Bilder, 3. etwa die Tierbilder, 4. die Zahl 
der Wiederholungen usw., stets hat die (anschauliche) Explikation 
eine bestimmte Ordnung, sie befolgt eine Begiinstigurg des Ver- 
langten. 

Analysiert man diese determinierten Reproduktionen, so 
ergibt sich, dafi der Tatbestand der undeterminierten Reproduk¬ 
tion auch hier stets zum Grunde liegt. Auch bei der Aufgabe aUe 
TierbUder der Reihe zu nennen, ist zuerst die verschwommene 
Totalerinnerung des ganzen Geschehnisses da, bei der weiteren 
Reproduktion werden die Tierbilder nicht allein, sondem nur 
uberwiegend klarer expliziert usw. 

Das gibt den zwingenden Grund, hier von einem elementaren 
Reproduktionsvorgang zu reden\ 

Der elementare FaU der friiheren Theorie, daB die VorsteUung 
a die VorsteUung b hervorrufe, ist experimenteU iiberhaupt nicht 
herstellbar. Ein solcher Fall laBt sich wohl nur darstellen ent- 

19 * 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



288 Poppelrouter, Ueber den Versuch einer Revision der 


weder durch begriffliche Vereinfachung, indem man einen langeren 
Vorgang eine Vorstellung nennt oder aber scheinbar durch ein© 
auf die Einfachheit gerichtete Willensordnung. Man versuch© 
doch die Sache so einfach wie moglich zu machen: eine bestimmte 
blaue Figur sei mit einer bestimmten roten in zeitlicher Kon- 
tiguitat hftufig wahrgenommen. DaB nun die Beproduktion so 
verliefe: „an das Sehen der blauen Figur schlieBt sich die Vor¬ 
stellung der roten“, davon ist gar keine Rede. Vielmehr: ist das 
Verhalten passiv und wird eine Vorbereitung der Reproduktion 
vermieden, indem die blaue Figur ganz unvermutet gezeigt wird, 
dann erinnert sich die Vp., ,,da8 sie diese Figur zusammen mit 
einer roten unter den und den Umstanden sehr oft wahrgenommen 
hat“. Wir haben also auch hier eine Totalerinnerung an ein Ge- 
schehnis mit anschaulichem Teil, nicht „ein Auftreten der Vor¬ 
stellung b“. Das scheint nur dann der Fall zu sein, wenn der Ver- 
suchsleiter die Aufgabe stellt, zu der vorgezeigten die zusammen 
gesehene Figur zu nennen, und dann das Nennen des Bildes als 
Reproduktion protokolliert. 

Mit Recht hat man schon immer frtiher das Vorgehen der 
Assoziationspsychologie die Vorstellungen als Abbildchen der 
Empfindungen zu behandeln, kritisiert. Wundt sprach ironisch 
von den „Doubletten“ der Empfindungen. Doch haben sich alle 
die dahinzielenden Argumente nicht auf die elemental© Repro¬ 
duktion, sondem auf den komplizierteren hoheren Vorstellungs- 
ablauf gerichtet. 

Was ist denn nun eine Vorstellung? In den Lehrbiichem 
meint man diese Frage am besten zu beantworten durch die Auf- 
forderung: stelle dir doch einen Apfel vor! So gewiBesist, daB 
daraus bei vielen Personen ein „Vorstellungsbild“ resultiert, 
das man wegen der gleichen sinnlichen Qualit&ten wohl als Dou- 
blette der Empfindung bezeichnen konnte — so gewiB ist auch, 
daB dieses Vorstellungsbildchen Ergebnis unUkiirlichen Visuaii- 
sierena ist, daB sich solche Vorstellungen nur einstellen, wenn 
sich jemand ,,einen Apfel anschaulich vorstellen will“. Ueber 
die speziellere Genese dieses Vorganges wissen wir noch so gut 
wie nichts. Uebrigens, daB solche Vorstellungen nicht die elemen- 
taren sein konnen, geht ja schon daraus hervor, daB eine Anzahl 
von Menschen zu einem solchen hochst anschaulichen Visualisieren 
iiberhaupt nicht fahig sind — und die miiBten in Konsequenz 
der Assoziationspsychologie die kompletesten Idioten sein! Diese 
Produkte willkurlichen Vergegenwartigens sind Ausnahmeerleb- 
nisse, die auf komplizierteren, spezielleren Bedingungen beruhen. 
Diese Vorstellungen als ' elementare erkl&rend zu verwenden, 
bedeutet einen Circulus vitiosus. 

Schade, daB der Begriff „Gedachtnis“ gerade von unserer 
Wissenschaft durch die naturphilosophische Neigung, Analogien 
fiir Identitaten zu nehmen, so verwassert worden ist. Die Vulgar- 
psychologie versteht unter ,,Gedachtnis“ fast nur die willens- 
maBige Rekonstruktion, die absichtliche Vergegenwartigung des 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 289 


Digitized by 


Friiheren: wenn etwa gelernte Worte so wie sie gelemt worden 
sind, reproduziert werden. Sie scheidet davon stronger als die 
wissenschaftliche Psychologie die ,,Erinnerung“ und die „Er- 
fahrung”. Nach unseren Ergebnissen ist die elementare Repro- 
duktion das 'passive Erinnem, das „ins BewuBtsein kommen“. Es 
ist lehrreich, feststellen zu miissen, daB hier die Wissenschaft die 
genauere Tatsachentrennung der Vulgar psychologie unklar ge- 
macht hat. 

Nur scheinbar sind also die iiblichen experimentellen Ge- 
d&chnisvorg&nge mit „exaktem“ Material elementarer als freie 
Erinnerungsvorgange. Wenn man, wie ich es nun jahrelang ge- 
tan habe, die elementaren Laboratoriumsreproduktionen mit 
Fallen des freien Vorstellungsverlaufes vergleicht, dann bieten 
letztere inbezug auf das Wesentliche densdben Tatbestand dar. 
Man wird auf der StraBe gegriiBt und man erinnert sich passiv, 
„daB man sich mit dieser Person in einer Gesellschaft unterhalten 
hat“ usw. Auch hier kein sukzessives Durchlaufen der einzel- 
nen Erlebnisbestandteile, sondem eine verdichtete Totalvor- 
stellung des Geschehnisses, mit mehr oder weniger anschaulichen 
Einzelheiten. 

Wichtig sind hier die zeitlichen Verh&ltnisse: Die iibliche 
Lehre nahm es als selbstverst&ndlich hin, daB die Schnelligkeit 
des Ablaufens der einzelnen Vorstellungen bedingt sei durch die 
„St&rke“ der zwischen den einzelnen GUedem bestehenden Asso- 
ziationen. Vor alien Dingen stellte sie den Reproduktionsverlnnf 
parallel dem Empf indung sverl&ui, indem sie die sukzessive Re- 
produktion der kontiguitiven einzelnen Glieder lehrte. Die Sach- 
lage ist aber eine ganz andere. Selbst wenn das Empfindungs- 
gescbehen etwa 10 Sekunden gedauert hat, in einem Beispiel etwa 
ein Bild in jeder Sekunde gesehen worden ist, so kann doch trotzd m 
bei der Reproduktion in einer Reproduktionszeit von nur 
1 Sekunde eine Vorstellung des ganzen Geschehnisses auftreten. 
Die zeitlichen Verhaltnisse, die bei den Empfindungen wirklich 
verlaufende Zeit sind, sind in der Reproduktion nur phanomenal 
erlebte. Die Dauer des Reproduktionsvorganges, des Verlaufes 
der einzelnen Stadien, steht zur Dauer des zugrunde liegenden 
Empfindungsvorganges in keinem direkten Verhaltnis. 

Um mit wenigen Sfttzen den elementaren Reproduktions- 
vorgang zu charakterisieren: 

Die Reproduktionstendenz geht nicht sukzessiv von Teil zu 
Teil in der kontiguitiven Ordnung, sondem sofort auf die TotaXi- 
tdt der jeweiligen Oeschehnisvorstellung. Das Reprodukt entunckelt 
sich zwar in einzelnen Stadien aus dem Unanschaulichen heraus 
sukzessiv zur groweren Anschaulichkeit und Differenzierung der 
Teile, zu grdfSerer VoUkommenheit; es ist aber stets das Erlebnis 
in alien seinen Stadien ein Ganzes, eine mehr oder weniger voU- 
stdndige Geschehnisvorstellung. Die sukzessive Reproduktion eines 
Gliedes nach dem andem ist nicht das elementare Verhalten, 
sondem Produkt willensm&Biger Determinierung, also im Sinne des 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



29J Poppelreuter, Ueber den Versuoh einer Revision der 

Beweisens eins von den willensm&Bigen Kunstprodukten, an 
denen die Psychologic leider so reich ist. 

Man mag hier eine einfache Erwagung biologischer Natur 
gelten lassen: wenn die alte Theorie, die als elementaren Repro- 
duktionsvorgang die Wiederholung des perzeptiven Oeschehens 
als sukzessives Vorstdlungsgeschehen behauptet, richtig ware, 
so lage darin doch eine ganz ungeheure Diskrepanz mit der prak- 
tischen biologischen Funktion. Es kommt ja, mit den verscnwin- 
dend geringen Ausnahmen der motorischen Einiibungen und des 
Auswendigler ( nens, wohl fast nie auf die vorstellungsmaBigen 
Wiederholungen der friiheren Empfindungen, resp. Wahmeh- 
mungen an, sondern auf die Verwertung der friiheren Erjahrungen 
zu gegenwdrtigem Oebrauche. Was ware das fur eine iiberflussige 
Einrichtung, wenn beim Horen „Festgemauert in der Erden“ 
sofort der ganze Reproduktionsmechanismus abschnurren resp. 
ausdriicklich gehemmt werden miisste ? Es ist ja ein wahres Gluck, 
daB die Theorie Unrecht hat, daB die friiheren Wahmehmungen 
in Form der verdichteten Geschehnisvorstellungen reproduziert 
werden. Weiterhin: In teleologischer Abkiirzung kann man sagen: 
die passive Reproduktion hat an sich gar keine sdbstandige 
Aufgabe, da jede augenblickliche vitale Situation seelischer Be- 
tatigung unter der Leitung eines von Fall zu Fall weehselnden 
bestimmten Zweckes bezw. einer bestimmten Absicht steht. Darin, 
daB diese augenblicklichen Zwecke von Fall zu Fall mannigfachst 
variieren, liegt schon die Forderung einer gewissen Totalitat und 
Indifferenz des Reproduktes. Die passive Reproduktion bietet 
das allgemeine Material dar, die spezidle Oestaltung ist Sache der 
verschiedenen jeweiligen Umstdnde. Es ist dazu die sukzessive 
Wiederholung des Friiheren der denkbar ungiinstigste, die Dar- 
bietung von verdichteten Totalvorstellungen der gunstigste Mecha- 
nismus. Wir werden das noch spater naher auszufiihren haben; 
ich habe diese Satze deswegen hier schon hingeschrieben — trotz 
der Gefahrlichkeit biologisch-teleologischer Ueberlegungen — 
weil mir gerade hierin die Berechtigung liegt, die passive Repro¬ 
duktion als den Orundvorgang hinzustellen, als das Grundlegende 
fur den sog. „hoheren‘‘ Vorstellungsablauf Der hohere Vorstellungs- 
verlauf ist der denk- und willensmaBig geordnete. Um diese er- 
klarend zu verstehen, mtissen wir auf das dieser speziellen Ord- 
nung zugrunde liegende Material zuriickgreifen. Diese „niederen“, 
elementaren Vorgange haben wir in der hier gesohilderten Re¬ 
produktion vor uns.J 

Im vorangegangenen haben wir uns nur eine allgemeine Charak- 
terisierung verschafft. Natiirlich ist hier von aQ den Besonder- 
heiten, der Lange und Kompliziertheit der Geschehnisse, von der 
Art des sinnlichen Materiales, Haufigkeit der Wiederholung, 
Llinge der Latenzzeit, Dauer der Explikation usw., abgesehen 
worden — alles Dinge, die sich erst im Rahmen einer exakten 
psychophysiologischen Theorie besprechen lassen. Vorher bedarf 
es aber eines kurzen, gesonderten Eingehens auf die motorischen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 291 


Vorgange. Fur die Klarheit der Probleme ist es nicht forderlich 
gewesen, daB bei der experimentellen Untersuchung unseres Gegen- 
standes fast immer die Komplikation mit dem Motorischen vor- 
gelegen hat. Besonders gilt das fiir die iiberwiegende Verwendung 
sprachmotprischen Materiales. Abgesehen von der Bequemlich- 
keit der Herstellung war hierfiir bestimmend das Ideal experi- 
menteller Exaktheit. Sprachmotorisches Material ermCglicht 
in exquisiter Weise qvuantifizierbare Reproduktionen, im Gegensatz 
etwa zu optischem Materiale. Dazu kam der Fanatismus des 
Messens. Jede direkte psychologische Zeitmessung bedarf des 
motorischens Reagierens. Bei sprachlichem Materiale — besonders 
bei der Treffermethode — schien diese Messung ausgezeichnet zu 
gelingen. Dabei schematisierte man zweierlei: Man lieB etwa bei sinn- 
losen Silben die motorischen Spracbimpulse ebenso glied-, ketten- 
artig assoziiert sein, wie die VorsteUungen, also die „Klang- und 
Schriftbilder“. Man statuierte zwei Parallelketten, die eine 
Kette aus Sprachvorstellungen, die andere Kette aus Sprach- 
impulsen. Dabei verschwieg die Theorie, daB, wenigstens bei Labo- 
ratoriumsexperimenten, alle motorischen Reaktionen nur auf 
Grund von einleitenden Willensvorgangen stattfinden konnen, 
d. h. nicht Bewegungen, sondem ,,Handlungen“ sind. Zwischen 
„Ketten assoziativ aneinandergereihter sprachmotorischer Im¬ 
pulse “ und einem willensmaBigen, sukzessiven Aussprechenist aber 
doch ein ganz gewaltiger Unterschied! Zum zweiten iibersah man 
die ganz erheblichen Veranderungen, welche das zum Zwecke 
der Zeitmessung hervorgerufene motorische Reagieren in dem 
ganzen ReproduktionsprozeB hervorbringt. Bei alien diesen, 
die „Reproduktionszeib“ messenden Versuchen — ich erinnere 
nur an die Treffermethode, wo die Zeit zwischen dem Zeigen der 
einen Silbe bis zum Aussprechen der ihr folgenden Silbe gemessen 
wird — besteht eine vorherige motorische Einstdlung , die, von Fall 
zu Fall verschieden, den ReproduktionsprozeB im Sinne des mo¬ 
torischen Reagierens beeinfluBt. Dadurch bekam man dann, 
bei vorangegangener reichlicher sprachmotorischer Einiibung, 
solche Falle, wo unmittelbar die auf die vorgezeigte folgende Silbe 
sich motorisch einstellte. So entstand der Schein, als wenn, bei 
sprachlichem Material, die gliedweise Assoziation und Repro¬ 
duction, die man theoretisch schon voraussetzte, auch wirklich 
vorhanden sei. Aber es ist ja gerade die spezifische Wirkungs- 
weise der determinierenden Tendenzen, daB sich der Vorgang all- 
inahlich mechanisiert; je langer man die Uebung fortsetzte, um 
so eher schien die Reproduktion eine streng kettenartige zu sein. 
Umgekehrt nahm man dann wieder die Ordnung der motorischen 
Reaktionen fiir die Ordnung der reproduzierten VorsteUungen. 

Die motorischen Impulse miissen, das ist physikalisch selbst- 
verstandlich, eine streng sukzessive zeitliche Verlaufsweise haben, 
es miissen die betretfenden Muskeln in strenger zeitlicher Ord¬ 
nung innerviert werden. SoU eine Reihe sinnloser Silben hinter- 
einander aufgesagt werden, so ist eine streng sukzessive motori- 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



292 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der 


sche Bildung der einzelnen Sprachelemente natiirlich notwendig. 
Arbeitete man nun mit der Voraussetzung der kontiguitiven 
Assoziation und Reproduktion, machte man femer die unzu- 
treffendeVoraussetzung von dem parallelenVerlauf der eigentlichen 
Sprachvorstellungen und der motorischen Impulse, dann erblickte 
man in dem streng sukzessiven, kontiguitiven Verlaufe der einzel¬ 
nen reproduzierten Glieder den elementaren, natiirlichen Vorgang. 
Auch ganz abgesehen davon, ob man wenigstens fur die ,.motori¬ 
schen Assoziationen und Reproduktionen‘‘ das Gesetz der kon¬ 
tiguitiven Ordnung gelten lassen kann oder nicht, liegt hier doch 
eine Verkennung des vollig heterogenen Verlaufe# der eigentlichen 
Vor8teUungen und der motorischen Impulse zu Grunde. Es ist 
ja gerade die wohlbekannte spezifische Leistung des Sprach- 
motorischen, daB simultan bestehende akustische Vorstellungen 
zu einer sukzessiven motorischen Umsetzung fiihren. Wenn 
einer Vp. 6 Zahlen vorgesprochen werden, so hat die Vp. 
hinterher eine simultane akustische Vorstellung der Lautfolge, 
die nur phanomenal zeitlich gegliedert, nicht eine wirklich 
stattfindende Sukzession ist. Wenn die Vp. diese 6 Zahlen nach- 
sprechen soli, dann erfordert das die Umsetzung in sukzessive 
Artikulationen, eine Leistung, die ins Gebiet der Willenshand- 
lungen, der Eupraxie, gehort, und unter dieser Problemstellung 
erklart werden muB! Vom Lesen weifl man schon lange, daB nicht 
die sukzessiv gelesenen einzelnen Buchstabenelemente die ent- 
sprechenden akustischen Vorstellungen und sprachmotorischen 
Impulse sukzessiv parallel auslosen, etwa nach dem Schema: 

-► 

(optisch) V a t e r 

I I I 1 I 

(akastisch) V a t e r 

l l l l l 

(motorisch) V a t e r 

sondern es lost ja das simultane Schriftbild das simultane Klang - 
bild aus, und dieses wird in die sukzessiven motorischen Artiku¬ 
lationen umgesetzt. Das Schema hierfur wiirde also sein: 
(optisch) (V a t e r) 

I 

(akustisch) (V a t e r) 



(motorisch) V 

a 

t 

N 

e 

_ r 

l ) Ich erinnere hier an Liepmanns der Handlung vorausgehenden 
„Entwurf“, der auch nicht sukzessiv, sondern simultan ist. 


Digitized 




Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 293 

Wie das hier im Kleinen ist, so ist das bei der sprachmotorischen 
Wiedergabe der Beihen gelesener Silben oder Worte im groBeren 
MaBstab. Auch hier fiihrt eine simultan bestehende akustische 
Lautfolgevorstellung zur sukzessiven motorischen Dmsetzung auf 
Grundvondarauf gerichteten Willensordriungen. Keines- 
falls liegen bier sukzessive motofische Assoziationen und Repro- 
duktionen vor. Denn das wiirde besagen: ist eine Reihe jaus — 

wel — kip — for.laut gelemt worden, so schlieBt sich an 

den sprachmotorischen Impuls jaus der von wel, an diesen der 
von kip. Das hat man immer behauptet, ohne die Tatsachen zu 
befragen. Denn ohne eine vorausgehende, willensmaBige Ein- 
stellung schlieBen sich die Impulse nie so kettenartig aneinander. 
Man mag noch so oft die Reihe laut gelesen haben, ohne eine aus- 
druckliche motorische Determination erfolgt auf das Erleben des 
Reproduktionsmotives jaus nie und nimmer die sukzessive mo¬ 
torische Realisierung. Meine Versuche lehrten: selbst ein lOOOmaliges 
lautes Lesen in 10—20 tdgvger Verteilung der Reihe vom 
Typus jaus — wel vermag es nicht, derartige ,,motorische Asso¬ 
ziationen“ hervorzubringen , dap ohne motorische Determinierung 
eine motorische Umsetzung sich voUzieht. Wenn auch schlieBlich 
ein fast unmerkliches Minimum an motorischer Determinierung 
geniigen kann um eine motorische Kette zum Ablaufen zu bringen, 
— die motorische Determinierung, die da immer bei der Einiibung 
vorangegangen ist, darf doch nicht ignoriert werden. Mag es 
auch immerhin solche ,,passiven motorischen Assoziationen und 
Reproduktionen“ geben, fiir die Tatbestande des Laboratoriums 
sind sie nicht vorhanden. 

Fiir die Heterogenitat des Verlaufes der ,,motorischen Re- 
produktionen“ und der passiven Vorstellungsreproduktion nur 
noch eine Illustration: hort die Vp. bei paMtvemVerhalten ,,Vater 
unser“, so wird sie darauf hin an das Gebet ,,denken“, die akustisch 
anschauliche Vorstellung ist anschauliches Detail einer verdich- 
teten Totalvorstellung. Stellt sich aber die Vp. auf sprachmotori- 
sches Reagieren ein, so wird sie „automatisch“ mit der sprach¬ 
motorischen Fortsetzung reagieren. 

Auf die nahere Genese der motorischen Vorgange kann hier 
nicht eingegangen werden, das ist ein Gebiet fur sich; wir miissen 
sie aber streng scheiden von den Vorgangen der elementaren 
Vorstellungsreproduktion. Es ware vorlAufig am besten, fiir die 
motorischen Vorgange die alles gleichmachenden Ausdriicke 
Assoziation und Reproduktion zu vermeiden. 

Das von der Psychologie so bevorzugte sprachliche Material 
ist also deswegen fiir exakte Untersuchung unseres Gegenstandes 
so wenig geeignet, weil die hier bestehende, durch jahrelange 
Uebung gefestigte motorische Determinierung sehr schwer, viel- 
leicht iiberhaupt nicht zu beseitigen ist. Trotzdem kann man, 
wie ich dies versuchte, auch an sprachlichem Material das Be- 
stehen des Totalitfttsgesetzes nachweisen. 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




294 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der 

§ 3 . Theorie des Vorganges der elementaren Assoziation 
und Reproduktlon. 

Ich gedenke im folgenden die Theorie streng durchzufiihren, 
dad die unmittelbare Grundlage der Reproduktion nicht gesucht 
werden kann in den Empfindungen resp. deren Nachwirkungen, 
sondern in den Auffassungen, dap die Gesetze des Assoziierens die 
Gesetze des Auffassens sind. 

Es ist eine alte, von der Assoziationspsychologie beseitigt 
und in der neueren Psychologie wieder zu Ehren gekommene 
Unterscheidung: die Zweiheit von Akt und Inhalt, die Zweiheit, 
die in dem Satze liegt: den Ton (Inhalt) wahrnehmen (Akt, 
Funktion). Es ist das keine nur logische Unterscheidung, wie 
dies nach der jetzt iiblichen, logisch gefarbten Darstellung dieses 
Problems scheinenkonnte. Leider ist der Ausdruck ,,wahrnehmen“ 
zu sehr mit Empfinden synonym gebraucht, so daB wir hier den 
Ausdruck ,,auffassen“ wahlen miissen. Die Assoziationspsycho- 
logie hat hier die Zweiheit beseitigt, indem sie den Ton als Em- 
pfindung mit dem wahrgenommenen Ton identifizierte. Stumpf 1 ) 
hat dagegen das Argument gestellt, die Trennung von Empfindung 
und Auffassung sei die nicht zu umgehende Konsequenz der 
innerhalb bestimmter Grenzenmoglichen, gegenseitigunabhangigen 
Variability: ein und dieselbe Empfindung kann das eine Mai mehr, 
das andere Mai weniger wahrgenommen, aufgefaBt werden. Ich 
mochte hier als Argument — das dieses letztere unter sich be- 
greift — in den Vordergrund stellen die heterogene Gesetzlichkeit 
des Empfimdens und Auffassens. Vorgange mit heterogener Ge¬ 
setzlichkeit miissen verschieden sein, das ist ein Satz von wohl 
axiomatischer Geltung. Setzen wir Empfinden und Auffassen 
als zwei Mechanismen, so gilt fur den ersteren das Gesetz 
des zeitlich streng eindimensionalen Verlaufes. Fur das Auffassen 
der Empfindungen gilt dies nicht, denn die Auffassung fiihrt zu 
Geschehnisvorstellungen, die simultan andauem und dabei die 
zeitliche Sukzession nur phanomenal enthalten. Wird eine Melodie 
gehort, so folgen sich die Empfindungen streng sukzessiv, die Wahr- 
nehmung, Auffassung der Melodie aber fiihrt zu einer Geschehnis- 
vorstellung, welche die vorangegangene Sukzession der Empfin¬ 
dungen simultan enthah. 

Die Quelle der falschen Theorie der Assoziat ionspsychologie 
kann man in einem Grundirrtume aufsuchen: in dem Basieren 
der A. und R. auf den Empfindungsvorgang. Die Lehre, die Em- 
pfindungsreihe A—B— C —D .... wird reproduziert als Vor- 

stellungsreihe A->b-»c-»d—.besagt ja nichts weiter, als 

daB die Vorstellungsvorg&nge nur (abgeschw&chte oder lvicken- 
hafte) Wiederholungen der Empfindungsvorgange sind. Wir 
sahen schon oben, daB das bloBe Konstruktion ist, daB Empfin¬ 
dungen und Reproduktionen ganz heterogene Verl&ufe haben, 

') Stumpf. Erscheinungen und Psychische Funktionen. Abh. der 
Kgl. Pr. Akademie d. VViss. v. J. 1906. Berlin 1907. 


Digitized by 


Goi igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




peychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 295 

Der Umstand, der hier die schlichten Tatsachen iibersehen lieB, 
war die Verschiebung des Problems in ein ganz anderes Gebiet. 
in das des „Zeitsinns“. Je mehr man hier in dem Bestre’ben nach 
physikalischer Exaktheit den Vorgang elementarer gestalten wollte, 
je mehr man mit gleichbleibenden Metronomschlagen u. a. arbeitete, 
desto mehr entfemte man sich von dem Vorgang der A. und R. 
So kam es, daB man schlieBlich sogar die durch das spezielle 
Experiment erzeugten Faktoren, Spannungs-, Erwartungsgefiihle 
usw. als ,,Faktoren“ des Zeitsinnes behauptete. Diese kiinstliche 
Einengung fiihrte dazu, daB man auf dem Gebiete der A. und R. 
die Geschehniswahrnehmung als unmittelbares ,,Gedachtnis“ 
als ,,perseverierende Empfindungen" usw. buchte, also als etwas 
ganz anderes. 

Eine einfache Ueberlegung fiihrt mit Notwendigkeit dazu, 
fiir die Reproduktion nicht die Empfindungsvorgange, sondern 
die Geschehniswahrnehmungen, Geschehnisauffassungen in An- 
spruch zu nehmen. Der Grundsatz der strengen psycho-physio- 
logischen Bedingtheit verlangt mit Recht die unmittelbare Grund- 
lage der Reproduktion in einem dispositionellen Hirnzustande. Die 
Ursache fur dieses „Engramm“ kann aber nicht schlechthin 
in dem vorangegangenen Empfindungsvorgang gesucht werden, 
wie fast allgemein geschieht, sondern in denjenigen Vorgdngen, 
die dem Bestehen der blofien Latenz unmittelbar vorangehen. Diese 
Vorgange sind nicht die Empfindungen , sondern die Geschehnis- 
auffassungen, allgemein gesagt die Auffassungsvorgange. Die 
Sachlage ist nicht so: 

(physiologisch:) Reiz — Engramm — Neuerregung, 

(psychologisch:) Empfindung — nichts —Reproduktion, 
sondern zwischen Empfindung und bloBe Latenz schiebt sich die 
Auffassung, die Geschehniswahrnehmung. Hat die Vp. 4 Zahlen 
gehort, so haben zwar die akustischen Empfindungen etwa in 
4 Sekunden sukzediert, aber nach der 4. Sekunde besteht eine 
Geschehnisvorstellung, eine Totalvorstellung, die ganze Reihe 
der 4 Zahlen ist im BewuBtsein simultan vorhanden. Diese Ge¬ 
schehnisvorstellung ist es, die allmahlich in das Stadium der bloBen 
Latenz iibergeht, und auf die dann die spatere Reproduktion 
bezogen werden muB. Danach ware die Reproduktion erst das se- 
kundkre, gegeniiber dem primaren der Geschehnisauffassung. 

Noch bevOr auf diesen Mechanismus der Geschehnisauf¬ 
fassung naher eingegangen werden soil, kann schon in der bloBen 
Tatsache eine Erklarung fiir den oben geschilderten Verlauf der 
elementaren Reproduktion leicht gefunden werden: es kommt 
deshaVb bei der Reproduktion zum Auftreten allmahlich sich ent- 
wickelnder Geschehnis-Totalvorstellungen, weil bereits in der Auf - 
fas8ung solche gebildet worden sind. Es ist deshalb auch verst&nd- 
lich, daB die Reproduktion nicht erst die Empfindungsreihe nach - 
einander wiederholt, sondern sogleich auf die Totalitdt geht . Das 
Engramm der Reproduktion ist ja der vor der Latenz bestehende 
Hirnzustand, und dieser ist das physiologische ,,Correlat“ der 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


296 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der 

Greschehnisvorstellung, welche das Vorangegangene simultan ent- 
halt. Wenn vor der Latenz eine Geschehnisvorstellung simultan 
bestehen kann, dann kann sie auch spater als simultane Gre¬ 
schehnisvorstellung reproduziert werden. 

Eine vollstandige Lehre der Reproduktion erfordert also 
eine Theorie der Auffassung, im besonderen des .Vorgangs der 
Greschehnisauf f assung. 

Die naheliegendste, die alte Theorie von Herbart , hat sich 
mit einigen Abwandlungen noch bis heute erhalten. Sie erklart 
die Zeit- resp. Gteschehniswahrnehmung damit, daB jede Em- 
pfindung eine entsprechende Vorstellung zuriicklieBe, welche 
eine Zeitlang noch im BewuBtsein bliebe. Wenn also die Em- 
pfindungen ABCD... sukzessiv verliefen, dann schlosse sich 
daran jedesmal eine Vorstellung, so daB am Schlusse die Vorstel- 
lungen abed.... zusammen vorlagen. Es sind an sich unwesent- 
liche Abwandlungen, ob man hier von „zentralen Nachbildem“, 
oder von „perseverierenden Empfindungen“ spricht. Ob diese 
Theorie nun richtig oder falsch sei, dariiber konnte man eigent- 
lich garnicht streiten. Sie ist unbezweifelbar richtig im Sinne der 
Elementaranalyse. Wenn man das komplexe Erlebnis in Em- 
pfindungs- und Vorstellungsteile auflost, dann wird man zu keinem 
andem Ergebnis kommen konnen. GlewiB, trotzdem liegt hier 
keine theoretisch befriedigende Problemlosung vor. Denn gegen 
diese Grundvoraussetzung, daB eine psychologische Theorie mit 
dem letzten Resultat der Elementaranalyse zu einem befriedi- 
genden AbschluB gekommen sei, lassen sich die schwersten Be- 
denken erheben. Denn wenn man das Hinterlassen der entsprechen- 
den Vorstellung, einerlei, ob hier Empfindung und Vorstellung 
nur quantitativ oder qualitativ getrennt wird, auch als Elementar- 
vorgang betrachten wiirde, selbst dann ist uns nur erklart, warum 
spater nach Ablauf der Empfindungen die Anzahl der betreffen- 
den Vor8tellungen besteht , nicht aber, warum diese Geschehnis¬ 
vorstellung in ihrer Totalitat eiwas durchaus eigenartiges ist , inso- 
fern sie eben die einzelnen Vorstellungen in der bestimmten phano- 
menalen zeitlichen Gliederung in sich enthalt. Die Hypothese, 
daB jede Vorstellung ein ,,Temporalzeichen“ bekame, ist keine 
Erklarung, sondem nur eine Zuriickschiebung des Problems, 
denn dann muB ja noch erklart werden, warum qnd wie aus den 
der einzelnen Vorstellung anhaftenden isolierten Temporalzeichen 
die zeitliche Ordnung des Ganzen, die doch eben ganz etwas anderes 
als die Summe der Temporalzeichen ist, entsteht. Die Herbarte che 
Erklarung, daB die einzelnen Vorstellungen sukzessiv blasser 
wiirden, und daB dieses Dunklerwerden mehr und mehr als Ver- 
gangenheit erlebt werde, hat, abgesehen von dem Einwand, daB 
dunklere Vorstellung nicht ohne weiteres auch zuriickliegendere 
Vorstellung ist, mit der Tatsache eine vemichtende Kollision, 

daB bei der Geschehnisvorstellung der Reihe A B C D E. 

nicht etwa a b die dunkleren sind, sondem die in der Zeitstrecke 
mittleren Vorstellungen. Grewohnlich hat man doch vom Anfang 


Go gle 


Original frn-m 

- UNIVERSITY OF MICHIGAN 




psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 297 


eines Geschehnisses eine klarere Erinnerung als von der Mitte; 
wiewohl die letztere zeitlich naher liegt. 

Auch die Theorie, welche die die zeitliche Ordnung durch die 
zwischen je zwei Gliedem bestehende, engste Assoziation erklart, 
kann bei der tatsachlichen Unrichtigkeit dieser Lehre nicht als 
Stiitze dienen. 

Trotz der Unzulanglichkeit dieser Lehren lege ich hier Wert 
auf die Feststellung, dab auch in dieser Form schon die Tatsache 
des an die Empfindungen sich anschlieBenden simultanen Be- 
stehens einer Totalvorstellung zu einer Widerlegung der iiblichen 
Lehrevonder sukzessivenKettenreproduktion hatte fiihren miissen. 
Z. B. hat Offner aus der Tatsache, daB die Empfindungen ,,per- 
8everierten“, die Assoziierung also spater als die Empfindungen 
stattfande, daraus nicht den SchluB gezogen, der zu einer Ueber- 
einstimmung mit den beobachteten Tatsachen hatte fiihren 
miissen. Sondem er wollte mit dieser Erweiterung der G. E. 
Mullerachen Theorie nur verstandlich machen, daB an die Stelle 
der „Hauptassoziation“ a->-b auch die „Nebenassozjation“ a-*d 
etwa treten konne, und daB zwischen Simultanassoziation und 
sukzussiver Assoziation kein wesentlicher Unterschied bestiinde. 

Alle diese Theorien sind erfunden unter der leitenden Idee, 
alles Psychische in Empfindung und Vorstellung aufzulosen, nicht 
durch induktiven Tatsachenzwang. Betrachtet man die Sach- 
lage nicht unter dieser Idee, dann wird man nicht umhin konnen, 
hier in der Geschehnisauffassung eine spezifische psychische Leis- 
tung, einen spezifischen nervosen Mechanismus zu sehen, den es 
vorlaufig gilt, moglichst genau kennen zu lemen. In diesem Sinne 
sei es verstanden, wenn wir sagen, die Psyche produziert die simul¬ 
tanen Geschehnisvorstellungen, auf Grund des Empfindungsmafe- 
rials. Darin liegt eben, daB es nicht gelingt, aus den bloBen Em¬ 
pfindungen und deren Vorstellungen allein die Leistung zu be- 
greifen, sondern daB hier eine spezifische psychische Arbeitsweise 
offenbar wird, die erst dann anzuzweifeln ist, wenn die Reduk- 
tion wirklich vollzogen worden ist. 

Die iibrigen Beziehungen zwischen Auffassung und Repro- 
duktion sollen ihre Ableitung erst finden, nachdem im folgenden 
eine Darstellungsweise entwickelt ist, die uns die Zusammenhange 
vielleicht auch psychophysiologisch verstandlich macht. 

§ 4. Das Prinzip der einander systemweise ttbergeordneten 
reglstrierenden Mechanismen. 

Es ist schon eingangs erwahnt, daB im vorliegenden der Leit- 
satz der moglichst elementargesetzlichen Untersuchung nicht 
gleichbedeutend ist mit dem Grundsatz der Elementaranalyse; 
der bekannten Forderung, die einzelnen nicht weiter zerlegbaren 
Bestandteile, die Elemente der Erlebnisse herauszuanalysieren. 
So wesentlich diese Aufgabe zur Erledigung bestimmter Frage- 
stellungen ist, sie ist an sich nur eine Unteraufgabe im Dienste der 
hoheren Forderung, die verschiedenen grundlegenden, elementaren 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



298 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der 

Leistungen der Psyche zu begreifen. Wie es dem Physiologen kein 
selbstandiges Forschungsziel ware, moglichst genau samtliche 
chemischen Elemente der Leber herauszuanalysieren, sondem wie 
es ihm Ziel ist, die physiologische Leberfunktion kennen zu lemen, 
so sind auch fiir den Psychologen, soweit er auf den Namen eines 
Naturforschers Anspruch erhebt, die elementaren seeHschen 
Leistungen Untersuchungsziel. DaB das von den Psychologen so 
wenig beachtet wurde, erklart, warum die Neurologie und Psychi¬ 
atric, der diese Betonung der elementaren Leistungen eine Selbst- 
verstandlichkeit ist 1 ), mit der groBen Masse der ,,BewuBtseins- 
tatsachen“, die die Selbstbeobachtung in der normalen Psychologie 
zusammengetragen hat, so wenig anfangen kann. 2 ) 

Die Einseitigkeit der Assoziationspsychologie war, den ganzen 
seelischen Mechanismus unter den einen Grundvorgang des Empfin- 
dens und des vorstellungsmaBigen Wiederholens der Empfindungen 
zu bringen: alle seelischen Leistungen variieren den einen Grund¬ 
vorgang a->b. Pate dieser Theorie war offensichtlich die Anatomic 
und Physiologic: das Zentralnervensystem besteht auch aus weiter 
nichts wie aus Zellen und verkniipfenden Fasem. Selbst wenn 
man es gelten lassen kann, daB Leitung und Zellregung als 
physiologische Grundvorgange zu gelten haben, so fiihrt das doch 
keineswegs zur radikalen Assoziationspsychologie in der iiblichen 
Form, denn die allerverschiedensten Funktionsweisen konnten ja 
hinsichtlich dieser Zweiheit miteinander ubereinstimmen. Bei der 
biologischen Vielfaltigkeit der Verrichtungen aller organischen 
Wesen ist das Bestehen eines einzigen Grundmechanismus schon 
von vomherein so unwahrscheinlich, daB das onus probandi der 
Gegenseite iiberlassen bleiben kann. Sei es auch, daB das eingangs 
erw&hnte Prinzip der Erfahrungsbedingtheit alles Psychischen 
strenge Geltung habe, so ist das doch nur ein zusammenfassender 
Grundsatz, der noch keineswegs zum Grundgesetz a->b fiihrt. Ganz 
verschiedenepsychische Arbeitsweisenkonnen dem einen Gesetz der 
Erfahrungsbedingtheit unterliegen. Wenn schon im Subkortikalen 
eine groBe Summe an sich selbstandiger Mechanismen vorhanden 
ist, ich erinnere nur an die Mechanismen der Atmung, der Kreis- 
laufregulierung, des Gleichgewichts, ist dann nicht schon von vorn- 
herein unwahrscheinlich,daB das GroBhirn ein so einfacher stereoty¬ 
per Mechanismus sei, wie ihn die Assoziationspsychologie darstellt ? 

Das Schwierige ist die Heraussonderung dieser Einzelmecha- 
nismen aus ihrem komplexen Zusammenarbeiten. Auf die be- 
weisendsten experimenta naturae, die die pathologische Einzel- 
storung liefert, kann sich die Psychologie natiirlich nicht allein 

*) Man fragt nicht danach, was der Aphasische erlebt, sondern priift, 
was er leistet. 

*) Ein Beispiel dafiir: Einer nach Hunderten von Nummem zahlenden 
Literatur iiber die geometrisch optischen Tausohungen steht in der normalen 
Psychologie keine einzige Abhandlung gegeniiber, die sich mit dem genaueren 
Studium der Leistung der zielgerichteten Wiilkiirbewegung beschaftigt hfttte. 
etwa fur Liepmanns Apraxieforschungen die normale Vorarbeit geleistet 
hatte. 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lebre von der elementaren Assoziation. 299 


stiitzen. Siebraucht es auch nicht,da ihrzur Trennung der seelischen 
elementaren Einzelmechanismen andere Methoden zur Verfugung 
stehen. Diese unterwerfen sich alle dem naturwissenschaftlichen 
Grnndsatz, daft Vorgange verschiedene sind, die eine verschiedene Ge- 
setzlichkeit haben. Methoden, die diesem Prinzip njicht folgen, wie 
etwa die von Stumpf, die sich auf das unmittelbare Selbsterleben 
der psychischen Funktionen beruft, konnen hier nicht in Betracht 
gezogen werden. 

Die Einzelmechanismen und ihr Zusammenarbeiten in der seeli¬ 
schen Totalitfit miissen auch psychophysiologisch, als Leistungen 
materiellen Geschehens begriffen werden. Es liegt kein AnlaB vor, 
dieser Aufgabe, die in der Sinnespsychologie so heuristisch sich 
erwies, auf dem Gebiete der intellektuellen Leistungen so angstlich 
aus dem Wege zu gehen, wie dies ganz neuerdings Mode geworden 
ist. Der hier stets wieder — gerade von nicht naturwissenschaft- 
licher Seite — erhobene Einwand, die feineren physiologischen 
Vorgange seien uns doch noch zu unbekannt, als daB es verlocken 
konnte, den Boden der rein psychischen Empirie zu verlassen, soli 
uns hier nicht storen. Denn dieser operiert immer mit jener Veber- 
empirie, als wenn man die feineren physiologischen Vorg&nge wirk- 
lich kennen miisse, um iiberhaupt zu psychophysiologischen 
Theorien zu gelangen. Es handelt sich hier ja gar nicht um eine 
Erkenntnis, die bis zu den letzten feinsten Vorgangen gelangen 
will, etwa im Sinne der physikalischen Chemie, sondem, da es sich 
hier um biologische Mechanismen handelt, so ist eine Erkenntnis 
schon dann wertvoll, wenn sie zum summarischen Begreifen 
der Leistungen fiihrt. Der Photograph begreift die Leistung 
des Photographierens, wenn er auch von den feineren photo- 
chemischen Vorgangen nichts weiB. Um einen Elektromotor zu 
erklaren, braucht man nicht auf die theoretische Elektrodynamik 
einzugehen. Die Heringsche Theorie hat uns verschiedene Seh- 
leistungen erkennen lassen (erklart), obwohl wir liber die Chemie 
der Assimilation und Dissimilation nichts wissen. In dieser be- 
scheidenen Absicht soli hier die psychophysiologische Theorie 
gebracht sein, daB die Mechanismen des Empfindens, Auffassens 
und Reproduzierens zu begreifen sind als Vorgange spezifischen 
Registrierens. 

Zuerst einige rein physikalische Darlegungen: Wenn eine orts- 
feste Stimmgabel schwingt, so ist dieses physikalische Geschehen 
strong momentan sukzessiv. Wird der Stimmgabelmechanismus 
in einer bestimmten Weise mit einem anderen Mechanismus, etwa 
zwei Mareyschen Kapseln, kombiniert, dann registrieren diese den 
Stimmgabelvorgang zur Jeweiligkeit. Jedesmal, wenn an der 
Stimmgabel eine Bewegung erfolgt, erfolgt auch eine in dem 
Kapselsystem. Wir haben also hier ein Zusammenarbeiten zweier 
an sich undbhangiger Systeme, 1. den registrierten Vorgang, 
2. den registrierenden Vorgang und 3. ein Ergebnis desRegistrierens, 
ein Registrogramm I. Ordnung. Kommt nun ein drittes System 
hinzu, etwa ein rotierendes Kymographion, dann erfolgt jetzt eine 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



300 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der 

Registrierung 11. Ordnung, wobei jetzt das sukzessive Geschehen 
des subponierten Geschehens vom superponierten System zur Simul - 
taneitdt , zur Dauer registriert wird. Wird jetzt noch ein weiteres 
System superponiert, etwa vor dem arbeitenden Kymographion 
eine photographische Kamera aufgestellt, dann wird diese wieder 
verschiedene Registrierungen 111. Ordnung leisten konnen. Re- 
gistrierungen zur vorubergehenden Jeweiligkeit dann, wenn im 
Apparat nur eine Mattscheibe ist, zur dauernden Jeweiligkeit dann , 
wenn eine photographische Platte mit EntwicklungsprozeB hinzu- 
kommt. Eine iibergeordnete Registrierung IV. Ordnung wird er- 
folgen, wenn das subponierte Geschehen kinemaiographisch aufge- 
nommen, und dadurch die subponierte Registrierung III. Ordnung 
selber wieder so registriert wird, daB die Sukzession zur Simul - 
tanitdt fuhrt . Man sieht leicht, daB, von technischen Schwierig- 
keiten abgesehen, eine unendliche Zahl solcher Systems einander 
registrierend ubergeordnet werden kann. 

Die Gesetzlichkeiten bei denjenigen physikalischen Vorgangen, 
die wir als registrierende herausheben, sind eigenattige; es lassen 
sich da bestimmte Satze aufstellen. die uns nachher fruchtbar 
werden sollen. Zuerst: es ist die Registrierung innerhalb einer 
theoretisch unendlich groBen Anzahl von Variationen unabhdngig 
von der speziellen (physikalischen) Natur der registrierenden Me - 
chanismen. Man konnte die Stimmgabelschwingungen elek- 
tromagnetisch umsetzen, in Tone umsetzen, diese phonographisch 
registrieren, verschiedene Widerstandsanderungen von Selen- 
zellen benutzen usw. usw., die Registrierung an sich bleibt. Wir 
kommen zur alleinigen Bedingung, daB die Zuordnung zweier 
Systeme so getroffen sein muB, dafi die Veranderungen des einen 
Systems solche Veranderungen im andem System hervorrufen, 
dafi die Ordnung der Veranderungen in beiden Systemen uberein- 
stimmt (mathematisch ausgedriickt, daB fiir beide Vorgange die- 
selben Funktionsgleichungen aufgestellt werden konnten). 

Diese relative Unabhangigkeit von dem Speziellen des Re- 
gistrierens gestattet uns, bei bloBem Gegebensein des registrier- 
ten Vorganges und seines Registrogramms hoherer Ordnung Er- 
kenntnisse zu ziehen, ohne dafi wir iiber den speziellen Mechanismus 
des Registrierens ein genaueres Wissen brauchen. 

Die zweite Gesetzlichkeit ist die Tatsache, dafi jedes regi¬ 
strierende System seine Eigengesetzlichkeit hat; das Funktionieren 
der Mareyschen Kapseln, des Kymographions usw., hangt von 
ganz anderen Gesetzen ab als die Stimmgabelschwingungen. Inner¬ 
halb einer Systemkette von einander iiber-, unter- und neben- 
geordneter registrierender Systeme haben wir es mit soviet Einzel - 
gesetzmafiigkeiten zu tun , als Mechanismen kombiniert sind. 

Das dritte ist die in bestimmten Grenzen mogliche, gegen- 
seitig unabhangige Variability . Es kann die Kapsel einmal grob, 
einmal fein gestellt sein, das Kymographion einmal schnell, ein¬ 
mal langsam rotieren. Und umgekehrt, es kann aus dieser Varia - 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 301 

bilitat mil Sicherheit auf die Verschiedenheit zweier Systeme ge- 
schlossen werden. 

Das vierte ist das bei jeder Einzelregistrierung festzustellende 
Auftreten von Registrierungsbesonderheiten. Ein theoretisches 
Ideal ist die adaquate Registrierung, bei der samtliche Verande- 
rungen des einen Systems vom anderen registriert werden. Prak- 
tisch ist das nie der Fall, es gibt daher nur inadequate Registrierun- 
gen. So registriert die photographische Platte nur die aktinischen 
Helligkeiten, nicht die Farben. Als Unterarten inadaquater Re¬ 
gistrierung ist es praktisch, zu sondem: 1. die fehlerhafte, unvoll- 
kommene, und 2. die elektive Registrierung. Fehlerhaft ware die 
Registrierung etwa durch eine astigmatische Linse des photo- 
graphischen Apparates, elektiv durch Verwendung eines Farben- 
filters, das nur bestimmte Farben durchlaBt. Wichtig ist der 
Sonderfall, daB ein registrierender Mechanismus eine mehrfache 
Variabilitat der Elektion zulaBt, wie etwa ein photographischer 
Apparat mit einem System von verschieden einstellbaren Licht- 
filtern. 

DaB nun fur die beiden Systeme, des Reizgeschehens und 
der Empfindung, als physikalische Vorgange betrachtet, das Be- 
stehen eines Registrierungsverh&ltnisses behauptet werden kann, 
ist wohl nicht erst zu begriinden. Wenn wir nun zeigen werden, 
daB auch die Auffassungsvorgange , d. h. die Wahrnehmungen 
hoherer Ordnung, weitere iibergeordnele Systeme innerhalb eines 
Systemaufbaues von registrierend zusammengeordneten Mechanis- 
men darstellen, so haben wir damit nur die Erweiterung einer 
bereits bewahrten Erkenntnis vollzogen. 

Die Assoziationspsychologie wiirde eine uber die Empfindung 
hinausgehende superponierte Registrierung nicht zulassen, da 
sie ja der Empfindung ohne weiteres BewuBtsein zuschreibt, 
in der ,,aufgefaBten Empfindung*' keine Zweiheit, sondem eine- 
Einheit sieht. Die Nachwirkung dieser Registrierung I. Ordnung, 
der Empfindung, bezeichnet sie demzufolge als Reproduktion.. 
Hier soli, wie schon angedeutet, die Theorie durchgefiihrt werden, 
dap dem registrierenden Mechanismus der Empfindung noch weitere 
registrierende Systeme uber - und nebengeordnet sind, dap die Re¬ 
produktion nicht auf dem Registrogramm der Empfindungen, sondern 
der Auf fa#sung en beruht. Dadurch, daB wir uns den Vorgang super- 
ponierter Registrierung physiologisch leicht verstandlich machen 
konnen, haben wir noch den Gewinn auch fur die Auffassungs- 
vorgange, welche ja Aufmerksamkeit usw. subsumieren, ein 
psychophysiologisches Begreifen zu bekommen. 

Fiihren wir dies einmal kurz beim Optischen durch: Das Reiz- 
geschehen wird zur Jeweiligkeit registriert durch die physikalische 
Abbildung auf der Retina. Schon bei dieser Registrierung I. Ord¬ 
nung haben wir eine groBe Anzahl von Registrierungsinadaquat- 
heiten, die durch die fehlerhafte Optik, ungenaue Abblendung 
und elektive Farbenabsorption gesetzt sind. Dieser Registrierung 
ist die Umsetzung der Retina als weiteres System iibergeordnet^ 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Ncurologle. Bd. XXXVII. Heft 5. 20 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



302 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der 


Auch in dieser Registrierung II. Ordnung haben wir eine groBe 
Zahl von Registrierungsbesonderheiten und Inadaquatheiten, 
die verschiedene Farbentiichtigkeit und physiologische (!) Seh- 
scharfe von Zentrnm und Peripherie, die Unerregbarkeit des 
fclinden Flecks, Kontrast, Nachwirkung, Adaptation und Ermii- 
dung, soweit als die Sinnesphysiologie diese Vorgange als reti- 
naler Genese bewiesen bat. In der Pupillenregulierung haben 
-wir bier einen selbstandigen variablen Einstellungsmecbanismus 
vor uns. Dieses Geschehen der Retina wird registriert vom Zen- 
tralorgan. Das ware zunachst das Corpus geniculatum externum und 
weiterhin die Calcarina und Couvexitat. Es beweist zum mindesten 
die heuristische Fruchtbarkeit der Fragestellung nach dem Auf- 
bau registrierender Mechanismen, dad man hierdurch fast auto- 
matisch die Fragestellungen fiir die spezifischen Leistungen der 
zusammengeordneten nervosen Einzelsysteme bekommt. So 
iindet in den Corpora geniculata externa nocb eine doppelte Re¬ 
gistrierung der beiden Retinae statt, wenn die anatomische 
Tatsache stimmen sollte, dad direkte Kommissuren der beiden 
Gangbenaggregate nicht vorhanden seien. Jedenfalls wiirde in 
diesem Falle die Empfindungsregistrierung nicht in den Corpora 
geniculata zu suchen sein, denn die Tatsachen der binoku- 
laren Farben- bezw. Helligkeitsmischung und -beeinflussung, die 
Identitat einesTeiles des Sehfeldes u. a. m. beweist eine Registrierung 
des Doppelten zur Einheit, die nach vorlaufiger Kenntnis der 
Anatomie erst weiterbin zentral erfolgen kann, im kortikalen 
Sinneszentrum. In dieser Registrierung III., resp. IV. Ordnung, 
haben wir wieder charakteristische Eigengesetzbchkeiten und 
Inadaequatheiten. Die binokulare Farben- bezw. Helligkeits¬ 
mischung und -beeinflussung ist schon erwahnt, ob bier schon 
die ,.Tiefenempfindung“ anzusetzen ware, das ist noch eine offene 
Frage. 

Als fiir unser Thema letzte superponierte Registrierung 
haben wir die Auffassung der Empfindungen. Ich muB es einer 
sp&teren Verdffentlichung iiberlassen, darzulegen, daB es sich auch 
bier um eine Zusammenfassung handelt, daB „die“ Auffassung, 
die hier als ein einheitliches System behandelt wird, auch noch 
•eine Mehrzahl von iiber-, unter- und nebengeordneten registrieren- 
den Systemen enthalt. DaB die Auffassung, der Mechanismus 
des Registrierens von Empfindungsmaterial, dem Mechanismus 
des Empfindens iibergeordnet ist, dafiir haben wir den Beweis 
in der Zusammenfassung zur Simultanitat der Geschehnisvor- 
stellungen. Es liegt hier eine ebensolche Zweiheit vor, wie es 
bei registrierten Stimmgabelschwingungen der Fall ist. Ebenso 
wie es moglich ist, das Kinematogramm sukzessiver Vorgiinge 
auch simultan sichtbar zu machen, so ist es auch bei der Repro- 
duktion. Auffassungsprodukt ist die Geschehnisvorstellung, dies 
Produkt wird als Ganzes in der spezifischen ph&nomenalen zeit- 
lichen Gliederung reproduziert; in der Auffassung wird die Vor- 
arbeit, tvelche in der Zusammenfassung des Sukzessiven zur Simul- 


Digitized by 


Gck 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



peychophysiologischen Lehre von der elementaren Aasoziation. 303 

ianeitdt besteht, bereits geleistet; deshajb braucht die Reproduktion 
nicht die Wiederholung der friiheren Sukzession, es geniigt die „Er- 
innerung an die Sukzession Wir sehen im Kinobilde, wie das 
Schiff versinkt, eine Summe einzeln sukzessiver Empfindungen, 
die zur Einheit des Geschehnisses aufgefaBt werden. Die Erinner- 
ung a n diesen Vorgang kann eine simultane Vorstellung sein. 

Die andere Registrierungsbesonderheit sind Volgange, die 
man z. T. ale Aufmerksamkeit benannt hat, der wir jetzt eine 
kurze Sonderbetrachtung widmen miissen. 

Im Vorangegangenen ist eine Erw&hnung der Aufmerksam¬ 
keit peinlich vermieden, da hier eine andere Darstellung gegeben 
werden soil, als sie in der Literatur vorliegt. Man pflegt die Frage 
so zu behandeln, daB man ,,die Aufmerksamkeit" bei der A. und 
R. ,,eine wichtige Rolle“ spielen laBt. Darin liegt begriffen eine 
Zweiheit; Assoziation - Reproduktion einerseits seien ein de facto 
anderes Geschehen als ,,die Aufmerksamkeit" anderseits. Man 
behauptet zwei de facto getrennte Vorgange. Danach ware es also, 
pathologisch oder nur ideell, moglich, den einen Faktor bei 
Bestehenbleiben des andem in Fortfall kommen zu lassen. Wundt 
hat das ja auch ausgesprochen — in seiner Theorie des Apper- 
zeptionszentrums —, dessen pathologischer Ausfall die Assoziation 
und die Reproduktion in ihrer unbeeiniluBten Wirkungsweise 
zum Vorschein kommen lieBe. Es kann sich vorlaufig eriibrigen, 
alle die verschiedenen Aufmerksamkeitstheorien hier aufzuroUen, 
da es uns hier nur darauf ankommt, daB sie sfimfclich die Zweiheit 
der Faktoren aussprechen, daB Assoziation und Reproduktion 
an sich unabhangig von „der Aufmerksamkeit" vor sich gehen 
konnte. Diese Trennung der beiden Faktoren soil im folgenden 
fur die jenigen Aufmerksamkeitsvorgange, die man als „Auffassen" 
herausgesondert hat, beseitigt werden. Im Gegensatz dazu wird die 
Theorie verteidigt, daB diese Auffassungsvorgdnge den Votgangen 
der Assoziation und Reproduktion immanent sind. Eine allgemeine 
„Aufmerksamkeitstheorie" ist hier nicht beabsichtigt. 

Es ist in der Literatur von vielen hervorgehoben, daB ,,die 
Aufmerksamkeit" der ,,Unaufmerksamkeit“ nur euphemistisch 
gegeniibergestellt ist, daB hier ebenso wenig ein diametraler 
Gegensatz besteht wie bei warm und kalt, die ja auch die vulg&re 
und friihere Physik als zwei entgegengesetzte ZustSnde behandelte. 
Schranken wir unsere Betrachtung nur auf das Auffassen ein, so 
ist es besonders deutlich, daB hier nur graduelle Unterschiede be- 
stehen. Man kann ein und denseitben Ton einmal mehr, das andere 
Mai weniger auffassen, was identisch ist mit einmal grbBerer, ein¬ 
mal geringerer Aufmerksamkeitszuwendung. So klar und einfach 
hier die Tatsachen selber sind, so mannigfaltig sind doch hier die 
-erklarenden Theorien. Eine Gruppe von Theorien sieht hier die 
Forderung und Hemmung durch iibergeordnete Faktoren, sei es 
durch ein Apperzeptionszentrum, sei es durch andere Faktoren. 
Eine zweite Gruppe von Theorien hat hier als urs&chlichen Faktor 
.die Leibniz-Herbarta che Enge des Bewufitseins behauptet, wobei 

20 * 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



304 Pop pel router, Ueber den Versuch einer Revision der 


man neuerdings besonders die Deutung zugrunde legte, daB die 
BewuBtseinsenergie einen.nurvon Fall zu Fall wenig wechselnden, 
im allgemeinen aber konstaftten Betrag besitze, der verschieden 
verteilt werden konne. Entfallt auf eine Empfindung mehr, dann 
bleibt fiir die andere wenigeriibrig... Gerade diese Theorie hat die 
mannigfachsten Variationen. Eine dritte Gruppe von Theorien 
sieht das haupts&chlichste hier in den verschiedenen motorischen 
und nutritiven Anpassungsvorgangen der Sinnesorgane, die eine 
verschiedene Steigerung der Intensitat der Eindriicke bewirken 
sollten. .. ; 

Die wichtigste Forderung des Problems scheint mir die The¬ 
orie des Kontinuums der Bewuptseinagrade zu sein, gerade dann, 
wenn man sie von der Apperzeptionstheorie ihres Urhebers Wundt 
loslost. Es ist ein Verdienst Wirths 1 ), gezeigt zu haben, daB hier 
eine selbstandige Tatsachenbehandlung moglich ist. Ein und den 
selbenTon einmal mehr, einmal Weniger beachten heiBt: der Ton 
hat einmal einen groBeren, einmal einen kleineren Bewufitseins- 
grad, d. h. ein und derselbe Ton, ein und dieselbe Empfindung 
kann in verschiedener Weise auffassend registriert werden; das Er- 
gebnis der Registrierung ist der einmal in hohem, einmal im 
niedrigen BewuBtseinsgTade registrierte Ton. BewuBtseinsgrade 
sind demnach Gradbestimmtheiten, die nicht der Empfindung, 
sondem dem Registrogramm der Empfindungen zukommen. So 
wie die „Bildscharfe“ der Photographic, nicht dem photogra- 
phierten Gegenstand zukommt. Von ,,Bewufitseinsgrad der 
Empfindungen" zu reden, hat also theoretisch keinen Sinn; doch 
konnen wir uns immerhin dieser Abkiirzung bedienen. 

Ist eine Mehrheit simultaner optischer Empfindungen gegeben, 
so resultiert aus der Registrierung des Auffassens das von Wundt 
treffend so genannte Relief der Bewu/itseinsgrade. Diebeherrscher.de 
Methode ist hier das tachistoskopische Experiment, bei dem eine 
Mehrheit verschiedener optischer Eindriicke nur fiir einen kurzen 
Moment sichtbar gemacht wird. Es ergibt sich da die Registrie- 
rungsinadaquatheit, daB die Teile des zugrunde liegenden Emp- 
findungskomplexes in ungleicher Weise registriert werden, die einen 
mehr, die anderen weniger, d. h. verschieden hohen BewuBtseins- 
grad bekommen. Die Verschiedenheit des BewuBtseinsgrades 
ist nur nicht nur eine Verschiedenheit der Erlebnisse, sondern der 
Dynamik der samtlichen sich an die Auffassung an schliependen 
Prozesse, vor allem der Reproduktion. Der Zusammenhang, dap 
das mehr aufgefapte auch eher, besser reproduziert wird, ist als ein 
so 8eU>8tver8tdndlicher erschienen, dap eine ausdruckliche experi- 
mentelle Untersuchung daruber bis jetzt noch fiir unnotig befunden 
wurde. (Die GesetzmaBigkeit gilt streng nur fiir Auffassung und 
Reproduktion innerhalb eines Sinnesgebietes, fiir die aus mehreren 
Sinnesgebieten sich zusammensetzenden Komplexe gilt sie nicht 

*) W. Wirth. Die exp. Analyse der Bewufltseinsph&nomene. Braun¬ 
schweig. 1908. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elementarep Assoziation. 305 

mehr, wofiir hier nur die geringe Reproduzibilitat aller Geriiche 
angefiihrt werden soil; doch das alles muB hier auBer Betracht 
bleiben.) Diese allgemeine dynamische Beziehung, die von anderen 
Theorien im Sinne des „f6rdemden Faktors“ behandelt wurde, 
wird nach unserer Darlegung, bei der ja die Reproduktion nicht 
auf die Empfindungen, sondern auf die Auffassungen gegriindet 
wird, zu einer immanenten. Es bUden sich bei einem und demselben 
Empfindungsmaterial durch verschiedenwertige Registrierungen dutch 
das superponierte System verschiedenartige Engramme. Man kann 
daher, mit hier belanglosen Ausnahmen, den BewuBtseinsgrad als 
eine Funktion der engrammformierenden Arbeit behaupten. (Wiirde 
man fur BewuBtseinsgrad den teilweise synonymen 0. E. Miiller- 
schen Terminus der ,,Eindringlichkeit“ nehmen, so lage auch diese 
Beziehung zur Reproduktion im Worte drin.) Abgesehen von der 
Dynamik besteht vor allem die Abhangigkeit der Auffassungs- 
eriebnisse und der Reproduktionserlebnisse voneinander, daB die 
Verteilung der Beumfitseinsgrade bei der Auffassung auch eine 
entsprechende Verteilung der Beumfitseinsgrade bei der Reproduktion 
bedingt. Es ist sehr wichtig, daB mit dieser Bezeichnung die Her- 
vorbringung der verschiedenen Reliefs der BewuBtseinsgrade als die 
Eigengesetzlichkeit desjenigen registrierenden Mechanismus be- 
wiesen wird, der zwischen Empfindung und Reproduktion ein : 
geschaltet ist, so wie die verschiecTene Linseneinstellungsweise in 
den Gesamtmechanismus des phptographischen Registrierens einge- 
schaltet ist. Wie dort die Folgen der verschiedenen Linsenformen, 
der verschiedenen Blenden usw. fur sich untersuchbar sind, so sind 
auch die als „verschiedene Auffassungsweisen“ gekennzeichneten 
variierenden Mechanismen einer Sonderuntersuchung zuganglich, 
nur daB hier die Verhaltnisse ungleich schwerer zu jiberschauen 
sind. Abgesehen von einzelnen Arbeiten der Wundts chen Schule 
ist hier noch das meiste ohne ausdruckliche Untersuchung ge- 
blieben, und demzufolge miissen die genaueren Beziehungen 
zwischen Auffsassungsweise und Reproduktion erst zukiinftig 
genauer ausgearbeitet werden. 

Eine weite Komplizierung kann hier vermieden werden, wenn 
man die Auffasssungsweisen in uribeeinflufite, elementare und be- 
einfluBte, komplizierte trennt. Gerade die letztere Kategorie 
enthftlt die iiberwiegend groBere Zahl der Verschiedenheiten, be- 
sonders alle die auf vorangehender willensmaBiger Einstellung, 
Determinierung beruhenden. Bei dem angegebenen tachistosko- 
pischen Experiment kann man die Vp. in verschiedener Weise 
determinieren: beim Achten auf die linke Ecke ergibt sich auch 
eine Verschiebung des Reliefs der BewuBtseinsgrade zugunsten 
der linken Ecke, beim ,,Achten auf die blauen Figuren“ bekommen 
diese den hoheren BewuBtseinsgrad usw. Vergleichen wir aber mit 
diesen determinierten die indeterminierten Auffassungen, die wir 
als elementarer ansehen miissen, dann sind die Verhaltnisse ungleich 
einfacher und, jedenfalls in den Hauptpunkten und beim Optischen, 
leichter gesetzlich zu iiberschauen. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



306 Poppelreuter, Ueber den Vereuch einer Revision der 

Die Gesetzlichkeiten dieser passiven Auffasssungsweise fallen 
z. T. unter die Rubrik des als ,,passive Aufmerksamkeit" bezeich- 
neten, des „Auffallens" .Wild eine simultane Mehrheit verschiedener 
optischer Figuren tachistoskopisoh dargeboten, so fallen diese in 
verschiedenem Grade auf, sie haben ohne weiteres einen ver- 
Bchiedenen BewuBtseinsgrad. Wenn es auch keiner besonderen 
Untersuchung bedarf, daB die groBere Auff&Uigkeit der roten Farbe, 
dem intensiveren Eindruck, der groBeren, der zentraler gelegenen 
Figur zukommt, so sind doch die genaueren Verhaltnisse bei Auf- 
fassungen anderen Sinnesmaterials noch fast ganz unerforscht-. 

Produkt des Auffassens ist stets ein Games; es wird wie im zeit- 
lichen so auch im raumlichen eine Synthese von Mehrheiten voll- 
zogen. Das sinnesphysiologische Material kann restlos in ,,Ele- 
mente“ zerlegt werden, das Ganze ist additiv darstellbar. Nicht 
eo bei der Auffassung. Diese produziert stets ein Ganzes, den Totals 
eindruck, der mehr ist als die Summe der Teile. Um das auch ter- 
minologisch zu trennen sollte man bei Empfindungen von Ele- 
menten, bei Auffassungen von Teilen reden. Die Teile eines Total- 
eindruckes differieren hinsichtlich ihrer BewuBtseinsgrade nach den 
bestimmten Gesetzen, die wir beim Optischen vorhin angedeutet 
haben. Es ist eine theoretisch sehr bemerkenswerte Tatsache, 
doyS Beum/itseinsgrad und Differemierung der Teile innerhaRt des 
Ganzen einander parallel gehen. Unter Differenzierung ist diejenige 
Erlebnisweise zu verstehen, welche innerhalb eines Totaleindrucks 
die einzelnen Teile unterscheidbarer macht. Exponiert man tachisto- 
skopisch eine groBere Mehrheit verschiedener Figuren, so hat man 
fiber diese Verhaltnisse ein gutes Kriterium an der unmittelbaren 
Wiedergabefahigkeit. Sind es etwa 20 Figuren, so wir die Vp. 
vielleicht 4 oder 5 hinterher genauer angeben konnen. Es sind das 
nur diejenigen Teile, die von besonders hohem BewuBtseinsgrade, 
die ,,gut“ aufgefaBt worden sind und dementsprechend adaquat 
wiedergegeben werden konnen. Die fibrigen Teile konnen mehr 
und mehr nur inadaquat wiedergegeben werden, die Vp. sagt etwa r 
„es war noch etwas Farbiges da, welche Form es hatte, kann ich 
nicht sagen“, usw. Obwohl man diese Dinge gelaufig kannte, so- 
wurden doch die Erlebnisteile mit nur inadEquater Feststellungs- 
moglichkeit frfiher nicht in ihrer groBen theoretischenBedeutung 
gewertet, da man hier eben nicht ,,exakt“ vorgehen kann. So 
wertete man bei quantitativer Untersuchung der Reproduktion 
nur die Teile optimaleren BewuBtseinsgrades mit adaquater Fest- 
stellungsmoglichkeit; was naturlich die Theorie umso erheblicher 
beeinflussen muBte, einen je geringeren Bruchteil des ganzen die 
optimaleren Teile ausmachten. Dieser Bruchteil kann — man ver- 
gegenwartige sich eine simultane Gegebeiiheit von 100 verschieden- 
farbigen Figuren! — ein sehr geringer werden. Wenn wir den Be- 
ziehungen zwischen dem BewuBtseinsrelief der Auffassung und der 
Reproduktion n&her nachgehen, so finden wir sie hier im Optischen 
verh&ltnism&Big eindeutig. Doch nur erst nach einigen Einschran- 
kungen. Man konnte empirisch sagen: jedes Reprodukt ist nur eine 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophyeiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 307 


unvoUkommene Erneuerung der in der Auffassung produzierten 
TotalvorsteUung. Trotzdem aber hat es guten Erfolg, wenn wir uns 
an dem nur selten gegebenen Grenzfall orientieren und die Re- 
produktion als Erneuerung dee Auffassungsproduktes bezeichnen, 
hinter der eben aus gut bekannten Grunden jeder empirische 
Sonderfall bald mehr, bald weniger zuriickbleiben muB. Gerade 
deshalb ist es wichtig, die besondere Art dieser Unvollkommenheit 
genauer kennen zu lemen. Auch phyeikalische Reproduktionen 
konnen, verglichen mit dem Original, in verschiedener Weise un- 
vollkommen sein. Erstens so, daB sie nur stiickweise wire, wenn 
also etwa die eine H&lfte einer Photographic ganz ausfiele. Zweitens 
so, daB etwa eine Verzerrung, eine Aenderang des Figiirlichen, 
der Farben usw. eintr&te. SchlieBlich so, daB die Photographic 
nur eine summarische skizzenhafte Wiedergabe darstellte. Offen- 
bar haben wir es, wenn wir Reproduktionserlebnisse ganz ver¬ 
schiedener Sonderfalle wahllos daraufhin vergleichen, mit all 
diesen Unvollkommenheiten zu tun. Nehmen wir aber experimen- 
tell kontrollierte einfache Fftlle, so ist doch die letztere Art der Un¬ 
vollkommenheit die Regel. Die Reprodukte sind meist aufierst 
summarisch, skizzenhaft im Vergleiche zu den TotalvorsteUungen 
der Auffassungen. Nehmen wir den Fall einer Reproduktion im 
optimalen Stadium, so stimmt das Relief der Beumfitseinsgrade 
in Auffassung und Reprodukt relativ uberein. Obwohl der totale Be- 
wuBtseinsgrad des Reprodukts meist bedeutend niedriger ist als 
der der originalen Auffassung, so ist doch die Relation beziiglich 
der einzelnen Teile der Reliefs erhalten. Sind in der Auffassung 
der Empfindungen ABODE die A und B von besonders hohem 
BewuBtseinsgrad gewesen, so ist es auch in der reproduzierten 
Vorstellung so, daB a b einen hoheren BewuBtseinsgrad hat als die 
iibrigen. Ja es l&Bt sich nach neuen, nicht abgeschlossenen 
Versuchen behaupten, da/3 die Different der hohen und niedrigen 
BeiDufItseinsgrade in der Reproduktion noch scharfer ausgeprdgt 
ist als wie in der Auffassung, daB die Reproduktion das Relief der 
BewuBtBeinsgrade unter bestimmten Umst&nden karikiert. 

Ebenso, wie bei simultanen Mehrheiten eine Registrierung in 
verschiedenen BewuBtseinsgraden erfolgt, so ist es auch bei 
sukzessiven Mehrheiten. 

In den Geschehnisauffassungen wird nur eine bestimmte zeit- 
liche Strecke des perzeptiven Materiales registriert; die am Schlusse 
vorliegende Auffassung registriert nur einen begrenzten vorher- 
gehenden Bereich, dessen Umfang sich leider recht schwer be- 
stimmen laBt. In der Literatur pflegt dieser von Wundt so genannte 
Aktualitdtsbereich nur auf wenige Sekunden begrenzt zu werden, auf 
Grand von Versuchen einerseits uber den sogenannten ,,zeitlichen 
Umfang des BewuBtseins“, wo z. B. Anzahl und Tempo der Me- 
tronomschlage bestimmt werden, welche die Vp. ohne Zahlen noch 
als eine exakte zeitliche Einheit umspannen und unmittelbar hinter- 
her noch richtig bezeichnen kann, und anderseits iiber den Umfang 
des unmittelbaren Behaltens, etwa vorgesprochener Zahlen oder 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



308 Poppelreuter, Ueber den Verauch einer Revision der 

Silben. Diese Versuche bestimmen aber nur denjenigen Aktualitats- 
bereich, bis zu dem eine Jtegistrierung in optimalem Beumfitseinsgrad 
erfolgt, d. h. den Unifang der Aufmerksamkeit in euphemistischem 
Sinne. Denn nur dieser ist auch der Bereich der adnaquaten Fest- 
stellungs- und Aussagemoglichkeit. Bei der Frage nach dem Um¬ 
fang iiberhaupt muB aber der ganze Umfang genommen werden, 
der sich im Registrieren auch der Teile in bloB niedrigem BewuBt- 
seinsgrade auBert. Wenn auch bei einer vorgesprochenen Reihe von 
6 Zahlen oder sinnlosen Silben die Lautfolge als Ganzes hinterher 
simultan und in so hohem BewuBtseinsgrade vorliegt, daB eine 
unmittelbare richtige Wiedergabe erfolgen kann, so liegt doch bei 
einer tReihe von 20 Zahlen, wo eine solche Wiedergabemoglichkeit 
nicht mehr besteht, trotzdem hinterher eine Totalvorstellung der 
Lautfolge vor; nur daB eben hier das Relief der BewuBtseinsgrade 
ein so niedriges ist, daB die Teile nicht mehr differenziert sind. 
Es liegt im Wesen der Sache selbst, eben weil die BewuBtseinsgrade 
auch Feststellungsgrade sind, begriindet, daB der ganze zeitliche 
Registrierungsbereich des Auffassens bei Einbeziehung der Teile 
niedrigen BewuBtseinsgrades aus der bloBen Selbstbeobachtung 
gar nicht exakt bestimmbar ist. Jedenfalls ist bei Einbeziehung 
der Teile niedrigen BewuBtseinsgrades der zeitliche Bereich des Auf¬ 
fassens, der Aktualitatsbereich, bedeutend viel w e i t e r zu nehmen 
als es nach der Literatur geschieht, sicherlich auf mehrere Minuten 
auszudehnen. Der Klarheit der Sache wegen kann man in diesem 
Sinne enge und weite Aktualitaten unterscheiden. 

Um Aktualitatsbereiche zu bestimmen, muB man zuerst zu- 
sehen, welchen VerSnderungen eine Auffassung in der postper- 
zeptiven Zeit unterworfen ist, ehe sie ins Stadium der bloBen Latenz 
iibergeht. Denn wenn man ein langeres perzeptives Geschehen, 
etwa 40 Sekunden untersucht, so befindet sich der 10 Sekunden 
dauemde Anfang am Schluss des ganzen Geschehens bereits in 
einem postperzeptiven Stadium von 30 Sekunden. Danach muB 
zweierlei untersucht werden: 1. der EinfluB der ,,leeren“ post¬ 
perzeptiven Zeit an sich und 2. der EinfluB der weiteren Ausfiillung 
der postperzeptiven Zeit. Es wird die Sache zumeist so beschrieben, 
„nach einer gewissen Zeit gingen die Eindriicke wieder aus dem 
BewuBtsein heraus“. So richtig diese Darstellung ist, wenn wir 
den psychischen Verlauf nur im groben nehmen, so falsch ist sie 
doch im einzelnen. Nehmen wir nur das konkrete Beispiel von 
gehorten Zahlen: 5, 7, 3, 1, 8, 6. Bleibt das BewuBtsein hinterher 
frei, so liegt hier eine differenzierte Totalvorstellung vor. Aber 
diese Totalvorstellung andert sich nun nicht etwa subtraktiv nach 
der Vergangenheit hin, so daB also 5, 7 aus dem BewuBtsein zuerst 
herausgingen, sondem die Aenderung ist divisiv, es andert sich die 
Totalvorstellung im ganzen; sie wird vongeringerem BewuBtseins¬ 
grade und damit das akustische Ganze verschwommener. Es 
ist nicht so, daB einige Glieder ausfielen, die iibrigen bestehen 
blieben. Bei unserm Beispiel ist es ja auch nicht der Anfang,. der 
zuerst leidet, sondem gerade die Mitte, die Zahlen 3,1. Diese fallen 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 309 


Digitized by 


-auch nicht aus, so daB eben nur 4 Zahlen iibrig blieben, sondern 
es besteht eine Totalvorstellung von 6 Gliedern , in der die mitt- 
leren nur von so geringem BewuBtseinsgrade sind, daB eine 
Differenzierung und exakte Aussagemoglichkeit nicht mehr be¬ 
steht. Es ist dann die charakteristische Sprachmelodie von 
6 Zahlen noch vorhanden, so daB die Vp., wenn sie das Erlebnis 
genau kennzeichnen wollte, sagen miiBte: 5, 7, x, x, 8, 6. Man 
darf hier eben nicht das Resultat quantitativ determinierter Me- 
thoden dem Erlebnis parallelisieren, d. h. die Glieder als fehlend 
rechnen, die die Vp. nicht mehr anzugeben vermag. Wenn eine 
Vp. sagt: ich habe die mittleren Zahlen vergessen , so ist das auf 
den kritischen Sprachgebrauch der Vulgarpsychologie zuriick- 
zufiihren, der ebenso, wie er das ,,Nichtauffassen“ als „nicht sehen“ 
so auch die Unmoglichkeit genauer Angabe als ,,vergessen" be- 
zeichnet. Der Psychologe darf hier, wie es in praxi fast durchweg 
geschieht, das Wort „ vergessen" nicht anwenden. Beim richtigen 
Vergessen miissen die Auffassungen und Reproduktionen voll- 
standig fehlen, die Vp. darf sich dann auch nicht mehr an den 
Versuch iiberhaupt erinnern. Die Vp. verrat sich ja in den meisten 
Eallen, indem sie etwa sagt: ich habe die 6 Zahlen vergessen; also 
weiB sie doch noch, daB es 6 Zahlen waren! 

Es ist eine groBe Liicke gelassen worden dadurch, daB durch 
die fast ausschlieBliche Verwendung der determinierten Methoden 
die Veranderungen der Auffassungen in der postperzeptiven Zeit 
nicht zur Untersuchung und theoretischen Wertung gekommen 
sind. Besonders interessant ist das automatische Abstrahterwerden 
der Auffassungen. Es ergibt sich da bei unserm Beispiel ungefahr 
folgende Reihenfolge: 


1. Totalvorstellung 6 Zahlen 5 

2 . „ - " 

3. 

4. 

5. 


^ 3 1 8 6 

6 Zahlen 5 7 x x 8 6 

6 Zahlen 5 x x x x 6 

6 Zahlen x x x x x x 

einiger Zahlen 


Zahlen 


7. irgendein Gedachtnisversuch. 


genau 


(Beachtet man dieses Verhalten, die zunehmendeHypofunktion 
mit zunehmendem Abstrakterwerden, dann wird man nicht so all- 
gemein, wie das bei den meiston Psychologen geschieht, im Ab- 
strakteren die ^hohere 44 Leistung sehen. Doch davon spater!) 
Werten wir nun diese so gekennzeichneten unanschaulicheren Teile 
auch als Bestandteile, die in den Aktualitatsbereich hineingehoren, 
dann miissen wir, wie gesagt, den Urnfang recht viel groBer nehmen 
als bei alleiniger Beriicksichtigung der ,,engen“ Aktualitaten, 
sicherlich also weiter als mehrere Sekunden. Die weiten Aktualitaten 
lassen sich, wie gesagt, durch Selbstbeobachtung nicht exakt fest- 
stellen, wir miissen hier indirekte Methoden zu Hilfe nehmen, die 
aber alle unvollkommen sind. Das erste ware eine Zuhilfenahme 
der nachtraglichen willensmd/iigen Schilderung eines Geschehnisses. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



310 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der 


Wir konnten die Aktualit&t soweit ansetzen, als es noch moglich 
ist, unmittelbar hinterher eine vollstandige Schilderung des Er- 
lebten zu geben ohne Zuhilfenahme neu einsetzenden Besinnens. 
Dabei bekommt man Aktualitdten von einigen Minuten heraus. 
Diese Methods gibt aber sicherlich noch zu enge Begrenzungen, 
da hier ja natiirKch der eben erwahnte Umstand der Ignorierung 
der Teile niedrigen BewuBtseinsgrades eine FehlerqueUe ist. Dio 
Vp. neigt dazu, nm „gute“ Auskunft geben zu konnen, viel eher, 
als die Aktualitat zu Ende ist, mit dem Besinnen einzusetzen. 
Bessere Bestimmungen erhalt man durch die Frage nach der To- 
talitat der Auffassungen. Wir konnen feststellen, daB sich Ge- 
schehnisauffassungen mit VergroBerung der postperzeptiven Zeit 
verdichten, zusammenziehen, die Differenzierung der Einzelheiten 
verlieren. Es ist das ein selbstandiger, d. h. ohne Eingreifen anderer 
Faktoren sich vollziehender Vorgang. Man kann mm die Aktualitat- 
bis zu dem Punkte ansetzen, bis zu welchem noch eine solche ver- 
dichtete Totalauffassung eines Geschehnisses moglich ist. Liest 
man einer Vp. erst 50 und dann 100 sinnlose Silben vor, dann ist 
in letzterem Falle hinterher eine a n d e r e Geschehnisauffassung vor- 
handen als im ersteren Falle. Die Vp. weiss die beiden Auffassungen 
ja ganz gut voneinander zu scheiden, indem sie etwa sagt, im 
zweiten Falle wftren es ja sehr viel mehr Silben gewesen als 
im ersteren Falle, oder „BewuBtsein eine Viertelstunde lang 
sinnlose Silben gehort zu haben“. Bei diesen Versuchen sehen 
wir recht deutlich, daB feste Grenzen der Aktualit&ten nach der 
Vergangenheit hin iiberhaupt nicht existieren, daB wir dem Wort 
„zeitlicher Bereich“ keine physikalischen Begriffe zugrunde legen 
konnen, wie etwa den zeitlichen Bereich der Walze einer phono- 
graphischen Registrierung. Der psychische Tatbestand ist eben 
auch hier ein durchaus eigenartiger. Die Registrierung vollzieht, 
ehe sie allmahlich nach der Vergangenheit zu aufhort, mit dem 
Vorangegangenen eineVerdichtung, eine Zusammenfassung langerer 
und detaillierterer Geschehnisse zu undifferenzierten Totalvor- 
stellungen. Wir haben eine schone Analogic mit dem Raumlichen. 
Wenn wir auf einen Berg steigen, zu dessen Fiiflen eine Stadt liegt, 
so wird auch der Gesichtswinkel immer kleiner, der zu iiberschauende 
Raum weiter, das Relief der Stadt mit zunehmender Steigung dabei 
immer gleichm&Biger und undifferenzierter. 

Man kann nun die Geschehnisauffassung haben: ich habe eben 
einige Stunden lang Musik gehort; ist darum auch der Aktualitats- 
bereich auf einige Stunden festzusetzen ? Ich mochte die Frage 
bejahen, ohne aber hiermit etwas Bewiesenes aufzustellen. Denn 
ich glaube nicht, daB ein neues Besinnen, eine neuerliche Repro- 
duktion erfolgt, wenn jemand etwa auf die Frage, was hast du heute 
morgen getan ? antwortet: ich habe zuhause gearbeitet. Die exakte 
Beantwortung der Frage nach den weiten Aktualitatsbereichen ist 
deswegen nicht notwendig, Weil hier noch bestehende Auffassung 
und Reproduktion ohne scharfe Grenze ineinander iibergehen und 
es fiir unsere Theorie gleichgiiltig ist, ob wir es bei diesen weiten 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophyBiologischen Lehre von der elementaren Association. 311 

Aktualitaten mit dem Hineinspielen von Reproduktionen zu tun 
haben oder nicht. 

Die passiv roproduzierten elementaren Geschehnisvorstellungen 
haben, zumal in den ersten Stadien, einen recht grofien zeitlichen 
Umfang reap. Inhalt. Das ergibt grofie Schwierigkeiten fur das 
experimentelle Vorgehen. Fiir einen Vetsuchstag kann man, streng 
genommen, deswegen nur einen einzigen passiven Reproduktions- 
versuoh machen. Hat man etwa an einem Versuchstage 4 Reihen 
sinnloser Silben lesen lassen, die Reihen I, II, III, IV, und gibt 
man dann bei vollig determinationslosem Verhalten Silben, etwa 
aus der Reihe I, als Reproduktionsmotive, so findet nicht etwa 
eine Beschr&nkung der Reproduktion auf die Reihe I statt, sondem 
es wird eben geweckt ,,die Erinnerung an die Versuchsstunde “, 
es kommen bei der Explikation auch Silben aus den Reihen II, 
HI, IV. In alien den Fallen, in denen eine wesentlichere Einengung 
der Reproduktion auf eine engere Aktualitat stattfindet, lassen sich 
besondere determinative oder andero Einfliisse nachweisen oder 
vermuten. 

Der Anted der Reproduktion bei den Gesohehnisauffassungen 
wird uns erst sp&ter beschaftigen konnen. Wir wollen aber, zur 
Klarheit der Darstellung, schon jetzt die Scheidung vomehmen 
von direkten Gesohehnisauffassungen und indirekten, wobei eben 
unter letzteren die Gesohehnisauffassungen zu verstehen sind, bei 
denen eine die Auffassung beeinflussende Komplikation mit der 
Reproduktion von Geschehnisvorstellungen vorliegt. Wenn etwa 
das Wort „Rugen“dieVp. „aneinenFerienaufenthaltvon 4Wochen“ 
erinnert, dann hat hier selbstverst&ndlich keine Aktualitat von 
4 Wochen vorgelegen, wohl aber besteht eine reproduzierte Ge- 
schehnisvorstellung. 

Eine weitere wichtige Beziehung ist folgende: bei der Re¬ 
produktion handelt es sich in jedem Stadium um ein Ganzes, das 
sich hinsichtlich seiner Details auseinanderfaltet. Oben wurde 
der Vorgang so beschrieben, da/S die Einzelheiten der Totalvor- 
eteUungen sich explizierten, womit ausgesprochen war, da 13 sie in 
der Totalvorstellung impliziert seien. Die Reihenfolge dieser Ex¬ 
plikation richtet sich nicht nach der engsten Kontiguitat, weder im 
Raumlichen, noch im Zeitlichen, sie scheint vielmehr regellos zu 
sein, sobald man mit Material arbeitet, das keine groBeren Diffe- 
renzen der BewuBtseinsgrade aufweist. Untersucht man aber Auf- 
fassungen, welche Teile sehr hohen und sehr niedrigen BewuBtseins- 
grades haben, so ist die GesetzmaBigkeit offensichtlich, dafi die 
Teile hoheren Bewuptseinsgrades bei der Explikation den zeitlichen 
Vorrang haben. Erinnert man sich einiger Geschehnisse, die einzelne 
ganz besonders auffallige Stadien batten, so kann man mit einiger 
Sicherheit darauf rechnen, daB diese sich zuerst explizieren. Und 
zwar geschieht diese Explikation in vielen Fallen so schnell, daB 
das Stadium der diffusen Allgemeinerinnerung verdeckt wird-; so 
daB man sehr leicht — wie ich dies friiher auch tat — geneigt sein 
konnte, hier an eine kettenartige sukzessive Reproduktion der be- 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



312 Poppelreuter, Ueber den Versuch einer Revision der 


sonders auff&lligen Teile zu glauben. Im Rahmen unserer Totalit&ts- 
theorie ist das ohne weiteres verstandlich; es ist ja immer schon 
eine gelaufige Ansicht gewesen, daB die tieisten Engramme auch 
die am schnellsten widererregbaren sind. 

Eine. weitere wichtige GesetzmaBigkeit: Wenn durch Ein- 
greifen komplizierender Umstande, besonders dutch determinative 
Aenderung dee Auffassens ein anderes Relief der Bewufitseinsgrade 
entsteht, ale es bei passiver Auffassung der Fall war, dann ist dock 
eine passive Reproduktion dieser Auffassung moglich. Diese verlduft 
dann ganz so, wie wenn es sich bei dem betreffenden determinierten 
Relief um eine passive Auffassung gehandelt hatte. Wenn auch willens- 
maBig etwa bei einem Bilde auf eine bestimmte Einzelheit geachtet 
worden ist, das Relief der Bewufitseinsgrade sich also zugunsten 
der Einzelheit verschoben hat, so wird doch, auch bei passiver Re¬ 
produktion das damals resultierende Relief reproduziert, ohne daB 
<ler betr. willensmaBige ProzeB von neuem vollzogen werden miiBte. 

Ein letztes schwerwiegendes Argument fur die Griindung der 
Reproduktion auf die Auffassung liegt darin, daB die Auffassimg 
Oestalten reproduziert und auch OestaUen reproduziert werden. 

Die Assoziationspsychologie hat die wichtigen Tatsachen 
ignoriert, die neuerdings wieder unter dem Problem der sog. ,,Ge- 
staltqualitat" lebhafte Untersuchung gefunden haben. Es ist hier 
nicht der Ort, tiefer in das Problem einzudringen, es sollen hier 
nur die fur unsere Theorie der A. u. R. notigen Hindeutungen ge- 
geben werden. — Man pflegt das Problem so darzustellen, daB zu 
einem bloBen Empfindungskomplex ein zweites, eben die ,,Gestait- 
qualit&t" hinzukommen wiirde, als etwas, was die Psyche dazu 
produziere. Darin liegt die Meinung, es gabe in der Auffassung reine 
Empfindungen, zu denen die Gestaltqualitat hinzutrate. Nach 
unserer Darstellung, nach der es eben nur ,,aufgefaBte Empfin- 
dungen“ als Erlebnisse gibt, ware die mit den Tatsachen doch viel 
ungezwungenere Aufstellung naheliegender, daf} die Auffassung 
das Empfindungsmaterial gestaltet. Denn wir sehen ja, daB aus ver- 
schiedener Auffassung verschiedene Gestalten resultieren, bei Zu- 
grundeliegen ein und desselben Empfindungsmaterials. 

DaB die Gestalt Auffassungsprodukt ist, das ist der ein- 
fache Ausdruck der Tatsachen, daB bei Zugrundeliegen desselben 
Empfindungsmateriales aus verschiedener Aiiffassungsweise ver¬ 
schiedene Gestaltungen resultieren. Nun meinen die Anhanger 
der ,,Gestaltqualitat“ als eines abtrennbaren Zweiten hierfiir den 
Beweis anfiihren zu konnen, daB die ,,Gestaltqualitat" im un- 
mittelbar Erlebten fehlen konne. Das herangezogene Beispiel 
ist hier immer die ,,bloBe Folge von Tonen“ ,,ohne Melodie". 
Nach der hier vertretenen Schilderung, nach der es ,.Empfin¬ 
dungen" wohl als Material gibt, an der sich die auffassende Re- 
gistrierung betatigt, nicht aber selber unmittelbar Erlebtes sind, 
konnte das Argument nicht gelten. Unsere Theorie wiirde ver- 
langen, daB aUes unmittelbar Erlebte, eben weil es uns nur als 
AufgefaBtes gegeben ist, bereits gestaltetes Produkt ^ei. Demnach 


Digitized by 


Go. igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 313 


diirfe es eine blofie Folge von Tonen wohl ale physiologische, ob- 
jektive Folge geben, nicht aber ale erlebte Folge, die, nach dem 
tatsachlichen Befunde, doch schon ein gestaltetes Erlebnis ist. 

Der tatsachliche Beweis fur unsere Ansicht liegt in den be- 
kannten Beziehungen der Gestaltauffassung zu den Auffassungs-, 
BewuBtseinsgraden, zu der Aufmerksamkeit. Aus jeder verschie- 
denen Verteilung der Bewufitseinsgrade, der Aufmerksamkeit, 
resultiert eine andere OestaUqualitat, das haben die Arbeiten von 
Schumann und neuerdings Benussis gezeigt. Besonders schon 
kann man sich das an einem optischen Komplex klar machen, 
der aus einer unregelmaBigen Mehrheit von verschiedenfarbigen 
Punkten besteht. Hat man efrwa je drei rote, grime und blaue 
Punkte unregelmafiig durcheinander hingelegt — ich mufi schon 
bitten, das Experiment selbst anzustellen —, so ffillt stets der 
rote, griine oder blaue Punkt heraus, je nachdem, welche Auf- 
fassungsweise angewandt wird, ob auf rot, auf blau oder 
auf griin geachtet wird. Es ergibt das jedesmal ganz anders ge- 
staltete Auffassungs produkte. 

(Eine restlose Auflosung des Gestaltproblems in das Problem 
der Bewufitseinsgrade ist aber nicht moglich, wie dies hier nicht 
n&her auseinandergesetzt werden soli. Nur eins mufi erwahnt wer- 
den; bei der Gestaltqualitat kommt es nicht so sehr auf die ab- 
soluten, als auf die relativen Betrdge der Beioufitseinsgrade an. Jeden- 
falls, wenn wir ,,Gestalt" in dem engeren Sinne fassen, wie er 
in der Literatur vorliegt, dann konnen wir aussprechen, dafi die 
jeweilige Gestalt von den absoluten Betragen der Bewufitseins- 
grade relativ so unabhangig ist wie eine Melodie von der Tonhohe. 
Aus der Transposition resultiert ja auch nicht dieselbe Gestalt, 
wenn wir es strong nehmen, sondem nur eine homologe Gestalt. 
Wenn wir, wie es viele Berechtigung hat, die Homologie der 
Gestaltqualitftt als IdentUdt behandeln, dann kann man mit Sicher- 
heit sagen, dafi die Gestaltqualit&t unabhangig sei von den ab¬ 
soluten, und nur abhangig von den relativen Betragen der Be- 
wufitseinsgrade.) 

Wenn wir unter diesen Gesichtspunkten das Verhaltnis von 
Auffassung und Reproduktion betrachten, dann ist es eine Tat- 
sache von grundlegender Bedeutung, dafi Auffassung und Repro¬ 
duktion homologe OestaUqualitaten zeigen. Diejenige Gestalt, welche 
Produkt des Auffassens ist, ist auch die Gestalt des Reproduktes, 
zum mindeten, wenn wir vollstandige Reproduktion zugrunde 
legen. Sind bei der Auffassung besondere gestaltbeeinflussende 
Faktoren beteiligt gewesen, etwa die willkiirliche Zusammenfassung 
optischer Einzelfiguren zu Einheiten, dann sind diese bei der Re¬ 
produktion nicht mehr no tig, die passive Reproduktion iiberliefert 
das gestaltete Produkt. Ist also ein Bild in einer bestimmten 
Weise als bestimmte Gestalt aufgefafit worden, dann zeigt auch 
das Reprodukt diese Gestalt 1 ). In diesem Zusammenhang 

*) Von den auf ganz bestimmten komplizierendenUmstanden beruhenden 
Krinnerungsfiilschungen soli hier abgesehen werden. 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



•314 Poppelreuter, Ueber den Vereuoh einer Revision der 


stoBen wir nun auf ganz eigenartige Tateachen, die besonders 
Lipps und Cornelius hervorgehoben haben, welche mit der iibliehen 
Assoziationspsycholegie recht erheblich kollidieren. Die Tat- 
sache liegt in dem treffenden Wort von Cornelius „symbolischer 
Charakter der Vorstellung". Wenn wir von der Empfindung, 
genauer von der Wahraehmung, Auffassung eines regelmdfiigen 
Achteckes sprechen, dann scheint es uns doch selbstverst&ndlich, 
daB dieses Achteck auch symmetrisch einigermaBen genau sein 
mud, d. h. die charakteristische Eigenschaft der regelmaBigen 
acht Seiten hat. Wenden wir uns nun aber zur Reproduktionl 
Es wird von alien Psychologen die — von Ausnahmen abgesehen — 
diffuse Erscheinungsweise der reproduzierten Vorstellungen hervor¬ 
gehoben. Nehmen wir den speziellen Fall: die Vp. erinnert sich 
beim Zurufen des Wortes , .Achteck“ an eine Schulsituation, 
,,wo weiB auf schwarz ein regelmaBiges Achteck auf der Tafel 
steht“. Hat nun dieses Achteck auch die sinnliche Eigenschaft 
der acht symmetrisch gleichen Seiten? Die Vpp. pflegen bei 
der Frage hiemach in Verlegenheit zu geraten; sie miissen zugeben, 
daB das gar nicht der Fall ist, daB sie iiberhaupt auBerstande 
waren, hier ein Urteil iiber die genaueren Eigenschaften der Be- 
grenzungslinien des Vorstellungsbildes zu geben. Trotzdem be- 
haupten sie, daB es die ..Vorstellung eines regelmaBigen Achteckes" 
gewesen sei. Els liegt hier also, wenn das Wort gestattet sei, keine 
,,achteckige Vorstellung" vor, sondern ,,die Vorstellung eines 
Achteckes". Es ist der Genitivus objectivus, nicht possessivus, 
der hier die Sachlage kennzeichnet. Die genauere Erklarung ist 
noch nicht gegeben, hier geniigt aber die Tatsache, dafi hier 
die OestaUqualitdt reproduziert rverden kann, ohne dafi eine sinn¬ 
liche Fundierung anschaulich imReprodukt vorhanden zu sein braucht. 
Nehmen wir noch kompliziertere Reproduktionen, etwa die Vor¬ 
stellung von Rembrandts Anatomic, dann ist die Sache noch deut- 
licher. Daraus geht nun hervor, daB die Unvottkommenheiten 
in der Erscheinungsweise der reproduzierten Vorstellungen fur 
die charakteristischen Gestaltqualit&ten relativ unerheblich sind. 
Das Ganze des Reproduktionserlebnisses ist dem Ganzen des 
Auffassungserlebnisses hinsichtlich der charakteristischen Ge- 
staltqualitat homolog, ohne daB doch im Reprodukt eine sinnliche 
Grundlage der bestimmten Gestaltqualitat vorhanden zu sein 
braucht. Wenn auch das Reprodukt fast ganz unanschaulich und 
dunkel ist, so ist es doch immerhin noch eine charakteristische Skizze 
des Originals. Gerade diese Tatsachen zeigen mit aller Scharfe 
die Arbeitsweise von Auffassung und Reproduktion nach ganz 
se0>8tdndigen Gesetzen, die gegeniiber den Empfindungen hier 
obwalten. 

Worauf wir schon friiher hinwiesen, es ist im „Totaleindruck‘ < 
die Gestaltung des Ganzen in hohem MaBe auoh durch diejenigen 
Teile mitfundiert, die von so geringem BewuBtseinsgrad sind, 
daB sie isoliert nicht mehr feststeUbar sind. Die Eiindriicke der Peri¬ 
pherie des Sehfeldes sind nur seiten so klar bewuBt, daB sie eine 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von dear elementaren Assoziation. 315 


Feststellung, eine Angabe ermoglichten. Trotzdem aber ist der 
Totaleindruck, die Gestaltung des Ganzen ein anderer, wenn die 
peripheren Details da sind, als wenn sie fehlen. So ist es auch 
bei den Reprodukten: gerade deshalb, weil in der fast gesetz- 
maOigen Regel das Ganze der Reprodukte einen viel geringeren 
BewuBtseinsgrad zeigt als das Ganze der Auffassungen, iiberwiegt 
noch mehr die Anzahl der Teile geringeren BewuBtseinsgrades, 
die aber trotzdem eine chaxakteristische Gestalt des Erlebnisses 
fundieren. Wir konnen uns erinnem, ,,in Darmstadt im Museum 
gewesen zusein**, und doch sind, zumal in den ersten Stadien der 
Reproduktion anschauliche Einzelheiten nur vielleicht so ,,fetzen- 
weise“ gegeben, daB sie unmoglich allein das ganze Erlebnis aus- 
machen konnen. Es kann uns ,,eine Melodic vorschweben“ ohne 
irgendwelche deutlicheren Tonfolgen; trotzdem ist eine charak- 
toristische Gestaltqualitat vorhanden, die dem Original homo¬ 
leg ist. 

Soviel ich sehe, ist die in dem Begriff ,,Continuum der Be- 
wuBtseinsgrade“ liegende Theorie noch von keinem einzigen 
Forscher — soweit ich das iiberblicken kann — bis zu der Kon- 
sequenz durchgefuhrt worden, dafi es isolierte Empfindungen als 
psychische Oegebenheiten uberhaupt nicht gibt. Und obwohl das 
paradox erscheint, zeigen doch einige einfache Ueberlegungen, 
daB man daran zum mindesten mit Grand zweifeln kann. Beson- 
ders die Assoziationspsychologie pflegt die Sache so darzustellen, 
daB die Empfindung ohne weiteres etwas BewuBtes sei, so etwa, 
daB der Reizung etwa der Calcarina die bewuBte Empfindung 
folge. Besonders bei ihren erkenntnistheoretisch beeinfluBten 
Vertretern wird ,,die Empfindung** als etwas „unmittelbar Ge- 
gebenes** behandelt. Das unmittelbar Gegebene, das ,.Psychische“ 
hat aber wie Stumpf das ausdriickt, bereits an der Wurzel „ein 
Doppelantlitz**, di eZweiheit von Inhalt und Funktion**, den Ton(l) 
wahrnehmen (2). Nun heiBt wahmehmen auch „sich zu BewuBt- 
sein bringen**, d. h. feststellen. Es ist ohne weiteres klar, daB, wenn 
man das Feststellen als ein Zweites betrachtet, es eine isolierte 
Empfindung psychisch gar nicht geben kann. Wenn es sie gabe, 
dann konnten wir sie ebensowenig feststellen wie die Beseelung, 
die nach einigen Naturphilosophen jeder lebenden KorperzeUe 
zukommen soli. 

Ueber das Wesen dieser Zweiheit ist, mit erkenntnistheore- 
tischen Beweisgriinden, viel gestrittdn worden. Es bewahrt sich 
aber jetzt unsere Vorantersuchung iiber die GesetzmaBigkeiten 
registrierender Systemketten ;sie gestattet uns diese Dinge einfacher 
zu sehen und vor allem auch psycho-physiologisch zu verstehen. 
Die Zweiheit von Empfindung und Auffassung, wenn wir sie ver¬ 
stehen als registriertes Material einerseits und Registrierung dieses 
Materials anderseits, ist eine reale, weil es sich hier um Vorg&nge 
heterogener Gesetzlichkeit handelt. Es ist aber ganz nachdrucklich 
darauf hinzuweisen, da/3 im unmittelbar gegebenen Psychischen 
diese Zweiheit von Empfindung und aufgefafiter Empfindung nur 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



316 Poppelreuter, TIeber den Versuoh einer Revision der 


eine ideellc Zweiheit ist. 1st das unmittelbar Gegebene ,,die aufge- 
faBte Empf indung 44 , so liegt hier ebenso eine Einheit und ebenso 
eine Zweiheit vor, wie bei einem Geb&ude, das uns photographiert 
vorliegt. Die reale Einheit ist die Photographie, die ideelle Zwei¬ 
heit ist photographiertes Gebaude und Photographie. Es geht nicht 
an, mit dieser Ein- und Zweiheit erkenntnistheoretisch Fangball 
zu spielen; man muB sich die Dinge sachlich klar machen. DaB 
die Zweiheit von ,,Empfindung 44 und ,,bewuBter, aufgefaBter 
Empfindung 44 eine reale sei, das kann eine Psychologie, die sich auf 
die einzigeErfahrungsquelle des unmittelbaren Selbsterlebensstiitzt, 
nur dann behaupten, wenn sie die Inkonsequenz begeht, auch die 
indirekte, die objektive Erfahrung psychologisch zu befragen. 
Legen wir den Fall zugrunde, daB eine simultane Mehrheit von 
Tonen gleicher Intensitat C D E F G das eine Mai so aufgefaBt 
wird, daB E und D, das andere Mai, daB E und F dominieren, 
den groBeren BewuBtseinsgrad haben, dann ist doch das unmittelbar 
Gegebene, soweit es das Auffassungsprodukt anbetrifft, in den zwei 
Fallen etwas durchaus verschiedenes. Daft hier ein identisches 
Empfindungsmaterial zugrunde liegt, das ist Ergebnis objektiv ge- 
rickteter Erfahrung, die zwar auch naturlich, zumal bei Psychologen, 
bewufit vorhanden sein kann, die aber nicht unmittelbar erlebt wird . 
Die Empfindungen sind also rein physiologische Vorgange, wenn 
anders man nicht den Begriff der mathematischen Differentiale 
hier brauchen wollte. Man darf hier am wenigsten Erlebnis und 
objektive Tatsache verwechseln, wie dies der gewohnheitsmaBige 
Fehler der rein deskriptiven Psychologie ist. Besonders bei op- 
tischem Material ist nichts leichter als von einer unwissentlichen 
Versuchsperson bei identischem Empfindungsmaterial und Ver- 
schiedenheit des Beachtungs-, BewuBtseinsgrades die Aussage zu 
bekommen, daB sich im zweiten Fall gegeniiber dem ersten 
der empfindungsmdfiige Tatbestand gedndert habe, daB das Beobach- 
tungsobjekt ein anderes geworden sei. Die Vp. sagt dem Ver- 
suchsleiter etwa: Sie haben die Linie rechts groBer gemacht! —, 
wo weiter nichts stattgefunden hat, als eine ,,Hinlenkung der 
Aufmerksamkeit 4 4 der Versuchsperson auf die rechtsliegende 
Strecke. 

Noch ein weiterer Unterschied muB festgehalten werden. 
der Unterschied zwischen dem Vor gang des Auffassens, der 
die Auffassungen verschiedenen Beumfitseinsgrades produziert, die 
Empfiudungen zu Auffassungsprodukten verarbeitet, und dem 
Beumfitsein der eigenen Tdtigkeit des Auffassens, dem Selbsterleben 
dieses Vorgangs. Von diesem Vorgang des Selbsterlebens der 
eigenen Tatigkeit sprechen wir hier nicht. Der Unterschied muBte 
hier erwahnt werden, weil durch die iibliche Verwischung dieses 
Unterschieds bei den „Funktionspsychologen 44 viel Unklarheit 
entstanden ist. Wir sprechen also hier nur von dem Vorgang des 
Auffassens als solchem, noch nicht von dem Selbsterleben dieses 
Vorganges. Wir diirfen dies tun, da es sich hiCrbei nicht um wesent- 
liche Beziehungen zu unserem Thema handelt. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation. 317 

Eb Bind nun noch sehr weitgreifende Untersuchungen not- 
wendig, um nun auch die spezielleren Gesetze der Dynamik der 
A. undR., wie sie sich in solchen Ausdriicken, wie ,,Assoziations- 
starke“, ,,A 880 ziationsfestigkeit“, ,, Reproduktionsgesehwindig- 
keit“, ,,Reproduktionsbereitschaft“ usw. auBern, auch in den 
Rahmen der revidierten Theorie harmonisch einzufiigen. Was ich 
in dieser Hinsicht selbst arbeiten konnte, findefc sich in den hier 
referierten Arbeiten. 

So leicht wie die alte Theorie hat es die hier vertretene mit der 
Quantifizierung leider nicht, sie liefert nicht so schone Tabellen. 
Wenn wir uns da zuerst die Frage vorlegen, wie den verschiedenen 
• Reproduktionsstadien quantitativ beizukommen sei, so konnen 
wir zwar ohne weiteres die quantitative Beziehung in den ver¬ 
schiedenen zunehmenden Vollkommenheitsstadien erblicken, aber die 
genaue, tabellarisch quantitative Festlegung stoBt auf recht er- 
hebliche Schwierigkeiten. Denn wie soil man die Teile, welche etwa 
nnanschauliche Totalvorstellungen konstituieren, quantitativ be- 
stimmen, wo doch eben die Teile noch oder schon nichts mehr 
Unterscheidbare8 sind? Wie wollte man etwa sogar physikalisch 
die groBere Vollkommenheit einer Photographic gegeniiber einer 
verschwommenen Skizze festlegen ? Wie dort im Physikalischen, 
so sind wir auch hier in Psychologischen auf die nur relativ unge- 
naue Quantifizierung angewiesen. Die haupteachlichste quantitative 
Frage bei der Reproduktion ist hier, wie friiher auch, das quanti¬ 
tative Verhaltnis zwischen Wahrnehmung bzw. Auffassung einer- 
seits und Reproduktion andererseits. Bei sprachmotorischem 
Material und determiniert gliedweiser Reproduktion hatte man es 
leicht, da konnte man die „richtige“ Reproduktion samtlicher 
Glieder gleich 100 pCt. setzen, die Auslassungen und Fehler ab- 
ziehen. Hier geht das nicht, denn den 100 pCt. wiirde entspret hen 
die vollst&ndige Erneuerung der friiher in der Auffassung be- 
standenen Totalvorstellung. Und die gibts vielleicht nur als Hallu- 
zination. Trotzdem kann man aber in zwei zu vergleichenden 
Fallen I und II sagen: die Reproduktion I nahert sich hinsichtlich 
ihrer Vollkommenheit mehr der Auffassung als die Reproduktion II, 
also war die Reproduzibilitat von I groBer als die von II. Dabei 
wiirde man aber nur aquivalente Stadien beider Reproduktionen, 
am naheliegendsten die beiden optimalen Stadien vergleichen 
konnen. Auf Grand einiger Erfahrang laBt sich dann auch eine 
gewisse absolute Wertung der Reproduktion aus der Tatsache her- 
holen, dafl mit zunehmender Verringerang der Reproduzibilitat 
die Verdichtung zunimmt, die Entwicklung explizierterer Stadien 
mehr und mehr ausbleibt. Die Verringerang der Reproduzibilitat 
durch Zunahme der Latenzzeit und anderer Umstande laBt die Ent¬ 
wicklung des anschaulich explizierten optimalen Stadiums mehr und 
mehr ausbleiben, es geht die Reproduktion fiber die ganz unan- 
schaulichen summarischen Totalvorstellungen bis zur Null. Man 
kann auch den quantitativen Vergleich in die Explikation ver- 
legen und die in bestimmter Zeiteinheit explizierten Teile zahlen, 
Mawt-ehrlft f. Piyohlatrie n. Neurotogle* Bd. XXXVII. H*ft 5. 21 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



318 Poppelreuter, TJeber den Vereuoh einer Revision der 

wodurch man auch mit Vorsicht benutzbare quantitative Be- 
stimmungen erhalt. 

Leider ist es bis jetzt nioht gelungen, eine direkte quanti- 
tatdv exakt formulierbare Wertung der Beunifitsemsgrade durch- 
zufuhren, es fehlt uns da der Yergleichspunkt, den wir bei der 
quantitativen Wertung der Empfindungen am aufteren Reiz haben. 
Sonst ware unsere Aufgabe, bei der direkten Beziehung zwischen 
BewuBtseinsgrad und Reproduzibilitat, gelost. So sind wir auch 
hier auf die nur vergleichsweise Wertung angewiesen. Je groBer 
die Reproduzibilitat, desto groBer der totale BewuBtseinsgrad, 
desto hoher das Relief. Nun sind es an und fur sich zwei ver- 
schiedene Tatsachen, einerseits die Entwicklung des Reprodukte'- 
in einzelnen Stadien vom niederen zum hoheren BewuBtseinsgrad,. 
und anderseits die Verringerung der BewuBtseinsgrade dutch 
Verringerung der Reproduzibilitat, etwa durch VergroBerung der 
Latenzzeit. Diese beiden finden ihre Einheit, wenn man die ver- 
schiedene Erregungshohe der Vorgange in den nervosen Auf- 
fassungsmechanismen zugrunde legt. Dann ist es verstandlich, 
daB ein und derselbe Effekt, die Verringerung der BewuBtseins¬ 
grade und der Reproduzibilitat, das eine Mai durch die im Anstieg 
schwachere Erregung, das andere Mai durch die — in der Latenzzeit 
geschadigte — geringere Erregungsfahigkeit hervorgebraeht wird. 

Der EinfluB des „Vergessens“ zeigt sich also nicht darin, daB 
aus einer Summe oder Kette von Assoziationen einzelne Glieder 
verloren gingen, also rein substraktiv ware, wie es die willens- 
maBigen Methoden darstellen, sondem er ist divisiv. Die Total- 
vorstellungen werden verdichteter, summarischer, die anschauliche 
Explikation immer weniger moglich. Da im allgemeinen zuriick- 
Iiegendere Geschehnisse auch die weniger wichtigen sind, so liegt 
es nahe, in dieser verdichteten summarischen Darbietung der 
friiheren Erfahrungen eine recht okonomische Einrichtung der 
Psyche zu sehen. Dabei muB auch besprochen werden die 
Beziehung zwischen BeproduJctionszeit und Reproduzibilitat. Die 
von der Assoziationspsychologie hier behauptete generelle Be¬ 
ziehung, daB die Reproduktionsgeschwindigkeit mit zunehmender 
Reproduzibilitat wiichse, kann hier nicht einfach ubernommen 
werden. Denn, vergleicht man zwei Falle von passiven Repro- 
duktionen, von denen der eine niederer, der andere hoherer Repro¬ 
duzibilitat ist, dann findet man scheinbar gerade die umgekehrte 
Beziehung: die Reproduktion niederer Reproduzibilitat ist raeoh 
erledigt, die Reproduktion hoherer Reproduzibilitat braucht mehr 
Zeit. Nach der Totalitatstheorie ist das in sich plausibel: kleine 
Vorrate sind rascher verteilt als groBe. Trotzdem aber besteht 
wohl die Beziehung zu recht, daB der Vorgang des Anstiegs der Re¬ 
produktion zum optimalen Stadium mit wachsender Reproduzibili¬ 
tat rascher verlauft. 

Das sieht man besonders bei der durch Wiederholung der Auf- 
fassung erhohten Reproduzibilitat. Gerade diese Falle liefem die 
am raschesten anschaulichen Reproduktionen. Dabei ist natiirlich 
nicht die Wiederholung an sich, sondem die Wiederholung in 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elementaren Aseoziatioji. 319 


hoherem BewuB tseinsgrade, resp. die durch Wiederholung sich 
steigemde Erhohung der BewuB tseinsgrade das wirksame Moment. . 
DaB die bloBe Wiederholung der Auffassungen in niedrigem Be- 
wuBteeinsgrad an sich keine groBeren Reproduzibilitaten schafft 
— die Hauser der StraBe unseres t&glichen Weges —, ist ja auch 
ein ausschlaggebendes Argument fiir die Griindung der Repro- 
duktion auf die Auffassungen, anstatt auf die Empfindungen. 

§ 5. Der sinnvolle Vorstellungsverlauf. 

Die elementargesetzliche Erklarung des geordneten Vor¬ 
stellungsverlauf es , d. h. derjenigen intellektuellen Prozesse, welche 
der praktischen Betatigung des Menschen zugrunde liegen, muB 
stets den einzelnen Forschungswegen auf unserem Gebiet die Rich- 
tung vorschreiben. Erst recht muB das diejenige Psychologie, 
welche die Beachtung ihrer Ergebnisse von der Pathologie bean- 
sprucht. Von Erklarung im Sinne der Physik kann man hier hatiir- 
lich nicht sprechen, denn zu jeder Erklarung gehort ja die Kenntnis 
der Einzelbedingungen, die bei der iiber die ganzen Jahre des Lebens 
sich erstreckenden Komplikation der psychologischen Bedingungen 
naturlich nicht gegeben sein kann. Die Erkferung muB also eine 
grobere sein, sich auf einzelne als typisch herausgegriffene Vor- 
gange stiitzen, wobei vorlaufig immer noch die Abgrenzungen der 
Vulgarpsychologie den Labyrinthfaden bilden miissen. Schema- 
tismus ist dabei nicht zu vermeiden. 

Um die erklarende Fruchtbarkeit der hier dargelegten Theorie 
zu zeigen, soli nur die eine Frage erledigt werden, wie sich die 
Vorstellungen, die wir bei einer rohen inhaltlichen Analyse des 
komplexen sinnvollen Vorstellungsverlauf es finden, auf die ele- 
mentaren Grundgesetze in der Form zuriickfuhren lassen, daB 
auch hier die elementare Reproduktion das Material liefert . Die je- 
weilige Ordnung des Vorstellungsverlauf es, die durch die ver- 
schiedenste gesetzmaBige Verarbeitung dieses Materiales zustande- 
kommt und die zum groBen Teile als determinierende Tendenzen 
zusammengefaBt werden, kann hier naturlich nicht genauer be- 
sprochen werden. Wenn das in kurzen Worten fiir die Gesamtheit 
der intellektuellen Prozesse moglich ware, so wiirde das schon die 
Falschheit der Erklarung genugsam beweisen. 

Als die neuere Denkpsychologie in auBerster Anspannung der 
Methode der Selbstbeobachtung praktisch gegebene intellektuelle 
Vorgange analysierte!), da war das Ergebnis die Verurteilung der 
Assoziationspsychologie, welche die Denkvorgange, im besonderen 
beim ,,Verstehen“ sinnvoller Sprache, als eine Reihe von anschau- 
lichen Vorstellungen beschrieb. Die beriihmte Reihe V x V 2 V 3 . . . . 
wurde in Aoht und Bann getan. Da man nun die iibliche Lehre der 
A. und R., die doch wohl zu ,,exakt“ abgeleitet schien, selber nicht 
anzweifelte, so nahm man ihr hier die Erklarungseigenschaft und 
fiigte den anschaulichen Vorstellungen die unanschaulichen BewuBt-^ 
seinsinhalte als eine neue Klasse von Elementen bei. Es lafit sich 
der Denkpsychologie dabei der Vorwurf nicht ersparen, bei diqser 
Aufstellung der volligen auch genetischen Heterogenitat der unan«^ 

21 * 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



320 Poppelreuter, Ueber den Versuch ewer Revision der 


Digitized by 


8 chaulichen und anechaulichen BewuBtseinsinhalte voreilig gewesen 
zu sein. Denn, weim auch oberflachlich, so hatte doch die lite- 
ratur schon seit langem das Unanschauliche als einer Natur mit 
dem Anschaulichen behauptet. Von alten Psychologen abgesehen, 
Wundt sprach mit der Assoziationspsychologie von ,,dunkleren“ 
Vorstellungen, James hatte die Lehre von den ,.fringes", Marbe 
die Lehre von den ,, BewuB tseinslagen* ‘ ohne diese Gegensatzlich- 
keit entwickelt. Die bloBe Feststellung geniigte also nicht; zu 
einer so schwerwiegenden Theorie hatten doch wohl Beweismittel 
kommen miissen. Immerhin ist der Nachweis, in welch weitem Be- 
trage beim praktisch gegebenen Denkverlauf das Unanschauliche 
iiberwiegt, gegeniiber der alten Bildcheptheorie bemerkenswerter 
Fortschritt genug. 1 ) 

Legen wir die hier entwickelte Theorie der elementaren A. und 
K». zugrunde, dann ist ein Widerspruch, wie ihn die Denkpsychologie 
mit der friiheren Theorie aufwies, nicht mehr vorhanden. M. M. n. 
finden die sinnvollen, die „Bedeutungserlebnisse‘ ‘ gerade dann erst 
ihre Erklarung, wenn man das Totalitatsgesetz anwendet. 

Der allgemeine Zusammenhang des Ganzen, den die Totalitats- 
reproduktion bewirkt, macht eine Wahrnehmung, ein Repro- 
duktionsmotiv „sinnvoll“, gibt die Bedeutung. Auch der Vp. 
unbekanntes Material vorausgesetzt, von „sinnlos“ kann man nur 
bei Gelegenheit der ersten Auffassung dieses Materiales sprechen. 
Auch sinnlose Silben werden sinnvoll, sobald sich die passive Re- 
produktion anschlieBt. Der ReproduktionsprozeB, der auf die 
Totalitat des friiheren Geschehnisses geht, gibt „die Bedeutung, 
die Silben won — laf in dem und dem Zusammenhang gesehen zu 
haben“ 2 ). Das ist doch eine ebensolche Bedeutung, wie wenn re- 
produziert wird: „Rhe!, sagt der Segler, wenn das Boot wendet“ 
usw. 

Doch wenden wir uns erst einmal vom Sprachlichen ab zum 
sinnvollen Optischen. Der Denkpsychologie ist entgangen, daB hier 
in weit scharferer Weise ein Widerspruch mit der herkommlichen 
Assoziationslehre besteht, als es bei sinnvollen Worten der Fall ist. 
Man sieht etwa das Bild eines Holzfallers; mit erhobener Axt neben 
einem Baum stehend. Sollte man nicht erwarten, daB sich nun die 
Vi. V». V,. anschlieBen, und man die anschauliche Vorstellung 
der niedersausenden Axt hatte. Sicherlich hat sich doch in der 
Erfahrung der Anblick der erhobenen Axt dem Anblick des Nieder- 
sausens angeschlossen, man kann sich die Kontiguitat nicht schoner 

l ) Vjgl. hierzu Killpes Sammelreferat liber die Denkpsychologie auf 
dem Berliner PsychologenkongreB 1912. 

’) Wenn dagegen eingewendet wiirde daB das Sinnvolle hier eben der 
sinnvolle Zusammenhang, das psychologische Laboratorium etc. sei, so ware 
dagegen zu sagen, daB es sinnlose Reproduktionen beim Normalen dann 
gar nicht gibt und daB die ganzen hier gegebenen Ausfiihrungen sich nur 
auf das beziehen, was wirklich gegeben ist. Ob hier noch unterhalb dieses 
Sinnvollen noch hypothetische Prozesse anzunehmen seien, das kann ja 
der beweisen, der sich von solchen unkontrollierbaren Reduktionen Erfolg 
verspricht. Bei der geringen Kenntnis der wirlclichen seelischen Vorgange 
vermag ich an die Fruchtbarkeit hypothetischer Orundprozesse vorl&ufig 
nicht zu glauben. 


Gok igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



psychophysiologischen Lehre von der elementaren AssoziatiOn 321 

wfinschen. Nun, dieses V, tritt gar nicht anschaulich auf; nicht- 
psychologische Menschen wundem sich, wie man auf den sonder- 
baren Gedanken kommen konne, danacb zu fragen. Und trotzdem 
erlebt man, trotz der isolierten Einzelpbase und des Fehlens der 
iibrigen anschaulichen Einzelphasen, den ganzen Vorgang. Aller- 
dings im wesentlichen unanschaulich. Dieses Unanschauliche tritt, 
abgesehen vom Erlebnisnachweis —, den iibrigens naive Vppen 
oft nicht gelten lassen — darin hervor, dab die Vp. den ganzen 
Vorgang sprachlich schildem kann: ,,Der Mann erhebt die Axt 
und wird in die Kerbe hauen, um den Baum zu fallen'*. Wenn man 
hier den Ausweg brauchen wollte, dab hier eben nichts Unanschau- 
liches, sondem eben nur die Worte reproduziert seien, dab das ,,Ver- 
stehen** hier also durch verbale Reproduktion erzeugt sei, so wider- 
legt sich das, neben anderen Griinden, dadurch, dab sensorisch 
Aphasische nicht agnostisch werden. Ich habe fiber diese Frage 
Versuche mit kinematographischen Szenen gemacht, u. a. auch 
mit sinnlosem Figurenmaterial. Z. B. war es eine identische Figur, 
diefortwahrend andere Lagen im Gesichtsfelde einnahm, sich dxehte 
und im Gesichtsfelde hin- und herhfipfte. Nach Vorzeigen der un- 
bewegten Figur ergab sich denn auch kurz hinterher noch eine 
anschauliche Reproduktion des betr. Geschehnisses, eine anschau¬ 
lich sich bewegende Figur. Aber schon einige Tage spater war die 
Reproduktion fiberwiegend unanschaulich und bedurfte zur an¬ 
schaulichen Explikation der wittensjn&Qigen Hervorbringung. 
Das Unanschaulichwerden vollzieht sich also auch bei diesem „sinn- 
losen“ Material ganz fiberraschend schnell. Dab hier aber spezifisch 
unanschauliche ,,Bedeutungen“ anzunehmen seien, verbietet die 
doch immerhin anfanglich beobachtete passive anschauliche Ex¬ 
plikation, auch des bewegten Vorgangs. Wenn schon also aus sich, 
durch den bloben Einflub der Latenzzeit ein rasches Unanschaulich¬ 
werden eintritt, eine Reproduktion in der Form des bloben Wissens 
verlauft, so lassen sich noch besondere Umstande namhaft machen, 
die dieses Unanschaulichbleiben noch eigens begfinstigen. Dab 
gerade bei optischen Reproduktionsmotiven die Explikation der 
anschaulich optischen Vorstellungen unterbleibt, das mub dadurch 
begfinstigt werden, dab in der Auffassung die gegenwartige 
reproduzierende Wahmehmung von relativ hohem Bewubtseins- 
grad ist. ,,Die Aufmerksamkeit richtet sich auf das Reproduktions- 
motiv“; es ist also der totale Bewubtseinsgrad des Reproduktes 
schon dadurch ein relativ niedrigerer. Dab, wie man das angenomm 
nommen hat, die optischen Empfindungen an sich die optischen 
Vorstellungen hemmen mfibten, ist nicht der Fall. Wenn wir, in 
Gedanken versunken, die optische Aubenwelt nicht beachten, 
dann konnen die optischen Vorstellungen sehr anschaulich sein; 
dabei sind aber die optischen Empfindungen genau ebenso da, wie 
wenn sie gut aufgefabt wfirden. Das Fehlen der anschaulichen 
Explikation wird also durch die optische Inanspruchnahme der 
Auffassung noch begfinstigt. Dazu kommt noch etwas anderes: 
Als ich the Reproduktion kontinuierlicher kinematographischer 
Szenen mit der Reproduktion von entsprechend langen Reihen 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



322 Popp'ei-reuter, Ueber den Versuch einer Revision etc. 


diakontinuierlicher Einzelbilder verglich, da fiel mir auf, daB iin 
letzteren Fall© die anschauliche Explikation der Einzelbilder eine 
vielausgesprochenere war. Es ist ganz sicher, daB der Reproduktion 
gerade der koniinuierlichen Geschehnisse die Besonderheit zukommt, 
die anschauliche Explikation der Einzelphasen herabzudriicken. 
So daB dann die EinzelphEase, besonders im Lessingschen ,,frucht- 
baren Moment das Geschehnis vorwiegend unanschaulich repro- 
duziert. Wenn wir uns klar machen, daB die w r eitaus iiber- 
wiegende Anzahl von optischen Geschehnissen der vulgaren Er- 
fahrung schon deswegen kontinuierliche sind, weil die Oertlichkeit 
meist fur geraume Zeit konstaiit bleibt, so wird es verstandlich, 
warum gerade bei solchen sinnvollen Bildem usw. die Reproduk- 
tionen im unanschaulichen Stadium bleiben. 

Eine besondere Wichtigkeit beanspruchen die Bedeutungs- 
- erlebnisse der sinnvollen Worte , die dem Sprachverstandnis uhd 
Spontansprfcchen zugrunde liegen. Hierbei muB man sich vor 
aUem die ganz besondere Rolle klarmachen, die die Worte von den 
hier beschriebenen Reproduktionsmotiven unterscheidet. Wir 
haben hier ja nur diejenigen elementaren Falle zugrunde gelegt, 
w© ein bestimmtes individuellesGeschehnis zur Reproduktion kommt. 
Das ist aber nur dann der Fall, wenn ein bis dahin unbekanntes Wort 
ein neues Geschehnis weckt. (Vgl. das obige Beispiel vom Worte 
Rhe!) Wir haben hier also nur Falle zugrunde gelegt, wo die Re- 
produktionsmoglichkeit nach einer Richtung hin stattfindet. Sehen 
wir uns aber die sinnvollen Worte an, so haben wir hier multiple 
Reproduzibilitdten ganz enormen Umfanges. Gegeniiber den un- 
* zahligen Erfahrungszusammenhangen bezw. verarbeitenden Auf- 
fassungen, in denen Worte vorkommen, ist die Anzahl der Worte 
versehwindend gering. Einer kleinen Anzahl von Reproduktions¬ 
motiven steht also eine Unzahl moglicher Reproduktionen gegen- 
iiber. Angesichts dessen muB es wundernehmen, wie man das Pro¬ 
blem des SprachverstancLnisses dadurch gelost zu haben glaubte, 
daB das ,,Wort die entsprechende Vorstellung weekte**. Gerade 
das Umgekehrte ist Problem, warum alle die vielen moglichen 
Reproduktionen jeweils ausbleiben? Nehmen wir nur ein solch 
konkretes Wort wie ,,Soldat“ — fur wie zahlreiche Totalvorstellun- 
gen ist dies Wort ein Reproduktionsmotiv! Wie kommt es, daB 
alle diese ausbleiben, wenn etwa gehort wird ,,im Siebenjahrigen 
Kriege kam ein Soldat abends durch ein Dorf ... V* Im umge- 
kehrten Falle ware jedes Sprachverst&ndnis dann unmoglich. Das 
gilt schon f ur die textlich isolierten Worte; und wenn nun noch dazu 
kommen muB die Aufweisung aller der vielen Faktoren, welche den 
gerade in den jeweiligen Zusammenhang passenden Sinn geben 
sollen, wenn dazu kommt die Besonderheit der syntaktischen und 
grammatischen Verhaltnisse, dann muB man von vornherein die 
Hoffnung auf geben, hier eine glatte Subsumption unter den 
Elementarvorgang der Assoziation und Reproduktion vomehmen 
zu konnen. Hier muB alles in miihseliger Einzelarbeit geleistet 
werden. Nur das eine kann mit einiger Sicherheit auf Grund der 
hier gegebenen Prftmissen gesagt werden: Nimmt man die Be- 


Difitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



J'orger, Ueber A^oKiationen bei Alkohplikem. 323 

<Leutungserlebnis8e der sinnvollen Worte rein deskriptiv, unter 
Verzicht auf die Erkl&rung dee jeweils zuetande gekommenen 
speziellen Sinnes, datin ist keine Schwierigkeit vorhanden, in der 
unanschaulichen Erlebnisweise und der Totalit&t der Vorstellungen 
das Zugrundeliegen der elementaren Reproduktion zu behaupten. 

Ein groBer Teil pathopsychologischer Untersuchungen beruht 
mehr oder weniger wesentlich auf der hier bekampften Lehre. 
Es ware zu fragen, ob nicht wenigstens ein Teil der Diskrepanz 
klinischer Falle mit den zugrunde gelegten Theorien durch An- 
wendung der hier rfcvidierten Lehre von der A. und R. ihre Har- 
monie finden wiirden. Wenn mir das auch personlich so zu sein 
scheint, so kann doch nur die Einzeluntersuchung Entecheidendes 
bringen. Die einfache Uebertragung des psychologisch Gewonnenen 
auf die Pathologie muB zu einem Schematismus fiihren, von dem 
beide Teile wenig haben. Die vorliegende Untersuchung scheint 
wir zu beweisen, daB die Uebertragung der in der Psychologie iib- 
lichen willensmaBigen Gedachtnismethoden nie und nimmer die 
von Pathologen ausgesprochene Hoffnung erfiillen kann 1 ), damit 
zu den pathologischen Veranderungen der Grundfunktionen zu ge- 
langen. Das stereotype Ergebnis, daB die Psychosen mit Intelli- 
genzdefekt weniger leisten als Normale, ist sicherlich zumeist 
weniger auf die Stoning der Grundprozesse der A. und R. zu be- 
ziehen als auf die Stoning der determinierenden Vorgange. Und 
das laBt sich schon sehr schwer beim Normalen, beim Kranken 
noch schwerer auseinanderhalten. Zudem stellt das iibliche Aus- 
wendiglemen eine so spezielle intellektuelle Leistung dar, daB sich 
weitergehende Schliisse von selbst verbieten. Und wenn auch 
schlieBlich diese Storungen das Interesse des Untersuchers finden, 
so lassen sich diese auch ohne die von der Psychologie ubemommene 
AuBerliche zeitraubende Exaktheit gewinnen. 

(Aus der psychiat. Uuiversitats-Klinik Burgholzli-Zurich. 

[Dir. Prof. Dr. Bleuler].) 

Ueber Assoziationen bei Alkoholikern. 

Von 

JOH. BEN. JORGES, 

II. Aftsistent des Burghdlzli. 

(SchluB.) 

Wenn wir nun die Schwankungen im Verlaufe des Experimented 
selbst zeigen mochten, so ist es klar, daB wir damit nicht die eben 
besprochenen Anfangsreaktionen meinen, die man nicht als voll- 
ghltig ansehen kann, sondern es sind die Verhaltnisse, die die ver- 
schiedenenKategorien derReaktionen im erstenTeil gegeniiber den 
50 Reaktionen des zweiten Teils zeigen. Dies sollen die iolgenden 
Zahlen darstellen: 

„ *) Vgl. Gregors „Psychopathologie“. Leipzig 1912 und Ranschburgs 

,,Ueber das gesunde und kranke Gedaohtnis". Leipzig 1910. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


324 J 6 r g e r, Ueber Assoziationon bei Alkoholikem. 


Tabelle V. 


Nam© 

Tag 

Teil 

Ko- 

ordina- 

tion 

Pr&- 

dikat 

Ko- 

existenz 

Mo- 
tori sch 

Sinnlos 

1. J. E. . . 

0 

I 

21 

1 

7. 

12 

2 



II 

43 

1 

8 

9 

0 

3. M. J. . . 

4. 

I 

25 

4 

8 

2 

7 



ii 

30 

14 

2 

2 

1 


7. 

i 

17 

15 

8 

3 

3 



II 

28 

16 

• 5 

1 

1 

5. Sch. G. . 

0 

I 

6 

6 

1 

28 

1 



II 

4 

7 

0 

36 

0 


40. 

I 

17 

13 

1 

18 

a 



II 

20 

14 

6 

9 

0 

6. W. R. . . 

0 

I 

18 

7 

2 

2 

a 



II 

22 

9 

2 

6 

2 


6. 

I 

23 

18 

0 

2 

2 



II 

29 

21 

1 

4 

0 


8. 

I 

26 

18 

1 

1 

0 



II 

60 

0 

2 

0 

0 

7. Sch. R. . 

3. 

I 

25 

1 

5 

11 

2 



n 

38 

2 

5 

5 

0 

11. B. J. . . 

3. 

i 

21 

1 

4 

7 

11 



ii 

12 

5 

6 

3 

23 

12. L. K. . . 

5. 

i 

8 

24 

10 

5 

1 



ii 

12 

28 

4 

0 

2 

13. K. F. . . 

7. 

i 

32 

4 

7 

1 

0 



ii 

20 

32 

0 i 

1 

1 

14. Ru. . . . 

21. 

i 

29 

5 

l ; 

f 11 

1 



ii 

36 

0 

8 1 

1 8 

0 


Die vorliegende Tabelle wird in Analogic der zweiten und dritten 
leicht verstandlich sein. Jede wagrechte Kolonne entspricht der 1. 
oder 2. Halfte einer Reaktionsreihe. Es folgt aus der Tabelle das 
gleiche Resultat fur das Verhaltnis der ersten zu den zweiten 50 Asso- 
ziationen, wie vom ersten Assoziationsexperiment zu einem nach- 
folgenden. Die inneren Assoziationen nehmenzu, die Koexistenzen, 
motorischen und sinnlosen Reaktionen ha bon im zweiten Teil die 
Tendenz abzunehmen. DieAusnahmen davon mochten wir, wie 
friiher, teils individuellen Faktoren zuschreiben, teils einer Auf- 
merksamkeitsstorung. 

Die Zahlen in Tabelle VI sprechen nicht so deutlich wie 
die der vorhergehenden. Die Wiederholungen des Reizwortes zeigen 
fast ebenso oft die Tendenz zum Fallen als die zum Steigen. Die 
Wiederholungen der gleichen Reaktionsworte hingegen steigen 
durchgehend sowohl in der Anzahl der Worte, die wiederholt 
werden, als auch in der Anzahl der Wiederholungen selbst. 1st diese 
Tendenz zur motorisch-mechanischen Abwicklung der Reaktion 
wohl ein Erschopfungssymptom ? Oder ist es eine Aufmerksam- 
keitsstorung ? 

Wir fiigen hier als kleinen Exkurs einige Bemerkungen iiber 
die Komplexe bei, wie sie sich in den Reaktionsreihen zeigen. 

Vera Strasser (6) kommt in ihrer Studie zum Schlusse, daB ihre 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 325 


Tabelle VI.. 


Name 

Tag 

Teil 

Wieder- 

holung 

des 

Reiz- 

wortes 

Wieder- 

hohing 

von 

Reak* 

tionen 

Re- 

produk- 
tionen . 

Wahr- 

schein- 

liches 

Mittel 

• 

1. J. E. • • • 

0 

I 

18 

V. 

34 

14 



II 

22 

7, 

39 

15 

3. M. J. . . . 

4. 

I 

1* 

•A 

24 

12 



II 

2 

*/l7 

2 

12 


7. 

I 

3 

Vi* 

36 

11 



II 

1 

V,i 

41 

11 

5. Sch. G. . . 

0 

I 

14 

0 

35 

13 



II 

7 

0 

31 

14 


40. 

i 

5 

7. 

39 

11 



II 

5 

v». 

41 

16 

6. W. E. . . . 

0 

I 

6 

7. 

15 

17 



II 

2 

Vi. 

27 

16 


5. 

I 

6 

•/» 

28 

14 



II 

8 

Vi, 

32 

16 


8. 

I 

12 

7, 

37 . 

16 



II 

8 

Vi, 

40 

17 

7. Sch. R. . . 

3. 

I 

6 

7. 

31 

10 



11 

8 

7i, 

27 

10 

11. B. J. . . . 

3. 

0 

0 

7. 

23 

10 



II 

1 

7n 

16 

9 

12. L. K. . . . 

5. 

I 

0 

7,r 

25 

10 



II 

0 

7u 

32 

10 

13. K. F. . . . 

7. 

I 

3 

7, 

46 

10 



II 

6 

7.. 

48 

10 

14. Ru. ... 

21. 

1 

7 

7. 

34 

12 



II 

3 

7, 

51 

13 


Experimente gegen die Erwartungen der Zurchergchule fiihrten, 
die das AsBoziationsexperiment mit Komplexmerkmalen belastet 
annimmt. Sie sagt S. 45: ,,Warum nun, wenn die affektbetonten 
Vorstellungen eine bo grofie Bereitschaft besitzen sollen, im Asso- 
ziationsexperimente sich zur Geltung zu bringen, treten sie nicht 
bei den Alkoholikem auf, deren Krankengeschichte von affekt¬ 
betonten Vorkommnissen so uberfiillt sind, und deren Affekt- und 
IntellektauCerungen sich eben gerade durch die Labilitat aus- 
. zeichnen. Ich meine damit nicht, daB die Assoziationsreihen eines 
jeden Alkoholikers uns auf Komplexe hinweisen sollten, aber es ist 
merkwiirdig, daB im Experiment derartige in der Entwicklung des 
Seelenlebens eines Alkoholikers sich so oft wiederholende Vor- 
kommnisse, wie z. B. Mord, Selbstmord, Brandstiftungsversuche, 
auch die Komplexe des Wandertriebes, der Eifersucht nicht auf- 
tauchen, wenn auch nicht bei jedem, dessen Leben damit behaftet 
war.“ 

Wir haben kein Urtoil dariiber, ob in der Betrachtungsweise 
von der AdZerschen Lebenslinie und den Organminderwertigkeiten 
aus die Komplexe im Assoziationsexperiment ein anderes Aus- 
sehen haben. Wir mochten aber im nachfolgenden einige Asso- 
ziationen zusammenstellen, die doch gewiB nicht anders als kom- 
plexbetont anzusprechen sind. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 






526 


J 6 r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 


No. 11. 

B. J., Delirium tremens, Landwirt: 


53. Hunger 

— Katze 

7 

Durst. 


54. weifi 

— Wais© 

12 

+• 


55. Kind 

— Sohn 

10 

Bruder. 


56, auf passe n 

— Tochter 

10 

lie ben. 


57. Bleistift< 

— lieb 

7 

Feder. 


58. traurig 

— Messer 

6 

lieblich 


59. Pflaume 

— Birne 

25 

+• 


60. heiraten 

—• Lamp© 

9 

lieben. 

« 

61. Haus 

-— Messer 

9 

Stadt. 


Der Krankengeschichte dieses Patienten entnehmen wir, daB 


©r in der G©meinde seit Jahren als schwerer Schnapssaufer be- 
riichtigt war. Seine Frau war nicht lange vor der Intemierung 
gestorben und hatte mehrere Kinder als Waisen hinterlassen. Nicht 
latige nachher brachte sich ein Kamerad des Patienten um, mit dem 
©r viel herumgetrunken hatte. Endlich sahen sich die Behorden 
veranlaBt, den Patienten wegen Drohungen gegen Gemeinde- 
genossen und Angehorige ins Gefangnis zu stecken und von dort 
aus wegen Delirium tremens in der Irrenanstalt zu intemieren. 

Alle diese Vorkommnisse spielen in den oben zitierten Asso- 
ziationen. Auf ,,weiB“ reagiert Patient mit ,,Waise“, dann folgen 
,,Sohn“, ,.Tochter“ und ,,heb“ als Reaktionsworte, ,,aufpassen— 
Tochter“ und ? ,Bleistift-—lieb“ sindsinnloseReaktionen. ,,Waiser“— 
,, Sohn‘ ‘—, ,Tochter‘ 4 —. ,lieb ‘ 4 bedeutet eine Perse verationsreihe. 
Auf ,,traurig“ reagierte Patient mit ,,Messer“; die Reaktion ist 
©rttw r eder durch den Selbsttnord seines Freundes oder durch seine 
Drohungen gegeniiber Angehorigen und Mitbiirger komplex- 
betont. Dies zeigt auch die verlangerte Reaktionszeit der folgenden 
Reaktion ,,Pflaume“—,,Birne“ von 25 y 5 Sekunden an, wahrend 
fiir die komplexbetonte Reaktion ,,traurig“—,,Messer <£ die Zeit 
nicht verlangert ist. Die Verlangerung der Reaktionszeit ist auf eine 
nachfolgende nicht komplexbetonte Reaktion verschoben worden. 
Endlich erscheint das Komplexwort ,,Wasser <£ perseverierend als 
. sinnlose Reaktion nach 2 Reaktionen wieder. 

Besser noch ist vielleicht das folgende Beispiel: Es stammt aus 
einer Assoziationsreihe, die am 5.Tage nach dem Eintritt des 
Deliranten E. W. aufgenommen wurde: 


86. bezahlen 

—- Schulden 

13 

+. 

87. Schlange 

— Pferd 

54 

+. 

88. fein 

— grob 

8 

+• 

89. Liebe 

— sittlich 

75 

(unsittlich). 

90. helfen 

— behaglioh 

15 

geholfen. 


Die Bedeutung der Komplexreaktion ,,Schlange“—,,Pferd‘ fc 
konnten wir nicht erfahren. Zu ,,Liebe 4< —,,sittlich“ sagte Patient 
nach langen Ausfliichten, es geb© auch eine unsittliche Iiebe, er 
nehme sich eben auch von Zeit zu Zeit ein Madchen. 

Vielleicht treten wirklich in den Assoziationen der Alkoholiker 
die Komplexkonstellationen nicht so offensichtlich und so haufig 
auf, wie in den Assoziationen Normaler. Diese beiden Beispiele 
diirften aber geniigen, um zu zeigen, daB der EinfluB der Komplexe 
auch bei Alkoholikem nicht fehlt. Wir weisen auch auf den zitierten 
zweiten Fall mit Satzreaktionstypus (Patient No. 9, H. J.). Alle 
seine Reaktionen drehen sich mehr oder weniger um Frau, Kind 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Jorger-, Ueber Asseziationen bei Alkoholikem. 327 

und semen Aufenthalt in der Anstalt, und seine an und fur sich 
aehr veri&ngerten Reaktionszeiten werden von solchen unter- 
brochen,die bis zu 140 l / 6 Sekunden ansteigen. Auch in den zitierten 
Tabellen Strassers kann man ersehen, wie viele Reaktionen komplex- 
betonte sein mfiseen, wie die stark erhohte Reaktionszeit angibt, 
meist verbunden mit mangelnder Reproduktion. Daft man solche 
Reaktionen da und dort auch mit Hilfe des Patienten selbst nicht 
zu einem Komplex gehorend nachweisen kann, spricht nicht dafiir, 
daft sie nicht doch komplexbetont sind. Es ist iibrigens moglich, 
daft die Alkoholiker weniger Komplexreaktionen haben, sind doch 
auch ihre Delirien auffallend arm an Komplexinhalten. Auch der 
Organische, der ja so viele Aehnlichkeiten mit dem Alkoholiker 
hat, bildet allgemeine Pathopsychismen (GroBenwahn, KleinheitS- 
wahn), aber sehr wenig katathyme Reaktionen. 

Besprechung der Ergebnisse. 

Es ist nun nicht leicht, die Ergebnisse unserer Untersuchung 
einzuordnen und einen Schliissel zu ihrer Erklarung zu finden. 

Wir haben im ersten Abschnitt der Arbeit versucht, einen Teil 
der Resultate in Parallele zu setzen mit den ErgebnissenRrwwc/i- 
weilers bei organischen Patienten. Wir bezeichneten diese Resultate 
mit „organisch“, ohne damit eine Erklarung geben zu wollen. Es 
war dies, um nochmals zu resiimieren: 

Die Vermehrung der Klangassoziationen und der sinnlosen 
Reaktionen, eine sehr haufige Wiederholung des Reizwortes, eine 
erhohte Zahl von Perseverationen und Wiederholungen derselben 
Reaktionen, eine verlangerte Reaktionszeit und eine verminderte 
Zahl von Reproduktionen. 

Es erhebt sich nun die Frage nach der Ursache einer solchen 
Storung. Wenn sie in ihren Erscheinungen analog der Storungen 
ist, die im Assoziationsexperiment bei Versuchspersonen mit einer 
paralytischen oder senilen, also organischen Veranderung auf- 
treten, so diirfte vielleicht die Ursache ebenfalls entsprechend be- 
griindet werden konnen. Es ist sehr gut denkbar, daft der Alkohol 
anatomisch ahnlich auf das Gehim und speziell die Zelle wirke, 
wie die schadigenden Agentien bei Paralyse und Senilitat. Viele 
sich gleichende Prozesse sind selbst makroskopisch nachweisbar, 
wie Reduktion der Gehimmasse, Verdickung der Haute und 
anderes. Wir wissen aber iiber die feineren anatomischen und vor 
allem funktionellen Zusammenhange der Schadigungen nichts. Die 
Frage bleibt darum offen. 

Daft auch von anderer Seite und in anderen Zusammenhangen 
an einen Parallelismus von alkoholischen und organischen Psychosen 
gedacht wird, zeigt ein Referat in der Zeitschrift fiir Neurologic 
und Psychiatric xiber eine uns leider nicht zugangliche russische 
Arbeit Stiedas in der Rundschau der Psychiatrie, Neurologie und 
experimentellen Psychologie 18. 366. 1913. Verfasser zieht 

Parallelen zwischen den alkoholischen und senilen Psychosen und 
schreibt verschiedenen atiologischen Faktoren sowohl der exogenen 
Alkoholintoxikation als auch der endogenen Noxe bei Senilitat eine 
bestimmte Lokalisation in den Geweben des Zentralnervensystems zu. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



328 Jcrger, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 

Wir mochten aber dieee „organischen“ Storungen auch in 
Vergleich ziehen mit den Ergebnissen der Assoziationsexperimente 
Aschaffenburgs im Erschopfungszustand, mit der Frage, ob diese 
Storungen nicht als ein Erschopfungssymptom zu betrachten waren. 
Nach Verwom und Krapelin bedeutet ,,Ermiidung“ die durch Auf- 
haufung und Vergiftung mit Zersetzungsprodukten entstehenden 
L&hmungserscheinungen; „Erschopfung“ die Wirkung des Ver- 
brauchs notwendiger Stoffe. Aschaffenburg (5) kommt aber in 
seinen Betrachtungen zum Schlusse, ,,mit dem Ausdruck der Er- 
schopfung nichts weiter zu bezeichnen, als eine Summe von Schadi- 
gungen, die zu einem das MaB der gewohnlichen Ermudung iiber- 
steigenden Zustand fiihren sollte“. Die Erschopfung hat nun nach 
seinen Arbeiten folgende Einwirkung auf das Assoziationsexperi- 
ment: 1. sie lockert die engen begrifflichen Beziehungen zwischen 
Reizwort und Reaktion, und es treten solche Assoziationen auf, 
die der langgewobnten IJebung ihre Entstehung verdanken. Die zu- 
gerufene Vorstellung wirkt immer weniger durch den Inhalt; 
Klang und Tonfarbe bestimmen die Reaktion; 2. die motorischen 
Reaktionen sind erleichtert durch eineErleichterungderBewegungs- 
antriebe; 3. der EinfluB auf die Dauer der Reaktionen ist gering, 
wenn vorhanden, im Sinne der Verlangerung der Zeiten imd Streu- 
ung der Werte. 

Der Alkohol kann nun sehr gut einerseits durch seine Giftig- 
keit „ermudend“ auf die Zelle wirken; anderseits kann auch die 
so geschw&chte Zelle in den Zustand der „Erschopfung <( geraten 
sein. Ob dem so sei, lassen wir offen. Fur uns geniigt, daB unsere 
Resultate mit denen Aschaffenburgs parallel gehen. 

Leider beziehen sich die seinen nur auf die Erleichterung der 
motorischen Fahigkeiten, Vermehrung von Klangassoziationen 
und eine Tendenz zur Verlangerung der Reaktionszeit. Wenn nun 
die Uebereinstimmung der beiden Resultate sich auch nicht auf 
alle Teile bezieht und darum nicht weitgehend genug ist, um daraus 
das Wesen der Alkoholstorung bei den Assoziationen als eine Er- 
schopfungswirkung zu erklaren, so ist sie doch so, daB sie in Dis- 
kussion gezogen zu werden verdient. 

Endlich braucht die ,,Erschopfung“ nicht so tiefgehende Sto¬ 
rungen zu machen wie die Vergiftung mit Alkohol. Es kann sehr 
gut sein, daB die Alkoholstorungen eine Fortsetzung von Storungen 
sind, die mit den Symptomen von „Erschopfung“ beginnen. Bei 
Aschaffenburgs Versuchen z. B. erscheint die Tendenz zur Ver¬ 
langerung der Reaktionszeit, wahrend sie beim Assoziations- 
experiment der Alkoholiker konstant geworden ist. Wahrscheinlich 
hatte Aschaffenburg auch eine Tendenz zu verminderter Repro- 
duktionsfahigkeit gefunden, wenn er in seinen Versuchen die Re- 
produktionsreihe aufgenommen hatte. 

Es tritt nun ein scheinbarer Widerspruch auf. Wenn man die 
aufgezahlten Symptome als „organische“ ansieht und sie mit einer 
Erschopfungswirkung in Zusammenhang bringen will, so ist es 
merkwiirdig, daB sie, wie wir oben zeigten, im Laufe eines Experi- 
mentes nicht zu-, sondern abnehmen, gleichw ie in der Reihe mehr- 
facher Experimente bei der gleichen Versuchsperson. Dies fiihrt 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



J o r g e r, Ueber Assoziationen bei Alkoholikem. 329' 

zur Frage, ob man nicht auch eine Aufmerksamkeitsstorung als ’ 
Erklarung herbeiziehen kann. Die Versuchsperson konnte ihre 
Aufmerksamkeit erst im Laufe des Versuches allmahlich konzen- 
trieren, sie wurde sich erst nach und nach ,,einstellen“. Jung (1) 
weist in seinen Assoziationsstudien immer wieder auf eine solche 
Storung hin. Er bezeichnet das Auftreten von Klangreaktionen und 
Verflachung des Reaktionstypus direkt als Kriterium fiir eine Auf- 
merksamkeitsstorung. Er zeigt auch, daB im Assoziationsexperi- 
ment, das unter den Bedingungen der Ablenkung gemacht wurde, 
eine Verflachung nach der Richtung des Gewohnten und Mechani- 
sierten stattfindet. Die Aufmerksamkeit kann nicht im vollen 
MaBe dem Assozieren zugewandt werden, infolgedessen treten Re- 
aktionen^auf, die als lange eingeiibte motorische Reaktion bereit- 
liegensie bedingen dann die Erhohung von Klangreaktionen und 
eine Verflachung des Typus. 

Es mtiBte dann also beim Alkoholiker so sein, daB er nicht 
imstande ware, sowohl im ersten Experiment einer Versuchsreihe, 
als auch im Anfange eines einzelnen Experimentes selbst seine Auf¬ 
merksamkeit zu konzentrieren. 

Dem widerspricht aber schon die Beobachtung, daB die Ver- 
suchspersonen dem Experiment mehr Aufmerksamkeit schenken, 
je naher man dem Beginn der Sitzung steht und je neuer und un- • 
gewohnter der Vorgang ist. Einer Sache, die man schon ver- 
schiedentlich gemacht hat, wendet man viel weniger Aufmerksam- 
keit zu, man laBt sich mehr ablenken und iiberlaBt der mechanischen 
und eingeiibten Abwicklung der Reaktion die Leitung. Unsere Er- 
gebnisse widersprechen aber dieser Ueberlegung. Darum kann es 
sich auch im Anfange eines Assoziationsexperimentes nicht um eine 
Aufmerksamkeitsstorung handeln und ebensowenig in den spSteren 
Experimenten der Serie. 

Dazu kommen aber als Argumente gegen eine Aufmerksam- 
keitsstorung die Beobachtungen, die wir als zweite Komponente 
der Assoziationsstorung auffuhrten. Es sind: die hohe Zahl von 
koordinativen und pradikativen Assoziationen, mit andem Worten 
der hohe Reaktionstypus, dann die verminderte Zahl von Identi- 
taten und sprachlich-motorischen Reaktionen und Konsonanzen; 
alle diese Werte steigen im Experiment sowohl als auch in der Serie 
parallel mit der Zunahme der Reproduktionsfahigkeit. 

Vielleicht sind diese Resultate als Zeichen einer Auf fassungs - 
storung zu betrachten. Die Symptome der ,,organischen“ Storung 
verschwinden sowohl im Experiment als auch in der Serie von Ver- 
suchen, sie machen diesen Zeichen der Auffassungsstonmg Platz, 
oder besser gesagt, sie lassen sie tibrig. Die Auffassungsstorung 
bildet eine Teilerscheinung der ,,organischen“, sie geht tiefer und 
iiberdauert darum die Zeichen der ersteren. 

Der Alkoholiker faBt weniger schnell auf. Um sich das Reiz- 
wort zu verdeutlichen, spricht er es sich noch einmal vor. Verlang- 
samte Auffassung und Nachsprechen des Reizwortes bedingen eine 
Verlangerung der Reaktionszeit. Je mehr nun die Versuchsperson 
im Verlauf des Assoziationsversuchs sich in dasselbe einarbeitet, 
■desto mehr antwortet sie demReiz entsprechend,man mochte sagen, 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



330 


J o r g e r, Ueber Aasoziationen bei Alkoholikem. 


desto mehr reagiert sie smngem&B. Es steigen die inneren Asso- 
ziationen, die sprachlich-motorischen versch winden, ebeneo Identitat 
und Klang, es kommen weniger Fehler vor, es schwinden Perse- 
verationen und sinnlose Reaktionen. Die Versuchsperson kann 
dann auch ihre Reaktionen, die sie auf besser aufgefaBte Reize ge- 
geben hat, besser behalten und vermag dann eine groBere Zahl der- 
selben zu reproduzieren. 

Weil nun die Versuehsperson weniger schnell auffaBt, laBt sie 
sich im Anfange oft verleiten, auf den bloBen Klangreiz eine Ant- 
wort zu geben, sie nimmt dazu eingesessene Assoziationen zu Hilfe, 
sie antwortet mit einer sprachlich-motorischen Reaktion. Hat sie 
keine solche zur Hand, so gibt sie irgendeine Evokation auf den 
Reiz, es entsteht eine sinnlose Reaktion. Ihre Aufmerksamkeit 
wendet sie aber nicht weniger dem Experimente zu als spater. 

Will man mm die Aunassungsstorung annehmbar erscheinen 
lassen, so miiBten sich auch die Ausnahmen einordnen lassen, die 
in den Tabellen vorkommen, yor allem No. 7 der zweiten Tafel, bei 
welchem die Zahlen gegen die Regel zu- resp. abnehmen. Nimmt 
man fur diese Ausnahmen eine Aufmerksamkeitsstorung an, die 
gegen den SchluB hin grofler wird, so ergibt sich die Zvmahme der 
sprachlich-motorischen Reaktionen, d. h. der Uebergang zum 
flachen Typus von selbst. 

Im Sinne der Annahme einer Auffassungsstorung spricht auch 
der Uebergang von den Wortreaktionen zu den Satzreaktionen 
innerhalb eines Experimentes, wie oben gezeigt worden ist. Im 
Anfange der Reihe wirkt der klanglicheReiz allein, je mehr die Auf- 
fassung des Sinnes zunimmt, desto mehr hat die Versuchsperson 
die Tendenz, zum Wort eine sinngemaBe Erklarung in der Reaktion 
zu geben. Reagiert sie nur in Worten, so dominieren Koordinationen, 
pr&dikative und kausale Reaktionen, reagiert sie in Satzen, so 
werden die Reaktionen in immer langere Erklarungen eingehullt. 
DaB die Versuchsperson in Satzen reagiert, hat aber mit der Auf¬ 
fassungsstorung nichts zu tun, dieses Zeichen gehort zur „orga- 
nischen" Komponente der alkoholischen Assoziationsstorung und 
ist als ein Kriterium der GroBe der Storung anzusehen. 

Als letztes Argument fiir eine Auffassungsstorung muB die 
deutliche Tendenz sprechen, gegen den SchluB der Experimente 
hin immer wieder gleiche Reaktionen zu wiederholen. Dadurch, 
daB die Auffassung verlangsamt erscheint, kommt die Reaktion 
gleichsam so oft wieder, bis der Begriff aufgefaBt wurde. Wir 
sehen im taglichen Leben, daB wir selbst oft eine Frage wieder¬ 
holen, die wir nicht verstanden haben, und daB uns ein schlecht 
aufgefaBter Begriff immer wieder beschaftigt, so lange bis er ent- 
weder als verstanden gleichsam auf die Seite gelegt wurde, oder 
durch andere aktuellere Gedankengange in die Vergessenheit ge- 
driickt wird. Darum wiederholt der Alkoholiker so oft Reizworte, 
die er nicht aufgefaBt hat, darum antwortet er so oft mit der 
gleichen Reaktion, so lange bis er die Gedankenverbindung erfaBt 
hat oder bis neue in seinem wenig mobilen Assoziationsschatz 
fliissig geworden sind. In diesem Sinne spricht die Verteilung der. 
wiederholten Worte. Es gibt deren zweiArten. Die einen nannten 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSETY OF MICHIGAN 



Jorgtor, Ueber Assozi&tkmen bei Alkoholikem. 


331 


Digitized by 


wir mit Brunschweiler die unpersonlichen AeuBerungen des „Iohs", 
z. B. das Reizwort „Mann"; ,,Mensch“ oder „Leute". Antwortet 
eine Versuchsperson mit einem solchen, so kommt diese Beaktion 
iiber die ganze Reaktionsreihe gleichmaBig zerstreut vor. Die 
anderen Worte aber, mit denen die Versuchspersonen perseverieren, 
kommen z. B. iiber 20—30 Reaktionen verteilt vor, vorher und 
nachher aber nieht mehr. Dafi dies gegen den SchluB des Experi- 
mentes haufiger vorkommt als in der ersten Halite, zeigten wir 
schon oben. Wir fiigen noch ein Beispiel bei: 

Der Patient No. 3, M. J M reagiert in der Reaktionsreihe des 
7. Tages 20 mal mit ,,Mensch“. Er braucht diese Reaktion das 
erstemal bei dem 10. Reizwort, das letztemal beim 100. Mit „Leut«“ 
reagiert er 6 mal das erstemal bei dem 19., das letztemal beim 
95. Reizwort. Mit dem Wort „Wasser“ hingegen beantwortet er 
5 mal Reaktionen zwischen dem 7. und 37. Reiz, mit „Kinder“ 
3 mal zwischen dem 62.—99. Reize. Auf einer anderen Assoziations- 
tabelle „Tiere" 3 mal vom 72.—99. Reizwort. Ein anderer Patient 
reagiert vom 38.—72. Reiz 8 mal mit „Eigenschaft“, vom 29. bis 
67. 5 mal mit ,,zum Essen". 

Es bleibt noch eine Beobachtung zu erklaren iibrig, die 
Schwierigkeiten zu machen scheint, wenn wir bei den Alkoholikem 
eine Auffassungsstdrung annehmen wollen. Es ist die groBe 
sprachmotorische Leichtigkeit, mit der die Alkoholiker im gewohn- 
lichen Gesprache reagieren. Wenn wir sie aber im ersten Teil der 
Assoziationsreihe unterbringen, wo die sprachlich-motorischen 
und die Klangassoziationen vorwiegen, so ware sie von der ,,orga- 
nischen" Storung abzuleiten. TJnterbindet man hingegen einem 
Alkoholiker seinen RedefluB und seine Konfabulationen, verlangt 
man etwas Bestimmtes und etwas Positives von ihm, dann tritt 
der zweite Teil in sein Recht, der Alkoholiker schuldet lange die 
Antwort, und der Inhalt derselben zeigt, daB er die Frage schlecht 
oder gar nicht aufgefaBt hat. 

Unter dieser Betrachtungsweise gibt es auch einen Erklarungs- 
versuch, durch welchen der oben hervorgehobene Unterschied 
zwischen unserem Versuchsmaterial und dem aus der Krdpdinschen 
Schule ersichtlich ist. Setzt man die Untersuchungen Riidins (7) 
iiber die Wirkung einer einmaligen Gabe als erstes Glied einer 
groBen Versuchsreihe, als folgendes Glied der Kette die Experi- 
mente von Krapdin und Kiln (8) und Smith, die einen leichten 
chronischen Alkoholismus erzeugten, und als drittes Glied unsere 
Versuchspersonen, so muB auch eine entsprechende Steigerung 
der Symptome sich ergeben. Der Abstand zwischen unseren Ver¬ 
suchspersonen und denen der zitierten Autoren ist ein sehr groBer. 
Durch ihn konnen sehr wohl alle oben erwahnten Verschiedenheiten 
entstehen, die den klinischen vom experimentell erzeugten chro¬ 
nischen Alkoholismus unterscheiden. 

Setzt man nun sowohl das Experiment mit der einmaligen^ 
Alkoholgabe als auch diejenigen Versuche mit mehrmaliger Ver- 
giftung in den ersten Teil der Assoziationsreihe, so gehoren die 
Versuchsergebnisse zur „organischen“ Komponente. Das Gift 
hat noch nicht so lange und intensiv gewirkt, daB die Auffassungs-. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


332 J-'d-r g e r, Ueber Assotriationen bei Alkoholikem. 

storung sichtbar wird, dafl sie eine scheinbare Umkehr der Ergeb- 
nisse der einzelnen Assoziationsgruppen zeitigen kann. Aus einer 
solchen Ueberlegung heraus durften wir auch von dem experimented 
erzeugten Alkoholidtnus ausgehen, um die Storungen des chro- 
nischen im klinischien Sinne zu betrachten. 

Es bleibt fraglich, ob diese Auffassungsstorung etwas Selb- 
atandiges iat, oder ob sie eine Teilerscheinung der organisohen 
Storung iat, so daB erst die grofie organische Komponente wirkt, 
die rasch verschwinden wiirde und dann als Best eine Auffassungs- 
storung iibrig lieBe. Diese wiirde dann im Laufe des einen Experi- 
mentes zum andem, d. h. mit der fortschreitenden Emiichterung, 
abnehmen. 

SchluB-Satze. 

I. Die Storungen bei den Assoziationen der Alkoboliker lassen 
sich in 2 Gruppen zerlegen: 

1. Eine Verlangerung der Reaktionszeit, eine Neigung zu 
Wiederholungen von Reizworten und Reaktionsworten, eine er- 
bdhte Zahl innerer Assoziationen und eine entsprechend verringerte 
Zahl sprachbch-motorischer Assoziationen. 

2 . Eine Vermehrung sinnloser Reaktionen und Perseverationen, 
verminderter Reproduktionsfahigkeit, Neigung zu Reaktion in 
Satzform. Vermehrung von Klangassoziationen. 

II. Die unter 1. aufgezahlten Ergebnisse zeigen sowohl in der 
einzelnen Assoziationsreihe als in der Serie von Experimenten 
wahrend der Erbolung unter Abstinenz eine Zunahme oder zum 
mindesten die Tendenz, ausgesprochener zu werden. Die unter 2 
aufgezahlten Zeichen nehmen im Gegensatz dazu ab. 

III. Die letzteren Ergebnisse mit der verlangerten Reaktions¬ 
zeit gehen parallel den Resultaten Brunschweilers bei organischen 
Kranken. 

IV. Die sub 1 aufgezahlten Ergebnisse lassen sich mit einer 
Auffassungsstorung am besten erklaren. 

Literatur- Verzeichnis: 

1. C. G. Jung und Fr. Riklin , Experimentelle Untersuchungen iiber 
Assoziationen Gesunder, Diagnostische Assoziationsstudien. Band. I. 

1. Beitrag Leipzig, Amb. Barth. 1906. 2. K. WehrUn , Ueber Assoziationen 
von Imbezillen und Idioten. Diagnostische Assoziationsstudien. Band I. 

2. Beitrag. Leipzig, Amb. Barth. 1906. 3. C. G . Jung , Ueber das Verhalten 
der Reaktionszeit beim Assoziationsexperiment. Diagnostische Assoziations¬ 
studien. Band I. 4. Beitrag. 4. H. Brunschweiler , Ueber Assoziationen bei 
organisch Dementen. Diss. Zurich 1912. Gebr. Leemann. 5. G . Aschaffen- 
burg, Experimentelle Studien iiber Assoziationen. I. und II. Psycholog. 
Arbeiten herausgegeben von E. Krapejin. Leipzig, Engelmann. 1896. 
6. F. Stra88er- Eppelbaum, Zur Psychologic des Alkoholismus. Schriften fur 
Individualpsychologie. No. 6. Miinchen, Reinhardt. 1914. 7. E. Riidin , 
Ueber die Dauer der psychischen Alkoholwirkung. Psycholog. Arbeiten 
herausgegeben von E. Kr&pelin. Leipzig, Engelmann. 1904. 8. E . Kilrz 
und E. Krdpelin, Ueber Beeinflussung psychischer Vorgange durch regel- 
m&Bigen AlkoholgenuB. Psycholog. Arbeiten herausgegeben von E. Kr&pelin. 
III. Leipzig, Engelmann. 1901. 9. E . Fiirst , Statistische Untersuchungen 
iiber Wortassoziationen und iiber familiare Uebereinstimmung in Reaktions- 
typus bei Ungebildeten. Diagnostische Assoziationsstudien. Band II. 
10. Beitrag. Leipzig, Amb. Barth. 1910. 10. E. Krdpelin, Die Psychologic 
des Alkohols. Intemat. Monatsschr. zur Erforschung des Alkoholismus# 
Band XXL 1911. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 








)/,'/,-i : -'.f/iri j.* t Hr l \ i suinln? iii.nl Nevrokgie lid. XX.M'7/ 


Taf. 1. 


wmmm- 


tV-.-siS 


ron i K&tgtr m lietifm iY li' o 


Qrjgjr4l frcrrri 


Digitize^ fry 


UN>VER51TV 



(Au.8 der Nervenheilanstalt Maria Theresien-SchJossel.) 

Zur Frage der operativen Behandlung 
der SchuBverletzungen peripherer Nerven. 

Von 

Professor Dr. EMIL REDLICH. 

(Hierzu Taf. I.) 

Die Frage der operativen Behandlung der SchuBverletzungen 
peripherer Nerven gehort mit zu den aktuellsten der Kriegsneuro- 
logie. Das ist begreiflich, da es sich um ungemein haufige Ver- 
letzungen handelt — ich selbst habe bisher et^a 400 hierher 
gehorige Falle gesehen — und die dadurch bedingten funktio- 
nellen Schadigungen sind von so weittragender Bedeutung, daB 
jeder, der mit Kriegsverletzten zu tun hat. sich immer wieder 
vor die Frage nach der rationellsten Art der Behandlung dieser 
Falle gestellt sieht. 

Genauer genommen spitzt sich die Frage auf die Entscheidung 
der Fruh- oder Spatoperation zu. Wir wissen ja, daB ein nicht 
unbetrachtlicher Teil, selbst der schweren Falle heilt, falls man 
geniigend lange wartet. Da der Kxieg nunmehr tiber 9 Monate 
dauert, hat ein jeder von uns schon entsprechende Erfahrungen 
gesammelt, die sich natiirlich im spateren Verlaufe noch mehren 
werden. Ich mochte nur erwahnen, daB ich auch Falle, deren 
Prognose mir recht zweifelhaft erschien, im Laufe der Monate 
heilen sah; ich habe z. B. einen Fall von Fazialislahmung nach 
Lanzenstich vor dem Ohre gesehen, wo komplette Lahmung 
des Fazialis mit schwerer Entartungsreaktion, Anasthesie im Be- 
reiche des II. und III. Astes des Trigeminus und schwerste Atro- 
phie mit nahezu erloschener elektrischer Erregbarkeit im Masseter 
bestand. Nach 6 Monaten war sowohl die Fazialislahmung wie 
die Lahmung des motorischen V. Astes vollstandig geheilt; nur die 
sensible V. Lahmung bestand teilweise fort, so daB der Mann wieder 
an die Front abgehen konnte. DaB die Heilung in andem Fallen 
keine komplette ist, sondem — dauemd ? — Reste der Lahmung 
zuriickbleiben, ist zuzugeben, kann aber nicht imbedingt gegen 
das konservative Verfahren sprechen, da ja auch nach der Ope¬ 
ration anerkanntermaBen die Heilung nicht immer eine voll- 
standige ist. 

Aber ein Teil der Falle heilt nicht aus und in diesen muB, 
wie ja allgemein anerkannt ist, versucht werden, durch Operation, 
Neurolyse oder Naht des Nerven, Heilung zu erzielen. Die Frage 

Monatischrift f. Piychiatrie u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 6. 22 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


334 R e d 1 i c h , Zur Frage der operativen Behandlung 

ist nur, wann der Zeitpunkt fur die Operation gegeben ist, schon 
wenige Wochen nach der Verletzung oder, wie andere wollen, 
erst nach einigen Monaten (3—6 Mona ten), selbst spater. Weder 
die langjahrigen Erfahrungen der Friedenspraxis, noch diejenigen 
im ru8sisch-japanischen Kriege oder in den Balkankriegen haben 
eine Entscheidung gebracht 1 ). Daher wird man sich wundem 
diirfen, wenn auch im jetzigen Kriege der Standpunkt der 
einzelnen Autoren, die sich iiber diesen Punkt geauBert haben, 
ein verschiedener ist, zumal die Beobachtungsdauer der Falle, 
fiber die wir verfiigen, noch eine viel zu kurze ist. Nicht ohne 
Berechtigung meint daher Lewandowsky 2 ), es sei bis zu einem 
gewissen Grade Temperamentssache, ob man sich ffir die Friih- 
oder Spatoperation entscheidet. 

Die Grfinde, die ffir und gegen die Frfihoperation sprechen, 
sind in der letzten Zeit von verschiedenen Seiten diskutiert wor- 
den, so daB ich von einer neuerlichen Erorterung derselben wohl 
absehen kann. Ich selbst habe anfanglich, wie viele andere Neuro- 
logen — ich nenne z. B. nur Oppenheim , Cohn , Rothmann und 
viele Andere — einen ziemlich konservativen Standpunkt ein- 
genommen. Mit zunehmender Erfahrung aber habe ich mich immer 
mehr der Empfehlung einer operativen Behandlung — freilich 
durchaus nicht fur alle Falle — zugewendet. Abgesehen von 
Anderem, was spater zur Sprache kommen soli, spricht auch 
ein psychologisches Moment daftir, nicht allzu lange mit der 
Operation zu warten. Solange der Kranke unter dem Shok der 
frischen Lahmung steht, entschlieBt er sich leicht zu einer ihm 
angeratenen Operation. Wartet man langer, dann hat sich der 
Kranke mit der Lahmung bis zu einem gewissen Grade abgefunden, 
hat sie zum Teil auch korrigieren gelernt; in solchen Fallen ist 
es mir wiederholt passiert, daB Kranke, bei denen ich die Ope¬ 
ration ffir absolut indiziert hielt, selbst wenn es sich um einen 
relativ leiehten Eingriff handelte, die Vornahme derselben ver- 
weigerten. MaBgebend aber ffir die relative Anderung meines 
Standpunktes waren die Erfahrungen, die ich bei fiber 40 Fallen, 
die Herr Primarius von Frisch im hiesigen Rudolfinerhaus und Prof. 
Zuckerkandl auf meineVeranlassung hin operierten. Ich beziehe mich 
da nicht nur auf die makroskopischen Veranderungen, wie sie sich 
bei der Operation ergaben, sondern vor allem auf die mikroskopische 
Untersuchung der exzidierten Nervenstticke, die ich gleich Spiel - 
meyer u. A. in alien Fallen vomehmen lasse. Obwohl diese Unter- 
suchungen lange noch nicht abgeschlossen sind 3 ), mochte ich schon 


') Die Literatur der letzten Jahre findet sich zum Teil bei Obem- 
dorffer , Die Nervennaht. Sammelreferat, Centralblatt fur die Grenz- 
gebiete 1908, S. 307 und bei Costs y Nervennaht, Nervenanastomose und 
Neurolyse. Ztschr. f. d. ges. Neurol., Ref. Bd. 6, 1913, S. 721. 

*) Lewandowsky, Die Kriegsverletzungen des Nervensystems. Berl. 
klin. Woch. 1914, S. 1929. 

*) Die Untersuchungen werden fortgesetzt werden und wird mein 
Ass is tent Dr. Reznizek spater dariiber im Detail berichten. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


der SchuBverletzungen peripherer Nerven. 335 

heute einige Punkte hervorheben, die mir von Interesse er- 
scheinen. 

Man hat vielleicht von mancher Seite bei der Indikations- 
stellung zur Operation etwas zu einseitig die Frage der Konti* 
nuitatsunterbrechung des Nerven in den Vordergrund gestellt. 
Die Erfahrungen der letzten Kriege hatten ergeben, daB es sich 
da um ein relativ seltenes Vorkommnis handelt; man hat von 
10—15pCt. derFalle gesprochen, wo die L&hmung peripherer Nerven 
auf diese Weise zustande kommt. Ich habe den Eindruck gewonnen, 
daB diese Zahl vielleicht doch zu gering bemessen ist, was mit 
den Erfahrungen von Cassirer 1 ) und Nonne iibereinstimmt. Denn 
wir haben in einer nicht unbetrachtlichen Zahl von Fallen den Nerv 
vollstandig durchschossen gefunden, mitunter waren die durch - 
trennten Teile des Nerven vom Projektil formlich nach dem 
Wundkanal fortgerissen und hier durch Narbengewebe fixiert. 
In andern Fallen sahen wir — relativ haufig am Ischiadicus — 
eine nur partielle Durchtrennung des Nerven mit Erhaltenbleiben 
einer Briicke. 

In solchen Fallen Von Kontuinitatstrennung des Nerven 
nach SchuBverletzungen ist die Moglichkeit einer spontanen 
Restitution in der Regel wohl ausgeschlossen. Denn abgesehen 
davon, daB zwischen den beiden Nervenenden eine oft recht be- 
trachtliche Lticke klafft, sind die mit dem ausgedehnten, derben 
Narbengewebe der Umgebung meist direkt verloteten, haufig 
kolbig aufgetriebenen oder aufgesplitterten Nervenenden in ihrer 
histologischen Struktur schwerst geschadigt. Oft lassen sie nichts 
mehr Von der normalen Struktur des Nerven erkennen, be- 
stehen vielmehr aus derbem Bindegewebe mit reichlichen, zum 
Teil neugebildeten GefaBen, deren Wandungen vielfach ver- 
dickt oder leicht infiltriert sind. Daneben findet sich Blut- 
pigment, hier und da noch kleine Entziindungsherde, meist 
aus Lymphozyten bestehend, gelegentlich auch kleine An- 
haufungen von Leukocyten. Auch in groBerer Distanz von der 
Stelle der Kontinuitatstrennung zeigt der Nerv noch schwere 
Veranderungen. Wir konnen zwar hier seine Zusammensetzung 
aus einzelnen Biindeln noch erkennen, aber wir finden eine sehr 
intensive Wucherung des Peri- und Endoneuriums, die die Nerven- 
fasem formlich erstickt; nur ganz gelegentlich ist noch ein er- 
haltenesNervenbiindelchenzusehen. Ineinem solchenFalle—durch- 
scho8sener N. ischiadicus in der Mitte des Oberschenkels — konnte 
ich einen nicht gerade haufigen Befund erheben. An der Peri¬ 
pherie des kolbig aufgetriebenen, proximalen Nervenstumpfes 
land sich (Fig. 1) eine Insel hyalinen Knorpels (I), an den sich gegen 
die Peripherie hin osteoides Gewebe mit Rnochenkorperchen 
anschloB (II). Nach der Richtung des SchuBkanals — derselbe 
ging Vom Trochanter nach abwarts gegen die Mitte des Ober¬ 
schenkels — liegt es nahe anzunehmen, daB durch das Projektil 

l ) Cassirer , D. med. W. 1915, S. 520. 

22 * 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



336 


R e d 1 i c h , Zur Frage der opcrativen Behandlung 


Digitized by 


ein Periostfetzen mitgerissen und in den Nerven implantiert 
wurde, woselbst er einheilte; denn wir wissen, daB solche implan- 
tierte Periostlappen hyalinen Knorpel und Knochengewebe pro- 
duzieren konnen. Ich mochte bemerken, daB Kirschner 1 ) in einer 
Mitteilung aus der letzten Zeit kurz erwahnt, daB die den Nerven 
umschlieBenden Narben mitunter durch Einlagerung von Periost- 
bestandteilen teilweise verknochert sein konnen (s. a. Cassirer). 

Es liegt auf der Hand, daB in solchen Fallen von Kontinui- 
tatstrennung des Nerven die strikte Indikation zur Operation — 
Resektion der veranderten Anteile und Naht des Nerven — ge- 
geben ist. Aber es braucht hier, vor Neurologen, nicht erst weit- 
lkufig auseinandergesetzt werden, daB wir aus dem klinischen 
Befunde keine absolut verlaBlichen Anhaltspunkte fur die Dia¬ 
gnose der Kontinuitatstrennung des Nerven gewinnen konnen. 
Das konstante Sinken der galvanischen Muskelerregbarkeit, das 
iibrigens nach den Angaben von Oekonomakis 2 ), Spielmeyer 3 ) 
— auch ich habe vereinzelt ahnliche Erfahrungen gemacht — 
mitunter bei SchuBverletzungen sehr friih eintritt, ist nicht ein- 
deutig, da dies auch bei heilbaren Formen von schweren Lah- 
mungen vorkommen kann. Oppenheim 4 ) hat angegeben, daB bei 
kompletter Unterbrechung des Nerven, die sonst bei SchuBver¬ 
letzungen haufigen Schmerzen relativ wenig ausgesprochen sein, 
selbst fehlen konnen, was ich bestatigen kann. Aber er betont 
mit Recht, daB dieses Verhalten nicht entscheidend ist; denn es 
konnen auch trotz voller Kontinuitatsunterbrechung Vom zen- 
tralen Stumpf ausgeloste Schmerzen nach der Peripherie hin pro- 
jiziert werden. von Wagner-Jauregg b ) hat darauf hingewiesen, daB 
man durch die Palpation sich mitunter davon iiberzeugen konne, ob 
die Kontinuitat des Nerven erhalten oder unterbrochen sei; das 
gilt natiirlich nur von den oberflachlich gelegenen Nerven. Er hat 
weiterhin angegeben, daB, wenn man durch Druck auf den Nerven 
peripher von der Verletzung noch Schmerzempfindungen auslosen 
konne, dies ein Beweis dafiir sei, daB noch leitende Nervenfasem 
im Nerven enthalten sein miissen. Das betont auch Cassirer 
(s. a. spa ter). 

Wichtiger aber, weil viel haufiger als die Falle mit Konti¬ 
nuitatsunterbrechung des Nerven sind diejenigen, wo zwar die 
Kontinuitat des Nerven erhalten ist, aber infolge der Schu/tverletzung 
so schwereV eranderungen im Nerven eingetreten sind , daft eine spontane 
Restitution unmoglich ist. Das haben in den jetzt gefiihrten Diskussi- 
onen iiber dieVerletzung der peripheren Nerven schon Leivandowsky , 
Spielmeyer , Ouleke , Kirschner , Cassirer , Nonne u. A. erwahnt. 

*) Kirschner, t)ber SchuBverletzungen der peripherischen Nerven. 
Deutsche med. Woch. 1916. 

*) Oekonomakis , tJber traumatische Lahmungen der peripheren 
Nerven nach SchuBverletzungen. Neurol. Centralbl. 1914, S. 486. 

a ) Spielmeyer , Zur Frage der Nervennaht. Miinch. med. Woch. 
1915, S. 68. 

4 ) Oppenheim , Zur Elriegsneurologie. Berl. klin. Woch. 1914, S. 1853. 

*) s. Wien. klin. Woch. 1916, S. 279. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Schuflverletzungen peripherer Nerven. 


337 


Nach dem was ich bei den Operationen gesehen habe, was mir 
die histologische Untersuchung der exzidierten Stticke der Nerven 
gezeigt hat, kann ich das nur Vollauf best&tigen. Wir finden in 
solchen Fallen den Nerven, sei es im ganzen Umfange, sei es 
partiell, in dem ihn umgebenden derben, mitunter fast knorpel- 
harten Narbengewebe fest eingebettet, so dab es mitunter nur 
mit Hilfe des Messers gelingt, ihn freizulegen. Der Nerv ist dann 
nicht selten spindelig oder gleichmaBig aufgetrieben, Verande- 
rungen, die sich oft noch eine Strecke weit proximal und distal 
Veifolgen lassen; bisweilen kann man in solchen Fallen die Nerven 
al8 verdickte, derbe, empfindliche Strange scho.n durch die Haut 
durch fiihlen. 

Die histologische Untersuchung zeigt in derTat,daB hierschwere 
Ver&nderungen des Peri- und Endoneurium mit Bildung derben, 
stellenweise noch infiltrierten Bindegewebes Platz gegriffen haben. 
An der Lasionsstelle selbst ist auf mehr minder weite Strecken 
die eigentliche Struktur des Nerven vollstandig ausgeloscht. 
Da nun fur die Regeneration des Nerven ein Auswachsen der zen- 
tralen Anteile gegen die Peripherie oder, wie von Bethe an- 
genommen wird, mindestens die Verbindung mit dem zentralen 
Stumpf notwendig ist, wird man es begreiflich finden, daft dieses 
derbe Gewebe ein formlich undurchdringliches Hindernis fiir das 
Auswachsen der zarten Achsenzylinder darstellt. Spielmeyer 
hat schon darauf hingewiesen, daB die BielschowsJci-F'&rbvng 
in solchen Fallen zeigt, daB tatsachlich die Achsenzylinder die 
derbe Narbe nicht zu durchwachsen vermogen, sondem in ihrem 
Verlaufe abirren. Ich habe Gleiches gesehen und mochte in dieser 
Beziehung noch einen Fall mit Neurombildung am Ulnaris nach 
SchuBverletzung an der Ellbogenbeuge erw&hnen. Es handelte 
sich um eine iiber 2 cm lange, durch die Haut tastbare Auftreibung 
des N. ulnaris knapp oberhalb des Epicondylus intemus. Sie 
wurde exstirpiert und histologisch untersucht. Dabei zeigte 
sich im M orcAi-Praparat, daB im proximalen Anteil des Nerven, 
der auch eine starkere Verdickung des Perineurium aufwies, die 
Nervenfasem erhalten waren, hochstens eine leichte Degene¬ 
ration aufwiesen; im distalen Anteil waren alle Nervenfasem 
schwerst degeneriert. Hier fand sich nur mehr Bindegewebe mit 
reichlichen Abraumzellen. (Die Operation wurde 10 Wochen 
nach der Verletzung ausgefuhrt.) Zwischen beiden Anteilen fand 
sich ein Gewebe, das auBer derben Bindegewebsfasem (an der 
Peripherie) feinere, teils untereinander verflochtene, teils knauel- 
formig angeordnete Faserchen enthielt. Die Silberfarbung zeigt, 
daB es sich hier um Achsenzylinder handelt, die infolge des Wider- 
standes des neu gebildeten Narbengewebes nicht weiter auswachsen 
konnten und ahnlich wie bei Amputationsneuromen ein Neurom 
gebildet hatten. 

Ich mochte noch eines interessanten Befundes in solchen 
Narben Erwahnung tun, namlich der Anwesenheit von Fremd- 
korpem. Da ich diesen Befund imter 8 bisher imtersuchten Fallen 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



338 


R e d 1 i c h , Zur Frage der operativen Behandlung 


Digitized by 


bereits 4 mal erheben konnte, auBerdem Chiari 1 ), Cassirer [1. c.] 
Nonne 2 ) Ahnliches erwahnen, handelt es sich offenbar um einrelativ 
h&ufiges Vorkommnis. In meinen Fallen — Verletzung des Me- 
dianus, Ulnaris, Badialis nahe der Oberflache mit ausgedehnten 
Hautnarben — fanden sich im Nerven Haare, die von der um- 
gebenden Haut in den Nerven fortgerissen waren. Chiari er- 
w&hnt Baumwollfasem aus der Kleidung, die in den Nerven 
deponiert wurden, Cassirer Knochenstucke und Tuchfetzen, 
Nonne GeschoBsplitter. 

In drei der erwahnten Falle konnte ich nur ganz vereinzelfc 
Bruchstiicke von Haaren im Nerven nachweisen. Ich wurde auf 
ihre Anwesenheit durch die gleich zu erwahnenden Fremd- 
korperriesenzellen aufmerksam, wahrend in einem dritten Falle 
(Verletzung des Radialis an der Umschlagstelle am Oberarm), 
Von dem die Fig. 2 herriihrt, die Haare ungemein zahlreich waren 
und sofort in die Augen fallen muBten. Hier ist der Langsschnitt 
der Nerven auf eine ziemlich betrachtliche Strecke hin durch 
Bindegewebe unterbrochen, in dem sich inmitten von Infiltra- 
tionsherden, die aus Lymphozyten und sparlichen Plasmazellen 
bestehen, Langs- und Querschnitte zahlreicher, ausgefranster 
Gebilde finden, die meist eine zarte Langsstreifung und Pigment 
aufweisen, mit einzelnen Farbstoffen, speziell mit Karbolfuchsin, 
sich deutlich farben. Professor Nobl und Professor Joannovics , 
die meine Pr&parate zu begutachten die Liebenswiirdigkeit hatten, 
haben diese Korper mit Sicherheit als Lanugohaare agnosziert. 
AuBerdem finden sich im Praparat ungemein zahlreiche Riesen- 
zellen mit groBem, unregelmaBigem, hellem Protoplasma xmd 
sehr zahlreichen, meist hellen Kemen, die entweder an der Peri¬ 
pherie, manchmal ringformig angeordnet, seltener im Zentrum 
sitzen. Diese Fremdkorperriesenzellen liegen zum Teil dicht an 
den Fremdkorpem; kleinere Harchen werden von ihnen form- 
lich umschlossen (Fig. 3). Aber auch dort, wo keine Fremdkorper 
zu sehen sind, finden sich noch reichlich solche Riesenzellen. 

Es liegt auf der Hand, daB in solchen und fihnlichen Fallen, 
wo der Nerv auf eine Strecke hin durch derbe Narben wenigstens in 
seiner Struktur vollst&ndig imterbrochen ist, eigentlich die gleichen 
Bedingungen gegeben sind, wie wenn seineKontinuitat unterbrochen 
ware. Selbst wenn, wie dies Spielmeyer und auch ich gesehen habe, 
an det Peripherie des Nerven vielleicht noch ein kleinstes Nerven- 
biindel das Narbengewebe uberbriickt, ist die Wertung des Falies 
keine andere. Auf spontane Restitution ist hier nicht zu rechnen. 
Auf die Anwesenheit dieser, wie ich mich iiberzeugt habe, nicht 
seltenen, schweren Verandenmgen weisen bei oberfl&chlich ge- 
legenen Nerven oft ausgedehnte Narbenbildung in der Haut oder 
in der Tiefe fiihlbare, derbe Narben hin. 

Man wird in diesen Fallen stets vor der Frage stehen, ob 

J ) Chiari , Dtsch. med. Woch. 1914, S. 2055. 

*) Nonne , Medic. Klinik 1915, S. 501. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der SchuBverletzuneen peripherer Nerven. 


339 


Digitized by 


man sich mit der einfachen Neurolyse begniigen oder lieber 
resezieren und nahen soil. Eine Entscheidung dariiber wird 
man nur selten dureh die elektrische Reizung des zentral von 
der Narbe gelegenen Anteiles des Nerven gewinnen. Ein 
positives Ergebnis konnte durch kleinste, erhaltene Anteile 
des Nerven bedingt sein, die aber fur die Restitutionsmoglichkeit 
des Nerven, wie wir gesehen haben, bedeutungslos sind. In den 
Fallen mit schwerer Entartungsreaktion — und diese kommen 
ja fur die Operation meist nur in Frage — wird wohl nur ganz 
ausnalimsweise die elektrische Reizung des proximalen Anteiles 
des Nerven einen positiven Effekt erzielen. Ich mochte also 
gleich Gerulanos 1 ), Oekonomakis 2 ), Spidmeyer (1. c.), Stoffel 3 ) 
u. A. raten, in zweifelhaften Fallen — von groBter Bedeutung ist der 
Palpation sbefund bei der Operation — lieber bis ins Gesunde zu 
resezieren und zu nahen. Sonst kann es passieren, daB man nach 
Monaten sich von der Erfolglosigkeit der Operation uberzeugt 
und neuerdings zu operieren gezwungen ist. Wo ein Teil des 
Nerven intakt, der andere schwer Verandert sich zeigt, wird 
man wenigstens den letzteren resezieren miissen, wiewohl dann 
die Verhaltnisse der Naht sich ungiinstiger gestalten. 

In jenen Fallen, wo der Nerv nur von Narbengewebe kom- 
primiert ist, in Kallusmassen eingebettet oder durch Aneurysmen 
komprimiert ist, in seiner Struktur aber intakt ist, wird man 
sich fur die Neurolyse entscheiden konnen. In vereinzelten 
Fallen haben wir uns wegen heftiger, auf andere Weise nicht 
beeinfluBbarer Schmerzen zur Neurolyse entschlossen, eine In- 
dikation, fiir die bekanntlich insbesondere Hashimoto nach den 
Erfahnmgen im russisch-japanischen Kriege, r.euerdings auch 
Auerbach 4 ) sich eingesetzt haben. Wir haben einen solchen Fall 
operiert, wo der Nerv nicht mit der Umgebung Verwachsen war; 
es war aber in ihm selbst eine kleine derbe Stelle zu fiihlen. Da 
Lahmungserscheinungen in diesem Falle ganz fehlten, konnten 
wir uns zur Resektion nicht entschlieBen; ein Erfolg der Operation 
in' Hinsicht auf Beseitigung der Schmerzen blieb freilich voll- 
standig aus. 

Was nun die Erfolge der Operation im allgemeinen betrifft, 
so kann ich heute noch nicht irgendwie maBgebende Ergebnisse 
Vermelden 6 ); dazu ist der Zeitraum, der bei der Mehrzahl der 
Operierten seit der Operation verstrichen ist, ein viel zu kurzer. 
Gibt doch Gerulanos nach seinen groBen Erfahnmgen im Balkan- 
kriege an, daB es nach einfacher Neurolyse 2—3 Monate, mit- 
unter selbst 7 Monate bis zur Heilung dauem kann. Bei Nerven- 

') Gerulanos, SchuBverletzungen der peripheren Nerven. Beitr. z. 
klin. Chir. Bd. 91, S. 222, 1914. 

*) Oekonomakt8 f Ueber traumatische Lahmungen der peripheren Nerven 
nach SchuBverletzungen. Neurol. Centralbl. 1914, S. 486. 

s ) StojfeU Munch, med. Woch. 1915, S. 20. 

4 ) Auerbach, D. m. W. 1915, No. 9. 

5 ) Auch dariiber wird mein Assistant Dr. Reznizek sp&ter ausfiihrlich 
berichten. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



340 R e d 1 i c h , Zur Frag© der operative!! Behandlung etc. 


Digitized by 


naht sah er in einfachen Fallen manchmal erst nach 8—9 Mona ten. 
bei komplizierten nach 10—12, ja unter Umstanden sogar erst 
nach 24 Monaten Heilung eintreten (s. iibrigens .spater). 

Bei der hente noch meist giiltigen Anschauung, daB die 
Heilung in der Weise erfolgt, daB vom zentralen Stumpf aus 
die Fasern in die Peripherie hineinwachsen, wiirde die Hei- 
lungsdauer natiirlich in erster Linie von der Lange der zu durch- 
wachsenden Strecke abhangen. Vanlair hat bekanntlich dies- 
beziiglich genauere Zahlenangaben gemacht. Es wird daher be- 
greifhch erscheinen, daB je weiter zentralwarts die Lasion sitzt, 
um so langer die Heilungsdauer ist. Hamit h&ngt es wohl auch 
zusammen, daB im allgemeinen die Resultate an den oberen 
Extremitaten friiher einsetzen als an den unteren. Ziemlich all- 
gemein wird auch betont, daB zentral gelegene Lasionen, speziell 
in den Plexus, relativ ungiinstig sind (Bruns, Etzold u. A.), 
wofiir Spielmeyer unter anderem auch die ausgesprochenen, reak- 
tiven Veranderungen der zentralen Ganglienzellen verantwort- 
lich macht. Aber ich muB betonen, daB ich in mehreren Fallen nach 
Resektion des N. medianus, resp. ulnaris und radialis schon nach 
wenigen Wochen die ersten Zeichen einer wiederkehrenden Motilitat 
beobachten konnte, speziell was die Handbeugung und Hand- 
streckung betrifft, wahrend die ersten Fingerbewegungen erst 
viele Wochen spater sich zeigten. Obrigens hat auch Cassirer 
angegeben, daB er schon nach 6 Wochen Wiedereintreten der ersten 
Bewegung sah, ahnlich Thiemann 1 ). Es ist nicht ganz leicht, 
eine so schnelle Wiederkehr der Funktion mit der herrschenden 
Lehre vom Auswachsen des zentralen Stumpfes nach der Peripherie 
in Einklang zu bringen. Bei Neurolyse sahen wir in einztlnen 
Fallen relativ rasch Heilung oder Besssrung der Motilit&ts- 
storungen. 

Die vor der Operation oft sehr heftigen Schmerzen wurden 
in einer Zahl von Fallen bald giinstig beeinfluBt. Das Verhalten 
der Sensibilitat ist wechselnd. Neben Fallen, wo sie friiher als 
die Motilitat sich riickbildete, gibt es, wenn auch selten, solche, 
wo sich dies umgekehrt verhalt. 

Freilich ist mit dem Angegebenen, d. h. der Distanz zwischen 
Verletzungsstelle imd der Peripherie allein, gewiB nicht die ver- 
schieden lange Heilungsdauer in den einzelnen Fallen erklart; 
hier spielen gewiB auch die speziellen Verhaltnisse des Falles 
vielfach mit. 

Von groBter Wichtigkeit ist aber die Frage, ob tatsachlich, 
wie dies von verschiedener Seite behauptet wurde, die Resultate 
bei der Friihoperation, das ist etwa 4—6 Wochen nach der Ver- 
letzung, soviel besser und friiher sich einstellen, als wenn man spater 
operiert. Die primare Operation, d. h. immittelbar nach der Ver- 
letzung, verbietet sich bei den SchuBverletzungen wohl meist 
von selbst. Nach meinen Erfahrungen sind die Resultate bei 

') Thiemann, M. m. W. 1915, S. 523. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Schuster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie etc. 


341 


Friihoperationen (in den ersten 6—8 Wochen) durchaus nicht 
immer giinstiger als bei Operationen zu einem spateren Zeitpunkt 
(nach 2—4 Monaten), auch besteht dort noch die Gefahr der 
Infektion. Der einzige Fall, bei dem unter unseren Operierten 
Eiterung eintrat, wurde 5 Wochen nach der SchuBverletzung 
operiert. Die chirurgischen Verhaltnisse fiir die Operation in 
einem spateren Stadium sind freilich infolge der ausgedehnten 
Narbenbildungen nach mancher Richtung hin schlechter geworden. 

Immerhin mochte ich, wenn der klinische Befund nicht strikte 
Indikationen fiir eine friihere Operation bringt, im allgemeinen 
doch glauben, daB man 3—4 Monate ruhig zuwarten kann; in 
neurologischer Beziehung sind die Verhaltnisse bis dahin in vielen 
Fallen schon besser zu iibersehen. Zu einer allgemeineren Emp- 
fehlung der Probeinzisionen, wie sie vielfach empfohlen werden, 
habe ich mich nicht entschlieBen konnen. Bei der ungemein 
groBen Zahl hierher gehoriger Falle diirfte uns iibrigens die sta- 
tistische Verarbeitung derselben nach einem entsprechenden 
Zeitraum zu einer scharferen Indikationsstellung beziiglich der 
Operationen bei SchuBverletzungen der peripheren Nerven ver- 
helfen, als dies heute moglich ist. 


Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik 
der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 

Von 

PAUL SCHUSTER. 

in Berlin. 

(Hierzu Tafel EE u. III.) * 

Die Meningitis serosa spinalis circumscripta gehort zu den- 
jenigen Krankheiten, deren pathologisch-anatomisclies Substrat 
weniger durch das Verdienst der Anatomen als vielmehr durch 
das der Kliniker bekannt geworden ist. Nach Adler scheint von 
Anatomen lediglich Strobe 1903 in dem Handbuch der patho- 
logischen Anatomie des Nervensystems von Flatau-Jacobsohn 
deutlich auf die Meningitis serosa spinalis circumscripta (cystica) 
hingewiesen zu haben. Die meisten anderen Anatomen, selbst 
Virchow haben (vgl. Adler) anscheinend das anatomische Bild 
der in Frage stehenden Krankheit nicht beobachtet. Die Griinde 
dafiir, daB die Meningitis spinalis circumscripta dem Auge der 
Anatomen entgangen ist, wahrend sie von den Klinikem — auch 
anatomisch — erkannt und beschrieben wurde, ergeben sich a us 
dem Wesen der Krankheit und sollen erst sp&ter erortert werden. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



342 S c h uster, Beitrag zur Kenntius der Anatomie und Klinik 

Aber auch die Kliniker wurden erst relativ spat auf das 
Krankheitsbild aufmerksam und es dauerte weiter geraume Zeit, 
bis sich das neu aufgestellte Krankheitsbild Eingang in die Klinilr 
verschaffte. Auch heute hat der klinische und anatomische Sym- 
ptomenkomplex noch nicht die Verbreitung und Anerkennung 
unter den Neuropathologen gefunden, welche ihm — wenigstens 
nach der Meinung eines seiner besten Kenner, Horsleys — ge- 
biihrt. 

Der englische Forscher halt das Leiden fiir ein relativ hau- 
figes, fiir h&ufiger jedenfalls als den Riickenmarkstumor. Da 
Horsley, soweit man auf Grand der Literatur hieriiber ein Urteil 
gewinnen kann, wohl die meisten Falle von Meningitis circumscripta 
spinalis beobachtet hat, so diirfte seine Schatzung derHaufig- 
keit des Leidens als ganz besonders zuverlassig gelten. Freilich 
darf dabei nicht iibersehen werden, daB Horsley den Krankheits- 
begriff anscheinend sehr weit fallt. (Vgl. den Fall XV in der 
Oppenheimachen Publikation.) 

Jedenfalls gehort Horsley, trotzdem seine Publikation „On 
chronic spinal meningitis" erst im Jahre 1909 erschienen ist, zu 
denjenigen Autoren, welche das Leiden am langsten kennen 
und welchem die Erforschung der Krankheit in erster Linie zu 
danken ist. Ca. 11 Jahre vor der Horsleyschen Veroffentlichung 
hatte H. Schlesinger schon iiber einen Fall benchtet, welcher 
offenbar in die Gruppe der uns hier interessierenden Krankheits- 
falle gehort. Bei einem 36jahrigen Mann hatten 9 Jahre hindurch 
die klinischen Zeichen der Querschnittskompression bestanden; 
der Tod war an einer interkurrenten Krankheit erfolgt. Bei 
der Sektion war eine intradurale, 3 cm lange Cyste ventral unter- 
halb der Halsanschwellung gefvmden worden. 

Auch der von Spiller, Musser und Martin 1903 berichtete 
Fall, der offenbar unter die allerersten der gliicklich operativ 
behandelten zu rechnen ist, gehort hierher. Der pathologisch- 
anatomischen Beschreibung durch Strobe (1903) ist weiter oben 
schon gedacht worden. Strobe spricht sich klar iiber die Patho- 
genese des hauptsachlichsten Krankheitsproduktes, der zart- 
wandigen kleinen subduralen Cysten aus. Er faBt sie als F o 1 g e - 
erscheinungen einer chronisch entziindlichen 
Abkapselung einzelner Bezirke des Arachnoidalraumes des 
Riickenmarks auf und beruft sich bei dieser Erklarung auf ahn- 
liche Verhaltnisse innerhalb der cerebralen Meningen. Die Cysten 
stehen nach Strobe ihrer Nachbarschaft gegeniiber unter einem 
erhohten Druck und wirken infolgedessen wie ein Tumor. 

Einen Tumor t&uschte auch der 1904 von Schmidt beob- 
achtete Fall vor, welcher mit Erfolg operiert wurde. 

Trotzdem, wie wir sahen, bis zur Mitte des vorigen Dezenniums 
schon eine ganze Reihe hierhergehoriger Publikationen erschienen 
war, war das Krankheitsbild der circumscripten spinalen Menin¬ 
gitis serosa bei uns ziemlich unbekannt geblieben bis zu den Jahren 
1906 und 1907. In diesen Jahren veroffentlichten Oppenheim 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


343 


und Krause eine Beihe Von Aufsatzen, durch welche die allgemeine 
Aufmerksamkeit auf die Krankheit gelenkt und von nun ab 
dauemd auf ihr haften blieb. Ahnliche, wie die von Oppenheim 
und Krause gemachten Beobachtungen wurden in den folgenden 
Jahren Von Kraufi, de Montet, Adler und K. Mendel, Bruns, 
Spiller, Bliji, Munro, Weisenberg und Muller, Fleischmann u. A. 
gemackt; auch Oppenheim vervollstandigte seine friiheren Beob¬ 
achtungen noch weiter im Jahre 1909. Die Kasuistik ist, wie die 
obige Zusammenstellung zeigt, einstweilen noch eine recht kleine. 
Da auch mikroskopisch untersuchte Falle so gut wie ganz fehlen, 
ist es verstandlich, daB vieles in der Pathogenese und Pathologie 
der Krankheit noch im Dunkeln ist. Was besonders die Dia- 
grose angeht, so kann das Vorliegen der Krankheit zwar heute 
vom Kliniker am Krankenbett vermutet, die exakte Diagnose 
aber nur in den allerseltensten Fallen gestellt werden. Wie schon 
weiter oben kurz erwahnt wurde, ist das Symptomenbild der 
Meningitis serosa spinalis demjenigen des Riickenmarkstumors 
auBerordentlich ahnlich; die Entwicklung und der Verlauf des 
Leidens ahneln zum wenigsten demjenigen des Tumors. 

Nachdem wir uns nunmehr kurz iiber das Wesen der in Frage 
stehenden Krankheit orientiert haben, soil iiber einen hierher- 
gehorigen Krankheitsfall berichtet werden, dessen anatomische 
Untersuchung vorgenommen werden konnte. Im AnschluB daran 
soil dann eine Reihe der noch unklaren Punkte aus der Patho- 
genese, Pathologie und Differentialdiagnose des Leidens erortert 
werden. 

Der 55j&hrige Kaufmann H. aus Capstadt wurde mir am 
7. Januar 1912 von Herm Kollegen Katz vorgestellt. Pat. war 
im wesentlichen stets gesund gewesen, hatte keine Lues gehabt, 
trank nicht, hatte jedoch friiher stark geraucht. 

Vor ca. 3 Jahren trat allmahlich ein Druckgefiihl in der rechten 
Schultergegend auf, zu welchem sich etwas spater — etwa vor 
2 Jahren — das Gefiihl von Eingeschlafensein, Kriebeln und 
Stechen im rechten Arm hinzugesellte. Im Gktober 1911 — also 
ca. vor einem Vierteljahr — bekam Pat. nach einer Erkaltung 
und starkem Schwitzen lebhafte Schmerzen im rechten Arm. Lang- 
sam trat nun eine Bewegungsschwache der rechten Hand und an- 
scheinend auch eine Atrophie derselben auf. In der Heimat des 
Kranken wurde die Diagnose einer amyotrophischen Lateral- 
sklerose gestellt. Storungen des Hautgefiihls machten sich nicht 
bemerkbar. 

Der Kranke wurde mit Massage und Elektrizitat behandelt, 
das Leiden machte jedoch Fortschritte. Von sonstigen nervosen 
Beschwerden (Kopf- oder Genickschmerzen) berichtet Pat. nichts. 

In den allerletzten Wochen bemerkte Pat. auch vereinzelte 
Parasthesien in der linken Schultergegend und im linken Arm. 

Jetzt klagt Pat. iiber ziemlich intensives Kriebelgefiihl in 
der rechten Schulter und im rechten Arm, iiber starke Schmerzen, 
welche stundenweise den rechten Arm befallen und besonders 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



344 sch uster, Beit rag zur Kenntnis der Anatomic und Klinik 

die Streckseite des Vorderarmes und die laterale Partie des Ober- 
armes betreffen. In der linken Schulter und in der linken Hand 
verspiirt Pat. die gleichen, wenn auch wesentlich geringeren Be¬ 
ech werden. Selten hat Pat. Schmerzen im oberen Teil des Biickens. 
Die Schmerzen im Riicken und in der Gegend der Schulterbl&tter 
nehmen zu, wenn Pat. auf dem Riicken liegt. Die Schmerzen 
in der Schulter und im Oberarm steigem sich, wenn Pat. den 
Kopf nach hinten beugt, so z. B., wenn er semen Kopf beim Rasieren 
auf die Kopflehne legen muB. 

Die Untersuchung zeigte einen gut genahrten, kraftigen Mann 
von frischem Aussehen. Die rechte Lidspalte und die rechte 
Papille waren eine Spur enger als die entsprechenden Gebilde 
links. Die Pupillenreaktion und der Augengrund waren normal; 
auch war der tibrige Himnervenbefund ein durchaus normaler. 
Die Schultergegend war unauffallig. Der rechte Oberarm er- 
schien in toto leicht atrophisch, der Oberarmumfang betrug rechts 
1 cm weniger als links. Am Vorderarm war die Gegend der Ex- 
tensoren besonders atrophisch. 

Die lnterossei, der Daumenballen und Kleinfingerballen 
waren rechts in mittlerem Grade abgemagert. Die linke Hand 
war frei von Atrophien. Die Finger der rechten Hand standen 
im Metacarpophalangealgelenk in leichter BeugesteUung, ebenso 
in den Interphalangealgelenken. Die aktive Streckung der drei 
letzten Finger war nicht moglich, wohl dagegen ihre Beugung. 
Fingerspreizung und Abduktion des kleinen Fingers rechts schlecht. 
Die Streckung und Beugung der rechten Hand war geniigend. 
Die Beugung des Vorderarmes war kraftig, die Streckung nicht 
Vollig ausreichend. Die Sensibilit&t fiir Beriihrung, Schmerz, 
Temperaturreize war iiberall, besonders auf dem rechten Arm 
in Ordnung. Auch die linke Korperseite war frei von jeder Sto- 
rung der Sensibilitat. Vasomotorische Storungen fehlten Vollig, 
ebenso trophische Storungen der Haut. 

Der Tricepsreflex und der Vorderarmperiostreflex waren auf 
beiden Seiten gesteigert. Rechts war eine VergroBerte Ellenbogen- 
driise fiihlbar. Fibnllare Zuckungen fielen nirgendswo auf. Keihe 
Druckempfindlichkeit der Nervenstamme. Bei der elektrischen 
Untersuchung ergab sich eine Herabsetzung der faradischen Er- 
regbarkeit s&mtlicher Nervenstamme des rechten Armes. Fast 
alle Muskeln des rechten Armes waren faradisch direkt erregbar, 
faradisch unerregbar war bei direkter Reizung nur der Extens. 
digit, communis. 

Bei galvanischer Reizung fand sich trage Zuckung im Extens. 
digit, communis, in den Interosseis, in dem Abduct, poll, longus 
und Extens. poll, longus. 

Die Patellarreflexe waren beiderseits gleich und erheblich 
gesteigert, die Achillessehnen- und FuBsohlenreflexe waren normal 
auslosbar. Kein Babinski. Die Beine w'aren kraftig, ohne Atro¬ 
phien, der Gang unauffallig. Die Gegend der Querfortsatze 
der unteren Cervicalwirbel war leicht druckempfindlich; in den 


Digitized by 


Go i 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


345 


Supraklavikulargruben nichts Abnormes. Keine Halsrippe. Der 
Organbefund war ohne Besonderheiten. Nnr erschien das Herz 
etwas nach links vergroBert und die GefaBwandungen waren 
hart. Urin frei von EiweiB und Zucker. Nirgends Zeichen von 
Lues. Die von Herm Dr. Katz vorgenommene Rontgenunter- 
suchung der Halswirbels&ule und- der Regio supraclavicularis 
ergab nichts Pathologisches. Auch die Blutuntersuchung nach 
Was8ermann ergab ein negatives Resultat. 

Von der Vomahme einer Lumbalpunktion wurde Abstand 
genommen, weil keine wesentliche Forderung der Diagnose von 
ihr erwartet werden konnte und weil die Vomahme der Punk- 
t-ion bei der Moglichkeit eines Tumors des Cervikalmarks von 
verschiedenen Seiten ( Nonne , Neumark) als nicht unbedenk- 
lich beZeichnet wird. SchlieBlich muB noch hervorgehoben 
werden, daB der Untersuchungsbefimd des Patienten stets ab- 
solut konstant erschien, daB besonders keine Schwankungen in 
dem Verhalten der Reflexe oder in dem Sensibilit&tsbefunde 
bemerkt wurde. 

Auf Grund der vorstehenden Krankengeschichte wurde der 
Patient von mir der chirurgischen Klinik mit folgender Diagnose 
iiberwiesen: In unmittelbarer N&he des Riickenmarks, rechts 
in der Hohe des 6.—8. Cervikalsegments und ersten Dorsalseg- 
ments sitzender extraduraler (?) Tumor. 

MaBgebend fiir meine Diagnose waren folgende Punkte: 
Ein peripherisches Leiden, welches schon durch die Tendenz der 
Erscheinungen zur Doppelseitigkeit und durch das Fehlen eines 
raumbeengenden Prozesses (Halsrippe oder dergl.) in der Fossa 
supraclavicularis unwahrscheinlich geworden war, konnte an- 
gesichts der Steigerung der Sehnenreflexe an Armen und Beinen 
ausgeschlossen werden. Gegen eine beginnende amyotrophische 
Lateralsklerose oder eine chronische Poliomyelitis sprachen die 
sehr erheblichen, konstanten und im Vordergrund des Symptomen- 
bildes stehenden Schmerzen. Die gleichen Grtinde sprachen auch 
gegen eine beginnende Syringomyelie oder Gliose. Gegen die 
letztgenannte Affektion lieB sich auch der Mangel trophischer 
und vasomotorischer Hautstorungen und das Fehlen Von Sen- 
sibilitatsstorungen, besonders solcher dissoziierter Natur, an- 
fiihren. Auch eine atypische multiple Sklerose — die ja manch- 
mal schon zu diagnostischen Irrtumem AnlaB gegeben hat — schien 
im Hinblick auf die Pragnanz der Wurzelerscheinungen sehr 
unwahrscheinlich. Schon per exclusionem kam man somit zur 
Annahme eines Tumors. Es braucht nicht weiter ausgefiihrt zu 
werden, daB man zu dieser Diagnose erst recht kam, wenn man 
statt des negativen den positiven Weg der Betrachtung ging. 

Die Differentialdiagnose zwischen intra- und extramedullaren 
Sitz des Tumors konnte fast sicher zugunsten des extramedullaren 
Sit-zes gestellt werden: Es bestand keineswegs das Bild der Quer- 
schnittmyelitis, es fehlten dissoziierte Empfindungsstorungen, 
dagegen waren sehr ausgepragt die den Krankheitsverlauf ein- 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



346 Sch ustor, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik 


Digitized by 


leitenden hinteren und vorderen Wurzelsymptome, besonders 
die radikul&ren Atrophien. 

Bis hierher schien die Diagnose sich in recht gut gesicherten 
Bahnen zu bewegen; ein weiteres diagnostisches Vordringen 
war gewagt. Wenn man jedoch beriicksichtigte, daB eine leichte 
Druckempfindlichkeit der seitlichen Partien der Halswirbel be- 
stand, und daB gewisse Bewegungen des Kopfes die Schmerzen 
im Arm und in der Schulter steigerten, so schien dies mehr fur 
einen extraduralen als fiir einen intraduralen Sitz Verwertet werden 
zu konnen, wenn auch allerdings zu bedenken war, daB ein wichtiges 
Kriterium der — dazu noch seltenen — extraduralen Tumoren, 
das ausgedehnte Langenwachstum, anscheinend nicht Vorhanden 
war. Da die Rontgenuntersuchung kein positives Resultat er- 
geben hatte, so muBte der Knochen selbst wahrscheinlich intakt 
sein. Man kam somit — wenn man alle angedeuteten Umstande 
und vor allem die Tatsache ins Auge faBte, daB die klinischen 
Erscheimmgen eigentlich fast nur solche seitens der hinteren und 
vorderen Wurzel waren, wahrend Kompressionserscheinungen 
des Marks so gut wie vollig fehlten, — zu der Vermutung, daB der 
angenommene Tumor rechts seitlich innerhalb des Wirbelkanals 
nahe den Austrittsstellen der Wurzeln aus der Dura saBe. Mit 
Sicherheit oder selbst nur mit groBer Wahrscheinlichkeit durfte 
dieser letzte Teil der Lokaldiagnose freilich nicht gestellt werden, 
zumal die Differentialdiagnose zwischen extra- und intraduralem 
Sitz eines Tumors allgemein als wenig aussichtsvoll bezeichnet 
wird. 

Die Hohendiagnose war eine recht einfache, da nur Wurzel¬ 
symptome — und zwar solche der vorderen und hinteren Wur¬ 
zeln — zur Verfiigung standen. Die Wurzelsymptome — Schmerzen 
im Bereich der unteren Cervikalwurzeln, Atrophien im Gebiet 
der unteren Cervikalwurzeln und das okulopupill&re Symptom — 
wiesen iibereinstimmend auf die namliche Hohe, das 6.—8. Cer- 
vikal- und 1. Dorsalsegment hin. 

Bei der Erfolglosigkeit der bisherigen Behandlung und bei 
der scheinbaren Sicherheit, mit welcher die Tumordiagnose ge¬ 
stellt werden konnte, wurde dem Patienten von einer Reihe kon- 
sultierter Neurologen ebenso wie von mir selbst die operative Be¬ 
handlung anempfohlen. 

Der Kranke wurde Von Herm Geh. Rat Prof. Bier in der 
Konigl. Universitatsklinik am 21. Februar operiert. Die Dorn- 
fortsatze vom 4. Halswirbel bis zum 3. Brustwirbel wurden frei- 
gelegt. Der Domfortsatz des 7. Halswirbels wurde abgetragen. 
An der Dura selbst war nichts Abnormes zu bemerken. Nur er- 
schien der ganze uneroffnete Duralsack auffallig breit und au/ierdem 
vorgewolbt. Die Dura wurde nun gespalten. Hierbei entleerten 
sich mit einem kleinen, schneU versiegenden Strahl ca. 50 ccm (?) 
Spinalfliissigkeit. In der Hohe des 1. Dorsalnerven rechts war die 
Dura leicht mit den weichen Hauten verwachsen und die Ober- 
flache des Riickenmarks wurde vom Operateur als etwas rauh 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


347 


und uneben und faserig belegt bezeichnet. AuBerdem bezeichnete 
der Operateur die unterste Cervikalwurzel rechts als etwas triiber 
und dicker als die entsprechende Wurzel links. 

Es wurde jetzt noch der Domfortsatz des 6. Cervikal- und 
des 1. Brustwirbels fortgenommen und das Ruckenmark in diesen 
Hohen revidiert. Ein Tumor wurde jedoch nirgendwo gesehen 
oder gefiihlt. Dann wurde die Dura und ebenso die Muskulatur 
und die Haut dicht vernaht. 

Der weitere Verlauf war durch eine unmittelbar nach der 
Operation einsetzende auffallige Aenderung des Krank- 
heitsbildes charakterisiert: 

22. II. Die Beine sind vollig gelahmt und gefiihllos, auch die 
Arme werden schlecht bewegt. Die friiheren Armschmerzen sind ver- 
schvmndeny aber jede Beriihrung beider Arme ist auBerordentlich 
schmerzh’aft. Urin kann nicht spontan entleert werden. Puls 
120, Temp. 37,5. Pat. ist ftuBerst schwach. 

23. II. Temp. 37,5, Puls 100. Lahmungserscheinungen nicht 
gebessert. 

24. II. Klagt iiber Schmerzen in beiden Armen, Temperatur- 
steigerung. 

25. II. Bewegt die Arme und H&nde etwas besser. Beine 
jedoch noch gelahmt. Temp. 38,8. 

26. II. Pat. ist benommen. Temp. 38,5. 

27. II. Temp, wieder normal. Klagt iiber Schmerzen in den 
Armen, die aber andere seien wie die friiheren. Scheint an den 
Beinen jetzt wieder ein wenig zu fiihlen. 

28. II. Das Fieber, welches in der letzten Woche zeitweise 
bestand, ist jetzt nicht mehr vorhanden, Pat. ist jedoch auBerst 
schwach, hat eine sehr trockene, borkige Zunge und macht einen sehr 
schlechten Eindruck. Die Beine sind auch heute noch vollig ge¬ 
lahmt, ihre Sensibilitat fast vollig aufgehoben. Patellar- und 
Achillesreflex beiderseits lebhaft, Sohlenreflex fehlt rechts ganz, 
links vielleicht eine Spur vorhanden. Bauchreflex fehlt beider¬ 
seits. Die Arme und Hande werden willkiirlich bewegt, ihre Sen¬ 
sibilitat ist anscheinend gut erhalten. 

Lebhafte spontane Schmerzen in beiden Armen, Klagen 
iiber starkes Jucken in beiden Schultern, besonders der rechten. 
Willkiirliche Entleerung von Stuhl und Urin aufgehoben, Bauch 
aufgetrieben, anscheinend Parese der Darmmuskulatur, Appetit 
fehlt vollig; gelegentlich Erbrechen. Genauere Untersuchung 
des Patienten unmoglich wegen der enormen Schmerzen, welche 
der Kranke bei alien Beriihrungen der Extremitaten empfindet. 

29. II. Temp. 36,5, Puls 80. Starkes AufstoBen, Leib ge- 
spannt. Einl&ufe werden nicht gehalten. Auf Glyzerinspritze 
Stuhl. 

1. III. Erster Verbandwechsel. Wunde per piimam geheilt. 

3. III. Puls klein, 60 Temp. 35,8. Pat. ist sehr unruhig, klagt 
iiber Atemnot. Atmung oberfl&chlich, 20 in der Minute. Koch- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




348 Sch uster, Beitrag zur Kenntiiis der Anatomi© und Klinik 


salzinfusion (subkutan). Digalen, Koffein bringen keine Besse- 
rung. Zunahme der Herzbeklemmung. 

4. III. Friih morgens 4 Uhr Exitus. 

Die am 4. Marz 12 Uhr von Herm Prof. Westenhofer vor- 
genommene Sektion des Gehims undRiickenmarks ergab im wesent- 
Uchen folgendes: 

Das Gehim zeigt iiberall eine leichte milchige Trubung der 
weichen Haute (alte Leptomeningitis). 

Ein Tumor.wurde nirgendwo im Riickenmark oder in dem 
Wirbelkanal gefunden. Frische Erweichung des unteren Cerwkal- 
marks bis zum 3. Dorsalsegment reichend . In der Hohe des unteren 
Cervikalmarks links eine kleine, ca. linsengroBe, etwas eingedriickte 
S telle. Alte strangformige, diinne und feine Verwachsung der 
weichen und harten Himhaut im Bereiche des Halsmarks auf der 
hinteren Peripherie des Riickenmarks. Im Cervikalmark sieht man 
auf dem Querschnitt beiderseits in der Gegend der Vorderhomer 
— rechts mehr als links — erweichte Stellen mit zahlreichen 
KomchenzeUen. Im linken Seitenstrang scheint eine — nicht 
weit abwarts reichende — Degeneration zu sein. Operationsstelle 
besonders auch die Hautwunde gut aussehend, nicht gerotet. 

Das Ruckenmark wurde zur Untersuchung in 10 proz. For- 
mollosung gelegt. 

Mikroskopisch untersucht wurde das Ruckenmark vom 3. Cer- 
vikalsegment bis hinab zum 2. Dorsalsegment. Es wurde die 
Weigertsche und die van Giesonsehe und in einigen Hohen auch 
die Nifil sche und die Marchische Methode angewendet. Die 
mikroskopische Untersuchung des Riickenmarks ergab — wie 
die weiter unten folgenden Protokolle zeigen — zwei, offenbar 
voneinander unabhangige Reihen Von Veranderungen. Einmal 
fanden sich gewisse, sehr in die Augen fallende ganz frische imd 
akut entstandene Veranderungen des Querschnittes. Anderseits 
lieBen sich & 11 e r e, viel weniger in die Augen springende Verande¬ 
rungen, besonders auf der rechten Seite des Riickenmarks nach- 
weisen. 

Die ganz frischen, akut entstandenen Erscheinungen ent- 
sprachen offenbar der nach dem operativen Eingriff entstandenen 
plotzl chen Aendenmg des Zustandes; die ftlteren Veranderungen 
muBten dagegen mit dem urspriinglichen Leiden des Patienten 
in Verbindung gebracht werden. 

Die Trennung der frischen von den alteren Veranderimgen 
Vernrsachte im allgemeinen keine Schwierigkeiten; nur vereinzelt 
entstanden Zweifel hinsichtlich des Alters und der Herkunft ge- 
wisser Abweichungen von der Norm. 

Hohe des 3. Cervikalsegments (Ai/SZ-Praparat). 

Keine nennenswerten Ver&nderungen an der Pia, die Riicken- 
marksquerschnittsfigur erscheint normal. Auffallig ist die starke 
Erweiterung der Fiss. long, anter. imd des perivaskularen Raumes 
des von der vorderen Fissur in das linke Vorderhom ziehenden 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 






jfH X\$. raggra. 


Wonalsschrift fur P-s\cnmfrie nrni Neurologic Bd. XXXVII 


ng. v ( C mr 













IlllPllN 

Hi 


eSSa^. 

mmmmi 


mmm 


Fi£ <<(C VW 


mmmMi 


gy 


Ml 

Igw 

•jSsfeWw*. 


■ n 


Fig F {V \ ii) 


Digitized by 


Got gle 


.'• •* '.< ' -y V.' / \ : hklF '’ ! 

," ; j :$}\ % .•••••• ; ’, ■ 

Vctiag von A, Koygef in Btrlin A' ti, t>. 

■•’ . . '■. ' C'-rigir al ficn 

O^IWER§|TY OF MICHIGAN- 




Digitized by Goos 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 







der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


349 


» 


Digitized by 


GefaBes. In der Mittelzone des rechten Vorderhomes ist eine — 
anscheinend durch Ausfall nekrotischen Materials entstandene 
— kleine Gewebsliicke (frische Ver&nderung). Gleichfalls frische 
Verftnderungen stellen leichte randstandige Erweiterungen der 
Oliatna schen und Areolierungen der Peripherie der ganzen weiBen 
Substanz dar sowie geringe Kerninfiltrationen langs der Septen 
in den Hinterhomern und Hinterstrangen. 

Die Zahl der groBen Vorderhomzellen ist beiderseits gleich 
und nicht verringert. Fast samtliche Zellen sehen jedoch stark 
verklumpt aus und haben keine deutliche Differenzierung zwischen 
den Granula und der Zwischensubstanz. 

Hohe des 4. Cervikalsegments ( Weigert-van Oieson - Prap.) 
Fig. 1, Taf. II—III. 

Auch hier fallt wieder die starke Erweiterung der vorderen 
Fissur und ebenso die Erweiterung der perivaskularen Raume 
in den Vorderhomem auf. Pia nicht verdickt. Rechts in der 
hinteren Partie des Vorderhomes und in der Mittelzone sieht 
das Gewebe in einem kleinen Bezirk grob siebartig durchlochert 
aus. Hier hat das Gewebe die Farbe nicht genugend angenommen. 
(Anscheinend frische nekrotische kleine Partien.) Die Vorder¬ 
homzellen sind beiderseits in geniigender Anzahl vorhanden und 
von ziemlich unauffalligem Aussehen (van Gieson ); extramedullare 
vordere und hintere Wurzeln rechts und links unauffallig. WeiBe 
Substanz in der Peripherie spurweise areoliert. 

Im rechten Hinterstrang, in der Mitte zwischen Hinterhom 
und hinterem Septum, eine keulenformige geringe Aufhellung 
(Glia hier leicht Verdickt und infiltriert). Im linken Hinterstrang 
findet sich an einer symmetrischen Stelle die Andeutung einer 
Aufhellung. Auf W et#er£-Pr&paraten sieht man, daB die Lich- 
tung rechts und links durch einen geringen Faserausfall bedingt 
wird. 

Hohe des 5. Cervikalsegments ( Weigert-van Giason-Praparate) 
Fig. 2, Taf. II—III. 

Die Pia ist hier im ganzen eine Spur verdickt. Die extra- 
spinalen Wurzeln, sowohl die vorderen als auch die hinteren* 
sind anscheinend unversehrt und fftrben sich bei Weigert kraftig. 
Auch hier fallen wieder die erweiterte Fiss. anterior und ebenso 
die groBen Gewebsspalten auf, welche die GefaBe iiberall um- 
geben. Bemerkenswert ist, daB in dieser Hohe ein Unterschied 
in der GroBe der Vorderhorner sich zu zeigen beginnt: das ganze 
rechte Vorderhom ist in seinem antero-posterioren Durchmesser 
ein wenig schmaler als das linke. Das Vorderhom sieht infolge- 
dessen etwas zusammengedriickt aus. AuBerdem ist der mediale 
Teil des rechten Vorderhorn 3 auf Weigrcrf-Praparaten ein wenig 
faaerarmer als der mediale Teil des linken Vorderhorns. Die Degene- 
rationszone in den Hinterstrangen verhaJt sich ebenso wie in C 4 , 
hat nur C 4 gegeniiber an Intensitat zugenoramen. 

Die Betrachtung der Vorderhomzellen auf van Gieaon-Vt&- 
paraten ergibt, daB in imgefahr der Hftlfte der Schnitte das rechte 

Mon.Uschrift f. Psychiatric u. Neurologle. Bd. XXXVII. Heft <i. 23 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


3ol) Schuster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomic rind Klinik 

Vorderhorn suspekt erscheint. Manchmal war die laterale Zell- 
gruppe rechts sehr wenig zellreich und die Zellen dieser Gruppe 
waren geschrumpft, manchmal waren rechts in der medialen 
Gruppe mehrere geschrumpfte Zellen sichtbar. Auf andern Pra- 
paraten dagegen war das rechte Vorderhorn ebenso wie das linke 
unauffallig hinsichtlich der Zellanzahl und des Aussehens der 
Zellen. 

Hohe des 6. Cervikalsegments ( Weigert - und van Gieson- 
Praparate) Fig. 3, Taf. II—III. 

Der Ruckenmarksquerschnitt ist auffallig platt und breit. 
Die ganze rechte Halfte des Querschnittes erscheint besonders 
abgeflacht und sieht seitlich leicht zugespitzt aus. Das rechte 
Vorderhorn ist deutlich kleiner als das linke; der von der Mitte 
zur Seite verlaufende Durchmesser ist dabei nicht verkleinert, 
sondern lediglich der anteroposteriore Durchmesser. In seinen 
lateralen Teilen sieht das Vorderhorn wie zusammengedriickt 
aus. Auch das Hinterhorn ist rechts kleiner und besonders schmaler 
als links, doch ist der GroBenunterschied zwischen rechts und links 
am Hinterhorn weniger auffallend. Das rechte Vorderhorn ist 
auf vielen — nicht auf alien — Schnitten weniger zellreich als 
das linke, besonders betrifft dies die vordere mediate Gruppe. 

Die vorhandenen Vorderhornzellen sehen nicht selten ge¬ 
schrumpft aus; dies gilt iibrigens auch fur die Zellen des linken 
Vorderhorns. Trotzdem muB das Aussehen der Zellen im all- 
gemeinen — besonders im Hinblick darauf, daB nur van Gieson- 
Praparate zur Verfiigung stehen — als geniigend bezeichnet wer- 
den. Die Aufhellungszone, welche inC 4 imrechten Hinterstrang 
begann und in C s deutlicher wurde, ist in C» kaum mehr sichtbar, 
dagegen ist die entsprechende Zone im linken Hinterstrang 
jetzt deutlicher gelichtet als in C 6 . 

Die extraspinalen vorderen Wurzeln sind auf einigen Wei- 
gert- Schnitten etwas blaB, die hinteren Wurzeln sind demgegen- 
iiber samtlich durchaus intakt. Die GefaBe der grauen Sub- 
stanz, besonders des rechten Vorderhorns, sind stark gefiillt, 
desgleichen in den extraspinalen Wurzeln. Im Mittelbezirk der 
grauen Substanz links ist eine kleine ganz frische Blutung. Daran 
anschlieBend zeigt der linke Seitenstrang in seinen dem Mittel- 
und Hinterhorn angelagerten Teilen eine starke Quellung und 
teilweisen Zerfall der Markscheiden sowie Erweiterung der Glia- 
maschen (frische Veranderung). Der Markscheidenzerfall nimmt 
jedoch nur eine ganz geringe Ausdehnung in der Langsrichtung 
•des Ruckenmarks ein, die Pia ist unerheblich verdickt. 

Hohe des 7. Cervikalsegments (Weigert-, Marchi-, van Gieson-, 
JVi/M-Praparate) Fig. 4, Taf. II—III. 

Weigert- Praparate: Auch hier erscheint der ganze Riicken- 
marksquerschnitt ziemlich platt. In dieser Hohe beginnen die 
schweren frischen Veranderungen. Bei Weigert erscheint die ganze 
auBere Halfte des rechten Seitenstranges — mit Ausnahme einer 
ganz schmalen, weniger befallenen Randzone — fast imgefarbt. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


351 


Die Markscheiden sind hier fast samtlich zerflossen oder stark 
gequollen und in Zerfall begriffen. Ahnliche viel kleinere Herde 
eines frischen Zerfalls sind im rechten und linken Hinterstrang 
und im rechten Vorderstrang. Das rechte Vorderhom ist kleiner 
und im anteroposterioren Durchmesser abgeplattet gegeniiber 
dem linken. Im linken Hinterstrang keine Aufhellungszone, 
dagegen im rechten Hinterstrang unmittelbar an dem Hinter- 
hornrand eine ganz schwach gelichtete Stelle. 

Die extraspinalen vorderen und hinteren Wurzeln sind in- 
takt. Das rechte Hinterhom erscheint deutlich schmaler als 
das linke. 

Bei Marchi (Fig. 8, Taf. II—III) tritt die Differenz zwischen 
der GroBe des Vorder- und Hinterhorns rechts und links deutlich 
zutage. Das groBe Gebiet des rechten Seitenstranges, welches 
bei Weigert fast farblos erschienen war, erscheint bei Marchi mit 
Fettkomchenzellen besetzt. 

Im rechten Vorderhom weniger Zellen als im linken. Im Hinter¬ 
strang und Vorderstrang rechts ganz kleine runde frische Herde. 
Auf der rechten Seite weniger austretende vordere Wurzelfasem 
als links. 

Auf van Gieson -Praparaten (Fig. 9, Taf. II—III) treten be- 
sonders gut die stark gefullten GefaBe in dem erkrankten rechten. 
Seitenstrang hervor. Der leicht verdickten Pia in der Gegend der 
hinteren Langsfissur aufgelagert sieht man eine krausenartige 
Bildung, welche allem Anschein nach aus strangartigenWucherungen 
besteht. Die Wucherungen sind aus derbem faserigem, kerna^mem 
Gewebe zusammengesetzt, welches lamellenartig angeordnet ist. 
Das Gewebe wird von seltenen GefaBen mit stark fibros verdickten 
Wandungen durchzogen. Bisweilen ist das Lumen der GefaBe 
vollig verschwunden. 

(Diese zwischen Pia und Dura liegenden Bildungen entsprechen 
offenbar den sowohl bei der Operation wie auch bei der Sektion 
festgestellten feinen Rauhigkeiten und Strangen.) 

Die Nifil -Praparate des 7. Cervikalsegments entstammen 
einer etwas tieferen Lokalisation innerhalb des Segments als 
die iibrigen Schnitte. Auf den Ai/JZ-Praparaten tritt abgesehen 
von der frisch erkrankten Partie im rechten Seitenstrang noch 
ein anderer groBerer, ganz frisch entstandener EntzundungsprozeB 
zutage. Derselbe betrifft den vorderen Teil des linken Seiten- 
und Vorderseitenstranges und setzt sich bis in die SuBeren Teile 
des Vorderhoms fort. Hier ist auch eine kleine Blutung. Auch 
in diesem Entziindungsherd sind massenhafte Fettkomchenzellen. 
Der zuletzt beschriebene Entziindungsherd erstreckt sich — ebenso 
wie zwei ganz kleine weitere, beiderseits in den Hinterstrangen 
neben der Medianlinie — offenbar nur sehr wenig nach oben und 
nach unten hin. 

Im rechten Vorderhom sieht man in der Hohe der Nifil- 
Praparate zwar geniigend zahlreiche Zellen. Die meisten der 
Zellen sind geschrumpft und haben die Farbe iibermaBig stark 

23* 


Digitized by 


Go .gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



352 Sch uster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik 


Digitized by 


angenommen (site Veranderungen), nur die geringere Anzahl 
der Zellen erscheint blaB und gebl&ht (frische Veranderungen). 
Keine einzige Zelle im rechten Vorderhom erscheint bei Nifil 
normal. Im linken Vorderhorn sind die lateralen Teile — mit 
ihnen auch die Zellen — durch den frischen ProzeB zerstort; in 
den medialen Gruppen sind einige — geschrumpfte und verklumpte 
— Zellen vorhanden. Es muB betont werden, daB der frische 
EntziindungsprozeB auf der rechten Seite des Ruckenmarks 
nicht so nahe an das rechte Vorderhom heranreicht, daB man 
die Zellver&nderungen des rechten Vorderhoms durch die Nach- 
barschaft des Prozesses im Seitenstrang erklaren konnte. 

Hohe des 8. Cervikalsegments ( Weigert- und won Oieson- 
Praparate) Fig. 5, Taf. II—III. 

Die rechte Halfte des Querschnittes ist etwas schmachtiger 
als die linke; das Manko kommt in erster Reihe auf Rechnung 
der grauen Substanz des Vorderhorns der rechten Seite. In den 
Hinterstr&ngen sind die gelichteten Partien, welche in den hoheren 
Segmenten vorhanden waren, nicht mehr zu sehen. Ausgedehnte 
frisch erkrankte Bezirke mit Aufquellung der Markscheide, Er- 
weiterung der Gliasepten und Markzerfall sind in den lateralen 
hinteren Seitenstrangteilen. Auf proximaleren Schnitten des 
8. Segments findet sich auBerdem noch ein groBer frischer, stark 
mit Fettkomchen durchsetzter Herd, welcher links vom Vorder- 
seitenstrang aus seitlich ins Vorderhom zieht. Mehrere kleine 
Herdchen sind im rechten Seitenstrang; fast die ganze weiBe 
Substanz sieht leicht areoliert aus. Beide Vorderhomer haben 
geniigend zahlreiche Zellen, die Zellen sind jedoch fast alle (offen- 
bar frisch) geblaht und gequollen und zeigen keine Granula mehr. 
Viele der mittelgroBen GefaBe haben homogen aussehende ge- 
quollene Wandungen, alle GefaBe sind stark gefiillt, besonders 
diejenigen der grauen Substanz. In der Basis des linken Hinter- 
horns und in der Peripherie des linken Hinterstrangs findet sich 
eine kleine ganz frische Blutung. Die Pia ist im ganzen wohl etwas 
mehr als in den hoheren Segmenten verdickt; die von ihr aus- 
gehenden Septen sind gleichfalls etwas verdickt. 

In der Mitte der hinteren Zirkumferenz des Querschnittes 
sieht man auch hier die bei dem vorigen Segment beschriebene 
krausenartig zusammengeschnurrte derbe, stark faserige Ge- 
websbildung mit ziemlich groBen GefaBen, deren Wandungen 
auBerst stark verdickt sind. 

Die hinteren extraspinalen Wurzeln sind duschaus intakt. 
Von den vorderen Wurzeln sehen einige — besonders links — 
sehr diinn aus und haben die Farbe bei Weigert schlecht an¬ 
genommen. 

Hohe der 1. Dorsalwurzel (Weigert- und van Gteacm-Pra- 
parate) Fig. 6, Taf. II—III. 

Die Querschnittfigur des Ruckenmarks hat keine deutliche 
Abplattung mehr, jedoch erscheint das rechte Vorderhom auch 
in dieser Hohe im antero-posterioren Durchmesser kleiner als das 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


353 


linke. Die frisch erkrankten Partien der weiBen Substanz nehmen 
auch hier wieder lediglich die Peripherie ein und betreffen fast 
die ganze Zirkumferenz des Riickenmarks mit Ausnahme des 
rechtsseitigen Vorderseitenstranges. Die Pia ist iiberall gleich- 
maBig leicht verdickt und nur vereinzelt — so an den Vorderen 
Wurzeln — sieht' man leichte SeptenVerdickungen von der Pia 
in die weiBe Substanz ziehen. Die GefaBwandungen sind leicht 
verdickt und die GefaBe — vor allem in der Pia — abnorm an- 
gefiillt. Die krausenartige Auflagerung auf die Mitte der hinteren 
Zirkumferenz ist hier nicht mehr vorhanden. 

Mehrere ganz frische Blutungen in oder an der grauen Sub¬ 
stanz; eine etwas ausgedehntere lateral neben dem linken Hinter- 
horn. 

Die Vorderhornzellen sehen auf beiden Seiten in der Mehrzahl 
blasig gequollen, geblaht aus und haben einen randstandigen 
{oder iiberhaupt keinen) Kern. Zwischen diesen frisch erkrankten 
Zellen sind — vorzugsweise im rechten Vorderhom — einige ge- 
schrumpfte und sehr stark tingierte Zellen sichtbar, welche keine 
Einzelheiten der Struktur mehr erkennen lassen. 

In einigen Praparaten ist die Zahl der lateralen Vorderhom- 
zellen rechts erheblich geringer als links, jedoch besteht dieser 
Unterschied nicht in alien Schnitten. 

Die hinteren Wurzeln sind vollig normal, dagegen sind in 
den vorderen geringe Faserausfalle. Die Hinterstrange zeigen nur 
ganz minimale, kaum sichere Lichtungen, beiderseits symme- 
trisch neben der Mittellinie. 

Hohe des 2. Dorsalsegments (Weigert- und van Gieson-'Pi&- 
parate) Fig. 7, Taf. II—III. 

Ein Unterschied in der GroBe und Konfiguration der beiden 
Ruckenmarkshalften besteht nicht, allerdings ist auch in dieser 
Hohe das rechte Vorderhorn etwas schmachtiger als das linke. 
In den Hinterstrangen sind keine alte Lichtungen und Aufhellungen 
vorhanden. 

Die Intensitat der frischen Erkrankungsherde hat sich gegen- 
iiber D x Verringert. Aber auch in D, sind noch erhebliche frische 
Entziindungs- und Erweichungsherde sichtbar: In den lateralsten 
Partien des rechten Seitenstranges und ebenso des linken Seiten- 
stranges sieht man segment- oder sektorformige Gebiete mit auf- 
gequollenen und zerfallenen Markscheiden, zahlreichen Fett- 
kornchenzellen und gefiillten GefaBen. 

Im linken Hinterstrang ist eine frische kleine Blutung. Die 
Pia erscheint nur unerhebhch verdickt, nur in der Gegend und 
um die hinteren Wurzeln sind deutliche Verdickungen, welche 
zum Teil krausenartig gefaltet sind. Die extraspinalen Wurzeln 
sind normal. 

Die Vorderhornzellen sind in vielen — allerdings nicht in 
alien — Schnitten links zahlreicher als rechts. Beiderseits sieht 
man nicht seiten aufgequollene, kernlose (frisch erkrankte) Zellen. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



354 S c h uster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik 


Digitized by 


Fassen wir die vorstehenden anatomischen Protokolle zu- 
sammen, so ergibt sich: 

Das Biickenmark ist in der Hohe zwischen C 6 und D t abge- 
plattet, besonders in seiner rechten H&lfte. Die graue Substanz 
und in erster Linie das Vorderhom ist auf der rechten Seite er- 
heblich schmachtiger in der Ausdehnung von C 5 bis D 2 . Die Zahl 
der Vorderhomzellen ist auf der Strecke C 5 bis D 2 rechts etwas 
kleiner als links; allerdings ist der Zellausfall kein sehr groBer 
und nicht auf alien Praparaten gleichmaBig ausgepr&gt; am 
sichersten ist der Zellausfall in C fl und C 7 , weniger sicher in D, 
und D 2 ; in C 8 erschienen auf beiden Seiten die Vorderhom¬ 
zellen gleich zahlreich. Fast nirgendwo ist das Aussehen der Vor- 
derhornzellen ein normales; Von C 3 ab bis zu den obersten Brust- 
segmenten finden sich Zellveranderungen. In den hoheren Ab- 
sohnitten bis hinab zu dem 7. Cervikalsegment dominieren offen- 
bar altere (und geringgradigere) Veranderungen (Schrumpfung 
und Verklumpung), dagegen herrschen auf der Strecke C 8 bis 
D 2 die frischen Zellveranderungen (starke Blahung, Aufquellung) 
vor. 

In den Hinterstrangen sind auf kurze Strecken unerhebliche 
Lichtungen vorhanden, welche sich fundamental von den frischen 
Veranderungen der Seitenstrange unterscheiden. Die deutlich- 
sten dieser Aufhellungen sind im 4. und 5. und 6. Cervikalsegment 
und entsprechen allem Anschein nach der auf eine kurze Strecke 
aufsteigenden sekundaren Degeneration einer hinteren Wurzel. 
(Allerdings wurde die zugehorige hintere Wurzel nicht gefunden.) 
Die extraspinalen hinteren Wurzeln erscheinen iiberall in 
alien Hohen, durchaus normal und intakt. Von den vorderen 
Wurzeln sind diejenigen des 6. und 8. Cervikal- rmd 1. Dorsal- 
segments etwas suspekt. Sie zeigen leichte Faserausfalle und 
erscheinen stellenweise bei Weigert etwas blaB. (Es soli jedoch 
ausdriicklich betont werden, daB auf diese Wurzelveranderungen 
kein Wert gelegt wird und daB die Wurzelaufhellungen nicht 
sicher als krankhaft aufgefaBt werden.) 

DievordereLangsfissur und die die GefaBe umgebenden Lymph- 
spalten sind ganz besonders im obersten Cervikalmark erwei- 
tert. Eine erhebliche Piaverdickung besteht nirgends, jedoch 
ist eine ganz leichte piale Verdickung Von der Hohe des 6. Cer- 
vikalsegments ab nicht in Abrede zu stellen. Zu dieser Verdickung 
addiert sich noch die weiter oben als ,,halskrausenartig“ charakte- 
risierte bindegewebige Verdickung, welche in der hinteren Peri¬ 
pherie des Querschnittes der Pia aufgelagert ist. Die GefaBe sind 
durchweg stark gefiillt. Im untersten Cervikal- und obersten 
Brustmark sind die Wandungen der kleinen PiagefaBe vielfach 
erheblich verdickt. Die ziemlich groBen GefaBe, welche die 
,,Halskrause c ‘ durchziehen, haben eine erhebliche Wandver- 
dickung. Ganz frische kleine Blutungen finden sich in groBer 
Zahl, hauptsachlich in der grauen Substanz. 

Die ausgedehntesten Veranderungen zeigen in alien Hohen 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


355 


die Seitenstrange. In C 3 —C 6 erscheinen die Randpartien nur leicht 
siebartig gelichtet, auf der Strecke von C a bis D x dagegen sind 
groBe Bezirke der Seiten- und Vorderseitenstrange schwer betei- 
ligt. Stellenweise gehen die Veranderungen auf das linke Vorder- 
hom iiber (C 7 ). In D 2 stellen die erkrankten Partien mir noch 
einige Rreissegmente und Kreissektoren dar, welche von der 
Peripherie der weiBen Substanz ausgehen. 

Es entsteht nun die Notwendigkeit, die gefundenen anato- 
mischen Veranderungen mit dem klinischen Befunde zusammen- 
zubringen. Dies soil zuerst nur ganz im allgemeinen, ohne die 
Berucksichtigung von Einzelheiten geschehen. Halten wir das 
Ergebnis der Klinik und dasjenige der anatomischen Unter- 
suchung gegeneinander, so gewahren wir sofort, daB zweifellos 
ein erhebliches quantitatives MiBverhaltnis zwischen beiden 
besteht: den sehr stark ausgesprochenen und vielfaltigen Mark- 
veranderungen entspricht kein ausreichender klinischer Befund 
— wenigstens kein vor der Operation erhobener. Die massigen 
anatomischen Veranderungen in den Seitenstrangen konnen nur 
mit dem Zustand des Patienten nach der Operation, mit den akuf 
einsetzenden und schweren Ldhmungserscheinungen auf motori - 
schem und sensiblem Qebiet , in Zusammenhang gebracht werdefr. 
DaB diejenigen anatomischen Veranderungen, welche nach Ab- 
zug der genannten noch iibrig bleiben, dem urspriinglichen Krank- 
heitsprozeB zugehoren, werden wir weiter Unten sehen. Vorab 
geniige die Feststellung, daB in dem anatomischen Befund zwei 
Reihen Von Veranderungen auseinander gehalten werden miissen: 
der eine, am meisten in die Augen springende Teil der Verande¬ 
rungen entspricht den postoperativen Symptomen, der andere, 
unscheinbarere Teil, den urspriinglichen klinischen Erscheinungen. 

Wenn wir zu dem gleichen SchluB, daB namlich neben den 
alten Veranderungen des Riickenmarks auch frische vorhanden 
seien, auch schon auf Grund der bloBen Betrachtung der mikro- 
skopischen Praparate gekommen waren, und wenn wir dem- 
gemaB in den weiter oben gebrachten Protokollen auch schon 
vieKach zwischen alten und frischen anatomischen Storimgen 
unterschieden hatten, so muB diese UntersCheidung doch jetzt 
vervollstandigt \md fur alle gefimdenen Veranderungen durch- 
gefiihrt werden. Erst wenn dies geschehen ist, konnen wir den 
Versuch machen, das ursprungliche Krankheitsbild des Patienten 
anatomisch zu begriinden. 

Die Sonderung der alten von den frischen anatomischen 
Veranderungen ist fur das Gros des Befundes leicht. 

Um mit der ziemlich stark in die Augen fallenden, (wenn auch 
fur die Auffassung und Deutung des Krankheitsbildes weniger 
wichtigen) besonders rechterseits ausgepragten Abplattung des 
Riickenmarksquerschnittes und mit der — der rechtsseitigen 
Abplattung ziemlich parallel gehenden — Verschmalerung des 
rechtsseitigen Vorderhoms zu beginnen, so muB zuerst dem Ver- 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



356 Schuster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomic und Klinik 

dacht nachgegangen werden, ob es sich bei diesen Veranderungen 
nicht etwa um Artefakte handelt, welch© moglicherweise bei der 
Hartung und Preparation entstanden sein konnten, Dieser Ver- 
dacht ist unbegriindet: Zuerst sei daran erinnert, daB schon bei 
der Operation , also intra vitam, das Riickenmark durch seine 
Breite auffiel. Auch muB betont werden, dafi bei der Hartung 
des Riickenmarks selbstverstandlich sorgfaltig darauf geachtet 
wurde, daB das Organ vor jedem Druck u. dergl. bewahrt war. 
DaB ferner nicht die in einigen Segmenten bestehenden frischen 
Erweichungen der weiBen Substanz, — die sich bei der Formalin- 
hartung moglicherweise anders als die normale weiBe Substanz 
verhalten und infolgedessen die Querschnittsfigur verschieben 
konnten, — die Ursache fur die festgestellten Assymmetrien 
sein konnten, ergibt sich daraus, daB die Differenzen 
zwischen rechter und linker Halfte des Querschnittes sich 
auch in solchen Segmenten fanden, in welchen iiberhaupt 
nichts von frischen Erweichungen zu sehen war, sowie daraus, 
daB in denjenigen Hohen, welche frische Erweichungszonen 
aufwiesen, dies© bald rechts , bald links , bald beiderseits saBen, 
wahrend die Verschmalerung des Querschnittes und besonders 
diejenige der grauen Substanz immer nur rechts saB. SchlieBlich 
spricht doch auch der Umstand gewiB gegen das Vorliegen eines 
Artefaktes, daB gerade die verschmalerte rechte Seite des Quer¬ 
schnittes es war, welche sich bei der mikroskopischen Unter- 
suchung als diejenige der starksten Zellveranderungen offenbarte. 

Aus dem Gesagten ergibt sich schon, daB die geschilderten 
Differenzen zwischen den beiden Seiten der Cervikalanschwellung 
als alte Ver&nderungen angesprochen werden miissen. 

Zu den alteren Veranderungen gehort weiter eine Erschei- 
nung, welche wahrscheinlich in einem gewissen Zusammenhang 
mit der vorhin besprochenen Abplattung des Riickenmarksquer- 
schnittes steht, nfi.mlich die fast uberall zutage tretende gleich- 
maBige Erweiterung der vorderen Fissur imd der perivaskularen 
Raume. Auf die Entstehung dieser Veranderungen werden wir 
noch weiter unten zuriickzukommen haben. 

DaB die von C 4 bis C 6 sichtbaren Aufhellungszonen in den 
beiden Hinterstrangen gleichfalls alt und nicht frisch sind, kann 
mit Sicherheit angenommen werden. Sie stellen die einzigen 
systemartigen oder wenigstens angedeutet systemartigen ana- 
tomischen Veranderungen des Falles dar und sehen schon auf den 
ersten Anblick vollkommen verschieden von den spater noch zu 
besprechenden frischen Veranderungen aus. Es fehlen bei ihnen 
alle frischen Abbauprodukte, Fettkornchenzellen, Markzerfall 
usw. vollkommen; man gewahrt vielmehr auf Markscheidenprfc- 
paraten lediglich eine ziemlich gleichmaBige Aufhellung gewisser 
Hinterstrangbezirke und sieht auf van 6?ie*on-Praparaten, daB 
eine leichte Vermehrung des die Nervenfasern umgebenden Stiitz- 
gewebes stattgefimden hat. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


357 


Digitized by 


Schwerer zu beurteilen sind die Zellveranderungen in den 
Vorderhornem hinsichtlich ihres Alters. Auch hier wird man 
einen Teil der Erkrankungen als relativ alt anzusprechen haben, 
namlich diejenigen Zellen, welche geschrumpft und verklumpt 
aussehen. Derartige Zellen finden sich hauptsachlich im oberen 
Cervikalmark — und zwar rechts sowohl als links. 

Auch den Zellausfall, welcher sich besonders in dem rechten 
Vorderhom des 5., 6. und 7. Cervikalsegments geltend macht, 
wird man als eine relativ alte Erscheinung ansehen miissen. 

Schauen wir uns nunmehr nach den frischen anatomischen 
Veranderungen ura, so miissen wir als solche in erster Reihe die 
erheblichen in den Seitenstrangen konstatierten Erweichungen 
des unteren Cervikalmarks und des obersten Brustmarks sowie 
die vereinzelt auch im Hinterstrang befindlichen Veranderungen 
ansprechen. Die Quellung der Markscheiden, der Zerfall des Marks, 
das massenhafte Auftreten von Fettkornchenzellen und andem 
Zellen, die ganz frischen Blutungen: alles dies laBt keinen Zweifel 
an der Richtigkeit unserer Auffassung zu. Die zirkumskripten 
kleinen runden Stellen im Hinterstrang einzelner Segmente, 
welche auf Weigert- Pr&paraten ganz hell aussehen, entsprechen 
durchaus den Querschnitten der bekannten ,,nekrotischen Stifte", 
wie man sie nach Traumen des Riickenmarks beobachtet. Auch 
die kleineren Entzundungsherde in der grauen Substanz, welche 
gelegentlich zu punktformigen NekTosen gefiihrt haben, sind 
offenbar jungen Datums. Jungen Datums sind schlieBlich auch 
diejenigen Zellerkrankungen in den Vorderhornem der beiden 
untersten Cervikal- und des obersten Dorsalsegments, welche 
sich als Zell blahtingen mit Kemverlust, Homogenisierung des 
Zelleibes usw. pr&sentieren. 

Wir haben bis jetzt zwei Reihen von Veranderungen noch 
nicht hinsichtlich ihres Alters untersucht: namlich die gering- 
fiigigen Veranderungen an der Pia und die Erscheinungen an den 
GefaBen. 

Betreffs der geringfiigigen aber in ihrer Konstanz doch wohl 
sicheren Piaverdickung wird sich ein vollig sicheres Urteil aus 
dem histologischen Befunde allein kaum gewinnen lassen. Denn 
es sind sowohl rein faserige Stellen vorhanden, als auch solche, 
in welchen sich zellige Elemente finden. Wenn man aber bedenkt, 
daB sich schon bei der Operation ebenso wie spater bei der Sektion 
makroskopisch diinne piale Gewebsstrange in der Hohe des Cer- 
vikalmarkes zeigten, wahrend gleichzeitig die cerebrale Pia getriibt 
aussah, so wird man zu dem SchluB kommen, daB die bei der mikro- 
skopischen Untsrsuchung festgestellten spinalen Veranderungen der 
Pia wahrscheinlich zum groBeren Teile alteren, und nur zum ganz 
geringen Teil jiingeren Datums sind. Zweifellos von erheblichem 
Alter sind die lamellenartig angeordneten , ,krausenformigen‘* 
Gewebsstrange, die dorsal zwischen Pia und Dura liegen. Das 
geht nicht nur aus der auBerst derben kemarmen Beschaffenheit 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



358 s c h uster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik 


Digitized by 


ihres Gewebes, sondem auch aus dem Aussehen der groBen, sehr 
dickwandigen GefaBe hervor, welche die Krause durchziehen. 

Die sonstigen GefaBveranderungen sind offenbar nicht ein- 
heitlich zu beurteilen. Neben den Zustanden frischer kongestiver 
GefaBfullung ohne Wand verander ungen innerhalb der weiBen 
und grauen Substanz sieht man altere, in Gestalt derber Wand- 
verdickungen sich darstellende Verander ungen, welche unbedingt 
— wie die eben genannten GefftBe der ,,Halskrause“ — viel alter 
sein miissen. 

Nachdem wir eine Scheidung zwischen frischen und alten 
Befunden vorgenommen haben, miissen wir jetzt den weiter 
oben schon begonnenen Versuch, die einzelnen anatomischen 
Veranderungen hinsichtlich ihrer Beziehungen zum klinischen 
Verlauf zu priifen, fortsetzen. 

Wenn wir mit den als frisch gekennzeichneten anatomisclien 
Befunden beginnen, so kann man bei ihnen wohl eine Beziehung 
zu dem urspriinglichen anatomischen ProzeB und den urspriing- 
lich vorhanden gewesenen klinischen Symptomen ausschlieBen. 
Es ist schlechterdings imdenkbar, daB die ausgedehnten Be- 
zirke von Markzerfall und Erweichung in den Seiten- und Vorder- 
seitenstrangen des Halsmarks — dies sind die wiehtigsten der 
frischen Veranderungen — vor der Vornahme der Operation be- 
standen haben und klinisch latent geblieben sein sollten. 

Wenn wir uns umgekehrt fragen, welche klinischen Erschei- 
nungen man als Korrelat der konstatierten frischen Verande¬ 
rungen hatte erwarten sollen, resp. welcher Anteil der bis zum 
Tode des Patienten beobachteten Symptome am ehesten auf 
die frischen anatomischen Befunde zuriickzufuhren sei, so werden 
wir unbedingt zu dem SchluB gedrangt, daB die plotzliche und 
schwere Anderung des Krankheitsbildes, welche ca. 10 Tage 
vor dem Tode einsetzte, mit den in Frage stehenden anato¬ 
mischen Veranderungen zusammenhangt. Bis zu dem Augenblick 
der Operation waren keine nennenswerten Seitenstrang- und 
Hinterstrangsymptome vorhanden gewesen, nach der Operation 
dagegen traten schwere Lahmungserscheinungen und schwere 
Sensibilitatsstorungen seitens der Arme und Beine auf und die 
Urinentleerung war gestort. Die genannten Storungen waren 
so konstant imd blieben bis zum Tode im wesentlichen so un- 
verandert, daB sie schon ante exitum kaum mehr als postope¬ 
rative ,,Kommotionserscheinungen‘‘ gelten konnten, sondem als 
grob anatomisch begriindet angesehen werden muBten. Wir werden 
also nicht fehl gehen in der Annahme, daB infolge der unver- 
meidlichen Manipulationen und Zerrungen, denen das Riicken- 
mark wahrend der Operation ausgesetzt war, ein akuter Mark¬ 
zerfall in dem durch die urspriingliche Erkrankung vielleicht 
besonders geschwachten Organ hervorgerufen wurde. Fur diese 
Auffassung spricht auBer dem schon Gesagten auch der Umstand, 
daB die myelitische Erkrankung uberall deutlich von der Peri¬ 
pherie zum Zentrum vordrang und besonders ausgepragt in den- 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 359 

jenigen Segmenten war, welche der Operationshohe entsprachen. 
Auch die zahlreichen kleinen, ganz j ungen Blutungen sowie die 
frischen Zellerkrankungen in den Vorderhomem von C 8 , D, und 
D 2 fiigen sich zwanglos unserer Auffassung. DaB die myelitisehen 
Veranderungen in der weiBen Substanz keine sekundaren Degene- 
rationen hervorgerufen haben, ist ohne weiteres verstandlich, 
wenn man bedenkt, daB der Kranke nur 11 Tage nach der Ope¬ 
ration lebte. Es mag schlieBlieh noch bemerkt werden, daB die 
frischen Veranderungen unseres Falles durchaus denjenigen ent- 
sprechen, wie man sie bei Wirbelsaulenschiissen mit bloBer Fern- 
wirkung der Geschosse auf das Riickenmark sieht. 

Wir wollen jetzt auch fur die anatomischen Veranderungen, 
welche wir als alte angesprochen haben, die Entstehung festzu- 
stellen suchen. Dabei miissen wir von denjenigen Befunden aus- 
gehen, welche schon bei der Operation erhoben werden konnten; 
denn ohne sie bleibt der Sektionsbefund unklar. Bei der Ope¬ 
ration erschien der ganze noch uneroffnete Duralsack auffallend 
breit und dick und bei der Eroffnung der Dura spritzte eine ge- 
wisse Menge Liquor wie eine Fontane unter hohem Druck heraus. 
Es fanden sich endlich schon bei der Operation leichte Verwach- 
sungen der Dura mit den weichen Hauten sowie eine gewisse 
Rauhigkeit und Unebenheit der Pia. Bei der Sektion war von 
der — anscheinend lokalen — Drucksteigerung des Liquor begreif- 
licherweise nichts mehr zu sehen; es fanden sich iibrigens bei 
der Sektion auch keine Anzeichen fur das Vorhandensein einer 
aUgemeinen Drucksteigerung des Liquor. Wohl jedoch notierte 
der Obduzent — in Obereinstimmung mit dem Befunde des Ope- 
rateurs — ganz feine alte Verwaehsungen im Bereich des Cer- 
vikalmarks und — als recht wichtigen Befund — eine milchige 
Triibung der weichen Haute des Gehirns. 

Wenn wir die bei der Operation und die nachher sowohl 
bei der Sektion als auch bei der mikroskopischen Untersuchung 
festgestellten Veranderungen zusammenhalten, so kommen wir 
zu dem SchluB, daB intra vitam in der Hohe des unteren Cervikal- 
marks eine hochstwahrscheinlich abgekapselte Erweiterung der 
Riickenmarkshaute, also eine cystenartige Bildung, bestanden 
habe. Die Wande der Cyste wurden offenbar zum Teil gebildet 
durch feine kulissenartige Strange und Verwaehsungen, von denen 
die Operation und die Sektion nur noch die Reste hat zutage 
fordem konnen. Der Cysteninhalt bestand aus gestautem Liquor. 
Unsere Deutung entspricht durchaus derjenigen des Anatomen 
Strobe . Strobe prazisiert seine Auffassung folgendermaBen: ,,solche 
Cvsten, welche wohl als Folge chronisch entziindlicher Abkaps- 
lung einzelner Bezirke des Arachnoidalraumes zu deuten sind, 
konnen auf ihre Umgebung komprimierend wirken und es kann 
das Mark entsprechend ihrem Sitz leicht eingedellt sein.“ 

Die Bildung der Verwaehsungen zwischen den Riickenmarks- 
hauten und damit die Entstehung der cystenartigen Liquor- 
ansammlimg waren das Resultat einer chronischen spinalen 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


3(30 S c liuster, Beit rag zur Kenntnia der Anatomie und Klinik 

Arachnitis des unteren Cervikalmarks. Dies© mit Cystenbildung 
einhergehende Arachnitis des Rfickenmarks darf bei der patho- 
logisch-anatomischen Beurteilung des Falles nicht isoliert, sondem 
nur im Zusammenhang mit den alten cerebralen Piatrfibungen 
betrachtet werden: Wir haben es ofienbar mit einer 
alten e n t z ii n d 1 i c h e n Erkrankung der weichen 
Haute, sowohl des Hirns als auch der oberen 
Rfickenmarksabschnittezutun.welchesich von 
a nd er n c hr on isc h en E n t z find u ngen der Haute 
dadurch auszeichnet, dad siezu einer lokalen 
Liquorstauung und zur cystenartigen A b - 
kapselung des Liquors gefiihrt hat. 

Auf Grand dieser Auffassung lassen sich die meisten der 
,.alten“ Ver&nderungen unseres Falles hinreichend erkl&ren. 
Die Abplattung des Riickenmarksquerschnittes, welche beson- 
ders die rechte Seite betroffen hatte und hier zu einer Zuspitzung 
der lateralen Konvexitftt gefiihrt hatte, ist ersichtlich auf den 
Brack der abgekapselten Liquormenge zuriickzufiihren. Auf 
die gleiche Ursache wird auch die Erweiterung der perivasku- 
laren R&ume und des vorderen L&ngsspaltes zu beziehen sein. 

Schwerer erkl&rlich sind die ftlteren Ver&nderungen der Vor- 
derhomzellen, welche sich besonders in den oberen und mittleren 
Cervikalsegmenten (rechterseits anscheinend mehr als links) 
fanden. Da das Gewebe in der Umgebung dieser Zellen im wesent- 
lichen intakt war, und besonders keine alten entziindlichen Ver- 
anderungen zeigte, so liegt es nahe, die Verklumpungen und 
Verkleinerungen der Vorderhornzellen nur als den Ausdruck einer 
Drackatrophie auffassen, welche infolge des lang bestehenden 
Cystendruckes zur Entwicklung gelangt ist und der Abplattung 
des ganzen Riickenmarksquerschnittes parallel geht. (Die — be¬ 
sonders in der Operationshohe stark ausgesprochenen — friachen 
Zellerkrankungen haben genetisch nichts mit dem Cystendruck 
zu tun.) 

Es bleiben von sicher alten Ver&nderungen des nervosen 
Gewebes nur noch die geringen Hinterstrangsver&nderungen zu 
erkl&ren. Sowohl die Form der Querschnittsfigur der atrophischen 
Hinterstrangpartie als auch die Beschr&nkung der Ver&nderung 
auf zwei bis drei Segment© weist darauf hin, daB es sich um sekun- 
d&re Degenerationen handelt, welche mit Erkrankungen verein- 
zelter hinteren Wurzeln in Zusammenhang stehen. An dieser 
Erkl&rung der Hinterstrangsver&nderungen wird man festhalten 
miissen, trotzdem es nicht gelang, die erkrankte hintere Wurzel 
selbst ausfindig zu machen. Denn eine andere Entstehungsursache 
als eine aufsteigende Degeneration l&Bt sich fiir die sich fiber 
zwei Segment© erstreckende minimale Hinterstrangserkrankimg 
kaum denken. DaB die Wurzelaffektion selbst nicht gefunden 
wurde, ist wohl dadurch zu erkl&ren, daB keine Serienschnitte 
angefertigt worden waren. Obrigens spricht die Unauffindbarkeit 
der prim&r erkrankten hinteren Wurzel gleichfalls daffir, daB 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



361 


der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 

es sich nur um ganz unerhebliche Wurzelverander ungen gehandelt 
haben kann. 

Als Entstehungsursache der postulierten vereinzelten Wurzel- 
erkrankung werden wir fraglos gleichfalis die Druckwirkung des 
Liquor spinalis ansprecben diirfcn; die Annahme einer derartigen 
Einwirkung kann auf keine Schwierigkeit stoBen, da wir wissen, 
daB bei allgemeiner Drucksteigerung des Liquor cerebrospinalis 
— z. B. beim Hirntumor — recbt haufig Veranderungen an 
zahlreichen hinteren Wurzeln gefunden weriden. Die in C«, C 8 
und Dj gefundenen geringen Verdiinnungen und Lichtungen 
einzelner vorderer Wurzeln miissen nach dem Gesagten gleich- 
falls auf eine Schadigung durch Druckwirkung zuriickgefiihrt 
werden. 

Bis jetzt haben wir den klinischen und den anatomischen Be- 
fund nur ganz im allgemeinen und in groBen Ziigen einander 
gegeniibergestellt: Wir haben lediglich gefolgert, daB das bei der 
ersten Untersuchung des Patienten festgestellte Krankheitsbild 
des Ruckenmarkstumors auf die Anwesenheit einer umschriebenen 
Fliissigkeitsansammlung innerhalb der Riickenmarkshaute zu- 
ruckzufiihren war, daB dagegen die akut entstandenen schweren 
motorischen und sensiblen Lahmungssymptome im Bereich aller 
4 Extremitaten den frischen Entziindungs- und Erweichungs- 
erscheinungen der weiBen Substanz entsprechen. Wir wollen ims 
jetzt mit den Einzelheiten des klinischen Befundes befassen und 
ihre anatomische Begriindung festzustellen suchen. 

Die ca. 3 Jahre vor der ersten von mir vorgenommenen Unter¬ 
suchung einsetzende allm&hliche Entwicklung der Symptome 
ist verstandlich. Den ersten Anfangen der haupts&chlich rechts 
lokalisierten spinalen Leptomeningitis entsprachen offenbar das 
Druckgefiihl und die iibrigen leichten Par&sthesien in der Schulter- 
gegend. Die Leptomeningitis, die zuerst nur die Gegend des 5. und 
6. Cervikalsegments betraf, setzte sich spater nach abw&rts fort, 
demgemaB traten die anf&nglich auf die Schulter beschrankten 
abnormen Sensationen spater auch in den distaleren Teilen der 
Extremitat auf. Die von dem Kranken deutlich angegebene 
und betonte akute Verschlimmerung nach starkem Schwitzen 
brachte zuerst das Symptom wirklicher Schmerzen. Wahrschein- 
lich trat nach einer damals allem Anschein nach iiberstandenen 
Erkaltung zuerst eine deutliche Absperrung des Liquor cerebro- 
spianlis infolge frischer seroser Exsudation auf. Erscheint der 
klinische Verlauf bis zu diesem Punkte auf Grund des anatomi¬ 
schen Befundes hinreichend durchsichtig, so entstehen dem Ver- 
standnis jetzt dadurch Schwierigkeiten, daB die konstatierten 
anatomischen Veranderungen den klinischen Symptomen gegen- 
iiber zu geringfiigig erschienen. Fur das dauernde Fortbestehen 
der erheblichen Schmerzen im rechten Arm gibt der Sektions- 
befund keine geniigende Erklarung. Da es sich bei den Schmerzen 
offenbar um ein radikulares Symptom handelte, so durfte man 
mit einer gewissen Sicherheit eine erhebliche Erkrankung einer 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



362 s c h uster, Beitrag ziir Kermtnis der Anatomie und Klinik 


Digitized by 


oder mehrerer hinterer Wurzein erwarten. Demgegeniiber hat 
die anatomische Untersuchung keine nennenswerten Verande- 
rungen an den extramedullaren hinteren Wurzein ergebeu. Aller- 
dings haben wir aus den auf 2—3 Segmente beschrankten uner- 
heblichen Degenerationszonen im Bereiche der Hinterstrange 
den SchluB gezogen, daB dennoch eine leichte Erkrankung einer* 
oder zweier hinterer Wurzein vorhanden sein miisse, welche sich 
der anatomischen Feststellung entzogen habe, Aber selbst wenn 
wir diese Annahme als bewiesen ansehen, so bleibt es noch immer 
unwahrscheinlich, daB eine ganz geringgradige Wurzelerkrankung 
die intensiven und dauernden Schmerzen hervorgerufen haben 
solle. 

Angesichts dieser Sachlage konnen wir uns nur vorstellen, 
daB die starken radikularen Schmerzen auf eine dauernde Reizung 
der extramedullaren Wurzein durch den hohen und standig zu- 
nehmenden Druck — mit dessen Mechanik wir uns noch spater 
zu beschaftigen haben werden — zuriickzufiihren sind. Die Ent- 
wicklung und der innere Bau der — wie man annehmen muB — 
von Strangen imd Gewebskulissen durchzogenen Cyste gestatten 
die Annahme, daB die hinteren Wurzein dauernd gegen eine 
straffere Unterlage — etwa gegen diq gespannte. Dura — gedriickt 
oder gar abgeknickt wurden, ohne daB anderer^eits die Abknickung 
eine so Starke war, daB sie eine erhebliche Degeneration der Fasem 
erzeugt hatte. (Ubrigens findet sich nur bei Horsley eine Mit- 
teilung iiber das Befallensein der spinalen Wurzein.) jl as in den 
letzten Wochen vor dem Eintritt des Patienten in meine Behand- 
lung erfolgte Dbergreifen der Schmerzen auf den linken Arm 
spricht nicht gegen unsere soeben geltend gemachte Auffassxmg. 

Ahnlichen, wenn auch nicht ganz so groBen Schwierigkeiten 
begegnet die Erklarung der Paresen und Atrophien im Bereiche 
der rechten oberen Extremitat. Es muB zuerst festgestellt werden, 
daB die ganz unerheblichen Aufhellungen vereinzelter vorderer 
extramedullarer Winzeln in der Hohe C 6 , C 8 , D x bei weitem keine 
geniigende Erklarung fur die — wenn auch nicht maximalen — 
so doch recht deutlichen Muskelatrophien auf der Streckseite 
des rechten Vorderarms und fur die Atrophie der kleinen Hand- 
muskeln geben. Die konstatierten Vorderhornveranderungen da- 
gegen sind hierzu eher imstande. In C 5 , C 6 , C? imd D! erschien 
einmal die Zahl der Vorderhornzellen rechts zum mindesten 
verdachtig auf Ausfalle, auBerdem waren in den genannten Hohen 
sichere alte Zellveranderungen nachweisbar — allerdings meist 
auf beiden Seiten. (Die sichere Beurteilung der Vorderhornzellen 
war dadurch erschwert, daB sich vielfach offenbar auf die alten, 
frische postoperative Zellveranderungen aufgepfropft hatten.) 
Die Schwierigkeit besteht nun darin, zu entscheiden, ob die be- 
schriebenen alten Zellveranderungen und die Zellausfalle als 
geniigende anatomische Unterlage fur die Muskelatrophien an- 
zusehen sind. 

Legen wir den bei andem spinalen Amyotrophien (Polio- 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


363 


myelitiden, Syringomyelien) gewonnenenMaBstab an die in unserem 
Falle gefundenen Zellveranderungen, so ergibt sich, daB die 
Zellveranderungen unseres Falles quantitativ als auffallend ge- 
Ting im Vergleich zu den bei sonstigen spinalen Amyotrophien 
gefundenen bezeichnet werden miissen. Zur befriedigenden Er- 
klftrung des klinischen Bildes wird man sich deshalb nach etwaigen 
weiteren Momenten umsehen miissen, welche moglicherweise 
als Hilfsursachen fur die Ausfalle im Bereich des peripherischen 
motorischen Neurons in Betracht kommen konnten. Da liegt 
die Annahme nahe, daB die durch den Fliissigkeitsdruck der Cyste 
hervorgerufene, vorzugsweise die rechte Riickenmarkshalfte be- 
treffende, Abplattung des Riickenmarks, welche in ihrer Hohen- 
lokalisation (C 6 bis Dj) vollkommen den motorischen Ausfalien 
entsprach, derart schadigend auf das Vorderhom und moglicher¬ 
weise auch auf die vordere Wurzel eingewirkt habe, daB trotz 
relativ geringfugiger histologischer Veranderungen erhebliche kli- 
nische Storungen resultierten. Ebenso wie fiir das Zustandekommen 
der jstarken Schmerzen wird man demnach auch fiir das Zustande¬ 
kommen der motorischen Symptome ein dynamisches Moment, 
den Kompressionsdruck der Fliissigkeit, als unterstiitzend wirk- 
sam annehmen miissen. 

DaB in unserem Falle eine Anzahl anatomischer Befunde, be- 
sonders Veranderungen des linken Vorderhoms erhoben wurde, fiir 
welche im Gegensatz zu den soeben besprochenen Verhaltnissen 
ein deutlicher klinischer Ausdruck fehlte, ist kaum auffallig. 
Denn weder die Zell ausfalle noeh die alten Zellveranderungen des 
linken Vorderhornes waren erheblich; anderseits fehlte die auf 
der rechten Seite so deutliche Verkleinerung der ganzen Vorder- 
homsubstanz links vollkommen. 

Wie erinnerlich zeigten auch die sensiblen Formationen der 
linken Riickenmarkshalfte leichte Veranderungen, namlich geringe 
Hinterstrangaufhellungen in C 4 bis C 6 . Diese linksseitigen Hinter- 
strangveranderungen, welche in ihrer Konfiguration vollkommen 
denjenigen des rechten Hinterstranges entsprachen, miissen ebenso 
wie diese — und aus den gleichen Griinden — wahrscheinlich 
mit ganz leichten Hinterwurzelausfallen in Zusammenhang ge- 
bracht werden, trotzdem solche anatomisch nicht nachgewiesen 
werden konnten. Als klinischen Ausdruck jener (moglicherweise 
der Untersuchung entgangenen) Wurzelveranderungen waren die 
Parasthesien zu betrachten, welche sich in der afierletzten Zeit 
im Bereich der linken oberen Extremitat und Schulter bemerkbar 
gemacht hatten. 

t)ber die okulopupillaren Symptome braucht angesichts 
der bis ins obere Brustmark herabreichenden Vorderhomverande- 
rimgen ebenso wenig gesprochen werden, wie iiber die Reflex- 
steigerung an oberen und unteren Extremit&ten. 

Ein Symptom verdient jedoch noch eine kurze Besprechung, 
weil es allem Anschein nach diagnostisch eine gewisse Rolle spielen 
kann: ich meine die von dem Patienten ausdriicklich betonte 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



364 Sch u s t e r , Beitrag zur Kenntnig der Anatomic und Klinik 


Steigerung seiner Arm- und Schulterschmerzen bei gewissen Kopf- 
bewegungen. Vor kurzem hat Meyer in Wurzburg (in der Berl. klin. 
Wochenschr. v. 31. VIII. 1914) eine Arbeit veroffentlicht, in welchem 
er tiber ein neues Symptom bei Armneuralgien berichtet. Das von 
Meyer gemeinte Symptom bezieht sich auf die Brachialneural- 
gien und besteht darin, daB eine Steigerung der Schmerzen ein- 
tritt, sobald der Kopf stark z u r ii c kgebeugt wird. Es handelt 
sich also um genau die gleiche Erscheinung, welche mir bei meinem 
an zirkumskripter spinaler Meningitis serosa leidenden Kranken 
aufgefallen war. Aus der Obereinstimmung der Afeyerschen 
imd meiner eigenen Beobachtung, resp. aus der Eigenart der ganz 
charakteristischen subjektiven Angaben der Patienten ist ohne 
weiteres zu entnehmen, daB es sich in der Tat — wie Meyer an- 
nimmt — um ein irgendwie anatomisch begriindetes, und nicht 
um ein Zufallsymptom handelt. Meyer glaubt, daB das Symptom 
durch Zerrung des Brachialplexus zustande kommt. Demgegen- 
iiber halte ich es im Hinblick auf den anatomischen Befund des 
vorliegenden Falles, bei welchem sich alle anatomischen Ver- 
anderungen innerhalb des Duralsackes abspielten, fur wahrschein- 
licher, daB das Symptom durch besondere mechanische Ver- 
haltnisse hervorgerufen wird, welche innerhalb der Ruckenmarks- 
haute zur Geltung kommen. Ohne mich an dieser Stelle in eine 
ausfiihrliche Besprechung der Meyerschen F&lle einzulassen, 
mochte ich die Meyerochen Falle zum Teil als Stiitze fiir 
meine Auffassung verwerten. Denn ich hege auf Grund der von 
Meyer mitgeteilten Krankengeschichten den Verdacht, daB ein 
Teil der Falle jenes Autors moglicherweise gleichfalls an — weim 
auch abortiven — exsudativen Prozessen innerhalb des Dural¬ 
sackes gelitten haben mogen. Der giinstige Verlauf der Falle 
spricht keinesfalls gegen meine Auffassung. t)brigens nimmt 
Meyer selbst bei einigen seiner mit Muskelatrophien, Paresen 
und Sensibilitatsstorungen einhergehenden „NeuraJgien“ einen 
radikidaren Sitz an und halt sie offenbar fiir sehr hoch sitzende 
Neuritiden. Dber den genaueren Entstehungsmodus der Schmerz- 
steigerung bei der Einnahme der „Rasierstellung des Kopfes“ 
wage ich nur Vermutungen anzustellen. Ich stelle mir vor, daB 
es sich dabei um eine Art radikularen Inkarzerationssymptoms 
oder Abknicksymptoms handelt (ahnlich dem, wie ich es fiir die 
Entstehung der permanenten Schmerzen in unserem Falle an- 
genommen habe), welches irgendwie mit der Volums- und Ge- 
staltsveranderung der intraduralen Cyste bei den Bewegungen 
der Halswirbelsaule zusammenhangt. 

Die Empfindlichkeit der in der Tiefe des Wirbelkanals liegen- 
den Gebilde gegeniiber den die Wirbelfortsatze treffenden mecha- 
nischen Einwirkungen wird im vorliegenden Falle durch die kon- 
stant angegebene Druckempfindlichkeit der unteren Halswirbel 
bewiesen. 

Wenden wir uns nunmehr, nachdem wir die hauptsachlichsten 
Punkte unserer Beobachtung besprochen haben, zu den in der 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


365 


Literatur niedergelegten Beschreibungen ahnlicher Falle, so konnen 
wir konstatieren, daB auch in den bisher beobachteten Fallen 
die Pathologie der von der Cyste ausgehenden Druckwirkung 
nicht vollig aufgeklart worden ist. Besonders auffallig erscheint 
es den Autoren ( Horsley , Oppenheim), daB die klinischen Erschei- 
nungen in der Begel einseitige sind, wahrend doch die cystische 
Anftreibung des Meningealsackes anf beide Riickenmarkshalften 
wirke. 

Auch Wei/ienbury betont die — wenigstens anf&ngliche — 
Einseitigkeit der Symptome, hebt dagegen umgekehrt die diffuse 
Wirkung des Cystendruckes hervor. Die von Oppenheim gegebene 
Deutung der Druckwirkung der meningealen Cyste im allgemeinen, 
daB namlich durch die Verwachsungen zwischen den Riickenmarks- 
hauten ein Teil des Liquors abgesperrt werde und dadurch ein 
Druck ausgeiibt werden konne, ist klar und wird von alien Autoren 
in der namlichen Weise gegeben. Die groBte Schwierigkeit sieht 
Oppenheim darin, daB der Druck streng einseitig auf das Riicken- 
mark wirken konne, und daB die Fliissigkeit nicht nach oben 
ausweiche. Beide Schwierigkeiten scheinen mir geringer zu 
sein als der genannte Autor annimmt. Denn die Absperrung 
des Liquors durch Zwischen- und Querkulissen kann, wie mein 
Fall beweist, zweifelsohne eine derartige sein, daB der Cysten- 
inhalt vorwiegend eine Riic kenmarkshalf te driickt. Man kann 
sich femer recht gut vorstellen, daB die Verwachsungen gelegent- 
lich ahnlich den Venenklappen als Ventile wirken, welche 
wohl den Fliissigkeitsstrom in die Cyste hinein-, ihn jedoch nicht 
wieder hinauslassen. DaB derartige komplizierte Mechanismen 
bei der Sektion oder bei der Operation kaum aufgedeckt werden 
konnen, leuchtet ohne weiteres ein; daB sie aber angenommen 
werden miissen, zeigt die deutlich vorwiegend einseitige Abplattung 
des Halsmarks in unserem Falle. tlbrigens fand auch Horsley 
in alien seinen Fallen eine Verschmalerung des Riickenmarks. 

Bei der Wiirdigung der bisher gefundenen, nur wenig in die 
Augen fallenden anatomischen Veranderungen darf man nicht ver- 
gessen, daB die makroskopische Betrachtung w & h - 
rend der Operation oder gar bei der Sektion 
iiberhaupt kaum geeignet ist, uns eine Anschauung 
von den wirklichen Druckverhaltnissen der Cyste w&hrend 
des Lebens zu geben. Denn bei der Operation sind ja die 
Riickgratshohle und der Duralsack von der einen Seite her 
eroffnet und bei der Sektion fehlt der von den Gef&Bwftnden 
und der Herztatigkeit geschaffene Blutdruck sowie der Druck 
der iibrigen Fliissigkeitsmassen. SchlieBlich ist — wenigstens 
gegeniiber den Verhaltnissen am Kadaver — noch erwahnenswert, 
daB die Erwarmung des Cysteninhalts auf Korpertemperatur 
den Cystendruck intra vitam etwas groBer macht, als er bei der 
Sektion erscheint. Zieht man alle die genannten und ahnliche 
Momente in Betracht, so wird man sich recht gut mechanische 
Verhaltnisse denken konnen, unter welchen ein streng lokalisierter 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXVII. Heft 6 . 24 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



366 Schuster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik 

ewseitiger Druck seitens einer meningitischen Cyste auf das 
Riickenmark ausgeiibt wird. Die Schwierigkeiten fiir das Ver- 
standnis der Druckwirkung der meningitischen Cysten scheinen 
mir deshalb geringer zu sein als Oppenheim anzunehmen geneigt 
ist. (DaB die postmortale Anderung des Fliissigkeitsdruckes des 
Liquor cerebrospinalis gegeniiber den Verhaltnissen intra vitam 
verandernd auf gewisse klinisch feststellbare Phanomene wirkt, 
glaube ich vor einer Reihe von Jahren (1899) an einem Beispiel 
gesehen zu haben, als ich fand, daB das Bruit de pot fel6 am 
Schadel eines Tumorkranken, welches unmittelbar vor dem Tode 
noch deutlich vorhanden gewesen war, n a c h dem Tode verschwun- 
den war.) 

Eine mangelnde Kongruenz zwischen dem klinischen Bilde 
und dem autoptischen Befunde zeigte auch der Kraufi sche Fall, 
dessen Zugehorigkeit zur Meningitis spinalis cystica mir ubrigens 
etwas zweifelhaft erscheint. In diesem Falle hatte der Krank- 
heitsprozeB den Riickenmarkskanal nicht verengt und das Mark 
nicht affiziert; trotzdem hatten die Zeichen der Querschnitts- 
lasion bestanden. 

Der Krau jfische Fall, welcher anatomisch durch das Vorhanden- 
sein einer — anscheinend von den Wirbeln ausgehenden und bis 
an den Riickenmarkskanal hinanreichenden — Cyste charakte- 
risiert war, fiihrt uns zur Besprechung der Frage, ob die mit Cysten- 
bildung einhergehende Entzundung der weichen Riickenmarks- 
haute eine idiopathische, von irgendwelchenEntzundungsvorgangen 
benachbarter Gewebe tmabhangige Erscheinung sein kann — wie 
dies z. B. von Spitter, von Weifienburg und MuUer u. A. angenommen 
wird — oder ob die cystische Arachnitis nur als Begleiterscheinung 
einer entweder medullaren oder duralen, reap, spondylitischen 
Affektion vorkommen kann. Der nichtidiopathischen, sondern 
sekundaren Genese der Mening. cyst, spinalis scheint die Mehr- 
zahl der Autoren zuztmeigen. Horsley hat wiederholt das Leiden 
als Begleiterscheinung einer Meningogliosis beobachtet; Oppen¬ 
heim, Kraufi und andere Autoren haben Falle beschrieben, in 
weichen sich die Affektion zusammen mit einer Wirbelaffektion 
oder auch zusammen mit einem intrameduUaren Leiden (Syringo¬ 
myelic, Gliosis) vorfand. Auf der andern Seite haben — wie schon 
angedeutet — einige Autoren z. B. Weifienburg und MuUer und 
auch Bruns das Leiden vollig isoliert, ohne jedes b^leitende 
spondylitische oder medullSxe Symptom gesehen und geben 
ausdriicklich ihrer tJberzeugung Ausdruck, daB die Men. spinalis 
cystica durchaus sdbslandig und isoliert auftreten kann. 

Wenn auch das bisher vorliegende Material noch keine sichere 
Entscheidung daruber treffen laBt, welche der beiden Auffassungen 
die zutreffende ist, so scheint doch unser eigener Fall eher zu- 
gunsten der Annahme zu sprechen, daB die Arachnitis eine pri- 
m&re, idiopathische Erkrankung sein kann, welche weder von 
einem spondylitischen noch einem medullaren ProzeB auszugehen 
braucht. Dabei mtissen wir allerdings fiir unseren Fall die Bin- 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


367 


schr&nkung machen, da(3 die spindle Legalisation des arachni- 
tischen Prozesses hochstwahrscheinlich eine sekundare war. Denn 
es liegt doch angesichts der in unserem Falle konstatierten cere- 
bralen Piatrubung der Verdacht sehr nahe, daB die spinale Affek- 
tion sich im AnschluB an die cerebrale entwickelt habe, reap, 
nur eine Teilerscheinung eines allgemeinen cerebrospinalen Pro¬ 
zesses darstelle. 

Wie dem aber auch sein mag , soviet steht jedenfaUs jest, daft 
das Vorkommen intramedvllarer Verdnderungen neb en denjenigen 
der Meningitis cyst, spinalis keinen Grund dafiir abgeben kann, 
die Zugehorigkeit eines derartigen FdUes zu dem in Frage stehenden 
Krankheitsbild zu beanstanden. 

Unter den in der Literatur als Mening. cystica spin, beschrie- 
benen Fallen finden wir solche, welche viel erheblichere intra- 
medullare Veranderungen darbieten als die in unserem Falle ge- 
fvmdenen. 

Diejenigen intramedullaren Veranderungen xmseres Falles, 
welche als erhebliche zu bezeichnen sind, waren — wie wir gesehen 
haben — ganz frischer postoperativer Natur; sie kommen also 
bei der Frage der Angliederung unseres Falles an das Krankheits¬ 
bild der Meningitis serosa iiberhaupt nicht in Betracht. Die ein- 
zigen hierbei in Betracht kommenden intramedullaren Verande¬ 
rungen unseres Falles waren ziemlich geringfiigig und betrafen 
einmal die isolierte, sich iiber nur zwei Segmente erstreckende 
Hinterstrangslichtung, anderseits die Abplattung des Riicken- 
marks. Da diese Veranderungen — ganz abgesehen von ihrer 
relativen Unerheblichkeit — nur als Begleit- und Folgeerschei- 
nungen des sich innerhalb der weichen Ruekenmarkshaute ab- 
spielenden entziindlichen Prozesses gelten konnen, so ergibt sich, 
dap das Wes entliche der anatomischen Veranderungen unseres 
Falles in dem mit Cystenbildung einhergehenden extramedvUaren 
Proze/i zu erblicken ist, und es ergibt sich daraus weiter — nomi- 
natio jit a potiori — die Zugehorigkeit des Falles zu der Gruppe 
der Falle der Meningitis cystica spinalis. 

Im Gegensatz zu meiner soeben geauBerten Auffassung 
konnte man moglicherweise zu der Vermutung kommen, es handle 
sich bei der Cystenbildung run den sekundaren, und bei den spi- 
nalen Veranderungen um einen primdren, etwa mit Schrumpfung 
einhergehenden ProzeB. Diese Vermutung ware angesichts der 
histologischen Befunde nicht aufrecht zu halten: In keinem ein- 
zigen Praparat fand sich irgend welche Retraktion oder Sklero- 
sierung des medullaren Gewebes oder etwas Ahnliches, vielmehr 
hatte man uberall gleichmaBig den Eindruck, daB von der hin- 
teren Peripherie her, besonders rechterseits, das Riickenmark 
zusammengepreBt werde. tJbrigens mag bei dieser Gelegenheit 
darauf hingewiesen werden, daB Horsley und Montet in ihren Fallen 
gleichfalls eine Abplattung des Markes beobachteten. Wenn ich 
somit annehme, daB in meinem Falle — ebenso wie in manchen 
andern — der meningitische ProzeB ein primarer war, so bleibt 

24* 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



368 So huster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik 


Digitized by 


immer noch die Frage nach der Natur der Arachnitis. Manche 
Autoren sehen in der Lues, andere in der Tuberkulose die Haupt- 
atiologie des Prozesses. Horsley denkt abgesehen von der Syphilis 
auch an die Gonorrhoe. An eine traumatische Atiologie glaubt 
Horsley auffalligerweise nicht. Demgegeniiber scheinen mir ein 
von Krau/i und ein von Weisenburg und Muller beobachteter 
Fall eine traumatische Atiologie recht wahrscheinlich zu machen. 
Der Kraufische Kranke hatte sich beim Sprung aus einem Wagen 
genau an der Stelle verletzt, an welcher spa-ter die offenbar vom 
Wirbel ausgehende Cyste lokalisiert war und in dem Weisenburg- 
schen Fall war das Leiden nach einem Fall aufs GesaB zur Ent- 
wicklung gelangt. Soweit man vom rein klinischen — nicht durch 
eine operative oder autoptische Kontrolle korrigierten — Stand- 
punkt aus sich ein Urteil bilden kann, mochte ich mit Weisen¬ 
burg die traumatische Atiologie im Gegensatz zu Horsley fur re- 
lativ haufig halten. So glaube ich wiederholt unter meinem 
UnfaUbegutachtungsmaterial Krankheitsfalle gesehen zu haben, 
bei welchen sich im AnschluB an ein Riickentrauma ein Krank- 
heitsbild entwickelt hatte, dessen langsame Entwicklung und 
Symptomatologie ich jetzt am ehesten der Meningitis circumscripta 
spinalis cystica zuschreiben mochte. Zugunsten einer trauma- 
tischen Atiologie der chronisch verlaufenden Arachnitis cystica 
sprechen nicht am wenigsten auch unsere wahrend des Kxieges 
gemachten Erfahrungen. Von Marburg , Bauer u. A. sind Falle 
einer akuten Arachnitis cystica circumscripta nach Riicken- 
schussen beschrieben worden. Dbrigens sehe ich keinen Grand, 
der sich a priori gegen eine traumatische Genese geltend machen 
lieBe; im Gegenteil lassen sich manche klinische Erfahrungen 
aus dem Gebiete der cerebralen Meningitis — z. B. das Vorkommen 
traumatischer kleiner zirkumskripter cerebraler Meningitiden bei 
Kindern — recht gut fur das analoge Vorkommen der spinalen 
Meningitis verwenden. 

Die Betrachtung der cerebralen Meningen scheint mir nicht 
nur hinsichtlich der genannten Analogien von Wichtigkeit fur 
die Beurteilung der spinalen zirkumskripten Meningitis. Ich ver- 
mute vielmehr auf Grand des von mir beobachteten Falles, daB 
die zirkumskripte spinale Meningitis haufig nur eine Teilerschei- 
nung einer allgemeinen, sowohl das Gehirn als auch das Riicken- 
mark beteiligenden, also cerebrospinalen Meningitis ist, deren 
cerebraler Anteil von vomherein einen gutartigen, milden Verlauf 
zeigt und klinisch eventuell verborgen bleiben kann. Auch in 
unserem Falle hat die vom Obduzenten notierte geringe milchige 
Trubung der weichen cerebralen Hirnhaut, nach der sorgfaltig 
erhobenen Anamnese zu urteilen, offenbar niemals erhebliche 
klinische Erscheinungen gemacht. 

DaB bei dem schlieBlichen Zustandekommen des klinischen 
Bildes der spinalen Meningitis cystica auch Erkaltungen, fieber- 
hafte Zustande und ahnliche Momente insofern eine Rolle spielen 
konnen, als sie latente Rrankheitszustande zuerst bemerkbar 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


369 


werden oder wieder aufleben lassen, halte ich im Hinblick auf 
analoge Beobachtungen bei der cerebralen serosen Meningitis 
fair recht wahrscheinlich. Unser Kranker gab auf das bestimm- 
teste an, daB sich sein Zustand nach starkem Schwitzen im Oktober 
1911 erheblich verschlimmert habe. 

In ahnlicher Weise beobachtete Oppenheim einen Patienten, 
bei welchem die ersten erheblichen Rrankheitserscheinungen 
plotzlich nach einer Erkaltung auf der Jagd auftraten. 

Wir miissen uns jetzt noch mit den klinischen Symptomen 
der Meningitis serosa spinalis circumscripta, besonders mit der 
Differentialdiagnose gegeniiber dem Tumor beschaftigen. Wir 
haben gesehen, daB die Symptome des Leidens im wesentlichen 
auf die Steigerung des lokal erhohten intraduralen Druckes zu 
beziehen sind. Hieraus ergibt sich ohne weiteres die nahe Ver- 
wandtschaft des klinischen Bildes mit demjenigen des spinalen 
Tumors. Die Ahnlichkeit der beiden Krankheitsbilder ist so groB, 
daB SpiUer und — bei kleineren Cysten — auch Weisenburg eine 
Unterscheidung der beiden Krankheiten fiir unmoglich halten. 
Auch Oppenheim hebt wiederholt die auBerordentlichen Schwierig- 
keiten der Differentialdiagnose hervor. In auffalligem Gegen- 
satz zu der Meinung der iibrigen Beobachter steht die Ansicht 
Horsleys , daB einige deutliche Unterschiede zwischen den beiden 
genannten Symptomenbildem vorhanden seien. Horsley meint, 
daB sowohl die motorischen Erscheinungen als auch der Schmerz 
und die Sensibilitatsstorungen soweit diese Symptome keine 
Leitungs- (Strang-) symptome seien, nicht so sehr einzelne Wurzel- 
bezirke betrafen als vielmehr game Extremitaten , also mehrere 
Wurzelbezirke. Er begriindet diesen angeblichen symptomato- 
logischen Unterschied gegeniiber dem Tumor damit, daB bei 
der Meningitis nicht — wie beim Tumor — eine einzelne Wurzel 
bedrangt wiirde, sondern ganze Wurzel gruppen. Oppenheim halt 
die Horsleysche Ansicht nicht fiir zutreffend. Auch ich habe mich 
weder bei der Durchsicht der bisher beschriebenen Falle noch bei 
dem Studium meines eigenen Falles von der Richtigkeit des ge¬ 
nannten differentialdiagnostischen Momentes iiberzeugen konnen. 
Gegen die Horsleysche Auffassung, daB der Druck der meningi- 
tischen Cyste im Gegensatz zu dem Druck eines langsam wach- 
senden Tumors nicht eine einzelne Wurzel, sondern ganze Wurzel- 
serien befalle, spricht a priori schon die — von Horsley selbst be- 
tonte — haufige Einseitigkeit der klinischen Erscheinungen. 
Denn die Einseitigkeit der Symptome beweist doch, daB die 
Drackwirkung der Cyste — mag sie nun als Zerrung, als Ab- 
klemmung oder sonstwie aufzufassen sein — sich bei der Meningitis 
• cystica ebenso zirkumskript und lokal begrenzt geltend machen 

kann wie beim Tumor. Als einen weiteren differentialdiagnostischen 
Unterschied gegeniiber dem Tumor fiihrt Horsley den Umstand 
an, daB bei der Meningitis niemals trophische Storungen in der 
Haut auftraten. Auch dieser Satz scheint keine unbedingte 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



370 Sc hustei, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Klinik 


Geltung zu haben, denn der von Weisenburg berichtete Fall zeigte 
vasomotorische Storungen: eine Schwellung des Beines mit 
Cyanose der Zehen. Aber aelbst fiir den Fall, daB in der Tat 
trophische und vasomotorische Storungen in der Regel bei der 
Meningitis fehlen, so ware damit fiir die klinische Diagnose des- 
halb nicht allzu viel gewonnen, weil auch beim Riickenmarkstumor 
die Storungen der genannten Art keineswegs zu den haufigen Vor- 
kommnissen gehoren. 

Von einer andem Seite sucht dem differentialdiagnostischen 
Problem die von mehreren Autoren (Oppenheim, Montet, Weisen¬ 
burg u. A.) betonte Beobachtung beizukommen, daB sich bei der 
Meningitis cystica — offenbar infolge von Schwankungen des 
Cystendruckes — groBere oder kleinere Schwankungen in der 
Intensitat der Symptome gelegentlich wiederholter Untersuchun- 
gen zeigten: Man hat ein mehr oder weniger erhebliches Ab- und 
Anschwellen einzelner Symptome, der Sensibilitatsstonmgen, der 
motorischen Erscheinungen und Schwankungen in dem Verhalten 
der Sehnenreflexe gesehen. Weisenburg erwahnt eine Beobach- 
timg Munros, nach welcher eine Lfihmung bald spastischen, bald 
schlaffen Charakter zeigte. Aber auch dies Symptom, des Schwan- 
kens der Intensitat der Symptome, ist weder in der Mehrzahl der 
veroffentlichten Falle noch in meinem eigenen Fall vorhanden 
gewesen, ist also keineswegs ein einigermaBen konstantes. Diffe- 
rentialdiagnostisch brauchbar wird das Symptom nur dann sein, 
wenn es sehr ausgesprochen ist, also wenn es sich schon fast um 
echte Remissionen handelt. Denn 1 e i C h t e Schwankungen, be- 
sonders solche hinsichtlich der Sensibilitatsgrenzen sieht man be- 
kanntlich recht haufig auch bei dem Riickenmarkstumor. 

Unter gewissen engbegrenzten Voraussetzungen — d. h. wenn 
die Frage der Differentialdiagnose zwischen Tumor und Menin¬ 
gitis cystica einmal bei einem kindlichen Patienten zu erortem 
ware — konnte man sich der Bemerkung Horsleys erinnern, daB die 
Meningitis spinosa cystica nur bei Erwachsenen vorkomme. Sollte 
sich die Horsleysehe Beobachtung bestatigen, so wiirde in der 
VerschommgdesKindesaltersseitensder spinalen serosenMenin¬ 
gitis einauffalligerUnterschied gegeniiber der cerebralen serosen 
Meningitis liegen. Freilich konnte der genannte differentialdiagno- 
stische Unterschied nur bei Patienten des ersten Kindesalters in 
Betracht kommen. Denn Schmidt und Fleischmann haben Falle 
von Meningitis cystica bei Patienten des spateren Kindesalters 
beschrieben. Eine andere Bemerkung des groBen englischen 
Arztes, daB die Meningitis spinosa cystica fast stets die tieferen 
Teile des Riickenmarks befalle, stimmt mit den Ergebnissen der 
Literaturdurchsicht nicht iiberein, vielmehr betrifft von den 
biaher beschriebenen Fallen von Meningitis cystica fast die Halite 
die hoheren Abschnitte des Riickenmarkes. Weisenburg macht 
darauf aufmerksam, daB die klinischen Symptome bei der Menin¬ 
gitis cystica deshalb eine groBere Ausdehnung annahmen als bei 
dem Riickenmarkstumor, weil die Meningitis serosa sich in longi- 


Digitized by 


Gck 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


371 


tudinaler Bichtung iiber einen relativ langen Abschnitt des Riicken- 
marks erstrecke, wahrend der Tumordruck in longitudinaler 
Richtung nur beschr&nkt wirke. Leider trifft auch dieser diffe- 
rentialdiagnostische Hinweis fur die Mehrzahl der bekannten F&lle 
nicht zu. 

Man konnte im Hinblick auf den entziindlichen Charakter 
der Meningitis cystica daran denken, dem in einigen Fallen notier- 
ten Drackschmerz der Wirbelsaule eine gewisse differentialdiagno- 
stische Bedeutung beizulegen, wenn sich nicht das gleiche Sym¬ 
ptom auch bei dem Spinaltumor f&nde. 

Vielleicht bringt uns das weiter oben genauer beschriebene 
Symptom der SchmerzbeeinfluBbarkeit durch gewisse Bewegungen 
der Wirbelsaule differentialdiagnostisch etwas weiter. Denn es 
ist immerhin nicht unwahrscheinlich, daB sich bei den Bewe¬ 
gungen der einzelnen Wirbel gegeneinander mechanische Einwir- 
kungen auf die spinalen Wurzeln eher und leichter und damit 
Schmerzen geltend machen werden, wenn das von den Bewe¬ 
gungen der Wirbelsaule in erster Lime mechanisch beeinfluBte 
Gebilde fliissige Konsistenz wie bei der Meningitis cystica hat, 
als wenn es solider Natur wie beim Tumor ist. In ersterem Falle 
namlich, wenn das komprimierende (und seinerseits wieder in- 
folge der Wirbels&ulen&etrej/ttngr gepreBte) Gebilde fliissigen In¬ 
halt hat, wird sich der erhohte Druck bis in die allerverstecktesten 
Taschen und Nischen des Duralsackes fortsetzen konnen, eine 
Moglichkeit, die bei solider Natur des komprimierenden Agens 
in weit geringerem Made vorhanden sein wird. 

Eine andere Moglichkeit, differentialdiagnostisch verwend- 
bare Unterschiede zwischen den beiden in Betracht kommenden 
Zustandsbildem aufzufinden, scheint mir in der Durchforschung 
des Liquor cerebrospinalis zu liegen. Bisher sind bei der Menin¬ 
gitis circumscripta anscheinend nur vereinzelt derartige Unter- 
suchungen vorgenommen worden. Weisenburg fand in seinem 
Falle in der Lumbalfliissigkeit viele Lymphozyten und Leuko- 
zyten so wie auOerdem gewisse groBe einkemige Zellen, konsta- 
tierte also einen Befund, der von demjenigen der meisten Spinal- 
tumoren erheblich abweicht. 

Sehen wir so, daB die Betrachtung des klinischen Zustands- 
bildes nur wenig Anhaltspunkte fiir die Unterscheidung des 
Riickenmarkstumors von der Meningitis serosa circumscripta 
bietet, so fragt es sich, ob etwa in der Entwicklung und im Ver- 
laufe der Meningitis Besonderheiten vorhanden sind, welche eine 
Trennung vom Tumor ermoglichen. Recht wichtig erscheint mir 
in dieser Hinsicht eine Bemerkung Oppenheinw, daB er einmal 
bei einer spinalen serdsen Meningitis das Vorangehen von Kopf- 
und Nackenschmerzen beobachtet habe und dies auf einen menin- 
gealen EntziindimgsprozeB cerebraler Art bezogen habe. Ich lege 
deshalb auf die Oppenheimeche Beobachtung besonderen Wert, 
weil ich mir auf Grand des autoptischen Befundes meines eigenen 
Falles die Ansicht gebildet habe, daB die spinale serose Menin- 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



372 Schuster, Beitrag zur Kenntnis der Anatomie und Kliuik 


Digitized by 


gitis oft nur eine Teilerscheinung einer — werrn auch sehr uner- 
heblichen und fast symptomenlos verlaufenden — allgemeinen 
cerebrospinalen Meningitis darstelle (vgl. weiter oben S. 368). 
Wenn Weisenbury die langsamere Entwicklung einer Cyste — 
im Gegensatz zu derjenigen eines Tumors — betont, so wird man 
mit dieser — iibrigens wohl keineswegs stets zutreffenden — Be- 
merkung in praxi wenig anfangen konnen. Sehr viel bedeutungs- 
voller fur die Differentialdiagnose ist offenbar ein anderes Mo¬ 
ment, welches sich gleichfalls mu* bei Betrachtung des Krank- 
heits verlaufes offenbart: namlich die bei der Meningitis spinosa 
cystica bestehende Moglichkeit der temporaren oder gar endgiil- 
tigen Riickbildung des ganzen Krankheitsbildes. Schon Strobe 
hatte im Jahre 1903 darauf hingewiesen, daB die spinalen Cysten 
zur Riickbildung imd Abheilung gelangen konnten, ohne nennens- 
werte Veranderungen der Leptomeninx zu hinterlassen. Vom 
rein klinischen Standpunkt aus hat Oppenheim bei der Besprechung 
eines von Krause operierten Falles die gleiche Vermutung aus- 
gesprochen. Der weiter oben schon erwahnte, ein ahnliches Ver- 
halten zeigende Fleischmannsche Fall betraf ein 19jahriges Mad- 
chen, bei welchem im Alter von 15 Jahren nach einer fieberhaften 
Affektion ein (von Fleischmann als cervikale Meningitis serosa 
aufgefaBtes) Krankheitsbild mit Nackensteifigkeit und Brown- 
Sequardschen Symptomen aufgetreten war. Im 11. Lebensjahr 
hatte bei dieser Patientin ein anscheinend identischer Zustand 
schon einmal bestanden, war aber dann wieder vollkommen zu- 
riickgegangen. Auch wahrend der Zeit, als Fleischmann die Pa¬ 
tientin beobachtete, trat ein Riickgang der Erscheinungen auf. 
Der Autor hatte iibrigens anfanglich bei der Patientin die Dia¬ 
gnose einer spinalen Neubildung gestellt und war erst nachher, 
besonders veranlaBt durch die spontane Riickbildung der Sym- 
ptome, zu einer anderen Auffassmig gekommen. 

Es muB schlieBlich noch ein Symptom erwahnt werden, 
welches moglicherweise differentialdiagnostisch eine Rolle spielen 
konnte, namlich das Auftreten von Fieber. 

Das Vorkommen von Fieber wurde — so viel ich sehe — nur 
in einem einzigen der sicheren Falle konstatiert. Schmidt beob¬ 
achtete einen 16jahrigen Knaben, bei welchem sich mit 14y 2 Jahren 
unter dauemden leichten Temperatursteigerungen Schwache der 
Beine, Stuhl- und Urinbeschwerden eingestellt hatten. Nachher 
traten weitere spinale Erscheinungen seitens der Motilit&t und 
Sensibilitat auf. Mit Riicksicht auf das Fieber dachte man an 
Wirbelkaries. Die Operation ergab eine tJberraschung, namlich 
eine 8 cm lange, 1% cm breite Cyste, welche mit ihrer Hinter- 
flftche mit der Dura verwachsen war. Das Knochengeriist erwies 
sich als intakt. Der Schmidtsche Fall legt die Vermutung nahe, 
daB voriibergehende Temperatursteigerungen auch in einem Teil 
der librigen Falle vorhanden gewesen sein mogen, und mahnt 
dringend zu dauemden Temperaturmessungen bei Patienten mit 
den klinischen Erscheinungen des Spinaltumors. Mit der von mir 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



der Meningitis serosa spinalis circumscripta. 


.373 


Digitized by 


weiter oben geauBerten Ansicht, daB die spinale zirkumskripte 
Meningitis haufig nur eine Teilerscheinung resp. eine durch be- 
sondere Umst&nde hervorgerufene lokale Exazerbation einer all- 
gemeinen eerebrospinalen Leptomeningitis darstelle, wiirde das 
Auftreten von Fieber in gewissen Stadien des Krankheitsverlaufes 
durchaus iibereinstimmen. 

Unsere auf den Weiterausbau des Krankheitsbildes der Me¬ 
ningitis serosa circumscripta und auf die Sicherung der Diffe- 
rentialdiagnose gegeniiber dem Riickenmarkstumor gerichteten 
Bestrebungen werden sich nach dem Vorstehenden im wesentlichen 
darauf rich ten miissen, die Entwiclclung des Krankheitsbildes in 
symptomatologischer und atiologischer Hinsicht zu erforschen imd 
die Beziehungen des Leidens zu anderen, besonders akuten Krank- 
heitserscheinungen — auch solchen intemer Art — festzustellen. 

Literatur. 

Schwarz : Praparat eines Falles von syphilitischer Myelomeningitis 
mit Hohlenbildung im R. M. und besonderen aegenerativen Ver&nderungen 
der Neuroglia. Wien. klin. Woch. 1897. S. 177. — H. Schlesinger, 1898 (zit. 
bei Adler). — Spiller , Musser t.nd Martin: A case of intradural spinal cyst, 
with operation and recovery. Ref. im Zbl. f. Chir. 1903, Nr. 33. — Ad. 
Schmidt: Cyste der Dura mater spin., einen extramedullaren Tumor vor- 
t&uschend, mit Erfolg operiert. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. 1904. — 
Strdbe in Flatau f Jacobsohn , Minor : Handb. d. path. Anat. d. Nerven- 
systems 1903.— Oppenheim: Naturforschervers. Stuttgart. 1906. Referar 
iiber operative Behandlung der Him- und R. M. - Tumoren. Verhandl. 
Bd. 2, S. 197. — Sanger: Diskussionsbemerkungen ibid. — Oppenheim: 
Zur Symptomatologie und Therapie der sich im Umkreis de \ R. M. ent- 
wickelnden Neubildungen. Mitt, aus d. Grenzgeb. Bd. 15, 1906. — Stertz : 
Klinische und anatomische Beitrage zur Kasuistik d. R. M.- und Wirbel- 
tumoren. Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 1906, S. 227. — Krause : Zur 
Kenntnis der Men. ser. spin. Vortr. in d. Berl. Med. Gesellsch. 1906. Sitz. 
vom 16. 5. 190U. — Kraup : A case of cyst within the Spinal Canal. Brain. 
Bd. 30, 1907. — Oppenheim: Beitrag zur Diagnose und Therapie der Ge- 
schwulste im Bereiche des Zentralnervensystems. Berlin 1907. — Mendel 
Adler: Zur Kenntnis der Meningitis serosa spinalis. Berl. klih. Woch. 

1908, Nr. 35. — Karrington und Monsarrat: Lancet 1908 I. 1. Para¬ 
plegia due to an intramedull. lesion. — de Montet: Explorative Laminek- 
tomie und Meningitis serosa circumscripta. Corr.-Bl. f. Schweizer Arzte 
1908 S. 698. — Bruns: Zur Frage der idiopathischen Form der Meningitis 
spinosa serosa circumscripta. Berl. klin. Woch. 1908, Nr. 39. — Horsley: 
On chronic spinal meningitis. Brit. med. Joum. 1909, 27. Febr. — Spiller : 
Circumscribed serous spinal Meningitis. American Joum. of med. Sc. 

1909, Bd. 137. — Oppenheim: Diagnose und Behandlung der Geschwiilste 
innerhalb des Wirbelkanals. Ref. vom intern. KongreC in Pest 1909. Dtsch. 
med. W’och. 1909, Nr. 44. — Bliss: Cysts within the spinal canal. Joum. 
of amer. med. Assoc. 1909, S. 885. — Auerbach und Brodnitz: Intra- 
durales Fibrom des obersten Dorsad- und untersten Cervikalmarks. Exstir- 
pation. Heilung. Mitt, aus d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., 21. Bd., 4. H. 

1910, — Flatau : Tumeur de la Moelle Epiniere et de la Colonne Vertebrale. 
Nouvelle Iconographie de la Salpetr. 1910,1. — Weisenburg and Muller: 
Idiopathic circumscribed spinal serous meningitis. Amer. Joum. med. 
Sc. Nov. 1910, S. 235. — Fleischmann : Ein Fall von Brown-Stquardscher 
L&hmung, hervorgerufen durch Meningitis spin, serosa circumscripta. 
Neurol. Zbl. 1911, S. 840. — Nonne: Weitere Erfahrungen zum Kapitel 
der Diagnose von komprimierenden Ruckenmarkstumoren. Dtsch. Ztschr. 
f. Nervenheilk. Bd. 47 u. 48. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



374 M u s k e n s , Psychiatrie, Neurologic und Neuro-Chirurgie. 


Psychiatrie, Neurologic und Neuro-Chirurgie. 

Von 

Dr. L. J. J. MUSKENS, 

Amsterdam. 

Nachdem Manner wie Erb, Oppenheim, Nacke und Rothmann 
sich in dieser Zeitfrage geauBert haben, konnte es iiberfliissig 
erscheinen, daB uber die praktisch schon an vielen Orten zustande 
gekommene Scheidung der Neurologie und Psychiatrie weiter 
diskutiert wird. Schon vor \ielen Jahren wurde von anderen und 
mir 1 ) die notwendig gewordene Selbstandigkeit der Neurologie 
befurwortet. Die AeuBerungen Bonhoeffers fordern jedoch zu 
einer Beantwortung auf, und zwar der Objektivitat des Gegeu- 
standes wegen vielleicht auch seitens eines Auslanders, der mit 
den preuBischen Verhaltnissen vdllig unbekannt und in einem 
Milieu tatig ist. wo sich die Verhaltnisse unter ganzlich anderen 
Umstanden entwickelt haben. Obwohl der Berliner Psychiater 
namentlich die Unterrichtsseite ins Auge faBte, laBt er sich zu 
autoritativer Aussprache uber die Entwiekelung der Neurologie 
und Neurochirurgie bestimmen, die kaum unwidersprochen bleiben 
kann. Das in Frage stehende Problem scheint mir in zwei Fragen 
zu gipfeln. Erstens hat die Neurologie fiir Praxis und Wissenschaft 
nicht nur gegeniiber der intemen Medizin, sondern auch der 
Psychiatrie selbstandige Existenz-Berechtigung, ev. ist diese 
Selbstandigkeit eine Notwendigkeit geworden. Und zweitens gibt 
es Umstande, die es wiinschenswert erscheinen lassen, daB neben 
ausschlieBlich oder besonders diagnostisch tatigen, vorwiegend 
organischen Neurologen auch solche auftreten, welche nach ge- 
horiger Vorbereitimg ihre eigenen Operationen ausfiihren? 

Die erste Frage scheint mir zu beantworten mit der Gegen- 
frage, ob es in der Jetztzeit denn noch moglich ist, daB ein Mensch 
imstande ist, dermaBen die Psychiatrie und Neurologie zu be- 
herrschen, daB Kranke und ihre Hausarzte auf beiden Gebieten in 
vollem Vertrauen ihm die folgenschweren Entscheidimgen 
uberlassen konnen? Es braucht an dieser Stelle kaum darauf 
hingewiesen zu werden, daB auf der einen Seite hier die Berufs- 
wahl, die Heiratsfrage, die Intemierung in den psychopatho- 
logisehen Fallen zu entscheiden gilt, auf der andem ein EntschJuB 
uber die so delikate und noch keineswegs auf festem Boden ruhende 
Wahl zwischen Lumbalpunktion imd Palliativ-Operation bei 
Neuritis optica, uber die richtige Behandlungsweise bei beginnen- 
der Epilepsie u. a. m. zu treffen ist. Ein Teil der Aufgaben, z. B. 
die Behandlung der Neurasthenie, fallt naturgemaB sowohl dem 
Psychiater als dem Neurologen vom Fach zu. 


*) Nederlandsche Tydschrift. 1903. Deel II. Nr. 11. 


Digitized by 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Muskens, Psychiatric, Neurologic und Neuro-Chirurgie. 375 

MuBte die Antwort schon vor 12 Jahren im negativen Sinne 
gegeben werden, so ist dieselbe jetzt 1 ) angesichts der inzwischen 
rapid erfolgten Entwicklung der Neurologie (iiber die Psychiatrie 
kann ich mir kem Urteil erlauben) jedenfalls ganz auBer Diskussion 
gestellt. DaB die Erfahrung der Praxis im selben Sinne lautet 
und daB Bonhoeffer schlieBlich damit einverstanden ist, entnehme 
ich seiner Beobachtung, daB dort, wo auf unserem nunmehr 
unabsehbar groBem Gebiete sich jemand besonders in einer thera- 
peutischen Sonderspezialitat innerhalb derselben ausgebildet hat, 
etwa auf Grund von eigenen Untersuchungen, und zwar auch 
in der organischen Neurologie, das Verhaltnis der ihm zustro- 
menden Falle organischer und funktioneller Erkrankungen be- 
trachtlich von dem der allgemeinen Polikliniken abweicht. — 
Zwar mag ein einzelner in seiner Ausbildimg und Anlage besonders 
Bevorzugter wirklich die jetzigen Fragestellungen auf beiden 
Gebieten umfassen konnen; jedenfalls sind solche Manner Aus- 
nahmen und wohl im Aussterben begriffen. Schon jetzt sind Fach- 
genossen, denen, wie Bonhoeffer , ein eigenes Urteil sowohl iiber 
zerebrale Gefiihlsstorungen, als auch iiber die neuen Gesetzes- 
vorlagen iiber Zurechnungsfahigkeit usw., anvertraut werden 
kann, schwer zu finden. 

DaB kein Neurologe den Wert der psychiatrischen Be- 
obachtungsweise der Grenzgebiete fiir die Studenten bestreiten 
wird, da von ist wohl ein jeder iiberzeugt. Ja, ich glaube sogar 
personlich, daB kein Neurologe, ohne ein oder mehrere Jahre in 
einer Irrenanstalt gearbeitet zu haben, seinerAufgabe in kleineren 
Bevolkerungszentren wenigstens, gewachsen sein kann, ganz ab- 
gesehen davon, daB nach meinem Dafiirhalten man nur durch 
selbstandige wissenschaftliche Tatigkeit mit der Neurologie griind- 
lich vertraut werden kann, und sowohl die meisten Neurologen, 
als die Psychiater im Anfang ihrer Karriere kaum ein besseres 
Medium dafiir finden konnen als eine Irrenanstalt, nicht zu weit 
von einem wissenschaftlichen Zentrum entfemt. — Ebenso wie 
Bonhoeffer sind wir iiberzeugt, daB auch der Dozent fiir Psy¬ 
chiatrie vor allem in der organischen Neurologie gut einge- 
arbeitet sein muB. Aber weiter konnen wir nicht gehen, wenn wir 
auch der Meinung sind, daB es auch fiir die Studenten von Wert 
ist, daB der Dozent der Psychiatre in Konkurrenz Neurologie 
treibt, so weisen wir doch die von Bonhoeffer gegebene Frage- 
stellung, ob es zeitgemaB ware, daB fiir spinale und periphere 
Nervenerkrankungen besondere Lehrstiihle zustande kommen 
miissen, zuriick. — Wir meinen, daB die uns beschaftigenden Krank- 
heitsgruppen wichtige soziale, menschliche und wissenschaft¬ 
liche Probleme reprasentieren, daB ganz gut nebeneinander reine 
Psychiater und reine Neurologen existieren konnen; daneben haben 
aber auch Neurologen-Psychiater in der Praxis Existenzberech- 

l ) Schon 1884 wurde von Bonders die Frage aufgeworfen, ob auf die 
Dauer der Unterricht in der Neurologie dem Psychiater aufgetragen werden 
konnte. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



376 Muskens, Psychiatrie, Neurologic und Neuro-Chirurgie. 

tigung. Was Bonhoeffer zuzugeben geneigt ist, daB Privatdo- 
zenten und Assistenten im Rahmen der einheitlichen psychiatri- 
schen Klinik die Neurologie lehren und bearbeiten, das lehnen 
wir unter Dank fiir die Bereitstellung der Klinik hoflich, aber 
nicht weniger entschieden ab. Denn die Erfahrung lehrt, daB 
diese unter Direktion eines klinischen Lehrers untergebrachten 
Nebenfacher nicht iiber den Gesichtskreis des betreffenden Chefs 
hinauszugehen gewohnt sind. 

Konzentrieren wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf die zweite 
Frage, ob innerhalb der organischen Neurologie Raum ist fiir 
eine weitere Arbeitsteilung, oder aber ob, wie Bonhoeffer die 
Frage formuliert, die Neurologie den zahlreichen anderen 
Spezialfachem zur Seite zu stellen ist, die eine solche spezielle 
Behandlungstechnik erfordem, so daB auch das Handwerk, die 
betreffende Chirurgie, den Neurologen in die Hand gegeben werden 
muB. Obwohl wir ruhig die Antwort der Entwickelung der Dinge 
selbst iiberlassen konnten, wie es ja auch dem Autor selbst nicht 
entgangen ist, daB eine besonders vertiefte Beschaftigung mit einer 
Sonderspezialitat von selbst Konzentrierung von Material mit 
sich bringt, und obwohl Bonhoeffer selbst zugibt, ,,daB eseinmal 
gute chirurgische Nervenspezialisten geben wird“, so liegt schon 
jetzt geniigend Erfahrung vor, eine prazise Antwort auf die Frage 
zu formulieren. Ja, es will mir scheinen, als ob der jetzige Zustand 
der organischen Neurologie mit ihren unsicheren (euphemistisch 
gesprochen) Aussichten, ihren noch nicht geniigend fest begriin- 
deten Indikationen, eben jetzt eine Epoche herbeifiihrt, in der 
eine besondere Beschaftigung mit Neuro-chirurgie seitens des 
Spezialisten not tut. — Da von so vielen Seiten zugegeben wird, 
daB, in dieser Spezialit&t wenigstens, die geteilte Verantwortlich- 
keit keine Verantwortlichkeit ist, der Neurologe den Eingriff so 
lange wie moglich hinausschiebt und der allgemeine Chirurg 
durchaus nicht mit Enthusiasmus den Auftrag empfangt, so er- 
hebt sich unabweisbar die Notw'endigkeit, daB die voile schwere 
Verantworttmg fiir die Eingriffe denjenigen der Neurologen, die 
sich die dazu erforderliche chirurgische Vorbildung angeeignet 
haben, eben jetzt gradezu das Messer in die Hand driickt. 

Vorlaufig erheischt die operative Behandlung des Zentral- 
Nervensystems zu viele in ausgedehntem Experimentieren miih* 
sam erworbene Kenntnisse von der Widerstandsfahigkeit und 
den elektrischen und sonstigen Reaktionen von Gehim und Riicken- 
mark, zu viel Einsicht in die topographische Anatomie imd in den 
Verlauf der intrazerebralen Verbindungen; zu viel haben wir 
Spezialisten noch iiber die Bedingungen der Liquor-Sekretion zu 
erforschen, als daB der allgemeine Chirurg unter Leitung des als 
Nichtoperateur nur maBig in diesen wichtigen Details erfahrenen 
Diagnostikers, hierin das beste leisten konnte. In diesem Ge- 
dankengange bleibe es dahingestellt, ob vielleicht in femer Zu- 
kunft, nachdem einmal die Diagnosen und die Indikationen festeren 
Boden erlangt haben, die betreffenden Eingriffe wiederum den 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Mus kens, Psychiatrie, Neurologie und Neuro-Chirurgie. 377 

allgemeinen Chirurgen iiberlassen werden konnen. Die aufrichtige 
Bemerkung Bonhoeffers , der als Zuschauer sich gelegentlich dem 
Eindruck nicht entziehen konnte, ,,daB der Cliirurg bei seinem 
Eingriff sich der Dignitat des Gewebes bewuBter sein konnte“, 
spricht in dieser Hinsicht Bande. 

Es ist mit der Selbstandigkeit der Neurologie dieselbe alte 
Geschichte, die sich in der Entwickelung aller Spezialfacher, 
zuletzt noch der Urologie, wiederholt hat. Die Spezialdiagnostiker 
finden nur lauwarraes Interesse und ungeniigende Vorkennt- 
nisse fiir ihr Gebiet beim allgemeinen Chirurgen, der berufen ist, 
an ihrem Organe zu operieren. Darum fangen sie an, selbst zu 
operieren, imd machen es, doppelt interessiert wie sie sind, besser 
als jene, und berichten ihre augenfallig besseren Resultate; das 
arztliche imd das groBe Publikum entscheidet in kurzer Frist im 
Sinne einer vollstandigen Abtrennung. Nolens volens verzichtet 
der allgemeine Chirurg nach kurzer Zeit. — Sehr lehrreich ist in 
dieser Hinsicht die allerletzte Spaltung. zugunsten der Urologie. 
Wahrend Jahre hindurch auf den Berliner Chirurgen-Kongressen 
der Nierenc.hirurgie eine Anzahl Arbeiten gewidmet waren, fehlen 
dieselben plotzlich fast vollig 1914. Die Spezialitat der Urologie 
hat damit in Deutschland ihre Selbstandigkeit erworberi. Nicht 
so einfach liegen jedoch die Dinge in der Neurologie. 

Wenn es mir gestattet ist, meinen eigenen Werdegang kurz 
anzufiihren, so mochte ich daran erinnem, daB ich, nachdem 
ich mich im letzten Dezennium des vorigen Jahrhunderts wahrend 
einiger Jahre unter hollandischen Fachmannem in die Neuro¬ 
logie eingearbeitet hatte und nachher wahrend je eines Jahres- 
kursus an der Harvard-(Boston) und eines an der Cornell (New- 
York) Universitat arbeitete, zu der Ueberzeugung kam, daB 
selbst erstklassigen Diagnostikem vollwertige Resultate versagt 
bleiben miiBten, es sei denn, daB auch die Chirurgie selbst, und 
damit die voile und ungeteilte Yerantwortimg der Eingriffe, 
ihnen selbst anheimgestellt wiirden. Ich muB hinzufiigen, daB 
das Ungeniigende des bestehenden Zustandes zum Teil meinen 
Lehrern vollbewuBt war, und ich nur den Rat meines ersten 
Lehrers befolgte, als ich zunachst, speziell fiir diese chirurgische 
Ausbildung, ein paar Jahre in London tatig war. Sobald ich be- 
gann, unabhangig zu arbeiten, wurde mir deutlicher, warum 
verhaltnismaBig noch so wenige Neurologen den so klar ange- 
wiesenen Weg einschlugen, ganz abgesehen davon, daB seine 
eigenen Operationen zu machen fiir den Neurologen eine empfind- 
liche Belastung seines Budgets bedeutet, nicht nur im Anfang, 
sondem auch spater. Ungleich den Urologen, Otiatern und anderen 
selbst operierenden Spezialisten stellten sich nicht nur die Chi¬ 
rurgen, sondern auch die Intemisten, und zuerst auch die Psy¬ 
chiater, jener Spezialisierung ablehnend gegeniiber. Weil femer 
der Natur der Sache nach die Resultate nicht so auf der Hand 
liegen, wie in gewissen anderen Zweigen der Medizin. wurde ich 
bald mit den zum groBten Teil am griinen Tisch konstruierten, 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


378 Muskens, Psychiatric, Neurologic und Neuro-Chirurgie. 

jetzt aber auch von Bonhoeffer gegen die Abzweigung der Neu¬ 
rologic und Neuro-Chirurgie formuherten Bedenken bekannt. 

Erstens macht man sich Sorgen dariiber, daB der selbst 
operierende Neurologe (ich nehme an, daB ein ,,Lapsus calami* 4 
vorliegt, wenn Bonhoeffer eine geradezu kriminelle Experi- 
mentiemeigung bei dem im Vergleich mit dem konsultierenden 
Nervenarzt imd Chirurgen weit mehr an dem Wohlergehen 
seiner Kranken interessierten Spezialisten anzunehmen geneigt 
ist) weniger gute Chancen geben sollte, technischen Details 
gegenuber als der Allgemein - Chirurg. Fragen wir uns zu- 
n&chst, in welcher Hinsicht denn die Gefahren eintreten 
sollten. Erstens konnte man bei der Operation auf andere 
Organe stoBen, in welche nur der Voll-Chirurg erfolgreich einzu- 
greifen vermag. — Allein, eine einfache Ueberlegung zeigt, daB 
wir in der Him- und Riickenmarks-Chirurgie abgegrenzte Re- 
gionen haben, bei denen nicht, wie z. B. in der Nieren-Chirurgie, 
Komplikationen mit Eingeweiden usw., gang und gabe sind. 
Ohne Gefahr, die Grenzen seiner Kompetenz zu iiberschreiten, 
hat deshalb der Neurologe den Vorteil seiner speziellen Uebung, 
seiner genauen Kenntnis der anatomischen Verhaltnisse und 
,,der Dignitat des Gewebes**. Zweitens sollte das nicht so regel- 
maBige Operieren mehr Gelegenheit zur Infektion, zur Blutungs- 
gefahr fiir den Kranken bieten. Nicht nur ich selbst habe unter 
ein paar Hundert Operationen in keinem Falle Infektion (hochstens 
eine seltene und harmlose Ligatureiterung in einer mir nicht be- 
kannten Umgebung), und nur in einem Falle schwerste Hamor- 
rhagie bei einer Gasser-Operation unter abnormen Verhaltnissen 
erlebt, sondern auch Cushing hat die gleichen Erfahrungen gemacht. 
Man soli nicht aus dem Auge verlieren, daB im Prinzip nur der 
Spezialist nie mit gefahrlichen Infektionen in Beriihrung kommt. — 
Dann soli das Material ungeniigend sein. In dieser Hinsicht wird 
der Hausarzt und sein Berater die Frage zu entscheiden haben, 
wen er vorziehen wird: den Spezialisten, der vielleicht kaum ein 
paar mal pro Monat derartige Operationen vollfiihrt, dabei 
genau in den das Gebiet betreffenden Detailfragen auf dem 
Laufenden ist, und durch seine taglichen Interessen sein kann , 
dazu als Neurologe auch die Tragweite der nicht-operativen MaB- 
nahmen beurteilen kann oder den allgemeinen, nicht in die Einzel- 
fragen vertieften Chirurgen, der die Operation wahrscheinlich 
seltener macht, nur im seltensten Falle ein Organkenner, und 
jedenfalls nur auf die eine, operative, Seite der Sache angewiesen ist. 

Erweitem sich nun die Indikationen zu Eingriffen im Falle 
der Spezialisierung ? Zweifellos und gliicklicherweise. DaB es 
hier eine legitime Erweiterung des Arbeitsfeldes gilt und daB man 
nicht das Recht hat, die ganze Frage mit einem ,,Eindruck von 
zu viel operieren*‘ abzufinden, dafiir gestatte ich mir aus 
eigener Erfahrung einige Beispiele zu geben, welche zur Geniige 
illustrieren, daB eben die auf diese Weise erreichte groBere Ziel- 
bewuBtheit, und die relative Sicherheit, den Kranken auf alle 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



M u s k e n s , Psychiatric, Neurologic und Neuro-Chirurgie. 379 

Falle keinen Schaden zu bringen, in gewissen Fallen vorteilhaft 
in die Wage fallt. lm Anfang des jetzigen Krieges seitens des 
Antwerpener Roten Kreuzes nach Antwerpen eingeladen, eine 
Abteilung von Verletzungen des Zentral-Nervensystems zu iiber- 
nehmen, hatte ich Gelegenheit, 7 Falle von Querlasion des Riicken- 
markes zu beobachten. DaB ich, wo alle Erfahrungen ausstanden 
oder sich dem Eingriffe gegeniiber ungiinstig verhielten, den Mut 
hatte, in den zwei allerschwersten Fallen einzugreifen, schreibe 
ich nur dem Umstande zu, daB ich mir bewuBt war, daB unter 
den gegebenen Spitalverhaltnissen, bei dem Alter der Kranken usw., 
der Eingriff, wenn nicht niitzlich, so doch auch nicht gefahr- 
lich fiir die Kranken sein wiirde. Dadurch gelangte ich in ein paar 
Wochen zu dem Satz 1 ), daB die Eingriffe bei schwerer Quer¬ 
lasion (mit Verlust der Reflexe) des Riickenmarkes, in geiibter 
Hand w r enigstens, weit dankbarer verliefen, als irgend welche 
Eingriffe bei #ira-SchuB 2 ), ein jetzt vollauf von den Beobach- 
tungen Marburgs und Ranzis, sowie Goldsteins bestatigter Satz. 
Sicherlich wiirden die Autopsien allmahlich auch ohne diese Ein¬ 
griffe zu diesem Leitsatz gefiihrt haben, aber auf dem Wege der 
Ueberlegung auf Grund der klinischen Erfahrung dazu zu ge- 
langen, hat jedenfalls vom Standpunkte der betreffenden Kranken 
kaum abzulehnende Vorteile! 

DaB nicht nur in der Kriegspraxis der von mir vertretene 
Standpunkt fiir die Kranken gewisse Vorteile bietet, dafiir erlaube 
ich mir noch folgende Beispiele anzufiihren. Jeder, der sich mit 
der Literatur der traumatischen Epilepsie infolge Schadeldefekts 
befaBt hat, weiB von den zahlreichen Fallen mit fast ausnahms- 
los ungiinstigem Verlauf zu erzahlen. 

Einer von meinen beiden 3 ), jetzt 6 Jahre nach der Operation 
anfallfreien einschlagigen Fallen hartnackiger, nicht auf 
interne Therapie reagierender Epilepsie war zweimal (Wagner- 
Lappen) von einem chirurgischen Universitatsprofessor imd erst- 
klassigen Neurologen vergebens operiert worden. Bei der ersten 
Operation wurden von mir die ganze Gegend der deformierten 
Scheitelbeine ohne Erfolg abgetragen. In einer zweiten Operation 
wurde die Dura mater weit geoffnet und es stellte sich nun heraus, 
daB zwei groschengroBe Knochensplitter innerhalb der Dura, auf 
und in dem Cortex lagerten, die entfemt wurden. Ebenfalls 
nach Monaten kein Erfolg. Erst nach der dritten Operation, 
bei der das entladende Zentrum entfernt wurde, erfolgte definitive 
bis jetzt dauernde Heilung; die Patientin verdiente ihren Unterhalt 
und heiratete spater wieder. — In diesem Fall war es wiederum die 
Sicherheit, daB der Kranken nicht durch die sukzessiven Ein- 

*) Nederlandsche Tydschrift voor Geneesk. 1914. Bd. 13. Nr. van 
15. Oktober. Neurol. Zentralbl. 1. Januar 1915. 

*) Tangentialschiisse ausgeschlossen. 

8 ) Im Ganzen sind von den Hunderten, vielleicht Tausenden operierten 
noch nicht dreiftig Falle mit bleibendem Erfolg bekannt. Vergl. meine 
Mitteilung, Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft fiir Chirurgie. 1913. 
I. S. 149, iiber die zwei einzigen von mir operierten derartigen Falle. 


Digitized by 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Digitized by 


380 Lowy, Neurologische und peychiatrische Mitteilungen 

griffe geschadet wurde, die zmn planmaBigen, schrittweisen Vor- 
gehen fiihrte. In diesem selben Falle hatte der nicht-selbst ope* 
rierende Xeurologe-Psychiater zweier unserer groBten Kranken- 
hauser, eben weil er der XichtgefabrJichkeit der Eingriffe skep- 
tischer gegeniiberstand, wiederholt und naehdriicklich die Ope¬ 
ration im beaten Falle fur nutzlos erklart. auch noch naeh meiner 
Indikationsstellung. Tatsachlich kam es in diesem Falle nur zur 
Operation, weil die Allgemeine Gesellschaft fiir Wohltatigkeit 
es miide wurde, die Kranke und ibre Kinder wbchentlich zu sub- 
ventionieren und eine einmalige Ausgabe fiir die Operation in 
einer PrivatanstaU vorzog. 

In Hinsicht auf die Lokaldiagnostik sei noch folgender. 
einem Experimentum crucis gleiehzustellender Fall berichtet: 
Im vorigen Jahre war bei einem Eingriffe wegen Tumor cerebri 
einer unserer in pathologischer Himanatomie erfabrensten psy- 
chiatrischen Universitiitsdozenten anwesend. wahrend einer der 
meistbeschaftigten Chirurgen der Hauptstadt bei der Operation 
assistierte. In der Mitte des freigelegten Feldes zeigte nach der 
Durazuriicklagerungein umschriebenesFeldbesondere GefaBverhalt- 
nisse bei ungewohnlicher Konsistenz. Meinen Kollegen gegeniiber 
wurde dieses Gebiet als die wahrscheinliche Stelle, an der der 
Tumor an die Oberflache kam. bezeichnet. Der Chirurg konnte 
keinen Unterschied in der Konsistenz fiihlen, der Pathologe ver- 
neinte eine besondere GtefaBversorgung, und beide lehnten die 
Vermutimg als nichtbegriindet ab. — Die spater von meinen 
psychiatrischen Kollegen freundlichst selbst vorgenommene Sek- 
tion bestatigte, daB genau dort das Gliosarkom die Oberflache 
beriihrte! Fiir die richtige Diagnostik nach der BloBlegung waren 
hier wenigstens zwei Sinneseindriicke, die sich in einem Indi - 
viduum verstarken miissen, unentbehrlich. Sehon aus lokal- 
diagnostiscben Rxicksichten muB deshalb fiir bestimmte Falle 
die gemeinsame Behandlung eines Nervenarztes und eines Chi¬ 
rurgen dem einheitUchen Auftreten des Xeurochirurgen nach- 
stehen. 


Neurologische and psyehiatrische Mitteilongen 
aus dem Kriege. 

Von 

Dr. MAX LOWY,' 

Marienbad und Hclonan, derzcit Oberarzt im 6. dfterreichiachen Landsturmregiment. 


Neurologische und psychische Storungen waren bei meinem 
Regimente selten, wenn ich absehe von den Tetaniesymptomen 
nach Dysenterie, iiber welche ich in meiner ersten Mitteilung be- 
richtete, und von den (als Erkaltungsfolgen aufgefaBten) sehr haufi- 
gen Ischiasfallen, vereinzelten Interkostalneuralgien, V. Neuralgien 
und ganz seltenen Fallen von Herpes zoster. Von den etwa 1000 
Mann des meiner Obsorge anvertrauten Bataillons waren mir sehr 
viele (als meine engeren Heimats- und Kindheitsgenossen oder als 
Klienten meiner Privatpraxis) schon in ihrem ZiviUeben bekannt. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



aus dem Kriege. 


381 


Das Regiment entstammt durchwegB dem Egerlande, dessen Be- 
wohner sind deutscher Zunge und werden, dem Typus und dem Dialekt nach, 
dem frankischen und teilweise dem bajuwarischen Stamme angegliedert. 
Nut in einzelnen Grenzgebieten des Egerlandes hat wohl aueh ein slavischer 
Einschlag aus der Zeit vor dem DreiBigjahrigen Kriege Spuren hinterlassen. 
Die Egerlander sind meist groBe und maBig kraftige Landleute (von einem 
kleinen Industriewinkel abgesehen). AJs Landsturmleute des ersten Auf- 
gebots gehoren sie dem Alter von 32 — 38 Jahren an. Landesiiblioh ist der 
GenuB von leichtem Bier, durchsehnittlioh 3 —4 Halbliterglasern taglich, 
Sonn- und Feiertags bedeutend mehr. Schnaps wird im Egerlande als 
regelmaBiges Getrank fast gar nicht getrunken. Wein nur von den Be- 
sitzen.de n und bloB gelegentlich. Schwere Alkoholiker kommen in deii 
disponierten Standen (Schenkwirte, Kellner, Koche usw.) vor und gelangen 
dann auch zum SchnapsgenuB. ' , 

Von den Psychosen des Friedens, welehe im Sommer ja zum groBen 
Teile durch meine Htinde gelien, iiberwiegen weitaus die depressiven Storun- 
gen, dann folgen die ausgesprochen manisch-melancholischen, dann die 
Zwangsvorstellungskranken auf depressiver und psychasthenischer Basis 
und die Hypoehonder, endlich die Dementia praecox und die Epilepsia 
besonders der Jugendlichen. Ausgesprochene Hysterien und Paranoien 
sind selten. Progressive Paralysen, senile Demenzen und Neuropathien 
schwer degenerativer Form finden sich unter meinen Landsleuten viel 
seltener als unter meinem aus den verschiedensten Standen und Rassen 
gemischten Kurpublikiun. 

Selbstmord und Selbstmordversuche sind auch bei weitgehender 
Depression und bei schweren Hysterien sehr selten. Der ganze Menschen- 
sehlag erscheint etwas schwerfailig, eher hart als weichmiitig und ist uberdies 
durch seine Rauflust bekannt. 

Nach der Prasentierung waren natiirlich schon diejenigen 
ausgeschaltet, welehe manifeste Psychosen gehabt hatten. Immer- 
hin hatte ich mich wegen der schweren psychischen und korper- 
lichen Belastungsprobe, die ein modemer Krieg darstellt, auf eine 
groBere Zahl peychischer Storungen gefaBt gemacht. Dabei glaubte 
ich der Aetiologie nach Analogien mit den Haftpsychosen erwarten 
zu diirfen. Gemeinsam haben ja ICrieg und Haft — wenigstens fiir 
unsere sofort an die Front gelangten Landsturmleute — die schwere 
und plotzliche Aenderung der gesamten Lebenslage und die plotz- 
liche totale Unterdruckung der Selbstbestimmung gegeniiber dem 
freien Schalten dieser alteren Manner in ihrer biirgerlichen Stellung, 
endlich die Gemiitslage der unbestimmten Erwartung oder der 
Besorgnis und Angst usw. Dagegen hat die Haft noch besondere 
atiologische Momente: die Einsamkeit der Zelle, die Ausschaltung 
der eigenen Betatigung und das SchuldbewuBtsein, welch letztere 
Umstande alle neben der unbestimmten Unruhe fiir die paranoische 
Fftrbung, fiir die Eigenbeziehung, kombinatorische Betatigung, 
illusionare Verkennung im Sinne der Bedrohung und Verfolgung 
usw. ausschlaggebend sein mogen. Ich erwartete aber immerhin 
ganserahnliche und andersartige hysterische Dftmmer- imd Auf- 
regungszustande, Angst- und Schreckpsvchosen, reaktive De- 
pressionen, Manien und Melancholien bei manisch-depressiv Be- 
lasteten, weiter Alkoholabstinenzerscheimmgen und eventuell auch 
Erscheinungen der sexuellen Abstinenz. 

Diese Voraussetzungen trafen jedoch bei meinem Kranken- 
materiale, Mannem mittleren Lebensalters germanischer Basse — 
sonst nur in einem sehr geringen Teile jiidischer Basse — nicht ein. 

(Vou zwei den Haftpsychosen ahnlichen Fallen —• einem ganserahn- 
liohen Zustandsbilde und einer paranoid-phantastischen, kombinatorischen 
imd halluzinatorischen Episoae ohne Orientierungsstbrung bei einem 

Monatsschrift f. Psychiatrie u. N< urologie. Bo. XXXVII. Heft 6. 25 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



382 Lowy, Neurologuohe und peychiatrische Mitteilungen 


Digitized by 


Degenerierfcen. — wie aueb von einer Schreokpsychoee, soli sp&terhin die 
Red© sein, denn diese Fftlle gehorten nicht dem eigenen Regiment©, sondem 
dein Hinterland© und einer anderen Rasse an.) 

Wie schon erwahnt, sind die Egerlander mit ganz geringen 
Ausnahmen an den regelmaBigen BiergenuB in mittleren und in 
groBeren Quanten von Jugend an gewohnt. Trotzdem und trotz 
wochenlanger und ganz sicher totaler Abstinenz — Alkohol war 
in keiner Form mehr vofhanden und wochenlang in keiner Weise 
erreichbar — gab es kein Abstinenzddir. Auch nur Andeutungen 
da von waren mir bestimmt nicht entgangen, da ich bei alien, die 
&rztliche Hilfe in Anspruch nahmen, genau auf solche Andeutungen 
achtete. Ich fahndete aiif Handetremor, Schwitzen, Schwache- 
gefiihl, Unruhe, Angst und bei Fiebemden durch Druck auf die 
Bulbi auch auf Gesichtshalluzinationen. Dazu kommt, daB gerade 
zu jener Zeit fast alle Angehorigen des Bataillons mit verschieden- 
gradigen Darmstorungen dysenterischer Natur zur Untersuchung 
kamen. 


In der Regel zwar sind die initialen Magendarmstdrungen bei Deli- 
ranten schon als Prodromalerscheinungen des Delirs und somit wohl als die 
gleichzeitige Folge jener Intoxikation aufzufassen, welche auch das delirante 
Himschadigungssyndrom schafft. Hier aber wird durch den dysenUrischen 
Charakter der Durchfalle und des gelegentlichen Erbrechens zugleich dieser 
und auch der Einwand ausgeschaltet, daB diese Diarrhoen selber schon 
Abstinenzerscheimmgen waren. Die erw&hnten Darmstorungen kfimen 
sonach vielmehr neben der Alkoholabstinenz als ein zweites atiologisches 
Moment fur Delirium tremens in Betracht. 

Aber trotz ihrer und trotz des manche Dysenterief&lle begleitenden 
Fiebers, wie auch bei den nicht seltenen Fieberfalien pneumonischer, pleu- 
ritischer Herkunft usw. fehlten delirante Symptome. (Ebenso blieben sie 
auch wahrend einer Influenzaepidemie mit Anginen und Bronchitiden aus. 
Jedoch war wahrend der Influenzazsit der AlkoholgenuB wieder moglich 
geworden und wurde gewiB nicht versaumt.) 

Nur ein einziger meiner Dysenteriekranken, der viele blutige Stiihle 
bis zum Abgange von reinem Blute und Erbreohen gehabt hatte, erlitt eine 
peychische Alienation. Diese trat ein, nachdem ich ihn psychisch intakt 
abgegeben hatte und er einige Tage (ohne Opium und Alkohol gebraucht 
zu haben) beim Train mitgefuhrt worden war, um eine Sanitatsanstalt zu 
erreichen; diese hatte aber der Gefechtslage wegen immer wieder den 
Standort wechseln miissen und war mit dem landesiiblichen Fuhrwerk des 
Patienten nicht erreichbar gewesen. Als der Train gerade wieder mit dem 
Bataillon zusammentraf, wurde ich von der Begleitmannschaft gerufen, 
t ,der Mann sei im Sterben“. Ich fand ihn entfiebert, nicht kollabiert, mit 
kraftigem Puls von normaler Frequenz, auch nicht- sehr erschopft. Jedoch 
hatte sein Blick der Begleitmannschaft an dem betreffenden Tage den 
Eindruck gemaoht, als stiirbe Patient. Ich fand eine Hochziehung beider 
Oberlider mit starrem Ausdruck, also einen jjPseudograefe 4 *, aber einen 
anderen, als ich ihn bei manischen Zuatanden verschiedener Herkunft oder 
bei Angstzustanden gesehen habe. Hier bot sich der Ausdruck eines stieren 
Staunens, der Ratlosigkeit, der Desorientierung mit Apathie. Der Patient 
erkannte mich, sprach mich mit Herr Doktor an, meinte, es gehe ihm ganz 
gut, erwies sich leidlich orientiert. Er konfabulierte nioht, auch nioht 
bezuglich der Zahl der Stiihle, was ich sp&ter im Hinterlande bei einem sehr 
herabgekommenen schwer Ruhrkranken ( Shiga-Kruse , gegeniiber den iiber- 
wiegenden Flexner- Fallen) beobachtet habe. Auch zeigte er keine aus- 
gesprochene Merkfahigkeitsstorung. Halluzinationen und Wahnideen waren 
nicht festzustellen. Er bot aber eine der Hemmung un&hnliche Verlang- 
samung der Reaktion, eine scheinbare Schwerhorigkeit, ahnlich der oft im 
Beginne des Typhus alxlominalis bestehenden, eine verlangsamte Auffassung* 
zerstreuten Klang der Stimme beim Antworten, einen abwesenden Ausdruck 
tmd eine auffallige Unbekiimmertheit um seine Gesundheit, um die ein- 
geschlagene Fahrtrichtung, den entsetzlichen Regen usw. 


Goi igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



aua dem Kriege. 


383 


Es sind dies lauter Erseheinungen, die ich auf eine Ersohwerung der 
Konzentration zuruckfiihren mochte. 

Der Zustand machte nicht den Eindruok ernes hysterischen Dammer- 
zustandes oder einea Fieberdelirs, auoh nioht einea Angstzustandes — Patient 
war ja aehon tagelang aufier Feuerbereich. Am ehesten kommt eine be- 
ginnende Amentia oder ein Korsakoff-verwandter Zustand aus Erachopfung 
in Betraeht, etwa im Stile der von Bonhoeffer nach l&ngerdauemder er- 
schopfenderKrankbeit beobaohteten emotionell-hyperasthetischen Schwftohe - 
zost&nde. Dafl Alkoholabstinenz hier im Bilde eine Rolle apielte, kann 
wohl ala ausgeaehloasen gelten. (Leider konnte ich iiber dieaen Patienten 
Bibua vom 6. Landsturmregiment nichts waiter erfahren.) - 

Ich kann mich dahin resiimieren: bei etwa 1000 gewohnheits- 
m&Bigen m&Bigen und zum Teile starken Biertrinkem ist nach 
wochenlanger Abstinenz unter sonst fur das Delirium tremens 
disponierenden Momenten, wie Darmstorungen, Fieber, Pneu- 
monien usw. kein einziges Abstinenzdelir vorgekommen. Aller- 
dings kamen vielleicht gerade im Felde sonst ungewohnte — sit 
venia verbo — „antidispositionelle“, entgiftende Momente gegen 
den Ausbruch eines Delirs in Wirkung: Dies waren die starke 
korperliche Bewegung und der Aufenthalt in freier Luft. In 
meiner Land- und Stadtpraxis habe ich namlich beobachtet, daB 
der Schenkwirt, der Schuster, der Koch, der Beamte — also Berufe 
unter Dach und ohne schwere korperliche Arbeit — an Delirium 
tremens, Halluzinosen, Korsakoff, Neuritis alcoholica erkranken, 
w&hrend der Schmied, der Bauer, der Forster verschont bleiben, 
trotzdem gerade manche von diesen letzteren bis 40 halbe Liter 
auf einem Sitz tranken. (Dagegen betreffen Bierherz, Nephritis, 
Zirrhose meiner Erfahrung nach die „Freiluft- und Schwerarbeits- 
gruppe“ in gleicher Weise wie die Stubenhocker.) 

Inwieweit diese Beobachtung allgemeinere Gultigkeit bean- 
spruchen kann, und insbesondere ob sie auch fur Schnapstrinker 
gilt, kann ich zurzeit nicht eruieren. Ich sah n&mlich seinerzeit- 
an der Prager Klinik auch eine hinreichende Anzahl delirierender 
FloBer, also ausgesprochene Freiluftschwerarbeiter, jedoch waren 
es Schnapstrinker. Ebenso weiB ich nicht, ob die etwa anzu- 
nehmende „Entgiftung“ der saufenden Alkoholiker durch kdrper- 
liche Arbeit und Bewegung in freier Luft schon zu der parallelen 
Annahme einer Entgiftung des Alkoholikers in der Abstinenz durch 
die gleichen Mittel berechtigt. Jedenfalls schien mir dieser Unter- 
schied in der Disposition der Freiluftschwerarbeiter und der 
Stubenhocker fur das Delirium tremens auch in diesem Zusammen- 
hange erwahnenswert, um nicht vielleicht ein der Abstinenz, den 
Darmstorungen, dem Fieber usw. entgegenwirkendes „antidispo- 
sitionelles" Moment zu iibersehen. Immerhin konnte ich zwei 
„Abstinenzffille“ beobachten. Davon ist aber der eine kein 
psychiatrischer, und der andere ist der Wirkung starker Alkohol - 
dosen nach longer Abstinenz zuzuschreiben, iiberdies spielt in beiden 
der Schnaps eine kausale Rolle. 

Einer der ganz seltenen Schnapstrinker beim Regiment, ein Koch, 
kollabierte nach Tangem Marsoh und wurde fiir sterbend gehalten. Er hatte 
durch viele Tage keinen Alkohol mehr erlangen konnen. Auf Kampfer- 
injektionen und in der Stadt, an deren Toren er zusammengebrochen war, 
rasoh beechafften Kognak eriolgte iiberraschend schnell voile Erholung. 
Mehr habe ich iibor ihn nioht erfahren, da er einem anderen Bataillon dee 
Regiments angehorte. 

25* 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



384 L 6 w y , Neurologische ufad. psychiatrische Mitteilungen 


Digitized by 


Der zweite Fall war ein pathologischer Rausch. Em als Ordonnanz 
bestellter Lehrer hatte sich durch ordentliche F.iihrung, Besonuenheit, ernste 
Haltung und durch grp Be Findigkeit auf gefahrlichen Patrouillengangen. 
und in schwierigen Situationen vielfach ausgezeichnet. Er hatte so das Ver- 
trauen aller seiner Vorgesetzten erworben und sollte vom Ersatzreservisten 
zum Korporal befordert werden. Einmal urn die Mittagszeit zum Dienst 
antretend, stellte er den befehlgebenden Offizier dariiber zur Rede, daB er 
warten miisse; er sei um 2 Uhr bestellt und es sei schon ziemlich dariiber. 
Scharf ziirechtgewiesen ging er noch mehrere andere der anwesenden Offi- 
ziere mit undienstlichen Fragen an und schien sein Militarverhaltnis ganz 
vergessen zu haben. Wahrend dieser Vorfalle von mir scharf beobachtet, 
raachte er in Sprache imd Bewegung durchaus nicht den Eindruck eines 
Betrunkenen oder der Heiterkeit, sondern hochstens den einer gewissen 
Gereiztheit. Dabei war auch seine Orientierung und Personenkenntnis und 
seine auBere Haltung ganz korrekt, wenn man von der AuBerachtlassung 
seiner militarischen Stellung imd der Kriegssituation absieht. Sofort von 
seinem momentanen Dienste enthoben und in seine nahegelegene Ubikation 
geschickt, maohte er seinem unmittelbar vorgesetzten Offizier den Eindruck 
schwerer Trunkenheit, murrte etwas und verfiel bald in tiefen Schlaf. Nach- 
her hatte er fast voile Amnesie fiir das Vorgefallene: er wuBte mir, es sei 
etwas sehr Peinliches geschehen, er miisse etwas angestellt haben, im ubrigen 
hatte er nur noch die Erinnerung, dafl er von einem Kameraden mehrere 
Glaschen Kognak hintereinander angeboten bekommen und rasch getrunken 
habe, bevor er zum Dienste antrat. Auch gibt er durchaus glaubwiirdig an, 
friiher niemals Kognak und seit langerer Zeit liberhaupt- nichts Alkoholisches 
getrunken zu haben. Diese Erklarung seines ganz auffalligen Verhaltens — 
und gerade auf diese Auffalligkeit bei auBerer Korrektheit der Haltung, der 
Sprache und Bewegung basierte ich meine Diagnose des pathologischen 
Rausches — und die Besonnenheit seiner Offiziere klarte die fiir den Be- 
treffenden hochst gefahrliche Situation dahin, dafl von einer Strafverfolgung 
abgesehen wurde. Er fiihrte sich for tab wieder ganz niichtem und be- 
scheiden und so vorziiglich, daB er bald zum Korporal und spater zum Zug- 
fiihrer avancierte. 

Ueberhaupt gab es, als nach langer Abstinenz Alkohol wieder 
kauflich wurde, und zwar nur in Form von Schnaps und Kognak, 
mehrfach schwere Rausphe im Rastorte unter der Mannschaft. 
An demselben Tage, an dem sich der pathologisqhe Rausch er- 
eignet hatte, traf ich zu Ehren des Rasttages so schwer Betrunkene, 
daB sie taumelnd und lallend sich nach ihrer Ubikation zurecht- 
fragen muBten, weil sie sie nicht finden konnten, jedoch kam es 
zu keinen Unzutraglichkeiten im Dienste. Ein Verbot bereitete 
dem hastigen Einkauf und GenuB derAlkoholika wie demSchenken- 
besuch in Rastorten ein ranches Ende und damit auch den Trunken- 
heitsfallen, welche scharf mit dem sonst so gesetzten Wesen der 
Egerlander Landsturmmanner kontrastiert hatten. 

Sicher auf sexuelle Abstinenz zuriickgehende Storungen kamen 
mir nicht zur Beobachtung. Zur Zeit der schweren Strapazen fehlten 
nach vielen ubereinstimmenden Angaben die Morgenerrektionen 
und jede Libido ganzlich. 

Von psychiatrisch-atiologischem Interesse im Felde scheint 
mir nachst der Alkoholfrage besonders die Wirkung des Artillerie - 
fetters. Nicht nur mir, sondern auch den Nichtarzten auffallig 
wurde ein besonderer Gesichtsausdruck bei den dem Artilleriefeuer 
lange ausgesetzt Gewesenen. Ich bezeichnete diesen Gresichtsaus- 
druck als ^Kanonengesicht^, Es stellte sich ein, nachdem wir 
tagelang im feindlichen Artilleriefefuer gelegen hatten, ohne selbst 
zu einer energischeh Aktion zu gelangen — entsprechend der 
Aufgabe, eine bestimmte Stellung zu halten. Wir hatten keine 


Goi igle 


Original from 

UNIVERSSTT OF MICHIGAN 



aus detn Kriege. 


385 


nehnenswerten Verluste, aber auch kerne bombensicheren Deokun- 
gen und wurden st&ndig beunruhigt durch Bestreiohen tinseres 
ganzen Wald- und Berggebietes mit Schrapnellfeuer nnd spater 
auch mit schwerem Geschtitz (Granaten usw.) unter groBem 
Munitionsaufwand der feindlichen Artillerie. Esbegann meist mit 
dem Morgengrauen, ging bis zur Mittagsstunde. zur Menagezeit 
gegen %2 „spuckten sie uns schon wieder in die Suppe“. Von da 
ab ging es bis zum Dunkelwerden und wiederholte sich endlich spftt 
abends oder nachts nochmals und iiberdies auch schon bei kleinen 
Truppenbewegimgen (Ankunft der Fahrkiichen, Betatigung der 
Sanitatsabteilung, scilicet mit nicht entfalteter Fahne). Wir hatten 
alle nach etwa 11 tagiger unausgesetzter BeschieBung einen Aus- 
druck diiaterer Spannung im Gesicht, der bei einzelnen auch etwas 
weltschmerzlich-ironisches hatte. Dieser Ausdruck' — in beidgn- 
Formen dem der Paranoiker nicht unahnlich — verlor sich nach 
einigen Tagen der Entfernung aus dem standigen Artilleriefeuer. 
Auch an uns begegnenden Infanterietruppenkorpern habe ich diesen 
Ausdruckge8ehen,darunterauchanreichsdeutschenTruppen,welche 
wohl frisch vom westlichen Kriegsschauplatz eingetroffeh waren. 

Ein wonig hauften sich im Artilleriefeuer die Diarrhoen der 
Mannschaft; zur selben Zeit bestand aber auch Dysenterie, welche 
fast alle ergriffen hatte. Bei starkem Artilleriefeuer stieg nun. die 
Zahl der Stiihle bei vielen und die Zahl der Austretenden vermehrte 
sich sichtlich, auch wurde die Konsistenz der Stiihle diinner und 
der Blutgehalt stieg (Vermehrung der Peristaltik). Einzelne klagten 
iiber Magendruck und Uebelkeit — fraglich ob als Dysenteriefolge 
oder als Begleiterscheinung resp. als Aequivalent der Angst. 
Darunter waren Leute, welche sich spaterhin bei einem StuTm- 
angriff durch auBerordentliche Bravour hervortaten. Es scheint 
eben beziighch der Affektlage etwas ganz anderes Zu seiru sich 
kampfend in eigner Tat zu fiihlen, als wehrlos dem feindlichen 
Feuer standzuhalten. 

Einmal war ich etwa 7 Stunden mit dem Bataillonskoihmahdo 
und meiner Sanitatsabteilung dem schwersten Artilleriefeuer ginz- 
lich ohne Deckung ausgesetzt, da die uns angewiesene Stellung 
knapp vor und zwischen zwei von unseren auffahrenden Batterfen 
zu liegen kam. Kaum hatten diese zu feuem hegonnen, so fegte 
ein standiger Hagel von feindhchen Schrapnells und Granaten 
heriiber. Der war so dicht und imausgesetzt, daB das- Erreichen 
einer Deckung oder des einige hundert Schritte hinter uns gelegenen 
Waldrandes aussichtslos erschien. Wir vermochten Wohl Zeituhg 
zu lesen, zugleich dabei die Richtung der „russischen Reisenden", 
wie ich die schweren Granaten wegen ihres Gerausches in der Luft 
nannte, imd der Schrapnells verfolgend; ich hatte aber wahrettd 
der Lekture ein Druckgefuhl im Magen und einen zusammen- 
ziehenden iiblen, dem bitteren ahnlichen Geschmack im Munde. 
Dieser wich mit dem Nachlassen des Feuers. 

Nach mehreren Monaten des Frontdienstes beobachtete ich 
an mir auch eine. akust-ische Ueberempfindlichkeit gegeD deh 
Kanonendonner mit ahnlichen Sensationen im Magen und Munde, 
auch wenn es sich nur um vereinzelte Schusse der eigehen Artillerie 
ohne Antwort vom Gegner handelte. Dabei war der Eindruck des 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



386 L 6 w y , Neurologisohe und peychiatrische Mitteilungen 


Digitized by 


Infanteriefeuers nach wie vor kaum nennenswert. Doch ist diese 
eigene Beobachtung nicht rein, da ich zu jener Zeit vielfach Fieber 
hatte und vergesaen habe, bei anderen dieser Erscheiniing nach- 
zugehen. 

Sicher beobachtete ich bei der Mannschaft nach schwerer 
BeschieBung gehaufte Klagen iiber Par&sthesien und Schw&ohe- 
gefiihl in den Beinen (wohl Analogs des Knieschlottems und des 
Weichwerdens in den Knien, also des Tonusverlustes der Muskulatur 
bei Angstzust&nden). Diese Sensationen fixierten sich bei einer 
Anzahl und bestanden dann noch tagelang bis wochenlang auch 
auBer Feuerbereich — ohne Trousseau, d. h. ohne daB die Par- 
ftsthesien etwa tetanischer Natur gewesen waren. (Daran war 
n&mlich zu denken, weil die gleichzeitig bestehende Dysenteric des 
ostlichen Kriegsschauplatzes in einer Anzahl von Fallen von 
Tetanie begleitet resp. gefolgt war.) Einzelne dieser Dauergruppe 
nicht-tetanischer Parasthetiker wie sen meist syjnmetrische, ge- 
legentlich halbseitige hysteriforme Analgesien an Handen und 
FUBen — seltener an Armen und Beinen — auf, sockenformig oder 
pantoffelformig nur den VorderfuB einbegreifend, handschuhformig, 
strumpfformig unter Freilassung von Hand imd FuB an den Vorder- 
armen und Unterschenkeln usw. In einem dieser F&lle bestanden 
Klagen iiber schlechtes Sehen, es fand sich eine hochstgradige 
konzentrische Gesichtsfeldeinschrankung. 

(Aehnliche Par&sthesien und Sensibilit&tsstorungen sah ich im 
Hinterlande zusammen mit weiter unten noch zu erw&hnenden 
psychischen Stbrungen oder rein (und daim von den Patienten 
meist als Bheumatismus bezeichnet). Einzelne davon schwanden 
nach monatelangem Bestehen zugleich mit der Ruckkehr des 
Corneal- und Rachenreflexes.) 

In vereinzelten Fallen des Bataillons bestanden im Felde und 
noch gehaufter nach dem Verlassen des Gefechtsraumes hypo- 
chondrische Klagen iiber den Magen und iiber Bheumatismus, die 
objektiv nicht begriindet waren, sich durch ihre hypochondrische 
Diktion verrieten und bei einer irrelevanten Therapie oder vieUeicht 
mit der zunehmenden korperlichen und psychischen Erholung 
schwanden. 

Hartnackiger erwies sich ein Fall von traumatischer Neurose 
mit querulatorischem Timbre. 

Dieee entstand durch einen echten Unfall, n&mlich durch den Fall 
eines Pferdes von einer Boschung herab auf den unten stehenden Infante- 
risten. Er erlitt eine geringe Quetschung an der linlcen Hiifte. Die Schmerzen, 
iiber die er unausgesetzt klagte, saQen in der rechten Hiifte, ohne daB er hier 
eine Quetschung gehabt oder gefiihlt h&tte und erwiesen sich weder durch 
Znspruch noch durch Ablenkung, noch durch Medikation beeinfluBbar. 
Ignorierung wurde paranoid-querulatorisch gedeutet. Trotzdem tat der 
Mann nach emeutem Ausmarsch seinen Dienst. Bei einem Sturm, bei 
welchem sich das ganze Bataillon auBerordentlieh bewahrte, hatte er sich 
noch besonders hervorgetan — er fing allein eine ganze Gruppe von Russen. 
Sofort nachher waren alle seine Besohwerden in der Hiifte verschwunden, 
wie er selbst angab, und blieben es auch, so lange ich ihn beobachten konnte. 
Der friiher miirrisch wehleidige Geselle wurde frisoh und aufger&umt. 

Von Epileptikem bekam ich auf dem Marsche und im Ge- 
fechtsraum nur vereinzelte zu Gesicht. Sie zeigten typische Krampf- 
anf&lle mit anschlieBender kurzer BewuBtseinstrubung. Es stellte 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



aus dem Kriege. 


387 


8ioh heraus, daB sie schon in Zivil seit Jahren daran gelitten hatten, 
bei der Pr&sentierung aber die Meldung ihres Leidens unterlieBen. 

Dies sind die Beobachtungen am eigenen Bataillon von August 
bis November. In einer Zwischenpause des Frontdienstes im 
Oktober hatte ich Gelegenheit — dank der Gastfreundschaft von 
Prof. PUcz, Ordinarius der Krakauer psychiatrischen Universitats- 
klinik, welche als klinisches Festungsspital geisteskranken Soldaten 
und Offizieren mit den verschiedensten psychischen Storungen 
als Aufnahmestatte diente —, ein interessantes Psychosenmaterial 
eingehend mitzubeobachten. 

Auch die psychiatrische Abteilung des Krakauer Garnisons- 
spitals (Abteilungs-Chefarzt Dr. Hawel aus Bohnitz bei Prag) 
konnte ich besichtigen. Ueber die Krakauer Falle wird wohl von 
befugter Seite zusammenfassend berichtet werden. Doch will ich 
nicht verfehlen hervorzuheben, daB es sich in diesen Aufnahme- 
statten fast durchweg urn ausgesprochene Psychosen aus dem 
Kampfraume handelt, wahrend diese in meinem eigenen Ursprungs- 
materiale — der kampfenden Landsturmtruppe — fehlten. Es 
scheint mir fur diesen Umstand neben der Basse, vor allem das 
hohere Alter meiner Landsturmmanner und Offiziere in Betracht 
zu kommen. Ob diese meine Annahme zutrifft, kann spaterhin 
eine darauf gerichtete Statistik (iiber Lebensalter, Truppengattung 
und Nationalit&t) der Krakauer Aufnahmestatten unschwer lehren, 
eben wegen der Gemeinsamkeit des Kampfraumes und der SuBeren 
Umstande. 

Eine weitere Bereicherung meiner kriegspsychiatrischen Er- 
fahrungen brachte mir eineKommandierung zum k. u. k. Buhrspitale 
in Pisek und die Freundlichkeit des Garnisonchefarztes und Chef- 
arztes des k.u.k. Beservespitals in Pisek, Stabsarzt Dr. HeinrichTyl. 

Was ich sah, entsprach durchaus dem Bilde, wie es mir Stabsarzt 
Dr. Tyl nach seinen friiheren schon geheilten Fallen im vorhinein 
skizziert hatte. Diese Kriegspsychose nach Tyl betrifft zum aller* 
groBten Teile vom serbischen Kriegsschauplatz kommende Offiziere. 
Ein Teil der Kranken hatte noch wenige Tage vor dem Eintreffen 
im Kampre gestanden. Dr. H. Tyl betont mit Becht an erster 
Stelle die depressive Grundstimmung und durchaus pessimistische 
Auffassung der Kriegslage: durch Hervorhebung vor allem der 
deprimierenden Umstande in den eigenen Erlebnissen bei friiher 
nicht dazu Neigenden, die konsequente Ignorierung gunstiger und 
aussichtsreicher Vorkommnisse, die Neigung zu krankhafter, ge- 
legentlich ungeheuerlicher Uebertreibung des Bedrohlichen in der 
allgemeinen Cage, alles Ausdruck der eigenen generalisierten und 
generalisierenden Hoffnungslosigkeit. 

In der Mehrzahl jener Falle, welche frisch vom serbischen 
Kriegsschauplatze kamen, fiel Stabsarzt Tyl zugleich eine hoheBeiz- 
barkeit und Erregbarkeit auf. In einem solchen von mir mitbeob- 
achteten Falle erinnerte sie direkt durch das Schwanken zwischen 
Buhrung imd Gereiztheit an den manischen Stimmungswechsel, nur 
fehlte die Heiterkeit. (In diesem Falle bestanden pantoffel- und 
handschuhformige Anasthesien, Fehlen des Bachenreflexes.) 

In alien Fallen war trotz des in den ersten Tagen durchweg 
schlafrigen Ausdrucks (auch der Erregten) der Schlaf schlecht, 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



388 L 6 \v y , Neurologische und paychiatrische Mitteilungen etc. 


die Sohreckfoilder der eigenen. Erlebnisse kehrten im Traume wie 
auoh atnTagein V orstellungen undErinnerungsbildem immer wieder. 

Ee bestehen in der Regel. nebeneinander Unruhe und Apatbie 
mit; deutlichen subjektiven und objektiven ,,Gedankenlucken“, 
dem ^Vacuum”, d. h. mit momentaner Gedankenleere, welche zu 
einem Abreifien des Gedankenfadens fiihrt. Diese Erscheinung 
beruht aul einer Konzentrationserschwerung, welche auch objektiv 
bei der Merkfahigkeitspriiiung (durch 4 aufgegebene einfache 
Zahlen) oder beim Kopfrechnenlassen nachweisbar ist, (wahrend 
das Gedachtnis an sich ungestort erscheint). Diese Konzentrations- 
achw&che ist nicht identisch mit Ermiidbarkeit und mit der er- 
wahnten Schlafrigkeit. Sie findet sich sowohl bei Erregten wie bei 
Apathischen und besteht nach Wochen der Erholung noch, nachdem 
der im Felde ja alien fehlende Schlaf langst eingeholt ist. (Das 
Nachholen des Schlafes bringt auch den Ausdruck der Apathie bei 
diesen Kranken nicht voll zum Schwinden.) Die Konzentrations- 
schwache steigt zwar durch langere ermiidende Inanspruchnahme, 
aber sie besteht auch beim Ausgeruhten von Beginn des Examens an. 

In einem Falle bfcstand deutliche subjektive und objektive Hemmung 
in Sprache, Bewegungen und im Gedankenablaufe, eine isolierte Selbst- 
anklage als Massenmorder (am Maschinengewehr), eine gewisse depressive 
Eigenbeziehung, ,,er moge nicht ausgehen, weil seine Bekannten es alle 
wissen und die Leute mit ihm als Morder nicht werden verkehren wollen“, 
der Gedanke, deswegen nicht weiterleben zu konnen — neben Schlaflosigkeit, 
st^lndigem zwangsmaBigen Erinnern an die Schreckerlebnisse, an von 
Hunden benagte heiclien, an den von ihm erschossenen feindlichen Kom- 
mandanten usw.). Abmagerung, Obstipation, Appetitlosigkeit, Steigerung 
der Reflexe, Gesichtsfeldseinschrankimg. 

Die somatische Untersuchung aller Falle ergab regelmaCig 
Steigerung der Patellarreflexe, haufig konzentrische Gesichtsfelds- 
einschrankung, noch haufiger Analgesien an den Extremitaten 
oder halbseitig, ferner mehr minder starken Tremor, bei einem der 
Apathischen auch des Kopfes. Fast alle waren abgemagert und 
erschopft, manche von schlechtem Appetit, obstipiert. 

Da die Mehrzahl der betroffenen Offiziere Stabsarzt Dr. Tyl 
seit Jahren arztlich und personlich sehr gut bekannt war, ware 
ihm eine vorbestehende besondere psychische Labilitat und Vulnera- 
bilitat aufgefallen. Mangels einer solchen betont H. Tyl die bohe 
Spannung und Verantwortung des Offiziers, die psychische und 
korperliche Ueberanstrengung, endlich die Besonderheiten des 
sudlichen Kriegsschauplatzes — das sind koupiertes Terrain (Hiigel, 
undurchdringliche Kukuruzfelder) und die entsprechende Kampf- 
methode des Gegners —, endlich kommt die schwer deprimierende 
Wirkung der Riickzuge in Betracht. Der Verlauf und Ausgang ist 
nach mehrwochentlicher Ruhe giinstig, die Mehrzahl der Kranken 
steht schon wieder an der Front. 

Zvsammenfassend la,fit sich sagen: es handelt sich um reaktive 
Storungen bei Gesunden, um einen Niederbruch unter der Belastung 
durch die Kriegserlebnisse und Kriegsstrapazen . Es entstehen 
psychopathische Episoden von Erregung und reaktiver Depression. 
Bald iiberwiegt die Apathie , bald die Erregung , am haufigsten besteht 
eine Mischung von Depression , Erregbarkeit und Apathie. 

Die Krankengeschichten einzelner solcher und anderer Falle 
sollen spater folgen. 


Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 

















HNM 1 


m oeriiti ?$p m 

frrafea&aetfWijifc i; ssS&RSS&.'e: 


dritte neidrearbttitete A Ullage 




WEssgs&m 


■ 


9t.*# 

''M 


. :■>■: 

2E2 




H*gg*. ^ --tWtBBP 


■ < »; i # 1 jr^i• 












■ ;:-V •: 















wm 


■ 

W»~. V 


vw „ • • f • * . 


sa-Lecin 


"Pn^hiU-Blv^t^Sisen >«i 
A t§&u Sp* * 4i rufctn 


KM 

v~ • 

s^wiafejis^ 

3$§Kg|ft 

* 

t\7u.^ 


f»f><».s 'A ~-vi fjTi4ii*>\x;. :<WVfJ* At^2[,^ i5«4S yfykijirJ *n *V- * 

ArBfnrLecintktilfitttiH China»Leci^ 

g8jjjj£’ r .. ituttf ln***4uV *0«i Dt. E. LuVfi$< H <U}Pj> ybr/* 1 ^ 


ijl'O 


/vv* 


liffl 

BPsm&fofl 


. 



Gorlitz. 


^! H^Idnstad Bir Nerveiiw 

*tttd <l«i»a»#branktt. r 

ifl^Mf I ^»i**«i* *H fftj£ itefyo^- 

r Aeraipcfttts PS/lago^nim 

r^Ptfsry*n-< imS 
vvC^atejRrariKt' ; -:v»:#. 






wlllli’S 

u 'hmM 


-XV^Wmeoaort rm{ &'%&!&#■ 

^iV;v ^ 



HH 



■ ■ 

*,. JL<. Scholl 

lirv. .-.«.■^TT-V^ 


Dr. W»ggcf s Kufhetm 

Parteokirthai^ 3i»rimi»t>tn 

S a u a t o. f lu m $S& 

Nttrvcn* 

«nil F.lruoi'iJrigsbeiUutttsjse, 

♦It.<*i>i*r* :feii«*a4«Hdjjfth.„•'} pjfrr ' 
ItHu* *‘1? 

W'rjfr^4R<r^> : iy 

-4aT »t titoititrh »Dj Ht jfiffcj 

*hiatt\fi 1*1*1 fjt&t.* fy&J&fc:'*'.'•$■ A^VVf. k- 



SedSuderodea.Harz. 


£t.sM<».ch*i 

• -IXf* ^aclfcitiwi,' 


KARGER.h Serftri NW. ft- 

' I . 

■'■. ;■?,'' ._mebictKn- 

J. L* Fa gel , 

t’MkMmSik p h i .•• h te d e r ■ • n 

‘urFSit/J'i'f'eifv’t umj ■*«> dt*o iieriilgolj :>tJitid 

J'' ! ••><•-.:•.. •••!)i 

[\at Prof Dr. Karl.Scdholf.,' 





■ ■ * ., 

Jppr 


•' ”;;' 

. "“W' 

*1: 




* #ijx ..^taPHQ 

2 tVO^jjj Pa 

* ~ C-. -r, .v» : 


5HSfiK33$93 

§^g80c®fi 

l ' V - l tThri> , ll * 1 

Wm$m 

^^SBoraBH 
rf v V :i 


r-f-x; 1 ; f.S!«V, p 
(j . t\,yr ^ 4 ^pj | 
i" 7 VvTlu;^>hM 


‘v™ 
rVJl , 


bvlS 


^•shJvTR® 

Mid 

'.‘Ov*^ •’ills 

/ A* L ^ if'(j 

• >. J ,'C 

c-Sj^i 

V. ;. >7®« 


:-v ; S» ^'A vf 
*> ix!5iv' iAikw 




Wirksanisieg, sebr feUcbt tosliche« und scbciell 
Hypttottkbm und Sedativum. 
Aueh rekial nod subkutan anwemlbar, ;; 

»tliW ■ *htt#:- 0;^% &Hk*> xvtffc.' - . V 

>.r,fi(;<>il iiu^gK5chia!4«)- :-^mi, mdlttM; /«ie4vl#4foi*ftW‘ 

< 4 r nf! < *Ur. % 

.-,l5^»lgf«»<h« HorphiufnenlxiehungikurMi :^ 

R|>.; MfctiioHltaMijtteu 0,5 2 J ^(irigtnaipAok^n^ 

Vi •• ; l J oe>« M. . • • ' ; '^§: 

Lftaratur uud Probfcn kostoafrei. 

Chemisette Fabrilfc auf Actien (vorm. E< lettering) 

BERLIN Mm MUllmtrasse 170/J71. 






vpf) K$&;<3?E& in Berlin N\y. 6. 

Behasidiiitig der angeborenen uud erworbenen 
Gehirnkrankheiten mil Hilfe des Balkenstidies 


Prof, Dr. 6. Anton und Prof. Dr. F.G.v.Bramann 

frtekiot 'fa l«f 0»«sstft- Sniwtf. uni«*&itttfn.k 

,>W n$r^i*m&wi> In HaU€ P. S. ^ >? AfWffai, a** 

$r?'l ' "7 A 




iHedteihiscfeer Verisg Von S. KARefejR in Berlin NW. 6, 


fcfri 1 \ii b 4 * g 4 iiVreou j>. ui> & tt* fi#. H^Uu aftV. 4$. 















■ • f -V ‘ 

, 

- 

, 

■••I ' » , ^ I I . I I |.l ill' XV : • . 

. ♦ . * '‘V- ••• 



“■ ■ ’ ■ „ . ••• 

• ■ S -v • , - ■ % ‘ „ : ' ■ \ ^ ' . ■ 

■ 

. • • '* ■ ’ -• , + ' 

* - * m J « 

. 

f 

V • , . ‘ •• ' * . • > ' >• 


m 

■ HWi-’ 






wt> 


■ 

• *w, • ; u" 


jr- ■■ * • » , » • •, * ' 

4 lr >’ s ' v * ^ V4 r 

• * • , i * * 

.•* ,.••** '• 

. Min • f k# vM it 


#;P®PW>»v. 


Digitized by Gck 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 








( 






Original from 

UNIVERSfTY OF MICHIGAN 















. 


' 



V" ■ 



Digitized by 

■ • • ! , ' 


- - 


' ' . . 

• %om ■ 

. . . v^t-W-i-v 

«**4.'■%#«:?' »r ,v> ' ■'.• f 

■ . ,. .••.•' ' ' 1 ' v; 

Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 





Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 






s . ;' &1 K 1 •* V".' 

t fd » i ^ . ^ i /!i i iv t./iM h «i * a a l 










Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN